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German Pages XXIX, 619 [645] Year 2020
Regina Cazzamatta
Lateinamerikaberichterstattung der deutschen Presse Struktur und Entstehungsbedingungen
Lateinamerikaberichterstattung der deutschen Presse
Regina Cazzamatta
Lateinamerikaberichter stattung der deutschen Presse Struktur und Entstehungsbedingungen
Regina Cazzamatta Universität Erfurt Erfurt, Deutschland Das Werk basiert auf der 2020 an der Universität Erfurt eingereichten Dissertation mit dem Titel „Struktur und Entstehungsbedingungen der Lateinamerika-Berichterstattung in der deutschen Presse: eine Inhaltsanalyse der SZ, FAZ, taz und Der Spiegel“.
ISBN 978-3-658-30783-7 ISBN 978-3-658-30784-4 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-30784-4 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Stefanie Eggert Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Vorwort
Lateinamerika hat in der deutschen Medienöffentlichkeit eine Karriere des Abstiegs erlebt. Einst in den 1980er Jahren war die Region beispielsweise durch die Revolution in Nicaragua in aller Munde, bis die dynamische Transformation in Osteuropa, das Konfliktgeschehen im Nahen Osten und der rasante wirtschaftliche und politische Aufstieg asiatischer Staaten ihr die Show stahlen. Es ist kaum zu glauben aber leider wahr, wenn Regina Cazzamatta wie auch verschiedene von ihr befragte deutsche Journalisten Lateinamerika heute als „blinden Fleck“ der deutschen Berichterstattung bezeichnen. Latein- und Südamerika landen seit Jahrzehnten auf dem letzten Platz der kontinentalen Beachtung in deutschen Medien. Das wäre völlig in Ordnung, wenn es nicht so traurig wäre, denn die Ursachen für die relative N icht-Beachtung sind durchgehend paradoxer Natur. Deutsche Medien haben dem Teilkontinent just in dem Moment ihre Aufmerksamkeit entzogen, als man dort eine Konsolidierung der Demokratisierung hätte begleiten können. Man hat sich also in einer Phase abgewendet, als eine ehemalige Kolonialregion sich aufmachte, die Zeit der post-kolonialen Diktaturen hinter sich zu lassen und eine sozio-ökonomische Entwicklungsalternative auch im regionalen Raum zu entwickeln. Lateinamerika passte damit wohl einfach nicht mehr ins übliche Raster der Kriege, Katastrophen und Konflikte, das unsere mediale Aufmerksamkeit der außereuropäischen Welt unterschwellig steuert. Samba, Sport und Drogen reichen heute kaum aus, um uns für die Region zu interessieren. Es muss erst ein Zampano wie Jair Bolsonaro in Brasilien kommen – seinerseits bereits ein massives Krisenzeichen für den drohenden Rückfall in autoritäre Zeiten –, um unsere Aufmerksamkeit wieder zu erheischen. Ohne dieses prickelnde außersystemische Chaos, das unseren ethnozentrischen Blick auf das Leben in Asien, Afrika und Lateinamerika prägt und schon immer
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geformt hat, langweilen wir uns und wenden uns ab. Sind wir heutzutage wirklich viel weiter als Columbus war, als er in Kuba landete und dachte, er sei in Indien? Lateinamerika ist damit ein Beispiel für die äußerst fragmentarische und domestizierende Art, in der deutsche Massenmedien – wie Medien überall auf der Welt – Auslandsberichterstattung betreiben. Es ist bis heute nicht gelungen, diesen Zweig des Journalismus erfolgreich zu modernisieren. Ganz im Gegenteil: Das Zeitalter der Globalisierung ist eines, in dem unser mediales Interesse an der Welt stagniert oder sogar rückläufig ist. Wir sind sehr schnell in der Lage, Kapazitäten und Sondersendungen zum Beispiel für die Kriegs- und Katastrophenberichterstattung freizumachen; es gelingt uns aber überhaupt nicht, ein kontinuierliches Interesse der Rezipienten an langfristig bedeutsamen politischen und lebensweltlichen Entwicklungen in weiten Teilen der Welt zu erzeugen. Nicht einmal eine europäische Öffentlichkeit, die den Namen verdient, haben wir geschaffen – und die politischen Probleme, die das mit sich bringt, liegen auf der Hand. Negativismus als Nachrichtenwert führt nicht nur zu einer Überbeachtung radikaler Kräfte wie Bolsonaro und Trump, deren erratische Twitter-Botschaften unsere Massenmedien geradezu servil in der Weltöffentlichkeit verteilen. Das alte Stereotyp vom Chaos in Asien, Afrika und Lateinamerika trägt auch zur Zerstörung unseres Vertrauens in die internationale Ordnung bei, in eine friedliche Welt, die nach allen Indikatoren der Friedens- und Konfliktforschung und entgegen allem medialen Anschein in der Gegenwart doch weniger Kriege und Kriegstote produziert als in der Vergangenheit. Das Fernbild der Auslandsberichterstattung ist zudem immer auch Bestandteil unseres Nahbildes in der multikulturellen Gesellschaft und hat somit Auswirkungen auf unsere Bereitschaft zum toleranten oder auch zum rassistischen Denken und Verhalten. Wenn wir die Globalisierung wirklich gestalten wollen, müssen wir lernen, die Welt besser und nachhaltiger zu verstehen und dürfen sie nicht länger nach unseren Nachrichtenfaktoren, Interessen und Vorurteilen abrichten. Die Medien sind das Nadelöhr, durch die eine kosmopolitische Öffnung unseres Weltbildes hindurchmuss. Ob der Journalismus auch die notwendige Kraft zur Reform aufbringen wird und sich mitten in seiner Krise der Digitalisierung auch inhaltlich neu erfinden kann, bleibt allerdings abzuwarten. Regina Cazzamatta legt mit ihrer Studie eine längst überfällige umfangreiche Untersuchung des Lateinamerikabildes der deutschen Presse vor, die unsere Aufmerksamkeitsökonomie für den Kontinent in differenzierter, präziser und kompetenter Weise ergründet. Dabei ist besonders hervorzuheben, dass die Autorin ihre groß angelegte Inhaltsanalyse im Kontext des politischen
Vorwort
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und gesellschaftlichen Geschehens der Länder entfaltet und dadurch auch das Nicht-Berichtete sichtbar macht. Zusammen mit ihren Interviewpartnern aus dem deutschen Journalismus, die vielfach erfreulich selbstkritisch mit ihrem Metier umgehen, werden zudem die Ursachen und Entstehungsbedingungen des Lateinamerikabildes im Mediensystem ausgelotet. Dieser gestaffelte Ansatz kennzeichnet das Werk als ein Produkt einer modernen interdisziplinären Sozialwissenschaft, die sowohl die Kommunikationswissenschaft als auch die Area-Forschung über Lateinamerika berücksichtigt. Das Werk setzt damit neue Maßstäbe und wird sicher die Debatte über die Lateinamerikaberichterstattung der Medien in Deutschland auf Jahre hinaus prägen. Dieses Buch hat das Zeug, zu einem Standardwerk zu avancieren. Prof. Dr. Kai Hafez Universität Erfurt Erfurt Deutschland
Danksagung
Es war ein langer, aufwendiger und erfahrungsreicher Weg bis zur Anfertigung dieser Dissertation, die ich ohne die Unterstützung verschiedener Freunde, Familienangehöriger und Arbeitskollegen nicht geschafft hätte. Es fing fast vor sieben Jahren an, als ich das Vorstellungsgespräch für das ehemalige Masterprogramm „Kommunikationsgesellschaft: Politik und Gesellschaft“ mit Prof. Dr. Kai Hafez und Dr. Anne Grüne hatte, noch ein paar Monaten vor dem Bestehen meiner deutschen Sprachprüfung. Für diese konstante Begleitung meiner akademischen Entwicklung und Betreuung danke ich Prof. Hafez. Zudem bedanke ich mich bei dem Programm Cnpq/DAAD, eine Partnerschaft der deutschen und brasilianischen Regierungen, für die finanzielle Unterstützung im Laufe der vier Jahre, die der Forschung gewidmet wurden. Ebenfalls bedanke ich mich bei Prof. Dr. Detlef Nolte für die Möglichkeit, ein Semester lang als Gastdoktorandin beim Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien (GIGA-Lateinamerika) einen Forschungsaufenthalt zu erleben. Die Interaktionen und Gespräche mit Wissenschaftlern aus verschiedenen Forschungsgebieten war fundamental für die Interpretation und Analyse der vorliegenden Daten. Daher bedanke ich mich bei allen Kollegen aus dem GIGA in Hamburg und aus unserem Forschungskolloquium in Erfurt, die den kritischen Forschungsschritt dieser Dissertation mit mir diskutierten und mein Leben in verschiedenster Weise geprägt haben. Darüber hinaus bin ich dankbar, dass ein großartiger Lebenspartner mich auf dem ganzen Weg unterstützt und alle Höhen und Tiefen des Forschungsprozesses begleitet hat. Rodrigo ist ein Physiker, der fast jede Woche meinen Überlegungen zu Nachrichtenwerttheorie, Nachrichtenauswahlkriterien, Gatekeeper-Ansatz und Reliabilitätstests immer begeistert zugehört hat. Für diese ganze Aufmerksamkeit und Unterstützung bei den statistischen Prozeduren bin ich sehr dankbar.
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Danksagung
Ebenfalls hat meine Mutter, Tânia Regina, auf ihre Art und Weise versucht, mir den ganzen Weg der Promotion zu erleichtern und mir immer versichert, dass alles schon gut wird. Bei denjenigen, die sich schon früher verabschiedet haben und nicht mehr bei uns sind, bin ich in Gedanken. Mein Vater João, meine Großmutti Santina und mein Cousin Denilson haben mir alle unterschiedliche Motivationen und Stärke gegeben. Zuletzt bedanke ich mich bei allen anderen deutschen Freunden, Kollegen und Bekannten – Monika Müller, Sabrina Stein, Katarina Perlak –, die ein paar Seiten hier und da gelesen haben und schließlich bei meiner Lektorin aus Dortmund, Bettina Bergmann, die das gesamte Manuskript sorgfältig grammatisch überprüft hat.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 2 Theoretische Hintergründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2.1 Auslandsberichterstattung: Definition und theoretische Rahmenbedingungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2.2 Funktion, Bedeutung und Wirkung der Auslandsberichterstattung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 2.2.1 Funktionen der Massenmedien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 2.2.2 Relevanz, Funktionen und Effekte der Auslandsberichterstattung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 2.3 Das Auslandsbild und die Schwäche der Wahrnehmungsforschung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 2.3.1 Begriffsdefinitionen: Bilder, Nationenbilder und Stereotype. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 2.3.2 Frames und Diskursansätze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2.4 Der konstruktivistische Ansatz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 2.4.1 Die Massenmedien in den konstruktivistischen Auseinandersetzungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 2.4.1.1 Polemik und Uneinigkeit: die Kritik an dem Konstruktivismus. . . . . . . . . . . . . . . . . 45 2.4.1.2 „Rekonstruktion“ und „Dekonstruktion“ von Wirklichkeiten als Alternative zum radikalen Konstruktivismus . . . . . . . . . . . . . . . 48 2.5 Der unausgeglichene Nachrichtfluss und die Förderung einer neuen Weltinformationsordnung in den 70er-Jahren . . . . . . . 52 2.6 Strukturelle Muster der Auslandsberichterstattung. . . . . . . . . . . . . 58
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Kriterien der Nachrichtenauswahl. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 2.7.1 Die Nachrichtenwerttheorie und deren Entwicklung. . . . . 72 2.7.1.1 Kritik an der Nachrichtenwerttheorie. . . . . . . . 101 2.7.2 Determinanten des globalen Nachrichtenflusses: empirische Studien zum internationalen Nachrichtenstrom. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 2.8 Entstehungsbedingungen der Auslandsberichterstattung. . . . . . . . . 116 2.8.1 Der Gatekeeper-Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 2.8.2 Redaktionsforschung: eine Mesoebene-Analyse. . . . . . . . 124 2.8.3 Die Auslandskorrespondenten und deren berufliche Selbstverständnisse: eine Mikroebenenanalyse. . . . . . . . . 129 2.8.4 Die deutschen Korrespondenten weltweit und in Lateinamerika. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 2.8.5 Steuerung der Auslandsberichterstattung durch externe Informationsquellen: der Einfluss der Nachrichtenagenturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 2.9 Theoretische Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 2.10 Forschungsstand zur Auslandsberichterstattung Lateinamerikas. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 2.11 Zentrale Fragestellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 3 Methodische Auseinandersetzung und Forschungsdesign . . . . . . . . . . 157 3.1 Der Rekonstruktivismus-Dekonstruktivismus Ansatzes . . . . . . . . . 161 3.2 Quantitative Inhaltsanalyse als Forschungsmethode: Re-Rekonstruktion der Medienrealität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 3.2.1 Anlage und Durchführung der quantitativen Inhaltsanalyse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 3.2.1.1 Auswahl des Untersuchungsmaterials . . . . . . . 165 3.2.1.2 Die vier untersuchten Presseorgane – SZ, FAZ, taz und Der Spiegel. . . . . . . . . . . . . . 170 3.2.1.3 Untersuchungszeitraum – die ersten 15 Jahre des 21. Jahrhunderts. . . . . . . . . . . . . . 173 3.2.1.4 Zugriffskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 3.2.1.5 Definition der Grundgesamtheit und die Methode der Stichprobenziehung. . . . . . . . . . . 175 3.2.1.5.1 Experiment zur Güte der Stichprobe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 3.2.1.5.2 Anmerkungen über die vorliegenden Informationen der Grundgesamtheit. . . . . . . . . . . 183
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3.2.1.5.3
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Die geschichtete Stichprobe nach Nachrichtengeografie und Erscheinungsintervall. . . . . . . 184 3.2.1.6 Codebuch – Erläuterung der theoriegeleitenden Kategorien und der dazu gehörenden Forschungsannahmen . . . . . . . . . . 192 3.2.1.6.1 Formale Kategorien. . . . . . . . . . . . 193 3.2.1.6.2 Inhaltliche Kategorien. . . . . . . . . . 193 3.2.1.7 Probecodierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 3.2.1.8 Reliabilitätsprüfung und Zuverlässigkeit der Kategorien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 Korrespondenten-Experteninterviews als qualitative Ergänzungsmethode. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 3.3.1 Operationalisierung, Anlage und Durchführung der Befragung von Korrespondenten. . . . . . . . . . . . . . . . . 216
4 Ergebnisse der quantitativen Inhaltsanalyse: Das Lateinamerika-Bild in der Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, tageszeitung und Der Spiegel von 2000 bis 2014. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 4.1 Einfache Auswertung der quantitativen Inhaltsanalyse Lateinamerikas. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 4.1.1 Umfang, Häufigkeit und Kontinuität: Das winzige Interesse an Lateinamerika und sein fragmentarisches Bild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 4.1.1.1 Zwischenfazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 4.1.2 Länderbeachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 4.1.2.1 Die Determinanten der Lateinamerika-Berichterstattung: Ländermerkmale als Nachrichtenfaktoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 4.1.2.1.1 Erklärung der Outliers: Länder mit mehr Aufmerksamkeit als erwartet gemäß ihr „Status“ oder „Nähe“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 4.1.2.2 Systematisches Zwischenfazit: Länderbeachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 4.1.3 Journalistische Darstellungsformen und Zeitbezug der Artikel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261
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4.1.4 Sachgebiete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 4.1.5 Thematisierung und Themenstreuung in den Sachgebieten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 4.1.5.1 „Innenpolitik“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 4.1.5.1.1 „Politische Krisen und Konflikte“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 4.1.5.1.2 „Wahlen & Wahlergebnisse“ und „Rechtssystem, Justiz & Zivilgesellschaft“ . . . . . . . . . . . . . 285 4.1.5.1.3 „Menschenrechte“ und „Personalien in der Regierung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 4.1.5.1.4 Andere Hauptthemen der Innenpolitik. . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 4.1.5.1.5 Exkurs: Die unsichtbare Absetzung des paraguayischen Präsidenten Fernando Lugo 2012. . . . . . . . . . . 291 4.1.5.1.6 Zwischenfazit. . . . . . . . . . . . . . . . 297 4.1.5.2 „Außenpolitik“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 4.1.5.2.1 Dauerthemen der Außenpolitik. . . . . . . . . . . . . . . . . 303 4.1.5.2.2 US-Beziehung zu Lateinamerika. . . . . . . . . . . . . . . . 305 4.1.5.2.3 Deutsche Beziehung zu Lateinamerika. . . . . . . . . . . . . . . . 306 4.1.5.2.4 Beziehungen zwischen den lateinamerikanischen Ländern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 4.1.5.2.5 Zwischenfazit. . . . . . . . . . . . . . . . 310 4.1.5.3 „Umwelt“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 4.1.5.3.1 Dauerthemen des Bereiches „Umwelt“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 4.1.5.3.2 Exkurs: die unbeachteten Alternativen zum vorherrschenden Neoextraktivismus und das Konzept von „Buen Vivir“ . . . . . . 317 4.1.5.3.3 Zwischenfazit. . . . . . . . . . . . . . . . 320
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4.1.5.4
„Wirtschaft & Finanzen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 4.1.5.4.1 Dauerthemen der „Wirtschaft & Finanzen“. . . . . . . . . . . . . . . . . 324 4.1.5.4.2 Die argentinische Wirtschaftskrise . . . . . . . . . . . . . . 326 4.1.5.4.3 Lateinamerika als Absatz& Wachstumsmarkt oder Produktionsstandort . . . . . . . . . . . 329 4.1.5.4.4 Landwirtschaft & Naturressourcen und wirtschaftliche Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . 330 4.1.5.4.5 Zwischenfazit. . . . . . . . . . . . . . . . 331 4.1.5.5 „Soziales & Sozialordnung und Arbeit“. . . . . . 333 4.1.5.5.1 Zwischenfazit. . . . . . . . . . . . . . . . 339 4.1.5.6 „Kultur & Gesellschaft“. . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 4.1.5.6.1 Der bedeutende Stellenwert der kulturellen Berichterstattung Kubas. . . . . . . . 347 4.1.5.7 Zwischenfazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 4.1.5.8 „Forschung, Wissenschaft, Bildung & Technik“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 4.1.5.8.1 Zwischenfazit. . . . . . . . . . . . . . . . 353 4.1.5.9 „Buntes & Alltagskultur“. . . . . . . . . . . . . . . . . 353 4.1.5.9.1 Zwischenfazit. . . . . . . . . . . . . . . . 355 4.1.5.10 „Verbrechen & Kriminalität“ . . . . . . . . . . . . . . 355 4.1.5.10.1 Dauerthemen des Bereiches „Verbrechen & Kriminalität“. . . . 357 4.1.5.10.2 Der mexikanische Drogenkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 4.1.5.10.3 Die Mara-Gruppen in Zentralamerika und andere Dauerthemen. . . . . . . . . . . . . . . . . 361 4.1.5.10.4 Zwischenfazit. . . . . . . . . . . . . . . . 362 4.1.5.11 „Naturkatastrophen, Krankheiten & Unfälle“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 4.1.5.12 Zwischenfazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365
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4.1.6
Berichtsort und Autorenschaft der Lateinamerika-Berichterstattung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 4.1.6.1 Die Einschätzung der Rolle der Nachrichtenagenturen laut den in Lateinamerika ansässigen deutschen Pressekorrespondenten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 4.1.6.2 Zwischenfazit der Autorenschaft . . . . . . . . . . . 379 4.1.7 Handlungsträger. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 4.1.7.1 Zwischenfazit „Handlungsträger“. . . . . . . . . . . 389 4.1.8 Ereignisvalenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390 4.1.8.1 Zusammenhang zwischen Länderbeachtung und Berichterstattungsvalenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 4.1.8.2 Negativismus und thematische Rahmung. . . . . 402 4.1.8.3 Zwischenfazit der Ereignisvalenz. . . . . . . . . . . 407 4.1.9 Krisenzentrierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 4.1.9.1 Bedingter Krieg – Kolumbien, Mexiko, Guatemala und El Salvador. . . . . . . . . . . . . . . 412 4.1.9.2 Gewaltsame Krise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 4.1.9.2.1 Gewaltsame Krise in Honduras. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420 4.1.9.2.2 Gewaltsame Krise in Haiti . . . . . . 423 4.1.9.2.3 Gewaltsame Krise in Bolivien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426 4.1.9.2.4 Gewaltsame Krise in Venezuela. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 430 4.1.9.3 Gewaltlose Krisen und Kontroversen. . . . . . . . 435 4.1.9.4 Naturkatastrophen und Unfälle. . . . . . . . . . . . . 439 4.1.9.5 Zwischenfazit Krisenzentrierung . . . . . . . . . . . 441 4.1.10 Prominenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444 4.1.10.1 Zwischenfazit Prominenz / Grad der Bekanntheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 4.1.11 Personalisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450 4.1.12 Zwischenfazit „Personalisierung“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 4.1.13 Deutschlandbeteiligung und Nachrichtenperspektiven (Ethnozentrismus). . . . . . . . . . . 460 4.1.13.1 Zwischenfazit Ethnozentrismus . . . . . . . . . . . . 468 4.1.14 „Schaden“ und „Erfolg“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468
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4.2
4.3
XVII
4.1.15 Zwischenfazit „Schaden und Erfolg“. . . . . . . . . . . . . . . . . 472 4.1.16 „Betroffenheit“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473 Kombinierte Auswertung der Nachrichtenfaktoren der Berichterstattung Lateinamerikas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 474 4.2.1 Entwicklung der Themenstrukturen im Lauf der Jahre. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 4.2.2 Bedeutung der Nachrichtenfaktoren pro Presseorgan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 480 4.2.3 Bedeutung der Nachrichtenfaktoren pro Sachgebiet. . . . . 485 4.2.4 Entwicklung der Nachrichtenfaktoren und Strukturmerkmale im Lauf der Jahre. . . . . . . . . . . . . . . . . 490 4.2.5 Zwischenfazit der Entwicklungstrends der Lateinamerika-Berichterstattung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497 Länderprofile und Berichterstattungsmuster. . . . . . . . . . . . . . . . . . 499 4.3.1 Größte wirtschaftliche Partner Deutschlands: Brasilien, Mexiko und Argentinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 500 4.3.2 Staaten gegen den Washington-Konsens: Kuba, Venezuela, Bolivien, Ecuador . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 510 4.3.2.1 Kuba: ein außergewöhnliches Berichterstattungsmuster. . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 4.3.2.2 Die radikalen Linken des 21. Jahrhunderts. . . . 516 4.3.2.3 Exkurs: Das personalisierte und widersprüchliche Bild Hugo Chávez’ . . . . . . . . . . . . 520 4.3.2.4 Resümierte Berichterstattungsmuster der „linksradikalen“ Länder. . . . . . . . . . . . . . . 529 4.3.3 Kleine zentralamerikanische Nationen oder die vergessenen Länder. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 530 4.3.4 Länder der pazifischen Allianz und andere kleine südamerikanische Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 544 4.3.4.1 Das Berichterstattungsmuster der Staaten der pazifischen Allianz. . . . . . . . . . . . . 548 4.3.4.1.1 Die Stabilität Chiles und die Reduzierung seiner Berichterstattung nach Pinochet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 548 4.3.4.1.2 Die starke Reduzierung der Berichterstattung Perus nach Fujimori . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 553
XVIII
Inhaltsverzeichnis
4.3.4.1.3 Krisenberichterstattung Kolumbiens. . . . . . . . . . . . . . . . . . 556 4.3.4.2 Die Berichterstattung der MercosurLänder: Uruguay und Paraguay . . . . . . . . . . . . 560 4.3.4.2.1 Uruguay als eines der freiesten Länder Lateinamerikas. . . . . . . . . . . . . . . 560 4.3.4.2.2 Die ignorierte Instabilität Paraguays . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 561 4.3.4.2.3 Stabilität hat keinen Nachrichtenwert aus der journalistischen Perspektive. . . . . 564 4.3.4.3 Resümierende Berichterstattungsmerkmale der Gruppe 4. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 567 5 Systematische Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 569 6 Fazit: Winzig, aber vielfältig? Kunstszene und Wirtschaftsangelegenheit oder einfach mehr von denselben Konflikten, Krisen und Katastrophen?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 587 Bibliographie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 593
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 2.1
Theoretische Rahmenbedingungen der möglichen Einflussebenen und Strukturen der Auslandsberichterstattung nach Hafez (2002a, S. 32). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Abbildung 3.1 Entwicklung des Forschungsprozesses zur Untersuchung der deutschen Berichterstattung über Lateinamerika von 2000 bis 2014. . . . . . . . . . . . . . . 158 Abbildung 3.2 Größe der Beiträge in der Grundgesamtheit. . . . . . . . . . . 183 Abbildung 3.3 Anzahl der Beiträge pro Presseerscheinung in der Grundgesamtheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 Abbildung 3.4 Die Nachrichtengeografie – Das Länderverhältnis in der Grundgesamtheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Abbildung 3.5 Abbildung der geschichteten Stichprobe nach Zeitungen, Ländern und Erscheinungsintervall . . . . . . . . 186 Abbildung 3.6 Honduras-Berichterstattung in der Grundgesamtheit im Lauf der Jahre. . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Abbildung 3.7 Die Höhepunkte der Haiti-Berichterstattung . . . . . . . . . . 188 Abbildung 3.8 Die Höhepunkte der El Salvador-Berichterstattung im Lauf von 15 Jahren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Abbildung 3.9 Große Momente der Chile-Berichterstattung. . . . . . . . . . 190 Abbildung 3.10 Schwankungen in der Venezuela-Berichterstattung im Lauf von 15 Jahren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Abbildung 4.1 Fokus der Beiträge auf Lateinamerika in Prozentangaben (2000–2014). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Abbildung 4.2 Verteilung der Lateinamerika-Berichterstattung nach Presseorganen (2000–2014). . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225
XIX
XX
Abbildung 4.3 Abbildung 4.4 Abbildung 4.5 Abbildung 4.6 Abbildung 4.7 Abbildung 4.8 Abbildung 4.9 Abbildung 4.10 Abbildung 4.11 Abbildung 4.12 Abbildung 4.13 Abbildung 4.14 Abbildung 4.15 Abbildung 4.16 Abbildung 4.17 Abbildung 4.18 Abbildung 4.19 Abbildung 4.20 Abbildung 4.21 Abbildung 4.22
Abbildungsverzeichnis
Häufigkeit der erschienenen Artikel von 2000 bis 2014 in den analysierten Presseorganen. . . . . . . . . . . 226 Umfang der Berichterstattung Lateinamerikas gemessen in Worten (2000–2014). . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 Länderbezug der Berichterstattung Lateinamerikas (2000–2014) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Dimension von Ländermerkmalen (vgl. Hagen et al. 1998). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Länderbeachtung nach Machtstatus . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Länderbeachtung nach wirtschaftlicher Nähe. . . . . . . . . . 257 Journalistische Stile der Beiträge über Lateinamerika (2000–2014). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Darstellungsformen der Beiträge pro Zeitung und Zeitschrift (2000–2014). . . . . . . . . . . . . . . . 262 Verteilung der Beiträge über Lateinamerika von 2000–2014 auf einzelne Sachgebiete. . . . . . . . . . . . . 266 Anzahl der Politikzentrierung nach den Ländern Lateinamerikas (2000–2014) . . . . . . . . . . . . . . . 268 Verteilung der SZ-Beiträge auf spezifische Sachgebiete (2000–2014). . . . . . . . . . . . . . . . 271 Verteilung der FAZ-Beiträge auf spezifische Sachgebiete (2000–2014). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 Verteilung der taz-Beiträge auf spezifische Sachgebiete (2000–2014). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 Verteilung der Spiegel-Beiträge auf spezifische Sachgebiete (2000–2014). . . . . . . . . . . . . . . . 273 Valenz der gesamten Lateinamerika-Berichterstattung der deutschen Presse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 Grad des „Negativismus“ der Lateinamerika-Berichterstattung pro Land. . . . . . . . . . . . 394 Verhältnis zwischen Länderbeachtung und Bilanz der Valenz (positiv x negativ) nach Ländern. . . . . . . . . . . 400 Wertigkeitsverteilung pro Sachgebiet der Lateinamerika-Berichterstattung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 Ereignisvalenz der Berichterstattung Lateinamerikas nach Presseorganen. . . . . . . . . . . . . . . . . 406 Krisenzentrierung der Lateinamerika-Berichterstattung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411
Abbildungsverzeichnis
XXI
Abbildung 4.23 Berichterstattung Kolumbiens im Lauf der Jahre. . . . . . . 416 Abbildung 4.24 Entwicklung der Berichterstattung Ecuadors von 2000 bis 2014. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 Abbildung 4.25 Honduras Berichterstattung – Aufschwung 2009 während der politischen Krise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420 Abbildung 4.26 Große Pressbeachtung von Haiti – gewaltsame Krise (2004) und Naturkatastrophe (2010). . . . . . . . . . . . 424 Abbildung 4.27 Höhepunkt der Berichterstattung Boliviens – Skalierung der gewaltsamen Krise zwischen der Regierung und Oppositionsbewegung bis zur Wahl Morales 2005. . . . . . 427 Abbildung 4.28 Verlauf der Venezuela-Berichterstattung – Eskalation von gewaltsamen Krisen in den Jahren 2002 und 2014 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 430 Abbildung 4.29 Berichterstattung über Naturkatastrophen nach Ländern Lateinamerikas. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440 Abbildung 4.30 Intensitätsstufe der Personalisierung der Lateinamerika-Berichterstattung in Prozentangaben . . . . 451 Abbildung 4.31 Ausdifferenzierung der deutschen Beteiligung in der Berichterstattung Lateinamerikas (Nachrichtenperspektive) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 462 Abbildung 4.32 Häufigkeit der Nachrichtenfaktoren „Schaden“ und „Erfolg“ bei der Berichterstattung Lateinamerikas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470 Abbildung 4.33 Verteilung der Intensitätsstufe des Faktors „Betroffenheit“ in Prozent. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473 Abbildung 4.34 Verlauf der Berichterstattung Argentiniens, Brasiliens und Mexiko im Lauf der Jahre (2000–2014) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501 Abbildung 4.35 Verlauf der Berichterstattung der Nationen gegen den Washington-Konsens im Lauf der Jahre – Kuba, Venezuela, Ecuador und Bolivien . . . . . . . 511 Abbildung 4.36 Anzahl der Beiträge der kleinen zentralamerikanischen Länder in Lauf der Jahre (2000–2014). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 532 Abbildung 4.37 Anzahl der Beiträge der Länder der pazifischen Allianz (ohne Mexiko) und anderer kleinen Mercosur-Staaten im Lauf der Jahre (2000–2014). . . . . . 546
Tabellenverzeichnis
Tabelle 2.1 Tabelle 2.2 Tabelle 2.3 Tabelle 2.4
Tabelle 3.1
Tabelle 3.2 Tabelle 3.3 Tabelle 3.4 Tabelle 3.5
Tabelle 3.6
Tabelle 3.7 Tabelle 3.8
Nachrichtenfaktoren nach Galtung/Ruge, 1965. . . . . . . . . . . 78 Zusammengefasste Nachrichtenfaktoren und Dimensionen nach Schulz, 1976 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Zusammengefasste Nachrichtenfaktoren nach Staab, 1990. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 Forschungsverknüpfung zur Auslandsberichterstattung: MacBride-Kommission – Strukturmerkmale – Nachrichtenfaktoren – überarbeitete Darstellung nach Hafez (2002a, S. 71) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Tabellarische Zusammenfassung der untersuchten inhaltlichen Kategorien und Verbindung zu Theoriebezug und entsprechenden Forschungsfragen. . . . . . 160 Ausgewählte Medien und deren Druckauflage und Reichweite. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 Verbreitung, Verkaufsauflage und Abonnement der untersuchten Presseorgane. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Länderverhältnis zwischen Zufallsstichprobe und künstlicher Woche (SZ 2000–2013). . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Verteilung der Beiträge pro Jahre in der Zufallsstichprobe und künstlicher Woche (SZ 2000–2013) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 Verhältnis der Größe der Beiträge zwischen der Zufallsstichprobe und künstliche Woche (SZ 2000–2013) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Signifikanzprüfung für die Länderverteilung. . . . . . . . . . . . . 180 Signifikanzprüfung für die Verteilung der Texte über die Jahre und Größe der Beiträge. . . . . . . . . . . . . 181 XXIII
XXIV
Tabelle 3.9 Tabelle 3.10 Tabelle 4.1 Tabelle 4.2 Tabelle 4.3 Tabelle 4.4
Tabelle 4.5
Tabelle 4.6
Tabelle 4.7 Tabelle 4.8 Tabelle 4.9
Tabelle 4.10
Tabelle 4.11
Tabelle 4.12 Tabelle 4.13 Tabelle 4.14 Tabelle 4.15
Tabellenverzeichnis
Übereinstimmung der Kategorien beim Reliabilitätstest. . . . 214 Befragte Korrespondenten in Lateinamerika. . . . . . . . . . . . . 217 Häufigkeit innerhalb der Länder Lateinamerikas. . . . . . . . . . 229 Größe der Beiträge über Lateinamerika nach Presseorganen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Status-Dimensionen von Ländern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 Korrelation zwischen der Anzahl der veröffentlichen Beiträge der Länder und den Ländermerkmalen als Nachrichtenfaktoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Korrelation zwischen der Anzahl der veröffentlichen Beiträge der Länder und den Ländermerkmalen als Nachrichtenfaktoren (Ergebnisse ohne Extremfälle Brasilien und Mexiko) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 Korrelation zwischen der Anzahl der veröffentlichen Beiträge innerhalb der Sachgebiete und den Ländermerkmalen als Nachrichtenfaktoren (Ergebnisse ohne Extremfälle Brasilien und Mexiko). . . . . . 254 Prozentangaben von Darstellungsformen innerhalb der Kategorie „Autorenschaft“. . . . . . . . . . . . . . . . 264 Einordnung der Kategorie „Zeitbezug“ zur Analyse des Faktors „Aktualität“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Die Hauptthemen der Lateinamerika-Berichterstattung innerhalb des Sachgebietes „Innenpolitik“ pro Presseorgan (2000–2014). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 Zusammenfassung der etablierten Themen der Lateinamerika-Berichterstattung innerhalb des Bereiches „Innenpolitik“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 Häufigste mittelfristig eingeführte Themen der Lateinamerika-Berichterstattung innerhalb des Bereiches Innenpolitik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Die Thematisierung innerhalb des Bereiches „Außenpolitik“ pro Presseorgan. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 Mittel- und langfristige Thematisierung innerhalb des Bereiches „Außenpolitik“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 Die Hauptthemen innerhalb des Sachgebietes „Umwelt“ pro Presseorgan. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 Tabellarische Zusammenfassung der mittel- und langfristigen Themen des Bereiches „Umwelt“. . . . . . . . . . . 313
Tabellenverzeichnis
XXV
Tabelle 4.16 Thematisierung des Bereiches „Wirtschaft & Finanzen“ pro Presseorgan. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 Tabelle 4.17 Thematisierung des Sachgebiets „Wirtschaft & Finanzen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Tabelle 4.18 Tabellarische Darstellung der Thematisierung des Sachgebietes „Soziales, Sozialordnung und Arbeit“ pro Zeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 Tabelle 4.19 Dauerthemen des Sachgebietes „Soziales, Sozialordnung & Arbeit“.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 Tabelle 4.20 Tabellarische Darstellung der Thematisierung des Sachgebiets „Kultur & Gesellschaft“ pro Zeitung. . . . . . 344 Tabelle 4.21 Verteilung der Thematik des Bereiches „Forschung, Wissenschaft, Bildung & Technik“ nach Presseorganen. . . . 352 Tabelle 4.22 Hauptthemen innerhalb des Bereiches „Buntes & Alltagskultur“ pro Presseorgan. . . . . . . . . . . . . . . 354 Tabelle 4.23 Thematisierung innerhalb des Sachgebiets „Verbrechen & Kriminalität“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 Tabelle 4.24 Langfristige Thematisierung des Bereiches „Verbrechen & Kriminalität“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 Tabelle 4.25 Thematisierung des Bereiches „Naturkatastrophen, Unglücke & Krankheiten“ nach Presseorganen. . . . . . . . . . . 364 Tabelle 4.26 Anzahl der Büros der Hauptnachrichtenagenturen in Lateinamerika nach Ländern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 Tabelle 4.27 Autorenschaft oder Quellen in den drei Phasen der Lateinamerika-Berichterstattung. . . . . . . . . . . . . 369 Tabelle 4.28 Berichterstattungsquellen der untersuchten Presseorgane zwischen 2000 und 2014 . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 Tabelle 4.29 Detaillierte Berichterstattungsquellen der Lateinamerika-Berichterstattung zwischen 2000 und 2014 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 Tabelle 4.30 Die von den untersuchten Zeitungen benutzten Nachrichtenagenturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 Tabelle 4.31 Gesamtübersicht der Akteure der gesamten Lateinamerika-Berichterstattung von 2000 bis 2014. . . . . . . 381 Tabelle 4.32 Handlung der Exekutive, Legislative und Judikative innerhalb der offiziellen Staatsvertreter als Akteure der Berichterstattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382
XXVI
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Tabelle 4.33 Ausdifferenzierung der „organisierten gesellschaftlichen Gruppen“ als Handlungsträger der Berichterstattung. . . . . . . 383 Tabelle 4.34 Verteilung der Handlungsträger nach Sachgebieten der Lateinamerika-Berichterstattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 Tabelle 4.35 Anzahl der Handlungsträger nach Presseorganen . . . . . . . . . 388 Tabelle 4.36 Ländererwähnung in unterschiedlichen Kontextvalenzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396 Tabelle 4.37 Rangfolge spezifischer Ereignisvalenz in Prozentangaben innerhalb der einzelnen Länder (positiv + negativ + neutral = 100 %) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 Tabelle 4.38 Krisenintensität nach Ländern – keine Krise vorhanden (0), gewaltlose Krise (1), gewaltsame Krise (2) und bedingte Krise (3). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412 Tabelle 4.39 Ausdifferenzierung der Krisenberichterstattung in Prozent pro Land . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 Tabelle 4.40 Prominenz der unterschiedlichen Kategorien von Handlungsträgern der Lateinamerika-Berichterstattung . . . . 445 Tabelle 4.41 Grad des Nachrichtenfaktors „Prominenz“ pro Sachgebiet der Berichterstattung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446 Tabelle 4.42 Mittlere Intensitätsstufe des Nachrichtenfaktors „Prominenz“ nach Ländern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 Tabelle 4.43 Die Intensität des Faktors „Personalisierung“ nach Sachgebieten der Lateinamerika-Berichterstattung. . . . 453 Tabelle 4.44 Mittelwerte der Intensitätsstufe des Faktors „Personalisierung“ pro Land in Lateinamerika . . . . . . . . . . . 454 Tabelle 4.45 „Westliche“ Handlungsträger der Berichterstattung Lateinamerikas in Prozent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 Tabelle 4.46 Anzahl von deutschen Beteiligungen innerhalb der Sachgebiete. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 464 Tabelle 4.47 Ereignisvalenz bei deutscher Beteiligung. . . . . . . . . . . . . . . . 466 Tabelle 4.48 Anzahl von Deutschlandbeteiligung nach Autorenschaft der Berichterstattung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 Tabelle 4.49 Vorkommen der Faktoren „Schaden“ und „Erfolg“ in Prozentangaben und Mittelwert der Intensitätsstufe (0–3) nach Sachgebieten. Gesamter Untersuchungszeitraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471 Tabelle 4.50 Entwicklung der thematischen Struktur der Auslandsberichterstattung Lateinamerikas in drei unterschiedlichen Phasen des Untersuchungszeitraums von 2000 bis 2014 (Anteil der Beiträge in Prozent). . . . . . . . 476
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Tabelle 4.51 Themenstruktur der Auslandsberichterstattung Lateinamerikas nach Presseorgan und Untersuchungsphasen (Anteil der Beiträge in Prozent) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 478 Tabelle 4.52 Anteil der Beiträge, auf die die jeweiligen Nachrichtenfaktoren und Strukturmerkmale der Auslandsberichterstattung zutreffen (in Prozent) über den gesamten Untersuchungszeitraum von 2000 bis 2014. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482 Tabelle 4.53 Durchschnittliche Intensitätsstufe der Nachrichtenfaktoren für den gesamten Untersuchungszeitraum (2000–2014) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483 Tabelle 4.54 Beachtung der am häufigsten thematisierten Länder pro Presseorgan (2000–2014) in Prozent. . . . . . . . . . 484 Tabelle 4.55 Bedeutendste Nachrichtenfaktoren und Strukturmerkmale der Lateinamerika-Berichterstattung der Hard-News-Bereiche „Innenpolitik, Außenpolitik und Wirtschaft & Finanzen“ (in Klammern Häufigkeit ihres Vorkommens in Prozent und die Mittelwerte der Intensitätsstufe von 0 bis 3, wenn passend). . . . . . . . . . . . . . 486 Tabelle 4.56 Bedeutendste Nachrichtenfaktoren und Strukturmerkmale der Lateinamerika-Berichterstattung der Hard-News-Bereiche „Umwelt, Soziales, Verbrechen & Kriminalität und Katastrophen & Unfälle“ (in Klammern Häufigkeit ihres Vorkommens in Prozent und die Mittelwerte der Intensitätsstufe von 0 bis 3, wenn passend) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487 Tabelle 4.57 Bedeutendste Nachrichtenfaktoren und Strukturmerkmale der Lateinamerika-Berichterstattung der Soft-News-Bereiche „Kultur & Gesellschaft, Forschung & Technik und Buntes & Alltagskultur“ (in Klammern Häufigkeit ihres Vorkommens in Prozent und die Mittelwerte der Intensitätsstufe von 0 bis 3, wenn passend) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 488 Tabelle 4.58 Entwicklung der Nachrichtenfaktorenintensität im Lauf der 15 Jahre der Lateinamerika-Berichterstattung. . . . . . . . . 491
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Tabelle 4.59 Entwicklung des Häufigkeitsvorkommens der Nachrichtenfaktoren und Strukturmerkmale der Lateinamerika-Berichterstattung gemessen in Prozent (2000–2014) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 492 Tabelle 4.60 Entwicklung des Häufigkeitsvorkommens der Nachrichtenfaktoren und Strukturmerkmale gemessen in Prozent und in drei unterschiedlichen Perioden der L ateinamerika-Berichterstattung (2000–2004; 2005–2009; 2010–2014). . . . . . . . . . . . . . . . . . 495 Tabelle 4.61 Sachgebietsverteilung der wichtigsten Handelspartner Deutschlands – Brasilien, Mexiko und Argentinien – thematische Schwerpunktsetzung in Prozent der gesamten Berichterstattung jedes Landes. . . . . . . . . . . . . . . . 503 Tabelle 4.62 Die fünf am häufigsten berichteten Hauptthemen der Berichterstattung Argentiniens, Brasiliens und Mexikos in Prozent. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 504 Tabelle 4.63 Ähnliche Anwesenheit von Merkmalen (in Prozent) und Nachrichtenfaktoren (Mittelwert) in der Berichterstattung der drei Top-Länder. . . . . . . . . . . . . . . . . . 508 Tabelle 4.64 Sachgebietsverteilung der Berichterstattung Boliviens, Ecuadors, Kubas und Venezuelas in Prozent (2000–2014) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 514 Tabelle 4.65 Strukturmerkmale (in Prozent) und Mittelwert der Intensität der Nachrichtenfaktoren der Länder gegen den Washington-Konsens in Lauf der Jahre (2000–2014). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 516 Tabelle 4.66 Die 5 Hauptthemen der Berichterstattung der anti-hegemonialen Länder in Prozent. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517 Tabelle 4.67 Attributzuschreibung von Hugo Chávez und anderen linksradikalen Regierungen Lateinamerika . . . . . . . . . . . . . . 524 Tabelle 4.68 Sachgebietsverteilung in Prozent der vergessenen zentralamerikanischen Länder – „Verbrechen & Kriminalität“, „Naturkatastrophen“ und „Reiseberichte“ als Schwerpunkte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 533 Tabelle 4.69 Die 5 Topthemen der kleinen zentralamerikanischen Länder in Prozent. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 536
Tabellenverzeichnis
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Tabelle 4.70 Strukturmerkmale in Prozent und Mittelwerte der Intensitätsfaktoren der kleinen zentralamerikanischen Länder. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 541 Tabelle 4.71 Sachgebietsverteilung in Prozent der Länder der pazifischen Allianz und anderer kleiner Mercosur-Staaten in Lauf der Jahre (2000–2014). . . . . . . . . 547 Tabelle 4.72 Die 5 Top-Themen der Länder der pazifischen Allianz und anderer südamerikanischer Staaten in Prozent (200–2014) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 552 Tabelle 4.73 Strukturmerkmale der Berichterstattung in Prozent und Mittelwerte von Nachrichtenfaktoren der Länder der pazifischen Allianz und anderen kleinen südamerikanischen Staaten in Lauf der Jahre (2000–2014). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 559
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Einleitung
Das grundlegende Interesse an der globalen Auslandsberichterstattung liegt an ihrem beeindruckenden Agenda-Setting-Effekt nicht nur auf die Öffentlichkeit, sondern auch auf die Innen- und Außenpolitik. Medien beeinflussen erheblich das perzipierte Auslandsbild der Menschen, denn der Rezipient verfügt normalerweise nicht über eine eigene primäre Erfahrung mit dem Berichterstattungsgebiet (vgl. Wu 1998; vgl. Hafez 2002a, S. 12). Im Gegenteil, für die unmittelbare Nähe zur sozialen und kulturellen Lebenswelt besteht bei der Mehrheit der Rezipienten keine Gelegenheit, die medialen Auslandsbilder mit eigenen Erkenntnissen und Erlebnissen zu vergleichen, zu beurteilen oder zu kritisieren (vgl. Hafez und Grüne 2015, S. 100). Obwohl der Aufstieg des Tourismus in Zeiten der Globalisierung dazu geführt hat, dass die Menschen (wenigstens in spezifischen Nationen) mehr unmittelbaren Kontakt (Primärerfahrung) zu anderen Ländern und ihren Bevölkerungen haben, ändert sich nur wenig daran, dass die Mediennutzer über die ganze Welt immer noch aus der internationalen Auslandsberichterstattung erfahren (vgl. Wilke 1989, S. 11). Diese globale Auslandsbeweglichkeit selbst sei keine Garantie für eine kosmopolitische Lebenswelt, insbesondere wenn internationale Reisen sich auf die Pauschaltouren beschränken, die meistens von der Wirklichkeit der lokalen Bevölkerung entkoppelt sind (vgl. Hafez und Grüne 2015, S. 108). Ebenfalls begrenzt sich die studentische Mobilität gewöhnlich auf die westlichen Länder, so entstehen wenige Chancen, stereotype Medienimages der Fernwelt abzubauen (ebd.). Lateinamerika als Kontinent gehört zu den blinden Flecken der Auslandsberichterstattung in Deutschland. „Wenn Südamerika oder Lateinamerika untergingen, würde es in Hamburg keiner merken“, meinte ein Regionalkorrespondent (vgl. Wienand 2008, S. 323). Gleichzeitig modifizierten die Terrorattacken © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 R. Cazzamatta, Lateinamerikaberichterstattung der deutschen Presse, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30784-4_1
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vom 11. September 2001 in New York und die folgenden Afghanistan- und Irak-Kriege erheblich die geopolitische Weltordnung und damit die nachrichtenpolitische Konstellation (vgl. Tiele 2010, S. 3). Als Folge beobachten Lateinamerikakorrespondenten im Interview mit der Autorin dieser Arbeit, dass der Konkurrenzkampf um Platz in den deutschen bzw. europäischen Medien anstieg, und die Beachtung Lateinamerikas noch erschwert wurde. Unterschiedliche alte und aktuelle Untersuchungen zur Nachrichtengeografie haben schon auf die geringe Aufmerksamkeit für den Kontinent in der globalen Nachrichtenstruktur hingedeutet und Lateinamerika bis heute als „weißen Fleck“ betitelt (vgl. Schramm 1959; vgl. Sreberny-Mohammadi et al. 1980; vgl. Wu 2000; vgl. Tiele 2010). Diese defizitäre Beachtung des Kontinents ist problematisch, denn die öffentliche Meinung sei eine der relevantesten Variablen für die Entwicklung der Außenpolitik in demokratischen Gesellschaften (vgl. Wu 1998). Wissenschaftler haben schon gezeigt, dass die globale Auslandsberichterstattung in der Lage ist, die Ausrichtung der Außenpolitik und der internationalen Beziehungen zu gestalten (vgl. Cohen 1993; vgl. Wu 1998). Die Menschen, die keine andere Möglichkeit haben, Entwicklungen und Prozesse in Lateinamerika selbst zu beobachten, sind auf die Massenmedien angewiesen, um sich ein Bild der lateinamerikanischen Länder machen zu können. Welche globalen Staaten von den Mediennutzern grundsätzlich als wichtig beurteilt werden, wird u. a. von der Länderauswahl und dem Ausmaß der medialen Beachtung determiniert (vgl. Wanta und Hu 1993; vgl. Wanta et al. 2004). Allerdings fällt dem Kontinent laut den erwähnten Studien zur Nachrichtengeografie keine Priorität der internationalen Berichterstattung zu. Eine weitere Problemstellung neben der mangelnden LateinamerikaBerichterstattung ist der defizitäre, lückenhafte und veraltete Forschungsstand hinsichtlich der Konstruktion des Lateinamerikabildes innerhalb der deutschen Kommunikationswissenschaft. Eine Bilanz des Ibero-Amerikanischen Institutes über die „Wirtschafts-, sozial- und geisteswissenschaftliche Lateinamerikaforschung in Deutschland“ zeigt, dass sich die deutsche Kommunikationswissenschaft in Forschung und Lehre insbesondere auf Deutschland fokussiert (vgl. Göbel et al. 2009, S. 43). Bei der internationalen Kommunikation – einem klaren Gegengewicht zu diesem Trend – erhielten bisher nur ein paar asiatische Länder und die islamische Welt die größte Forschungsaufmerksamkeit, während Lateinamerika „eine nur sehr marginale Rolle“ (ebd.) spielt. Zudem gäbe es im Bereich der Kommunikationswissenschat laut dem Bericht keine Lateinamerikaexperten an den Universitäten (ebd.). Die Untersuchung des Lateinamerikabildes in den deutschen Medien ist bislang defizitär bearbeitet worden. Während umfangreiche Studien zum Afrika-, Nahost- und Asienbild (z. B. China) existieren (vgl. Hafez 2002a; vgl.
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Nafroth 2002; vgl. Oh 2002; vgl. Richter und Gebauer 2010; vgl. Bieber 2011; vgl. Wanke 2013), ist der Forschungsstand zum Lateinamerikabild zumindest teilweise veraltet (vgl. Abschnitt 2.10). Die letzte große Analyse in diesem Kontext liegt etwa zwanzig Jahre zurück (vgl. Wöhlcke 1973; vgl. Roemeling 1987; vgl. Wilke und Schenk 1987; vgl. Roemeling-Kruthaup 1991), obwohl sich der ganze Kontinent – neben der globalen nachrichtenpolitischen Struktur – seit den 1980erJahren wirtschaftlich, politisch und sozial stark verändert hat. Da die Massendemokratie sich dadurch auszeichnet, dass viele politische und wirtschaftliche Problematiken öffentlich verhandelt werden und die öffentliche Meinung in den entsprechenden internationalen Verhältnissen wirksam werden kann, ist das Bild, das ein spezifisches Land in den Medien eines anderen Landes erhält, potenziell politisch und wirtschaftlich von Belang (vgl. Hafez 2002a). Die Auslandsberichterstattung eines Landes – bzw. seine Darstellung oder Nichtdarstellung in der Presse – hat einen Einfluss auf die internationalen Beziehungen, auf die globalen öffentlichen Meinungen und auf die Entstehung von Auslandsbildern und Stereotypen (vgl. Abschnitt 2.2.2). Demzufolge ist es essenziell, zu untersuchen, welche Nationen von den Medien beachtet werden und welche Images dadurch entstehen (vgl. Schulz 2008, S. 71). Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, diese Forschungslücke zu schließen und die Struktur und Entstehungsbedingungen der Lateinamerika-Berichterstattung in den ersten fünfzehn Jahren des 21. Jahrhunderts (von 2000 bis 2014) neu zu untersuchen oder zu aktualisieren. Unterschiedliche politische und wirtschaftliche Umbrüche Lateinamerikas sind in diesem Kontext beachtenswert, denn die Auslandsberichterstattung determiniert oftmals, welche Sorte von globalen Images eines Staates oder einer Kultur vorherrschen (vgl. Kunczik 2002). Die aktuellen Verhältnisse der lateinamerikanischen Länder zu den anderen Weltnationen unterscheiden sich erheblich von ihren ursprünglichen Mustern in den 1960er- bis zu den 1990er-Jahren und sogar von der Wende zum 21. Jahrhundert (vgl. Lowenthal und Baron 2015, S. 26). Nicht nur der Kalte Krieg und sein Einfluss auf den Kontinent wurden 1991 beendet, auch die letzten beiden südamerikanischen Militärdiktaturen in Chile und Paraguay kamen in den 1990er-Jahren zu ihrem Ende. Demzufolge scheint es plausibel, das wahrscheinlich veränderte Lateinamerika-Image neu zu untersuchen, insbesondere weil die wenigen vorhandenen Studien aus der Ära des Kalten Krieges stammen. Die 1990er-Jahre brachten dementsprechend mehr Demokratie und neoliberale Wirtschaftspolitik. Zusammen mit der Demokratisierung entstanden die Strukturreformen und die Deregulierung der Märkte, die zu einer Reduktion der formalen Beschäftigung und zu einer Intensivierung der informellen und sehr prekären Arbeitsverhältnisse führten (vgl. Wollrad
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2009, S. 19). Die neoliberalen Maßnahmen, die sich an marktradikalen Strukturanpassungsprogrammen und „staatlicher Austerität“ orientierten, verursachten vor allem zunehmende Bedürftigkeit, Ungleichheiten und die Verarmung der Mittelschicht (vgl. Burchardt 2016, S. 4). Deshalb fand seit den 2000er-Jahren eine Reihe von Regierungswenden in Richtung des linken oder mittel-linken politischen Spektrums statt (vgl. Wollrad 2009, S. 17). Die aus der Neoliberalismuspolitik resultierende soziale Frustration und Ernüchterung führten zum Jahrtausendwechsel zu einem „Linksruck“1, der in der internationalen Presse immer aufmerksamer verfolgt und kommentiert wurde. Anfang der 1990er-Jahre wäre es noch unvorstellbar gewesen, dass in so vielen Ländern wie Brasilien, Bolivien, Chile, Ecuador, Uruguay und Venezuela oder auch in weniger linken Regierungen demokratisch hätte gewählt werden können, ohne dass Militärs oder eine fremde Macht eingriffe2 (vgl. Le Monde Diplomatique 2010, S. 40). In der deutschen
1Zurzeit
befindet sich Lateinamerika wieder in einer anderen politischen Wende. Analysten diskutieren gegenwärtig schon das Ende der linken Dekade. Mit dem Rückgang des Rohstoffpreises entstanden große politische und wirtschaftliche Schwierigkeiten. Daher halten Wissenschaftler die linke Ära für abgeschlossen. In Argentinien wurde der „Kirchnerismus“ 2015 abgewählt, indem der neoliberale Unternehmer Mauricio Macri die Präsidentschaftswahlen gewann. In Brasilien wurde 2016 durch ein polemisches und fragwürdiges Impeachment die Präsidentin Dilma Rousseff, Nachfolgerin von Lula, des Amtes enthoben. Als Folge der politischen Krise und der Beeinflussung der Wahlkampagnen durch soziale Medien wie „WhatsApp“ gelang es dem Rechtsextremisten Jair Bolsonaro, die Wahlen zu gewinnen. Im Februar 2016 verlor Evo Morales die Volksabstimmung, in der entschieden wurde, ob er ein viertes Mal um das Amt des Präsidenten konkurrieren durfte. Zudem geriet Venezuela seit 2015 in eine tiefe politische und wirtschaftliche Krise, vor allem nach dem außerordentlichen Wahlsieg der Opposition bei der Parlamentswahl (vgl. Brand 2016; vgl. Keppeler 2016; vgl. Piepenbrink 2016). Die Berichterstattung dieser neuen Phasen sowie ihre politischen Gründe und Interpretationen befinden sich außerhalb des Ziels der vorliegenden Arbeit. Die Dissertation bezieht sich auf die linke Ära und begrenzt ihre Analyse auf die ersten 15 Jahre des 21. Jahrhunderts. Die Frage, ob sich die Nachrichtenfaktoren und die Struktur der Lateinamerika-Berichterstattung mit der neuen rechten Wende verändert hat, können nur zukünftige Analysen der Auslandsberichterstattung Lateinamerikas beantworten. Für eine ausführliche Analyse der Zeitwende Lateinamerikas: (vgl. Brand 2016; vgl. Burchardt 2016; vgl. Grimson 2016; vgl. Keppeler 2016; vgl. Piepenbrink 2016). 2Der Beginn des Linksrutsches wurde mit der Wahl von Hugo Chávez 1999 in Venezuela markiert; es folgte dann Ricardo Lagos in Chile (2000), Luiz Inácio Lula da Silva in Brasilien und Néstor Kirchner in Argentinien (2003), Tabaré Vásquez in Uruguay (2005) sowie Evo Morales in Bolivien, Rafael Correa in Ecuador und Michele Bachelet wieder in Chile (2006), um ein paar Beispiele zu nennen (vgl. Piepenbrink 2016, S. 3). Zum Ende des sogenannten „Superwahljahres“ 2006 wurden sieben Staaten Südamerikas von Präsidenten regiert, die sich links von der Mitte positionierten und öfter als Populisten
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Wahrnehmung war Lateinamerika über die letzten 50 Jahre sowieso eine „Projektionsfläche für Revolutionsträume“ (vgl. Wollrad 2009; vgl. Werz 2010), sodass es nicht erstaunlich ist, dass dieser Linksrutsch seit den 2000er-Jahren das Interesse der Presse möglicherweise erweckte. Trotz des neuen politischen Kontextes „scheint [Lateinamerika] noch immer ein Ort für romantisch verklärte Fantasien der politischen Linken, erotische Träume verklemmter Europäer oder Wunschbilder von Umweltaktivisten zu sein“ (Wienand 2008, S. 323). Die ersten Jahre des 21. Jahrhunderts waren zudem von einer Diversifizierung der Außenpolitik Lateinamerikas geprägt. Unterschiedliche Staaten im Kontinent unterhielten verschiedenartige und bedeutende internationale Beziehungen, sowohl mit anderen Ländern Lateinamerikas als auch mit Asien, Europa, Afrika und dem Nahen Osten (vgl. Lowenthal und Baron 2015, S. 25). Die zunehmend wichtigere Rolle nichtstaatlicher lateinamerikanischer Akteure weltweit, die möglicherweise einen Einfluss auf die Auslandsberichterstattung haben, ist ebenfalls ein weiterer Trend der neuen geopolitischen Situation. Akteure außerhalb der Regierungskanäle – Unternehmen3, Gewerkschaften, politische Parteien,
charakterisiert wurden. Zudem wurde der Sandinist Daniel Ortega in Nicaragua ebenfalls gewählt. In Peru und Mexiko verloren 2006 hingegen Kandidaten der Linken – Ollanta Humala und Andrés Manuel López Obrador – durch einen minimalen Unterschied der Wahlstimmen und akzeptierten das Wahlergebnis nicht (vgl. Watzal 2006, S. 2). Ollanta Humala gewann die Wahlen erst 2011 in Peru und war 2017 zu 18 Monaten Untersuchungshaft wegen Korruptionsverdacht verurteilt worden. Lopez Obrador wurde 2018 in Mexiko – als die linke Ära des Kontinents am Ende zu sein schien – gewählt. Es muss allerdings beachtet werden, dass die Wahl unterschiedlicher linksorientierter Regierungen nicht unbedingt zu den strukturellen und gesellschaftlichen Veränderungen führte und manchmal viel Kontinuität darstellte. Linke radikale Haltungen wie bei dem venezolanischen Präsident Chávez waren Ausnahmen (vgl. Wienand 2008, S. 323). Wissenschaftler beschrieben beispielsweise die Entwicklung in Brasilien durch sein Transferleistungsprogramm als „Fortschritt ohne Konflikt“ und „Verteilung ohne Umverteilung“ (Anderson 2011), denn es fehlte die strukturelle soziale Wende. Die umfassenden Sozialprogramme wurden meistens durch den Neo-Extraktivismus, d. h. die grenzenlose Rohstoffausfuhr, finanziert, ohne dass die soziale Strukturbasis modifiziert werden konnte (vgl. Piepenbrink 2016, S. 3). 3Hierbei spielten die lateinamerikanischen multinationale Konzerne die wichtigste Rolle – Gerdau, Petrobrás, Embraer, Vale, Odebrecht und Natura aus Brasilien; ALFA, América Móvil, Bimbo, Cemex, FEMSA, Pemex, TELMEX und Televisa aus Mexiko; Cencosud, Concha y Toro, Fallabella, Latam Airlines Group und Sigdo Koppers aus Chile; und zuletzt ARCOR und Techint aus Argentinien (vgl. Herrero 2015; vgl. Lowenthal und Baron 2015).
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Berufsverbände, Stiftungen, nationale und internationalen NGOs und andere organisierte gesellschaftliche Gruppen – spielten eine wichtigere und wesentliche Rolle (vgl. Lowenthal und Baron 2015, S. 38). Da die Auslandsberichterstattung sozusagen „die internationalen, grenzüberschreitenden Kommunikationsbeziehungen“ (Wilke 1989, S. 11) produziert, sollte man die politische und wirtschaftlichen Wende Lateinamerikas ebenfalls berücksichtigen, d. h. kontextualisieren. Die Interaktion Lateinamerikas mit der Welt hat sich weiterentwickelt, genauso wie die Relevanz des Kontinents für die internationale Agenda und sein Einfluss auf die internationale Politik (ebd. S. 26). Neben den vielfältigen Verhältnissen innerhalb der eigenen Region (der sogenannte Lateinamerika-Regionalmultilateralismus) verteidigten viele Länder am Anfang des 21. Jahrhunderts außenpolitische Haltungen, die nicht mehr mit den Erwartungen der US-Administration übereinstimmten.4 Lateinamerika, insbesondere Südamerika, gewann im Laufe des Rohstoffbooms seit den 2000er-Jahren ein deutlich sichtbares Selbstbewusstsein in Hinblick auf seine Außenpolitik. Dies ließ sich an der Entwicklung der Süd-Süd-Kooperationen5 sowie an den generellen Diversifikationen der Außenpolitik und Autonomiebestrebungen ablesen (vgl. Zilla 2016, S. 35). Während Argentinien und Mexiko weniger internationalen Einfluss zeigten, rückten Brasilien und Venezuela aufgrund ihres außenpolitischen Engagements als regionale Führungsmächte ins Licht der globalen Öffentlichkeit (ebd.). Brasilien spielte damals eine zunehmend
4Nur
um ein paar Beispiele zu nennen, es unterstützten bloß vier von vierunddreißig lateinamerikanischen Ländern mit ihren Truppen den US-Militäreinsatz im Irak 2003, nämlich El Salvador, Honduras, Nicaragua und die Dominikanische Republik. Jedoch trat der damalige dominikanische Außenminister aus Kritik gegen seine Regierung zurück. In Südamerika war Kolumbien die einzige Nation, die den US-Einsatz im Irak befürwortete. Nicht zu vergessen ist, dass Kolumbien damals der fünfgrößte Empfänger von US-Auslandshilfe auf der Erde war und der größte innerhalb des Kontinents (vgl. Lowenthal und Baron 2015, S. 26). Chile und Mexiko – damals Mitglieder des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen – hatten eine wichtige Rolle, indem sie den Versuch der USA verhinderten, die Zustimmung des Sicherheitsrats zu militärischen Ansätzen zu erhalten. Darüber hinaus hatte Lateinamerika neue regionale Institutionen ins Leben gerufen, die die US-Teilnahme kategorisch ausklammern (vgl. Lowenthal und Baron 2015, S. 26) 5Unterschiedliche regionale Initiativen wurden ins Leben gerufen: die Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR), die Bolivarianische Allianz für die Völker unseres Amerika (ALBA) und die Gemeinschaft lateinamerikanischer und karibischer Staaten (CELAC) oder die beginnende südamerikanische Bank – (vgl. Lowenthal und Baron 2015; vgl. Zilla 2016).
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wichtige Rolle auf der internationalen Bühne und war einer der einflussreichsten (vgl. Lowenthal und Baron 2015, S. 33) BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika). Die ALBA-Staaten kultivierten ebenfalls aktiv internationale Verhältnisse, wenn auch mit anderem Format. Venezuela nutzte seine Erdölvorkommen, um diplomatisch-politische Unterstützung von Nationen aus der Karibik und Mittelamerika zu erhalten, indem es Energie zu Vorzugspreisen lieferte (ebd. S. 34). Die provokative Haltung von Hugo Chávez in der globalen Öffentlichkeit und seine sogenannte Bolivarische Revolution erhielten Aufmerksamkeit in zentralen Medien (vgl. Yazbeck und Temes 2010, S. 12). Diese unterschiedlichen Einstellungen und Verhaltensweisen der lateinamerikanischen Länder auf der internationalen Bühne sind relevant, da die Art und Weise wie ein Staat in den globalen Medien dargestellt wird, Einfluss darauf hat, ob die Mediennutzer die porträtierte Nation allgemein als positiv oder negativ wahrnehmen (vgl. McNelly und Izcaray 1986; vgl. Wanta et al. 2004). Darüber hinaus intensivieren wirtschaftliche Verhältnisse und ideologische Beziehungen die mediale Beachtung der Länder (vgl. Kunczik 2002). Diese beschriebene neue wirtschaftliche und politische Konjunktur des Kontinents seit den 2000er-Jahren wurde darüber hinaus von der Bundesregierung wahrgenommen, die daraufhin im Jahr 2010 ein neues Konzept für den Umgang mit Lateinamerika und der Karibik entwickelte (vgl. Auswärtiges Amt 2010). Das formulierte Ziel war es, „dort (Lateinamerika) das Interesse an uns als dauerhaftem, verlässlichem Partner zu verankern und auf die gestiegene wirtschaftliche und politische Bedeutung lateinamerikanischer Staaten zu reagieren“ (ebd.). Als Wirtschaftsstandort für deutsche Unternehmen zeigt der Kontinent eine über 100-jährige Tradition (vgl. Hauser und Konner 2009, S. 261). Die deutsche Immigration nach Lateinamerika verlief damals in fünf Phasen, die jedes Mal zu einer Verstärkung der Tätigkeiten der deutschen Kaufmannschaft führte (vgl. Bernecker 2008; vgl. Hauser und Konner 2009; vgl. Barbian 2014). Die Auslandsberichterstattungsforschung hat schon demonstriert, dass faktisch ein Zusammenhang zwischen dem medial vermittelten Bild eines Staates und seiner Anziehungskraft für globale Geldanleger besteht (vgl. Hagen et al. 1998; vgl. Wu 1998, 2000; vgl. Pietiläinen 2006), d. h., die internationale Berichterstattung kann eine relevante Rolle bei der globalen Kapitalbewegung spielen. Dass eine Nation finanzielle Vorteile erhalten kann, wenn sie in den globalen Medien präsent ist, lässt sich am internationalen Spendenstrom demonstrieren (vgl. Lim und Barnett 2010), eine empirische Bestätigung der Auswirkung der Auslandsberichterstattung auf die internationalen Beziehungen (ebd.). Wirtschaftlich gesprochen sei der Beitrag Lateinamerikas am gesamten deutschen Außenhandel (etwa 2,5 %) noch sehr winzig (vgl. Hauser und Konner
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2009, S. 264). Jedoch nehmen die deutschen Anleger den dritten Platz der Direktinvestitionen in Lateinamerika (etwa 60 Milliarden US-Dollar) ein, hinter den USA und Spanien (ebd. S. 265). Der überwiegende Teil der deutschen Direktinvestitionen konzentriert sich auf die beiden Schlüsselstaaten Brasilien mit 37 % und Mexiko mit 28 % (vgl. Hauser und Konner 2009, S. 264), mit weitem Abstand gefolgt von Argentinien (4,3 %), Chile (2,8 %) sowie Venezuela und Kolumbien mit jeweils 1,4 % (ebd.). Trotz des wirtschaftlichen Aufschwung Asiens in den letzten Jahren blieb Brasilien immer noch die größte deutsche Industrieanlage außerhalb Deutschlands. Außerhalb Europas ist Lateinamerika die einzige Weltregion, in der die deutschen Konzerne Schlüsselpositionen einnehmen (ebd.). Im Rahmen der deutsch-lateinamerikanischen Beziehungen beobachtete der damaligen Bundesminister des Auswärtigen Amtes, F rank-Walter Steinmeier, dass „[w]o dynamische Märkte und neue Nachfrage sind, da erwächst auch ein für uns interessanter Exportmarkt. Auch deshalb haben wir allen Anlass, die wirtschaftliche Entwicklung in Lateinamerika zu unterstützen und die globalen Partnerschaft weiter auszubauen“ (Mark und Fritz 2009, S. 9). Unter Berücksichtigung dieses „veränderten“ (ebd.) Gesichts Lateinamerikas und der neuen Bedingungen der globalen Auslandskorrespondenz ergibt sich die Forschungsfrage: Welche Strukturen bzw. Merkmale determinierten die Berichterstattung Lateinamerikas in den ersten 15 Jahren des 21. Jahrhunderts und welches Image des Kontinents wird dadurch von der deutschen Medienrealität vermittelt? Die vorliegende Dissertation hat das Ziel, die Strukturmerkmale der Auslandsberichterstattung Lateinamerikas und deren Nachrichtenfaktoren sowie unterschiedliche Ebenen und Aspekte ihrer Entstehungsbedingungen zu untersuchen. In welcher Art und Weise wird Lateinamerika gegenwärtig in der deutschen Presse dargestellt? Verbindet man auch heutzutage die Region mit Bürgerkriegen, Umsturzversuchen, Guerillabewegungen, Wahlmanipulationen und Schuldenkrisen (vgl. Wilke und Schenk 1987, S. 30)? Wurde das Image Lateinamerikas als „Hinterhof der USA“ abgelöst? Konzentriert sich die Berichterstattung weiterhin auf wenige Länder, bspw. Brasilien, Chile und Argentinien, wie Wöhlcke in den 1970er-Jahren konstatierte (vgl. Wöhlcke 1973)? Um diese Fragen zu beantworten, ist erstens eine quantitative Inhaltsanalyse der überregionalen deutschen Presse durchgeführt worden. In die Stichprobe wurden die zwei überregionalen Hauptzeitungen Deutschlands – Süddeutsche Zeitung (SZ) und Frankfurter Allgemeiner Zeitung (FAZ) –, das politische Magazin Der Spiegel und die alternative tageszeitung (taz) einbezogen. Bei der Auswahl der Presseorgane wurden Aspekte wie Meinungsführerschaft, politisches Spektrum, Leserschaft und Korrespondentennetzwerk berücksichtigt. In einem ersten Schritt wurden alle Beiträge über Lateinamerika und seine
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Staaten aufgelistet, die bei der SZ, FAZ, taz und Der Spiegel von Januar 2000 bis Dezember 2014 erschienen sind (insgesamt 21.929 Artikel). Danach wurde eine geschichtete Stichprobe nach Zeitungen, Ländern und Erscheinungsintervallen gezogen. Diese Vorgehensweise garantiert, dass die Stichprobe die Verteilung der Grundgesamtheit abbildet (für eine ausführliche methodische Auseinandersetzung vgl. Kapitel 3). Die Codierungsphase entsprach eine Gesamtmenge von 4.164 Artikeln, die nach typischen Strukturmerkmalen der Auslandsberichterstattung sowie Nachrichtenfaktoren verschlüsselt und analysiert wurden. Hauptziel der Inhaltsanalyse ist es, die Auslandsberichterstattung Lateinamerikas in der deutschen Presse zu rekonstruieren. Theoretisch orientiert sich die vorliegende Dissertation an der von Hafez entwickelten Theorie internationaler und interkultureller Darstellungsprozesse in den Massenmedien (vgl. Hafez 2002a) und an der allgemeinen Theorie der Auslandsberichterstattung. Die Auswertung der Inhaltsanalyse erfolgt in drei Schritte. Bei der einfachen Auswertung werden die analysierten Kategorien (Thematisierung, Handlungsträger, Negativismus, Krisenzentrierung und weitere Nachrichtenfaktoren wie Personalisierung, Erfolg, Schaden usw.) isoliert beobachtet. Hierbei wird die allgemeine Berichterstattung des Kontinents betrachtet, ohne starke Berücksichtigung von Länderkategorisierungen, wobei augenfällige Spezifitäten und Ausprägungen der Nationen diskutiert und problematisiert werden. Danach erfolgt eine kombinierte Analyse mit dem Ziel, die Entwicklungen und Trends der Berichterstattung über den Zeitraum der 15 Jahre zu beleuchten. Herangezogen werden die Verhältnisse zwischen Sachgebieten und Presseorganen gegenüber den Nachrichtenfaktoren sowie ihre Konstanten und Veränderungen im Lauf der Zeit. Zuletzt findet die Darstellung von Länderprofilen statt, in der die Staaten nach ihrem Berichterstattungsmuster in vier unterschiedliche Kategorien eingruppiert werden: a) die wichtigsten Handelspartner Deutschlands, b) die Länder, die sich gegen den Washington-Konsens aussprechen, c) die vergessenen kleinen Staaten Zentralamerikas, und zuletzt d) andere Nationen aus dem M ercosur-Bündnis und der pazifischen Allianz. Trotz wertvoller und interessanter Ergebnisse erlaubt die dargelegte Inhaltsanalyse jedoch keine Aussagen über die Entstehungsbedingungen der Lateinamerika-Berichterstattung. Wie bei der folgenden Darstellung der theoretischen Grundlagen gezeigt wird, sind Nachrichtenfaktoren ein passendes Instrumentarium zur Beschreibung der Nachrichtenstrukturen. Ihre Aussagekraft hinsichtlich der Nachrichtenauswahl bzw. -selektion ist allerdings begrenzt (vgl. Abschnitt 2.7.1 und 2.7.1.1). Daher wurden acht Experteninterviews mit Korrespondenten durchgeführt, die für die Interpretation der Ergebnisse hilfreich waren. Die Gespräche sind als eine ergänzende Methode zu verstehen,
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denn es war nicht das Ziel, das Rollenverständnis der Korrespondenten oder ihre politische Haltung zu ermitteln, wie es beim Forschungsdesign der Gatekeeper/ Bias-Studien üblich ist. Im Fokus der Gespräche lagen das porträtierte Image Lateinamerikas, die Rolle der Nachrichtenagenturen, die Beziehung zu den Mutterredaktionen in Deutschland sowie die Diskussion über einige, von der Presse übersehene Themen. Vor dieser empirischen Untersuchung stellt die vorliegende Arbeit eine theoretische Basis vor, in der die Definition und Relevanz der Auslandsberichterstattung sowie deren Wirkung präsentiert werden. Nicht nur die Entstehung von Auslandsimages und -stereotypen, sondern auch die Strukturmerkmale der Auslandsberichterstattung werden diskutiert. Themen wie das Ungleichgewicht des Informationsflusses und die Nachrichtenauswahl sind ebenfalls in den theoretischen Teil einbezogen worden. Die unterschiedlichen Einflussfaktoren auf die Auslandsberichterstattung werden in Anlehnung an Hafez (2002a) in drei verschiedene Ebenen (Mikro-, Meso- und Makroebene) eingeordnet – eine sinnvolle Strukturanalyse, die zunächst näher betrachtet wird.
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Theoretische Hintergründe
2.1 Auslandsberichterstattung: Definition und theoretische Rahmenbedingungen Zur Erforschung des Lateinamerika-Images in der deutschen Presse stützt sich die vorliegende Dissertation auf das theoretische Konzept von Kai Hafez (2002a), dessen Theorieentwurf auch gegenwärtig noch gültig und anerkannt ist. Die vorgelegte Arbeit versteht sich als eine Aktualisierung des Theoriekonzeptes auf der Basis des aktuellen Forschungsstandes etwa 20 Jahre nach ihrer ersten Veröffentlichung. Obwohl sich unterschiedliche theoretischen Modelle mit den hierarchischen Einflüssen auf die Medieninhalte beschäftigen (vgl. Weischenberg 1994; vgl. Shoemaker und Reese 2014 [1996]), bezieht sich der analytische Referenzrahmen von Hafez ganz spezifisch auf die Aspekte der internationalen und interkulturellen Berichterstattung und deren charakteristische Problematiken der menschlichen Perzeptionen, der Informationsvermittlungen und der Wirkungen durch und auf die gesellschaftlichen und politischen Systeme (vgl. Hafez 2002a, S. 31). Verhältnisse auf der organisatorischen Ebene wurden im Bereich des Journalismus ebenfalls schon konzeptualisiert, aber nicht oft mit dem Schwerpunkt auf der Auslandsberichterstattung (vgl. Hafez 2002a, S. 181). Die Vorgehensweise von Hafez ist eng mit Shoemaker und Reese (2014 [1996]) verwandt, denn bei seinem Konzept sind ebenfalls die drei Ebenen der Mikro-, Meso- und Makroanalysen vorhanden. Allerdings fokussieren Shoemaker und Reese nicht auf die Auslandsberichterstattung und haben darüber hinaus ihren theoretischen Baustein zur Entstehung, Struktur und Wirkung von Medieninhalten vornehmlich mit Unterstützung empirischer Ergebnisse herausgebildet, die in den USA gewonnen wurden. Daher hat Hafez’ Theorie den Vorzug, dass sich der Wissenschaftler mit grenzüberschreitenden Kommunikationsprozessen explizit beschäftigt. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 R. Cazzamatta, Lateinamerikaberichterstattung der deutschen Presse, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30784-4_2
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2 Theoretische Hintergründe
Die theoretische Systematisierung von Hafez stellt die internationale Berichterstattung in den Vordergrund und berücksichtigt beispielsweise die Effekte des Agenda-Setting im globalen Kontext, die Sozialisationseinwirkung der Auslandskorrespondenten, die Strukturen der Mediensysteme unter Berücksichtigung der Auslandsberichterstattung oder die Zusammenhänge zwischen nationaler und transnationaler Berichterstattung. Infolgedessen konstituiert seine analytische Arbeit, die bis heute tatsächlich der einzige Theorieversuch im Bereich der Auslandsberichterstattung geblieben ist, optimale theoretische Rahmenbedingungen für die vorliegende Dissertation. Unter „Auslandsberichterstattung“ versteht der Wissenschaftler „jedes System der journalistischen Informationsübermittlung (…), in dessen Verlauf Informationen und Nachrichten staatliche Grenzen überschreiten“ (Hafez 2002a, S. 24). Ausführlicher definiert der Autor Auslandsberichterstattung als: (…) „Inhalte und Prozesse der Medienberichterstattung über Sachverhalte jenseits des Heimatstaates. Auslandsberichterstattung ist journalistisch vermittelnde Kommunikation und unterscheidet sich von direkten Formen grenzüberschreitender Kommunikation (z. B. dem Internet), die auch ohne Vermittlung stattfinden können, dafür aber auch über kein Programm verfügen und nur selten über Redaktionen, die die wachsenden Informationsmengen filtern und aufbereiten und die in der Regel auch keine Massenmedien im Sinne größerer Publikumsreichweiten sind1“ (Hafez 2005, S. 39).
Anzumerken ist, dass Auslands- und Inlandsnachrichten öfter miteinander verbunden sind. Drei Mischungsereigniskategorien sind innerhalb dieser vorliegenden Definition von Auslandsberichterstattung plausibel. Erstens erfolgt ein Ereignis außerhalb des Berichterstattungslandes (außerhalb Deutschlands) mit ausländischer/ lateinamerikanischer Involviertheit (Foreign News Abroad). Zweitens ergeben sich Geschehnisse, Umstände und Problematiken im Berichterstattungsland (Deutschland), allerdings mit ausländischer/lateinamerikanischer Teilnahme (Foreign News at Home). Zuletzt entwickelt sich ein Ereignis im Ausland (Lateinamerika), dennoch mit deutscher Beteiligung, d. h. Home News Abroad (vgl. Hafez 2002a; vgl. Sreberny-Mohammadi und Grant 1985; vgl. Wilke und Schenk 1987). Immerhin betont Hafez (ebd. S. 140–148), dass auch ohne personelle oder institutionelle
1Hafez (vgl. 2002b, S. 137) deutet ebenfalls darauf hin, dass die Auslandsberichterstattung – die aus einer systemtheoretischen Perspektive als mediales Subsystem zu erfassen ist – trotz zunehmender Globalisierung nur mit Vorbehalt als interdependentes Element eines „kommunikativen Weltsystems“ zu verstehen ist. Sie ist fortwährend viel mehr in nationale Systemkompositionen und Märkte eingebettet als in transnationale politische, gesellschaftliche oder wirtschaftliche Organisationen.
2.1 Auslandsberichterstattung: Definition und theoretische …
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Anwesenheit des Berichterstattungslandes (wie bei der Foreign-News-AbroadKlassifizierung) eine diskursive Interaktion durch thematische Verbindung entstehen kann. In Anlehnung an Rosenaus (1969) linkage-Ansatz demonstriert Hafez (ebd.), dass Auslandsberichterstattung unter spezifischen Konditionen „innergesellschaftliche Anschlussdiskurse“ erzeugen kann. Der von Hafez dargestellte theoretische Aufbau unterscheidet zwischen zwei Hauptsäulen, nämlich der „Wahrnehmung und Kommunikation“ und der „Medientheorie“ (Abbildung 2.1). In der ersten Dimension werden die Grundlagen der internationalen Wahrnehmung durch Menschen und der interkulturellen Kommunikation betrachtet. Begrifflichkeiten der Soziopsychologie – Nationenbilder, Nationenstereotype, Diskurse und Frames –, die manchmal bei der Inhaltsanalyse von medialen Beiträgen unvermeidlich sind, wurden hierbei einbezogen. Da normalerweise die Stereotypenforschung die Mediensysteme und die Interaktion zwischen Korrespondenten, Journalisten, Medien, Politik und Gesellschaft vernachlässigt, wurden Aspekte der Wahrnehmungskommunikation von den Medientheorien getrennt analysiert. Trotzdem sind die Begriffsbestimmungen der Wahrnehmungsforschung auf allen Sphären der vorliegenden Theorie zu finden. Bei der Ebene der Inhaltsstrukturen könnte man sich laut dem Wissenschaftler z. B. fragen, welche Bedeutung Frames und Stereotype bei internationalen Beiträgen der Medien aufweisen. Im Fall der Mikroebene ist es möglich zu beobachten, welche Effekte individuelle Stereotype von Journalisten auf die globale Berichterstattung verursachen. Hinsichtlich der Mesoebene scheint es plausibel, zuletzt darüber nachzudenken, wie das Verhältnis zwischen Nachrichtenagenturen und Mutterredaktionen in der Lage ist, die Entstehung von Diskursen und Frames zu determinieren (vgl. Hafez 2002a, S. 33). Die Stärke der Stereotypenforschung zur Untersuchung des Auslandsbildes wurde in Einsatz gebracht, jedoch geht die theoretische Betrachtung über deren Limitierung hinaus (vgl. Hafez 2002a, S. 179). Stereotype und Feindbilder sind nur ein Teilaspekt der Kommunikationskette. Infolgedessen hat Hafez die „Konzeptualisierung des Auslandsbildes“ einbezogen, die neben Images, Stereotypen und Feindbildern gleichermaßen prozessuale Kommunikationsaspekte wie Themen und Diskurse enthält. Der Grundgedanke lautet: „Auslandsberichterstattung ist medial vermitteltes Auslandsbild“ (ebd.). Die medientheoretische Dimension (Abbildung 2.1) verdeutlicht einerseits A) die wesentlichen Strukturmerkmale der internationalen Medieninhalte (Strukturkomplex) und andererseits B) die Ursachen- und Wirkungsverhältnisse (Kausalkomplex). Bei der strukturellen Betrachtung werden die themendeterminierenden Nachrichtenfaktoren sowie weitere typische Strukturmerkmale der globalen Medienberichterstattung einbezogen. Die Nachrichtenfaktoren können, je nach Verständnis ihres umstritten Geltungsanspruches (vgl. 2.6 und 2.7.1), nicht nur in die strukturelle Ebene, sondern auch in den Ursachen-Wirkungskomplex eingebettet werden. Hafez
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2 Theoretische Hintergründe
(ebd.) deutet auf die Einordnungsschwierigkeiten der Nachrichtenfaktoren hin, da sie als kognitionspsychologische Mechanismen der Menschen bzw. der Journalisten angesehen werden können, die zu bestimmten Textstrukturen führen (Ursache der Selektion). In diesem Fall kann man die Nachrichtenfaktoren in die Sphäre der Arbeitsroutinen integrieren (vgl. Hafez 2002b, S. 33; vgl. Maier 2010, S. 18). Jedoch ist die Aussagekraft der Nachrichtenfaktoren hinsichtlich der journalistischen Selektion nach Meinung vieler Wissenschaftler problematisch und sie werden daher nicht unbedingt als Erklärungsfaktoren, sondern als ein geeignetes Instrumentarium zur Beschreibung der Medienrealität angesehen (vgl. Staab 1990b). Da die Wirksamkeit der Nachrichtenfaktoren in diesem Fall auf Textstrukturen limitiert ist, lassen sie sich in den Strukturkomplex der Medientheorie einordnen. Neben solchen Strukturmerkmalen berücksichtigt sein theoretischer Ansatz darüber hinaus den Kausalkomplex der Medientheorie, der sich in verschiedenen Sphären von Einflusskräften – Individual-, Organisations- und Gesellschaftssystemebene – organisieren lässt.
Wahrnehmungskommunikation
Massenmedien
Modellsphären
Makroebene: Zusammenspiel von Mediensystem und anderen gesellschaftlichen Subsystemen wie Politik und Wirtschaft (nationale und internationale)
Mesoebene: Auslandsbild des Mediensystems: Informationsstrom, Verlag, Redaktion, Nachrichtenagenturen
Mikroebene: Auslandsbild und individuelle, berufliche, politische Sozialisation der Journalisten
Kausalkomplex
Grundmuster der Auslandsberichterstattung • Strukturmerkmale der globalen Berichterstattung • Nachrichtenfaktoren
Strukturkomplex
Abbildung 2.1 Theoretische Rahmenbedingungen der möglichen Einflussebenen und Strukturen der Auslandsberichterstattung nach Hafez (2002a, S. 32). (Quellen: grafische überarbeitete Darstellung aus Hafez (2002a, S. 32))
2.1 Auslandsberichterstattung: Definition und theoretische …
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Der Fokus der individuellen Betrachtung liegt auf persönlichem Interesse und Perzeptionen, Ideologie, Denkweise, Wertvorstellungen, Grundprinzipien, Stereotypen, Feindbildern und Frames, die durch die Instanzen der politischen Sozialisation der Journalisten entstanden sind. Anders ausgedrückt spielen die individuellen politischen Perzeptionen und Orientierungen der Korrespondenten eine wesentliche Rolle bei der Analyse des Mikrolevels. Fragen der politischen und beruflichen Sozialisation, der journalistischen Rollenmodelle2 (z. B. neutraler Informant oder Mitgestalter der Außenpolitik), Verhaltenskodizes sind hierzu Schwerpunkte der Überlegung. Die Beeinflussung von beruflicher und politischer Sozialisierung und die mögliche, dazu gehörende widersprüchliche Spannung zwischen persönlichen Vorstellungen und professionellen Erwartungen (z. B. das Objektivitätsdilemma) konstituieren die fundamentalen theoretischen Aspekte der Mikrosphäre der Auslandsberichterstattung (vgl. Hafez 2002a, S. 73). Das Schwergewicht der Mesosphäre bzw. des Organisationskontextes beschreibt die darstellenden Medienorganisationen und ihre Charakteristiken wie Mediengattung, Erscheinungsintervall, Darstellungsformen und Stellung im nationalen und internationalen Mediensystem (vgl. Ulrich 2016, S. 130). Organisatorische und soziale Einflüsse der Medien- und journalistische Systeme stehen im Zentrum des Interesses. Die Auslandsberichterstattung und die Auslandsbilder sind nicht allein eine Konsequenz der individuellen Tätigkeiten der Journalisten und Korrespondenten, sondern teilweise ebenfalls eine Folge einer sozialen Prozessentwicklung, in deren Abfolge die Medienorganisationen oder Elemente dieser Organisationen die zugeschriebenen Nachrichtenwerte, Interpretationen und Informationen beeinflussen (vgl. Hafez 2002a, S. 89). Hierbei werden unterschiedliche Einflussaspekte unter die Lupe genommen: A) das Verhältnis zwischen Verlag und Newsroom, insbesondere hinsichtlich der informationellen und inhaltlichen Voraussetzungen (z. B. Platzverfügbarkeit oder Antizipieren der Publikumsvorstellung) und deren Einfluss auf das Qualitätsniveau der Medieninhalte, B) die Positionierung des Medienkonzernes im Informationsstrom und die Einflüsse externer Informationsgeber wie Nachrichtenagenturen, unterschiedliche Meinungsführer, offizielle Staatsvertreter und Öffentlichkeitsarbeit von Staaten und anderen organisierten gesellschaftlichen
2Cohen
(vgl. 1993, S. 22–47) unterscheidet zwischen „dem neutralen Reporter“ (die Presse als Informant, Dolmetscher oder Instrument der Regierung) und „dem Reporter als Teilnehmer an der Außenpolitik“ (die Presse als Vertreter der Öffentlichkeit, Kritiker der Regierung, Anwalt der Politik oder als politische Entscheidungsträger). Für eine ausführliche Diskussion vgl. 2.8.3.
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2 Theoretische Hintergründe
Gruppen, C) die vorgeplanten, festgelegten Selektionsentscheidungen, die durch bestimmte Arbeitsroutinen, Verlagsrichtlinien, Redaktionsprinzipien und redaktionelle Praxis entstehen und D) Fragen bezüglich der Hierarchien und Arbeitsteilung innerhalb des Newsrooms, der informellen sozialen Kontakte und Umgang mit Arbeitskollegen sowie hinsichtlich der innerjournalistischen Meinungsführerschaft und der Relation zwischen Korrespondenten und Zentralredaktionen der Berichterstattungsländer (vgl. Hafez 2002a, S. 89). Die Makroebene vervollständigt die theoretische Konzeptualisierung der Auslandsberichterstattung. Im Mittelpunkt dieses analytischen Levels stehen die Interdependenzen zwischen dem Mediensystem und anderen gesellschaftlichen Subsystemen wie Politik, Wirtschaft oder Kultur3. Medien und ihre Umweltsysteme zeigen einen wechselseitigen Einfluss und eine Abhängigkeitsrelation. Einerseits sind die Medien auf die Informationsversorgung aus den Systemen Politik und Wirtschaft angewiesen, aber andererseits sind diese Umweltsysteme ebenso von der elementaren Repräsentation in den Medien abhängig. Solche Austauschbeziehungen sind außerdem nicht gleichmäßig und können unter kommerziellen und öffentlich-rechtlichen Medien variieren (vgl. Hafez 2002a, S. 126). Die Makroebene der Analyse beobachtet diese Dichotomie zwischen medialer Autonomie und Umweltanpassung, d. h. das System-Umwelt-Gleichgewicht – „je größer der Druck der Umweltfaktoren ist, um so bedeutsamer ist eine Anpassungsreaktion des Mediensystems und um so stärker ist rückwirkend der Anteil der Medien an der Stabilisierung des Gesamtsystems“ (Hafez 2002a, S. 130). Die zentrale Fragestellung hierbei ist, wie diese Wechselbeziehung, d. h. dieser Versuch des Mediensystems, ein „umweltangepasstes Gleichgewicht“ zu schaffen, die Inhalte der Auslandsberichterstattung beeinflussen kann. Diese Makrotheorie wird in Etappen von „innen nach außen“ (Hafez 2002a, S. 34), d. h. von nationalen zu internationalen-interkulturellen Funktionsstrukturen, entworfen. Es wurden folgende Problematiken herangezogen: die öffentliche Konstruktion der Themenagenda der Auslandsberichterstattung und deren gesellschaftliche Diskussion als Hauptfunktion der Medien, Einflussfaktoren des nationalen Mediensystems auf die globale Berichterstattung, die Zusammenhänge
3Aus einer systemtheoretischen Betrachtungsweise differenziert Hafez (vgl. 2002a, S. 126) „Umweltsystem“ und „Systemumwelt“ der Medien aus. Ein Umweltsystem kann aktiv handeln und versuchen je nach Anliegen und Systemprogramm die Entwicklung der Medien zu determinieren, z. B. wenn die Judikative oder die Exekutive mit rechtlichen oder machtpolitischen Maßnahmen im Mediensystem interveniert. Die Systemumwelt andererseits besteht aus zerstreuten, nicht organisierten Umweltelementen, wie ein großer Bestandteil der Mediennutzer und der nicht organisierten Rezipienten.
2.2 Funktion, Bedeutung und Wirkung der Auslandsberichterstattung
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zwischen nationalen und internationalen Diskursmustern und die vornehmliche Funktion der Medien im internationalen Kontext, z. B. bei Krisen und Konfliktkommunikation (ebd.). Obwohl die Hierarchie der hier diskutierten Einflussfaktoren nicht ohne Weiteres ganz klar ist, denn die verschiedenen Stufen von Komplexität bleiben in einer wechselseitigen Beziehung, geht Hafez generell von einem größeren Machteinfluss der jeweils höheren Ebenen aus (vgl. Hafez 2002a, S. 88–90). Anders gesagt sei die Makrostufe der Politik insbesondere in Krisensituationen einflussreicher als Organisationen, und die Mesoebene der Organisationen sei in unterschiedlichen Entscheidungsumständen wichtiger als der Mikrolevel des Individuums. Die Struktur der Auslandsberichterstattung sei nicht ausschließlich ein Resultat individueller Handlungen, sondern teilweise auch Ergebnis eines sozialen Vorgangs, in dessen Kurs die Organisationen die nachrichtenwertliche Deutung bestimmen. In Hafez Worten [ist] „[d]as ‚Ganze‘ der Auslandsberichterstattung häufig mehr als die ‚Summe der Einzelteile‘ individueller journalistischer Auslandsbilder“ (vgl. Hafez 2002a, S. 89). Das Konzept des Fließgleichgewichtes (vgl. Hafez 2002a, S. 130) akzentuiert solche unterschiedlichen, situativen Phasen eines Mediensystems, d. h., Perioden der größeren Autonomie der Medienorganisationen und Perioden der stärkeren Abhängigkeit durch verstärkten Umweltdruck, z. B. bei der Hegemonie des politischen Systems in spezifischen Krisensituationen. Zunächst werden die Relevanz und die bedeutsamen Leistungen der Auslandsberichterstattung für die Politik und die Gesellschaft beleuchtet und diskutiert.
2.2 Funktion, Bedeutung und Wirkung der Auslandsberichterstattung 2.2.1 Funktionen der Massenmedien Bevor die Frage der Funktion der Auslandsberichterstattung beleuchtet werden kann, scheint es sinnvoll, die allgemeinen Funktionen der Massenmedien zu betrachten. Aus einer systemtheoretischen Perspektive beobachtet man dabei die Leistungen der Medien hinsichtlich dem Funktionieren des Gesamtsystems (vgl. Kunczik und Zipfel 2005, S. 71). Die gegenwärtige globale Gesellschaft und ihre verschiedenartigen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Vernetzungen und Wechselbeziehungen sind auf eine globale Kommunikationsstruktur angewiesen. Um eine Analyse der Medienfunktionen zu gewährleisten, ist es daher notwendig, Medien als gesellschaftliches Subsystem zu erfassen
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2 Theoretische Hintergründe
(vgl. Hunziker 1988, S. 99). Dabei werden Funktionen der Medien im Sinne von Leitungen der Medien für das gesellschaftliche System verstanden. Der Schwerpunkt der Systemtheorie beleuchtet, dass die Medien bei der Durchführung ihrer Funktionen Einflussgrößen unterworfen sind, die im Kontext der System-Umwelt-Strukturen oder der Autonomie-Gleichgewichtsproblematik theoretisch erklärt werden können (vgl. Hafez 2002a, S. 124). Das Funktionieren des Mediensystems ist nicht nur durch interne Einflussfaktoren determiniert, sondern auch durch ihre Austauschbeziehungen mit den politischen und wirtschaftlichen Umweltsystemen sowie mit der anderen, nicht organisierten gesellschaftlichen System-Umwelt (ebd.). Medien informieren, überwachen, kritisieren und – vor allem – strukturieren den öffentlichen Themenhaushalt und beeinflussen daher die öffentliche Meinung (vgl. Chill und Meyn 1996). Nach dem Landespressegesetz von Nordrhein-Westfalen „erfüllt [die Presse] eine öffentliche Aufgabe insbesondere dadurch, daß sie Nachrichten beschafft und verbreitet, Stellung nimmt, Kritik übt oder auf andere Weise an der Meinungsbildung mitwirkt“ (Landespressegesetz NRW 1956). Eine Gesellschaft, die sich vornehmlich durch die Partizipationschancen und Kontrolle ihrer Angehörigen am politischen Leben legitimiert, schreibt den Informationsmedien in der Tat eine grundlegende Rolle zu (vgl. Donsbach 1979, S. 29). Voraussetzung der politischen Partizipation in einer Gesellschaft sind Informiertheit und Urteilsfähigkeit ihrer Mitglieder. Da in den Massendemokratien die direkte Beteiligung der Bürger an politischen und gesellschaftlichen Prozessen jedoch nur begrenzt möglich ist (ebd.), übernehmen die Medien demnach folgende Funktionen: „so vollständig, sachlich und verständlich wie möglich informieren, damit ihre Nutzerinnen und Nutzer in der Lage sind, das öffentliche Geschehen zu verfolgen“, (Informationsfunktion), „in freier und offener Diskussion zur Meinungsbildung beitragen“ (Meinungsbildungsfunktion) und „mit Kritik und Kontrolle durch investigativen (nachforschenden und aufdeckenden) Journalismus begleiten“ (Kritik- und Kontrollfunktion) – (Chill und Meyn 1996, S. 2–5; bpb 2016).
Kritik und Kontrolle haben eine doppelte Bedeutung: Einerseits beobachten und kritisieren Medien die Systeme der Politik und der Wirtschaft, aber andererseits enthält diese Funktion ebenfalls die „Inter- und Intramediumskontrolle“ (Nafroth 2002, S. 47). In Deutschland ist die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung bzw. die Medienselbstbestimmung und Eigenverantwortung im Artikel 5 des Grundgesetzes verankert (vgl. Stapf 2006, S. 51). Jedoch sollen bei der
2.2 Funktion, Bedeutung und Wirkung der Auslandsberichterstattung
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Beurteilung und Analyse der Medienfunktionen spezifische Gesellschaftsformen und politisch-rechtliche Systeme berücksichtigt werden4 (vgl. Nafroth 2002, S. 44; vgl. Kunczik und Zipfel 2005, S. 73). Bei der Überarbeitung der Literatur zählen Kunczik und Zipfel (vgl. 2005, S. 72) die oftmals diskutierten gesellschaftlichen Funktionen der Massenmedien auf: „Informationsfunktion, Herstellung von Öffentlichkeit, Artikulationsfunktion, Vermittlungsfunktion, Kompensationsfunktion“ (Aufmerksamkeit für die
4Der
ursprüngliche theoretische Rahmen zum Verständnis der Gestaltung verschiedene Mediensysteme – „Four Theories oft the Press“ (Siebert et al. 1984) – unterscheidet beispielsweise zwischen vier Modellen: die autoritäre, liberale, soziale Verantwortung und sowjetisch-kommunistischen Pressetheorien. Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass Mediensysteme die Strukturen der Gesellschaft reflektieren, in der sie eingebettet sind. Abgeleitet aus der Zeit des Absolutismus in Europa erhalten die Medien bei der autoritären Theorie die Aufgabe, sich für die Politik des Staates einzusetzen und die staatliche Macht zu sichern. Die auf den Gedanken der liberalen Philosophen John Milton und J.S. Mill basierende liberale Theorie versteht die Presse als Diskussionspartner und nicht als Beeinflussungsinstrument der Regierung. Ausgehend von den Kritiken und Modifikationen der liberalen Theorie befürwortet der Ansatz der sozialen Verantwortung die Korrektur und Revision der Defizite des Liberalismus durch Professionalisierung, Selbstregulierung und eingeschränkte, moderierte staatliche Interventionen. Die Ungleichheit des Medienzugangs im Zeitalter der industriellen Medienkonzentration wurde dabei berücksichtigt. Zuletzt wurde die sowjetische Theorie als eine Variante des autoritären Modells angesehen, in dem der Staat die Medien für seine politischen Zielsetzungen instrumentalisiert (vgl. Siebert et al. 1984; vgl. Kunczik und Zipfel 2005, S. 73–74; vgl. Hallin und Mancini 2008, S. 250–251). Trotz der internationalen Anerkennung der Arbeit von Siebert/Peterson/ Schramm kritisiert man die ethnozentrische Betrachtungsweise der Arbeit im Hinblick auf die Mediensysteme der Welt, die hauptsächlich auf der Entwicklung der britischen und US-amerikanischen Presse und der Gegnerschaft zwischen diesen und dem sowjetischen System basiert (vgl. Hallin und Mancini 2004, S. 13). Eine aktuelle Version unterschiedlicher Medienmodelle bieten Halling und Mancini an. Die Wissenschaftler gehen über den Kontext des kalten Krieges hinaus und bearbeiten drei unterschiedliche Typologien von Mediensystemen. Das liberale Modell ist von der Dominanz der Marktmechanismen und von kommerziellen Medien geprägt. Beispiele dafür sind Großbritannien, Irland und die USA. Das von Konzernen bestimmte demokratische Modell (democratic corporatist) bezieht sich auf die Länder des nördlichen Kontinentaleuropas, inklusive Deutschland. Typisch hierbei sind die gleichzeitige Anwesenheit von kommerziellen Medien und Rundfunk/Fernsehen und Presse, die andererseits zu organisierten sozialen und politischen Sektoren assoziiert sind. Typisch ist zudem die relative, aktive (aber gesetzmäßige) Rolle des Staates. Zuletzt berücksichtigt das polarisierte pluralistische Modell die Mittelmeerländer Südeuropas. Charakteristisch hierbei ist die Einbeziehung der Medien in die Parteipolitik, die kraftlose Entwicklung der kommerziellen Medien und eine starke Präsenz des Staates (vgl. Hallin und Mancini 2004, S. 11).
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2 Theoretische Hintergründe
Interessen der Benachteiligten zu sichern bzw. Ausgleich unterschiedlicher und widersprüchlicher Interessen), „Reduktion von Komplexität, Thematisierungs-/ Selektions-/Strukturierungsfunktion, Kritik- und Kontrollfunktion, Sozialisationsfunktion, Bildungs- und Erziehungsfunktion, Integrationsfunktion“, Unterhaltung und Stärkung der Wirtschaft durch Werbung. Allerdings konstituiert die Informationsleitung sozusagen den Ausgangspunkt aller anderen dargestellten Funktionen. Information ist das Fundament, denn die Mitteilungen müssen erst übernommen werden, bevor sie irgendwelche Funktionen übernehmen können (vgl. Nafroth 2002, S. 46). Die Primärfunktion der Medien ist daher, die Themen aus ihren gesellschaftlichen Subsystemen zu ergreifen und als Medienaussagen diesen Systemen wiederzugeben (vgl. Weischenberg 1994, S. 436). Oder anders ausgedrückt, die Komplexität der Welt so zu minimieren, dass ein sinnreiches Vermitteln und ein – bezüglich der Informationsverarbeitungsfähigkeit der Öffentlichkeit – vernünftiges Verständnis entsteht, damit die öffentliche Kommunikation überhaupt möglich und erleichtert wird (vgl. Raabe 2005, S. 51). Burkart (vgl. 2003, S. 378–402) fasst unterschiedliche Medienleistungen unter vier Hauptfunktionskategorien zusammen: 1) „Soziale Funktion“ (Sozialisationsfunktion, soziale Orientierung, Rekreationsfunktion/Unterhaltung, Integrationsfunktion), 2) „Politische Funktion“ (Herstellung der Öffentlichkeit, Artikulationsfunktion/ Meinungsbildung, politische Sozialisation, Kritik- und Kontrollfunktion), 3) „Ökonomische Funktion“ (Legitimation, Festigung und Unterstützung des kapitalistischen Systems, Zirkulationsfunktion, Werbeträger, Handelsfunktion) und 4) „Informationsfunktion“ (Orientierung, Qualitätssicherung). Im Endeffekt erfüllen Massenmedien zahlreiche Aufgaben für verschiedene bestimmte Bezugssysteme. Eine erschöpfende Übersicht der Funktionen darzustellen, ist kaum denkbar (vgl. Nafroth 2002, S. 48). Unter den genannten Vermittlungsleistungen des medialen Systems sind die „Verarbeitung von Informationen“ und die „Herstellung der Öffentlichkeit“ essenziell für die Politik (vgl. Schulz 2008, S. 77). Die Medien sind in der Lage, den Austausch von Informationen zwischen gesellschaftlichen Organisationen, Institutionen, staatliche Einrichtungen, Bevölkerungen, Interessengruppen usw. zu verwirklichen, d. h. eine öffentliche politische Arena zu schaffen (vgl. Nafroth 2002, S. 48). Die hergestellte politische Öffentlichkeit ist eigentlich das Ergebnis der Informationsverarbeitung des Mediensystems (ebd. S. 112). Unter der Ebene der Informationsverarbeitung des medialen Systems akzentuiert Schulz (vgl. 2008, S. 77–86) drei Leistungen der Medien, nämlich „Relay-Funktion“, „semiotische“ und „ökonomische“ Funktion. Bei der „Relay-Funktion“ haben die Medien die Aufgabe, die Defizite des „individuellen Weltbildapparates“ auszugleichen, indem sie die räumliche und zeitliche Entfernung überwinden (ebd. S. 77–78). Es geht um die „Erweiterung des Erfahrungshorizonts – z. B.
2.2 Funktion, Bedeutung und Wirkung der Auslandsberichterstattung
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geografisch, gesellschaftlich, historisch“. Gerade diese Überwindung nicht nur von räumlichen und zeitlichen, sondern auch kulturellen und sozialen Distanzen ermöglicht – theoretisch – die Teilnahme aller gesellschaftlichen Gruppen an der politischen Öffentlichkeit. Diese Aufgabe der Medien ist wesentlich für die Demokratie, denn die Öffentlichkeit ist eine fundamentale Kondition demokratischer „Meinungs- und Willensbildungsprozesse“ (ebd. S. 78), die durch Wahlen und Referenden die politischen Führungen legitimieren. Zudem beschreibt die „semiotische Funktion“ die Fähigkeit der Medien, Inhalte so zu verschlüsseln, dass sie verbreitet und rezipiert werden können. Zuletzt bezieht sich die „ökonomische Funktion“ auf die produktive Effektivität, d. h. den Kosten-Nutzen-Zusammenhang der Medienproduktion. Es handelt sich um die Verbesserung der Medienentwicklung, d. h. die Erhöhung der Verbreitungs-, Speicher- und Verschlüsselungskapazitäten, meistens bei sinkenden Kosten zu schaffen (ebd. S. 83). Anzumerken ist jedoch, dass die ausschlaggebende Leistung der Herstellung der medialen Öffentlichkeit Einschränkungen zeigt. Wegen medienbestimmender Selektionskriterien sind nicht immer verschiedene und entgegengesetzte sozial-politische Interessen und Anliegen in den Medien gleich vertreten. Anders gesagt haben unterschiedliche Interessengruppen nicht die gleichen Zugangsmöglichkeiten zur Medienöffentlichkeit (ebd. S. 79). Selektionen sind erforderlich angesichts des Kontrastes zwischen der Komplexität der Wirklichkeit zum einen und den medialen Verbreitungs- und Speicherungsausmaßen zum anderen. Infolge der Mechanismen der (notwendigen) Selektionsentscheidungen entstehen allerdings Verzerrungen, insbesondere im Fall der Auslandsberichterstattung (vgl. 2.5 und 2.7).
2.2.2 Relevanz, Funktionen und Effekte der Auslandsberichterstattung Wie im früheren Abschnitt gezeigt wurde, leisten die Medien relevante Funktionen für die Gesellschaft, indem sie Umweltinformationen durch die Thematisierung zweckmäßig strukturieren, Umweltkomplexität reduzieren und dadurch die Basis für die strukturierte Massenkommunikation bilden (vgl. Hafez 2002a, S. 124). Aber anders als bei Ereignissen in unmittelbarer Nähe des Publikums fehlt den Rezipienten im Fall der Auslandsberichterstattung in der Regel die Fähigkeit zur kritischen Beurteilung der primären Erfahrungen, d. h. das eigene Wissen über das Ausland oder andere Auswahlmöglichkeiten von Informationsquellen, was die eingeschätzte Wirkung der Medien auf das gesellschaftliche Auslandsbild steigert (vgl. Hafez 2002a, S. 12). Anders ausgedrückt zeigt die Auslandsberichterstattung
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2 Theoretische Hintergründe
einen markanten Agenda-Setting-Effekt, da dem Publikum normalerweise die direkte, eigene Erfahrung mit der fremden Region fehlt und infolgedessen gewinnt die internationale Berichterstattung besonderes Gewicht bei der Themensetzung (vgl. Hahn et al. 2008a, S. 47). Trotz der fortdauernden internationalen Verflechtungen, Fortschritte der Verkehrsmöglichkeiten, Stärkung der Handelsbeziehungen oder Intensivierung des Tourismus erfährt man über die Weltgeschehnisse noch meistens über die Massenmedien und deren Auslandsberichterstattung (vgl. Wilke 1989, S. 11). Niemand sei in der Lage, seine Vorstellung aller existierender Länder der Welt anhand eigener Anschauung aufzubauen (ebd. S. 7). Oder wie Hafez (vgl. 2002a, S. 122) pointiert, ist ein öffentliches Themeninteresse für internationale Problematiken ohne die Leistung der Medien fast gar nicht zu stimulieren. In diesem Kontext scheint die Aussage von Cohen insbesondere für die Auslandsberichterstattung sehr angemessen: „the press is significantly more than a purveyor of information and opinion. It may not be successful much of the time in telling people what to think, but it is stunningly successful in telling its readers what to think about. And it follows from this that the world looks different to different people, depending not only on their personal interests, but also on the map that is drawn for them by the writers, editors, and publishers of the papers they read“5 (Cohen 1993, S. 13)
Das Hauptziel der Auslandsberichterstattung ist, die Gesellschaft über die Weltereignisse bzw. Themen mit internationaler Relevanz sinnreich und vielseitig zu informieren (vgl. Renneberg 2011, S. 15). Die erfolgt auf drei Ebenen (Informations-, Interpretations- und Politikebene). Während es auf der Informationsebene um die objektive Vermittlung der Weltereignisse geht, erwartet man bei der Interpretationsebene die Darstellung von Hintergründen
5Heutzutage
vertreten die Forscher die Meinung, dass die Medienberichterstattung unter spezifischen Umständen doch in der Lage ist, den Menschen zu sagen, was sie denken sollen, indem sie der Öffentlichkeit eine Agenda von Attributen zur Verfügung stellt. Der erste Level der Agenda-Setting-Theorie berücksichtigt die Beziehung zwischen „Quantität“ (salience) und worüber wir denken (das Verhältnis zwischen Medien- und Publikumsagenda), während der zweite Level die Attribute von beschriebene Objekten betrachtet, die beeinflussen können, wie wir denken (vgl. Weaver et al. 1998, S. 191; vgl. Wanta et al. 2004, S. 367; vgl. Maurer 2010, S. 23–25; vgl. Zhang und Meadows 2012). „When the news media report on public issues or political candidates, they describe these objects. In these descriptions some attributes are prominent and frequently mentioned, some are given passing notice, and others are omitted. In short, news reports also present an agenda of attributes that vary considerably in salience“ (Weaver et al. 1998, S. 191).
2.2 Funktion, Bedeutung und Wirkung der Auslandsberichterstattung
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und Zusammenhängen (vgl. Renneberg 2011; vgl. Gnändiger 2014). In diesen Kontext sollen Korrespondenten nach „interkulturellen Vermittlungs- und Erklärungsmodellen“ suchen (Hahn et al. 2008a). „Die Berichterstattung über Themen aus dem Ausland hat also nicht nur informativen, sondern auch erklärenden Charakter6“ (ebd.). Zuletzt beachtet die Auslandsberichterstattung bei der politischen Ebene die politischen Entscheidungsträger. Die politischen Eliten informieren sich über das Ausland nicht nur durch diplomatische Kanäle und eigene Kontakte, sondern auch durch die Massenmedien. Jedoch nutzen die Entscheidungsträger die Medien ebenfalls, um Informationen und Inhalte zu kommunizieren (vgl. Gnändiger 2014, S. 6–7). Nach Hafez stehen die außenpolitischen Akteure und die internationalen Beziehungen den Medien nicht ganz einflusslos gegenüber, denn sie haben selbst die Möglichkeit, durch staatliche Öffentlichkeitsarbeit und Nachrichtenagenturen die Berichterstattung zu steuern7 (vgl. Hafez 2002a, S. 119). Die globale Kommunikation, bzw. die Auslandsberichterstattung spielen unterschiedliche Rollen bei der Außenpolitik, indem sie einerseits den Handlungsspielraum der Außenpolitiker und Diplomaten
6Hahn (et al. 2008, S. 50–51) verglich die Aufgaben der Korrespondenten mit den Übersetzern, denn Korrespondenten übertragen Informationen aus ihren eigenen Kulturen in eine Zielkultur. Daher seien Überschneidungen der Funktion zwischen Korrespondenten und Übersetzern zu konstatieren. 7Hafez unterscheidet die Wirkungspotenziale der Auslandsberichterstattung auf die Politik und auf die Öffentlichkeit (vgl. Hafez 2002a, S. 119). Bei der Auslandsberichterstattung oder der außenpolitischen Position wird von einer Dreiteilung der Öffentlichkeit ausgegangen, nämlich dem „Massenpublikum“, dem „interessierten Publikum“ und den Meinungsführern (ebd. S. 12). Das Massenpublikum verfügt über geringe außenpolitische Kenntnis, während die interessierten Rezipienten inkonsistente und kurzfristige Meinungen repräsentieren, die sehr abhängig von Ereignislagen variieren. Zuletzt zeigen die Meinungsführer eine dauerhafte und markante Einstellung, die in der Gesellschaft vermittelt wird. Dies bedeutet, dass die allgemeine Gesellschaft mit Ausnahme der Meinungsführer über zu wenig Kenntnis und zu vage Einstellungen verfügt, um die Massenmedien bei der Strukturierung der außenpolitischen Agenda zu bestimmen (ebd. S. 13). „Generell agiert die Auslandsberichterstattung in einem Öffentlichkeitskontext, der im Vergleich zur Innenpolitik durch eine Reihe von Strukturschwächen gekennzeichnet ist, die – abhängig von der politischen Kultur eines Landes – mehr oder weniger stark ausgeprägt sind“ (Hafez 2002a, S. 117). Daher seien die Effekte der Auslandsberichterstattung auf die Öffentlichkeit maßgeblich auf die sogenannten intervenierenden Variablen (Orientierungsbedürfnis und persönliche Verbindung zur Thematisierung) angewiesen. Prinzipiell wird angenommen, dass weder das Massenpublikum noch das interessierte Publikum bei globalen Problematiken direkt primäre Erfahrung zu Auslandsereignissen oder alternativen Informationsquellen besitzen (ebd. S. 121).
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2 Theoretische Hintergründe
einschränken, aber ihnen andererseits die Möglichkeit bieten, ihre politische Ziele zu erreichen8 (vgl. Gilboa 2002, S. 732). Nach Koschwitz’ Auffassung [soll] „Auslandsberichterstattung hierdurch gleichzeitig zum Abbau nationaler Selbstbezogenheit und autistischer Haltungen beisteuern, realistischen Weltvorstellungen den Boden bereiten und zu eigenständig-kritischer außenpolitischer Urteilsbildung befähigen“ (Koschwitz 1979, S. 466). Da die Massenmedien eine wesentliche Stellung bei der Vermittlung von Sekundärerfahrung über anderen Staaten aufweisen, erhielt die Auslandberichterstattung ebenfalls eine fundamentale Rolle bei der Formierung der Nationenimages. Hafez beurteilt die Themenagenden als „Strukturelemente des medialen Auslandsbildes“ (Hafez 2002a, S. 110). Die Bedeutsamkeit der Auslandsberichterstattung und die Entstehung von Länderbildern lassen sich zudem zusammen mit der zunehmenden Relevanz von globalen Informationen für die gesamte Gesellschaft interpretieren. Nicht nur verschiedene Unternehmen, sondern auch die Politik handelt grenzüberschreitend. Deutsche Soldaten beteiligen sich in unterschiedlichen Militäreinsätzen auf der ganzen Welt. Wegen des Tourismus und der Verbreitung des Internets ist das Leben der Bevölkerung zunehmend von internationalen Verhältnissen geprägt (vgl. Hasebrink und Hans-Bredow-Institut 2006, S. 37–40). Zudem wird es oft argumentiert, dass die Auslandsberichterstattung zur globalen Verständigung erheblich beitragen kann. Ziel der Auslandsberichterstattung bzw. der Auslandskorrespondenten sei dann „das jeweils andere Denken und Handeln, die jeweils anderen mentalen Muster des Wahrnehmens und Verhaltens als Kontextvermittler zu erklären, um bestenfalls zu einem besseren wechselseitigen Verständnis zwischen den Kulturen 8Gilboa
ausdifferenziert zwischen vier Klassifizierungen der Rolle der Massenmedien bei der Außenpolitik nach den Typologien von Akteuren und den entsprechenden Merkmalen von Handlung und Kontext – 1) der Kontrollakteur („controlling actor“/der sogenannte CNN-Effekt) entstand im Rahmen humanitärer Militärinterventionen und behauptet, dass das Fernsehen den politischen Entscheidungsprozess übernommen und die Entscheidungsträger ersetzt hat. 2) Der einschränkende Akteur (constraining actor) erfasst die globale Kommunikation als einen der relevanten Faktoren unter anderen, die die Strukturierung der Außenpolitik beeinflussen. Die Medien grenzen die Entscheidungsträger im Rahmen ihre Entscheidungsbildung ein und forcieren eine Real-Time-Politik. 3) Die intervenierende Rolle wird von berühmten Journalisten oder Korrespondenten provisorisch übernommen, die während internationaler Konflikte als Vermittler dienen. Der Kontext hierbei bezieht sich auf internationale politische Vermittlung. Zuletzt setzen bei 4) der instrumentalisierenden Rolle Politiker und Diplomaten globale Kommunikation ein, um Verhandlungen im Rahmen von Konfliktlösungen voranzutreiben und öffentliche Unterstützung unter den Bevölkerungen zu mobilisieren, d. h. den politischen Entscheidungsprozess zu legitimieren (vgl. Gilboa 2002, S. 732–733).
2.2 Funktion, Bedeutung und Wirkung der Auslandsberichterstattung
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beizutragen“ (Hahn et al. 2008a, S. 59). Wie stark das Gewicht der Auslandsberichterstattung auf das Auslandsimage der Gesellschaft ist, lässt sich wegen der zahlreichen Einflussfaktoren der Imageformierung nicht genau bestimmen. Nichtsdestotrotz ist das Verhältnis zwischen Auslandsberichterstattung und Perzeptionen fremder Nationen und Kulturen (d. h. Imageformierung des Auslandes) unwiderlegt (vgl. Nitz 2008, S. 64). Massenmedien können in der Tat zu Verständnis oder Missverständnis der Länder und deren Bevölkerungen beitragen (vgl. McNelly und Izcaray 1986, S. 546–547). Es handelt sich nicht nur um den Inhalt des internationalen Nachrichtenstroms, sondern auch um die kumulative Wirkung auf die Rezipienten (ebd.). McNelly und Izcaray zeigten beispielsweise, dass positive Gefühle gegenüber Nationen und die Perzeption dieser Länder als erfolgreich deutlich mit Medienbeachtung zusammenhängen. Salwen und Matera (1992) beobachteten eine Korrelation zwischen Auslandsberichterstattung und der öffentlichen Meinung in den USA, die signalisiert, dass internationale Berichterstattung tatsächlich einen Agenda-Setting-Effekt aufweist. Der Umfang der Berichterstattung über verschiedene Länder wurde von den Rezipienten genauso perzipiert (ebd. S. 623). Wanta und Hu (1993) analysierten ebenfalls den Effekt der Auslandsberichterstattung und konstatierten eine bedeutsame Wirkung auf die öffentliche Meinung auch in den USA, vor allem im Fall von konfliktgeladenen Beiträgen und konkreten Darstellungen (d. h. die Involvierung der Amerikaner in die Ereignisse). Ihre Befunde deuten darauf hin, dass die Art und Weise, wie internationale Ereignisse von den Medien präsentiert werden (die Art von dargestellten Frames), das Ausmaß der Beachtung (salience) bestimmt. Vier thematische Kategorien der Auslandsberichterstattung zeigten den stärksten Einfluss auf die Publikumsagenda, nämlich a) internationale Konflikte mit Involvierung der USA, b) Terrorismus mit Beteiligung der USA, c) Verbrechen/Drogen, und d) Militär/Atomwaffen (vgl. Wanta und Hu 1993, S. 250). Wanta (et al. 2004) untersuchte, ob die Auslandsberichterstattung Einfluss auf die individuelle Wahrnehmung der Bedeutsamkeit von fremden Nationen hat. Auf einer zweiten Ebene beobachteten die Forscher, ob positive oder negative Auslandsberichterstattung einen Effekt auf die Bewertung der Länder durch das Publikum besitzt. Die Wissenschaftler kamen zum Schluss, dass je mehr Aufmerksamkeit eine Nation erhielt, desto mehr glaubten die Befragten, dass dieses Land für das Interesse der USA essenziell sei, was die Hypothese des Agenda-Settings befürwortet. Darüber hinaus zeigten die Forscher Indikatoren für die zweite Ebene des Agenda-Settings auf. Je negativer die Berichterstattung eines Landes war, desto größer war die Wahrscheinlichkeit, dass die Rezipienten Negatives über dieses Land wahrnehmen. Zuletzt zeigte die positive Auslandsberichterstattung über eine Nation keinen Einfluss auf die
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2 Theoretische Hintergründe
öffentliche Perzeption (vgl. Wanta et al. 2004, S. 364). Laut Brewer (vgl. et al. 2003) können Medien – wenn auch nur teilweise – den Grad beeinflussen, nach dem die Bürger fremde Länder bewerten. Bei der Lektüre von Beiträgen, die eine direkte Verbindung zwischen einer Thematik und einem Land enthalten und eine bestimmte evaluative Implikation besitzen, tendieren die Rezipienten dazu, diese Frames in ihren eigene Wahrnehmung zu übernehmen (vgl. Brewer et al. 2003, S. 504). Hinsichtlich des beschriebenen Einflusses der Auslandsberichterstattung auf die Perzeption von fremden Nationen hält Koschwitz (vgl. 1979, S. 466–467) es für die Aufgabe der Medien, Stereotype und Vorurteile abzubauen: „Massenmedien sollen ferner der konstruktiven Gestaltung des Staatenlebens und dem Völkerverständnis dienen. Eindringlicher denn je richtet sich an sie jetzt der Appell, Erscheinungen der Ignoranz, Kenntnisdefiziten, Vorurteilen, Stereotypen, Ressentiments, überhaupt Verfälschungen der Ausland- und Nationenimages entgegenzutreten. Dem heutigen Journalismus obliegt es nach vorherrschender Anschauung somit, zur Ausbreitung eines erdumspannenden Vertrauensklimas und zur Minderung weltweiter Spannungen, Ungerechtigkeiten oder Diskriminierungen einen aktiven Beitrag zu leisten“ (Koschwitz 1979, S. 466–467)
In diesem Abschnitt wurde gezeigt, dass die Mehrheit der Bürger auf die Massenmedien für Informationen über internationale Ereignisse bzw. Außenpolitik stark angewiesen sind. Dadurch können die Medien eine wesentliche Rolle bei der Gestaltung der Massenwahrnehmung fremder Nationen spielen (vgl. Hafez 2002a, S. 12; vgl. Brewer et al. 2003, S. 493; vgl. Hahn et al. 2008a, S. 47). Die Massenmedien sind genauso dort anwesend, wo die eigene Erfahrung fehlt, und daher in der Lage, Images grundsätzlich erst zu erschaffen (vgl. Wilke 1989, S. 16). Daran schließt sich die Frage, wie Images überhaupt entstehen? Im Folgenden werden die Fragen der Imageproblematik und der Begrifflichkeit der Imageforschung näher betrachtet.
2.3 Das Auslandsbild und die Schwäche der Wahrnehmungsforschung9 Nach dem diskutierten Zusammenhang zwischen Auslandsberichterstattung und Wahrnehmung von fremden Ländern wird zunächst die Konzeptualisierung des Nationenbildes erläutert. Da ein Nationenbild eine spezifische Kategorie des Imagekonzepts ist, werden ebenfalls verwandte Begrifflichkeiten – bspw. Bilder, Stereotype, Feindbilder – ausdifferenziert und definiert. 9Dieses
Unterkapitel basiert auszugsweise auf den entsprechenden Textteilen meiner veröffentlichten Masterarbeit (vgl. Cazzamatta 2014, S. 15–22).
2.3 Das Auslandsbild und die Schwäche der Wahrnehmungsforschung
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2.3.1 Begriffsdefinitionen: Bilder, Nationenbilder und Stereotype Obwohl ein paar Begrifflichkeiten schon in früheren Kapiteln erwähnt wurden, ist es notwendig, Begriffe wie Image, Nationenbild, Stereotyp und Nationenstereotyp zu definieren, obgleich die verwendete Terminologie bis heute noch keinen Konsens gefunden hat (vgl. Nafroth 2002, S. 8). Mit der Schaffung jeglicher generalisierter Vorstellungen und Bilder (Auslandsbilder) beginnt der Zugang zur Kenntnis über andere Nationen (vgl. Prinz 1970, S. 195). Da der Fokus dieser Arbeit vielmehr auf den Strukturmerkmalen der Auslandsberichterstattung über die Länder Lateinamerikas, und damit auf anderen komplexen und prozessorientierten Bildstrukturen (vgl. Hafez 2002a, S. 46) liegt, werden die Begriffe zusammenfassend präsentiert und nach Möglichkeit abgegrenzt. Images meint ein kognitiv-psychologisches Konstrukt, „die Formen der subjektiven Abbildung der Realität im menschlichen Bewusstsein“ (Wilke 1989, S. 13). Image und Bild werden häufig als Synonyme verwendet und werden in dieser Arbeit so betrachtet (vgl. Breunlein 2016, S. 30). Boulding gilt als Pionier der Imageforschung und er beschrieb das Image (oder das Bild) nicht als die gegebene faktische Realität, sondern als das, was Menschen als Realität erscheint10 (vgl. Boulding 1959, S. 120). Sie konstruieren Wirklichkeit durch die Reduktion der Umweltkomplexität; anders gesagt sind Bilder das Ergebnis von Vereinfachungsprozessen. Es geht nicht nur um ein kognitives Konstrukt, sondern auch „[…] um Gebilde, die Verhalten und praktisches Handeln steuern“ (Wilke und Quandt 1987, S. 9). Lippmann (vgl. 1998 [1922], S. 13) beschrieb, wie die Massenmedien die primäre Quelle der „Bilder unseres Kopfs“ ist und wie die Menschen Informationen anhand von „mental images“ erkennen, verarbeiten, umwandeln und weiterleiten. Er diskutiert, wie die Massenmedien zur Formierung unserer 10Boulding
(1996 [1956]) betrachtet sieben Arten von Images. „Räumliche Images“ (spatial) beziehen sich auf die Idee, die sich Individuen von ihrer geografischen Umwelt machen. Daneben verbinden sich die Menschen zu einem Zeitpunkt oder einer Phase. Hierbei geht es um das zeitliche Image (temporal). Das relationale Image beschreibt die existierenden Verständnisse der Welt als ein System von spezifischen Normen und Regelungen. Das persönliche Image (personal) berücksichtigt die Idee, die sich ein Individuum von anderen Menschen, Organisationen und Rollen macht. Unter affectional image versteht man Präferenzen und Abneigungen der Menschen, d. h. eine emotionale Dimension. Während private Images die individuell existierenden Vorstellungen sind, definiert das öffentliche Image die gemeinsamen Vorstellungen der Mehrheit der Angehörigen einer Gesellschaft (vgl. Wilke 1989, S. 14–15; vgl. Boulding 1996, S. 47–49; vgl. Breunlein 2016, S. 32).
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2 Theoretische Hintergründe
Images über die Politik und öffentliche Affären beitragen. Der theoretische Hauptgedanke hierbei ist, dass die markantesten Merkmale der Medienbilder nicht nur bei den Rezipientenbildern akzentuiert werden, sondern auch als wesentlich wichtig wahrgenommen werden (vgl. McCombs 2014, S. 39). Die Entwicklung von Images hängt mit der journalistischen Selektion zusammen (vgl. Abschnitt 2.7): „Massenmedien [bieten] Orientierung und für die Imagebildung notwendige Informationen, die die Rezipienten nicht direkt erfahren können; sie übernehmen eine Vermittlerfunktion für die Entstehung von öffentlichen Images“ (Breunlein 2016, S. 32). Auf drei Schwierigkeiten bezüglich der Realitätsaneignung wurde von Hafez (2002, S. 36–38) hingewiesen. Zuerst steht die Frage der Realität und der Imagination im Vordergrund. „Die Neigung zu realitätsfremder Imagination ist umso größer, je abstrakter das abzubildende Objekt ist“ (Hafez 2002a, S. 36). Diese Gefahr ist im Fall von Nationen und Nationenbildern enorm. Mit der deutlichen geografischen Distanz und der Ereigniskomplexität wird es noch problematischer, Ereignisse außerhalb unserer Erfahrungswelt zu verstehen und zu beurteilen (vgl. Schenk 1987, S. 36). Das zweite von Hafez herausgearbeitete Problem ist die dominierende Stellung der Medien beim Abbildungsprozess im internationalen Rahmen im Vergleich zu anderen Sozialisationsinstanzen wie Schule, Familie oder Universität. Medien bilden in der Regel die vorherrschende Quelle für Informationen über geografisch entfernte Nationen und Kulturen (vgl. Wilke 1989, S. 16). Zuletzt deutet Hafez (vgl. 2002a, S. 37) darauf hin, dass Medienbilder nicht mit kollektiven Bildern gleichzusetzen sind. Da individuelle Einflüsse der Kommunikatoren, der Medienunternehmen oder sogar gesellschaftliche Kräfte auf die Medien Auswirkung haben, kann man Medienbilder nicht als „reine Kollektivbilder“ betrachten. Für den internationalen Kontext sind Images zentral, die für die Verbindung zwischen Staaten relevant sind, also die Nationenbilder oder Auslandsbilder. „The images which are important in international systems are those other bodies in the system which constitute its international environment“ (Boulding 1959, S. 121). Eine spezifische Definition für den deutschsprachigen Raum hat Wilke (vgl. 1989, S. 15) gegeben. Es ist „die Gesamtheit der Eigenschaften und Attribute gemeint, die eine Person oder eine Gesellschaft einer anderen Nation oder Gesellschaft zuschreiben“ (ebd.). Es geht normalerweise um eine Art Schwarz-Weiß-Unterscheidung, Vereinfachung und Generalisierung, da komplexe und mehrdimensionale Bilder schwer zu vermitteln sind (vgl. Nafroth 2002, S. 14). Zudem entstehen die Auslandsbilder normalerweise durch den gesellschaftlichen Konsens und nicht durch direkte Erfahrung, da die kulturelle und räumliche Distanz häufig groß ist. Die Diskrepanz zwischen Realität und
2.3 Das Auslandsbild und die Schwäche der Wahrnehmungsforschung
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Auslandsbildern wurde von verschiedenen Wissenschaftlern nachgewiesen (vgl. Boulding 1959; vgl. Wilke 1989; vgl. Nafroth 2002; vgl. Hafez 2002a). Boulding (vgl. 1959, S. 122) argumentiert sogar, „the national image is basically a lie, or at least a perspective distortion of the truth, which perhaps accounts for the ease with which it can be perverted to justify monstrous cruelties and wickednesses“. Drei relevante Wirkungen der Mitteilung internationaler Ereignisse auf Rezipienten einer bestimmten Nationalität über ein anderes Land und dessen Volk sind von Prinz (vgl. 1970, S. 203) dargestellt worden: Die bildhafte Vorstellung des fremden Landes könnte verstärkt werden, unverändert und unbeeinflusst bleiben oder aber gänzlich aufgelöst werden. Wichtig ist, dass das Auslandsbild nicht unbedingt negativ und bedrohlich sein muss, es kann sogar eine positive Wertung annehmen. Es geht um ein verallgemeinertes Weltbild, ohne eine bestimmte Bewertungsrichtung zu spezifizieren (vgl. Nafroth 2002, S. 15). Die Imagedefinition ist von den in der Wahrnehmungsforschung eingesetzten Definitionen (wie Vorurteile oder Stereotype) die neutralste (vgl. Prinz 1970, S. 201). Die Komponenten des Begriffs Bild – der Inhalt (Kognition), der emotionale Aspekt und die wirkliche Verhaltensweise (konativer Faktor) – bleiben allerdings den anderen Gruppen gegenüber in diesem Fall offen und sind daher mehrdeutig (ebd.). Daher kann ein Auslandsbild „richtig oder falsch“, „differenziert oder vage“, „positiv oder negativ“, „feindselig oder freundlich“ sein (ebd.). Es kann auch Vorurteile und Stereotype transportieren. Außerdem entstehen die Auslandsbilder auch dort, wo Bildungsgründe für das Vorurteil und die Stereotype zu suchen wären, und zwar in der Kultur, Familie, Schule und in der Massenkommunikation. Obwohl die Grenze zwischen Stereotypen und Image fließend ist, kann ein Unterschied festgestellt werden: Der Begriff Image ist wertneutraler (vgl. Hafez 2002a; vgl. Prinz 1970; vgl. Wilke 1989), während Stereotype stark verfestigte Einstellungen charakterisieren und in der Vorurteils- und Minoritätenforschung eher negative Aspekte zugeschrieben bekommen (vgl. Wilke 1989, S. 13). Ein anderer Unterschied zwischen den Begriffen wurde von Hafez (vgl. 2002, S. 39) analysiert. Während Images entweder individuell oder kollektiv sein können, sind Stereotype immer kollektive Vorstellungen. Daher wäre es sinnvoll, über Nationenstereotype (Generalisierungen, welche die Angehörigen bestimmter Länder betreffen) statt über Nationenbilder zu sprechen (ebd.). Der Begriff Stereotyp wurde ursprünglich von Walter Lippmann geprägt und bedeutet äußerst feste, schematische und normalerweise unrichtige Vorstellungen der Menschen, um soziale Gruppen oder Objekte zu beschreiben (vgl. Prinz 1970, S. 197). Als Produkt der „kognitiven Realitätsumformung“ (Hafez 2002a, S. 39) implizieren Stereotype ein großes Niveau an Abstraktion und Verallgemeinerung und sind daher Deformationen der Realität: „Meistens schauen wir
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2 Theoretische Hintergründe
nicht zuerst und definieren dann, wir definieren erst und schauen dann“ (Lippmann 1990, S. 63). Stereotype in der Auslandsberichterstattung lassen sich auf unterschiedlichen Weisen erschaffen und nicht nur bei der expliziten Anwendung von typischen Klischees der Länder, z. B. Lateinamerikaner, die „sich bunt kleide[n] und künstlerisch besondere kreativ [sind]“ (Tellechea 1987, S. 116). Implizit spielen die Akzentuierung oder das Ignorieren von spezifischen Charakteristiken doch eine Rolle (vgl. Nitz 2008, S. 66). Stereotype sind auf keinen Fall eine Art „Eselsbrücke für Denkfaule“ (Dröge, 1967, S. 225, zitiert nach Marten 1989, S. 31), sondern charakteristischmenschliche Wahrnehmungs- und Verhaltensprozesse wie auch die Perzeption oder das Vorurteil. Wie Kunczik (vgl. 2001, S. 97) darstellt, sind Stereotype kein Ersatz für das Denken, sondern sie geben dem Denken Orientierung. Zudem sind solche geläufigen Denkschemata, wie verschiedene Studien zeigen (vgl. Marten 1989, S. 31), unabhängig von Merkmalen wie der emotionalen oder interkulturellen Struktur des Menschen, ethnischer Zugehörigkeit, Geschlecht oder Alter. In der zunehmenden Komplexität und Auseinandersetzung der äußeren Welt sucht man das, was bereits von unserer Kultur vordefiniert und stereotypisiert wurde (vgl. Lippmann 1990, S. 63). Stereotype sind der Mittelpunkt unserer persönlichen Tradition und die „Verteidigungswaffen“ unserer gesellschaftlichen Einstellung (ebd., S. 71). Normalerweise steht die Eigengruppe im Mittelpunkt und wird als Bewertungsmaßstab zur Beurteilung anderer Gruppen wie Nationen oder Staaten benutzt (vgl. Kunczik 2001, S. 97). Anhand von Stereotypen sind Menschen in der Lage, sich mit ihren sozialen oder kulturellen Gruppen zu verbinden und sich von fremden Gruppen zu distanzieren; Stereotype festigen und bauen die persönliche Identität auf und stabilisieren diese durch gemeinsame Perzeptionen und Kenntnisse (vgl. Breunlein 2016, S. 28) Schwieriger ist die Abgrenzung zwischen Stereotypen und Vorurteilen, zwei Begriffen, die miteinander sehr verzahnt sind (vgl. Nafroth 2002, S. 23). Vorurteile basieren auf Stereotypen (vgl. Nitz 2008, S. 65). Jedoch besteht das Vorurteil auf andauernden negativen Bewertungen von Personen, Gruppen oder Objekten und im Allgemeinen kann man sagen, dass die Elemente des Vorurteils markanter sind als die der Stereotype (ebd.). Vorurteile sind eine Vervollständigung des simplifizierten und kategorisierten Merkmals des Stereotypensystems, das durch Abwertungen gekennzeichnet ist (vgl. Nitz 2008, S. 65–66). Laut Nicklas und Ostermann (1989, S. 33) blockieren Vorurteile die Wahrnehmung. „Sie sind ein selektierender Filter, der neue Informationen nicht passieren läßt“ (ebd.). Vor diesem Hintergrund bestimmen die Massenmedien nicht nur die Meinung, sondern sie aktivieren und intensivieren existierende stereotype Wahrnehmungsmuster (vgl. Nicklas und Ostermann 1989, S. 33).
2.3 Das Auslandsbild und die Schwäche der Wahrnehmungsforschung
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Trotz der Relevanz der präsentierten Begrifflichkeiten aus der Stereoty penforschung, die in verschiedenen Ebenen der Entstehungsbedingungen der Massenkommunikation wieder auftauchen können, so beispielsweise in der Analyse von Vorstellungen von Journalisten und Chef-Redakteuren und deren Beziehungen oder der Präsenz der Konstrukte in den Medieninhalten, wies Hafez (vgl. 2002a, S. 45–46) auf die Schwäche der Wahrnehmungsforschung hinsichtlich seiner Theorie der internationalen Kommunikation hin. Die Betrachtung des Vermittlers Massenmedien im Prozess der Bildentstehung, Konsolidierung und Veränderung entwickelte sich zu einem unabhängigen Forschungsbereich, zudem unterscheidet sich die Untersuchung des Darstellungsmechanismus der Massenmedien von der sozialpsychologischen Stereotypenforschung (ebd.). Allein durch die Stereotypendefinitionen ließen sich andere multiple, prozessorientierte Bildkonstruktionen der Auslandsberichterstattung nicht erkennen (ebd.). Deswegen betont Hafez vor allem die Notwendigkeit der Offenheit des Begriffs bei der Analyse der Auslandsberichterstattung. Da die Definition des Nationenbildes im sozialpsychologischen Ansatz den Nationenstereotypen gleichzusetzen ist, lässt sich der Begriff Nationenbild nicht mehr als ein Oberbegriff zur Analyse internationaler Wahrnehmung verwenden (ebd.). Zudem werde das Auslandsbild mehr oder weniger vergleichbar zu Stereotypen charakterisiert, deswegen sei es notwendig, zusätzliche Bildkomponenten zu berücksichtigen: Frames, Thematisierungen und Diskurse (Hafez 2002a, S. 46), die im Folgenden betrachtet werden.
2.3.2 Frames und Diskursansätze Unterschiedliche Definitionen von Frames wurden von Scheufele (vgl. 2003, S. 46) herausgearbeitet. Es geht um Interpretationsmuster, die hilfreich seien, um neue Informationen vernünftig zu organisieren und effektiv verarbeiten zu können (ebd.). Framing ist der Prozess, bei dem spezifische Aspekte akzentuiert und andere vernachlässigt werden. Als Ergebnis dieser Framing-Prozesse ergeben sich Frames, „welche als empirisch identifizierbare Objekte im Bewusstsein von Individuen oder als Merkmale von Texten erkennbar sind“ (Dahinden 2006, S. 28). Auswahl und Betonung sind die zwei Schlüsselpunkte für den Frame-Ansatz. Durch Framing werden spezifische Teile der Realität in den Vordergrund gerückt, während andere ignoriert werden (vgl. Kunczik und Zipfel 2005, S. 272).
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2 Theoretische Hintergründe „To frame is to select some aspects of a perceived reality and make them more salient in a communicating text, in such a way as to promote a particular problem definition, causal interpretation, moral evaluation, and/or treatment recommendation for the item described“ (Entman 1993, S. 52)
Entman (vgl. 1993, S. 53) definiert „salience“ als den Prozess, eine Information bemerkbar, sinnvoll und unvergesslich zu machen. Strategien hierfür sind Platzierung, Wiederholung und Nutzung von symbolischen Assoziationen (ebd.). Andere Wissenschaftler neben Entman betonen die Problemdefinition (define problems), Kausalität oder Begründungen (diagnose causes) und Wertorientierung (make moral judgments) als relevante Frame-Merkmale. Scheufele (2003, S. 46–47) versteht Frames als „Funktion des Realitätsausschnitts und der Maßstäbe“: „Framing ist ein Vorgang, bei dem (1) bestimmte Objekte und Relationen zwischen Objekten betont, also bestimmte Ausschnitte der Realität beleuchtet werden und (2) bestimmte Maßstäbe bzw. Attribute, die man an Objekte anlegen kann, salient gemacht werden“ (Scheufele 2003, S. 46).
Frames sind zudem auf drei unterschiedlichen Ebenen zu finden, nämlich bei Journalisten im Mediensystem, beim Publikum und bei organisierten Akteuren, Gruppen und politisch-wirtschaftlichen Organisationen (ebd.). Der Framing-Ansatz bezieht sich nicht nur auf die Nachrichtenauswahl, sondern dient somit auch als Brücke zwischen der Theorie der Nachrichtenauswahl und -wirkung beim Rezipienten (vgl. Kunczik und Zipfel 2005, S. 272). Zwei Ansätze gehören zur Kommunikationsperspektive: der journalistische und der inhaltszentrierte. Während der erste Ansatz sich mit der Frage nach der Rolle der journalistischen Frames bei der Nachrichtenproduktion beschäftigt, beleuchtet der zweite die sogenannten Medienframes oder die Struktur der Berichterstattung, obwohl die Grenzen zwischen beiden fließend sind (vgl. Scheufele 2003, S. 49). Journalistische Frames treten als Auswahl- und Strukturierungsmerkmal auf und entfalten sich in der Strukturierung der Berichterstattung. Medienframes sind Frames, die als Argumentationsmuster oder „sinntragende“ Cluster zu verstehen sind (vgl. Scheufele 2003, S. 59). Zudem gibt es auch einen wirkungszentrierten Ansatz, der die Einflüsse von Frames auf die Vorstellung, Urteilsbildung und Entscheidung der Rezipienten untersucht (ebd.). Dahinden (vgl. 2006, S. 16) betrachtet Framing als einen integrativen Theorieansatz, „der für alle Phasen von massenmedialen Kommunikationsprozessen (PR, Journalismus, Medieninhalte und Publikum) von Bedeutung ist“.
2.3 Das Auslandsbild und die Schwäche der Wahrnehmungsforschung
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Der Begriff des Frames kann auch auf ein Ereignis bezogen werden. Etablierte Interpretationsmuster von Journalisten steuern, welche Ereignisse in den Medien Platz finden, und die Merkmale der Ereignisse bestimmen, welche Interpretationsrahmen Journalisten heranziehen (vgl. Kunczik und Zipfel 2005, S. 273). Brosius und Eps (vgl. 1995) zeigen vier mögliche Stellen, an denen Frames im Prozess der Nachrichtenselektion Einfluss nehmen können. Sie determinieren 1) welche Geschehnisse der Journalist als Ereignisse versteht, 2) welche Ereignismerkmale für die Berichterstattung selektiert werden, 3) in welchem thematischen Kontext ein Ereignis porträtiert wird und 4) wie der Nachrichtenwert eines Ereignisses festgelegt wird (ebd.). Frames beziehen sich nicht nur auf die Nachrichtenselektion, sondern auch auf die Nachrichtenstrukturierung (ebd.), d. h. die Darstellung eines Ereignisses. Kommunikatoren heben bestimmte Ereignismerkmale hervor, die mit relevanten Elementen der vorhandenen Frames in Einklang stehen (ebd.). Schemata von Alltagssituationen sind normalerweise internalisiert (vgl. Dahinden 2006, S. 32) und werden auf verschiedenen Abstraktionsniveaus angewandt. Überdies beziehen sie sich nicht nur auf konkrete und einfache Objekte, sondern auch auf abstrakte und komplexere Relationen (ebd.): „Begriffe, Situationen, Personen, zeitliche Abläufe, Handlungsabläufe und Wenn-dann-Beziehungen“. Gerhards und Rucht (vgl. Dahinden 2006, S. 52) beschreiben Frames von individuellen Akteuren als kognitives Schema und sprechen von Ideologien als sehr elaborierten Frame-Formen. Hafez (vgl. 2002a, S. 47) betont den Unterschied zwischen den Frames, die für Handlungsabläufe verwendet werden, und Stereotypen, bei denen es sich um Perzeptionen oder klare attributive Zuschreibungen handelt. Frames ermitteln Grundmerkmale anderer Länder und Völker und dienen zur Rekonstruktion von Handlungsabläufen der internationalen Auslandsberichterstattung (ebd.). Sie erfüllen narrative, argumentationsaufbauende und rhetorische Funktionen. Außerdem betont Hafez (ebd.), dass Frames und thematische Konstruktionen nicht nur im einzelnen Beitrag, sondern auch in verschiedenen Texten zu finden sind; sie sind also intertextuell und können in Form von Diskursen erscheinen. Intertextualität ist die Brücke zwischen Texten und Diskurspraxis (vgl. Fairclough 1995, S. 75). Die kognitionspsychologische Diskurstradition beschreibt thematische Mikround Makrostrukturen (vgl. Scheufele 2003, S. 57). Das sozialkognitive Modell von Van Dijk (1988a, 1988b, 1991, zitiert nach Fairclough 1995, S. 28) verbindet Texte mit der Diskurs- und soziokulturellen Praxis und schafft den Übergang zwischen Text- und Diskursanalyse (vgl. Fairclough 1995, S. 28–30). Van Dijk beschäftigt sich mit der Frage, wie kognitive Modelle und Schemata unsere Wahrnehmung beeinflussen und verknüpft den Text mit dessen Kontext. Um die
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2 Theoretische Hintergründe
Beziehungen zwischen Texten, Nachrichtenproduktionsprozessen und dem Verständnis zu analysieren, beschreibt der Linguist Makro- und Mikrostrukturen des Nachrichtendiskurses. Das Konzept der Makroebene ist zentral zur Analyse der thematischen Struktur von Texten, das heißt, die Makrostruktur eines Textes ist die gesamte Organisation hinsichtlich des Themas (vgl. Fairclough 1995, S. 29). Es geht um eine hierarchische Organisation der Themenidentifizierung eines ganzen Textes (ebd.). Kleine Textausschnitte über Ursachen, Verlauf und Folgen eines Geschehens, die sogenannten Frames, lassen sich größeren Einheiten zuordnen: den Themen als „das zentrale und wichtigste Konzept“ (Hafez 2002a, S. 49) eines Textes. Die Mikroebene hingegen dient der Analyse der semantischen Beziehungen, Metaphorik, Kohärenz und Beziehungen der Kausalitäten, Konsequenzen und der Merkmale von Nachrichten (vgl. Fairclough 1995, S. 30). Texte haben Frames, die sich durch die Anwesenheit oder Abwesenheit von Schlüsselwörtern, Standardausdrücken, stereotypen Images und Informationsquellen manifestieren lassen (vgl. Entman 1993, S. 52). Anders als Frames und Stereotype können Themen nicht aus einem Teilstück eines Textes erfasst werden. Sie sind semantische Makrostrukturen, die einen ganzen Text oder dessen Teil betreffen und noch mehrere Mikrostrukturen enthalten (vgl. Hafez 2002a, S. 49). Frames sind Komponenten eines Diskurses und nicht umgekehrt (ebd., S. 50). Begriffe der Textanalyse, wie Stereotype, Nationenbild, Frames, Themen und Diskurse wurden nach Hafez (ebd.) dem Oberbegriff Auslandsbild zugeordnet. Es ist vor allem die Begriffsabgrenzung zur soziopsychologischen Nationenbildforschung zu betonen. In seiner Studie zu „Lateinamerika in der Presse“ untersucht Manfred Wöhlcke (1973) die Lateinamerikabilder in der überregionalen deutschen Presse. Unter Bilder versteht er nicht Klischees, sondern in der Presse „reproduzierte Gestalten Lateinamerikas“ oder die Vorstellung von Lateinamerika, die unterschiedlich ausfallen kann. Das Lateinamerikabild wurde genauso definiert: (…) „was man sich unter einem Objekt vorstellt, wie man es sich denkt, wie man es auffaßt, auch – wie man es empfindet. ‚Lateinamerikabilder‘ seien demzufolge reproduzierte Gestalten Lateinamerikas in der Berichterstattung der Presse, die einen darstellend-beschreibenden und einen affektiv-wertenden Aspekt haben“ (Wöhlcke 1973, S. 7)
Bestimmte Themen und Frames lassen sich besser in den Medien umsetzen als andere und die Konstruktion einer bestimmten Realität durch die Abbildung dieser Themen und Diskurse prägen im großen Maße die Vorstellungen über
2.4 Der konstruktivistische Ansatz
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andere Länder und Regionen (vgl. Richter und Gebauer 2010, S. 20). Daher spielt die Auswahl von Themen eine herausragende Rolle in der Auslandsberichterstattung. Die Angemessenheit und Realitätsannäherung der von den deutschen Medien selektierten Themen und erschaffenen Images Lateinamerikas lassen sich anhand des konstruktivistischen Ansatzes diskutieren, der im nächsten Kapitel ausführlich betrachtet wird.
2.4 Der konstruktivistische Ansatz Der Konstruktivismus beschäftigt sich mit der Frage nach der Wirklichkeit bzw. Realität und der Rolle des Beobachters. Wie prekär und unangemessen sind die Fakten bei der Darstellung der Auslandsberichterstattung? Spiegeln Medien die Wirklichkeit oder inszenieren sie Wirklichkeiten? Welche Rolle spielen Korrespondenten als Beobachters des Auslands? Ist es sinnvoll, zwischen einer unzugänglichen Realität und unserer Erfahrungswirklichkeit zu unterscheiden? In diesem Kapitel wird erstens der konstruktivistische Ansatz präsentiert und beleuchtet. Danach folgt eine Diskussion über die Massenmedien im Rahmen der konstruktivistischen Debatte sowie die Kritik an dem Ansatz. Zuletzt werden Alternativen zum radikalen Konstruktivismus – d. h. die Rekonstruktion im Sinne Benteles (1993) und die Dekonstruktion im Sinne von Hafez (2002) – dargestellt und als geeignet für die vorliegende Arbeit gerechtfertigt. Alle Bemühungen, den Konstruktivismus zu definieren oder sich mit dem radikalen Konstruktivismus auseinanderzusetzen, stoßen sogleich an eine Grenze, da der Ansatz keine einförmige Theoriestruktur, sondern viel mehr ein Potpourri von Diskursen und Positionen aus unterschiedlichen Disziplinen ist (vgl. Schmidt 1994, S. 3–4). Daher gäbe es eigentlich nur „Varianten des Konstruktivismus“, die bei aller Unterschiedlichkeit zu erfassen sind (vgl. Pörksen 2014, S. 1; vgl. Haarkötter 2017, S. 297). Die aktuellen konstruktivistischen Kernthesen stammen aus diversen Grundgedanken wie der empirischen Kognitionstheorie des Bio-Epistemologen Humberto Maturana11, der Kybernetik zweiter Ordnung von Heinz von Foersters, des radikalen Konstruktivismus des Philosophen Ernst von Glasersfeld, der Systemtheorie von Niklas Luhmann oder der Unterscheidungslogik von George Spencer Brown (vgl. Schmidt 1993, S. 105; vgl. Weber 2010, S. 170–173).
11Diese Väter des Konstruktivismus kommen direkt zum Wort durch Interviews in der Arbeit von Pörksen (2002): „Die Gewissheit der Ungewissheit. Gespräche zum Konstruktivismus“.
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2 Theoretische Hintergründe
Aus der philosophischen Perspektive könnten Wahrnehmende sich von ihren Wahrnehmungen nicht befreien, um das eigene Wahrnehmungserzeugnis mit den möglichen Distorsionen und Verfälschungen mit der externen Realität nebeneinanderzusetzen. Eine menschenunabhängige Realität gebe es nicht (vgl. Pörksen 2014, S. 1–3), eine Überzeugung, die starke Auseinandersetzungen im Rahmen der Kommunikationswissenschaft und deren Methoden verursachte. Innerhalb der psychologischen Sichtweise, die auf der Schule des Franzosen Jean Piaget basiert, interessiert man sich auch für die „Beobachtung der Konstruktion von Wirklichkeit“ (ebd.). Allerdings fokussieren diese Anschauungen nicht nur auf die analytische Rekonstruktion von Beobachtungen, sondern auch auf die Analyse und Veränderung von entstehenden Leiden und Seelenschmerzen aus erzeugenden Kommunikationsschemen und konfliktverursachenden Formen der Interaktionen (ebd.). Zudem hat die Kybernetik zweiter Ordnung den konstruktivistischen Gedanken auch bedeutsam geprägt (vgl. Schmidt 1993, S. 105; vgl. Pörksen 2014, S. 2). Diese Sichtweise setzt Beobachter und Beobachtetes zusammen und untersucht die methodischen Schwierigkeiten der Erkenntnisprozesse. In der Kybernetik zweiter Ordnung sei beides – Beobachter/Beobachtetes oder Wahrnehmender/Wahrgenommenes – unauflöslich verbunden. In diesem Kontext wird die Kybernetik von beobachteten Systemen als Kybernetik erster Ordnung verstanden, da hierzu der Beobachter nicht ein Bestandteil des Beobachteten sei. Als Beobachter erster Ordnung geht es um „Menschen, die sich in ihrer Umwelt bewegen“ (Schmidt im Gespräch mit Pörksen 2002, S. 178). Die Kybernetik zweiter Ordnung auf der anderen Seite stellt sich als Kybernetik beobachtender Systeme dar, d. h. die Beobachtung von Beobachtern. Auf das Grundprinzip der Doppelheit von Subjekt und Objekt, Beobachter und Beobachtetem wurde verzichtet (vgl. Pörksen 2014, S. 2). Die neurophysiologischen Feststellungen von Maturana und Varela, dass der kognitive Apparat des Menschen als geschlossenes System angesehen werden sollte (biologisch-neurobiologische Ansicht), steht seit dem Anfang der wissenschaftsinternen Auseinandersetzungen als Hauptbasis des Konstruktivismus-Ansatzes (vgl. Merten 1999, S. 96). Die Implikation des Prinzips der Geschlossenheit des kognitiven Systems liegt auf der Hand – das Gehirn als Wahrnehmungsapparat hätte keinen direkten Zugang zu der objektiven und zur Außenwelt (vgl. Haarkötter 2017, S. 298). Das heißt, dass die Wirklichkeit, in der wir leben, eine Wirklichkeit ist, die wir selbst entwerfen bzw. konstruieren, und die Idee von Objektivität nur als die einer operativen Fiktion verstanden werden kann (vgl. Merten 1999, S. 96). Anders gesagt basiert der Grundgedanke des Ansatzes auf der Annahme, „dass die soziale Welt und ihre Gesellschaft, deren Bedeutung und Ungleichheiten nicht gegeben, sondern
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von Menschen gemacht, also konstruiert sind“ (Hepp et al. 2017, S. 187). Als Konsequenz folgt eine grundsätzliche Überlegung, dass soziale Wirklichkeit durch Kommunikationsprozesse entsteht. Das klassische Argument in Maturanas Worten lautet – „Alles, was gesagt wird, wird von einem Beobachter zu einem Beobachter gesagt“ (Schmidt 2017, S. 209). Jensen (vgl. 1999, S. 88–89) stellt zwei Richtungen des Ansatzes nebeneinander: zum einen die Kognitionswissenschaft als biologischen und psychologischen Prozess, den er als „Kognitivismus“ charakterisiert, zum anderen beschreibt der Autor den epistemischen Konstruktivismus, der sich auf das „Verhältnis von gesellschaftlichem Erkenntniswissen zur darin vorausgesetzten Wirklichkeit“ bezieht. Mit diesem Hintergrund wird Konstruktivismus als „eine Theorie der Realität, die in der Beobachtung erscheint“ (ebd.) verstanden. Schmidt (vgl. 1994, S. 5) definiert der Begriff „Konstruktion“ als Prozesse und Entwicklungen, in deren Vorgang sich Wirklichkeitsmuster herauskristallisieren und auf gar keinen Fall zufällig, sondern entsprechend den biologischen, kognitiven und soziokulturellen Gegebenheiten des Individuums. Aber unabhängig von der Zugangsweise zu den primären konstruktivistischen Hypothesen – biologisch-neurowissenschaftlich, kybernetisch oder philosophisch-soziologisch – einigen sich alle Variationen bei der Umstellung von ontologischen „Was-Fragen“ auf die epistemologischen „WieFragen“. Das bedeutet, wenn wir in einer Wirklichkeit leben, die anhand unserer kognitiven und sozialen Tätigkeiten bestimmt wird, ist es empfehlenswert, über Operationen, Verhältnisse und Voraussetzungen zu diskutieren, statt von Gegenstände oder „der Natur“ zu sprechen (vgl. Schmidt 1994, S. 5; vgl. Pörksen 2014, S. 3). Aus der konstruktivistischen Perspektive sei das Ziel nicht, „die Wirklichkeit“ zu beobachten bzw. untersuchen. Da man erst die Konstruiertheit seiner Wirklichkeit spürt, wenn man beobachtet wie man beobachtet, engagiert, agiert und kommuniziert, sei der Konstruktivismus als eine Theorie der „Beobachtung zweiter Ordnung“ zu betrachten (vgl. Schmidt 1994, S. 5). Anders formuliert: „eine Theorie der Beobachtung des Beobachtens“ (Burkart 2003, S. 177). Wahrnehmung wird als Interpretation, Bedeutungszuweisung, Sinndeutung betrachtet, denn es gibt nicht nur eine alleinige Wirklichkeit, sondern mehrere – eine endlose Palette von Wirklichkeiten –, da die kognitive Deutung der vorhandenen Daten andauernd neu interpretiert wird (vgl. Haarkötter 2017, S. 298). Der Begriff des Subjektivismus tritt demnach mit diesem diskutierten Relativismus zusammen. Die Rolle der subjektiv Wahrnehmenden ist dabei zentral für die Wirklichkeitskonstruktion, deswegen werden Erkenntnisse als Beobachtung verstanden. Eine radikale Ableitung solcher Sichtweise ist, dass es „gar keine externe Realität ohne Beobachter“ gebe (ebd.). Eine beachtliche Kritik des
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Konstruktivismus bezieht sich genau auf diese Aussage; eigentlich wird der radikalen Version des Ansatzes konstant vorgeworfen, die externe Realität zu negieren. Aus der radikalen konstruktivistischen Betrachtungsweise heraus wäre es unsinnig, die Existenz einer Welt unabhängig von unseren Gedanken und Bewusstsein in Frage zu stellen. Diese Behauptung verursachte heftige akademische Debatten auch unter den Konstruktivisten, wie man aus der Aussage des Kognitionswissenschaftlers Gerhard Roth ablesen kann: „Zu meinen Auffassungen gehört es, dass wir – innerhalb gegebener Erkenntnisgrenzen – in der Lage sind, verschiedene und einander widersprechende Thesen als mehr oder weniger gültig einzustufen. Die Prognose eines Astronomen, der die mögliche Position eines Planeten vorausberechnet, trifft entweder zu, oder sie trifft nicht zu. Man kann dann schon mit einer gewissen Berechtigung sagen, dass die zutreffende Berechnung die Welt der Planetenbahnen besser abbildet als ein anderes Modell, das zu einer unzutreffenden Voraussage geführt hat. Insofern bin ich kein Radikaler Konstruktivist, der die Wissenschaft und die Magie als in gleichem Maße gültige Realitätsauffassungen ansieht. Ich unterscheide sehr genau zwischen verschiedenen Stufen der Plausibilität. Wissenschaft hat einfach einen anderen Stellenwert als Magie. Sie ist bei Voraussagen erfolgreicher“ (Roth im Gespräch mit Pörksen 2002, S. 143).
Allerdings wurde dieser Dualismus zwischen unwahrnehmbarer Realität und konstruierten Wirklichkeiten explizit im Fall von Roth als Widerspruch und philosophisch nicht haltbar aufgeklärt, denn wenn die Realität nicht zu erkennen ist, „wie wäre dann erkennbar, dass sie unerkennbar ist“? (Weber 2010, S. 183). Siegfried J. Schmidt, ein Vertreter des medien- und soziokulturellen Konstruktivismus, argumentiert, dass es um einen bedeutsamen Kernpunkt geht: „(...), da manche Konstruktivisten zwischen einer erfahrbaren Wirklichkeit und der Realität unterscheiden. Sie behaupten dann, die Realität sei zwar existent, aber man könne nichts über sie aussagen, sie sei unerkennbar. Eine solche Annahme läuft jedoch, wenn man konsequent weiterdenkt, auf ein Paradox zu. Denn wer behauptet, dass er über die Realität nichts sagen kann, der sagt ja schon ungeheuer viel. Woher will er denn sicher wissen, dass sie unerkennbar ist und unabhängig von unserem Bewusstsein besteht“? (Schmidt im Gespräch mit Pörksen 2002, S. 168).
Allerdings argumentiert Schmidt, dass eine Haltung, die stetig die „Wirklichkeit des Wahrgenommenen“ in Frage stellt, sei mindestens auf der Ebene der „Alltagsrealität“ kompletter Unfug und „kontraproduktiv“ (Schmidt im Gespräch mit Pörksen 2002, S. 177–178). Als „Beobachter erster Ordnung“ bzw. „Akteure im täglichen Leben“, die in der Umwelt agieren, sei man gewöhnliche Realist, d. h.,
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man geht von einer „a priori“ Erkennbarkeit einer unabhängigen Realität aus. Dabei gehe es nicht um Konstruktionen, sondern um Lebensweltpraxis (Schmidt im Gespräch mit Pörksen 2002, S. 177–178). Diskussionen bezüglich Wirklichkeit, Realität, Empirie, Objektivität und Wahrheit seien klassische Fragen von Beobachtern zweiter Ordnung (vgl. Schmidt 1996, S. 57). Zu den permanenten Vorwürfen am radikalen Konstruktivismus zählt die Idee, der Ansatz lehne die Realität entweder ab oder seine Anhänger seien in der Tat „heimliche Realisten“ und die empirische Forschung liege ganz außerhalb der wissenschaftlichen Aussicht der Konstruktivisten (ebd.), denn es ergebe keinen Sinn, konstruierte Wirklichkeiten und Realität zu vergleichen oder nebeneinanderzustellen. Zudem seien die Vertreter des Ansatzes – eigentlich im Widerspruch mit ihrer erkenntnistheoretischen Einsicht – ausgesprochen positivistisch und empirisch angewiesen, denn ihr konstruktivistisches Argument basiert auf empirischen Forschungsergebnissen aus der Neurobiologie (vgl. Schmidt 1996, S. 57). Nach Luhmanns Auffassung leugnet der Konstruktivismus „die Existenz und die Realität der Welt“ nicht ab, „sondern [konstruiert ihn] eben nur“ (Luhmann 1990, S. 57). Zudem sei der Ansatz gar nicht als „antirealistisch“ zu erfassen, denn er untermauere seine Hypothesen mit den Ergebnissen empirischer neurophysiologischer Forschungen (vgl. Luhmann 1990, S. 32): „Was immer seine Anhänger sagen mögen: selbstverständlich ist der Konstruktivismus eine realistische Erkenntnistheorie, die empirische Argumente benutzt. Die Stoßrichtung zielt nur gegen den alten Selbstbegründungsanspruch der Erkenntnistheorie und deren Formen der Externalisierung: Gott bzw. Subjekt. Und das Resultat ist die These der Systemabhängigkeit aller Erkenntnis mit dem Korrelat einer Beobachtung zweiter Ordnung, einer ebenfalls immer empirisch und systemisch gemeinten Beobachtung beobachtender Systeme. Die Relevanz einer logischen Behandlung der Probleme der Selbstreferenz und der Paradoxie für empirische Forschungen soll damit keineswegs bestritten sein“ (Luhmann 1990, S. 15).
Luhmanns pointiert, dass die Diskussion immer noch durch „den alten Selbstbegründungsanspruch der Erkenntnistheorie vorstrukturiert“ sei (Luhmann 1990, S. 32) Nach Schmidts (vgl. 1996, S. 57–59) Auffassung konnte man die Debatte im Rahmen der Realismus-Diskussion zuordnen und sich dann aus der Philosophie und ihren uralten, übertragenen Fragen und Kontroversen der Wissenschaftstheorie und Sprachphilosophie entfernen, denn alle Realisten außerhalb der Philosophie seien Beobachter erster Ordnung (ebd.). Eine andere, auf der Systemtheorie basierende Möglichkeit sei es, vom Beobachten und von Unterscheidungen auszugehen. Hierzu seien Beobachtungen als eine
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Operation zu verstehen, die Unterscheidungen verwendet und zu systemspezifischen anwendbaren Erkenntnissen leitet (vgl. Schmidt 1993, S. 106). Dann seien Beobachter und Beobachtetes oder, in einer systemtheoretischen Sprache, Systeme und Umwelten nicht unabhängig voneinander zu definieren. Diese wechselseitige Unselbständigkeit sei Ergebnis diverser Alltagserfahrungen (vgl. Schmidt 1996, S. 59). Hierbei sei die philosophische Dichotomie Subjekt/ Objekt durch die Ausdifferenzierung von System/Umwelt ersetzt. Darüber hinaus könne nur ein System, das in der Lage ist, diese Unterscheidung sinnfällig aufzubrechen, sich selbst vernünftig als System beobachten. Ausschließlich innerhalb einer Umwelt könnte ein System operieren. Die operative Geschlossenheit des Systems stehe außerdem als Überlebensvoraussetzung, damit das System „systemverträgliche Umweltkontakte“ selbst auswählen und aufarbeiten könne (vgl. Schmidt 1996, S. 63). Das System errichte immerhin seine systemcharakteristischen Umwelten und konstruiere zudem alle Alternativen, diese Konstruiertheit zu beobachten und nach ihren „Realitätsgehalt“ zu beurteilen. „Darum liegen alle Kriterien der Prüfung, Geltungssicherung oder Begründung von Aussagen über ‚Wirklichkeit‘ im Bereich des Systems und der systemspezifischen Bewertung seiner Umweltkontakte“ (…) (Schmidt 1996, S. 63). Dieser Meinungsaustausch und die Überlegungen im Rahmen des konstruktivistischen Ansatzes haben im Lauf der 90er-Jahre die Publizistik und die Kommunikationswissenschaft sehr geprägt. Es wird nicht mehr davor ausgegangen, dass in den kommunikativen Prozessen Bedeutungen übertragen werden. Ganz im Gegenteil wird die Kommunikation als eine interaktive Entwicklung verstanden. Die Rolle der Massenmedien bei der Realitätskonstruktion und die Implikationen des konstruktivistischen Ansatzes und dessen Methoden werden zunächst im folgenden Abschnitt dargestellt und diskutiert.
2.4.1 Die Massenmedien in den konstruktivistischen Auseinandersetzungen Das konstruktivistische Paradigma verursachte eine Grundspannung zwischen der realistischen Erkenntnisposition einerseits und den „Relativisten“ andererseits (vgl. Pörksen 2014, S. 11). Walter Lippmann, der Vater der Nachrichtenwertforschung, war der erste Kommunikationswissenschaftler, der in seinem Buch Public Opinion (vgl. Lippmann 1998 [1922]) die Idee der Abbild der Wirklichkeiten durch die Medien kritisch diskutierte (vgl. Scholl 2011, S. 443). Eine naiv-realistische Ansicht der Nachrichtenwerttheorie basiert auf der Grundannahme der Spiegeltheorie, d. h., Nachrichten bilden die Realität ab, obwohl eine solche Formulierung heutzutage fast nicht mehr zu vertreten ist (vgl. Bentele
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1993, S. 156). Eine andere mögliche Aufstellung des realistischen Denkansatzes könnte so sein: Nachrichten geht es um Informationen über Fakten, Angelegenheiten, Verhältnisse oder Abschnitte von Realitäten. Es wird angenommen, dass diese Wirklichkeit unabhängig von irgendwelchen Beobachtern, Wahrnehmenden bzw. Korrespondenten und Journalisten vorhanden ist. Als Konsequenz konnten Kommunikatoren diese Realitätsausschnitte erkennen und sie angemessen darstellen bzw. abbilden (ebd.). Bentele verortet die Debatte um Realismus/Konstruktivismus in drei unterschiedlichen Stufen und zwar a) einer „kommunikationspraktischen“ Ebene, b) einer „kommunikationswissenschaftlichen“ und c) einer „allgemeinen erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen“ Ebene (Bentele 1993, S. 154). Für die „kommunikationspraktische Ebene“ bzw. den Journalismus bildet diese realistische Vorstellung die Arbeitsgrundlage für wenigstens eine wesentliche ethische Richtlinie, d. h. die journalistische Pflicht, wahrheitstreu und objektiv zu berichten. Der realistische Standpunkt konnte auch von der politischen Elite geübte Kritiken gegenüber den Verzerrungen der Berichterstattung rechtfertigen. Darüber hinaus impliziert die realistische Haltung für die kommunikationswissenschaftliche Ebene, dass ein Vergleich zwischen Medienrealität der Berichterstattung (intra-mediale Daten) und der Realität (extra-mediale Daten wie Statistik) immerhin möglich ist. Das hat empirische Konsequenzen für das Forschungsdesign, denn die Adäquatheit der Berichterstattung kann analysiert werden und wird sogar erwünscht, denn die Objektivität wird für mehr oder weniger praktikabel gehalten (vgl. Bentele 1993, S. 157). Insbesondere die Untersuchungen der Problematik des internationalen Nachrichtenflusses und der Nationenimages in den Massenmedien etwa zeigen diese realistische Perspektive. Die NWICO-Studie der UNESCO pointiert die Dekontextualisierung von Auslandsnachrichten und die Verzerrung der Realität (vgl. Masmoudi 1979; vgl. MacBride et al. 1980). Galtung und Ruge (1965) und Östgaard (1965) entwickelten eine wirkungsreiche Theorie der Nachrichtenselektion, die mehr oder weniger rechtfertigt, warum das Image der Welt, das die Medien darstellen, zwangsläufig anders ist als das, „was wirklich geschah“ (Schulz 1989, S. 139). Aber noch vor der Entzündung der Debatte um Realismus/Konstruktivismus durch das vom Hessischen Rundfunk organisierte und verantwortete Funkkolleg „Medien und Kommunikation“ 1991/199212 plädierte Winfried Schulz im 12Durch
das Funkkolleg „Medien und Kommunikationswissenschaft. Konstruktion von Wirklichkeit“, das vom Deutschen Institut für Fernstudien der Universität Tübingen 1990/1991 organisiert wurde, erhielt der (radikale) Konstruktivismus viel Aufmerksamkeit von den Kommunikationswissenschaftlern. Sie animierten heftige wissenschaftliche Auseinandersetzungen, die sich in den Fachmagazinen Rundfunk und Fernsehen (heute Medien und Kommunikationswissenschaft) und Communicatio Socialis spiegelten (vgl. Luhmann 1992; vgl. Saxer 1992; vgl. Weischenberg 1992; vgl. Bentele 1993; vgl. Merten et al. 1994).
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Rahmen eines konstruktivistischen Verständnisses für eine „theoretische Neuorientierung“ (Schulz 1976) der Theorien der Nachrichtenselektionen. In seiner klassischen Forschung „Die Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien“ erklärt er die Analyse von Prozessen der Nachrichtenauswahl als „Falsifikationsversuch“ und den Vergleich zwischen Medienrealität und Realität für nicht realisierbar (ebd.). Seiner Meinung nach vergleicht man nicht faktische Ereignisse mit der Berichterstattung der Medien, sondern bloß Meldungen und Dokumentationen aus diversen Quellen untereinander. „Denn was ‚wirklich‘ geschah, welches das ‚richtige Bild‘ von Realität ist, das ist eine letztlich metaphysische Frage. Niemand ist in der Lage, darüber eine intersubjektiv verbindliche Auskunft zu geben“ (Schulz 1976, S. 27). Seiner Argumentation zufolge impliziert eine solche Auffassung keine Ablehnung einer faktischen Realität, aber er sieht die „objektive“ Eigenschaft dieser Realität als eine Hypothese, die man nicht fähig ist, zu falsifizieren oder zu verifizieren. Es sei essenziell diese Medienrealität hinsichtlich ihrer Wirkungsaspekte zu untersuchen, um eine Orientierungshilfe zu gewinnen, welches Image von Realität die Nachrichtenmedien konstruieren und welches journalistische Selbstverständnis sich daraus kristallisieren lässt (vgl. Schulz 1976, S. 29). Zusammengefasst gibt es aus dem konstruktivistischen Standpunkt keine von Journalisten/Korrespondenten und Publikum unabhängige Realität, die sich von Kommunikatoren abbilden lässt. Diese Realität wird erstmals von Journalisten gemacht bzw. konstruiert. Sollte eine Realität existieren, ist sie trotzdem nicht zu erkennen und abzubilden. Die Zusammenstellung von Realitätsdaten und Mediendaten wird abgelehnt. Die radikalen Konstruktivisten distanzieren sich sogar von Begriffen wie Wahrheit, Objektivität oder Adäquatheit (vgl. Bentele 1993, S. 159). Kurz formuliert: die „Subjektabhängigkeit“ der Konstruktion, die „Autonomie kognitiver Systeme“, die „kognitive Nichtzugänglichkeit“ der Realität und „Verantwortlichkeit als Maßstab für menschliches Handeln“ (Weisehenberg 1992, S. 170). Der relevante Kernpunkt einer konstruktivistischen Medientheorie wurde von Schmidt formuliert: „Fundamental ist, dass das Verhältnis der Begriffe Medienwirklichkeit und Wirklichkeit neu bestimmt wird. Aus konstruktivistischer Perspektive lässt sich nur sagen: Die Wirklichkeit, die die Medien konstruieren, ist die Wirklichkeit, die die Medien konstruieren – und das ist alles! Die Frage, wie sich diese Medienwirklichkeit zur tatsächlichen Wirklichkeit oder eben der Realität verhält, ist nun nur noch ein Thema für philosophisch dilettierende Publizisten, die von der Annahme ausgehen, sie könnten einen Vergleich dieser Wirklichkeiten zustande bringen und dann aufgeregt feststellen: Der Journalismus bildet ja gar nicht die Wirklichkeit ab!“ (Schmidt im Gespräch mit Pörksen 2002, S. 181).
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Eine konstruktivistische Medientheorie betrachtet Medien nicht als technische Apparate, die Mitteilungen zusenden oder Informationen übertragen, sondern als „operative geschlossene“ soziale Systeme, die, entsprechend ihrer internen Architektur, Wirklichkeitsskizzen anbieten (vgl. Weisehenberg 1992, S. 171). Um zu illustrieren, wie die zwei Positionen des realistischen und konstruktivistischen Ansatzes hinsichtlich ihres Verhältnisses zu Medien und Realität in kompletter Divergenz miteinander stehen, rekurrierte Schulz (1989) auf zwei historischen Persönlichkeiten – Ptolemäus (Realisten) und Kopernikus (Konstruktivisten). Die Metapher bezieht sich allerdings bloß auf den „epistemologischen Antagonismus“ und keineswegs auf die „konkrete[n] Parallelen zu den kosmologischen Grundvorstellungen der beiden Protagonisten“ (Schulz 1989, S. 140). In der ptolemäischen Weltsicht seien Medien als Spiegel der Wirklichkeit zu verstehen. Eine Prämisse dieser Haltung sei die Gegensätzlichkeit zwischen Medien (autonom und unabhängig) und der Gesellschaft, in der die Medien eine passive Rolle als Vermittler der Realität hätten. Realität sei Objekt und Voraussetzung der Kommunikation (ebd.). Diese Anschauung hätte Konsequenzen für die These der einflussreichen Medienwirkung, denn die Medien stellten eine unausgewogenes und verzerrtes Bild der Realität dar, und die Menschen orientierten ihr Handeln, wenn auch nur zum Teil, an diesen parteiischen Bildern der Wirklichkeit. Infolgedessen hätten die Massenmedien einen hohen Einfluss auf die Menschen und die Gesellschaft (vgl. Schulz 1989, S. 140–143). Im Gegensatz dazu würden Medien laut der kopernikanischen Haltung als ein dazugehörender Bestandteil der Gesellschaft angesehen. Zudem würden Medien als aktive Komponente in dem sozialen Prozess aufgefasst, aus der die Idee von Wirklichkeit stamme; daher seien sie „Weltbildapparate“ (Schulz 1989, S. 141). Die Funktion der Medien sei es, Geschehnisse in der sozialen Umwelt auszuwählen, zu verarbeiten und zu deuten. Durch Medienbemühungen, die Realität zu konstruieren und diese konstruierten Wirklichkeiten durch Publizierung allgemein zugänglich zu machen, entstehe eine gemeinsame Grundlage für soziales Handeln. Realität sei das Ergebnis und nicht die Voraussetzung von Kommunikation. Aus der Wechselbeziehung zwischen externen (Ereignisse und Stimuli aus der Umwelt des informationsverarbeitenden Systems) und internen (Erfahrungen und Normen des informationsverarbeitenden Systems) Informationen ergibt sich die von Medien konstruierte Wirklichkeit (ebd.). Daraus folgt, „[w]enn Realität immer nur über Informationsverarbeitungsprozesse konkret erfahrbar ist, dann läßt sich der Anteil der Verzerrung niemals genau bestimmen“ (Schulz 1989, S. 143). Eine solche Perspektive habe dementsprechend Folgen hinsichtlich der Medienwirkung, die durch Modelle ersetzt werden müsse, die eine aktive und konstruktivistische Rolle der Medien
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berücksichtigen. Der Konstruktivismus habe einen bedeutsamen Stellenwert für die Medienwirkungsforschung, da das Publikum an Bedeutung gewinne. Die Rezipienten spielten in der konstruktivistischen Auffassung eine fundamentale Rolle bei der Verarbeitung des Medienangebotes (Schmidt im Gespräch mit Pörksen 2002, S. 180). Die interessante Frage sei daher, „was die Menschen mit den Medien machen“, basierend auf den „publikumszentrierten Modelle[n] der Wirkungsforschung“ (Weischenberg 1992, S. 172). Schulz versuchte zudem, eine Antwort auf die Grundfrage der europäischen Philosophie zu skizzieren. Er fragte sich, ob eine tatsächliche Realität existiert, und wie wir sie wahrnehmen können. Wenn das, was wir als Realität verstehen, ein soziales Produkt ist, das in hohem Grad durch die Massenmedien beeinflusst wird, müssen wir dann dementsprechend nicht auf die Idee einer von Kommunikatoren unabhängigen tatsächlichen Realität verzichten – und damit logischerweise auf bedeutsame Normen des journalistischen Ethos wie Objektivität, Unparteilichkeit und Ehrlichkeit (vgl. Schulz 1989, S. 145)? Seiner Meinung nach hat der Begriff der „Objektivität“ auch Platz in dem kopernikanischen/konstruktivistischen Verständnis. Jedoch sei er nicht als ein Merkmal der Journalisten oder der Korrespondenten zu verstehen, der sich empirisch überprüfen lässt, um festzustellen, ob Unparteilichkeit gegeben und in welcher Intensität sie zu konstatieren sei. Im Gegensatz dazu sei Objektivität eine abstrakte Intention, eine handlungsorientierte Richtlinie, ein Modell. In dieser Sichtweise hätte Objektivität die Funktion, das tatsächliche Handeln der Journalisten zu orientieren, die Medien zu erziehen, so unparteiisch wie möglich zu berichten (ebd.). Objektivität wird nach Weischenberg (vgl. 1992, S. 172) auch nicht mehr mit der Wahrheit oder der Idee der „Wirklichkeit übereinstimmend“ gleichgesetzt, sondern als „bewährte professionelle Prozedur“ angesehen, über die es unter Kommunikatoren ein überwiegendes Einverständnis gibt. Für Weischenberg (1992) sei ein Modell, das an den Konzepten von Wahrheit und Wirklichkeit radikal zweifelt, eine gute Gelegenheit, über die Bedingungen und Konsequenzen des journalistischen Handelns kritisch zu reflektieren. Die „absolute Wahrheit“ als Bewertungsmaßstab in Frage zu stellen, heißt allerdings nicht, sich auf die „absolute Beliebigkeit“ zu orientieren. Bei einer tatsächlichen Nutzung des Konstruktivismus im Journalismus sollten die Kommunikatoren deutlich machen, auf welche „Wahrheit“ sie sich bezieht: die Wahrheit ihres Verlags, ihrer Gremien, ihres Mediums usw. (vgl. Weischenberg 1992, S. 174). Seiner Meinung nach gebe es sozialen und journalistischen Konsens über den Unterschied zwischen Wirklichkeit und Fiktion, was die Überprüfung von „objektiv richtige[n]“ Angaben ermöglicht (ebd.). Eine Medienkritik aus konstruktivistischer Sicht sei nach Schmidt doch noch möglich. Berücksichtigt
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werden die unterschiedlichen Variationen von Ereignisauswahl, Inszenierungen und Darstellungen. „[M]an kann Motivverdacht äußern: Wieso konstruieren zwei verschiedene Sender zu ein und demselben Ereignis diese verschiedenen Wirklichkeiten? Warum wird ein Ereignis so und nicht anders gezeigt?“ (Schmidt im Gespräch mit Pörksen 2002, S. 181–182).
2.4.1.1 Polemik und Uneinigkeit: die Kritik an dem Konstruktivismus Nichtsdestotrotz wurde die konstruktivistische Ansicht in unterschiedlichen Aspekten für reduktiv, paradoxal, inkonsistent, widersprüchlich, trivial, wenig geeignet für Journalismus usw. gehalten (vgl. Saxer 1992; vgl. Bentele 1993; vgl. Kepplinger 1993). „Ich habe mich relativ schnell gegen die erkenntnistheoretische Position des Konstruktivismus gewandt“, schrieb Kepplinger (1993, S. 9) in seinem Buch Realitätskonstruktionen. Der Kommunikationswissenschaftler fasst die Hauptthesen des radikalen Konstruktivismus zusammen und schlägt eine logische Übung vor. (1) Es existiere keine objektive Erkenntnis. Jede Vorstellung sei viel mehr auf die Bedingungen angewiesen, unter denen sie entstehe. (2) Es existiere keine objektive Realität. Jede Darstellung von Wirklichkeit charakterisiere eine subjektive Konstruktion. (3) Realitätskonstruktionen seien gleichzeitig richtig und falsch, passend und unpassend, angemessen und unangemessen, zutreffend und unzutreffend. (4) Vergleiche zwischen Realität und Medienrealität bzw. Konstruktionen seien nicht möglich, da auf der anderen Seite dieser Konstruktion keine Realität vorhanden sei, der man sie gegenüberstellen könne (vgl. Kepplinger 1993, S. 10–11). Angenommen, dass diese Thesen Sinn ergeben, sind dementsprechend folgenden Aussage (in Anlehnung an Kepplinger) auch richtig: Das Erdbeben in Haiti 2010 lasse sich nicht objektiv erkennen. Jede Feststellung oder Behauptung darüber sei viel mehr auf Voraussetzungen angewiesen und reflektiere besser den Prozess der Analyse als das analysierte Ereignis (1). Diese Naturkatastrophe bilde keine objektive Realität ab. Jede Formulierung dieser Realität sei nichts anderes als eine subjektive Rekonstruktion (2). Alle diese Rekonstruktionen seien zugleich angemessen und unangemessen. Dementsprechend sei die Aussage, das Erdbeben sei unbedeutend gewesen genau so richtig wie die Aussage, es habe sich um eine große Naturkatastrophe gehandelt (3). Der Vergleich zwischen der Berichterstattung der deutschen Presse, die das Desaster praktisch nicht zur Kenntnis nahm, und dem Ereignis vor Ort sei sinnlos, denn das Ereignis selbst sei nicht gängig. Dieser Logik zufolge sei jede Aussage darüber, dass die deutsche Presse den Unglücksfall unkorrekt, undiplomatisch oder unangemessen berichtet habe, untersagt (4). Nach Benteles (et al. 1993, S. 161) Auffassung werden auch weder Erdbeben,
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Gipfeltreffen, noch Erdrutsche, Hurrikane, Flugzeugabstürze konstruiert. Was konstruiert wird, ist eigentlich die Berichterstattung über diese Geschehnisse, die zu einer besonderen Wirklichkeitsform resultiert. Hierbei pointiert Bentele die konstruktivistische Simplifizierung des Begriffs „Konstruktion“ (ebd.). Die Geschehnisse und die Berichterstattung über diese Geschehnisse sind zu unterscheiden, denn die Berichterstattung über die Ereignisse ist ein sozialer Konstruktionsprozess, der nach ganz anderen Konstruktionsprinzipien abläuft als der Ereignisvorgang. Nachrichten seien sogar ein Deutungsversuch der Realität, aber es sei möglich, zwischen falschen und angemessenen Interpretationen zu unterscheiden. Nach Bentele müssen die Begriffe Wahrnehmen und Erkennen nicht unbedingt entweder als „Wirklichkeitskonstruktionen“ oder „Wirklichkeitsabbildungen“ verstanden werden. Überdies sei „die entscheidende Differenz zwischen Realität und Medienrealität unaufhebbar“ (Bentele 1993, S. 161). Es sei zudem essenziell, zwischen Wahrnehmung der Ereignisse per se und der in den Medien präsentierten Geschehnisse auszudifferenzieren. Es geht hauptsächlich nach Bentele um „Präzisionsgrad“, „Verzerrungsgrad“, „die Adäquatheit der Berichterstattung“, denn für das Publikum sind die Vorkommnisse selbst nur ausnahmsweise direkt wahrzunehmen (vgl. Bentele 1993, S. 162). Im Fall von Auslandsberichterstattung sind die Ereignisse noch seltener wahrzunehmen. Darüber hinaus ist die Rede von Medienrealität im Rahmen einer konstruktivistischen Auffassung jahrelang in der Kommunikationswissenschaft verankert, allerdings weniger radikal (vgl. Saxer 1992, S. 178). Die Auffassung, dass die Massenmedien normalerweise die Wirklichkeit nicht darstellen, ist seit langem kaum mehr bestritten. Die von den Medien präsentierte Wirklichkeit spiegelt üblicherweise die Stereotype und Vorurteile der Kommunikatoren, professionelle Verhaltensnormen, politische Positionen, Drücke der Nachrichtenproduktionsprozesse und Bedingungen der medialen Darstellung (vgl. Schulz 1976; vgl. Saxer 1992). Anders ausgedrückt, „auch für die Erkenntnis von Medienrealität als Konstruktion hat also die Kommunikationswissenschaft keineswegs auf den Radikalen Konstruktivismus warten müssen“ (Saxer 1992, S. 182). Aber im Gegensatz dazu untersagt die Kommunikationswissenschaft der medienunabhängigen Realität nicht den Anspruch der Eigenexistenzgrundlage. Die Kommunikationswissenschaft leugnet nicht, dass es sehr kompliziert ist, diese Realität als Basis für die Medienqualität zu analysieren und zu beurteilen. Allerdings könne die Prozedur durch extra-mediale, medienunabhängige Daten oder Experten teilweise verwirklicht werden (ebd.). Trotz Beschränkungen gebe es hinreichend Kriterien, um bessere von schlechteren Wirklichkeitsdarstellungen abzugrenzen (vgl. Kepplinger 2011b, S. 15). Für Bentele schränkt der radikale Konstruktivismus die Methodenvariationen und die Kritikmöglichkeit des Journalismus ein, denn
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man kann zwischen Realitätsadäquatheit (Qualität) und Boulevardjournalismus nicht mehr unterscheiden, da beide ebenso als Wirklichkeitskonstruktionen zu verstehen sind (vgl. Bentele 1993, S. 163). Es sei unzweifelhaft, dass jede Erkenntnis auf Bedingungen angewiesen ist, die nicht unendlich gerechtfertigt werden können. Allerdings seien innerhalb solcher Konditionen objektive Aussagen doch machbar (vgl. Kepplinger 2011b, S. 11). In der Tat sei „der Vergleich zwischen Darstellung und Realität nicht nur eine denkbare Möglichkeit, sondern eine unverzichtbare Notwendigkeit“ (Kepplinger 2011b, S. 16). Ein anderes Problem sei die Inkonsistenz des radikalen Ansatzes. Wenn man die Realität nicht erkennen kann, dann lässt sich logischerweise der Konstruktivismus nicht bestätigen (vgl. Saxer 1992, S. 179). Wenn man die Existenz einer Realität nicht beweisen kann, ist auch die Inexistenz dieser Realität nicht beweisbar (vgl. Hafez 2002a, S. 18). Einerseits wurde auf Begriffe wie Wahrheit und Objektivität verzichtet. Andererseits wird ein Wahrheitsrecht (auch wenn nur implizit) für das eigene konstruktivistische Modell im Gegensatz zu dem realistischen Grundgedanken beansprucht (vgl. Bentele 1993, S. 162). Diese Inkonsistenz erstreckt sich noch auf die Nachrichtenwerttheorie. Nimmt man beispielsweise die Definition des Faktors „Nähe“, wird dabei von einem feststehenden Zusammenhang zwischen Medien und Ereignisrealität ausgegangen, nämlich einer Beurteilung, ob eine Nachricht aus einer kulturell, wirtschaftlich oder sogar politisch nahen oder fernen Umgebung stammen. Der Faktor lässt sich durch diese Realitätsannährung operationalisieren, was aus dem Standpunkt des radikalen Konstruktivismus untersagt ist (vgl. Hafez 2002a, S. 18). Zuletzt anders als Weischenberg (1992) hält Saxer (1992) das Erkenntnisinstrument des Konstruktivismus für die journalistische Kultur für wenig anwendbar, da der Ansatz die organisatorischen und gesamtgesellschaftlichen Aspekte nicht vor Augen hat. Es geht vielmehr um eine „individuumszentrierte Kognitionspsychologie“ (Saxer 1992, S. 180). Saxers Auffassung nach sollten die Anhänger des radikalen Konstruktivismus die Grenze der Erklärungskraft ihres Ansatzes akzeptieren, um diesen zu entradikalisieren (ebd. S. 83). Laut Luhmann (vgl. 1992, S. 7) sei der Konstruktivismus auf „ein falsches Gleis gesetzt“, wenn er sich als radikale Erkenntnistheorie verstehen lässt. Solche Radikalisierung sei nicht zu verwirklichen, da man die klassische „Leitungsunterscheidung“ von Idee und Wirklichkeit oder Beobachter und Beobachteten nicht ausklammern kann. Eine Unterscheidung bricht zusammen, wenn man eine oder die andere Seite ablehnt. „Ohne eine Unterscheidung zu machen, was eine Differenz ihrer beiden Seiten voraussetzt, kann man aber keinen Gegenstand bezeichnen“ (Luhmann 1992, S. 7). Als Folge solcher Radikalisierung sei es nicht möglich, auf der Ebene der Beobachtung erster Ordnung zwischen Illusion und
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2 Theoretische Hintergründe
Realität zu unterscheiden. „Und selbst die Beobachtung zweiter Ordnung muß dem Beobachter, den sie beobachtet, Realität unterstellen. Sie kann ihn auswählen, nicht aber erfinden“ (Luhmann 2009, S. 110). Als Beispiel benutzt Luhmann den Telefonanruf. Keiner würde auf die Idee kommen etwa zu behaupten: „Sie sind doch bloß ein Konstrukt des Telephongesprächs!“, (Luhmann 2009, S. 111) ganz genau weil die Kommunikation Konsistenzprüfungen vollbringen muss. Auf diese „Konsistenzprüfung“ kann die Kommunikation im Gesellschaftssystem nicht verzichten. Die Massenmedien konstruieren sogar Realität, aber es geht um keine „konsenspflichtige Realitätskonstruktion“ (Luhmann 2009, S. 112). Für Luhmann hat der radikale Konstruktivismus sogar recht mit der Überzeugung, dass kein kognitives System seine Umwelt oder externe Realität erreichen kann. „Zugleich gilt aber auch, daß kein kognitives System auf Realitätsannahmen verzichten kann“ (Luhmann 2009, S. 112).
2.4.1.2 „Rekonstruktion“ und „Dekonstruktion“ von Wirklichkeiten als Alternative zum radikalen Konstruktivismus Um eine Position zwischen dem naiven Realismus und dem radikalen Konstruktivismus zu schaffen, schlägt Bentele (1993) einen vermittelnden, re-konstruktivistischen Ansatz vor (vgl. Luhmann 2009, S. 110), der auf den entscheidenden Übereinstimmungen zwischen den diversen Formen von kognitivem Konstruktivismus und der evolutionären Erkenntnistheorie (EE) basiert. Es geht im Endeffekt um den Zusammenhang zwischen Wirklichkeit und medialer Wirklichkeit (vgl. Bentele 2015, S. 191). Beide Modelle haben als Voraussetzung die Existenz der Realität. Abweichend ist die Annahme der Erkennbarkeit dieser Realität. Während der Konstruktivismus eine solipsistische Haltung vertritt (alle Objekte der Außenwelt oder fremde Ichs nur als Bewusstseinsinhalte des als allein existent angesehenen eigenen Ichs verstehend), befürwortet die EE eine realistische Position. Für die EE sei die objektive Realität auf jeden Fall erheblich von subjektiven Erkenntnisstrukturen eines abgetrennten Erkenntnissubjektes eigenständig und lässt sich durch „Wahrnehmung, Denken und Wissenschaft“ (Bentele 1993, S. 166) wenigstens zum Teil erkennen. Diese sogenannten subjektiven Erkenntnisleistungen sind durch drei Termini auszudifferenzieren, nämlich „Perspektivität, Selektivität und Konstruktivität“ (ebd.). Sie befinden sich in allen Erkenntnisniveaus wie Wahrnehmungen, Erfahrungen, Alltagsüberlegungen oder wissenschaftlicher Gewissheit. Selektivität sei für die Reduktion von Komplexität verantwortlich. Kurz ausgedrückt seien unterschiedliche Realitätsvariationen (natürlich oder gesellschaftlich) unabhängig vom Beobachter (z. B. Journalisten und Korrespondenten) faktisch gegeben und
2.4 Der konstruktivistische Ansatz
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können vom Beobachter rekonstruiert werden. Dies bedeutet, dass ein Anteil der übertragbaren Realitätsskizzen intersubjektiv überprüft werden könne (vgl. Hafez 2002a, S. 17). Realität sei zu vielsichtig und multidimensional, um als Einheit verstehbar zu sein und wird deswegen ausgewählt, umgestaltet und aufgrund dessen buchstäblich konstruiert (ebd.). Aus diesen Prinzipien konzipiert Bentele (ebd.) fünf Standpunkte für einen re-konstruktivistischen Ansatz. Zuerst existiert für die Berichterstattung normalerweise ein vom Journalisten bzw. Korrespondenten unabhängiger Realitätsausschnitt. Nach Benteles Auffassung findet ein größter Teil der Ereignisse unabhängig von den Kommunikatoren statt. Selbstverständlich gibt es Versuche, diese Berichterstattung innerhalb einer Medienlogik zu beeinflussen, bzw. durch inszenierte „Medienereignisse“. Allerdings werden diese meistens von der Öffentlichkeitsarbeit und nicht von Journalisten durchgeführt. Zweitens sei die Berichterstattung nur durch den Zusammenhang von subjektiven Ordnungen der Berichterstattung und des Berichterstatters auf einer Seite und tatsächlichen Wirklichkeitsordnungen andererseits darzustellen und zu erkennen. Drittens seien ein paar Realitätsausschnitten sozial konstituiert, eine andere Quantität wird durch das Medien-Vorhandensein konstituiert. Viertens sollten Nachrichten nicht nur als Konstruktion, sondern als Re-Konstruktion von Wirklichkeiten angesehen werden. Empirisch sei zu erfassen, ob diese Rekonstruktionen anpassend oder verzerrt sind. Fünftens sei wahrheitsentsprechende und sachliche Berichterstattung deswegen in einer nicht naiven Form als „adäquate Realitätskonstruktion“ angesehen (vgl. Bentele 1993, S. 167–168). Dementsprechend ist die journalistische Berichterstattung innerhalb der Nachrichtentenwerttheorie oder einer Theorie öffentlicher Kommunikation als Realitätskonstruktion mit mehreren Ebenen zu verstehen. Dabei spielt der Begriff der „Verzerrungen“ eine bedeutsame Rolle, da selektive Darstellung zur Verzerrung führen könnte. Verzerrung und Selektivität seien nicht identisch nach Benteles Auffassung (ebd.), aber aus selektiven Repräsentationen können Verzerrungen entstehen. Aus diesen Gründen sei Medienwirklichkeit in ihrer Aufgabe der Darstellung anderer Realitäten in doppeltem Sinne wirklich. Für die Kommunikationswissenschaft sei essenziell, „welchen Wirklichkeitsgrad, d. h. welchen Präzisionsgrad die Berichterstattung aufweist“ (Bentele 1993, S. 170). Die bedeutsamste Leistung der Medien ist genau, dass sie Medienwirklichkeit konstruieren. Diese Medienwirklichkeit sei eine vom Menschen nach spezifischen Normen erzeugte Wirklichkeit und lasse sich weder ganz naiv nur als Spiegel einer anderen Realität, noch als die Reduktion eines Konstrukts simplifizieren. Medienwirklichkeit sei „Rekonstruktion anderer Wirklichkeiten“ (Bentele 1993, S. 171). Durch die „Rekonstruktion“ wird der „Prozess der kognitiven und kommunikativen Modellbildung“ beschrieben (Bentele 2015, S. 192).
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2 Theoretische Hintergründe
Da die Unbeweisbarkeit des Konstruktivismus offensichtlich eine Schwachstelle des radikal-konstruktivistischen Ansatzes (ein geschlossenes, nicht prüfbares und nicht widerlegbares System) ist, hat der radikale Konstruktivismus diesbezüglich bloß zwei Möglichkeiten: Er kann entweder an allen oder an keinen Wissenschaften zweifeln, die sich mit Realitätskonstruktionen befassen. Anders gesagt kann er entweder ausnahmslos alle Variationen kritisch-empirischer Wissenschaft als strukturelles Paradox boykottieren oder andersherum die empirische Wissenschaft – wie der Rekonstruktivismus vorsieht – als intersubjektive Annäherungsbemühungen an die Realität anerkennen (vgl. Hafez 2002a, S. 19; vgl. Saxer 1992, S. 179). Allerdings beurteilt Hafez (vgl. 2002a, S. 19) den Rekonstruktivismus im Sinne Benteles noch als ein fragmentarisches und lückenhaftes methodologisches Modell. Durch eine intersubjektive Realitätserkenntnis lässt sich laut Bentele Medienrealität und außermediale Realität vergleichen. Jedoch wurde bei der Methode nicht spezifiziert, wie genau und von wem diese Prozedur durchgeführt werden könne (ebd.). Dieses Defizit wurde auch von Schmidt (1993) erörtert: „Wer aber, so muß wohl gefragt werden, nimmt ‚die Realität‘ wahr, wer interpretiert Berichte über sie als richtig oder falsch, wer stellt die Differenz oder Adäquatheit zwischen Realität und Interpretationen fest?“ (Schmidt 1993, S. 114). Die Lösung wurde von Hafez (vgl. 2002a, S. 19–24) spezifischer für die Analyse der Auslandsberichterstattung vorgebracht. Der Autor (ebd.) setzt unterschiedliche Kompetenzen voraus, um solche Vergleiche zwischen außermedialer Realität und Medienrealität verwirklichen zu können. Erstens werden „medienanalytische“ Fähigkeiten erforderlich, d. h. die Kapazität durch quantitative und qualitative Inhaltsanalyse die Strukturen und Kompositionen der Auslandsberichterstattung zu rekonstruieren und die Ergebnisse theoretisch zu interpretieren. Zweitens sei die „gegenstandanalytische“ Kompetenz unvermeidlich, d. h. die Fähigkeit, den Kontrast zwischen außermedialer und medialer Wirklichkeit durch nicht-mediales Wissen prägende Einstellungen und Untersuchungen des Auslandes – genauer, das Objekt der Auslandsberichterstattung, hier die Länder Lateinamerikas – abschätzen zu können (vgl. Hafez 2002a, S. 19). Zuletzt spielt die „medientheoretische“ Kapazität eine wichtige Rolle. Obwohl es möglich ist, durch mediale Inhaltsanalyse und „intersubjektive Gegenentwürfe“ der außermedialen Wirklichkeit das Leistungspotenzial der Medien bzw. deren Qualität abzuschätzen, kann man dadurch keine Aussagen über Entstehung und Wirkung der Berichterstattung ableiten. Diverse Einflussfaktoren auf die Medieninhalte sind ganz vor ihrer
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Veröffentlichung ersichtlich. Unterschiedliche Aspekte kann man nur im Verhältnis zu den medialen, politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Systemen beobachten. Dabei sei die Anwendung der „Theorie internationaler und interkulturelle Darstellungsprozesse“ von Hafez auf die Ergebnisse von der sogenannten Rekonstruktion-Dekonstruktion essenziell (vgl. Hafez 2002a, S. 21). Der von Hafez (2002) beschriebene Verlauf der Medienanalyse ist Teil des Rekonstruktionsprozesses im Sinne Benteles, allerdings wird er dabei als „Dekonstruktion“ charakterisiert. Laut Hafez (2002) soll Wirklichkeit tatsächlich rekonstruiert werden, jedoch mit der Absicht, die gleicherweise rekonstruierten Beitragsbedeutungen zu analysieren und zu beurteilen, also sie zu dekonstruieren (vgl. Hafez 2002a, S. 19). Da Bentele allgemeine methodologische Voraussetzungen ohne spezifische Vorgehensweise für die Auslandsberichterstattung darlegt, präzisiert Hafez (ebd.) die Frage, wer die Glaubwürdigkeit der Medienrealität abschätzen könne. Hafez setzt beispielsweise „primäre“ und „Diskrepanzerfahrung“ nicht gleich. Vorwissen und direkte Informationen – also primäre Erfahrung – hätte als Voraussetzung eine direkte Wahrnehmung von Ereignissen. Bei Unstimmigkeiten von Diskursen (z. B. wenn Medien und wissenschaftliche Diskurse sich sehr stark voneinander unterscheiden) sei diese primäre Erfahrung nicht unbedingt vorhanden. Anders gesagt besitzen Wissenschaftler nicht zwingend die Primärerfahrung, aber sie untersuchen systematisch und sachlich die Primärerfahrungen der anderen und rekonstruieren durch diverse nicht-mediale Quellen unabhängig und selbstverantwortlich Wirklichkeitsmuster (vgl. Hafez 2002a, S. 20). Solche wissenschaftlich erzeugten Kenntnisse sind eine anpassende Vergleichsgröße, um die Adäquatheit der Berichterstattung zu beurteilen. Dementsprechend wird als Alternative zu dem radikalen Konstruktivismus in der vorliegenden Arbeit der sozial-kulturwissenschaftliche Konstruktivismus-Dekonstruktivismus-Ansatz in Anlehnung an Hafez angewandt (vgl. Methodenvorgehensweise). Unter der Annahme, dass infolge der Relativierung des radikalen Kon struktivismus eine „adäquate Realitätskonstruktion“ möglich und sogar erwünscht ist, wird im Folgenden diskutiert, wie die Massenmedien ein Weltimage konstruieren, das den geografischen Proportionen der Welt überhaupt nicht entspricht (vgl. Schulz 2008, S. 71). Daher ergibt sich die Frage, welche Länder von den Medien am meisten beachtet bzw. ignoriert werden und aus welchen Gründen. Das ist eine Diskussion, die im Rahmen der neuen Weltinformationsordnung entstand und zunächst Beachtung fand.
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2.5 Der unausgeglichene Nachrichtfluss und die Förderung einer neuen Weltinformationsordnung in den 70er-Jahren Die Verzerrung und ungleiche Repräsentation der Länder im globalen Mediensystem führen zu einem unangemessenen Medienbild des Auslands. Diese Konstruktionsproblematik der globalen Nachrichten- und Informationsflüsse wurde in den 1970er-Jahren von Expertengruppen im Rahmen unterschiedlicher Kommissionen heftig debattiert. Die Nachrichtendefinition und -auswahl waren innerhalb und zwischen den Ländern immer extrem kontrovers, aber nie wurde wie damals über die Nachrichtengeografie so intensiv diskutiert. Die Vereinten Nationen und insbesondere die UNESCO waren die Hauptbühnen dieser Auseinandersetzung über eine Neue Weltinformationsordnung (NWIO), die die internationale Kommunikation so umfassend prägte (vgl. Carlsson 2003, S. 31). Informationen haben eine substanzielle Stellung in den internationalen politischen Verhältnissen, nicht nur als Instrument der Kommunikation zwischen den Bevölkerungen, sondern auch als Hilfsmittel der Wahrnehmung und Kenntnisse zwischen den Staaten. Heutzutage wird überdies diese Funktion der Information noch signifikanter für die internationalen Gesellschaften, denn durch Modernisierung und neue Entwicklungen in der Technologie kommunizieren die unterschiedlichen Regionen der Welt so schnell wie noch nie (vgl. Masmoudi 1979, S. 172). Jedoch ist die moderne Informationswelt durch maßgebliche Ungleichgewichte charakterisiert, die dramatische Folgen für die internationale Gemeinschaft haben (ebd.). Diskutiert wurde im Rahmen der NWIO, wie die internationale Informationsordnung die Ungleichheiten in der Weiterentwicklung der südlichen Staaten eingravierte und festigte. Die Dritte Welt war sehr stark von den nördlichen Nationen abhängig, nicht nur von Hardware (z. B. Druckerpressen und Rundfunk- und Fernsehsender), sondern auch von Software (Radio- und Fernsehprogramme) und diese Dependenz hatte laut der Debatte weitreichende Konsequenzen. Durch die Macht über die internationalen Informationskanäle erzeugten die westlichen Medien einseitige und verzerrte Bilder der anderen Staaten der Welt (vgl. Thussu 2006b, S. 31). Die vierte Gipfelkonferenz der Blockfreien Staaten von 1973 in Algier gilt als Geburtsort (vgl. Samarajiwa 1984, S. 110) der Neuen Internationalen Informationsordnung (NIIO). Die blockfreien Nationen initiierten damals die Diskussion über die NWICO und warfen Fragen hinsichtlich der Unausgeglichenheit des Nord-Süd-Informationsflusses, der kulturellen Einseitigkeit der Technologie und der nicht vorhandenen Kommunikationsinfrastrukturen in
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die internationale Arena (vgl. Padovani 2005, S. 317). Bei der Analyse der Rolle der UNESCO während der Entwicklung internationaler Beschlüsse in Bezug auf Information und Kommunikation zwischen 1945 und 1979 betont Carlsson (vgl. 2003, S. 36) die Existenz von 41 Dokumenten – konkreter wurden acht Verträge und Konventionen, sechs Erklärungen und 27 Beschlüsse dokumentiert. Die meisten Abkommen berücksichtigen die Problematik der Rechte und Freiheiten, Friedenssicherungspropaganda, Entwicklung der Staaten der Dritten Welt und der freien Informationsflüsse (ebd.). Der Ausgangpunkt der Diskussionen vor dem Hintergrund der Entkolonialisierungszeit und der Geburt neuer emanzipierter Nationen auf der internationalen Bühne war, dass keine Eigenstaatlichkeit ohne politische, ökonomische und kulturelle Souveränität für alle Nationen zu verwirklichen wäre (vgl. Padovani 2005, S. 317). Im Kontext des Kalten Krieges verursachten diese Behauptungen und Ansprüche selbstverständlich unterschiedliche Polemiken, denn der Ostblock befürwortete das Anliegen der südlichen Staaten, während die westlichen Nationen und deren Medienorganisationen es stark kritisierten (ebd.). Der an den USA orientierte Westen verstand die Neue Weltinformationsordnung als eine „sowjetisch inspirierte“ Idee der Dritten Welt zur Unterwerfung der Massenmedien durch staatliche Steuerungen (vgl. Thussu 2006b, S. 35). Aus westlicher Sicht stand das Konzept der NWICO im Widerspruch zu den liberalen westlichen Normen und dem Grundsatz des freien Informationsstroms. Der Kalte Krieg wirkte auf die westliche Reaktion, die die Problematik des Nachrichtenflusses im Rahmen des Ost-West-Konflikts verortete (ebd.). Die Forderungen einer neuen Weltinformationsordnung bezogen sich in der Tat auf eine Reihe von Punkten – „Demokratisierung“ (die Voraussetzung der Pluralität von Quellen, Nachrichten und Informationen); „Entkolonialisierung“ (Selbstbestimmung und die Bemühung um die Autonomie gegenüber fremden Strukturen), „De-Monopolisierung“ (Verurteilung der Eigentumsverhältnisse und Konzentration der Medienindustrien) und zuletzt „Entwicklung“ (vgl. Padovani 2005, S. 317). Der tunesische Informationsminister Mustapha Masmoudi, der später Beteiligter der MacBride-Kommission wurde, dokumentierte ursprünglich die Problematik des Ungleichgewichtes des Informationsflusses der internationalen Gesellschaft. Zuerst wurde ein offenkundiges quantitatives Ungleichgewicht des Informationsflusses zwischen Nord und Süd konstatiert, das sich durch die Disproportionalität zwischen dem Ausmaß von Nachrichten und Informationen herausbildete (vgl. Masmoudi 1979, S. 172–173). Mit anderen Worten pointierten die Befürworter der Neuweltinformationsordnung einen eindimensionalen Informationsfluss vom „Zentrum“ zur „Peripherie“ (vgl. Thussu 2006b, S. 31)
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2 Theoretische Hintergründe
oder, wie Hafez (vgl. 2002a, S. 52) formuliert, eine „Einbahnstraße“ zwischen den westlichen Industrie- und den Entwicklungsländern. Nach Masmoudi entstammten einerseits circa 80 Prozent der internationalen Nachrichten den größten und bekanntesten Nachrichtenagenturen. Andererseits waren die Entwicklungsländer in lediglich 20 % oder 30 % dieser Nachrichten dargestellt, obgleich sie fast drei Viertel der Weltbevölkerung entsprachen (vgl. Masmoudi 1979, S. 172). Dies führte zum informationellen Monopol der Industrienationen (ebd.). Daher waren die Industrieländer in der Lage, die informationellen Rahmenbedingungen festzulegen und die strukturelle Dependenz und deren wirtschaftliche, politische und soziale Effekte zu bekräftigen (vgl. Thussu 2006b, S. 32–33). Dieser vertikale Strom (anders als ein passender horizontaler Ablauf der internationalen Kommunikation) wurde von den transnationalen Unternehmen im Westen kontrolliert. Zudem verstanden diese transnationalen Medien Informationen als wirtschaftliche Güter und orientieren sich an den Bestimmungen des Markts. Infolgedessen gehörten die gesamten Informations- und Kommunikationssysteme zu den Bausteinen der internationalen Unausgeglichenheit, die die Struktur des Neokolonialismus produzierte und beibehielt (vgl. Masmoudi 1979, S. 172–174; vgl. Thussu 2006b, S. 31–32). Die ganze Debatte ist deutlich im Kontext der Dichotomie zwischen der Modernisierungs- und Dependenztheorie oder, anders ausgedrückt, zwischen dem Zentrum-Diffusion- und Zentrum-Peripherie-Ansatz verortet (vgl. Hafez 2002a, S. 27). Ulla Carlsson (2003) fasst die Unterschiede beider Grundgedanken zusammen. Im Zentrum der Modernisierungstheorie stehen die westlichen Gesellschaften als Musterbilder, die sich an wirtschaftlicher Entwicklung orientieren. Gründe für die unterentwickelte Situation sind in den eigenen Nationen zu finden. Außerdem basiert der Modernisierungsansatz auf dem Nationalstaat und unterschreitet die individuelle Freiheit. Zuletzt wird den Massenmedien bei der gesellschaftlichen Entwicklung eine besondere Bedeutung zugeschrieben und man betrachtet ein vertikales Kommunikationsvorbild, d. h. den Fluss von der Elite zu der normalen Bevölkerung (vgl. Carlsson 2003, S. 34). Nachrichten und Informationsströme werden hierbei durch globale Kommunikation aus den Zentren in die Peripherien weitergeleitet und dadurch bilden sich neue Informationszentren heraus, die eine Modernisierungsentwicklung forcieren (vgl. Hafez 2002a, S. 27). Im Gegensatz dazu zeigt die Dependenztheorie eine Weltsystembetrachtungsweise, in der Entwicklung hinsichtlich Zentrum und Peripherie verstanden wird. Die Hauptbegründung für gesellschaftliche Unterentwicklungen ist die industrialisierte, kapitalistische Machtstellung des Westens. Nach diesem Ansatz sind Informationslücken und Unterentwicklung in der Peripherie die Hauptkondition für die Entwicklung des industrialisierten Zentrums. Daher bekräftigen die Massenmedien
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die Vormachtstellung der Metropolen. Ein Staat sollte nach dieser Perspektive das Ziel haben, Autonomie und Freiheit anzustreben. Der Ton liegt auf der sozialen Gleichheit (vgl. Carlsson 2003, S. 34). Das globale Mediensystem wird unter dieser Perspektive als ungleichmäßig verstanden und ist verantwortlich für die Intensivierung der bestehenden Ungleichheiten. Problematische Punkte der internationalen Massenkommunikation werden als eine Mischung aus Kommunikationsund Kulturimperialismus angesehen (vgl. Hafez 2002a, S. 27). Als Schlussfolgerung dieser ganzen Debatte wurde 1979 die Internationale Kommission für die Untersuchung von Kommunikationsproblemen ins Leben gerufen. Bekannt als MacBride-Kommission legten Experten im Auftrag der UNESCO einen Abschlussreport vor. Das Dokument – „Many Voices, One World“ (MacBride et al. 1980) – brachte erstmals Themen bezüglich Informationen und Kommunikationen auf die globale Tagesordnung (vgl. Thussu 2006b, S. 32). Die MacBride-Kommission bestand aus 16 Mitgliedern aus unterschiedlichen Ländern und berücksichtigte vier Perspektiven der internationalen Kommunikation: die bestehende Situation der globalen Kommunikation, die Frage eines autonomen und ausgeglichen Informationsstroms und wie das Interesse der Entwicklungsnationen mit diesem Informationsstrom zusammenhängt, die Schaffung einer NWICO und zuletzt die Medien als ein Aufklärungsmittel der Öffentlichkeit über globale Problemen (vgl. Thussu 2006b, S. 33). Bei der systematischen Analyse der MacBride-Veröffentlichung betont Hafez (vgl. 2002a, S. 53), dass der Bericht trotz des starken Fokus auf dem Zentrum-Peripherie-Ansatz die Problematik der Auslandsberichterstattung als eine Entwicklungsfrage aller internationalen Mediensysteme (inklusive der Entwicklungsländer) betrachtet. Der Expertenausschuss stellte zugegebenermaßen auch Komplikationen hinsichtlich des Erhalts von Informationen durch die Rezipierten fest, z. B. den eingeschränkten Zugang zu Pressemedien oder den Alphabetisierungsgrad eines Landes. Jedoch war der Bericht auf die klassische Beschäftigung der Massenkommunikation ausgerichtet, nämlich auf die Frage der Informationssuche, Verarbeitung und Weitergabe (ebd.). Bemerkenswert ist, dass die Aufgabe der Überarbeitung der Auslandsimages, die durch die problematische Definition von Nachrichten und Nachrichtenwerten und die Methode der Nachrichtenvermittlung entstehen, als eine Herausforderung für alle Beteiligten des globalen Kommunikationssystems verstanden wurde (vgl. Hafez 2002a, S. 55). Beim Kapitel zur „Dominanz der Kommunikationsinhalte“ (vgl. MacBride et al. 1980, S. 156–165) betonte der Report, dass es trotz der globalen Fortschritte in der Nachrichtenauswahl und -verbreitung weitere Informationslücken und Verzerrungen gäbe. „Ungenauigkeiten und Mängel in der Verbreitung von Nachrichten [seien] nicht zu leugnen“ (MacBride et al. 1980, S. 156) und daher sei die breite Öffentlichkeit überhaupt nicht gut informiert (ebd.).
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Dementsprechend beleuchtete das Dokument Aspekte solcher Verzerrungen, die durch unterschiedliche Verhältnisse entstehen. Laut dem Bericht passiert dies insbesondere, wenn die Medien unbedeutende Geschehnisse auf Kosten wichtiger Ereignisse eine Präferenz geben und infolgedessen Inhaltsloses und Bedeutungsloses mit Tatsachen kombinieren und als Ganzes darstellen. Ein zweiter Faktor ist, wenn Nachrichten aus willkürlichen Tatsachen zusammengebracht und als Absolutes dargestellt werden. Außerdem entstehen Distorsionen, wenn die Medien Fakten so präsentieren, dass sie implizit zu Fehlinterpretationen führen und diese indirekten Schlussfolgerungen des Publikums für ein bestimmtes Interesse nützlich sind. Darüber hinaus kommen weitere Vertauschungen vor, wenn die Massenmedien Ereignisse in einer Art und Weise darstellen, die unbegründete oder übertriebene Zweifel und Ängste erweckt, mit dem Zweck, nachfolgende Handlungen von Einzelpersonen oder sogar ganzen Gemeinschaften und Regierungen zu rechtfertigen. Zuletzt kann man über Verzerrung sprechen, wenn die Medien über Fakten schweigen und dieses Stillschweigen durch das vermutete Interesse der Öffentlichkeit verteidigen (vgl. MacBride et al. 1980, S. 158). Hafez (vgl. 2002a, S. 56) fasst solche Mankos der Auslandsberichterstattung zusammen: • Überakzentuierung unbedeutender Geschehnisse • Zusammenstellung widersprechender Fakten zur Erzeugung einer künstlichen Einheit • Missverständnisse durch Implizieren und fehlerhafte Ableitungen • Feldbildfabrikation als Begründung und Handlungsinstruktion von Individuum, Gesellschaft und Politik • Nichtachtung relevanter Entwicklungen und Probleme Dem Bericht zufolge sollte die klassische Nachrichtendefinition wie „Aktualität, Neuigkeit und Universalität (allgemeines Interesse)“ (Hafez 2002a, S. 55) ausgebaut werden, denn internationale Geschehnisse sollten im Kontext ihrer Herausbildung und Entwicklung vermittelt werden. Die allgemeinen Vorwürfe des Reports basieren offensichtlich auf einem Vergleich zwischen Medien und außermedialen Realitäten (ebd.), d. h. die Adäquatheit der internationalen Berichterstattung gegenüber den politischen, sozialen und kulturellen Wirklichkeiten des Auslands. Darüber hinaus präsentiert die Kommission 82 Vorschläge und Empfehlungen, die in fünf thematischen Punkten oder Notwendigkeiten organisiert worden sind: Aufbau der eigenen Kommunikationssysteme und Nachrichtenagenturen, Förderungen regionaler Zusammenarbeit zur Verbesserung der nationalen Befähigungen und Ausbildungssysteme der Kommunikation und Informationen, Betrachtung von Fragen der kulturellen Identität, Inhaltsproduktionen und interregionalen Besprechungen und Infrastrukturen und Dienstleistungen (vgl. MacBride et al. 1980, S. 253–272; vgl. Padovani 2005, S. 323). Zuletzt setzte die MacBride-Kommission Pressefreiheit
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mit der Meinungsfreiheit und den Rechten auf Kommunikation und Empfang von Informationen zusammen, wie sie in den UN-Verträgen von 1966 festgelegt sind (vgl. Thussu 2006b, S. 34). Die Frage einer NWICO wurde allerdings in den Hintergrund gedrängt und verworfen, nachdem sie durch Fragen der Entwicklungshilfe ersetzt worden war (vgl. Carlsson 2003, S. 53). Die ganze Diskussion über die Thematik des freien Informationsflusses, die soziale Verpflichtung der Medien, die Informationsfreiheit und den unausgeglichenen Nachrichtenstrom und zuletzt das Plädoyer für eine neue Weltinformationsordnung beurteilt man als eine Ausnahme in der UNESCOGeschichte (ebd.). Problematiken hinsichtlich der Massenmedien wurden innerhalb der UNESCO ins Abseits geschoben mit der Begründung, die Welt heutzutage sei zu fragmentarisch, um eine solche Diskussion wie das Recht auf Kommunikation anzuerkennen (vgl. Carlsson 2003, S. 56). Jedoch bleibt das Verhältnis zwischen industrialisierten und Entwicklungsnationen festgeschrieben, wie die MacBrideKommission Ende der 70er-Jahre erklärte (ebd.). Aus diesen Gründen kam Carlsson (vgl. 2003, S. 56) zum Schluss, dass die politische Auseinandersetzung zur Regulierung des internationalen Mediensystems, wie in den 1970er-Jahren stattgefunden hat, in der aktuellen Realität nicht mehr vorhanden sei13 (ebd.). 13Eine
partielle Aktualisierung der Debatte fand durch den Weltgipfel zur Informationsgesellschaft (WSIS) 2003 in Genf und 2005 in Tunis statt. Die Gipfelkonferenz wurde von der Internationalen Union der Telekommunikation in Partnerschaft mit der UNESCO u. a. organisiert. Der Akzent der Debatte lag allerdings auf den neuen Medien und der Informationstechnologie und nicht mehr unbedingt auf Massenmedien und Informationsflüssen (vgl. Padovani 2005, S. 333–334). Weitere zahlreiche Perspektiven der Kommunikation in der Gesellschaft wurden konstatiert, die nach Padovani (ebd.) in naher Zukunft kaum in Übereinstimmung zu bringen sind. Während die Debatte der NWICO zudem von staatlichen Akteuren geprägt wurde, beobachtete man beim WSIS-Gipfel eine Phase der mehrstufigen Regierungsführung des Medien- und Kommunikationssystems, die durch das Zusammenspiel vieler unterschiedlichen Akteuren (öffentlichprivat, lokal-global, Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen auf unterschiedlicher Ebene) gekennzeichnet wurde (vgl. Carlsson 2003, S. 61). Die Hauptidee des Gipfels war es, „eine gemeinsame Vision der Informationsgesellschaft zu definieren“ (Padovani und Nordenstreng 2005, S. 265) und Strategien zu entwickeln, um den digitalen Kontrast innerhalb der UN-Ziele des Millenniums zu beseitigen. Ein akademischer Vorwurf gegenüber WSIS waren die mangelnden historischen Perspektiven der Diskussion. Die aktuellen globalisierten Rahmenbedingungen der Kommunikation lassen sich durch ein Informationsparadigma und diverse transnationale Akteure charakterisieren und unterscheiden sich erheblich von der Welt der 1970er-Jahre. Die meisten beobachteten Prozesse der letzten Jahre, d. h. technologische, gesellschaftliche und politische Wende, lassen sich jedoch von den Debatten und Empfehlungen der NWICO ableiten. In beiden Momenten berücksichtigt man die Problematik des Informationssystems, Kommunikationslücken, Entwicklungsschwierigkeiten und die Verpflichtung nationaler und internationaler Akteure. Daher sei eine historische Kontextualisierung notwendig gewesen. Für weitere Informationen über die Entwicklung der NWICO zu WSIS siehe (Carlsson 2003; Mastrini und de Charras 2005; Padovani 2005; Padovani und Nordenstreng 2005).
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2 Theoretische Hintergründe
2.6 Strukturelle Muster der Auslandsberichterstattung Wie im früheren Abschnitt demonstriert, dominierten Mitte der 70er-Jahre die Fragen des Nachrichtenstroms und der Nachrichtendarstellung, der Ungleichgewichte der internationalen Kommunikationsstrukturen und der Dominanz der westlichen Nachrichtenagenturen die Diskussion über die globalen Massenmedien. Die bedeutsamste Studie im Rahmen der UNESCO-Debatte der Neuen Weltinformationsordnung war die Foreign Images Study, die Printmedien und Rundfunknachrichten aus 29 Mediensystemen systematisch analysiert14. Das internationale vergleichende Untersuchungsprojekt wurde unter dem Titel Foreign Images Study initiiert, verbreitete sich als The World of the News: The News of the World und wurde als Foreign News in the Media veröffentlicht (vgl. Sreberny-Mohammadi 1984, S. 121). Die International Association for Mass Communication Research (IAMCR) war für die Koordinierung und Durchführung der Forschung verantwortlich, die sicherlich einer der relevantesten Auslöser für die steigende Bedeutung des Forschungsbereiches war15 (vgl. Tiele 2010, S. 11). Die Foreign News Study war eine spätere erweiterte Replikation der Foreign Images Study basierend auf 46 Ländern16. Der Untersuchungszeitraum der Analyse erstreckte sich über insgesamt zwei Wochen des Septembers 14Die
Stichprobe der Foreign News in the Media bezieht sich auf eine natürliche Woche im April 1979 und künstliche Wochen, die sich von April bis Juni 1979 erstrecken. Sonntage wurden nicht berücksichtigt (vgl. Sreberny-Mohammadi 1984, S. 123). 15Für einen historischen Überblick der wichtigsten deutsch- und englischsprachigen Studien hinsichtlich des globalen Nachrichtenflusses nach Mediengattung und Untersuchungsstaaten siehe die Arbeit von Tiele (2010). Untersuchungen betreffend Lateinamerika werden in nächsten Abschnitten erwähnt. Determinanten der Auslandsberichterstattung, die strukturelle Merkmale und Nachrichtenfaktoren gleichzeitig betrachten, werden ebenfalls in den nächsten Abschnitten diskutiert. 16Das Projekt wurde von Robert Stevenson (Chapel Hill University) und Annabelle Sreberny-Mohammadi (Leicester University) in Gang gebracht und koordiniert. In Deutschland wurde die dazugehörige Untersuchung von Winfried Schulz, Jürgen Wilke und Lutz M. Hagen mit finanzieller Unterstützung der DFG verwirklicht. Die deutschen Wissenschaftler präsentierten Daten für die gegenseitige Berichterstattung von 69 Medien aus 28 Staaten. Der Untersuchungszeitraum betraf zwei gesamte Wochen im September 1995 (vgl. Hagen et al. 1998). Bei der genannten Untersuchung wurden Nachrichtenfaktoren in Anlehnung an Galtung und Ruge 1965; Rosengren 1970; Schulz 1976 und Staab 1990a problematisiert, weiterentwickelt und mithilfe statistischer Kennzahlen operationalisiert. Aus diesem Grund wird die Studie erst beim Abschnitt „Determinanten der Auslandsberichterstattung“ ausführlich diskutiert.
2.6 Strukturelle Muster der Auslandsberichterstattung
59
1995. Berücksichtigt wurden alle Ressorts17 der wichtigsten Tageszeitungen, Fernseh- und Radiosendungen (vgl. Hagen et al. 1998, S. 61; vgl. Kunczik und Zipfel 2005, S. 429; vgl. Kamps 2008, S. 87). Beide Untersuchungen sind wegen des „All-Ways“-Forschungsdesigns am umfassendsten, d. h., sie betrachten alle möglichen Zusammenspiele der Auslandsberichterstattungen. Anders ausgedrückt wurde die wechselseitige Berichterstattung aller untersuchten Länderpaare ausgewertet und interpretiert18. In Bezug auf das deutsche Mediensystem im Speziellen zeigte sich, dass die neun untersuchten Medien nur spärlich über die Länder der Dritten Welt berichteten. Die Mehrheit von ihnen wurde in den zwei Wochen überhaupt nicht beachtet oder erhielt weniger als zehn Nachrichten (vgl. Wu 2004, S. 100). Fünfzehn Jahre später legte Tiele (2010) eine Untersuchung der „Nachrichtengeographien der Tagespresse“ vor, in die 126 Länder einbezogen wurden19. Determinanten der Nachrichtengeografie, die sich mit Nachrichtenfaktoren als Aspekt beschäftigen, werden in diesem Abschnitt noch nicht berücksichtigt, denn der Fokus hierbei liegt auf den generellen Strukturen des Auslandsbildes. Die Hauptergebnisse der Foreign Images Study, die strukturellen Muster der Auslandsberichterstattung vorlegte, wurden in unterschiedlichen Studien als Ausgangspunkt ihrer Analyse herangezogen. Frühere Studien zeigten ebenfalls ähnliche Befunde (vgl. Hafez 2002a; vgl. Wöhlcke 1973; vgl. Glass 1979; vgl. Meier 1984; vgl. Pütz 1993; vgl. Nafroth 2002; vgl. Oh 2002;
17Die
vorherige Studie von 1979 – The World of the News – berücksichtigte nur die „allgemeinen Nachrichten“. Alle spezialisierten Ressorts eines Blatts, wie Finanzen, Reisen, Frauen usw., wurden ebenso wie spezielle Berichte und Ergänzungen nicht in Betracht bezogen. Daher sind die Ergebnisse auf die Hard-News-Themen konzentriert (vgl. Sreberny-Mohammadi 1984, S. 123). 18Tiele (vgl. 2010, S. 17) unterscheidet das Forschungsdesign der Studien zwischen „OneWay“, „Two-Ways“ und „All-Ways“. Bei „One-Way“ wird die Berichterstattung eines Staates oder mehrerer Nationen analysiert, allerdings basiert die Auswertung nicht auf der wechselseitigen Berichterstattung der Untersuchungsländer. Das ist der Fall in der vorliegenden Dissertation, in der die Berichterstattung der 20 Länder Lateinamerikas analysiert wird, aber die Auswertung bezieht sich auf das deutsche Mediensystem. Bei der „Two-Ways“-Variante wird die gegenseitige Berichterstattung zweier Staaten miteinander verglichen. 19Tiele (vgl. 2010, S. 117–119) analysierte eine Qualitätszeitung pro Land – 44 in originalem Format; 48 als elektronische Kopie der Titelseite im PDF-Format und weitere 33 als Screenshot der Internetseite. Obwohl es sich um die umfassendste Tageszeitstrichprobe handelt, konnte nur eine natürliche Woche (Montag, der 13. bis Sonntag, der 19. September 2004) codiert werden. Berücksichtigt wurden nur die internationalen Titelseiten der Zeitungen.
60
2 Theoretische Hintergründe
vgl. Seifert 2003; vgl. Busch 2005; vgl. Richter und Gebauer 2010; vgl. Bieber 2011; vgl. Cazzamatta 2014). Allerdings ist eine theoretische Universalisierung der Forschungsbilanz wegen methodischer Diskrepanzen der Forschungsdesigns sehr kompliziert20. Nichtsdestotrotz identifiziert und fasst Hafez (vgl. 2002a, S. 58) die folgenden Strukturmerkmale zusammen: • • • • • •
Regionalismus (und Metropolenorientierung) Konfliktperspektive Politikzentrierung Elitenzentrierung Dekontextualisierung Nichtdarstellung von Strukturproblemen der internationalen Beziehungen
Bieber (vgl. 2011, S. 27–40) bindet noch weitere Strukturmerkmale ein, nämlich die „eingeschränkte Quellenanlage“, die „nationalisierte Perspektive“ und „Negativzentrierung“. Ulrich (vgl. 2016, S. 140) erwähnt zudem die „AgendaLimitierung“ und die „Quellen-Ambiguität“. Die Mehrheit solcher Merkmale wurde bei der Foreign Images Study unabhängig vom Mediensystem ebenfalls identifiziert: „One of the most striking things to emerge from the analysis of this mass of data is the identification of a particular pattern of attention to different types of news which seems to be present in virtually all the media systems studied, no matter what their differences in other respects“ (Sreberny-Mohammadi et al. 1980, S. 52). Dem Bericht zufolge kann man die Nachrichtengeografie in drei unterschiedlichen Ebenen unterteilen. Zuerst wird meistens über die eigenen Regionen oder Nachbarländer am häufigsten berichtet. In fast allen untersuchten Mediensystemen wurde Ereignissen viel mehr Aufmerksamkeit geschenkt, die innerhalb des geografischen Gebietes stattfanden, d. h., ein universeller „Regionalismus“ existiert. Eine zweite Stufe der Medienbeachtung wurde als „consistent newsmakers“ genannt, d. h. die Vereinten Staaten und Westeuropa (vgl. SrebernyMohammadi et al. 1985, S. 52). Es wurde eine „semipermanente Aufmerksamkeit auf die Metropolen“ identifiziert. Die Art und Weise dieser „Metropolenorientierung“-Berichterstattung war selbstverständlich von den kolonialen und neokolonialen Verhältnissen zwischen den Zentren und Peripherien abhängig
20Bei
der Zusammenfassung von mehr als 200 Studien der Auslandsberichterstattung pointiert Schenk (1987) die Schwierigkeit, die dazugehörenden Ergebnisse wegen methodischer Unterschiedlichkeiten zu verallgemeinern.
2.6 Strukturelle Muster der Auslandsberichterstattung
61
(ebd.). Das dritte Niveau bezieht sich auf die peripherischen Staaten, „hot spots“ der Nachrichten genannt. Diese Länder zeigen eine ganze ereigniszentrierte Berichterstattung, die von Emotionalisierung, Spannungen, Störungen und Krisen geprägt ist, beispielsweise die Länder des Mittleren Ostens. Allerdings verschwinden sie nach einem bestimmten Ereignis ganz schnell wieder vom Medienradar. Obwohl Westeuropa und die USA mehr Aufmerksamkeit als z. B. Asien, Afrika und Lateinamerika erhielten, erkennt Hafez (vgl. 2002a, S. 58) bei seiner Analyse der Daten der Foreign Images Study, dass der Nahe und Mittlere Osten als Ausnahme gilt, ohne dass die Autoren dies bei ihrer Auswertung des Berichts bemerkt hatten. Auf den Nahen und Mittleren Osten kommt im Durchschnitt der analysierten 29 globalen Mediensysteme ein größerer Beachtungswert als auf Nordamerika und das Gebiet steht nach Westeuropa auf Platz 221 (vgl. Hafez 2002a, S. 59–60). In einer bearbeiteten Tabelle in Anlehnung an die Daten der Foreign Images Study deutet Hafez (ebd.) darauf hin, dass die globalen Medien eine Präferenz zu Westeuropa, gefolgt vom Nahen und Mittleren Osten, Nordamerika, Asien, Afrika, Osteuropa und Lateinamerika in dieser Reihenfolge haben. Die intensive Anwesenheit von Westeuropa und den USA lässt sich durch die Nord-Süd-„Metropolenorientierung“ erklären, die auf Kosten des Süd-SüdDialogs geht (ebd.). Zuletzt beobachtet man die Unsichtbarkeit einiger Länder auf der Weltkarte, insbesondere aus Lateinamerika und Osteuropa, wo angeblich nichts Interessantes passiert. Problematischer hierbei ist viel mehr die Frage nach der Unterrepräsentation spezifischer Weltteile als die Überrepräsentation des Westens (vgl. Sreberny-Mohammadi et al. 1985, S. 52). Solche „weiße Flecken“ auf der globalen Landkarte wurden schon von Schramm (vgl. 1959, S. 137–138) identifiziert. Bei seiner Analyse von vierzehn Zeitungen genau am 2. November 1956 beobachtete der Autor, dass Afrika, Lateinamerika und Ozeanien weniger Beachtung in der Presse weltweit fanden. Zwanzig Jahre später merkte die Foreign Images Study ebenfalls (vgl. Sreberny-Mohammadi und Grant 1985) diese Unauffälligkeit einiger Länder an, dieses Mal gehörte sogar Osteuropa
21Die
gute Beachtung des Nahen und Mittleren Osten wurde ebenfalls in den früheren Studien von Schramm (1959) konstatiert, auch wenn es sich um ein ganz besonderes und spezifisches Datum handelt: „It is evident from this table that certain regions were relatively little covered in these papers on November 2, 1956. Africa (except Egypt), Oceania, Latin America got little attention, and even North America seemed to provide little news for papers of other countries. On the other hand, the Middle East, as might be expected, furnished a great deal of news“ (Schramm 1959, S. 138).
62
2 Theoretische Hintergründe
dazu. Hafez beschreibt dementsprechend Lateinamerika sogar als „medial isoliert“ (vgl. 2002a, S. 59) Die Replikation der Analyse durch die Foreign News Study bestätigte fünfzehn Jahre später gleichfalls die Existenz von ignorierten Staaten, die normalerweise aus dem Pressradar entfallen, vor allem aus Südamerika und Afrika22 (vgl. Wu 2000, S. 121). Das Ergebnis zeigt eindrucksvoll, dass der Nachrichtenfluss nicht nur auf der Ebene jedes einzelnes Landes, sondern auch auf der globalen Ebene ungleich ist (ebd.). Der systematische Vergleich von mehr als 200 AuslandsberichterstattungStudien, der von Schenk (1987) durchgeführt wurde, kam zu ähnlichen Ergebnissen. In den Auslandsnachrichten werde an erster Stelle aus der eigenen Region berichtet, an zweiter Stelle jedoch stehen die Nachrichten aus Westeuropa und den USA und an dritter Stelle findet man die Nachrichten aus Krisenregionen. Eine mögliche Interpretation dafür ist, dass das eigene Interesse eines Staates an anderen Nationen die Beachtung der internationalen Berichterstattung lenkt, gefolgt von einer grundlegenden Präferenz für Krisen und Konflikte – „Konfliktorientierung“ (vgl. Hagen et al. 1998, S. 60). Entwicklungsländer erhielten laut dem Bericht Medienaufmerksamkeit normalerweise beim Auftreten von Störungen und Schädigungen, die sie für eine bestimmte Periode wenigstens zu einem „Hot-Spot“ der Unruhe machten. Dies sei keine Besonderheit der Entwicklungsländer, denn solche Nachrichten werden in der Mehrheit der analysierten Mediensysteme als Außergewöhnliches definiert – Putsch und Naturkatastrophen überall finden Beachtung. Es sei nicht so problematisch, dass die Entwicklungsländer für diese „negative“ Aufmerksamkeit beachtet werden. Kritischer ist die Tendenz, sie nur auf diese konfliktbelastende Art und Weise darzustellen (vgl. Sreberny-Mohammadi et al. 1985, S. 52). Alles in allem deutet Tiele (vgl. 2010, S. 261) darauf hin, dass die fundamentale Struktur der internationalen Berichtserstattungsnachrichten im Vergleich zu den Ergebnissen früherer Studien wie der Foreign Images Study oder der Foreign News Study als „erstaunlich konstant“ gilt (ebd.). Die Erhöhung der Kommunikationsmöglichkeiten und -verflechtungen und die deutliche Ausbreitung der Kommunikationstechnologien, insbesondere des Internets, verursachen keine Veränderung der Nachrichtengeografie und es ist möglich, über ein konstantes Auslandsbild zu sprechen. Da kein großer Unterschied zwischen
22Wu
(2000) rekurrierte auf die von der „Foreign News Study“ erhobenen Daten für seine Studie über die systemischen Determinanten der Auslandsberichterstattung (vgl. Wu 2000, S. 117).
2.6 Strukturelle Muster der Auslandsberichterstattung
63
den untersuchten Tageszeitungen und den Internetseiten23 konstatiert wurde, ist diese Feststellung für die Onlineangebote ebenfalls passend24. Im Vergleich zu der Foreign Images Study von 1995 bemerkt Tiele (vgl. 2010, S. 260) eine Vervielfachung des Berichterstattungsanteils bezüglich des Mittleren Ostens. Die
23Diese
Ähnlichkeiten zwischen Druckausgaben und Onlineangeboten wurden ebenfalls von anderen Forschern festgestellt. Bei einer Analyse der Auswirkung des Internets auf Medieninhalte beobachtet Wurff (vgl. 2008, S. 65–67), dass das Internet zu dem Zugang zu Inhalten außerordentlich beigetragen hat. Jedoch ermöglicht das Netz die Verfügbarkeit von existierenden Inhalten, statt neue Inhalte oder Formate einzubetten. In Kontrast zu den Bedeutungen dieser Inhaltsverbreitung hat das Internet weiterhin erstaunlich wenig Einfluss auf die inhaltlichen Eigenschaften und das Format der Nachrichtenproduktion. Die Mehrheit der Internetinhalte – Audio- oder Textbeiträge und Videodateien – sind ganz ähnlich zu den Inhalten der alten Medien. Ein Grund dafür ist, dass die Internettechnologie die Kosten der Wiedergabe und Verbreitung von Inhalten reduziert, aber die Kosten der Inhaltsproduktion nicht unbedingt senkt. Bei einer Untersuchung von 16 europäischen Ländern verglichen Wissenschaftler die Titelseiten der bedeutsamsten nationalen Druck- und Onlinezeitungen (vgl. Wurff 2008, S. 79). Sie kamen zum Schluss, dass die Druck- und Onlinezeitungen sich maßgeblich hinsichtlich ihrer Nachrichtenangebote ähneln. Onlinezeitungen verwenden Beiträge der Druckausgaben wieder. Nach den Befunden stimmen durchschnittlich 70 Prozent der Onlineangebote mit den Druckversionen überein (ebd.). 24Aktuelle Studien über Nachrichtenfluss im Internet zeigen ähnliche Befunde. Die Untersuchung von Segev (2017) beschäftigt sich mit der Frage, inwieweit das Ungleichheit in unterschiedlichen Regionen (16 Länder) und Nachrichtenquellen sich im Internet unterscheidet. Vier Sorten von Internetseiten wurden einbezogen: Webseiten von internationalen Nachrichtenagenturen, etablierten nationalen Zeitungen, Fernsehkanälen und Nachrichtenaggregatoren (Google News). Die Ergebnisse zeigen, dass keine bedeutsamen Unterschiede hinsichtlich der Quantität der Auslandsberichterstattung unter den Regionen zu finden sind. Jedoch unterscheiden sich die Verteilung der Länder oder die Länderrepräsentation maßgeblich zwischen den Regionen. Da die meisten internationalen Nachrichten immer noch in den westlichen Staaten und für den Westen hergestellt werden, ist es zu erwarten, dass ein Unterschied zwischen den Auslandsberichterstattungen der nichtwestlichen und westlichen Länder besteht. In der Tat war die Verteilung von Ländererwähnungen innerhalb der analysierten Staaten extrem ungleich, was die Ergebnisse anderer früherer Untersuchungen entspricht. Jedoch wurden erwartungsmäßig beachtenswerte Abweichungen zwischen den Weltgebieten und den untersuchten Kategorien von Nachrichtenquellen festgestellt. Hinsichtlich der Länderrepräsentanz galten die westlichen Nachrichtenseiten als am wenigsten ungleich, während die asiatische Nachrichtenseiten die größte Ungleichheit zeigten. Internationale Nachrichtenagenturen besaßen den höchsten Anteil an Auslandsberichterstattung, was ihre Vormachtstellung in der Produktion der globalen Nachrichten ausdrückt. Zuletzt bekräftigten und behielten die Nachrichtenaggregatoren, die anfertige Berichte sammeln und weiterleiten, die unausgewogene Darstellung der Welt bei. Die Studie zeigt ganz deutlich, dass unterschiedliche internationale Nachrichten aus den Agenturen stammen, jedoch werden sie nicht immer systematisch und klar zugeordnet (vgl. Segev 2017, S. 14–16).
64
2 Theoretische Hintergründe
Auslandsberichterstattung in der entsprechenden Erhebungsperiode (September 2004) war vornehmlich von der politischen Entwicklung der Post-9/11 verbundenen Konfliktgebiete geprägt. Obwohl die Autorin suggeriert, dass die Terrorattacke von 11. September 2001 und die resultierenden Afghanistan- und Irakkriege die Nachrichtengeografie der Tagespresse entscheidend veränderten, hatte Hafez (vgl. 2002a, S. 59–60) auf diese starke Beachtung des Mittleren und Nahen Ostens schon lange hingewiesen, auch wenn der politische Kontext anders war. Bei einer Überarbeitungsanalyse der Determinanten von Nachrichtenflüssen deutet Segev (vgl. 2015, S. 412) sogar darauf hin, dass „Konflikte nur sichtbar sind, wenn sie sich im Nahen Osten befinden“ (ebd.). Da die „Nachrichtenmacht“ USA ein Hauptakteur in den Konflikten im Nahost nach 9/11 war, lässt sich die hohe Beachtung weiter erklären. Bei der Studie Tieles (vgl. 2010, S. 260) ist die Region allerdings noch stärker in den Mittelpunkt des Interesses der globalen Berichterstattung gerückt. Der Autorin nach determinieren die USA durch ihre Außenpolitik weiterhin grundlegend, welche Staaten und Regionen sich im Mittelpunkt des medialen Interesses befinden. Darüber hinaus wurde nicht nur die Existenz von „consistent news-makers“, d. h. wirtschaftlich starker Industrieländer, sondern auch die von Gebieten mit dauerhafter Unsichtbarkeit – Afrika und Südamerika – bestätigt (vgl. Tiele 2010, S. 259–266). Der Regionalismus wurde ebenfalls bekräftigt, denn die Mehrheit der analysierten Nationen berichtet vorwiegend über ihre eigene Weltregion. Zusätzlich hat die Kritik der Nord-Süd-Ausrichtung des Kommunikationsflusses, die von der MacBride-Kommission und der Foreign Images Study kritisiert wurde, noch Bestand. Der globale Nachrichtenfluss wird noch auf jeden Fall von der Nordhalbkugel einseitig bestimmt. Während die nördlichen Länder bloß sekundär über die Region des Südens berichten (mit Ausnahmen von Konfliktberichterstattung), erfolgt andererseits nur in kleiner Dimension ein Nachrichtenaustausch zwischen den südlichen Staaten (ebd.). „Vor allem die Berichterstattung in Mittel- und Südamerika konzentriert sich auf die USA und auf Westeuropa, während Südamerika selbst nur einen geringen Platz in der Berichterstattung einnimmt und insgesamt auf Platz fünf rangiert“ (Tiele 2010, S. 264). Alle Weltgebiete richten ihre Auslandsberichterstattung wesentlich auf die gleichen Nachrichtenzentren aus (ebd.). Bei einer Analyse der ausländischen Fernsehnachrichten in 17 Ländern aus fünf Weltgebieten25 bestätigte Wilke (et al. 2012, S. 319) ebenfalls die gleichen
25Insgesamt
wurden 17.500 Beiträge für einen Zeitraum von vier Wochen zwischen Januar und März aus dem Jahr 2008 analysiert.
2.6 Strukturelle Muster der Auslandsberichterstattung
65
Tendenzen. Faktoren wie Regionalismus und die Rolle der Nachrichtensupermächte und der Krisengebiete (die „Troublemakers“) scheinen vergleichsweise stabil im Lauf der Zeit (ebd.). Berücksichtigt man die ganze Welt, erhielt Europa die größte Beachtung, gefolgt von Nordamerika und dem Nahen Osten. Jedoch weisen die Autoren darauf hin, dass die Nachrichtengeografie trotz der Aufmerksamkeitsverschiebung nach Osten noch weiter als „eurozentrisch“ bezeichnet werden kann (ebd.). Gelegentlich kann die Reihenfolge der Medienbeachtung sich verändern oder von spezifischen Geschehnissen beeinflusst werden, aber in der Regel bleibt das internationale Berichterstattungsmuster von dem Stellenwert des Regionalismus, der Dominanz der Supermächte und dem Augenmerk auf Krisenregionen vorgeschrieben (ebd.). Das Bild der Welt sei immer noch unausgeglichen, insbesondere in Bezug auf Weltregionen, die völlig unterrepräsentiert sind. Anhand derselben Daten (vgl. Wilke et al. 2012) untersucht Heimprecht (2017) die Determinanten der Auslandsberichterstattung durch eine Mehrebenenanalyse des globalen Nachrichtenflusses. Bei der Zusammenbetrachtung aller untersuchten Länder bestätigte die Autorin die zentralen Befunde der vorherigen Forschung. Im Jahr 2008 wurde ebenfalls meistens über die USA berichtet und die Krisenregionen fanden auch starke Beachtung. Skandinavische und afrikanische Nationen galten als weißen Flecken (vgl. Heimprecht 2017, S. 385). Bei der Auswertung einzelner Länder jedoch relativierte die Wissenschaftlerin das internationale Muster der Auslandsberichterstattung – Regionalismus, Großmächte und Krisenregionen –, denn ein „universeller Regionalismus“ war nicht mehr zu konstatieren (ebd. S. 386). Laut ihrer Untersuchung berichteten nur die europäischen Länder, Singapur und Taiwan vorwiegend über Geschehnisse des eigenen Gebiets. Nationen wie China, Japan, Hongkong und Brasilien andererseits beachteten viel mehr Ereignisse in Nordamerika oder Westeuropa. Diese vorgestellten Ergebnisse relativierten allerdings nicht das typische strukturelle Schema der Auslandsberichterstattung. Die Foreign Image Study hatte schon damals auf eine „semi-permanent attention paid to the metropolitan centres“ (Sreberny-Mohammadi et al. 1985, S. 42) – hingewiesen, was Hafez als „Metropolenorientierung“ beschrieb26 (vgl. Hafez 2005, S. 46).
26Hafez
beurteilte das kleine Sample der Arbeit (vier Wochen aus 2008) als einen kritischen Punkt der Untersuchung (vgl. Hafez 2018, S. 143). Außerdem hielt Hafez (ebd. S. 142) die Zusammenauswertung der Daten von freien und antidemokratischen Mediensystemen in der gleichen Stichprobe für problematisch, denn eine Analyse von Nachrichtenwerten sei nur im Hinblick auf freie Mediensysteme geeignet. Der Grund, warum in China oder Singapur weniger über Konflikte berichtet wurde, lässt sich z. B. nicht durch die Nichtexistenz von konformen Nachrichtenwerten auf der Welt erklären (ebd.).
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2 Theoretische Hintergründe
Ein weiter diskutiertes und von diversen Studien vorgewiesenes Strukturmerkmal der Auslandsberichterstattung ist die „Konfliktperspektive“. Es besteht ein anhaltendes und entscheidendes Medieninteresse an sozialen, politischen und wirtschaftlichen Krisen, Konflikten und Kriegen sowie an natürlichen oder durch Menschen ausgelösten Katastrophen (vgl. Sreberny-Mohammadi et al. 1985, S. 42). Das Konfliktpotenzial eines Ereignisses ist infolgedessen ein ausschlaggebender Aspekt zur Überwindung der Medienaufmerksamkeitsschwelle (ebd.). Bei ihrer Analyse der metropolitanen Medien und ihrer Inhalte schrieb Scharlau (1980), dass: „„Wieder Militärputsch in Bolivien“ – „Gewerkschaftsführer in Sao Paolo erschossen“ – „Venezuela gibt immense Ölfunde bekannt“ – „Kubas Griff in die kapitalistische Kasse“ – schon die willkürliche Auswahl einiger Überschriften aus der Lateinamerika-Berichterstattung unserer Tageszeitungen bestätigt offenbar, was zu kritisieren nicht nur notwendig, sondern inzwischen auch an der Tagesordnung ist: daß die Bearbeitung der Drittewelt-Thematik in unseren Massenmedien reißerisch, sensationalistisch, klischeehaft, stereotyp und verzerrend ist; daß sie an jenem Krisen- und Katastrophensyndrom krankt, in dessen Verlauf die ferne gesellschaftliche Realität völlig unspezifisch unter vorgeprägte Kategorien subsumiert wird“ (Scharlau 1980, S. 23)
In Bezug auf die Berichterstattung Lateinamerikas im Speziellen gibt es jedoch wenige empirische Untersuchungen (vgl. Roemeling 1987, S. 32–34). Bei einer Zusammenfassung des Forschungsstands merkte Roemeling damals (ebd.) an, dass die vorhandenen Aufsätze sich wegen der mangelnden empirischen Basis mit Essays vergleichen lassen. Eine Ausnahme ist die Inhaltsanalyse von Wöhlcke – „Lateinamerika in der Presse“ –, die eine Konzentration auf wenige thematische Kategorien hervorgehoben hat. Ereignisbezogene Kategorien, die von Konflikt und Sensationscharakter gekennzeichnet waren, standen überwiegend im Vordergrund der Presseaufmerksamkeit27 (vgl. Wöhlcke 1973, S. 102). Nichtsdestotrotz steht die Darstellung von Konflikten in den Massenmedien im Mittelpunkt wissenschaftlicher Forschung (vgl. Quandt et al. 2014, S. 21), unabhängig von Mediensystem, Mediengattung oder porträtierten Ländern. Zum Beispiel kam Larson (vgl. 1979, S. 136) bei seiner Analyse der Außenpolitik-Berichterstattung der US-amerikanischen Fernsehkanäle (ABC, CBS und NBC) zum Schluss, dass die Berichterstattung über die Dritte Welt den
27Für
ausführliche Informationen über das Image Lateinamerikas vgl. „Forschungsstand zur Auslandsberichterstattung Lateinamerikas“.
2.6 Strukturelle Muster der Auslandsberichterstattung
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größten Anteil an krisenorientierten Beiträgen im Vergleich zu den Industrieländern zeigt (vgl. Larson 1979, S. 137). Bei der Untersuchung der Auslandsnachrichten im deutschen Fernsehen28 wurde festgestellt, dass mehr als die Hälfte der codierten Beiträge (52 %) Konflikte berücksichtigen (vgl. Quandt et al. 2014, S. 22). Problematisch bei der Interpretation der Forschungsergebnisse ist laut Hafez (vgl. 2005, S. 49), dass die empirischen Daten verschiedenartige Deutungen erlauben. Man verteidigt die These der Konfliktorientierung, allerdings ohne eine Reflexion hinsichtlich eines Realitätsmodells zu gewährleisten, d. h., die Idee der sachlichen Möglichkeit einer realitätsanpassenden Konstruktion des Auslandsbildes durch positive, negative oder neutrale Darstellungen zu überdenken (ebd.). Diverse Modellausmaße sind nach dem Autor vorstellbar, unter anderem die Abmessung der Anzahl an „Negativismus“ durch die Ereignisvalenz der Berichterstattung. Im Zeitraum der Analyse der Foreign Images Study erhielt Lateinamerika eine überdurchschnittliche politische Aufmerksamkeit, insbesondere wegen der nicaraguanischen Revolution, allerdings blieb der Kontinent hinsichtlich der Außenpolitik unterrepräsentiert. Es wurde im Fall Lateinamerikas zudem überdurchschnittlich viel über Kriminalität berichtet (vgl. Sreberny-Mohammadi et al. 1980, S. 46). Nach Hafez (vgl. 2005, S. 50) kann man davon ausgehen, dass die Wirklichkeit eines Staates zu vielschichtig ist, um alleinig oder in vollem Maße aus negativen Geschehnissen zu bestehen. Daher kann man einen Wert von über 50 % solcher negativer Ereignisse in den Medien durch eine Konfliktperspektive begründen29 (ebd.). Hafez hält es bei der
28Berücksichtigt
wurden die Hauptnachrichtensendungen der vier größten deutschen Fernsehkanäle – ARD Tagesschau; ZDF heute; Sat. 1 Nachrichten und RTL Aktuell. Die Inhaltsanalyse erfasst vier Wochen im Frühjahr 2008 (vgl Quandt et al. 2014, S. 23). 29Die Vergleichbarkeit unterschiedlicher Studien scheint hierbei ebenfalls kompliziert. Hafez (vgl. 2002b, S. 60) z. B. versteht die negative Berichterstattung als einen Indikator für Konfliktperspektive. Bei seiner Kategorie der Ereignisvalenz unterscheidet er zwischen positiven, negativen, neutralen und negativ-neutralen Ereignissen. Nafroth (vgl. 2002, S. 97) andererseits sieht Krisenberichterstattung als Teil des Negativismus und die entsprechende Kategorie wurde als Vermittlungsanlass der Artikel codiert, d. h., es wurde gefragt, ob überwiegend negative Geschehnisse im Mittelpunkt des Beitrags standen. Bei Bieber (vgl. 2011, S. 33) werden die Kategorien „Krisenzentrierung“ und „Negativzentrierung“ ausdifferenziert, mit dem Argument, dass die Thematisierung von K-Berichterstattung (Krisen, Konflikte, Kriege und Katastrophen) nicht immer mit einer negativen Berichterstattung gleichzusetzen ist. Sie erklärt, dass man bei der Konfliktberichterstattung über Versöhnung oder Friedensbemühungen berichten kann. Aber nicht nur Hafez (ebd.), sondern auch Kepplinger und Weissbecker (vgl. 1991, S. 334) definieren positive Valenz genauso als Versöhnung, Friedensverhandlungen oder Erfolge auf politischem, wirtschaftlichem oder sozialem Gebiet, was praktisch sehr ähnlich ist (vgl. Ereignisvalenz der Lateinamerika-Berichterstattung bei der Diskussion der Ergebnisse).
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Frage der Konfliktperspektive ebenfalls für sinnvoll, einen Vergleich von Ländern oder Ländergruppen zu schaffen (vgl. Hafez 2002a). Ein Indikator der Konfliktorientierung der Medien wäre insofern weniger, wenn über einen Staat über 50 % Negatives beschrieben wird, sondern eher, wenn etwas über die Nachrichtenperipherien negativer vermittelt würde als über die Nachrichtenzentren, genauso wie das die Foreign Image Study und andere Untersuchungen nachweisen (ebd.). Nach der Foreign Image Study (vgl. Sreberny-Mohammadi et al. 1980, S. 52) neigen die Medien dazu, Entwicklungsländer nur auf eine negative Weise zu porträtieren. Das globale Mediensystem fokussiert maßgeblich auf „Hard-News“ und je kleiner die Medienaufmerksamkeit eines Landes, desto großer ist die Tendenz einer ereigniszentrierten Berichterstattung (ebd.). Bei einer Studie über den „Negativismus“ der Hörfunknachrichten des Hessischen Rundfunks von 1985 bis 1995 beispielsweise kamen Kepplinger und Weissbecker (vgl. 1991, S. 342) zum Schluss, dass mehr Berichte über negative als über positive aktuelle Geschehnisse produziert wurden. Zudem erhöhte sich der Anteil an „Negativismus“ im Lauf der 30 Jahre maßgeblich (ebd.). In einer anderen Studie über die Berichte in den US-Nachrichtensendungen zu internationalen Wahlen, die zwischen Januar 1998 und Mai 2000 stattfanden, konstatierten die Forscher eine Überbetonung negativer Betrachtungsweisen (vgl. Golan und Wanta 2003, S. 25). Während Wahlen den Medien eine Möglichkeit geben, positive Nachrichten darzustellen – d. h. den Ablauf demokratischer Prozesse –, fokussiert die Berichterstattung noch immer auf die negativen Aspekte, indem sie Wahlen in jenen Staaten akzentuieren, die eine mögliche Bedrohung zu den USA darstellen und verhältnismäßig außergewöhnlich sind (ebd.). Länder, die wenig Verhältnisse zu den USA haben, die Atomwaffen besitzen oder entwickeln, die eine enge Beziehung zu China vorantreiben und gleichzeitig wenig Handel mit den USA aufweisen oder die in Konflikten stecken, haben bessere Chancen Aufmerksamkeit durch US-amerikanische Fernsehkanälen bei der Wahlberichterstattung zu bekommen (ebd.). In der Tat argumentieren weitere Studien, dass der „Negativismus“ zu einem der überwiegenden Strukturmerkmale der heutigen Medienlogik geworden ist (vgl. van der Meer et al. 2018, S. 2). Bei einem longitudinalen Untersuchungsdesign (1991–2015) der niederländischen Zeitungen bezüglich Luftfahrtunfällen verglich van der Meer (et al. 2018) außermediale Daten30 mit der Medienaufmerksamkeit für solche Unfälle. Die Ergebnisse
30Die Studie verlässt sich auf die statistischen Daten der Verkehrssicherheitsbehörde (vgl. van der Meer et al. 2018, S. 9).
2.6 Strukturelle Muster der Auslandsberichterstattung
69
deuten darauf hin, dass trotz der Reduktion der Flugzwischenfälle im Lauf der Zeit, die relative Aufmerksamkeit der Medien zugenommen hat (ebd.). Hierbei wurde eigentlich demonstriert, dass dem Merkmal „Negativismus“ oder „Krisenzentrierung“ je nach Untersuchungsanlage immer viel Platz in der Literatur eingeräumt wird und ganz stark mit der Auslandsberichterstattung assoziiert ist. Eigentlich war die internationale Berichterstattung bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs fast ein Synonym zur Kriegsberichterstattung, denn die Kriegskorrespondenten gehörten in der Regel zu der Armee, verfassten ihre Berichte auf den Schlachtfeldern und sendeten sie zu den Mutterredaktionen in ihren Ländern31 (vgl. Kamps und Meckel 1998, S. 258). Ein weiteres typisches Charakteristikum der Auslandsberichterstattung ist die „Politikzentrierung“. Die Politik steht im Mittelpunkt der internationalen Berichterstattung auf Kosten anderer Bereiche wie Kultur, Religion, Wissenschaft, Umwelt usw. Das politische System und seine dazugehörenden Handlungsträger werden von den Medien als zentrale gesellschaftliche Dynamik angesehen und infolgedessen bilden sie eine bedeutsame Anteil an der Informationsvermittlung der Print- und elektronischen Medien (vgl. Hafez 2005, S. 52). Laut den Ergebnissen der Foreign Image Study dominiert die Politik in den meisten Fällen die internationale Berichterstattung (vgl. Sreberny-Mohammadi et al. 1980, S. 45). Es kann davon ausgegangen werden, dass die Negativ- und Krisenzentrierung kein unabhängiges Phänomen ist, sondern ein Ergebnis der Überbetonung der politischen Ereignisse (vgl. Hafez 2005, S. 52). Dabei sollte ebenfalls die Frage eines Realitätsmodells erörtert werden, dadurch konnte die mediale Leistungsfähigkeit festgestellt werden. Hafez legt ein Verhältnismodell zugrunde, indem alle Lebensfelder von Politik bis zu Religion in ähnlichem Ausmaß präsent sind und medial vermittelt werden sollten. Daher beurteilt der Autor eine Konzentration auf die Politik größer als 50 % der Auslandsberichterstattung eines Landes als ein Anzeichen für die „Politikzentrierung“ (vgl. Hafez 2005, S. 53). Nach Hafez tragen unterschiedlichen Faktoren zu der Konzentration der Berichterstattung auf die Politik bei. Die redaktionellen Einschränkungen durch hohe Konkurrenz und Kostendruck begünstigen die Dominanz der Politik; das bestehende Verständnis der Nachrichtendefinition per se hält das Interesse an politischen Geschehnissen fest; und zuletzt vereinfachen die Öffentlichkeitsarbeit politischer Institutionen die Sammlung von Informationen im Ausland
31Für eine weitere Diskussion über die Entwicklung der Kriegsberichterstattung in historischer Perspektive und zur Verflechtung zwischen Massenmedien und Massenkrieg siehe (Dominikowski 2004).
70
2 Theoretische Hintergründe
(vgl. Hafez 2005, S. 52). Die Macht der westlichen Regierungen, z. B. bei der Steuerung der internationalen Medienagenda, hat sich im Lauf der Jahre spürbar erhöht. Die Mehrheit der westlichen Regierungsinstitutionen verfügt über eigene Informationsdienste, um die Anfragen der Presse und der Öffentlichkeit zu bearbeiten. Problematisch dabei ist, dass die Arbeitskräfte und Ressourcen der Regierungen und ihrer Öffentlichkeitsarbeit viel größer sind, als die Befähigung der Medien, die veröffentlichten Informationen zu überprüfen (vgl. Ginneken 1998, S. 93). Studien haben darauf hingewiesen, dass The White House der Hauptnachrichtenhersteller der Welt ist (ebd.), was nebenbei die USA als Hauptakteur der globalen Nachrichten erklären kann. Laut empirischen Forschungen haben die US-amerikanischen Präsidenten seit den 1960er-Jahren durchschnittlich über 25 Reden pro Monat gehalten. Solche Reden verursachten Presseberichterstattung nicht nur in den USA, sondern auch im Ausland. Daher ist das Weiße Haus in der Lage, eine politische Agenda weltweit einzusetzen. Das State Department und das Pentagon gelten ebenfalls als mächtige Agenda-Setter für auswärtige und Sicherheitsfragen (vgl. Ginneken 1998, S. 94). Als Konsequenz der Politikzentrierung dominieren dementsprechend die politischen Akteure die globale Berichterstattung (vgl. Sreberny-Mohammadi et al. 1980, S. 50). In der Tat beschreibt die „Elitenzentrierung“ den Trend der Auslandsberichterstattung, offizielle Eliten oder Gegeneliten (etwa Aufständische, Dissidenten, Oppositionen) maßgeblich darzustellen und soziale Gruppen und Bewegungen bloß am Rande zu berücksichtigen (vgl. Hafez 2005, S. 53). Zudem verursacht dieses Zusammenspiel zwischen „Politikzentrierung“ und „Elitenzentrierung“ eine grundlegende Beachtung der politischen Eliten auf Kosten gesellschaftlicher Akteure wie Verbände, Gewerkschaften und Bürger. Schulz (1976) zeigt außerdem eine grundlegende Konzentration der Handlungsträger der Auslandsberichterstattung auf die Exekutive. Basierend auf der Einsicht, dass der globale Informationsstrom eine Einbahnstraße ist, kann man davon ausgehen, dass die politische Missachtung der Mehrheit der Bevölkerung nicht nur der Grund, sondern auch der Endeffekt ihrer mangelnden Darstellung in den westlichen Nachrichtenagenturen und Massenmedien ist (vgl. Hafez 2005, S. 54). Daher bekräftigen die Medien auf diese Art und Weise die Stabilisierung der herrschenden Eliten der Entwicklungsländer. Als Folge der ereignisorientierten Nachrichtendefinition kann eine Vernachlässigung des politischen, wirtschaftlichen und sozialen Kontextes eines Ereignisses („Dekontextualisierung“) entstehen. Angeblich fokussiert die Auslandsberichterstattung weniger auf Prozesse, Hintergrundinformationen, komplizierte Verhältnisse und vielfältige Entwicklungen. Andererseits wird viel Wert auf punktuelle Geschehnisse und Aktuelles gelegt (vgl. Hafez 2005, S. 54–55; vgl. Bieber 2011, S. 36). Ein Unterfaktor der Dekontextualisierung ist die „Nichtdarstellung von
2.7 Kriterien der Nachrichtenauswahl
71
Strukturproblemen der internationalen Beziehungen“ (Hafez 2005, S. 55). Gemeint ist hierbei die Nicht-Berücksichtigung der Strukturkonflikte der internationalen Politik und Wirtschaft durch das internationale Nachrichtensystem. Eine kausale Verbindung zwischen der Fortentwicklung der Industriestaaten und der Unterentwicklung der Entwicklungsländer wird nur ausnahmsweise von der Medienberichterstattung diskutiert (ebd.). Problematisch bleibt immer noch die Ausrichtung der Medien auf aktuelle und punktuelle Ereignisse und die minimale Prozessorientierung. Zusammengefasst kann man die Dekontextualisierung nicht nur durch fehlende Hintergrundinformationen, sondern auch durch eine nationalisierte Perspektive (Ethnozentrismus) – unter anderem durch die schon erwähnten Strukturmerkmale – erklären. Die Presse scheitert in der Regel, ein multidimensionales, realitätsentsprechendes Bild eines Ereignisses darzustellen, indem sie die bisher diskutierten Strukturmerkmale (Regionalismus, Politikzentrierung, Krisenorientierung und Negativismus) priorisiert/bevorzugt. Trotz abweichender methodischer Vorgehensweisen veranschaulicht eine Reihe von Studien zum Image bzw. zur Darstellung von Ländern in den deutschen Medien – wenn auch in unterschiedlichem Maße – die hierzu diskutierten Strukturmerkmale: Lateinamerika (vgl. Wöhlcke 1973; vgl. Roemeling-Kruthaup 1991), Italien (vgl. Pütz 1993), Korea (vgl. Oh 2002), Naher und Mittlerer Osten (vgl. Hafez 2002a), Japan (vgl. Nafroth 2002), Afrika (vgl. Mükke 2009), China (vgl. Richter und Gebauer 2010; vgl. Bieber 2011), Afghanistan (vgl. Wanke 2013) und Brasilien (vgl. Cazzamatta 2014)32.
2.7 Kriterien der Nachrichtenauswahl Die Untersuchung des Lateinamerika-Images in der deutschen Presse erfordert eine theoretische Diskussion bezüglich der Kriterien und Prozesse der Nachrichtenauswahl, bzw. Themenselektionen, die als Erklärungspotenzial für das Auslandsimage gelten können. Eine fundamentale Funktion der Journalisten und Korrespondenten bezieht sich auf die Entscheidung darüber, welche Schnitte der Wirklichkeit Zugang zu den Medien haben (vgl. Kunczik und Zipfel 2005, S. 241). Demnach ist die Frage der Auswahlkriterien und deren Einflussfaktoren in unterschiedlichen Ebenen für die mediale Forschung grundlegend. Wie schon bei der von Hafez (vgl. 2002a, S. 32) formulierten „Theorie des internationalen
32Die
relevanten Befunde solcher Studien werden ausführlich im empirischen Teil dieser Arbeit berücksichtigt und mit den Ergebnissen der vorliegenden Untersuchung des Images Lateinamerikas je nach Auswertungskategorie verglichen.
72
2 Theoretische Hintergründe
und interkulturellen Darstellungsprozesses in Massenmedien“ demonstriert, unterscheiden sich das Ursachen- und Wirkungsfeld der Auslandsberichterstattung in drei Stufen. Bei der Mikroebene werden bspw. subjektive Einstellungen von Journalisten berücksichtigt. Zunächst spielen bei der Mesoebene die Mediensysteme, – d. h. Meinungen von Verlegern, Hierarchie, Redaktionsstrukturen, Meinungsführer unter Kommunikatoren – eine Rolle. Bei der Makroebene werden zuletzt Aspekte wie die Auslandsagenda, die Verhältnisse zwischen In- und Auslandsberichterstattung oder die Rolle der Medien bei Krisen- und Konflikten betrachtet. Neben den Ursachen und Wirkungen der Auslandsberichterstattung wird von Hafez (ebd.) zudem das Strukturfeld des Auslandsimages ausdifferenziert. Dabei beleuchtet man die oben schon dargestellten Strukturmerkmale der Auslandsberichterstattung und die Nachrichtenfaktoren, die im nächsten Abschnitt diskutiert werden. Im Rahmen dieser theoretischen Betrachtungsweise lassen sich verschiedene Forschungstraditionen identifizieren, die sich mit den journalistischen Auswahlkriterien beschäftigen: der Gatekeeper-Ansatz, die News-Bias-Forschung, der Framing-Ansatz oder die Nachrichtenwerttheorie. Eine klare Einordnung der Studiendesigns in den unterschiedlichen Analyseebenen ist jedoch nicht immer möglich, und die verschiedenartigen Leitgedanken klammern sich nicht unbedingt aus, sondern lassen sich manchmal vervollständigen (vgl. Kunczik und Zipfel 2005, S. 241). Zunächst wird die Nachrichtenwerttheorie, die ein paar Parallelen zu den Strukturmerkmalen der Auslandsberichterstattung aufweist, betrachtet. Trotz des eingeschränkten Geltungsbereiches der Nachrichtenwerttheorie (vgl. Staab 1990a, S. 208) lässt sich der Denkansatz als ein wertvolles Instrumentarium zur Beschreibung der Auslandsberichterstattung verstehen. Für die Untersuchung des Lateinamerika-Images in der deutschen Presse wird infolgedessen die Nachrichtenwerttheorie, in Staabs Worten, als „ein Modell zur Beschreibung und Analyse von Strukturen in der Medienrealität“ verstanden (vgl. Staab 1990a, S. 208).
2.7.1 Die Nachrichtenwerttheorie und deren Entwicklung Der Beginn der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Frage nach der Nachrichtenauswahl wurde von Walter Lippmanns Veröffentlichung „Die öffentliche Meinung“ stark geprägt (vgl. Lippmann 199033/1998 [1922]). Angesicht
33Die öffentliche Meinung/von Walter Lippmann. Mit einem Beitrag von Elisabeth Noelle-Neumann.
2.7 Kriterien der Nachrichtenauswahl
73
der Umweltkomplexität sei es illusorisch, mithilfe von Nachrichten eine unmittelbare Spiegelung der Realität zu erreichen und daher bestehe die Notwendigkeit der Komplexitätsreduktion. Die Problematik dieser zwangläufigen Selektionsnotwendigkeit wurde schon damals vom Pionier der Nachrichtenwerttheorie erörtert: „Every newspaper when it reaches the reader is the result of a whole series of selections as to what items shall be printed, in what position they shall be printed, how much space each shall occupy, what emphasis each shall have. There are no objective standards here. There are conventions“ (Lippmann 1998 [1922], S. 130). Anders ausgedrückt bilden Nachrichten die Realität nicht ab, da sie als Folge von Selektionsentscheidungen entstehen, die sich nicht auf sachliche Normen, sondern auf Konventionen stützen (vgl. Maier 2003, S. 28). Daher können Nachrichten nur eine Serie von besonderen und stereotypisierten Realitätsausschnitten transportieren. Lippmann brachte ans Licht, wie die Menschen sich in der derzeitigen Gesellschaft informieren lassen und Beurteilungen, Meinungen und entsprechende Handlungen daraus entstanden (vgl. Noelle-Neumann 1990, S. 287). Durch eine realistische Position unterscheidet er deutlich zwischen den Originalwahrnehmungen der Menschen und den durch die Massenmedien erfahrenen Wahrnehmungen (ebd.). Obwohl man in dieser vielfältigen Umwelt agieren muss, muss man sie Lippmann zufolge erstens in einem elementaren Modell rekonstruieren, um zurechtzukommen (vgl. Lippmann 1990 [1922], S. 18). Jede Selektion sei darüber hinaus ein Prozess der Interpretation, in dem individuelle und kulturelle Stereotype eine wesentliche Rolle spielen. „In dem großen blühenden, summenden Durcheinander der äußeren Welt wählen wir aus, was unsere Kultur bereits für uns definiert hat, und wir neigen dazu, nur das wahrzunehmen, was wir in der Gestalt ausgewählt haben, die unsere Kultur für uns stereotypisiert hat“ (Lippmann 1990 [1922], S. 63). Dabei unterscheidet er nicht zwischen Journalisten und Publikum. Der Prozess der Komplexitätsreduktion, der bei den Individuen wirksam ist, müsste nicht nur bei professionellen Kommunikatoren, sondern auch bei Rezipienten anerkannt werden (vgl. Eilders 1997, S. 20). In ihrem Nachwort der deutschen Übersetzung beobachtet Noelle-Neumann (1990), dass Luhmann sich 50 Jahre nach Lippmanns Reflexionen mit der Thematik unter dem Stichpunkt „Reduktion von Komplexität“ befasste (vgl. Noelle-Neumann 1990, S. 292). In Luhmanns Worten liegt die Nachrichtenproblematik nicht in dem Konzept der Wahrheit, „sondern in der unvermeidlichen, aber auch gewollten und geregelten Selektivität“ (Luhmann 2009, S. 41). Vor diesem Hintergrund der journalistischen Selektion verwendete Lippmann erstmals den Begriff „news value“ und fragte sich, welche Kriterien Ereignisse befriedigen müssen, um als nachrichtenwürdig angesehen zu werden.
74
2 Theoretische Hintergründe (…) bad conditions might become news if the Board of Health reported an unusually high death rate in an industrial area. Failing an intervention of this sort, the facts do not become news, until the workers organize and make a demand upon their employers. Even then, if an easy settlement is certain the news value is low, whether or not the conditions themselves are remedied in the settlement. But if industrial relations collapse into a strike or lockout the news value increases. If the stoppage involves a service on which the readers of the newspapers immediately depend, or if it involves a breach of order, the news value is still greater (Lippmann 1998 [1922], S. 136).
Anhand von Fallbeispielen hat Lippmann schon damals Nachrichtenfaktoren wie „Überraschung“, „Sensationalismus“, „Relevanz“, „Schaden“, „Nutzen“, „Prominenz“, „Personalisierung“34 diskutiert, wenn auch noch in einer rudimen tären Form. Unabhängig von Lippmanns Überlegungen beginnt sich in der amerikanischen Forschungstradition eine Auseinandersetzung über die geeigneten Kriterien für die Nachrichtenselektion zu etablieren (vgl. Eilders 1997). Ohne Lippmann explizit zu nennen, tauchen diese Grundlage der Nachrichtenwerttheorie immer wieder in amerikanischen journalistischen Handbüchern oder in deskriptiven kommunikationswissenschaftlichen Analysen, wenn auch in modifizierten Versionen (vgl. Staab 1990a, S. 42), auf. In den USA ist die Frage der Nachrichtenselektion allerdings in größerem Maß als in Europa mit einer mediensoziologischen und kommunikatorzentrierten Forschungstradition neben einer praxisorientierten Journalistik verbunden35 (vgl. Ruhrmann und Göbbel 2007, S. 4). Ohne Berücksichtigung der amerikanischen Forschungsentwicklungen bildete sich seit 1965 mit der Publikation der theoretischen Reflexion von Östgaard (1965) eine europäische Forschungstradition heraus, die unterschiedliche, umfangreiche, festgelegte empirische Untersuchungsdesigns veröffentlichte (vgl. Staab 1990a). Das Fundament für das wissenschaftliche Konzept einer gründlichen Nachrichtenwerttheorie wurde von Einar Östgaard vom Friedensforschungsinstitut in Oslo mit dem Aufsatz Factor Influencing The Flow of News gelegt (vgl. Staab 1990a; vgl. Eilders 1997, S. 21; vgl. Ruhrmann und Göbbel 2007,
34„It
is a problem of provoking feeling in the reader, of inducing him to feel a sense of personal identification with the stories he is reading. News which does not offer this opportunity to introduce oneself into the struggle which it depicts cannot appeal to a wide audience. The audience must participate in the news, much as it participates in the drama, by personal identification“ (Lippmann 1998, S. 139). 35Kommunikatorzentrierte Ansätze werden in der vorliegenden Arbeit bei den Entstehungsbedingungen der Berichterstattung berücksichtigt. Für einen ausführlichen Überblick der amerikanischen Forschungstradition der Nachrichtenwertforschung siehe (vgl. Staab 1990a; vgl. Eilders 1997, S. 53–55; vgl. Ruhrmann und Göbbel 2007, S. 4).
2.7 Kriterien der Nachrichtenauswahl
75
S. 5). Der norwegische Forscher bezog erstmals unterschiedliche Nachrichtenfaktoren in eine vielfältige theoretische Konzeptualisierung ein. Basierend auf der Idee des freien Informationsflusses bestimmte Östgaard Aspekte, die den globalen Nachrichtenstrom deutlich steuern. Wegen solcher Faktoren unterscheidet sich das von den Medien dargestellte „Weltbild“ von dem, „was wirklich passiert36“ (Östgaard 1965, S. 39). Durch die Systematisierung unterschiedlicher Ergebnisse von Inhaltsanalyse und die Befragung von Kommunikatoren formulierte er Gründe für diese Verzerrung der Berichterstattung. Der Wissenschaftler berücksichtigte politische und wirtschaftliche externe Aspekte (z. B. Einfluss der Regierungen, ökonomische Zwänge, Stationierung von Korrespondenten, Machtstellung der Nachrichtenagenturen, Beeinflussung von Verlegern usw.), die den Nachrichtenfluss stark beeinflussen (vgl. Östgaard 1965, S. 40–45). Ebenfalls wurden intrinsische Aspekte, also interne Nachrichtenfaktoren in Betracht gezogen (vgl. Östgaard 1965, S. 45–51). Gemeint sind Merkmale von Nachrichten, die sie für das Publikum attraktiv und beachtungswürdig erscheinen lassen. Solche intrinsischen Faktoren – Vereinfachung/Simplifikation, Identifikation und Sensationalismus – bestimmen, ob ein Bericht die Nachrichtenbarriere (ebd. S. 51) überwindet, die sich wegen der fortdauernden Selektionszwänge herausgebildet hat. Die Beachtungswahrscheinlichkeit einer Meldung erhöht sich, je unkomplizierter diese Meldung gestaltet sei, je mehr Identifikationsaspekte sie enthalte und je mehr sensationalistische Elemente sie aufweise. Vor diesem Hintergrund legte Östgaard (ebd. S. 55) drei Hypothesen für die Effekte dieser Einflussfaktoren vor. Die Medien neigen dazu, den Status quo zu bekräftigen, indem sie übertriebenen Wert auf einzelne Handlungen von mächtigen politischen Akteuren der Elitenationen legen. Dies lässt sich auch durch den Faktor Identifikation erklären, denn Personen und nicht Entwicklungen treten in den Vordergrund. Zweitens tendieren Medien dazu, die Welt als viel konfliktgeladener darzustellen, als sie wirklich ist. Zudem betonen die Massenmedien beim Versuch der Krisenbewältigung die Wirkungskraft von Gewaltanwendung statt friedlicher Lösungsmöglichkeiten. Zuletzt tragen die Massenmedien zu der Spaltung der Welt zwischen Zentrum und Peripherien bei oder halten diese Aufteilung zumindest fest (ebd.).
36Diese
realistische Position wurde später von Schulz (1976) und Staab (1990) kritisiert, denn Östgaard hätte zwischen einer „de facto“-Realität und einer Medienrealität unterschieden, ohne die erkenntnistheoretische Frage ihrer empirischen Nachprüfung zu überdenken.
76
2 Theoretische Hintergründe
Für Östgaard sind jedoch Vereinfachung, Identifikation und Sensationalismus vor allem Verarbeitungsprozesse. Aus einer theoretischen Perspektive sind die Nachrichtenfaktoren folglich im kognitiven System der Kommunikatoren zu verorten (vgl. Eilders 1997, S. 22). Obwohl diese Verarbeitungsmechanismen auf das Vorkommen spezifischer Nachrichtencharakteristiken wirken, lassen sie sich empirisch nur auf der Ereignisebene überprüfen (ebd.). Diese Unklarheit ergibt sich aus der Kompliziertheit, kognitive Verarbeitungsprozesse festzustellen, denn berechenbar sind ausschließlich nur die Ergebnisse solcher Verarbeitung. Demzufolge sind Nachrichtenfaktoren für Östgaard je nach Perspektive unterschiedlich – Ereignischarakteristiken und Verarbeitungsprozesse abhängig davon, ob man sie aus einem empirischen oder theoretischen Blickwinkel sieht (ebd.). Staab (1990) beurteilte seinerseits die Vorstellung Östgaards als „unbefriedigend“. Einerseits bleiben die Zusammenhänge zwischen externen und internen Faktoren offen. Andererseits berücksichtige der norwegischen Wissenschaftler bei der Definition und Ausdifferenzierung der Nachrichtenfaktoren unterschiedlichen Dimensionen, die nicht trennscharf seien. Darüber hinaus gäbe es bei der Analyse keine deutliche Abgrenzung zwischen Ereignissen und Berichten. Infolgedessen beziehe sich ein Anteil von Faktoren auf Ereignischarakteristiken (bzw. Prominenz der Akteure oder Konflikte), während ein anderer Anteil auf Merkmale von Beiträgen (Vereinfachung vielfältiger Verhältnisse und Personalisierung) verweist. Ein dritter Punkt wäre zudem übersehen worden, nämlich Faktoren wie räumliche, kulturelle und zeitliche Nähe, die weder Ereignis- noch Meldungsmerkmale sind, sondern Verhältnisse. Solche theoretischen Undeutlichkeiten wurden Staab zufolge von der europäischen Nachrichtenforschung weiter unberücksichtigt (vgl. Staab 1990a, S. 58–59). Basierend auf den Überlegungen Östgaards setzten sich Johan Galtung & Mari Holmboe Ruge (1965) weiter mit der Konzeptualisierung der Nachrichtenfaktoren mithilfe einer Untersuchung der Auslandsberichterstattung der Printmedien auseinander. Anhand einer Inhaltsanalyse der Berichterstattung von vier norwegischen Zeitungen37 zur Kongo- und Kuba-Krise (beides 1960)
37Man
könnte die Bedeutung der norwegischen Zeitungen für das globale Nachrichtensystem in Frage stellen. Jedoch deuteten die Autoren darauf hin, dass die internationalen Presseagenturen etwa 95 % der Nachrichten über diese drei Krisen ausmachen. Anders ausgedrückt seien die Zeitungen ganz abhängig von der Qualität und Quantität der Berichterstattung der Nachrichtenagenturen (vgl. Galtung und Ruge 1965, S. 75).
2.7 Kriterien der Nachrichtenauswahl
77
und zum Zypern-Konflikt38 (1964) formalisierten und erweiterten die Forscher das Konzept der Nachrichtenfaktoren. Diese Faktoren wurden, ähnlich wie bei Lippmann (1922), nicht nur als journalistische Auswahlkriterien, sondern auch als kognitionspsychologische Perzeptionen angesehen, d. h. als gewöhnliche Selektionskriterien der Menschen: „They are nothing but common sense perception psychology translated into radio-scanning and event-scanning activities“ (Galtung und Ruge 1965, S. 66). Demnach wirken sie sowohl auf die journalistische Selektivität als auch auf die Rezeptionsprozesse und determinieren dementsprechend die Medienberichterstattung und die Wahrnehmung der Rezipienten. Um mit dem Informationshaufen umzugehen, sei ein systematisches Auswahlprinzip notwendig. Diese Selektionsmechanismen und Auswahlkriterien seien in der ganzen „Kette der Nachrichtenkommunikation“ wirksam (Galtung und Ruge 1965, S. 65). Die Weltgeschehnisse würden von Kommunikatoren perzipiert und vermittelt. Dabei kristallisiert sich ein Medienbild des Ereignisses heraus, das durch die Selektivität verzerrt sei. Die aus den Selektionsentscheidungen resultierende und verzerrte Berichterstattung werde zunächst als medial vermittelte Information rezipiert und wahrgenommen. Dieses Bild der Rezipienten sei ebenfalls das Ergebnis der nochmals wirksam gewordenen Selektionsprinzipien39 (ebd.). Die Studie konzentriert sich allerdings auf die erste Komponente der Kette vom Weltereignis zu Medienbildern. Im Rahmen der fundamentalen wahrnehmungspsychologischen Prozesse legen die Wissenschaftler einen Katalog von zwölf Nachrichtenfaktoren fest, in dem ein paar davon mehrere Dimensionen aufweisen (vgl. Galtung und Ruge 1965, S. 70). Die ersten acht Merkmale gelten als kulturunabhängig, während die letzten vier andersherum als kulturabhängig angesehen werden, d. h., typisch für die Nachrichtenauswahl der westlichen Industrieländer (ebd. S. 68). Aus der folgenden Tabelle sind die Definitionen der von Galtung und Ruge vorgelegten Faktoren zu entnehmen (Tabelle 2.1).
38Die
Autoren gaben zu, dass diese drei Krisen zu spezifisch waren, um eine Grundlage für die Bewertung der Struktur der Auslandsberichterstattung zu bieten. Jedoch spielten sich die Konflikte in unterschiedlichen Regionen der Welt mit der Involvierung der traditionellen und mächtigen Industrieländer, nämlich Belgien, Frankreich, den USA und Großbritannien ab (vgl. Galtung und Ruge 1965, S. 73). 39„The journalist scans the phenomena (in practice to a large extent by scanning other newspapers) and selects and distorts, and so does the reader when he gets the finished product, the news pages, and so do all the middle-men. And so do, we assume, people in general when they report something, and, for instance, diplomats when they gather material for a dispatch to their ministry – partly because they are conditioned by their psychology and their culture, partly because this is reinforced by the newspapers“ (Galtung und Ruge 1965, S. 71).
78
2 Theoretische Hintergründe
Tabelle 2.1 Nachrichtenfaktoren nach Galtung/Ruge, 1965 F1. Frequenz – Dauer des Ereignisses
Je mehr der zeitliche Ablauf eines Geschehens der Erscheinungsperiodik des Mediums entspricht, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass es zur Nachricht wird. Da die Medienfrequenz normalerweise kurz ist, werden kurzfristig abgeschlossene Episoden bevorzugt. Lange und andauernde Entwicklungen werden vernachlässigt oder bloß in der Phase großer Intensität berichtet.
F2. Schwellenfaktor/ Aufmerksamkeitswelle Intensitätszunahme (threshold)
Es muss eine bestimmte Aufmerksamkeitsschwelle überwunden werden, um registriert zu werden. Je höher die Intensität eines Ereignisses wird, desto mehr wird darüber berichtet, d. h. je außergewöhnlicher, desto eher wird es als Nachricht gemeldet. Je barbarischer und schrecklicher ein Mord, umso größer die Schlagzeilen.
F3. Eindeutigkeit
Je klarer, einfacher, eindeutiger und konsistenter ein Geschehen ist, desto eher wird es zur Nachricht. Multidimensionale Ereignisse, die verschiedene sich widersprechende Konsequenzen erlauben, werden weniger oft zur Nachricht.
F4. Bedeutsamkeit/ Relevanz/Nähe
Je mehr ein Ereignis persönliche Betroffenheit verursacht und je größer und folgenreicher dessen Tragweite oder Wichtigkeit für die Gesellschaft ist, umso eher wird es zur Nachricht. Ethnozentrismus ist für die geringe Beachtung ferner und fremder Länder verantwortlich.
F5. Konsonanz, Erwartung Je mehr das Ereignis den Erwartungen, Einstellungen, Wünschen und Bedürfnissen der Rezipienten entspricht, desto wahrscheinlicher wird es zur Nachricht. Nachrichten weisen somit eine Affirmativfunktion auf: „news are actually olds“ (ebd. S. 67). F6. Überraschung
Je überraschender (kurios, außergewöhnlich, unerwartet, seltsam), umso größer die Wahrscheinlichkeit, zur Nachricht zu werden. Der Faktor „Überraschung“ hängt jedoch nach den Autoren mit den Nachrichtenmerkmalen „Bedeutsamkeit“ und „Konsonanz“ zusammen. Überraschende Geschehnisse seien nur innerhalb von relevanten und mit der Perspektive des Publikums übereinstimmenden Ereignisabläufen nachrichtenwürdig.
F7. Kontinuität
Einmal die Nachrichtenbarriere überschritten und als Nachricht definiert, wird weiter darüber berichtet, auch wenn der Nachrichtenwert im Vergleich zu anderen relevanten Ereignissen nachlässt. Es geht um Themenkarriere bzw. Etablierung. (Fortsetzung)
2.7 Kriterien der Nachrichtenauswahl
79
Tabelle 2.1 (Fortsetzung) F8. Variation/Komposition Dominiert an einem Tag ein spezifisches Ereignis (Innenpolitik), dann haben vergleichbare, nicht so wichtige und komplementäre Themen (bzw. Außenpolitik) eine gute Chance, zu Nachrichten zu werden. Es geht um Balance und Variation gegenüber dominierenden Nachrichtenarten. F9. Bezug zu EliteNationen*
Ereignisse, die sich auf mächtige und einflussreiche Elitenationen (wirtschaftlich oder militärisch) beziehen, haben einen überproportionalen Nachrichtenwert.
F.10. Bezug zu ElitePersonen*
Entsprechendes gilt für Elitepersonen. Prominente, Einflussreiche und Mächtige haben Priorität und überproportionalen Nachrichtenwert.
F11. Personalisierung*
Je stärker persönliche Geschichten und Erfahrungen im Vordergrund stehen, desto eher wird ein Ereignis zur Meldung. Abstrakte und strukturelle Entwicklungen finden fast keine Beachtung.
F12. Negativismus*
Je negativer ein Ereignis (Konflikt, Kontroversen, Aggression, Gewalt, Katastrophe, Skandal), desto höher sein Nachrichtenwert.
Zitiert und modifiziert nach Cazzamatta (2014).
Bezüglich der Synergieeffekte der präsentierten zwölf Nachrichtenfaktoren entwarfen die Wissenschaftler folgende Hypothesen, die sich jedoch wie bei Östgaard (1965) auf die Auslandsberichterstattung beschränken. Bei der Selektivitätshypothese erhöhen sich die Publikationswahrscheinlichkeit und der Beachtungsgrad eines Ereignisses je mehr das Geschehnis diese zwölf Faktoren enthält. Hat das Geschehnis die Nachrichtenschwelle überwunden, dann werden die Nachrichtenmerkmale überbetont und unterstrichen, was zu einer stereotypisierten Verzerrung der Berichterstattung führt – hierbei spricht man von der Verzerrungshypothese. Die dritte Behauptung bezieht sich auf die Wiederholung bzw. Replikationshypothese, d. h., die erwähnten Auswahl- und Verzerrungsprozesse sind in allen Ebenen des Nachrichtenstroms zu finden, von der erster Betrachtung eines Vorkommnisses über alle Stufen der Informationsvermittlung und Weiterverarbeitung bis hin zur Publikation. Bei der Wiederholung – bzw. Replikation – verstärkt sich die Verzerrung. Viertens gelten die Faktoren als additiv (Komplementarität-Additivitätshypothese), d. h., je mehr Merkmale auf ein Geschehnis zutreffen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, publiziert zu werden. Zuletzt wurden die Faktoren als komplementär betrachtet (Komplementaritätshypothese). Falls ein paar Merkmale abwesend sind oder bloß in geringem Maß erscheinen, dann können andere Faktoren diese Mangel kompensieren, indem sie stärker und intensiver auftreten (vgl. Galtung und Ruge 1965, S. 71–72).
80
2 Theoretische Hintergründe
Trotz der Darstellung von zwölf Faktoren merkt Schulz (1976) an, dass die empirische Untersuchung sich nur auf die Merkmale „Bedeutsamkeit“, „Status“ (Bezug auf Elitenationen und -personen) und „Negativismus“ bezieht. Drei zentrale Befunde wurden von den norwegischen Forschern vorlegt. Erstens: Je ferner ein Land, desto stärker die Neigung, dass die Handlungen von Eliten die Berichterstattung dominiert. Zweitens: Je unbedeutender der soziale Status der Akteure, desto negativer das Vorkommnis. Drittens: Je größer die kulturelle Entfernung der Ereignislokalität, desto stärker wurde die Bedeutsamkeit der Ereignisse für das Publikum hervorgehoben. Darüber hinaus konstatierten die Wissenschaftler keine Relation zwischen kultureller Distanz eines Landes und dem Negativismus der berichteten Geschehnisse. Jedoch stünden Schulz (vgl. 1976, S. 20) zufolge diese empirischen Ergebnisse in keinem „rechten Verhältnis“ zu Umfang und Reichweite der von den norwegischen Forschern konzipierten Theorie, sodass man kaum über eine Theoriebestätigung sprechen kann. Weitere Kritik wurde ebenfalls von Staab (vgl. 1990a, S. 64) ausgeübt, insbesondere bezüglich der Unklarheit der Konzeptualisierung von Galtung & Ruge. Die Unterscheidung zwischen Selektivitäts- und Additivitätshypothese sei ganz unklar, denn sie sind logischerweise praktisch äquivalent. Beide Hypothesen beziehen sich auf dieselbe Frage, also, dass „alle Nachrichtenfaktoren, die auf ein Ereignis oder eine Meldung zutreffen, die Publikations- und Beachtungswürdigkeit dieses Ereignisses oder dieser Meldung bestimmen40“ (Staab 1990a, S. 64). Ein anderer Kritikpunkt laut Staab sei der Mangel einer expliziten Ausdifferenzierung zwischen objektiven Nachrichtenmerkmalen (intrinsisch zu Ereignissen) und die subjektive Zuschreibung dieser Nachrichtenfaktoren. Die Wahrscheinlichkeitssteigerung der Publikation und des Beachtungsgrades durch die subjektive Zuschreibung der Nachrichtenmerkmale bleiben bei der Hypothesenformulierung von Galtung & Ruge nur implizit, ohne dass deren theoretische Relevanz reflektiert wurde. Wenn die Nachrichtenfaktoren – wenigsten zum Teil – zugeschrieben werden, kann die Nachrichtenwerttheorie demnach nicht mehr als eine Konzeptualisierung angesehen werden, die die Nachrichtenselektion der Massenmedien auf dem Fundament objektiver Aspekte begründet. In diesem Fall sei die Nachrichtenselektion nicht mehr Konsequenz der Nachrichtenfaktoren, sondern die Nachrichtenfaktoren seien eine Konsequenz
40Staab
(vgl. 1990, S. 64) problematisiert dabei ebenfalls die Ausdifferenzierung zwischen Ereignismerkmalen, Meldungsaspekten und Relationen, die seiner Ansicht nach bei der Arbeit von Östgaard (1965) und Galtung & Ruge (1965) nicht gewährleistet wurde. Obwohl Nachrichtenfaktoren sich auf Ereignismerkmale beziehen, werden sie normalerweise auf der Ebene der Beitragsmerkmale untersucht.
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81
des Publikationsentscheides, der durch andere externe Aspekte – Beeinflussungen von Verlegern, hierarchische Strukturen, politische Haltung der Journalisten – bestimmt wird. Laut Staab (ebd.) werden dieser widersprüchliche Charakter der Konzeptualisierung der Nachrichtenfaktoren sowie die Unterscheidung zwischen Ereignis- und Beitragsmerkmalen nicht berücksichtigt. Aber trotz der Vorwürfe haben Galtung & Ruge (1965) das erste umfangreiche theoretische Konzept der Nachrichtenselektion herausgebracht. „In diesem Theorieentwurf, nicht in der empirischen Umsetzung und nicht in der Aussagefähigkeit der wenigen Ergebnisse liegt die Stärke der Arbeit“ (Eilders 1997, S. 28) Die Arbeit der norwegischen Wissenschaftler inspirierte im Lauf der Jahre eine Reihe von Studien zu journalistischen Auswahlkriterien41. Eine empirische 41Die
Untersuchungsdesigns wurden in vier Kategorien unterschieden (vgl. Eilders 2006, S. 30–31). Die Mehrheit befasst sich mit Inhaltsanalyse der Berichterstattung, ohne ergänzende Korrelationen mit extra-medialen Daten zu gewährleisten (1. Input-Analyse). Durch die Häufigkeit erscheinender Nachrichtenfaktoren und deren Intensitätsskalierung wird auf einen betreffenden Selektionseffekt geschlossen. In diesem Fall ist es nicht möglich, die Nachrichtenfaktoren der selektierten Geschehnisse den Faktoren der nicht selektierten Geschehnisse gegenüberzustellen. Eine andere Alternative ist die Wirkung der Nachrichtenfaktoren nicht auf der Ebene der Veröffentlichungsentscheidung zu untersuchen, sondern auf ein späteres Stadium des journalistischen Verarbeitungsprozesses, nämlich der Beachtungsgrad. Hierbei werden Nachrichtenfaktoren nachdem ein Ereignis schon ausgewählt wurde als Indikator für die Beachtungsdimension (normalerweise durch Umfang und Platzierung operationalisiert) angesehen. Bei seiner methodologischen Auseinandersetzung unterscheidet Rosengren (vgl. 1974, S. 148) zwischen selektive/ qualitative und quantitative gatekeeping. Die selektive gatekeeping („qualitative“ in den Worten Rosengrens) bezieht sich auf die Frage der Selektionsentscheidung, ob Ereignisse es in erster Linie zu Nachrichten schaffen. Andererseits bezieht sich die quantitative gatekeeping auf die Abstimmung von Umfang und Platzierung eines schon selektierten Berichtes. Eine zweites Studienformat analysiert die Publikationsentscheidung mithilfe des Vergleichs zwischen intra-medialen (veröffentlichte Beiträge) und extra-medialen (Statistik, offizielle Dokumente, Archivunterlagen) Daten. Die Methode verursachte jedoch starke wissenschaftliche Auseinandersetzungen. Rosengren befürwortete die Vorgehensweise als einen anpassend Ausgangspunkt zur Realitätsannäherung (vgl. Rosengren 1970), während Schulz (1976) darauf hinwies, dass es um zwei unterschiedliche Realitätskonstruktionen- bzw. Interpretationen geht, denn die Realität oder „was wirklich geschah“ ist nicht zugänglich (vgl. Der konstruktivistische Ansatz). Eine dritte Alternative sind die Untersuchungsdesigns, die auf eine Input-Output-Analyse basieren. Dabei werden die Agenturmaterialien mit der Berichterstattung unterschiedlicher Massenmedien verglichen. Aber streng genommen geht es nicht darum, die Einwirkung von Nachrichtenfaktoren auf Veröffentlichungsentscheidung, sondern „lediglich der Einfluss auf die Auswahl aus bereits von Journalisten vorselektiertem Material“ (Eilders 1997, S. 31). Ein viertes Studiendesign zur Untersuchung der journalistischen Auswahlkriterien rekurriert auf Experiment und Befragungen von Kommunikatoren, indem sie Nachrichtenfaktoren veröffentlichter Beiträge einschätzen, einordnen und beurteilen.
82
2 Theoretische Hintergründe
Fortsetzung der Untersuchung von Galtung & Ruge (1965) organisierte Oystein Sande (1971), indem er neben einer Inhaltsanalyse der Auslandsberichterstattung des norwegischen Rundfunks NRK und weiterer drei Tageszeitungen42 eine kontinuierliche Bevölkerungsbefragung durchführte, um die Einwirkung der Medienberichterstattung auf der Ebene der Publikumsperzeption zu beobachten. Im Vordergrund der Arbeit stehen die folgenden sechs Nachrichtenfaktoren: „Elitenation“, „Eliteperson, „Negativismus“, „Personalisierung“, „Kontinuität“ und „Variation“ (vgl. Sande 1971, S. 228–230). Für jedes vordefinierte Thema wurde festgestellt, welche dieser Merkmale auf das berichtete Geschehnis zutrafen. Darüber hinaus wurde ein Index berechnet, der sich an Umfang, Häufigkeit und Platzierung der Nachrichteneinheit orientiert. Infolgedessen war es erstmals möglich zu ermitteln, ob und in welchem Grad die Berücksichtigung der Geschehnisse von Nachrichtenfaktoren bestimmt wird. Die Befunde attestieren die Additivitätshypothese mit Ausnahme des Faktors „Variation“. Anders ausgedrückt beachten die Massenmedien überdurchschnittlich Geschehnisse, die zumindest eines der fünf übrigen Merkmale aufweisen. Dieses Ergebnis war vor allem bei den Faktoren „Negativismus“ und „Kontinuität“ sehr markant (vgl. Sande 1971, S. 231). Ganz deutlich bestätigte die Untersuchung die Additivitätshypothese – je mehr Nachrichtenmerkmale auf ein Ereignis zutreffen, desto kräftiger wird die Medienbeachtung. Außerdem bewies der Autor die Gültigkeit der Komplementaritätshypothese mindestens für die Faktoren „Elitenation“, „Eliteperson“ und „Negativismus“ (vgl. Sande 1971, S. 234). Das Resultat der Bevölkerungsbefragung demonstrierte, dass alle analysierten Nachrichtenfaktoren die Wahrnehmung der Rezipienten determinieren. Die relative Stärke der Nachrichtenfaktoren wurde im Großen und Ganzen auf der Ebene der Mediennutzer repliziert (vgl. Sande 1971, S. 231). Ereignisse, die die untersuchten Nachrichtenfaktoren aufwiesen, wurden von den Rezipienten als bedeutsame Nachrichten eingestuft. Vor allem waren die Merkmale „Kontinuität“ und „Negativität“ am einflussreichsten (ebd.). Die Einbeziehung der Konzeptualisierung des Beachtungsgrad als Hilfskonstruktion für den Beleg der
42Aftenposten
(eine konservative Morgenzeitung), Dagbladet (ein liberales Nachmittagsblatt) und Nordlys (sozialdemokratisches orientiertes Presseorgan aus dem Norden Norwegen). Untersuchungszeitraums betraf 15 Tagen aus dem Jahr 1964 (vgl. Sande 1971, S. 226–227). Der Autor definiert ein paar „Nachrichteneinheiten für den Untersuchungszeitraum als beispielsweise „Kongo“, „britische Wirtschaftspolitik“, „Unfälle“, „UN-Situationen“ (ebd. S. 224–226). Um das Bild der Rezipienten gegenüber politischen Ereignissen zu untersuchen fand eine Befragung statt. Die Frage lautet – „what would you say was yesterday’s most important news from abroad?“ (ebd. S. 223).
2.7 Kriterien der Nachrichtenauswahl
83
Auswahleffekte und die akkurate und kritische Operationalisierung der Untersuchung war bei der Analyse von Sande speziell (vgl. Eilders 1997, S. 33). Seine Ergebnisse könnten der Nachrichtenwerttheorie von Galtung & Ruge – „zumindest begrenzte – empirische Gültigkeit zusprechen“ (Schulz 1976, S. 71). Empirisch wurden bei Sandes Arbeit jedoch nur die beiden Hypothesen von Galtung & Ruge (Additivität und Komplementarität) getestet. Auf die Überprüfung der Selektivitätshypothese wurde verzichtet, denn man hätte keine Daten über das Nicht-Berichtete zur Verfügung: „the comparison between events and the way they are presented – seems inaccessible to empirical research“ (Sande 1971, S. 221). Nach Karl Erik Rosengrens (vgl. 1974, S. 144) Einsicht sei diese Aussage von Sande allerdings nicht richtig, dass man keinen Maßstab hätte, um begreifen zu können, was „wirklich geschah“. Die verzerrte Medienwirklichkeit könne Rosengren zufolge nur überprüft werden, indem man die Medienberichterstattung mit unabhängigen außenmedialen Daten konfrontiert, die Auskünfte über das faktische Ereignis vorlegen, beispielsweise Statistiken, amtlichen Quellen oder Archivmaterialien43. Der Autor betonte die Notwendigkeit, nicht nur zwischen Ereignissen und Ereignisberichten, sondern auch zwischen intra- und extra-medialen Daten auszudifferenzieren (vgl. Rosengren 1970, S. 96). Nach dem Ergebnis von Galtung & Ruge sind Nachrichten über normale Menschen tendenziell negativer als die Nachrichten über Elitenpersonen oder Elitenationen. Aber Rosengren fragt sich, ob nicht möglich ist, dass negative Ereignisse tatsächlich häufiger bei normalen Menschen als bei Eliten auftreten. Bezieht sich die gefundene Verteilung der Faktoren auf die faktischen Ereignisse oder auf die medial berichteten Ereignisse? Rosengren zufolge ist es unzulässig, Faktoren von Ereignissen zu verwenden, um Hypothesen über die Ereignisberichte zu testen (vgl. Rosengren 1970, S. 100). Problematisch bei diesem neuen Postulat ist allerdings eine Begrenzung der Forschung bezüglich des Gegenstandsbereiches der Nachrichtenauswahl, die sich auf Geschehnisse reduzieren müsste, über die unabhängige und
43Bei
seiner methodologischen Kritik versucht der Autor, unterschiedliche Vergleichsmöglichkeiten für zahlreiche Ereignistypen darzustellen – Parlamentswahlen, Vertragswechsel, Vertragsabschlüsse, Änderungen der Zinsrate, schwere Unfälle und Katastrophen, wissenschaftliche Kongresse und internationale Sportereignisse (vgl. Rosengren 1970, S. 102). Er schlägt dann verschiedene amtliche und Archivquellen als Vergleichsmaßstäbe vor: The Annual International Congress Calendar; the Lloyd’s List, the World Airline Accident Summary, the British Railway Directory and Yearbook, das Archiv der Gegenwart, the Keesing’s Contemporary, World Events, the New York Times index oder das schwedische Institut für Außenpolitik (vgl. Rosengren 1970, S. 102–103).
84
2 Theoretische Hintergründe
vertrauenswürdige Extra-Media-Daten vorhanden sind (vgl. Staab 1990a, S. 76). Rosengren übertrug seine theoretische Konzeptualisierung in eine empirische Operationalisierung, um sein Argument zu bekräftigen. Der Wissenschaftler führte eine vergleichende Inhaltsanalyse von 272 Parlamentswahlen durch, die sich in 167 unterschiedlichen Länder zwischen 1961 und 1970 stattfanden. Die untersuchten Presseorgane waren The Times aus London, Neues Deutschland aus Ostdeutschland und die Stockholmer Tageszeitung Dagen Nyheter (vgl. Rosengren 1974, S. 151). Die Extra-Media-Daten stammen aus dem Keesings Archiv der Gegenwart und weiteren offiziellen Veröffentlichungen und gaben Auskünfte über die Wahlen selbst (z. B. ob ein Regierungswechsel stattgefunden hatte) und über die Ländermerkmale (BIP, Import, Export, Bevölkerungsanzahlen usw.). Nach dem Vergleich der vorhandenen Extra- und Intra-Medien-Daten kam Rosengren zum Schluss, dass zahlreiche Parlamentswahlen von der analysierten Presse übersehen wurden (vgl. Rosengren 1974, S. 152). Zudem berichteten die untersuchten Zeitungen viel häufiger über Wahlen, die durch Wechsel der parlamentarischen Mehrheit oder des Regierungschefs gekennzeichnet waren (ebd. S. 152–153). Wahlen mit diesem Ausgang waren in der Realität eine Ausnahme (daher die Beachtung), aber in der Medienrealität waren sie ganz gewöhnlich. Eine solche Hypothese über das „selektive Gatekeeping“, die sich auf Nachrichtenauswahl bezieht, könnte nicht ohne die außenmedialen Daten geprüft werden. Anhand einer multiplen Regressionsanalyse zeigte Rosengren darüber hinaus, dass ökonomische Faktoren wie Einfuhr- und Ausfuhr-Werte die Nachrichtenwerte der Ereignisse deutlich bestimmten44. Infolge dieses Ergebnisses schlug der Autor vor, das psychologisch basierte Konzept der Nachrichtenfaktoren von Galtung & Ruge durch eine politisch-ökonomische Theorie der Nachrichtenselektion zu ersetzen: „Economic variables such as export and import values seem to be good predictors of newspaper coverage. Why, then, regard the Economic variables such as export and import values seem to be good predictors of newspaper coverage. Why, then, regard these variables as indicators of rather diffuse concepts like ’strength’ and ’cultural proximity’? Let them appear in their own right, as economic variables
44Was
Galtung und Ruge Größe, Intensität oder Amplitude nannten, wurde bei Rosengren durch Bevölkerungsgröße, Bruttoinlandsprodukte, Gesamtexport und -import der berichteten Länder operationalisiert. Die kulturelle Nähe wird mithilfe der geografischen Entfernung zwischen den Hauptstädten der Länder und des Werts der Ausfuhren und Einfuhren zwischen den Länderpaaren berechnet (vgl. Rosengren 1974, S. 153). Solche Vorgehensweise wurde von Schulz (1976) kritisiert.
2.7 Kriterien der Nachrichtenauswahl
85
instead of indicators of psychological ones. Replace the psychological theory of Galtung & Ruge by an economic, political and sociological theory of the flow and structure of international news“ (Rosengren 1974, S. 154).
Man darf jedoch in Rechnung setzen, dass diese Befunde von Rosengren auf einem ganz spezifischen Ereignis basieren, nämlich Parlamentswahlen. Ob das diskutierte Ergebnis sich auf andere politische Geschehnisseübertragen lässt, zweifelte Schulz (vgl. 1976, S. 23) an. Aus einer erkenntnistheoretischen Betrachtungsweise heraus kritisierte Schulz die Entwicklung der europäischen Nachrichtenwerttheorie und plädierte für eine neue Orientierung (vgl. Schulz 1976, S. 25–27). Der Wissenschaftler sah die Studien über die Abbildung der Realität in den Massenmedien als einen „Falsifikationsversuch“, denn sie hätten das Ziel, nachzuweisen, dass die Medienrealität mit der objektiven, faktischen Realität (was tatsächlich passiert) nicht konform ist. Er stellte zudem in Frage, ob „wirklich Jahrbücher und Kataloge, Archive, Statistiken oder gar ‚offizielle‘ Dokumentation mehr Realitätstreue besitzen als Nachrichten“ (…) „Folgt man also Rosengren, so vergleicht man nicht faktisches Geschehen mit den Berichten der Medien darüber, sondern nur Bericht aus verschiedenen Quellen miteinander45“ (Schulz 1976, S. 25). Infolgedessen plädiert Schulz (vgl. 1976, S. 28) für eine neue Nachrichtendefinition. Man sollte seiner Meinung nach auf den Anspruch verzichten, Medienberichterstattung als Abbild oder Spiegel einer faktischen Realität zu betrachten und deren Angemessenheit in Frage zu stellen und nachzuprüfen. Nachrichten seien eine Interpretation unserer Umwelt, die eigentlich Realität konstruieren und nicht abbilden. Infolgedessen verstand der Autor die Bedeutsamkeit von Nachrichtenfaktoren etwas anders und relativierte dementsprechend den Geltungsanspruch der Nachrichtenwerttheorie. Schulz interpretierte die Nachrichtenfaktoren nicht mehr als Charakteristiken von Ereignissen, sondern als journalistische Hypothese von Wirklichkeit, als Merkmale des journalistischen Verständnisses und Deutung von Realität. Eine bedeutsamer Indikator dafür, welche Nachrichtenmerkmale mit den journalistischen Vorstellungen von Wirklichkeit übereinstimmen, sei der Nachrichtenwert: „(…) eine journalistische Hilfskonstruktion zur Erleichterung der notwendigen Selektionsentscheidungen“ (Schulz 1976, S. 30). Seine Hypothese lautet: Je größer sein
45Vgl.
„Die Massenmedien in den konstruktivistischen Auseinandersetzungen“. Schulz befreite die Nachrichtenwerttheorie im Sinne von Lippmann und Galtung & Ruge von dem Realismus und bettete sie in die konstruktivistische Diskussion (vgl. Kepplinger 2011a, S. 63).
86
2 Theoretische Hintergründe
Nachrichtenwert ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Bericht – unter allen anderen Auswahlmöglichkeiten und bei prinzipiell eingeschränkter Medienbeachtung – geachtet und publiziert wird (ebd.). Als Indikator für den sogenannten Nachrichtenwert gelten Schulz zufolge Aufmachung und Platzierung der Meldung – „Je mehr eine Meldung dem entspricht, was Journalisten für wichtige und mithin berichtenswerte Eigenschaften der Realität halten, desto größer ist ihr Nachrichtenwert“ (Schulz 1976, S. 30). Anders ausgedrückt sei der Nachrichtenwert ein Hinweis auf die journalistischen Hypothesen von Realität. Zudem deutet der Nachrichtenwert indirekt darauf hin, welches Bild der Realität das Publikum entwickelt, denn der Nachrichtenwert bestimmt, ob und in welchem Maß ein Geschehnis Aufmerksamkeit erweckt und das Publikum dementsprechend erreicht (ebd.). Zu den Nachrichtenfaktoren gehören unbedingt die journalistischen Auswahlkriterien. Sie erst schenken den Faktoren ihren Nachrichtenwert. Für sich allein zeigen die Nachrichtenmerkmale gar keinen Wert (vgl. Kepplinger 1998). Um die Beziehung zwischen Nachrichtenfaktoren und Nachrichtenwert in einer empirischen Untersuchung darstellen zu können, bearbeitet und erweiterte Schulz den Faktorenkatalog von Galtung und Ruge bezüglich seiner Operationalisierung, indem empirische Indikatoren bestimmt werden können, die eine sichere Identifizierung der Nachrichtenfaktoren bei der Inhaltsanalyse ermöglichten46. Daraus ergab sich ein Katalog von 18 Nachrichtenfaktoren, die sich in sechs Dimensionen anordnen lassen, wie man aus der Tabelle 2.2 entnehmen kann. Im Vergleich zu dem Katalog von Galtung und Ruge ergänzte Schulz neue Nachrichtenfaktoren: „räumliche Nähe“, „politische Nähe“, „kulturelle Nähe“ und „regionale Zentralität“ (Schulz 1976, S. 31–34). Anders als die norwegische Analyse bezog Schulz zusätzlich die nationale und unpolitische Berichterstattung neben den internationalen Nachrichten ein. Darüber hinaus entwickelte Schulz eine vierstufige Intensitätsskala für jeden Faktor. Die Einwirkung der Nachrichtenfaktoren auf die journalistische Auswahl wurde nicht direkt überprüft, sondern das Verhältnis zwischen der Intensität der Nachrichtenfaktoren und einem von Schulz entwickelten Nachrichtenwert-Index
46Die
Inhaltsanalyse von Schulz (1976) enthält zehn Tageszeitungen in verschiedenen Stilen, die Hauptnachrichtensendungen von ARD und ZDF, je ein Hörfunkprogramm der Landesrundfunksender und des Deutschlandfunks und zusätzlich die dpa (vgl. Schulz 1976, S. 140– 141). Der Untersuchungszeitraum betrifft 11 Tage, die über drei Perioden (1.–5.; 9.–11. und 18.–20. Juni) verteilt waren. Die Beiträge wurden zudem im allgemeinen Teil analysiert, d. h. Bereiche wie Wirtschaft, Kultur usw. wurden ausgeblendet (ebd. S. 36).
2.7 Kriterien der Nachrichtenauswahl
87
Tabelle 2.2 Zusammengefasste Nachrichtenfaktoren und Dimensionen nach Schulz, 1976 Dimension
Nachrichtenfaktoren
Definition
Zeit
Dauer
Ereignis, dessen Anfang und Ende klar und abgrenzbar ist (innerhalb von drei Stunden) oder Geschehen, das anhaltend ist (mindestens eine Woche)
Thematisierung
Kontinuität von langfristig eingeführten Themen, die die Aufmerksamkeitsschwelle schon überwunden haben
Räumliche Nähe
Geografische Distanz zwischen Ereignisort und Sitz der Redaktion
Politische Nähe
Verbindung oder ökonomische Beziehung zum Ereignisland
Kulturelle Nähe
Sprachliche, religiöse, literarische, wissenschaftliche Beziehungen
Relevanz
Betroffenheit und Bedeutung der Ereignisse
Regionale Zentralität
Politisch-ökonomische Bedeutung (nur für innerdeutsche Ereignisse)
Nationale Zentralität
Wirtschaftliches, wissenschaftliches und militärisches Gewicht der Ereignisländer (nur für internationale Nachrichten)
Persönlicher Einfluss
Politisches Gewicht der Beteiligten
Prominenz
Berühmtheit der Beteiligten bei unpolitischen Meldungen
Überraschung
Unvorhersehbares, Ungewöhnliches, Seltsames, Kurioses
Struktur
Stereotype, wenige Beteiligte, einseitige Thematik
Konflikt
Kämpferisches Ereignis: Krieg, Terror
Kriminalität
Illegales Verhalten mit Lebensbedrohung: Mord, Körperverletzung
Schaden
Personen-, Sach- und finanzieller Schaden
Erfolg
Fortschritt, Weiterentwicklung
Personalisierung
Person als handelndes Subjekt oder im Mittelpunkt
Ethnozentrismus
Beteiligung von Deutschland am Ereignis
Nähe
Status
Dynamik
Valenz
Identifikation
Eigene Darstellung nach Schulz, 1976
88
2 Theoretische Hintergründe
beleuchtet. Die Befunde zeigten, dass Nachrichtenfaktoren in der Tat die journalistische Selektion steuern, wenn auch nicht alle Merkmale mit den gleichen Intensitäten vorkommen. Als wirksame Einflussfaktoren ergaben sich erstmals „Dauer“, „Zentralität“ „Personalisierung“ und „persönlicher Einfluss“ (bei der politischen Berichterstattung) hinsichtlich der relativen Häufigkeiten und mittleren Intensitätsstufe in den unterschiedlichen Mediengattungen sowie „räumliche, politische und kulturelle Nähe“ (bei der Auslandsberichterstattung). In einem zweiten Schritt seiner Untersuchung wurde die Korrelation zwischen Nachrichtenfaktoren und den drei Nachrichtenwertindikatoren (Platzierung, Aufmachung und Nachrichtenwert-Index) analysiert. Bezüglich dieses Aufmerksamkeitsgrads (Platzierung-Aufmachung und Umfang) seien die Faktoren „Komplexität“, „Thematisierung“ und „persönlicher Einfluss“ von Belang (vgl. Schulz 1976, S. 94). Unter den drei untersuchten Nachrichtenkategorien konstatiert der Autor nicht nur Gemeinsamkeiten, sondern auch Abweichungen. Die Faktoren „Thematisierung“, „persönlicher Einfluss“, „Komplexität“ neben „Erfolg“ und „Relevanz“ bestimmen nach Schulz den Nachrichtenwert von Geschehnissen der politischen Auslandsberichterstattung. Bei der nationalen Politik wiederum seien „Komplexität“ und „Thematisierung“ neben „Überraschung“, „Relevanz“ und „Negativismus“ verantwortlich für den hohen Nachrichtenwert einer Meldung. Zuletzt determinieren die Faktoren „Komplexität“, „Dauer“ und „Ethnozentrismus“ den Nachrichtenwert der unpolitischen Ereignisse (vgl. Schulz 1976, S. 94). In einer dritten Ebene beobachtete Schulz anhand einer multiplen Regressionsanalyse den Einfluss der Nachrichtenfaktoren auf den Nachrichtenwert in unterschiedlichen Medien. Das Ergebnis zeigt, dass die erklärbare Varianz des Aufmerksamkeitsgrades bei der Auslandsberichterstattung höher als bei der innerdeutschen und den unpolitischen Nachrichten ist. Angenommen, dass die Informationskette, d. h. die Vermittlungsinstanzen bei internationaler Berichterstattung, vielfältiger und größer ist, dann lässt sich die Verzerrungshypothese von Galtung und Ruge beweisen, wonach die Einflussmerkmale mit steigenden Vermittlungsstufen stärker werden. Dieser Befund bestätigte die Additivitätshypothese zumindest für die Faktoren „Komplexität“, „Thematisierung“, „persönlicher Einfluss“, „Ethnozentrismus“, „Negativismus“ und „Erfolg“ (vgl. Schulz 1976, S. 106).
2.7 Kriterien der Nachrichtenauswahl
89
Die diskutierte Arbeit von Schulz „Die Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien“ hat „wie kaum eine andere Veröffentlichung Spuren in der deutschen Publizistikwissenschaft hinterlassen“ (Kepplinger 2011a, S. 61). Sein überarbeiteter Nachrichtenfaktorenkatalog wurde zu „einem Standardinstrument der Nachrichtenforschung“ (ebd.). Zentral in Schulz’ Untersuchung war seine fundamentale Begrifflichkeit und empirische statistische Auseinandersetzung (vgl. Kepplinger 2011a, S. 62). Der ursprüngliche Katalog von Galtung und Ruge wurde modifiziert, strukturiert, ein paar Merkmale wurden umbenannt und der Faktor „Konsonanz“ entfernt. Der Autor ist außerdem für die deutliche Unterscheidung zwischen Nachrichtenfaktor und Nachrichtenwert verantwortlich. Wegen seiner begrifflich-methodischen Neugestaltung schaffte es Schulz, aus einem basalen theoretischen Konzept eine „prüfbare Theorie“ zu begründen (ebd. S. 63). Der nächste Meilenstein der Nachrichtenwerttheorie ist die Untersuchung von Staab (1990a) und die Berücksichtigung seines finalen Modells. Die unterschiedlichen Betrachtungsweisen und Positionen der Nachrichtenwerttheorie basierten bis dahin auf einem Kausalmodell, d. h., die Merkmale von Ereignissen wurden als Gründe der journalistischen Selektionsentscheidung angesehen (vgl. Staab 1990a, S. 93). Bei diesem Modellfall spielen die Kommunikatoren überwiegend die Rolle der passiven Informationsvermittler, die nicht zielorientiert agieren, sondern ihre Berichterstattung an sachlichen Kriterien ausrichten. Ereignisse werden hierbei von den Medien publiziert, weil sie spezifische Merkmale aufweisen und weil eine Übereinstimmung der Relevanz dieser Kriterien vorhanden ist (vgl. Staab 1990a, S. 94). Die Journalisten internalisieren durch ihre Sozialisationsinstanz und Lernprozesse die zustimmenden Nachrichtenfaktoren, sodass diese anschließend als absichtliche oder unabsichtliche Impulse für ihre Nachrichtenselektion bzw. Beachtung durch Umfang und Platzierung eine Wirkung erzielen können (ebd.). Bei diesem Kausalmodell werden die möglichen Intentionen der Kommunikatoren nicht berücksichtigt und die Nachrichtenwerttheorie daher als apolitisch verstanden. Die Nachrichtenauswahl wäre dementsprechend als eine einfache Spiegelung einzelner Realitätsschnitte angesehen, denn sachliche Kriterien und festgelegte Regeln seien vorhanden. In Anlehnung an die News-Bias-Forschung stellte Staab (1990a) jedoch dieses Modell in Frage, denn die Berichterstattung spiegelt auf keinen Fall die Wirklichkeit. Ganz im Gegenteil sei die Nachrichtenselektion insbesondere bei Krisen und Konflikten grundlegend parteiisch und eintönig (vgl. Staab 1990a, S. 95) und Journalisten gingen – bewusst oder unbewusst – politisch
90
2 Theoretische Hintergründe
vor. In Staabs Worten: „[j]ournalistische Selektionsentscheidungen greifen mit anderen Worten in den politischen Prozess ein, ihnen kommt, von ihren Folgen aus betrachtet, ein genuin politischer Charakter zu“ (Staab 1990a, S. 96). Dies passiert, indem die Medien bei der Darstellung von politischen oder sozialen Schwierigkeiten wichtige Dimensionen der Problematik bestimmen, die Meinungsbildung in der Bevölkerung strukturieren oder die Handlungsfähigkeit politischer Akteure, die porträtiert werden, reduzieren. In diesem Kontext fragte sich Staab (ebd. S. 96–97), ob das apolitische Kausalmodell der Nachrichtenwerttheorie geeignet sei, um die journalistische Selektionsentscheidung zu erklären oder ob die Ergänzung eines Finalmodells im Sinne Kepplingers (vgl. 2011c [1984]) und seiner Theorie der instrumentellen Aktualisierung47 notwendig sei. Nach der instrumentalen Aktualisierung sei die journalistische Auswahl keine direkte Resonanz auf einen spezifischen Realitätsstimulus, sondern eine zweckgerichtete Aktion (vgl. Staab 1990a, S. 96). Anders ausgedrückt berichten die Medien bei der Krisenberichterstattung nicht über Thematiken und Geschehnisse, weil sie intrinsische Relevanz oder Nachrichtenwert aufweisen, sondern auch deshalb, weil sie sich für spezifische Ziele und Aktionen einsetzen lassen. Aus dieser Perspektive orientiere sich die Nachrichtenauswahl an bestimmte Ziele (ebd.). In diesem Finalmodell werden Journalisten dementsprechend als politische Akteure angesehen. Infolge der erwarteten Effekte von Nachrichten selektieren Kommunikatoren bestimmte Ereignisse zur Publizierung, die möglicherweise die erwünschte Auswirkung in der Wirklichkeit auslösen könnten. Bei dieser Perspektive müssen die Nachrichtenfaktoren nicht nur als Gründe, sondern auch als Konsequenz von Entscheidungen auf bestimmte Ereignisse betrachtet werden; sie werden bewusst oder unbewusst als Instrument eingesetzt, um den Beachtungsgrad von vorselektierten Ereignissen zu begründen, um ihre Entscheidung zu rechtfertigen (vgl. Staab 1990b, S. 428–429). Die journalistische Selektionsentscheidung basiere daher nicht allein auf spezifischen Ereignismerkmalen bzw. Eigenschaften, denn sie haben gleichzeitig die Chancen, Nachrichtenfaktoren zu instrumentalisieren, um gewisse Geschehnisse und Thematisierungen zu akzentuieren und die Auswahlentscheidung
47Da
vor allen bei Krisen, Konflikten und Skandalen die Informationen „für die Protagonisten und ihre Ziele schädlich oder nützlich sind, kann man sie als instrumentelle Information bezeichnen“ (Kepplinger 2011c, S. 153). Infolgedessen haben die Meldungen bzw. die Ereignisse Publikationswürdigkeit nicht wegen ihres Nachrichtenwerts, sondern ihrer „instrumentellen Nützlichkeit“ (ebd. S. 156).
2.7 Kriterien der Nachrichtenauswahl
91
zu legitimieren48 (ebd.). Je intensiver ein Kommunikator ein Geschehnis hervorheben wolle, desto mehr Platz und Aufmerksamkeit werde er einem Bericht geben. Um dies zu legitimieren, müsse er viele Faktoren unterbringen (ebd.; vgl. Eilders 1997, S. 41). Staab plädierte jedoch für eine Ergänzung und nicht für den Ersatz des Kausalmodells, denn das Finalmodell geht von der Validität des Kausalmodells aus. Nur wenn Nachrichtenfaktoren tatsächlich Kriterien für die Nachrichtenselektion sind, können sie dazu instrumentalisiert werden, um die Entscheidung zu rechtfertigen, darüber zu berichten (vgl. Staab 1990b, S. 429). Die Generalisierbarkeit des Kausalmodells und die Angemessenheit des Finalmodells wurden bei Staab (1990) anhand einer Inhaltsanalyse untersucht. In einem ersten Schritt analysierte er die Bedeutung der Nachrichtenfaktoren in der gesamten politischen Berichterstattung, wobei eine Ausdifferenzierung der nationalen und internationalen Nachrichten gemacht wurde49. In einer zweiten Phase berücksichtigte der Autor zunächst die Rolle der Nachrichtenfaktoren bei der Konfliktberichterstattung50, basierend auf den Daten des voruntersuchten Projekts „Instrumentale Aktualisierung“. In Anlehnung an Schulz (1976) legte Staab (1990) einen Katalog mit 22 Nachrichtenfaktoren dar, von denen 17 die nationalen und 21 die internationalen Nachrichten betrafen. Während auf ein paar Merkmale verzichtet wurde, weil keine ausreichende Intercoderreliabilität zu schaffen war, wurden andere Merkmale weiter definiert, voneinander unterschieden und neue Faktoren einbezogen (vgl. Staab 1990a, S. 96), wie man aus der Tabelle darunter entnehmen kann (Tabelle 2.3):
48Da
Lateinamerika zu wenig das Interesse der globalen Mediensysteme erweckt und minimal Beachtung in den Zentralredaktionen findet, können beispielsweise Korrespondenten Nachrichtenfaktoren unterstreichen, um überhaupt über den Kontinent etwas schreiben zu können. Man kann davon ausgehen, dass sie einem Ereignis verschiedene Nachrichtenfaktoren zuschreiben, um seine Relevanz zu rechtfertigen und die Mutterredaktionen zu überzeugen. Die Faktoren werden zielgerichtet instrumentalisiert, um mit dem Platzmangel und winzigem Interesse umzugehen. 49Der Untersuchungszeitraum betraf hier eine zusammenhängende Woche, von 06. bis 10. Februar 1984 (vgl. Staab 1990a, S. 124). 50Dabei wurden fünf Konflikte ausgewählt, nämlich die Auseinandersetzungen um die 35-Stunden-Woche, die Parteispendenaffäre, der Konflikt im Mittelamerika zwischen den USA und Nicaragua und zuletzt die Problematik der Ausländer und Asylanten in der Bundesrepublik. Die Konflikte erstreckten sich vom 01. Januar bis 30. November 1984. Die Stichprobe enthielt vier überregionale Qualitätszeitungen, vier im Rhein-Gebiet verbreitete regionale Abonnementzeitungen, zwei Straßenverkaufszeitungen, die Abendnachrichten von fünf Hörfunksendern und die Hauptnachrichtensendungen der ARD (tagesthemen) und ZDF (heute-journal), sowie den dpa-Dienst (vgl. Staab 1990a, S. 125).
92
2 Theoretische Hintergründe
Tabelle 2.3 Zusammengefasste Nachrichtenfaktoren nach Staab, 1990 Nachrichtenfaktoren Nur bei internationaler Räumliche Nähe Berichterstattung
Definitionen Distanz der Ereignisnation zu Deutschland
Politische Nähe
Gemeinsamkeiten der politischen Systeme, der außenpolitischen Vorhaben und der Verteidigungspolitik zwischen den Ereignisnationen und Deutschland
Wirtschaftliche Nähe
Gemeinsamkeiten der ökonomischen Systeme und die Stärke der Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Ereignisnationen und Deutschland
Kulturelle Nähe
Gemeinsamkeiten von Sprachen, Religion und Kultur (Literatur, Kino, Musik, Wissenschaft usw.) zwischen den Ereignisnationen und Deutschland
Status der Ereignisnation Wirtschaftliche, politische und militärische Relevanz von Ländern (permanent bei nationaler Berichterstattung) Status der Ereignisregion Ökonomische und politische Relevanz des Ereignisorts in der Bundesrepublik (nur bei nationalen Geschehnissen) Nationale und internationale Berichterstattung
Institutioneller Einfluss
Politische, ökonomische oder kulturelle Machtstellung einer Institution
Persönlicher Einfluss
Politische, ökonomische oder kulturelle Machtstellung einer Person. Vertritt die Person eine Institution, dann wird nur die Machtstellung der Institution codiert (Fortsetzung)
2.7 Kriterien der Nachrichtenauswahl
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Tabelle 2.3 (Fortsetzung) Nachrichtenfaktoren
Definitionen
Prominenz
Grad der Bekanntheit einer Person (unabhängig von ihrer Machtstellung)
Personalisierung
Relevanz von Personen für die dargestellte Angelegenheit
Kontroverse
Gegenüberstellung von Meinungsverschiedenheiten
Aggression
Gewaltandrohung oder Gewalteinsatz mit dem Störungszweck
Demonstration
Kollektive Veranschaulichung von bestimmten Zielen
Überraschung
Ausmaß des Unerwarteten
Reichweite
Anzahl von Menschen, die in ein Geschehnis involviert oder direkt von ihm betroffen sind
Tatsächlicher Nutzen/ Erfolg
Positive Effekte eines Geschehnisses
Möglicher Nutzen/Erfolg Positive Effekte eines Geschehnisses, die vermutlich oder eventuell passieren können Tatsächlicher Schaden/ Misserfolg
Negative Effekte eines Geschehnisses
Möglicher Schaden/ Misserfolg
Negative Effekte eines Geschehnisses, die vermutlich oder eventuell passieren können
Zusammenhang mit Themen
Inhaltliche Beziehung zwischen den dargestellten Geschehnissen oder Problematiken und eingeführten Themen
Etablierung von Themen Beachtungszeitraum, der den Themen in den Medien beibemessen wird Faktizität Eigene Darstellung nach Staab, 1990a
Ereignishaftigkeit von Beiträgen
94
2 Theoretische Hintergründe
In Bezug auf die Einwirkung der dargestellten Nachrichtenfaktoren auf die Platzierung und den Umfang der Gesamtberichterstattung51 kam Staab zum Schluss, dass ein relativ starker Einfluss der Nachrichtenfaktoren auf den Umfang, allerdings nur ein relativ schwacher Einfluss auf die Platzierung konstatiert werden konnte (vgl. Staab 1990a, S. 211). „Bei allen Mediengattungen und Themenbereichen war der Einfluß der Nachrichtentenfaktoren auf den Umfang von Meldungen erheblich größer als ihr Einfluss auf die Platzierung von Meldungen“ (Staab 1990a, S. 148) Außerdem zeigte sich dieser Befund stärker bei der Konfliktberichterstattung. Bei der politischen nationalen Berichterstattung zeigen weniger als die Hälfte der Faktoren einen relevanten Einfluss auf den Umfang von Beiträgen. Besonders effektiv waren bei fast alle Medientypen „Kontroverse“, „Prominenz“, „möglicher Nutzen“ und „möglicher Schaden“ (vgl. Staab 1990a, S. 151). Jedoch zeigten die unterschiedlichen Mediengattungen ein paar Abweichungen, d. h. spezifische Selektionsmechanismen. Bei Straßenverkaufszeitungen z. B. spielte der Faktor „Personalisierung“ eine große Rolle, während beim Hörfunk der Faktor „Überraschung“ von Gewicht war. Im Fall internationaler politischer Berichterstattung zeigten sich die Faktoren „Prominenz“, „Reichweite“, „tatsächlicher und möglicher Schaden“, sowie „Etablierung der Themen“ als besonders wirksam (ebd. S. 152). Allgemein attestierten die Ergebnisse dem Kausalmodell der Nachrichtenwerttheorie eine Erklärungskraft, auch wenn die Faktoren bei öffentlichen Konflikten stärker ausgeprägt sind. Hierzu deutete Staab (ebd. S. 212) darauf hin, das generell schwache Verhältnis zwischen Nachrichtenfaktoren und Platzierung zu bedenken. Mithilfe einfacher Regressionsanalyse der Gesamtintensität der Nachrichtenfaktoren wurde zudem die Additivitätshypothese von Galtung und Ruge bestätigt. Der Befund zeigte, dass die Faktoren einen additiven Effekt auf den Umfang und die Platzierung haben, der in der Konfliktberichterstattung in stärkerem Maß auftrat. Das Verhältnis zwischen Intensität der Nachrichtenfaktoren und Platzierung war jedoch bei allen Medien relativ minimal (ebd.). Die Untersuchung von Staab bekräftigte einerseits das Kausalmodell, relativierte andererseits die Generalisierbarkeit der Theorie hinsichtlich der geringen Erklärungskraft der Nachrichtenfaktoren auf die Platzierung von Beiträgen sowie bezüglich der Abweichungen zwischen den Medientypen (ebd.). Bei der Überprüfung der Angemessenheit des
51Hierbei
wurden die nationale und internationale politische Gesamtberichterstattung sowie die Berichterstattung über die fünf vordefinierten Konflikte berücksichtigt (vgl. Staab 1990a, S. 211).
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finalen Modells stellte der Autor fest, dass nicht die Intensität der Nachrichtenfaktoren, sondern vielmehr die Anzahl von Nachrichtenfaktoren den Umfang eines Beitrages erklären kann. Dieses Ergebnis bekräftigte das Finalmodell und bewies, dass Journalisten einem Geschehnis eher mehr Nachrichtenfaktoren attribuieren, je stärker sie das Ereignis in der Berichterstattung in den Vordergrund stellen wollen (vgl. Staab 1990a, S. 213). Die Untersuchungen von Schulz und Staab trugen auf jeden Fall bezüglich des breiten Angebots der analysierten Mediengruppen und der Palette der eingesetzten Faktoren zu einer umfangreichen empirischen Überprüfung des Nachrichtenwertansatzes bei (vgl. Eilders 1997, S. 41). Die theoretische und empirische Anwendung der Theorie wurde zunächst von Donsbach (1991) und Eilders (vgl. 1996, 1997) ausgeweitet, indem sie dem Einfluss der Nachrichtenfaktoren auf die Ebene der Rezipienten nachforschten. Ausgehend von Galtung und Ruge wurden dabei Nachrichtenfaktoren ebenfalls als allgemein-menschliche wahrnehmungspsychologische Selektionskriterien verstanden. Daher ging man davon aus, dass nicht nur die Medienbilder, sondern auch die Vorstellung der Rezipienten im Prozess der Nachrichtenselektion- und Produktion verzerrt werden kann. Infolgedessen fragte sich beispielsweise Eilders (vgl. 1997, S. 263), ob Nachrichtenmerkmale ebenfalls „die Rezeption von Nachrichten durch das Publikum beeinflussen“ (ebd.). Im Kontext der kognitionspsychologischen Debatte konnten Eilders (ebd.) zufolge Nachrichtenfaktoren als Indikatoren für die Bedeutsamkeit erklärt werden. Die Relevanzzuschreibung der Nachrichtenfaktoren durch das Publikum konnte laut der Autorin in drei verschiedenen Analyseschritten erfasst werden – aufgrund gesellschaftlicher Konsequenzen („Reichweite“, „Schaden“, „Nutzen“, „Kontroversen“, „Prominenz“, „Ortstatus“ und „Nähe“), angesichts psychologischer Prinzipien („Etablierung“, „Personalisierung“ und „Emotionen“) und hinsichtlich evolutionärer, erklärender Verhaltensweise („Faktizität“, „Überraschung“ und „Sex/Erotik“)52. Shoemaker deutete ebenfalls darauf hin, dass nicht nur Journalisten, sondern auch Menschen
52Die Wirkungskraft der Nachrichtenwerttheorie bei der Rezipienten wird normalerweise angesichts wahrnehmungspsychologischer, biologischer/evolutionspsychologischer und kultureller/sozialpsychologischer Begründungen legitimiert (vgl. Shoemaker 1996; vgl. Maier 2010, S. 85–90). Shoemaker zeigte bei ihrem Essay beispielsweise, dass nicht nur biologische, sondern auch kulturelle Erklärungen zu unserer Erkenntnis beitragen können, warum Menschen eigentlich die Nachrichten verfolgen und warum viele Berichte normalerweise von der Norm abweichende Ereignisse oder sozial relevante Geschehnisse in den Vordergrund stellen (vgl. Shoemaker 1996, S. 42).
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2 Theoretische Hintergründe
im Allgemeinen in der Lage seien, insbesondere von den Normen abweichende und negative Nachrichten zu identifizieren53 (vgl. Shoemaker 1996, S. 37). Donsbach (vgl. 1991, S. 138) identifizierte sechs Nachrichtenfaktoren, die nicht nur die journalistische Auswahl, sondern auch die selektive Nutzung des Publikums determinieren. Während „Personalisierung“, „Thematisierung“ und „Kontroverse“ eine unmittelbare deutliche Einwirkung auf die Nutzung hätten, zeigten „Negativismus“ und „Faktizität“ andersherum eine indirekte Beeinflussung durch den Beachtungsgrad (vgl. Maier 2010). Bei ihrer Untersuchung analysierte Eilders (vgl. 1996, 1997) zunächst, wie die Nachrichtenfaktoren den Verlauf von Auswahl und Informationsverarbeitung bestimmen können. In einem ersten Schritt wurde die Wirkung von Nachrichtenfaktoren auf die Nachrichtenauswahl von Empfängern anhand einer bivariaten Analyse der genutzten und nicht genutzten Medienangebote untersucht54. Das Ergebnis zeigte, dass Empfänger Artikel mit hohen Nachrichtenwerten in der Tat bevorzugen, insbesondere für „Kontinuität“, „Kontroverse“, „Faktizität“, „Ortstatus“, „Etablierung“, „ Überraschung“ und „Schaden“ (vgl. Eilders 1996, S. 11). Da die Faktoren durch unterschiedliche Werte gekennzeichnet sind, konnte bei diesem ersten Schritt ihre Stärke nicht verglichen werden. Um ihre relative Beeinflussung zu beobachten, realisierte Eilders eine multivariate Regressionsanalyse. Ihr Modell berücksichtigte formale Variable (Index von Prominenz, Eindeutigkeit der Schlagzeile und journalistischer Stil des Beitrages), Inhaltsvariablen (Nachrichtenfaktoren und Themen/„Issues“) und zuletzt persönliche Variablen (z. B. allgemeines politisches Wissen und Interesse, gewöhnliche Mediennutzung und Medienpräferenz usw.). Insgesamt wurden 21 % der Varianz durch die berücksichtigten Variablen (persönliche Informationen, Nachrichtenfaktoren, Themen und formale Merkmale des Beitrages) erklärt (vgl. Eilders 1996, S. 11–12). Die größte Varianz (20 %) ließ sich jedoch durch die formalen Charakteristiken begründen, d. h., die Rezipienten orientierten sich im
53„The
identification of something as news, particularly as bad or deviant news, is common across human beings, not just journalists“ (Shoemaker 1996, S. 37). 54Die empirischen Daten von Eilders Arbeit stammen aus einem größeren DFG-Forschungsprojekt – Realitätsvermittlung durch Massenmedien –, das sich von 1984 bis 1994 erstreckte und mit der gleichnamigen Publikation von Werner Früh beendet wurde. Die Daten erfassten Interviews anhand standardisierter Fragebögen und Mediennutzung-Tagebüchern, die von den Befragten während einer Woche geführt wurden. Die im Zeitraum von den Rezipienten genutzten Beiträge aus Zeitungen und Zeitschriften wurden dann gesammelt und mithilfe der Inhaltsanalyse untersucht. Für eine ausführliche Beschreibung des DFG-Projekts und des nachfolgenden Untersuchungsdesigns vgl. Eilders (1997, S. 148–158).
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Prinzip nicht an den Nachrichtenfaktoren, sondern an Platzierung, Überschrift und Artikelgröße (ebd. S. 16). Zu beachten ist jedoch, dass die analysierten formalen Charakteristiken – determiniert durch die journalistische Auswahl – stark mit dem Nachrichtenwert eines Beitrags korrelieren (ebd.). Die Autorin bot drei Interpretationsmöglichkeiten für diesen Befund an. Erstens seien Nachrichtenfaktoren keine Auswahlkriterien der Rezipienten. Das Publikum bringe keine inhaltlichen Kriterien zum Einsatz und lese einfach, was von den Medien dargestellt würde. Zweitens hätten die Rezipienten doch eigene Relevanzkriterien, verwenden sie jedoch nicht, denn es sei einfacher die Relevanzzuschreibung der Journalisten – der Experten –anzuerkennen und darauf zu vertrauen. Eine dritte Vermutung, warum das Publikum seine eigenen Kriterien nicht verwende, sei, dass es die journalistischen Auswahlkriterien kenne und damit einverstanden sei. In diesem Fall würden die Rezipienten das Informationsangebot als eine Antizipation der Journalisten über ihre eigene Auswahl wahrnehmen (vgl. Eilders 1996, S. 18). Trotzdem interpretierte die Autorin diesen Befund nicht als eine Ablehnung der Annahme, dass Nachrichtenfaktoren die Auswahl des Publikums ebenfalls beeinflussen. Es sei zu vermuten, dass die Rezipienten wegen der langen Medienerfahrung und -nutzung die medialen Auswahlkriterien schon kennen, d. h., sie hätten mitbekommen, dass relevante und beachtete Berichte besser platziert und präsentiert werden als irrelevante Berichte (ebd.). Bezüglich der Informationsverarbeitung von Rezipienten bewies die Autorin, dass ein paar Nachrichtenfaktoren in der Tat die Erinnerung des Lesers beeinflussen. Bei der Untersuchung, die unter natürlichen Wahrnehmungsbedingungen ablief, sollten 224 Probanden einen Medienbeitrag in ihren eigenen Worten reproduzieren (vgl. Eilders 1997, S. 150). Der Prozess wurde eine Woche später wiederholt. Die Nachrichtenfaktoren kamen bei den Reproduktionen durch das Publikum deutlich weniger vor als in den originalen Beiträgen. Eine wichtige Rolle dabei spielten die Faktoren „Kontroverse“ und „Überraschung“. Andersherum seien „Einfluss/Prominenz“, „Personalisierung“ und „Schaden“ nur effektiv, wenn sie vorwiegend auffällig erscheinen. Dieser sogenannte Konzentrationseffekt – d. h. Aufmerksamkeitserhöhung durch starke, markante Faktoren – wurde bei der Hälfte der Personen konstatiert (vgl. Eilders 1997, S. 256; vgl. Maier 2010, S. 91–92). Obwohl die Untersuchung sich auf die Hauptannahme der Nachrichtenwerttheorie stützte, dass Journalisten und Rezipienten ähnliche allgemein-menschliche Selektionskriterien haben, befürwortete die Autorin für eine Gruppe eine Ausdifferenzierung. Sie bemerkte, dass politische Bildung diese generelle Anlehnung an Nachrichtenfaktoren bspw. reduziert (vgl. Eilders 1997, S. 266): „Je besser Rezipienten informiert sind, desto eher gehen sie mit eigenen situationsspezifischen und möglicherweise themenabhängigen Vorstellungen davon, welche Aspekten eines Ereignisses relevant
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2 Theoretische Hintergründe
sind, an Medieninformationen heran“ (ebd.). Empirische Befunde aktueller Untersuchungen signalisieren ebenfalls, dass Nachrichtenfaktoren nicht mehr vornehmlich als journalistische Selektionskriterien verstanden werden können. Sie bestimmen nicht nur die journalistische Auswahl, sondern steuern auch die Informationsverarbeitung der Rezipienten (vgl. Eilders 2006, S. 19). Aktuelle Studien betrachten zusätzlich das Zweikomponenten-Modell der Nachrichtenwerttheorie. Kepplinger (vgl. 2011a, S. 62) zufolge erfasst jede Theorie der Nachrichtenauswahl zwei Komponenten – die Ereignis- und die Selektionsmerkmale. Eine Zunahme der Berichterstattung über Unfälle beispielsweise könne zwei Gründe haben. Entweder habe die Häufigkeit der Ereignisse tatsächlich zugenommen oder eine Veränderung der Selektionskriterien finde statt (ebd.). Diese zwei Aspekte wurden von Kepplinger und Ehmig (2006) empirisch überprüft. Bei ihrer Analyse unterschieden die Autoren zwischen in Beiträgen anwesenden Nachrichtenfaktoren und Nachrichtenwerte der Nachrichtenfaktoren. Sie gingen davon aus, dass Nachrichtenfaktoren je nach Mediengattung unterschiedliche Nachrichtenwerte besitzen. Zuerst wurden die Nachrichtenwerte von fünf Nachrichtenfaktoren („Nähe“, „Kontroverse“, „personaler Einfluss“, „Relevanz“ und „tatsächlicher Schaden“) von überregionalen Qualitätszeitungen, regionalen Zeitungen und Boulevardzeitungen mithilfe einer Inhaltsanalyse gemessen. Danach berechneten die Autoren die Nachrichtenwerte von spezifischen Nachrichten55. Ihre Befunde bewiesen die Zweikomponenten-Theorie und deutete darauf hin, dass die Publizierungswahrscheinlichkeit durch Nachrichtenfaktoren und ihre Nachrichtenwerte prognostiziert werden kann (vgl. Kepplinger und Ehmig 2006, S. 25). Basierend auf dem Zwei-Komponenten-Ansatz zeigten Boukes und Vliegenthart (vgl. 2017, S. 18) ebenfalls, dass verschiedenen Zeitungstypen bestimmten Faktoren unterschiedliche Werte zuschreiben56. Boulevard- und
55In
einem ersten Schritt wurden die Nachrichtenfaktoren und deren Intensität anhand einer Inhaltsanalyse gemessen. Zunächst wurde die Zweikomponenten-Theorie anhand im Laboratorium gewogener Informationen über die Nachrichtenfaktoren und deren Werte getestet. Die Nachrichtenwerte von Nachrichtenfaktoren wurden anhand eines Experimentes mit Journalismusstudenten gemessen, die unterschiedliche Berichte über bestimmte Ereignisse nach ihren eingeschätzten Nachrichtenwerten klassifizierten. Für ausführliche Informationen zum Studiendesign vgl. (Kepplinger und Ehmig 2006). 56Das Studiendesign erfasst eine große Inhaltsanalyse (n = 6.489) von neun niederländischen Presseorganen aus unterschiedlichen Typen (Boulevardzeitungen, Qualitätszeitungen, regionale Blätter und Finanzzeitungen). Diese Auswahl betraf 65 % der Presselandschaft des Landes. Die Beiträge stammen aus der LexisNexis-Datenbank und nur Nachrichten über Wirtschaft wurden einbezogen (vgl. Boukes und Vliegenthart 2017, S. 8–9).
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regionale Zeitungen legen insbesondere mehr Wert auf die Nachrichtenfaktoren „Personifizierung“, „Negativität“ und „geografische Nähe“. Andererseits zeigen die Qualitätszeitungen ein eher allgemeines Schema von Faktoren. „Elitenzugehörigkeit“, „Einfluss und Relevanz“, aber auch „Kontroversen“ kamen häufiger in Beiträgen der Qualitätszeitungen vor, d. h. die gewöhnlichen Faktoren. Zuletzt sei die Finanzzeitung konsistent auf weniger Nachrichtenfaktoren angewiesen (ebd.). Gegenwärtige Analysen versuchen darüber hinaus, die Nachrichtenwertforschung im digitalen Zeitalter zu reflektieren und zu aktualisieren57. Durch soziale Medien wählen und verbreiten die Rezipienten auch Nachrichten, und diese mögliche „Shareability“ (Harcup und O’Neill 2017, S. 1476) hätte dementsprechend auch einen Effekt auf die journalistische Nachrichtenselektion (ebd.). „Es wird zunehmend als notwendig erachtet, dass Nachrichten in einer Form produziert werden, die sich viral verbreiten kann“ (Phillips 2012, S. 669). Anstatt die Nachrichtenproduktion radikal zu modifizieren, scheint die Rolle der Mehrheit des Online-Publikums einfach Nachrichten auf sozialen MedienPlattformen zu teilen (vgl. Harcup und O’Neill 2017). In einer aktualisierten Studie von 2001 erstellten Harcup und O’Neill einen Katalog von zehn Nachrichtenfaktoren58. Damals wurden die ersten Seiten der drei marktführenden britischen Tageszeitungen (The Sun, Daily Mail und Daily Telegraph) anhand einer Inhaltsanalyse während eines Beispielmonats im Jahr 1999 analysiert (vgl. Harcup und O’Neill 2001, S. 267–268). Eine Replikation der Studien fast fünfzehn Jahre später hat weitere britische Presseorgane einbezogen – Daily Mirror, Daily Express, The Times, The Guardian, The Independent und noch die kostenlose Blätter Metro und London’s Evening Standard59 – (vgl. Harcup und O’Neill 2017, S. 1475–1476). Trotz des vermuteten Einflusses von sozialen Medien auf die journalistische Auswahl analysierten die Wissenschaftler immer noch Tageszeitungen, denn diese bringen die wichtigsten Nachrichten und sind in der
57Eine
ausführliche Analyse über die Effekte der neuen Medien im journalistischen Feld und die Selektionskriterien liegt jenseits der vorliegenden Arbeit. Daher werden die Nachrichtenfaktoren-Untersuchungen in diesem Kontext nur kurz erwähnt. Wir erheben dabei keinen Anspruch auf Vollständigkeit. 58The Power Elite (persönlicher Einfluss), Celebrity (Prominenz), Entertainment (Unterhaltung), Surprise (Überraschung), Bad News (Negativismus/Schaden), Good News (Erfolg/Nutzen), Magnitude (Betroffenheit), Relevance, Follow-up (Thematisierung), Newpaper Agenda (Anpassung an die Agenda der Nachrichtenorganisation). (vgl. Harcup und O’Neill 2001, S. 278–279). 59Eine Stichprobenwoche im November 2014 wurde für jede der 10 Zeitungen gezogen.
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2 Theoretische Hintergründe
Lage, andere Medien zu beeinflussen. Die in den Zeitungen erschienen Nachrichtenfaktoren seien per se das Resultat einer journalistischen Selektion unter einem sehr starken Konkurrenzdruck (ebd.). In der neuen Untersuchung berücksichtigten die Autoren jedoch zusätzlich die Online-Nachrichten, die im selben Jahr 2014 auf Facebook und Twitter am häufigsten geteilt worden waren. Dieses Mal stellten sie 15 Nachrichtenfaktoren dar. Zwischen Daten der Zeitungen und sozialen Medien ergaben sich Ähnlichkeiten und Unterschiede. „Negativismus“ – schlechte Nachrichten – sind nicht nur bei der Presse, sondern auch bei den Online-Medien beliebt. Die beliebtesten Online-Beiträge beschäftigten sich allerdings nur selten mit dem „persönlichen Einfluss“ (power elite). Der häufigste Online-Nachrichtenwert sei „Unterhaltung“. Online-Leser scheinen solche Inhalte zu teilen, weil es Spaß macht oder ihre gemeinsame Nutzung Freude bringt. Dies deutete laut den Autoren auf einen möglichen neuen Nachrichtenwert hin: „Shareability“ (Harcup und O’Neill 2017, S. 1480). Der Nachrichtenkatalog von 2017 zeigte fünf neue Merkmale. Laut den Autoren sei „Shareability“ schwer zu definieren, aber gemeint sei etwas, das zum Lachen bringen oder wütend machen kann (ebd. S. 1481). Zudem wurde die Bedeutung von visuellen Merkmalen, auf die von anderen Studien hingewiesen wurde, einbezogen („audio-visuell“), d. h., Geschichten, die Fotos, Videos, Audiodateien, Fotos besitzen und durch Infografiken illustriert werden können (ebd. S. 1482). Außerdem sollten „Konflikte“ (bspw. Kontroverse, Auseinandersetzungen, Streitigkeiten, Streiks, Kämpfe, Aufstände und Kriege) eine unabhängige Kategorie bilden und nicht unter schlechten Nachrichten aufgenommen werden (ebd. S. 1473). Zuletzt integrierten die Forscher den Faktor „Drama“ in den Katalog – Geschichten über Flucht, Unfälle, Durchsuchungen, Belagerungen, Rettungen, Schlachten oder Gerichtsverfahren. Trotz der Bedeutung solcher alten und neuen Nachrichtenfaktoren kamen die Autoren zum Schluss, dass andere Aspekte – bspw. wer Nachrichten selektiert, für wen, unter welchen Umständen, in welches Medium und mit welchen verfügbaren Ressourcen – auch relevante Variablen seien. Solche Faktoren könnten genauso bedeutend sein, unabhängig ob bestimmte Nachrichtenfaktoren anwesend oder abwesend sind (ebd. S. 1482–1483). Eine andere zusätzliche Untersuchung über die Verteilung von Nachrichten in den sozialen Medien stellte fest, dass traditionelle Kriterien der Nachrichtenwerttheorie in der Tat noch eine Rolle bei der Prognostizierung der Verbreitungsmöglichkeit spielen. Den Autoren zufolge könnte die Entwicklung einer Theorie der Verteilungswerte (shareworthiness), die sich auf die Basis der Nachrichtenwerttheorie stützt, produktiv für das
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Verständnis der Nachrichtenverbreitungsprozesse auf Facebook oder Twitter sein60 (vgl. Trilling et al. 2017, S. 38). Zusammenfassend war das Ziel dieses Abschnittes, einen Überblick über die Entwicklung der Nachrichtenwerttheorie zu schaffen. Die Entstehung des Ansatzes und seine folgende Erarbeitung wurden dargestellt – von der ursprünglichen theoretischen Definition von Sande (1965) und Galtung und Ruge (1965) bis zu statistischen Operationalisierung von Schulz (1976), die die Theorie empirisch prüfbar macht. Wichtige wissenschaftliche Auseinandersetzungen wie der notwendige Vergleich zwischen intra- und extra-medialen Daten aus einer realistischen Perspektive von Rosengren (vgl. 1970, 1974) und die Einbettung der Theorie in den Konstruktivismus von Schulz (1965) sind zudem erörtert worden. Weitere Aspekte, beispielsweise die Unterscheidung zwischen Nachrichtenwerten und Nachrichtenfaktoren von Schulz (1965), die Ergänzung eines Finalmodells von Staab (1990) oder das Zwei-Komponenten-Modell von Kepplinger und Ehmig (2006), fanden ebenfalls Berücksichtigung. Darüber hinaus wurden neuere Entwicklungen wie die Untersuchung des Einflusses der Nachrichtenfaktoren auf die Nutzung der Rezipienten (vgl. Eilders 1996, 1997) sowie die Einbeziehung neuer Merkmale in Zeit der sozialen Medien (vgl. Harcup und O’Neill 2017) – wenn auch nur kurz – betrachtet.
2.7.1.1 Kritik an der Nachrichtenwerttheorie61 Es wurde von verschiedenen Kommunikationswissenschaftlern kritisiert, dass die Nachrichtenwertforschung allein nicht geeignet ist, die Selektionskriterien für Nachrichten zu erfassen. Bei ihrer Kommentierung über Nachrichten und Nachrichtenwerte bemerkt Shoemaker (vgl. 2006, S. 110), dass der Nachrichtenwert eines Ereignisses nur einer von vielen Faktoren sei, die determinieren, wie viel Beachtung ein Geschehnis in den Medien findet. Man könne zudem nicht davon ausgehen, dass Rezipienten die am meisten berichteten Nachrichten unbedingt für nachrichtenwürdig halten. Zudem könne der Nachrichtenwert nie ganz prognostizieren, was zur Nachricht wird. Shoemaker fragt deshalb, warum er diese Funktion überhaupt erfüllen sollte? Der Nachrichtenwert sei ein mentales Konstrukt, eine Vorstellung oder eine Auffassung, während Nachrichten ein soziales Produkt seien (ebd.). 60Bei
der Konzeptualisierung der Teilungsmöglichkeiten wurde die Verteilung von Nachrichtenbeiträgen, die von sechs großen niederländischen Nachrichtenseiten zwischen Januar und August 2014 stammen, analysiert. 61Dieses Unterkapitel basiert auszugsweise auf den entsprechenden Textteilen meiner veröffentlichten Masterarbeit (vgl. Cazzamatta 2014, S. 41–44).
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Hinsichtlich der Forschungsmethode argumentiert Karl Erik Rosengren (vgl. 1970, 1974), dass die Nachrichtenwerttheorie die Auswahlkriterien nicht erklären kann, weil sie lediglich Berichte über Ereignisse und nicht die wirklichen Ereignisse analysiert. Daher schlägt der Autor vor, die Inhaltsanalyse der Massenmedien (Intra-Medien-Daten) mit passenden Extra-Media-Daten zu vergleichen. Diese Betrachtungsweise hinsichtlich des Vergleiches zwischen dem wirklichen Geschehen und der Medienrealität wurde von Schulz (1976) jedoch abgelehnt. Er plädierte für eine neue Orientierung und erklärte den Vergleich zwischen Realität und der Medienrealität als unmöglich, da lediglich nur unterschiedliche Realitätsinterpretationen miteinander verglichen werden können. Diese Begründung von Schulz (1976) schloss die „Realität“ aus, aufgrund dessen wird Staab (vgl. 1990a, S. 109) zufolge der Geltungsanspruch der Nachrichtenwerttheorie auf den Bereich der Medienrealität eingeschränkt. Folgt man der Argumentation von Schulz, muss logischerweise die tatsächliche Frage der Nachrichtenselektion – die Problematik der Motivationen journalistischer Selektionsentscheidungen – grundsätzlich offenbleiben (vgl. Staab 1990a, S. 109–110). In dieser Perspektive sei nach Staab (ebd.) der Nachrichtenwertansatz keine Theorie der Nachrichtenselektion, sondern ein Instrument zur Beschreibung und Untersuchung der Medienrealität. Bei der Zusammenfassung seiner bedeutsamen Arbeit kam der Autor zum Schluss, dass die beiden Modelle der Theorie – Kausal- und Finalmodell – nur einen limitierten Geltungsanspruch erheben können und sich auf die Charakterisierung von Strukturen der Medienrealität reduzieren (vgl. Staab 1990a, S. 214–215). Daher betonte der Autor: „Die Nachrichtenwert-Theorie muß daher weniger als eine Theorie der Nachrichtenauswahl angesehen werden, sondern vielmehr als ein Modell zur Beschreibung und Analyse von Strukturen in der Medienrealität“ (Staab 1993, S. 170). Der Wissenschaftler analysiert vier kritische Punkte (vgl. Staab 1993, S. 166–171): Als erstes steht die Frage nach dem Status der Theorie und deren Auseinandersetzung mit anderen Ansätzen wie der Gatekeeper-Forschung oder der News-Bias-Forschung im Vordergrund. Kritisiert wird das apolitische Kausalmodell, in dem die Merkmale von Ereignissen als Motivation und die Berichterstattung als Konsequenz betrachtet werden. Wie bereits erwähnt wurde, entwickelt der Autor ein Finalmodell, in dem die Intentionalität der journalistischen Selektionsentscheidung betrachtet wird. Aus dieser Perspektive ist die Berichterstattung kein Spiegelbild unterschiedlicher „sachlicher“ Merkmale von Ereignissen, sondern sie ist auch den verschiedenen externen Einflüssen unterworfen. Jedoch bleibt es bei der Nachrichtenwerttheorie unbeantwortet, ob und in welchem Maß und Verhältnis „objektive“ Nachrichtenmerkmale, subjektive
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Betrachtungsweisen von Journalisten (Mikroebene), Beeinflussungen von Verlegern, Redakteuren und Nachrichtenagenturen (Mesoebene) oder strukturelle Richtlinien (Platzverfügbarkeit) die Entscheidung von Kommunikatoren determinieren (vgl. Staab 1990a, S. 109–110). Streng genommen beschränken sich die Untersuchungen von Schulz (1976) und Staab (1990) auf den Einfluss der Nachrichtenfaktoren auf die Medienbeachtung (Umfang und Platzierung) und nicht auf die Selektionsentscheidung, d. h. das selektive Gatekeeping (vgl. Eilders 1997). Es wird bei der Mehrheit der Untersuchungen der Nachrichtenwerttheorie weniger über die Selektionsentscheidung und viel mehr über die Darstellung von Ereignissen geforscht. Ursache solcher Missverständnisse ist genau die Zweikomponenten-Natur der Nachrichtenwerttheorie. In Kepplingers Worten: „Wo es nur eine Komponente zu geben scheint – die Nachrichtenfaktoren –, wird die zweite Komponente – die Selektionskriterien – zwangsläufig vernachlässigt“ (Kepplinger 2011a, S. 70). Das zweite Problem ist die Definition des Begriffs Ereignis. Es wird argumentiert, dass Ereignisse „nicht an sich bestehen, sondern das Ergebnis subjektiver Wahrnehmung und Definitionen sind“ (Staab 1993, S. 168). Zudem spielen Journalisten eine wesentliche Rolle bei der Konstruktion von Ereignissen. Deswegen beurteilt Staab die Übereinstimmung zwischen Berichten und Ereignissen als zweifelhaft. Ereignisse seien miteinander verbunden und nicht isoliert zu betrachten, insbesondere Pseudo-Ereignisse wie Pressekonferenzen oder Interviews. Als Resultat kann es passieren, dass verschiedene Berichte, die den gleichen Anlass besitzen, unterschiedliche Nachrichtenfaktoren beinhalten. Die dritte Kritik bezieht sich auf den Geltungsbereich der Theorie. Staab (vgl. 1993, S. 169–170) und Kepplinger (vgl. 1998, S. 34) argumentieren, dass die abhängige Variable die journalistische Selektionsentscheidung und nicht die Gewichtung von Meldungen durch Umfang und Platzierung sein sollte. In der Nachrichtenwerttheorie wird auch – wenn auch nur implizit – ein universaler Charakter der Nachrichtenfaktoren beansprucht, aber das ist nicht immer der Fall (vgl. Kepplinger 1998, S. 25). Eine Frage ist die Validität der journalistischen Selektion in unterschiedlichen Kulturen. Schon am Anfang postulierten Galtung und Ruge (1965) die Existenz von kulturabhängigen und kulturunabhängigen Nachrichtenfaktoren, allerdings gibt es bis heute keine vergleichende Untersuchung in unterschiedlichen Kulturen und Regionen (vgl. Kepplinger 1998, S. 25). Eine weitere mögliche Frage ist die Entwicklung der Nachrichtenfaktoren im Lauf der Zeit und ob deren Bedeutung über die Zeit stabil bleibt oder sich verändert (vgl. Maier 2010, S. 113). Informationen über eine zeitliche Veränderung journalistischer Selektionskriterien gibt lediglich in der Forschungstradition die Arbeit von Wilke (vgl. Kunczik und Zipfel 2005), welche die Nachrichtenselektion und
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Medienrealität vom 17. bis zum 20. Jahrhundert analysiert.62 Als Hauptergebnis stellt Wilke fest, dass Faktoren wie „Personalisierung“, „Bezug auf EliteNationen“, „Prominenz“ und „Negativismus“ (die letzten zwei weniger deutlich) langfristige stabile Nachrichtenfaktoren sind (ebd.). Shoemaker betrachtet andererseits den Nachrichtenwert als Devianz, d. h. von den Normen abweichend und, was heute als Außergewöhnliches gilt, kann in ein paar Jahren als Tagesordnung angesehen werden. Herztransplantationen beispielsweise waren vor zwei Jahrzehnten seltene Ereignisse, die zu nationalen Nachrichten wurden. Heutzutage finden jedoch viele Transplantationsoperationen jedes Jahr statt, so dass jede Operation weniger nachrichtenwert ist (vgl. Shoemaker et al. 1987, S. 351). Was als deviant definiert wird, bleibt nicht konstant. Zuletzt betrifft die vierte Kritik den Allgemeingültigkeitsgrad der Theorie. Gilt der theoretische Anspruch für alle Medienressorts und Themenkomplexe (vgl. Staab 1993, S. 170–171)? Oder anders formuliert: Haben Nachrichtenfaktoren bei verschiedenen Mediengattungen spezifische Nachrichtenwerte? (vgl. Maier 2010, S. 113). Offen bleibt auch die Frage, ob Nachrichtenfaktoren themenabhängig sind (ebd.). Es wird davon ausgegangen, dass die Nachrichtenfaktoren generell gültige Selektionskriterien haben, was gegen eine thematische Abhängigkeit sprechen würde. Auf der anderen Seite erklärt die Theorie, dass Nachrichtenfaktoren durch die Deformation der gesamten Nachrichtenkette bei spezifischen Themen besonders ausgeprägt sind (ebd.). Kepplinger (1998, S. 26) formuliert dies so: „Nachrichtenfaktoren gelten zwar generell, die Selektionskriterien, die ihnen einen Nachrichtenwert zuweisen, sind dagegen themenspezifisch. Je mehr man die Themen differenziert, desto stärker tritt der Einfluss der Themen auf den Nachrichtenwert der Nachrichtenfaktoren hervor.“ Die Vernachlässigung dieser Problematik spiegelt laut Kepplinger (ebd.) den niedrigen Beitrag der Nachrichtenwerttheorie zur Erklärung der Nachrichtenauswahl. Daher plädiert er für eine themenspezifische Analyse. Der Autor beurteilt das Vorkommen themenabhängiger Auswahlkriterien, die den Nachrichtenfaktoren themencharakteristisch Bedeutung und Gewicht verleihen, nicht als problematisch, solange diese kontinuierlich und konstant bleiben (vgl. Kepplinger 1998, S. 26–27). In diesem Fall werde der Generalisierungsanspruch der Nachrichtenwerttheorie zwar vermindert, aber ihre Aussagekraft würde nicht in Frage gestellt. Kritisch wäre es andersherum eher, wenn sich 62Wilke
konstatiert unterschiedliche Veränderungen: Entpolitisierung und Entmilitarisierung der Medienrealität; eine steigende Diversifizierung; die zunehmende Präsenz von Akteuren ohne Statusprominenz, allerdings im Zusammenhang mit negativem Geschehen; der zunehmende Ethnozentrismus usw. (vgl. Kunczik und Zipfel 2005, S. 255–256).
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die themencharakteristische Bedeutung im Laufe der Zeit grundsätzlich verändert. In diesem Fall verdeutlichen nicht mehr die Nachrichtenfaktoren im Zusammenhang mit den Auswahlkriterien die Nachrichtenselektion, sondern die Selektionskriterien im Zusammenhang mit den Themen. Ein Beispiel dafür kann die Umweltberichterstattung sein, die in den 70er-Jahren trotz des Nachrichtenfaktors „Schaden“ nicht als berichtenswert erachtet wurde. Erst als ein thematischer Schaden, der Umweltschaden, mehr Beachtung in der Gesellschaft fand, wurde intensiver darüber berichtet. Das heißt, die Veränderung der Auswahlentscheidung lag in diesem Fall nicht am Nachrichtenfaktor „Schaden“, der durchgängig präsent war. Dies bedeutet, dass die Selektionskriterien der Kommunikatoren je nach vorhandenen Themen abweichen können. Zudem plädiert Kepplinger (vgl. 1998, S. 29) für eine Unterscheidung zwischen Berichterstattung über Alltagsgeschehen und Ausnahmesituationen wie Schlüsselereignisse, weil schwere Krisen und Konflikte – wenn auch nur kurzfristig – das Auswahlverhalten verändern können. Wie die Forschung und unterschiedliche Studien demonstrieren, kann eine Veränderung des journalistischen Selektionsverhaltens unabhängig von einer Wende der Ereignissituation beziehungsweise der Ereignismerkmale passieren. Daher kann man nicht die Nachrichtenfaktoren als alleinige Selektionskriterien der Kommunikatoren gleichsetzen, wie es in der klassischen Untersuchung der Nachrichtenwerttheorie zu sein scheint (vgl. Kunczik und Zipfel 2005, S. 260).
2.7.2 Determinanten des globalen Nachrichtenflusses: empirische Studien zum internationalen Nachrichtenstrom. Eine Reihe von Studien hinsichtlich der Determinanten der internationalen Berichterstattung wurde im Lauf der Jahre publiziert, um den unausgeglichenen globalen Nachrichtenstrom zu analysieren. Je nach Untersuchungsdesign berücksichtigte man Strukturmerkmale der Auslandsberichterstattung, Nachrichtenfaktoren und extra-mediale Daten im Sinn Rosengrens (vgl. 2.7.1). Verschiedene Analyse unterschieden ebenfalls zwischen Ereignismerkmalen und Ländermerkmalen (Kontextmerkmalen) und verglichen ihren Einfluss auf die internationale Berichterstattung. Eine Studie von 21 kanadischen Tagesblättern anhand einer Stichprobe von 31 Veröffentlichungstagen während eines Jahres untersuchte z. B. die Korrelation zwischen der Anzahl von veröffentlichten Beiträgen eines Landes (abhängige Variable) und anderen extra-medialen Nationenmerkmalen: Bevölkerungsanzahl, Handel, Bruttoinlandsprodukt/Bruttosozialprodukt pro Kopf
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2 Theoretische Hintergründe
und Elitenationen (als unabhängige Variable). Der Faktor „Elitenationen“ war das bedeutsamste Selektionskriterium der Auslandsberichterstattung der kanadischen Presse mit 70 % der erklärten Varianz63 (vgl. Kariel und Rosenvall 1984, S. 514). Shoemaker (et al. 1987) analysierte die Determinanten der internationalen Berichterstattung der US-Medien bezüglich unterschiedlicher Definitionen von Normenabweichungen (Devianz) und deren Zusammenhang mit der Begriffsbestimmung des Nachrichtenwertes. Die Erläuterung des Nachrichtenwerts beziehe sich den Autoren zufolge normalerweise auf Abweichungen und die Mehrheit dieser devianten Nachrichtenwertkriterien sei normativ. „Konflikt“, „Sensationalismus“ und „Prominenz“ seien Faktoren, die von den sozialen Normen abweichen, d. h., es gehe hierbei um eine normative Devianz (vgl. Shoemaker et al. 1987, S. 355). Novität sei andersherum eher ein statistisches Konzept von Abweichungen, abhängig von der Vorkommen-Definition der Ereignisse als „Seltenes“ oder „Außergewöhnliches“ (statistische Devianz). „Aktualität“ und „Nähe“ werden als bedingte Faktoren angesehen, die für die Beurteilung den Nachrichtenwert von marginal devianten oder bedeutsamen Ereignissen nützlich seien. Abweichende Personen und Ereignisse, bei denen es um „Konflikte“, „Sensationslust“, „Prominenz“ oder „Neuheit“ geht, seien unabhängig von „Aktualität“ oder „Nähe“ oft als nachrichtenwürdig verstanden. Andererseits können weniger deviante Ereignisse trotzdem veröffentlicht werden, wenn sie aktuell und sozial von Bedeutung sind oder in der unmittelbaren Nähe stattfinden (vgl. Shoemaker et al. 1987, S. 356–357). Um ihre Hypothese der Dimension Devianz zu testen – je abweichender eine Person oder ein Geschehnis ist, desto mehr wird darüber berichtet und desto mehr Platz (oder Zeit) wird es erhalten –, führten die Wissenschaftler eine empirische Untersuchung durch. 179 internationale Ereignisse (außerhalb der USA) aus den Keesing’s Contemporary Archives aus dem Jahr 1984 wurden zufällig ausgewählt und mit der Berichterstattung der New York Times und den Fernsehsendern CBS, ABC und NBC verglichen. Die Intensität von drei Sorten von Devianzen64 wurde durch eine vierstufige Skala ermittelt (vgl. Shoemaker et al. 1987, S. 358–360). Die Ergebnisse zeigten, dass sowohl für die
63Der
Faktor „Elitenationen“ (Eliteness) wurde mithilfe einer Befragung unter kanadischen und US-amerikanischen Geographen operationalisiert. Die Befragten bewerteten den Elitenstatus der Länder auf einer Fünf-Punkte-Skala (vgl. Kariel und Rosenvall 1984, S. 512). 64(1) Statistische Devianz: Der Grad, in dem das Ereignis ungewöhnlich ist, d. h., wie häufig solche Ereignisse in der Welt stattfinden. (2) Devianz hinsichtlich des Potenzials für soziale Veränderung: Die Intensität, in der das Geschehnis den Status quo in dem Land bedroht. (3) Normative Devianz bezieht sich auf das Ausmaß, in dem das in den USA stattgefundene Ereignis die US-Normen verletzt (vgl. Shoemaker et al. 1987, S. 358–360).
2.7 Kriterien der Nachrichtenauswahl
107
New York Times als auch für die drei untersuchten Fernsehsender die berichteten Geschehnisse im Vergleich zu den nicht berichteten Ereignissen devianter waren. Zudem scheint die statistische Devianz weniger wichtig zu sein als die anderen zwei Merkmale (normative Devianz und Potenzial für soziale Wende). Als Fazit pointierten die Forscher, dass Devianz nicht allein den Nachrichtenwert eines Ereignisses erklärt. Trotzdem beurteilen die Autoren (vgl. Shoemaker et al. 1987, S. 361) Devianz als eine wichtige Dimension des Nachrichtenwertkonzeptes. Die Konzeptualisierung des Nachrichtenwertes von Shoemaker (et al. 1987) betrachtet zudem die Einschätzung der sozialen Relevanz eines Ereignisses und die Berücksichtigung von bedingten Faktoren wie „Aktualität“ und „Nähe“. In einer weiteren Untersuchung im selben Jahr erweiterte die Forschungsgruppe die Analyse der Determinanten der internationalen Berichterstattung in den USA aus (vgl. Chang et al. 1987). Die Stichprobe und die untersuchten Medien blieben gleich (vgl. Shoemaker et al. 1987), aber neben den früher untersuchten unabhängigen Variablen – normative Devianz und Potenzial für soziale Wende – wurden Relevanz zu den USA (durch die Involvierung des Landes operationalisiert), geografische Distanz, sprachliche Affinität, Pressefreiheit und ökonomisches System (Handelsbeziehung) in die Studie einbezogen (vgl. Chang et al. 1987, S. 403–406). Für die Diskriminanzanalyse zwischen berichteten und nicht berichteten Ereignissen in den US-Medien waren die Faktoren normative Devianz des Ereignisses (Verletzung der US-Normen), Relevanz für die USA (US-Involvierung), Potenzial für soziale Wende (Bedrohung des Status quo) und geografische Distanz von Belang (ebd. S. 410). Die anderen Variablen spielten eine geringe Rolle. Eine dritte Untersuchung der internationalen Berichterstattung der US-Medien berücksichtigte dieses Mal 355 ausgewählte Ereignisse aus dem Keesing’s Archive aus den Jahren 1984 und 1985. Die selektierten Geschehnisse wurden ebenfalls mit der Berichterstattung der NYT und der Fernsehsender ABC, CBS und NBC verglichen (vgl. Shoemaker et al. 1991, S. 789). Die unabhängigen Variablen wurden ganz deutlich zwischen Ereignismerkmalen und Ländermerkmalen ausdifferenziert. Auf der Ereignisebene wurden normative Devianz, Potenzial für soziale Wende und Involvierung der USA einbezogen. Die Operationalisierung lautete wie bei den früheren Studien. Bezüglich der Ländermerkmale wurden Faktoren wie ökonomische65, politische66,
65Durch BIP, Anzahl von US-Unternehmen, US-Direktinvestitionen im Ausland und Einfuhr und Ausfuhr operationalisiert. 66Durch militärische Präsenz, Anzahl der militärischen Allianzen, -ökonomische und -militärische Unterstützung durch die USA gemessen.
108
2 Theoretische Hintergründe
kulturelle67 Relevanzen, Kommunikationshemmnisse68 und Ereignisprominenz (Beachtungsgrad) berücksichtigt (vgl. Shoemaker et al. 1991, S. 784–786). Der Befund deutet darauf hin, dass Ereignisse, die sich von den nationalen Werten kontrastieren und in für die USA politisch und wirtschaftlich bedeutsamen Nationen stattfinden, größere Chancen haben, Nachrichten zu werden (ebd. S. 781). Westerståhl und Johansson (1994) konzipierten darüber hinaus ein Modell zur Erklärung der internationalen Nachrichtenselektion, das sich auf fünf Dimensionen stützt – Nähe (kulturelle, geografische und kommerzielle); Wichtigkeit/Bedeutung (Bevölkerungszahl, BIP, militärische Ausgaben), Drama (Negativismus), der bedingte Faktor Zugang (Präsenz von Korrespondenten und internationalen Nachrichtenagenturen) sowie Ideologie. Die Autoren gingen davon aus, dass Ideologie die Anwendung bzw. die Zuschreibung von Nachrichtenfaktoren beeinflussen kann (vgl. Westerståhl und Johansson 1994, S. 75). Ideologie sei die Ursache von Nachrichtenabweichungen. Bei der Untersuchung der Erklärungskraft des Nachrichtenwertes treten laut den Autoren diese Abweichungen als unerklärte positive oder negative Residuen auf (ebd. S. 77). Mit anderen Worten: Ideologie könnte die Unter- oder Überprognostizierungen erklären. Die Analyseeinheit betraf die schwedischen Medien und zusätzliche Medien aus acht anderen Ländern, in der über 50.000 Beiträge codiert wurden. Eine historische Perspektive basiert auf den Materialien der schwedischen Presse von 1912 bis 1972 wurde ebenfalls betrachtet. Den Ergebnissen nach zu urteilen, spielen die Dimensionen Nähe und Wichtigkeit/Bedeutung eine wesentliche Rolle bei der Auswahl von internationalen Nachrichten. Auch wenn die Konzepte von Nähe und Bedeutung mehr oder weniger dauerhaft erscheinen, sei ihre es Anwendung nicht. „Die Struktur der Welt verändert sich ständig, und die Beziehungen zwischen Staaten und Menschen hängen von bewussten Entscheidungen ab69“ (ebd. S. 85). Circa 75 % der internationalen Nachrichten vor dem letzten Weltkrieg stammen aus Westeuropa und den nordischen Nationen. In den letzten Jahren sei diese Anzahl jedoch auf 25 % gesunken (ebd.). Im Endeffekt interessierten sich die Autoren nicht nur für die Erklärungskraft der Nachrichtenfaktoren Nähe und Bedeutsamkeit, sondern auch für das, was nicht geklärt
67Durch
ethnische und religiöse Ähnlichkeit zu den USA bestimmt. sprachliche Ähnlichkeit, Alphabetisierungsgrad, Verbreitung von Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen und Nähe determiniert. 69„World structure is changing all the time, and relations between states and people are dependent on deliberate decisions“(Westerståhl und Johansson 1994, S. 85). 68Durch
2.7 Kriterien der Nachrichtenauswahl
109
wurde – das Residuum. Wenn die Nachrichtenfaktoren etwas nicht erklären konnten, erwarteten die Wissenschaftler den Einfluss der Ideologie. Anhand einer Netzwerkanalyse untersuchten Kim und Barnett (1996) ebenfalls die Struktur des internationalen Nachrichtenflusses und seine Merkmale. Internationale Zeitungen und Handelsdaten-Publikationen zu den UN aus der Datenbank des Statistischen Bundesamtes wurden verwendet, um das Netzwerk des internationalen Stroms zu beschreiben. Mithilfe der Auswertung eines Computerprogramms für Netzwerkanalyse (NEGOPY) bewiesen die Wissenschaftler die Ungleichheit des globalen Nachrichtenflusses zwischen den Zentren und den Peripherien. Die westlichen Industrienationen dominierten weiter den globalen Informationsfluss, genauso wie die Foreign Images Study in den 80er-Jahren betonte. Durch eine Regressionsanalyse kamen die Autoren zum Schluss, dass die wirtschaftliche Entwicklung eines Staates, seine Hauptsprachen, Ortsbestimmung, politische Freiheit und Anzahl der Bevölkerung seine Position im internationalen Nachrichtenstrom determinieren. Dabei sei der Faktor „ökonomische Entwicklung“ am stärksten ausgeprägt (vgl. Kim und Barnett 1996, S. 323). Basierend auf den Daten der Foreign News Study von 1995 (vgl. 2.6) überprüfte Hagen (et al. 1998), welche Ländermerkmale Einfluss auf die Auslandsberichterstattung weltweit üben. Für die Analyse wurden 69 Medien aus 28 unterschiedlichen Ländern berücksichtigt (ebd. S. 61). Laut den Autoren findet man neben den Faktoren „Status“ und „Nähe“ weder bei Galtung & Ruge (1965) noch bei den breiteren Untersuchungen von Schulz (1976) und Staab (1990) andere Ländermerkmale, die sich als Nachrichtenfaktoren verstehen lassen. Infolgedessen beleuchteten und differenzierten die Autoren unterschiedlichen Facetten von Status und Nähe aus. Status wurden in zwei Dimensionen erfasst – „Machtstatus“ (durch die Anzahl von wissenschaftlichen Veröffentlichungen, BIP und Verteidigungsetat operationalisiert) und „sozioökonomischer Status“ (durch Lebenserwartung bei Geburt, Index der Meinungsfreiheit, Geburtenrate und BIP pro Kopf gemessen). Darüber hinaus wurde zwischen zwei Konzeptualisierungen von Nähe unterschieden, nämlich der „Intensität von sozialen Beziehungen“ und der „Ähnlichkeit von Ländern“ (vgl. Hagen et al. 1998, S. 65). Schulz (1965) ordnete damals Nähe in geografische, politische und kulturelle Dimensionen ein, während Staab (1990) die wirtschaftlichen Aspekte in die Analyse einbezog. Diese von Hagen vorgeschlagene Ausdifferenzierung zwischen Beziehungsintensität und Ähnlichkeit sei jedoch wesentlich, denn sie lassen sich empirisch unterscheiden und korrelierten nicht unbedingt miteinander. Zudem stehe Beziehungsintensität – anders als Ähnlichkeiten – direkt in Verbindung mit Strukturen zur Informationsausrichtung unter den Nationen (ebd.). Mithilfe einer Faktoranalyse zeigten die
110
2 Theoretische Hintergründe
Autoren, dass der Faktor „Ähnlichkeit“ in drei Dimensionen zu verstehen ist – Ähnlichkeit des Machtstatus, des sozioökonomischen Status und der Sprache. Der Befund beweist, dass der Machtstatus einer Nation ein starker Nachrichtenfaktor ist, gefolgt von der Intensität ökonomischer Beziehungen. Danach kommen in der Rangordnung weitere Faktoren, die sich auf Nähe beziehen, nämlich die gemeinsame Amtssprache und die Ähnlichkeit des sozioökonomischen Status (vgl. Hagen et al. 1998, S. 70). Genauso analysierte Wu (2003) anhand der Daten der Foreign News Study von 1995 die „systemischen Determinanten“ des Nachrichtenstroms aus 210 Ländern in 44 ausgewählten globalen Mediensystemen70. Er definierte die „systemischen Determinanten“ als Ländermerkmale und Interaktionsgröße zwischen den Staaten im globalen System. Im Gegensatz zu den anderen Studien wollte Wu nicht nur die Determinanten des Nachrichtenstromes analysieren, sondern auch den möglichen Unterschied zwischen Industrie- und Entwicklungsländern unter die Lupe nehmen. Er ging davon aus, dass die Determinanten der Auslandsberichterstattung in den Industrie- und Entwicklungsnationen unterschiedlich ausgeprägt sind. Dafür wurden neun unabhängige Variablen in sein Regressionsmodell einbezogen71. Er kam zum Schluss, dass das Handelsvolumen der dominierende Prädiktor für den Nachrichtenfluss sei. Das Handelsausmaß und die Anwesenheit von Nachrichtenagenturen lenkten den Informationsfluss unabhängig von der Entwicklungsstufe der Länder (vgl. Wu 2003, S. 9). Bevölkerung und räumliche Nähe seien allerdings nur bei den Entwicklungsländern ausgeprägt, während das Bruttoinlandsprodukt nur bei den entwickelten Industrieländern markant sei. Auf einer globalen Basis spielten Handelsvolumen, Anzahl der Bevölkerung, Präsenz der Nachrichtenagenturen und räumliche Nähe eine wesentliche Rolle als Determinanten der Auslandsberichterstattung weltweit. Vier Jahre später bestätigte Wu (2007) ebenfalls die wesentliche Bedeutung des Handelsvolumens (wirtschaftliche Nähe) und der Präsenz der Nachrichtenagenturen nicht nur bei den traditionellen Print- und Rundfunksendungen, sondern auch bei ihren Online-Versionen. Der Autor verglich die Auslandsberichterstattung der zwei am meisten besuchten Webseiten in den USA (nytimes.com und cnn.com) mit ihren
70Ein
einziges Codierungselement aus der „Foreign News Study“ wurde benutzt, nämlich die im Beitrag am häufigsten erwähnte Nation (vgl. Wu 2003, S. 15). 71Geografische Distanz (räumliche Nähe), Bewertung der Pressefreiheit, Handelsvolumen, Anzahl der Bevölkerung, BIP und BIP pro Kopf, Sprachen, Größe der geografischen Flächen, Anwesenheit von Nachrichtenagenturen und koloniale Beziehung. Für ausführliche Erläuterung der Operationalisierung (vgl. Wu 2003, S. 14–16).
2.7 Kriterien der Nachrichtenauswahl
111
jeweiligen Print- und B roadcast-Versionen72. Obwohl der Außenhandel und die Anzahl von Nachrichtenagenturen relevante Einflussfaktoren bei Online- und traditionellen Medien sind, scheint die Einwirkung von Nachrichtenagenturen auf die Webseiten allerdings stärker zu sein. Letztlich sei der Faktor Pressefreiheit unbedeutend (vgl. Wu 2007, S. 540). Die empirische Arbeit von Pietiläinen (2006), die sich ebenfalls auf die Daten der Foreign News Study von 1995 stützt, bestätigte auch die starke Korrelation zwischen Außenhandel und Auslandsberichterstattung. Hierzu wurde das Verhältnis zwischen Außenhandel und internationalen Nachrichten in 33 Mediensystemen der Welt untersucht. Trotz des engen Zusammenhangs zwischen Außenhandel und Auslandsberichterstattung wurden ein paar Ausnahmen konstatiert. Ausnahmefälle sind Staaten mit einem eindimensionalen Handelsfluss und einem stark kulturell orientierten Nachrichtendienst (z. B. Kuwait), große Länder (USA und Russland) und verschiedene Entwicklungsländer. Hierzu kann man davon ausgehen, dass die politische Bedeutsamkeit der größten Nationen determinierend ist und bei den unterschiedlichen Entwicklungsstaaten sowieso weder Nachrichten noch Handel vorhanden sein. Nach der Studie ist die Korrelation am stärksten bei kleinen Industrieländern, die abhängig vom Außenhandel seien. Außerdem wurde die Bedeutung des Faktors ökonomische Nähe ebenfalls von Scherer (et al. 2006) durch eine Inhaltsanalyse von Zeitungstitelseiten aus 127 Ländern bewiesen. Eigentlich untersuchte die Forschungsgruppe nur diesen Faktor und dessen vier Aspekte – geografisch, kulturell, politisch und ökonomisch73. Für alle Dimensionen von Nähe konstatierte die Analyse eine positive Beeinflussung der Berichterstattung. Der relevanteste Einflussfaktor neben der sprachlichen Nähe sei die ökonomische Nähe, insbesondere die Einfuhr-Beziehung des Berichterstattungslandes zur Ereignisnation. „Nachrichten kommen also tatsächlich mit den Waren ins Land“ (Scherer et al. 2006, S. 221). Die Wissenschaftler erklärten die Ergebnisse durch die weltweiten wirtschaftlichen Verflechtungen. Die Auslandsberichterstattung sei im 21. Jahrhundert dem Globalisierungsprozess stärker als bisher unterworfen. Daher orientieren sich laut den Forschern die globalen Nachrichten vornehmlich an den wirtschaftlichen Verhältnissen zu anderen Staaten. Die international immerfort 72Insgesamt
wurden 1.258 Beiträge aus zwei künstlichen Wochen codiert, die sich von September bis Dezember 2003 erstreckten. Bei dieser Untersuchung berücksichtigte der Autor zusätzlich die kulturelle Nähe zu den USA, neben den früheren unabhängigen Variablen. Sie wurde durch (Englische) Sprache, Anzahl von Einwanderern und Besuchern in den USA operationalisiert (vgl. Wu 2007, S. 545). 73Für eine ausführliche Erläuterung der Operationalisierung der vier Dimensionen vgl. (Scherer et al. 2006, S. 213).
112
2 Theoretische Hintergründe
zunehmenden Länderinteraktionen, bestimmt in erster Linie durch verstärkte international organisierte ökonomische Verhältnisse, reflektieren sich ebenfalls in der Länderselektion des globalen Nachrichtenstroms (ebd.). Heimprecht (2017) untersuchte ebenso die Determinanten von Auslandsnachrichten und bestätigte die Befunde anderer empirischer Untersuchungen (vgl. Hagen et al. 1998; vgl. Wu 2003), in denen die Interaktionen zwischen Staaten als Einflussfaktor auf die Nachrichtenselektion überprüft wurden. Darunter zeigte die „wirtschaftliche Nähe“ die bedeutendste Beeinflussung (vgl. Heimprecht 2017, S. 389). Als zweitstärkstes Merkmal der Analyse folgte der „Krisenstatus“ 74 eines Landes, während die „Konfliktnähe“ keine relevante Rolle spielte. Anders als bei anderen Studien schlug die Autorin vor, dauerhafte Krisen und Konflikte nicht als Ereignismerkmale, sondern als Länder- bzw. Kontextmerkmale zu betrachten. Daher wurden die neuen Nachrichtenfaktoren „Krisenstatus“ und „Konfliktnähe“ berechnet und einbezogen, was Hafez (vgl. 2018, S. 142) für nicht neu hielt: „Anders als die Autorin behauptet, ist auch längst bekannt, dass ‚Konflikte‘ nicht als solche einen hohen Nachrichtenwert besitzen (…) Der Konflikt steht immer in Relation zu der Relevanz eines Landes für ein berichtendes Mediensystem“ (ebd. S. 142). Konflikte könnten darüber hinaus als eine Spielart von Devianz in Sinne Shoemakers (et al. 1987) erfasst werden, d. h. als das Potenzial für soziale Wende im Ereignisland (Bedrohungsintensität des Status quo) oder als normative Devianz (Verstoß gegen die Normen des Berichterstattungslandes). Beide Dimensionen sind normalerweise in Bezug auf die Relevanz solcher Devianzen für das Berichterstattungsland berücksichtigt, denn nicht alle Konflikte finden bedingungslos Platz in den Medien. Während aktuelle Untersuchungen die Bedeutung der Faktoren „Devianz“, „Relevanz“, „kulturelle Nähe/Affinität“ und „Länderstatus“ hervorheben, betonte Golan (vgl. 2006, S. 323) außerdem einen möglichen Einfluss des intermedialen Agenda-Setting-Prozesses auf die Auslandsberichterstattung. Der Forscher fand eine signifikante Korrelation z. B. zwischen der internationalen Nachrichtenagenda der New York Times und den drei abendlichen (ABC, NBC und CBC) Fernsehnachrichtenprogrammen75. Daher 74Der
Faktor „Krisenstatus“ wurde durch vier Ausprägungen operationalisiert – „Konfliktstärke“, „Internationale Wahrnehmung eines Konflikt(landes) als Bedrohung des Weltfriedens“, „Friedfertigkeit eines Landes“ und „Grad der Betroffenheit durch terroristische Aktivitäten“ (Heimprecht 2017, S. 234). Die Daten der Analyse stammen aus dem Projekt „Foreign News on Television“. 75Der Untersuchungszeitraum betraf ein künstliches Jahr (von 1995 bis 2000), in dem 365 Titelseiten der NYT und zusätzlich 1.095 abendliche Nachrichtensendungen verglichen wurden. Die Untersuchungsperiode vor dem 11. September 2001 wurde absichtlich ausgewählt, denn die Struktur der internationalen Beziehungen, der Politik und der Auslandsberichterstattung haben sich in den folgenden Jahren gemäß radikal verändert (vgl. Golan 2006, S. 327–328).
2.7 Kriterien der Nachrichtenauswahl
113
plädierte der Forscher für die Berücksichtigung des intermedialen Agenda-Setting bei einer solchen Analyse76. Aktuelle Studien überprüften die Determinanten der Auslandsberichterstattung bei Online-Nachrichtenseiten. Segev (2016) beispielsweise untersuchte den internationalen Nachrichtenfluss in elf Ländern77 während einer dreijährigen Periode (2009–2012). Drei der populärsten Nachrichtenwebseiten pro Land wurden selektiert, Google News war die dritte Möglichkeit – falls es in den Ländern zur Verfügung stand. Insgesamt gingen in die Analyse 938.741 Onlinedaten ein. Die Ergebnisse deuteten auf ein ähnliches gewöhnliches Muster der O nline-Auslandsberichterstattung in allen analysierten Nationen hin (vgl. Segev 2016, S. 216). Der Autor untersuchte das beste Erklärungsmodell basierend auf drei Gruppen von Variablen – Ländermerkmale, Nähe und Ereignisse –, die wirtschaftliche, soziale und politische Dimensionen berücksichtigten. Das Besondere an dieser Arbeit war der riesige Datenkorpus und die außergewöhnliche Anzahl von Prädiktoren innerhalb der Variablengruppen und deren Dimensionen (vgl. Segev 2016, S. 209–212). Jedoch erklärte eine Kombination von lediglich drei Faktoren (BIP, ausländische Bevölkerungen und Konfliktintensität) zwischen 50 % und 75 % der Varianz der Länderprominenz in den Online-Medien. Wichtig bei der theoretischen Überlegung ist, dass diese drei erklärenden Variablen aus verschiedenen Sphären und Dimensionen stammen. Das BIP erfasst ein Ländermerkmal und vertritt die wirtschaftliche Dimension; ausländische Bevölkerungen und Gebiete gehören zur Nähe und berücksichtigen die sozialen und geografischen Aspekte; die Konfliktintensität und GPI beziehen sich auf die politische Sphäre der Analyse (vgl. Segev 2016, S. 217).
76Während
die Studie in den USA einen Einfluss der NYT auf die abendlichen Fernsehprogramme zeigte, diskutierten deutsche Korrespondenten andersherum die Beeinflussung z. B. des ARD-Programms Tagesthemen oder der anderen Medien auf die Auslandsberichterstattung der überregionalen deutschen Zeitungen. Bei einem Gespräch mit der Autorin sagte Malcher (2018) beispielsweise, dass es sehr einfach [sei], „ein politisches Thema zu verkaufen, wenn heute Abend auf Tagesthemen etwas zu kolumbianischer und chilenischer Innenpolitik laufen würde“. Ein anderer Interviewter bestätigt ebenfalls die Präsenz des intermedialen Agenda-Setting-Prozesses unter den deutschen Medien: „Es ist zugegebenermaßen auch heute oft nicht einfach, ein Thema aufs Tableau zu bringen, das woanders in deutschsprachigen Medien noch nicht stattgefunden hat“ (Freie/r Journalist/ in 2018). 77Ägypten, China, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Iran, Israel, Japan, Russland, Spanien und USA (vgl. Segev 2016, S. 206). Die Auswahl basierte auf den wichtigsten Online-Mediennutzungen in diesen Staaten.
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2 Theoretische Hintergründe
Interessant hierbei ist die Verknüpfung zwischen den bereits diskutierten Strukturmerkmalen der MacBride-Kommission (Abschn. 2.6) mit den Befunden der bisher dargestellten empirischen Forschung zur Auslandsberichterstattung und den Nachrichtenwertfaktoren (Abschn. 2.7.1). Hafez (vgl. 2002a, S. 69–72) identifizierte Sphären der Überschneidungen und Kontraste der unterschiedlichen Forschungstraditionen. Die Tabelle 2.4 veranschaulicht das Verbindungspotenzial und aktualisiert die Begrifflichkeiten der Nachrichtenfaktoren, die nach der Arbeit von Schulz (1976) im Lauf der Jahre entstanden sind. Nimmt man als Beispiel die Bilanz der MacBride-Kommission in Bezug auf die Feindbildproduktion, steht die Problematik in Einklang mit anderen empirischen Studien der Auslandsberichterstattung, die das Strukturmerkmal „Konfliktperspektive“ untersuchten. Beide Betrachtungsweisen können gleichzeitig durch Nachrichtenfaktoren wie „Konflikt“, „Kriminalität“, „Aggression“, „Kontroverse“, „Demonstration“, „Schaden“, „Negativismus“, „Krisenstatus“, „Konfliktnähe“ – je nach Autor – verstanden werden. Hafez (ebd.) deutete auf den signifikanten Grad der gehäuften, vielfältigen Vernetzungen der Strukturtheoreme der Auslandsberichterstattung hin, was signalisiert, dass faktisch eine bedeutende Parallelität zwischen den Forschungstraditionen zu den zentralen Hypothesen über die Komposition des Auslandsimages existiert. Allerdings sei die MacBride-These über die Nichtachtung relevanter globalen Entwicklungen und internationaler Strukturprobleme mit der Nachrichtenwertforschung nicht zu verbinden, denn die Feststellung der „Nichtdarstellung“ einer Wirklichkeitskonstruktion hat als Voraussetzung die Annahme, dass die Medien spezifische vorhandene Angelegenheiten nicht thematisieren, was aus der Perspektive der konstruktivistischen Medienwissenschaft (Abschn. 2.4.1) unbedeutend ist (vgl. Hafez 2002a, S. 72). Jedoch ermöglicht das Paradigma des Rekonstruktivismus und Dekonstruktivismus (2.4.1.2) die Berücksichtigung dieser nicht dargestellten Themen. Im Großen und Ganzen konzentrieren sich jedoch solche diskutierten Studien zu Determinanten der Auslandsberichterstattung meistens auf ereignisorientierte oder länderbasierte Variablen, während Einflussfaktoren der Mikro- und Mesosphären ausgeschlossen werden (vgl. Hafez 2002a; vgl. Golan 2006; vgl. Shoemaker und Reese 2014). Faktoren der Entstehungsbedingungen der Auslandsberichterstattung in der Mikro-, Meso- und Makroebene, wie persönliche Weltanschauung der Korrespondenten und Redakteure, die Rolle von Journalisten, berufliches Selbstverständnis, Medienroutinen, Medienorganisationen, ökonomische Zwänge, ideologische Drücke usw., werden zunächst berücksichtigt.
2.7 Kriterien der Nachrichtenauswahl
115
Tabelle 2.4 Forschungsverknüpfung zur Auslandsberichterstattung: MacBride-Kommission – Strukturmerkmale – Nachrichtenfaktoren – überarbeitete Darstellung nach Hafez (2002a, S. 71) MacBride-Kommission
Strukturmerkmale der
Nachrichtenfaktorena
Auslandsberichterstattung
Überakzentuierung
Regionalismus
Dauer, Kontinuität, Thematisierung, Etablierung
unbedeutender Geschehnisse Räumliche, politische, kulturelle, wirtschaftliche Nähe, Affinität Zusammenstellung
Konfliktperspektive
widersprüchlicher Fakten
Relevanz, Bedeutsamkeit, Reichweite, Tragweite, Betroffenheit Regionale Zentralität/Nationale Zentralität/Länderstatus
Missverständnisse durch
Elitenzentrierung
Implizieren
Persönlicher Einfluss, Prominenz, Elitenationen, Elitepersonen Überraschung, Unvorhersehbarkeit Struktur
Feindbildproduktion
Dekontextualisierung
Konflikt, Kriminalität, Aggression, Kontroverse, Demonstration, Schaden, Negativismus, Krisenstatus, Konfliktnähe Erfolg, Nutzen, Fortschritt Personalisierung
Nichtachtung relevanter
Nichtdarstellung von
Ethnozentrismus, deutscher Bezug, deutsche
Entwicklungen
Strukturproblemen
Beteiligung Emotionalisierung Devianz
Quellen: überarbeitete Darstellung aus Hafez (2002a, S. 71) a(vgl. Galtung und Ruge 1965; vgl. Schulz 1976; vgl. Shoemaker et al. 1987; vgl. Staab 1990; vgl. Eilders 1997; vgl. Ruhrmann et al. 2003; vgl. Heimprecht 2017)
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2 Theoretische Hintergründe
2.8 Entstehungsbedingungen der Auslandsberichterstattung Streng genommen könnte man durch Inhaltsanalyse allein keine verallgemeinerbare Aussage über Entstehungsbedingungen der Auslandsberichterstattung machen. Jedoch lassen sich mithilfe von inhaltlichen Strukturen wahrscheinlich Inferenzschlüsse auf Kommunikatoren und Rezipienten erzielen (vgl. Rössler 2005, S. 32; vgl. Früh 2011, S. 44). Daher ist es erforderlich, an dieser Stelle die Entstehungsbedingungen der globalen Berichterstattung zu berücksichtigen und zu veranschaulichen, um vernünftige Hypothesen für eine empirische Revision eines kausalen Zusammenhangs erarbeiten zu können. Eine solche interpretative Schlussfolgerung von inhaltlichen Merkmalen auf eine externe Frage wird in der Literatur als Inferenz bezeichnet (vgl. Früh 2011, S. 44). Früh (ebd.) differenziert zwischen den „diagnostischen“ und „prognostischen“ Ansätzen. Ersterer bezieht sich auf die Entstehungsbedingungen, d. h., auf das Verhältnis zwischen Kommunikator und inhaltlicher Meldung. Dabei handelt sich um die Fragestellung, was z. B. der Korrespondent berichte, welche Effekte er erreichen wolle, welche Charakteristiken, Befähigungen, Wissen er aufweise oder welche individuelle oder soziale kollektive Betrachtungsweise er in dem Beitrag abbilden mag. Andersherum untersucht der „prognostische“ Grundgedanke Inferenz auf die Wirksamkeit bei den Lesern. Hierbei steht die Frage der Wahrnehmung der Rezipienten im Mittelpunkt, was komplizierter erscheint. Während bei den Journalisten zumindest behauptet werden kann, dass die analysierten Presseinhalte sich absichtlich im Lauf ihrer Berufstätigkeit herauskristallisiert haben, bleiben Wirkungen auf die Rezipienten „im Dunkeln“ (Rössler 2005, S. 34). Verschiedene Wissenschaftler weisen auf die eingeschränkte Aussagekraft solcher inhaltsanalytischer Inferenzen hin (vgl. Rössler 2005, S. 32; vgl. Früh 2011, S. 44). „Um einen stringenten Beweischarakter zu erlangen, müssen sie sich zusätzlich zu den inhaltsanalytischen Befunden auf externe, nicht inhaltsanalytisch gewonnene Kriterien stützen“ (Früh 2011, S. 44–45). Daher wurde in der vorliegenden Arbeit Experteninterviews als zusätzliche Forschungsmethode (Abschn. 3.3) einbezogen, die ohne Zweifel relevant sind, um Ursächlichkeit im Rahmen der Auslandsberichterstattung verifizieren zu können. Auch wenn die anwesenden Nachrichtenfaktoren bzw. Ereignismerkmale oder Ländermerkmale ähnlich sind, berichten verschiedenen Medien völlig unterschiedlich und zeigen andere Meinungen über spezifische Informationen. Dies ist nicht erstaunlich, denn die Medienwirklichkeit durch zahlreiche Faktoren konstruiert wird (vgl. Engelmann 2016, S. 11). Journalismus wird derzeit als
2.8 Entstehungsbedingungen der Auslandsberichterstattung
117
„organisiertes Handeln“ (Weischenberg 1994, S. 428) im Kontext von großen Medienkonzernen verstanden. Dieses Handeln oder das Resultat journalistischen Handelns (d. h. die Inhalte der Berichterstattung) wird dementsprechend in hohem Grad durch berufliche und institutionelle Prinzipien und Maßstäbe bestimmt. Hierbei wird Journalismus und seine Auslandsberichterstattung als „soziales System“ verstanden, das durch verschiedenartige mutual wirkende Einflussmerkmale determiniert wird (ebd.). In den nächsten Abschnitten werden daher Medieninhalte mit Berücksichtigung einer „Mediensoziologie“ diskutiert (vgl. Hafez 2002a; vgl. Weischenberg 1994; vgl. Shoemaker und Reese 2014). Vor allem werden die Gatekeeper- und die Redaktionsforschung (bzw. der organisationssoziologische Ansatz) betrachtet, zwei Theorien, die sich neben der Nachrichtenwertforschung mit den Gründen journalistischer Berufsentscheidungen beschäftigen. Bestimmte Einflussmerkmale werden unabhängig von den analytischen Ebenen – bspw. die Rollenverständnisse der Korrespondenten oder der Einfluss der Nachrichtenagenturen auf die globale Berichterstattung – getrennt diskutiert.
2.8.1 Der Gatekeeper-Ansatz Der Gatekeeping-Ansatz beschäftigt sich mit der Frage nach der Selektion, Themendarstellung, Ereignissen und Ereignisaspekten in den unterschiedlichen Phasen der Informationskette. Anders ausgedrückt: Welche Charakteristiken des Journalisten als Individuum und der entsprechenden Medienorganisationen determinieren die Nachrichtenselektion (vgl. Kunczik und Zipfel 2005, S. 241)? Dabei werden als „Gatekeeper“ (Torhüter, Schleusenwärter) Journalisten oder Medieninstitutionen verstanden, die entscheiden, welche Informationen publiziert werden und welche nicht (vgl. Engelmann 2016, S. 12). Es handelt sich um einen Prozess, denn es gibt mehrere Tore in der Kommunikationskette, die bis zur Publizierung passiert werden müssen (ebd.). In den Worten von Shoemaker (et al. 2001, S. 235): „Gates are decision points at which items may be stopped or moved from section to section or channel to channel. Gatekeepers are either the individuals or the sets of routine procedures that determine whether items pass through the gates“. Wie schon im Kapitel der Entwicklung der Nachrichtenwerttheorie erwähnt wurde, unterschied Rosengren (vgl. 1974, S. 148) zwischen drei Sorten von Gatekeeping. Selektives Gatekeeping bezieht sich auf die Frage der Informationsauswahl, d. h. welche Ereignisse veröffentlicht werden. Qualitatives Gatekeeping andersherum beschäftigt sich mit der Darstellung der vorselektierten Ereignisse, d. h. Platzierung, Illustration, Bilder und Layout. Zuletzt ist
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2 Theoretische Hintergründe
quantitatives Gatekeeping für den Umfang der Nachrichten verantwortlich (ebd.). Zusammengefasst geht es bei dem Ansatz um Selektion, Gewichtung und Darstellung der Informationen. In der Literatur findet man zahlreiche unterschiedliche Erklärungsmodelle, die versuchen, die Einflussfaktoren der Nachrichtengebung auf verschiedenen Ebenen zu systematisieren. Unter ihnen wählte Engelmann (2016) bei ihrer Darstellung der charakteristischen Merkmale des Gatekeeping-Ansatzes drei Beispiele, nämlich das Einflusshierarchie-Modell von Shoemaker und Reese (2014), das Vier-Sphären-Modell von Donsbach (1987) und das Zwiebelmodell von Weischenberg78 (1994 [1992]). Für Shoemaker und Reese (vgl. 2014, S. 7–8) sind Medieninhalte durch folgende Faktoren determiniert: A) Sozialisationsinstanzen und Einstellungen der Medienarbeiter. Hier geht es um einen kommunikatorzentrierten Ansatz, der auf individuellen psychologischen Charakteristiken basiert. Untersucht werden berufliche, personelle und politische Attitüden, die einen möglichen Einfluss auf die Berichterstattungsinhalte haben können. B) Medienorganisationen und Praxis. Hier lassen sich Medieninhalte aus den strukturellen medialen Arbeitsweisen herausbilden. Die organisatorische strukturelle Praxis, in der Journalisten als Individuum eingebettet sind, ermöglicht und grenzt gleichzeitig das journalistische Handeln ab. C) Andere soziale und institutionelle Kräfte. Dabei handelt es sich um wirtschaftliche, politische und kulturelle Kräfte, die extern zu dem Mediensystem sind. Als Beispiel kann man kommerzielle ökonomische Zwänge oder die antizipierten Wünsche des Publikums nennen. D) Ideologische Haltung und Kultivierung des Status quo. Der H egemonieDenkansatz bezieht sich auf den Druck, um den Status quo und die Interessen der Machthaber in der Gesellschaft zu unterstützen. Die sogenannte Ideologie kann Medieninhalte ebenfalls determinieren (vgl. Shoemaker und Reese 2014, S. 7–8). Basierend auf diesen vier Einflussdimensionen der Medieninhalte modellieren die Wissenschaftler ein hierarchisches Modell, das fünf Ebenen berücksichtigt: Individuen, Routinepraxis, Medienorganisationen, soziale Institutionen und zuletzt soziale Systeme. Bei Individuen geht es um persönliche, berufliche und
78Für
einen ausführlichen Literaturüberblick der Mehrebenenmodelle der Nachrichtenselektion vgl. Heimprecht (2017).
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politische Eigenschaften und Meinungen der Kommunikatoren. Routinepraxis bezieht sich auf üblichen alltäglichen Arbeitsstandards. Dazu gehören Nachrichtenfaktoren, Darstellungsformen und Vorgänge, die diese Arbeitspraxis einschränken, wie z. B. Zeitdruck oder mangelnde Ressourcen. Die Ebene der Medienorganisationen berücksichtigt die Beeinflussung der redaktionellen Prozesse, Strukturen und Zwecke auf Medieninhalte, sowie die Wechselbeziehungen zwischen Newsroom und Medienorganisationen. Bei der Stufe der Sozialen Institutionen handelt es sich um externe gesellschaftliche Gruppen, Einrichtungen und Organisationen, die versuchen, die Nachrichtengebung zu beeinflussen. Dazu gehören Regierungen, Werbekampagnen, Öffentlichkeitsarbeit, Interessengruppen, NGOs usw. Zuletzt betrachten soziale Systeme ideologische und kulturelle Faktoren, d. h. die Inhaltsbeeinflussung des Systems als Ganzes. (vgl. Shoemaker und Reese 2014, S. 7–10; vgl. Engelmann 2016, S. 16). Das Vier-Sphären-Modell von Donsbach (1987) beschäftigt sich ebenfalls mit der Frage, wie Kommunikatoren Medieninhalte selektieren und aufarbeiten. Sein Konzept bezog vier analytische Ebenen ein. Die Subjektsphäre analysiert die individuellen Werte, berufliche Motivation, politische Haltung und Rollenvorstellung der Journalisten. Bei der Professionssphäre werden Journalisten als soziale Gruppe angesehen. Dabei untersucht man die Problematik der Beachtung der Berufsprinzipien, Anerkennung der journalistischen Ethik, Normen der Informationsbeschaffung, die Rolle der Nachrichtenfaktoren, journalistische Ausbildung und die Orientierung an Kollegen anderer Medien (vgl. Donsbach 1987, S. 113; vgl. Raabe 2005, S. 43; vgl. Engelmann 2016, S. 17). Die Institutionssphäre berührt die redaktionellen und technischen Organisationen sowie die Problematik der Arbeitszufriedenheit und Pressefreiheit des Mediensystems. Anders formuliert werden Aussagen darüber getroffen, wie ökonomische Zwänge auf die Gestaltungsfreiheit der Journalisten einwirken. Zuletzt nimmt die Gesellschaftssphäre die sozialen Verhältnisse der Kommunikatoren und andere Aspekte wie Pressefreiheit, politische Kulturen und Öffentlichkeit unter die Lupe (ebd.). Da das Hauptinteresse des Donsbach-Modells auf der Freiheit der Kommunikatoren bei der Nachrichtenselektion und -gestaltung innerhalb der Einflusssphären liegt, wird sein Modell als „personenbezogen“ angesehen (vgl. Raabe 2005, S. 48). Das Zwiebelmodell von Weischenberg (1992) arbeitet ebenfalls mit vier Analyseebenen, die jedoch „Schalen“ genannt werden: Medienakteure, Medienaus sage, Medieninstitutionen und Mediensysteme (vgl. Weischenberg 1994 [1992]). Die äußere Schale (Mediensysteme) bezieht sich auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen des Journalismus, geschichtliche und rechtliche Voraussetzungen sowie die seltener formalisierten beruflichen und ethischen Richtlinien (ebd.). Danach kommen die Bedingungen der Medieninstitutionen zur
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Betrachtung, in denen die Journalisten tätig sind. Dazu gehören die für die einzelnen Medien verschiedenen wirtschaftlichen, organisatorischen oder technologischen Drücke. Die dritte Schale wurde vom Autor (vgl. Weischenberg 1994, S. 431) als „Funktionszusammenhang des Journalismus“ erklärt. Gemeint sind die Funktionen und Wirkungen des Systems. Wie gehen Kommunikatoren mit ihren Informationsmaterialien vor und inwieweit sind sie von ihren Informationsquellen abhängig? Auf welche Schemen orientieren sich die Berichterstattung, welche Darstellungsformen haben den Vorzug der Journalisten und unter welche Bedingungen? Welche Auswirkung haben die medialen Produkte auf Meinungen, Perspektiven und Handlungen der Rezipienten? (ebd. S. 432). Die letzte innere Schale beschreibt die Kommunikatoren, d. h. die Produzenten der Medieninhalte und ihre Rollenkonzepte. Im Kontext der Zwiebel-Metaphorik heiß es, dass „sich journalistisches Handeln stets in einem vorgegebenen festen Rahmen abspielt“ (Weischenberg 1994, S. 432). Dieses Modell von Weischenberg lässt sich in der systemtheoretischen Tradition verorten, denn der Journalist als Individuum ist primär in ein redaktionelles, organisatorisches und gesellschaftliches Gefüge integriert und die äußere Schale von Einflussfaktoren begrenzt seine subjektive Selektion und Aufarbeitung von Informationen (vgl. Engelmann 2016, S. 18). Auch wenn Shoemaker und Reese (2014) die Begrifflichkeit der Systemtheorie nicht benutzen, sind sich ihr hierarchisches Modell und das Zwiebel-Konzept von Weischenberg sehr ähnlich (ebd.). Ein Einfluss der inneren Zwiebelschale auf die äußere Schale ist jedoch beim hierarchischen Modell nicht vorhergesehen, denn die inneren journalistischen Akteure tragen zur Erhaltung des Status quo bei (ebd.). Je nach Berücksichtigung der oben diskutierten und dargestellten Einflussebenen lässt sich die Gatekeeper-Forschung in drei unterschiedliche Ansätze unterscheiden: individualistische, institutionelle oder kybernetische Studien (vgl. Kunczik und Zipfel 2005, S. 242–245; vgl. Engelmann 2016, S. 32–36). Eine typische Untersuchung des individualistischen Ansatzes ist z. B. die Schlüsselveröffentlichung von White (1950). Ziel seiner Analyse war, „to examine closely the way one of the gatekeepers in the complex channels of communication operates his gate“ (White 1950, S. 383). Dafür untersuchte der Autor während einer ganzen Woche (06.–13. Februar 1949) anhand einer Triangulationsmethode die Auswahlverfahrensweise eines „Wire Editor“, dem sogenannten „Mr. Gates“, ein Mann mit 25 Jahren Erfahrung als Journalist (sowohl als Reporter als auch als Redakteur), der als Redakteur einer Morgenzeitung in einer hochindustrialisierten Stadt im mittleren Westen der USA arbeitete. Zuerst stellte der Wissenschaftler anhand einer Input-Output-Analyse die Themenpalette der nicht selektierten, mit den selektierten Agenturmeldungen und mit dem gesamten
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Nachrichtenangebot zusammen. Darüber hinaus sollte Mr. Gates die Gründe für die Nichtbeachtung auf der Rückseite der Meldung aufschreiben79. Zuletzt erfolgte eine Befragung des Wire-Editors. Der Wissenschaftler der Boston University kam zum Schluss, dass Mr. Gates Themen aus der Politik präferierte und dazu tendierte, „Human-Interest“ oder Kriminalitätsmeldungen abzulehnen. Es wurde daher klar gezeigt, dass die Auswahl von Mr. Gates von seinen persönlichen Vorlieben und Neigungen abhängig war. Fast dreißig Jahre später stellte Hirsch (et al. 1977) jedoch eine andere Leseart der Ergebnisse von White (1950) vor. Aus seiner Perspektive verhielt sich Mr. Gates eigentlich ganz passiv gegenüber dem Agenturmaterial, denn die Nachrichtenstrukturierung der Zeitung reflektierte ganz genau die Struktur der Agenturangebote. Der Wire-Editor orientierte sich eigentlich an dem Input der Nachrichtenagenturen und nicht an seinen persönlichen Präferenzen (ebd.). Darüber hinaus bezogen sich die von Mr. Gates erklärten Gründe für die Meldungsablehnung auf journalistische Routine und berufliche Standards (kein verfügbarer Platz, zu weit weg, uninteressant) und nicht notwendigerweise auf seine eigenen Vorlieben. Der typische Vorwurf gegen diesen individualistischen Ansatz ist genauso die Ausblendung der sozialen Einflussfaktoren, denn durch die persönlichen Vorlieben der Gatekeeper allein lässt sich ihre Nachrichtenauswahl nicht erklären. Diese erste empirische Forschungswelle ist durch ein individuenzentriertes „Input/Output-Modell“ gekennzeichnet, das die Aktionen des Individuums in redaktionellen Entscheidungspositionen „linear“ und „binär“ analysiert (vgl. Rühl 1989, S. 258). Jedoch scheint es sinnvoll, die Verhaltensweisen der Gatekeeper im Verhältnis mit ihren Positionen innerhalb der Medienorganisation, Hierarchien und Arbeitsroutinen zu berücksichtigen (vgl. Kunczik und Zipfel 2005, S. 244). Daher beachtet der institutionelle Ansatz der Gatekeeper-Forschung Faktoren wie Zeit und Platzverfügbarkeit, verschiedene journalistische Rollenverständnisse, Nachrichtenquellen, Orientierung an den Arbeitskollegen und anderen Medien, strukturelle Drücke usw. Den Fokus der Gatekeeper-Forschung ausschließlich auf den Journalisten als Individuum zu legen, bedeutet, die ganze Kenntnis über die sozialen und organisatorischen Rahmenbedingungen des individuellen Verhaltens zu leugnen (vgl. Peterson 1979, S. 117). Daher wurden bei der Entwicklung des Forschungsansatzes „redaktionsinterne Strukturen“ und „redaktionsexterne Einrichtungen“ einbezogen (vgl. Rühl 1989, S. 259). Die Realitätsperzeption
79Unter
den Notizen für die Nichtberücksichtigung findet man Stichwörter wie „nicht interessant“, „zu vage“, „schon viel zum Thema“, „würde verwenden, wenn Platz gäbe“, „zu weit weg“ usw. (White 1950, S. 386).
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hängt – kürzer ausgedrückt – von der Rolle eines Individuums innerhalb einer Organisation ab (ebd.). Chang und Lee (vgl. 1992, S. 561) zeigten, dass die Redakteurswahrnehmung der Nachrichtenfaktoren im Kontext der internationalen Berichterstattung nicht nur durch individuelle Kontraste, sondern auch durch organisatorische Beschränkungen bestimmt wird (politische Ideologie, Berufserfahrung, Verfügbarkeit von Nachrichtenagenturen usw.). Redakteuren, die z. B. eine internationalistische Weltsicht haben, d. h. die durch eine liberale Perspektive Interesse an ausländischen Nachrichten und Fremdsprachenbildung gekennzeichnet ist, halten tendenziell Faktoren für wichtig, die den Ereignissen inhärent sind. Andererseits tendieren Redakteure mit einer konservativen Weltanschauung dazu, ausländische Geschehnisse aus einer US-amerikanischen Sicht zu betrachten und auf Merkmale zu fokussieren, die als relevant für die USA angesehen werden (vgl. Chang und Lee 1992, S. 561). Bei ihrer Analyse über die Berichterstattung zu fünfzehn Gesetzentwürfen des Kongresses der Vereinigten Staaten kam Shoemaker (et al. 2001) zum Schluss, dass die Gatekeeper viel mehr von routinemäßigen Einflussfaktoren – den sogenannten Kräften oder Forces – als von den Merkmalen einzelner Redakteure beeinflusst werden (ebd.). Im Fall der Auslandsberichterstattung wird meistens den Nachrichtenagenturen die wirkliche Gatekeeper-Funktion zugeschrieben (vgl. Kunczik und Zipfel 2005, S. 244). Der kybernetische Ansatz ist durch eine systemtheoretische Sicht gekennzeichnet und bedeutete einen wichtigen „Schritt in Richtung Organisationsforschung“ (Rühl 1989, S. 259), da das Gatekeeper-Modell organisatorisch ausgeweitet wurde. Eine klassische Studie hierzu ist die Untersuchung von Robinson (1970), die während eines Jahres die Auswahl und Aufarbeitung der Auslandsmeldungen der jugoslawischen Nachrichtenagentur „Tanjug“ analysiert. „From a cybernetic point of view, any large-scale formal social organization is a communication network“ (Robinson 1970, S. 341). Durch eine Triangulationsmethode (Input-Output-Analyse, Redaktionsbeobachtung und Interviews mit Kommunikatoren) zeigte der Autor, wie der organisatorische Prozess der Nachrichtenproduktion der Tanjug ablief. Der Forscher kam zum Schluss, dass die Nachrichtenproduktion eigentlich permanent und unabhängig von der Anzahl der von Korrespondenten und anderen internationalen Agenturen eingegangenen Materialien war. Die Untersuchung des Prozesses der Verarbeitung der internationalen Nachrichten in der Agentur ergab außerdem, dass Chefredakteure sich in erster Linie viel mehr an der Auskunft von staatlichen Quellen orientierten, während bei der Abteilung des Output-Monitoring-Rates Marktfragen und journalistische Gesichtspunkte mehr in den Vordergrund rückten (vgl. Robinson 1970, S. 351). Laut der Studie basierte die journalistische Entscheidung nicht
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ganz auf der individuellen Evaluierung von Nachrichtenwert, sondern auf einer Serie von journalistischen und organisatorischen Kriterien wie Artikelausgabe, Effizienz, Vielseitigkeit und Geschwindigkeit (ebd.). Der Autor hielt den kybernetischen Ansatz für wichtig, denn der Prozess der Nachrichtenauswahl fand in einer bürokratischen Umgebung statt. Die kybernetische Perspektive zeigte, dass die Gatekeeper als Entscheidungsträger anwesend und sogar erforderlich waren, aber sie entschieden nicht „in einem Vakuum“ oder aufgrund persönlicher Präferenzen. Ihre psychologischen Eigenschaften und Einstellungen waren nicht so markant bei der Bestimmung ihrer Beurteilungen wie die durchzuführenden Aufgaben, die verfügbaren Ressourcen oder die Ziele der Medienorganisationen (vgl. Robinson 1970, S. 350). Problematisch bei der Gatekeeper-Forschung ist allerdings, dass normalerweise nur eine von vielen Passagen der Produktionskette untersucht wird und der Fokus auf der Auswahl bzw. Ablehnung von Nachrichten liegt. Zudem werden die unterschiedliche Gewichtung, Darstellung und Gestaltung von der Forschung meistens nur am Rande berücksichtigt (vgl. Kunczik und Zipfel 2005, S. 245). Trotz solcher Schwächen fasste Schulz (vgl. 1976, S. 11–12) die Hauptbefunde der Gatekeeper-Forschung unter fünf Charakteristiken zusammen: 1) die Nachrichtenauswahl sei in einigen Fällen angewiesen auf subjektive, individuelle Erfahrungen, Überzeugungen und Hoffnungen der Kommunikatoren. Als Beispiel nannte Schulz (ebd.) die Ablehnung von Statistiken oder der katholischen Kirche. 2) Die Selektion werde deutlich durch organisatorische und technische Drücke von Newsrooms und Medienorganisationen bestimmt, z. B. Deadlines und verfügbaren Ressourcen. 3) Die Selektion erfolge öfter nach der Orientierung an den beruflichen Kollegen und Arbeitgebern; von den Wünschen der Rezipienten hätten Chefredakteure im Großen und Ganzen bloß ein mangelhaftes und kaum auf Fakten basierendes Bild. 4) Ein Auswahlkriterium von Belang sei die „redaktionelle Linie“, die entweder informell unter den Kollegen oder offiziell durch die Medienorganisation festgeschrieben ist. 5) Das Resultat von Nachrichtenselektion, -aufarbeitung und -gestaltung in den Newsrooms sei längst überwiegend von Nachrichtenlieferanten (d. h. Nachrichtenagenturen) vorgeprägt. Zudem verhielten sich die Redakteure gegenüber den dargestellten Agenturmaterialien – Schulz zufolge – in der Regel passiv. Hierzu läge die größte Schwäche der Forschungseinrichtung: „[N]ur ein unvollkommener und mitunter sogar unbedeutender Ausschnitt aus dem Gesamtbild der Nachrichtenselektion“ (Schulz 1976, S. 12) würde in Betrachtung gezogen.
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2.8.2 Redaktionsforschung: eine Mesoebene-Analyse Die Entwicklung der Journalismusforschung wurde in Deutschland von der Pionierredaktionsstudie von Rühl (1979 [1969]) geprägt. Im Mittelpunkt seiner Arbeit stand die Analyse der Aussageentstehung im Kontext formalisierter sozialer Gefüge (vgl. Scholl und Weischenberg 1998, S. 42). Journalismus wurde erstmals als ein soziales Verhältnis erkannt und nicht mehr als teilnehmende Personen, d. h. Journalisten, verstanden (vgl. Raabe 2005, S. 50). In Anlehnung an die funktional-strukturelle Systemtheorie Niklas Luhmanns verwendete Rühl (1969) das Konzept der System-Umwelt als Ordnungsgrundnorm für eine Theorie des Journalismus und der Kommunikationswissenschaft (ebd.). Daraus versteht man Journalismus als „soziales (Teil-)System innerhalb des funktional ausdifferenzierten Gesellschaftssystems“ (Raabe 2005, S. 50), das nach charakteristischen System-Umwelt-Verhältnissen betrachten werden sollte und wie andere Systeme wie Politik oder Kultur besondere Funktionen und Leistungen für die Gesellschaft zeigt. Die Primärfunktion des Journalismus sei, „Themen für die öffentliche Kommunikation herzustellen und bereitzustellen“ (Rühl 1980, S. 129). In diesem Kontext entstehen redaktionelle Entscheidungen und Handeln aus der fortwährenden Beziehung mit ihrer sozialen Umwelt. Kurz ausgedrückt werden Redaktionen „anhand von Sytem/Umwelt-Modellen rekonstruiert“ (Rühl 1989, S. 260). Rühl sah den Fortschritt des im früheren Abschnitt erwähnten kybernetischen Ansatzes der Gatekeeper-Forschung darin, dass redaktionelles Handeln nicht mehr auf dem Level „sozial isolierter Einzelhandlungen“ betrachtet wird, sondern auf dem Level „der Redaktion als soziale[m] Handlungssystem“ (Rühl 1989, S. 259). Jedoch werde die Theorie der Kybernetik dem Autor zufolge bloß „strukturell“, gelegentlich nur „instrumentell“ eingesetzt. Redaktionen wurden nicht als Gesamtorganisationen diskutiert, um zahlreiche innere und äußere strukturierte Interaktionen zu verstehen. Anhand einer systemrationalen, präzise konzipierten Epistemologie sah der Autor Redaktionen als „funktional spezifisch organisiertes Interaktions- und Kommunikationsgeschehen“ (Rühl 1989, S. 260). Der Autor definierte in seiner Studie über die Zeitungsredaktionen den Zeitungsverlag als ein Umweltsystem der Zeitungsredaktion und mit diesem Verständnis fokussierte er seine Analyse auf entscheidende Prozesse der Newsrooms (vgl. Weischenberg 1994, S. 436). Newsrooms wurden erstmals in Zusammenhang mit bestimmten gesellschaftlichen Umwelten erfasst – d. h. in Beziehung zu den Quellen (Nachrichtenagenturen oder Korrespondenten), zu Medienunternehmen (Verlage, Institutionen), zur technologischen Ausrüstung, zur Reklame und
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Publicity, zur Rechtsordnung, zu Betriebsangehörigen (hinsichtlich nicht nur ihrer Eigenpersönlichkeit, sondern auch ihrer externen redaktionellen Sozialverhältnisse) und zuletzt zu den diffusen und überstimmenden Rezipienten. „‚Gegebene‘ Werte und Normen, Rollen und Ressorts, Genres und journalistische Arbeitstechniken werden nicht hingenommen, sondern sozialwissenschaftlich analysiert“ (Rühl 1989, S. 260). Von zentralem Interesse sind Aspekte der Redaktionsstrukturen, wie die erwarteten Handlungsweisen und die sogenannten Entscheidungsprogramme. Die Mitgliedsrolle ist in den Redaktionen ein wesentliches „Formalisierungskriterium“, das systeminterne und systemexterne Rollen ausdifferenziert (vgl. Weischenberg 1994, S. 437). Sieben redaktionscharakteristische Mitgliedsnormen, die mit Verhaltenserwartungen verbunden sind, wurden von Rühl (vgl. 1989, S. 260) pointiert: die Einverständnisse zu den Redaktionszielen, die Akzeptanz der Entscheidungsvorzugsrechte der Redaktionsführung, die Zustimmung der Informationsverarbeitung nach den Regeln des internen Entscheidungsprogramms, die individuelle Identifizierung mit den Redaktionsrichtlinien, die Ausschließung der Redaktionsangestellten bei der Konkurrenz, die Erhaltung der redaktionellen Diskretion bzw. Vertraulichkeit und die Beachtung und Orientierung an den presserelevanten Rechtsregulierungen (vgl. Rühl 1989, S. 260; vgl. Raabe 2005, S. 54). Die Mitgliedsrolle ist zentral für die Formalisierung der Redaktionen und sie tritt als Voraussetzung für die Übernahme weiterer Aufgaben innerhalb der redaktionellen Strukturen (vgl. Raabe 2005, S. 54) auf. Arbeitsrollen gelten als weitere formalisierte Verhaltenserwartungen in den Newsrooms, die jedoch innerhalb bestimmter Trennungslinien begreifbar sind. Ressorts sind als Subsysteme zu verstehen, die ihre journalistische Arbeit nach örtlichen (Lokales, Regionales oder Ausland) oder thematischen Trennungen (Politik, Außenpolitik, Internationales, Kultur) bestimmen. Darüber hinaus sind Volontariate und Redaktionskonferenzen in der Redaktionskultur als Zwischensysteme zu betrachten (vgl. Weischenberg 1994, S. 437). Zuletzt sind redaktionelle Entscheidungsprogramme das Fundament für spezifische Aktionen, die sich im Zentrum der alltäglichen redaktionellen Arbeitsroutinen befinden (vgl. Rühl 1989, S. 261; vgl. Weischenberg 1994, S. 437; vgl. Raabe 2005, S. 54). Rühl (vgl. 1989, S. 262) unterscheidet zwischen „Konditionalprogramm“ und „Zweckprogramm“. Das erste (Input-Programmierung) ist der Ausgangspunkt der redaktionellen alltäglichen Entscheidungen und bezieht sich auf Ereignisse aus der System-Umwelt. Oder wie Hafez (vgl. 2002a, S. 102) formuliert, geht es um allgemeine „Verhaltensschemata für Mitglieder der Redaktion“, die nur einige Arbeitsgrundlagen der Berichterstattung bestimmen. Dies bezieht sich auf informelle und flexible Entscheidungsbedingungen eines Newsrooms, sich gegenüber spezifischen
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Geschehnissen der Umwelt zu verhalten. Durch den Umweltimpuls entsteht eine Entscheidungsroutine. Eine wesentliche Komponente dieser Konditionierung sind die durch Sozialisation internalisierten Nachrichtenfaktoren und weitere typische Strukturen der Auslandsberichterstattung (vgl. Hafez 2002a, S. 102–103). Ob und wie ein Geschehnis dargestellt wird, ist insbesondere eine Frage der Erfahrung eines Newsrooms hinsichtlich eines bestimmten Ereignisses, d. h., ob eine thematische Tradition in der Redaktion vorhanden ist, was Hafez (ebd. S. 103) als „redaktionelles Gedächtnis“ beschreibt. Anders als das Konditionalprogramm, zeigt das output-orientierte Zweckprogramm eine „Wirkungsabsicht“ (Rühl 1989, S. 262) der Redaktion. Ein solches Output-Programm ist eng mit investigativem Journalismus und aufwendigen Ressourcen verbunden. Eine mögliche Wirkung wird dabei perzipiert, z. B. das Interesse, ein Thema ausführlich zu präsentieren oder vor der Konkurrenz zu veröffentlichen. Andere Zwecken sind ebenfalls zu berücksichtigen, wie z. B. die Absicht, der Öffentlichkeit die „Augen zu öffnen“ oder eine politische Revelation anzubieten (vgl. Raabe 2005, S. 55). Da das Verhaltensmuster hierbei nicht so deutlich im Vergleich zu dem Konditionalprogramm ist, lassen sich beide Modalitäten von Entscheidungsprogrammen kombinieren (ebd.). Im Fall der Auslandsberichterstattung orientieren sich die Redaktionen hinsichtlich des weltweiten Zweckprogrammes an einer möglichen Wirkung ihrer internationalen Berichterstattung. Dabei sind ideologische Komponenten – Rechts-Links-Orientierung (liberal, links, linksliberal, konservativ) oder internationalistische bzw. multikulturelle Weltbilder – zu berücksichtigen (vgl. Hafez 2002a, S. 102). In der internationalen Berichterstattung können Zweckprogramme der Redaktionen beispielsweise spezifische Frames, Stereotype und Feindbilder beeinflussen (ebd.). Obwohl die Konzeptualisierung der Zeitungsredaktion als organisiertes gesellschaftliches System Personen, Menschen und Individuen nicht in den Vordergrund der Analyse rückt, „[bleibt] die wechselseitige Beeinflussung zwischen Journalismus und Persönlichkeit ausdrücklich berücksichtigt“ (Rühl 1980, S. 356). Die notwendige theoretische Trennung zwischen dem System Journalismus und den journalistischen Akteuren wurde durch die Ausdifferenzierung des Sozialsystems und Personalsystems gewährleistet (vgl. Raabe 2005, S. 56). Anhand der System-Umwelt-Logik lässt sich Journalismus „nach sozialen und personalen Systemen (…) trennen“ (Rühl 1980, S. 355). Dies bedeutet, dass die „gleichen Kommunikationsprozesse sowohl der Persönlichkeit eines Individuums als auch dem Journalismus als Sozialsystem angehören können, und zwar gleichzeitig“ (Rühl 1980, S. 353). Um dieses Argument im Rahmen der Systemtheorie zu rechtfertigen, rekurriert Rühl auf die Ausdifferenzierung zwischen formalen und informellen Rollen (vgl. Rühl 1980, S. 272–286). Informelle Rolle bezeichnet
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flexible Verhaltungserwartungen, die bei Nichtberücksichtigung nicht unbedingt zu Sanktionen führen (vgl. Raabe 2005, S. 58). Informelles Rollenspezifikum – etwa Bier bei der Arbeit zu trinken, um das Beispiel von Rühl zu nennen – kann sogar toleriert werden (vgl. Rühl 1980, S. 285). Argumentiert wird, dass diese informelle Rolle das vorgesehene und erwartete journalistische Handeln maßgeblich beeinflussen kann. Allerdings könnte diese informelle Vorgehensweise die Ausübung formaler journalistischer Rollen nicht nur erschweren, sondern auch begünstigen. Rollenhandeln aus anderen sozialen Systemen gehört neben der Persönlichkeit von Journalisten zur Umwelt der Newsrooms (ebd.). Infolgedessen kristallisiert sich eine Wechselbeziehung zwischen Persönlichkeiten und Redaktionen heraus. Aus diesem Grund beobachtet Hafez (vgl. 2002a, S. 102), dass das ideologische Zweckprogramm einer Redaktion in einer intensiven Verbindung mit der redaktionellen Konsensbefähigung individueller Rollenverständnisse der Korrespondenten steht. Diese Perspektive der Redaktionsforschung, die sich an der Arbeit von Rühl orientiert, erhielt jedoch einige Vorwürfe. Die Kritik wendet sich insbesondere gegen die Systemtheorie und ihre eventuellen ideologischen Schlussfolgerungen, denn sie betrachtet keine Systemstruktur und ist nicht in der Lage, soziale Veränderungen und Umbrüche zu begründen (vgl. Scholl und Weischenberg 1998, S. 42). Die systemtheoretische Redaktionsforschung geht von einer hierarchischen Redaktionsstruktur aus und schließt daher Problematiken bezüglich Macht und Herrschaft in den Medienorganisationen aus (ebd. S. 43). Auch unter den Befürwortern der Nutzung der Systemtheorie bei der Redaktionsforschung findet man kritische Überlegungen. Es wird argumentiert, dass die Geschlossenheit der Perspektive von Rühl „auf Kosten der Realitätsnähe gehe“ (Scholl und Weischenberg 1998, S. 43), z. B. wenn der Autor zwischen Zeitungsverlagen und Zeitungsredaktionen unterscheidet. Daher schlugen andere Forscher offenere Systemdefinitionen vor. Bei seiner Bilanz über die Literatur der Redaktionsforschung aus einer internationalen Perspektive beobachtet Esser (vgl. 2005, S. 177), dass die deutschen Zeitungsredakteure eine vergleichsweise große Entscheidungsfreiheit besitzen und bloß wenige Organisationsbegrenzungen Einfluss auf ihren journalistischen Gestaltungsspielraum haben. Zudem sind sie meistens in der Lage, ihre Themenangebote zu verwirklichen. Obwohl die journalistischen Beiträge häufig gegengelesen werden, kommt eine institutionelle Kontrolle durch andere Redaktionsmitglieder fast nie zustande (ebd.). Darüber hinaus zeigen die deutschen Redaktionen ein „eher ganzheitlich-dezentralisiertes Organisationsprinzip“ (Esser 2005, S. 179) in der redaktionellen Arbeitsstruktur, während in den anglo-amerikanischen Nationen ein eher arbeitsteilig-zentralisierter Stil vorherrscht (ebd.). Basierend auf einer vergleichenden redaktionellen Beobachtung
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zeigte Esser (1998), dass das deutsche journalistische Konzept im Gegensatz zu den zentralen Arbeitsideen der Trennung von Nachrichten und Meinung und der redaktionellen Kontrolle des britischen Modells steht. Beide redaktionelle Strukturen sind von Vorteilen und Nachteilen gekennzeichnet. Das britische Modell dürfte im Allgemeinen mehr ausgeglichene und geprüfte Beiträge produzieren, obwohl die journalistischen Produkte der ersten Autoren bzw. der Reporter stark modifiziert werden. Andererseits sei das deutsche Modell qualitätsvoll und befriedigend für den Autor, aber es bestehe das höhere Risiko, durch eine stark subjektive Perspektive und mangelnde redaktionelle Qualitätskontrolle geprägt zu sein (vgl. Esser 1998). Wegen der historischen Wurzeln des deutschen Journalismus seien die deutschen Redaktionen meistens nach dem Selbstverständnis des Arbeitsfeldes organisiert. Das heißt, die journalistische Arbeit sei vorwiegend das Ergebnis einzelner Journalisten (vgl. Donsbach 2004, S. 104). Ein anderes Merkmal der deutschen Redaktionen sei die Rollenüberlappung zwischen den unterschiedlichen redaktionellen Aufgaben. Deutsche Redaktoren recherchieren, verfassen und produzieren Beiträge, sie sind für die endgültige Version verantwortlich und interpretieren eventuell die gleichen Geschehnisse in einem Meinungsbeitrag. Diese Rollen und Aufgaben sind normalerweise im angelsächsischen Journalismus scharf getrennt (ebd.). Aus diesem Grund beobachtet Esser (1998, S. 394): „Anglo Saxon journalism is often characterized as investigative whereas German journalism is referred to as agency and opinion oriented“. Für die Möglichkeit einer Verallgemeinerung der Redaktionsforschung (bzw. Berufs- und Mitgliedsrolle oder Formen der redaktionellen Kontrolle) plädiert man für internationale Vergleiche, in denen ähnliche Charakteristiken und Verhaltensmuster unter verschiedenen journalistischen Kulturen dokumentiert werden können. Bei ihrer Untersuchung der professionellen Orientierung von Nachrichtenredakteuren interviewten Donsbach und Patterson (vgl. 2003, S. 285) circa 1.360 Journalisten und Redakteure aus fünf Ländern – Deutschland, Großbritannien, USA, Schweden und Italien. Vergleichsweise zeigten deutsche Journalisten – wie andere Studien schon demonstrierten – die größte redaktionelle Freiheit. In anderen Ländern ist die redaktionelle Veränderung in den Beiträgen wegen Faktengenauigkeit, Publikumsgeschmack oder Ausgeglichenheit öfter an der Tagesordnung. Im Fall der vorliegenden Arbeit ist insbesondere die Beziehung zwischen Redaktionen und Auslandskorrespondenten sowie die Beziehung zwischen Redaktionen und Nachrichtenagenturen von Belang. Hafez (vgl. 2002a, S. 105) berücksichtigt die Auslandsberichterstattung ebenfalls als „organisiertes soziales System“ und betont, dass die Auslandskorrespondenten sich von den Nachrichtenagenturen unterscheiden, indem die Korrespondenten als Vertreter eines
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externen Newsrooms das Entscheidungsprogramm ihrer Redaktionen beachten sollen. Zwischen den Themenvorschlägen der Korrespondenten und den Redaktionserwartungen sollte ein bestimmter Grad von Übereinstimmung vorhanden sein, jedenfalls ein inhaltlicher „Mindestkonsens“ (Hafez 2002a, S. 106) hinsichtlich des Konditionalprogramms (Was möchte unsere Zeitung normalerweise darstellen?) und des Zweckprogramms (Was muss unsere Zeitung gerade berichten?) im Sinne Rühls. Die Präferenzen und Meinungen der Redakteure und Korrespondenten sollten in Einklang gebracht werden. Das Verhältnis zwischen Korrespondenten und Redaktionen ist von Verhandlungsspielräumen und unterschiedlichen Durchsetzungsfähigkeiten geprägt, daher sind soziale Konflikte eine typische Komponente der Auslandsberichterstattung (ebd.). Studien zeigen jedoch, dass die Steuerungsmöglichkeit der Redaktionen bei der Auslandsberichterstattung weniger eingesetzt wird und die Korrespondenten bei der Themenauswahl und -darstellung eine relative Freiheit besitzen (vgl. Hafez 2002a, S. 106). Andererseits muss berücksichtigt werden, dass die Korrespondenten sehr wahrscheinlich die Redaktionserwartungen bzw. deren Entscheidungsprogramme beachten und ihre Themen dementsprechend präadaptiert vorschlagen (ebd.). In den nächsten Abschnitten werden zunächst zwei wesentliche Elemente der Auslandsberichterstattung näher betrachtet: die Korrespondenten und ihre Rollenkonzepte sowie der Einfluss der internationalen Nachrichtenagenturen.
2.8.3 Die Auslandskorrespondenten und deren berufliche Selbstverständnisse: eine Mikroebenenanalyse Die internationalen Korrespondenten berichten aus fremden Nationen und tragen zu unserer Wahrnehmung anderer Völker und Kulturen bei, wie schon in früheren Abschnitten diskutiert wurde (vgl. Junghanns und Hanitzsch 2006, S. 412). Vor allem in der Zeit, in der Krise herrscht, wird den Auslandskorrespondenten eine bedeutende Einflusskraft zugeschrieben. Infolgedessen nehmen sie eine Schlüsselstellung in der öffentlichen Kommunikation von Auslandsereignissen ein (ebd.). In diesem Kapitel wird in einer Mikroperspektive diskutiert, wie Korrespondenten die Rolle der Presse bei der Gestaltung der Außenpolitik verstehen. Bernard Cohen (1963) beschrieb in seinem Buch „The Press and Foreign Policy“ Auslandskorrespondenten in Washington als „cosmopolitans among cosmopolitans, a man in gray flannel who ranks very high in the hierarchy of reporters“ (Cohen 1993 [1963], S. 17). Fast 40 Jahre später plädierten Hamilton und Jenner (vgl. 2004, S. 313–314) angesichts der großen Veränderungen der
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Mediensysteme, der neuen ökonomischen Zwänge und der Kommunikationstechnologien für eine neue Korrespondententypologie. Die Autoren sehen den aktuellen Wandel nicht als „Aussterben“ der Auslandskorrespondenz, sondern als „Evolution“. Während die aktuelle Medienumgebung die Tätigkeiten der traditionellen Korrespondenten erschwert, erleichtert dies die Verbreitung anderer Arten von Auslandskorrespondenten (vgl. Hamilton und Jenner 2004, S. 303). Die Wissenschaftler differenzieren zwischen acht Korrespondententypen im Rahmen der US-amerikanischen Auslandskorrespondenz: → Traditionelle Auslandskorrespondenten: Trotz ökonomischen Aufwands werden die traditionellen Korrespondenten nicht verschwinden. Sie werden weiter für überregionale Medienorganisationen und Nachrichtenagenturen arbeiten, jedoch als Teil einer wachsenden Korrespondentenstruktur. In der vorliegenden Arbeit geht es um die Festkorrespondenten der überregionalen Presseorgane (SZ, FAZ und Der Spiegel) und die freien Autoren, die regelmäßig für die taz berichten. → Fallschirmjournalist (parachute journalist): Sie sind die erste Option, wenn Medienorganisationen über große und relevante ausländische Ereignisse berichten müssen. Wenn ein Schlüsselereignis stattfindet, werden Reporter vorübergehend in das Gebiet gesendet, um darüber zu berichten. „Embedded“ Journalisten gehören hierzu. Diese Strategie soll die Kosten der Auslandsberichterstattung für nationale Medien senken. Obwohl das Vorgehen einen schlechten Ruf hinsichtlich der journalistischen Qualität hat, kann diese Strategie den Autoren zufolge den Umfang an Auslandsberichterstattung erhöhen. Bei der Analyse der Autorenschaft der Lateinamerika-Berichterstattung wurde in der vorliegenden Arbeit die Kategorie „reisender Journalisten“ einbezogen, die besondere Aufgaben in der Region bekommen, meistens Reiseberichte. In der Regel werden die eigenen Korrespondenten von Buenos Aires oder Rio de Janeiro in Krisengebiete, bspw. Haiti und Venezuela gesendet. → Ausländische Auslandskorrespondenten. Nach einer traditionellen Sichtweise sind die eigenen US-Amerikaner am besten geeignet, die Augen und Ohren der US-amerikanischen Öffentlichkeit im Ausland zu sein. Jedoch bieten ausländische Auslandskorrespondenten immer mehr Auslandsnachrichten für die Amerikaner, denn die zunehmende Globalisierung reduziert die kulturelle und berufliche Kluft, die damals das Hauptargument für die Entsendung von Landsleuten war. Ein paar freie deutsche Korrespondenten in Lateinamerika schreiben ebenfalls für Zeitungen aus der Schweiz oder Österreich.
2.8 Entstehungsbedingungen der Auslandsberichterstattung
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→ Lokale Auslandskorrespondenten. Die nationalen Grenzen werden bezüglich verschiedener Themen – von Kultur und Wirtschaft bis zu Einwanderung und Umweltzerstörung – porös. Verschiedene ausländische Einrichtungen und Organisationen können regionale/lokale Ortschaft erreichen. Daher kann eine lokale Geschichte manchmal internationale Auswirkungen haben. Was die Autoren hier beschreiben, ist ähnlich zu dem Konzept der „Foreign News at Home“. Lateinamerikanische Organisationen sind in der Lage, Kontakt mit den Mutterredaktionen in Deutschland aufzunehmen oder sich am Ereignis innerhalb Deutschlands zu beteiligen. → Ausländischer Lokalkorrespondent: Der Korrespondent hier ist kein Amerikaner. Dieser Journalist arbeitet und berichtet für eine internationale Nachrichtenorganisation, deren Produkte global im Internet oder über Satelliten zur Verfügung stehen. Die Wissenschaftler argumentieren, dass ein Reporter in New Delhi, der für Times of India arbeitet, genauso eine potenzielle Informationsquelle ist wie ein Reporter einer Nachrichtenagentur. Bei der vorliegenden Arbeit kann man sich gut vorstellen, dass Reporter der spanischen Zeitung El País oder der CNN (in spanischer Sprache) von deutschen Korrespondenten in Lateinamerika geachtet werden. → In-House-Auslandskorrespondent bezieht sich auf interne Korrespondenz von globalen Großunternehmen. Heutzutage erleichtert das Internet diese Art internationaler Kommunikation. Für diese Dissertation spielt diese Kategorie keine Rolle. → Premium-Service-Auslandskorrespondent: Diese Kategorisierung beschreibt die Arbeit der globalen Nachrichtenagenturen wie Bloomberg oder Reuters für diejenigen, die in der Lage sind, dafür zu bezahlen. Trotz der Strategie der Fallschirmkorrespondenten sind die Redaktionen auf konsistente Nachrichten und Informationen aus fernen Gebieten noch angewiesen. Der Einfluss der Nachrichtenagenturen bei der Themensetzung der L ateinamerika-Berichterstattung ist außerordentlich wichtig und wird im nächsten Abschnitt analysiert. → Amateurkorrespondent: Hier geht um die Korrespondenten bzw. Journalisten ohne Fachkenntnisse. Jede Person kann Nachrichten im Internet veröffentlichen, denn Weblog-Software erleichtert erheblich die Produktion und Zusammenarbeit von Amateuren. Es handelt sich um unausgebildete „Journalisten“, die über internationale Ereignisse im Internet berichten (vgl. Hamilton und Jenner 2004, S. 313–314). Diese Typologie von Hamilton und Jenner berücksichtigt in der Regel die Standorte, Nationalität, Professionalisierung und Mediengattung der Korrespondenten in der Zeit zunehmender Globalisierung. Jedoch scheint es auch sinnvoll, die
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2 Theoretische Hintergründe
Konzeptualisierung der Auslandskorrespondenten anhand der Definition ihrer Rolle festzulegen (vgl. Junghanns und Hanitzsch 2006, S. 415). Dabei ist die organisatorische Ausdifferenzierung zwischen „Arbeits- und Berufsrolle“, die von Rühl (vgl. 1989, S. 255) präferiert wurde, wesentlich. Arbeitsrolle bezieht sich auf die Realität der journalistischen Tätigkeit, die durch organisatorische Zwänge determiniert wird (Arbeitswirklichkeit). Die Berufsrolle beschreibt ein idealtypisches Rollenkonzept des journalistischen Berufes. „Der Begriff […] reicht über die konkrete journalistische Arbeitstätigkeit hinaus und reflektiert auf die Profession als solche“ (Junghanns und Hanitzsch 2006, S. 416). Ein bedeutsames Merkmal in diesem Kontext ist das berufliche Rollenselbstverständnis von Korrespondenten, d. h. ihr Rollenkonzept. Die Erforschung des beruflichen Selbstverständnisses von Korrespondenten wurde von Cohen (1963) stark geprägt. Er war einer der ersten Wissenschaftler, der eine Typologie journalistischer Rollen zur Diskussion stellte (vgl. Donsbach und Patterson 2003, S. 298). Der Autor unterscheidet zwischen dem neutralen Reporter und dem Reporter als „Mitgestalter der Außenpolitik“. Die „neutrale Rolle“ (vgl. Cohen 1993, S. 22–30) bezieht sich auf die Bereitstellung von Sachinformationen über globale Angelegenheiten. Je besser die Presse Informationen über Außenpolitik vermittelt, desto besser ist die Fähigkeit der Öffentlichkeit, sich kritisch über internationale Fragen ein Urteil zu bilden. Bezüglich der Presseverantwortung gegenüber der Öffentlichkeit gehört nicht nur die neutrale Übermittlung von sachlichen Informationen zu den Medienaufgaben, sondern auch das Interpretieren. Obwohl die Rolle der Presse als „Übersetzer der Außenpolitik“ ein Urteil über die Bedeutung von internationalen Ereignissen impliziert, sehen die Reporter diese Pressefunktion Cohen zufolge als eine notwendige Komponente der Nachrichtenverbreitungsprozesse an. Die Korrespondenten unterscheiden zwischen Interpretation und Erklärung einerseits und redaktionellen Standpunkten (editorializing) andererseits. Die Rolle der Interpretation/des Übersetzers wurde wegen der zunehmenden Komplexität der Außenpolitik und der technologischen Entwicklung der Massenkommunikation immer notwendiger. Noch unter der neutralen Rolle klassifiziert Cohen (1963) die Presse als „Instrument der Regierung“, denn je „neutraler“ die Presse ist, desto leichter lässt sie sich vom Regierungsapparat instrumentalisieren. „Die Neutralitätsnorm eignet sich […] auch zur Manipulation“ (Hafez 2002a, S. 79), denn die Regierungen benutzen mittels Öffentlichkeitsarbeit oder Propaganda die Medien und die Nachrichtenagenturen, um ihren außenpolitischen Standpunkt zu festigen. Bei der Klassifizierung der Reporter als „Teilnehmer oder Mitgestalter der Außenpolitik“ stellte Cohen (1993, S. 31–47) weitere vier Rollenbilder dar. Bei
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der Rolle des „Repräsentanten der Öffentlichkeit“ versteht man die Presse als die Stimme der Öffentlichkeit in Bezug auf Fragen der Außenpolitik. Die Teilnahme der Presse an den politischen Diskursen lässt sich durch das moderne Verständnis politischer Partizipation rechtfertigen. Ein weiteres von Cohen beschriebenes Rollenbild ist die Presse als „Regierungskritiker“. Dieses Rollenkonzept ist eng mit der Überwachung, Beobachtung und Deutung der Regierungstätigkeit verbunden, es bezieht sich auf die „Watchdog“-Pflicht der Presse, zu verhindern, dass die Regierung ihre Grenzen überschreitet. Diese kritische Haltung lässt sich auf zwei Ebenen definieren – die Kontrolle von Machtüberschreitungen der Regierung (willkürliche Verfahren) oder (falscher) Richtlinien bzw. Hauptlinien der Außenpolitik. Laut Cohen sehen fast alle Korrespondenten und Journalisten in den USA die Rolle des Kritikers als positiv an. Bei den deutschen Korrespondenten ist dieses Selbstverständnis nicht dominant (vgl. Junghanns und Hanitzsch 2006), wie im nächsten Abschnitt diskutiert wird. Für Cohen ist das Selbstbild des „Kritikers der Außenpolitik“ eng mit der Rolle des „Advokats der Außenpolitik“ verbunden, so dass ihre Unterscheidung öfter absichtlich geschieht. Eine Kritik an einer spezifischen Politik bringt eine Vorabempfehlung für eine alternative Handlungsweise mit sich. Die Verflechtung oder sogar die Vereinigung aller dieser Rollen erfasst Cohen durch das Konzept der Presse als Entscheidungsträger der Außenpolitik, d. h., sie nimmt an politischen und Entscheidungsprozessen teil. „This is by no means a minority viewpoint; foreign affairs correspondents generally perceive and accept this role for the press, even when they do not define their own effort in these terms“ (Cohen 1993, S. 39), beobachtet der Wissenschaftler im Rahmen seiner Forschung anhand der Befragung von US-amerikanischen Politikern und Journalisten. Anders als Cohen (1963) zogen Donsbach und Patterson (vgl. 2003, S. 298– 300) zwei Dimensionen in die Messung ein, um die Rollenverständnisse von Nachrichtenjournalisten aus fünf Ländern entsprechend zu ermitteln. Es wurde zwischen „neutralem“ oder „anwaltschaftlichem“ als erster Dimension und „aktivem oder passivem“ Rollenbild als zweiter Dimension ausdifferenziert. Die passiven Journalisten bzw. Korrespondenten sind als „reine Vermittler“ der Haltung politischer und anderer gesellschaftlicher Akteure (Regierungsvertreter, Parteichef) zu verstehen. Sie reproduzieren mehr oder weniger passiv die bevorzugten Themen dieser Akteure. Andererseits profitieren die aktiven Journalisten aus eigenen Recherchen, unabhängig von der thematischen Präferenz der gesellschaftlichen Akteure. Die Abgrenzung zwischen der neutralen und anwaltschaftlichen Rolle hängt mit der eigenen Perzeption der Journalisten als politische Akteure zusammen. Typisch für die neutralen Kommunikatoren ist die
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2 Theoretische Hintergründe
„distanzierte“ und ausgewogene Berichterstattung bei der täglichen Praxis, d. h. abgesehen von Ausnahmefällen von korrupten oder terroristischen Herrschaften. Jede Form von Parteinahme wird abgelehnt. Andererseits zeigen die anwaltschaftlichen Journalisten deutliche politische Haltungen. Beispiel dafür ist, „wenn er […] erkennbar für die Interessen einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe eintritt oder einer Ideologie das Wort redet“ (Donsbach und Patterson 2003, S. 299). Ausgehend von den erwähnten Definitionen stellten die Wissenschaftler vier Rollenkombinationen vor: → „Passiv-neutral: neutrale Vermittler, Mediatoren, Makler, mirror, common carrier usw. → Passiv- anwaltschaftlich: hack reporter, partisan press usw. → Aktiv-neutral: Spürhund, watchdog, vierte Gewalt, adversary usw. → Aktiv- anwaltschaftlich: Ideologen, Missionare, Interpretatoren usw“ (Donsbach und Patterson 2003, S. 300). Bei der Anordnung der Rollenpositionen der Nachrichtenjournalisten aus Italien, Großbritannien, den Vereinigten Staaten, Deutschland und Schweden tendieren die deutsche Presse und der Rundfunk zu der anwaltschaftlich-aktiven Rolle. Die deutschen Journalisten nehmen die erste Position der anwaltschaftlichen Tendenz und die zweite Stelle (nach Schweden) der aktiven Disposition (ebd.) ein. Bei seiner Studie über die deutschen Korrespondenten in Afrika identifizierte Mükke (vgl. 2009, S. 181) zehn relevante Rollenverständnisse: die „informatorische“, „vermittelnd-analytische“ Rolle, die „Rolle des Dolmetschers zwischen den Kulturen“, die „anwaltschaftlich-missionarische“ Rolle, die Rolle „des Diplomaten und Politikers“, des „redaktionellen Managers“, des „Themenmaklers“, des „Provokateurs“, des „Reporters“ und des „investigativen Journalisten“. Der Autor kam zum Schluss, dass 80 % der befragten deutschen Korrespondenten sich mit der „vermittelnd-analytischen“ Rolle identifizieren, jeweils 70 % mit den Bildern des Kulturdolmetschers und des Themenmaklers, 66 % mit dem Konzept des „Reporters“ und 60 % mit der Rolle des „Informators“ (vgl. Mükke 2009, S. 181– 182). Eine andere Untersuchung von Nafroth (vgl. 2002, S. 231) zeigte, dass die deutschen Korrespondenten in Japan sich nicht nur als neutrale Vermittler, sondern auch als Dolmetscher sehen, die eine fremde Kultur erklären und interpretieren. Im nächsten Abschnitt werden die deutschen Korrespondenten und ihre Rahmenbedingungen in Lateinamerika näher betrachtet.
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2.8.4 Die deutschen Korrespondenten weltweit und in Lateinamerika Die Arbeit von Junghanns und Hanitzsch (2006) beschäftigte sich mit dem Profil der deutschen Auslandskorrespondenten weltweit, unabhängig von ihren Berichterstattungsgebieten. Die Wissenschaftler stellten eine explorative und deskriptive Berufsanalyse anhand von Online-Interviews von 176 Auslandskorrespondenten, die aus der ganzen Welt für deutschen Medien tätig sind, zusammen. Sie kamen zu dem Schluss, dass die Auslandskorrespondenten – überwiegend Männer – durchschnittlich älter und erfahrener sind im Vergleich zu ihren Redaktionskollegen in Deutschland. Noch interessanter ist der Befund des „Eurozentrismus der Nachrichtengeografie“ (Junghanns und Hanitzsch 2006, S. 421). Bloß 5,7 % des deutschen Korrespondentennetzes befindet sich in Lateinamerika, hinter Asien (11,4 %) und Afrika (6,3 %). Die Mehrheit der deutschen internationalen Berichterstatter ist in Europa (44,9 %) und im Nahen und Mittleren Osten (als Krisengebiet angesehen) ansässig. Vor allem sind Afrika, Lateinamerika und Australien/das pazifische Territorium ausgedehnte Berichterstattungsregionen, in denen die Korrespondenten meistens aus Nairobi, Rio de Janeiro oder Melbourne berichten. Darüber hinaus kümmern sich 9 % der Befragten um mehr als zwanzig Länder und 16 % um elf bis zwanzig Nationen. Bloß 17 % der Korrespondenten berichten über ein einziges Land, meistens diejenigen, die in Europa oder in den USA ansässig sind (ebd.). Hinsichtlich des beruflichen Selbstverständnisses dominiert unter den deutschen Korrespondenten die Rolle der verständigungsorientierten neutralen Informationsvermittler (ebd. S. 422). Ihre Rollenbilder basieren auf Kontextualisierung und Einordnung der globalen Ereignisse, sowie auf kulturelle Verständigung (ebd. S. 426). „Ein solches, eher interventionistisches Rollenverständnis weist den Auslandskorrespondenten eine aktive Rolle bei der Prägung der Auslandswahrnehmung sowie bei der Herstellung von Problembewusstsein und dem Abbau von Vorurteilen zu“ (Junghanns und Hanitzsch 2006, S. 426). Das spezifische Rollenselbstverständnis deutschsprachiger Korrespondenten in Lateinamerika wurde von Lange (2002) anhand 25 qualitativer Interviews vor Ort untersucht. Die Befunde ihrer Magisterarbeit zeigten, dass alle befragten Auslandskorrespondenten das Ziel haben, vornehmlich „komplexe Sachverhalte zu erklären und zu vermitteln“ und „neutral und präzise zu informieren“. Zudem versteht sich die Mehrheit der Befragten (84 %) als „Mittler zwischen Kulturen“ bzw. „Kulturdolmetscher“ (72 %), die den Kontext der Geschehnisse zeigen und unter die Lupe nehmen, Fakten einschätzen und dem Publikum eine ersichtliche Erklärung geben. Der Zweck der Korrespondenten im Allgemeinen ist, nicht nur „Realität und ihre
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2 Theoretische Hintergründe
Widersprüche“, sondern auch „Alltag und Lebenswelt“ zu beschreiben sowie „Klischees und Stereotypen“ entgegenzuwirken, um ein anderes LateinamerikaImage darzustellen (vgl. Lange 2002, S. 108–109). Drei Viertel der Befragten lassen sich als vermittelnd-erklärend kategorisieren80. Die für diese Dissertation interviewten Lateinamerika-Korrespondenten81 formulierten ebenfalls ihre berufliche Rolle vornehmlich als „Übersetzer“ und „Erklärer“. Der SZ-Korrespondent beschrieb seine Rolle als „Erzähler, Erklärer, Chronist“ (Burghardt 2018). Seine Vorgängerin sagte, sie „wollte über die Politik und Wirtschaft informieren, die kulturellen Unterschiede vorstellen und erklären, Wirklichkeit abbilden“ (Karnofsky 2018). Oder in den Worten des FAZ-Mitarbeiters: „Der Korrespondent hat für mich die Aufgabe, eine Art Dolmetscher oder Mittler zwischen seiner Herkunfts- und seiner Gastregion zu sein. Mir ging es darum, die bisweilen schwer verständlichen politischen Vorgänge in den einzelnen Staaten zu analysieren und zu interpretieren und die Verschiedenartigkeit der lateinamerikanischen Länder, nicht zuletzt durch die Beschreibung des Alltagslebens unter Berücksichtigung wirtschaftlicher, historischer oder kultureller Aspekte darzustellen. Meine Tätigkeit als exklusiv für meine Zeitung arbeitender, entsandter Korrespondent erlaubte es mir, über den relativ langen Zeitraum von 15 Jahren Entwicklungen kontinuierlich zu beobachten. Das war ein entscheidender Vorteil gegenüber Kollegen, die nur kurze Zeit, meist aus aktuellen Anlässen und oft ohne Sprach- und Landeskenntnisse in lateinamerikanische Länder reisten. Leider haben immer mehr Redaktionen aus Sparzwang ihren festen Korrespondentenposten in Lateinamerika geschlossen und begnügen sich mit Berichten freier Journalisten oder von Nachrichtenagenturen“ (Oehrlein 2018)
80Bei
einer Tagungsbilanz in den 80er-Jahren – Deutschland und Lateinamerika: Imagebildung und Informationslage – identifizierte Quandt (1987) drei journalistische Positionen unter den teilnehmenden deutschen Korrespondenten/Journalisten: a. „die subjektivistischideologische, die Objektivität und repräsentative Vollständigkeit ablehnt“, b. „die interessenbezogene-sachorientierte, die den Bezug auf das eigene Wertsystem bejaht, aber Objektivierung und repräsentative Vollständigkeit anstrebt“, c. „die deskriptiv-vermittelnde, die sich normativ zurückhält, Objektivität und repräsentative Vollständigkeit betont“ (Quandt 1987, S. 138). 81Ziel der Interviews bei der vorliegenden Arbeit war es, die Korrespondenten als Experten zu hören, um die Interpretation der inhaltsanalytischen Daten zu vertiefen. Die Gespräche haben keinen Anspruch auf eine repräsentative Analyse der Gatekeeper-Position, Arbeitsrealitäten oder Selbstbilder der Korrespondenten wie die klassischen Gatekeeper-Studien (vgl. Lange 2002; vgl. Junghanns und Hanitzsch 2006; vgl. Wienand 2008). Trotzdem tauchen während der Dialoge Aussagen und Diskussionen über die Tätigkeiten der Korrespondenten auf, die zur Untermauerung des Arguments dieses Abschnittes beitragen können (vgl. methodische Vorgehensweise).
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Aber in welchem Maß die Korrespondenten in der Lage sind, solche Selbstverständnisse zu verwirklichen, hängt mit der Frage ihrer Gatekeeper-Position zusammen. Lange (2002) konstatierte eine eher schwache Gatekeeper-Position unter den Korrespondenten in Lateinamerika. Gründe dafür seien die Trends im Zuge der Globalisierung, wie das generell reduzierte Interesse an Auslandsberichterstattung und die deutlich sichtbare Neigung zur „Nabelschau“ und zur „Provinzialisierung“ der Medieninhalte (ebd. S. 110). Darüber hinaus reduzieren die Auswahlkriterien der Abnahmeredaktionen in Deutschland den Einfluss bzw. die Gatekeeper-Position der Korrespondenten, obwohl 90 % der Befragten zugaben, ihre eigenen Themen selbständig vorzuschlagen. Lange argumentiert, dass das winzige Interesse an Lateinamerika und die Präferenz des Nachrichtenfaktors „Negativismus“ dazu führen, dass die Korrespondenten es als sehr leicht empfinden, den Redaktionen Themen zu Krieg, Krisen, Katastrophen und Wahlen anzubieten, und es für kompliziert halten, Hintergründe und komplexe Zusammenhänge unterzubringen (ebd. S. 109). Eine starke Gatekeeper-Position hätten die Korrespondenten bei nicht tagesaktuellen Themen. Andererseits nehmen sie die Kriterien der Mutterredaktion schon wahr – drei Viertel sagen, dass sie bei der Themenauswahl den Faktor „deutscher Bezug“ direkt oder indirekt beachten, denn er ist ein gutes Verkaufsargument. Eine neuere Befragung von 14 deutschen Korrespondenten in Südamerika wurde von Wienand (2008) erneut durchgeführt. Die Korrespondenten waren entweder in Argentinien (sieben aus Buenos Aires) oder in Brasilien (vier aus Rio de Janeiro, zwei aus São Paulo und einer aus Porto Alegre) ansässig82. Normalerweise ist ein Korrespondent in der Region, wie schon bei anderen Studien gezeigt wurde, für den gesamten Subkontinent verantwortlich. Darüber hinaus schicken – neben den öffentlich-rechtlichen Rundfunksendern – nur die großen Titel wie Der Spiegel, Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Allgemeiner Zeitung und noch die dpa (vgl. Wienand 2008, S. 325) Korrespondenten in die Welt, was das Sample
82Für
die vorliegende Dissertation wurden die deutschen Botschaften in unterschiedlichen Ländern Lateinamerikas und das Zentrum der internationalen Presse in Kuba online kontaktiert. Nach der Auswertung der Liste der Korrespondenten, die in Lateinamerika von 2000 bis 2014 tätig waren, bemerkt man ebenfalls eine große geografische Konzentration auf Brasilien und Argentinien. Unabhängig von Arbeitsverhältnissen (frei oder fest) und Mediengattung (Presse oder Rundfunk) waren im Lauf der 15 Jahre folgende Kommunikatoren in der Region anwesend: 26 Journalisten in Argentinien/Buenos Aires (nur einer in Cordoba); 25 in Brasilien (17 in Rio, einer in Porto Alegre, 2 in Salvador und 5 in São Paulo), sieben in Kuba, drei in Ecuador, drei in Mexiko, drei in Peru und einer in El Salvador.
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2 Theoretische Hintergründe
der vorliegenden Arbeit erklärt (vgl. Methodische Vorgehensweise). Laut dem von Wienand interviewten Korrespondenten sei Südamerika ein „stark angebotsorientierter Standort“. Ihre Auswahlentscheidung beruhe auf zwei Kriterien, nämlich dem eigenen Interesse und dem antizipierten Vorhaben der Redaktionen. Politik, insbesondere die Innenpolitik Lateinamerikas, muss eine brennende Aktualität aufweisen, um als interessant für Deutschland wahrgenommen zu werden (ebd. S. 329). Zudem „haben sich mit dem venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez und seinem bolivianischen Kollegen Evo Morales zwei Personen etabliert, die die Politik auch nach dem Tod des chilenischen Diktators Augusto Pinochet wieder personalisierbar machen“ (Wienand 2008, S. 329). Nach der Wissenschaftlerin seien die Freiräume und die zahlreichen Auswahlmöglichkeiten an Themen die Anziehungskraft Lateinamerikas. Das Ziel der Korrespondenten bleibt immer noch, Stereotypvorstellungen der Rezipienten und der Redaktionen entgegenzuwirken, um ein möglichst komplettes und wirklichkeitsnahes Bild des Kontinents zu vermitteln (ebd. S. 334). Viele Korrespondenten beobachten außerdem unterschiedliche lokale südamerikanische Medien, um besser informiert zu sein. Unter den wichtigsten sind die argentinischen Tageszeitungen El Clarín und La Nación, die brasilianische O Globo aus Rio de Janeiro, Estado de São Paulo und Folha de São Paulo. Nachrichtenmagazine – bzw. Epoca, Carta Capital oder Veja – werden ebenfalls beachtet. Eine erste Orientierung erhielten die Korrespondenten außerdem aus dem Fernsehsender CNN (Spanisch) und den L ateinamerika-Internetseiten der BBC (vgl. Wienand 2008, S. 330). Aber nach Meinung der von Lange (2002) befragten Korrespondenten orientieren sich die Zentralredaktionen doch häufig an den Angeboten bzw. Themenstrukturierungen der Nachrichtenagenturen. Über den Einfluss solcher Agenturen auf das Bild Lateinamerikas und ihre Beziehung mit den Redaktionen wird zunächst als Letztes diskutiert.
2.8.5 Steuerung der Auslandsberichterstattung durch externe Informationsquellen: der Einfluss der Nachrichtenagenturen83 Die internationalen Nachrichtenagenturen haben zu der Schaffung der Kommunikationsinfrastruktur, d. h. der Produktion und globalen Verbreitung
83Dieses
Unterkapitel basiert teilweise auf den entsprechenden Textteilen meiner veröffentlichten Masterarbeit (vgl. Cazzamatta 2014, S. 60–65).
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von Informationen, und zur Entwicklung einer internationalen Kommunikationsverflechtung erheblich beigetragen und werden daher als ein fundamentaler Akteur des Globalisierungsprozesses angesehen. Seit der Entdeckung des Telegraphen, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das erste Instrument für globale Kommunikation wurde, haben die internationalen Agenturen weltweit den diskursiven Stil und Prinzipien des westlichen Journalismus verbreitet (vgl. Bielsa 2008, S. 18). Bei ihrer neuen Bewertung der Rolle der Nachrichtenagenturen des globalen Nachrichtenflusses merkten Boyd-Barret und Rantanen (vgl. 2004, S. 31) an, dass der Umfang der Agenturnachrichten im Vergleich zu früheren Studien der 80er-Jahre erstaunlich gestiegen war. Verglich man dies mit den Daten der Forein News Study (vgl. Sreberny-Mohammadi und Grant 1985), erhöhte sich das Volumen der Agenturmeldungen von 222 Geschichten pro Tag auf Millionen Worte pro Tag (ebd.). Studien der 90er-Jahre zeigten, dass Nachrichtenagenturen eine weitere bedeutende – sogar dominante – Quelle für internationale Medienorganisationen waren (vgl. Boyd-Barret und Rantanen 2004, S. 33). Anzumerken ist, dass die Bedeutung der Agenturen manchmal bei inhaltsanalytischen Medienstudien unterschätzt wird, denn es wird normalerweise nur der Prozentanteil berücksichtigt, der im Beitrag tatsächlich Nachrichtenagenturen als Quellen des Textes angibt (ebd. S. 34). Aber auch wenn die Nachrichtenagenturen nicht unbedingt als erste Quellen genutzt werden, haben sie eine wichtige sekundäre Funktion. Sie orientieren und strukturieren im Hintergrund die Themenagenda der Medien. Durch das Internet und die Entstehung der kontinuierlichen Satelliteninformationskanäle wie CNN, BBC oder Al Jazeera verändert sich die Konjunktur des Marktes, in dem die Agenturen operieren (vgl. Boyd-Barret und Rantanen 2004; vgl. Wilke 2007; vgl. Bielsa 2008). Das Internet bietet heutzutage einen einfacheren Zugang zu den nationalen Nachrichtenmedien unterschiedlichen Länder, was für kleinere regionale Medien genügend sein kann. Darüber hinaus ist die frühere Unterscheidung von Boyd-Barrett zwischen „retail“- (an die Öffentlichkeit gerichtete Medienorganisationen) und „wholesale“-Medien (die Nachrichtenagenturen) nicht mehr ganz deutlich (vgl. Bielsa 2008, S. 16). Einerseits haben die Medienorganisationen leichten Zugang nicht nur zu den kontinuierlichen Satelliteninformationskanälen, sondern auch zu den lokalen Medien anderer Länder durch das Internet. Andererseits geben die Nachrichtenagenturen heutzutage Nachrichten direkt an die Öffentlichkeit, was eine Vermischung der Grenzen und Märkte zwischen den Nachrichtenagenturen und anderen Medien darstellt. Trotz dieser neuen Rolle als direkter Nachrichtenanbieter sind die Nachrichtenagenturen noch die relevanteste Ausrichtung der globalen Kommunikation. Ihre Schlüsselfunktion ist immer noch durch ihre versteckte oder indirekte
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Rolle als Nachrichtengroßhändler gekennzeichnet, die Informationen an andere Medienorganisationen auf dem Globus senden (vgl. Bielsa 2008, S. 18). Diese Rolle der Agenturen im Hintergrund der Nachrichtenproduktion – auch wenn sie durch Satellitenfernsehen und Internet ein bisschen relativiert worden ist – könnte zur Deformation der Auslandsberichterstattung führen. Das im früheren Abschnitt erwähnte eingeschränkte Korrespondentennetz, z. B. in Lateinamerika, und die starke Orientierung an Nachrichtenagenturen führen zu einer Homogenisierung der Berichterstattung – „What I see mainly is the overwhelming Euro-American dominance of global news flow: new initiatives come either from established players, or from the USA“ (Boyd-Barrett 2000, S. 12). Im Laufe des Konzentrationsprozesses und der Deregulierung der Kommunikationskanäle geriet die US-amerikanische UPI in die Krise und verlor erheblich an Bedeutung. Seitdem sind die britische Agentur Reuters, die US-amerikanische AP und die französische AFP die drei Global Player der internationalen Kommunikation (vgl. Bielsa 2008, S. 15). In Deutschland ist die dpa der breite Basisdienst mit der großen Kundschaft (vgl. Wilke 2007, S. 352). Die Deutsche Presse-Agentur bietet im Vergleich zu den großen Drei die größte Palette journalistischer Darstellungsformen und deckt zudem „das breiteste Themenspektrum“ ab (ebd.). Relevant für die vorliegende Arbeit ist jedoch die von Hafez (vgl. 2002a, S. 94–100) diskutierte relative Passivität der Redaktionen und Medienorganisationen gegenüber den Nachrichtenagenturen. Der Autor argumentiert, dass die Haupttätigkeiten der Redaktion sich auf das Redigieren beschränkt, denn die Agentur besitzt einen grundlegenden Einfluss auf die Themenauswahl (Agenda-Setting-Funktion) und auf die Darstellung der Auslandsberichterstattung. Verschiedene Untersuchungen schreiben dem einzelnen Journalisten beziehungsweise Auslandskorrespondenten noch weniger Gatekeeper-Funktionen zu, weil viele Kommunikatoren sich dem Agenturmaterial gegenüber eher passiv verhalten (vgl. Mükke 2009, S. 66). In der Regel stammen heutzutage zwischen 50 % und 80 % der Informationsquellen innerhalb der Auslandsberichterstattung aus den genannten Nachrichtenagenturen (vgl. Hafez 2005, S. 56). Sie sind die Informationsgeber der Journalisten und dieses passive Verhältnis führt zu einer Homogenisierung internationaler Berichterstattung, da als akzeptable Quellen nur westliche Regierungen und große Unternehmen gelten (vgl. Ginneken 1998, S. 89–93). Die Nachrichtenagenturen verhalten sich gegenüber offiziellen Quellen genauso passiv wie die Medien gegenüber den Nachrichtenagenturen, wodurch sich zeigt, dass die Gatekeeper-Mechanismen hinsichtlich der offiziellen Quellen nur sehr schwach zu identifizieren sind (vgl. Hafez 2002a, S. 100). Dieses Muster der Abhängigkeit von Agenturen manifestiert sich auch auf einer globalen Ebene. Die Nachrichtenagenturen haben deshalb eine Wirkung auf die
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Themenstrukturierung der Medienagenda, weil ihre Dienste gleichzeitig unterschiedliche Medien erreichen (ebd.). In diesem Fall bedeutet die Steuerung der Inhalte der Auslandsberichterstattung durch die Agenturen die Einschränkung der Medienvielfalt. In diesem Kontext sehen Boyd-Barrett und Rantanen (vgl. 1998, S. 2). Nachrichten als commodities für die ganze Welt. Die Sonderstellung der Agenturen hat auch Einfluss auf die Arbeit der Korrespondenten von Ort. Ein deutscher Korrespondent in Afrika gab zu, es sei sehr wichtig, Kontakte mit dpa, Reuters und AP zu pflegen, „weil die Agenturen das definieren, was an ihn als Anfragen von den Redaktionen herangetragen werde“ (Mükke 2009, S. 238). Ein anderer Korrespondent bestätigt: Der „[…] Auslandskorrespondent machte seine Berichte also auf der Grundlage von dem, was die dpa berichtete“ (ebd.). Nicht zu vergessen ist, dass die Nachrichtenagenturen selbst Medienorganisationen sind und auch nicht zu 100 % ihre eigene Recherche betreiben. Das heißt, dass die von Agenturen gelieferten Materialien auch Produkte der Öffentlichkeitsarbeit von Regierungen und Institutionen sind (vgl. Hafez 2002a, S. 94–100). Daher kann gesagt werden, dass die öffentliche Diplomatie, zum Beispiel die der eigenen Regierung, Einfluss auf die Nachrichtenauswahl der heimischen Agenturen haben könnte (ebd. S. 98). Es besteht die Gefahr, dass beispielsweise die Regierung eines Landes, in dem die Agenturen tätig sind, durch Öffentlichkeitsarbeit versucht, die Nachrichtenagenturen zur Verbreitung offizieller Aspekte zu nutzen. Bezüglich der Objektivität und Unabhängigkeit der Nachrichtenagenturen beurteilen Kritiker und Beobachter zum Beispiel die AFP als pro-französisch, während verschiedene Inhaltsanalysen eine weniger kritische Haltung der amerikanischen AP gegenüber der Lateinamerikapolitik der USA im Vergleich zu anderen Agenturen darlegen (vgl. Hafez 2002a, S. 99). Es wurde auch festgestellt, dass Reuters viel häufiger negative Berichte über die IRA (Irisch-Republikanische Armee) als andere Agenturen schrieb (ebd.). Daher kann man sagen, dass die Fähigkeit der Agenturen, Kritik zu üben, sich eher auf innere Politik bezieht, aber nicht unbedingt auf die Außenpolitik des Heimatlandes. Wegen der schrittweisen „Demokratisierung“ der Kommunikationskanäle und der damit verbundenen zunehmenden Wichtigkeit nationaler Öffentlichkeiten bei außenpolitischen Entwicklungen können die Regierungen der Großmächte nicht mehr auf den Apparat der internationalen Informationspolitik verzichten, um weltweit ihre politische und gesellschaftliche Ordnung in günstigem Licht erscheinen zu lassen und die internationalen Medien zu großzügiger und freundlicher Berichterstattung zu bewegen (vgl. Marten 1989, S. 89). Öffentlichkeitsarbeit für Staaten wird von Kunczik (1990, S. 189) folgendermaßen definiert: als „die bewusste geplante, dauerhafte Verbreitung interessengebundener Information mit dem Ziel, das Image eines Staates im Ausland generell oder
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2 Theoretische Hintergründe
bei bestimmten Teilöffentlichkeiten ändern zu wollen“. Solche Imagepflege durch Beeinflussung und Steuerung der Massenmedien ist keineswegs ein neues Phänomen. Wie Kunczik (ebd. S. 198) formuliert, ist PR für Staaten einerseits permanent interessengebundene, eindimensionale, unsachliche und manipulative Kommunikation, aber sie kann auch das Ziel haben, strukturbedingte Kommunikationsmankos auszugleichen. Es wird versucht, zum Beispiel durch die Anpassung an die bekannten Nachrichtenwerte, das Image eines Landes in der internationalen massenmedialen Berichterstattung zu steuern und zu beeinflussen (vgl. Kunczik 1990, S. 199).
2.9 Theoretische Zusammenfassung Die Auslandsberichterstattung beeinflusst grundlegend das Weltbild des Rezipienten (vgl. Wilke 1989; vgl. Hafez 2002a). Laut dem Agenda-Setting-Ansatz determinieren die Themen, die von den Medien in die Öffentlichkeit lanciert werden, erheblich, worüber man sich Gedanken macht (vgl. Maurer 2010). Die Medien seien nicht in der Lage, den Menschen eine diskursive Denkweise und Handeln vorzuschreiben, aber sie können die Dimension der Bedeutung und Relevanz definieren, die einem Thema in der Öffentlichkeit zugeschrieben wird (vgl. Rössler 1997; vgl. Hafez 2002a; vgl. Maurer 2010). In Cohens Worten (1993, S. 13): (…) „The press is significantly more than a purveyor of information and opinion. It may not be successful much of the time in telling people what to think, but it is stunningly successful in telling its readers what to think about“. Über die Thematisierung (oder Nicht-Thematisierung) spezifischer Geschehnisse und Vorkommnisse erzeugen die Medien eine bestimmte Wirklichkeit und können dadurch den Standpunkt für einen Imageentstehungsprozess über einen Staat festlegen (vgl. Hafez 2002a; vgl. Richter und Gebauer 2010). Diese Begrifflichkeiten der Stereotypenforschung – Bilder, Nationenbilder und Stereotypen –, die in unterschiedlichen Phasen der Entstehungsbedingungen der Auslandsberichterstattung in Erscheinung treten können, wurden in dieser Arbeit bereits definiert (Abschn. 2.3). Jedoch lässt sich die vielfältige und komplexe, prozessorientierte Imagekonstruktion der Auslandsberichterstattung allein durch die Anwendung der Stereotypenforschung nicht erfassen (vgl. Hafez 2002a, S. 45–46 und 179). Bei der vorrangigen Anwendung der Sozialpsychologie in der Medienforschung besteht die Gefahr, dass nur ein ganz limitierter Bestandteil des Nachrichtenflusses analysiert wird und mediencharakteristische Bildmerkmale und Beeinflussungselemente von Journalisten, Korrespondenten, Medienunternehmen, politischen und gesellschaftlichen Systemen nicht einbezogen werden
2.9 Theoretische Zusammenfassung
143
(ebd.). Daher liegt der Fokus der vorgelegten theoretischen Auseinandersetzungen viel mehr auf Strukturen und Determinanten der Auslandsberichterstattung, d. h., auf dem Verlauf der journalistischen Auswahlprozesse und Informationsverarbeitung „aus einem außerstaatlichen Kontext für ein heimisches Publikum“ (Hafez 2002a, S. 178). Dafür orientiert sich diese Arbeit an dem theoretischen Denkansatz von Kai Hafez (2002a), dessen „Theorie internationaler und interkultureller Darstellungsprozesse“ vor zwanzig Jahren formuliert wurde und bis heute nichts an Gültigkeit einbüßt hat (Abschn. 2.1). Auf der Basis der gegenwärtigen Forschung versteht sich diese Dissertation als ein Aktualisierungsversuch des Hafez-Konzepts. Die Theoriematrix von Hafez erfasst inhaltliche Strukturmerkmale der Auslandsberichterstattung sowie deren Entstehungs- und Wirkungsbedingungen, die auf mehreren Stufen konzeptualisiert worden sind (Abbildung 2.1, Abschn. 2.1): Standpunkte der Kommunikatoren (Mikroebene), der Medienorganisationen (Mesoebene) und des Zusammenspieles von Medien und Politik (Makroebene). Im Bereich der Strukturmerkmale wurden die Hauptaussagen der MacBride-Kommission und deren altbekannte Diskussion der neuen Weltinformationsordnung (NWICO) dargestellt und betrachtet (Abschn. 2.5). Die Foreign-News-Studie deutete damals auf die Hauptprobleme der Auslandsberichterstattung hin: „Regionalismus der Nachrichtengeografie“, „Dekontextualisierung“, „Politikzentrierung“, „Konfliktperspektive“, „Elitenzentrierung“ und keine Beachtung der strukturellen Problematiken der globalen Verhältnisse (vgl. Sreberny-Mohammadi und Grant 1985). Unterschiedliche neue Studien hinsichtlich der Determinanten des internationalen Nachrichtenflusses (Abschn. 2.7.2) demonstrierten, dass das Ungleichgewicht des Informationsstroms ein noch immer bestehendes Problem ist. Auch in der Post-9/11-Ära bleiben vornehmlich Staaten aus Afrika und Südamerika außerhalb des Pressradars und die USA (eine Nachrichtensupermacht) beeinflussen durch ihre Außenpolitik entscheidend, welche anderen Nationen neben ihnen Aufmerksamkeit durch die Presse erhalten (vgl. Tiele 2010, S. 260). Solche empirisch festgestellten Selektionsprozesse in den Nachrichten wurden von der Nachrichtenwertforschung theoretisch generalisiert (vgl. Hafez 2002a, S. 69). Daher findet man unterschiedliche Konzeptverbindungen zwischen Nachrichtenfaktoren und von empirischen Analysen festgestellten Strukturmerkmalen der Auslandsberichterstattung (Tabelle 2.4). Der Nachrichtenwert-Ansatz und seine Entwicklung wurden dabei wiederaufgegriffen. Die Nachrichtenwertlehre beschäftigt sich neben anderen Theorien der Nachrichtenauswahl mit der Frage, wie Ereignisse zu Nachrichten werden. Diese Forschungstradition untersucht im Grunde die inhaltlichen Merkmale von Ereignissen, wie sie in den Massenmedien dargestellt werden, d. h., was genau
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2 Theoretische Hintergründe
ein Geschehen berichtenswert macht (Abschn. 2.7.1). Wissenschaftler erkennen Walter Lippman (1998 [1922]) als den Pionier der Forschungstradition an, da er Aspekte wie „Sensationalismus“, „Nähe“, „Relevanz“ oder „Faktizität“ (ebd.) – wenn auch noch in einer Grundform – diskutierte. Östgaard (1965) identifizierte drei Elemente – „Vereinfachung“, „Identifikation“ und „Sensationalismus“ –, die den Nachrichtenfluss beeinflussen können. Das Forschungsfeld entwickelte sich mit dem Nachrichtenfaktorkatalog von Galtung und Ruge (1965) weiter, die meistzitierte Veröffentlichung, die seit den 1960er-Jahren den Ausgangspunkt für viele andere empirische Untersuchungen darstellt. Die von den Autoren vorgeschlagenen Faktoren waren, in ihren Worten, „common-sense Wahrnehmungspsychologie“ (Galtung und Ruge 1965, S. 66). Dazu gehörten „Frequenz“, „Schwellenfaktor“, „Eindeutigkeit“, „Relevanz“, „Konsonanz“, „Überraschung“, „Kontinuität“ und „Komposition“. Diese acht seien nicht kulturabhängig. Andererseits sind die anderen vier Faktoren kulturgebunden (vgl. Galtung und Ruge 1965, S. 68), nämlich der Bezug auf „Elitepersonen“, auf „Elitenationen“, „Personalisierung“ und „Negativismus“ (Tabelle 2.1). Rosengren (1970, 1974) leistete anschließend einen wertvollen Beitrag zu den Diskussionen des Konzepts, indem er intramediale (die Berichterstattung über das Ereignis) und extramediale Daten (über das „wirkliche“ Ereignis) verglich. Schulz (1976), der als ein „radikaler Konstruktivist“ angesehen wurde (vgl. Hafez 2002a), stimmte Rosengrens Argumenten nicht zu und behauptete, dass der Vergleich zwischen Realität und Medienrealität sinnlos sei und zu einer Verfälschung führe, da nur unterschiedliche Perspektiven von Realitäten bewertet werden könnten (vgl. Schulz 1976, S. 25). Die Problematik der Massenmedien in der konstruktivistischen Auseinandersetzung wurde von der vorliegenden Arbeit ebenfalls thematisiert (Abschn. 2.4.1) und das Methodenparadigma des Rekonstruktivismus und Dekonstruktivismus als Alternativen aufgegriffen (Abschn. 2.4.1.2), um den Vergleich zwischen medialen und außermedialen Wirklichkeiten leisten zu können. Abgesehen von diesen konstruktivistischen, methodischen Überlegungen kann man die Arbeit von Schulz auch als einen Wendepunkt betrachten, da der Wissenschaftler die Nachrichtenfaktoren erstmals empirisch operationalisiert und ihren faktischen Einfluss auf die journalistische Auswahl nachgewiesen hat. Schulz vergrößerte und adaptierte den Katalog von Galtung und Ruge (Tabelle 2.2). Zum Beispiel diskriminierte er zwischen geografischer, politischer und kultureller Nähe. Der Autor unterschied ebenfalls zwischen den Begriffen des Nachrichtenfaktors und der Nachrichtenwerte. Seiner Überlegung nach schreiben Journalisten bestimmten Ereignissen einen Nachrichtenwert zu, denn sie betonen und vermitteln spezifische Nachrichtenfaktoren, die mit ihren Selektionskriterien korrelieren. Der Nachrichtenwert ist daher nach Schulz ein Hinweis auf journalistische Hypothesen der Realität (vgl. Schulz 1976, S. 30). Die Summe eines Nachrichtenwertes, der einem Ereignis
2.9 Theoretische Zusammenfassung
145
durch Kommunikatoren zugeschrieben wird, zeigt sich in der Aufmerksamkeit und Bedeutung, die der Beitrag in den Medien erhält. Ein weiterer, entscheidender Schritt der Forschung wurde die Studie von Staab (vgl. 1990a, 1990c). Besonders relevant für die vorliegende Arbeit war die Einbeziehung des Faktors „wirtschaftliche Nähe“ (Tabelle 2.3), sowie die Einführung der Diskussion über ein Finalmodell der Nachrichtenauswahl im Gegensatz zum Kausalmodell. Im Rahmen des Finalmodells wählen Journalisten Ereignisse nicht nur wegen ihrer Eigenschaften oder Nachrichtenfaktoren aus. Kommunikatoren können Nachrichtenfaktoren zuordnen und betonen, um einige Geschehnisse hervorzuheben, d. h., Journalisten instrumentalisieren die Nachrichtenfaktoren (vgl. Staab 1990b, S. 429). Die Annahme des Funktionsmodells widerlegt jedoch nicht das Kausalmodell. Da Nachrichtenfaktoren eine gültige Prämisse der journalistischen Nachrichtenauswahl sind, können sie dazu verwendet werden, die Berichterstattung über bestimmte Themen zu betonen und zu akzentuieren (ebd.). Daher versteht der Autor das Konzept des Nachrichtenwertes nicht als eine Theorie zur Erklärung der Nachrichtenauswahl, sondern als ein nützliches Instrument zur Beschreibung und Analyse der Medienwirklichkeit. Shoemaker (2006) teilt das gleiche Verständnis. Der Nachrichtenwert sei ihrer Meinung nach kein geeigneter Indikator für die Nachrichtenauswahl. Es handelt sich bloß um einen aus einer Vielzahl anderer Faktoren im Rahmen ihres hierarchischen Modells (vgl. Shoemaker und Reese 2014), die erklären können, was Nachricht ist und wie sie dargestellt wird. Im Allgemeinen fokussieren die Studien zur Struktur der Auslandsberichterstattung oder die Analysen ihrer Determinanten auf ereignisorientierte oder länderbasierte Variablen (Ländermerkmale als Nachrichtenfaktoren), während andere Einflussfaktoren aus den anderen Sphären ausgeblendet bleiben. Streng betrachtet ist es nicht möglich, ausschließlich durch Inhaltsanalysen sichere Aussagen über die Entstehungsbedingungen der Auslandsberichterstattung zu gewährleisten. Allerdings lassen sich anhand inhaltlicher Merkmale spezifische Inferenzschlüsse auf Kommunikatoren erzielen (vgl. Rössler 2005, S. 32; vgl. Früh 2011, S. 44). Daher betrachtet die theoretische Überlegung der vorgelegten Arbeit ebenfalls die drei Ebenen der Entstehungsbedingungen der Auslandsberichterstattung, um kausale Zusammenhänge erarbeiten zu können. Um die Aussagekraft der Ergebnisse jedoch zu verbessern, wurden Experteninterviews als zusätzliche Forschungsmethode in das Untersuchungsdesign einbezogen (Abschn. 3.3). Da die mediale Thematisierung als ein gesamtgesellschaftlicher Prozess mit unzähligen handelnden Personen zu verstehen ist, muss man die Einflüsse der drei Ebenen der theoretischen Betrachtung auf die medialen Beiträgen berücksichtigen (vgl. Hafez 2002a). Auf der Mikroebene werden die Journalisten
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2 Theoretische Hintergründe
als Individuen verortet, die durch ihre politische, gesellschaftliche und berufliche Sozialisationsinstanzen geprägt sind (Abschn. 2.8.3 und Abschn. 2.8.4). Diese Sozialisation übt einen Einfluss auf die individuelle Wahrnehmung aus und bestimmt durch internalisierte journalistische Rollenverständnisse und Verhaltensnormen eine absichtliche neue Ausrichtung der Informationsvermittlung. Rollenkonzepte des Auslandsjournalismus – z. B. als „neutraler Informant“, „Mitgestalter der Außenpolitik“, „Repräsentant der Öffentlichkeit“, „Kritiker der Außenpolitik“ oder „Advokat der Außenpolitik“ (vgl. Cohen 1993; vgl. Hafez 2002a) – können dementsprechend auf die Textproduktion abfärben. Auf der Mesoebene untersucht Hafez (2002) Einflussfaktoren, die sich aus den medialen Organisationen ergeben. Der Wissenschaftler spricht über eine aufeinanderfolgende „Kumulation von individuellen Gatekeeper-[Prozessen]“ (Hafez 2002a, S. 181) in der Informationskette, z. B. von den Nachrichtenagenturen über den Korrespondenten zur Mutterredaktion (Abschn. 2.8.2). Hierbei spielen Faktoren wie Platzkapazitäten, Zugang zu Ressourcen, Konsummuster, aufwendige Kosten der Auslandsberichterstattung, die bei dem Zugang zu Quellen spürbar werden, eine wichtige Rolle. Unterschiedliche Aspekte wie die Beziehung zwischen Verlag und Redaktion, redaktionelle hierarchische Strukturen oder die (Un-)Abhängigkeit von Informationen, die von den globalen Nachrichtenagenturen produziert werden, sind dabei zu berücksichtigen (vgl. Hafez 2002a, S. 182). Solche Nachrichtendienste verhalten sich gegenüber dem strategischen Kommunikationsdiskurs, d. h. Öffentlichkeitsarbeit von Staaten und Institutionen, ganz passiv, genauso wie die Redaktionen gegenüber den globalen Agenturen (Abschn. 2.8.5). Jede Zeitung versucht, ihre eigenen Konturen zu gestalten, was durch ihre Zweckprogrammierung (Redaktionsrichtlinien) zu merken ist. Anders gesagt ziehen verschiedenen Medien unterschiedliche Nachrichtenwerte vor, haben bestimmte Traditionen der Thematisierung oder Nichtthematisierung und sogar andersartige Darstellungsformen, die unter die Lupe genommen werden sollten. Diese organisatorischen Entscheidungsprogramme sind sehr relevant insbesondere für die journalistischen Eigenleistungen in der globalen Berichterstattung, die in der deutschen überregionalen Presse normalerweise bedeutend sind (ebd.). Zuletzt befinden sich die Medien selbstverständlich in Austauschbeziehungen zu anderen Systemen der Gesellschaft (z. B. Politik und Wirtschaft), die auf der Makro-Ebenenperspektive Einfluss auf die Mediensysteme ausüben können. Aus dem systemtheoretischen Standpunkt heraus lässt sich über ein „Fließgleichgewicht“ zwischen erforderlicher Wechselbeziehung mit anderen gesellschaftlichen Subsystemen einerseits und Autonomie und Identitätsbildung von anderen Systemen anderseits sprechen (vgl. Hafez 2002a, S. 184–185). Daher ist die Auslandsberichterstattung charakteristischen Systemumweltkonfigurationen unterworfen, die in Betrachtung gezogen werden sollten.
2.10 Forschungsstand zur Auslandsberichterstattung Lateinamerikas
147
Mit Berücksichtigung dieser theoretischen Zusammenfassung wird zunächst – vor der Überleitung zu den Forschungsfragen – ein Überblick der Lateinamerikadarstellung in den deutschen Medien geschaffen, d. h., eine Übersicht des Forschungsstands zu den bis heute reproduzierten Images Lateinamerikas.
2.10 Forschungsstand zur Auslandsberichterstattung Lateinamerikas Seit den 80er-Jahren wird die Berichterstattung über Lateinamerika kaum untersucht. Im deutschsprachigen Raum fehlen nicht nur spezifische Studien zum Bild Lateinamerikas und seiner Länder, sondern auch Untersuchungen des Kontinents innerhalb der Kommunikationswissenschaft allgemein. Laut einer Analyse des Ibero-Amerikanischen Instituts in Bezug auf die Lateinamerika-Forschung fokussiert die deutsche Kommunikationswissenschaft üblicherweise vor allem auf Deutschland (vgl. Göbel et al. 2009, S. 43). Der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung unterstützte Bericht evaluierte die wirtschafts-, sozial- und geisteswissenschaftliche Lateinamerikaforschung im Land und konstatiert dieses Manko innerhalb der Kommunikationswissenschaft. „Dies steht im Widerspruch zu einer zunehmend globalen Orientierung, Organisation und Funktionsweise wichtiger Bereiche der Kommunikation und der Medien“ (ebd.). Darüber hinaus wurde darauf hingewiesen, dass es, wenn andere Länder in Forschung und Lehre innerhalb der KW betrachtet werden, normalerweise um die traditionellen OECD-Länder geht. „Lateinamerika spielt eine nur sehr marginale Rolle“ (ebd.). Im Rahmen der neuentwickelten Themenbereiche der internationalen Kommunikation – ein unbestreitbares Kontergewicht dieses Trends –, beschäftigen sich die Studien meistens mit einigen asiatischen Nationen und mit der islamischen Welt84 (vgl. Göbel et al. 2009, S. 43). „Die Erkenntnis, dass kommunikationswissenschaftliche Analysen für das Verständnis sozialer, politischer und wirtschaftlicher Prozesse auch in anderen außereuropäischen Regionen erforderlich wären, hat sich noch nicht in Stellenstrukturen, größeren Forschungsprojekten und gezielten förderpolitischen Maßnahmen niedergeschlagen“ (Göbel et al. 2009, S. 43) 84Der Report des Ibero-Amerikanischen Instituts pointierte zudem den Mangel an auf Lateinamerika spezialisierten Kommunikationswissenschaftlern nicht nur innerhalb der Universitäten, sondern auch im Rahmen der außeruniversitären Einrichtungen. Mit Ausnahme von Dr. Angelika Hennecke (Fachhochschule Köln) und Prof. Dr. Jürgen Wilke (Universität Mainz) wurden keine weiteren Namen identifiziert, die Kommunikationswissenschaft mit Lateinamerikabezug lehren (vgl. Göbel et al. 2009, S. 43).
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2 Theoretische Hintergründe
Trotz dieser Lücke wurden ein paar Analysen, Aufsätze, Studien und Dissertationsprojekte in letzter Zeit vorgelegt85. Im Jahr 2011 wurde z. B. die Studie „Auslandskorrespondenz im globalen Zeitalter“ veröffentlicht (vgl. Renneberg 2011), die auf der 2009 an der Universität Wien eingereichten Dissertation der Autorin basiert. Die Doktorarbeit hatte den Titel „Quo vadis, Korrespondent? Die Globalisierung als Herausforderung für die Auslandsberichterstattung von ARD und ZDF. Untersuchung am Beispiel Lateinamerikas“. Durch sieben qualitative Interviews mit ARD- und ZDF-Auslandskorrespondenten aus Lateinamerika und der Inhaltsanalyse von acht Beiträgen über den Kontinent, die im zweiten Quartal 2008 in der ARD im Rahmen des Auslandsmagazins Weltspiegel erschienen sind, analysiert die Autorin die journalistische TV-Auslandsberichterstattung86. Eine F okusgruppen-Diskussion wurde ebenfalls in die Methodenvorgehensweise einbezogen. Der Hauptfokus der Arbeit liegt nicht auf dem Medieninhalt, sondern auf der von Hafez (2002a) beschriebenen Mesoebene. Untersucht wurden die Strategien der Medienunternehmen, die Konkurrenz zwischen öffentlich-rechtlichem Fernsehen und Privatsendern und das Verhältnis zwischen Korrespondenten, Abnahmeredaktionen und Sendeanstalten. Als theoretischen Hintergrund benutzte die Autorin die Gatekeeper-Forschung, die Nachrichtenwerttheorie, die Medienökonomie und die Systemtheorie. Darüber hinaus führte die Studie einen Vergleich der thematischen Struktur zwischen einigen Tagen im Jahr 1963 einerseits und 2008 andererseits durch und konstatierte eine Tendenz der Entpolitisierung bis hin zur Boulevardisierung der Lateinamerika-Berichterstattung des Programms Weltspiegel. Überdies hatten nur zwei der acht untersuchten Beiträge, die mithilfe eines Nachrichtenfaktoren-Katalogs analysiert wurden, einen Aktualitätsbezug. „Bei den übrigen sechs Beiträgen fehlen Hintergrund und Zusammenhänge völlig“ (Renneberg 2011, S. 219). Behauptet wurde auch, dass das Thema des Linksrucks Lateinamerikas abwesend war, obwohl der Untersuchungszeitraum nur drei Monate betraf. Zum Schluss stellt die Studie fest, dass die Tendenz innerhalb des öffentlich-rechtlichen Fernsehens entgegengesetzt zum Prozess der Globalisierung erfolgt. Das heißt, weniger Ausland
85Hierbei
werden Untersuchungen berücksichtigt, deren Fokus spezifisch auf Lateinamerika und seinen Ländern liegt. Allgemeine (und zahlreiche) Untersuchungen über das Bild der Dritten Welt (vgl. Glass 1979; vgl. Fohrbeck et al. 1983) kommen hierzu nicht in Betrachtung. 86Analysiert wurde der Zeitraum von 01.April 2008 bis 30.06.2008. Insgesamt geht es um elf Programme, 61 Beiträge, davon 8 aus Lateinamerika.
2.10 Forschungsstand zur Auslandsberichterstattung Lateinamerikas
149
trotz Globalisierung. Oder wie die Verfasserin formuliert: „Je mehr Globalisierung, desto mehr Berichterstattung aus Ländern erster Ordnung und desto weniger aus Ländern zweiter Ordnung“ (Renneberg 2011, S. 258). Es wurde für eine geringere Orientierung an Nachrichtenfaktoren und Nachrichtenagenturen plädiert. Zudem sollten den Korrespondenten, die in der Lage sind, Fakten zu interpretieren, mehr Verantwortung zugesprochen werden. Wie oben erwähnt, liegt die Stärke der Arbeit auf der Mesoebene und auf der Analyse des Wandels der journalistischen Arbeit und ihrer Auslandsberichterstattung in Zeiten der Globalisierung. Im Jahr 2010 wurde die Dissertation „Immerwährende Ungleichheiten? Lateinamerikanische Integration, internationaler Kommunikationsfluss und die Berichterstattung in der deutschen Qualitätspresse“ veröffentlicht (vgl. Rodríguez 2009). Die Untersuchung ging davon aus, dass die Prestigepresse in Deutschland im Vergleich zum Rundfunk eine ausreichende und vielfältige Auslandsberichterstattung aufweist. Dementsprechend wurde eine Inhaltsanalyse der deutschen Presse in Kombination mit vier ergänzenden Korrespondenteninterviews als Forschungsmethode verwendet. Untersucht wurde das Bild Lateinamerikas am Beispiel der Mercosur (dem gemeinsamen Markt Südamerikas). Um den Umfang der Mercosur-Berichterstattung zu bestimmen, wurde eine erste Inhaltsanalyse gemacht, in der die Quantität der Berichterstattung zu Mercosur-Ländern und anderen Integrationsabkommen verglichen wurden. Es ging in diesem ersten Schritt darum, die Quantität der Beiträge zwischen dem 01. Januar 1998 und dem 31. Juli 2005 zu ermitteln. Eine weitere ausführliche Inhaltsanalyse wurde dann für den Zeitraum vom 01. Juli 2003 bis zum 30. Juni 2006 verwirklicht, weil dieser Zeitraum zwei unterschiedliche Wahlperioden in Deutschland erfasst. Ausgewählt wurden alle Beiträge (308 insgesamt), die das Thema „Mercosur“ beinhalten87. Als Ergebnis wurde ein negatives und eurozentrisches Bild konstatiert (vgl. Rodríguez 2009, S. 243), insbesondere weil der Mercosur nach dem Modell der EU beurteilt wird. Darüber hinaus wurde eine eingeschränkte Thematisierung hinsichtlich des Bündnisses beobachtet. Die Presse bevorzugte Themen wie Konflikte und diplomatische Angelegenheiten und vernachlässigte andere Facetten der Integration, so beispielsweise Kultur, Energiekooperationen oder Umwelt. Außerdem betonten die Ergebnisse, dass die Berichterstattung über Mercosur viel mehr „informativ“ als „erklärend“ ist,
87Die 308 Beiträge stammen aus sieben unterschiedlichen Printmedien: FAZ, SZ, FR, Die Welt, Handelsblatt, Der Spiegel und Die Zeit.
150
2 Theoretische Hintergründe
da Meldungen und Berichte häufiger als analytische Hintergrundtexte gestaltet waren. Der Mercosur galt eigentlich als ein „peripheres Thema“ in unterschiedlichen Beiträgen und der Berichterstattung mangelte es an Stimmenvielfalt, da die Hauptakteure der Berichterstattung ausnahmslos nur Präsidenten der Länder waren. Der Faktor „Negativismus“ wurde zudem unter Einschränkungen bestätigt – die Artikel bewerteten den Mercosur nicht unbedingt oder direkt als negativ, aber die Mehrheit der Beiträge bringt das Thema des Integrationsprozesses mit negativen Punkten, Geschehen und Vorgängen in Verbindung (ebd.). Zuletzt wurde darauf hingewiesen, dass die Berichterstattung wirtschaftlich orientiert, aber durch den Vergleich mit der EU auch politisch bewertet ist. Das heißt, durch die Unterscheidung zwischen der EU und dem Mercosur wurde ein negatives Bild des südamerikanischen Bündnisses betont und die Thematik erhielt eine „europäische Behandlung“. Die Autorin kam zu dem Schluss, dass folgende Faktoren der Berichterstattung verstärkt werden können: Analyse und Prognosen der Problematik, Hintergrundanalyse, investigative journalistische Leistung, Vielfältigkeit der Informationsquellen, Bevorzugung einheimischer Quellen und die Darstellung unterschiedlicher Stimmen und Akteure. Die Arbeit leugnete den Universalismus des Faktors „Nähe“ als monokausale Begründung für die (Un) Ausgewogenheit der Auslandsberichterstattung. Die wirtschaftliche „Nähe“ kann nach Auffassung der Autorin den Umfang der Beiträge beeinflussen, aber die Korrelationen und Mangel der Berichterstattung nicht erfassen (ebd.). Roemeling-Kruthaup (1991) untersuchte die Quantität und Qualität der Hintergrundberichterstattung der Qualitätspresse in Bezug auf Krisengebiete am Beispiel Brasiliens, Chiles, Mexikos und Nicaraguas. Die Analyse der deutschen Presse – SZ, Die Welt, FAZ und Die Zeit – bezog sich auf Thematisierung, Darstellung der Krisengründe und Präsentation der Folgewirkungen der Krisen, auch hinsichtlich ihrer internationalen Reichweite. Der Untersuchungszeitraum betraf ein Jahr vom 01. November 1985 bis 31. Oktober 1986. Die Autorin kam zum Schluss, dass die Faktoren „Nähe“ (politische, wirtschaftliche oder ideologische) und „Negativismus“ die Berichterstattung bestimmten. Die monothematische Darstellung, die sich meistens auf „Politik“ und „Wirtschaft“ konzentrierte, führte zu „beschnittenen Bildern“ der Länder. Im Fall Nicaraguas beschränkte sich die Information bloß auf die politische Situation des Staates zwischen „Osten und Westen“ mit klarer Betonung auf der konfliktgeladenen Beziehung zu den USA. Dazu gehörten die Auseinandersetzungen mit der von
2.10 Forschungsstand zur Auslandsberichterstattung Lateinamerikas
151
den USA unterstützten Widerstandsbewegung88 (Contras). Bei der chilenischen Berichterstattung fokussierte die Presse auf die Innenpolitik und die Auseinandersetzungen zwischen der Terrorregierung von Pinochet und der chilenischen Opposition. Wirtschaftliche Themen – wenn überhaupt anwesend – wurden nur am Rand betrachtet. Die Autorin beobachtete ebenfalls divergierende Darstellungen der SZ und Die Zeit einerseits und Die Welt und FAZ andererseits (vgl. Roemeling-Kruthaup 1991, S. 198–199). Die Monothematisierung wurde ebenfalls für Brasilien und Mexiko konstatiert. Bei diesen Ländern standen wirtschaftliche Themen im Vordergrund, vor allem die Schuldenkrise89. Infolgedessen stand die Politikberichterstattung zurück. Kulturelle Beiträge hatten kein Gewicht und wurden nicht berücksichtigt. Außerdem lief die Berichterstattung grundsätzlich in „deskriptiver, referierender“ Form. Darüber hinaus präferierten die Presseorgane eine Krisendarstellung, die sich auf personales Handeln bezog. Die Krisen wurden meistens (in einem Verhältnis von 4 zu 1) monokausal beschrieben und auf die Aktionen von Prominenten zurückgeführt. Historische Kontexte und Erfahrungen wurden ebenfalls vernachlässigt. Mit Ausnahme der Zeit beschränkten sich die dargestellten Hintergrundinformationen auf den „unmittelbaren zeitlichen Kontext“ (vgl. Roemeling-Kruthaup 1991, S. 200). Daher wurde der Leser „weder über Zusammenhänge einer akuten Lage mit der geschichtlichen Entwicklung eines Landes noch über EXOGENE Faktoren, die diese Entwicklung nachhaltig (mit-)bestimmt haben, informiert“ (ebd.).
88In
den 1980er-Jahren erhielt Zentralamerika bzw. Nicaragua wegen der sandinistischen Revolution große Presseaufmerksamkeit. Damals stürzte die Sandinistische Befreiungsfront (FSLN) den langjährigen Diktator Anastasio Somoza. Ziel der Revolutionäre war es, eine sozialistische Planwirtschaft mit bürgerlichen Freiheiten und christlicher Gesinnung aufzubauen. Die Involvierung der Weltmächte USA und UdSSR rückte den Konflikt in den Vordergrund der Weltpolitik (vgl. Leonhard 2008, S. 337). In Deutschland erhielt die zentralamerikanische Auseinandersetzung Schwergewicht in der alternativen Tageszeitung (taz), die sich als „Projekt der linken Gegenöffentlichkeit“ (ebd. S. 338) projizierte. Laut dem Bericht eines Korrespondenten trennte sich die Solidaritätsbewegung in Deutschland in Bezug auf die folgenden Menschenrechtsverletzungen der Sandinisten in zwei Linien. Die eine akzeptierte den Diskurs der sandinistischen Führung, d. h. hielt die Verbrechen für falsch oder versuchte, sie zu verharmlosen. Die andere wollte konstruktive und solidarische Kritiken üben (ebd. S. 339). Als Korrespondent der taz war Ralf Leonhard wegen seiner kritischen Haltung mehrmals Ziel von Leserbriefkampagnen, die ihm vorwarfen, ein Agent der Contras zu sein (ebd. S. 339). 89Damals gehören Brasilien und Mexiko zu den am höchsten verschuldeten Nationen der Welt (vgl. Roemeling 1987, S. 32).
152
2 Theoretische Hintergründe
Eine weitere empirische Arbeit bezüglich Lateinamerika wurde von Wöhlcke (1973) vorgelegt. Der Wissenschaftler untersuchte das Image Lateinamerikas in den „Prestige Papers“ (vgl. Wöhlcke 1973, S. 10–11) von 1970, nämlich Die Welt, FAZ, Handelsblatt, Der Spiegel, Neue Zürcher Zeitung, Neues Deutschland und Le Monde. Die Befunde zeigten eine starke Konzentration der Informationen auf wenige Sachgebiete, vor allem ereigniszentrierte Kategorien, die durch Konflikt und Sensationalismus gekennzeichnet wurden. Der Schwerpunkt der Lateinamerika-Berichterstattung lag auf der Politik mit einer Variation von 60 % bis 80 % je nach Presseorgan (vgl. Wöhlcke 1973, S. 26). Andererseits waren Themen wie Kultur, Bildungswesen, Religion ausnahmslos – absolut und relativ – schwach vertreten (ebd. S. 34). Die Berichterstattung war zudem lückenhaft, ereigniszentriert und tendierte zu kürzeren Beiträgen (Agenturnachrichten). Eine Konzentration der Auslandsberichterstattung auf wenige Länder wurden ebenfalls konstatiert. Im Jahr 1970 erhielten Brasilien, Argentinien, Chile und Lateinamerika (als Gesamtkategorie) die meiste Presseaufmerksamkeit (ebd. S. 20). Als Fazit deutete Wöhlcke darauf hin, dass nur ein marginales Interesse an Lateinamerika vorhanden war. Bei ihrem Überblick des Forschungsstandes der Lateinamerika-Berichterstattung beobachtet Roemeling (vgl. Roemeling 1987, S. 32), dass diese gerade dargestellte Forschungsarbeit von Wöhlcke (1973) die zu jener Zeit „umfassendste empirische Studie“ war. Die Autorin warf Wöhlcke jedoch vor, nur Entwicklungen und Trends der Berichterstattung zu konstatieren und Leserempfehlungen zu geben (vgl. Roemeling 1987, S. 38). Auf ein erklärendes Verhältnis hinsichtlich der Nachrichtenschaffung, -auswahl und -verarbeitung sei verzichtet worden. Infolgedessen blieben seine Erkenntnisse „ohne wirkliche Schlußfolgerung“ (ebd.). Basierend auf einer historischen analytischen Perspektive der Nachrichtenwerttheorie (vgl. Abschnitt 2.7.1) pointierten Wilke und Schenk (ohne eine konkrete empirische Überprüfung vorzulegen) vier Merkmale der Darstellung Lateinamerikas in den bundesdeutschen Medien90: 1. „Lateinamerika bleibt aufgrund der geographischen Distanz außerhalb des „Regionalismus“, der bei der Auswahl von Auslandsnachrichten im Vordergrund steht“.
90Das
Buch, aus dem der Beitrag der Forscher stammt, ergab sich aus der gleichnamigen Tagung „Deutschland und Lateinamerika: Imagebildung und Informationslage“, an der sich verschiedene Wissenschaftler, Journalisten und Diplomaten mit Bezug zum Kontinent beteiligten.
2.10 Forschungsstand zur Auslandsberichterstattung Lateinamerikas
153
2. „Die Faktoren „politische“ und „wirtschaftliche Nähe“ treffen nur in Ausnahmefällen auf Nachrichten aus den Ländern Lateinamerikas bzw. auf diese selbst zu. Gemessen beispielsweise an den Bindungen zu den EG-Staaten, unterhält die Bundesrepublik weniger intensive wirtschaftliche und politische Beziehungen zu den Ländern Lateinamerikas, die im Übrigen eher zur hispanischen Kultursphäre gehören“. 3. „Verglichen mit den Vereinigten Staaten, der UdSSR und den europäischen Industrienationen lassen sich die lateinamerikanischen Staaten international kaum als politische einflußreiche und wirtschaftsstarke ‚Elite-Nationen‘ bezeichnen. Damit entfallen aber auch für die Selektion von Auslandsnachrichten wichtige Voraussetzungen.“ 4. „So bleibt ‚Negativismus‘ offenbar ein wesentlicher, für die L ateinamerikaBerichterstattung relevanter Nachrichtenfaktor. Man denke nur an Berichte über Bürgerkriege, Umsturzversuche, Guerillabewegungen, Wahlmanipulationen, Schuldenkrisen usw.“ (Wilke und Schenk 1987, S. 30–31). Jedoch kann man davon ausgehen, dass diese Postulate wegen der neuen politischen und wirtschaftlichen Weltentwicklung nach dem Ende des Kalten Kriegs relativiert werden können. Eine aktuelle Studie über das Bild Brasiliens in der deutschen Presse (vgl. Cazzamatta 2014) zeigt beispielsweise, dass das Image des Landes nicht ganz so stark von „Negativismus“ geprägt ist, denn 38,1 % der analysierten Beiträge bezogen sich auf negative Ereignisse, aber 32,9 % auf positive und 29 % auf neutrale Geschehnisse. Die genannte Untersuchung berücksichtigte die Brasilien-Berichterstattung der SZ, FAZ, Die Welt, taz, Der Spiegel, Focus, Stern und Die Zeit von 2010 bis 2012, eine Vollerhebung von 431 Beiträgen. Obwohl die Ergebnisse eine weitere Präferenz für punktuelle und kurzfristige Ereignisse in Übereinstimmung mit früheren Studien konstatiert, war die Politikzentrierung nicht mehr augenfällig. Andere Sachgebiete wie Wirtschaft (18,5 %) und Umwelt (15,9 %) hatten an Gewicht gewonnen. Aber auch wenn die Konzentration auf die Politik nicht mehr so bedeutsam wie in anderen Region der Welt war, blieben die offiziellen Staatsvertreter als Haupthandlungsträger der Brasilien-Berichterstattung ein weiterer Indikator für die Elitenzentrierung (vgl. Abschnitt 2.6). Die Studie betrachtete nur eine wichtige Nation aus Lateinamerika, was die Überprüfung aller Behauptungen von Wilke und Schenk nicht ermöglichte. Trotzdem scheint die Annahme einer Veränderung der Berichterstattungsmuster zu Lateinamerika plausibel zu sein. Die vorliegende Dissertation
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2 Theoretische Hintergründe
soll anhand einer aufwendigen, langjährigen empirischen Untersuchung zur Aktualisierung der Forschung des Lateinamerikas-Images beitragen91. Basierend auf den bisher vorliegenden theoretischen Auseinandersetzungen und der Zusammenfassung des Forschungsstands zur Auslandsberichterstattung Lateinamerikas werden im nächsten Kapitel die Forschungsfragen der Dissertation vorgestellt und diskutiert.
2.11 Zentrale Fragestellung Bis jetzt wurde die Konstruktion von Nationenbildern durch Massenmedien und deren Auswahlkriterien, die Relevanz der Auslandsberichterstattung innerhalb dieses Prozesses und die Notwendigkeit, die Darstellung Lateinamerikas in der Presse neu zu untersuchen, problematisiert. Dieser theoretische Hintergrund und Ausgangpunkt bildet die Basis der Untersuchung der Konstanten und Veränderung der Auslandberichterstattung Lateinamerikas im Rahmen der vorliegenden Untersuchung. In diesem Zusammenhang wurden die zentrale Hauptfrage und die Unterfragestellungen und ihre entsprechenden Forschungsannahmen gestellt:
91Neben der in diesem Abschnitt dargestellten empirischen Untersuchung gibt es ein paar Aufsätze über das Image Lateinamerikas, die sich viel mehr als „Essay“ charakterisieren lassen. Karnofsky (2007) z. B. diskutierte anhand ihrer selbst veröffentlichen Beiträge, die sie als SZ-Korrespondentin von 1993 bis 2002 verfasste, die Darstellung des Kontinentes in der Presse. Sie hat beispielsweise viel mehr über Argentinien, Chile, Peru, Kolumbien und Kuba geschrieben. Die Autorin schilderte zudem ihre Erfahrungen und erwähnte, wie Peru nach der Demokratisierung aus der Presse (SZ) verschwand. Zudem erwähnte die Korrespondentin Problematiken hinsichtlich des Konkurrenzkampfes um den Medienplatz und der Rolle von sekundären Quellen wie den Nachrichtenagenturen (vgl. Karnofsky 2007, S. 219–240). Daniljuk (vgl. 2012, S. 9–29) verfasste einen Beitrag über die Möglichkeit einer alternativen Berichterstattung über Lateinamerika. Bevor alternative Quellen (wie amerika21.de) dargestellt wurden, erwähnte der Aufsatz typische Probleme der Auslandsberichterstattung. Anhand einer Stichprobe der deutschensprachigen L ateinamerika-Berichterstattung während eines Monates im Jahr 2011 (genauere Erläuterung der Durchführung wurde nicht bekannt gegeben), wurden der Grad der Personalisierung und Attributzuschreibungen für Bolivien, Ecuador, Kolumbien und Venezuela untersucht. Die größte Anzahl an Personalisierung wies Venezuela mit mehr als der Hälfte seiner Artikel auf (vgl. Daniljuk 2012, S. 18–19). Zudem konstatiert der Autor, dass die Attributzuschreibung für die linksorientierten Regierungen negativer war. „Je stärker die Personalisierung der Berichterstattung ausgeprägt ist, desto negativer sind außerdem die Attribute, mit denen die Person des Präsidenten verbunden wird“ (ebd. S. 19).
2.11 Zentrale Fragestellung
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Zentrale Fragestellung: Welche Strukturen bzw. Merkmale determinierten die Berichterstattung Lateinamerikas in den ersten 15 Jahren des 21. Jahrhunderts und welches Image des Kontinents wird dadurch von der deutschen Medienrealität vermittelt? • Unterfragestellungen in Bezug auf Strukturmerkmale: 1. Sind die in der früheren Forschung in den 70er- und 80er-Jahren identifizierten Strukturen der Berichterstattung bzw. Nachrichtenfaktoren für Lateinamerika, wie z. B. „Negativismus“, „Politikzentrierung“, „Elitenzentrierung“, „Konfliktzentrierung“ usw., stabil geblieben? Welche Faktoren und Ausprägungen treten gegenwärtig in der Berichterstattung am häufigsten auf? 2. Sind die zeitaktuellen Determinanten der Lateinamerika-Berichterstattung, d. h. „Machtstatus“, „wirtschaftliche Nähe“, „Betroffenheit“, „Relevanz“ usw., im Lauf der 15 untersuchten Jahre konstant geblieben oder sind Fluktuationen zu konstatieren? 3. Ist die Thematisierung hinsichtlich der unterschiedlichen Länder Lateinamerikas ähnlich? Konstatiert man einen Zusammenhang zwischen „Politikzentrierung“, „Relevanz“ und „nationaler Zentralität“? 4. Sind die Nachrichtenfaktoren „Personalisierung“, „Prominenz“, „Schaden und Erfolg“ bei allen Staaten gleichmäßig auffällig? 5. Besteht eine Korrelation zwischen „Politikzentrierung“ und Krisenberichterstattung? Kann man im Fall Lateinamerikas „Krisen und Konflikte“ als einen Berichterstattungskatalysator verstehen? Liegt durch die überwiegende Darstellung negativer Ereignisse eine Dominanz der Konfliktperspektive vor? 6. Ist heutzutage das Strukturmerkmal „Elitenzentrierung“ noch stark bei allen Staaten ausgeprägt? Inwieweit finden die sozialen Bewegungen Lateinamerikas (z. B. argentinische Straßenproteste der Arbeitslosen, brasilianische Landlosenbewegung MST, ecuadorianische Indigenenbewegung) und Minderheiten Zugang zu den deutschen Medien? 7. Lässt sich bei der Berücksichtigung der Nationalität der Handlungsträger, der Nachrichtenperspektive und der Anzahl des deutschen Bezuges ein hoher Grad des Ethnozentrismus identifizieren? 8. Spielen Ländermerkmale (BIP, Bevölkerung, wissenschaftliche Publikationen, militärischer Etat) eine wesentliche Rolle bei der Nachrichtengeografie und Thematisierung Lateinamerikas? Lässt sich das Ungleichgewicht der Länderdarstellung bloß durch Nachrichtenfaktoren erklären?
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2 Theoretische Hintergründe
9. Sind Kriege, Krisen und Katastrophen (die sogenannte K-Thematisierung) bei den „Elitennationen“ innerhalb Lateinamerikas weniger markant? 10. Welchen Einfluss hat der Faktor „wirtschaftliche Nähe“ auf die Pressebeachtung? Spielen externe Faktoren bzw. Handelsvolumen zwischen den Ländern eine Rolle? 11. Hat der Faktor „wirtschaftliche Nähe“ innerhalb der lateinamerikanischen Länder Einfluss auf die Thematisierung der Auslandsberichterstattung? In welchem Maß ist die deutsche Wirtschaft bei wirtschaftlichen Themen betroffen? 12. Sind spezifische Muster von Auslandsberichterstattung unter den Ländern zu identifizieren? • In Bezug auf spezifische Entstehungsbedingungen Bei der Ebene der Ursachenkomplexe konzentriert sich die vorliegende Arbeit auf die spezifische Frage nach den Entstehungsbedingungen der Auslandsberichterstattung, insbesondere bezüglich der Themenauswahl, der Beziehung zwischen Korrespondenten und Mutterredaktionen in Deutschland oder der Abhängigkeit gegenüber den globalen Nachrichtenagenturen. Andere Ursachenkomplexe, die nicht durch inhaltsanalytische Schlussfolgerungen aufgegriffen werden können – z. B. redaktionelle Prozesse, hierarchische Einflüsse, Verhältnisse zwischen Verlag und Redaktionen usw. –, liegen außerhalb des Geltungsbereichs dieser Arbeit, da die empirischen Daten nicht vorliegen. 13. Wer sind die deutschen Korrespondenten in Lateinamerika? Wo sind die Korrespondenten in Lateinamerika konzentriert, wie viele Länder werden von einem Korrespondenten abgedeckt? 14. Wie sind die Beziehungen zwischen dem Korrespondenten und seinen Abnehmerredaktionen in Deutschland? Welche Rolle spielen die Nachrichtenagenturen bei der Themenauswahl? 15. Welches Berufsverständnis haben die in Lateinamerika tätigen Korrespondenten? 16. Wie werden die Themen bzw. Ereignisse selektiert?
3
Methodische Auseinandersetzung und Forschungsdesign
Im folgenden Abschnitt wird der vollständige Aufbau der Untersuchung zur Auslandsberichterstattung Lateinamerikas entwickelt und die spezifischen methodischen Vorgehensweisen sowie deren Begründung vorgestellt. Die zentrale Fragestellung lautet: Welche Strukturen bzw. Merkmale determinierten die Berichterstattung Lateinamerikas in den ersten 15 Jahren des 21. Jahrhunderts und welches Image des Kontinents wird dadurch von der deutschen Medienrealität vermittelt? Aus dem folgenden Ablaufmodell (Abbildung 3.1) lässt sich das Forschungsdesign der vorliegenden Arbeit entnehmen.
Elektronisches Zusatzmaterial Die elektronische Version dieses Kapitels enthält Zusatzmaterial, das berechtigten Benutzern zur Verfügung steht. https://doi.org/10.1007/978-3-658-30784-4_3 © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 R. Cazzamatta, Lateinamerikaberichterstattung der deutschen Presse, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30784-4_3
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3 Methodische Auseinandersetzung und Forschungsdesign
Zentrale Fragestellung: Welche Strukturen bzw. Merkmale determinierten die Berichterstattung Lateinamerikas in den ersten 15 Jahren des 21. Jahrhunderts und welches Image des Kontinents wird dadurch von der deutschen Medienrealität vermittelt?
Methoden -
Quantitative Inhaltsanalyse (ReRekonstruktion der Auslandsberichterstattung) Qualitative Experteninterviews mit Korrespondenten Dekonstruktion I und II (Hafez 2002a)
-
Forschungsansätze -
Theorie internationaler und interkultureller Darstellungsprozesse in Massenmedien (Hafez 2002a) Nachrichtenwerttheorie Strukturmerkmale der Auslandsberichterstattung Gatekeeper-Forschung Rekonstruktivismus
Forschungsschritte -
Theoretische Auseinandersetzung und Literaturkritik der Lateinamerika-Berichterstattung
-
Quantitative Inhaltsanalyse der überregionalen deutschen Presse (SZ, FAZ, taz, Der Spiegel) von 2000 bis 2014
-
Auswertung der untersuchten Kategorien (einfache und kombinierte Auswertungen + Länderprofile)
-
Experteninterviews mit deutschen Korrespondenten zur Interpretation der Ergebnisse
Abbildung 3.1 Entwicklung des Forschungsprozesses zur Untersuchung der deutschen Berichterstattung über Lateinamerika von 2000 bis 2014
3 Methodische Auseinandersetzung und Forschungsdesign
159
Erstens wurde die Methode des R ekonstruktivismus-DekonstruktivismusAnsatzes vorgestellt, um den Vergleich zwischen Medienrealität und außermedialer Realität zu ermöglichen (Abschn. 3.1). Zudem wurde die quantitative Inhaltsanalyse als Forschungsmethode angesetzt, um die R e-Rekonstruktion der Medienrealität zu gewährleisten. Dabei wurden die Auswahl des Untersuchungsmaterials (Abschn. 3.2.1.1) sowie die Definition der Grundgesamtheit und die Methode der Stichprobenziehung (Abschn. 3.2.1.5) dargestellt. Darüber hinaus ist die Erläuterung der theoriegeleiteten Kategorien und der dazu gehörenden Forschungsannahmen präsentiert worden (Abschn. 3.2.1.6). Die Tabelle 3.1 fasst die untersuchten Kategorien zusammen und veranschaulicht kurz die entsprechenden theoretisch geleiteten Forschungsfragen, meistens in Bezug auf Strukturmerkmale der Lateinamerika-Berichterstattung (Abschn. 2.11). Zudem werden die Ebenen der theoretischen Überlegung verortet (Struktur oder Entstehungsbedingungen). Da viele Fragen nur durch die Beobachtung der Korrelation und der Zusammenspiele der Kategorien beantwortet werden können, bezieht sich eine Untersuchungskategorie manchmal auf mehrere Forschungsfragen. Darüber hinaus zeigt sich, wie schon erwähnt, eine Verbindung zwischen inhaltlichen Merkmalen und Nachrichtenfaktoren (Tabelle 2.4). Zum Beispiel beziehen sich „Prominenz“ und „Handlungsträger“ gleichzeitig auf die Frage der Elitenzentrierung, während „Valenz“ und „Schaden“ auf die Frage des Negativismus abzielen. Je nach Notwendigkeit, die Häufigkeit oder die Intensität der Ausprägungen zu beobachten, wurde auf die bestimmten entsprechenden Kategorien rekurriert. Zuletzt wurden Experteninterviews als zusätzliche Forschungsmethode angesetzt (Abschn. 3.3), um die Aussagekraft der mithilfe der Inhaltsanalyse gewonnenen Inferenzen auf Kommunikatoren zu stärken.
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3 Methodische Auseinandersetzung und Forschungsdesign
Tabelle 3.1 Tabellarische Zusammenfassung der untersuchten inhaltlichen Kategorien und Verbindung zu Theoriebezug und entsprechenden Forschungsfragen Untersuchungskategorien
Ebenen des theoretischen Bezugs
Forschungsannahmen– Forschungsfragen
Länderzentralität Ländermerkmale
Vernachlässigung der kleinen Nachrichtenwerttheorie: Machtstatus, wirtschaftliche Staaten (F1, F2, F8, F9, F10, F12) Nähe, sozioökonomischer Status
Berichtsort
Entstehungsbedingungen – Informationsbeschaffung
Thematisierung
Strukturmerkmale der Aus- Dominanz der Politik und landsberichterstattung eingeschränkte Thematisierung (F1, F2, F3, F5, F8, F9, F10, F11, F12)
Handlungsträger
Strukturmerkmale der Aus- Elitenzentrierung, d. h. landsberichterstattung Dominanz der Eliten und Gegeneliten als Akteure. Prädominanz westlicher Akteure (F1, F2, F6, F7, F12)
Autorenschaft
Entstehungsbedingungen – Informationsbeschaffung
Dominanz der Nachrichtenagenturen (F13, F12)
Deutscher Bezug
Nachrichtenwerttheorie
Überwiegende Anzahl deutscher Beteiligung, d. h. Ethnozentrismus (F1, F2, F7, F12)
Nachrichten-perspektiven
Strukturmerkmale
Indikator des Ethnozentrismus (F1, F2, F12)
Ereignisvalenz
Strukturmerkmale
Prädominanz des Negativismus (F1, F2, F12)
Krisenzentrierung
Strukturmerkmale/Nachrichtenwerttheorie
Dominanz der Krisenberichterstattung (F1, F2, F5, F12)
Schaden
Nachrichtenwerttheorie
Schaden trifft häufiger zu als Erfolg; Krisen werden auf negative Weise dargestellt (F1, F2, F4, F12)
Erfolg
Nachrichtenwerttheorie
Erfolg spielt eine kleine Rolle, insbesondere bei Krisenberichterstattung (F1, F2, F4, F12)
Großer Einfluss von Agenturen in Ländern, in denen Korrespondenten abwesend sind (F13)
(Fortsetzung)
3.1 Der Rekonstruktivismus-Dekonstruktivismus Ansatzes
161
Tabelle 3.1 (Fortsetzung) Untersuchungskategorien
Ebenen des theoretischen Bezugs
Forschungsannahmen– Forschungsfragen
Relevanz, Betroffenheit
Nachrichtenwerttheorie
Medienpräferenz für Ereignisse mit großer Betroffenheit/ Zusammenhang mit Politikzentrierung (F1, F2, F3, F4, F12)
Personalisierung
Nachrichtenwerttheorie
Dominanz der Personalisierung, insbesondere bei Ländern gegen den Washington-Konsens (F1, F4, F12)
Prominenz
Nachrichtenwerttheorie
Prominente genießen Vorzug der Presse. Politikprominenz. Vernachlässigung der normalen Bevölkerung, d. h. Elitenzentrierung (F1, F2, F4, F12)
Aktualität Zeitbezug
Nachrichtenwerttheorie
Bevorzugung punktueller und hochaktueller Ereignisse (F1, F2, F12)
Quellen: Eigene Darstellung
3.1 Der Rekonstruktivismus-Dekonstruktivismus Ansatzes Um die früheren erwähnten Forschungsfragen zu beantworten, untersucht die vorliegende Arbeit die von der deutschen Presse konstruierte Realität anhand der Strukturmerkmale der Auslandsberichterstattung und der Nachrichtenfaktoren. Allerdings verzichtet die Untersuchung nicht auf Überprüfungen des Wirklichkeitsgrades dieses Realitätsentwurfs. Unterschiedliche außermediale Daten – Außenhandel mit Deutschland, Bruttoinlandsprodukte, wissenschaftliche, politische und wirtschaftliche Diskurse – werden mit der analysierten Medienrealität zusammengesetzt. Solches Rekurrieren auf externe Wirklichkeiten ist auf der Grundlage des Konstruktivismus als leitende Theorie nicht möglich (vgl. der Konstruktivismus-Ansatz, die Massenmedien in den konstruktivistischen Auseinandersetzungen, die Kritiken und Alternativen im theoretischen Teil). Der Konstruktivismus ist nur für die Analyse der Medienrealität geeignet, da
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3 Methodische Auseinandersetzung und Forschungsdesign
der Ansatz einen Vergleich zwischen medialer und außermedialer Realität nicht zulässt. Obwohl der radikale Konstruktivismus bezüglich der Unbeweisbarkeit einer externen Realität sogar recht hat, kann man doch den Wirklichkeitsgrad eines Realitätsentwurfes oder die Adäquatheit der Berichterstattung überprüfen. In Luhmanns Worten kann die Kommunikation im Gesellschaftssystem auf eine „Konsistenzprüfung“ nicht verzichten. „Die“ Realität existiert aus der konstruktivistischen Betrachtungsweise nicht, „[z]ugleich gilt aber auch, daß kein kognitives System auf Realitätsannahmen verzichten kann“ (Luhmann 2009, S. 112). Eine vermittelnde Position ist der Rekonstruktivismus-Dekonstruktivismus-Ansatz (vgl. Hafez 2002a; vgl. Bentele 1993), der im theoretischen Kapitel ausführlich diskutiert wurde. Diese Arbeit orientiert sich an der von Hafez (vgl. 2002a, S. 21–23) empfohlenen methodischen Vorgehensweise (Re-Rekonstruktion, Dekonstruktion I und Dekonstruktion II), die auf drei notwendigen Kompetenzen basiert. Bei der „inhaltsanalytischen“ Fähigkeit wird auf die Re-Rekonstruktion der Medienrealität durch Inhaltsanalyse abgezielt. Die Medienrealität entsteht nicht aus einer absoluten Texteinheit, sondern aus diversen medialen Diskursen. Infolgedessen sollten Teile dieser Diskurse (z. B. überregionale Tageszeitungen) festgelegt werden. Auf der Ebene der „gegenstandsanalytischen“ Kompetenz werden Widersprüchlichkeiten zwischen medialen und außermedialen Diskursen anhand eines nichtmedialen Wissens identifiziert. Dieser Prozess wird als Dekonstruktion beschrieben, da es um eine Rekonstruktion der Realität geht, aber nur mit der Absicht, die rekonstruierte Medienrealität zu untersuchen, d. h. zu dekonstruieren. Zuletzt berücksichtigt die „medientheoretische“ Befähigung die Anwendung der Theorie internationaler und interkultureller Darstellungsprozesse auf die Ergebnisse der Rekonstruktion und Dekonstruktion, denn es ist nicht möglich aus den inhaltsanalytisch gewonnenen Daten Aussagen über die Entstehungsbedingungen oder Wirkungen der Auslandsberichterstattung zu treffen (ebd.). Der Hauptteil der vorliegenden Arbeit konzentriert sich auf den ersten Schritt der Analyse, nämlich die Re-Rekonstruktion, d. h. eine Rekonstruktion der Medienrealität, der medialen Darstellung der lateinamerikanischen Ereignisse in der deutschen Presse. Die Dekonstruktion I bezeichnet einen kritischen und sächlichen Vergleich zwischen der Medienrealität und den kulturwissenschaftlichen Erkenntnissen über die dargestellten lateinamerikanischen Länder. Dieser Schritt wird insbesondere bei auffälligen Ergebnissen zum Einsatz gebracht. Beispielsweise kann die starke Medienbeachtung eines Landes durch extra-mediale Daten aus den Bereichen Politik, Wirtschaft oder internationale Beziehungen geklärt werden. Angewendet wird die Dekonstruktion I zudem für den Vergleich
3.2 Quantitative Inhaltsanalyse als Forschungsmethode …
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zwischen medialen und wissenschaftlichen Diskursen, Themensetzungen und Entwicklungen. Es kann sein, dass ein Thema, das große wissenschaftliche Auseinandersetzung verursacht, von der Presse gar nicht oder bloß am Rande wahrgenommen wird. Zuletzt wird bei der Dekonstruktion II versucht, Erklärungen für die mithilfe der Re-Rekonstruktion und Dekonstruktion I identifizierten Divergenzen zwischen medialen und außermedialen Diskursen zu finden. Hierbei werden Experteninterviews durchgeführt, die zur Interpretation und Sinndeutung der Ergebnisse beitragen können.
3.2 Quantitative Inhaltsanalyse als Forschungsmethode: Re-Rekonstruktion der Medienrealität Ein ideales Instrument zur Untersuchung und Analyse der Einflussfaktoren im Prozess der Nachrichtenvermittlung der Auslandsberichterstattung Lateinamerikas und das dadurch in der deutschen Presse entstandene Image ist die Inhaltsanalyse, eine der meistverbreiteten Forschungsmethoden in der Kommunikationswissenschaft (vgl. Brosius et al. 2009, S. 139). In Verbindung mit den Propagandamöglichkeiten der Massenmedien hat das Verfahren der Inhaltsanalyse sich nach dem zweiten Weltkrieg in den USA entwickelt (ebd.). Die erste Definition entstand in diesem Kontext von Berelson: „content analysis is a research technique for the objective, systematic, and quantitative description of the manifest content of communication“ (Berelson 1952, S. 18). Nach der Erklärung des amerikanischen Forschers sei das Ziel der Inhaltsanalyse die bloße Beschreibung der Medieninhalte. Dementsprechend sei die Inhaltsanalyse kein Instrument der Erhebung, sondern verbleibt auf der Ebene der puren Textanalyse, anders gesagt sei sie eine „reine Forschungstechnik“ (Rössler 2005, S. 20). Im Laufe der methodologischen Entwicklung verließ die Inhaltsanalyse die reine verfahrenstechnische Ebene und erreichte den neuen Status einer unabhängigen sozialwissenschaftlichen Methode der Datenerhebung (vgl. Nafroth 2002, S. 89; vgl. Rössler 2005, S. 20). Interpretiert man anschließend die Inhaltsanalyse als sozialwissenschaftliche Erhebungsmethode der sozialen Realität, muss eine neue Definition dementsprechend die Frage der „Inferenz vom Text auf den Kontext“ (Merten 1995, S. 23) klären/enthalten. Im deutschen Sprachraum entwickelten sich daher zwei überarbeitete Definitionen. In einem der beiden bekanntesten deutschen Lehrbücher gab Merten eine weitere Begriffsbestimmung: „Inhaltsanalyse ist eine Methode zur Erhebung sozialer Wirklichkeit, bei der von Merkmalen eines manifesten Textes
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3 Methodische Auseinandersetzung und Forschungsdesign
auf Merkmale eines nichtmanifesten Kontextes geschlossen wird“ (Merten 1995, S. 15). Mit dieser Definition ist das Ziel der Methode auch anders positioniert – die Inhaltsanalyse zielt darauf ab, Inferenzschlüsse auf den Kommunikator, auf den Rezipienten und auf die Situation zu geben (ebd.). Als „manifest“ sind die zu analysierenden unveränderbaren Beiträge zu sehen, während „nichtmanifest“ andersherum alle Kontexte sind, die verändert werden könnten. Nach Mertens Verständnis wurde die Möglichkeit einer reinen Beschreibung als Objekt der Inhaltsanalyse ausgegrenzt (vgl Rössler 2005, S. 25; vgl. Maurer und Reinemann 2006, S. 12). Das Ziel der Inhaltsanalyse sind nach dieser Interpretation immer die Schlussfolgerungen, die mithilfe des Textmaterials getroffen werden können. Eine weitere bedeutende Definition wurde von Früh (2011, 27) verfasst: „Die Inhaltsanalyse ist eine empirische Methode zur systematischen, intersubjektiv nachvollziehbaren Beschreibung inhaltlicher und formaler Merkmale von Mitteilungen, meist mit dem Ziel einer darauf gestützten interpretativen Inferenz auf mittelungsexterne Sachverhalte“. Früh versteht die Inhaltsanalyse auch als eine eigenständige „empirische Methode“, die „zu wissenschaftlichen Erkenntnissen“ führt, verzichtet aber auf die Begriffe „manifest“ und „nichtmanifest“, da diese in der Vergangenheit mehr Verwirrung als Aufklärung verursacht haben (ebd.). Während Berelson die Objektivität berücksichtigt, zieht Früh „eine intersubjektiv nachvollziehbare“ Beschreibung in Betrachtung. Diese Entscheidung beachtet die philosophische Erkenntnis, dass Objektivität nicht erreichbar ist (vgl. Rössler 2005, S. 22). Die Methode der Inhaltsanalyse enthält eine große Anzahl unterschiedlicher Messinstrumente, muss aber nachprüfbare Kriterien angeben, die den Wahrnehmungsprozess reproduzierbar machen (vgl. Früh 2011, S. 28). Wissenschaftlich wünschenswert ist eine Beobachtung, die über die eigene Person (den Codierer) hinausgeht („intersubjektiv“) und mithilfe fester Regelungen übereinstimmende Wahrnehmungen erreicht. Oder wie Rössler (2005, S. 22–23) formuliert: „Unterschiedliche Forscher bzw. Codierer sollten bei der Anwendung desselben Instruments auf dasselbe Material zu denselben Ergebnissen kommen“. Früh differenzierte einen formal-deskriptiven, einen diagnostischen und einen prognostischen Ansatz der Inhaltsanalyse (vgl. Früh 2011, S. 44–45). Wenn Mitteilungen mit Unterstützung von „rein äußerliche[n], nicht inhaltliche[n] Merkmale[n]“ beschrieben werden, geht es um den formal-deskriptiven Ansatz. Als Beispiel gelten Studien, die allein die Häufigkeiten von Wörtern aufzählen, aber ohne die inhaltliche Bedeutung für die Interpretation zu berücksichtigen (vgl. Maurer und Reinemann 2006, S. 11). Der diagnostische Ansatz will Aussagen über die Entstehungsbedingungen der Mitteilungen feststellen, also mithilfe von Medieninhalt Inferenzschlüsse auf Kommunikator, Bedingungen und Prozesse (vgl. Früh 2011, S. 44–45) ziehen. Zuletzt versucht der prognostische Ansatz, anhand der Mitteilungsmerkmale die Wirkung bei den Rezipienten abzuleiten.
3.2 Quantitative Inhaltsanalyse als Forschungsmethode …
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Obwohl diese so genannten Schlussfolgerungen das „Salz in der Suppe“ (Rössler 2005, S. 25) bei der Inhaltsanalyse sind, ist dieses Verfahren wissenschaftlich umstritten (vgl. Brosius et al. 2009, S. 147). Auch wenn durch die Medieninhalte implizite oder explizite Rückschlüsse auf Kontexte gemacht werden können, ist die Inhaltsanalyse vorläufig eine Methode, die sich mit der strukturellen Bearbeitung einer großen Reihe von Texten beschäftigt (vgl. Maurer und Reinemann 2006, S. 14). Früh wies darauf hin, dass die Aussagekraft solcher, durch inhaltsanalytisch begründeten Inferenzen auf Kommunikatoren oder Rezipienten begrenzt ist (vgl. Früh 2011, S. 44). Ein Inhaltsanalytiker veranschaulicht nur Merkmale von Texten aus einer gewissen Perspektive und die darauf abgeleiteten diagnostischen und prognostischen Rückschlüsse gehören zum Interpretationsrahmen, wenn auch teilweise mit hoher Evidenz (ebd.). Der diagnostische Ansatz ist für die vorliegende Arbeit insbesondere interessant, um die Entstehungsbedingungen der Auslandsberichterstattung Lateinamerikas zu reflektieren und mehr über Prozesse und Einflüsse durch die Untersuchung der Struktur der Berichterstattung zu erfahren. Untersuchungen und Studien, die sich an diesen Ansatz stützen, versuchen Rückschlüsse auf die journalistische Selektion, auf das redaktionelle Profil einer Zeitung, auf die Wirkung spezifischer Quellen, auf den wirtschaftlichen Zweck eines Medienunternehmens oder auf die herrschende kulturelle Wertvorstellung einer Gesellschaft zu geben (vgl. Maurer und Reinemann 2006, S. 14). Allerdings kann solch eine Kontextualisierung der Entstehungsbedingungen nicht immer aus den inhaltsanalytischen Ergebnissen abgeleitet werden. Dafür braucht man häufig eine ergänzende Datenerhebung und eine Methodenkombination (vgl. Rössler 2005, S. 35). Als ergänzende Methode der vorliegenden Arbeit gelten die qualitativen Interviews mit den Lateinamerika-Korrespondenten. Das Ziel der in dieser Arbeit vorgeschlagenen Inhaltsanalyse ist die statistische Darstellung der Lateinamerika-Berichterstattung. Die Ergebnisse bieten einen informativen Einblick in die charakteristische mediale Realität und stellen die wesentlichen Merkmale des Lateinamerika-Bildes dar, die von den analysierten Leitmedien verbreitet werden.
3.2.1 Anlage und Durchführung der quantitativen Inhaltsanalyse 3.2.1.1 Auswahl des Untersuchungsmaterials Für die empirische Studie über das Image Lateinamerikas in der deutschen Presse wurden drei überregionale Tageszeitungen – die Süddeutsche Zeitung (SZ), die
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3 Methodische Auseinandersetzung und Forschungsdesign
Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) und die tageszeitung (taz) – und zusätzlich ein Wochenmagazin, Der Spiegel, als Untersuchungsmaterial der quantitativen Inhaltsanalyse ausgewählt. Unter dem Begriff überregionale Zeitungen versteht man Presseorgane, deren größter Teil ihrer Auflage im gesamten Bundesgebiet verbreitet ist (vgl. Noelle-Neumann et al. 2002, S. 433). Lokal- und Regionalzeitungen wurden nicht berücksichtigt, da der Hauptfokus solcher Presseerzeugnisse auf Lokalkommunikation und „Austausch in der Nahwelt“ (Pürer und Raabe 2007, S. 16) und nicht auf der Auslandsberichterstattung liegt. Zudem beschränkt sich die vorliegende quantitative Analyse auf die sogenannten „Qualitätszeitungen“ oder „Prestige Papers“, da eine Analyse des Gegenstands Lateinamerika in der Boulevardpresse weniger sinnvoll erscheint (vgl. Wöhlcke 1973, S. 10) und weil angenommen wird, dass eine Verbreitung der Lateinamerikabilder über diese Boulevardpresse erfolgt, die sich substanziell an solchen „Qualitätszeitungen“ orientiert (ebd.). Obwohl die Boulevardpresse oder Einzel- bzw. straßenverkaufte Zeitungen eine höhere Auflage aufweisen, informieren sie mithilfe der „Unterhaltung“, „Neugier“, „Sensationshunger“ und „Nervenkitzel“ (Roemeling-Kruthaup 1991, S. 74). Anders gesagt, Themen, die überhaupt nicht oder bloß am Rande in der seriösen Presse vorkommen, werden bei der Boulevardpresse maßgeblich ausgebreitet auf Kosten der wichtigsten Ereignisse, die dadurch weniger Platz finden (ebd.). Boulevardmedien wie die Bild-Zeitung betreiben keine systematische Auslandsberichterstattung (vgl. Hafez 2002b, S. 32), aber könnten für begrenzte Fallbeispiele zu bestimmten Themen in Bezug auf Lateinamerika untersucht werden. Im Gegensatz zur Boulevardpresse gilt die Qualitätspresse als Meinungsführer und legt viel Wert auf die Auslandsberichterstattung, insbesondere beim Politikressort (vgl. Bieber 2011, S. 69). Darüber hinaus bietet die Qualitätspresse ein vielseitiges journalistisches Sortiment an Nachrichten und Hintergründen zu einem umfangreichen thematischen Angebot aus Politik, Wirtschaft, Kultur, Gesellschaft und Sport. Daneben ist sie nicht nur national, sondern auch international organisiert (vgl. Schenk und Mangold 2011, S. 239). Im Gegensatz dazu priorisieren die Boulevardmedien Themen hinsichtlich „Intimbeziehungen, Familien und Sport“ (Blöbaum 2011, S. 52). Zudem beschäftigt sich die vorliegende Studie lediglich mit der Presse, nicht nur aus forschungsökonomischen Gründen, sondern auch, weil die Printmedien sich häufiger und ausführlicher mit Entwicklungsländern wie Lateinamerika befassen, wie frühere Aussagen von Journalisten und verschiedenen Presseanalysen bewiesen (vgl. Roemeling-Kruthaup 1991, S. 70–71). Auf die Relevanz der Printmedien deuten auch Jarren and Donges (vgl. 2011, 262) hin. Sie erreichen „mit ihren Angeboten vor allem die Teile der aktiven Öffentlichkeit der Gesellschaft sowie die Angehörigen der Eliten“ (ebd.). Studien über Mediennutzung von
3.2 Quantitative Inhaltsanalyse als Forschungsmethode …
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Politikern zeigen, dass Parlamentarier sich mit der Lektüre von Zeitungen dreimal so viel beschäftigen, wie der durchschnittliche Bürger (vgl. Schulz 2011, S. 28). Die von Abgeordneten im Bundestag und Länderparlamenten am häufigsten berücksichtigten Qualitätszeitungen sind die Frankfurter Allgemeine Zeitung, gefolgt von der Süddeutschen Zeitung, der Frankfurter Rundschau, der Welt und dem Handelsblatt (ebd.). Deswegen bestätigen Forscher (vgl. Jarren und Donges 2011, S. 263), dass die überregionalen Qualitätszeitungen für die politische Berichterstattung als „herausragende Medien“ gelten. Habermas (2010) verteidigt die gleiche Meinung: „Die Qualitätspresse spielt mindestens im Bereich der politischen Kommunikation – also für die Leser als Staatsbürger – die Rolle von ‚Leitmedien‘. Auch Funk und Fernsehen und die übrige Presse sind nämlich in ihrer politischen Berichterstattung und Kommentierung weitgehend abhängig von den Themen und Beiträgen, die ihnen die ‚räsonnierende‘ Publizistik vorschießt.“ (Habermas 2010)
Die Qualitätspresse gehört eindeutig zu den Medien, die von Eliten und Entscheidungsträgern massiv genutzt werden (vgl. Schenk und Mangold 2011, S. 239). Unter anderem sind die intensive Nutzung von Journalisten, die häufige Zitierung durch andere Tageszeitungen und die Bestimmung der Themen und Tendenzen der Berichterstattung Merkmale der Qualitätszeitung (vgl. Jandura und Brosius 2011, S. 196). Unterschiedliche Untersuchungen deuten darauf hin, dass die Prestigemedien als Meinungsführer für andere Medien wirken (ebd.). Die Auswahl der Presseorgane lässt sich grundsätzlich durch drei Argumente rechtfertigen. 1) Auflagenhöhe: Zuerst haben die selektierten Zeitungen und die Zeitschrift die höchsten Verkaufsauflagen und den breitesten Leserkreis innerhalb der Qualitätspresse Deutschlands (vgl. Pürer und Raabe 2007, S. 412; vgl. IVW 2014). Eine Ausnahme ist die taz, wie man aus der Tabelle 3.2 entnehmen kann, die trotz vergleichsweise kleiner Druckauflage als überregionales Blatt klassifiziert ist (vgl. Noelle-Neumann et al. 2002, S. 435; vgl. Pürer und Raabe 2007, S. 15). Trotzdem wurde sie in die Analyse einbezogen, da es sich um ein linksalternatives Blatt handelt, um das politische Meinungsspektrum der Untersuchung zu erweitern. Da die Inhaltsanalyse normalerweise keine Rückschlüsse auf das Publikum zulässt, scheint es vernünftig, Presse mit dem größten Leserkreis zu bevorzugen (vgl. Rössler 2005, S. 63). Obwohl die Forschungsfrage sich auf die Darstellung Lateinamerikas in der Presse konzentriert, liegt das Interesse der Untersuchung auf dem Bild, welches den Lesern zu diesen Ländern vermittelt wird (vgl. Jandura et al. 2005, S. 73). Da eine reichweitenstarke Zeitung für viele Leser die Basis ihrer Realitätskonstruktion ist, scheinen reichweitenschwache Presseorgane vernachlässigbar (ebd.).
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3 Methodische Auseinandersetzung und Forschungsdesign
Tabelle 3.2 Ausgewählte Medien und deren Druckauflage und Reichweite Medium
Format
Druckauflage 3. Reichweite pro Quartal 2014 Ausgabe
Sitz der Redaktion
Süddeutsche Zeitung (SZ)
Tageszeitung
455.423
1,27 Mio.
München
Frankfurter All- Tageszeitung gemeine Zeitung (FAZ)
357.222
1,11 Mio.
Frankfurt am Main
die tageszeitung Tageszeitung (taz)
64.984
382.000
Berlin
5,83 Mio.
Hamburg
Der Spiegel
Wochenmagazin 1.021.169
Quellen: Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern e. V. (IVW) – Heftauflagen 3. Quartal 2014/Allensbacher Werbeträger-Analyse (AWA) 2014 und Arbeitsgemeinschaft Media-Analyse e. V. MA 2012
2) Journalistische Meinungsführer: Zweitens werden die selektierten Presseangebote als „Leitmedien“ betrachtet, das heißt, sie beeinflussen die Berichterstattung anderer Medien (ebd.). Hier gilt die „Hypothese der Koorientierung“ (Brosius et al. 2009, S. 164): Redakteure und Journalisten orientieren sich an der Arbeit ihrer Kollegen und die Journalisten einer Regionalzeitung lesen speziell die Beiträge ihrer Kollegen von überregionalen Zeitungen (ebd.). Überregionale Presseorgane mit gewissen Qualitätsstandards werden von Kommunikatoren anderer Medien rezipiert und sind potenzielle politische Meinungsführer (vgl. Nafroth 2002, S. 91–92). Mindestens eine überregionale Zeitung wird von 86 Prozent der deutschen Kommunikatoren gelesen. Nur die SZ mit einem Anteil von 73 Prozent gilt als „die meistgelesene Qualitätszeitung in Journalistenkreisen“ (Jandura und Brosius 2011, S. 195). Danach kommt die FAZ mit 59 Prozent (ebd.). Eine frühere Untersuchung von Noelle-Neumann und Mathes (vgl. 1987, S. 405) zeigt, dass die deutschen Journalisten die Berichterstattung zweier Prestigetageszeitungen (SZ und FAZ) und zweier wöchentlicher Presseerzeugnisse (Der Spiegel und Die Zeit) als „sehr wichtig“ für ihre Arbeit beurteilen. Deswegen ist es plausibel zu sagen, dass der Ton der Berichterstattung der überregionalen Tageszeitungen mehr oder weniger in den kleineren Presseerzeugnissen und Medienlandschaften wiederzufinden ist (vgl. Brosius et al. 2009, S. 164). Laut dem Bericht des Media Tenors 2013 sind drei der für die quantitative Inhaltsanalyse selektierten Presseorgane unter den 20 meistzitierten Medien Deutschlands. Der Spiegel steht auf Platz eins, die SZ liegt auf Platz drei und die FAZ auf Platz acht (vgl. Media Tenor 2013). Dieser Multiplikatoreneffekt
3.2 Quantitative Inhaltsanalyse als Forschungsmethode …
169
kann für die Rückschlüsse auf die Redaktionen und Journalisten als adäquates Selektionskriterium angesehen werden (vgl. Rössler 2005, S. 63). Daher scheint es für ein überregionales Thema wie Lateinamerika ausreichend, die entsprechende überregionale Qualitätszeitung zu untersuchen (vgl. Brosius et al. 2009, S. 164). Auch wenn die Verbreitung der Qualitätsblätter im Vergleich zu anderen Medien und regionalen Zeitungen klein ist, weisen die „Prestige Papers“ viel mehr Bedeutung und Einfluss auf, als deren Verkaufsauflage glauben macht, weil sie Meinungsführer und Entscheidungsträger erreichen (vgl. Roemeling-Kruthaup 1991, S. 75). Die Rolle der alternativen Presse beim „inter-media“ Agenda-SettingProzess muss auch berücksichtigt werden. Eine Untersuchung von Mathes and Pfetsch (1991)1 stellt einen „spill-over“-Effekt dar – abweichende Themen („counter-issues“) fließen von der alternativen zu der etablierten Presse wie eine Welle. Zudem übernimmt die etablierte liberale Presse manchmal sogar die von der alternativen Presse präsentierten Deutungs- und Darstellungsmuster eines Themas (ebd.). Deswegen sehen die Autoren die alternativen Medien als Lieferanten von neuen Fragen und Thematiken. Insbesondere die tageszeitung (taz) funktioniert wie ein linksorientierter Anbieter von neuen Themen und Ideen. Die alternativen Medien versuchen, die Einzelgruppen zu integrieren und eine Gegenöffentlichkeit in der etablierten Presse einzurichten. Diese Funktion der alternativen Presse kann durch die von der taz beschriebenen Ziele bei ihrer Gründung 1978 verdeutlicht werden: Sie wollte zuerst ein Forum für die politische Linke und für die von den Mainstreammedien ignorierten Themen sein (vgl. Rainer Mathes und Pfetsch 1991, S. 37). Außerdem hoffte die taz, einen Multiplikator-Effekt zu verursachen, indem sie die etablierte Presse auf die neuen aufkommenden Themen aufmerksam machte und dann ermöglichte, dass die neuen Issues einen großen Publikumskreis erreichten (ebd.). Die Studie kam zu dem Schluss, dass die Prestigepresse wie Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Rundschau und die Zeit als journalistisch interne 1Mathes
& Pfetsch (1991) untersuchten den Agenda-Setting-Prozess von drei genannten „Counter-Issues“, die innerhalb der sozialen Bewegungen generiert wurden (der Bevölkerungszählungsboykott und die Einführung eines neuen persönlichen Ausweises im Jahr 1983 und die Kontroverse über eine vom Geheimdienst gefälschte Bombardierung). Analysiert wurde die Themenkarriere in der Presse zu unterschiedlichen Momenten, nämlich der Vorbereitungsphase, der „spill-over“-Phase (wann erreichen die Themen die etablierte liberale Presse), der Aufschwung- und Abschwungphase. Nach der Vorbereitungsphase von sieben Wochen, Zeit, in der das Thema die Agenda der alternativen Presse erreichte, floss es zunächst innerhalb von zwei Wochen in die Qualitätszeitung. Dieses Phänomen beschrieben die Autoren als „spill-over“-Effekt. Während der Aufschwungphase bewegen sich die Themen von der Media- zu der politischen Agenda.
170
3 Methodische Auseinandersetzung und Forschungsdesign
Meinungsführer die obengenannte Kettenreaktion erzeugen. Der Spiegel verstärkt den Trend. Seit das Thema in der etablierten liberalen Presse ist, taucht es danach in der konservativen Zeitung auf. Wegen der Funktion der alternativen Medien, nämlich der Artikulierung und dem Aggregieren von marginalisierten Meinungen und der Versorgung der etablierten Medien mit anderen Sorten von Informationen, scheint es sinnvoll, die tageszeitung in die vorliegende Studie einzubeziehen. Man kann davon ausgehen, dass die taz die ursprüngliche Quelle von alternativen Lateinamerika-Issues ist. 3) Meinungsspektrum: Zuletzt steht die Berücksichtigung der politischen Inhalte als drittes Argument für die selektierten Presseorgane, um die unterschiedlichen politischen Haltungen abdecken (oder abbilden) zu können. Die Süddeutsche Zeitung (liberal, breiter politisierend und intellektuell orientiert) und die Frankfurter Allgemeine Zeitung (wirtschaftsliberal und politisch konservativ) bilden das Spektrum von „gemäßigt“ links bis „gemäßigt“ rechts ab. Und wie oben erwähnt wurde, stellt die taz die alternative, links-orientierte Position dar. Das Wochenmagazin Der Spiegel (links-liberal und systemkritisch orientiert) wird getrennt analysiert, da Zeitungen und Zeitschriften unterschiedliche Leistungen und Inhaltsprofile aufweisen (vgl. Nafroth 2002, S. 91–92; vgl. Noelle-Neumann et al. 2002, S. 90; vgl. Pürer und Raabe 2007, S. 152–167; vgl. Kollmorgen et al. 2011, S. 141).
3.2.1.2 Die vier untersuchten Presseorgane – SZ, FAZ, taz und Der Spiegel Die Süddeutsche Zeitung (SZ) wurde am 06. Oktober 1945 gegründet und war die erste Lokal- und Regionalzeitung in Süddeutschland, die eine Lizenz der US-Militärregierung bekam (vgl. Pürer und Raabe 2007, S. 152; vgl. Süd deutscher Verlag 2014). Das Blatt ist die „auflagenstärkste der überregional verbreiteten Tageszeitungen“ (ebd.) und erreichte im Jahr 1989 die verkaufte Auflage von täglich 373.000 Exemplaren. Heutzutage liegt diese Anzahl bei 379.798 Exemplaren, davon 260.093 als Abonnement und 16.543 als E-Paper (vgl. IVW 2014), wie man aus der Tabelle 3.3 entnehmen kann. Seit 2011 kann man die Zeitung als E-Paper für iPad-Apps erhalten. Trotzdem gilt die SZ als „Heimatblatt“ (Pürer und Raabe 2007, S. 152), da zwei Drittel der Auflage in Oberbayern, speziell im Münchner Raum verkauft werden. Das Blatt hat 40 deutsche und internationale Korrespondenten und hunderte fest angestellter Redakteure (vgl. Süddeutscher Verlag 2014) und versteht sich als Zeitung des „meinungsfreudigen und unabhängigen“ Journalismus (ebd.). Ihre Leser wurden von der SZ als „Bildungs- und Business-Schicht“ beschrieben (Süddeutsche Zeitung GmbH 2011) und die Hälfte aller SZ-Leser haben ein Haushaltsnettoeinkommen von monatlich 3.000 Euro oder mehr zur Verfügung (ebd.).
3.2 Quantitative Inhaltsanalyse als Forschungsmethode …
171
Tabelle 3.3 Verbreitung, Verkaufsauflage und Abonnement der untersuchten Presseorgane Medium
Verbreitung
Davon E-Paper
Verkauf
Davon Abonnement E-Paper
Davon E-Paper
Süddeutsche Zeitung (SZ)
390.444
30.023
379.798
30.023
260.093
16.543
320.151 Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ)
29.613
305.747
29.613
202.812
20.156
die tageszeitung (taz)
56.132
11.261
54.806
11.261
42.197
5.114
Der Spiegel
888.070
49.438
878.260
49.438
411.038
23.949
Quellen: Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern e. V. (IVW) Heftauflagen 3. Quartal 2014
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung wurde 1949 nach der Erteilung der Generallizenz errichtet und verzichtete von Anfang an auf einen Chefredakteur und wurde nach dem Kollegialprinzip von fünf Herausgebern geführt (vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH 2007, S. 6; vgl. Pürer und Raabe 2007, S. 152– 153). Die „international renommierte Zeitung“ hat mit großem Abstand das beeindruckendste Korrespondentennetz, nämlich 60 Inlands- und 38 Auslandskorrespondenten (vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH 2014, S. 16), was eine von Nachrichtenagenturen unabhängige Berichterstattung ermöglichen soll (vgl. Bieber 2011, S. 70). In den drei Redaktionen – FAZ, FAZ Net und FAZ am Sonntag – sind 400 Personen beschäftigt (vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH 2014, S. 16). Das Blatt legt viel Wert auf nationale und internationale Politik, sowie auf Wirtschaftsberichterstattung und trotz der konservativen Tradition erklärt es sich als parteipolitisch unabhängig (vgl. Pürer und Raabe 2007, S. 152–153). Allerdings wird der Politikbereich als „CDU/CSU-freundlich“, der Wirtschaftsanteil als „unternehmerfreundlich“ und das Kultursegment als „meinungsvielfältig“ (Bieber 2011, S. 70) angesehen. Ihre Leser wurden vom Verlag als „gebildet, erfolgreich und einkommensstark“ beschrieben (Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH 2007, S. 10–11). Nach Angabe der Marktforschung des Verlags haben 35 % der Leser ein Haushaltsnettoeinkommen zwischen 3.000 und 5.000 Euro; 25,7 % zwischen 2.000 und 3.000 Euro und 13 % größer als 5.000 Euro (ebd.). Insgesamt wurden 45,9 % der FAZ-Leser als „breite Mittelschicht“ und 41 % als „gehobener Mittelstand“ kategorisiert (ebd.). Noch zu den untersuchten überregionalen Zeitungen gehört die in Berlin erscheinende linksalternative taz, die tageszeitung, mit einer Verkaufsauflage
172
3 Methodische Auseinandersetzung und Forschungsdesign
von 54.806 Exemplaren. Es geht um eine der wenigen Neuerscheinungen in Westdeutschland in den letzten Jahrzehnten. Sie wurde im Jahr 1979 von Initiativgruppen gegründet und wies ein ganz neues Prinzip auf: Redaktion ohne Leitungsorganisation, die Ablehnung von Hierarchie und niedriges Einkommen für alle Mitarbeiter (vgl. Pürer und Raabe 2007, S. 154; vgl. Meyn 2012, S. 73). Ihre Gründung war eine Landmarke in der Geschichte der alternativen Presse (vgl. Rainer Mathes und Pfetsch 1991, S. 37). Aber was früher „das größte deutsche selbstverwaltete Unternehmen ohne Unternehmer“ war (Pürer und Raabe 2007, S. 154), entfernte sich im Laufe der Zeit vom ursprünglichen Projekt. Das Blatt ist ähnlicher zu den traditionellen Zeitungen geworden, hat Chefredakteure eingeführt, verzichtet auf die Gleicheinkommensidee und wurde bis Ende der 80er-Jahre eher stark professionalisiert (ebd.). Als Herausgeber heutzutage gilt die taz Verlagsgenossenschaft, bestehend aus Mitarbeitern, Lesern und Anhängern (vgl. Meyn 2012, S. 73). Die Schwerpunkte der taz-Berichterstattung liegen auf Themen der Innenpolitik, der Umwelt, sozialen Themen und der Energiepolitik. Bei der Außenpolitik wird auch eine Präferenz für die sogenannte Dritte-Welt-Berichterstattung konstatiert (vgl. Pürer und Raabe 2007, S. 154) – eigentlich noch ein weiterer fundamentaler Grund, die Zeitung in die Analyse einzubeziehen. Ihre Leser werden als „jung, gebildet, kaufkräftig und erfolgreich“ beschrieben (die tageszeitung 2005). Das Leserprofil lautet: 72 % sind bis 49 Jahre alt, 59 % haben das Abitur gemacht und ein Studium abgeschlossen und 56 % haben ein Haushaltseinkommen von 2.000 Euro oder mehr (ebd.). Zu ihren Leser-Kreisen gehören das linke politische Spektrum, kritische Intellektuelle und noch dazu verschiedene Journalisten aus den Mainstreammedien (vgl. Rainer Mathes und Pfetsch 1991, S. 37). Für die quantitative Inhaltsanalyse wurde noch ein Wochenmagazin untersucht, nämlich Der Spiegel, der 1947 nach Kriegsende aus der von der britischen Militärregierung geführten Wochenzeitschrift „Diese Woche“ entstand. Im Jahr 1952 zogen die Redaktion und der Verlag von Hannover nach Hamburg (vgl. Pürer und Raabe 2007, S. 166). Das Nachrichtenmagazin ist stark mit dem Namen seines gleichzeitigen Herausgebers, Verlegers und Chef-Redakteurs, Rudolf Augstein, der 2002 starb, verbunden (ebd.). Das Blatt ist außerdem für seinen Rechercheaufwand, die kritische Berichterstattung, den investigativen Journalismus und die Enthüllung unterschiedlicher politischer Skandale bekannt (vgl. Meyn 2012, S. 78). Als journalistischen Stil bevorzugt das Magazin die Vermischung von Fakten und Wertungen und die Darstellung politischer Geschehnisse basierend auf „personenbezogenen“ Storys (vgl. Pürer und Raabe 2007, S. ebd.). Es wird dem Magazin vorgeworfen, nur kritisch zu sein, parteiisch zu informieren, da das Blatt Politiker, speziell von CDU/CSU „der Lächerlichkeit
3.2 Quantitative Inhaltsanalyse als Forschungsmethode …
173
preisgibt“, Klischees zu bevorzugen und die Storys stark zu personalisieren (vgl. Meyn 2012, S. 78). Befürworter dagegen argumentieren, dass die Vermischung von Fakten und Wertungen selbstverständlich ist, da sie zu dem Stil der Nachrichtenmagazine gehört. Gelobt wurden die Kritik- und Kontrollfunktion des Magazins, die Vertiefung der Informationen aus der Tagespresse, die Betrachtung von unpopulären Themen und die Unabhängigkeit (ebd.). Da in Deutschland eine große Anzahl von Kommunikatoren das Blatt gewöhnlich benutzt, gilt es als essenzielles Orientierungsmedium und Meinungsführer (ebd.). Der Spiegel hat fast 6 Millionen Leser pro Ausgabe, was 8,6 % der Bevölkerung ab 14 Jahren entspricht (vgl. AWA 2014) und seine Leserschaft wird vom Verlag als „Spitze der (gesellschaftlichen) Pyramide“ definiert (Der Spiegel 2010). Das Korrespondentennetz der Zeitschrift besteht zudem aus 7 inländischen und 16 ausländischen Büros (vgl. Der Spiegel 2014).
3.2.1.3 Untersuchungszeitraum – die ersten 15 Jahre des 21. Jahrhunderts Um eine mögliche Veränderung der Nachrichtenfaktoren Lateinamerikas in der deutschen Presse besser zu erfassen, wurden die ersten 15 Jahre des 21. Jahrhunderts als Untersuchungszeitraum gewählt – das heißt von Januar 2000 bis Dezember 2014. Eine Begründung für diese Entscheidung liegt auf der Hand: Die 90er-Jahre brachten mehr Demokratie und neoliberale Wirtschaftspolitik. Aber seit Beginn des Jahrtausends sind die politischen Führungen im Kontinent immer mehr links oder mittig-links orientiert. Es wäre Anfang der 90er-Jahre unvorstellbar gewesen, dass in so vielen Ländern wie Brasilien, Bolivien, Chile, Ecuador, Uruguay und Venezuela mehr oder weniger linke Regierungen demokratisch gewählt werden können, ohne dass Militärs oder eine fremde Macht eingegriffen hätten2 (vgl. Le Monde diplomatique 2009, S. 40–41).
3.2.1.4 Zugriffskriterien Ausgewählt wurden alle Beiträge, die das Wort „Lateinamerika“ oder den Namen eines der 20 Länder und ihrer Hauptstädte im Titelbereich aufweisen. Unter
2In
Venezuela gewann 1998 der Sozialist Hugo Chávez zum ersten Mal die Wahlen. Es folgten danach 2002 die Wahlsiege des Gewerkschafters Luiz Inácio Lula da Silva in Brasilien, des Linksperonisten Néstor Kirchner 2003 in Argentinien, des Sozialdemokraten Tabaré Vázquez 2004 in Uruguay, des indigenen Bauerngewerkschafters Evo Morales 2005 in Bolivien, der Sozialdemokratin Michelle Bachelet 2006 in Chile, des Sozialisten Rafael Correa 2006 in Ecuador, des Befreiungstheologen Fernando Lugo 2011 in Paraguay und zuletzt Ollanta Humala 2011 in Peru (vgl. Le Monde diplomatique 2009, S. 40–41).
174
3 Methodische Auseinandersetzung und Forschungsdesign
den Ländern sind folgende aufgelistet: Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Costa Rica, Dominikanische Republik, Ecuador, El Salvador, Guatemala, Haiti, Honduras, Kolumbien, Kuba, Mexiko, Nicaragua, Panama, Paraguay, Peru, Uruguay und Venezuela. Da die Journalisten manchmal nicht unbedingt das Land im Titel nennen, wurde auch nach den Hauptstädten3 gesucht. Beiträge wie der folgende – „Slum mit Aussicht. Noch können diese Bewohner des wohl höchsten Slums der Welt die Aussicht auf Caracas genießen“ (Spiegel, 2014) – konnten daher in die Grundgesamtheit einbezogen werden. Um die Suchkriterien noch besser zu optimieren, wurde auch nach den entsprechenden Adjektiven (lateinamerikanisch, brasilianisch, venezolanisch usw.) gesucht. Bei diesem Prozess muss auf die Besonderheiten jedes Zeitungsarchivs geachtet werden. Zum Beispiel reicht es bei den Online-Zeitungsarchiven der SZ und der FAZ nicht, einfach den Begriff „kubanisch“ zu suchen, weil die Suchmaschine die weiteren Deklinationen (kubanisches, kubanischer, kubanische, kubanischen) nicht findet. Daher musste nach allen Endungen gesucht werden. Das ist nicht der Fall bei der LexisNexis-Datenbank, aus der die Beiträge der taz und des Spiegels stammen. Die Sportberichterstattung wurde ausgeblendet. Zuerst würde die Analyse des Sportbereichs die Größe des Samples erheblich erweitern (zwischen 100–200 Texte pro Jahr und pro Zeitung). Außerdem geht es bei Sportberichterstattung meistens um den Nachrichtenfaktor „Aktualität“. Zudem sind Beiträge, die exklusiv bei den Online-Redaktionen verfasst wurden, auch nicht in die Grundgesamtheit einbezogen worden. Die Webseiten SZ.de, FAZ.NET, taz.de und Spiegel Online wurden aus forschungsökonomischen Gründen nicht untersucht. Da es bei der SZ und der taz nur Ausgaben von Montag bis Samstag gibt, wurde die FAZ-Sonntagszeitung nicht betrachtet. Bei der SZ wurden nur die Leitmedien (die Süddeutsche Zeitung mit den Ausgaben von Deutschland, Bayern und München und das SZ-Magazin) untersucht. Die Landkreisausgaben (Freising, Dachau, Erding, Eberberg, Starnberg usw.) konnten nicht betrachtet werden. Aber trotz dieser Forschungseinschränkungen besteht die Grundgesamtheit der gesamten quantitativen Inhaltsanalyse aus 21.929 Beiträgen.
3Buenos
Aires, Sucre, La Paz (Regierungssitz von Bolivien), Brasília, Santiago de Chile, San José, Santo Domingo, Quito, San Salvador, Guatemala, Port-au-Prince, Tegucigalpa, Bogotá, Havanna, Ciudad de México, Managua, Panama, Asunción, Lima, Montevideo, Caracas.
3.2 Quantitative Inhaltsanalyse als Forschungsmethode …
175
3.2.1.5 Definition der Grundgesamtheit und die Methode der Stichprobenziehung Wegen der Größe der Untersuchung, die die Berichterstattung vier deutscher Presseorgane innerhalb von fünfzehn Jahren analysiert, musste eine Stichprobe gezogen werden. Die Qualität empirischer Untersuchungen ist von der Güte der Methode abhängig. Diese Qualität des Messverfahrens wird durch die Begriffe der Validität und der Reliabilität (vgl. Früh 2011, S. 188–198) gemessen, und die Qualität der Objektauswahl bei Teilerhebung durch die Relation zwischen Stichprobe und Grundgesamtheit (vgl. Jandura et al. 2005, S. 71). Wenn verallgemeinernde Aussagen getroffen werden sollen, geht es hauptsächlich um eine zentrale Frage, nämlich wie das Untersuchungsmaterial der Teilerhebung entstand (vgl. Jandura et al. 2005, S. 72). Um eine bestmögliche, verkleinerte Abbildung der Grundgesamtheit der Objektmenge zu erhalten, erfolgte eine große Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Verfahren der Stichprobenziehung – einfache Zufallsstichprobe, geschichtete Stichprobe und die zeitliche Klumpung oder die sogenannte künstliche Woche. Für Kommunikationswissenschaftler wie Jandura und Kuhlmann (2005) wird die Qualität von Stichproben bei Inhaltsanalysen im Gegensatz zu den Befragungen „immer noch zu wenig reflektiert“ (Jandura et al. 2005, S. 75). Als Grundgesamtheit der vorliegenden quantitativen Inhaltsanalyse gilt die Berichterstattung der vier Printmedien (SZ, FAZ, taz und der Spiegel) zu Lateinamerika zwischen 2000 und 2014. Oft tritt das Problem der Periodizität der Berichterstattung auf, das heißt, die Variation der Themenstruktur einer Tagezeitung über die Wochentage, die eine kleine Stichprobe leicht verzerren kann (vgl. Früh 2011, S. 109). Außerdem variiert die Berichterstattung ungeordnet über die Zeit, abhängig von momentanen Geschehnissen und der Thematisierung durch Aktoren. Im Speziellen sind inhaltliche Kategorien wie die „Themen“ von den Ereignissen und Themengegebenheiten abhängig und daher ist ihre Verteilung ganz sensibel für Stichprobenfehler (vgl. Jandura et al. 2005, S. 74). Da eine Stichprobe nicht nur über die Woche, sondern auch über das Jahr so gut wie möglich gestreut sein muss, scheint die Methode der künstlichen Woche auf den ersten Blick ausreichend zu sein. Unter „künstlicher Woche“ versteht man ein „Rotationsprinzip von Wochentagen“ (jedes n-te Elemente der Grundgesamtheit) über die Jahre hinweg, um saisonale Schwankungen auszugleichen (vgl. Früh 2011, S. 109). Allerdings weist die „zeitliche Klumpenauswahl“ einen größeren Standardfehler im Vergleich zur einfachen Zufallsauswahl auf (vgl. Merten 1995, S. 291; vgl. Jandura et al. 2005, S. 79–80). Problematisch ist, dass die „Auswahleinheit
176
3 Methodische Auseinandersetzung und Forschungsdesign
(Erhebungseinheit) hier nicht mit der Analyseeinheit (Untersuchungseinheit) zusammenfällt“ (Merten 1995, S. 291). Diese Fehler würden nicht vorkommen, wenn alle Klumpen, die eine Stichprobe auf Basis von Tagen generiert, den gleichen Inhalt bzw. die gleichen Beiträge hätte, da jeder Klumpen eine endgültige Stichprobe der Grundgesamtheit wäre (vgl. Jandura et al. 2005, S. 80). Allerdings ist das nicht der Fall bei ereignisabhängigen Medieninhaltsklumpen (ebd.). Bei der Analyse der Lateinamerika-Berichterstattung wies die Methode der künstlichen Woche zwei Probleme auf: 1) die Verteilung der Beiträge über die ausgewählten Tage ist unglaublich unterschiedlich, anders gesagt ist die Besetzung einiger Klumpen mit Analyseeinheiten unterschiedlich groß. Es gab Tage ohne einen einzigen Beitrag über Lateinamerika. 2) Zudem sind die Länder disproportional präsent und daher hätten unsichtbare Länder wie Costa Rica oder die Dominikanische Republik weniger Chancen, in die Stichprobe einbezogen zu werden.
3.2.1.5.1 Experiment zur Güte der Stichprobe Um die Qualität der beiden Möglichkeiten der Stichprobenziehung, nämlich die Zufallsauswahl oder die künstliche Woche (oder systematisch-zufällige Klumpung), zu vergleichen, wurde ein Experiment durchgeführt. Alle Beiträge der Süddeutschen Zeitung von Januar 2000 bis Dezember 2013, die den Zugriffskriterien (siehe oben) entsprachen, wurden aufgelistet. Eine Datenbank mit folgenden Informationen wurde erschaffen: Datum des Beitrags, Größe des Textes und von welchem Land die Rede ist. Außer den 20 lateinamerikanischen Ländern wurde eine weitere Kategorie eingerichtet, und zwar „Lateinamerikaoder multikultureller Bezug“, um Beiträge, die unterschiedliche Länder gleichzeitig zitieren oder über die Konjunktur des Kontinents berichten, zu klassifizieren. Die Grundgesamtheit des Experiments besteht aus 5.435 Beiträgen. Dann wurde eine Stichprobe nach dem Prinzip der künstlichen Woche (jeder 5. Erscheinungstag ab 01. Januar 2000/4.383 Tage total) erschaffen. Insgesamt konnten 1.076 Beiträge über Lateinamerika gefunden werden, was 19,79 % der Grundgesamtheit entsprach. Zuletzt wurde eine Zufallsstichprobe von 20 % der Fälle oder 1.087 Texten über die Zufallsauswahlfunktion der Datenanalysesoftware SPSS generiert. Das Ziel war die Verteilung der Beiträge über die Jahre, die Größenverhältnisse von Ländern und die Größe der Texte der Zufallsstichprobe und der zeitlichen Klumpung mit der Grundgesamtheit zu vergleichen. Die Ergebnisse sind aus den folgenden drei Tabellen zu entnehmen (Tabelle 3.4, 3.5 und 3.6):
3.2 Quantitative Inhaltsanalyse als Forschungsmethode …
177
Tabelle 3.4 Länderverhältnis zwischen Zufallsstichprobe und künstlicher Woche (SZ 2000–2013) Länder
Brasilien
Künstliche KünstZufallGrundGrundZufallliche gesamtheit gesamtheit Stichprobe Stichprobe Woche Woche 20 % 20 % Anzahl
Prozent
Anzahl
Prozent
Anzahl
Prozent
887
16,3
187
17,2
205
19,1
Argentinien
834
15,3
158
14,5
167
15,5
Mexiko
674
12,4
133
12,2
140
13
Kuba
571
10,5
117
10,8
102
9,5
Kolumbien
398
7,3
73
6,7
70
6,5
Chile
333
6,1
63
5,8
42
3,9
Venezuela
319
5,9
75
6,9
58
5,4
Haiti
278
5,1
61
5,6
61
5,7
Peru
210
3,9
38
3,5
40
3,7
Lateinamerika
155
2,9
39
3,6
25
2,3
Ecuador
152
2,8
33
3
28
2,6
Bolivien
128
2,4
17
1,6
28
2,6
Honduras
89
1,6
17
1,6
21
2
Guatemala
70
1,3
11
1
18
1,7
Costa Rica
59
1,1
14
1,3
14
1,3
Nicaragua
59
1,1
15
1,4
12
1,1
Panama
59
1,1
13
1,2
12
1,1
El Salvador
50
0,9
11
1
6
0,6
Uruguay
48
0,9
5
0,5
10
0,9
Paraguay
41
0,8
5
0,5
9
0,8
Dominikanische 21 Republik
0,4
2
0,2
8
0,7
Gesamt
100
1087
100
1076
100
5.435
Quelle: Eigene Darstellung
178
3 Methodische Auseinandersetzung und Forschungsdesign
Tabelle 3.5 Verteilung der Beiträge pro Jahre in der Zufallsstichprobe und künstlicher Woche (SZ 2000–2013) Jahre
2000
Grundgesamtheit
Grundgesamtheit
ZufallStichprobe 20 %
ZufallStichprobe 20 %
Künstliche Woche
Künstliche Woche
Anzahl
Prozent
Anzahl
Prozent
Anzahl
Prozent
472
8,7
93
8,6
84
7,8
2001
459
8,4
94
8,6
89
8,3
2002
494
9,1
92
8,5
108
10
2003
353
6,5
75
6,9
79
7,3
2004
331
6,1
66
6,1
63
5,9
2005
339
6,2
75
6,9
63
5,9
2006
393
7,2
76
7
84
7,8
2007
318
5,9
62
5,7
52
4,8
2008
374
6,9
66
6,1
84
7,8
2009
375
6,9
65
6
74
6,9
2010
548
10,1
118
10,9
103
9,6
2011
310
5,7
60
5,5
69
6,4
2012
350
6,4
65
6
65
6
2013
319
5,9
80
7,4
59
5,5
Gesamt
5435
100
1087
100
1076
100
Quelle: Eigene Darstellung
3.2 Quantitative Inhaltsanalyse als Forschungsmethode …
179
Tabelle 3.6 Verhältnis der Größe der Beiträge zwischen der Zufallsstichprobe und künstliche Woche (SZ 2000–2013) Größe in Wörter
Künstliche Künstliche ZufallGrundGrundZufallWoche gesamtheit gesamtheit Stichprobe Stichprobe Woche 20 % 20 % Anzahl
Prozent
Anzahl
Prozent
Anzahl
Prozent
Kleine Meldungen (bis 150 Wörter/30 Zeilen)
1420
26,1
293
27
290
27
Kurze (151–500)
1963
36,1
378
34,8
381
35,4
Mittlere (501–1000)
1455
26,8
293
27
295
27,4
Lange (1001–1500)
350
6,4
64
5,9
67
6,2
Umfangreiche 247 (ab 1501)
4,5
59
5,4
43
4
Gesamt
100
1087
100
1076
100
5435
Quelle: Eigene Darstellung
Wie man auf den ersten Blick aus den oberen Tabellen erkennen kann, kommt nicht nur die Zufallsauswahl, sondern auch die Klumpenstichprobe (künstliche Woche) dem Ergebnis der Vollerhebung sehr nah. Um das Ergebnis statistisch zu berechnen, wurde zusätzlich die Signifikanzprüfung für die Häufigkeitsverteilung (Chi-Quadrat-Test – Länderverteilung) durchgeführt. Durch die Darstellung der beobachteten und erwarteten Häufigkeiten wird die Nullhypothese getestet, das heißt, ob die gefundenen Häufigkeitsverteilungen sich nur zufällig von den erwarteten Verteilungen unterscheiden. (vgl. Leonhart 2010, S. 137). Wenn der p-Wert kleiner als 0,05 ist, dann wird die Nullhypothese verworfen und die Alternative angenommen. Die alternative Hypothese bedeutet, dass die Stichprobe nicht der Grundgesamtheit entspricht, das heißt, eine andere Verteilung hat (ebd.). Da die Ungleichverteilung der Länder in der Grundgesamtheit für das Experiment bekannt war, wurden alle erwarteten Häufigkeiten bei nichtparametrischen Tests eingegeben (alte Dialogfelder bei SPSS). Hier muss die Reihenfolge der Merkmale beachtet werden (vgl. Leonhart 2010, S. 139). Die Ergebnisse
180
3 Methodische Auseinandersetzung und Forschungsdesign
kann man aus der Tabelle 3.7 entnehmen. Bei der künstlichen Woche entspricht Chi-Quadrat einem Wert von 26,187, welcher einen Freiheitsgrad von 20 besitzt und nicht als signifikant betrachtet wird (asymptotische Signifikanz = 0,160, das heißt p > 0,05). Das heißt, die Nullhypothese wird beibehalten. Bei der Zufallsstichprobe ergab sich ein Chi-Quadrat-Wert von 16,650, welcher einen Freiheitsgrad von 20 hat und auch nicht als signifikant betrachtet wird (asymptotische Signifikanz = 0,676, das heißt p > 0,05). Die Nullhypothese wird auch beibehalten, weil die Stichprobe die Grundgesamtheit gut abbildet. Die Struktur der Länderverteilung in der Stichprobe weicht nicht von der Grundgesamtheit ab. Obwohl die Nullhypothese in beiden Methoden beibehalten wurde, kann man sagen, dass diese Zufallsstichprobe etwas besser die Grundgesamtheit abbildet, da ihr entsprechender Chi-Quadrat-Wert kleiner ist. Tabelle 3.7 Signifikanzprüfung für die Länderverteilung Signifikanzprüfung
Zufallsstichprobe
Künstliche Woche
Chi-Quadrat
16,650a
26,187b
df.
20
20
asymptotische Signifikanz
0,676
0,160
a) Bei 1 Zellen (4,8 %) werden weniger als 5 Häufigkeiten erwartet. Die kleinste erwartete Zellenhäufigkeit ist 4.2. b) Bei 1 Zellen (4,8 %) werden weniger als 5 Häufigkeiten erwartet. Die kleinste erwartete Zellenhäufigkeit ist 4.2 Quelle: Eigene Darstellung
Bei der Überprüfung der Verteilung der Beiträge über die 14 Jahre war das Ergebnis zwischen künstlicher Woche und Zufallsstichprobe sehr ähnlich (X-Quadrat jeweils mit einem Wert von 9,100 und 9,255 und Freiheitsgrad von 13). Die beiden Stichproben hier werden nicht als signifikant betrachtet (Tabelle 3.8) und die Nullhypothesen dann beibehalten. Anders gesagt bilden beide Stichproben die Grundgesamtheit ab. Dasselbe kann man über die Verhältnisse der Größe der Beiträge in beiden Stichproben sagen und hier war die künstliche Woche mit einem kleineren Chi-Quadrat-Wert von 1,385 sogar ein bisschen besser.
3.2 Quantitative Inhaltsanalyse als Forschungsmethode …
181
Tabelle 3.8 Signifikanzprüfung für die Verteilung der Texte über die Jahre und Größe der Beiträge Signifikanzprüfung
Chi-Quadrat
Jahre
Jahre
Größe
Größe
Zufallsstichprobe
Künstliche Woche
Zufallsstichprobe
Künstliche Woche
9,255a
9,100b
3,222c
1,385d
df.
13
13
4
4
asymptotische Signifikanz
0,765
0,753
0,521
0,847
a. Bei 0 Zellen (.0 %) werden weniger Zellenhäufigkeit ist 62.0 b. Bei 0 Zellen (.0 %) werden weniger Zellenhäufigkeit ist 61.4 c. Bei 0 Zellen (.0 %) werden weniger Zellenhäufigkeit ist 49.4 d. Bei 0 Zellen (.0 %) werden weniger Zellenhäufigkeit ist 48.9 Quelle: Eigene Darstellung
als 5 Häufigkeiten erwartet. Die kleinste erwartete als 5 Häufigkeiten erwartet. Die kleinste erwartete als 5 Häufigkeiten erwartet. Die kleinste erwartete als 5 Häufigkeiten erwartet. Die kleinste erwartete
Dieses Ergebnis der ausreichenden Repräsentativität der künstlichen Woche entspricht auch den Befunden von Jandura und Kuhlmann (vgl. Jandura et al. 2005, S. 91–94), in der die Autoren die Fernsehberichterstattung aller relevanten Beiträge des Bundestagswahlkampfs 1998 vom 02. März bis 26. September erhoben und unterschiedliche Stichproben zogen. Insgesamt wurden 6.828 Beiträge über 29 Tage codiert. Allerdings haben die Autoren noch zusätzlich unterschiedliche Experimente durchgeführt (durch den Vergleich der Stichproben mit der Vollerhebung und durch die Anwendung von Inferenzstatistik, wenn die Grundgesamtheit nicht bekannt war). Sie kamen auch zum Schluss, dass die künstliche Woche „je nach Startterminen“ teilweise zu unterschiedlichen Ergebnissen führen konnte (vgl. Jandura et al. 2005, S. 112). Sie deuten darauf hin, dass im Fall von künstlichen Wochen die Stichprobe deutlich erhöht werden muss, und zwar um „eine Erhöhung der Klumpenzahl“. Die vorliegende gute Vergleichbarkeit der künstlichen Woche und 20 %-Zufallsstichprobe liegt an dem großen Untersuchungszeitraum, der einem Sample von 4.383 Tagen über 15 Jahre entsprach. Eine kleine vergleichende Analyse nur für das Jahr 2013 bei der SZ
182
3 Methodische Auseinandersetzung und Forschungsdesign
ergab ein ganz anderes Bild, da eine größere Abweichung zwischen Grundgesamtheit und künstlicher Woche konstatiert wurde. An 29 von 61 untersuchten Tagen gab es überhaupt keinen Beitrag über Lateinamerika. Zudem wurden bei dieser zeitlichen Klumpung des Jahres 2013 bloß 16 % der Beiträge erreicht. Außerdem betrachten die Autoren die Repräsentativität, welche durch die zeitliche Klumpung manchmal auch erreicht werden könnte, als „eine Seite der Medaille“ (Jandura et al. 2005, S. 112). Auf der anderen Seite sollte die Qualität der Aussage auch beachtet werden. Es wurde von den Kommunikationswissenschaftlern kritisiert, dass die mit der Frage nach der Güte der künstlichen Woche beschäftigten früheren Studien nur Variablen analysierten, die „nur wenig Varianz“ haben. Das sei problematisch, da aktuelle Inhaltsanalysen nicht nur bei strukturellen Variablen bleiben, sondern sich auch mit ereignisabhängigen Erscheinungen besonderer Themen, Akteure oder Bewertungen beschäftigen (ebd.). Durch andere statistische Experimente von inhaltlichen Kategorien (z. B. Anteil der Berichterstattung über politische Parteien in der Stichprobe) beobachten die Kommunikationswissenschaftler, dass die Aussagekraft der künstlichen Woche in Bezug auf verschiedene Merkmale des Datensatzes erheblich abweicht (vgl. Jandura et al. 2005, S. 104). Während sich bei den strukturellen Variablen die künstliche Woche lediglich leicht von der Zufallsstichprobe unterscheidet, wurde bei den inhaltlichen Variablen konstatiert, dass das Vertrauensintervall so breit ist, dass schwerlich Schlüsse gezogen werden können (ebd.). Die Studie kam zum Fazit, dass „wesentlich kleinere Zufallsstichproben bessere Ergebnisse erzielen als künstliche Wochen“ (Jandura et al. 2005, S. 112). Da aus forschungsökonomischen Gründen keine weiteren Tests mit allen Arten von Startterminen der künstlichen Woche und verschiedenen Zufallsstichproben durchgeführt werden konnten, wurde entschieden, die Grundgesamtheit aufzulisten, um eine symbolische Repräsentanz aller Beiträge der selektierten Presseorgane zu haben. Trotz des Arbeitsaufwands ist es immer möglich, die unterschiedlichen Stichproben mit der Grundgesamtheit zu vergleichen und die Anzahl der Beiträge, die Verteilung über die Jahre und Länderverhältnisse zu kontrollieren. Überdies trägt eine vorherige Auflistung zur Erkenntnis über die Nachrichtengeografie und deren Verhältnisse bei.
3.2 Quantitative Inhaltsanalyse als Forschungsmethode …
183
Zudem ermöglicht die Auflistung der Grundgesamtheit die Ziehung einer geschichteten Stichprobe, da die Verteilung des Schichtungsmerkmals (Länder, Erscheinungsdaten und Größe der Beiträge) bekannt ist. Zuerst können solche Merkmale verteilt werden, anschließend kann eine Zufallsstichprobe nach Lotterieprinzip oder weitere geschichtete Stichproben nach Erscheinungsintervall erfolgen. Der größte Vorteil ist, dass die Güte des erzeugten Samples kontrollierbar ist.
3.2.1.5.2 Anmerkungen über die vorliegenden Informationen der Grundgesamtheit Die Grundgesamtheit der Untersuchung besteht aus 21.929 Beiträgen, die den Zugriffskriterien entsprachen (siehe oben) und zwischen dem 01. Januar 2000 und dem 31. Dezember 2014 erschienen sind. Von diesem Total entsprechen 5.835 Artikel (26,6 %) der journalistischen Darstellungsform der kleinen Meldung (Abbildung 3.2) – kurze Nachrichten mit
Anzahl
Größe der Beiträge in der Grundgesamtheit 9000 8000 7000 6000 5000 4000 3000 2000 1000 0
8268 5835
5585
1288
Meldungsgröße Eigene Darstellung
Abbildung 3.2 Größe der Beiträge in der Grundgesamtheit
953
184
3 Methodische Auseinandersetzung und Forschungsdesign
bis zu 20 oder 30 Zeilen (vgl. Hafez 2002b, S. 33; vgl. Nafroth 2002, S. XII). Solche kleinen Texte werden nicht in das Sample aufgenommen, da in kleinen Meldungen oder Agenturberichten nur ausnahmsweise Bewertungen und Hintergrundinformationen zu finden sind und daher weniger Nachrichtenfaktoren bzw. Handlungsträger und Quellen (vgl. Nafroth 2002, S. 94). Anzahl der Beiträge pro Presseorgan in der Grundgesamtheit 6000
5750 5029
5000
4293
Anzahl
4000 3000 2000
1022
1000 0
FAZ
taz SZ Eigene Darstellung
Der Spiegel
Abbildung 3.3 Anzahl der Beiträge pro Presseerscheinung in der Grundgesamtheit
Nach der Ausblendung solcher kleinen Meldungen ergab sich in der Grundgesamtheit ein Total von 16.094 Beiträgen. Davon sind 4.293 aus der Süddeutschen Zeitung, 5.750 aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 5.029 aus der tageszeitung und 1.022 aus dem Magazin Der Spiegel, wie man aus der Abbildung 3.3 entnehmen kann. Die Stichprobenziehung wurde auf Basis dieser 16.094 Beiträge durchgeführt.
3.2.1.5.3 Die geschichtete Stichprobe nach Nachrichtengeografie und Erscheinungsintervall Das Verhältnis der Länder in der Grundgesamtheit ist sehr markant. Die Auslandsberichterstattung der deutschen Presse über Lateinamerika konzentriert sich auf ganz wenige Länder, genauer auf die fünf am meisten genannten
185
3.2 Quantitative Inhaltsanalyse als Forschungsmethode …
Nationen Brasilien, Argentinien, Mexiko, Kuba und Kolumbien. Die am wenigsten vorkommenden Länder, die eher am Rande betrachtet wurden, sind die Dominikanische Republik, Costa Rica, Paraguay, El Salvador und Panama, wie aus der Abbildung 3.4 zu beobachten ist. Damit alle Nationen die gleiche Chance haben, in die Stichprobe einzufließen, wurde ein Sample von 20 % pro Land einbezogen. Diese Prozedur garantiert, dass sich dieses ungleichmäßige Verhältnis der verschiedenen Länder der Grundgesamtheit in der Stichprobe abbildet. Wie oben erklärt wurde, wurden die kleinen Meldungen, die fast keine Nachrichtenfaktoren aufweisen, ausgeklammert. Danach wurden mithilfe einer Auflistung der Beiträge 21 Stichproben von 20 % der Zeitungen gezogen (20 Länder und zusätzlich die Kategorie „Lateinamerika allgemein“). Anzahl der Beiträge pro Land in der Grundgesamtheit 3000
2891 2562
Anzahl
2500 2000 1500 1000 500
1830 1574 1198 1031 921
697 623
504
400 377
239 226 193 172 161
145 130 127 93
0
Eigene Darstellung
Abbildung 3.4 Die Nachrichtengeografie – Das Länderverhältnis in der Grundgesamtheit
Außerdem wurden die Beiträge über die spezifischen Länder durch die Auflistung nach Erscheinungsintervall ausgewählt, um eine gute Streuung der Stichproben zu gewährleisten. Das heißt, jeder n-4-te Beitrag (25 % der Totalität), beispielsweise von Argentinien, wurde im Rotationsprinzip selektiert.
186
3 Methodische Auseinandersetzung und Forschungsdesign
Die Voraussetzung für solch eine Prozedur ist erfüllt, da die Verteilung des Schichtungsmerkmals in der Grundgesamtheit durch die vorherige Auflistung bekannt war. Insgesamt ergaben sich 84 kleine, gut reflektierte Stichproben von 25 % oder ungefähr 4.160 Beiträge zum Codieren (Abbildung 3.5). Obwohl die quantitative Inhaltsanalyse aus pragmatischen und forschungsökonomischen Gründen mithilfe einer Stichprobe durchgeführt werden musste, basiert die Analyse auf einer hohen Datenmenge, was aussagekräftige Ergebnisse garantieren sollte.
Grundgesamtheit 21.929 Texte
Schichtung 1:
Trennung der kleinen Meldungen
16.094 Beiträge
bis 30 Zeilen – 150 Wörter (nicht einbezogen)
Schichtung 2
SZ
FAZ
taz
Spiegel
4.293
5.750
5.029
1.022
Schichtung 3: 25 %
Schichtung 3: 25 %
Schichtung 3: 25 %
Stichprobe nach
Stichprobe nach
Stichprobe nach
Stichprobe nach
Erscheinungsintervall
Erscheinungsintervall
Erscheinungsintervall
Erscheinungsintervall
jedes Land
jedes Land innerhalb
jedes Land innerhalb
jedes Land innerhalb
innerhalb SZ
FAZ
taz
Spiegel
Schichtung 3: 25 %
Sample von 25 % oder ungefähr 4.160 Texten
Abbildung 3.5 Abbildung der geschichteten Stichprobe nach Zeitungen, Ländern und Erscheinungsintervall. (Quelle: Eigene Darstellung)
3.2 Quantitative Inhaltsanalyse als Forschungsmethode …
187
Wie gesagt, scheint die Stichprobenziehung nach Ländern eine gute Entscheidung zu sein, damit alle Nationen die gleiche Chance haben, einbezogen zu werden. Aber innerhalb der Länder war die Selektion nach Erscheinungsintervall sinnvoll, da die Berichterstattung in verschiedenen Fällen sehr ereigniszentriert ist. Beobachtet man beispielsweise die Honduras-Berichterstattung im Lauf von 15 Jahren, ist eine große Schwankung im Jahr 2009 zu erkennen. Die Anzahl der Beiträge hat sich erheblich erhöht, da ein Putsch im Land stattgefunden hat. Die Militärs haben gegen den gewählten Präsidenten Manuel Zelaya rebelliert. Nach dem Umsturz des gewählten Präsidenten gewann der Konservative Porfirio Lobo die Präsidentschaftswahl, aber zu dieser Zeit war die internationale Anerkennung der Wahl noch offen. Wenn die Beiträge über Honduras nach Erscheinungsintervall selektiert sind, erhöht sich die Chance, dass solche zeitlichen Schwankungen wie im Jahr 2009 sich auch in der Stichprobe abbilden (Abbildung 3.6).
Honduras-Berichterstattung im Lauf der Jahre (Grundgesamtheit) 250
Anzahl
200 150 100
2013
2012
2011
2010
2009
2008
2007
2006
2005
2004
2003
2002
2001
0
2000
50
Eigene Darstellung
Abbildung 3.6 Honduras-Berichterstattung in der Grundgesamtheit im Lauf der Jahre
188
3 Methodische Auseinandersetzung und Forschungsdesign
Ein anderes Beispiel für ereigniszentrierte Berichterstattung, die bestimmte Nachrichtenfaktoren bevorzugt, ist der Fall von Haiti. In der Abbildung 3.7 sind zwei Schwankungen zu erkennen, nämlich in den Jahren 2004 und 2010. Beim Jubiläum der 200-jährigen Unabhängigkeit Haitis Anfang des Jahres 2004 gab es einen Aufstand gegen den Präsidenten Jean-Bertrand Aristide, der zurücktrat. Überdies verursachte eine Überschwemmungskatastrophe im Mai des gleichen Jahres Tausende Hilfsbedürftige (vgl. BBC 2015). Im Jahr 2010 gab es das schwerste Erdbeben der Geschichte des Landes seit 200 Jahren und zusätzlich den Ausbruch und die Ausbreitung der Cholera. Die Beiträge betrachteten nicht nur diese Naturkatastrophe, sondern auch ihre Konsequenzen wie den Wiederaufbau, internationale Hilfe und Spenden usw. Zudem gab es Krawalle im Oktober nach den umstrittenen Wahlergebnissen. Die Süddeutsche Zeitung spricht sogar von einer „apokalyptischen“ Szene (Süddeutsche Zeitung 2010).
Haiti-Berichterstattung im Lauf der Jahre (Grundgesamtheit) 400 350 300
Anzahl
250 200 150 100
Eigene Darstellung
Abbildung 3.7 Die Höhepunkte der Haiti-Berichterstattung
2013
2012
2011
2010
2009
2008
2007
2006
2005
2004
2003
2002
2001
0
2000
50
189
3.2 Quantitative Inhaltsanalyse als Forschungsmethode …
Bei der El Salvador-Berichterstattung sind auch zwei Höhepunkte zu erkennen. Die meisten Beiträge erschienen im Jahr 2001, als zwei schwere Erdbeben innerhalb nur eines Monats und 3.486 Nachbeben (vgl. Süddeutsche Zeitung 2001) stattfanden. Im Jahr 2009 bemerkt man auch eine Schwankung in der Grafik, obwohl sie kleiner im Vergleich zum Jahr 2001ist. Der Grund ist hier, neben einem Hurrikan im November, ein historischer Machtwechsel. Nach 20-jähriger Herrschaft der Rechten hat der Linkspolitiker Mauricio Funes, Kandidat der früheren Guerillagruppe FMLN, die Wahlen gewonnen (Abbildung 3.8). El Salvador-Berichterstattung im Lauf der Jahre (Grundgesamtheit) 70 60
Anzahl
50 40 30 20 10
2013
2012
2011
2010
2009
2008
2007
2006
2005
2004
2003
2002
2001
2000
0
Eigene Darstellung
Abbildung 3.8 Die Höhepunkte der El Salvador-Berichterstattung im Lauf von 15 Jahren
190
3 Methodische Auseinandersetzung und Forschungsdesign
Im Fall von Chile beobachtet man auch große Ereignisse, die für die Erhöhung der Berichterstattung verantwortlich waren. Im Februar 2010 berichtet die Presse über ein weiteres Erdbeben und im Oktober 2010 geschah ein Bergwerksunglück. Zehn Wochen lang hielten die Bergarbeiter während der aufwendigen Rettungsaktion in fast 700 Meter Tiefe durch. Die TV-Kameras und die ganze Welt beobachteten die dreiunddreißig eingeschlossenen Bergleute, die glücklicherweise in Sicherheit gebracht wurden. Einen zweiten Höhepunkt der Berichterstattung beobachtet man im Jahr 2000, als der General Pinochet nach über 16 Monaten Hausarrest in London nach Chile zurückkehrte. Im gleichen Jahr gewann der Kandidat der regierenden Mitte-Links-Koalition, Ricardo Lagos, die Präsidentschaftswahl (Abbildung 3.9).
Chile-Berichterstattung im Lauf der Jahre (Grundgesamtheit) 200 180 160
Anzahl
140 120 100 80 60 40 20
Eigene Darstellung
Abbildung 3.9 Große Momente der Chile-Berichterstattung
2013
2012
2011
2010
2009
2008
2007
2006
2005
2004
2003
2002
2001
2000
0
3.2 Quantitative Inhaltsanalyse als Forschungsmethode …
191
Die Venezuela-Berichterstattung zeigt drei markante Momente. Im Jahr 2002 beobachtete die Presse die politische Unruhe des Landes. Im April gingen circa 150.000 Menschen (vgl. BBC 2014) auf die Straße zur Unterstützung der Streiks und Proteste um Öl. Die Nationalgarde und Pro-Chávez-Bewaffnete stießen mit den Demonstranten zusammen. Im Zuge der Massendemonstrationen wurde Chávez von Militärs für 48 Stunden aus dem Amt entfernt. Nach dem Militärarrest und Protesten für Chávez kehrte er in sein Amt zurück. Weitere Streiks legten das Land lahm. Im Jahr 2007 wurde über den Verfassungsstreit und das Verfassungsreferendum, über das im Dezember abgestimmt werden sollte, berichtet. Verstaatlichung von Energie- und Telekommunikations-Firmen und wiederum Massenproteste gehörten zur Medienagenda. Die letzte Abbildungsschwankung entspricht Ereignissen wie dem Tod von Chávez an Krebs und dem Wahlsieg des von Chávez gewählten Nachfolgers, Nicólas Maduro (Abbildung 3.10). Venezuela-Berichterstattung im Lauf der Jahre (Grundgesamtheit) 180 160 140
Anzahl
120 100 80 60 40
2013
2012
2011
2010
2009
2008
2007
2006
2005
2004
2003
2002
2001
0
2000
20
Eigene Darstellung
Abbildung 3.10 Schwankungen in der Venezuela-Berichterstattung im Lauf von 15 Jahren
192
3 Methodische Auseinandersetzung und Forschungsdesign
Die Beispiele sind hier nicht erschöpft, da in verschiedenen Ländern eine sehr starke ereigniszentrierte Berichterstattung zu beobachten ist. Im Fall von Argentinien konzentriert sich die größte Anzahl der Beiträge beispielsweise auf die wirtschaftlichen Krisen in den Jahren 2001 und 2002. Oder bei der Peru-Berichterstattung findet man viel mehr Texte im Jahr 2000, als Fujimori wegen eines Bestechungsskandals den Rückhalt und konsequenterweise seine Basis im Parlament verlor und im November nach Japan floh. Wichtig ist, dass solche Schwankungen der Berichterstattung sich auch in der Stichprobe abbilden und nicht nur die Nachrichtengeografie, sondern auch die Ereignis-Höhepunkte der Grundgesamtheit für die kommende Analyse bekannt sind.
3.2.1.6 Codebuch – Erläuterung der theoriegeleitenden Kategorien und der dazu gehörenden Forschungsannahmen Zusammengefasst wurde eine geschichtete Stichprobe von 25 % pro Zeitung, Land und Größe der Beiträge gezogen. Das Sample erhält 4.166 Texte aus der SZ, FAZ, taz und dem Spiegel, die zwischen Januar 2000 bis Dezember 2014 über die zwanzig Länder Lateinamerikas veröffentlicht wurden. Um die Forschungsfragen – „Welche Struktur wies die Lateinamerika-Berichterstattung in der deutschen Presse auf oder wie wurde über Lateinamerika in der deutschen Presse berichtet?“ – zu beantworten, wurde ein theoriegeleitetes Kategoriensystem entwickelt. Das Codebuch wurde in Anlehnung an verschiedene Studien über Auslandsberichterstattung (vgl. Hafez 2002a; vgl. Wöhlcke 1973; vgl. Roemeling-Kruthaup 1991; vgl. Nafroth 2002; vgl. Mükke 2009; vgl. Richter und Gebauer 2010; vgl. Bieber 2011) und Nachrichtenwerttheorie (vgl. Galtung und Ruge 1965; vgl. Schulz 1976; vgl. Staab 1990a) angefertigt. „Kategorien sind Klassen eines übergeordneten und damit abstrahierenden Klassifikationsschemas“ (Merten 1995, S. 147). Die differenzierten Kategorien unterstützen die Reduktion von multidimensionalem Inhalt von Texten auf eine zu untersuchende Dimension von Merkmalen (vgl. Nafroth 2002, S. 95). Laut Merten (1995) sollten die sechs wichtigsten Kriterien für die Festsetzung der Kategorien beachtet werden. Zuerst soll das System theoretisch deduziert werden, oder anders gesagt, es soll mit den Zwecken der Analyse zusammenpassen. Zweitens soll das ganze System Vollständigkeit aufweisen, um alle eventuellen Inhalte zu erfassen. Das bedeutsame Konstrukt muss durch eine vielfache Zahl von Kategorien abgedeckt werden, damit alle Facetten, die in der Berichterstattung auftauchen, auch codiert werden können (vgl. Rössler 2005, S. 85). Drittens sollten die Kategorien „wechselseitig exklusiv“ aufgebaut
3.2 Quantitative Inhaltsanalyse als Forschungsmethode …
193
werden, um Doppeldeutigkeit und unklare Codierungsentscheidungen zu vermeiden (Trennschärfe). In Frühs Worten: „(J)ede Kategorie sollte einen eindeutigen, klar abgrenzbaren Bedeutungsgehalt repräsentieren“ (Früh 2011, S. 87). Viertens sollen die Kategorien voneinander unabhängig sein und fünftens sollen sie ein identisches Klassifikationsprinzip respektieren. Zuletzt ist die Eindeutigkeit der Kategorien zu berücksichtigen. Um die vorliegende Inhaltsanalyse und ihre Operationalisierung wiederholbar zu machen und ihre Ergebnisse kontrollieren zu können, muss das resultierende Kategoriensystem offengelegt werden. Daher ist die vollständige Darstellung des Codebuchs im Anhang zu finden. Im nächsten Kapitel werden die formalen und inhaltlichen Kategorien vorgestellt, erläutert und im Zusammenhang mit den dazugehörenden Forschungsannahmen diskutiert. Wichtig ist nicht nur, die Codierungsanweisungen zu beleuchten, sondern auch das Ziel jeder untersuchten Kategorie und ihre entsprechenden Merkmale zu erklären. Anders formuliert: Was soll jede Kategorie messen?
3.2.1.6.1 Formale Kategorien Bei den formalen Kategorien werden Folgendes codiert: die Identifikationsnummer der Artikel; die Presseerzeugnisse, das Publikationsdatum (in der Reihenfolge Tag, Monat und Jahr) und zuletzt die Größe der Beiträge (gemessen durch die Anzahl der Wörter nach dem Zeitungsarchiv).
3.2.1.6.2 Inhaltliche Kategorien 3.2.1.6.2.1 Starker oder schwacher Fokus auf Lateinamerika In dieser Kategorie wird ausdifferenziert, ob der Beitrag einen starken oder schwachen Bezug auf den Kontinent Lateinamerika oder dessen Nationen nimmt. Unter einem starkem Bezug versteht man hier Texte, die einen großen Fokus auf Lateinamerika haben und sich evident auf Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft lateinamerikanischer Länder beziehen. Es sollte mehr als bloß die Nennung eines Landes sein. Andersherum bedeutet ein schwacher Fokus auf Lateinamerika, wenn die Länder bloß als eines von mehreren Beispielen zur Illustration vorkommen oder am Rande in anderem Kontext erwähnt werden, d. h. als Subtext oder Absatz eines Beitrages. Die Nennung von Ländern im Titelbereich galt als Zugriffskriterium. Diese Entscheidung garantiert meistens, dass die Länder im Zentrum des Beitrages stehen. Allerdings kann es auch passieren, dass sie auch im Titel bloß als Illustrationsbeispiel genannt werden. Manchmal kommt Kuba im Titelbereich des Beitrags in Verbindung mit Guantanamo vor, aber die Texte betrachten normalerweise die USA-Außenpolitik und ihren
194
3 Methodische Auseinandersetzung und Forschungsdesign
Krieg gegen den Terror. Wenn keine Auseinandersetzung mit der kubanischen Regierung vorkommt, wird ein solcher Text als „schwacher Bezug“ verstanden. Als Beispiel: „UN-Experten dürfen Guantanamo besichtigen – Gespräche mit Gefangenen im US-Stützpunkt auf Kuba nicht vorgesehen/Kritik von Menschenrechtlern“ (SZ, 31.10.2006). Das Sachgebiet Sport wurde auch nicht in Betracht gezogen, allerdings tauchen manchmal sportliche Ereignisse, insbesondere während WM-Jahren in Bereichen wie „Hintergrund“, „Themen des Tages“, „Berlin Aktuell“ auf, die nicht unbedingt innerhalb der Sport-Ressorts zu finden sind. In diesen Fällen wurden die Beiträge auch nicht weiter codiert und als „schwacher Bezug“ verstanden. Die nächsten folgenden Beispiele sollen den erklärten schwachen Bezug allgemein verdeutlichen: „Umschmeichelte Schwellenländer. Bundesregierung will mit neuem Konzept die Wirtschaftsbeziehungen zu rohstoffreichen Staaten wie Brasilien, China und Südafrika forcieren“ (SZ, 06.02.2012). „Schweigsam und gelassen. Weil der Druck auf das Bankgeheimnis wächst, bekommen reiche Europäer kalte Füße. Sie ziehen inzwischen ihr Geld aus der Schweiz ab. Die Banken dort haben vorerst keinen Grund, alarmiert zu sein: Kunden aus Asien oder Lateinamerika sind längst wichtiger. Und ihr Zustrom reißt nicht ab“. (SZ, 18.09.2012).
Im Fall des schwachen Fokus auf Lateinamerika wird die Codierung sofort unterbrochen. Prinzipiell kommen für die Analyse nur Artikel infrage, in denen eindeutig die lateinamerikanischen Länder im Vordergrund stehen. 3.2.1.6.2.2 Journalistische Darstellungsformen Das Ziel dieser Kategorie ist die Untersuchung der Ausgewogenheit zwischen Meinung und unpersönlichen Tatsachenmeldungen der deutschen Lateinamerika-Berichterstattung. Auf eine ausführliche Ausdifferenzierung der journalistischen Darstellungsformen wurde verzichtet. Die wichtigste Codierungsentscheidung ist der Unterschied zwischen faktisch orientiert (Meldungen oder Berichte), Mischformen (Reportage, Feature oder Porträt) und Meinungsbeiträgen (Kommentare, Kritik, Kolumne und Essays). Zuletzt wird eine vierte Kategorie, das Interview, einbezogen. Hier geht es um eine FrageAntwort-Situation bzw. ein Gespräch, das bei der Veröffentlichung für den Rezipienten deutlich ist (vgl. Codebuch im Anhang).
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3.2.1.6.2.3 Zeitbezug des Artikels/Aktualität Hier wird die Aktualität eines Ereignisses bzw. des Hauptthemas codiert. Der Fokus liegt auf dem beschriebenen faktischen Ereignis. Betrachtet ein Text eine Naturkatastrophe wie das Erdbeben in Haiti und die nachfolgenden Diskussionen und zukünftigen Maßnahmen, dann gilt das Erdbeben als das zentrale Geschehen selbst. Als Beiträge mit historischen Ereignissen gelten beispielsweise die 200 Jahre Unabhängigkeit Lateinamerikas, der Jahrestag der kubanischen Revolution oder der Besatzung der Falkenland-Insel durch die argentinische Militärjunta. Wenn der Anlass des Artikels ein Jubiläum ist, muss darauf geachtet werden, ob kein anderes Ereignis gleichzeitig passiert und darüber berichtet wird, beispielsweise eine Massendemonstration bei der Gedenkfeier zum 40. Jubiläum nach der Pinochet-Diktatur. Ein Text über die 200 Jahre Unabhängigkeit Lateinamerikas wird als „historischer Text zu einem beendeten Ereignis“ verstanden, wenn der Beitrag wirklich eine zeitgeschichtliche Perspektive hat. Passieren irgendwelche Demonstrationen der indigenen Bevölkerung und anderer Minderheiten, dann wird es als aktuelles Ereignis codiert. Ein historischer Text, z. B. zehn Jahre nach dem Ende des Bürgerkriegs in El Salvador, kann einen Blick auf den aktuellen Zustand des Landes und die neue politische Rolle der ehemaligen Guerillas werfen. Trotzdem wird solch ein Text historisch codiert, da das Jubiläum (und kein anderes aktuelles Ereignis) der Anlass des Artikels ist. Berichte über die Aufarbeitung einer Diktatur oder Vergangenheitsbewältigung werden nicht als historische Texte verstanden, weil sie immer in Verbindung mit anderen Geschehnissen, beispielsweise einer juristischen Auseinandersetzung, einer Verurteilung oder einer Festnahme, veröffentlicht wurden. Man kann den Anlass des Berichts deutlich identifizieren. Zeitlose Beiträge gelten für Reiseberichte, die Darstellung eines bekannten Autors ohne konkretes Ereignis im Vordergrund, wie die Erscheinung eines neuen Buchs. Das Ziel hier ist, zu beobachten, ob der Nachrichtenfaktor Aktualität eine große Rolle in der Auslandsberichterstattung Lateinamerikas spielt (vgl. Codebuch im Anhang). Es wird davon ausgegangen, dass die Berichterstattung hochaktuelle Ereignisse bevorzugt. 3.2.1.6.2.4 Länderbezug/Bezugsort bzw. Länderstatus Unter dieser Kategorie werden Länder codiert, die als Ort der Berichterstattung auftauchen oder im Zentrum eines Beitrags stehen. Das Land muss einen relevanten Platz im Beitrag haben. Das Ziel ist es, zu beantworten, welche Nationen innerhalb Lateinamerikas deutlich häufiger Platz in den deutschen Medien finden und welche selten oder bloß in engen Zusammenhängen vorkommen. Es können bis zu drei Länder genannt werden. Beiträge, die sich auf
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die allgemeine lateinamerikanische Konjunktur, Gipfel oder regionale Bündnisse beziehen, werden unter der Ausprägung „multinationaler Bezug“ codiert. Diese Ausprägung wird genutzt, wenn Lateinamerika als Ganzes betrachtet wird (vgl. Codebuch im Anhang). Angenommen wird hier, dass, die kleinen Nationen vernachlässigt werden. Große Länder wie Argentinien, Brasilien und Mexiko, die eine geografische, kulturelle, politische oder ökonomische Nähe aufweisen, haben Priorität in der deutschen Presse. Zudem sollten kleine Länder meistens auftreten, wenn Nachrichtenfaktoren wie Krise, Krieg und Katastrophe vorhanden sind. 3.2.1.6.2.5 Berichtsort Korrespondenten berichten normalerweise über mehrere Länder einer Region. Es kann sein, dass sie innerhalb von Lateinamerika reisen oder von ihrem Wohnort aus berichten. Diese Unterscheidung ist auszudifferenzieren. Die Korrespondenten der Süddeutschen Zeitung, Peter Burghardt und Eva Karnofsky (1993–2003) sind/waren beispielsweise in Buenos Aires stationiert. Wenn sie über Mexiko oder Brasilien schreiben, wird es als „benachbartes Ausland“ codiert. Falls der in Buenos Aires stationierte Korrespondent sich in Mexiko-Stadt oder Rio de Janeiro befindet, dann wird es als „vor Ort“ codiert. Am Anfang des Textes steht normalerweise die Stadt, aus der berichtet wird. Ist die Stadt nicht benannt, dann wird der Standort der Korrespondenten betrachtet. Wenn es um eine „Foreign News at Home“ geht (siehe Abschnitt 3.2.1.6.2.9), wird es trotzdem als „Zentralredaktion“ und nicht als „vor Ort“ codiert. Wenn ein Ereignis mit Auslandsbezug in Deutschland stattfindet, schreibt normalerweise die Zentralredaktion und nicht der Korrespondent. Beiträge über Mexiko, Guatemala, Kuba oder El Salvador, die in den USA geschrieben wurden, sollten als „benachbartes Ausland“ betrachtet werden. Beiträge, die aus den Nachrichtenagenturen stammen, wurden als „Zentralredaktion“ codiert, da die Auslandsredakteure den Nachrichtendienst abonnieren und die Beiträge in Deutschland anfertigen. Es wird hier davon ausgegangen, dass die Korrespondenten viel mehr aus dem benachbarten Ausland berichten, da es ziemlich aufwendig ist, den Kontinent stetig zu bereisen. Zentralredaktionen sollten insbesondere für Länder eine Rolle spielen, in denen kein Korrespondent stationiert ist. 3.2.1.6.2.6 Sachgebiete und Thematisierung Hier werden Beiträge unabhängig von der Erscheinungsrubrik klassifiziert. Als Codierungsentscheidung stehen zehn Sachgebiete zur Verfügung, nämlich (1) Innenpolitik, (2) Außenpolitik/Internationales, (3) Umwelt, (4) Wirtschaft & Finanzen, (5) Soziales & Sozialordnung, (6) Kultur & Gesellschaft, (7)
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Forschung, Wissenschaft & Technik, (8) Buntes & Alltagskultur, (9) Verbrechen & Kriminalität und zuletzt (10) Katastrophen, Unglücke & Unfälle. Innerhalb jeden Bereichs sollten ein Hauptthema und ein Subthema registriert werden (vgl. Liste im Anhang). Mithilfe der Kategorie „Thematisierung“ soll beispielsweise die Forschungsannahme der Politikzentrierung überprüft werden, sowie die Themenvielfalt der Berichterstattung. Ein anderes Ziel der Kategorie ist die Beobachtung der Thematisierung innerhalb der 15 Jahre und die Entwicklung von Dauerthemen. Entscheidend für die Codierung ist der Fokus des Artikels, der im Vordergrund steht. Nehmen wir als Beispiel den Ausbau des Atomkraftwerks (Angra III) in Rio de Janeiro. Wenn der Fokus des Beitrags auf der Energieknappheit Brasiliens oder dem Energiehunger als Ergebnis des wirtschaftlichen Wachstums des Landes liegt, sollte der Text innerhalb des Bereichs „Innenpolitik“ unter dem Thema „Energiepolitik“ eingeordnet werden. Betrachtet der Artikel andersherum die umstrittene Exportkreditgarantie der deutschen Bundesregierung für das Atomprojekt, dann wird er als „Außenpolitik“ unter dem Thema Beziehung Deutschlands zu Lateinamerika codiert. Andere Variationen sind Umweltschäden oder Umweltverschmutzung, die ein Atomkraftwerk verursachen kann, falls etwas schiefläuft. Dann wird der Artikel als „Umwelt“ verschlüsselt. Wichtig ist es, den Anlass der Beiträge zu analysieren, das Hauptereignis, das Schlagzeilen gemacht hat. Angenommen wird, dass große Politikzentrierung vorhanden ist, d. h., die Politik wird auf Kosten anderer Themen bevorzugt. Zudem wird davon ausgegangen, dass die Thematisierung der kleinen Länder eingeschränkt ist und Sachgebiete wie „Verbrechen & Kriminalität“ oder „Katastrophen, Krankheit, Unfälle & Unglücke“ eine große Rolle spielen. 3.2.1.6.2.7 Handlungsträger (Akteure) Hier werden die ersten drei im Beitrag vorkommenden Handlungsträger codiert. Damit sind Personen oder Gruppen gemeint, die im Text als Sprecher zu Wort kommen bzw. als Interviewpartner auftreten oder einen bedeutsamen Platz als Beschriebene bekommen. Das heißt, beteiligte Personen oder Institutionen, die im Mittelpunkt der Ereignisse stehen. Ganze Länder werden nicht als Akteure codiert. Diese Oberkategorie sollte in verschiedene Akteur-Arten ausdifferenziert werden, damit die Forschungsannahme einer möglichen Elitenzentrierung oder eingeschränkten Quellenlage analysiert werden kann. Es wird zwischen „offiziellen Staatsvertretern“, „organisierten gesellschaftlichen Gruppen“, „nicht organisierten Gruppen“ und „anderen Quellen und Persönlichkeiten“ ausdifferenziert (vgl. Codebuch im Anhang für die ausführliche Definition). Zudem sollen die Akteure in Bezug auf Herkunft unterschieden werden: aus
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Lateinamerika, aus Deutschland, aus den USA, aus Europa oder aus anderen Ländern. Diese Trennung der Handlungsträger-Kategorien könnte auch ein Indikator für den Ethnozentrismus bzw. Eurozentrismus sein, da die Präsenzen von westlichen und lateinamerikanischen Akteuren verglichen werden könnte. Jeder Akteur wird pro Text nur einmal registriert (vgl. Schulz 1976, S. 128; vgl. Rössler 2005, S. 147; vgl. Richter und Gebauer 2010). Die Forschungsannahme bezieht sich hier auf die Tendenz der Elitenzentrierung, d. h. nicht organisierte Gruppen, einfache Menschen wie Studenten, Hausfrauen, Bürger usw. werden vernachlässigt und bloß am Rande erwähnt. Darüber hinaus erhielten die deutschen/amerikanischen Handlungsträger Vorzug in der deutschen Presse. 3.2.1.6.2.8 Autorenschaft/Verfasser des Artikels Wer ist für die Autorschaft eines Textes verantwortlich? Es wird kritisiert, dass die Nachrichtenagenturen die Auslandsberichterstattung dominieren. Bei der Ermittlung der Informationsquellen der Beiträge wird hauptsächlich zwischen Nachrichtenagenturen und journalistischen eigenen Leistungen ausdifferenziert. Das Ziel dieser Kategorie ist, herauszufinden, ob eine Dominanz der Nachrichtenagenturen in der deutschen Lateinamerika-Berichterstattung zu konstatieren ist, wie in der Literatur der Auslandsberichterstattung diskutiert wird. Es soll codiert werden, ob ein Beitrag von Auslandkorrespondenten, Redakteuren aus Deutschland, reisenden Journalisten im Land oder von externen Experten geschrieben wurde (vgl. Codebuch im Anhang). Bis zu drei Nennungen sind möglich. In Print-Artikeln wird der Autor des Textes meistens am Anfang oder Ende des Beitrags genannt und manchmal auch durch Abkürzungen, insbesondere bei der FAZ. Zum Beispiel steht „mos“ für Carlos Moses, „oe“ für Joseph Oehrlein, „itz“ für Christian Geinitz oder „rüb“ für Matthias Rüb. Die Verfasser des Artikels sowie der Name der Stadt, in der die Reportage geschrieben wurde, werden meistens, wenn die Presseorgane das sauber erledigen, am Anfang des Textes erwähnt. Als journalistische Eigenleistung gilt die Arbeit der Korrespondenten und Stringer oder der Journalisten in Deutschland. Wenn ein Text von einem Journalisten verfasst wurde, der kein offizieller Korrespondent oder freier Mitarbeiter einer Zeitung ist, wird der Fall als „Zentralredaktion in Deutschland“ verschlüsselt. Falls der Name der Stadt in Lateinamerika erwähnt wird, dann betrachtet man den Fall als reisenden Journalisten im Land. Zum Beispiel ist Sebastian Schoepp ein Außenpolitik-Redakteur der Süddeutsche Zeitung. Wenn er aus Panama schreibt, soll man als „reisender Journalist“ vor Ort verschlüsseln, da er kein in Lateinamerika ansässiger Korrespondent ist.
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Es ist schwer zu sagen, welche Arbeitsverhältnisse verschiedene Journalisten mit den Presseorganen haben. Deswegen wird in dieser Arbeit kein Unterschied zwischen offiziellen Korrespondenten einer Zeitung und in Lateinamerika lebenden Journalisten, die öfter als freie Mitarbeiter schreiben, gemacht. Zum Beispiel verfasst die Musiktheater-Dirigentin Anja-Rosa Thöming unterschiedliche Texte über die brasilianische Kultur für die FAZ. Da sie von 2000–2001 in Brasilien lebte, wurden ihre Beiträge als „vor Ort“ und „Korrespondent im Land“ codiert, auch wenn sie einfache freie Mitarbeiterin war. Da es zudem um eine 15-jährige Analyse geht, ist zu erwarten, dass verschiedene Korrespondenten während dieser Zeit Artikel für die gleichen Zeitungen schreiben. Zum Beispiel ist Peter Burghardt gegenwärtig der Korrespondent der SZ in Buenos Aires. Bis 2003 war Eva Karnofsky auch Korrespondentin der Zeitung. Ein freier Journalist kann auch für zwei verschiedene Zeitungen schreiben, wie Carlos Widman, der in Buenos Aires geboren ist und Korrespondent der SZ und des Spiegel-Magazins zwischen 1965 und 1991 war. Das Magazin Der Spiegel schreibt nicht den Namen der berichteten Stadt an den Anfang eines Textes. Allerdings kann man aus den Namen der Korrespondenten und ihrer Wohnsitze diese Information entnehmen. Wenn ein Redakteur des Auslandsressorts vor Ort war, kann man es auch an den Beschreibungen und Erzählungen merken. Manchmal wird auch die Anwesenheit durch den Hinweis „ein Bericht aus Nicaragua“ erwähnt. Als Spiegel-Korrespondent und Auslandsredakteur(in) arbeiten beispielsweise Matthias Matussek (Rio de Janeiro 1999–2003), Holger Stark (AmerikaKorrespondent ab 2013), Helene Zuber (Redakteurin im Auslandsressort) oder Jens Glüsing (Korrespondent in Rio de Janeiro). Bei der taz schreiben verschiedene freie Journalisten über Lateinamerika und die Karibik – Andreas Behn lebte 9 Jahre in Rio de Janeiro; Dorothea Hahn schreibt aus den USA, aber manchmal kommen Beiträge über Mexiko, Jürgen Vogt ist in Argentinien ansässig, Toni Keppeler war acht Jahre Korrespondent in El Salvador, Ingo Malcher schreibt aus Buenos Aires für die taz und SZ, Wolf-Dieter Vogel ist ein freier Journalist aus Mexiko, Bernd Pickert ist offizieller Auslandsredakteur der taz hier in Deutschland. Falls jemand aus den USA über Mexiko schreibt, wird er als Korrespondent im benachbarten Land codiert. Obwohl die vier untersuchten Presseorgane stationierte Korrespondenten in ein oder zwei Ländern Lateinamerikas haben, wird davon ausgegangen, dass gleichzeitig die Nachrichtenagenturen eine bedeutsame Rolle spielen.
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3.2.1.6.2.9 Ethnozentrismus Die nationalisierte Perspektive wird durch drei Kategorien operationalisiert: zuerst durch die oben genannte Herkunft der Handlungsträger, und zwar dann, wenn die Mehrheit der Akteure aus Deutschland oder aus den USA kommt. Außerdem wird der Ethnozentrismus durch den Deutschlandbezug und die Nachrichtenperspektiven ermittelt. Bei dem deutschen Bezug geht es um einen personellen oder institutionellen Heimatbezug der Auslandsberichterstattung. Liegt in dem analysierten Beitrag ein Deutschlandbezug vor? Die Frage sollte mit „ja“ oder „nein“ beantwortet werden. Eine deutsche Firma oder ein Deutscher kann im Mittelpunkt des Beitrags über Lateinamerika stehen oder in das Geschehen im Ausland involviert sein. Da sich außerdem normalerweise die Inland- und Auslandsberichterstattung miteinander mischen, sollte die Nachrichtenperspektive zwischen drei Möglichkeiten unterscheiden: „Foreign News Abroad“; „Home News Abroad“ und „Foreign News at Home“ (vgl. Codebuch für die genauere Erläuterung der Definition). Die Kategorien „Nachrichtenperspektiven“ und „Deutschlandbezug“ sind nicht sofort gleichzusetzen, obwohl die Grenzen manchmal fließend sind. Zum Beispiel betrachtet ein Text der SZ (26.07.2010) – Swimmingpool und Drogenkrieg – wie der Sicherheitszustand in Mexiko ausländische Studenten und Professoren abschreckt. Es geht ganz bestimmt um eine „Foreign News Abroad“, obwohl ein Deutschlandbezug auch zu konstatieren ist: Der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) schickte im vergangenen Jahr trotz des Zustands 300 deutsche Studenten nach Mexiko. Genauso verhält es sich bei einem Flugabsturz in Kuba im Jahr 2002, bei dem zwei deutsche Insassen ums Leben kamen. Trotz des Deutschlandbezugs geht es um „Foreign News Abroad“, da Deutschland nicht direkt im Geschehen beteiligt ist. Andersherum stellt man im Fall einer Fusionsverhandlung zwischen Hapag-Lloyd und der chilenischen CSVA auch einen Deutschlandbezug fest, aber die Nachrichtenperspektive ist „Home News Abroad“, da eine deutsche Firma wirklich in das Ereignis involviert ist. Angenommen wird, dass der deutsche Bezug eine wichtige Rolle bei der Nachrichtenselektion der Berichterstattung Lateinamerikas spielt, was ein Indikator des Ethnozentrismus ist. 3.2.1.6.2.10 Ereignisvalenz Das Ziel der Kategorie ist die in der Literatur beschriebene Tendenz des „Negativismus“ zu überprüfen. Entscheidend für die Codierung ist der Anlass des Artikels oder die Zuordnung des Hauptereignisses, das heißt die Thematisierung. Auf eine Analyse der sprachlich-bewertenden Tendenz der Texte wurde verzichtet, um Doppeldeutigkeit zu vermeiden und die Reliabilität der
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Untersuchung zu erhöhen. Im Zweifel sollen die Ereignisse als Entscheidungsfaktor betrachtet werden, nämlich als Anlass des Textes. Ein Meinungsbeitrag der SZ, „Bastion Brasilien“ (02.11.2010), beschreibt verschiedene Facetten des Landes, positive wirtschaftliche Entwicklungen und noch weitere soziale Hindernisse. Als entscheidender Codierungsfaktor gilt allerdings der Anlass des Artikels – der Regierungswechsel zwischen dem Präsidenten Lula und seiner Nachfolgerin Dilma Rousseff. Das heißt, ein ganz normaler Prozess, anders gesagt, ein neutrales Ereignis. Die ganz ordinäre Ankündigung einer politischen Entscheidung muss auch als neutral betrachtet werden. Eine Verstaatlichung kann von einer links-orientierten Sicht als positiv betrachtet werden, während sie für die wirtschaftlich-liberale Seite als negativ gilt. Obwohl solche Geschehnisse als neutrale politische Entscheidungen gelten, muss andererseits der Faktor „Kontroverse“ bei der Kategorie Krisenzentrierung codiert werden, d. h. der Zwist zwischen Regierung und enteigneten Firmen. Als Codierungsentscheidung der Valenz gilt das Ereignis per se ohne weitere Interpretationen und politische Auseinandersetzungen. Diese Logik gilt auch für die Codierung der Nachrichtenfaktoren „Schaden“ oder „Erfolg“. Weitere Entwicklungen, wie eine Verstaatlichung bzw. eine juristische Auseinandersetzung, können dann als negativ betrachtet werden. Die gleiche Logik gilt auch für die Einführung einer Bankensteuer in Ecuador. Diese politische Entscheidung des Parlaments sollte als neutrales Ereignis betrachtet werden. Allerdings sollte der Faktor „Kontroverse“ bei der Kategorie „Krisenzentrierung“ verschlüsselt werden, da die Banken diesen Entschluss als Beschlagnahmung ansahen, obwohl die Mehreinnahmen in die soziale Kasse fließen sollten. Der verursachte wirtschaftliche Schaden der Banken, die Handlungsobjekte des Beitrags, oder Opfer der Maßnahme sollten bei den entsprechenden Nachrichtenfaktoren mit „Schaden“ codiert werden. Zudem werden in der Regel kulturelle Veranstaltungen bzw. die Erscheinung neuer Filme, Romane oder Musikalben über Lateinamerika oder von lateinamerikanischen Künstlern als positiv betrachtet, unabhängig von der Kritik. Man kann die Stärke und Schwäche einer kulturellen Produktion analysieren, aber das Ereignis per se ist positiv. Reiseberichte und Empfehlungen werden auch als positiv betrachtet. Hier sind Ereignisse zwischen positiv, negativ und neutral (übliche gesellschaftliche Abläufe) zu unterscheiden. Als positive Ereignisse gelten: Erfolg, wirtschaftliche Hilfe, positive Entwicklungen, Kooperationen, Zusammenarbeit und Entwicklungen, Erfindungen, Entdeckungen, Versöhnungsversuche, Friedensverhandlungen, das Beilegen eines Streits, Einigungen, Justiz (Vergangenheitsbewältigung, Aufarbeitung einer Diktatur), bilaterale Abkommen, Friedensbemühungen, Friedensprozesse, Verbesserung eines Zustands, Dialog zwischen streitenden Parteien, Überleben,
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Freilassung von Geiseln, Aufwind des Aktienmarktes, Notenverbesserung von Ratingagenturen, kultureller Austausch oder Reiseempfehlungen. Negative Geschehnisse beschreiben: Gewalt, Misserfolge, Kriminalität, Katastrophen, Krieg, politische Unruhe, Unterbrechung von Friedensverhandlungen, Repression, Aggression, Zerstörung, Schäden, Proteste, Demonstrationen, Konflikte, Wahlbetrug. Hierzu gehören auch Problemdarstellungen wie wirtschaftliche Krisen oder Schwierigkeiten, Parteistreit, Handelskonflikt usw. Neutrale Ereignisse beziehen sich auf allgemeine gesellschaftliche Prozesse wie Staatsbesuche, Konferenzen, Börsenabläufe, Erinnerung an historische Ereignisse, Jubiläum (ohne Proteste oder Auseinandersetzungen), saubere Wahlen (ohne Betrug). Das überwiegende Auftauchen von lateinamerikanisch-kritischen Themen kann auch ein Indikator für „Negativismus“ sein. Aufbauend auf dem Argument von Wilke und Schenk (vgl. 1987, S. 30–31) sei dieser Faktor der Einzige, der offenbar für die Lateinamerika-Berichterstattung bedeutsam ist. Da der Kontinent aufgrund der geografischen Distanz außerhalb des Regionalismus falle, kaum „politische“, „wirtschaftliche“ und „kulturelle“ Nähe zu Deutschland aufweise und zudem nicht zu den Elitennationen gehöre, bleibe der Negativismus als fundamentaler Faktor für die Nachrichtenselektion Lateinamerikas übrig. Daher ist die Forschungsannahme hier die Dominanz des „Negativismus“, d. h., die Mehrheit der ausgewählten lateinamerikanischen Ereignisse wies einen negativen Charakter auf. Im Fall von kleinen Ländern sollte der Faktor noch stärker auftreten. 3.2.1.6.2.11 Krisenzentrierung Diese Kategorie sollte Informationen über die Anwesenheit von Krisen und Konflikten, die als Hauptthema eines Beitrags vorkommen, geben. Staab (1990a) codiert „Aggression“ und „Kontroverse“ getrennt. Da es beim Forschungsprozess der Probencodierung schwerfällt „gewaltlose Konflikte“ von „Kontroversen und Meinungsunterschiede“ auszudifferenzieren, wurde in der vorliegenden Arbeit wie bei Schulz (1976) beide Möglichkeiten unter das gleiche Dach gebracht. Die erste Ausprägung (1) besteht aus gewaltlosen Konflikten, Kontroversen und Meinungsverschiedenheiten. Wenn die Beschreibung einer Krisensituation bzw. von Konflikten festgestellt wird, dann werden deren Sorten in Anlehnung an die Definition des Konfliktbarometers des Heidelberger Instituts für Internationale Konfliktforschung (HIIK) ausdifferenziert und zwar zwischen (1) gewaltlose Krise, (2) gewaltsame Krise, (3) begrenzter Krieg (bis 2011 als schwere
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Krise bezeichnet) und (4) Krieg. Zuletzt wird auch dazu die Ausprägung (5) Katastrophen und Unglücke als Codierungsmöglichkeit einer Krise einbezogen. Nach Löffelholz (vgl. 2004, S. 48) werden Krisen als eine wahrscheinliche Gefährdung zentraler Werte eines Systems verstanden. Die Sicherheit wird reduziert, das heißt, es besteht eine Existenzbedrohung, die Zeitressourcen werden begrenzt und großer Entscheidungsdruck tritt auf. Überdies sind Merkmale von Krisen die ungewollte Bedrohung „dominanter Ziele“, der doppeldeutige und unvorhersehbare Ausgang und der nur partiell beeinflussbare Ablauf (ebd.). Aber anders als Löffelholz, der die Begriffe Krisen und Konflikte unterscheidet, wird in der vorliegenden Arbeit der Begriff Krise innerhalb des Konfliktbegriffs verortet, wie bei Wetzstein (vgl. 2011:109). Bei der Autorin wird Krise als „höher eskalierter Konflikt“ erklärt, obwohl „Krisen definitorisch möglicherweise eher auf politische und humanitäre Konfliktfolgen und -umstände fokussieren“ (Wetzstein 2011, S. 109). Aus systemtheoretischer Sicht folgt bei Konflikten Kommunikation auf Kommunikation (vgl. Görke 2004, S. 122). Die involvierten psychischen und sozialen Systeme (z. B. Unternehmen, Nationen, Banken) gefährden weitere Kontradiktionen, „den Verlust gemeinsamer Werte“ oder eine gravierende Modifizierung der aktuellen Systemsituation (ebd.). Konflikt sei nach Görke entweder „außergewöhnlich“ oder „dysfunktional“. Bei Konflikten wird auf Widersprüche mit Kommunikation reagiert, während bei Kriegen die Kommunikationsmöglichkeit des Gegners genommen wird. Bei Konflikten ist die Existenz nicht unbedingt bedroht (ebd.). Krieg andersherum muss als eine andere Form von Konflikten betrachtet werden. Anders als bei Konflikten erstreben Kriege, dem Gegner die Möglichkeit zur Kommunikation wegzunehmen, obgleich die eigene Existenz und das Überleben gefährdet werden (ebd.). An Kriegen nehmen mindestens zwei militärische bzw. mit Waffen ausgestattete soziale Systeme teil und sie werden durch hohe Intensität insbesondere von physischer Gewalt gegen Menschen oder Sachen sowie durch eine bestimmte Kontinuität der kämpferischen Aktion charakterisiert (vgl. Löffelholz 2004, S. 48). Diese Definition geht über die übliche Interpretation von Krieg als zwischenstaatlichem Konflikt hinaus (ebd.). Bei Kriegen geht es um die Eskalation eines Konflikts und die Anwendung von „organisierter“, „extremer“, „physischer“ Gewalt, anders gesagt eine „fortbestehende Krise“, die gewaltsam zugespitzt wird (ebd.). Hierzu gelten alle Sorten von mit Waffengewalt ausgetragenen Konflikten oder die Androhung von Gewalt bzw. kriegerische Auseinandersetzung. Es muss erwähnt werden, dass die Konfliktberichterstattung nicht unbedingt negativ ist. Friedensbemühungen und Dialoge können eine positive Facette aufweisen. Während der Wirtschaftskrise in Argentinien gab es beispielsweise auch
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Nachrichten über die Zustimmung zum neuen IWF-Kredit oder die Beistimmung des Parlaments für Sparpläne, die jeweils als positive oder neutrale Ereignisse angesehen werden können. Der große Bergwerksunfall in Chile 2010, bei dem 33 Bergleute in 700 Meter Tiefe eingeschlossen blieben, zählt als eine Krise innerhalb der Merkmale „Katastrophen & Unglücke“. Die primären und sekundären Ereignisse gelten als negativ bis zur erfolgreichen Rettungsaktion. Es ging um eine Krise mit glücklichem Abschluss. Die folgende Kategoriebeschreibung stammt aus der Heidelberger Konfliktforschung. Das Forschungsinstitut definiert „Konflikte“ wie folgt: „Konflikte sind Interessensgegensätze (Positionsdifferenz) um nationale Werte (Territorium, Sezession, Dekolonisation, Autonomie, System/Ideologie, nationale Macht, regionale Vorherrschaft, internationale Macht, Ressourcen, Sonstiges) von einiger Dauer und Reichweite zwischen mindestens zwei Parteien (organisierte Gruppen, Staaten, Staatengruppen, Staatenorganisationen), die entschlossen sind, sie zu ihren Gunsten zu entscheiden“ (HIIK 2013)
Obwohl das Institut zwischen latenten4 und manifesten5 Konflikten unterscheidet, wird bei der Codierung in beiden Fällen als „gewaltlose Konflikte“ verschlüsselt, um den Codierungsaufwand zu reduzieren und eine bessere Reliabilität zu gewährleisten. Unter diese Kategorie fallen auch Kontroversen, Positionsdifferenzen und Meinungsverschiedenheiten. Die dazu gehörende Forschungsannahme dieser Kategorie ist die überwiegende Präsenz der Krisen-Berichterstattung. Insbesondere für kleine lateinamerikanische Länder sollten die Krisen und Konflikte als ein Katalysator für die Nachrichtenselektion funktionieren. Gewaltlose Konflikte und Kontroversen Die Beschreibungen von sozialen Konflikten, wirtschaftlichen Krisen, juristischen Konflikte, Sanktionen, Korruptionen, Wahlbetrug, Positionsdifferenzen, verbalem Druck, Kontroversen usw. werden als „gewaltlose Konflikte und Kontroverse“ verstanden. Als Kontroverse versteht man die „verbale Austragung von Meinungsverschiedenheiten“ (vgl. Schulz 1976, S. 137) oder Gegenüberstellung von
4(…) Darauf bezogene Forderung von einer Partei artikuliert und von der anderen wahrgenommen werden (vgl. HIIK 2013) 5„Ein manifester Konflikt beinhaltet den Einsatz von Mitteln, welche im Vorfeld gewaltsamer Handlungen liegen. Dies umfasst beispielsweise verbalen Druck, die öffentliche Androhung von Gewalt oder das Verhängen von ökonomischen Zwangsmaßnahmen“ (HIIK 2013)
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Meinungsunterschieden und diversen Gesichtspunkten, aber ohne die Nutzung von Gewaltandrohung. Unter Kontroversen fallen konkret zum Beispiel der umstrittene Staatsbesuch des iranischen Präsidenten 2009 in Brasilien, die Atomfrage oder das Recht des Irans auf friedliche Nutzung von Atomenergie. Die brasilianische Opposition und Frauenorganisation warfen der Regierung vor, einen Diktator zu empfangen. Ein anderes Beispiel ist die Abmachung zwischen der EU und Brasilien zum Anbau von Zuckerrohr in Mosambik. Während die Regierungen die Entscheidung als eine nachhaltige Entwicklung von Bioenergie ansehen, die Mosambik wirtschaftlich helfen würde, verstehen Umweltorganisationen das Geschäft als unmoralisch und pervers, da die Kleinbauern verdrängt würden und die Nahrungsmittelproduktion eines Landes mit so vielen Hungernden eingeschränkt würde. Zudem wurde die Reaktion der Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR) über die Pläne der Verstärkung der US-Militärpräsenz in Kolumbien auch als kontrovers betrachtet. Die Spekulation, ob die ehemaligen Präsidenten von Venezuela und Ecuador, Hugo Chávez und Rafael Correa, Beziehungen zur kolumbianischen FARC hätten, werden auch als kontrovers angesehen. Auch die Auseinandersetzungen zwischen der brasilianischen Regierung und Umweltschützern wegen umstrittener Großprojekte, wie der Umleitung des Flusses São Francisco oder dem Bau eines großen Wasserstaudamms im Mittelamazonas, gehören zu „Kontroversen“, solange es zu keiner Gewalt kommt. Innerhalb der deutsch-brasilianischen Beziehungen sind die Atomabkommen zwischen beiden Ländern und die Erwartung von Siemens auf eine staatliche Hermesbürgerschaft auch sehr kontroverse Themen. Gewaltsame Krise Unter der Kategorie betrachtet man „ein[en] Spannungszustand, in dem mindesten eine der Parteien vereinzelt Gewalt anwendet“ (HIIK 2013). Ein paar Beispiele aus der Berichterstattung Lateinamerikas sind unter dieser Kategorie zu finden, wie z. B. die brasilianischen Demonstrationen gegen die Erhöhung des Verkehrspreises 2013, Putsche in Honduras 2009 und Haiti 2004, die Auseinandersetzungen zwischen der Regierung und der Opposition in Venezuela und unterschiedliche Demonstrationen in Bolivien. Bedingter Krieg (bis 2011 als schwere Krise bezeichnet) „Als ernste Krise wird ein Konflikt dann bezeichnet, wenn wiederholt und organisiert Gewalt eingesetzt wird“. Beispiele sind die Verbrechen der Drogenkartelle in Mexiko oder Brasilien, der Jahrelange Konflikt zwischen der Regierung und der linksgerichteten FARC-Guerilla in Kolumbien, die Guerilla
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EPR in Mexiko, die gewalttätigen Mara-Jugendbanden; der Streit zwischen brasilianischen Landlosen und Großgrundbesitzern/Holzfällern, die Auseinandersetzungen zwischen indigenen Bevölkerungen und Großgrundbesitzern usw. Katastrophen, Unglücke, Unfälle, Krankheiten und Kriminalität Charakteristisch für Katastrophen sind die Unregelmäßigkeit, Unvorhersehbarkeit, Überraschendes und die enormen Schäden an Menschen und menschlichen Strukturen wie Todesopfer, Verletzte, Schäden an Gebäuden usw. (vgl. Bieber 2011, S. 34). Verbrechen von Drogenkartellen in Mexiko oder Brasilien sind nicht unter diesem Merkmal zu codieren, sondern unter „bedingter Krieg“ (3). Hier geht es viel mehr um individuelle Straftaten. 3.2.1.6.2.12 Schaden In dieser Kategorie wird untersucht, ob der Nachrichtenfaktor „Schaden“ eine große Rolle bei der deutschen Lateinamerika-Berichterstattung spielt. Die Operationalisierung wurde in Anlehnung an frühere Arbeiten gemacht (vgl. Schulz 1976, S. 137; vgl. Staab 1990a, S. 224; vgl. Mükke 2009, S. 135). Zu unterscheiden ist die Intensität der persönlichen, wirtschaftlichen oder materiellen Schäden. Allgemein werden Ereignisse codiert, die der Definition von „negativ“ entsprechen oder negative Folgen haben. Der Schaden bezieht sich immer auf die jeweilige Perspektive des Handlungsobjekts oder der Opfer. Anders als bei Staab wird in der vorliegenden Arbeit keine Ausdifferenzierung zwischen „möglichen“ und „tatsächlichen“ Schäden vorgenommen. Nur faktische und klar beschriebene Schäden sind zu codieren, um spekulative Reihenfolgen zu vermeiden (vgl. Codebuch im Anhang). Es muss beachtet werden, dass nicht immer alle Schäden unbedingt als ein negatives Ereignis gelten. Ein paar Ausnahmen sind zu konstatieren, wie der Fall der Aufhebung der Pinochet-Immunität oder die Verurteilung des ehemaligen argentinischen Diktators Jorge Videla zu lebenslanger Haft. Ein leichter Schaden in Bezug auf das Handlungsobjekt (den Diktator) ist festzustellen, und zwar die juristischen Folgen bzw. Freiheitseinschränkungen und die Reduzierung von Lebensstandards. Allerdings geht es ausnahmsweise um positive Ereignisse im Sinne von Justiz und Aufarbeitung einer Diktatur. Unter leichten Schäden werden folgende Ereignisse verstanden: Verlust von Vermögen und Arbeitsmöglichkeiten, Reduzierung von Lebensstandards, Freiheitseinschränkungen, leichte Krankheiten, Rechts- oder Freiheitsverletzung, Misserfolg bei Treffen und Verhandlungen, Sanktionen, wirtschaftliche, diplomatische und politische Krisen (ohne Gewalt), Börsenrückgang, wirtschaftlicher Verlust, Rezessionen, Senkung
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von Kreditwürdigkeiten, Devisenabflüsse, Währungsabwertung, Handlungskonflikte, Boykottandrohungen, Wahlbetrug usw. Auf der Ebene der mittleren Schäden werden folgende Geschehnisse berücksichtigt: Unfälle mit wenigen Toten oder mit Schwerverletzten, Tier- und Pflanzenvernichtung bzw. Umweltzerstörung, schwere Krankheiten, Geiselnahme und Entführung, gewalttätiger Putsch und Aufstände, Lynchmord einer Person, Bergunfälle wie in Chile, sklavenähnliche Arbeitsbedingungen, Tod. Zuletzt betrachtet man unter schweren Schäden folgende Episoden: Lebenszerstörung, Naturkatastrophen, Genozid, Epidemien, schwere Unglücke mit vielen Toten, zahlreiche Morde, Anschläge, Kindesmissbrauch usw. 3.2.1.6.2.13 Erfolg und Nutzen Hier werden Ereignisse codiert, die einen positiven Verlauf haben und Weiterentwicklungen auf einem bestimmten politischen, wirtschaftlichen oder kulturellen Gebiet aufweisen. Unter kleinem Erfolg versteht man Fortschritt auf einem Spezialgebiet oder in einem Randbereich, kleine Verbesserungen eines Zustands, persönlicher Erfolg (Streitbeilegung, Versöhnung usw.). Mittlerer Erfolg beschreibt ausschlaggebende Entwicklungen oder Verbesserungszustände auf einem wichtigen Gebiet, die bedeutende Fortentwicklung einer existierenden Situation, die entscheidende Verbesserung eines Zustands usw. Zuletzt bezieht sich großer Erfolg auf wesentliche und bedeutende Pioniertaten in einem Bereich, spannende Entwicklungen und Entdeckungen oder Veranstaltungen, die großen Erfolg aufweisen, das heißt, die essenziell für die Menschheit oder mindestens eine ganze Nation sind – zum Beispiel die Normalisierung der US-Kuba-Beziehung. Es wird davon ausgegangen, dass der Nachrichtenfaktor „Schaden“ eine beträchtliche Rolle bei der Auslandsberichterstattung Lateinamerikas spielt und ein besserer Nachrichtenkatalysator als der Faktor „Erfolg“ ist. 3.2.1.6.2.14 Relevanz/Betroffenheit/Reichweite Hier geht es eigentlich um die Frage, wie viele Personen von einem berichteten Geschehen betroffen sind (sein könnten) oder in das Ereignis involviert sind. In Anlehnung an Staab (vgl. 1990: S. 223) wird im Fall von Pressekonferenzen nicht die Quantität der beteiligten Personen, sondern die Betroffenheit codiert. Zu unterscheiden ist die Intensität der Indikatoren (vgl. Codebuch im Anhang). Geringe Betroffenheit bezieht sich auf Einzelschicksale oder wenige Personen. Typisch sind die Veröffentlichung eines Buches oder der Erfolg eines Künstlers. Mittlere Betroffenheit betrachtet relevante Ereignisse für eine spezifische wirtschaftliche Branche oder gesellschaftliche Teilgruppen bzw. Berufs- und
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Interessengruppen wie Studenten, Bürger, Parteimitglieder, Frauen, Arbeiter, Ausländer, Bürger einer Region, Anleger, Investoren usw. Als Beispiel zählen Demonstrationen von Gewerkschaften, Studenten usw. oder die Auswirkung des Massentourismus auf bestimmte Städte oder Regionen. Zuletzt handelt es sich bei größer Betroffenheit um die Relevanz des Geschehens für den ganzen Staat, eine Gesellschaft, Nation oder einen Kontinent. Man kann hier unter bestimmten Umständen über eine globale Bedeutung sprechen. Bei dieser Ausprägung geht es um die wichtigsten politischen Entscheidungen. Es ist zu erwarten, dass Ereignisse mit großer Betroffenheit Medienpräferenz haben. 3.2.1.6.2.15 Personalisierung Unter Personalisierung versteht man die Bedeutung und Zentralität der beschriebenen Personen für das Hauptereignis. Der Begriff beschreibt ein Phänomen, bei dem faktische Einzelpersonen, normalerweise Spitzenpolitiker, immer stärker zum Deutungsschema komplizierter politischer Verhältnisse und „Anker“ politischer Bewertung werden (vgl. Maurer und Reinemann 2006, S. 122). Kleinere Personalisierung bezieht sich auf Artikel, in denen Personen sogar genannt werden, aber keine relevante Bedeutung für das Hauptereignis haben. Der Fokus des Geschehens liegt auf einfachen Prozessen und abstrakten Fakten. Bei der Intensitätsstufe mittlere Personalisierung steht eine beschriebene Person sogar im Vordergrund, allerdings handelt das Hauptgeschehen von abstrakten Vorgängen oder es lässt sich durch die Aktion von beschriebenen Personen ausdrücken. Das Verhalten oder der Lebenszustand einer Person illustrieren eine beschriebene Situation. Zum Beispiel wurde von der SZ (04.03.2005) berichtet – „Doppelt verraten“ –, dass die italienischen Kleinanleger die größten Verlierer der argentinischen Umschuldung waren. Die Problematik wird illustriert durch die Geschichte eines Rentners, Pietro Bianchi. Bei der größeren Personalisierung befinden sich eine oder mehrere Personen (keine Gruppen) im Mittelpunkt des Geschehens. Das Ereignis handelt von einigen oder wenigen beschriebenen Personen. Diese sind der Anlass des Beitrags oder stehen im Mittelpunkt des Ereignisses, d. h., es geht in der Nachricht um eine bestimmte Person. Anzunehmen ist, dass der Faktor Personalisierung in hohem Maße bei der Auslandsberichterstattung Lateinamerikas vorhanden ist, insbesondere in Fällen von Zeitungsreportagen oder Nachrichtenmagazinen. 3.2.1.6.2.16 Prominenz oder Grad der Bekanntheit In Anlehnung an Staab (vgl. 1990:220) versteht man unter Prominenz, inwieweit eine Person bekannt ist, unabhängig von ihrem Einfluss und ihrer Macht. Der Bekanntheitsgrad wird von der Ausbreitung des Publikums (regional, national
3.2 Quantitative Inhaltsanalyse als Forschungsmethode …
209
oder international) abgrenzt. Keine Prominenz beschreibt Unbekannte, einfache Leute wie Studenten, Bauern, Demonstranten, Polizisten, Hausfrauen, Arbeiter, Rentner usw. Unter geringer Prominenz versteht man die regionale Bekanntheit oder jemanden, der in einer ganz spezifischen Szene bekannt ist. Es geht um Politiker, Künstler, Sportler, Religionsführer, Dozenten, Wissenschaftler, die insbesondere auf regionalem Niveau berühmt sind. Oder es sind Personen, die nur in der Kunstszene, der intellektuellen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, sportlichen oder Business-Szene anerkannt sind. Anders gesagt, bekannte Persönlichkeiten, die für einen bestimmten Bereich interessant sind. Im Fall von mittlerer Prominenz berücksichtigt man nationale Bekanntheit oder Persönlichkeiten, die insbesondere auf nationalem Niveau eines lateinamerikanischen Landes renommiert sind, wie z. B. Kandidaten von Präsidentschaftswahlen. Zuletzt bezieht sich größere Prominenz auf internationale Bekanntheit. Wenn der Handlungsträger keine Person ist, sondern Ministerien, Firmen, Regierungen oder Institutionen (keine Vertreter solcher Organisationen), dann ist der Faktor nicht einzuordnen. Obwohl diese Kategorie in Anlehnung an Staab untersucht worden ist, wurde eine große Codierungsschwierigkeit während des Pretests konstatiert, da es sehr schwierig ist, den Grad der Bekanntheit unterschiedlicher Personen in 20 Ländern zuverlässig zu verschlüsseln. Insbesondere für die Politikprominenz funktioniert das System etwas besser, aber auch nicht perfekt. Allgemein wurden Bürgermeister, Präfekten und Gouverneure als „regionale Bekanntheit“ codiert. Andersherum versteht man Senatoren und Minister als „nationale“ und zuletzt die Präsidenten als „internationale“ Bekanntheit. Allerdings wurden unterschiedliche Präsidenten wie Barack Obama aus den USA einerseits und Otto Perez Molina aus Guatemala oder Juan Orlando Hernández aus Honduras andererseits gleichmäßig als „internationale Bekanntheit“ codiert, obgleich dies nicht ganz der Realität entspricht. Sogar für bekannte lateinamerikanische Intellektuelle und Autoren (bzw. César Aire aus Argentinien, Roberto Bolano aus Chile, Luiz Ruffato aus Brasilien, Eduardo Galeano aus Uruguay) ist es schwer zu beurteilen, ob es sich um eine nationale oder internationale Bekanntheit handelt. Manchmal gibt es auch Sänger und Künstler, die mehr Erfolg außerhalb ihres Landes haben, aber zu Hause nur eine kleine Bekanntheit aufweisen. Das Ziel dieser Kategorie ist, die Präferenz der Medien für die prominentesten Politiker und Persönlichkeiten zu untersuchen. Trotz der oben genannten Schwierigkeiten ist es möglich, die Codierungsergebnisse als einen Indikator der Politikprominenz zu verstehen. Als Kontrollvariable gibt es immer die Darstellung des Handlungsträgers zur Analyse. Es wird davon ausgegangen, dass eine Politikprominenz und die Bevorzugung von allgemeinen Prominenten in der Presse vorhanden sind.
210
3 Methodische Auseinandersetzung und Forschungsdesign
3.2.1.7 Probecodierung Für den Pretest wurden circa 11 % der Grundgesamtheit (4.164 Beiträge) je nach Medien, Ländern und Zeitraum ausgewählt, was einem Total von 465 Artikeln entspricht. In dieser Phase wurden die Namen und Arbeitsorte von Korrespondenten und Stringer während der fünfzehn Jahre recherchiert. Die Berichtsorte wurden codiert, allerdings müssen ein paar kritische Gedanken in diesem Schritt betrachtet werden. Es ist immer besser „vor Ort“ statt „benachbartes Land“ zu schreiben. Aber wenn Gerhard Dilger beispielsweise in Südbrasilien, nämlich in Porto Alegre über Chile (benachbartes Land) schreibt, ist die geografische Distanz nicht so dramatisch, als wenn er über eine Revolte im Gefängnis von Rondônia in Nordbrasilien berichtet. Zudem wurden ein paar Fälle gefunden, in denen ein Korrespondent in den USA über Zentralamerika berichtet. Solche Fälle wurden als „benachbartes Ausland“ codiert, auch wenn die Korrespondenten nicht in Lateinamerika sind. Außerdem zeigte sich die Notwendigkeit kleinerer Veränderungen des Codebuchs, um die Kategorien präziser zu erfassen. Zum Beispiel wurde bei der journalistischen Darstellungsform ein neues Merkmal einbezogen, nämlich die „Mischformen“ für Reportage, Feature und Porträts, die nicht immer ganz rein faktisch orientiert sind. Die einfache Trennung zwischen faktisch oder meinungsorientierten Beiträgen war nicht ausreichend. Zudem wurde bei der Kategorie „Zeitbezug“ kein Unterschied mehr zwischen „aktuelle Ereignisse“ und „hochaktuelles Ereignis“ gemacht. Geschehen, die maximal bis zu einer Woche vor Codierung passiert sind, werden unter „aktuelle Ereignisse“ verschlüsselt, um die Codierungsentscheidung zu erleichtern. Am wichtigsten wurde in Bezug auf Handlungsträger die Ergänzung von besonderen lateinamerikanischen Akteuren unter der Unterkategorie „organisierte gesellschaftliche Gruppe“ und zwar – A) soziale Bewegungen wie die Landlosen in Brasilien, B) Guerillas und aufständische Bewegungen und zuletzt C) Terrororganisationen, Drogenkartelle und Paramilitärs. In diesem Punkt muss die problematische Einordnung von Guerillas, Drogenkartellen und Paramilitärs diskutiert werden. Es geht hier um hochorganisierte gesellschaftliche Gruppen, die in Illegalität agieren. Während Drogenkartelle und kriminelle Organisationen einfach Geld verdienen möchten, sind die Guerillas politisch motiviert und erwarten einen Eingriff in das politische System. Problematisch ist auch, ob die Guerillas als Terrororganisationen, die manchmal enge Beziehungen zu den Drogenkartellen haben, angesehen werden sollten. Das ist vom politischen System abhängig. Während der Amtszeit des kolumbianischen Ex-Präsidenten Alvaro Uribe wurden die FARCs als eine Terrororganisation bezeichnet, die
3.2 Quantitative Inhaltsanalyse als Forschungsmethode …
211
ehemaligen brasilianischen und venezolanischen Präsidenten Lula und Chàvez lehnten allerdings diesen Begriff ab. Daher wurden die Quellen (Guerilla gegenüber Drogenkartellen und Terrororganisationen) getrennt codiert, auch wenn es um eine Frage der politischen Perspektive geht. In Bezug auf die Handlungsträger wurde während der Probecodierung bemerkt, dass die Akteure im Laufe der Zeit anders codiert werden müssen. Ab 2011, nach Chávez’ Tod, wurde der Staatschef als historische Figur und nicht mehr als offizieller Staatsvertreter verschlüsselt. Ähnliches passiert mit der ehemaligen Umweltministerin in Brasilien, Marina Silva, die nach ihrem Rücktritt als Repräsentantin der Opposition zu verstehen war. Der Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa wurde normalerweise als Autor und Intellektueller verschlüsselt, außer wenn man über seine ehemalige Präsidentschaftskandidatur im Jahr 1990 spricht. Dann wird er als „Opposition“ angesehen. Ein anderes Beispiel wäre Evo Morales. Bevor er die Präsidentschaftswahl gewann, gehörte der Politiker zur Opposition der linksgerichteten Partei „Bewegung zum Sozialismus“. Überdies waren Peronisten während der Regierung Fernando de la Rúas (Radikale Bürgerunion) Opposition, aber sie waren Gouverneure der wichtigsten argentinischen Provinz. Die Codierungsentscheidung hängt davon ab, welche Regierungsinstanz im Vordergrund steht. Manche Guerillas haben sich außerdem im Laufe der Zeit in eine politische Partei verwandelt, wie die Nationale Befreiungsfront Farabundo Martí (FMLN) in El Salvador. Solche Fälle müssen während der ganzen Codierung beachtet werden. Kleinigkeiten bezüglich der Nomenklaturen wurden auch verbessert. Zum Beispiel ist der Begriff „Lateinamerika“ durch „multinationaler Bezug“ ersetzt worden, um Beiträge, die mehrere Länder betrachten, zu identifizieren. Das Sachgebiet „Buntes“ wurde in „Buntes & Alltagskultur“ umbenannt. Da die Unterscheidung zwischen „gewaltlosen Konflikten“ und „Kontroversen“ sehr schwer war, wurde zudem in Anlehnung an Schulz Kontroverse/Positionsdifferenz unter der Kategorie „Konflikt“ codiert. Gewaltlose Konflikte und Kontroversen werden alle unter der Ausprägung 1 codiert. Zuletzt wurde auf die Messung des Nachrichtenfaktors „Überraschung“ verzichtet. Es war sehr schwer einzuschätzen, ob ein erwartetes Geschehen mit oder ohne Veränderung auftauchte, oder ob es anders als erwartet passierte. Als größere Überraschungen waren nur Naturkatastrophen leicht erkennbar, was in der Kategorie „Krisenzentrierung“ bei dem Merkmal 5 „Katastrophen & Unglücke“ zu erfassen ist.
212
3 Methodische Auseinandersetzung und Forschungsdesign
3.2.1.8 Reliabilitätsprüfung und Zuverlässigkeit der Kategorien Die Voraussetzung einer zuverlässigen Inhaltsanalyse ist die intersubjektive Nachvollziehbarkeit, d. h. eine essenzielle Reliabilitätsmessung der Analyse. Die vorliegenden Ergebnisse sollten mit demselben Instrument, eigentlich mit demselben Codebuch, jederzeit reproduzierbar sein. Der Reliabilitätstest ergibt Informationen nicht nur über die Güte des methodischen Instruments, sondern auch über die Genauigkeit der Codierer (vgl. Merten 1995, S. 302– 303; vgl. Rössler 2005, S. 197; vgl. Früh 2011, S. 188–189). Normalerweise wird die Übereinstimmung mehrerer Codierer am gleichen Material ermittelt (Intercoder-Reliabilität). Bei langfristigeren Untersuchungen verschlüsselt der gleiche Codierer dasselbe Material, aber mit einem zeitlichen Abstand (Intracoder-Reliabilität). Die Frage ist, wie gut ist die Übereinstimmung der Codierung am Anfang und am Ende der Codierungsphase? Laut Früh ist der Intercoder-Reliabilitätstest unverzichtbar, während die Intracoder-Reliabilität nur nach Bedarf durchgeführt werden kann. Es wird zudem darauf hingewiesen, dass das Resultat einer Reliabilitätsprüfung nur Aussagen über die Qualität der Messanweisungen und deren Applikation gewährleisten kann. Das Ergebnis bezieht sich nicht auf die Güte der selektierten Indikatoren (vgl. Früh 2011, S. 189). Diese Unterscheidung wird von Merten (1995) als externe und interne Gültigkeit definiert. Unter externer Gültigkeit oder Validität versteht man die Übereinstimmung zwischen Analyseergebnissen und sozialer Realität. Andersherum bedeutet interne Gültigkeit oder Zuverlässigkeit den Grad der Reproduzierbarkeit von Messresultaten bei Anwendung des gleichen Instruments (vgl. Merten 1995, S. 302). Das Ausmaß des Testmaterials muss so groß sein, dass die Zahlenbasis für ein statistisches Verfahren ausreichend ist. Früh spricht von 30–50 Nennungen pro Variable. Eine andere Möglichkeit für eine Variable, die nur einmal pro Beitrag verschlüsselt wird, ist die alleinige Codierung mithilfe einer größeren Textstichprobe von circa 50 Beiträgen (vgl. Früh 2011, S. 189). Trotz unterschiedlicher statistischer Schwächen wird normalerweise der Reliabilitätskoeffizient nach Holsti für solche Verfahren genutzt (vgl. Rössler 2005, S. 202). Der Wert kann zwischen 0 und 1 oder in Prozent angegeben werden. Zu beachten ist, dass der Holsti-Koeffizient sich nur für nominalskalierte Variablen eignet (vgl. Merten 1995, S. 305).
3.2 Quantitative Inhaltsanalyse als Forschungsmethode …
213
Der Koeffizient wird folgendermaßen ermittelt: CR = 2*Ü/(C1 + C2). Hier heißt CR die Codierer-Reliabilität; Ü ist die Anzahl der übereinstimmenden Codierungen; C1 und C2 die Anzahl der Codierungen von Codierer 1 und 2 (vgl. Früh 2011, S. 190). In der vorliegenden Inhaltsanalyse wurde eine Intercoder-Reliabilitätsprüfung anhand einer in SPSS generierten Zufallsstichprobe von 5 % aller codierten Texte durchgeführt, was 227 Beiträgen entspricht. 211 davon wiesen einen größeren Fokus auf Lateinamerika auf, das heißt, alle Kategorien wurden bis zum Ende weiteranalysiert. Für Variablen, für die bis zu drei Nennungen möglich waren, z. B. Länderbezug oder Handlungsträger, gab es eigentlich 633 Codierungsentscheidungen zu betrachten. Der Test wurde von einer unabhängigen Kommunikationswissenschaft-Studentin nach einer Codierungsschulung durchgeführt. Die Ergebnisse jeder Kategorie sind der unten dargestellten Tabelle zu entnehmen (Tabelle 3.9). Als guten Qualitätsstandard beurteilt Früh eine Übereinstimmung zwischen 75 % und 85 % für komplizierte Kategorien, was in den dargestellten Resultaten völlig erreicht wurde. Für Variablen mit unterschiedlichem Skalenniveau, z. B. Personalisierung oder Betroffenheit, wurde kein Toleranzintervall definiert. Wenn die Forscherin „Personalisierung 1“ und der Codierer „Personalisierung 2“ verschlüsselte, wurde der Fall als keine Übereinstimmung betrachtet. Das schlechte Ergebnis liegt bei Handlungsträger (0.9) und beim Grad der Bekanntheit bzw. Prominenz solcher Akteure (0.88). Verantwortlich für die konstatierten Codierungsfehler der Variable Handlungsträger sind die unterschiedlichen Rollen eines Politikers im Land der fünfzehn analysierten Jahre. Auch wenn zum Beispiel der ehemalige Präsident Brasiliens in der Mehrheit der Beiträge als „offizieller Handlungsträger der Exekutive“ codiert wurde, gehört er bis zum Jahr 2002 zur Opposition. Andere Fälle sind Bürgermeister oder Gouverneure, die auf ihre Stelle verzichten mussten, um andere Wahlen anzutreten. Der Grad der Bekanntheit einer Person ist zudem schwierig zu ermitteln, insbesondere im Fall von gesellschaftlich organisierten Akteuren, Autoren, Künstlern und Intellektuellen, wie bei der Darstellung der Kategorie und der Probleme bei der Probecodierung schon diskutiert wurde. Trotz der Schwierigkeiten kann man das Ergebnis als einen Indikator in Betrachtung ziehen (Tabelle 3.9).
214
3 Methodische Auseinandersetzung und Forschungsdesign
Tabelle 3.9 Übereinstimmung der Kategorien beim Reliabilitätstest 211 Beiträge
Kategorien
Übereinstimmung
Fehler/Codierungsentscheidungen
Formale
ID-Nummer
100 %
0
Datum
100 %
0
Inhaltliche
Zeitung
100 %
0
Größe
100 %
0
Fokus
99,5 %
1/227
Darstellungsformen
95,7 %
9/211
Zeitbezug
93,8 %
13/211
Länder
99,6 %
2/633
Berichtsort
98,5 %
3/211
Sachgebiet
99,5 %
1/211
Hauptthemen
99,5 %
1/211
Subthemen
98,5%
3/211
Handlungsträger
90,6%
59/633
Prominenz
88,3%
74/633
Autorenschaft
99,5%
3/633
Deutscher Bezug
99,0%
2/211
Nachrichtenperspektive
98,1%
4/211
Valenz
94,3%
12/211
Krisenzentrierung
97,6%
5/211
Schaden
99,0%
2/211
Erfolg
97,1%
6/211
Betroffenheit/Relevanz
95,7%
9/211
Personalisierung
97,1%
6/211
Quelle: Eigene Darstellung
3.3 Korrespondenten-Experteninterviews als qualitative …
215
3.3 Korrespondenten-Experteninterviews als qualitative Ergänzungsmethode Die oben beschriebene quantitative Inhaltsanalyse bildet den empirischen Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit, um die Struktur der LateinamerikaBerichterstattung in der deutschen Presse zu ermitteln. Allerdings sollen in einem zweiten Schritt die deutschen Korrespondenten in die Arbeit einbezogen werden, die als wichtige Vermittler und Gestalter der medialen Thematisierung und des Images Lateinamerikas gelten. Sie sind als Experten/innen angesehen, die Informationen über die Arbeitsorganisation der Auslandsberichterstattung, Abhängigkeit im Nachrichtenfluss und redaktionelle Struktur geben können. Sie verfügen über „technisches“ und „Prozesswissen“ (vgl. Bogner und Menz 2002b, S. 43), d. h. Erkenntnisse über Handlungsabläufe, Interaktionspraxis und organisationale Verhältnisse der Auslandsberichterstattung. Die Kommunikatoren werden in der vorliegenden Analyse nicht als Forschungsgegenstand betrachtet, sondern als Experten, die Auskunft über Entstehungsbedingungen der Lateinamerika-Berichterstattung geben können, um die Interpretation der quantitativen, repräsentativen Daten zu unterstützen. Das Leitfadeninterviews mit Korrespondenten werden hierbei als „Ergänzung quantitativ gewonnener Daten“ (Riesmeyer 2011, S. 225) angewendet. Die Rolle der Experten wird wie folgt in der Literatur definiert: „Der Experte verfügt über technisches, Prozess- und Deutungswissen, das sich auf sein spezifisches professionelles oder berufliches Handlungsfeld bezieht. Insofern besteht das Expertenwissen nicht allein aus systematisiertem, reflexiv zugänglichem Fach- oder Sonderwissen, sondern es weist zu großen Teilen den Charakter von Praxis- oder Handlungswissen auf, in das verschiedene und durchaus disparate Handlungsmaximen und individuelle Entscheidungsregeln, kollektive Orientierungen und soziale Deutungsmuster einfließen. Das Wissen des Experten, seine Handlungsorientierungen, Relevanzen usw. weisen zudem – und das ist entscheidend – die Chance auf, in der Praxis in einem bestimmten organisationalen Funktionskontext hegemonial zu werden, d. h., der Experte besitzt die Möglichkeit zur (zumindest partiellen) Durchsetzung seiner Orientierungen. Indem das Wissen des Experten praxiswirksam wird, strukturiert es die Handlungsbedingungen anderer Akteure in seinem Aktionsfeld in relevanter Weise mit“ (Bogner und Menz 2002a, S. 46).
Zusammengefasst beschreibt man unter „Experte“ „die spezifische Rolle des Interviewpartners als Quelle von Spezialwissen über die zu erforschenden sozialen Sachverhalte“ (Gläser und Laudel 2010, S. 12) und „Experteninterviews sind eine Methode, dieses Wissen zu erschließen“ (ebd.). In den klassischen
216
3 Methodische Auseinandersetzung und Forschungsdesign
qualitativen Methodentexten werden Experteninterviews als Sonderformen der Befragung betrachtet, die nicht standardisiert und quantitativ auszuwerten sind (vgl. Bogner und Menz 2002b, S. 7). Meuser und Nagel (2002) unterscheiden Experteninterviews von anderen offenen Interviewsorten dadurch, dass hierbei nicht das befragte Individuum im Zentrum des Interesses liegt, sondern ein besonderes organisatorisches oder institutionelles Verhältnis, mit der Folge, dass nur spezifische Einzelheiten persönlicher Erfahrung als Mittelpunkt des Interviews betrachtet werden können. Einzelfälle sind hierzu nicht relevant und stehen nicht im Vordergrund, sondern die allgemeine geteilte Erkenntnis der Experten bzw. Korrespondenten (vgl. Bogner und Menz 2002b, S. 22). Die befragten Korrespondenten können zur Interpretation der Ergebnisse mittels der von Meuser und Nagel (2002) zwei diskutierten Perspektiven „Betriebswissen“ und „Kontextwissen“ beitragen (vgl. Meuser und Nagel 2002, S. 76). Sie gelten als bedeutsame Handlungsträger der Produktionsroutinen der deutschen Auslandsberichterstattung über Lateinamerika, verfügen also über „Betriebswissen“ und sie besitzen gleichzeitig angemessenes „Kontextwissen“, d. h. Allgemeinwissen über die Institutionen, Medienorganisationen und hierarchische Struktur der Redaktionen (vgl. Meuser und Nagel 2002, S. 75–77; vgl. Aufenanger 2011, S. 104).
3.3.1 Operationalisierung, Anlage und Durchführung der Befragung von Korrespondenten Die Befragung hier orientiert sich am Konzept des Leitfadeninterviews, d. h. qualitative semi-strukturierte Interviews mit Korrespondenten, denn diese Methode wird als „Königsweg der qualitativen Journalismusforschung“ (Riesmeyer 2011, S. 234) angesehen. Zudem sind die qualitativen teilstandardisierten oder offenen Interviews allgemein in der Sozialforschung sehr verbreitet (vgl. Hopf 2017, S. 349). Ein zusätzlicher Vorteil des Leitfadens sind die thematischen Schwerpunkte mit unterschiedlichen Beobachtungsdimensionen, die zur Erleichterung des Auswertungsprozesses beitragen sollen. Die offenen Fragen ermöglichen außerdem die Entstehung eines Dialoges zwischen Experten und Forschern, da die Befragten in der Lage sind, sich umfangreich und subjektiv zu äußern. Anders gesagt können die Korrespondenten ihre Meinungen und Erfahrungen frei artikulieren. Die Fragen sind neutral formuliert worden, um suggestive Fragen und Interpretationen zu vermeiden (vgl. Hopf 2017, S. 359). Mit anderen Worten: Die Fragen sollen „offen, neutral, einfach und klar formuliert werden“ (Riesmeyer 2011, S. 228). Der teilstrukturierte Leitfaden bezieht sich hierbei auf fünf konkrete Themenkomplexe: 1. Hintergrundinformationen (Auskunft zur Person
3.3 Korrespondenten-Experteninterviews als qualitative …
217
und Arbeitsgebiet), 2. Einschätzung des Lateinamerika-Images, 3. Arbeitsrealität (bspw. Stellenwert der Lateinamerika-Berichterstattung, Beziehung zur Zentralredaktion und Themenauswahl), 4. Rollenverständnis, und 5. spezifische Fragen zu Ergebnissen der quantitativen Inhaltsanalyse (vgl. Leitfaden im Anhang). Der Schwerpunkt des Leitfadens liegt auf dieser letzten erwähnten Dimension – dem Vorlegen und der Diskussion der Ergebnisse der quantitativen Inhaltsanalyse. Da die Aussagekraft der Medieninhalte beschränkt ist, sollten die Korrespondenten die Entstehungsbedingungen solcher Inhalte beleuchten, um zur Interpretation der gewonnenen Daten beitragen. Daher wird die Auswertung der Interviews zusammen mit den Ergebnissen der quantitativen Inhaltsanalyse zusammen dargestellt, um die Befunde der Medieninhalte zu bestätigen, relativieren oder einfach zu erklären. Das Ergebniskapitel diskutiert die Kategorien und ihre entsprechenden Forschungsannahmen basierend auf der quantitativen Inhaltsanalyse und den qualitativen Interviews. Diese Methode erscheint für einen ergänzenden Datengewinn der vorliegenden Dissertation besonders günstig zu sein, da sie, „das ‚Beobachten‘ des journalistischen Feldes durch die Augen der Journalisten“ (Riesmeyer 2011, S. 225) bzw. Korrespondenten ermöglicht. Mindestens ein fester oder freier Korrespondent der vier untersuchten Presseorgane – SZ, FAZ, taz und Der Spiegel – wurde interviewt. Da diese Untersuchung sich nicht in erster Linie mit der Ebene der Kommunikatoren beschäftigt – wie z. B. die Gatekeeper-Studien (vgl. Lange 2002; vgl. Hahn et al. 2008a), – wurde es auf weitere Interviews mit Korrespondenten anderer deutscher Medien verzichtet. Tabelle 3.10 Befragte Korrespondenten in Lateinamerika Presseorgan
Stadt-Stützpunkt
Zeitraum
Interview
Ingo Malcher
SZ, taz, Financial Times (DE), Facts
Buenos Aires
1995–2005
Skype
Jens Glüsing
Spiegel
Rio e Janeiro
seit 1991
Skype
Toni Keppeler
taz, Welt Woche, Facts San Salvador
1993–2005
Skype
Wolf-Dieter Vogel
taz, German World
Oaxaca-Mexiko
seit 2001
Skype
Eva Karnofsky
SZ
Buenos Aires
1993–2002
E-Mail
Peter Burghardt
SZ
Buenos Aires
2006–2015
E-Mail
Josef Oehrlein
FAZ
Buenos Aires
1999–2014
E-Mail
„Freie/r Journalist/ in
Anonymisierung
anonym
anonym
E-Mail
Eigene Darstellung
218
3 Methodische Auseinandersetzung und Forschungsdesign
Nach der Inhaltsanalyse entstand eine Liste mit den häufigsten und wichtigsten Autoren, die öfter für die analysierten Presseorganen schrieben. Zudem wurde Kontakt per E-Mail mit den deutschen Botschaften in den zwanzig lateinamerikanischen Ländern aufgenommen, um die Anwesenheit von deutschen Korrespondenten in der Region zu erkunden. Aus forschungsökonomischen Gründen wurden die Korrespondenten nach ihren eigenen Entscheidungen entweder per E-Mail oder Skype interviewt. Der Leitfaden wurde dann nach Absprache als Textdatei per E-Mail gesendet oder ein Skype-Termin wurde vereinbart. Die Befragungen fanden zwischen dem 12. Februar und 13. März 2018 statt. Die Skype-Interviews haben zwischen 40 und 80 Minuten gedauert und die schriftlichen Antworten enthalten zwischen drei und sechs Seiten. Allgemein wurden 17 Korrespondenten angesprochen, die irgendwann schon im Lauf der 15 Jahre für die vier untersuchten Presseorgane entweder als fester oder freier Korrespondent schrieben. Acht davon waren gern zu einem Gespräch bereit, wie der Tabelle 3.10 zu entnehmen ist. Ein Interview ist auf Wunsch des Gesprächspartners anonymisiert worden. Fünf haben sich nicht zurückgemeldet und drei wollten an einer Besprechung nicht teilnehmen, da sie entweder keine Zeit hatten oder nichts Relevantes zu dem Untersuchungszeitraum sagen können. Die Skype-Interviews wurden als Audio-Datei aufgenommen und mithilfe des Programms F5 transkribiert. Da die thematische Dimension bei den Gesprächen im Mittelpunkt stand, wurde als Transkriptionsverfahren die Übertragung ins übliche Schriftdeutsch (vgl. Hahn et al. 2008a, S. 147) verwendet. Zudem halten Meuser und Nagel (vgl. Meuser und Nagel 2002, S. 83) ein aufwendiges Notationssystem, das im Fall von narrativen Interviews oder Konversationsanalyse nicht zu vermeiden ist, für unnötig, denn es geht hierbei um gemeinsames geteiltes Wissen der Experten. Das bedeutet, dass Pausen, Stimmlage, Dialekte und weitere nonverbale und parasprachliche Merkmale nicht zum Objekt der Interpretation gehören (ebd.). Obwohl die Korrespondenten Portugiesisch bzw. Spanisch beherrschen, wurden die Interviews auf Deutsch durchgeführt, um aufwendige Übersetzungsprozesse zu vermeiden. Die Auswertung der Interviews erfolgte nach der qualitativen Methode der zusammenfassenden Inhaltsanalyse nach Mayring (vgl. 2010, S. 48–50), in der drei Schritte bestimmt werden: Paraphrase, Generalisierung und Reduktion. Das Ziel sei es, das Material der Gespräche so zu reduzieren, dass sich daraus ein erfassbarer Kurztext herauskristallisiert, jedoch die bedeutenden Inhalte beibehalten werden, sodass das Grundmaterial sich noch abbilden lässt (vgl. Lamnek 1993; vgl. Mayring 2010). Die thematischen Mittelpunkte des Leitfadens legen Vorformulierungen der theoretischen Kategorien dar, die in der Auswertung
3.3 Korrespondenten-Experteninterviews als qualitative …
219
in Betracht gezogen werden (vgl. Meuser und Nagel 2002, S. 82). Anders gesagt sichert der Leitfaden die thematische Vergleichbarkeit der Expertenaussagen (ebd.). Die Hauptauswertungsstrategie ist hierbei der thematische Vergleich typischer Äußerungen (vgl. Meuser und Nagel 2002, S. 80). Nicht das Individuelle, sondern das Aggregat von Wissensstrukturen, Realitätskonstruktionen, Sinndeutungen, Erläuterungen und Interpretationen steht im Vordergrund (ebd.). Die reduzierten Textpassagen bzw. die Auswertungstabellen sind entsprechend nach thematischen Äußerungen organisiert, und stehen neben den kompletten Transkriptionen im Anhang zur Verfügung. Diese qualitativen Ergebnisse werden allerdings, wie schon erwähnt, nicht allein dargestellt, sondern im nächsten Kapitel zusammen und kombiniert mit den Befunden der quantitativen Inhaltsanalyse präsentiert. Die Interviews dienen zur Unterstützung der Interpretation der Ergebnisse hinsichtlich des Bildes Lateinamerikas und sollten nicht als Gatekeeper- bzw. Auslandskorrespondenz-Studien wie bei Lange (2002); Hahn et al. (2008) oder Renneberg (2011) angesehen werden, denn sie haben keinen Anspruch auf Vollständigkeit und sind auf bestimmte, für die vorliegende Arbeit relevante Aspekte konzentriert. Die wichtigsten Äußerungen der Korrespondenten wurden als Illustration und zur Untermauerung neben der Darstellung der quantitativen Daten im folgenden Ergebniskapitel zitiert.
4
Ergebnisse der quantitativen Inhaltsanalyse: Das Lateinamerika-Bild in der Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, tageszeitung und Der Spiegel von 2000 bis 2014 Im Mittelpunkt der vorliegenden Inhaltsanalyse steht die Darstellung der Konstruktion des Lateinamerika-Bildes in den vier ausgewählten Presseorganen (SZ, FAZ, taz und Der Spiegel) von 2000 bis 2014 mithilfe der zuvor erhobenen quantitativen Daten. Der Zweck ist, eine empirisch belegte Untersuchung des Lateinamerikabildes bzw. eine „Re-Rekonstruktion“ der Medienrealität zu gewährleisten. Für eine auf dem „Rekonstruktion-Dekonstruktion-Ansatz“ (Hafez 2002a, S. 21) basierende Analyse sind drei Qualifikationen notwendig: inhaltsanalytische, gegenstandsanalytische und medientheoretische Fähigkeiten1 (vgl. Methodenauseinandersetzungen). Für das Verständnis der Entstehungsbedingungen und des Wirkungsprozesses der Berichterstattung sind die Ergebnisse der quantitativen Inhaltsanalyse allerdings begrenzt. Das Kernstück der Interpretation stützt sich auf die Experteninterviews mit Korrespondenten und auf die Vergleiche der entsprechenden Daten mit den Befunden früherer Untersuchungen, welche sich mit dem Image der außereuropäischen Welt in den deutschen Medien beschäftigt haben. In diesem Kapitel werden die Ergebnisse der quantitativen Inhaltsanalyse dargestellt, mit anderen Studien aus dem Themenbereich der Auslandsberichterstattung verglichen und mithilfe von extramedialen wissenschaftlichen Kenntnissen interpretiert. In Anlehnung an Hafez (2002b) wird die Analyse der Daten in drei Stufen erfolgen:
1Für
methodologische Anmerkungen und die wissenschaftliche Auseinandersetzung über das Verhältnis und die Vergleichbarkeit zwischen Medieninhalt und „Wirklichkeit“ siehe Abschnitt 2.4.1.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 R. Cazzamatta, Lateinamerikaberichterstattung der deutschen Presse, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30784-4_4
221
222
4 Ergebnisse der quantitativen Inhaltsanalyse …
– Einfache Analyse. Hier werden die Daten erstmals isoliert nach Kategorien dargestellt und bearbeitet, ohne starke Berücksichtigung der Länderkategorisierung. In diesem Schritt werden die ganzen strukturellen Merkmale der Lateinamerika-Berichterstattung allgemein berücksichtigt. Spezifische Besonderheiten oder starke und auffällige Ausprägungen der Länder werden innerhalb der einzelnen Kategorien betrachtet. Hierbei lässt sich die einfache Analysestruktur in zwei Schritten unterscheiden. Zuerst werden die Strukturmerkmale der Auslandsberichterstattung (Sachgebiet, Thematisierung, Handlungsträger, Valenz, Krisenzentrierung usw.) und danach die entsprechenden Nachrichtenfaktoren (Prominenz, Personalisierung, Schaden & Erfolg usw.) dargestellt und diskutiert. Strukturmerkmale und Nachrichtenfaktoren sind miteinander verbunden (Tabelle 2.4), wie schon in der theoretischen Einleitung herausgearbeitet wurde, trotzdem können aber unterschiedliche Informationen mithilfe beider Perspektive erhalten werden. Der Ausbruch der Wirtschaftskrise in Argentinien und das Erdbeben in Haiti werden als „negativ“ bei der Kategorie „Valenz“ codiert. Jedoch lässt sich das Ausmaß des „Negativismus“ z. B. nur durch die Intensität des „Schadens“ ermitteln. – Kombinierte Analyse. Dieser Schritt dient meist dazu, einen zusammenfassenden Überblick über Häufigkeiten des Vorkommens und die Intensität von Strukturmerkmalen und Nachrichtenfaktoren nebeneinander zu schaffen. Es werden beispielsweise die Verhältnisse zwischen Sachgebieten und Nachrichtenfaktoren, Presseorganen und Nachrichtenfaktoren und die Nachrichtenfaktoren im Laufe der Jahre analysiert. In dieser Phase werden die Entwicklungstendenzen der Berichterstattung berücksichtigt. Die Nachrichtenfaktoren spielen nicht nur bei den einzelnen empirischen Kapiteln (erster Analyseschritt) als interpretative Mechanismen eine Rolle, sondern auch hierzu bei der kombinierten Form der Untersuchung. Im Zentrum dieser Analyseebene stehen die thematische Entwicklung im Lauf der Jahre, die Bedeutung der Nachrichtenfaktoren pro Presseorgan und Sachgebiet sowie die Entwicklung der Nachrichtenfaktoren und Strukturmerkmale im Lauf der Zeit. – Länderprofilanalyse. Da die Auslandsberichterstattung der zwanzig Länder sich in hohem Maße unterscheidet, ist es notwendig, eine getrennte Darstellung der Ergebnisse nach Länderprofilen vorzunehmen. Es handelt sich um eine kombinierte Analyse der Merkmale in Bezug auf Gruppen von Ländern. In diesem Niveau werden insbesondere die Sachgebiete-Thematisierung jeder Nation im Zusammenhang mit ihren unterschiedlichen Nachrichtenfaktoren und strukturellen Merkmalen der spezifischen Berichterstattung betrachtet.
4.1 Einfache Auswertung der quantitativen Inhaltsanalyse Lateinamerikas
223
Hierbei wurden vier Profile berücksichtigt: a) die bedeutendsten Handelspartner Deutschlands, b) Länder gegen den Washington-Konsens c) kleine und unterrepräsentierte zentralamerikanische Nationen und zuletzt d) Staaten aus den Mercosur- und den Pazifik-Allianz-Bündnissen.
4.1 Einfache Auswertung der quantitativen Inhaltsanalyse Lateinamerikas Dieser Abschnitt stellt die einfachen Auswertungen der Daten dar und wirft einen Blick auf das Image Lateinamerikas im Allgemeinen. Spezifische thematische Besonderheiten werden innerhalb der einzelnen Länderprofile betrachtet (vgl. Länderprofile). Für die Inhaltsanalyse wurden 4.164 Beiträge überprüft, davon haben 3.831 (91,98 %) einen großen Fokus auf Lateinamerika und deren Länder gelegt (Abbildung 4.1). Artikel, die einen schwachen Bezug zu dem untersuchten Objekt aufweisen, wurden nicht weiter codiert. Daher basieren die Ergebnisse auf der Analyse eines Samples von 3.830 Beiträgen.
Fokus auf Lateinamerika
8.0% Großer Fokus Schwacher Fokus 92.0%
Abbildung 4.1 Fokus der Beiträge auf Lateinamerika in Prozentangaben (2000–2014). (Eigene Darstellung)
224
4 Ergebnisse der quantitativen Inhaltsanalyse …
4.1.1 Umfang, Häufigkeit und Kontinuität: Das winzige Interesse an Lateinamerika und sein fragmentarisches Bild Von den 3.831 codierten Beiträgen sind 1.385 Artikel (36,2 %) in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 1.184 Texte in der tageszeitung (30,9 %), 1.029 in der Süddeutschen Zeitung (26,9 %) und zuletzt 233 im Magazin Der Spiegel (6,1 %) erschienen (vgl. Abbildung 4.2). Die große Präsenz von Artikeln aus der FAZ lässt sich durch ihre große Anzahl von festen Korrespondenten in Lateinamerika während des untersuchten Zeitraums erklären2. Zudem konzentriert sich die Berichterstattung Lateinamerikas auf Länder wie Brasilien, Argentinien und Mexiko. Es handelt sich hierbei um einen signifikanten Anteil an wirtschaftlicher Berichterstattung, was dem Schwerpunkt der FAZ entspricht. Die taz besitzt den zweitgrößten Anteil an der Auslandsberichterstattung Lateinamerikas. Es kann davon ausgegangen werden, dass die alternative Zeitung größeres Interesse am Kontinent und dessen kulturellen Veranstaltungen hat. Geht man davon aus, dass die Länder gleich repräsentiert wären (was überhaupt nicht der Fall ist), dann würde jedes Land bei der FAZ, welche am meisten über Lateinamerika berichtet, ungefähr vier Artikel pro Jahr bekommen3. Da die vorliegende Untersuchung mit einer Stichprobe von 25 % arbeitet, sollte diese Anzahl mit vier multipliziert werden, das heißt 16 Beiträge pro Jahr und pro Land (etwa ein oder zwei Artikel pro Monat), was nicht genug ist, um die Grundversorgung der Informationen von 20 Ländern Lateinamerikas sicherzustellen.
2Laut
der Inhaltsanalyse und Informationen der deutschen Botschaften in Lateinamerika verfügte die FAZ bis 2014 über zwei feste Korrespondenten in Buenos Aires, Dr. Josef Oehrlein und Carl Moses, und ab 2013 über einen weiteren in Sao Paulo, nämlich Matthias Rüb. Eva Karnofsky hat als Korrespondentin bis 2003 für die SZ in Buenos Aires gearbeitet und seit 2006 schreibt Peter Burghardt für die Zeitung aus der Hauptstadt Argentiniens. Jens Glüsing vertritt das Magazin Der Spiegel in Rio de Janeiro. Die taz hat ein paar freie Journalisten, die regelmäßig für das Blatt schreiben, wie beispielsweise Andreas Behn aus Rio de Janeiro, Ingo Malcher und Jürgen Vogt (auch für SZ) aus Buenos Aires, Gerhard Dilger aus Porto Alegre, Anne Huffschmid und Wolf-Dieter Vogel aus Mexiko. 3Von 1.385 Artikeln der FAZ, durchschnittlich circa 92 pro Jahr, dividiert durch 20
4.1 Einfache Auswertung der quantitativen Inhaltsanalyse Lateinamerikas
225
Verteilung der Artikel nach Presseorganen 40% 35% 30% 25% 20% 15% 10% 5% 0%
36.2%
30.9%
26.9% 6.1%
FAZ
taz
SZ
Spiegel
Eigene Darstellung Abbildung 4.2 Verteilung der Lateinamerika-Berichterstattung nach Presseorganen (2000–2014)
Beobachtet man die Häufigkeit der Berichterstattung über Lateinamerika im untersuchten Zeitraum (Abbildung 4.3) sind zwei Höhepunkte im Jahr 2001 und 2010 deutlich zu erkennen. Eine ereigniszentrierte Berichterstattung lässt sich insbesondere bei der isolierten Häufigkeitsanalyse der einzelnen Länder erkennen (vgl. Länderprofile und Berichterstattungsmuster). Dennoch werden bei der gesamten Betrachtung aller Länder starke konjunkturelle Schwankungen deutlich. Im Jahr 2001 zum Beispiel handelte es sich um die Wirtschaftskrise Argentiniens und ihre Auswirkungen auf andere Wirtschaftsnationen Lateinamerikas. Berichtet wurde insbesondere im Bereich „Wirtschaft & Finanzen“ über die Vorlegung von Sparmaßnahmen, die Bemühungen des Staates, neue Kredite bei der Weltbank und IWF zu erhalten, die Bekanntgabe des Staatsbankrotts, dessen Einfluss auf andere Länder, die Restrukturierungen der Schulden oder die Aufhebung der Peso-DollarBindung. Das Thema breitete sich noch zusätzlich nicht nur auf Börsengänge und die Analyse des Aktienmarkts aus, sondern auch im Bereich „Innenpolitik“: die
226
4 Ergebnisse der quantitativen Inhaltsanalyse …
folgende gesellschaftliche Anarchie, Krisenkabinett, Kabinettsumbildung, Proteste (Cacerolazos), Plünderungen, Ausnahmezustand und die Rücktritte von Minister und Präsidenten (es gab fünf Präsidenten binnen 13 Tagen). Das größte Interesse an diesem Thema hatte die FAZ, was nicht erstaunlich ist, da die Zeitung ihren Schwerpunkt auf den Bereich Wirtschaft legt. Andererseits zeigt das thematisch orientierte Magazin Der Spiegel keine Schwankungen oder besondere Reaktionen auf große Ereignisse. Bei diesem Beispiel Argentiniens bestätigt sich die Aussage von Hafez, dass die Zeitungen starken konjunkturellen Schwankungen unterliegen. Insbesondere bei Großereignissen wie „Kriege[n], Revolutionen und Krisen mit internationaler Dimension“ (Hafez 2002b, S. 44).
Verlauf der Lateinamerika-Berichterstattung im Lauf der Jahre 180 160
Anzahl der Beiträge
140 120 100 SZ FAZ
80
taz Spiegel
60 40
2014
2013
2012
2011
2010
2009
2008
2007
2006
2005
2004
2003
2002
2001
0
2000
20
Eigene Darstellung
Abbildung 4.3 Häufigkeit der erschienenen Artikel von 2000 bis 2014 in den analysierten Presseorganen
4.1 Einfache Auswertung der quantitativen Inhaltsanalyse Lateinamerikas
227
Eine andere Krise mit einer gewissen internationalen Dimension war das Erdbeben in Haiti 2010 und der Ausbruch von Cholera-Erkrankungen im gleichen Jahr. Die Presse hatte sofort auf die Naturkatastrophe reagiert und berichtete über die Zerstörung des Landes, die Lage der Opfer, die internationale wirtschaftliche Unterstützung und sogar über einen Deutschen, der als Feuermann im Einsatz war. Wenige Beiträge betrachteten die Wurzeln des Elends in Haiti, die einen Blick auf die Geschichte des „gescheiterten“ Staates warfen. Im August des gleichen Jahres geschah das Bergbauunglück in Chile. Die Presse berichtete über das Leben der Bergmänner in fast 700 Metern Tiefe, das Schicksal der Arbeiter und die größte Rettungsaktion im September mit internationaler Beteiligung. Im Jahr 2006 war eine weitere Schwankung festzustellen, auch wenn diese nicht so deutlich wahrzunehmen war wie in den Jahren 2001 und 2010. Als Ursache hierfür war kein spektakuläres Ereignis zu konstatieren. Es wurden jedoch die Wahlen in Lateinamerika thematisiert – „Nach Chile werden noch elf weitere Länder über ihre politische Zukunft entscheiden. Mit dem Sieg von Evo Morales in Bolivien und Michelle Bachelet in Chile ist die Zahl der Hoffnungsträger für die Linke weiter gewachsen“ (taz, 10.02.2006). Mit einem Anteil von 20 % handelte es sich beim Thema „Wahlen“ um das am häufigsten erwähnte im Jahr 2006. Der Wahlbetrugsverdacht in Mexiko zwischen dem politisch rechts orientierten Felipe Calderón (PAN) und dem politisch links einzuordnenden López Obrador (PRD) und die Forderung der Opposition nach einer neuen Auszählung wurden am häufigsten von der Presse verfolgt. Zuletzt ist eine leichte Schwankung im Jahr 2008 um die regionale Andenkrise zu spüren, eine Spannung zwischen Kolumbien und Ecuador und Venezuela. Ein FARC-Camp auf ecuadorianischem Boden wurde von Kolumbiens Luftwaffe beschossen. Ecuador argumentierte, dass der Angriff seine Staatsgrenze verletzt habe und der Präsident Venezuelas, Hugo Chávez, Ecuadors Partner, sendete Panzer an die Grenzen zu Kolumbien. Im Rahmen eines L ateinamerika-Karibik-Gipfeltreffens der Rio-Gruppe wurde eine Lösung für die Krise diskutiert. Noch im Rahmen des Guerillakrieges ließen die Rebellen im gleichen Jahr die prominente Geisel
228
4 Ergebnisse der quantitativen Inhaltsanalyse …
Ingrid Betancourt frei, was unter anderem zur Erhöhung des Berichterstattungsumfangs beigetragen hat. Bei diesem kurzen Überblick des Verlaufs der Lateinamerika-Berichterstattung wird deutlich, dass die Aufmerksamkeit des Kontinents im Zusammenhang mit konjunkturellen Schwankungen steht. Infolge dieser ereigniszentrierten Berichterstattung sind Berichterstattungslücken innerhalb der Mehrheit der lateinamerikanischen Länder zu beobachten. Allgemein tendieren die von der Presse am meisten beachteten Nationen zu einer fortdauernden Berichterstattung4. Die Aufmerksamkeit der Presse wird von bestimmten Ereignissen beeinflusst, es gibt jedoch Staaten, die trotz einiger punktueller Schwankungen kontinuierlich erwähnt werden, wenn auch unabhängig von der Quantität der Beiträge. Für die Mehrheit der Länder herrschen allerdings Aufmerksamkeitslücken. In der Tabelle 4.1 sind der Mittelwert der Artikelanzahl pro Jahr, die mittlere Abweichung der Streuungen, die geringste und höchste Anzahl der Beiträge, sowie der relative Standardfehler des Mittelwertes jedes Landes abzulesen. Der Koeffizient des relativen Standardfehlers5 zeigt die Länder, welche wenige Abweichungen hinsichtlich ihrer durchschnittlichen Anzahl der Beiträge pro Jahr aufweisen. Anders gesagt, Nationen, die durch eine mehr oder weniger konstante Berichterstattung beschrieben werden können, sind Brasilien, Kuba, Mexiko und Kolumbien.
4In
dieser genauen Reihenfolge – Brasilien, Argentinien, Mexiko, Kuba und Kolumbien/ Venezuela (vgl. nächster Abschnitt) – sind die Staaten, die am meisten Platz in der Presse erhalten. 5Der relative Standardfehler beschreibt eine Abmessung zur Normierung des Standardfehlers. Bringt man den Standardfehler in Zusammenhang mit dem Mittelwert, bekommt man eine Abmessung, die Vergleiche zwischen verschiedenen Daten bzw. Ländern erlaubt. Zur Interpretation des Wertes ist es empfehlenswert, nur relative Standardfehler unter 25 % einzubeziehen (vgl. United Nations 2005, S. 158).
2,47
4,33
3,60
13,20
Paraguay
Guatemala
Uruguay
Peru
1,900
,486
,575
,307
2,623
1,348
1,660
10,07
2,33
Bolivien
Panama ,398
6,994
Argentinien 45,47
,597
22,73
Venezuela
,768
1,706
4,07
11,87
Multi. Bezug
Nicaragua
7,53
16,33
Chile
1,906
Kolumbien 22,93
Ecuador
2,376
30,53
Mexiko
1,694
23,93
Kuba
2,711
49,47
Brasilien
1,543
6,431
27,087
2,314
7,360
1,882
2,225
1,187
10,159
5,222
6,608
2,973
7,382
9,203
6,563
10,501
Standardfehler StandardabMittelwert weichung Beiträge pro des MittelJahr (N = 15) wertes
Tabelle 4.1 Häufigkeit innerhalb der Länder Lateinamerikas
0
2
23
0
6
1
2
0
5
4
10
3
12
19
13
37
Minimum
6
25
115
9
33
7
10
4
46
23
32
15
41
47
37
76
Maximum
0,17
0,16
0,15
0,15
0,14
0,13
0,13
0,12
0,12
0,11
0,10
0,10
0,08
0,08
0,07
0,05
(Fortsetzung)
0,66
0,64
0,60
0,57
0,56
0,52
0,51
0,48
0,45
0,44
0,40
0,39
0,32
0,30
0,27
0,21
Relativer Standardfehler Relative Standardabdes Mittelweichung wertes
4.1 Einfache Auswertung der quantitativen Inhaltsanalyse Lateinamerikas 229
Eigene Darstellung
4,73
2,489
4,219
Haiti
10,47
,626
El Salvador 2,80
Honduras
,378
2,00
Dom. Republik
,424
2,47
Costa Rica
9,640
16,340
2,426
1,464
1,642
Standardfehler StandardabMittelwert weichung Beiträge pro des MittelJahr (N = 15) wertes
Tabelle 4.1 (Fortsetzung)
0
0
0
0
0
Minimum
39
63
9
5
6
Maximum
0,53
0,40
0,22
0,19
0,17
2,04
1,56
0,87
0,73
0,67
Relativer Standardfehler Relative Standardabdes Mittelweichung wertes
230 4 Ergebnisse der quantitativen Inhaltsanalyse …
4.1 Einfache Auswertung der quantitativen Inhaltsanalyse Lateinamerikas
231
Anhand dieses Wertes ist es möglich die Länder in zwei Kategorien zu gruppieren: A) Staaten, die relativ konstant und stabil in der Presse porträtiert sind und kleine Abweichungen hinsichtlich der durchschnittlichen Anzahl von Beiträgen pro Jahr aufweisen (relativer Standardfehler