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German Pages [616] Year 2022
Beiheft zur
DEUTSCHE ZEITSCHRIFT FÜR
PHILOLOGIE Lachmanns Erbe Editionsmethoden in klassischer Philologie und germanistischer Mediävistik Herausgegeben von ANNA KATHRIN BLEULER und OLIVER PRIMAVESI
BEIHEFTE ZUR ZEITSCHRIFT FÜR DEUTSCHE PHILOLOGIE Herausgegeben von Norbert Otto Eke · Udo Friedrich · Eva Geulen · Monika Schausten · Hans-Joachim Solms
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Lachmanns Erbe Editionsmethoden in klassischer Philologie und germanistischer Mediävistik
Herausgegeben von Anna Kathrin Bleuler und Oliver Primavesi
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Weitere Informationen zu diesem Titel finden Sie im Internet unter https://ESV.info/978-3-503-19486-5
Gedrucktes Werk: ISBN 978-3-503-19486-5 eBook: ISBN 978-3-503-19487-2 Alle Rechte vorbehalten © Erich Schmidt Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2022 www.ESV.info Satz: multitext, Berlin
INHALT Vorwort ............................................................................................................... 1
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Einleitung Oliver Primavesi und Anna Kathrin Bleuler: Einleitung: Lachmanns Programm einer historischen Textkritik und seine Wirkung .............................................................................................
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Anhang 1. Oliver Primavesi und Anna Kathrin Bleuler: Lachmanns „Gesetze“ von 1817 ................................................................................... 109 Anhang 2. Giorgio Pasquali: Grundsätze für Editoren antiker Texte 2
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Antike Texte in mittelalterlichen Handschriften Nigel Wilson: The Production and Circulation of Books in Byzantium ............................................................................................... 141
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Variantentypologie I: Eigenvarianten der Schreiber 3.1 Tobias Reinhardt: Ein antiker Text in drei Fassungen und deren mittelalterliches Nachleben: Ciceros ‚Academica‘ ....................... 155 3.2 Jan-Dirk Müller: Lachmann, die Lachmannsche Methode und die Überlieferung des Nibelungenliedes ................................................. 169
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Variantentypologie II: Ursprüngliche Fassungsvarianz in der Liedüberlieferung? 4.1 Hans Bernsdorff: Haben wir die Texte der frühgriechischen Lyriker? ....................................................................................................... 197 4.2 Anna Kathrin Bleuler: Fassungsvarianz bei Neidhart. Eine Vorlage mit Wahlmöglichkeiten als Ausgangspunkt der Überlieferung 229
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Der Archetypus und seine Hyparchetypi 5.1 Marcus Deufert: „Ad recensionem iudicium adhibendum est“. Lachmanns Lukrez und die ‚Lachmannsche Methode‘ ......................... 265 5.2 Frank Schäfer und Tomas Tomasek: Die münstersche „Tristan“-Ausgabe und ihr Leitastprinzip .............................................. 303
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Partielle Überlieferung abweichender älterer Textstufen 6.1 Peter Isépy: Die Überlieferung der „Bibliotheke“ des Photios und die Frage nach dem Archetypus ....................................................... 321 6.2 Holger Runow: Konrads von Würzburg „Partonopier und Meliur“. Prolegomena zu einer Neuausgabe .......... 363 5
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Partiell oder ausschließlich indirekte Überlieferung 7.1 Mirjam E. Kotwick: Textkritik und indirekte Überlieferung. Zur Rekonstruktion der antiken Überlieferungsgeschichte der Aristotelischen „Metaphysik“ .................................................................. 401 7.2 Oliver Primavesi: Zitatfragment und Textkritik. Empedokles’ Theorie der Augenfunktion und der Text des Laternengleichnisses ................................................................................... 427
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Digitalität und Methode 8.1 Florian Kragl: Jenseits der Textkritik. Überlegungen zu einer Theorie der digitalen Edition ................................................................... 575 8.2 Michael Stolz: Der ‚lebende‘ Text. Mutationen in der „Parzival“-Überlieferung am Beispiel von Vorlage und Kopie (Handschriften V und V’) ......................................................................... 585
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VORWORT von Anna Kathrin B l e u l e r und Oliver P r i m a v e s i Der vorliegende Band vereinigt die ausgearbeiteten Beiträge zum Workshop „Lachmanns Erben. Vom Umgang mit Textvarianz in klassischer Philologie und germanistischer Mediävistik“, der vom 8.–9. März 2018 am Wissenschaftskolleg zu Berlin stattgefunden hat. Der Workshop hatte das Ziel, Vertreter*innen der klassischen Philologie und der germanistischen Mediävistik zu einem Gespräch über die Methoden der Edition vormoderner, handschriftlich überlieferter Texte zusammenführen. Beide Fächer stehen in der Tradition der historisch-kritischen Editionsmethode, deren Entwicklung im 18. Jahrhundert von der neutestamentlichen Textkritik angebahnt worden war und deren Etablierung sowohl in der klassischen Philologie als auch in der germanistischen Mediävistik im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts vor allem von Karl Lachmann (1793–1851) betrieben wurde. Seither haben sich nicht nur die Fachkulturen dieser beiden ‚Lachmannschen’ Disziplinen auseinanderentwickelt; vielmehr werden auch innerhalb der beiden Fächer jeweils kontroverse Diskussionen darüber geführt, wie die handschriftliche Hinterlassenschaft vormoderner Textkulturen angemessen zu beschreiben sei und wie man editorisch mit ihr verfahren solle. Zudem hat sich vor allem in Italien eine lebhafte, entscheidend von Sebastiano Timpanaro geprägte Forschungsdiskussion über die Frage entwickelt, worin genau Lachmanns Beitrag zur Editionsmethodik besteht und worin nicht. Vor diesem Hintergrund sehen wir das Potenzial eines interdisziplinären Austauschs gerade darin, dass sich die Schriftkulturen, auf die sich die beiden Fächer beziehen, in vielen Hinsichten voneinander unterscheiden – auch wenn die Überlieferung hier wie dort im Wesentlichen auf mittelalterlichen Handschriften beruht. Die Gegenüberstellung eröffnet die Möglichkeit, Positionen, die sich innerhalb der jeweiligen Fachkulturen als Konsens herausgebildet bzw. als Problem verfestigt haben, zu hinterfragen, theoretische Vorannahmen zu überdenken, methodische Ansätze neu zu konturieren und weiterzuentwickeln. Wir danken den Beiträgerinnen und Beiträgern dafür, dass sie sich auf das Experiment eines solchen Austauschs eingelassen haben. In der dem Band vorangestellten Einleitung diskutieren wir den italienischen Forschungsstand zum theoretischen und editorischen Beitrag des historischen Karl Lachmann und setzen diesen Beitrag in Beziehung zu Positionen, wie sie in neuerer Zeit von Philologen wie Eduard Schwartz, Joseph Bédier, Paul Maas, Giorgio Pasquali, Hilarius Emonds, Karl Stackmann, Edward Kenney, Joachim Bumke, Michael Reeve, Paolo Trovato und, last but not least, von dem Linguisten Bernard Cerquiglini vertreten wurden.
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Anna Kathrin Bleuler und Oliver Primavesi
Für die organisatorische Betreuung des Workshops danken wir Corina Pertschi vom Wissenschaftskolleg zu Berlin; für die Finanzierung des Workshops der Leitung des Fellow Forums des Wissenschaftskollegs, für die Finanzierung der Druckkosten unseren Heimatuniversitäten, der Ludwig-Maximilians-Universität München und der Paris-Lodron-Universität Salzburg, sowie der Stiftungsund Förderungsgesellschaft der Universität Salzburg. Für die Aufnahme in die „Beihefte zur Zeitschrift für deutsche Philologie“ danken wir den Reihenherausgeber*innen, insbesondere Udo Friedrich. Unseren wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen Claudia Maria Kraml (Universität Salzburg) und Michael Neidhart (Universität München) sind wir für die Unterstützung bei der redaktionellen Einrichtung des Bandes zu Dank verbunden, ebenso Carina Lehnen und Hanne Ziegler vom Erich Schmidt Verlag für die ebenso geduldige wie kompetente Betreuung des Bandes. Salzburg und München im Frühjahr 2022 Anna Kathrin Bleuler und Oliver Primavesi
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1 Einleitung
1 EINLEITUNG: LACHMANNS PROGRAMM EINER HISTORISCHEN TEXTKRITIK UND SEINE WIRKUNG von Oliver P r i m a v e s i und Anna Kathrin B l e u l e r 1.1 Lachmanns Programm und die sogenannte ‚Lachmannsche Methode‘. – 1.2 Lachmanns Programm und das Edieren antiker Texte. – 1.3 Lachmanns Programm und das Edieren mittelalterlicher Texte. – 1.4 Zur methodischen Vielfalt „strenghistorischer Kritik“ heute: Die Beiträge des vorliegenden Bandes.
Die w a h r e s t r e n g h i s t o r i s c h e K r i t i k aber meine ich; und geläng’ es mir doch, vor allen Sie […] bei dieser Gelegenheit zu überzeugen, daß die gewöhnliche, die eine älteste Handschrift zum Grunde legt, nicht die wahre sei, sondern unsicher und trüglich! Lachmann an Benecke 1820 It cannot be too often reaffirmed, as Lachmann stated, that textual criticism belongs in the domain and to the discipline of h i s t o r y. Edward John Kenney 1974
1.1 Lachmanns Programm und die sogenannte ‚Lachmannsche Methode‘ Karl Lachmann (1793–1851) lehrte von 1825 bis zu seinem Tode an der FriedrichWilhelms-Universität zu Berlin klassische u n d deutsche Philologie, und seine singuläre Stellung in der Geschichte der Editionsphilologie beruht unstrittig jedenfalls darauf, dass er in einem weder vor noch nach ihm erreichten Ausmaß das Edieren a n t i k e r Te x t e (genauer: römischer Dichtung und des griechischen Neuen Testaments) mit dem Edieren m i t t e l h o c h d e u t s c h e r D i c h t u n g verbunden hat: Properz (1816); Nibelungenlied und Nibelungenklage (1826); Walther von der Vogelweide (1827); Hartmann von Aue, „Iwein“ (1827); Tibull (1829); Catull (1829); Neues Testament (1831); Wolfram von Eschenbach (1833); Hartmann von Aue, „Gregorius“ (1838); „Zwanzig alte Lieder von den Nibelungen“ (1840); Ulrich von Lichtenstein (1841); Lukrez (1850); „Des Minnesangs Frühling“ (gemeinsam mit Moriz Haupt, postum 1857 erschienen); hinzu kommt noch Lachmanns dreizehnbändige Ausgabe der sämtlichen Schriften von Lessing.1 Eine eingehende Darstellung und Kritik der wichtigsten von
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Gotthold Ephraim Lessings Sämmtliche Schriften, hg. v. Karl Lachmann, Neue rechtmäßige Ausgabe, 13 Bde., Berlin 1838–1840. Vgl. Lachmanns Selbstanzeige in Martin Hertz: Karl Lachmann. Eine Biographie, Berlin 1851, Anhang, S. XVII–XXIV (Beilage B), sowie das „Verzeichnis der Drucke von Lessings Schriften 1747 bis 1919“ in: Gotthold Ephraim Lessings sämtliche Schriften, hg. v. Karl Lachmann, Dritte, aufs neue durchgesehene und vermehrte Aufl., besorgt durch Franz Muncker, Zweiundzwanzigster Band, Zweiter Teil, Berlin, Leipzig 1919, S. 315–807, hier: S. 590–599.
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Oliver Primavesi und Anna Kathrin Bleuler
Lachmann erarbeiteten Editionen antiker wie mittelalterlicher Texte ist im Jahre 2000 von Giovanni Fiesoli vorgelegt worden.2 Daneben aber ist im wissenschaftlichen Sprachgebrauch bis zum heutigen Tage auch eine bestimmte M e t h o d e des Edierens mit Lachmanns Namen verknüpft. Allerdings ist fraglich, worin diese Methode des Näheren besteht und in welchem Sinne sie mit Karl Lachmann in Verbindung gebracht werden kann. Der immer weiter präzisierten Klärung dieser Frage hat Sebastiano Timpanaro (1923–2000) sein grundlegendes Buch über die „Entstehung von Lachmanns Methode“ gewidmet, an dem er ein gutes Vierteljahrhundert hindurch gefeilt und gebessert hat3 und das man deshalb auch nicht in der vergleichsweise frühen, später von Timpanaro selbst als überholt betrachteten deutschen Übersetzung von 1971 benutzen sollte,4 sondern nur in der letzten von Timpanaro autorisierten Ausgabe von 1985 bzw. in deren postumer Übersetzung ins Englische durch Glenn Most.5 Das Ergebnis von Timpanaros Lebensarbeit hat sein Übersetzer Most bündig dahingehend resümiert, dass die sogenannte ‚Lachmannsche Methode‘ vom historischen Karl Lachmann weder erfunden noch
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Giovanni Fiesoli: La genesi del Lachmannismo, Florenz 2000 (Millenio Medievale 19). Am Anfang stand eine zweiteilige Zeitschriftenpublikation ( m i t Anführungszeichen im Titel): Sebastiano Timpanaro: La genesi del «metodo del Lachmann», in: Studi Italiani di Filologia Classica n.s. 31, 1959, S. 182–228 und Ders.: La genesi del «metodo del Lachmann» (Continuazione e fine), in: Studi Italiani di Filologia Classica n. s. 32, 1960, S. 38–63. – Überarbeitet und zu einem Buch zusammengeführt ( o h n e Anführungszeichen im Titel): La genesi del metodo del Lachmann, Firenze 1963 (Bibliotechina del saggiatore 18). – Revidierte und erweiterte Neuausgabe: La genesi del metodo del Lachmann. Nuova edizione riveduta e ampliata, Padova 1981 (Biblioteca di cultura). – Überarbeiteter Nachdruck: La genesi del metodo del Lachmann (Prima ristampa corretta con aggiunte), Padova 1985 (Biblioteca di cultura); diese abschließende Ausgabe wird im Folgenden zitiert. 4 Sebastiano Timpanaro: Die Entstehung der Lachmannschen Methode, 2. erweiterte und überarbeitete Aufl., für die deutsche Ausgabe vom Verfasser erweitert und überarbeitet, autorisierte Übertragung aus dem Italienischen von Dieter Irmer, Hamburg 1971. Die Beschränkung auf den in dieser Übersetzung dokumentierten Zwischenstand von Timpanaros Forschungen beeinträchtigt deren Zusammenfassung in dem ansonsten hilfreichen Überblick von Egert Pöhlmann: Textkritik und Texte im 19. und 20. Jh., in: Einführung in die Überlieferungsgeschichte und in die Textkritik der antiken Literatur, hg. v. Egert Pöhlmann, Bd. II: Mittelalter und Neuzeit, Darmstadt 2003, S. 137–209. 5 Sebastiano Timpanaro (†): The Genesis of Lachmann’s Method, edited and translated by Glenn W. Most, Chicago, London 2005. Diese englische Ausgabe hat aus mehreren Gründen eigenständigen wissenschaftlichen Wert: Glenn Most hat die Nachträge des korrigierten Nachdrucks von 1985 an Ort und Stelle in den Text der Ausgabe von 1981 eingefügt; er hat die Abweichungen der früheren Ausgaben (1963, 1971, 1981) von der als Grundlage gewählten Ausgabe von 1985 dokumentiert, und er hat im Anhang unveröffentlichte metakritische Gedanken von Timpanaro zum sogenannten Stemmaproblem („[Final Remarks on Bipartite Stemmas]“), die sich im Nachlass des Autors fanden, in englischer Übersetzung zugänglich gemacht. 3
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Einleitung: Lachmanns Programm einer historischen Textkritik und seine Wirkung
konsistent angewendet worden sei.6 Auf erweiterter Datengrundlage ist Fiesoli in seiner soeben bereits erwähnten Untersuchung aller von Lachmann erarbeiteten Editionen sogar zu dem Ergebnis gekommen, dass Lachmann selbst die sogenannte ‚Lachmannsche Methode‘ überhaupt nicht angewendet habe.7 Mit anderen Worten: Die Zuschreibung der „Lachmannschen Methode“ an Karl Lachmann wurde von Timpanaro und Fiesoli als Phantasma erwiesen. Doch darf man sich durch die verdienstvolle Aufdeckung dieses Phantasmas nicht dazu verleiten lassen, das Kind mit dem Bade auszuschütten und die für das Thema grundlegende Tatsache aus dem Blick zu verlieren: Der historische Karl Lachmann hat für das Verfahren des Edierens handschriftlich überlieferter antiker und mittelalterlicher Literaturwerke schon früh – in zwei Rezensionen aus den Jahren 18178 und 18189 – die programmatische Forderung nach einer k o n s e q u e n t h i s t o r i s c h v e r f a h r e n d e n Te x t k r i t i k aufgestellt10 und dieses von ihm geforderte Verfahren im Jahre 1820 auf den Begriff einer
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Glenn Most: Editor’s Introduction, in: Timpanaro 2005 [Anm. 5], S. 1–32, hier: S. 11: „Timpanaro demonstrated, once and for all, both that ‘Lachmann’s method’ was not in fact Lachmann’s method, (for he did not invent it) and that Lachmann’s method was not in fact ‘Lachmann’s method’ (for he did not apply it consistently). Since the first publication of Timpanaro’s study, scholars who use the term “Lachmann’s method” without quotation marks have done so at their peril.“ 7 Fiesoli [Anm. 2], S. 359: „Inutile dire che la tecnica di edizione del Berlinese, alla luce degli esempi e delle considerazioni contenute nelle pagine precedenti, per la cui stesura si è reso indispensabile considerare una dopo l’altra le sue edizioni, nessuna esclusa, ha ben poco a che vedere, anzi diciamo pure, non ha niente a che fare con quel tipo di ecdotica che i termini ora citati [d.h. Termini wie ‚metodo degli errori communi‘, ‚procedimento genealogico-meccanico‘ und ‚stemmatica‘] tendono ad evocare.“ 8 Karl Lachmann (Pseudonym: C. K.): Recension von F. H. v. d. Hagen (Hg.): Der Nibelungen Lied, Breslau 1816 und von G. F. Benecke (Hg.): Der edel stein, getichtet von Bonerius, Berlin 1816, in: Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung 14, 1817, Bd. III, Juli, Nr. 132–135, Sp. 113–142 (= Karl Lachmann: Kleinere Schriften, Erster Band, Kleinere Schriften zur Deutschen Philologie, hg. v. Karl Müllenhoff, Berlin 1876 [im Folgenden: Lachmann, Kleinere Schriften 1], S. 81–114). 9 Karl Lachmann (Pseudonym: C. K.): Recension von G. Hermann (Hg.): Sophoclis Aiax, Leipzig 1817, in: Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung 15, 1818, Bd. IV, November, Nr. 203–204, Sp. 249–263 (= Karl Lachmann: Kleinere Schriften, Zweiter Band, Kleinere Schriften zur Classischen Philologie, hg. v. Johannes Vahlen, Berlin 1876 [im Folgenden: Lachmann, Kleinere Schriften 2], S. 1–17). 10 E. J. Kenney: The Classical Text. Aspects of Editing in the Age of the Printed Book, Berkeley, Los Angeles, London 1974 (Sather Classical Lectures, Volume Forty-four), S. 19: „it cannot be too often reaffirmed, as Lachmann stated, that textual criticism belongs in the domain and to the discipline of history“.
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Oliver Primavesi und Anna Kathrin Bleuler
„strenghistorischen Kritik“ gebracht;11 damit hat er die Resultate der im frühen 18. Jahrhundert von Richard Bentley eröffneten Methodendiskussion über die Edition des griechischen Neuen Testaments erstmals auf die profane Literatur der Antike und des Mittelalters übertragen. Diese programmatische Forderung des jungen Karl Lachmann hängt nun aber mit der später sogenannten ‚Lachmannschen Methode‘ durchaus zusammen, wenngleich nur indirekt: Zwar stammt die Methode in der Tat nicht von Lachmann, aber sie ist im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts – schrittweise und im Zusammenwirken mehrerer Philologen – gerade zu dem Zweck entwickelt worden, das Programm einer historischen Textkritik o p e r a t i o n a l i s i e r b a r zu machen, welches für die klassische Philologie wie für die germanistische Mediävistik zuerst von Lachmann formuliert worden ist. Kurz: Lachmanns Programm gab den A n s t o ß zur Formierung der später sogenannten ‚Lachmannschen Methode‘; auf der Ebene der Methodenreflexion hatte sein Programm die Wirkung des sprichwörtlichen Wegweisers, der anderen einen Weg weist, den er selbst nicht geht. Hinzu kommt, dass Lachmann gegen Ende seines Lebens mit seiner LukrezAusgabe (1850) eine Edition vorgelegt hat, welche sich zwar in erheblichem Ausmaß auf die Ergebnisse stützte, die andere Forscher inzwischen sowohl in methodischer Hinsicht als auch hinsichtlich der Überlieferungsverhältnisse des Lukreztextes erzielt hatten, welche aber als w e r b e n d e s P a r a d i g m a konkurrenzlos erfolgreich war: Wie keine andere Edition führte Lachmanns Lukrez weiteren Kreisen, ja schon Studienanfängern der klassischen Philologie, die L e i s t u n g s f ä h i g k e i t jener inzwischen von anderen ausgeformten Editionsmethode plastisch vor Augen – aber Lachmanns wichtigste Leistung liegt hier in dem der Edition beigegebenen textkritischen Kommentar.12 Die verfehlte B e n e n n u n g dieser Methode als ‚Lachmannsche Methode‘ kam indessen erst viel
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Karl Lachmann: Auswahl aus den Hochdeutschen Dichtern des dreizehnten Jahrhunderts. Für Vorlesungen und zum Schulgebrauch, Berlin 1820, S. VIII (= Lachmann, Kleinere Schriften 1 [Anm. 8], S. 161, aus der Vorrede an seinen Göttinger Lehrer Georg Friedrich Benecke): „Die wahre strenghistorische Kritik aber meine ich; und geläng’ es mir doch, vor allen Sie, von dem wir noch manche Ausgabe alter Gedichte hoffen, bei dieser Gelegenheit zu überzeugen, daß die gewöhnliche, die eine älteste Handschrift zum Grunde legt, nicht die wahre sei, sondern unsicher und trüglich!“ Die zentrale Bedeutung dieses Satzes wurde gut herausgestellt von Winfried Ziegler: Die „wahre strenghistorische Kritik“. Leben und Werk Carl Lachmanns und sein Beitrag zur neutestamentlichen Wissenschaft, Hamburg 2000, S. 31–37, hier: S. 32 mit Anm. 24. 12 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Geschichte der Philologie, in: Einleitung in die Altertumswissenschaft, hg. v. Alfred Gercke, Eduard Norden, Dritte Aufl. des Gesamtwerks, Bd. I, Heft 1, Leipzig, Berlin 1921 [im Folgenden: Wilamowitz, Geschichte], S. 59: „Kurz vor seinem nur zu frühen Ende hat er in dem Lukrez m i t s e i n e m K o m m e n t a r uns das Buch gegeben, an dem wir alle die kritische Methode gelernt haben, dessen Studium wir von jedem Studenten verlangen“ (Sperrung von uns).
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Einleitung: Lachmanns Programm einer historischen Textkritik und seine Wirkung
später auf: Sie ist p e j o r a t i v gemeint und im Jahre 1913 von dem französischen Mediävisten Joseph Bédier eingeführt worden.13 Der G e l t u n g s b e r e i c h von Lachmanns Programm einer „strenghistorischen Kritik“ ist weiter als derjenige der sogenannten ‚Lachmannschen Methode‘. Jenes Programm zielt nämlich ganz allgemein auf eine Untergliederung der Editionsarbeit in zwei aufeinander folgende Arbeitsphasen, in eine erste, h i s t o r i s c h e , und eine zweite, k r i t i s c h e Phase: Damit ist gesagt, dass man beim Edieren antiker und mittelalterlicher Texte zunächst die Ü b e r l i e f e r u n g s g e s c h i c h t e , d.h. Entstehungszeit und -ort der erhaltenen Handschriften und vor allem die Position jeder einzelnen von ihnen im Gefüge der Überlieferung klären sollte, an der sich ihr jeweiliger „Werth“ ablesen lässt. Erst auf dieser Grundlage sollte man dann in die zweite, die textkritische Arbeitsphase eintreten, d.h. in die vergleichende Beurteilung der überlieferten Lesarten nach dem Kriterium des überlieferungsgeschichtlichen Wertes der sie jeweils überliefernden Handschriften, um auf diese Weise eine möglichst ursprüngliche Textform (bzw. mehrere möglichst ursprüngliche Textformen) zu gewinnen – auch wenn er noch wenig dazu zu sagen weiß, wie diese „Wert“-Ermittlung in der Praxis durchzuführen ist. Bei der von Lachmann geforderten zweiphasigen und in diesem präzisen Sinne ‚historisch-kritischen‘ Vorgehensweise kann sich aber durchaus herausstellen, dass die sogenannte ‚Lachmannsche Methode‘ im betreffenden Fall gar nicht oder doch nicht in allen ihren Komponenten anwendbar ist. Demnach impliziert die Erfüllung von Lachmanns Forderung nach einem historisch-kritischen Editionsverfahren keinerlei a priori-Festlegung auf die sogenannte ‚Lachmannsche Methode‘, und eben auf der Verschleierung dieses non sequitur beruht die systematisch irreführende Wirkung, die das Lachmann-Phantasma auf die editionsphilologische Methodendiskussion ausgeübt hat: In Wahrheit haben Editoren, die aus guten Gründen zu der Meinung gelangt sind, dass die vermeintlich ‚Lachmannsche Methode‘ sich auf ihr Editionsprojekt nicht sinnvoll anwenden lasse, damit noch lange nicht begründet, dass sie auch von Lachmanns Forderung nach einer historischen Textkritik dispensiert sind. Ungeachtet seiner essentiellen Flexibilität steht Lachmanns Programm von Anfang an und bis zum heutigen Tage in einer d o p p e l t e n F r o n t s t e l l u n g : Als unhistorisch lehnt Lachmann, einerseits, das in der klassischen Philologie seit alters eingebürgerte Verfahren ab, bei der Textgestaltung von einer bereits vorliegenden Edition auszugehen und diese dann punktuell nach Gutdünken zu 13
Peter Lebrecht Schmidt: Lachmann’s Method. On the History of a Misunderstanding, in: The Uses of Greek and Latin. Historical Essays, edited by A. C. Dionisotti, Anthony Grafton, Jill Kraye, London 1988, S. 227–236 (= Ders.: Traditio Latinitatis. Studien zur Rezeption und Überlieferung der lateinischen Literatur, hg. v. Joachim Fugmann, Martin Hose und Bernhard Zimmermann, Stuttgart 2000 [im Folgenden: Schmidt, Traditio], S. 11–18), hier: S. 235–236 (= S. 18).
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Oliver Primavesi und Anna Kathrin Bleuler
verbessern – sei es aufgrund eigener Vermutungen (emendatio ope ingenii), sei es aufgrund einzelner, neu ermittelter handschriftlicher Lesarten (emendatio ope codicum). Und als ebenso unhistorisch lehnt er, andererseits, das in der germanistischen Mediävistik b e r e i t s v o r L a c h m a n n s F o r m u l i e r u n g s e i n e s P r o g r a m m s von Jacob Grimm (1785–1863) für das Nibelungenlied propagierte Verfahren ab, bei der Textgestaltung einer einzelnen Handschrift zu folgen14 – auch wenn dies in besonders gelagerten Fällen natürlich durchaus geboten sein kann. Vor dem Hintergrund dieser doppelten Frontstellung soll der vorliegende Band der Frage nachgehen, in welchem Sinne und in welchem Ausmaß die heutige editorische Praxis der beiden seinerzeit von Lachmann vertretenen Fächer, der klassischen Philologie und der germanistischen Mediävistik, Lachmanns P r o g r a m m einer historischen Textkritik (nicht etwa einem vermeintlichen Allgemeingültigkeitsanspruch der sogenannten ‚Lachmannschen Methode‘!) verpflichtet geblieben ist, so dass von einem fortwirkenden ‚Erbe‘ des historischen Karl Lachmann die Rede sein kann.15 Diese Zielstellung entspricht der von Giorgio Pasquali (1885–1952) auf ein neues Niveau gehobenen k o m p a r a t i s t i s c h e n und p l u r a l i s t i s c h e n Reflexion über den Zusammenhang von Historie und Kritik, d.h. von Überlieferungsgeschichte und Textkonstitution: Das erste Kapitel von Pasqualis einschlägigem Meisterwerk von 193416 ist der Auseinandersetzung mit Karl Lachmann gewidmet. Pasqualis Impuls wurde besonders konsequent in Italien und am Chair of Latin der Universität Cambridge17 aufgenommen; unter den italienischen Forschern sei neben den bereits genannten – Sebastiano Timpanaro und Giovanni Fiesoli – noch auf den Linguisten und Dante-Editor Paolo Trovato (Ferrara) hingewiesen, den Autor eines zuerst 2014 erschienenen „Non-Standard Handbook of Genealogical Textual Criticism“:18 14
Jacob Grimm: Ueber die Nibelungen, in: Altdeutsche Wälder, hg. durch die Brüder Grimm, Zweiter Band, Frankfurt/Main 1815, S. 145–180, hier: S. 160–161. 15 In der Neutestamentlichen Textkritik stellt sich diese Frage so nicht, da Lachmann seine Editionen des NT ausdrücklich nur als Ansatz zur Realisierung eines bereits von Richard Bentley im Jahre 1720 aufgestellten Programms verstanden hat, und da eine solche Realisierung in Wahrheit erst um 1870 Constantin v. Tischendorf gelungen ist, wie wir noch sehen werden. 16 Giorgio Pasquali: Storia della tradizione e critica del testo, Florenz 1934-XII (seconda edizione con nuova prefazione e aggiunta di tre appendici, Firenze 1952) [im Folgenden: Pasquali, Storia], S. 1–12. 17 Zu nennen sind der Kennedy Professor of Latin Edward J. Kenney (1924–2019) und seine bereits in Anm. 10 zitierten, 1974 unter dem Titel „The Classical Text. Aspects of Editing in the Age of the Printed Book“ erschienenen Sather-Lectures, sowie sein Lehrstuhlnachfolger Michael D. Reeve und sein wichtiges Buch Manuscripts and Methods. Essays on Editing and Transmission, Rom 2011 (Storia e Letteratura 270). 18 Paolo Trovato: Everything You Always Wanted to Know about Lachmann’s Method. A Non-Standard Handbook of Genealogical Textual Criticism in the Age of Post-Structuralism, Cladistics, and Copy-Text, Revised Edition, Padua 2017 [im Folgenden: Trovato, Everything] (Erste Aufl. 2014).
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Einleitung: Lachmanns Programm einer historischen Textkritik und seine Wirkung
Trovato hat unbeschadet der bereits erwähnten Aufdeckung des ‚LachmannPhantasmas‘ durch Timpanaro und Fiesoli in einem neueren Handbuchbeitrag vorgeschlagen, die reflektierte Anwendung einer überlieferungsgeschichtlich fundierten Editionsmethode mit einem in den siebziger Jahren von dem Romanisten Gianfranco Contini (1912–1990) geprägten Begriff als „neo-Lachmannism“ zu bezeichnen.19 Bevor wir im vierten und letzten Teil der gegenwärtigen Einleitung auf die in diesem Band zusammengestellten Beiträge eingehen, sei die vorstehende Skizze zum Verhältnis zwischen Lachmanns Programm und der fälschlich sogenannten ‚Lachmannschen Methode‘ präzisiert und mit Belegen untermauert. Dabei werden wir uns zunächst der Stellung Lachmanns in der n e u t e s t a m e n t l i c h e n Te x t k r i t i k zuwenden. An seinen Arbeiten auf diesem Gebiet lässt sich nämlich exemplarisch ein Sachverhalt verdeutlichen, der für das im vorliegenden Band thematisierte Methodenproblem von grundlegender Bedeutung ist: Jede methodengeleitete Editionsarbeit hängt solange in der Luft, als man sich keine präzise K e n n t n i s d e r Ü b e r l i e f e r u n g des zu edierenden Textes verschafft hat, d.h. ein Wissen darum, wie viele Handschriften dieses Textes erhalten sind, wo sie aufbewahrt werden bzw. wo und wie sie konsultiert werden können, wann und an welchem Ort sie geschrieben wurden, und vor allem: welche Lesarten sie bieten.20 Zwar wird von Lachmann wie in der von ihm angeregten Methodendiskussion nicht selten mit der Voraussetzung operiert, dass diese praktische Aufgabe gelöst sei. Doch in Wahrheit ist sie heute wie zu Lachmanns Zeiten in vielen Fällen durchaus n i c h t gelöst, und darin liegt heute wie damals die Gefahr, dass die Editionsarbeit – ganz gleich welcher methodischen Observanz, ob pro oder contra ‚Lachmann‘ – an ihren eigenen Zielen gemessen zum Scheitern verurteilt ist. Sodann werden wir auf Lachmanns Bedeutung für die k l a s s i s c h e P h i l o l o g i e eingehen: In diesem Fach wurde im 19. und frühen 20. Jahrhundert die vermeintlich ‚Lachmannsche Methode‘ entwickelt, so dass sowohl der unleugbare sachliche Zusammenhang zwischen Lachmanns Programm und der ‚Lachmannschen Methode‘ als auch die verfehlte Gleichsetzung beider, d.h. das ‚Lachmann-Phantasma‘ bzw. seine Destruktion, sinnvollerweise im Rahmen der Geschichte dieses Faches zu skizzieren ist.
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Paolo Trovato: Neo-Lachmannism: A new synthesis?, in: Handbook of Stemmatology. History, Methodology, Digital Approaches, hg. v. Philipp Roelli, Berlin, Boston 2020, S. 109–138, hier: S. 111. 20 Martin L. West: Textual Criticism and Editorial Technique applicable to Greek and Latin Texts, Stuttgart 1973, S. 64: „Of the whole collating project, the hardest part to carry out with complete success is probably the business of finding out what manuscripts there are“; und ebd., S. 50: „The quality of a manuscript can only be established by reading it“.
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Oliver Primavesi und Anna Kathrin Bleuler
Schließlich werden wir uns den P h i l o l o g i e n d e s M i t t e l a l t e r s zuwenden und dort die mediävistische G e n e s e des ‚Lachmann-Phantasmas‘ und die auf dieses Phantasma fixierten kritischen Positionen von Joseph Bédier21 und Bernard Cerquiglini22 ebenso behandeln wie die einflussreichen, dem Programm des historischen Karl Lachmann ungleich näheren Beiträge von Karl Stackmann und Joachim Bumke.23 Überdies werden wir in einem ersten Anhang zur gegenwärtigen Einleitung eine Neuinterpretation der von Lachmann 1817 veröffentlichten „Gesetze“ zur recensio des Nibelungenliedes vorlegen, die bisher nach unserer Meinung vielfach missdeutet worden sind: Diese „Gesetze“ liefern – recht verstanden – ein besonders anschauliches Paradigma für die von Lachmann unter dem Titel einer „wahren strenghistorischen Kritik“ geforderte Methode, und sie tun dies gänzlich unbeschadet der Tatsache, dass man heute die Datierung und die wechselseitigen Beziehungen der Handschriften des Nibelungenliedes anders beurteilt als Lachmann es tat. 1.2 Lachmanns Programm und das Edieren antiker Texte 1.2.1 Lachmann und die Erschließung der um 400 n. Chr. gelesenen Textform des Neuen Testaments. – 1.2.2 Klassische Philologie I: Von Lachmanns Programm zur Maasschen Methode. – 1.2.3 Zum ‚Lachmann-Phantasma‘: Fehlerprinzip, Archetypus, Stemma, mechanische recensio. – 1.2.4 Klassische Philologie II: Die Gegenbewegung bei Schwartz, Pasquali und Emonds.
1.2.1 Lachmann und die Erschließung der um 400 n.Chr. gelesenen Textform des Neuen Testaments Die wichtigste Anregung zu seinem Programm einer streng historischen Textkritik verdankte Lachmann dem von Richard Bentley (1662–1742) initiierten, aber nicht ausgeführten Projekt einer Neuausgabe des Neuen Testaments. Der geniale englische Philologe hatte 1720, also gut hundert Jahre vor Lachmann, eine Neuausgabe des griechischen Neuen Testaments samt lateinischer VulgataÜbersetzung in Aussicht gestellt.24 In einem Prospekt, dem auch eine Probeausgabe von Offb 22 1–13 beigegeben war, hatte er einen neuartigen Angriff auf den
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Le Lai de l’Ombre, par Jean Renart, hg. v. Joseph Bédier, Paris 1913. Bernard Cerquiglini: Éloge de la variante. Histoire critique de la philologie, Paris 1989. 23 Karl Stackmann: Mittelalterliche Texte als Aufgabe, in: Festschrift für Jost Trier, hg. v. William Foerste und Karl H. Borck, Köln, Graz 1964, S. 240–267. 24 Richard Bentley: Ἡ καινὴ διαθήκη græce. Novum Testamentum versionis vulgatae, per Stum Hieronymum ad vetusta Exemplaria Graeca castigatae & exactae. Utrumque ex antiquissimis Codd. Mss, cum Graecis tum Latinis, edidit Richardus Bentleius. Proposals for Printing, 1720. Zum zugehörigen handschriftlichen Nachlass Bentleys, der in der WrenLibrary des Trinity College zu Cambridge teilweise erhalten ist, vgl. A.-T. Yi, J. Krans, B. J. Lietaert Peerbolte: A New Descriptive Inventory of Bentley’s Unfinished New Testament Project, in: TC. A Journal of Textual Criticism 25, 2020, S. 111–128. 22
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seit 1633 sogenannten textus receptus angekündigt, d.h. auf die von Erasmus v. Rotterdam auf einer Zufallsauswahl von wenigen und vergleichsweise späten griechischen Handschriften aufgebaute Textform der ersten, im Jahre 1516 erschienenen Druckausgabe des Neuen Testaments.25 Bentley begnügte sich nicht mehr damit, die Autorität des textus receptus durch Beigabe eines Apparates abweichender handschriftlicher Lesarten zu unterminieren, vielmehr wollte er den Text selbst korrigieren, und zwar gemäß der Textform, die von dem Theologen Origenes (ca. 184/85–254/55 n. Chr.) kritisch-exegetisch behandelt wurde und in den beiden auf das Konzil von Nikaia (325 n. Chr.) folgenden Jahrhunderten in Geltung stand, d.h. der Textform des 4. und 5. Jahrhunderts;26 hierbei wollte er sich auf die ältesten griechischen Majuskel-Handschriften stützen, sowie auf die lateinische Vulgata,27 d.h. auf die von Hieronymus (347–420 n. Chr.) und anderen anhand griechischer bzw. (für das Alte Testament) hebräischer Handschriften durchgeführte Neubearbeitung des größten Teils der alten lateinischen Bibelübersetzung, und auf die Zitate bei den Kirchenvätern. Lachmann wollte nun mit seinen Ausgaben des Neuen Testaments erklärtermaßen die Verwirklichung von Bentleys unausgeführt gebliebenem Projekt anbahnen.28 Über den Erfolg seiner Bemühungen haben zwei der besten Sachkenner, Kurt und Barbara Aland, zwiespältig geurteilt. Einerseits habe Lachmanns
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Erasmus von Rotterdam (Hg.): NOVUM INstrumentum omne, diligenter ab ERASMO recognitum & emendatum, non solum ad græcam ueritatem, uerumetiam ad multorum utriusque linguæ codicum eorumque ueterum simul & emendatorum fidem, postremo ad probatissimorum autorum citationem, emendationem & interpretationem, praecipue, Origenis, Chrysostomi, Cyrilli, Vulgarij, Hieronymi, Cypriani, Ambrosij, Hilarij, Augustini, una cum Annotationibus, quæ lectorem doceant, quid qua ratione mutatum sit. […], Basel [1516]. 26 Bentley [Anm. 24], S. 1: „The Author believes, that he has retriev’d (except in very few Places) the true Exemplar of Origen, which was the Standard to the most Learned of the Fathers, at the time of the Council of Nice and two Centuries after.“ Dazu Timpanaro 1985 [Anm. 3], S. 22: „il primo progetto di edizione del Nuovo Testamento che superasse nell’impostazione generale il textus receptus non si deve a uno dei riformatori religiosi […] ma ad un uomo tanto geniale e audace in filologia quanto ortodosso in fatto di religione: il Bentley.“ 27 Zur folgenden Definition des Begriffs der ‚Vulgata‘ vgl. Robert Weber, Roger Gryson (Hg.): Biblia sacra iuxta vulgatam versionem recensuit et brevi apparatu critico instruxit R. W., Editionem quintam emendatam retractatam praeparavit R. G., Stuttgart 2007, S. XIV. 28 Karl Lachmann: Rechenschaft über seine Ausgabe des Neuen Testaments, in: Theologische Studien und Kritiken 3, 1830, Heft 4 [im Folgenden: Lachmann, Rechenschaft], S. 817–845, hier: S. 821: „Wer des Mannes [d.h. Bentleys] grossartige Weise begreifen kann, wird ihn mit mir auf einerlei Weg antreffen: und ich bin stolz, dass mir gegönnt worden ist, mich wieder dahin zu finden und die Ausführung seines Gedankens wenigstens anzufangen.“ Ebd., S. 822: „In einer jüngeren Gestalt brauchen wir so leicht keine Stelle zu geben, als wie sie in den letzten Jahren des vierten Jahrhunderts gelesen ward“. ROTERODAMO
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Programmschrift „Rechenschaft über seine Ausgabe des Neuen Testaments“ von 1830 in der Tat ein Umdenken in Bentleys Sinne bewirkt:29 die entscheidende Schlacht gegen den Textus receptus und für eine Rückkehr zur frühen Textform wurde erst im 19. Jahrhundert geschlagen, und zwar durch den Berliner Professor der klassischen Philologie Karl Lachmann (1793–1851). Bereits 1830 trug er sein Programm vor: weg vom späten Text des Textus receptus und zurück zum Text der Kirche des ausgehenden 4. Jahrhunderts!
Andererseits müsse Lachmanns Versuch, dieses Programm mittels der beiden in den Jahren 1831 bzw. 1842/1850 von ihm vorgelegten Editionen des NT auch a u s z u f ü h r e n , als gescheitert gelten:30 Der Versuch der Ausführung in den Ausgaben von 1831 und 1842/50 blieb weit dahinter zurück.
Vielmehr sei die Durchführung von Lachmanns Programm erst dem Leipziger Theologen Lobegott Friedrich Constantin Tischendorf gelungen:31 Was Lachmann als Programm vortrug, ist dann von Constantin von Tischendorf (1815–1874) verwirklicht worden.
Diese Diagnose wirft die Frage auf, worin Lachmanns entscheidende Leistung überhaupt bestanden haben kann, wenn einerseits sein Programm, a l s Programm, bereits von R. Bentley stammte, und wenn andererseits die Verwirklichung dieses Programms erst C. Tischendorf zu verdanken ist. Nun hat Lachmann im Jahre 1831 eine Edition des Neuen Testaments im griechischen Original veröffentlicht,32 die sich erstmals vom textus receptus zugunsten der frühesten erschließbaren Form des ‚östlichen‘ Textes freimachte33 und die die davon abweichenden Lesarten des textus receptus in einem Anhang auch dokumentierte:34 Insoweit hat er in der Tat verwirklicht, was Bentley nur angekün-
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Kurt Aland, Barbara Aland: Der Text des Neuen Testaments. Einführung in die wissenschaftlichen Ausgaben sowie in Theorie und Praxis der modernen Textkritik, Zweite, ergänzte und erweiterte Auflage, Stuttgart 1989 (1. Auflage 1981) (im Folgenden: Aland & Aland), S. 21. Dieses Werk wurde übrigens von Sebastiano Timpanaro ins Italienische übersetzt: Kurt Aland, Barbara Aland: Il testo del Nuovo Testamento, Genua 1987 (Commentario storico-esegetico dell’Antico e del Nuovo Testamento: Strumenti, Bd. 2). 30 Vgl. Aland & Aland [Anm. 29], S. 21, Anm. 3. 31 Aland & Aland ebd., S. 21. Eine zusammenfassende Würdigung von Tischendorfs Lebenswerk bietet Kurt Aland: Konstantin von Tischendorf (1815–1874). Neutestamentliche Textforschung damals und heute, Berlin 1993 (Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Philologisch-Historische Klasse, Band 133, Heft 2) [im Folgenden: Aland, Tischendorf]. 32 Karl Lachmann (Hg.): Novum Testamentum Graece ex recensione Caroli Lachmanni, Editio stereotypa, Berlin 1831; vgl. Ziegler [Anm. 11], S. 115–121. 33 Lachmann ebd., S. 461: „hic satis erit dixisse, editorem nusquam iudicium suum, sed consuetudinem antiquissimarum Orientis ecclesiarum secutum esse.“ 34 Eine Zusammenstellung der von Lachmann abgelehnten Lesarten des textus receptus findet sich im Anhang bei Lachmann ebd., S. 461–503.
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digt hatte. Andererseits gibt es in Lachmanns Edition von 1831 k e i n e n k r i t i s c h e n A p p a r a t ,35 was angesichts ihres revolutionären Anspruchs mehr als nur ein Schönheitsfehler ist, da ihr Benutzer gar nicht prüfen kann, ob die jeweils an die Stelle der lectio recepta gesetzte Lesart durch ihre handschriftliche Bezeugung auch legitimiert ist: So blieb für Tischendorf in mehr als einer Hinsicht noch genug zu tun. Zwar konnte Lachmann sich für seinen Text von 1831 bereits auf die zahllosen handschriftlichen Lesarten stützen, die die durchweg protestantischen neutestamentlichen Editoren des 18. Jahrhunderts – v o r Bentleys Programm ebenso wie d a n a c h – zusammengetragen und vielfach als überlegen eingeschätzt, aber aus Scheu vor der protestantischen Orthodoxie auf den kritischen Apparat beschränkt hatten, während sie im Text bei dem unveränderten oder nur leicht modifizierten textus receptus blieben:36 So im Jahre 1707 – als Pionier – John Mill (1645–1707), der principal der Oxforder St. Edmund Hall,37 im Jahre 1711 der Bremer Stadtsyndikus Gerhard von Mastricht (1639–1721),38 im Jahre 1734 der württembergische Pietist Johann Albrecht Bengel (1687–1752),39 in den Jahren 1751–52 der aus Glaubensgründen aus Basel in die Niederlande emigrierte
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Im Text begnügt Lachmann sich damit, alte und nicht durch den entgegenstehenden Konsens des „afrikanischen“ und des „westlichen“ Textes zu eliminierende Varianten der „östlichen“ Überlieferung ohne Quellenangabe in Klammern hinzuzufügen bzw. am unteren Rand zu verzeichnen; vgl. ebd., S. 461: „ubi pervagatam omnium auctorum discrepantiam deprehendit, partim uncis partim in marginibus indicavit“. 36 Vgl. Aland & Aland [Anm. 29], S. 18–21. 37 John Mill (Hg.): Ἡ καινὴ διαθήκη. Novum Testamentum. Cum Lectionibus Variantibus MSS. Exemplarium, Versionum, Editionum, SS. Patrum, & Scriptorum Ecclesiasticorum; et in easdem Notis. Accedunt Loca Scripturæ parallela aliaque ἐξηγητικὰ, & Appendix ad Variantes Lectiones. Præmittitur Dissertatio, In qua de Libris N. T. & Canonis constitutione agitur: Historia S. Textus N. Fœderis ad nostra usque tempora deducitur: Et quid in hac Editione præstitum sit, explicatur. Studio et Labore Joannis Millii S(anctæ) T(heologiæ) P(rofessoris), Oxford 1707. 38 Gerhard von Mastricht (Hg.): Ἡ καινὴ διαθήκη. Novum Testamentum. Post priores Steph. Curcellæi, tum & DD. Oxoniensium labores; quibus parallela Scripturæ loca, nec non Variantes Lectiones ex plus C. MSS. Codd. & antiquis Versionibus collectæ, exhibentur; Accedit Tantus Locor. Parall. numerus, quantum nulla adhuc, ac ne vix quidem ipsa profert præstantiss. Editio Milliana; Variantes præterea ex MSo Vindobonensi; ac tandem Crisis perpetua, qua singulas Variantes earumque valorem aut originem ad XLIII. Canones examinat G(erhardus) D(e) T(raiecto) M(osæ) D(octor), Cum eiusdem Prolegomenis & Notis in fine adjectis. Omnium Indicem quære ad calcem Præfationis, Amsterdam 1711. 39 Johann Albrecht Bengel (Hg.): Ἡ καινὴ διαθήκη. Novum Testamentum Græcum ita adornatum ut textus probatarum editionum medullam, margo variantium lectionum in suas classes distributarum locorumque parallelorum delectum, apparatus subiunctus criseos sacræ Millianae praesertim compendium, limam supplementum ac fructum exhibeat inserviente Io. Alberto Bengelio, Tübingen 1734.
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Theologe Johann Jacob Wettstein (1693–1754)40 und in den Jahren 1775 bzw. 1777 schließlich der Jenenser Theologieprofessor Johann Jacob Griesbach (1745–1812).41 Aber ein auf Autopsie gegründetes eigenes Bild von den frühen griechischen Majuskel-Codices hatte sich Lachmann nicht gemacht, obwohl diese Codices für den von ihm angezielten Text des ausgehenden 4. Jahrhunderts entscheidende Bedeutung haben.42 Dies wiegt umso schwerer, als er in seiner „Rechenschaft“ von 1830 klar ausgesprochen hatte, dass die Lesarten gerade dieser vergleichsweise wenigen alten Handschriften, ungeachtet aller im 18. Jahrhundert durchgeführten Kollationen, bisher nur unzureichend dokumentiert waren.43 So nimmt es nicht Wunder, dass er in seiner ersten Ausgabe von 1831 auf einen kritischen Apparat ganz verzichtete, und dies lieber auf eine zweite Ausgabe verschob, die dann 1842 bzw. 1850 erschienen ist.44 Bei deren Vorbereitung aber schreckte Lachmann vor der Beigabe eines kritischen Apparats erneut zurück, wofür er die bemerkenswerte Begründung ins Feld führte, dass – ungeachtet der Nützlichkeit eines Apparats für andere – der für seine Erarbeitung erforderliche Zeitaufwand in keinem Verhältnis zu dem dabei für ihn persönlich noch zu erwartenden Erkenntniszuwachs stehen würde:45 terrebar diuturnitate studii in ea re collocandi, quae aliis quidem magnam allatura esset utilitatem, mihi vero novi et incogniti parum promitteret.
Johann Jacob Wettstein (Hg.): Ἡ καινὴ διαθήκη. Novum Testamentum Graecum editionis receptae cum lectionibus variantibus Codicum MSS., Editionum aliarum, Versionum et Patrum, nec non Commentario pleniore, Ex Scriptoribus veteribus Hebraeis, Graecis et Latinis, Historiam et vim verborum illustrante; opera et studio Joannis Jacobi Wetstenii. Tomus I, Continens quatuor Evangelia. Amsterdam 1751. Tomus II, Continens Epistolas Pauli, Acta Apostolorum, Epistolas Canonicas et Apocalypsin, Amsterdam 1752. 41 Johann Jacob Griesbach (Hg.): Novum Testamentum Graece. Textum ad fidem codicum versionum et patrum emendavit et lectionis varietatem adiecit Io. Iac. Griesbach, Theologiae Doctor eiusdemque in Acad. Ienensi Professor Publ. Ordinarius, Volumen I, Evangelia et Acta Apostolorum complectens, Halle 1777. – Volumen II, Epistolas omnes et Apocalypsin complectens, Halle 1775. 42 Dagegen war Lachmann zum Zweck der Kollation m i t t e l h o c h d e u t s c h e r Handschriften bereits im Sommersemester 1824 nach Süddeutschland und in die Schweiz (St. Gallen) gereist; vgl. Hertz [Anm. 1], S. 57 und S. 59–60. 43 Lachmann, Rechenschaft [Anm. 28], S. 831–833. 44 Karl Lachmann, Philipp Buttmann (Hg.): Novum Testamentum Graece et Latine, Carolus Lachmann recensuit, Philippus Buttmannus Ph.f. Graecae lectionis auctoritates apposuit, Tomus prior, Berlin 1842. – Tomus alter, Berlin 1850. 45 Lachmann/Buttmann [Anm. 44], Tom. 1, S. XXXVIII. 40
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Umso erwünschter war es ihm, dass der mit ihm befreundete Berliner Pfarrer Philipp Buttmann der Jüngere (1809–1901)46 diese mühselige Aufgabe übernahm.47 In der Zwischenzeit hatten zwei junge Leipziger Theologen mit ausgedehnten Reisen zu den im Ausland befindlichen ältesten Handschrift e n begonnen: zunächst Ferdinand Florens Fleck (1800–1849) und dann, weithin auf Flecks Spuren, aber mit viel größerem Einsatz und Ertrag, der bereits erwähnte Constantin Tischendorf (1815–1874). Richtung und Ziel aber gab diesen Reisen eben das von Lachmann im Anschluss an Bentley aufgestellte Programm – die Wiedergewinnung des um 400 n. Chr. gelesenen Textes – in Verbindung mit den daran gemessen gravierenden und von Lachmann 1830 freimütig eingestandenen Desideraten in der handschriftlichen Grundlage seiner ersten Ausgabe. Dieser Zusammenhang wird besonders deutlich, wenn man hiermit die ebenfalls weitausgreifenden, aber mit diametral entgegengesetztem Ziel unternommenen Handschriftenreisen vergleicht, die der katholische Theologe J. M. Augustin Scholz (1794–1852) bereits in den Jahren 1818–1822 unternommen hatte:48 Scholz wollte den „Konstantinopolitanischen Text“ (bzw., nach heutiger Terminologie, den byzantinischen Mehrheitstext M)49 und damit den spätantiken Ausgangspunkt des textus receptus, dessen Überwindung Bentley gefordert hatte, mit der gänzlich aus der Luft gegriffenen Begründung rehabilitieren, dass der Mehrheitstext die ursprüngliche Textform der ersten drei Jahrhunderte treu bewahrt habe, während die Majuskelhandschriften des 4. und 5. Jahrhunderts (und das waren zu Scholz’ Zeiten die frühesten überhaupt be46 Zu Philipp Buttmann d. J. (*Berlin 23 .01. 1809, †ebd. 29. 01. 1901) vgl. Otto Fischer: Evangelisches Pfarrerbuch für die Mark Brandenburg seit der Reformation, II. Band, Verzeichnis der Geistlichen in alphabetischer Reihenfolge, 1. Teil, Berlin 1941, S. 114. Er war ein Sohn des berühmten Grammatikers Philipp Karl Buttmann (1764–1829), mit dem er oft verwechselt wird, und er wirkte von 1836 bis 1844 als Frühprediger an der Jerusalemkirche und der Neuen Kirche („Deutscher Dom“) in Berlin-Friedrichstadt, seit 1844 als Oberpfarrer in Zossen, und von 1858 bis zu seiner Emeritierung 1886 als Pfarrer an der St. Pauls-Kirche in Berlin-Gesundbrunnen, zugleich war er von 1876 bis 1883 Superintendent des Kirchenkreises Berlin-Stadt II. Anlässlich seines 50jährigen Amtsjubiläums wurde er am 23. Juli 1885 von der theologischen Fakultät der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität honoris causa zum D. theol. promoviert; vgl.: Verzeichnis der Berliner Universitätsschriften 1810–1885. Nebst einem Anhang enthaltend die außerordentlichen und Ehren-Promotionen, hg. v. der Königlichen Universitätsbibliothek zu Berlin, Berlin 1899, S. 760. 47 Die Leistung Buttmanns würdigt Lachmann in: Lachmann/Buttmann [Anm. 44], Tom. 1, S. XXXVIII–XXXIX; eine deutsche Übersetzung dieser Würdigung bietet Ziegler [Anm. 11], S. 159–160. Buttmanns auf Lachmanns eigenen Wunsch an dessen Grab gehaltene Rede („Bei Lachmanns Begräbniss“) ist abgedruckt in: Hertz [Anm. 1], Anhang, S. XXXIX–XLIII (Beilage F). 48 J. M. Augustin Scholz: Biblisch-kritische Reise in Frankreich, der Schweitz, Italien, Palästina und im Archipel, in den Jahren 1818, 1819, 1820, 1821, nebst einer Geschichte des Textes des N. T., Leipzig, Sorau 1823. 49 Aland & Aland [Anm. 29], S. 234–235 und S. 252–253.
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kannten!) einen entstellten Text böten.50 Doch in Wahrheit könnte die quantitativ beeindruckende Fülle der von Scholz aufgelisteten und vielfach selbst aufgespürten späteren Handschriften auch dann, wenn man sie viel sorgfältiger benutzte als Scholz es tat, niemals mehr beweisen, als dass der textus receptus eben auf den Mehrheitstext des byzantinischen Mittelalters zurückgeht. Andererseits aber bleibt auch wahr, dass Lachmann bei der Vorbereitung seiner zweiten, diesmal zusätzlich mit einem revidierten Text der lateinischen VulgataÜbersetzung versehenen Ausgabe nach wie vor keine Auslandsreisen zum Zweck der Handschriftenkollation unternahm. Das Erscheinen von Lachmanns zweiter Ausgabe in den Jahren 1842 und 1850 fällt nun in die Zeit, in der F. F. Fleck seine spärlichen Ergebnisse bereits publiziert hatte, während die Veröffentlichung der ungleich gewichtigeren Resultate C. Tischendorfs größtenteils noch in der Zukunft lag. Deshalb konnte die ausstehende Dokumentation der für Lachmanns Vorhaben entscheidenden Überlieferungsträger auch durch den von Buttmann für die zweite Ausgabe erarbeiteten Apparat nur sehr partiell geleistet werden. Da Buttmann sich hierüber vollkommen im Klaren war, hat er auch nach Lachmanns Tod (1851) in mehreren zwischen 1856 und 1865 erschienenen Veröffentlichungen weiter daran gearbeitet, den Text des Neuen Testaments und vor allem den zugehörigen Apparat im Lichte der zunehmenden Erschließung der ältesten griechischen Majuskelhandschriften zu revidieren.51 50
Vgl. die Prolegomena im ersten Band seiner in der Lesartenverzeichnung notorisch unzuverlässigen NT-Ausgabe: J. M. Augustin Scholz (Hg.): Novum Testamentum Graece. Textum ad fidem testium criticorum r e c e n s u i t , lectionum familias s u b i e c i t , e graecis codicibus manuscriptis, qui in Europae et Asiae bibliothecis reperiuntur fere omnibus, e versionibus antiquis, conciliis, sanctis Patribus et scriptoribus ecclesiasticis quibuscunque vel primo vel iterum collatis copias a d d i d i t , atque conditionem horum testium criticorum historiamque textus Novi Testamenti in prolegomenis fusius e x p o s u i t , praeterea Synaxaria codicum KM 263.274 typis exscribenda c u r a v i t Dr. I. Mart. Augustinus Scholz. Vol. I. IV Evangelia complectens, Leipzig 1830, S. I–CLXXII, z.B. S. CLXIX: „nihil igitur ex textu illo tribus primis seculis vulgato, quem refert classis constantinopolitorum codicum, demendum aut mutandum, nisi quod falsum aut improbabile esse apparet“. 51 Philipp Buttmann (Hg.): Novum Testamentum Graece. Ad fidem potissimum codicis Vaticani B recensuit, varias lectiones codicis B, textus recepti, editionum Griesbachii Lachmanni Tischendorfii integras adiecit Philippus Buttmann, Leipzig 1856 [im Folgenden: Buttmann, NT]. – Ders.: Kritische Beobachtungen über den Text des Codex Vaticanus B. Nr. 1209 und seine Geltung bei Feststellung des neutestamentlichen Textes überhaupt, in: Theologische Studien und Kritiken 1860, Erster Band, zweites Heft, S. 341–382 [im Folgenden: Buttmann, Vaticanus B]. – Ders. (Hg.): Novum Testamentum Graece […] recensuit […] Philippus Buttmann, Editio altera et emendata, Leipzig 1860 [im Folgenden: Buttmann, Editio altera]. – Ders.: Recensus omnium lectionum quibus Codex Sinaiticus discrepat a textu editionis novi Testamenti cui est titulus: „N. T. Graece ad fidem potissimum codicis Vaticani B recensuit […] Philippus Buttmann. Lipsiae ed. II 1860. ed. III 1865“ conscriptus a Philippo Buttmanno, Leipzig 1865 [im Folgenden: Buttmann, Recensus Sinaiticus].
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Einleitung: Lachmanns Programm einer historischen Textkritik und seine Wirkung
Demnach hat gerade Ph. Buttmann, und damit Lachmanns Mitarbeiter am Neuen Testament, teils durch den von ihm zur zweiten Ausgabe beigesteuerten Apparat, teils durch die von ihm erst nach Abschluss dieser Ausgabe (1850) vorgelegten Arbeiten davon Zeugnis abgelegt, d a s s d i e E v i d e n z e n , a u f die sich Lachmanns editorische Revolution von 1831 ihrem eigenen Begriffe nach in erster Linie hätte stützen müssen, erst im Nachhinein, und größtenteils von anderen, beigeb r a c h t w u r d e n . Dieser Sachverhalt lässt sich rasch an denjenigen Überlieferungsträgern demonstrieren,52 deren Lesungen erst in den knapp 40 Jahren zwischen Lachmanns „Rechenschaft“ von 1830 und Tischendorfs abschließender Editio octava critica maior von 1869 bzw. 187253 erschlossen wurden und die auch aus heutiger Sicht für unsere Kenntnis der Textform um 400 n. Chr. von erstrangiger Bedeutung sind.54 Es handelt sich dabei in erster Linie um drei griechische Majuskelhandschriften des 4. und 5. Jahrhunderts und um die beiden wichtigsten alten Handschriften der lateinischen Vulgata.55
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Bei den Siglen bzw. Nummern der dabei zu erwähnenden griechischen Majuskelhandschriften des Neuen Testaments verweist die Angabe „Gregory-Aland“ auf die insoweit übereinstimmenden Verzeichnisse von Caspar René Gregory: Die griechischen Handschriften des Neuen Testaments, Leipzig 1908 (C. R. Gregory: Versuche und Entwürfe, 2. Heft) einerseits und von Kurt Aland: Kurzgefaßte Liste der griechischen Handschriften des Neuen Testaments, Zweite, neubearbeitete und ergänzte Aufl., In Verbindung mit Michael Welte, Beate Köster und Klaus Junack bearbeitet von K. A., Berlin, New York 1994 (Arbeiten zur neutestamentlichen Textforschung Band 1) andererseits. 53 Constantin von Tischendorf (Hg.): Novum Testamentum Graece. Ad antiquissimos testes denuo recensuit, apparatum criticum omni studio perfectum apposuit, commentationem isagogicam praetexuit Constantinus Tischendorf, Editio octava critica maior, Volumen I, Leipzig 1869. – Volumen II, Leipzig 1872. Die Prolegomena zu dieser Ausgabe verfasste, nach v. Tischendorfs 1874 erfolgtem Tod, sein Leipziger Lehrstuhlnachfolger Caspar René Gregory (1846–1917): Novum Testamentum Graece […] recensuit […] C. Tischendorf, Editio octava critica maior, Volumen III. Prolegomena, Scripsit Casparus Renatus Gregory, Additis curis Ezrae Abbot, Pars prior, Leipzig 1884. – Pars altera, Leipzig 1890. – Pars tertia, Leipzig 1894. 54 Außer Betracht bleibt z.B. der Codex Alexandrinus (A = 02 Gregory-Aland) aus dem 5. Jahrhundert (vgl. Aland & Aland [Anm. 29], S. 17 mit Abb. 3 und S. 118), da sein Text bereits 1786 als Quasi-Faksimile ediert worden war: Carl Gottfried Woide (Hg.): Novum Testamentum Græcum, e codice ms. Alexandrino, qui Londini in bibliotheca Musei Britannici asservatur, descriptum a Carolo Godofredo Woide, London 1786. Das Gleiche gilt für die in der Forschung des 20. und 21. Jahrhunderts eminent wichtigen neutestamentlichen Papyri, da sie bis 1869/72 noch gar keine nennenswerte Rolle spielten (vgl. Aland & Aland ebd., S. 94). 55 Für das Folgende stützen wir uns neben Aland & Aland [Anm. 29] vor allem auf Frederick Henry Ambrose Scrivener: A Plain Introduction to the Criticism of the New Testament. For the Use of Biblical Students, Fourth Edition, Edited by the Rev. Edward Miller, Vol. I–II, London 1894 [im Folgenden: Scrivener/Miller] und auf Caspar René Gregory: Textkritik des Neuen Testaments [im Folgenden: Gregory, Textkritik], 1. Bd., Leipzig 1900. – 2. Bd., Leipzig 1902.
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a) Codex Amiatinus 1 (A)56 Dieser zu Anfang des 8. Jahrhunderts n. Chr. im äußersten Nordosten Englands (Northumberland) geschriebene Codex der lateinischen Vulgata-Übersetzung der Bibel befindet sich im Besitz der Biblioteca Medicea Laurenziana zu Florenz. Obwohl bereits 1791 von Angelo Maria Bandini ausführlich beschrieben,57 war er doch der Aufmerksamkeit Lachmanns gänzlich entgangen. Auch F. F. Fleck, der vom Oktober 1831 bis zum April 1834 eine Handschriften-Forschungsreise nach Italien und Frankreich unternahm,58 musste erst in Rom von dem gelehrten BarnabitenPater Luigi Maria Ungarelli (1779–1845) auf diese wichtigste aller Vulgata-Handschriften aufmerksam gemacht werden,59 die er dann in Florenz als erster ausländischer Gelehrter untersuchen konnte.60 Einige Teilergebnisse – darunter Kollationen des Matthäus-Evangeliums und des alttestamentlichen (nach protestantischer Auffassung apokryphen) Buches Tobit („Tobias“)61 – hat Fleck 1837 als fünftes Stück seiner „Anecdota“ publiziert62 und 1840 einen Abdruck des 1592 erschienenen Clementinischen Textes der lateinischen Vulgata des Neuen Testaments folgen lassen, in dem die von ihm bemerkten Abweichungen des Codex Amiatinus in einem Apparat am unteren Seitenrand verzeichnet sind.63 In Buttmanns Apparat zu Lachmanns griechisch-lateinischer Textausgabe wird der Amiatinus (unter der Sigle L) nach Fleck zitiert, auch wenn dessen Angaben zu unvollständig und ungenau waren, um als ab-
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Weber/Gryson [Anm. 27], S. XLIII bzw. S. XLVI. Zur Korrektur der durch Überschreibung der Titelseite suggerierten Fehlannahmen über Entstehungszeit und -ort vgl. Scrivener/Miller [Anm. 55], Vol. II, S. 71 (Nr. 29); Gregory, Textkritik [Anm. 55], 2. Bd., S. 626–627. 57 Angelo Maria Bandini: De insigni codice biblico Amiatino Dissertatio, in: Bibliotheca Leopoldina Laurentiana, seu Catalogus manuscriptorum qui iussu Petri Leopoldi Archiducis Austriae Magni Etruriae Ducis nunc Augustissimi Imperatoris in Laurentianam translati sunt, Angelus Maria Bandinius recensuit, illustravit, edidit, Tomus I, Florenz 179, S. 701–732; vgl. im Hauptteil dieses Katalogs Sp. 617. 58 Ferdinand Florens Fleck: Wissenschaftliche Reise durch das südliche Deutschland, Italien, Sicilien und Frankreich [im Folgenden: Fleck, Wissenschaftliche Reise], Bd. I.1, Leipzig 1837. – Bd. I.2, Leipzig 1838. – Bd. II.1 (= Theologische Reisefrüchte zur Kenntniss der kirchlich-religiösen, sittlichen und wissenschaftlichen Zeitgeistes im südlichen und westlichen Europa 1), Leipzig 1835. – Bd. II.2 (= Theologische Reisefrüchte 2), Leipzig 1838. – Bd. II.3 (Theologische Reisefrüchte 3 = Ferdinandi Florentis Flecki anecdota maximam partem sacra in itineribus Italicis et Gallicis collecta), Leipzig 1837. 59 Fleck, Wissenschaftliche Reise I.1 [Anm. 58], S. 129 und S. 365, sowie Fleck, Wissenschaftliche Reise II.3 [Anm. 58], S. XII–XIII. 60 Fleck, Wissenschaftliche Reise I.1 [Anm. 58], S. 125. 61 Vgl. Weber/Gryson [Anm. 27], S. 676–690. 62 Specimina antiquissimorum bibliorum Latinorum, formae maximae, literarum uncialium, sec. VI., quondam monasterii montis Amiatae in Etruria, nunc Laurentianorum V. et N. T., operis pretiosissimi, stichometrici, ad rem criticam versionis Vulgatae gravissimi, et in Europa unici, in: Fleck, Wissenschaftliche Reise II.3 [Anm. 58], S. 161–188. 63 Ferdinand Florens Fleck (Hg.): Novum Testamentum vulgatae editionis juxta textum Clementis VIII. Romanum ex typogr. Apost. Vatic. a. 1592 accurate expressum. Cum variantibus in margine lectionibus antiquissimi et praestantissimi codicis olim monasterii montis Amiatae in Etruria, nunc bibliothecae Florentinae Laurentianae Mediceae, Edente Ferdinando Florente Fleck, Leipzig 1840.
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Einleitung: Lachmanns Programm einer historischen Textkritik und seine Wirkung
schließende Auswertung der Handschrift gelten zu können.64 Constantin Tischendorf kollationierte den Codex Amiatinus im Jahre 1843 erneut und veröffentlichte den vollständigen neutestamentlichen Teil des vom Amiatinus überlieferten Textes im Jahre 1850.65 b) Codex Ephraemi rescriptus (C = 04 Gregory-Aland)66 Dieser Palimpsestcodex (Cod. Parisinus gr. 9) wurde im 12. Jh. aus Blättern einer im 5. Jh. n. Chr. geschriebenen, Altes und Neues Testament enthaltenden Handschrift zusammengestellt, deren Erstbeschriftung abgewaschen und durch 38 ins Griechische übersetzte Traktate des syrischen Theologen Ephraem ersetzt wurde. Lachmann hatte die Mangelhaftigkeit der bisher publizierten Kollationen beklagt und den Wunsch geäußert, dass die biblische untere Schrift des Palimpsests durch Chemikalien lesbar gemacht und ihr vollständiger Wortlaut veröffentlicht werde;67 aber eine entsprechende Initiative ergriff nicht er, sondern abermals erst F. F. Fleck. Während des seine Forschungsreise abschließenden Aufenthaltes in Paris erreichte Fleck bei Karl Benedikt Hase, dem Conservateur der Bibliothèque Royale, dass der dort für chemische Manuskriptbehandlung zuständige Monsieur Simonin zwischen dem 28. Januar und dem 15. Februar 1834 etwa 100 Blätter der Handschrift68 mit der von dem Piemonteser Chemiker Giovanni Antonio Giobert (1761–1834) entwickelten „Giobertschen Tinktur“ (enthaltend Blutlaugensalz und Salzsäure) bestrich,69 wo-
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Vgl. Lachmann/Buttmann [Anm. 44], Tom. 1, S. XXVIII: „ex hoc igitur codice cum Fleckius quaecumque a Vaticana editione differrent exhibere vellet, diligentiam tam parum constantem praestitit, ut ex silentio eius, quid habeat codex, colligere vix usquam ausus sim, neque eum nomine appellare in euangeliis consultum duxerim, nisi ubi ceteris quibus uterer exemplaribus dissentiret“ und S. 1: „L Laurentianus sive Amiatinus“. 65 Constantin von Tischendorf (Hg.): Novum Testamentum Latine interprete Hieronymo. Ex celeberrimo codice Amiatino omnium et antiquissimo et praestantissimo nunc primum edidit Constantinus Tischendorf. Cum pia memoria Gregorii XVI, Leipzig 1850. – Editio paucis vel praemissis vel additis repetita, ipso libri textu non mutato, Leipzig 1854. 66 Vgl. Scrivener/Miller [Anm. 55], Vol. I, S. 121–124; Aland & Aland [Anm. 29], S. 22 mit Abb. 6 und S. 118. 67 Lachmann, Rechenschaft [Anm. 28], S. 831–832: „Wettsteins erste Vergleichung der Pariser Bruchstücke unter dem Ephräm (C) genügte, wie er selbst eingesteht […], dem Kenner Rich. Bentley nicht: und auch mit der zweiten ist kaum ein redendes Zeugniß wider, durchaus nirgend ein stummes für die recepta gewonnen. Bei diesem Palimpsest müssen uns noch chemische Mittel und ein vollständiger Abdruck helfen.“ 68 Die genaue Angabe der Daten und der Blattzahl nach Constantin Tischendorf (Hg.): Codex Ephraemi Syri rescriptus sive Fragmenta Novi Testamenti e codice graeco Parisiensi celeberrimo quinti ut videtur post Christum seculi eruit atque edidit C. T., Leipzig 1843 [im Folgenden: Tischendorf, Codex Ephraemi 1], S. 38 oben. 69 Ferdinand Florens Fleck: Ueber die Handschrift des neuen Testamentes, gewöhnlich Codex Ephraemi Syri rescriptus genannt, in der königlichen Bibliothek zu Paris, mit allgemeineren Bemerkungen über biblisch-kritische Reisen in unserem Zeitalter, in: Theologische Studien und Kritiken 14 (1841), S. 126–152 [im Folgenden: Fleck, Codex Ephraemi rescriptus], hier: S. 126–127: „Während meines Aufenthaltes in Paris ward mir durch die Güte des liberalen Bibliothekars und Conservateurs H a s e verstattet, die chemische g i o b e r t ’sche Tinctur […] auch in dieser kostbaren Handschrift vornehmen zu lassen“. Dazu Scrivener/Miller [Anm. 55], Bd. 1, S. 121 und Gregory, Textkritik [Anm. 55], Bd. 1, S. 42.
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durch vieles lesbar, manches aber auch beschädigt wurde.70 Nachdem Fleck sodann die Lesungen der biblischen Erstbeschriftung von ca. 15 Blättern notiert hatte, trat er die Heimreise an und traf am 5. April 1834 in Dresden ein.71 Erst in dem darauffolgenden Jahr, nämlich vom 10. April bis zum 19. Mai 1835, bestrich Simonin auch die noch verbleibenden Blätter des Codex mit der Tinktur.72 Fleck teilte in einem 1841 veröffentlichten Aufsatz mit, was er im Frühjahr 1834 an Ort und Stelle exzerpiert hatte.73 Doch bereits 1840 ging C. Tischendorf nach Paris, um den inzwischen vollständig mit der Giobertschen Tinktur behandelten Palimpsest C umfassend auszuwerten.74 Was bei Lachmann 1830 ein bloßes Desiderat war und worin Fleck über erste Ansätze nicht hinauskam, das führte Tischendorf aus: In der Zeit von Dezember 1840 bis September 1842 entzifferte und kopierte er die aus dem 5. Jahrhundert n. Chr. stammende biblische Erstbeschriftung und veröffentlichte daraus im Jahre 1843 die neutestamentlichen Fragmente.75
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Fleck ebd., S. 141: „Die Farbe der Buchstaben ist hellbraun und hat durch das Alter ansehnlich gelitten. Durch die giobert’sche Tinctur ward die Schrift grün. Ein gewisser S i m o n i n , dem der Auftrag der künstlichen Auffrischung von Amts wegen wurde, verfuhr damit ziemlich gut; etwa die Hälfte der Handschrift ist in dieser Weise restaurirt worden; nicht Alles aber ist dadurch lesbar, Einiges sogar verdorben worden. Denn die zweite dunkelschwarze Schrift ward durch das Reagens an manchen Blättern mit angegriffen, zerfloß und verhinderte durch ihre Verbreitung über die Oberfläche das Lesen der zweiten, darunter liegenden Schrift“. 71 Fleck, Wissenschaftliche Reise I,2 [Anm. 58], S. 276. 72 Tischendorf, Codex Ephraemi 1 [Anm. 68], S. 38, Anm. 19. Aus dieser Mitteilung hätte Felix Albrecht: FLECK, Ferdinand Florens, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Begründet von F. W. Bautz, fortgeführt von T. Bautz, Bd. XXXIII (Ergänzungen XX), Nordhausen 2012, Sp. 436–438, hier: Sp. 437, niemals folgern dürfen, dass auch die erste, für das Jahr 1834 bezeugte chemische Behandlung und Flecks dadurch ermöglichtes Studium des Palimpsests erst in das Jahr 1835 fiel, zumal Fleck am 05. 04. 1834 endgültig nach Sachsen zurückkehrte. Ebenso verfehlt war die Behauptung, dass die chemische Behandlung erst auf Veranlassung Tischendorfs erfolgt sei, wogegen die sich bereits Gregory, Textkritik [Anm. 55], Bd. 1, S. 42 wandte: „man hat diese Anwendung der Tinktur fälschlich Tischendorf zur Last gelegt, der doch erst im Jahre 1834 von der Schule auf die Universität ging“. Gleichwohl wurde der Fehler nicht nur von Aland & Aland [Anm. 29], S. 21, Anm. 5 wiederholt, sondern auch noch von Fiesoli 2000 [Anm. 2], S. 139; Letzteres offenbar in Unkenntnis der zwischenzeitlich erfolgten, diskreten Korrektur durch Aland, Tischendorf [Anm. 31], S. 9. 73 Fleck, Codex Ephraemi rescriptus [Anm. 69]. Dazu Lachmann/Buttmann [Anm. 44], Tom. 1, S. XXIII: „quae Fleckius nuper enotavit, nobis non multum profuerunt: adeo et pauca sunt et exigua cum fide tradita“. 74 Vgl. Scrivener/Miller [Anm. 55], Bd. 1, S. 121–124; Gregory, Textkritik [Anm. 55], Bd. 1, S. 40–42; Aland, Tischendorf [Anm. 31], S. 9. 75 Tischendorf, Codex Ephraemi 1 [Anm. 68]. Zwei Jahre später ließ Tischendorf eine Edition der alttestamentlichen Fragmente aus demselben Palimpsest folgen: Constantin von Tischendorf (Hg.): Codex Ephraemi Syri rescriptus sive Fragmenta Veteris Testamenti e codice graeco Parisiensi celeberrimo quinti ut videtur post Christum seculi eruit atque edidit Constantinus Tischendorf, Leipzig 1845.
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Einleitung: Lachmanns Programm einer historischen Textkritik und seine Wirkung
c) Codex Bonifatianus 1 (F)76 F. F. Fleck hatte durch seine erste Präsentation des lateinischen, in Florenz verwahrten Codex Amiatinus77 demonstriert, in welch starkem Maß der tradierte Text auch im Fall der lateinischen Vulgata-Übersetzung des Alten wie des Neuen Testaments der Kontrolle durch die ältesten erreichbaren Handschriften bedurfte. So traten auch Lachmann und Buttmann im Herbst 1839 und damit acht Jahre nach Erscheinen von Lachmanns erster Ausgabe einmal eine Handschriftenreise an, nämlich nach Fulda, um für Lachmanns zweite Ausgabe den schon 546/47 n. Chr. geschriebenen lateinischen Codex Bonifatianus 1 (= „Codex Fuldensis“) zu kollationieren.78 In diesem Kodex sind zwar die vier Evangelien durch eine lat. Übersetzung bzw. Bearbeitung des Diatessaron des Tatian vertreten, der die Evangelien zu einer einheitlichen Erzählung synthetisiert hat,79 doch die übrigen Teile des Neuen Testaments werden in der Vulgata-Übersetzung dargeboten. In Buttmanns Apparat zu Lachmanns griechisch-lateinischer Textausgabe wird der Bonifatianus 1 unter der Sigle F zitiert.80 Den vollständigen Text des Fuldensis edierte indessen erst Ernst Ranke im Jahre 1868.81 d) Codex Vaticanus (B = 03 Gregory-Aland)82 Dieser aus heutiger Sicht wichtigste griechische Majuskelcodex der Bibel, der im 4. Jahrhundert n. Chr. dreispaltig geschrieben wurde, enthält weite Teile des Alten Testaments und das Neue Testament bis zum Hebräerbrief 9, 14, so dass die sog. katholischen Briefe und die Apokalypse fehlen. Auch zu dieser Handschrift, die sich seit dem 15. Jahrhundert in der Bibliotheca Apostolica Vaticana befindet, hatte Lachmann 1830 festgestellt, dass die bisher vorliegenden Kollationen gänzlich ungenügend seien und dass hierdurch der Wert seiner eigenen textkritischen Behandlung des Neuen Testaments deutlich gemindert werde.83 Und abermals war es nicht Lach76
Weber/Gryson [Anm. 27], S. XLVI. Die Handschrift ist beschrieben von Regina Hausmann, Die Theologischen Handschriften der Hessischen Landesbibliothek Fulda bis zum Jahr 1600. Codices Bonifatiani 1–3. Aa 1–145a, Wiesbaden 1992, S. 3–7; vgl. Aland & Aland [Anm. 29], S. 197–198 mit Abb. 61. 77 Fleck, Wissenschaftliche Reise II.3 [Anm. 58], S. 161–188. 78 Lachmann/Buttmann [Anm. 44], Tom. 1, S. XXVI–XXVII und Hertz [Anm. 1], S. 159. 79 Zum Diatessáro¯n (< τὸ δ ι ὰ τ ε σ σ ά ρ ω ν καλούμενον εὐαγγέλιον) vgl. Aland & Aland [Anm. 29], S. 199; zu seiner lateinischen Überlieferung Ulrich B. Schmidt, Unum ex quattuor. Eine Geschichte der lateinischen Tatianüberlieferung, Freiburg, Basel, Wien 2005 (Vetus Latina 37). 80 Vgl. Lachmann/Buttmann [Anm. 44], Tom. 1, S. XXVIII–XXIX und S. 1: „F Fuldensis codex vulgatae“. 81 Ernst Ranke (Hg.): Codex Fuldensis. Novum Testamentum Latine, interprete Hieronymo. Ex manuscripto Victoris Capuani edidit, prolegomenis introduxit, commentariis adornavit Ernestus Ranke, Marburg, Leizig 1868. 82 Vgl. Aland & Aland [Anm. 29], S. 25 (Abb. 8) und S. 118; sowie Scrivener/Miller [Anm. 55], Bd. 1, S. 105–121, hier: S. 112–113; Gregory, Textkritik [Anm. 55], Bd. 1, S. 37–38. 83 Lachmann, Rechenschaft [Anm. 28], S. 831: „Weit übler steht es mit den zwei oder gar drei Vergleichungen der vaticanischen Handschrift (B). Was die von Herrn D. Scholz gebrauchte allein hat, scheint mir durchaus unrichtig oder zweifelhaft. Birch ist höchst nachlässig und hat den Lucas und Johannes gar nicht verglichen. Thomas Bentley bemerkte nicht einmal, daß auf die untere Schrift zu achten sey, nicht bloß auf die oberen schwarzen Züge: er giebt also nur die Lesarten zweiter Hand […] Man sieht also, eine der wichtigsten Quellen ist uns nur höchst unvollständig bekannt, und darunter muß meine Kritik nothwendig gelitten haben“.
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mann selbst, sondern erst F. F. Fleck, der im Rahmen seiner Forschungsreise versuchte, diesem Mangel abzuhelfen. Doch blieb Fleck in Rom die Auswertung des Vaticanus B verwehrt: Die Handschrift befand sich seit 1828 in den Händen des bedeutenden Paläographen Angelo Mai (1782–1854), des bisherigen Präfekten der Vatikanischen Bibliothek, der sie für die Kontrolle seiner eigenen, fünfbändigen Edition ihres Textes benötigte, und der keinem anderen Forscher Gelegenheit geben wollte, ihm zuvorzukommen bzw. ihn zu übertreffen.84 Nicht ohne Bitterkeit stellt Fleck fest, dass man Mais Tod abwarten müsse, bevor an eine angemessene Auswertung des Vaticanus zu denken sei.85 Im Jahr von Mais Erhebung zum Kardinal, 1838, war der Druck von dessen Edition dann zwar abgeschlossen, aber zu Mais Lebzeiten wurde sie zurückgehalten86 – wie man heute weiß, weil Mai sich der Korrekturbedürfigkeit seiner Arbeit nur zu genau bewusst war.87 Inzwischen hatte Ph. Buttmann bei der Arbeit am kritischen Apparat für Lachmanns zweite Ausgabe die Überzeugung gewonnen, dass das Zeugnis des Vaticanus oft dasjenige aller übrigen Handschriften aufwiege, und gab deshalb 1856 einen weitgehend auf die damals bereits bekannten Lesarten des Vaticanus gestützten Text des Neuen Testaments heraus.88 Im folgenden Jahr, 1857, brachte der römische Barnabit Carlo Vercellone (1814–1869) aus Mais Nachlass dessen große, aber fehlerhafte Gesamtausgabe des Vaticanus heraus,89 der er 1859 eine ebenfalls von Mai hinterlassene korrigierte Ausgabe des neutestamentlichen Teils folgen ließ.90 Buttmann berücksichtigte Mais große Ausgabe sowohl in der Druckfassung seines Aufsatzes über den Textwert des Vaticanus91 als auch in den „Addenda et corrigenda“, die er der 1860 erschienenen Editio altera seiner Ausgabe von 1856 anfügte und in denen er seine Angaben zum Vaticanus nach Mais Text revidierte.92 C. Tischendorf aber, der bereits 1859 in seiner Editio septima critica maior die Mängel von Mais großer Ausgabe dokumentiert hatte,93 ging im Februar 1866 schließlich selbst nach Rom, wo es ihm nach seinem eigenen Bericht 84
Fleck, Wissenschaftliche Reise I.1 [Anm. 58], S. 96–98 und S. 155–157. Fleck, Codex Ephraemi rescriptus [Anm. 69], S. 145–146: „Allein hierbei ist A. Mai’s Tod unbedingt abzuwarten, da bisher auch die einflußreichsten Verwendungen nicht genügten, um diese Handschrift aus seinen Händen in die eines deutschen Gelehrten, der den wahren Standpunkt der Kritik kennt, zur Vergleichung zu bringen“. 86 Lachmann/Buttmann [Anm. 44], Tom. 1, S. XXII: „Vaticani exempla Angelo Maio curante typis expressa iam dudum extare accepi, sed indignis tenebris celari“. 87 Dazu Scrivener/Miller [Anm. 55], Bd. 1, S. 113: „When once it is stated that the type was set up from the common Elzevir or from some other printed Greek Testament, the readings of the Codex itself being inserted as corrections, and the whole revised by means of an assistant who read the proof-sheets to the Cardinal while he inspected the manuscript; no one will look for accuracy from a method which could not possibly lead to it“. 88 Buttmann, NT [Anm. 51]. 89 Angelo Mai (Hg.): Ἡ Παλαιὰ καὶ ἡ Καινὴ Διαθήκη. Vetus et Novum Testamentum ex antiquissimo codice Vaticano edidit Angelus Maius S. R. E. Card., Tom. I–V, Rom 1857. 90 Angelo Mai (Hg.): Ἡ Καινὴ Διαθήκη. Novum Testamentum ex vetustissimo codice Vaticano secundis curis editum studio Angeli Maii, S. R. E. Card, Rom 1859. 91 Buttmann, Vaticanus B [Anm. 51]. 92 Buttmann, Editio altera [Anm. 51], S. 544–548. 93 Constantin Tischendorf (Hg.): Novum Testamentum Graece. Ad antiquos testes denuo recensuit apparatum criticum omni studio perfectum apposuit commentationem isagogicam praetexuit Aenoth. Frid. Const. Tischendorf, Editio septima, Pars prior, Leipzig 1859, S. CXLVI–CXLIX. 85
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den ihm in den Weg gelegten Hindernissen zum Trotz möglich war, im Zeitraum vom 28. Februar bis zum 26. März 1866 den von Mai gebotenen Wortlaut am Original zu überprüfen, und zwar an insgesamt 14 Tagen jeweils für drei Stunden täglich, mithin insgesamt 42 Stunden lang.94 Trotz dieser rigiden zeitlichen Beschränkung konnte er zahlreiche offene Fragen klären und die bis dahin brauchbarste Edition des neutestamentlichen Teils des Vaticanus erarbeiten, die 1867 erschien.95 e) Codex Sinaiticus ( = א01 Gregory-Aland)96 Schon im Jahre 1844 hatte C. Tischendorf auf der ersten seiner drei Reisen zum Katharinenkloster am Berg Sinai 129 Blätter mit Teilen des ins Griechische übersetzten Alten Testaments (Septuaginta) entdeckt, die aus einem bis dahin ganz unbekannten, im 4. Jahrhundert n. Chr. vierspaltig geschriebenen, griechischen Bibelcodex in Majuskelschrift stammten. Ein Drittel dieser Blätter (d.h. 43) schenkte ihm das Kloster, worauf Tischendorf sie der Universitätsbibliothek Leipzig übereignete und 1846 als Quasi-Faksimile edierte („Codex Friderico-Augustanus“, nach dem sächsischen König Friedrich August II.).97 Eine noch größere Sensation brachte seine dritte, von dem russischen Zaren Alexander II. subventionierte dritten Sinai-Reise (1859): Am 4. Februar 1859 wurden ihm dort nicht nur die 86 bereits 1844 von ihm gesehenen, aber im Kloster verbliebenen alttestamentlichen Blätter vorgeführt, sondern im Ganzen 346½ Blätter aus demselben Codex, die sowohl weitere Teile der Septuaginta enthielten als auch einen nahezu vollständigen Text des griechischen Neuen Testaments. Am 28. September 1859 wurde Tischendorf vom Kloster gestattet, alle 346½ Blätter mit sich zu nehmen, um sie dem Zaren (als dem Protektor der orthodoxen Christen im Osmanischen Reich)98 darzubringen, und zwar im Vorgriff auf eine spätere Einigung über die Konditionen einer rechtsförmigen Übereignung; den Text dieser Blätter edierte Tischendorf 1862 gesondert als Quasi-Faksimile.99 Für die Edition und Darbringung des Codex Sinaiticus wurde er im November 1862 vom Zaren 94
Constantin von Tischendorf (Hg.): Appendix Novi Testamenti Vaticani. Inest Apocalypsis ex codice unciali Vaticano 2066 cum supplementis et emendationibus Novi Testamenti Vaticani, item illustratur editio codicis Vaticani Romana nuperrima, Leipzig 1869, S. VI–VII. 95 Constantin von Tischendorf (Hg.): Novum Testamentum Vaticanum. Post Angeli Maii aliorumque imperfectos labores ex ipso codice edidit Aenoth. Frid. Constant. Tischendorf, Leipzig 1867. 96 Vgl. Aland & Aland [Anm. 29], S. 23 (Abb. 7) und S. 117–118. 97 Constantin Tischendorf (Hg.): Codex Friderico-Augustanus sive Fragmenta Veteris Testamenti e codice Graeco omnium qui in Europa supersunt facile antiquissimo. In oriente detexit, in patriam attulit, ad modum codicis edidit Constantinus Tischendorf, Leipzig 1846. Dieser Teil des Sinaiticus steht nach wie vor im Eigentum der Universitätsbibliothek Leipzig (Cod. gr. 1). 98 Dieses Recht hatte das Osmanische Reich nach seiner Niederlage im Russisch-Türkischen Krieg (1768–1774) im Frieden von Küçük Kaynarca (heute Kaynardzha an der Nordostgrenze Bulgariens) der russischen Zarin Katharina II. zugestehen müssen. 99 Constantin Tischendorf (Hg.): Bibliorum Codex Sinaiticus Petropolitanus. Auspiciis augustissimis Imperatoris Alexandri II. ex tenebris protraxit, in Europam transtulit, ad iuvandas atque illustrandas sacras litteras edidit Constantinus Tischendorf, Vol. primum: Prolegomena. Commentarius. Tabulae. – Vol. alterum: Veteris Testamenti pars prior. – Vol. tertium: Veteris Testamenti pars posterior. – Vol. quartum: Novum Testamentum cum Barnaba et Pastore, St. Petersburg 1862.
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mit dem Stanislaus-Orden 1. Klasse ausgezeichnet,100 was mit dem erblichen russischen Adel verbunden war. Den neutestamentlichen Teil des Sinaiticus gab von Tischendorf im darauffolgenden Jahr 1863 auch in gewöhnlicher griechischer Type heraus.101 Lachmanns alter Mitarbeiter Ph. Buttmann d. J. trug dem abermaligen Materialzuwachs erneut Rechnung, indem er 1865 ein Verzeichnis aller Lesarten herausgab, in denen der neutestamentliche Teil des Sinaiticus von Buttmans eigener Editio altera des NT von 1860 abwich.102 Der von Tischendorf nach Russland gebrachte Teil des Sinaiticus, den das Kloster dem Zaren 1869 gegen ein Gegengeschenk von 9000 Rubeln offiziell übereignete, wurde im Dezember 1933 vom kommunistischen Sowjet-Regime für 100.000 Pfund nach England verkauft und steht seitdem im Eigentum des British Museum bzw. der 1973 aus diesem ausgegliederten British Library.103
Alle fünf im Vorigen angeführten Handschriften berücksichtigte C. von Tischendorf in seiner abschließenden Editio octava critica maior von 1869 bzw. 1872:104 Erst diese Ausgabe dokumentierte den um 400 n. Chr. gelesenen Text des Neuen Testaments, wie einst von Bentley und Lachmann gefordert. Das bahnbrechende Programm einer historischen Textkritik war eben auch im Falle des Neuen Testaments erst durchzuführen, als die wichtigsten Überlieferungsträger, größtenteils durch v. Tischendorf selbst, erschlossen waren. Mithin gilt mutatis mutandis für Lachmanns forschungsgeschichtliche Stellung auf dem Feld der ältesten griechischen Majuskelhandschriften des Neuen Testaments bzw. der ältesten Überlieferung der lateinischen Vulgata das, was wir im Folgenden hinsichtlich der vermeintlich ‚Lachmannschen‘ Editionsmethode aus Timpanaros Rekonstruktion der Genese dieser Methode schließen werden: Lachmann ist den Weg, den er gewiesen hat, im Wesentlichen nicht selbst gegangen, aber er h a t ihn gewiesen.
100 Vgl. C. Woldemar: Uebersicht der Thätigkeit des Russisch-Kaiserlichen Ministeriums der Volksaufklärung und der ihm untergeordneten gelehrten und Lehranstalten in den Jahren 1862, 1863 und 1864. Aus dem Russischen übersetzt, St. Petersburg 1865 (Beiträge zur Geschichte und Statistik der Gelehrten- und Schulanstalten II. Theil), S. 345 (Nr. 31). 101 Constantin von Tischendorf (Hg.): Novum Testamentum Sinaiticum sive Novum Testamentum cum epistula Barnabae et fragmentis Pastoris. Ex Codice Sinaitico auspiciis Alexandri II. omnium Russiarum Imperatoris ex tenebris protracto orbique litterarum tradito accurate descripsit Aenotheus Fridericus Constantinus Tischendorf, Leipzig 1863. 102 Buttmann, Recensus Sinaiticus [Anm. 51]. 103 British Library, Ms. add. 43725. Zur Aufteilung der Septuaginta-Teile auf den Cod. Friderico-Augustanus einerseits und den Cod. Sinaiticus Petropolitanus andererseits bzw. auf das jeweils einschlägige von Tischendorfs beiden Quasi-Faksimilia (1846 bzw. 1862) vgl. Alfred Rahlfs: Verzeichnis der griechischen Handschriften des Alten Testaments, Berlin 1914 (Mitteilungen des Septuaginta-Unternehmens der Kgl. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Bd. 2), S. 226–229 (Handschrift Nr. 259). 104 Tischendorf 1869/1872 [Anm. 53], mit den Prolegomena von Gregory 1884–1894 [Anm. 53].
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1.2.2 Klassische Philologie I: Von Lachmanns Programm zur Maasschen Methode In der klassischen Philologie hatte sich in dem Jahrhundert, das seit Bentleys neutestamentlicher Probeausgabe vergangen war, ein vergleichbares Programm zur Wiedergewinnung der ältesten erreichbaren Textform noch längst nicht etablieren können. Es war schon etwas Großes und Außergewöhnliches, dass Immanuel Bekker (1785–1871) in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts auf Kosten der Kgl. Preußischen Akademie der Wissenschaften gemeinsam mit seinem Gehilfen Christian August Brandis die wichtigsten Handschriftensammlungen Italiens, Frankreichs und Englands bereisen konnte, um durch Kollationen zahlreicher byzantinischer Handschriften die große Akademieausgabe der Werke des Aristoteles vorzubereiten. Doch über eine systematische recensio der Aristoteles-Überlieferung liest man bei Bekker nichts: Als Editor hat er auch im Falle der beiden 1831 erschienenen Aristoteles-Textbände die ihm von Wilamowitz attestierte „eklektische Kritik“ praktiziert, „die er aufgrund seines ungemein sicheren Stilgefühls verfolgte“.105 Der auf dem Gebiet der griechischen Poesie im frühen 19. Jahrhundert führende Philologe Deutschlands, Gottfried Hermann (1772–1848), suchte den jeweiligen textus receptus der griechischen Dichter, der im 16. Jahrhundert auf einer zufälligen handschriftlichen Grundlage fixiert worden war, sowie die Erklärung ihrer Werke anhand einer energisch vorangetriebenen Erforschung von Metrik, Grammatik und Mythologie immer weiter zu verbessern, ohne zuvor nennenswerte Handschriftenkollationen zu betreiben, ganz zu schweigen von einer systematischen Rekonstruktion der Überlieferungsverhältnisse. An dieser bei aller philologischen Meisterschaft doch – gemessen an Bentley – rückständigen Praxis übte der junge Lachmann eine grundsätzliche Kritik, wie seine im Jahre 1818 – Lachmann war gerade 27 Jahre alt – publizierte Besprechung von Hermanns kommentierter Ausgabe der Sophokleischen Tragödie „Aias“ zeigt:106 Bey der Frage aber, wie viel durch eine Ausgabe irgend einer Schrift des Alterthums gewonnen sey, hört man noch gar zu oft den vornehm humanen Ausspruch der Trägheit, natürlich lasse sich über einzelne Lesarten und Erklärungen noch streiten, und des Einen Urtheil oder Gefühl solle den Anderen nicht vorschreiben. Von dieser sträflichen Milde weiss die ächte Kritik und Erklä105 Wilamowitz, Geschichte [Anm. 12], S. 52; ebenso Timpanaro 1985 [Anm. 3], S. 36. Anders urteilt Wilt Aden Schröder: Immanuel Bekker – der unermüdliche Herausgeber vornehmlich griechischer Texte, in: Die modernen Väter der Antike. Die Entwicklung der Altertumswissenschaften an Akademie und Universität im Berlin des 19. Jahrhunderts, hg. v. Annette M. Baertschi, Colin G. King, Berlin, New York 2009, S. 329–368, hier S. 352: „Auch lässt sich feststellen, dass Bekker mit sicherem Griff, d.h. doch wohl aufgrund wie auch immer gearteter stemmatischer Überlegungen aus der großen Menge der von ihm eingesehenen Handschriften die entscheidenden ausgewählt hat“. Aber dies bleibt Spekulation, da Bekker von „stemmatischen Überlegungen“ nirgends etwas verlautbart hat. 106 Lachmann 1818 [Anm. 9], Sp. 250 (= Kleinere Schriften, S. 2). Zu dieser Kritik vgl. Timpanaro 1985 [Anm. 3], S. 36–37; Fiesoli [Anm. 2], S. 134.
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rungskunst gar nichts, weil sie auf Wahrheit ausgeht und nicht auf den Schein. Dennoch aber müssen sich alle Kritiker nach einer solchen Entschuldigung oder Hinterthür umsehen, die nicht vor allen Dingen nach einem strengurkundlichen Texte streben, und ohne das schärfste Verhör aller Zeugen allzuschnell an die Arbeit zu gehen wagen. Da unsere Zeit auf die Vervielfältigung der Griechischen Texte so erpicht scheint: so möchten wir wünschen, dass man, statt immer und ewig die berühmtesten unbeglaubigten Ausgaben zu wiederholen, lieber solche Texte lieferte, wie sie sich allein aus den Handschriften nach der strengsten Prüfung des Werthes jeder einzelnen ergeben, ohne die mindeste Rücksicht auf den Sinn oder die Vorschriften der Grammatik. Wir müssen bedauern, dass auch Hermann bey der Beurtheilung einzelner Lesarten sich überall fast ganz auf innere Gründe stützt, und eine sorgfältige umfassende Musterung der Handschriften und übrigen Quellen verschmäht hat.
Lachmann begnügt sich in dieser Besprechung nicht mit der – nachvollziehbaren – Forderung, dass die systematische Feststellung der handschriftlichen Überlieferung (recensio) den R a h m e n für die Textgestaltung (constitutio textu¯s) vorgeben müsse, sondern er steigert diese Forderung zu dem enthusiastischen Wunschbild einer rein mechanischen, d.h. „ohne die mindeste Rücksicht auf den Sinn oder die Vorschriften der Grammatik“ a l l e i n aus der Analyse der Überlieferungsverhältnisse abgeleiteten Textgestaltung, bei der für editorische Willkür kein Platz mehr ist. Doch so charakteristisch dieses Wunschbild für den Impetus sein mag, der Lachmann sein Forscherleben hindurch angetrieben hat – in wichtigen eigenen Arbeiten hat er die Grenzen, die der von ihm hier anvisierten mechanischen Textkonstitution auch in günstigen Fällen gesetzt bleiben, durchaus klar gesehen: Wie wir noch sehen werden, hat er nicht erst im Hinblick auf seine Ausgaben des Neuen Testaments (1831) oder des Lukrez (1850), sondern bereits in seinen 1817 formulierten Gesetzen zur recensio des Nibelungenliedes auch den Fall beschrieben, dass die mechanische Rekonstruktion des Ausgangspunktes der Überlieferung nicht schon zur Entscheidung für eine bestimmte Lesart führt, sondern zu einer Entscheidung zwischen zwei gleich gut bezeugten Lesarten zwingt, die selbst klarerweise n i c h t m e h r mit mechanischen Mitteln getroffen werden kann. In der Hauptsache aber blieb sein Programm einer historischen Textkritik nicht ungehört. In den gut dreißig Jahren zwischen der zitierten Rezension von Hermanns Ausgabe des Sophokleischen „Aias“ und Lachmanns Tod setzte in der klassischen Philologie in der Tat ein Umschwung in Richtung eines auf unmittelbarer Handschriftenkenntnis gegründeten Edierens ein. Hieran war Lachmann in doppelter Hinsicht führend beteiligt, nämlich nicht nur als Verfasser protreptischer Rezensionen, sondern auch durch seine Arbeitsleistung als derjenige Editor klassischer römischer Dichtung (Elegiker, Catull und Lukrez) und des Neuen Testaments, der, wenngleich auf mehr oder weniger defizienter handschriftlicher Grundlage, die Herrschaft des textus receptus beendete. Allerdings ist mit der grundsätzlichen Entscheidung dafür, Editionen antiker Texte nicht auf Vorgängereditionen desselben Textes, sondern konsequent auf 34
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handschriftlicher Überlieferung aufzubauen, weder schon eine Entscheidung darüber gegeben, ob man seinen Text auf eine Handschrift oder auf mehrere gründen soll, noch darüber, nach welchen Kriterien man diese Handschrift bzw. diese Handschriften auswählen soll – Alter? Güte? genealogische Unabhängigkeit? –, noch schließlich darüber, wie man, bei der Entscheidung für mehrere Handschriften, aus dieser Mehrzahl den e i n e n Text generieren soll. Die Diskussion über diese Methodenfragen, die in einzelnen Punkten bereits auf die Renaissance-Philologie zurückgeht, war im 18. Jahrhundert vor allem hinsichtlich der Textkritik des Neuen Testaments vorangetrieben worden. Doch eine theoretische Synthese steckte zu Lachmanns Lebzeiten noch ebenso in den Anfängen wie eine konsequente editorische Umsetzung in der klassischen Philologie. Gerade wegen der prominenten Stellung Lachmanns auf dem Gebiet der Editionsphilologie muss man sich, wie Timpanaro gezeigt hat,107 davor hüten, ihm ungeprüft auch einzelne sachliche Entdeckungen und methodische Innovationen auf diesem Gebiet zuzuschreiben, die in Wahrheit teils von seinen Vorgängern im 15.–16. und im 18. Jahrhundert, teils von seinen Zeitgenossen, teils auch erst nach seinem Tode gemacht wurden. Eben diese Fehlzuschreibungen ergeben in der Summe das einleitend erwähnte ‚Lachmann-Phantasma‘, dessen Verfehltheit im Folgenden exemplarisch an vier einschlägigen Konzepten und Methoden der Editionsphilologie erläutert werden soll: Fehlerprinzip, Archetypus, stemma codicum, mechanische recensio. In allen vier Fällen sind mehr oder weniger populäre Fehlmeinungen über Lachmann anhand der von Sebastiano Timpanaro inaugurierten philologiegeschichtlichen Lachmann-Forschung, bzw. in Auseinandersetzung mit dieser Forschung, zu korrigieren. 1.2.3 Zum ‚Lachmann-Phantasma‘: Fehlerprinzip, Archetypus, Stemma, mechanische recensio a) Das Fehlerprinzip (common-error method):108 Zwar hatte schon der toskanische Dichterphilologe Agnolo Ambrogini (1454–1494), gen. Angelo Poliziano,109
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Vgl. Timpanaro 1985 [Anm. 3]. Zur Sache vgl. Michael Reeve: Shared Innovations, Dichotomies, and Evolution, in: Filologia classica e filologia romanza: esperienze ecdotiche a confronto. Atti del Convegno Roma 25–27 maggio 1995, hg. v. Anna Ferrari, S. 445–505; Teilabdruck in: Reeve [Anm. 17], S. 55–103. 109 Zu Poliziano im Allgemeinen vgl. Rudolf Peiffer: Die Klassische Philologie von Petrarca bis Mommsen. Aus dem Englischen übertragen von Marlene und Erwin Arnold, München 1982, S. 61–66, sowie L. D. Reynolds†, N. G. Wilson: Scribes and Scholars. A Guide to the Transmission of Greek and Latin Literature, Fourth Edition, Oxford 2013, S. 144–147 und S. 154–155; zu seinen methodischen Innovationen auf den Gebieten der Text- und Quellenkritik vgl. A. T. Grafton: On the Scholarship of Politian and Its Context, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 40, 1977, S. 150–188 (= Anthony Grafton, Defenders of the Text. The Traditions of Scholarship in an Age of Science, 1450–1800, Cambridge MA, London 1991, S. 47–75). 108
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in seinen „Miscellanea“110 die herausragende Bedeutung beschrieben, d i e e i n z e l n e n s p e k t a k u l ä r e n F e h l e r n , wie z.B. Lagenvertauschungen, für die Ermittlung genealogischer Beziehungen zwischen Handschriften zukommen kann: Eine Gruppe von jüngeren Handschriften ist dann als abhängig von einer älteren Vorlage erwiesen, wenn die jüngeren eine fehlerhafte Textumstellung gemeinsam haben, die in der älteren durch eine dem Buchbinder unterlaufene Lagenvertauschung allererst bewirkt wurde; ein solcher Nachweis ist Poliziano gleich zweimal gelungen: in der Überlieferung von Ciceros „Epistulae ad familiares“111 und in derjenigen des „Argonautica“-Epos des C. Valerius Flaccus.112 Doch das Fehlerprinzip, d.h. die konsequente B e s c h r ä n k u n g der Kriterien für die Handschriftengruppierung auf Fehler (bzw. Innovationen) hat weder einer von Lachmanns Vorgängern, noch, wie man gelegentlich liest, Lachmann selbst,113 noch auch, wie sogar Timpanaro meinte, einer von dessen Zeitgenos-
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Die „Centuria prima“ der Miscellanea wurde noch zu Polizianos Lebzeiten gedruckt: Angeli Politiani miscellaneorum centuria prima, Florenz 1489. Dagegen wurde das Manuskript der „Centuria secunda“ erst im 20. Jahrhundert aufgefunden und herausgegeben: Angelo Poliziano: Miscellaneorum centuria secunda, edizione critica, per cura di Vittore Branca e Manlio Pastore Stocchi, 4 voll., Florenz 1972. 111 Poliziano, Centuria prima [Anm. 110], caput XXV. Dazu Reynolds/Wilson [Anm. 109], S. 145: „he points out that the manuscript of the Epistulae ad familiares which was made for Salutati in 1392 (Laur. 49.7 = P) is a copy of the Vercelli manuscript (Laur. 49.9 = M), and demonstrates that P itself, in which a number of leaves have been displaced through an error in binding, must be the parent of a whole family of later manuscripts in which the sequence of a group of letters has been disturbed“. 112 Poliziano, Centuria prima [Anm. 110], caput V, hatte zunächst nur b e h a u p t e t , dass eine ihm von Taddeo Uguleto leihweise überlassene alte „Argonautica“-Handschrift die Vorlage der übrigen Handschriften sei. Die Begründung lieferte er dann in der Centuria secunda [Anm. 110], caput II, nach. Dazu P. L. Schmidt: „Polizian und der italienische Archetyp der Valerius-Flaccus-Überlieferung“, in: Italia medioevale e umanistica 19, 1976, S. 241–256, hier zitiert nach Schmidt, Traditio [Anm. 13], S. 29–38, hier: S. 29: „Polizian […] korrigiert die alle vollständigen Codices verunstaltende Verwerfung des Textes in Buch 8; der regulär auf 8,135 folgende Vers finde sich erst nach einem Einschub von 200 Versen – heute 186–385 –, der seinerseits erst nach weiteren 50 Versen – 136–185 – an der ihm zustehenden Stelle stehen solle“, und ebd., S. 29–30: „In diesen Sätzen […] wird deutlich, warum Polizian den von Ugoleto geliehenen vetus codex als Vorlage aller anderen diagnostizieren konnte: Die Blattversetzung, die die Verwirrung des Textes in Buch 8 verursacht hatte, war als Irrtum des Buchbinders an ihm [scil. dem vetus codex] noch unmittelbar abzulesen“. 113 Man wüsste z.B. gerne, an welche Lachmannschen Schriften James Grier (Lachmann, Bédier and the Bipartite Stemma. Towards a Responsible Application of the CommonError Method, in: Revue d’Histoire des Textes 18, 1988, S. 263–278, hier: S. 264) genau dachte, als er summarisch auf „Lachmann’s own writings on the common-error method“ verwies.
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sen expliziert.114 Wie Dom Jacques Froger (1909–1980) gesehen hat, ist erst dem französischen Latinisten Paul Lejay (1861–1920) die Formulierung der Einsicht zu verdanken, dass sich die Handschriftengruppen eines Werkes a l l e i n durch gemeinsame Fehler bzw. Innovationen voneinander abheben, während die Übereinstimmung zweier Handschriften i m R i c h t i g e n keinen Schluss darauf gestattet, dass diese Handschriften untereinander enger verwandt sind als mit einer dritten, die an der betreffenden Textstelle einen Fehler bzw. eine Innovation aufweist. Lejay hat dieses Prinzip im Jahre 1903 nach einigen früheren Ansätzen prägnant wie folgt ausgedrückt:115 Une famille de manuscrits est constituée par leurs fautes communes, ou, si l’on préfère ce terme plus exact, par leurs innovations communes. Ainsi, l’existence d’une série de leçons correctes et authentiques dans plusieurs manuscrits ne peut prouver que ces manuscrits dérivent d’une source commune. Les fautes seules sont probantes.
Wenn Lejay hier dem Begriff der „Innovation“ (innovation) vor dem des „Fehlers“ (faute) den Vorzug gibt, dann offenbar deshalb, weil er die genealogische Auswertung der Abweichungen von einer früheren Textstufe von den normativ-dogmatischen Implikationen einer Fehlerdiagnose entlasten will, deren Rechtfertigung nicht selten auf methodische Schwierigkeiten stößt.116 Indessen ist der Terminus „Innovation“ mit dem Nachteil behaftet, dass er unter Umständen auch so verstanden werden kann, als ob er sämtliche linguistischen, ins114 Timpanaro 1985 [Anm. 3], S. 58, Anm. 27 meinte, die Beschränkung auf die vitiorum communio („Fehlergemeinschaft“) bereits in dem Gratulationsschreiben Hermann Sauppes an Gottfried Hermann (1841) nachweisen zu können, doch an der betreffenden Stelle (Hermanni Sauppii epistola critica ad Godofredum Hermannum philologorum principem ante hos quinquaginta annos magisterii honores rite adeptum, Leipzig 1841, S. 6), findet sich nur das Begriffspaar similitudo et vitiorum communio („Ähnlichkeit und Fehlergemeinschaft“), dessen Deutung als Hendiadyoin („eine auf Fehlergemeinschaft gegründete Ähnlichkeit“) keineswegs zwingend ist, so dass hier von einem klaren A u s s c h l u s s a l l e r n i c h t - f e h l e r h a f t e n L e s u n g e n als Verwandtschaftskriterium noch keine Rede sein kann. 115 Paul Lejay: Compte-rendu de Aeli Donati quod fertur Commentum Terenti. Accedunt Eugraphi Commentum et Scholia Bembina. Vol. I recensuit Paulus Wessner, in: Revue critique d’histoire et de littérature 56, 1903, S. 168–172, hier: S. 171. Der Hinweis auf Lejay und auf den von uns zitierten Satz (wenn auch nicht auf dessen Fundstelle) ist Dom Jacques Froger: La critique des textes et son automatisation, Paris 1968 (Initiation aux nouveautés de la science 7), § 6, S. 42, zu verdanken. Nach Froger hat Lejay das Fehlerprinzip bereits seit dem Jahre 1888 wiederholt expliziert; für dieses Jahr selbst verweist Reeve [Anm. 17], S. 452 (= S. 58) auf P. Lejay, Compte rendu de R. Sabbadini, La critica del testo del De officiis di Cicerone e delle poesie pseudo-Vergiliane secondo due nuovi codici, in: Revue critique d’histoire et de littérature 26, 1888, S. 281–283, hier S. 282: „dans sa liste de variantes, il introduit de bonnes leçons de B H b qui ne prouvent rien. Si, en effet, BH b ont une bonne leçon contre une faute ou plutôt une innovation de M, cela ne peut prouver seulement que le copiste de M, comme tout autre, a ses fautes personnelles“. 116 Vgl. Trovato, Everything [Anm. 18], S. 54.
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besondere phonomorphologischen Neuerungen einschlösse, die durch Sprachwandel oder durch die Herkunft bestimmter Abschriften aus einem bestimmten Dialektgebiet bedingt sind, und die sich deshalb gerade nicht zu detaillierten genealogischen Analysen eignen. Gerade in der mittelalterlich-volkssprachlichen Literatur variiert die handschriftlich überlieferte S p r a c h f o r m in manchen Gattungen viel stärker als im Fall der griechischen und lateinischen Klassiker; deshalb sind Innovationen, die nicht den semantischen F o n d s , sondern die dialektale P a t i n a solcher mittelalterlichen Texte betreffen, genealogisch nur sehr eingeschränkt verwertbar.117 Zudem trägt auch der Innovationsbegriff immer noch nicht dem Sonderfall Rechnung, dass verschiedene Überlieferungszweige sich mitunter nicht oder nicht allein durch Innovationen voneinander unterscheiden, sondern (auch) durch eine verschiedene Auswahl unter von Anfang an überlieferten A u t o r e n v a r i a n t e n . 118 Andererseits bedarf auch der Fehlerbegriff der Präzisierung: Es sind nicht b e l i e b i g e Fehler, aus denen sich genealogische Schlussfolgerungen ziehen lassen, sondern nur ganz bestimmte. Für sie hat Paul Maas (1880–1964) in den Jahren 1930 und 1935 die Bezeichnung „L e i t k o r r u p t e¯ l “119 bzw. „L e i t f e h l e r “ eingeführt120 und damit Lejays Fehlerprinzip zum L e i t f e h l e r p r i n z i p weiterentwickelt. Des Näheren hat er 1937 festgestellt, dass ein Leitfehler entweder
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Vgl. Trovato ebd., S. 55 und S. 231–232. Pasquali, Storia [Anm. 16], S. 395–465. Methodisch vergleichbar, wenn auch ohne Festlegung auf den Autor als Urheber der Textvarianz, sind mittelalterliche Liedersammlungen, deren gesamte Überlieferung auf eine gemeinsame Vorstufe zurückgeht, in der Vortragsvarianten zur Wahl gestellt waren. Vgl. hierzu den Beitrag von Anna Kathrin Bleuler zum vorliegenden Band. 119 Paul Maas: Rezension von Two Theocritus Papyri, hg. v. Hunt-Jones, in: Gnomon 6, 1930, S. 561–564, hier: S. 561: „Das nebenstehende Stemma möge die Überlieferungsverhältnisse im Groben an einigen Leitkorruptelen veranschaulichen“. 120 Paul Maas: Eustathios als Konjekturalkritiker, in: Byzantinische Zeitschrift 35, 1935, S. 299–307 und S. 36, 1936, S. 27–31, hier: S. 299: „Zum Beweis der Unabhängigkeit [scil. der Athenaios-Epitome von der Athenaios-Haupthandschrift Marcianus A] würde ein einziger „Leitfehler“ von A genügen, d.h. eine Textstelle, die in Ep. heil, in A verdorben wäre, und zwar derart verdorben, daß die Verderbnis in der Zeit zwischen A und Ep. nicht durch Konjektur beseitigt worden sein kann“. Dazu Paul Maas: Leitfehler und stemmatische Typen, in: Byzantinische Zeitschrift 37, 1937 [im Folgenden: Maas, Leitfehler], S. 289–294 (wiederabgedruckt in Ders.: Textkritik, Vierte Auflage, Leipzig 1960 [im Folgenden: Maas, Textkritik4], S. 26–30), hier: S. 289 (= S. 26): „Wie die Geologen durch den Kunstausdruck ‚Leitfossilien‘ die für bestimmte Altersschichten der Erde kennzeichnenden Versteinerungen hervorheben, so habe ich die zu stemmatischen Folgerungen verwendbaren Fehler ‚Leitfehler‘ genannt (errores significativi)“. 118
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zum Trennfehler121 oder zum Bindefehler122 (oder zu beidem zugleich) qualifiziert sein muss; damit war der Gattungsbegriff des Leitfehlers durch die Bestimmung seiner beiden Arten bzw. der von jeder der beiden Arten jeweils ermöglichten Feststellungen („Unabhängigkeit eines Zeugen von einem anderen“ bzw. „Zusammengehörigkeit zweier Zeugen gegenüber einem dritten“) definiert. b) Archetypus:123 Der zentrale Terminus (codex) archetypus bzw. (exemplar) archetypon lässt sich in der verbreiteten modernen Bedeutung „verlorener, fehlerhafter, vom Original verschiedener Ausgangspunkt des gesamten uns vorliegenden Ausschnitts der Überlieferung“124 bereits im Jahre 1508 bei Erasmus von Rotterdam (ca. 1466–1536) belegen,125 und damit lange bevor er im Jahre 1833 von dem dänischen Philologen Johan Nicolai Madvig (1804–1886) gleich-
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Maas, Leitfehler [Anm. 120], S. 289 (= Textkritik4, S. 26): „Die Unabhängigkeit eines Zeugen (B) von einem anderen (A) wird erwiesen durch einen Fehler von A gegen B, der so beschaffen ist, daß er, nach unserem Wissen über den Stand der Konjekturalkritik in der Zeit zwischen A und B, in dieser Zeit nicht durch Konjektur entfernt worden sein kann. Solche Fehler mögen ‚Trennfehler‘ heißen (errores separativi).“ 122 Maas ebd., S. 290 (= S. 26): „Die Zusammengehörigkeit zweier Zeugen (B und C) gegenüber einem dritten (A) wird erwiesen durch einen den Zeugen B und C gemeinsamen Fehler, der so beschaffen ist, daß aller Wahrscheinlichkeit nach B und C nicht unabhängig voneinander in diesen Fehler verfallen sein können. Solche Fehler mögen ‚Bindefehler‘ heißen (errores coniunctivi).“ 123 Zur Sache vgl. Michael Reeve: Archetypes, in: Miscellanea Barigazzi = Sileno XI, 1985 (publ. 1987), S. 193–201, wiederabgedruckt in: Reeve [Anm. 17], S. 107–117. 124 Trovato, Everything [Anm. 18], S. 67 definiert den Archetypus als eine „lost copy marred at least by one error of the conjunctive type, from which the whole surviving tradition derives“, wozu wir folgende Präzisierung vorschlagen (Aristoteles, De motu animalium. Über die Bewegung der Lebewesen. Historisch-kritische Edition des griechischen Textes und philologische Einleitung von O. Primavesi. Deutsche Übersetzung, philosophische Einleitung und erklärende Anmerkungen von K. Corcilius, Hamburg 2018, S. XXXIII, Anm. 54): „Der Archetypus ist die späteste verlorene Abschrift, auf die die gesamte erhaltene direkte Überlieferung zurückgeht und die mindestens einen Fehler bindenden Charakters aufweist“. Anders Reeve [Anm. 123], S. 197–198 (= S. 112–14), der – im Anschluss an Pasquali [Anm. 16], S. XVI und S. XVIII – auch den erhaltenen Stammvater der gesamten ü b r i g e n Überlieferung gerne als Archetypus bezeichnen würde, aber zugleich sieht, dass der Archetypus dann einer doppelten Definition bedarf (Reeve ebd., S. 201 [= S. 117]): „latest common ancestor of the known witnesses; known witness when common ancestor of the rest“. 125 Vgl. die Selbstkorrektur bei Timpanaro 1985 [Anm. 3], S. 7–9 und dazu: Erasmi Roterodami adagiorum chiliades tres, ac centuriae fere totidem, Venedig 1508, fol. 67v, chilias prima, Nr. DXXXVI: „Postremo de codicum inter se consensu nequaquam mirandum uidebitur iis, qui sunt uel mediocriter in pensitandis, conferendisque codicibus exercitati. Fit enim saepenumero, u t u n i u s a r c h e t y p i m e n d u m , modo ueri fucum aliquem prae se ferat, in uniuersam deinde ueluti posteritatem librorum propagetur, καὶ παῖδας παίδων καί τοι μετόπισθε γένωνται“ (Sperrung von uns). Der abschließende Vers ist ein teils an den Kontext adaptiertes, teils fehlerhaftes Zitat von Ilias 20 (Υ), Vers 308: καὶ παίδων παῖδες, τοί κεν μετόπισθε γένωνται.
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sam revitalisiert und in die moderne Editionsphilologie eingeführt wurde.126 Mithin darf man sich nicht, wie es selbst Giorgio Pasquali unterlaufen ist, dadurch in die Irre führen lassen, dass Lachmann selbst diesen Begriff auf der ersten Seite seines Lukrez-Kommentars von 1850 als seinen höchsteigenen Sprachgebrauch vorstellt („ita appellare soleo“).127 c) Stemma:128 Lachmann sah zwar in der Bestimmung der genealogischen Beziehungen zwischen den erhaltenen Handschriften eines Werkes unbestrittenermaßen die condicio sine qua non für die methodische Rekonstruktion einer den erhaltenen Handschriften vorausliegenden Textstufe. Doch trifft es durchaus nicht zu, dass, wie Pasquali einmal schrieb, der e i n g e s t a n d e n e Z w e c k des von Lachmann gewiesenen Weges in der Aufstellung eines Stemma bestanden hätte,129 im Gegenteil: Lachmann hat genealogische Beziehungen zwischen Handschriften zeitlebens nie mittels eines stemma codicum veranschaulicht,130 obwohl eine derartige graphische Veranschaulichung nicht nur längst postuliert, sondern inzwischen auch praktisch erprobt worden war: Zum einen hatte der bereits erwähnte schwäbische Theologe Johann Albrecht Bengel (1687–1752) bereits im Jahre 1734 eine „Tabula genealogica“ der Handschriften als Zu-
126 Timpanaro 1985 [Anm. 3], S. 57 mit Hinweis auf den bereits 1833 erstmals gedruckten ersten Teil von Madvigs „De emendandis Ciceronis orationibus pro P. Sestio et in P. Vatinium disputatio“; im Folgenden zitiert nach: Io. Nicolai Madvigii Opuscula academica, ab ipso collecta, emendata, aucta, Kopenhagen 1834, S. 411–536, hier: S. 415 und insbesondere S. 416: „qui c o d i c e m a r c h e t y p u m scripsit, id est, eum, ex quo nostri ducti sunt tanquam ex capite rivuli“ (Sperrung von uns); vgl. auch das Stemma auf S. 417. 127 Karl Lachmann: In T. Lucretii Cari De rerum natura libros commentarius, Berlin 1850 [im Folgenden: Lachmann, Commentarius], S. 1. Dazu Pasquali, Storia [Anm. 16], S. 3; dagegen Timpanaro 1985 [Anm. 3], S. 65: „Con lo stesso tono da gran signore egli attribuì a se stesso l’adozione del termine archetypon in senso tecnico, che era invece dovuta, come abbiamo visto, al Madvig – e il Madvig era stato già seguìto in ciò dal Purmann e dal Bernays –.“ Diese Zuschreibung an Madvig hatte Timpanaro inzwischen aufgrund einer korrigierten Auffassung des bereits von Erasmus geleisteten Beitrags modifiziert, vgl. Timpanaro 1985 [Anm. 3], S. 7–9. 128 Zur Sache vgl. das 2020 von Philipp Roelli herausgegebene und von uns bereits oben [Anm. 19] zitierte Handbook of Stemmatology. History, Methodology, Digital Approaches. 129 Vgl. Giorgio Pasquali: Rezension von Paul Maas: Textkritik, in: Gnomon 5, Heft 8, 1929, S. 417–435 und Heft 9, 1929, S. 498–521 [im Folgenden: Pasquali, Rezension Maas], hier: S. 429: „In diesem Fall [scil. bei der Juvenalüberlieferung] erweist der von Lachmann gewiesene Weg als ungangbar, sein eingestandener Zweck, die Aufstellung eines Stemma, als zwecklos“. 130 Timpanaro 1985 [Anm. 3], S. 56: „il Lachmann prediligeva lo stile oracolare, le sentenze fatte cadere dall’alto e intelligibili ai soli iniziati. Anche per questo egli non adottò (nemmeno nelle sue ultime edizione, come vedremo) l’uso degli stemmata codicum, sebbene esso si diffondesse rapidamente“; vgl. auch Timpanaro ebd., S. 73.
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kunftsaufgabe der neutestamentlichen Textkritik bestimmt;131 zum andern wurde das erste stemma codicum, unter dem Titel „schema cognationis“, dann 1827 zu Stockholm vorgelegt,132 und zwar in einer Edition mittelalterlicher västergötländischer Gesetze („Västgötalagen“),133 in die es bezeichnenderweise als editorische Zugabe zur Reproduktion eines handschriftlich überlieferten Baumdiagramms aufgenommen wurde,134 welches der Veranschaulichung mittelalterlicher F a m i l i e n v e r h ä l t n i s s e dient (Abb. 1, rechts unten).135 Erst vier Jahre später, im Jahre 1831, wurde ein stemma codicum auch von einem klassischen Philologen veröffentlicht, nämlich von Karl Gottlob Zumpt (1792–1849) in seiner editio maior von Ciceros Reden gegen Verres.136 In diesem Zusammenhang ist auch ein kritischer Blick auf diejenige latinistische Edition zu werfen, die traditionell als Lachmanns Meisterstück gilt, nämlich auf die kurz vor seinem Tode veröffentlichte Lukrezausgabe von 1850. Die von uns 131 Bengel [Anm. 39], S. 387, § XXIX.: „Posset variarum lectionum ortus, per singulos codices, per paria codicum, per syzygias minores majoresque, per familias, tribus, nationesque illorum, investigari & repræsentari: & inde propinquitates discessionesque codicum ad schematismos quosdam reduci, & schematismorum aliquæ concordantiæ fieri; atque ita res tota p e r t a b u l a m q u a n d a m q u a s i g e n e a l o g i c a m oculis subjici“ (Sperrung von uns). Dazu Pasquali, Storia [Anm. 16], S. 9–10. 132 Hierzu die Selbstkorrektur bei Timpanaro 1985 [Anm. 3], S. 51–52 mit Verweis auf Gösta Hölm: Carl Johan Schlyter and Textual Scholarship, in: Saga och sed. Kungliga Gustav Adolfs Akademiens Årsbok 1972, hg. v. Dag Strömbäck, Uppsala 1972 (Annales Academiae Regiae Gustavi Adolphi MCMLXXII), S. 48–80. 133 Corpus iuris Sueo-Gotorum antiqui, Vol. I, Samling Af Sweriges Gamla Lagar, på Kongl. Maj:ts nådigste befallning utgifven af D. H(ans) S(amuel) Collin och D. C(arl) J(ohan) Schlyter, Första Bandet, Codex iuris Vestrogotici. Westgöta-Lagen, Stockholm 1827, hos Z. Haeggström, hier: Tabula III (im Anhang). 134 Die Tabula III gibt die in einem Pergamentcodex der K. Bibliothek Stockholm (sign. B. 58, beschrieben auf S. XIV–XXI der Praefatio von Collin/Schlyter) auf den Folien 99v und 100r überlieferte „Tabula Consanguinitatis“ wieder (vgl. im Text S. 247–248 mit Anm. 57), doch als editorische Zugabe findet sich rechts unten ein „Schema Cognationis Codicum manusc(riptorum)“, das in der Praefatio von Collin/Schlyter, S. XXXVI angekündigt wurde: „Quo evidentius appareat mutua illorum codicum nunc descriptorum ratio, qui continent textum Iuris VG. antiquioris vel recentioris, vel partem aliquam illius textus, hanc rationem, prout ex iis, in quibus inter se conveniunt aut differunt codices, iudicare potuimus, schemate quodam cognationis Tab. III, exprimere tentavimus.“ 135 Dazu Carlo Ginzburg: Familienähnlichkeiten und Stammbäume, in: Generation. Zur Genealogie des Konzepts – Konzepte von Genealogie, hg. v. Sigrid Weigel u.a., Paderborn 2005, S. 267–288, hier: S. 282–283: „Bislang ist nicht bemerkt worden, daß Schlyter möglicherweise durch den Inhalt des von ihm kommentierten Textes ermutigt wurde, ein Baumdiagramm zu verwenden. Denn das erste stemma codicum […] folgt unmittelbar auf eine […] Stammbaumdarstellung des komplizierten Geflechts von Familienverhältnissen, das aus dem juristischen Text hervorgeht, der auf den vorangegangenen Seiten wiedergegeben worden war.“ 136 M. Tulli Ciceronis Verrinarum libri septem. Ad fidem codicum manu scriptorum recensuit et explicavit Car(olus) Timoth(eus) Zumptius, Berlin 1831, S. XXXVIII.
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Abb. 1: Schema Cognationis codicum manuscriptorum (1827). Aus Collin/Schlyter: „Westgötalagen“ (Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek).
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bereits einleitend erwähnte unvergleichliche Außenwirkung dieser Ausgabe als w e r b e n d e s P a r a d i g m a für die historisch-kritische Editionsmethode beruhte in erster Linie darauf, dass Lachmann für das archetypon, welches er anhand der der beiden ältesten vollständig erhaltenen, ihm aus Leiden nach Berlin gesandten Lukrezhandschriften rekonstruiert hatte, die Anzahl sowohl der Zeilen pro Seite – nämlich 26 – als auch der Seiten – nämlich 302 – angeben konnte,137 und dass er damit eine bloß erschlossene Vorlage gleichwohl als ein konkretes Buch fassbar machte. Doch den entscheidenden Fortschritt bei der Aufklärung der Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den ältesten erhaltenen, aus dem IX. Jahrhundert stammenden Handschriften hatte bereits drei Jahre vor Lachmann der junge, später als Deuter der Aristotelischen Katharsis berühmt gewordene Jacob Bernays (1824–1881) erzielt: Im Jahre 1847 veröffentlichte Bernays eine wegweisende Darstellung der Überlieferungsverhältnisse im Lukrez und veranschaulichte sie durch ein stemma codicum, ohne dass Lachmann auf diese Leistung seines Vorgängers ernsthaft eingegangen wäre, geschweige denn sich an Bernays’ Stemma ein Beispiel genommen hätte.138 Demgegenüber liegt, wie bereits bemerkt, Lachmanns wissenschaftliche Hauptleistung im textkritischen Kommentar zu seinem Lukrez-Text. Im Übrigen war sich schon Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff (1848–1931), der in seiner „Geschichte der Philologie“ (1921) Lachmanns textkritischen Kommentar zu seiner Lukrez-Ausgabe geradezu als Schulbeispiel der „kritischen Methode“ würdigte,139 gleichwohl bewusst, dass Lachmann die Verwandtschaftsverhältnisse zwischen den Handschriften keineswegs abschließend geklärt hatte (unabhängig von der Frage, ob eine solche Klärung nun durch ein Stemma veranschaulicht wird oder nicht). Dies zeigt eine von Fiesoli140 ans Licht gezogene Bemerkung in einem Brief von Wilamowitz an Theodor Mommsen vom Sommer 1886:141 137 Lachmann, Commentarius [Anm. 127], S. 1. Vgl. hierzu Timpanaro 1985 [Anm. 3], S. 68–69 und Fiesoli [Anm. 2], S. 245–247. 138 Timpanaro 1985 [Anm. 3], S. 64–73, mit Hinweis auf Jacob Bernays, De emendatione Lucretii, in: Rheinisches Museum für Philologie 5, 1847, S. 533–587 (mit Corrigendum S. 640); das Stemma findet sich dort auf S. 570, Anm. **). Dazu Kenney [Anm. 10], S. 107: „Yet the language in which in another letter he [d.h. Lachmann] refers to Bernays’s work on Lucretius does not suggest that in that instance it was the truth at all costs that was his main preoccupation.“ Vgl. auch John Glucker: ‘Lachmann’s Method’ – Bernays, Madvig, Lachmann and Others, in: Jacob Bernays. Un philologue juif, hg. v. John Glucker und André Laks, Lille 1996 (Cahiers de Philologie 16), S. 45–56, sowie den Beitrag von Marcus Deufert zum vorliegenden Band. 139 Wilamowitz, Geschichte [Anm. 12], S. 59. 140 Fiesoli [Anm. 2], S. 436, Fortsetzung der Anm. 242 zu S. 435. 141 Wir zitieren den Brief nach der Neuedition in: „Aus dem Freund ein Sohn“. Theodor Mommsen und Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Briefwechsel 1872–1903, hg. und kommentiert v. William M. Calder III und Robert Kirstein, Bd. 1, Hildesheim 2003, S. 376–377, Brief Nr. 226, Wilamowitz an Mommsen, 26. Juni 1886, hier: S. 377.
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ich bin sehr für’s wegwerfen von ballast; aber ohne einsicht in die affiliation der codd. ist das ein wagstück – das freilich Lachmann geglückt ist.
Nach dem Urteil von Wilamowitz hat Lachmann also die Rekonstruktion des Lukrez-Archetypus riskiert – und zwar: mit Erfolg riskiert –, o h n e die „affiliation der codd.“, d.h. die zwischen den Handschriften bestehenden genealogischen Beziehungen, zu überblicken. d) Mechanische recensio: Nachdem unsere ersten drei Punkte sich auf Konzepte bezogen haben, deren Erfindung bzw. Verwendung Lachmann zu Unrecht zugeschrieben wurde, sei an vierter und letzter Stelle auf die in der Tat von Lachmann selbst aufgestellte Forderung eingegangen, die recensio, d.h. die Erhebung des Befundes der handschriftlichen Überlieferung, müsse „ohne Interpretation“ (sine interpretatione) durchgeführt werden.142 Diese Forderung hat Timpanaro nämlich zu Unrecht als eine reine Prahlerei („una pura vanteria“) kritisiert und damit gewissermaßen auch selbst zu dem Phantasma beigetragen, dessen Destruktion er erstrebte: Gegen Lachmanns Forderung wendet Timpanaro ein, dass die Klassifikation von Handschriften ohne ein – wie auch immer elementares – Verständnis ihrer Lesungen gar nicht denkbar sei, und dass die unter zwei überlieferungsgeschichtlich gleich gut bezeugten Varianten zu treffende Wahlentscheidung nur anhand interner, d.h. die sprachliche und inhaltliche Qualität der Varianten betreffender Kriterien möglich sei: In beiden Fällen sei Interpretation also unabdingbar.143 Gegen diese Kritik hat im Jahre 1995 Giovanni Orlandi144 mit Recht zu bedenken gegeben,145 dass Timpanaro Lachmanns Forderung aus ihrem Zusammenhang gerissen hat. An der betreffenden Stelle (d.h. zu Beginn der Praefatio seiner zweiten Edition des Neuen Testaments von 1842) will Lachmann das Verhältnis von Urteilsvermögen (iudicandi facultas) und Textauslegung (interpretatio) in der Arbeit des Philologen bestimmen. Zwar spricht Lachmann hier von dem philologischen Urteilsvermögen in einem viel engeren Sinn, als es der allgemeine, logische Begriff des Urteils nahelegen könnte. Doch ist für ihn der Begriff des iudicium immer noch weiter als derjenige der interpretatio, da das eigene U r t e i l des Editors nach seiner Meinung an a l l e n von ihm unterschiedenen philologischen Arbeitsschritten
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Lachmann, Buttmann [Anm. 44], Tom. 1, S. V. Timpanaro 1985 [Anm. 3], S. 48: „Ma il recensere sine interpretatione era, da parte dello stesso Lachmann, una pura vanteria, non solo perché egli doveva pur intendere le lezioni dei manoscritti per poterli classificare, ma anche perché, una volta compiuta l’eliminatio lectionum singularium, restava una gran massa di varianti di pari autorità documentaria tra cui anch’egli doveva scegliere in base a criteri interni.“ 144 Orlandi (1938–2007) war von 1977 bis 2005 Ordinarius für Mittellateinische Philologie zu Mailand. 145 Giovanni Orlandi: Perché non possiamo non dirci lachmanniani, in: Filologia mediolatina. Rivista della Fondazione Ezio Franceschini II, 1995, S. 1–42, hier: S. 10–13. 143
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teils beteiligt sein kann, teils beteiligt sein muss, während die philologische Te x t a u s l e g u n g bei e i n e m dieser Arbeitsschritte, der recensio, grundsätzlich nichts zu suchen habe. Während nämlich bei der Emendation des Textes und erst recht bei der Beurteilung seiner Authentizität und bei seiner historischen bzw. literarhistorischen Einordnung die Urteilsbildung (iudicare) nur in Verbindung mit der Interpretation möglich sei, habe der Philologe bei der Feststellung der Überlieferung (recensio) zwar unter Umständen auf sein eigenes Urteil, aber keinesfalls auf eine Interpretation zurückzugreifen.146 Der Gegenbegriff zu dem von Lachmann in der Tat abgelehnten Verfahren einer ‚recensio mit Interpretation‘ ist hier also nicht durchweg, wie Timpanaro offensichtlich annahm, eine ‚rein mechanische recensio‘, sondern gegebenenfalls auch eine ‚recensio mit Urteil‘, und das ist für Lachmann gerade nicht dasselbe, wie wir noch sehen werden. Was zunächst die K l a s s i f i k a t i o n der neutestamentlichen Handschriften betrifft, so vertritt Lachmann – unter Vereinfachung einer Hypothese von Johann Jacob Griesbach (1745–1812)147 und unter Auswertung des von diesem bereitgestellten Lesartenmaterials – die Auffassung, dass diejenigen Lesartendifferenzen, die die Überlieferung in ihrem gesamten Umfang erfassen, auf eine grundlegende Überlieferungsspaltung in z w e i g e o g r a p h i s c h d i s t i n k t e H a n d s c h r i f t e n f a m i l i e n schließen lassen. Der Text der einen, westlichen Familie entspricht dem von Irenäus von Lyon (ca. 130–200 n. Chr.) und den späteren westlichen Kirchenvätern zitierten und in der Vetus Latina übersetzten Text; der Text der östlichen Familie wird von Origenes (ca. 185–255 n. Chr.) und den späteren östlichen Kirchenvätern zitiert und von den ältesten griechischen Handschriften überliefert:148 Dass jener durchgängige Gegensatz sich schon zwischen Irenäus und Origenes findet, den ersten Schriftstellern des Occidents und des Orients, deren Zeugnisse zuverlässiger und reicher sind, dass der Gegensatz dauert, dass mit den occidentalischen Vätern die Uebersetzungen vor Hieronymus, mit den orientalischen aber die ältesten bloss griechischen Handschriften sammt einer koptisch-
146 Lachmann/Buttmann [Anm. 44], Tom. 1, S. V: „ante omnia quid fidissimi auctores tradiderint quaerendum est, tum quid a scriptoris manu venire potuerit iudicandum, tertio gradu quis quo tempore qua condicione quibus adminiculis usus scripserit explorandum. ex auctoribus quaerere, quod primo loco posui, id quod recensere dicitur, sine interpretatione et possumus et debemus: contra interpretatio, nisi quid testes ferant intellectum fuerit, locum habere, nisi de scriptore constiterit, absolvi non potest: rursus emendatio et libri originis investigatio, quia ad ingenium scriptoris cognoscendum pertinet, tamquam fundamento nititur interpretatione.“ 147 Zu Griesbachs Leistung und Wirkung als Textkritiker des Neuen Testaments vgl. Aland & Aland [Anm. 29], S. 19–20. 148 Lachmann, Rechenschaft [Anm. 28], S. 825.
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griechischen (Evang. T.)149 übereinstimmen, das sind die Erscheinungen, welche Griesbach hinlänglich erwiesen hat.
Auf dem Weg von dieser Spaltungsdiagnose zur Zuordnung einer einzelnen Handschrift an die westliche oder an die östliche Familie und sodann zur Feststellung der Lesarten bzw. Variantenpaare, die im Einzelfall als überliefert gelten dürfen, kommt die von Lachmann entworfene Methode der recensio nun offenkundig nicht nur ohne interpretatio aus, sondern auch ohne philologisches iudicium im Lachmannschen Sinne:150 ich bin, wie gesagt, gar noch nicht auf die wahre Lesart aus, die sich freilich gewiss oft in einer einzelnen Quelle erhalten hat, ebenso oft aber auch gänzlich verloren ist, sondern nur auf die älteste unter den erweislich verbreiteten. Und hier kann ich nur die Quellen nach der überwiegenden Masse der Lesarten unter die zwei Familien verteilen. [I.] Was beiden gemeinschaftlich ist, sey es eins oder schwanken beide Klassen in gleicher Art, die eine oder die mehreren Lesarten zeigen sich als verbreitet und sind des Textes würdig: [II.] für gleich begründet gilt mir die Lesart der einen Klasse und die ihr entgegengesetzte der andern: [III.] verwerflich ist (wenn auch vielleicht einzig wahr), für die nur ein Theil der einen von beiden Klassen zeugt. Nur soweit führt uns der vorgezeichnete Weg, nicht selten zu einer m e h r f a c h e n verbreiteten Lesart.
Demnach wäre die für die Zuweisung einer NT-Handschrift an die westliche oder an die östliche Familie erforderliche grobe Klassifikation ihrer Lesarten auf gleichsam s t a t i s t i s c h e m Wege ins Werk zu setzen, „die Quellen nach der überwiegenden Masse der Lesarten unter die zwei Familien“ zu verteilen. Bei einem solchen statistischen Vorgehen aber darf wohl auch ohne die von Timpanaro gerügte „Prahlerei“ von einem mechanischen Verfahren die Rede sein. Hingegen ergibt sich die Bedeutung, die Lachmann bei der recensio der philologischen Urteilsbildung zumisst, aus seinem im zweiten Teil der zitierten Stelle beschriebenen Verfahren bei der Auswahl zwischen konkurrierenden Lesarten. Hierzu stellt er abschließend fest: „Nur soweit führt uns der vorgezeichnete Weg“, wobei er die Einschränkung „nur soweit“ sogleich durch den Zusatz erläutert: „nicht selten zu einer m e h r f a c h e n verbreiteten Lesart“. Damit markiert Lachmann die G r e n z e des „vorgezeichneten“ Weges, d.h. des mechanischen Rekonstruktionsverfahrens: Dieses mechanische Verfahren führt nach Lachmann nicht immer zur Entscheidung für eine bestimmte Lesart, sondern „nicht selten“ nur zur Identifikation eines altüberlieferten Variantenpaares, 149 Zur Evangelienhandschrift T (= 029 Gregory-Aland) vgl. Paul Canart: Note sur le manuscrit T ou 029 du Nouveau Testament, in: Biblica 84, 2003, S. 274–275. Es handelt sich um insgesamt 23 Blätter aus einer Pergament-Bilingue (verso: Griechisch; recto: Koptisch, genauer: Sahidisch) des 5. Jahrhunderts n. Chr. mit Bruchstücken aus dem Lukas- und aus dem Johannesevangelium; die Blätter werden heute teils in der Biblioteca Apostolica Vaticana (codex Borgianus copticus 109), teils in der Pierpont Morgan Library zu New York und teils in der Bibliothèque Nationale zu Paris aufbewahrt. 150 Lachmann, Rechenschaft [Anm. 28], S. 826.
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nämlich bei dem zweiten der drei hier aufgeführten Fälle durchweg und im ersten Fall bei der zweiten der beiden dort unterschiedenen Konstellationen. Die Entscheidung zwischen zwei solchen Lesarten kann man nun entweder, wie es später Paul Maas getan hat, unter dem Titel selectio aus der recensio ausgliedern, oder man kann diese Entscheidung gleichwohl noch der recensio zuordnen, muss dann aber annehmen, dass die recensio in diesen Fällen eben n i c h t auf mechanischem Wege abgeschlossen werden kann, sondern vielmehr, bei ihrem letzten Schritt, auf das eigene Urteil (iudicium) des Editors angewiesen ist. Eben die letztgenannte Auffassung war nun diejenige Lachmanns, wie die Einleitung zu seinem Lukrezkommentar außer Zweifel stellt. Dort geht er nämlich an einer – im vorliegenden Band von Marcus Deufert ausführlich behandelten – Stelle auf den Fall ein, dass die beiden Haupthandschriften des Lukrez voneinander abweichen, ohne dass eine der beiden divergenten Lesarten durch das ihr entgegenstehende Zeugnis des jeweils auf der gleichen Seite der Überlieferung stehenden zusätzlichen Zeugen als sekundärer Fehler erwiesen würde (Übersetzung von uns):151 Wo auch immer der Vergleich zwischen den vertrauenswürdigen Textzeugen zeigt, dass der Archetypus eine Doppellesart aufwies – und dies ist der Fall, so oft der Leidensis oblongus und der Leidensis quadratus voneinander abweichen, ohne dass einer der beiden Codices durch die Schedae oder die italischen Handschriften eines Fehlers überführt würde –, ü b e r a l l d o r t i s t z u r r e c e n s i o d a s e i g e n e U r t e i l ( i u d i c i u m ) h e r a n z u z i e h e n , und man kann dann sogar mit größerer Sicherheit entscheiden, welche der beiden Lesungen die richtige ist oder doch der richtigen näher kommt, als man sagen kann, welche der beiden Lesungen die ältere ist.
Auf die an sich gewiss auffällige und für den erwähnten Beitrag von Marcus Deufert zentrale Tatsache, dass Lachmann hier das Nebeneinander zweier gleich gut bezeugter Varianten prinzipiell bereits in den Archetypus zurückverlagert, statt auch bei dessen unmittelbaren (erhaltenen oder verlorenen) Abschriften noch mit substantiellen Innovationen zu rechnen,152 kommt es im gegenwärtigen Zusammenhang nicht an. Für unsere Frage ist vielmehr allein die Tatsache entscheidend, dass nach Lachmann erst für die Entscheidung zwischen zwei gleich gut bezeugten Varianten das philologische iudicium benötigt wird, wenn auch 151 Caroli Lachmanni in T. Lucretii Cari De rerum natura libros commentarius, Berlin 1850, S. 10: „ubicumque testimoniis fide dignis inter se collatis perspicuum est in archetypo scripturam fuisse duplicem (hoc autem ita est, quotiens oblongus et quadratus inter se dissentiunt, neque eorum alterutrum peccare aut e schedis aut ex Italicis sive manu scriptis sive impressis apparet), a d r e c e n s i o n e m i u d i c i u m a d h i b e n d u m e s t , neque tam certo utra scriptura antiquior fuerit dici potest, quam utra aut vera aut verae propior sit disputari“ (Sperrung von uns). 152 Vgl. dazu einstweilen nur Pasquali, Rezension Maas [Anm. 129], S. 498: „Schon Lachmann hatte an Doppellesarten in seinem Lucrezarchetypus gedacht; er nahm sogar grundsätzlich solche überall da an, wo sein mechanisches Eliminationsverfahren versagte, was uns Neueren etwas zu freigebig, verschwenderisch vorkommt“.
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immer noch keine interpretatio. Demnach operiert er nicht mit dem binären Gegensatz ‚rein mechanisches Verfahren vs. Interpretation‘, den Timpanaro ihm in seiner Kritik unterstellt, sondern vielmehr mit der dreifachen Abstufung: – Mechanischer Teil der recensio: Gruppierung der Handschriften und Feststellung der Mehrheitslesarten ohne iudicium und ohne interpretatio; – Gegebenenfalls nicht-mechanischer Abschluss der recensio: Auswahl unter gleich gut bezeugten Varianten mittels des bloßen iudicium ohne interpretatio. – Nach der recensio: Konjekturalkritik, Echtheitskritik und geschichtliche Einordnung, mittels eines auf interpretatio gestützten iudicium.
Nun mag man aus heutiger Sicht gewiss bezweifeln, ob das Begriffspaar ‚Urteil ohne Interpretation/Urteil mit Interpretation‘ geeignet ist, den kategorialen Unterschied zwischen selectio einerseits und Konjektural- bzw. Echtheitskritik andererseits zu charakterisieren. Aber d a s s hier ein kategorialer Unterschied vorliegt, steht doch wohl außer Frage. An die Verwerfung der einzigen, einhellig überlieferten Lesart zugunsten einer freihändigen Konjektur muss nämlich klarerweise ein gänzlich anderer Maßstab angelegt werden als an die Verwerfung einer von zwei gleich gut überlieferten Varianten zugunsten der anderen, sei es auch nur leicht überlegenen Variante, wie der große Horaz-Editor Otto Keller in seinen „Epilegomena zu Horaz“ (1880) mit Recht betont hat:153 Es fragt sich also zunächst, nicht welche von zwei handschriftlich bezeugten Lesarten wir wählen wollen, sondern ob die einzige Lesart des Archetyps gehalten werden kann oder nicht.
An der hier von Keller bezeichneten Trennlinie verläuft für Lachmanns Begriffe die Grenze zwischen der auf ein ‚Urteil ohne Interpretation‘ gestützten Schlussphase der recensio einerseits und der nicht mehr zur recensio zu rechnenden, auf ein ‚Urteil mit Interpretation‘ gestützten Verwerfung der Überlieferung mit anschließender Konjekturalkritik andererseits. Die abschließende S y n t h e s e derjenigen klassisch-philologischen Editionsmethode aber, die (a) durch das zum Leitfehlerprinzip präzisierte Fehlerprinzip, (b) durch das Ziel der Rekonstruktion des Archetypus, (c) gegebenenfalls durch die graphische Veranschaulichung der Handschriftengenealogie mittels eines stemma codicum und (d) durch eine soweit jeweils möglich mechanische Feststellung der Überlieferung (recensio) charakterisiert ist, wurde vollends nicht etwa von Lachmann geleistet, sondern, erst gut 75 Jahre nach Lachmanns Tod, von dem bereits erwähnten Paul Maas.154 Deshalb ist es unsachgemäß und in 153 Otto Keller: Epilegomena zu Horaz. Zweiter Theil. Leipzig 1880, S. 356, zu Hor. Epod. I, 26. 154 Vgl. Paul Maas: Textkritik, in: Einleitung in die Altertumswissenschaft, hg. v. Alfred Gercke†, Eduard Norden, Dritte Auflage des Gesamtwerks, Bd. I, Heft 2, Leipzig, Berlin 1927; sowie Maas, Leitfehler [Anm. 120]. Beide Arbeiten zusammen zuletzt abgedruckt in: Maas, Textkritik4 [Anm. 120].
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der klassischen Philologie auch unüblich, diese Methode als ‚Lachmannsche Methode‘ zu bezeichnen.155 Zwar will die Methode zweifellos einen Weg zur Verwirklichung des von Lachmann (im Anschluss an Bentley) aufgestellten Programms einer streng historischen Textkritik bieten, und daran dürfte Egert Pöhlmann gedacht haben, als er im Rahmen der von ihm herausgegebenen „Einführung in die Überlieferung und die Textkritik der antiken Literatur“ und anschließend an ein Résumé von Timpanaros Lachmann-Forschung den Neologismus „Lachmann-Maassche Methode“ prägte.156 Doch der Bindestrich zwischen „Lachmann“ und „Maas“ in Verbindung mit dem Methodenbegriff bringt Timpanaros Buch, auf das Pöhlmann sich beruft, um seine kritische Pointe, die ja der Sache nach gerade darin besteht, das unanalysierte Amalgam aus Lachmanns frühem Programm und der zu guter Letzt von Maas kodifizierten Methode aufzulösen. 1.2.4 Klassische Philologie II: Die Gegenbewegung bei Schwartz, Pasquali und Emonds Lachmann selbst wird durch die im Vorstehenden umrissene Aufdeckung des ‚Lachmann-Phantasma‘ nicht getroffen (wenn man einmal von seiner hochgemuten Selbstzuschreibung des Archetypus-Begriffs absieht), im Gegenteil: Die Bedeutung Lachmanns für die Methode der neueren Editionsphilologie beruht wesentlich darauf, dass die von ihm programmatisch geforderte streng historische Textkritik sowohl von ihm selbst als auch von späteren Philologen auch auf anderen Wegen betrieben worden ist als mittels der ihm fälschlich zugeschriebenen ‚Lachmannschen Methode‘, ja in radikaler Frontstellung gegen diese, und dass man sich gerade für diesen Methodenpluralismus, und zwar zu Recht, auf Lachmann berufen hat. Die hierfür entscheidende Weichenstellung in der Geschichte der Editionsphilologie brachte die dreibändige Edition des griechischen Textes der „Kirchengeschichte“ des Eusebios von Kaisareia (ca. 260–340 n. Chr.), die der oben bereits als Lachmann-Anhänger vorgestellte Gräzist Eduard Schwartz zwischen 1903 und 1909 herausbrachte.157 Die Überlieferung der Kirchengeschichte durch 155 Mit unverkennbarem Bezug auf Paul Maas spricht Giorgio Pasquali, der sein Buch „Storia della tradizione e critica del testo“ [Anm. 16] mit einem Kapitel „Il metodo del Lachmann“ eröffnet, in seiner Rezension von Paul Collomp: La critique des textes, in: Gnomon 8, Heft 3, 1932, S. 127–134, hier: S. 130 von „der Methode, die nach Lachmann genannt ist, die aber in neuester Zeit sehr wesentlich über Lachmann hinausgekommen ist“. 156 Pöhlmann [Anm. 4], S. 139. 157 Eduard Schwartz (Hg.): Eusebius Werke, Zweiter Band: Die Kirchengeschichte, herausgegeben im Auftrage der Kirchenväter-Commission der königl. Preussischen Akademie der Wissenschaften. Die lateinische Übersetzung des Rufinus, bearbeitet im gleichen Auftrage von Theodor Mommsen, Erster Teil, Die Bücher I bis V, Leipzig 1903. – Zweiter Teil, Die Bücher VI bis X. Über die Märtyrer in Palästina, Leipzig 1908. – Dritter Teil, Einleitungen, Übersichten und Register, Leipzig 1909.
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griechische Handschriften,158 die bereits im 10. Jahrhundert einsetzt, teilt sich nach Schwartz in zwei Gruppen, die auf z w e i a n t i k e A u s g a b e n d e s We r k e s zurückgehen: die eine Gruppe159 auf die bald nach 325 n. Chr. von Eusebios selbst bearbeitete Ausgabe letzter Hand, die andere Gruppe160 auf eine postume Überarbeitung eben dieser Ausgabe, bei der aus der vorletzten Ausgabe einige Abschnitte wieder eingefügt wurden, die Eusebios in der Ausgabe letzter Hand aus politischen Gründen gestrichen hatte.161 Obwohl sich die Handschriften beider Gruppen in ihren Lesarten auch sonst vielfach voneinander abheben, ist das binäre Bild nicht nur allerorten durch Änderungen und Zusätze (‚Interpolationen‘) in Untergruppen wie in einzelnen Handschriften getrübt; vielmehr kommt es auch vor, dass eine Handschrift der einen Gruppe mit Lesungen aus der anderen Gruppe kontaminiert ist,162 und wieder andere Umarbeitungen betreffen bestimmte Handschriftenkonstellationen, die über die Grenze der beiden ursprünglichen Gruppen hinweg sekundär neu gebildet wurden.163 Zu allem Überfluss beweisen zwei um 400 n. Chr. entstandene Übersetzungen ins Lateinische bzw. ins Syrische,164 dass die vielfältige Kontamination und Interpolation des Textes bereits vor 400 n. Chr. ein158 159 160
Schwartz 1909 [Anm. 157], S. XVII–XLI. Parisinus gr. 1431 (B), Parisinus gr. 1433 (D), Marcianus gr. 338 (M). Parisinus gr. 1430 (A), Laurentianus 70,7 (T), Laurentianus 70, 20 (E), Mosquensis 50
(R). 161 Nach Schwartz 1909 [Anm. 157], S. XLVII–LXI hat Eusebios in der von den Handschriften BDM überlieferten Ausgabe letzter Hand die Darstellung der Kirchengeschichte bis zu der von Kaiser Konstantin I. im Frühjahr 325 durch Hinrichtung seines Schwagers und ehemaligen Mitkaisers Licinius gesicherten Alleinherrschaft fortgeführt, und zwar unter Tilgung (damnatio memoriae) sämtlicher in der vorletzten Ausgabe stehenden Erwähnungen des Licinius, die Eusebios vor dem endgültigen Bruch zwischen Konstantin und Licinius (323) formuliert hatte; gestrichen hat er damals z.B. die Titulatur des Licinius im Präskript des kaiserlichen Edikts von 311 über die Beendigung der 303 begonnenen Christenverfolgung. Die Handschriften ATER hingegen überliefern die Version eines späteren Bearbeiters, der die getilgten „Licinius-Stellen“, die er einem geretteten Exemplar der vorletzten Ausgabe entnahm, in eine Abschrift der Ausgabe letzter Hand wieder einfügte. 162 Nach Schwartz ebd., S. CXXVII– CXXVIII geht der Marcianus M auf eine verlorene Vorlage zurück, die, obwohl von Hause aus zur ersten Gruppe gehörend, mit zahlreichen, meist falschen Lesarten der zweiten Gruppe, genauer: einer Untergruppe (TER) derselben, annotiert war, die dann in M im Text stehen. 163 Nach Schwartz ebd., S. CXXXVI–CXXXIX, weist der Marcianus M unabhängig von seiner Kontamination aus TER gemeinsam mit dem zur anderen Gruppe gehörenden Parisinus A den Einfluss einer alten Sonderquelle auf, die neben guten Konjekturen auch einzelne, nur durch sie überlieferte ursprüngliche Lesungen bot. Und nach Schwartz ebd., S. CXXV–CXXVII, haben die zur zweiten Gruppe gehörenden Handschriften ER bestimmte Interpolationen mit den zur ersten Gruppe gehörenden Handschriften BD gemeinsam, wie z.B. Zusätze zur Abgar-Legende des I. Buches oder einen an den Schluss des Werkes angehängten Brief Konstantins an die Provinzialen des Orients. 164 Schwartz ebd., S. XLI–XLIII.
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setzte.165 Gleichwohl wird diese Schwierigkeit durch die reiche, bereits antike Verzweigung der antiken Überlieferung einerseits und durch die angemessene Repräsentation dieser Verzweigung in der mittelalterlichen Überlieferung andererseits aufgewogen.166 So kommt Schwartz letztlich doch zu dem Schluss, dass die „Kirchengeschichte“ – genauer: die von ihm zur Edition gewählte Ausgabe letzter Hand167 – „so gut erhalten ist wie nur wenige Bücher des Altertums“.168 Doch so erfreulich dieses Ergebnis für den Text der „Kirchengeschichte“ ist, so desillusionierend sind die Konsequenzen, die Schwartz daraus für die Möglichkeiten des Edierens in den Fällen zieht, in denen von einer vergleichbar reichen und durchkontaminierten antiken Überlieferung nur eine einzige Handschrift auf das Mittelalter gekommen ist. Deren Textform sei dann als Gemisch höchst heterogener Bestandteile gar nicht mehr zu durchschauen, und auch dann, wenn man diese eine ins Mittelalter gelangte Handschrift – als den Archetypus der von ihr ausgehenden mittelalterlichen Überlieferung – korrekt rekonstruiert hätte, würde damit für die Wiedergewinnung des originalen Wortlauts immer noch nicht viel gewonnen sein:169 Wenn hingegen, wie im Fall der „Kirchengeschichte“, eine reiche, allseitig kontaminierte antike Überlieferung durch die 165 Schwartz ebd., S. LXV–LXIX zeigt, dass verschiedene sekundäre (d.h. von dem Rückgriff des ersten Bearbeiters auf die vorletzte Ausgabe unabhängige) ATER-Innovationen bereits von einer der beiden alten Übersetzungen vorausgesetzt werden, obwohl diese Übersetzungen an sich auf dem Text der uns von BDM überlieferten Ausgabe letzter Hand beruhen. Und nach Schwartz ebd., S. LXXII, wird eine an je verschiedenen Interpolationen in A einerseits und in TrER andererseits ablesbare Spaltung von ATER dadurch für das 4. Jahrhundert gesichert, dass die eine Interpolation in der syrischen und die andere in der lateinischen Übersetzung vorausgesetzt wird. 166 Schwartz ebd., S. CXLIV–CXLV: „Nur weil die Überlieferung sich sehr bald nach dem Erscheinen der letzten Ausgabe gespalten und dann noch immer weiter verzweigt hat, so daß das Werk in einer verhältnismäßig bedeutenden Anzahl von Exemplaren aus dem Altertum in die barbarischen Jahrhunderte hinübergerettet wurde, ist es möglich durch die sich fortwährend controllierenden Varianten oft – nicht immer – bis zur Hand des Schriftstellers vorzudringen: die Interpolationen töten sich untereinander.“ Vgl. auch ebd., S. IX. 167 Schwartz ebd., S. LIX. Schwartz ediert die Ausgabe letzter Hand im Haupttext und teilt die in ATER nachträglich aus der vorletzten Ausgabe wieder eingefügten Textteile nur im obersten Stockwerk des Apparats mit. Vgl. zum Beispiel, in der Edition des kaiserlichen Edikts von 311 bei Schwartz 1908 [Anm. 157], S. 790,21ff., den Apparat zu S. 792,9. Zum Methodischen vgl. West [Anm. 20], S. 70: „In the case of a work that survives in more than one recension, the editor must either give each recension separately or choose one as a representative. He must not conflate them into a hybrid version which never existed (though he may use one to correct copyists’ errors in another).“ 168 Schwartz 1909 [Anm. 157], S. CXLIV. 169 Schwartz ebd., S. CXLV: „An keinem Beispiel läßt sich so deutlich wie an dem Text der KG ermessen, wie verzweifelt es um die Überlieferung von solchen Werken steht, die nur in einer antiken Hs. den Rhomaeern [d.h. den Byzantinern] übermittelt sind; man stelle sich einmal vor, daß B oder A die einzige Hs. der KG wäre: an zahllosen Stellen würden wir nicht einmal ahnen daß der überlieferte Text interpoliert sei.“
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uns vorliegende mittelalterliche Überlieferung wirklich getreu repräsentiert wird, dann lässt sich nur schwer entscheiden, ob man diese mittelalterliche Überlieferung in ihrer Gesamtheit auf einen gemeinsamen, f e h l e r h a f t e n u n d v o m O r i g i n a l v e r s c h i e d e n e n A u s g a n g s p u n k t , d.h. auf einen Archetypus, zurückführen kann oder nicht. Denn auch wenn man die gesamte uns vorliegende Überlieferung auf einen gemeinsamen Ausgangspunkt zurückführen kann – im Fall der „Kirchengeschichte“ ist dieser Ausgangspunkt nach Schwartz die Ausgabe von letzter Hand –, wird es bei einer so weiten Verzweigung womöglich nur sehr wenige, von der gesamten Überlieferung unkorrigiert bewahrte F e h l e r geben, deren Beschaffenheit mehrfache, voneinander unabhängige Genese des Fehlers ausschließt. Und ob diese sehr wenigen Fehler sich in einem Teil der Überlieferung nicht doch erst sekundär, d.h. durch Kontamination breitgemacht haben, lässt sich unter Umständen angesichts des (nach Voraussetzung) durchkontaminierten Zustands der Überlieferung auch nicht klar sagen. Infolgedessen ist die Anwendbarkeit des Konzepts ‚Archetypus‘ zu relativieren.170 Ähnliches gilt für den Nutzen eines stemma codicum. Mühelos in einem Stemma abzubilden ist natürlich die von Schwartz entdeckte grundlegende Einteilung unserer Handschriften der „Kirchengeschichte“ in solche, in denen der Text der Ausgabe letzter Hand durch die postume Wiedereinführung von Abschnitten der vorletzten Ausgabe erweitert ist, und in solche, in denen er dies nicht ist. Doch das Vorhaben, mit einem solchen Stemma auch die K o n t a m i n a t i o n der Überlieferung abzubilden, würde spätestens dort an seine Grenzen stoßen, wo die Kontamination, wie erwähnt, mit sekundären Umgruppierungen der Handschriften einhergeht, die die ursprüngliche Zweiteilung d u r c h k r e u z e n . Aus diesen Gründen kam Ed. Schwartz bereits im Jahre 1909 dazu, den Glauben an die allgemeine Angemessenheit des Konzepts ‚Archetypus‘ und an die allgemeine Nützlichkeit eines stemma codicum für die Aufhellung der mittelalterlichen Überlieferung antiker Texte radikal zu unterminieren:171 Was nützt es einen Archetypus zu fingieren und einen Stammbaum zu malen, wenn die sich durchkreuzenden Gruppierungen der Hss. oder hier und da erscheinende richtige Lesarten erweisen, daß immer wieder Exemplare von besonderer Überlieferung auftauchten, nach denen die im Stammbaum säuberlich untereinander gemalten Hss. mehr oder weniger durchcorrigiert wurden? Wichtiger als diese Spielereien mit Archetypi und Stammbäumen ist die Erkenntnis daß in den einzelnen Handschriften und Handschriftengruppen sehr verschiedene Traditionen zusammengeflossen sind […] Das warnt vor dem verhängnisvollen Irrtum daß es genüge in einer Handschrift oder Gruppe Interpolationen nachzuweisen um sie zu verwerfen; man muß vielmehr immer darauf gefaßt sein, 170 Schwartz ebd., S. CXLVI: „Es ist beliebt aus den allen Hss. gemeinsamen Fehlern den ‚gemeinsamen Archetypus‘ zu erschließen, und dieser Schluß trifft auch zu, wenn die mittelalterlichen Hss. auf ein [lies: „unmittelbar auf ein einziges“] antikes Exemplar zurücklaufen: bei jeder reichen Überlieferung ist er falsch. Da müssen die gemeinsamen, nur durch Emendation zu heilenden Fehler anders erklärt werden“. 171 Schwartz ebd., S. CXLVI.
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auch in einem abgelegenen Winkel eine gute Variante zu entdecken. Wer von Archetypus und Stammbäumen fabelt, stellt sich immer noch vor, daß ein griechisches Prosawerk durch mechanisches Abschreiben fortgepflanzt wird; er macht sich nicht klar, daß schon die ersten Exemplare die ausgegeben wurden, niemals so absolut identisch haben sein können, wie moderne Bücher derselben Auflage, und daß bei vielgelesenen Büchern immer neue Recensionen angefertigt sind, ja daß jede Handschrift als eine neue Recension angesehen werden muß.
Diese fulminante Attacke ist nun aber allein gegen das gerichtet, was man später zu Unrecht die ‚Lachmannsche Methode‘ nennen sollte, keineswegs gegen das von Karl Lachmann aufgestellte Programm einer historischen Textkritik. Im Gegenteil: Mit seiner Eusebios-Ausgabe meinte Schwartz ja gerade gezeigt zu haben, dass der Text der Kirchengeschichte „mit nahezu diplomatischer Treue überliefert“ ist,172 was so viel besagt, wie dass sich der originale Wortlaut über weite Strecken hin aus der Überlieferung so genau wiedergewinnen lässt wie der Text einer Urkunde aus dem erhaltenen Original. Wohl aber wendet er sich gegen den allzu unterkomplexen Glauben bestimmter Lachmann-Epigonen an die seither entwickelte und für allein seligmachend gehaltene „stemmatische Methode“. Solchen Epigonen hält er die neuartige Erschließung der a n t i k e n Phase der Überlieferungsgeschichte durch seinen großen Lehrer aus Greifswalder Studienzeiten, Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, entgegen:173 Den ‚Archetypus‘ der Codices zu suchen und Stammbäume der Handschriften zu zeichnen, versuchte nach Lachmann jeder Fant; zu fragen, wie der Text im Altertum behandelt, in welchem Zustand er sich ins Mittelalter gerettet hatte, war eine Aufgabe nicht minder neu als einleuchtend.
Die hier im Rückblick resümierte Position hatte Schwartz in seiner 1909 abgeschlossenen Ausgabe der „Kirchengeschichte“ des Eusebios in der Praxis demonstriert – und damit den jungen Giorgio Pasquali einer produktiven Irritation ausgesetzt. Denn im Winter 1908/1909, als Ed. Schwartz, in seinem letzten Göttinger Semester vor seinem Wechsel nach Freiburg i. Br., über den Fahnenkorrekturen des abschließenden dritten Teils seiner Eusebios-Ausgabe saß174 172 Eduard Schwartz: Eusebios von Caesarea, in: Paulys Real-Encyclopädie der Classischen Altertumswissenschaft. Neue Bearbeitung. Unter Mitwirkung zahlreicher Fachgenossen hg. v. Georg Wissowa, Elfter Halbband: Ephoros–Eutychos, s. v. Eusebios Nr. 24, Stuttgart 1907, Sp. 1370–1439, hier: Sp. 1407 (wiederabgedruckt in Ders.: Griechische Geschichtsschreiber, hg. v. der Kommission für Spätantike Religionsgeschichte bei der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Leipzig 1957, S. 495–598, hier: S. 549–550). 173 Eduard Schwartz: Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, in: Jahrbuch der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 1931/32, München 1932, S. 1–13, hier zitiert nach Ders.: Vergangene Gegenwärtigkeiten, Berlin 1938 (Gesammelte Schriften, Erster Band) [im Folgenden: Schwartz, Schriften 1], S. 368–382, hier: S. 381. 174 Die Unterschrift des Editors unter dem Vorwort zum dritten Teil ist bereits mit der Angabe „Freiburg i. B., April 1909“ versehen. Übrigens hatte bereits Schwarz 1907 [Anm. 172], Sp. 1395–1407 (= S. 532–550) eine zusammenfassende Darstellung der Kirchengeschichte und ihrer Überlieferung publiziert.
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und am 7. November in einer öffentlichen Sitzung der Kgl. Gesellschaft der Wissenschaften den einschlägigen Vortrag „Über Kirchengeschichte“ hielt175 – in eben diesem Winter studierte Pasquali, der gerade einmal 23 Jahre alt war, mit einem Stipendium der italienischen Regierung in Göttingen176 und lernte die Forschungen und die Persönlichkeit von Schwartz näher kennen, dessen er dann gut vierzig Jahre später als „des größten Textkritikers des Jahrhunderts, des ersten, der methodisch über Lachmann hinausgekommen ist“ gedenken würde.177 Nun hatte der junge Pasquali im Sommer 1908 gerade seine anerkanntermaßen vorzügliche Teubner-Edition des Proklischen „Kratylos“-Kommentars veröffentlicht178 und in der Praefatio dieser Edition genau das getan, was Schwartz soeben als „Spielerei“ verspottet hatte: Zum einen hatte er alle ihm bekannten 25 Handschriften aufgrund ihrer gemeinsamen Fehler auf einen A r c h e t y p u s zurückgeführt,179 zum andern hatte er ein S t e m m a der fünf von ihm für unabhängig gehaltenen Handschriften hinzugefügt.180 In der Auseinandersetzung zwischen der von ihm mit dieser Proklos-Edition implicite übernommenen methodologischen ‚These‘ und der von seinem Göttinger Lehrer mit der EusebiosEdition so eindrucksvoll vertretenen ‚Antithese‘ fand Pasquali zu seinem Forschungsprogramm einer komparatistischen Reflexion über die vielfältigen Formen der Überlieferungsgeschichte antiker Texte und die daraus zu ziehenden Konsequenzen für einen textkritischen Methodenpluralismus. Den Anlass, mit diesen Überlegungen an die Öffentlichkeit zu treten, bot ihm Richard Harders 175 Eduard Schwartz: Ueber Kirchengeschichte. Vorgetragen in der öffentlichen Sitzung vom 7. November 1908, in: Nachrichten von der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen. Geschäftliche Mitteilungen aus dem Jahre 1908, Berlin 1908, S. 106–122 (wiederabgedruckt in Schwartz, Schriften 1 [Anm. 173], S. 110–130). 176 Zur Datierung von Pasqualis Göttinger Studiensemester vgl. Jean Irigoin: Georges Pasquali, historien et critique des textes, in: Giorgio Pasquali e la filologia classica del novecento, hg. v. Fritz Bornmann, Florenz 1988, S. 101–113, hier: S. 102: „Pasquali arrive en Allemagne comme boursier du gouvernement italien et s’inscrit à l’Université de Göttingen pour le semestre d’hiver 1908–1909“; sowie Carl Joachim Classen: L’influsso di Giorgio Pasquali sulla filologia classica in Germania, ebd., S. 135–158, hier: S. 139: „Pasquali in un primo tempo – un fatto che viene continuamente dimenticato – rimase un solo semestre a Gottinga: nell’inverno 1908–1909“. 177 Giorgio Pasquali: Rezension von Alphonse Dain: Les manuscrits, in: Gnomon 23, 1951, S. 233–242, hier: S. 235 oben. 178 Procli diadochi in Platonis Cratylum commentaria edidit Georgius Pasquali, Leipzig 1908. Zur erstaunlichen Qualität dieser Erstlingsarbeit vgl. Irigoin [Anm. 176], S. 102: „Pour juger ce travail, j’ai demandé, la semaine passée, à l’un des meilleurs connaisseurs de Proclus, lui-même éditeur d’un autre commentaire de Platon, ce qu’il pensait du Commentaire sur le Cratyle publié par Pasquali: un livre excellent, m’a-t-il répondu, tant par les principes critiques et leur application que par les index remarquables dont il est pourvu. Et quand je lui ai révélé l’âge de l’éditeur à la sortie du volume – vingt-trois ans – il a eu peine à me croire, et il a fallu toute mon assurance pour le convaincre“. 179 Pasquali ebd., S. VIII: „Omnes ab uno archetypo esse derivatos, inde efficitur quod multae corruptelae omnibus sunt communes“. 180 Pasquali ebd., S. XII.
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Angebot, die 1927 erschienene „Textkritik“ von Paul Maas für das neue altertumswissenschaftliche Rezensionsorgan „Gnomon“ zu besprechen. In seiner 1929 erschienenen Rezension,181 die mit 43 Seiten annähernd zweieinhalb mal so lang ist wie das rezensierte, nur 18 Seiten umfassende Werk von Maas, ist Pasquali voll des Lobes über den Gedankenreichtum, die systematische Geschlossenheit und ökonomische Stringenz von Maas’ Darstellung. Aber er kann sein Befremden darüber nicht verhehlen, dass Maas auf Schwartz’ Eusebios-Ausgabe und damit auch auf den in deren Einleitung (1909) vorgetragenen Angriff auf eben die Methode, die er selbst, Maas, jetzt (d.h. 18 Jahre später) perfektionierte, mit keinem Wort eingeht:182 Man wundert sich etwas, daß dieses monumentale Werk, wohl in der ganzen griechischen und lateinischen Literatur das geeignetste den Anfänger in die Überlieferungsgeschichte und Textkritik einzuführen, von Maas, soviel ich sehe, nicht erwähnt ist.
Eben diese Lücke hat Pasquali in seiner Rezension selbst geschlossen, indem er der eigentlichen Besprechung von Maas’ Werk183 einen Teil II anfügte,184 in dem er die Textkritik der Gegenwart, d.h. der zwanziger Jahre, mit der von Lachmann geübten konfrontierte und dabei, sobald er auf die Überlieferung der griechischen Literatur zu sprechen kam, die Hauptpunkte der von Ed. Schwartz vorgetragenen Methodenkritik genau referierte. Doch während Schwartz – allein gestützt auf den gewiss äußerst aufschlussreichen Fall der „Kirchengeschichte“ – das Fehlerprinzip, den Versuch der Rekonstruktion eines Archetypus, den Nutzen eines stemma codicum und die Methode der mechanischen recensio in Bausch und Bogen verworfen hatte, nahm Pasquali hier eine rational abwägende Position ein: Zu bestreiten, dass es bei Vorliegen bestimmter Überlieferungskonstellationen durchaus sinnvoll sein kann, eine auf Leitfehler gegründete Rekonstruktion des Archetypus zu unternehmen und sie durch ein stemma codicum zu veranschaulichen – dies zu bestreiten lag Pasquali gänzlich fern. Vielmehr läuft seine Position auf die Forderung hinaus, den M e t h o d e n d o g m a t i s m u s gleich welcher Observanz durch einen M e t h o d e n p l u r a l i s m u s zu ersetzen. Mittels einer Reihe instruktiver Beispiele gab er einen ersten Ausblick auf das Spektrum möglicher überlieferungsgeschichtlicher Konstellationen und zeigte, dass man sich beim Edieren antiker und mittelalterlicher Texte angesichts dieses Spektrums keinesfalls im Vorhinein dogmatisch auf eine bestimmte Methode festlegen darf, sondern seine Methode vielmehr aus der jeweils vorliegenden Konstellation abzuleiten hat. Gerade hierfür aber berief Pasquali sich auf keinen anderen als – Karl Lachmann:185 181 182 183 184 185
Pasquali, Rezension Maas [Anm. 129]. Pasquali ebd., S. 423, Anm. 2. Pasquali ebd., Teil I, S. 417–427. Pasquali ebd., Teil II, S. 427–435 und S. 498–521. Pasquali ebd., S. 428.
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Lachmanns Methode […] genügte einstweilen für die gewählten Texte ganz gut, am besten für Catull und Lucrez, schon weniger für Properz. Lachmann kannte aber die Grenzen seiner Methode anders als seine Epigonen: er fühlte sich genötigt, über seine Bearbeitung eines ganz anders überlieferten Textes, des Neuen Testamentes, Rechenschaft abzulegen.
Den 1929 in seiner Rezension von Maas’ „Textkritik“ gegebenen Ausblick auf die Vielgestaltigkeit der Überlieferungsgeschichte hat Pasquali dann in fünfjähriger Arbeit zu dem souveränen Überblick erweitert, den er 1934 in seinem – Eduard Schwartz und Girolamo Vitelli gewidmeten – Hauptwerk veröffentlicht hat, dem großen Buch „Storia della tradizione e critica del testo“.186 Die wichtigsten Schlussfolgerungen aus diesem Überblick hat Pasquali in der prefazione seines Buches in Gestalt von 12 Grundsätzen fürs Edieren antiker Texte zusammengefasst,187 die wir als zweiten Anhang zur gegenwärtigen Einleitung im italienischen Original und einer deutschen Übertragung vorlegen. Für ein Teilgebiet seines Überblicks fand Pasquali einen würdigen deutschen Nachfolger und Fortsetzer in dem deutschen Benediktinermönch Anton ‚Hilarius‘ Emonds (1905–1958): Dieser untersucht in seinem wichtigen Buch „Zweite Auflage im Altertum“188 zahlreiche Beispiele sowohl für den Fall, dass der Variantenbestand der handschriftlichen Überlieferung einen eindeutigen Schluss auf eine auktoriale Zweitedition zulässt,189 als auch für den Fall, dass eine insoweit mehrdeutige handschriftliche Überlieferung dazu zwingt, zwischen der Annahme einer auktorialen Zweitedition und der Annahme nachträglicher Interpolationen abzuwägen,190 als auch schließlich für den Fall, dass eine antike Zweitedition zwar durch den Zustand der direkten Überlieferung verdeckt wird, aber literarisch eindeutig bezeugt ist.191 Dank der abschließenden „Sammelliste“ einschlägiger antiker und frühchristlicher Autoren und Werke192 kann 186 Pasquali, Storia [Anm. 16], dazu die gut orientierende Rezension von Otto Seel in: Gnomon 12, Heft 1, 1936, S. 16–30. 187 Pasquali ebd., S. XV–XIX. 188 Hilarius Emonds O. S. B.: Zweite Auflage im Altertum. Kulturgeschichtliche Studien zur Überlieferung der antiken Literatur, Leipzig 1941 (Klassisch-Philologische Studien Heft 14). 189 Emonds ebd., S. 24–135. Vgl. hierzu das VII. Kapitel („Edizioni originali e varianti di autore“) bei Pasquali, Storia [Anm. 16], S. 395–465. 190 Emonds ebd., S. 136–233. Zu der in diesem Rahmen von Emonds ebd., S. 137–187 besonders ausführlich analysierten doppelten Rezension von Tertullians Apologeticum (d.h. zu den von Franciscus Modius verzeichneten Lesarten des seither verlorenen Codex Fuldensis und zur Vulgata) vgl. schon Pasquali, Storia [Anm. 16], S. 19: „Dunque: per l’Apologetico la natura peculiare della tradizione, due redazione che risalgono all’autore, esclude l’archetipo“. Allerdings hat sich Giorgio Pasquali: Preghiera, in: Studi Italiani di filologia classica, N. S. 22, 1947, S. 261, gerade von dieser These (jedenfalls partiell) distanziert: „Io credo ora di sapere […] che le due redazioni dell’Apologetico di Tertulliano non risalgono tutte e due all’originale direttamente senza essere passate per un archetipo“. 191 Emonds ebd., S. 234–305. 192 Emonds ebd., S. 306–384.
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das Buch von Emonds geradezu als Nachschlagewerk zum Problem antiker Mehrfacheditionen gelten. Fassen wir zusammen: In der klassischen Philologie wird Lachmann als derjenige Forscher betrachtet, der eine nach wie vor als prinzipiell legitim betrachtete, wenn auch keineswegs in allen Fällen erreichbare Z i e l s t e l l u n g formuliert hat, nämlich die Rekonstruktion einer gemeinsamen Vorstufe mehrerer erhaltener Handschriften eines Werkes. Das m e t h o d i s c h e I n s t r u m e n t a r i u m hingegen, mit dem dieses Ziel – jedenfalls bei Vorliegen eines Archetypus und bei mechanischer, vertikaler Überlieferung – erreicht werden kann, ist größtenteils von anderen Forschern des 19. Jahrhunderts bereit gestellt worden: Johan Nicolai Madvig hat den Erasmischen Begriff des Archetypus revitalisiert, Carl Johan Schlyter das erste stemma codicum publiziert, Paul Lejay, lange nach Lachmanns Tod, die strenge Definition der ‚common-error method‘ gegeben, Paul Maas schließlich eine präzisierende Synthese der Methode geliefert, zu der er selbst insbesondere den Begriff des Leitfehlers und dessen Untergliederung in Trenn- und Bindefehler beigesteuert hat. Doch ebenso sehr wie durch die auf Lachmann folgende Entwicklung bis hin zur „Textkritik“ von Paul Maas ist die klassisch-philologische Methodendiskussion zunächst durch den von Eduard Schwartz 1909 erhobenen Einspruch gegen diese (damals noch gar nicht abgeschlossene) Entwicklung geprägt worden, und dann vor allem durch die von Pasquali auf diesen Einspruch hin vorgenommene Differenzierung der Überlieferungskonstellationen und der durch sie jeweils nahegelegten Editionsverfahren: Die Vorstellung einer Alleinherrschaft der stemmatischen Methode in der klassisch-philologischen Editionspraxis und Editionstheorie ist also mindestens ebenso verfehlt wie die missbräuchliche Bezeichnung dieser Methode als ‚Lachmannsche Methode‘. Dies sei abschließend an der in Pasqualis Sinne wohlbegründeten Differenz zwischen zwei der besten Editionen aufgewiesen, die die klassische Philologie seit Maas und Pasquali hervorgebracht hat, nämlich an Rudolf Kassels Ausgabe der Aristotelischen „Rhetorik“193 und an Martin L. Wests Ausgabe der erhaltenen Tragödien des Aischylos:194 Kassel konnte die Beziehungen zwischen allen fünfzig erhaltenen griechischen „Rhetorik“-Handschriften, den lateinischen Übersetzungen des Mittelalters sowie der editio princeps von 1508 (Aldina der „Rhetores graeci“) aufgrund von Vollkollationen lückenlos rekonstruieren und in einem Gesamtstemma veranschaulichen.195 West hingegen kam im Fall der drei Aischylos193 Aristotelis Ars rhetorica, edidit Rudolfus Kassel, Berlin, New York 1976; dazu Rudolf Kassel: Der Text der Aristotelischen Rhetorik. Prolegomena zu einer kritischen Ausgabe, Berlin, New York 1971 (Peripatoi Bd. 3). 194 Aeschyli tragoediae cum incerti poetae Prometheo, edidit Martin L. West, Stuttgart 1990; dazu Martin L. West: Studies in Aeschylus, Stuttgart 1990 (Beiträge zur Altertumskunde 1). 195 Vgl. Kassel 1971 [Anm. 193], S. 94–97 und das Stemma codicum nach S. 152.
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Stücke der byzantinischen Trias („Die Perser“, „Sieben gegen Theben“, „Der gefesselte Prometheus“), die in über hundert Handschriften überliefert ist, nach Prüfung der vierzig vor dem Jahre 1400 geschriebenen Handschriften zu dem Schluss, dass diese sich zwar auf einen Archetypus zurückführen lassen, aber dass sich schon die zwischen der ältesten Handschrift (Laurentianus 32.9 = M) und den übrigen Handschriften bestehenden Beziehungen nicht stemmatisch erfassen lassen.196 So erweist sich das Vorurteil, die Aufstellung eines Gesamtstemmas der Handschriften eines Werkes der antiken Literatur sei in allen Fällen möglich, als genauso unprofessionell wie das Vorurteil, sie sei in keinem Fall möglich. 1.3 Lachmanns Programm und das Edieren mittelalterlicher Texte 1.3.1 Theorie und Praxis in Lachmanns Editionen mittelalterlicher Texte. – 1.3.2 Joseph Bédier als Urheber des Lachmann-Phantasmas. – 1.3.3 Die Normierung des Mittelhochdeutschen bei Lachmann und seinen Nachfolgern. – 1.3.4 Die Beiträge Karl Stackmanns und Joachim Bumkes. – 1.3.4.1 Stackmanns Leithandschriftenprinzip. – 1.3.4.2 Bumkes synoptische Edition von Fassungen. – 1.3.5 Cerquiglini: Elektronisch gespeicherte Transkriptionen aller Handschriften als Edition? – 1.3.6 Schluss: Lachmanns Programm in Zeiten der Digitalisierung.
1.3.1 Theorie und Praxis in Lachmanns Editionen mittelalterlicher Texte Da die ernsthafte philologische Beschäftigung mit der altnordischen wie der mittelhochdeutschen Dichtung überhaupt erst im frühen 19. Jahrhundert einsetzte, gab es hier noch keine textu¯s recept1, denen Lachmann als Germanist dann in Theorie oder Praxis den Garaus hätte machen können. Vielmehr war hier an ein Edieren ohne Zugriff auf die Handschriften gar nicht zu denken. Doch innerhalb des damit vorgegebenen Rahmens bildete sich in der Germanistik schon in den Jahren 1815–1817 ein Methodenkonflikt heraus, der der klassischen Philologie in dieser Grundsätzlichkeit fremd blieb. Wir meinen die Alternative zwischen – dem isolierten, gegebenenfalls behutsam korrigierenden Abdruck einer (oder doch: j e w e i l s einer) einzelnen Handschrift einerseits (‚Einzelhandschriftprinzip‘), – und dem mehrere Handschriften vergleichenden und auf dieser Grundlage eine gemeinsame Vorstufe rekonstruierenden Verfahren andererseits (‚Rekonstruktionsprinzip‘). 196
West, Studies [Anm. 194], S. 353–354: „It seems to me reasonably certain that all manuscripts descend from a single minuscule archetype containing a certain number of marginal variants. Then from the fact that many errors are common to all manuscripts except M it might seem a reasonable deduction that they all depend on a common hyparchetype. This, however, would be unsound. It would be difficult to explain on this hypothesis how it is that any of these manuscripts – in any combination, so far as we can see – may share errors with M, or that the truth may sometimes be preserved just in one or two of them together with M“.
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Als Begründer des Einzelhandschriftprinzips kann Jacob Grimm (1785–1863) gelten, der im Jahre 1815 bezüglich des Nibelungenliedes die Forderung erhob,197 daß davon alle und jede vorhandene eigenthümliche Handschrift vollständig für sich und mit andern unvermischt gedruckt erscheine. Erst alsdann könnte jemand, dem etwas dran läge, ins Mittel treten, und einen vermeintlich besseren Text aus allen zusammen zimmern; eine Aufgabe, die kaum zur Befriedigung wird gelöst werden können, und wobei neben einleuchtenderen Fällen eine Menge ungewisser und ihren gleichen Anspruch machender Lesarten angenommen oder ausgeworfen bleiben muß.
Grimm hält hier zwar die Möglichkeit offen, an den gesonderten Abdruck einzelner Handschriften als zweite Stufe die Rekonstruktion einer gemeinsamen Vorstufe anzuschließen, aber seine große Skepsis gegenüber dem Versuch, „einen v e r m e i n t l i c h besseren Text aus allen z u s a m m e n z u z i m m e r n “ (Sperrung von uns), liegt offen zu Tage. Im Jahre 1816 brachte dann Friedrich Heinrich von der Hagen (1780–1856) eine Neuausgabe der „Nibelungen Not“ heraus,198 bei der er sich, jedenfalls im Grundsatz, an Grimms soeben zitierte Forderung hielt:199 Er baute seinen Text auf einer einzigen Handschrift auf, der alten St. Galler Handschrift G (heute: B), selbst wenn er zu Vergleichszwecken bzw. zur Verbesserung offensichtlicher Fehler fallweise auch weitere Hand-
197 Grimm 1815 [Anm. 14], S. 160–161; vgl. auch Benecke in: Der Edelstein. Getichtet von Bonerius, Aus Handschriften berichtiget und mit einem Wörterbuche versehen von George Friederich Benecke, Berlin 1816, S. IX. 198 Zur Orientierung seien v. d. Hagens „Nibelungen“-Ausgaben bis 1816 zusammengestellt. 1807: Der Nibelungen Lied hg. durch F. H. v. d. Hagen, Berlin [Übersetzung von „Not“ und „Klage“ in ein mit leichter mhd. Patina versehenes Nhd.]. – 1810: Der Nibelungen Lied in der Ursprache mit den Lesarten der verschiedenen Handschriften hg. durch D. F. H. v. d. Hagen. Zu Vorlesungen, Berlin [Mhd. Edition von „Not“ und „Klage“ mit vorangestelltem Lesartenverzeichnis]. – 1816: Der Nibelungen Lied, zum erstenmal in der ältesten Gestalt aus der Sanct Galler Handschrift mit Vergleichung der übrigen Handschriften, Zweite mit einem vollständigen Wörterbuche vermehrte Auflage, Breslau [Mhd. Einzelausgabe der „Not“. Der z w e i t e Band, der den Text der „Klage“ und ein Lesartenverzeichnis enthalten sollte, ist nicht erschienen]. 199 Er tat dies ungeachtet der Feindschaft, mit der die Brüder Grimm ihn verfolgten, seit er ihnen 1812 mit einer Erstedition der Edda zuvorgekommen war; zu diesem ‚Wissenschaftskrieg‘ vgl. Lothar Bluhm: ‚compilierende oberflächlichkeit‘ gegen ‚gernrezensirende Vornehmheit‘. Der Wissenschaftskrieg zwischen Friedrich Heinrich von der Hagen und den Brüdern Grimm, in: Romantik und Volksliteratur, Beiträge des Wuppertaler Kolloquiums zu Ehren von Heinz Rölleke, hg. v. Lothar Bluhm, Achim Hölter, Heidelberg 1999, S. 49–70.
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schriften heranzog.200 Von der Hagens Neuausgabe rief nun Karl Lachmann auf den Plan. Dieser hielt v. d. Hagen im Jahr darauf (1817) in einer berühmten Rezension das folgende, „einzig richtige Gesetz“ entgegen, nämlich das Rekonstruktionsprinzip:201 Wir sollen und wollen aus einer hinreichenden Menge von guten Handschriften einen allen diesen zum Grunde liegenden Text darstellen, der entweder der ursprüngliche selbst seyn oder ihm doch sehr nahe kommen muss.
An diesem Grundsatz gemessen kann v. d. Hagens Ausgabe in Lachmanns Augen nicht mehr sein als eine nützliche Vorarbeit:202 Jetzt müssen wir Hn. v. d. H. für den sorgfältigen und berichtigten Abdruck einer der besten Handschriften danken, aber von einer Ausgabe der Nibel., die diesen Namen verdiente, kann noch nicht die Rede seyn.
Mithin bricht Lachmann hier, jedenfalls in der Theorie, eine Lanze für die Rekonstruktion einer gemeinsamen Vorstufe mehrerer Handschriften. Davon ausgehend definiert er in der erwähnten Rezension Gesetze zu einer mechanischen recensio des Nibelungenliedes, die – wie wir noch zeigen werden (vgl. Anhang I) – unabhängig von der heutigen, von Lachmanns damaligen Anschauungen abweichenden Sicht der Nibelungen-Überlieferung einen wertvollen und bislang verkannten Beitrag zur Veranschaulichung des von ihm theoretisch geforderten Rekonstruktionsverfahrens leisten. Zugleich aber weist Lachmann hier abermals einen Weg, den er selbst nicht geht. So führt er in der Rezension von 1817 die praktische Umsetzung der Gesetze zwar an einigen wenigen Textvarianten der von ihm einbezogenen Handschriften B (heute: A), G (heute: B), M (heute: D) und E (heute: C) vor, dabei folgt er aber seinen Gesetzen in einem Fall bewusst nicht und stellt aus den zur Verfügung stehenden Lesarten einen Mischtext her;203 anschließend bricht er die Beispielreihe mit dem Argument ab, dass sich, solange die Lesarten keiner einzigen Handschrift vollständig und genau verzeichnet seien, der Text auf diese Weise nicht herstellen lasse.204 200 Vgl. v. d. Hagen 1816 [Anm. 198]. V. d. Hagens 1838 erschienene Minnesang-Ausgabe folgt ebenfalls dem Grundsatz, jedem Gedicht jeweils nur eine Handschrift zugrunde zu legen: „bei mehreren Handschriften habe ich vornämlich immer nur eine, und versteht sich, die älteste und beste, so viel als möglich, zum Grunde gelegt, und die übrigen nur zu Hülfe gerufen.“ (Minnesinger. Deutsche Liederdichter des zwölften, dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts, aus allen bekannten Handschriften und früheren Drucken gesammelt und berichtigt, mit den Lesarten derselben, Geschichte des Lebens der Dichter und ihrer Werke, Sangweisen der Lieder, Reimverzeichnis der Anfänge, und Abbildungen sämmtlicher Handschriften, hg. v. F. H. v. d. Hagen, 4 Bde, Leipzig 1838–1856 [Neudruck: Aalen 1962/63], Bd. 1, S. XXXIX). 201 Lachmann 1817 [Anm. 8], Sp. 114. 202 Lachmann ebd., Sp. 114–115. 203 Vgl. Lachmann ebd., Sp. 118–119. 204 Vgl. Lachmann ebd., Sp. 119.
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Unbeschadet dessen bekräftigt Lachmann den Geltungsanspruch seiner Gesetze im Jahre 1820 im Zusammenhang mit seiner Kritik an v. d. Hagens beiden 1820 erschienenen Neuausgaben der „Nibelungen Not“,205 doch wird er sie auch später nicht umsetzen. Stattdessen legt er seiner eigenen, 1826 erschienenen Edition – ungeachtet der von ihm gegen v. d. Hagen erhobenen methodischen Einwände – ebenfalls nur einen Textzeugen zugrunde, nämlich die zweite Hohenemser Handschrift B (heute: A), die er für einen von den anderen herangezogenen Handschriften (G [heute: B], M [heute: D], E [heute: C]) unabhängigen, auf eine frühere Überlieferungsstufe zurückgehenden Textzeugen hält.206 Die restlichen Handschriften berücksichtigt er nur insofern, als er deren gemeinsame Abweichungen von B, d.h. die „gemeinen Lesarten des 13. Jh.s“, dokumentiert.207
205 Auch v. d. Hagens „Nibelungen“-Ausgaben von 1820 seien zusammengestellt. A) Der Nibelungen Noth, zum erstenmal in der ältesten Gestalt aus der Sanct Galler Handschrift mit den Lesarten aller übrigen Handschriften hg. durch F. H. v. d. Hagen. Dritte berichtigte, mit Einleitung und Wörterbuch vermehrte Auflage, Breslau 1820 (= Der Nibelungen Lied in der Ursprache mit den Lesarten aller Handschriften und Erläuterungen der Sprache, Sage und Geschichte […] Erster Band [Verbesserte mhd. Einzelausgabe der „Not“ mit Lesartenapparat unter dem Text. Der z w e i t e Band, der unter anderem den Text der „Klage“ bringen sollte, ist abermals nicht erschienen]). — B): Der Nibelungen Lied, zum erstenmal in der ältesten Gestalt aus der Sanct Galler Handschrift mit Vergleichung aller übrigen Handschriften herausgegeben durch F. H. v. d. Hagen. Dritte berichtigte, mit Einleitung und Wörterbuch vermehrte Auflage, Breslau [Dasselbe wie A), doch ohne Lesartenapparat]. Dazu: Karl Lachmann (Pseudonym: C. K.): Recension der dritten Auflage von v. d. Hagen 1816 [Anm. 198], in: Ergänzungsblätter zur Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung [17, 1820], Achter Jahrgang, 1820, Nr. 70–76, hier: Nr. 71, Sp. 177– 178 (= Lachmann, Kleinere Schriften 1, S. 206–271). 206 Zu Lachmanns überlieferungsgeschichtlichen Prämissen vgl. Anhang I. 207 Eine Erklärung für die Edition des Textes auf der Basis der Hs. B (heute: A) findet sich im Vorwort der Erstausgabe von 1826: „und zwar habe ich versucht den ältesten uns überlieferten text der ursprünglichen aufzeichnung so nah zu bringen, als es erlaubt oder thunlich war. es schien passend die ältesten veränderungen des ersten textes [d.h. die Verbesserungen und Zusätze der jüngeren Rezension, Anm. d. Verfasser] anschaulich geordnet hinzuzufügen (Der Nibelunge Not. Mit der Klage. In der ältesten Gestalt mit den Abweichungen der gemeinen Lesart, hg. v. Karl Lachmann, erste Auflage, Berlin 1826, S. III). Die Vorrede der zweiten Auflage enthält folgende Information, die in der Vorrede der Erstausgabe nicht enthalten ist: „Leichter wäre meine arbeit gewesen, wenn ich den text der handschriften B(D)HJKcdefgh [anders als in seiner Rezension von 1817 verwendet Lachmann hier die auch heute noch gebräuchlichen Handschriftenbezeichnungen, Anm. d. Verfasser] zum grunde gelegt hätte: so wäre die gemeine lesart des dreizehnten jahrhunderts hergestellt und ein meistens verständlicher text geliefert. aber es schien mir nicht genug den gemeinen text wieder zu geben, da uns in A [vormals Sigle B, Anm. d. Verfasser] ein älterer überliefert ist: ich strebte nach dem ältesten der zu erreichen wäre“ (zit. nach d. 2. Aufl., Berlin 1841, S. X).
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Wenn man mehr an Lachmanns programmatische Forderungen als an die Mehrzahl seiner Editionen denkt, ist es zwar prinzipiell berechtigt, dass Lachmann in den Mittelalter-Philologien mit dem Rekonstruktionsprinzip in Verbindung gebracht wird, aber eben nur prinzipiell. Denn die Zuschreibung der sogenannten ‚Lachmannschen Methode‘, d.h. einer Kombination verschiedener n i c h t - bzw. n a c h - Lachmannscher Verfahren wie der common-error method und der graphischen Veranschaulichung der Handschriftengenealogie durch ein stemma codicum an Karl Lachmann ist im Fall der Mittelalter-Philologien nicht weniger aus der Luft gegriffen als in der klassischen Philologie. Keine seiner Editionen mittelhochdeutscher Texte basiert auf einer systematischen Auswertung aller bekannten Handschriften in Hinblick auf Trenn- und Bindefehler, die Voraussetzung dafür wäre, das Rekonstruktionsziel zu definieren. Vielmehr verschafft sich Lachmann jeweils einen Überblick über die Textgestalt der einzelnen Handschriften, um davon ausgehend eine Leithandschrift für die Edition zu definieren. Die Aufnahme von Lesarten aus anderen Handschriften erfolgt vielfach eklektisch.208 Dies gilt auch für Lachmanns „Iwein“-Ausgabe (Erstausgabe: 1827/Zweitausgabe: 1843), die in der Forschung als erste Ausgabe eines mittelhochdeutschen Textes angesehen wird, „die textkritisch genannt zu werden verdient“.209 Auch hier legt Lachmann eine Leithandschrift zugrunde, die er nach demselben Kriterium auswählt, das er bereits bei der Nibelungenliedüberlieferung angewandt hat: Er entscheidet sich für diejenige Handschrift, von der er annimmt, dass sie von den anderen herangezogenen Handschriften unabhängig ist (= Heidelberger Handschrift A).210 Davon ausgehend stellt er dann zwar – dies im Unterschied zur Nibelungenlied-Ausgabe – eine einfache Regel für die Edition auf, nämlich: A stets dann zu folgen „wo sie nicht alleine steht“211, jedoch hebelt er diese sogleich wieder aus, indem er anfügt, sie gelte nicht, „wenn A nur durch Zufall mit einer anderen stimmt, oder wenn sich die echte lesart in keiner anderen als A erhalten hat“212. Als ‚echt‘ bzw. ursprünglich erachtet Lachmann da-
208 Zu Lachmanns Editionen mittelhochdeutscher Texte vgl. Peter F. Ganz: Lachmann as an Editor of Middle High German Texts, by P. F. Ganz (Oxford), in: Probleme mittelalterlicher Überlieferung und Textkritik. Oxforder Colloquium 1966, hg. v. Ders., Werner Schröder, Berlin 1968, S. 12–30; Magdalene Lutz-Hensel: Prinzipien der ersten textkritischen Editionen mittelhochdeutscher Dichtung. Brüder Grimm – Benecke – Lachmann. Eine methodenkritische Analyse, Berlin 1975 (Philologische Studien und Quellen 77); Giovanni Fiesoli: La genesi del lachmannismo, Firenze 2000, S. 269–357 („Capitolo VIII: Lachmann Germanista“). 209 Lutz-Hensel 1975 [Anm. 208], S. 337. 210 Vgl. Iwein. Der riter mit dem lewen. getihtet von dem hern hartman dienstman zu ouwe, hg. v. Karl Lachmann, Georg Friedrich Benecke, Berlin 1827, S. 4. 211 Lachmann ebd., S. 4. 212 Lachmann ebd., S. 4.
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bei jeweils die lectio difficilior, die er neben A vor allem aus der alten Gießener Handschrift B zu extrahieren sucht, wobei erschwerend hinzukommt, dass er den B-Text für einen von einem Gelehrten geschriebenen, ‚geglätteten‘ Text hält, weshalb er dessen Wortlaut vielfach abändert.213 Insgesamt führt dieses Verfahren nach Peter Ganz dazu, dass Lachmanns „Iwein“ eklektischer ist, als man denken würde: Wenn er A nicht akzeptiert, heißt das nicht, dass er der von ihm als zweitbesten Zeugen betrachteten Handschrift B folgt, sondern dass er die ‚echte‘ Lesart wählt – wo auch immer diese zu finden ist.214 1.3.2 Joseph Bédier als Urheber des Lachmann-Phantasmas Doch wie ist es zu erklären, dass das methodische Instrumentarium der sogenannten ‚Lachmannschen Methode‘ – Stemma, Archetypus, Fehlerprinzip – bis heute Karl Lachmann zugeschrieben wird? Als den Urheber dieses ‚LachmannPhantasmas‘ identifizierte der Konstanzer Latinist Peter Lebrecht Schmidt (1933–2019) im Jahre 1988 den französischen Romanisten Charles Marie Joseph Bédier (1864–1938).215 Schmidts These ist deshalb höchst plausibel, weil sich das Phantasma bei Bédier geradezu in statu nascendi beobachten lässt. Im Jahre 1890 veröffentlichte Bédier die erste seiner insgesamt drei Editionen von Jean Renarts Gedicht „Lai de l’Ombre“ (verfasst um oder bald nach AD 1300), und zwar aufgrund eines zweispaltigen Stemmas – von Lachmann ist in dieser Edition noch gar keine Rede.216 Bédiers Stemma aber wurde von seinem Lehrer Gaston Paris (1839–1903) noch im selben Jahr in einer ansonsten betont freundlichen Besprechung glatt zurückgewiesen und durch ein dreispaltiges Stemma ersetzt.217 An dieser Zurückweisung hat Bédier zwei Jahrzehnte lang schwer getragen, doch 21 Jahre nach Erscheinen der Rezension und 8 Jahre nach dem Tode von Gaston Paris hatte er einen Weg gefunden, sich selbst zu exkulpieren, o h n e seinen hochverehrten Lehrer zu beschuldigen, nämlich den Weg der Externalisierung: Er fasste den Plan, den fatalen Dissens mit seinem Lehrer dem Einfluss der
213 Lachmann ebd., S. 4: „Der Schreiber von B hat die Bearbeitung fortgeführt durch einzelne besserungen und durch erweiterung ganzer abschnitte“. Vgl. die Beispiele, die Lachmann hierzu aufführt (ebd., S. 5–8). 214 Vgl. Ganz 1968 [Anm. 208], S. 24. 215 Schmidt 1988 [Anm. 13], S. 235–236 (= Schmidt 2000 [Anm. 13], S. 18). 216 Le Lai de l’Ombre, publié par Joseph Bédier, Fribourg 1890 (Extrait de l’Index lectionum quæ in Universitate Friburgensi per menses æstivos anni MDCCCXC habebuntur). Bédiers Stemma findet sich auf S. 19. 217 Gaston Paris: Compte-rendu de: Le lai de l’Ombre, publié par Joseph Bédier, in: Romania 19, 1890, Nr. 76, S. 609–615, hier: S. 611: „Il résulte de ces remarques que bien probablement le lai de l’Ombre nous est conservé non par deux, mais par trois familles, y, v, E, et que par conséquent l’original commun se reconstitue, à coup sûr, par l’accord de y ou de v ensemble ou avec E.“ Zur Differenz zwischen dem von Bédier und dem von Paris angenommenen Stemma vgl. Trovato, Everything [Anm. 18], S. 78–79.
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p r e u ß i s c h e n Wissenschaft zuzuschreiben.218 Zu diesem Zweck reichte Bédier im November 1911 bei der sociéte des anciens textes français das Manuskript einer Neuedition des „Lai de l’Ombre“ ein, die dann 1913 erschien;219 und in der Einleitung zu dieser Edition neutralisierte er die Diskrepanz zwischen seinem Stemma und dem seines verstorbenen Lehrers einfach durch die Behauptung, dass die beiden einander widersprechenden Stemmata g l e i c h e r m a ß e n p l a u s i b e l seien, woraus er sodann ohne viel Federlesens auf die Verfehltheit der stemmatischen Methode insgesamt schloss. Deshalb habe er jetzt auf jegliche Klassifikation der Handschriften verzichtet220 und seiner Edition vielmehr eine einzige, aufgrund s p r a c h ä s t h e t i s c h e r Erwägungen ausgewählte Handschrift zugrundegelegt221 – was im Ergebnis, wenn auch nicht in der Begründung, auf eine Wiederbelebung und Radikalisierung von Jacob Grimms Einzelhandschriftprinzip hinauslief. Uns aber interessiert daran im vorliegenden Zusammenhang weniger Bédiers Argumentation als solche222 – Giorgio Pasquali hat sie wiederholt als „wissenschaftlichen Dadaismus“ gewertet223 –, sondern vielmehr die Tatsache, dass Bédier die ‚Erfindung‘ des stemma codicum jetzt auf einmal – zunächst noch mit Kautelen, dann im Ton indikativischer Gewissheit 218 Zur Verschränkung von Chauvinismus und französischem Kolonialismus einerseits und Mediävistik andererseits im Werk von Bédier vgl. Per Nykrog: A warrior scholar at the Collège de France. Joseph Bédier, in: Medievalism and the Modernist Temper, hg. v. R. Howard Bloch, Stephen G. Nichols, Baltimore MD 1996, S. 286–307; Alfredo Stussi: Introduzione agli studi della filologia italiana. Nuova edizione, Bologna 2007 [im Folgenden: Stussi, Introduzione], S. 274 mit Anm. 5; sowie Michelle R. Warren, Creole Medievalism. Colonial France and Joseph Bédier’s Middle Ages, Minneapolis 2011. 219 Bédier 1913 [Anm. 21]. 220 Bédier ebd., S. XLI: „Bref, nous renonçons à proposer un classement de nos manuscrits: non pas qu’il soit difficile d’en proposer un, aussi recevable que la plupart de ceux qu’ont employés en tant d’éditions tant de critiques, mais au contraire parce qu’il est trop facile d’en proposer plusieurs.“ 221 Bédier ebd., S. XLII: „Si nous avons choisi le manuscrit A […], c’est de façon tout empirique, et simplement parce que, offrant d’ailleurs un texte à l’ordinaire très sensé et très cohérent, et des formes grammaticales très françaises […], et une orthographe très simple et très régulière.“ 222 Bédier ebd., S. XXVI–XXVII äußert den Verdacht, dass die in den Editionen französischer Literatur des Mittelalters ganz überproportional häufige Annahme z w e i s p a l t i g e r Stemmata nicht auf objektivierbaren Befunden beruhen könne, sondern auf der Einbildung der Herausgeber. Dagegen z.B. Pasquali 1932 [Anm. 155], hier: S. 130–131; Michael Reeve, Stemmatic Method: «qualcosa che non funziona»? in: P. Ganz (Hg.), The role of the book in medieval culture, Turnhout 1986 (Bibliologia 3–4), S. 57–59, wiederabgedruckt in Reeve 2011 [Anm. 17], S. 27–44; Trovato, Everything [Anm. 18], S. 77–108. 223 Pasquali, Rezension Maas [Anm. 129], S. 417–435 und S. 498–521, hier: S. 420, Anm. 1: „Auf die primitive Skepsis eines J. Bédier […] brauche ich wohl nicht einzugehen; es ist peinlich, einen solchen Gelehrten und einen solchen Künstler in eine Art wissenschaftlichen Dadaismus geraten zu sehen.“ Bekräftigt in: Pasquali 1932 [Anm. 155], S. 130, Anm. 1: „Ich habe damals […] von wissenschaftlichem Dadaismus geredet; ich bedauere noch nicht den scharfen Ausdruck.“
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– einem Gelehrten zuschreibt, von dem in der Ausgabe von 1890 noch mit keinem Sterbenswort die Rede gewesen war: K a r l L a c h m a n n . 224 Schuld an der Débacle von Bédiers erster Ausgabe des „Lai de l’Ombre“ wäre demnach in Wahrheit weder Joseph Bédier noch sein Lehrer und Kritiker Gaston Paris gewesen, sondern der von dem (vermeintlichen) Preußen Karl Lachmann225 ausgehende Einfluss, durch den nicht nur sie beide, Paris und Bédier, sondern die romanistische Mediävistik Frankreichs insgesamt allererst auf den vermeintlichen Irrweg der auf gemeinsame Fehler von Handschriftengruppen gestützten stemmatischen Methode geführt worden seien. Damit war das ‚LachmannPhantasma‘ in der Welt. Doch wie weit dieses Phantasma von der historischen Wirklichkeit entfernt ist, wird unübertrefflich daran deutlich, dass Bédier Lachmann nicht nur zu Unrecht die Erfindung und Verwendung des stemma codicum zuschrieb, sondern dass er diese vorgeblich Lachmannsche Methode freihändig auf ein Motiv zurückführte, das den Intentionen von Lachmann in Wahrheit diametral entgegengesetzt ist: Bédier behauptete, dass es Lachmann und seine Jünger bei der Einführung und Verwendung der Stemmata von Anfang an bewusst oder unbewusst auf z w e i s p a l t i g e Stemmata abgesehen hätten. Die massive Bevorzugung zweispaltiger Stemmata vor drei- und mehrspaltigen Stemmata habe dem Zweck gedient, bei der Textgestaltung nicht an die jeweilige Mehrheit der Überlieferungszweige gebunden zu sein, sondern sich die freie Auswahl (selectio) unter den von nur zwei gleichberechtigten Überlieferungszweigen jeweils gebotenen beiden Varianten zu sichern: „voilà la mécanique à trois branches rejetée“.226 Was aber könnte dem historischen Lachmann ferner gelegen haben als gerade dieses selbstherrliche Ziel? Wir haben ja in seiner Rezension von Gottfried Hermanns Ausgabe des Sophokleischen „Aias“ gesehen, dass dem jungen Lachmann, im Gegenteil, das Wunschbild einer rein mechanischen constitutio textu¯s vorschwebte, die allein aufgrund einer strengen Prüfung
224 Bédier 1913 [Anm. 21], S. XXIII: „Si l’on essaye de classer, selon la méthode usuelle, i n v e n t é e , s e m b l e - t - i l b i e n , p a r K a r l L a c h m a n n , les manuscrits du Lai de l’Ombre, on parvient sans grand effort à discerner les cinq groupes de faits que voici“ (Sperrung von uns). Bei den auf fünf Gruppen aufgeteilten Fakten handelt es sich um F e h l e r bzw. I n n o v a t i o n e n , durch die sich jeweils bestimmte Handschriftengruppen von den übrigen Handschriften unterscheiden. Ebenso Bédier 1913 [Anm. 21], S. XLI: „nous renonçons à proposer un classement de nos manuscrits […] Nous avons donc fait la présente édition sans recours à l a m é t h o d e i n v e n t é e p a r L a c h m a n n “ (Sperrung von uns). 225 Lachmann war zwar Professor an den preußischen Universitäten Königsberg i. Pr. und Berlin, aber in Braunschweig und damit als Untertan des welfischen Herzogtums Braunschweig-Wolfenbüttel geboren. 226 Bédier 1913 [Anm. 21], S. XXXIV. Dort heißt es weiter: „voilà constitué à sa place un commode classement en deux familles seulement, x et y, et voilà reconquise cette liberté vers quoi, dès le début de son travail, l’opérateur, à son insu, n’avait cessé d’aspirer.“
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des Wertes der verschiedenen Handschriften und „ohne die mindeste Rücksicht auf den Sinn oder die Vorschriften der Grammatik“ erfolgen würde.227 Zwar hat Bédier seine Position von 1913 in der Neufassung (1928) seines Aufsatzes über die Überlieferung von Renarts Gedicht228 sehr weitgehend revidiert; hierzu fühlte er sich vor allem durch die Grundsatzkritik bewogen, die ein des Lachmannianismus ganz unverdächtiger französischer Landsmann, der Benediktinermönch und Vulgata-Editor Dom Henri Quentin (1872–1935), im Jahre 1926 an seiner „Lai de l’Ombre“-Edition von 1913 vorgetragen hatte.229 Nach einer ausführlichen Auseinandersetzung mit Quentin erkennt der späte Bédier auf der letzten Seite der Neufassung ausdrücklich an, dass die von den Editoren im u n t e r e n Bereich ihrer Stemmata abgegrenzten Handschriftengruppen in aller Regel über jeden Zweifel erhaben sind, so dass von einem Verzicht auf jede Klassifikation von Manuskripten jetzt keine Rede mehr sein kann.230 Zwar insistiert er theoretisch immer noch auf der Ambiguität der Beziehungen, die im oberen Bereich der Stemmata zwischen den rekonstruierten Vorfahren der Handschriftengruppen bestehen,231 aber für den „Lai de l’Ombre“ präferiert er zum guten Schluss, nach Verwerfung vieler anderer Möglichkeiten, doch eine ganz bestimmte stemmatische Hypothese:232
227
Lachmann 1818 [Anm. 9], Sp. 250. Joseph Bédier: La tradition manuscrite du Lai de l’Ombre. Réflexions sur l’art d’éditer les anciens textes, in: Romania 54 (1928), S. 161–196 und S. 321–356. Wiederabgedruckt in: Ders.: La tradition manuscrite du Lai de l’Ombre. Réflexions sur l’art d’éditer les anciens textes, Paris 1929 [Sonderausgabe von Bédier 1928, die zusätzlich den Text des „Lai de l’Ombre“ nach der Handschrift E enthält]. 229 Dom Henri Quentin: Essais de Critique Textuelle (Ecdotique), Paris (Éditions Auguste Picard) 1926, darin auf S. 147–164: Chapitre neuvième. Une tradition à trois rameaux. Le Lai de l’Ombre de Jean Renart. Vgl. ebd., S. 147: „Pour le fond, nous sommes, M. Bédier et moi, aux antipodes : je m’attache à prouver par des exemples que l’on peut et que l’on doit classer les manuscrits pour aboutir à un canon critique rigide ; l’éminent académicien met en doute la légitimité de tous les classements en général et conclut à l’adoption d’un manuscrit sans règles fixes et que l’on corrigera çà et là, suivant qu’il apparaîtra nécessaire ou simplement utile « au jugement, au tact, à la prudence de l’éditeur, et, pour dire le vrai mot, à son goût »“. 230 Bédier 1928 [Anm. 228], S. 356 (= S. 71): „si l’on se cantonne sur le terrain des textes littéraires, on peut dire, à considérer la masse des constructions que l’on dénomme Stemmata codicum, que presque toujours les principaux groupements de manuscrits y apparaissent déterminés de façon très juste, ceux que l’on aligne au bas du tableau : la base de la construction, le rez-de-chaussée, est solide“. 231 Bédier ebd., S. 356 (= S. 71): „Mais il en va autrement des parties hautes : seules, mais presque toujours, sont suspectes les lignes par lesquelles on relie des w, des x, des y et des z à O, « l’original », ou à O1, « l’archétype », car on peut, presque toujours, en modifier la disposition. Et pourtant, c’est d’elles seules, de la façon dont elles sont disposées, que dépend le sort du texte“. 232 Bédier ebd., S. 352 (= S. 67), Schéma No 11. 228
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O1 x A
y B
C
O2 G
D
O3
F
E
Bédier führt hier die sieben erhaltenen Handschriften A–G auf drei editorisch gleichberechtigte, aufeinander aufbauende Bearbeitungs-Stufen O1, O2 und O3 zurück, die er alle bereits dem Dichter Jean Renart zuzuschreiben geneigt ist. Daraus zieht er den Schluss, dass jede dieser drei Bearbeitungsstufen durch die gesonderte Edition je einer geeigneten Handschrift zu repräsentieren sei.233 An die Stelle der von Bédier 1913 als Alternative zur stemmatischen Methode präsentierten Willkür-Entscheidung für die eine, ‚beste‘ Handschrift, ist demnach im Jahre 1928 seine Einsicht getreten, dass eine stemmatische Analyse der Überlieferung keineswegs die Annahme eines einzigen Archetypus oder eines zweispaltigen Stemmas impliziert, sondern ebenso gut mit der Annahme einer dreispaltigen Überlieferung und mit deren Zurückführung auf mehrere gleichrangige Ausgangspunkte vereinbar ist. An diesem von Bédier in seinem Aufsatz von 1928 formulierten Endergebnis geht die Bédier-Rezeption – mit der wichtigen, noch zu behandelnden Ausnahme Joachim Bumkes – bis in jüngste Zeit hartnäckig vorbei, wenn sie diesen Aufsatz auf die Position von Bédier 1913 reduziert; als Beispiel hierfür sei Alfredo Stussi zitiert, der von Bédiers Entwicklung ein zwar plastisches, aber um die abschließende Volte verkürztes Bild zeichnet:234 Alla scuola di Gaston Paris si forma Joseph Bédier, che nel 1889 pubblica il Lai de l’Ombre di Jean Renart seguendo il metodo imparato dal maestro, cui rimane fedele per una ventina d’anni fino a quando non è preso da dubbi sempre più radicali. La storia di questa crisi e il suo sbocco finale sono raccontati dallo stesso protagonista nell’articolo che, nel 1928, conclude la tormentata vicenda:
233 Bédier ebd., S. 353–354 (= S. 68–69): „Or, puisqu’on peut lire le texte F dans une édition Jubinal, et le texte A dans notre édition de 1913, il convient qu’on puisse lire aussi le texte E dans une édition où il soit fidèlement reproduit, comme l’ont été les deux autres“, wobei die Handschrift A die Stufe O1 repräsentiert, die Handschrift F die Stufe O2 und die Handschrift E die Stufe O3. Bédier 1929, S. 72–97 legte dann, im Anschluss an einen Wiederabdruck seines Aufsatzes von 1928, in der Tat eine Edition der Handschrift E vor. 234 Stussi, Introduzione [Anm. 218], S. 274–275. Ebenso schon das bereits zitierte, ausdrücklich auf den Aufsatz von 1928 gemünzte Diktum von Pasquali 1929 [Anm. 129], S. 420, Anm. 1; Stackmann 1964 [Anm. 23], S. 246, der die Position Bédiers mit den so nur auf Bédier 1913 zutreffenden Worten resümiert: „Danach müßte, wer als Herausgeber eines alten Textes nicht vollkommen den Boden unter den Füßen verlieren will, beim vorsichtig berichtigten Abdruck einer guten Handschrift stehen bleiben“, und sogar Timpanaro 1985 [Anm. 3], S. 40f. mit Anm. 23 und S. 123–125.
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la meccanicità del procedimento lachmanniano è illusoria perché, essendo bipartita la grande maggioranza degli stemmi, le scelte decisive dipendono esclusivamente dalla volontà del filologo, il quale finisce col mettere insieme lezioni di provenienza diversa creando un testo nuovo, mai esistito in realtà; conviene dunque scegliere un buon manoscritto, possibilmente il migliore, e limitarsi a riprodurlo introducendo solo correzioni ovvie e indispensabili, perché solo così saremo certi di leggere qualcosa che ha avuto un’esistenza storica, e non il prodotto soggettivo del gusto combinatorio di uno studioso moderno.
In Wahrheit aber erscheint nach dem Gesagten die Differenz zwischen dem späten Bédier und der klassisch-philologischen Editionsmethode aus heutiger Sicht viel geringer, als man gemeinhin wähnt, zumal in der Klassischen Philologie der methodische Horizont der grundlegenden Arbeiten von Paul Maas (1927 und 1937) längst durch die Untersuchungen von Pasquali 1934 und Emonds 1941 zu Überlieferungen mit mehreren Ausgangspunkten erweitert wurde. Strittig bleibt im Grunde nur die Frage, warum man die erste der drei von Bédier schließlich angenommenen Autor-Rezensionen (O1), auf die er im Gegensatz zu den beiden späteren Rezensionen mehrere unabhängige Handschriften (ABCG) zurückgeführt hat, nicht durch kritisch-vergleichende Benutzung dieser vier Handschriften rekonstruieren sollte.235 Doch wirkmächtig war leider nicht das diskrete Zurückrudern des späten Bédier, sondern die von Bédier 1913 vorgetragene (sei es auch heute gern mit der Angabe „Bédier 1928“ zitierte) Position – samt dem damit in die Welt gesetzten Lachmann-Phantasma und dessen Erweiterung um das Vorurteil, dass die ‚Lachmannsche Methode‘ nicht nur ein Stemma, sondern ein zweispaltiges Stemma fordere. Gerade das letztgenannte Vorurteil wurde in der germanistisch-mediävistischen Textkritik nicht selten perpetuiert,236 wodurch der einigermaßen verfehlte Eindruck entstand, die ‚Lachmannsche Methode‘ ziele letzten Endes auf die Präparation eines Feldes, das es dem Editor ermöglicht, freihändig unter den Lesarten von nur zwei gleichberechtigten Überlieferungszweigen zu wählen.237 235 Auf einem andern Blatt steht natürlich die Frage, ob das von Bédier 1928 [Anm. 228] präferierte Stemma aus heutiger Sicht als plausibel gelten kann: Trovato 22017 [Anm. 18], S. 289–297 legt ein neues zweispaltiges Stemma zum „Lai de l’Ombre“ vor und erklärt die von Bédier als stemmatisch relevant betrachtete Tatsache, dass nur die Gruppe EDF ein Textstück überliefert, das in den Gruppen AB und CG fehlt, mit extra-archetypaler Kontamination. 236 Vgl. z.B. Gerd Fritz, der ausgehend von der Prämisse der Zweispaltigkeit von Stemmata zum Ergebnis gelangt, dass es für die Überlieferung des späthöfischen Minnesängers Neidhart unmöglich sei, „gültige Stemmata“ zu erstellen (Gerd Fritz: Sprache und Überlieferung der Neidhart-Lieder in der Berliner Handschrift germ. fol. 779 [c], Göppingen 1969 [GAG 12], S. 30). 237 Darauf, dass dieses von Bédier in die Welt gesetzte, unzutreffende Vorurteil die textkritische Methode in der Germanistik insgesamt in Misskredit gebracht hat, macht Alexander Kleinlogel 1979 aufmerksam (vgl. Alexander Kleinlogel: Archetypus und Stemma. Zur Problematik prognostisch-retrodiktiver Methoden der Textkritik, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte Bd. 2 [1979], S. 53–64, hier: S. 56).
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1.3.3 Die Normierung des Mittelhochdeutschen bei Lachmann und seinen Nachfolgern Zu den von Timpanaro als Phantasmen erwiesenen Zuschreibungen an die sogenannte ‚Lachmannsche Methode‘ gesellt sich innerhalb der Germanistik noch ein weiteres Vorurteil, das für den Ruf der stemmatischen Methode vielleicht noch schädlicher war. Es handelt es sich um die Vorstellung, dass die Rekonstruktion einer gemeinsamen Vorstufe mehrerer erhaltener Handschriften zwingend das Erfordernis freihändiger Korrekturen, d.h. K o n j e k t u r e n , miteinschließe. Daran ist zwar so viel richtig, dass Lachmann und die ihm nachfolgenden Herausgeber de facto freihändig in die Textgestalt ihrer Editionen eingegriffen haben. Doch ist diese Konjekturalpraxis, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit den Ausgaben des Münchner Professors für deutsche Philologie Carl von Kraus (1868–1952) ihren Höhepunkt erreichte, nicht der stemmatischen Methode als solcher geschuldet (was allein schon daraus hervorgeht, dass letztere von Lachmann – wie wir sahen – gar nicht angewendet wurde), sondern einer damals vertretenen, heute als irrig erwiesenen P r ä m i s s e f ü r d i e R e k o n s t r u k t i o n d e r S p r a c h f o r m mittelhochdeutscher Dichtung. Grimm, Lachmann und etliche andere Philologen des 19. Jahrhunderts wie Georg Friedrich Benecke (1762–1844), Moriz Haupt (1808–1874) und Karl Bartsch (1832–1888) gingen nämlich davon aus, dass es im Hochmittelalter eine normierte höfische Dichtersprache gegeben habe, die u.a. mit den Werken Hartmanns von Aue, Wolframs von Eschenbach, Gottfrieds von Straßburg und Walthers von der Vogelweide – d.h. zwischen ca. 1200 und 1230 – ihre Blütezeit erreichte und die in der Folgezeit einem zunehmenden Verfall anheimfiel. Ihren Auftrag sahen sie darin, diese originale mittelhochdeutsche Dichtersprache aus den ‚Trümmern‘ der aus dem 13. bis 15. Jahrhundert stammenden Überlieferungszeugnisse zu rekonstruieren.238 Und so ging die editorische Arbeit von Anfang an mit der Erstellung von sprachlichen und formalen Regeln einher, die die Editoren aus der Gesamtheit der von ihnen für zuverlässig gehaltenen Überlieferungsträger abzuleiten suchten.239 Betroffen von solcher Normierung waren Graphie, Lautstand, Morphologie, Syntax sowie Reim und Metrik der mittelhochdeutschen Dichtersprache.240 Lachmanns Ausgaben mittelhochdeutscher Texte – auch die oben erwähnten des Nibelungenlieds und des „Iwein“ – folgen in sprachlicher und formaler Hinsicht allesamt nicht einer Handschrift, sondern sind an das normalisierte Mittelhochdeutsch angepasst.241 238
Vgl. Lutz-Hensel 1975 [Anm. 208], insbes. S. 122–130. Welche Texte Lachmann und Grimm zunächst zur Rekonstruktion des Mittelhochdeutschen heranzogen, geht aus einem Brief Lachmanns an Grimm hervor (vgl. LutzHensel ebd., S. 124; eine vollständige Auflistung der darin genannten Texte findet sich ebd., S. 124–125, Anm. 4). 240 Vgl. Lutz-Hensel ebd., S. 107. 241 Vgl. Lutz-Hensel ebd., S. 337–432. 239
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Das Problem dabei besteht darin, dass die Festlegung einer allgemeinverbindlichen literarischen Sprachform, wie sie für die griechische Prosa mit der Erhebung der attischen Sprache des 5. und 4. Jh.s v. Chr. zur Norm (‚Attizismus‘) im späten 1. Jh. v. Chr. vorgenommen wurde, um dann durch Kaiserzeit, Spätantike und Mittelalter hindurch in Geltung zu bleiben,242 fürs deutschsprachige Mittelalter auch nicht annähernd nachweisbar ist. Die Verbindung von nationalem Wunschdenken mit fachpolitischem Kalkül – dem Streben, der mittelhochdeutschen Dichtung zunächst neben den antiken Klassikern und dann an ihrer statt einen Platz im höheren Bildungswesen zu sichern243 – macht es zwar nachvollziehbar, dass die Germanisten des 19. Jahrhunderts eine vergleichbar einheitliche Sprachform auch fürs deutschsprachige Mittelalter postulierten, aber die Verbindlichkeit der Sprachnormen, die sie aus der Überlieferung einer relativ kleinen Gruppe ausschließlich aus dem oberdeutschen Sprachraum stammender Texte ableiteten,244 ist historisch nicht begründbar.245 Zum einen weist die handschriftliche Überlieferung der einer editorischen Vereinheitlichung ihrer Sprachform unterzogenen Texte (je nach ihrer literaturgeschichtlichen und dialektalen Stellung) unterschiedliche Grade der Nähe und Ferne zur vermeintlichen Norm auf.246 Zum andern handelt es sich auch hinsichtlich des jeweils anvisierten Originals bei dem normierten Mittelhochdeutsch der Editoren um ein Konstrukt, das an den dialektalen und stilistischen Eigenheiten der Autoren
242 Vgl. Albrecht Dihle: Der Beginn des Attizismus, in: Antike und Abendland 23/1, 1977, S. 162–177, sowie Ders.: Artikel „Attizismus“, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. v. Gert Ueding, Bd. 1, Tübingen 1992, Sp. 1163–1176. 243 Zwar wurde die nationalistisch motivierte Zurückdrängung des Griechischen und Lateinischen im höheren Bildungswesen erst unter Kaiser Wilhelm II. (preußische Schulkonferenzen von 1890 und 1900) als amtliches Ziel deutscher Bildungspolitik etabliert, doch hat bereits 1849 Franz Grillparzer: Gedichte, Dritter Teil. Sprüche und Epigramme. Textteil, Wien 1937 (Sämtliche Werke. Historisch-kritische Gesamtausgabe, hg. v. August Sauer (†), fortgeführt von Reinhold Backmann, Erste Abteilung, Zwölfter Band. Textteil), S. 213, Nr. 1182 entsprechende Bestrebungen in einem hellsichtigen Epigramm aufs Korn genommen: „Der Weg der neuern Bildung geht / Von Humanität / Durch Nazionalität / Zur Bestialität.“ 244 Bei der Rekonstruktion d e s Mittelhochdeutschen beziehen die Philologen des 19. Jahrhunderts Texte aus dem oberdeutschen, nicht aber aus dem mitteldeutschen Sprachraum ein. Insofern ist es – darauf macht Florian Kragl aufmerksam – eine unzulässige Verallgemeinerung, in Bezug darauf von Mittel h o c h deutsch zu sprechen. Um deutlich zu machen, dass die rekonstruierten Sprachformen eben keinen Universalschlüssel für mittelalterliche deutschsprachige Texte bereitstellen, sondern einen dialektal und historisch begrenzten sprachlich-poetischen Bezirk umreißen, schlägt Kragl stattdessen vor, von Mittel o b e r deutsch zu sprechen (vgl. Florian Kragl: Normalmittelhochdeutsch. Theorieentwurf einer gelebten Praxis, in: ZfdA 144 [2015], S. 1–27, hier: S. 23). 245 Zur editionsphilologischen Problematik des normierten Mittelhochdeutschen vgl. u.a. Thomas Bein: Textkritik. Eine Einführung in Grundlagen der Edition altdeutscher Dichtung, Göppingen 1990, S. 17. 246 Vgl. hierzu Kragl 2015 [Anm. 244].
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vorbeigeht.247 Schließlich konnte es nicht ausbleiben, dass sich bei den für die Normalisierung erforderlichen, z.T. erheblichen Eingriffen in die Überlieferung unter dem Deckmantel der historisch angemessenen Sprachform ästhetisch und inhaltlich wertende Urteile in die textkritische Arbeit einschlichen. Dieses Problem sei an einem Texteingriff veranschaulicht, den Lachmann in seiner Edition des frühesten bekannten deutschsprachigen Tagelieds – Dietmars von Aist slafest dv friedel ziere (entstanden um 1170) – vornahm. In einem nur in e i n e r Handschrift (Große Heidelberger Liederhandschrift C, Anfang 14. Jh., Zürich) überlieferten Gedicht änderte Lachmann den ersten Reim: Statt des überlieferten slafest dv friedel ziere / wan weket vns leider schiere („Schläfst du, schöner Geliebter? / Man weckt uns leider bald.“) edierte er Slâfest du, mîn friedel? / wan wecket unsich248 leider schiere. („Schläfst du, mein Geliebter? / Man weckt uns leider bald.“) Moriz Haupt, der das Gedicht nach Lachmanns Tod herausgab,249 rechtfertigte Lachmanns Eingriff in der von ihm herausgegebenen „Zeitschrift für deutsches Alterthum“, indem er ein formales und ein überlieferungskritisches Argument ins Feld führte: Der C-Schreiber habe mehrfach in die Strophenformen der Lieder eingegriffen, indem er ursprüngliche Halbreime (d.h. Reimformen, bei denen die Lautfolge der Reimsilben nur annähernd übereinstimmen) in Vollreime umwandelte.250 Dieses redaktionelle Verfahren des C-Schreibers – das in jüngerer Zeit fallweise bestätigt wurde251 – beobachteten Lachmann und Haupt zunächst an Liedern, die neben der Handschrift C auch noch in anderen Handschriften überliefert werden. Hierdurch glaubten sie sich dann dazu autorisiert, vergleichbare Eingriffe auch in den allein in der Hs. C überlieferten Liedern vorzunehmen, d.h. ohne Rechtfertigung durch eine Parallelüberlieferung. Ein Beispiel für einen solchen freihändigen Eingriff liefert die Herstellung des als ursprünglich angesehenen Halbreims im vorliegenden Fall: aus dem allein überlieferten ziere / schiere machten Lachmann und Haupt friedel / schiere. Die Rechtfertigung für den Eingriff lieferte demnach die formalästhetische Hypothese, der zufolge für den sog. Frühen Minnesang, zu dem Dietmars Lied zählt, eine Halbreimlizenz anzunehmen ist, die erst in späterer Zeit aufgegeben worden sei. Dass unter Berufung auf diese Hypothese ein Texteingriff auch in einem Fall vorgenommen wurde, in dem keine den Eingriff bestätigende Parallelüberlieferung vorliegt, erscheint insbesondere deshalb als fragwürdig, weil Lachmann und Haupt in anderen Gedichten der Frühen Minnelyrik eine große Zahl von überlieferten Voll247 Individuelle Anpassungen an die einzelnen Autoren wurden zwar diskutiert, letztlich aber nur in einem geringen Rahmen zugelassen (vgl. Lutz-Hensel 1975 [Anm. 208], insbes. S. 120–124). 248 Lachmann ersetzt vns durch die altertümliche Akkusativform unsich, um in diesem Vers vier Hebungen herzustellen (vgl. Moriz Haupt: Zu des Minnesangs Frühling, in: Zeitschrift für deutsches Alterthum 11, 1859, S. 563–593, hier: S. 581). 249 Vgl. Des Minnesangs Frühling, hg. v. Karl Lachmann, Moriz Haupt, Leipzig 1857. 250 Vgl. Haupt 1859 [Anm. 248], S. 582–583. 251 Vgl. Christiane Henkes-Zin: Überlieferung und Rezeption in der Großen Heidelberger Liederhandschrift (Codex Manesse), Aachen 2004.
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reimen unangetastet ließen. Deshalb drängt sich die Frage auf, ob im vorliegenden Fall nicht noch ein anderer Beweggrund mitspielte. In der Tat vermeldet Haupt an einer anderen Stelle seines bereits erwähnten Beitrags in der „Zeitschrift für deutsches Alterthum“, dass sich Lachmann am Adjektiv ziere (V. 1) deshalb gestört habe, weil ihm dieses als Attribut für den männlichen Geliebten unpassend erschienen sei:252 Lachmann zufolge können zwar Frauen ziere sein, Männer aber nicht. Erst dieses inhaltlich wertende, auf gender-Vorstellungen des 19. Jahrhunderts zurückgehende Urteil erklärt, warum ausgerechnet hier der überlieferte Vollreim einem konjizierten Halbreim weichen musste. Solche und ähnliche Eingriffe haben Lachmanns Editionen angreifbar gemacht; im vorliegenden Fall wurde der Texteingriff in späteren Auflagen von „Des Minnesangs Frühling“ rückgängig gemacht.
Die Risiken, die das Verfahren der Normalisierung mit sich bringt, erkannte bereits Jacob Grimm, der in einem 1820 an Lachmann adressierten Brief in Bezug auf sein Reimregister selbstkritisch vermerkt, dass er die Autoren „zu sehr nach einer allen gemeinschaftlichen Sprache beurtheilt“ habe.253 Letztlich hatte diese Selbstkritik jedoch keine Auswirkungen auf Grimms und Lachmanns Ziel, die Vorstellung einer einheitlichen mittelhochdeutschen Dichtersprache zu etablieren. Scharfe Kritik an den Editionen aus dem Lachmann-Kreis übte indessen der Wiener Professor für deutsche Literatur Franz Pfeiffer (1815–1868). Er monierte (u.a. in Bezug auf „Des Minnesangs Frühling“ [hg. v. Lachmann u. Haupt]), dass sich die Herausgeber, indem sie die Texte in ein normalisiertes Mittelhochdeutsch umwandelten und die mundartlichen Eigenheiten der einzelnen Dichtungen unberücksichtigt ließen, zu weit von den Lesarten der Handschriften entfernten.254 Den Anlass zu einer Verschärfung dieser Kritik boten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem die von dem bereits erwähnten Münchener Altgermanisten Carl v. Kraus bearbeiteten Neuausgaben von Lachmanns WaltherAusgabe (1925) und „Des Minnesangs Frühling“ (1948) sowie die von v. Kraus neu konzipierte Ausgabe der „Liederdichter des 13. Jahrhunderts“ (1952): In diesen Ausgaben wurde die normierende Konjekturalkritik auf die Spitze getrieben.255 Kritisiert wurde, dass die für die Fehlerbestimmung entwickelten sprachlichen und formalen Kriterien viel zu starr seien, was zu einer vom Wortlaut der Handschriften immer weiter wegführenden Textgestaltung führe. Über die so begründete Ablehnung der Editionen mittelhochdeutscher Texte aus dem Lach252
Vgl. Haupt 1859 [Anm. 248], S. 582–583. Zit. nach Lutz-Hensel 1975 [Anm. 208], S. 127–128. 254 Vgl. Franz Pfeiffer: Rezension zu des „Minnesangs Frühling“, in: Germania 3 (1858), S. 484–508. 255 Carl von Kraus trieb die am Ideal einer höfischen Dichtersprache orientierte Rekonstruktion von Sprache, Reim und Metrik dezidiert voran; zu Carl von Kraus vgl. u.a. Hugo Kuhn, Norbert H. Ott: ‚Kraus, Carl von‘, in: Neue Deutsche Biographie 12, 1979, S. 692–693; Johannes Janota: Carl von Kraus, in: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Porträts, hg. v. Christoph König, Hans-Harald Müller, Werner Röcke, Berlin, New York 2000, S. 141–151. 253
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mann-Kreis bzw. in der Lachmann-Nachfolge herrscht heute Konsens.256 Nun galt diese Kritik von Hause aus gar nicht grundsätzlich dem Bestreben, eine der handschriftlichen Überlieferung vorausliegende frühe Textstufe zu rekonstruieren, sondern vielmehr in erster Linie einer bestimmten zusätzlichen Prämisse, die bei diesen Rekonstruktionen ins Spiel kam, nämlich der Annahme der Existenz und der Rekonstruierbarkeit einer normierten höfischen Dichtersprache um 1200. Gleichwohl geriet dabei die stemmatische Methode insgesamt in Misskredit – und mit ihr der Name Karl Lachmanns.257 Dieser Kurzschluss hatte schwerwiegende Auswirkungen auf die germanistisch-mediävistische Editionsphilologie, denn das undifferenzierte Generalverdikt gegen die ‚Lachmannsche Methode‘ blockierte vielfach die Weiterentwicklung und produktive Anpassung der stemmatischen Methode an die spezifischen Gegebenheiten volkssprachlicher Text- und Schriftkultur und nährte stattdessen in vielen Köpfen das bequeme Vorurteil, dass die überlieferungsgeschichtlich begründete Wiedergewinnung von Textstufen, die den erhaltenen Handschriften vorausliegen, im Falle der volkssprachlichen Dichtung des Mittelalters prinzipiell unmöglich sei.258 Doch erhob sich, wie wir gleich sehen werden, gegen dieses Vorurteil auch Widerspruch. 1.3.4 Die Beiträge Karl Stackmanns und Joachim Bumkes Nach dem bisher Ausgeführten sind es vor allem zwei vermeintliche oder tatsächliche Merkmale der Überlieferung antiker Texte, deren Übertragung auf die Überlieferung mittelalterlicher volkssprachlicher Texte sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als ernsthaft problematisch erwiesen hat: zum einen die in der antiken Literatur mindestens gattungsintern tatsächlich weithin gegebene E i n h e i t l i c h k e i t d e r S p r a c h f o r m , zum andern die auch in der antiken Literatur – nach dem von Pasquali und Emonds geführten Nachweis – keineswegs durchweg anzunehmende E i n h e i t l i c h k e i t d e s A u s g a n g s p u n k t s der uns vorliegenden Überlieferung. Zu der Frage, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang auch angesichts dieser beiden Probleme die editorische Rekonstruktion von Textstufen möglich sein soll, die unserer handschriftlichen Überlieferung vorausliegen, sind in der germanistischen Mediävistik eigen256
Vgl. u.a. Kragl 2015 [Anm. 244], S. 1–27. Zur sich im 20. Jahrhundert verbreitenden pauschalen Negativbeurteilung der aus dem Lachmann-Kreis und dessen Nachfolge stammenden Editionen mittelhochdeutscher Texte vgl. Jan-Dirk Müller: Neue Altgermanistik, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 39, 1995, S. 445–453, hier: S. 448–450; Thomas Bein: Die mediävistische Edition und ihre Methoden, in: Text und Edition. Positionen und Perspektiven, hg. v. Rüdiger Nutt-Kofoth, Bodo Plachta u.a., Berlin 2000, S. 81–98. 258 So z.B. bereits Otto Puschmann: Die Lieder Neidharts von Reuenthal. Eine kritische Untersuchung des Textes, Strasburg/W.-Pr. 1889 (Wissenschaftliche Beilage zum Programm des Königlichen Gymnasiums zu Strasburg Westpr. Ostern 1889); später: Fritz 1969 [Anm. 236]; zum Forschungsstand bis 1979 vgl. Kleinlogel 1979 [Anm. 237], S. 53–64. 257
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ständige Antworten erarbeitet worden, wie im Folgenden exemplarisch an den Arbeiten Karl Stackmanns und Joachim Bumkes gezeigt sei. 1.3.4.1 Stackmanns Leithandschriftenprinzip Der Göttinger Altgermanist Karl Stackmann (1922–2013) hat in seinem 1964 erschienenen Beitrag „Mittelalterliche Texte als Aufgabe“259 in Abgrenzung von Bédier einen Vorschlag für die Anpassung der stemmatischen Methode (die er „Lachmannsche Methode“ nennt)260 an die Spezifika volkssprachlicher Textund Schriftkultur entwickelt. Im Zentrum dieses Vorschlags steht ein Verfahren, das die stemmatische Methode mit dem Leithandschriftenprinzip verbindet.261 In dem Beitrag begegnet man Bédier gleich zu Beginn.262 Dabei fällt auf, dass Stackmann zwar dessen Aufsatz von 1928 zitiert,263 dann aber Bédiers Position von 1913 referiert: Er präsentiert ihn einfach als unnachsichtigen Gegner der vermeintlich „Lachmannschen“ (d.h. der stemmatischen) Editionsmethode und als Vertreter einer alternativen Editionsform, nämlich des „vorsichtig berichtigten Abdruck(s) einer guten Handschrift“.264 Dass Bédier 1928 im Zuge einer diskreten Kurskorrektur in Bezug auf die Edition des „Lai de l’Ombre“ nicht mehr den Abdruck nur e i n e r Handschrift für erforderlich hielt (so 1913), sondern einer nach stemmatischen Gesichtspunkten ermittelten Auswahl von d r e i Handschriften, die drei verschiedene, editorisch gleichberechtigte Bearbeitungsstufen repräsentieren (s.o.), hat Stackmann offenbar nicht zur Kenntnis genommen.265 Jedenfalls spricht sich Stackmann in Bezug auf die Überlieferung volkssprachiger Texte in Abgrenzung von dem von Bédier 1913 vertretenen Einzelhandschriftenprinzip für die Anwendung des Rekonstruktionsprinzips aus:266 Aber man braucht nicht grundsätzlich zu zweifeln, ob es sinnvoll ist, mit Mitteln der Textkritik nach einem Text zu suchen, der besser ist als derjenige der besten Handschrift. Zur Resignation besteht kein Anlaß. Josef Quint hat uns durch die Tat bewiesen, daß es auch in scheinbar hoffnungsloser Lage Möglichkeiten gibt, die Verderbnisse zu heilen, denen ein lebendiger Text im Laufe der Überlieferungsgeschichte ausgesetzt ist. Sogar in der Romanistik, die sich am stärksten von Bédiers Einwänden gegen die Lachmannsche Methode hat beein-
259
Stackmann 1964 [Anm. 23]. Stackmann ebd., S. 246. 261 Stackmann ebd., S. 241–267. 262 Vgl. Stackmann ebd., S. 245. 263 Vgl. Stackmann ebd. 264 Stackmann ebd., S. 246. 265 Bédiers Beitrag von 1928 [Anm. 228] stellt über weite Strecken eine Wiederholung seiner Positionen von 1913 dar; die entscheidende Weiterentwicklung erfolgt – ohne einleitende Ankündigung – erst gegen Ende des Beitrags von 1928 (S. 351–356) und kann daher leicht übersehen werden. 266 Stackmann 1964 [Anm. 23], S. 253. 260
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drucken lassen, gibt es Anzeichen für eine Lockerung der dogmatisch verfestigten Anschauungen. Maurice Delbouille hat sich in seiner Ausgabe des Lai d’Aristote von 1951 gegen das Verfahren des bloßen Handschriftenabdrucks gewandt und einen kritischen Text gegeben; Aurelio Roncaglia hat ihm, unter ausdrücklicher Berufung auf Dain, zugestimmt.
In einer Gegenüberstellung mit der Überlieferung antiker Texte nennt Stackmann folgende Spezifika volkssprachlicher Text- und Schriftkultur:267 – eine verhältnismäßig geringe Anzahl an Überlieferungszeugen pro Text, – geringer zeitlicher Abstand zwischen der Entstehung eines Textes und dem Einsetzen seiner Überlieferung, – Instabilität der Überlieferung infolge der Willkür und Unbefangenheit volkssprachlicher Schreiber, – Kontamination der Handschriften, – nicht selten hohe Qualität der jüngeren und jüngsten Überlieferungszeugen, – „Schwanken zwischen vertauschbaren oder benachbarten Schreibungen, Lauten, Formen, Wortteilen, Wörtern, Phrasen“.268
Für das letztgenannte Phänomen, das nach der oben (unter 1.2.3) bereits vorgestellten Terminologie Trovatos nicht den semantischen F o n d s , sondern die dialektale P a t i n a betrifft,269 prägt Stackmann den Begriff der „iterierenden Variante“.270 Im Hinblick hierauf kommt er unbeschadet seiner prinzipiellen Anerkennung des Rekonstruktionsprinzips zu dem Schluss, dass speziell die s p r a c h l i c h e N o r m i e r u n g mittelhochdeutscher Texte zu verwerfen sei. Zwar gelte es weiterhin, durch überlieferungsgeschichtliche Prüfung, Fehlerbestimmung und Variantentypisierung Verwandtschaftsverhältnisse zwischen den erhaltenen Handschriften zu entdecken und vorgängige Textstufen zu rekonstruieren,271 jedoch seien die iterierenden Varianten aus diesem Verfahren auszuschließen. Stattdessen schlägt Stackmann vor, in Bezug auf diese iterierenden Varianten (und nur auf sie!) einer L e i t h a n d s c h r i f t zu folgen.272 Mit diesem Vorschlag entfernt sich Stackmann insoweit von der früheren (von Lachmann ausgehenden) Textkritik, als diese nicht nur der Handschriftengenealogie, sondern auch der Rekonstruktion einer normierten, höfischen Dichtersprache verpflichtet war:273
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Vgl. Stackmann ebd., S. 249–253. Stackmann ebd., S. 257. 269 Vgl. Trovato, Everything [Anm. 18], S. 55 und S. 231–232. 270 Stackmann 1964 [Anm. 23], S. 258. 271 Hierbei rechnet Stackmann durchaus mit unfesten – d.h. mit Doppellesungen versehenen – Archetypen als Ausgangspunkten der Überlieferung (vgl. ebd., S. 248). 272 Vgl. Stackmann ebd., S. 258. 273 Stackmann ebd., S. 254. 268
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Wir sprechen ganz allgemein vom Fall einer Überlieferung mit mehreren Überlieferungsträgern, aus denen ein kritischer Text hergestellt werden soll. Auf Fragen der sprachlichen Normierung gehen wir nicht ein. Da wohl niemand mehr glaubt, man könne die persönliche Sprache eines mittelalterlichen Autors in ihren Einzelheiten wiederherstellen, wird man, wo irgend möglich, dem vorsichtig vereinheitlichten Gebrauch einer Leithandschrift folgen.
Stackmanns Beitrag von 1964 zielt also nicht auf die Verabschiedung der stemmatischen Methode für die Edition mittelhochdeutscher Texte, sondern auf die Anpassung der Methode an die charakteristische Uneinheitlichkeit der Sprachgestalt der Überlieferung dieser Texte. Indessen wurde Stackmanns Bindung seines Leithandschriftenprinzips an einen spezifischen Geltungsbereich in der anschließenden Forschung oftmals zugunsten einer Rückkehr zu dem schon von v. d. Hagen und dann von Bédier praktizierten Einzelhandschriftenprinzip aufgegeben, d.h. zur Edition auf der Basis einer einzigen Handschrift, deren offensichtliche Fehler mit Hilfe der übrigen Handschriften (oder besser noch: freihändig) korrigiert werden.274 Und so trug gerade Stackmanns Aufsatz, dessen erklärtes Ziel es war, das Rekonstruktionsprinzip für die Edition mittelhochdeutscher Texte anwendbar zu halten, gegen den Willen seines Autors dazu bei, dass in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter dem Titel ‚Leithandschriftenprinzip‘ der isolierte, ‚behutsam‘ korrigierende Abdruck isolierter Überlieferungszeugen um sich griff.275 1.3.4.2 Bumkes synoptische Edition von Fassungen Zur Frage nach dem Ausgangspunkt bzw. den Ausgangspunkten der uns vorliegenden Überlieferung mittelalterlicher Dichtung hat der Kölner Altgermanist Joachim Bumke (1929–2011) mit seinen Arbeiten zu den vier Fassungen der
274 Zu dem auf diese Weise definierten Leithandschriftenprinzip vgl. u.a. Bein 1990 [Anm. 245], S. 30; Bein 2000 [Anm. 257], S. 81–98. 275 So z.B. legen Helmut Tervooren und Hugo Moser 1977 – also 25 Jahre nach der Neubearbeitung von Carl von Kraus – eine Neuausgabe von „Des Minnesangs Frühling“ vor, in der sie das Leithandschriftenprinzip anwenden, was in vielen Fällen zu einer Textgestalt führt, die von den Vorgängerausgaben (Lachmann, Haupt [1857]; von Kraus [1948]) erheblich abweicht. Als Leithandschrift wählen sie die Kleine Heidelberger Liederhandschrift A (Ende 13. Jh., Elsass) und ziehen die anderen Lyrikhandschriften, allen voran die Stuttgarter Liederhandschrift B (um 1300, Konstanz) sowie die große Heidelberger Liederhandschrift C (Anfang 14. Jh., Zürich) hinzu, wenn A eindeutige Fehler, Lücken oder Textverderbnisse aufweist. Der Grund für die Entscheidung für A ist, dass es sich hierbei um den ältesten Überlieferungszeugen handelt, der zudem keine (bzw. keine erkennbaren) Bearbeitungen des Schreibers aufweist (vgl. Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und Moriz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus, hg. v. Hugo Moser, Helmut Tervooren, Bd. I. Texte, Stuttgart 361977). Eine Übersicht über die nach dem Leithandschriftenprinzip verfahrenden Ausgaben mittelhochdeutscher Texte aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gibt Bein 2000 [Anm. 257], S. 85.
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„Nibelungenklage“276 einen Beitrag geleistet, der hinsichtlich seiner grundsätzlichen methodischen Bedeutung dem Aufsatz Stackmanns vergleichbar ist. Die Pointe von Bumkes Vorgehen besteht darin, dass er die „Klage“-Überlieferung – anders als seine Vorgänger277 – nicht auf e i n e n Ausgangspunkt (gleichviel ob Original oder fehlerhafter Archetypus) zurückführt, sondern vielmehr, übrigens unter Hinweis auf den späten Bédier, auf vier verschiedene „Fassungen“,278 deren Begriff er wie folgt bestimmt:279 Unter Fassungen sind verschiedene Versionen eines Epos zu verstehen, die 1. so weit wörtlich übereinstimmen, daß man von ein und demselben Werk sprechen kann, die jedoch andererseits im Textbestand und/oder in der Textfolge und/ oder in den Formulierungen so weit auseinandergehen, daß es die übliche Form der Variation zwischen verschiedenen Handschriften eines Textes deutlich übersteigt und ein je eigener Formulierungswille sichtbar ist; und die 2. nicht in einem direkten Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehen, das heißt: daß nicht eine Version sich als Bearbeitung einer anderen Version erweist, sondern daß es sich im Sinne der traditionellen Textkritik um „gleichwertige Parallelversionen“ handelt. Die meisten höfischen Epen des 12. und 13. Jahrhunderts sind in früh ausgebildeten Parallelfassungen überliefert, die für uns die ältesten erschließbaren Textformen sind. Ob es davor Originaltexte gegeben hat und wie diese aussahen, ist in den meisten Fällen mit den Methoden der Textkritik nicht sicher zu beantworten. Bei einer solchen Überlieferungslage empfiehlt sich ein Paralleldruck der verschiedenen Fassungen, in kritischer Bearbeitung, als angemessene Editionsform.
Mit dieser Anpassung des Text- und Überlieferungsmodells an die spezifischen Gegebenheiten einer Überlieferung mit mehreren Ausgangspunkten280 gewinnt Bumke eine Erklärung für die in der Überlieferung durcheinandergehenden Kombinationen von Textelementen, indem diese nicht länger als Zufallsprodukte der Überlieferung (bzw. als Ergebnisse von Kontamination) angesehen werden müssen, sondern als Zeugen verschiedener, der Überlieferung vorausliegender Textredaktionen erscheinen, die nicht mechanisch aufeinander zurückführbar sind, sondern einen je eigenen „Formulierungswillen“ zeigen.
276 Joachim Bumke: Die vier Fassungen der ‚Nibelungenklage‘. Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert, Berlin, New York 1996; Ders.: Die „Nibelungenklage“. Synoptische Ausgabe aller vier Fassungen, Berlin, New York 1999. 277 Vgl. Bumke 1996 [Anm. 276], S. 117. 278 Vgl. Bumke ebd., S. 255–388; zu Bédier ebd., S. 31 mit Anm. 145. 279 Bumke 1999 [Anm. 276], S. 7–8. 280 Bumke 1996 [Anm. 276], S. 17–60 entwickelt dieses Text- und Überlieferungsmodell aus der Analyse der „Klage“-Handschriften sowie in kritischer Auseinandersetzung mit der germanistisch-mediävistischen Forschung zur Überlieferung der mittelhochdeutschen Epik. Dass vergleichbare Überlieferungsfälle für die Antike bereits von Pasquali 1934 (Anm. 16) und von Emonds 1941 (Anm. 188) identifiziert, diskutiert und aufgelistet wurden (vgl. oben Abschnitt 1.2.4), spielt in seiner Argumentation keine Rolle.
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Bei der als Konsequenz aus dieser Überlieferungslage von Bumke geforderten und verwirklichten synoptischen Edition der vier Fassungen legt er jeder von ihnen eine Leithandschrift zugrunde;281 das bedeutet, dass er die jeweilige Leithandschrift (z.B. C) nicht a l s Handschrift (C) ediert, sondern als Repräsentanten der ihr vorausliegenden, verlorenen Fassung (C*). Doch macht er dabei von seinen Leithandschriften einen Gebrauch, der nicht in Stackmanns Sinne ist: Einerseits folgt er der jeweiligen Leithandschrift gerade in solchen Lesarten, die den semantischen F o n d s betreffen, und zwar auch dann, wenn sie von allen anderen Handschriften der betreffenden Fassung abweichen, und sogar dann, wenn es sich bei ihnen nach Bumkes eigenem Urteil um sekundäre Varianten handelt, solange sie nur nicht eindeutig fehlerhaft sind.282 Andererseits fühlt er sich ausgerechnet hinsichtlich der dialektalen P a t i n a nicht an die jeweilige Leithandschrift gebunden, sondern führt vielmehr eine „Normalisierung der Schreibweise im Sinne von Lachmanns Kunst-Mittelhochdeutsch“ durch283 – obwohl Stackmann das Leithandschriftprinzip, wie wir sahen, einzig und allein zur Überwindung der s p r a c h l i c h e n N o r m i e r u n g seitens der Herausgeber eingeführt hatte. Indessen ändert dieser Einwand, der in seinem ersten Teil der Sache nach auch schon dem späten Bédier zu machen war, nichts an der evidenten Plausibilität von Bumkes Hauptforderung: Wenn die Überlieferung eines Textes auf mehrere Ausgangspunkte zurückgeht (was freilich stets zu zeigen und nicht nur dogmatisch vorauszusetzen ist), dann muss eine wissenschaftliche Edition dieses Textes diese Pluralität der Ausgangspunkte auch unverkürzt abbilden – was natürlich gerade nicht besagt, dass nun gleich j e d e Handschrift unbesehen als eine eigene ‚Fassung‘ in Bumkes Sinne präsentiert werden dürfte. 1.3.5 Cerquiglini: Elektronisch gespeicherte Transkriptionen aller Handschriften als Edition? Selbst noch an der reflektierten Editionsmethode Bumkes hat sich – wenn auch nur fassungsintern – die Unverwüstlichkeit des Einzelhandschriftenprinzips gezeigt: Seit Jacob Grimms Plädoyer für dieses Prinzip im Jahr 1815 wurde und wird es, als ein wahres evergreen, stets wieder von Neuem gegen ein – sei es auch nur partiell – rekonstruierendes Verfahren ausgespielt. Offenbar misst man der Einzelhandschrift als solcher prinzipiell eine höhere Authentizität bei als einem – wie auch immer überzeugend – r e k o n s t r u i e r t e n Wortlaut. Dieser vermeintliche Vorteil wurde und wird allerdings mit einer deutlichen Schwäche erkauft: Sie besteht in dem Element von Willkür, das der Privilegierung eines einzigen handschriftlichen Vertreters gegenüber den anderen Mitgliedern derselben Überlieferung bzw. desselben Überlieferungszweiges anhaftet. 281 282 283
Vgl. Bumke 1999 [Anm. 276], S. 17. Vgl. Bumke ebd. Vgl. Bumke ebd., S. 18.
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Einen durch den Fortschritt der elektronischen Datenverarbeitung gebahnten Ausweg aus diesem Dilemma schien im Jahre 1989 der französische Linguist Bernard Cerquiglini zu weisen. In seinem Essay „Éloge de la Variante“,284 der als Gründungsdokument der sogenannten New Philology gilt, entwickelte Cerquiglini die Vision eines EDV-implementierten Handschriften-Raums, der ermöglicht, was der zweidimensionale Buchdruck nicht zu leisten vermag: die Edition mittelalterlicher, handschriftlich überlieferter Texte in der Weise, dass alle Überlieferungszeugen eines Textes transkribiert und in dieser Form gleichberechtigt nebeneinandergestellt werden. Cerquiglinis den technischen Möglichkeiten seiner Zeit vorauseilendes Postulat der digitalen Edition mittelalterlicher Texte als Summation von Einzeltranskriptionen erscheint als die Vision einer totalen Enthierarchisierung und ‚Demokratisierung‘ von Überlieferungsbeständen, die freilich bei realistischer Betrachtung mit einer systematischen Überforderung der Leserschaft erkauft wird, da die Editor*innen nach Cerquiglini die vergleichende Beurteilung der Textvarianten zu verweigern und sie stattdessen den Nutzer*innen der Datenbank aufzubürden haben. Mit seiner Forderung entfernt sich Cerquiglini maximal von Lachmanns Zielsetzung, auf überlieferungsgeschichtlicher Grundlage eine den erhaltenen Handschriften vorausliegende Textstufe zu erreichen. Er begnügt sich jedoch nicht damit, eine radikale Gegenposition zur ‚traditionellen‘ Textkritik einzunehmen, sondern er versucht sich auch an einer theoretischen Begründung für die propagierte Editionspraxis. Im Zentrum dieses Begründungsversuchs steht eine hypothetische Neubestimmung der Kategorie des Autors für die mittelalterliche volkssprachliche Schriftkultur. Cerquiglinis Essay versteht sich nämlich als mediävistisches Gegenstück zu der von Michel Foucault (1926–1984), dessen Andenken der Essay gewidmet ist, mehrfach beschworenen Utopie vom Verschwinden der Autorfunktion.285 Hinsichtlich der Marginalisierung des Autors geht Cerquiglini über sein Vorbild Foucault jedoch noch weit hinaus: Cerquiglinis Plädoyer dafür, alle jeweils vorliegenden volkssprachlichen Handschriften des Mittelalters nach dem Einzelhandschriften-Prinzip zu edieren, läuft darauf hinaus, den Autor nicht nur als hermeneutische Autorität über die D e u t u n g seines Textes zu eliminieren, sondern auch als Urheber seines Wo r t l a u t e s . Diese Elimination rechtfertigt Cerquiglini mit einer mediengeschichtlichen These zum Verhältnis von Schriftlichkeit und Volkssprache.286 Nach Cerquiglini hätte die zunehmende Verschriftlichung der west- und mitteleuropäischen Volkssprachen im 11. und 12. Jahrhundert in den Schreibbetrie284 Bernard Cerquiglini: Éloge de la variante. Histoire critique de la philologie, Paris 1989; Übersetzung ins amerikanische Englisch: Bernard Cerquiglini: In Praise of the Variant. A critical History of Philology. Translated by Betsy Wing, Baltimore, London 1999. 285 Der Essay ist in der von Michel Foucault mitherausgegebenen Reihe „Des travaux“ erschienen und enthält folgende Widmung: „Michel Foucault a souhaité ce livre, qui est dédié à sa mémoire“ (Cerquiglini 1989 [Anm. 284], S. 13). 286 Cerquiglini 1989 [Anm. 284], S. 33–69.
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ben des Okzidents eine Art kreative Eruption ausgelöst: Die Schreiber, die bislang aufs bloße Kopieren von lateinisch-gelehrten Texten eingestellt gewesen seien, hätten sich nun – als sie erstmals Texte in ihrer eigenen Muttersprache vor sich hatten – dazu berufen gefühlt, souverän und kreativ mit diesen umzugehen. Diese Entwicklung habe den Urheber eines Textes, der in der gelehrtlateinischen Tradition das Prestige des ‚Autors‘ genoss, zum zufällig ersten Glied einer Kette eigenmächtig agierender Schreiber herabgestuft. Umgekehrt seien hierdurch die auf den Urheber folgenden Schreiber ihrerseits in den Rang von ‚Autoren‘ erhoben worden:287 L’appropriation joyeuse par la langue maternelle de la signifiance propre à l’écrit a pour effet de répandre à profusion le privilège de l’écriture. Qu’une main fut première, parfois, sans doute, importe moins que cette incessante récriture d’une œuvre qui appartient à celui qui, de nouveau, la dispose et lui donne forme. Cette activité perpétuelle et multiple fait de la littérature médiévale un atelier d’écriture. Le sens y est partout, l’origine nulle part. The effect of the vernacular’s joyful appropriation of the signifying nature suited to the written word was the widespread and abundant enjoyment of the privilege of writing. Occasionally, the fact that one hand was the first was probably less important than this continual rewriting of a work that belonged to whoever prepared it and gave it form once again. This constant and multifaceted activity turned medieval literature into a writing workshop. Meaning was to be found everywhere, and its origin was nowhere.
Cerquiglini führt also die mittelalterliche Textvarianz paradoxerweise gerade auf die S c h r i f t l i c h k e i t zurück, nicht etwa auf die M ü n d l i c h k e i t , wie es zu seiner Zeit in der Oralitätsforschung vertreten wurde: Er betrachtet diese Textvarianz als Produkt kreativer, aus eigenem Recht handelnder Schreiber. Diese Sicht hebt jeden Schreiber auf eine Stufe mit dem Autor, ja über ihn hinaus: Jede volkssprachliche mittelalterliche Handschrift soll hinfort als je einmaliger Autortext ihres Schreibers gelten, während der traditionell als Autor betrachtete Urheber des betreffenden Textes gleichsam im Nebel der Vorgeschichte der Textüberlieferung verschwindet. Wie in den großen Variationszyklen der klassischen Musik als kompositorische Hauptleistung nicht die Erfindung des – mitunter gar nicht vom Komponisten der Variationen selbst stammenden – T h e m a s gilt, sondern die Entfaltung des darin angelegten Potentials in den Va r i a t i o n e n , so schreibt Cerquiglini die editorisch allein relevante schöpferische Leistung in der volkssprachlichen Literatur des Mittelalters weder dem Autor zu noch den Redaktoren irgendwelcher, den erhaltenen Handschriften vorausliegender Fassungen – der Unterschied zwischen ‚Autor‘ und ‚Redaktor‘ bzw. zwischen ‚Original‘ und ‚Fassung‘ im Sinne Bumkes ist für Cerquiglini
287 Cerquiglini 1989 [Anm. 284], S. 57. Übersetzung von Wing [Anm. 284], S. 33. Im ersten Satz ist „signifiance propre à l’écrit“ besser mit „special signifying function of the written word“ zu übersetzen denn mit „signifying nature suited to the written word“.
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bzw. die New Philology editorisch vollkommen irrelevant –, sondern allein den Schreibern unserer Handschriften: „Le sens y est partout, l’origine nulle part“. Erst mit dieser erstaunlichen Volte gelingt es Cerquiglini, ein Argument für seine Forderung zu bauen, sämtliche Handschriften eines Textes, gleichsam als Leibnizsche fensterlose Monaden, jeweils für sich zu ‚edieren‘. Mag diese Forderung der Sache nach sowohl – in gedruckter Form – v o r ihm (Salzburger Neidhart-Edition) als auch – in digitaler Form – n a c h ihm (Lyrik des Deutschen Mittelalters) verwirklicht worden sein und werden: Cerquiglini hat als Einziger gewagt, für dieses Verfahren eine theoretische Rechtfertigung zu entwerfen, deren Radikalität der Radikalität des zu Rechtfertigenden gleichkommt. Indessen ist der argumentative Kern seiner Rechtfertigung, die angebliche Marginalität der Urheber mittelalterlicher volkssprachlicher Texte, in der Mediävistik auf heftigen Widerspruch gestoßen:288 Namensnennungen in mittelalterlichen Werken, Dichterkataloge, Textsammlungen, die nach Autoren geordnet sind, und vieles mehr wurde ins Feld geführt, um zu zeigen, dass sich seine These für die volkssprachliche Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts nicht aufrechterhalten lässt.289 Fragt man angesichts der Umstrittenheit von Cerquiglinis These nach seinen Belegen dafür, stößt man am Grunde seines Arguments auf einen Fehler, der dann doch Zweifel an seiner Seriosität erweckt. Cerquiglini stützt sich nämlich in letzter Instanz auf einen Holzschnitt aus der Frühzeit des Buchdrucks, als dessen Autor er aufs Geratewohl „Holbein“ angibt, und in dem er eine Szene in einer Druckeroffizin dargestellt findet, in der der Autor des gerade im Druck befindlichen Buches als eine marginale, hilflose und lächerliche Figur erscheine, die ebenso aufgeregt wie vergeblich versuche, sich Gehör zu verschaffen:290 Quelle place, d’ailleurs, est faite à l’auteur par la technologie nouvelle ? Une gravure célèbre de Holbein représente un atelier : de dos, massif, au premier plan, organisant l’espace comme il distribue le travail, le maître imprimeur ; tout autour, affairés et joyeux, les ouvriers de l’Humanisme : tenant la presse, lavant les caractères, séchant la feuille. Une table, au fond, où s’appuie un lecteur placide : 288 Zur kritischen Auseinandersetzung mit den Thesen der Vertreter der New Philology vgl. u.a.: Karl Stackmann: Neue Philologie?, in: Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche, hg. v. Joachim Heinzle, Frankfurt/Main, Leipzig 1994, S. 398–427; J.-D. Müller 1995 [Anm. 257], S. 445–453; Rüdiger Schnell: ‚Autor‘ und ‚Werk‘ im deutschen Mittelalter. Forschungskritik und Forschungsperspektiven, in: Neue Wege der MittelalterPhilologie. Landshuter Kolloquium 1996, hg. v. Joachim Heinzle, Berlin 1998 (WolframStudien. Bd. XV), S. 12–73, insbes. S. 41f.; Peter Strohschneider: Situationen des Textes. Okkasionelle Bemerkungen zur ‚New Philology‘, in: ZfdPh 116, Sonderheft 1997, S. 62– 86; Ingrid Bennewitz: Alte ‚neue‘ Philologie? Zur Tradition eines Diskurses, in: ZfdPh 116, Sonderheft 1997, S. 46–61. 289 Vgl. insbesondere Rüdiger Schnells umfassende kritische Auseinandersetzung mit Cerquiglinis These von der Marginalität des Urhebers mittelalterlicher volkssprachlicher Texte: Schnell 1998 [Anm. 288], S. 12–73. 290 Cerquiglini 1989 [Anm. 284], S. 21. Übersetzung von Wing 1999 [Anm. 284], S. 4–5.
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le correcteur ; enfin, un petit bonhomme s’adresse avec véhémence à quelque contremaître, qui ne l’écoute guère : c’est l’auteur. Un peu ridicule, un peu déplacé, ou du moins qui n’a pas encore trouvé sa place, son statut. For that matter, what place does the new technology give the author? A famous engraving by Holbein represents a print shop. In the foreground is the master printer seen from behind, huge, organizing the space as he distributes the work. All around him, bustling and merry, are the workers of humanism: running the press, washing the type, drying the page. In the background is a table where a man is calmly reading: the proofreader. Finally there is a little fellow who vehemently addresses some supervisor who is hardly listening. That is the author—somewhat ridiculous, somewhat out of place, or, at least, he has not yet found his place, his status.
Mit dieser Deutung sucht Cerquiglini zunächst zu etablieren, dass der Autor seit Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern erst ganz allmählich, nämlich mit der Herausbildung des Urheberrechts im 18. Jahrhundert, eine wirksame Kontrolle über die Vervielfältigung seines Werkes erlangt habe, wohingegen er noch in der Frühzeit des Buchdrucks, ausweislich des Holzschnitts, nahezu machtlos gewesen sei.291 Hierdurch suggeriert er eine allgemeine Entwicklungsrichtung, die, wenn sie tatsächlich vorläge, für die zeitlich noch weiter zurückliegende, m i t t e l a l t e r l i c h - h a n d s c h r i f t l i c h e Überlieferung volkssprachlicher Texte, auf die es Cerquilini ja einzig und allein ankommt, e r s t r e c h t die Annahme der Marginalität des Autors nahe legen würde. Nun stellt Cerquiglinis Beschreibung des von ihm ohne Quellenangabe herangezogenen „Holbein“Holzschnitts aber außer Zweifel, dass letzterer mit demjenigen Holzschnitt identisch ist, der in Percy Simpsons Standardwerk zur Geschichte des Korrekturlesens vom 16. bis 18. Jahrhundert292 – ein Werk, das Cerquiglini gerade eben erst zitiert hat293 – auf S. 128 reproduziert ist.294 Doch hat Cerquiglini es unterlassen, diesen Holzschnitt einmal im Kontext des (von Simpson sogar unter Reproduktion der Titelseite zitierten) Buches zu prüfen, als dessen Frontispiz er dient. Sobald man dies tut, erweist sich Cerquiglinis Bilddeutung als unhaltbar. 291
Vgl. Cerquiglini 1989 [Anm. 284], S. 21–22. Percy Simpson: Proof-Reading in the Sixteenth, Seventeenth, and Eighteenth Centuries, Oxford 1935 (im Folgenden: Simpson, Proof-Reading). 293 Cerquiglini 1989 [Anm. 284], S. 20, Anm. 2; d.h. auf der der Bildbeschreibung unmittelbar vorausgehenden Seite. Vgl. auch seinen erneuten Hinweis auf Simpson auf der der Bildbeschreibung folgenden Seite 22. 294 Auch Cerquiglinis Beschreibung des Holzschnitts ist abgesehen von der willkürlichen Umdeutung der Autorfigur weitgehend aus derjenigen Simpsons geschöpft; vgl. Simpson, Proof-Reading [Anm. 292], S. 128–129: „The central figure in the picture is the master-printer giving his directions. […] The three figures at the table behind the compositor add life to the picture. The man in front with an inkpot near him is reading copy and correcting it. […] This man is the ‚lector’ specified in the Latin verses, a sort of editor as well as corrector. Whatever the state of the copy, the man standing behind is an excited author. He is gesticulating to a person listening to him quite calmly but with close attention. […] Behind—this is a detail not given, so far as I know, in any other early engraving of a printing-press—is a workman hoisting sheets to dry on the rack“. 292
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Der Holzschnitt stammt aus der 1608 erschienenen „Orthotypographia“, einer lateinischen Anweisung über das Korrekturlesen295 von Hieronymus Hornschuch (ca. 1573–1616),296 die 1634 auch in einer deutschen Übersetzung aus der Feder des Leipziger Juristen Tobias Heidenreich (1589–1650) herauskam;297 wir zitieren im Folgenden das lateinische Original wie die deutsche Übersetzung nach dem 1983 hergestellten Doppel-Faksimile.298 Im lateinischen Original findet sich auf der letzten Seite des unpaginierten Einleitungsteils299 links vor S. 1 der bei Simpson reproduzierte Holzschnitt nebst einer Bilderklärung in lateinischen Versen (Abb. 2):300
295 Ὀρθοτυπογραφία, Hoc est: Instructio, operas typographicas correcturis; et Admonitio, scripta sua in lucem edituris Utilis & necessaria […] Autore Hieronymo Hornschuch, Lipsiæ Michaël Lantzenberger excudebat, Anno 1608. Facsimile: Hieronymus Hornschuch: ORTHOTYPOGRAPHIA 1608. Herausgegeben mit einer Einleitung von Univ.Prof. D. Dr. Otto Clemen in Zwickau in Sachsen vom Familienarchiv Hornschuch, Schorndorf (Württ.) (Schriftensammlung des Familienarchivs Hornschuch Heft Nr. 14 [lies: 15]/1940). Die von Otto Clemen (1871–1946) verfasste Einleitung steht auf S. 3–31 (im Folgenden: Clemen, Einleitung). Der Gymnasiallehrer Clemen war von 1928 bis 1937, als Kenner der Reformationsgeschichte, o. Honorarprofessor für Kirchengeschichte an der Universität Leipzig. 296 Eine erste Skizze zu Hornschuchs Leben gab schon Simpson, Proof-Reading [Anm. 292], S. 126; die grundlegende Dokumentation hat dann Clemen, Einleitung [Anm. 295], S. 3–11 vorgelegt. 297 Ὀρθοτυπογραφία. Das ist: Ein kurtzer Vnterricht/ für diejenigen/ die gedruckte Werck corrigiren wollen; Vnd Eine erjnnerung für die/ welche jhre Schrifften/ oder verfertigte Werck ausgehen lassen/ Nützlich/ vnd nothwendig. […] Hiebevor Lateinisch beschrieben von Hieronymo Hornschuchen/ von Henffstadt in Francken/ der Artzney Doctore. Jetzo aber auff inständiges Anhalten in Teutsche Sprach gebracht vnd zum Druck verfertiget durch T(obiam) H(eidenreich) D(octorem) […] Männiglichen zu guter Nachrichtung auffs newe gedruckt zu Leipzig/ in Gregoris Ritzschens Buchdruckerey/ Anno 1634. – Facsimile: Ein kurtzer Unterricht / für diejenigen / die gedruckte Werck corrigiren wollen. Mit einem Begleitwort von Dr. H(ans-Heinrich) B(ockwitz), Leipzig 1940. Mit der auf die Abkürzung T. H. D. gestützten Zuschreibung der Übersetzung an Dr. jur. utr. Tobias Heidenreich folgen wir Emil Friedberg: Die Leipziger Juristenfakultät. Ihre Doktoren und ihr Heim, Leipzig 1909 (Festschrift zur Feier des 500 jährigen Bestehens der Universität Leipzig. Herausgegeben von Rektor und Senat. 2. Band), S. 164, Nr. 180. 298 Hieronymus Hornschuch, ORTHOTYPOGRAPHIA lateinisch/deutsch, Leipzig 1608/1634. Nachdruck. Herausgegeben von Martin Boghardt, Frans A. Janssen, Walter Wilkes, Pinneberg [1983]. Diese in der Lehrdruckerei der damaligen TH Darmstadt hergestellte Ausgabe bietet zunächst auf S. 5–50 ein Vorwort von Martin Boghardt (im Folgenden: Boghardt, Vorwort), dann ein Faksimile des lateinischen Originals von 1608 und schließlich ein Faksimile der deutschen Übersetzung von 1634. 299 Der unpaginierte Einleitungsteil bringt zunächst Hornschuchs Widmungsvorrede an den Leipziger Juristen Andreas Scheffer, dann ein Gedicht von Sigismund Sell und schließlich den Holzschnitt samt versifizierter Bildbeschreibung. 300 Die vier Distichen tragen die Signatur L. I. L. F., was Clemen, Einleitung [Anm. 295], S. 12 überzeugend zu L(udovicus) J(ungermannus) L(ipsiensis) F(ecit) auflöste: Der Botaniker Ludwig Jungermann (1572–1653) war Hornschuchs Studienfreund und Schwager.
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Abb. 2: Moses Thym, Officinæ typographicæ delineatio (1608), aus Hieronymus Hornschuch: „Ὀρθοτυπογραφία“ (Exemplar der Universitätsbibliothek der FAU Erlangen-Nürnberg).
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Der in den ersten Worten der versifizierten Bildbeschreibung („E¯n Thymi1 sculpto¯ris opus“) als Autor des Holzschnitts genannte „Thymius“ ist mit einem Zeichner und Formschneider identisch, dessen Name als Moses Thym (oder auch: Thim) angegeben wird und der im zweiten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts im ernestinischen Herzogtum Sachsen-Altenburg bzw. im albertinischen Kurfürstentum Sachsen tätig war: Soviel hatten unabhängig voneinander sowohl Simpson (1935)301 als auch Clemen (1940)302 korrekt erschlossen. Ungeachtet dessen hat Cerquiglini, der doch in Simpsons Buch die Reproduktion des Holzschnitts samt der Nennung Thyms in der lateinischen Bildbeschreibung vor sich hatte, behauptet, der Holzschnitt sei von „Holbein“: Dies stellt der Intensität seines Interesses an Fragen der frühneuzeitlichen Autorschaft kein günstiges Zeugnis aus. Der I n h a l t von Hornschuchs kurzer Abhandlung stimmt denn auch denkbar schlecht zu dem, was Cerquiglini in den der Abhandlung programmatisch vorangestellten Holzschnitt von Moses Thym hineinprojiziert hat. Wie Clemen gesehen hat,303 erfolgt der Korrekturvorgang nach Hornschuch in der Weise, „daß in der Regel der Korrektor bei seiner Durchsicht des gedruckten Textes von einem Gehilfen unterstützt wurde, der aus dem Manuskript vorlas“:304 Iam Correctoris quoque est, sic se assvefacere, ut in legendo ad minimum unâ dictione lectorem antevortat. Eo enim pacto aliquantò priùs corrigenda videbit & ad marginem annotabit, quàm eum Lector asseqvetur. Vbi tamen Lectoris fuerit, si animadvertet Correctorem erratorum multitudine detineri, ut tardiùs legat, aut paulisper subsistat. 301 Simpson, Proof-Reading [Anm. 292], S. 128, mit pauschalem Hinweis auf „Bryan’s Dictionary of Painters and Engravers“; gemeint ist wohl der Eintrag zu Moses Thim (sic!) in: Bryan’s Dictionary of Painters and Engravers, New Edition Revised and Enlarged under the Supervision of George C. Williamson, Fourth edition, 5 vols., 1903–4. Vol. V. S–Z (reprinted 1910, 1915, 1919, and 1921), London 1921, S. 170, s. v. Thim, Moses: „a German printer and engraver, resided at Wittenberg about the year 1613, and is said to have marked his plates with the initials M. T., sometimes separate, sometimes in a monogram, MT“. 302 Clemen, Einleitung [Anm. 295], S. 12 mit Anm. 14, unter unklarem Hinweis auf „Thieme-Becker, Allgemeines Künstlerlexikon, 7. Halbband S. 415“; gemeint ist wohl Friedrich Vollmer (Hg.): Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart, Begründet von Ulrich Thieme und Felix Becker, Dreiunddreißigster Band. Theodotos – Urlaub, Leipzig 1939, S. 123, s. v. Thym, Moses: „Holzschneider in Altenburg um 1613/17, schnitt nach Joh. Hauer“; sowie ebd., Sechzehnter Band. Hansen – Heubach, Leipzig 1923, S. 127, s. v. Hauer, Johann: „Als Zeichner für den Holzschnitt erscheint er [scil. Johann Hauer] (mit einem Meister J. R.) in dem von Moses Thym geschn. Porträtwerke: »Die Durchlauchtigste, Hochgeborne … Herzoge zu Sachsen«, Wittenberg 1613 (11 Bl.: 8 Kurfürsten, Luther, sächs. Wappen, Titelbl.)“. 303 Clemen, Einleitung [Anm. 295], S. 16. 304 Der lateinische Text nach Hornschuch 1608 [Anm. 295], S. 17; die deutsche Übersetzung nach Heidenreich 1634 [Anm. 297] S. 19. Den lateinischen Text konnte Cerquiglini bei Simpson, Proof-Reading [Anm. 292], S. 127 in der rechten Kolumne reproduziert finden.
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Ferner ist dem Correctori zuständig/ sich also zu gewehnen/ daß er im lesen zum wenigsten mit einem Worte den Lectorem zuvor komme. Denn auff diese Weise wird er etwas eher sehen/ was zu corrigiren, vnd es auff den rand zeichnen/ ehe jhn noch der Lector mit dem Lesen vberholet. Doch wil dem Lectori dißfalls gebüren/ so er mercken wird/ daß der Corrector, wegen Vielheit der Erraten, auffgehalten wird/ daß er desto langsamer lese/ oder ein wenig jnne halte.
Die größte Gefahr für diese methodische Zusammenarbeit von Lector und Corrector sieht Hornschuch nun aber darin, dass der A u t o r eines zu druckenden Werkes, nachdem er zunächst ein gänzlich mangelhaftes Manuskript eingeliefert hat, das Korrekturlesen dadurch sabotiert, dass er selbst den Probeabzug durchlesen und Verbesserungen eintragen möchte. Demgemäß resümiert Hornschuch das Ergebnis seiner Abhandlung folgendermaßen:305 Iuxta ergo hactenus dicta, si bona sementis in agrum jacta fuerit typographicum, ei haud facilè infelix mendorum succrescet lolium, nec opus fuerit, ut quis Correctoribus minùs fidens, sua ipsemet legere, & ab eiusmodi invisis filicibus vindicare malit: quam ego consvetudinem ferè cunctis damnosam fuisse testor, utpote in quorum scriptis editis nunquam æquè plura παρατυπώματα postea sint deprehensa. Fieri enim nequit, ut nihil delinquat is, qui in hac palæstra probè non sit versatus. Satius igitur fuerit ista Correctorum fidei committere, à quibus requiritur, ut omnia bis térve relegant & recognoscant. Derowegen nach allem/ was bißhero gesagt worden/ wenn eine gute Saat in den Acker der Druckerey geworffen wird/ so wird nicht leichtlich das vnglückselige Vnkraut der Erraten und Vitien auffgehen/ es wird auch nicht nötig seyn/ daß einer den Correctoribus wenig trawe/ vnd lieber wolte seine Werck selbsten lesen/ vnd von solchen verhasten Vnkraut vindiciren vnd retten: Welche gewonheit/ daß sie fast allen schädlich gewesen/ kann ich bezeugen/ als in deren gedruckten Schrifften hernacher mehr Vitia, als wol sonsten in keinem andern sind gefunden worden. Denn es kan nicht seyn/ daß der nichts solte versehen vnd pecciren, der an diesem Ort nicht wol versiret vnd gevbet ist. Drumb ist es besser/ daß man dasselbe den Correctoribus vertrawe/ vnd befehle/ von welchen erfordert wird/ daß sie alles zwey- oder dreymal recognoscieren vnd vberlesen.
Dieses Fazit hat Martin Boghardt 1983 wie folgt auf den Punkt gebracht:306 Die Autoren verhalten sich schludrig und anmaßend, sie liefern miserabel geschriebene Manuskripte und nehmen dennoch – Gipfel der Überheblichkeit! – für sich in Anspruch, die Revisionen besser durchführen zu können als die berufsmäßig geübten Korrektoren.
Vor diesem Hintergrund kann die Deutung des von Cerquiglini ins Feld geführten Holzschnitts nicht zweifelhaft sein: Am Korrektortisch rechts im Bildhintergrund sitzt in der rechten Ecke der Lector mit der Druckvorlage vor sich, zu seiner Rechten (d.h. vom Betrachter aus links von ihm) sitzt, mit Tintenfass, der 305 Der lateinische Text nach Hornschuch 1608 [Anm. 295], S. 33–34; die deutsche Übersetzung nach Heidenreich 1634 [Anm. 297] S. 37–38. 306 Boghardt, Vorwort [Anm. 298], S. 35.
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Corrector, der den Probeabzug verbessert; zwischen die beiden aber drängt sich, stehend, der Autor, der unter wildem Gestikulieren mit seinem linken Arm drauf und dran ist, die Korrektur in der von Hornschuch kritisierten Weise an sich zu reißen – womit er fatalerweise, nach Hornschuchs leidvoller Erfahrung, sehr häufig durchkommt.307 Demnach geht es in dem Holzschnitt gerade nicht, wie von Cerquiglini behauptet, um die frühneuzeitliche Marginalität des Autors, sondern vielmehr – im Gegenteil – um den nur allzu selbstbewussten Autor, der die Korrektur seines Werkes durch seine egozentrischen, aufdringlichen Interventionen behindert. Ein längst etabliertes Autorbewusstsein gerät angesichts der neuen technischen Möglichkeit, den eigenen Text im Nu zu vervielfachen und in diese Vervielfachung bis zum Schluss einzugreifen, vollends außer Rand und Band. Damit ist zugleich und erst recht Cerquiglinis extrapolierender Rückschluss auf eine vermeintlich noch viel schwächere Stellung des Autors in der volkssprachlichen Handschriftenproduktion des Hochmittelalters als haltlos erwiesen: Solche unbedachten Verallgemeinerungen können die historische Analyse der Überlieferungsverhältnisse und die darauf aufbauende Entwicklung einer dem Einzelfall angemessenen Editionsmethode nicht ersetzen. Statt darauf mit einer ebenso unbedachten Gegenverallgemeinerung zu reagieren, wollen wir jetzt anhand zweier diametral entgegengesetzter Überlieferungsfälle zwei spezifische Einwände gegen Cerquiglini geltend machen: a) Cerquiglinis Grundsatzthese, dass mittelalterliche Handschriften volkssprachlicher Literatur g e n e r e l l als schöpferische Eigenleistung des jeweiligen Schreibers zu betrachten und demgemäß p r i n z i p i e l l isoliert zu edieren seien, ist durch Handschriftenvergleichung leicht zu widerlegen. b) Gerade in Fällen, in denen tatsächlich eine extrem komplexe und variantenreiche Überlieferung vorliegt, so dass die von Cerquiglini visionär antizipierte, digitale Dokumentation aller Handschriften als D o k u m e n t a t i o n sinnvoll und geboten ist, bedarf sie der Ergänzung durch eine E d i t i o n , die das handschriftliche Material nach Fassungen bzw. Textstufen strukturiert und filtert – wenn anders am Ende der Bemühungen lesbare – d.h. für Menschen lesbare – Texte stehen sollen. 307 Unserer Interpretation des Holzschnitts liegt zum einen die von Boghardt, Vorwort [Anm. 298], S. 48, Anm. 50 zu S. 30 formulierte Einsicht zugrunde, dass die Deutung der beiden sitzenden Figuren als Lector und Corrector genau zur Hervorhebung und Differenzierung eben dieser beiden Funktionen in Hornschuchs Abhandlung wie in L. Jungermanns versifizierter Bildbeschreibung stimmt, und zum andern die von Simpson, ProofReading [Anm. 292], S. 129, Clemen, Einleitung [Anm. 295], S. 12 und neuerdings auch von Anthony Grafton, The Culture of Correction in Renaissance Europe, London 2011 (The Panizzi Lectures 2009), S. 13 vorgetragene Deutung der stehenden Figur als Autor. Indessen hat man bisher die für eine präzise Deutung der I n t e r v e n t i o n dieses Autors entscheidende Tatsache übersehen, dass Hornschuchs Text in der Warnung vor der U s u r p a t i o n d e r K o r r e k t u r d u r c h d e n a n m a ß e n d e n A u t o r kulminiert. Dagegen hat die insoweit von Clemen ebd. ins Spiel gebrachte Honorarverhandlung zwischen Autor und Verleger mit dem Inhalt von Hornschuchs Abhandlung nicht das Geringste zu tun.
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Zu a): Klare Belege für das vollkommen vorlagentreue handschriftliche Kopieren volkssprachlicher mittelalterlicher Texte liefern bestimmte mittelhochdeutsche lyrische Gedichte bzw. Gedichtfolgen, die mehreren Liederhandschriften gemeinsam sind, wie dem Codex Manesse (C), der Kleinen Heidelberger Liederhandschrift (A), der Stuttgarter Liederhandschrift (B) und der Würzburger Liederhandschrift (E). In Bezug auf einige dieser Gedichtfolgen lässt sich nämlich regelrecht nachweisen, dass sie in mindestens je zwei Handschriften nicht nur jeweils auf ein und dieselbe Vorlage (*) zurückgehen (u.a. *AC, *BC, *EC), sondern dass diese Vorlage von den beteiligten Schreibern auch besonders getreu wiedergegeben wurde:308 Ein Vergleich solcher Segmente zeigt, dass sie oftmals einen n a h e z u i d e n t i s c h e n Te x t aufweisen; Abweichungen beschränken sich auf dialektal bzw. sprachgeschichtlich bedingte Aspekte sowie Unterschiede, die auf die voneinander abweichenden Schreibkonventionen zurückzuführen sind, denen die beiden jeweils beteiligten Schreiber folgen; in einzelnen Fällen kommen Reimkorrekturen (die vor allem den C-Schreiber betreffen) hinzu.309 Solche Befunde lassen sich schwerlich anders erklären als mit der Annahme, dass die Schreiber dieser Handschriften darauf bedacht waren, ihre Vorlage so minutiös wie möglich zu reproduzieren. Von den von Cerquiglini behaupteten kreativen Eigenkompositionen der Schreiber aus eigenem Recht kann hier jedenfalls keine Rede sein, vielmehr steht das Abschreiben ganz im Zeichen des Bewahrens eines vorgängigen Texts. Mithin ist in solchen Fällen die Verweigerung einer Edition, die über die isolierende Dokumentation einzelner Handschriften hinausgeht, theoretisch unbegründet: Es gibt hier keinen rationalen Einwand gegen die Rekonstruktion der mit Händen zu greifenden gemeinsamen Vorlage gemäß dem von Stackmann 1964 konzipierten Verfahren – Rekonstruktion des semantischen F o n d s mittels Handschriftenvergleich; Gestaltung der dialektalen Patina nach einer Leithandschrift –, natürlich unter Dokumentation der Abweichungen zwischen den einzelnen Überlieferungsträgern in einem kritischen Apparat. Es würde nachgerade auf editorische Arbeitsverweigerung hinauslaufen, wenn man den Lesern und Leserinnen der betreffenden Gedichte bzw. Gedichtfolgen gleichwohl zumuten wollte, die Übereinstimmungen und Divergenzen durch Vergleich der einzelnen Versionen immer wieder selbst herauszufinden. Zu b) Umgekehrt seien als Beispiel für eine extreme, wenn auch interessanterweise gerade gelehrtensprachliche Textvarianz die „Toledot Jeschu“ herangezogen,
308 Vgl. die Forschung dazu resümierend Franz-Josef Holznagel: Wege in die Schriftlichkeit. Untersuchungen und Materialien zur Überlieferung der mittelhochdeutschen Lyrik, Tübingen, Basel 1995 (Bibliotheca Germanica, Bd. 32), S. 208–256; Henkes-Zin 2004 [Anm. 251], S. 158–179. 309 Vgl. z.B. C Lage XXIX (Bl. 331r–322v) mit der Parallelüberlieferung in A oder C Lage XIV–XV (Bl. 146r–167v) mit der Parallelüberlieferung in B.
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d.h. die „jüdische Lebensgeschichte Jesu als Gegenentwurf zur christlichen Botschaft des Neuen Testaments“.310 Die Erzählung „entstand unter bestimmten historischen Bedingungen in Babylonien und wurde im Zuge einer Ost-WestBewegung der jüdischen Literatur nach Europa transportiert, wo sie sich in unterschiedlichen Konstellationen immer wieder neu erfand“;311 dieser Prozess hat sich naturgemäß in einer ungewöhnlich starken Textvarianz niedergeschlagen:312 there never was a Toledot Yeshu Urtext back to which all the existing versions can be traced. The romantic search for the one and only Urtext is an idea that has misled scholars in many areas of Jewish Studies (and, of course, not only there), and Toledot Yeshu is a prime example of this futile exercise. What we can establish are various foci and nuclei, snapshots as it were, that can be fixed in place and time; but these snapshots on no account represent fixed points of a unilinear and monocausal chain of development originating from a given Urtext and leading to all the branches of the text tradition. We even don’t know at which point in history the snapshots begin embodying something that justifiably so might be called “Toledot Yeshu”, that is, a fully developed narrative deserving this title. Or, to put it differently and more precisely, there may well have been different nuclei representing different macroforms of Toledot Yeshu at different times and places.
An dieser Diagnose erscheint nur der Seitenhieb gegen die vermeintliche editorische idée fixe vom „one and only Urtext“ als leicht verstaubt, wenn man an die in der klassischen Philologie (Ed. Schwartz 1909 und G. Pasquali 1934; vgl. oben 1.2.4) wie in der germanistischen Mediävistik (K. Stackmann 1964 und J. Bumke 1996; vgl. oben 1.3.4) vorgenommenen Differenzierungen denkt. Doch dies schmälert nicht im Geringsten die wegweisende Bedeutung der editionspraktischen Konsequenz, die Peter Schäfer, in Verbindung mit Michael Meerson, aus seiner Diagnose gezogen hat. Für diese Konsequenz ist nun der Umstand entscheidend gewesen, dass sich die stärkste Textvarianz – unbeschadet der auch vorliegenden volkssprachlichen, d.h. in diesem Fall: jiddischen, judäo-arabischen, judenspanischen und judäo-persischen „Toledot Jeschu“-Versionen – vor allem an der reichen gelehrtensprachlichen, d.h. in diesem Fall: aramäischen und hebräischen, „Toledot Jeschu“-Überlieferung beobachten lässt: Hier, wenn irgendwo, ist die von Cerquiglini postulierte digitale Dokumentation der handschriftlichen Überlieferung – wie gesagt als D o k u m e n t a t i o n –
310 Peter Schäfer: Jüdische Polemik gegen Jesus und das Christentum. Die Entstehung eines jüdischen Gegenevangeliums, München 2017 (Carl Friedrich von Siemens Stiftung. Reihe »Themen«, Bd. 103), S. 61. 311 Schäfer ebd., S. 60. 312 Peter Schäfer: Introduction, in: Toledot Yeshu (“The Life Story of Jesus”) Revisited: A Princeton Conference edited by Peter Schäfer, Michael Meerson, and Yaacov Deutsch, Tübingen 2011 (Texts and Studies in Ancient Judaism 143), S. 1–11, hier: S. 2–3.
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am Platze.313 Deshalb haben Meerson und Schäfer im Jahre 2014 unter Beschränkung auf die aramäische und hebräische Überlieferung eine „Toledot“Edition neuen Typs vorgelegt,314 die neben zwei gedruckten Textbänden auch eine für Erwerber und Erwerberinnen dieser Bände mittels Zugangscode nutzbare Internet-Database umfasst; diese Database bietet die vollständigen Transkriptionen von nicht weniger als 107 mittelalterlichen und vor allem neuzeitlichen „Toledot“-Manuskripten:315 Methodisch aufschlussreich an dem Werk von Meerson/Schäfer ist nun aber gerade die Verbindung der digitalen Database mit der in den beiden gedruckten Bänden gebotenen, erschließenden Edition (samt englischer Übersetzung), die auf einer an Fassungen und Leithandschriften orientierten Selektion beruht. Meerson/Schäfer gliedern den Gesamtbestand der 107 aramäischen und hebräischen Manuskripte nach Bestand und Anordnung der Motive in fünfzehn verschiedene Fassungen, die sie einerseits zu drei Gruppen (I–III) zusammenfassen,316 andererseits bei sieben Fassungen aufgrund starker fassungsinterner Textvarianz noch weiter in je zwei bis vier Untergruppen untergliedern.317 Der zweite gedruckte Band ihres Werkes enthält eine kritische Edition des aramäischen bzw. hebräischen Textes von 14 der 15 Fassungen – nur Fassung Nr. 9 (Spätjemenitisch B) bleibt unberücksichtigt –; dabei edieren Meerson/Schäfer sieben Fassungen jeweils nach einer einzigen Leithandschrift bzw. nach zwei jeweils fragmentarischen, hintereinander abgedruckten 313 Man beachte allerdings den einschränkenden Hinweis von Daniel Barbu, Jaacov Deutsch: Introduction. Reading Toledot Yeshu in Context, in: Toledot Yeshu in Context. The Jewish “Life Story of Jesus” in Ancient, Medieval, and Modern History, Edited by Daniel Barbu and Yaacov Deutsch, Tübingen 2020 (Texts and Studies in Ancient Judaism 182), S. 1–11, hier: S. 4–5: „the great diversity of versions displayed in the extant manuscripts (most of which were in fact copied between the sixteenth and nineteenth centuries) does not necessarily reflect the state of the work in earlier periods; and while some textual variation undoubtedly existed in the previous centuries (as would be expected), it is perhaps prudent not to project the diversity of the tradition as a whole too far into the past“. 314 Toledot Yeshu: The Life Story of Jesus. Two Volumes and Database. Edited and Translated by Michael Meerson and Peter Schäfer with the collaboration of Yaacov Deutsch, David Grossberg, Avigail Manekin, and Adina Yoffie, Volume I. Introduction and Translation, Volume II. Critical Edition, Tübingen 2014 (Texts and Studies in Ancient Judaism 159). Vgl. dazu die Besprechung von Daniel Stökl Ben Ezra in: ASDIWAL. Revue genevoise d’anthropologie et d’histoire des religions. Année 2016/11/S. 226–330. 315 Vgl. das illustrierte Verzeichnis der aramäischen und hebräischen Handschriften bei Meerson/Schäfer 2014 [Anm. 313] Vol. II, S. 2–41. 316 Meerson/Schäfer 2014 (Anm. 313) Vol. I., S. V: „We divided the Toledot Yeshu manuscripts in three major groups (I–III) of versions or recensions (Early Oriental, Yemenite, etc.), each following an identical narrative structure, organized according to a presumed chronological sequence.“ Gruppe I: 1) Frühorientalisch A. – 2) Frühorientalisch B. – 3) Frühorientalisch C. – 4) Frühjemenitisch. – 5) Byzantinisch. – Gruppe II: 6) Ashkenazi A. – 7) Ashkenazi B. – 8) Spätjemenitisch A. – 9) Spätjemenitisch B. – 10) Spätorientalisch. – 11) Italienisch A. – 12) Italienisch B. – Gruppe III: 13) Wagenseil (ed. AD 1681). – 14) Huldreich (ed. AD 1705). – 15) Slawisch A. 317 Meerson/Schäfer 2014 ebd.: „Manuscripts of one version with substantial and continuous variant readings are arranged in different subgroups of that particular version“.
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Leithandschriften;318 die verbleibenden sieben Fassungen hingegen, deren Handschriftenbestand in Untergruppen untergliedert ist, werden ganz oder teilweise in s y n o p t i s c h e r Form (mit je einer Leithandschrift für jede der bis zu drei berücksichtigten Untergruppen) gegeben.319 Der erste gedruckte Band ihres Werkes schließlich bietet die vierzehn im zweiten Band edierten Fassungen in einer englischen Übersetzung, die aber auch für die im 2. Band in synoptischer Form edierten Texte bzw. Textabschnitte meist nur jeweils eine einzige Leithandschrift wiedergibt.320 Nur bei der Fassung Nr. 2 (Frühorientalisch B) halten Meerson/Schäfer auch in der Übersetzung daran fest, den Text der zugrundegelegten Leithandschrift (JTS8998) abschnittsweise in Synopse mit dem Text einer weiteren (Camb298) zu präsentieren.
Das Werk von Meerson/Schäfer führt exemplarisch zweierlei vor Augen: Einerseits ist die vollständige digitale und durch Suchfunktionen erschlossene Dokumentation der Handschriften eines Werkes gerade in Fällen großer Handschriftenmengen mit extremer Textvarianz (gleichviel, ob sie nun eine volkssprachliche oder eine gelehrtensprachliche Überlieferung betrifft) ein in seiner Art unübertreffliches Hilfsmittel. Andererseits ist gerade in solchen Fällen ohne die Gruppierung der so erfassten Handschriften und ohne die Ermittlung geeigneter Leithandschriften am Leitfaden der Überlieferungsverhältnisse weder eine historische Analyse der Überlieferung möglich noch deren Erschließung für Leserinnen und Leser aus Fleisch und Blut. Mithin steht selbst noch das nachdrücklich pluralistische Editionsverfahren von Meerson/Schäfer – aufgrund des von ihnen in den beiden gedruckten Bänden Geleisteten – in scharfem Gegensatz zu der auf Cerquiglini zurückgehenden New Philology: Letztere betrachtet die vorliegenden Abschriften eines Werkes als Medien, die grundsätzlich nicht auf vorausliegende Überlieferungs- oder Redaktionsstufen dieses Werkes zurückgeführt werden dürfen, sondern allein als Zeugnisse einer je individuellen schöpferischen Leistung des jeweiligen Abschreibers behandelt werden müssen. 318 Aus Gruppe I: 1) Frühorientalisch A: zunächst Camb35.87, dann JTS2529.2. – 3) Frühorientalisch C: Petr105. – 4) Frühjemenitisch: JTS6312. – 5) Byzantinisch: Petr274. – Aus Gruppe II: 7) Ashkenazi B: zunächst JTS2221, dann Amst414. – 8) Spätjemenitisch A: JTS2343, 10) Spätorientalisch: Benayahu25. 319 Meerson/Schäfer 2014 (Anm. 313) Vol. I., S. V: „The edition combines a traditional critical edition with a synoptic presentation. The latter is chosen for the subgroups, whose variant readings are too significant to be buried in an apparatus criticus. In this case each column in the synoptic table of two or at most three manuscripts renders the manuscript chosen as representative of that particular subgroup“. Aus Gruppe I: 2) Frühorientalisch B: Text nach JTS8998, abschnittweise in Synopse mit Camb298. – Aus Gruppe II: 6) Ashkenazi A: Text nach Strasb3974, zunächst in Synopse mit JTS1491, dann mit Bud299. – 11) Italienisch A: durchweg nach Leipz17, abschnittsweise in Synopse mit JTS2337 und Yale5 bzw. nur mit Yale5. – 12) Italienisch B: Synopse von Parma2091 und Parma2300. – Gruppe III: 13) Wagenseil: Synopse von Harv57 und Leipz17. – 14) Huldreich: durchweg nach Amst442, zunächst in Synopse mit Manch1989. – 15) Slawisch A: durchweg nach Princ28, zunächst in Synopse mit BenZvi961, später mit JTS2503. 320 Aus Gruppe II: 6) Ashkenazi A: Strasb3974. – 11) Italienisch A: Leipz17. – 12) Italienisch B: Parma2091. – Gruppe III: 13) Wagenseil: Harv57. – 14) Huldreich: Amst442. – 15) Slawisch A: Princ28.
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1.3.6 Schluss: Lachmanns Programm in Zeiten der Digitalisierung Das wissenschaftliche Erbe Karl Lachmanns kann nach dem Gesagten sicher nicht in dem von Bédier 1913 insinuierten Phantasma der vermeintlich ‚Lachmannschen Methode‘ bestehen, nicht in der Vorabfestlegung auf ein stemma codicum als d a s Instrument oder auf ein ‚Orginal‘ bzw. einen ‚Archetypus‘ als d a s Ziel editorischer Rekonstruktion. Vielmehr besteht dieses Erbe einfach in Lachmanns Forderung nach einer überlieferungsgeschichtlichen Fundierung der Ekdotik: Für jeden zu edierenden, handschriftlich überlieferten vormodernen Text ist in einem ersten Schritt ein auf möglichst vollständiger Kenntnis der Handschriften beruhendes historisches Modell der Überlieferungsverhältnisse zu entwickeln; und erst in einem daran anschließenden zweiten Schritt sind unter genauer Berücksichtigung dieses Überlieferungs-Modells die Ziele und Methoden der Edition festzulegen, anstatt sie den Überlieferungsverhältnissen dogmatisch von außen zu oktroyieren. Ob die sachgemäße Ausdifferenzierung des so verstandenen Lachmannschen Erbes in Zukunft weiter vorangetrieben oder aber aufgegeben wird, hängt nicht zuletzt an den Konsequenzen, die künftige Editor*innen aus den durch die Digitalisierung eröffneten, stark erweiterten Speicherungs- und Darstellungsmöglichkeiten ziehen werden. Dabei geht es natürlich nicht um die naive Alternative zwischen Begrüßung und Ablehnung dieser Möglichkeiten. Die Frage, die sich abzeichnet, ist eine ganz andere: Wird man sich das neue Potential zunutze machen, das digitale Editionen für die anschauliche, mehrstufige Darbietung der anhand eines zuvor erarbeiteten historischen Modells gegliederten Überlieferung bieten? Oder wird man dem Kurzschluss aufsitzen, als ob allein durch die quantitativen Kapazitäten der digitalen Edition, gleichsam automatisch, auch schon die Frage nach der anzuwendenden Editionsmethode entschieden sei, nämlich im Sinne der einst von Cerquiglini – freilich mit höchst dubioser Begründung – geforderten Ersetzung der traditionellen Edition durch die komplette Transkriptionensammlung einer überlieferungsgeschichtlich unanalysierten Handschriftenmasse im Medium der EDV? Auch solche Fragen werden in den Beiträgen des vorliegenden Bandes behandelt, die wir nun kurz vorstellen wollen.
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1.4 Zur methodischen Vielfalt „strenghistorischer Kritik“ heute: Die Beiträge des vorliegenden Bandes 1.4.1 Antike Texte in mittelalterlichen Handschriften. – 1.4.2 Variantentypologie I: Eigenvarianten der Schreiber. – 1.4.3 Variantentypologie II: Ursprüngliche Fassungsvarianz in der Liedüberlieferung? – 1.4.4 Der Archetypus und seine Hyparchetypi. – 1.4.5 Partielle Überlieferung abweichender älterer Textstufen. – 1.4.6 Partiell oder ausschließlich indirekte Überlieferung. – 1.4.7 Digitalität und Methode.
1.4.1 Antike Texte in mittelalterlichen Handschriften Am Anfang unserer Gegenüberstellung von Editionsmethoden in der Klassischen Philologie und in der germanistischen Mediävistik wird eine für die Vergleichbarkeit beider Disziplinen grundlegende Tatsache thematisiert: Unbeschadet der – im Einzelfall spektakulären, aber aufs Ganze gesehen immer noch spärlichen – Neufunde antiker Papyri altgriechischer Literatur hat der Löwenanteil der uns vorliegenden Überlieferung antiker Literatur mit der Überlieferung der mittelalterlichen Literatur dies gemeinsam, dass es sich bei den Überlieferungsträgern hier wie dort um m i t t e l a l t e r l i c h e H a n d s c h r i f t e n handelt. Vor allen Dingen im Fall der vorchristlichen antiken Literatur ist daran weniger der Verlust einer riesigen Zahl antiker Überlieferungsträger erklärungsbedürftig, als vielmehr die erstaunliche Tatsache, dass so viele der ‚heidnischen‘ Texte im christlichen Mittelalter weiter tradiert wurden. Vor diesem Hintergrund wendet sich Nigel WILSON (Oxford) den ökonomischen und soziokulturellen Bedingungen zu, unter denen die Überlieferung altgriechischer Literatur in dem erst 1453 untergegangenen Oströmischen Reich stand, d.h. im mittelalterlichen Byzanz. Die Nachfrage nach Handschriften mit klassischen griechischen Texten ging von einer intellektuellen Elite vor allem in der Hauptstadt Konstantinopel aus – später auch in Thessaloniki und in Mistra auf der Peloponnes –, die das attische Griechisch des Altertums in der Schule gelernt hatte und von der erwartet wurde, dass sie sich dieses literarischen Idioms nicht nur schriftlich, sondern bei offiziellen Anlässen auch mündlich bediente (obwohl im späten 12. Jahrhundert ausgerechnet in Athen die gut attische Predigt eines aus Konstantinopel gekommenen Bischofs für die Gemeinde unverständlich war!). Hingegen sind nach WILSON sichere Zeugnisse für philosophische bzw. wissenschaftliche Hochschulen im eigentlichen Sinn, für die ein entsprechender Bedarf an altgriechischen Texten zu erwarten wäre, dünn gesät: Für das 9. Jahrhundert nennt er die Schule im Magnaura-Palast zu Konstantinopel, für das 12. Jahrhundert die Patriarchatsschule ebendort. Andererseits ist die Tätigkeit von Buchhändlern (βιβλιοκάπηλοι) für das byzantinische Mittelalter mehrfach bezeugt. Als Beschreibstoff diente Pergament, dessen zu Zeiten eintretende Knappheit eine durch Tilgung (‚Palimpsest‘) der Erstbeschriftung ermöglichte Zweitverwendung von Pergamentblättern erforderlich machte. Aber auch das in Bagdad schon gegen Ende des 8. Jahrhunderts hergestellte Papier wurde von den Byzantinern importiert und zur Buchherstellung verwendet – vereinzelt seit 93
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dem 9. Jahrhundert, verbreitet seit der 1. Hälfte des 12. Jahrhunderts. Geschrieben wurden die Handschriften nach WILSON nicht nur von Mönchen in den Schreibwerkstätten der Klöster (z.B. des Studios-Klosters in Konstantinopel oder des Johannesklosters auf der Insel Patmos), sondern auch von selbständig arbeitenden Kopisten. In den Jahren 1204–1261, die die byzantinischen Kaiser wegen der ‚fränkischen‘ Okkupation Konstantinopels infolge des sogenannten 4. Kreuzzugs im Exil zu Nikaia (Kleinasien) verbringen mussten, gründeten sie gleichwohl neue öffentliche Bibliotheken; nach der Befreiung Konstantinopels im Jahre 1261 kam es dann unter der Paläologen-Dynastie trotz angespannter Wirtschaftslage zu einer Renaissance, die auch einen Aufschwung der gelehrten Studien und der Handschriftenproduktion mit sich brachte. In den zahlreichen Klassikerhandschriften aus dieser Zeit ist vermehrt zu beobachten, dass am Rand Alternativlesarten aus einer anderen, zum Vergleich herangezogenen Handschrift vermerkt werden: WILSON schließt daraus, dass man auch im späteren byzantinischen Mittelalter die Textkritik noch nicht aufgab, die ihre unübertroffene Glanzzeit einst im Alexandria des 3. und 2. vorchristlichen Jahrhunderts gehabt hatte. 1.4.2 Variantentypologie I: Eigenvarianten der Schreiber Tobias REINHARDT (Oxford) und Jan-Dirk MÜLLER (München) setzen sich in ihren Beiträgen mit der Identifikation potentieller E i g e n v a r i a n t e n d e r S c h r e i b e r auseinander, d.h. solcher Varianten, die die Schreiber unabhängig von ihrer Vorlage bzw. ihren Vorlagen in den Text aufnehmen konnten, so dass sie stemmatisch nicht „belastbar“ (MÜLLER) sind und folglich bei der Konstruktion von Gesamt- oder Teilstemmata außer Betracht bleiben dürfen – was unter Umständen zu einer erheblichen Vereinfachung führt. REINHARDT zeigt an der Überlieferung von Ciceros „Lucullus“ (dem zweiten Teil der ersten Bearbeitungsstufe der „Academica“), dass die Rekonstruktion der Handschriftengenealogie an der Frage hängen kann, welches Niveau der Textverbesserung aufgrund eigener Vermutung (emendatio ope ingenii) man den Schreibern einer bestimmten Epoche (hier: der karolingischen Epoche des lateinischen Mittelalters) zuzutrauen bereit ist. REINHARDT erläutert diesen Zusammenhang am Verhältnis zwischen der Florentiner Cicerohandschrift F (IX. Jahrhundert) einerseits und zwei Leidener Cicerohandschriften (A und B, beide ebenfalls IX. Jahrhundert) andererseits, wobei es bei A und B auch noch auf ihre jeweiligen Korrekturschichten von zweiter Hand ankommt (Aa und Ba). Ein sehr einfaches Teilstemma der Überlieferung ließe sich wie folgt rekonstruieren: Die Fehler des Teils von F, der u.a. auch den „Lucullus“ enthält, stimmen sehr oft mit denen von A bzw. Aa überein, während die des anderen Teils von F sehr oft denen von B bzw. Ba entsprechen. Deshalb und angesichts der übereinstimmenden Entstehungszeit der beteiligten Handschriften könnte man annehmen, dass F teils aus A+Aa, teils aus B+Ba abgeschrieben wurde; dann aber müssen sich zur Zeit der Herstellung von F auch A+Aa und B+Ba an dem Ort der Herstel94
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lung von F befunden haben, nämlich in dem in der Picardie gelegenen Kloster Corbie. Unter der Voraussetzung dieser temporären gemeinsamen Anwesenheit von A+Aa und B+Ba in Corbie wiederum würden sich dann – im von REINHARDT untersuchten „Lucullus“ – die Korrekturen von Aa w e i t h i n aus der Benutzung (emendatio ope codicum) von B als Korrektivexemplar erklären lassen, und umgekehrt die Korrekturen von Ba w e i t h i n aus der Benutzung der bereits korrigierten Handschrift A, d.h. von A+Aa. Dieses einfache Bild steht nun aber unter der notwendigen Bedingung, dass man diejenigen korrekten Lesarten von F bzw. Aa bzw. Ba, die n i c h t aus der soeben jeweils für sie angeführten Quelle (für F: A+Aa bzw. B+Ba; für Aa: B; für Ba: A+Aa) stammen, für E i g e n v a r i a n t e n hält, nämlich für von dem betreffenden Schreiber bzw. Korrektor selbst gefundene Verbesserungen, und diese Bedingung wiederum steht und fällt mit der von der Forschung mehrheitlich, aber nicht einhellig geteilten Annahme, dass solche Verbesserungen den Schreibern des IX. Jahrhunderts (noch immer bzw. schon wieder) zuzutrauen sind. Bestreitet man aber mit einem Teil der Forschung diese Annahme, dann muss man F, Aa und Ba auf weitere, hypothetisch zu erschließende Vorlagen zurückführen, so dass sich für die drei Handschriften ein ungleich komplizierteres Teilstemma ergibt. REINHARDT stellt für einen künftigen Beitrag die Plausibilisierung der Annahme von Eigenvarianten in diesem Fall in Aussicht. Einen anderen Typus von Eigenvarianten möchte Jan-Dirk MÜLLER in seinem Beitrag zur Nibelungenlied-Überlieferung nachweisen. Dabei geht er von der merkwürdigen Beobachtung aus, dass hier eine ausgeprägte, für schriftliche Überlieferung charakteristische Festigkeit des Epentextes bzw. seiner Fassungen auf der makrostrukturellen Ebene (Handlungsverlauf, Abfolge der Aventiuren und der einzelnen Szenen) mit einer starken mikrostrukturellen Varianz einhergeht, die für sich betrachtet an mündliche Überlieferung denken lässt – nämlich an das freie Schalten und Walten geschulter Sänger mit einem traditionellen Idiom – und an der die Aufstellung eines Stemmas bisher gescheitert ist, da sie auch zwischen Handschriften auftritt, die auf makrostruktureller Ebene als besonders eng miteinander verwandt erscheinen. Die mikrostrukturelle Varianz betrifft nicht nur graphemische und phonetische Varianten, nicht nur die bereits von Stackmann in ihrer Sonderstellung erkannte dialektale Patina, sondern auch die Wortstellung, den Wechsel von Kasus oder Numerus, zwischen Eigennamen und Appellativum, den Austausch von Epitheta und allgemein von semantisch oder klangverwandten Wörtern, ja von ganzen mehr oder weniger äquivalenten Syntagmen und Formulierungsschemata. Bei der Erklärung dieses paradoxen Befundes stützt MÜLLER sich auf die in der Forschung vorgeschlagene Beschreibung der Formelhaftigkeit des Nibelungenliedes als einer ‚fingierten Mündlichkeit‘: Es liege ein erlerntes und erlernbares Idiom vor, das ‚Nibelungische‘, das zwar ursprünglich aus der Mündlichkeit stamme, aber an die Bedingungen der Schriftlichkeit adaptiert worden sei, und zwar nicht nur bei der Produktion des 95
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Buchepos, sondern auch bei seiner Reproduktion durch Rezitatoren oder Kopisten. Je besser sich nun insbesondere die Schreiber das Idiom angeeignet hätten, desto leichter sei es ihnen gefallen, sich auf mikrostruktureller Ebene von ihrer schriftlichen Vorlage lösen, ohne die von dieser Vorlage vorgegebene Makrostruktur des Textes oder den Nibelungen-Stil im Mindesten zu verfälschen. Trifft MÜLLERS Erklärung das Richtige, dann greifen in der NibelungenliedÜberlieferung unterschiedliche Reproduktionstypen ineinander, die sich, anders als in der Forschung bislang dargestellt, insofern nicht auf die Entgegensetzung von Schriftlichkeit und Mündlichkeit reduzieren lassen, als bei der Wiedergabe einer schriftlichen Vorlage auch nicht ausschließlich schriftgestützte Verfahren (Aufschreiben nach Diktat, erinnerungsgestützte Reproduktion) angewendet werden können. Vor allem aber ergibt sich aus MÜLLERS Erklärung mutatis mutandis die gleiche willkommene Konsequenz wie im Beitrag von REINHARDT (sofern man dessen Annahme eigenständiger Schreiberkorrekturen teilt): In beiden Fällen versteht es sich von selbst, dass Eigenvarianten der jeweils beschriebenen Art bei der Rekonstruktion der Überlieferungsverhältnisse außer Betracht bleiben dürfen. 1.4.3 Variantentypologie II: Ursprüngliche Fassungsvarianz in der Liedüberlieferung? Hans BERNSDORFF (Frankfurt a.M.) und Anna Kathrin BLEULER (Salzburg) widmen ihre Beiträge der Überlieferung frühgriechischer bzw. mittelhochdeutscher Liedtexte (‚Lyrik‘). Da bei diesen ursprünglich zum mündlichen Vortrag bestimmten Liedtexten die Möglichkeit auf der Hand liegt, dass sie bei wiederholtem Vortrag in Wortlaut bzw. Strophenzusammenstellung modifiziert wurden, ist die uns vorliegende Überlieferung darauf zu prüfen, ob die dort zu beobachtende Varianz teilweise noch auf eine produktionsnah durch Vortragsmodifikationen generierte und in diesem Sinne ursprüngliche Fassungsvarianz zurückgeht. Im Fall der frühgriechischen Lied-Dichtung ist zu berücksichtigen, dass die Texte der neun kanonischen, archaisch-klassischen ‚Lieder-Macher‘ und ‚LiederMacherinnen‘ (Griechisch masc./fem.: οἱ/αἱ μελο-ποιοί) im Hellenismus durch eine autoritative, im 2. Jh. v. Chr. von alexandrinischen Philologen erarbeitete Edition fixiert wurden, durch die sie postum – leider unter Tilgung der mit Noten fixierten Melodien – zu den ‚Lyrikern‘ der späteren antiken Bildungstradition erhoben wurden:321 Da die uns vorliegende Überlieferung in der Regel auf diese Edition zurückgeht, muss eine von deren Wortlaut abweichende primäre Alternativfassung am Hauptstrom der Überlieferung vorbei letztlich auf 321 Vgl. hierzu Oliver Primavesi: Aere perennius? Die antike Transformation der Lyrik und die neuzeitliche Gattungstrinität, in: Sprachen der Lyrik. Von der Antike bis zur digitalen Poesie. Für Gerhard Regn anlässlich seines 60. Geburtstags, hg. v. Klaus W. Hempfer, Stuttgart 2008 (Text und Kontext, Bd. 27), S. 15–32.
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eine Handschrift zurückgehen, die vor der alexandrinischen Edition entstanden ist. BERNSDORFF diskutiert nun zwei Lieder – das Alterslied der Sappho (fr. 58 Voigt) und Anakreons sympotische Verse PMG 396 – in denen die neuere Forschung bestimmte Überlieferungsvarianten in der Tat auf Primärvarianz zurückgeführt hat. In beiden Fällen aber verwirft BERNSDORFF die Annahme primärer Varianz aus h e r m e n e u t i s c h e n Gründen. In der Überlieferung des Liedes der Sappho divergiert möglicherweise die Lokalisierung des Lied-Endes: Einer aus einem Oxrrhynchos-Papyrus (2. Jhdt. n. Chr.) schon seit 1922 bekannten, potentiellen Langversion (jedenfalls ist die Markierung eines früheren LiedEndes aufgrund der Lückenhaftigkeit des Papyrus nicht erhalten) steht eine in einem erst 2004 publizierten Kölner Papyrus (3. Jhdt. v. Chr.) ans Licht gekommene, sicher abgegrenzte Kurzversion gegenüber. Da die Kurzversion somit für die Zeit vor der alexandrinischen Edition bezeugt ist, stellt sich die Frage, ob die in dem späten Oxrrhynchos-Papyrus auf das Ende der Kurzversion noch folgenden vier Zeilen plausibel noch demselben Lied zugerechnet werden können – dann würde ein möglicherweise primäres Nebeneinander von Kurzversion und Langversion vorliegen – oder ob die zusätzlichen Zeilen eher als Beginn des folgenden Liedes oder notfalls als eigenständiges Kurzlied zu betrachten sind – dann läge jedenfalls insoweit keine Primärvarianz vor. BERNSDORFF kommt aufgrund der ringkompositorischen Geschlossenheit der Kurzversion zu dem Schluss, dass die Annahme einer primären Gleichwertigkeit von Kurzversion und Langversion unplausibel ist. Im Fall der Anakreonverse hält BERNSDORFF die in der neueren Forschung vertretene Annahme, eine bestimmte Lesungsdivergenz sei primär, deshalb für unplausibel, weil hier mit Bejahung und Verneinung ein und desselben Finalsatzes zugleich zwei miteinander vollkommen unvereinbare Bedeutungen der anschließend eingeführten Metapher (‚Boxen mit Eros‘) gegeneinander stehen. Anna Kathrin BLEULER setzt in ihrem Beitrag zur Überlieferung des späthöfischen Liedermachers Neidhart (erste Hälfte 13. Jh.) ein makrostrukturelles und ein mikrostrukturelles Phänomen zueinander in Beziehung, die beide in je verschiedener Weise auf eine primäre Fassungsvarianz hindeuten, und die sie am Lied Nr. 12 exemplifiziert. Auf der makrostrukturellen Ebene steht der Sachverhalt, dass in der frühen Berliner Neidhart-Handschrift R (mgf 1062) zu zehn Liedern, darunter dem Lied Nr. 12, neben der im Haupttext mitgeteilten Fassung jeweils noch eine Alternativ-Fassung angezeigt wird, indem am Blattrand zusätzliche Strophen als Plus- oder Alternativstrophen notiert sind, deren intendierte Lokalisierung im Gedicht durch ihre Positionierung bzw. durch römische Zahlen angezeigt wird, die die alternative Strophenfolge angeben. So ergibt sich im Fall des Liedes Nr. 12 auf der makrostrukturellen Ebene eine b i n ä r e Varianz derart, dass dem Schreiber neben einer Sieben-Strophen-Fassung, die er in seiner Hauptvorlage fand und in seinem eigenen Haupttext wiedergab, aus einer anderen Handschrift auch noch eine Zehn-Strophen-Fassung bekannt war, die an97
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stelle der Schluss-Strophe der Siebenerfassung vier dort nicht enthaltene Strophen bringt; diese vier Alternativ- bzw. Zusatzstrophen vermerkte der Schreiber unter Angabe ihrer Positionierung am Rand. Prüft man nun andererseits die Varianz der insgesamt elf in R für das Lied Nr. 12 überlieferten Strophen auf der mikrostrukturellen Ebene von Wort und Satz, dann erweist sich speziell die l e x i k a l i s c h e Varianz als ebenfalls binär: Bei Einbeziehung der Parallelüberlieferung der einzelnen Strophen in den jüngeren Handschriften, die in Strophenbestand und -reihenfolge von R durchweg abweichen, stellt sich – nach Ausschaltung offensichtlich sekundärer Anachronismen – heraus, dass an allen betreffenden Textstellen jeweils nur z w e i textkritisch gleichwertige lexikalische Varianten vorliegen. Der für die überlieferungsgeschichtliche Deutung der makrostrukturellen wie der lexikalischen Binarität entscheidende Befund besteht nun aber darin, dass die beiden Binaritäten s i c h n i c h t k o r r e l i e r e n l a s s e n : Bei den von drei oder vier Handschriften überlieferten Strophen ist die Bezeugung der lexikalischen Binarität durch einen ständigen, freien Wechsel der Lesartengemeinschaften charakterisiert, der ganz unabhängig davon ist, wie die von den jüngeren Handschriften gebotenen sekundären Strophenkombinationen sich auf makrostruktureller Ebene jeweils zu den beiden von R angezeigten Fassungen verhalten. Angesichts dieser wechselseitigen Unabhängigkeit der beiden Binaritäten ist die Überlieferung nach BLEULER auf eine Vorlage zurückzuführen, die sowohl auf makrostruktureller wie auf lexikalischer Ebene Alternativen anbot, zwischen denen beim Liedvortrag frei gewählt werden konnte: Bei den in der Überlieferung scheinbar regellos durcheinandergehenden Textbaustein-Kombinationen handele es sich in Wahrheit um die Ergebnisse unterschiedlicher Realisierungen der in der Vorlage angelegten Wahlmöglichkeiten. Konkret könne man dabei an ein alle Optionen versammelndes ‚Vortragsbuch‘ denken, das es dem Sänger ermöglichte, sich eine Vortragsfassung fallweise neu zusammenzustellen. Die hier vorliegende Fassungsvarianz darf nun aber möglicherweise nicht nur innerhalb der uns vorliegenden Überlieferung als p r i m ä r gelten – so viel liegt schon in Bumkes Fassungsbegriff –, sondern auch als textgeschichtlich u r s p r ü n g l i c h . Bumke fühlte sich ja im Fall der „Klage“ nur deshalb zur Edition von vier Fassungen bewogen, weil das dahinter stehende Orginal, dessen einstige Existenz er durchaus nicht grundsätzlich in Zweifel zog, uns nicht mehr zugänglich sei. Hingegen spricht in dem von BLEULER untersuchten Fall nichts dagegen, die rekonstruierte Vorlage als die ursprüngliche Textstufe zu betrachten, deren Eigenart dann gerade in der gebotenen Auswahlmöglichkeit bestanden hätte. 1.4.4 Der Archetypus und seine Hyparchetypi Marcus DEUFERT (Leipzig) diskutiert die als Lachmanns Meisterwerk geltende Edition des von dem Römer T. Lucretius Carus verfassten philosophischen Lehrgedichts „De rerum natura“ (1. Hälfte des 1. Jahrhunderts v. Chr.). DEUFERTS Beitrag zielt auf die Klärung der ebenso grundlegenden wie umstrittenen 98
Einleitung: Lachmanns Programm einer historischen Textkritik und seine Wirkung
Frage nach dem Verhältnis, das Lachmann zwischen dem von ihm rekonstruierten Archetypus und dessen ältester Nachkommenschaft angenommen hat: Lachmanns eigene Äußerungen zu dieser Frage sind notorisch unklar. Nach DEUFERTS eigenen Forschungen lässt sich die Lukrez-Überlieferung auf einen einzigen, nicht erhaltenen, fehlerhaften Ausgangspunkt Ω (Archetypus) zurückführen, dessen Textform immer dann sicher zu erschließen ist, wenn seine beiden Abschriften miteinander übereinstimmen, nämlich zum einen der erhaltene Leidensis Oblongus (O, frühes IX. Jh.), zum andern der verlorene Hyparchetypus Γ. Die Nachkommenschaft von O besteht aus dem verlorenen Poggianus π, auf den die 56 italienischen Humanistenhandschriften zurückgehen; die Nachkommenschaft von Γ besteht aus dem erhaltenen Leidensis Quadratus (Q, Mitte IX. Jh.) und drei umfangreichen erhaltenen Fragmenten (GVU) eines ansonsten verlorenen, im ausgehenden IX. Jh. geschriebenen Bruders von Q. Von DEUFERTS (heute maßgeblichem) Bild unterscheidet sich Lachmanns Position zum einen darin, dass er den verlorenen Poggianus π nicht für einen Nachfahren, sondern für einen Bruder von O hält. Zum andern hat Lachmann überhaupt nur die beiden Leidenses O und Q gründlich im Original studiert, nur auf ihnen basiert seine berühmte Rekonstruktion des Archetypus nach der Zahl der Seiten und der Zeilen pro Seite. Dessenungeachtet prüft er im Fall einer Lesartendivergenz zwischen Oblongus O und Quadratus Q zunächst, ob eine der beiden Handschriften dadurch Lügen gestraft wird, dass die ihr nächststehende und von Lachmann für unabhängig gehaltene Überlieferung – also im Fall von O die italienische π-Nachkommenschaft oder im Fall vom Q die Fragmente GVU – an der betreffenden Stelle mit der Gegenseite zusammengeht: In diesem Fall lässt er die fragliche Lesart als Sonderfehler unberücksichtigt. Werden aber die divergenten O- und Q-Lesarten beide durch die jeweils nächststehende Überlieferung bestätigt, dann weist er sie beide dem Archetypus zu, in dem nach seiner Meinung an zahllosen Stellen des Haupttextes zusätzlich je eine Alternativ-Lesart vermerkt war, s o d a s s s c h o n d e r A r c h e t y p u s selbst eine au fond zweispaltige Überlieferung repräsentiert. Da Lachmann O und π nicht auf einen gemeinsamen Hyparchetypus zurückführt, sondern sie beide direkt aus dem Archetypus abgeschrieben sein lässt, müsste er aus der weitgehenden Übereinstimmung beider gegen die nach seiner Meinung jüngere Gruppe Q/GVU unter den von ihm angenommenen Verhältnissen eigentlich schließen, dass O und π aus dem Archetypus abgeschrieben wurden, b e v o r dort die eigentümlichen Lesarten von Q/GVU vermerkt bzw. die vom Q/GVU-Text dokumentierten fehlerhaften Blattvertauschungen eingetreten waren; doch dieser Schluss wird von Lachmann an keiner Stelle ausgesprochen. Q und GVU hingegen führt offenbar schon Lachmann auf einen gemeinsamen Hyparchetypus zurück, selbst wenn er auch dies wieder an keiner Stelle deutlich sagt. Aufgrund dieser zum Gutteil impliziten Voraussetzungen kommt Lachmann dazu, drei Abschriften (tria apographa) des Archetypus anzunehmen, nämlich erstens O, zweitens π, drittens die gemeinsame Vorlage von 99
Oliver Primavesi und Anna Kathrin Bleuler
Q und GVU. Dies ist immer wieder, zuletzt noch von Timpanaro (1985) und Fiesoli (2000), so missverstanden worden, als sei Lachmann von einer dreispaltigen Lukrez-Überlieferung ausgegangen oder als habe er zwischen Zwei- und Dreispaltigkeit geschwankt. Diese Kritik kann DEUFERT überzeugend mit dem Argument entkräften, dass Lachmanns Rede von den tria apographa des Archetypus seiner Behauptung einer essentiellen Zweispaltigkeit der Überlieferung nicht im Geringsten widerspricht, da er die Zweispaltigkeit ja schon im Archetypus selbst ansiedelt und nicht erst durch dessen Abschriften konstituiert sein lässt. Gleichwohl ist Lachmanns Darstellung der Lukrez-Überlieferung nach DEUFERT auch abgesehen von ihrer Unklarheit mit zwei Schwächen behaftet: Lachmann verschleiert in wenig erfreulicher Weise, was er seinem Vorgänger Jacob Bernays (1847) verdankt, und er gibt keine Begründung für den p r i n z i p i e l l e n Vorrang, den er dem Oblongus O vor seinem vermeintlichen Bruder π und dem Quadratus Q vor seinem Bruder GVU einräumt. Die schon von Wilamowitz hervorgehobene, grundlegende Bedeutung des der Ausgabe beigegebenen textkritischen Kommentars bleibt davon unberührt. Der editionskomparatistischen Zielsetzung des vorliegenden Bandes kommt es in besonderem Maße zugute, dass Frank SCHÄFER und Tomas TOMASEK (Münster) in ihrem Beitrag einen der wenigen Fälle vorstellen können, in denen die Überlieferung eines mittelhochdeutschen Epentextes sich auf einen A r c h e t y p u s zurückführen lässt: den „Tristan“ Gottfrieds von Straßburg. Indessen stellt das Verhältnis dieses Archetypus zu den insgesamt drei nachweisbaren Hyparchetypi nach SCHÄFER/TOMASEK zwar kein theoretisches, wohl aber ein editionspragmatisches Problem dar: Den Autoren zufolge lässt sich der Archetypus zwar belegen, aufgrund der stark kontaminierten und vielfach fragmentarischen Überlieferung jedoch bei weitem nicht vollständig rekonstruieren. Aus diesem Befund leiten SCHÄFER/TOMASEK Ziel und Methode ihrer im Entstehen begriffenen münsterschen „Tristan“-Edition ab. Sie rekonstruieren denjenigen unter den insgesamt drei nachweisbaren Hyparchetypi, dessen Überlieferung weder von Kontamination noch von Textverlusten betroffen ist (= *X): Die betreffende Handschriftengruppe behandeln sie als den „Leitast“ ihrer Edition. An Textstellen aber, an denen sich die Lesarten der beiden anderen Hyparchetypi (*Y, *Z) – und aufgrund von deren Übereinstimmung auch die des Archetypus – bestimmen lassen, und an denen der rekonstruierte Hyparchetypus *X einen Sonderfehler aufweist, halten sie es für legitim und geboten, *X punktuell aus dem Archetypus zu korrigieren, also sozusagen ‚über Bande‘. 1.4.5 Partielle Überlieferung abweichender älterer Textstufen Die Beiträge von Peter ISÉPY (München) und Holger RUNOW (München) gelten dem Fall, dass b e s t i m m t e A b s c h n i t t e eines Werkes zusätzlich oder ausschließlich in einer primären Textstufe überliefert sind, die von der in den übrigen Abschnitten allein überlieferten sekundären Textstufe stark abweicht. 100
Einleitung: Lachmanns Programm einer historischen Textkritik und seine Wirkung
Die Differenz zwischen primärer und sekundärer Stufe betrifft bei ISÉPY den semantischen F o n d s , bei RUNOW die sprachliche P a t i n a : Dort steht neben einer vorbereitenden Sammlung von Exzerpten und Notizen durch den Autor (Primärstufe) deren von ihm selbst ausgearbeitete Zusammenfassung (Sekundärstufe), hier neben einer dem Autortext sprachlich nahestehenden Version (Primärstufe) eine spätere, nach Dialekt und Sprachstufe abgewandelte Version (Sekundärstufe). Unbeschadet des Unterschieds zwischen den beiden Konkretisierungen des hier vorliegenden Falles hebt sich dieser sowohl von Fassungen im Sinne Bumkes ab, bei denen sich keine Priorität ermitteln lässt, als auch von dem Verhältnis zwischen einer vollständig überlieferten späteren Textstufe und einer ebenso vollständig vorliegenden früheren. Peter ISÉPY behandelt die „Bibliotheke“ des byzantinischen Patriarchen Photios (um 815–893 n. Chr.), eine Sammlung von 279 Kapiteln (‚Codices‘) über 386 griechische Bücher aus antiker bis frühbyzantinischer Zeit, über die der Patriarch sich zunächst jeweils ein Heftchen (schedarion) mit Auszügen und Notizen angelegt hat. Die meisten dieser Aufzeichnungen hat er in die Form knapper Résumés gebracht, die den Löwenanteil seiner „Bibliotheke“ darstellen (Kapitel 1–233) und jeweils eine Kurzdarstellung (hypothesis) zu Autor, Werk und Stil enthalten. Doch ist er damit nicht fertig geworden: Bei den 46 verbleibenden Kapiteln der „Bibliotheke“ (d.h. 16,5 % aller Kapitel) handelt es sich um die unredigierte Abschrift seiner unvergleichlich reichen, in den Heftchen vorliegenden Aufzeichnungen. Die Differenz zwischen Haupt- und Schlussteil hinsichtlich der jeweils vorliegenden Textstufe spiegelt sich nun in gewisser Weise auch in der handschriftlichen Überlieferung wider. Der bisherigen communis opinio gelten zwei „Bibliotheke“-Handschriften als unabhängig: A (Marcianus gr. Z. 450; ca. 890 n. Chr.) und M (Marcianus gr. Z. 451; ca. 1100 n. Chr.). Nach ISÉPY hingegen ist der Marcianus M vom Marcianus A a b h ä n g i g , wobei diese Abhängigkeit über eine frühe, nicht erhaltene Abschrift (*) des Marcianus A läuft. Indessen bot der Schreiber dieser alten Abschrift (*) nur in dem von Photios vollendeten Hauptteil (Kapitel 1–233) nahezu durchweg einfach den A-Text, während er in nicht wenigen Kapiteln des die betreffenden Heftchen wiedergebenden Schlussteils Auslassungen oder Fehler, die im A-Text unterlaufen waren, anhand der damals noch direkt zugänglichen Heftchen ergänzte bzw. korrigierte. Demnach wird der nächste „Bibliotheke“-Editor im Hauptteil ebenso wie in denjenigen Kapiteln des Schlussteils, für welche die von M wiedergegebene Vorlage * den unveränderten A-Text bot, einfach den A-Text zu edieren haben. Hingegen liegt in denjenigen Kapiteln des Schlussteils, für welche die von M wiedergegebene alte Vorlage * den durchkorrigierten Text bot, eine zweispaltige Überlieferung vor: Die unkorrigierte Heftchen-Abschrift A steht hier neben der Kopie M der anhand der Heftchen überprüften, nicht erhaltenen Abschrift (*) von A, sodass der Heftchen-Text hier aufgrund kritischer Vergleichung von A und M zu edieren ist. 101
Oliver Primavesi und Anna Kathrin Bleuler
Der Beitrag von Holger RUNOW gilt Konrads von Würzburg († 1287) spätem Versroman „Partonopier und Meliur“, der in zwei Handschriften vorliegt: – A: Zürich, Zentralbibliothek Ms. 184 Nr. XXVI und Nr. XXVII, alemannisches Sprachgebiet, Ende 13. Jh.; zwei Fragmente im Umfang von zusammen ca. 450 Versen. – B: Berlin, Staatsbibliothek-Preußischer Kulturbesitz, Mgf 1064, Hall am Inn, AD 1471, bairisch-tirolisches Frühneuhochdeutsch; vollständige Abschrift im Gesamtumfang von über 21500 Versen.
In den auch in A erhaltenen Textabschnitten lässt sich nach RUNOW beobachten, dass A und B im semantischen Fonds einander so genau entsprechen, dass nicht zwei Fassungen, sondern zwei Bezeugungen eines im Wesentlichen identischen Textes vorliegen. Nun stehen die beiden Fragmente (A) sowohl zeitlich als auch nach Dialekt, Sprachstufe und Versform dem für Konrad von Würzburg anzunehmenden Original äußerst nahe, während in B eine 170 Jahre jüngere Umsetzung ins Bairisch-Tirolische auf frühneuhochdeutscher Sprachstufe vorliegt, in der die Syntax und die Reime des Originals mehrfach zerstört sind. Andererseits umfasst A lediglich gut zwei Prozent des in B im Wesentlichen vollständig vorliegenden Gesamttextes. Anhand eines Vergleichs zwischen den Fragmenten (A) und den entsprechenden Passagen der Vollhandschrift B kann RUNOW sowohl die Differenz von Dialekt und Sprachstufe beschreiben als auch die Fehlertypen von B, die durch Sprachwandel oder paläographische Unsicherheiten bedingt sind. Daraus und unter Einbeziehung dessen, was wir aus Konrads übrigem Œuvre über seine Sprache und seinen Stil wissen, ergibt sich eine Fülle von Anhaltspunkten für eine R e t r o v e r s i o n des von B gebotenen Textes in die durch A bezeugte Sprachform. Wie in der „Bibliotheke“ liegt auch in Konrads Versroman der faszinierende Fall vor, dass für einen kleinen Teil des Werkes ein textgeschichtlich eminent aufschlussreicher Einblick in eine primäre Textstufe möglich ist, während ansonsten nur die sekundäre Stufe erhalten ist. Auch hinsichtlich der Unmöglichkeit, die primäre Textstufe, dort wo sie verloren ist, gleichwohl rekonstruierend zu ‚edieren‘, sind die beiden Überlieferungsfälle einander ähnlicher, als man bei flüchtigem Hinsehen vermuten sollte. Im Fall der „Bibliotheke“ hat die Photianische Ausarbeitung so tief in den semantischen Fonds der Heftchen eingegriffen, dass ISÉPY aus den im Hauptteil überlieferten Résumés die dort nicht überlieferten Originalexzerpte – unschätzbare Zitate aus größtenteils verlorenen älteren Werken! – natürlich in keiner Weise rekonstruieren kann. Möglich ist immerhin eine im Hauptteil wie im Schlussteil aufgrund der Klärung der Überlieferungsverhältnisse verbesserte Edition der jeweils überlieferten Textstufe. Bei Konrads Versroman wiederum ist zwar die dort durchführbare exempli gratia-Retroversion des Großteils der sekundären Textstufe in eine dem Autortext nahestehende Sprachgestalt für die Erschließung dieser sekundären Textstufe sehr hilfreich, doch von einer ‚Edition‘ des verlorenen Teils der primären Text102
Einleitung: Lachmanns Programm einer historischen Textkritik und seine Wirkung
stufe kann selbst bei RUNOW keine Rede sein, da sich nur vermuten, aber nicht beweisen lässt, dass der von B gebotene Text hinsichtlich des semantischen Fonds seiner mittelalterlich-alemannischen Vorstufe ü b e r a l l so nahe steht, wie in den zwei Textausschnitten, in denen wir ihn kontrollieren können, den Fragmenten von A. 1.4.6 Partiell oder ausschließlich indirekte Überlieferung Mirjam E. KOTWICK (Princeton) und Oliver PRIMAVESI (München) widmen sich in ihren Beiträgen dem für die antike Literatur im Unterschied zur mittelalterlichen Literatur charakteristischen Phänomen, dass Texte nicht nur durch eine Folge integraler Abschriften überliefert wurden (‚direkte Überlieferung‘), sondern punktuell auch durch Zitate, Inhaltsangaben, Erklärungen und Kritiken anderer Autoren (‚indirekte Überlieferung‘). Des Näheren ist es möglich, dass sich bis heute sowohl direkte als auch indirekte Überlieferung eines solchen Textes erhalten hat. Es ist aber auch möglich, dass die direkte Überlieferung längst abgebrochen ist – etwa in der Spätantike oder bei der Verwüstung Konstantinopels durch den sogenannten Kreuzzug von 1204 –, so dass uns heute nur noch indirekte Überlieferung vorliegt. Ein Beispiel für den ersten Fall liefert die Überlieferung der Aristotelischen „Metaphysik“: Hierzu zeigt Mirjam E. KOTWICK, wie sich ein Bild der „Metaphysik“-Überlieferung, das sich nur auf die im 9. Jahrhundert n. Chr. einsetzende direkte Überlieferung stützt, präzisieren lässt, wenn man den schon um 200 n. Chr. verfassten „Metaphysik“Kommentar Alexanders von Aphrodisias hinzuzieht. Dieser Kommentar ist für die ersten fünf „Metaphysik“-Bücher im griechischen Original überliefert, und er ist deshalb der indirekten „Metaphysik“-Überlieferung zuzurechnen, weil Alexander zahlreiche Abschnitte der fünf Bücher wörtlich zitiert und detailliert erklärt. Kotwick zeigt anhand einer Reihe streng auf ihre Belastbarkeit geprüfter Aristoteles-Zitate in Alexanders Kommentar, dass der von Alexander um 200 n. Chr. ständig in erster Linie herangezogene „Metaphysik“-Text (ωAL) einerseits und der aus den beiden Hyparchetypi α und β zu rekonstruierende und wohl vor 400 n. Chr. entstandene Archetypus (ωαβ) der direkten „Metaphysik“Überlieferung andererseits wechselseitig voneinander unabhängig sind, ohne dass man Paare gleichwertiger und deshalb womöglich primärer Fassungsvarianten nachweisen könnte. Vielmehr ist in jedem Einzelfall zu prüfen und lässt sich oft auch eindeutig entscheiden, ob ωAL gegen ωαβ oder aber ωαβ gegen ωAL das Richtige hat. Dass aber ωAL und ωαβ nicht jeweils direkt auf ein Aristotelisches ‚Original‘ zurückgehen können, sondern auf einen gemeinsamen, bereits fehlerhaften, vom ‚Original‘ verschiedenen Ausgangspunkt, möchte KOTWICK daraus schließen, dass beide einen höchst schwerwiegenden Bindefehler miteinander gemeinsam haben, nämlich die offenkundig auf eine sekundäre Redaktion zurückgehende Einschaltung des sogenannten Buches Kleinalpha – einer kurzen Einleitung in die theoretische Philosophie bzw. die Naturphilosophie im Allgemeinen – zwischen dem Buch Großalpha und dem Buch Beta 103
Oliver Primavesi und Anna Kathrin Bleuler
der „Metaphysik“. Den damit nachgewiesenen Ausgangspunkt möchte KOTWICK als „Hyperarchetypus“ bezeichnen. Man muss sich nur vor Augen halten, dass die indirekte Überlieferung, wenn man vom Grenzfall einer vollständigen Übersetzung einmal absieht, nur abschnittsweise bzw. punktuell vorliegt, und dass deshalb auch der Text eines solchen „Hyperarchetypus“ nur partiell rekonstruierbar ist. Die methodischen Besonderheiten der Edition eines uns nur noch indirekt überlieferten Textstücks, d.h. eines ‚Fragments‘, illustriert Oliver PRIMAVESI am Beispiel eines elf Verse umfassenden Gleichnisses des frühgriechischen Dichterphilosophen Empedokles von Agrigent (484/483–424/423 v. Chr.): Das Gleichnis ist uns wegen des Abbruchs der direkten Empedokles-Überlieferung nur durch ein Zitat in einer Schrift des Aristoteles („De sensu“) überliefert. Gemessen an der von MÜLLER beschriebenen Vertrautheit mittelalterlicher Schreiber mit dem Idiom des „Nibelungischen“ ist im vorliegenden Fall festzustellen, dass die Schreiber zwar mit der trockenen, sachlich-präzisen Prosa des zitierenden Autors Aristoteles zurechtkamen, doch durchaus nicht mit der barocken, bilderreichen Sprache des zitierten Autors Empedokles; infolgedessen ist in der Mehrheitsüberlieferung des zitierenden Werkes der Gleichnistext ungleich stärker verderbt als seine prosaische Umgebung: Er konnte bisher nicht in einer sprachlich akzeptablen, geschweige denn inhaltlich sinnvollen Form ediert werden. PRIMAVESI zeigt, dass erst die vollständige Auswertung der indirekten Überlieferung des zitierten Textes eine Lösung des Problems ermöglicht, die dann umgekehrt auch von beachtlichem heuristischem Wert für die Klärung der Überlieferungsverhältnisse des zitierenden Werkes ist. Zunächst ermittelt er anhand des Berichts eines bedeutenden antiken Wissenschaftshistorikers den im Gleichnis thematisierten Sachverhalt: Es geht um einen bestimmten Aspekt der Augenfunktion, nämlich um die nächtliche Ausscheidung von überschüssigem, bei vorangegangenen Sehvorgängen im Auge akkumuliertem Feuer durch winzige Poren der Iris. Sodann zieht PRIMAVESI zwei seit langem bekannte, aber hinsichtlich des Potentials ihrer vermeintlich eigenwilligen Lesungen immer noch nicht ausgeschöpfte Textzeugen des zitierenden Aristotelischen Werkes heran: eine griechische Handschrift (Vaticanus P) des Kopisten Ioasaph (2. Hälfte 14. Jahrhundert) und die mittellateinische Übersetzung Wilhelms von Moerbeke (um 1260). Die beiden Zeugen ermöglichen gegen die Mehrheitsüberlieferung erstmals die Konstitution eines inhaltlich sinnvollen Gleichnistextes: Empedokles veranschaulicht die durch die Augenporen hindurch erfolgende Ausscheidung überschüssigen Feuers, indem er sie mit der Funktion einer Ton-Laterne vergleicht, die ihr Licht durch kleine gebohrte Öffnungen hindurch verbreitet. Dieses Ergebnis suggeriert eine Zuordnung der beiden Zeugen zu einem unabhängigen Überlieferungszweig des zitierenden Werkes, aber es kann sie, für sich betrachtet, nicht garantieren, da die korrekten Lesarten auch aus früher, punktueller Kontamination mit dem zitierten Werk stam104
Einleitung: Lachmanns Programm einer historischen Textkritik und seine Wirkung
men könnten. Deshalb zeigt PRIMAVESI abschließend, dass eine weitere, erst in jüngster Zeit bekannt gewordene Handschrift der betreffenden Aristotelischen Schriftengruppe, deren Unabhängigkeit von der Mehrheitsüberlieferung für andere Textabschnitte bereits erwiesen wurde, den wiedergewonnenen Gleichnistext bestätigt. 1.4.7 Digitalität und Methode Auf die oben (1.3.6) aufgeworfene Frage nach dem Verhältnis digitaler Editionsformen zu dem von uns als Lachmanns Erbe bestimmten Programm einer überlieferungsgeschichtlichen Fundierung der Ekdotik ist dem Beitrag von Florian KRAGL (Erlangen/Nürnberg) eine Antwort zu entnehmen, die stark an der von ihm gemeinsam mit Manuel Braun und Sonja Glauch herausgegebenen digitalen Edition der „Lyrik des deutschen Mittelalters“ (LDM) orientiert ist. Die Zielrichtung des Beitrags kommt bereits in seinem Titel „Jenseits der Textkritik“ deutlich genug zum Ausdruck: Sein springender Punkt ist die Engführung des Begriffs der digitalen Edition mit den auf Cerquiglini zurückgehenden Prämissen der sogenannten New Philology. Diese Engführung wird nicht begründet, sondern axiomatisch vorausgesetzt; doch einfach aus der Luft gegriffen scheint sie nicht. Vielmehr sind KRAGLS Ausführungen von einer impliziten MethodenTeleologie getragen, der zufolge Cerquiglini bzw. die New Philology den Zielpunkt des editionsmethodischen Fortschritts markieren, durch dessen Erreichung alle anderen Methoden im Grunde überholt sind; womöglich sieht KRAGL also in jener vermeintlich am weitesten fortgeschrittenen Methode, gleichsam aus Symmetriegründen, auch den Goldstandard für den angemessenen Gebrauch der neuen digitalen Technik. Jedenfalls hat nach KRAGL die digitale Edition keinen Herausgebertext zu erstreben, sondern eine möglichst breite und übersichtliche Abbildung der Gesamtheit der Überlieferung, die als „textuelle Informationssammlung“ verstanden wird: „Der Herausgeber […] wählt nicht aus und er rekonstruiert nicht, sondern er stellt zusammen“. Die Frage aber, welche praktischen Konsequenzen die allgemeine Durchsetzung dieses Programms mit sich bringen würde, ist zur Zeit wohl noch nicht abschließend zu beantworten. Bei KRAGL jedenfalls steht auf der einen Seite ein gleichsam befreiungsphilologischer Optimismus: Der schwache Editor solle und könne die Textkonstitution künftig dem „starken Leser“ überlassen. Auf der anderen Seite räumt KRAGL ein, dass eine ‚nativ-digitale‘ Edition in dem von ihm definierten Sinne jedenfalls bei unübersichtlicher Überlieferungslage nicht länger von Menschen – auch nicht vom „starken Leser“ – gelesen werden könne, sondern nur mehr von Maschinen. Demnach ist auch die Möglichkeit ins Auge zu fassen, dass die Indienstnahme des ‚nativ-digitalen‘ Edierens für die Vollstreckung der New Philology unter Umständen darauf hinauslaufen könnte, die von Foucault und in radikalisierter Form von Cerquiglini geforderte ‚Abschaffung des Autors‘ durch eine ‚Abschaffung des Lesers‘ zu vollenden. Gemessen an dieser radikalen Perspektive erscheint die editorische P r a x i s der digitalen Edition 105
Oliver Primavesi und Anna Kathrin Bleuler
„Lyrik des deutschen Mittelalters“ (LDM) vordergründig zwar als Abmilderung. Dort wird nämlich jeder Textzeuge für sich zusätzlich auch ‚ediert‘; diese ‚Edition‘ greift normierend in die Schreibungen der Handschrift ein;322 bei eindeutigen Verstößen gegen die Grammatik oder das Reimschema werden sogar Konjekturen vorgenommen. Schließlich wird der solcherart normierte Text jedenfalls bei mitteloberdeutschen Liedtexten zusätzlich in einer normalisierten Version dargeboten.323 Doch ist diese Abmilderung in der Tat nur vordergründig: An der Selbstverpflichtung der LDM-Editor*innen auf die Durchsetzung von Cerquiglinis Hauptanliegen – Marginalisierung des Autors oder doch älterer, aus der Überlieferung erschließbarer Textstufen und Privilegierung der Schreiber der erhaltenen Handschriften – wird bei alldem konsequent festgehalten, insofern es nicht der Autor oder der Redaktor einer primären Fassung, sondern allein der Schreiber ist, dessen Produkt die ‚editorische‘ Bemühung gilt: Die ü b e r l i e f e r u n g s g e s c h i c h t l i c h begründete Korrektur ist in der LDM bei aller Interventionsfreudigkeit tabu. Der Beitrag von Michael STOLZ (Bern) über die von ihm angeleitete digitale „Parzival“-Edition zeigt,324 dass die Entscheidung für ein genuin digitales Edieren keineswegs immer mit einem Bekenntnis zu Cerquiglini bzw. zu den Editionsmaximen der New Philology einhergehen muss. Im Gegenteil: Seiner digitalen „Parzival“-Edition gelingt es, dem Benutzer gerade die von der New Philology verpönten überlieferungsgeschichtlichen Befunde in einer Weise vor Augen zu führen, die über die Möglichkeiten des Mediums ‚Buch‘ spektakulär hinausgeht. Die durch vergleichende Analyse von 16 nahezu vollständigen Handschriften ermittelten Verwandtschaftsverhältnisse veranschaulicht STOLZ für die einzelnen Textabschnitte nicht durch ein traditionelles Stemma, sondern – ohne Festlegung auf Ausgangspunkte – durch wurzellose Baumdiagramme, sogenannte Phylogramme, denen eine statistische Distanzmatrix zugrunde liegt. Als Ordnungskategorie zur Gliederung der so ermittelten und veranschaulichten Überlieferungsverhältnisse wird Bumkes Fassungsbegriff (vgl. oben 1.3.4.2) herangezogen; daraus ergibt sich, wenigstens in editionspragmatischer Hinsicht, eine Abgrenzung von vier Fassungen *D, *m, *G und *T. Der von der Edition gebotene – normalisierte –Text der vier Fassungen wird in der Regel aus je einer Leithandschrift gewonnen, die in drei der vier Fälle aus einer frühen Überlieferungsphase stammt (mittleres bzw. späteres 13. Jahrhundert). Doch lassen sich 322 Dies geschieht, indem sie Abkürzungen auflöst, die beiden Formen des ‚s‘ zur runden Form zusammenfasst, ‚u‘/‚v‘ und ‚i‘/‚j‘/‚y‘ nach ihrem konsonantischen bzw. vokalischen Lautwert ausgleicht, Getrennt- bzw. Zusammenschreibung nach Maßgabe der Wörterbücher reguliert usw. 323 Diese folgt in der Nominal- und Verbalflexion der 1881 von Hermann Paul begründeten „Mittelhochdeutschen Grammatik“ und in den Wortformen den mittelhochdeutschen Wörterbüchern von Müller, Zarncke (Leipzig 1854–1866), Lexer (Leipzig 1872– 1878) und Gärtner, Grubmüller, Stackmann (1. Band. a – êvrouwe, Stuttgart 2013). 324 Vgl. https://www.parzival.unibe.ch, 15. 2. 2022.
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Einleitung: Lachmanns Programm einer historischen Textkritik und seine Wirkung
durch Anklicken einzelner Siglen in der Fassungsedition Fenster öffnen, die die exakte Transkription und das Digitalisat der betreffenden Textstelle in der gewählten Handschrift zeigen, so dass „die Fassungsedition für die in den Textzeugen begegnenden Einzelbefunde offen“ ist. Insbesondere lässt sich dank dieser Dokumentationsebene en détail ein Befund nachvollziehen, der geradezu die überlieferungsgeschichtliche Pointe des Beitrags von STOLZ ausmacht: Für zwei Handschriften, nämlich V und V’, lässt sich zeigen, dass sie in dem ihnen gemeinsamen Textteil – dem „Nuwen Parzifal“ und den letzten beiden Büchern 15 und 16 aus Wolframs Dichtung – zueinander im Verhältnis von Vo r l a g e und K o p i e stehen, so dass die erheblichen Differenzen, die zwischen ihnen auf der Ebene einzelner Wörter wie größerer Einheiten bestehen, einen unmittelbaren Einblick in die Genese von Varianz im Rahmen der Schriftlichkeit gestatten. Damit führen sie das vor Augen, was Stolz im Titel seines Beitrags als ‚lebenden‘ Text apostrophiert, nämlich die G e n e s e einer eigenständigen Textform, die dann, wenn wir die Vorlage V nicht hätten, selbst schon als Fassung im Bumkeschen Sinne erscheinen würde, deren Vorstufen unserem Blick entzogen wären. – Parallel zur digitalen, synoptischen Edition der vier Fassungen entsteht auf der Grundlage der Fassung *D eine Eintextedition, in der zusätzlich neben dem Text in kleinerer Type die Varianten der Fassungen *G und *T mitgeteilt werden. Die Eintextedition ist dazu bestimmt, die für literaturwissenschaftliche Forschungen oder im akademischen Unterricht erforderliche intensive Lektüre größerer Partien, womöglich des ganzen Epos, zu erleichtern. Gerade in ihrer Gegenüberstellung zeigen die Beiträge von KRAGL und STOLZ, dass durch die genuine Digitalität einer Edition weder die Möglichkeit ausgeschlossen wird, dass die editorische Vorgehensweise im Wege schlüssiger Argumentation aus den jeweils vorliegenden Überlieferungsverhältnissen abgeleitet wird, noch dass die Edition sich als wissenschaftliche Dienstleistung für Leser und Leserinnen mit beschränkter Lebens- und Lesezeit versteht.
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ANHANG 1: LACHMANNS „GESETZE“ VON 1817 von Oliver P r i m a v e s i und Anna Kathrin B l e u l e r Karl Lachmann hat 1817 über Friedrich Heinrich von der Hagens Edition des Nibelungenlieds (1816)1 eine Rezension publiziert,2 mit der Lachmann darauf zielt, sich in Sachen Nibelungenlied genauso als methodisch überlegener Kontrahent des populären und einflussreichen v. d. Hagen zu positionieren, wie es die Brüder Grimm in ihrem publizistischen ‚Krieg‘ gegen v. d. Hagens „Edda“Ausgabe von 1812 getan hatten.3 Während v. d. Hagen seinen Text des Nibelungenliedes ausschließlich auf der alten Sankt Galler Handschrift aufgebaut und somit das von Jacob Grimm 1815 für eine Edition des Nibelungenlieds avant la lettre geforderte Leithandschriftenprinzip4 in die Tat umgesetzt hatte, hielt Lachmann ihm nun als „das einzig richtige Gesetz“ den bereits in der Einleitung des vorliegenden Bandes vorgestellten Grundsatz entgegen:5 Wir sollen und wollen aus einer hinreichenden Menge von guten Handschriften einen allen diesen zum Grunde liegenden Text darstellen, der entweder der ursprüngliche selbst seyn oder ihm doch sehr nahe kommen muss.
An diesem Grundsatz gemessen ist v. d. Hagens Ausgabe in Lachmanns Augen nur eine nützliche Vorarbeit.6 Der Methodenentwurf, den Lachmann v. d. Hagens Edition programmatisch entgegensetzt, beruht auf der Voraussetzung, dass auch den wenigen überhaupt in Betracht gezogenen „guten Handschriften“ durchaus nicht durchweg das gleiche Gewicht für die Konstitution des Textes zukommt. Vielmehr bestehen unter ihnen We r t u n t e r s c h i e d e , die nichts mit der Qualität ihrer Lesarten im Einzelfall zu tun haben, sondern in erster Linie auf ihrer jeweiligen Stellung im Verwandtschaftsgefüge der Hand1
Der Nibelungen Lied, zum erstenmal in der ältesten Gestalt aus der Sanct Galler Handschrift mit Vergleichung der übrigen Handschriften, Zweite mit einem vollständigen Wörterbuche vermehrte Auflage, Breslau [Der angekündigte z w e i t e Band, der den Text der „Klage“ und ein Lesartenverzeichnis enthalten sollte, ist nicht erschienen]. 2 Karl Lachmann (Pseudonym: C. K.): Recension von F. H. v. d. Hagen (Hg.): Der Nibelungen Lied, Breslau 1816 und von G. F. Benecke (Hg.): Der edel stein, getichtet von Bonerius, Berlin 1816, in: Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung 14, 1817, Bd. III, Juli, Nr. 132–135, Sp. 113–142 (= Karl Lachmann: Kleinere Schriften, Erster Band, Kleinere Schriften zur Deutschen Philologie, hg. v. Karl Müllenhoff, Berlin 1876 [im Folgenden: Lachmann, Kleinere Schriften 1], S. 81–114). 3 Vgl. Lothar Bluhm: ‚compilierende oberflächlichkeit‘ gegen ‚gernrezensirende Vornehmheit‘. Der Wissenschaftskrieg zwischen Friedrich Heinrich von der Hagen und den Brüdern Grimm, in: Romantik und Volksliteratur. Beiträge des Wuppertaler Kolloquiums zu Ehren von Heinz Rölleke, hg. v. Lothar Bluhm, Achim Hölter, Heidelberg 1999, S. 49–70. 4 Jacob Grimm: Ueber die Nibelungen, in: Altdeutsche Wälder, hg. durch die Brüder Grimm, Zweiter Band, Frankfurt/Main 1815, S. 145–180, hier: S. 160–161. 5 Lachmann 1817 [Anm. 2], Sp. 114. 6 Lachmann ebd., Sp. 114–115.
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Oliver Primavesi und Anna Kathrin Bleuler
schriften beruhen, aber auch auf ihrem Alter, oder dem Überarbeitungsgrad des von ihnen gebotenen Textes. Aus den so verstandenen Wertunterschieden ergibt sich eine Rangfolge nicht nur der einzelnen Handschriften, sondern auch und insbesondere der möglichen Allianzen unter ihnen. Aus dieser Rangfolge wiederum lassen sich Regeln (‚Gesetze‘) ableiten, nach denen sich bei vielen Lesartendivergenzen allein schon aufgrund der Verteilung der Lesarten auf einzelne Handschriften oder Handschriftengruppen entscheiden lässt, welche Lesart – im Hinblick auf die vom Editor zur Rekonstruktion ausgewählte Textstufe – den Vorzug verdient. Eine solche Feststellung dessen, was als überliefert gelten darf (‚recensio‘) kann ‚mechanisch‘ genannt werden, insofern gerade nicht die Qualität der betreffenden Einzellesarten in concreto dabei den Ausschlag gibt, sondern allein die Frage nach der Rangstufe der sie jeweils überliefernden Handschriften bzw. Handschriftengruppen. Ob der anhand einer solchen mechanischen recensio – „ohne die mindeste Rücksicht auf den Sinn oder die Vorschriften der Grammatik“ – hergestellte Text dann auch ohne weiteres zu drucken ist, wie Lachmann in seinen radikaleren Augenblicken forderte,7 oder ob er dann noch einer editorischen emendatio unterzogen werden darf, ist eine zweite Frage, aber an jener mechanischen recensio führt für Lachmann kein Weg vorbei. Nach eben dieser Methode lässt sich nun, so Lachmann 1817, eine frühe, bereits im 13. Jahrhundert vorliegende B e a r b e i t u n g des Nibelungenliedes anhand der folgenden vier, bereits von v. d. Hagen aufgelisteten Pergamenthandschriften (für die wir im Folgenden durchweg Lachmanns Siglen von 1817 verwenden werden) weitgehend rekonstruieren: Lachmanns Bezeichnungen (1817)
aktuelle Siglen, Signaturen und Datierungen
B: „zweyte hohenemser Handschrift“ A: Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 34 (vor 1280) G: „St. galler Handschrift“
B: Stiftsbibliothek St. Gallen, Cod. Sangallensis 857 (um 1260)
E: „erste hohenemser Handschrift“
C: Badische Landesbibliothek, Cod. Donaueschingen 63 (1225–1250)
M: „jüngere münchner Handschrift“
D: Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 31 (14. Jh.)
7 Karl Lachmann, „Ueber G. Hermann’s Ausgabe von Sophokles Ajax“, in: Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung, 1818, Bd. IV, November, Nr. 203–204, Sp. 249–263, hier Sp. 250: „Da unsere Zeit auf die Vervielfältigung der Griechischen Texte so erpicht scheint, so möchten wir wünschen, dass man, statt immer und ewig die berühmtesten u n b e g l a u b i g t e n Ausgaben zu wiederholen, lieber solche Texte lieferte, wie sie sich a l l e i n a u s d e n H a n d s c h r i f t e n nach der strengsten Prüfung d e s We r t h e s j e d e r e i n z e l n e n ergeben, o h n e d i e m i n d e s t e R ü c k s i c h t a u f d e n S i n n o d e r d i e Vo r s c h r i f t e n d e r G r a m m a t i k “ (Sperrungen von uns).
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Anhang 1: Lachmanns „Gesetze“ von 1817
Mit v. d. Hagen 1816 hält Lachmann die St. Galler Handschrift (G) für die älteste Handschrift und die 1810 von der k. b. Hof- und Staatsbibliothek zu München erworbene zweite Hohenemser Handschrift (B) für deutlich jünger als G;8 seine Charakterisierung von M als j ü n g e r e Münchner Handschrift impliziert, dass er M (mit Recht) für noch jünger hielt als B. Die Handschrift E schließlich hält er, ebenfalls mit v. d. Hagen 1816, nach ihrer Textform für eine „spätere Bearbeitung“.9 Auf die Frage, wie die von Lachmann getroffene Handschriftenauswahl oder die von ihm angenommenen Datierungen und Abhängigkeitsverhältnisse aus heutiger Sicht zu beurteilen w ä r e n , k o m m t e s u n s i m F o l g e n d e n d u r c h a u s n i c h t a n . Vielmehr geht es uns nur um die innere Konsistenz des von Lachmann unter Berücksichtigung seiner relativen Datierungen aufgestellten Überlieferungsmodells und der daraus von ihm abgeleiteten Editionsmethode. Wir zitieren zunächst Lachmanns Beschreibung seines Überlieferungsmodells und fügen dabei Anmerkungen ein, in denen wir unser Verständnis dieser Beschreibung schon einmal umreißen; dabei bezeichnen wir die von Lachmann angenommenen v e r l o r e n e n Vorlagen, im Unterschied zur Verwendung lateinischer Großbuchstaben für e r h a l t e n e Handschriften, mit griechischen Kleinbuchstaben:10 Allein wie viel älter als B auch immer G seyn mag: so ist doch gewiss, dass die letztere Hdsch. nichts anderes als eine planmässig und absichtlich verbesserte Ausgabe oder Recension des in B erhaltenen Textes ist.11 […] An genaue Herstellung der älteren Gestalt12 ist nun wohl nicht eher zu denken, als bis man wenigstens noch Eine B sehr ähnliche Handschrift auffindet. Aber die neuere13 8
Lachmann 1817 [Anm. 2], Sp. 117: „die sonst, wie es scheint, ganz richtige Meinung […], dass die St. galler Handschrift (G) die älteste unter den vier bisher gebrauchten und insbesondere älter als die zweyte hohenemser (B) sey“. 9 Lachmann ebd.: „Über das Verhältniss der Nibel.-Handschriften bemerkt H r. v. d . H a g e n beynahe nur, was sich auf den ersten Blick zeigt, dass alle sehr verschieden seyen, die erste hohenemser aber (wir nennen sie in dem Folgenden immer E […]) den anderen als eine spätere Bearbeitung gegenüberstehe“. 10 Lachmann ebd., Sp. 117–118; Anmerkungen von uns. 11 D.h. G ist eine der Abschriften eines verlorenen Codex (bei uns im Folgenden: α) in dessen um „Verbesserungen“ (im Folgenden: ‚β-Korrekturen‘) ergänztem Zustand (im Folgenden: α2), wohingegen B eine Abschrift des Codex α in dessen ursprünglichem Zustand (im Folgenden: α1), d.h. vor Anbringung der β-Korrekturen, darstellt. 12 Unter der „älteren Gestalt“ des Textes versteht Lachmann diejenige Textform, die von dem verlorenen Codex α in seinem ursprünglichen Zustand α1 geboten wurde, in dem er als Vorlage von B diente, d.h. vor Anbringung der β-Korrekturen. 13 Die „neuere“ Gestalt des Textes ist für Lachmann diejenige idealtypische Textform (bei uns im Folgenden: ‚Mischtext αβ‘), die man aus dem Codex α in seinem um die βKorrekturen ergänzten Zustand α2 unter der (utopischen) Voraussetzung hätte herstellen können, dass man zum einen a u s n a h m s l o s a l l e β-Korrekturen absolut fehlerfrei übernommen und zum andern alle von β-Korrekturen nicht betroffenen α-Lesarten absolut fehlerfrei wiedergegeben hätte.
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Oliver Primavesi und Anna Kathrin Bleuler
wird sich durch Vergleichung unserer Handschriften noch ziemlich bestimmt herausfinden lassen. Die weitere Untersuchung, die wir jedoch hier nicht ausführen können, ergiebt nämlich, dass die übrigen Handschriften, die erwähnte Umarbeitung E und die jüngere münchner (M), eben wie G, aus jenem Exemplare, das B sehr ähnlich war, geflossen sind,14 alle drey aber nicht unmittelbar, und dass diese Urschrift der drey genannten nicht eine ganz neue gewesen, sondern eine alte, welcher der Verbesserer seine Änderungen beygeschrieben hatte.15 Diese Änderungen, welche bald dieser, bald jener Schreiber übersehen,16 und jeder mit neuen vermehrt hat,17 herauszufinden, das ist die Aufgabe des Herausgebers.
Demnach verteilen sich die vier Lachmann bekannten, erhaltenen Handschriften auf zwei Überlieferungszweige, von denen einer nur durch B repräsentiert wird, der andere durch G, E und M – wobei Lachmann der Sankt Galler Abschrift G, wie wir noch sehen werden, einen begrenzten Vorrang vor der „Umarbeitung E“ und der „jüngeren münchner Handschrift M“ einräumt. Indessen behandelt er alle vier Handschriften als Abschriften ein und desselben, heute verlorenen Codex – bei uns: α –, dessen Verhältnis zu einem mutmaßlichen ‚Originaltext‘ er übrigens nirgends thematisiert. Den Unterschied zwischen beiden Überlieferungszweigen sieht Lachmann lediglich darin, dass der Codex α in seinem u r s p r ü n g l i c h e n Zustand α1 als Vorlage von B gedient hat,18 hingegen in seinem s p ä t e r e n , durch beigeschriebene „Verbesserungen“ – bei uns: ‚β-Korrekturen‘ – angereicherten Zustand α2 als Vorlage von GEM. Unsere Rekonstruktion des von Lachmann angenommenen Überlieferungsmodells sei –
14 In seinem ursprünglichen Zustand α1 war der Codex α der Handschrift B deshalb „sehr ähnlich“ (aber nicht vollkommen gleich), weil er in diesem Zustand zwar als Vo rl a g e von B gedient hatte, aber von B naturgemäß nicht absolut fehlerfrei kopiert wurde. 15 Auch für G, E und M diente als Vorlage zwar nicht eine Abschrift des Codex α, sondern der Codex α selbst, aber er tat dies n i c h t in seinem ursprünglichen Zustand α1, sondern in seinem durch die β-Korrekturen angereicherten Zustand α2. 16 In jeder der drei α2-Abschriften G, E und M kann statt einer in α2 vermerkten β-Korrektur versehentlich die in α2 nach wie vor lesbare α-Lesart aufgenommen worden sein. 17 Jede der drei α2-Abschriften weist anderweit nicht bezeugte Sonderlesarten auf. 18 Die Lachmann in der Forschung gelegentlich unterstellte Annahme von Zwischenstufen zwischen α1 und B (z.B. B als Abschrift nicht von α1 sondern von einem mit α1 gemeinsamen Vorfahren) wird durch seine Beschreibung der Überlieferungsverhältnisse nicht nahegelegt, geschweige denn erfordert, und verstößt somit gegen ‚Ockham’s razor‘, d.h. gegen den Aristotelischen Grundsatz, demzufolge v o n z w e i B e w e i s f ü h r u n g e n ceteris paribus d i e j e n i g e a l s ü b e r l e g e n g e l t e n s o l l , d i e m i t w e n i g e r P o s t u l a t e n , Vo r a u s s e t z u n g e n u n d P r ä m i s s e n a u s k o m m t (vgl. Anal. Post. A 25, 86a33–35: ἔστω γὰρ αὕτη ἡ ἀπόδειξις βελτίων – τῶν ἄλλων τῶν αὐτῶν ὑπαρχόντων –, ἡ ἐξ ἐλαττόνων αἰτημάτων ἢ ὑποθέσεων ἢ προτάσεων).
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Anhang 1: Lachmanns „Gesetze“ von 1817
im Gegensatz zu Lachmanns eigener Praxis – durch ein Stemma veranschaulicht:19
Lachmann interpretiert nun die von ihm erschlossenen, im Codex α nachträglich, d.h. im Zustand α2 vermerkten β-Korrekturen nicht etwa als gelehrt-unverbindliche Mitteilungen von Alternativlesarten, sondern als v e r b i n d l i c h e A n w e i s u n g e n z u r p u n k t u e l l e n U m a r b e i t u n g d e s α- Te x t e s – es heißt also in Lachmanns Sinne reden, wenn wir diese Varianten hier als ‚βK o r r e k t u r e n ‘ bezeichnen. Demgemäß geht er davon aus, dass die Schreiber der Handschriften G, E und M beim Abschreiben von α2 vor der Aufgabe standen, die in α2 vermerkten β-Korrekturen a u s n a h m s l o s i m m e r den entsprechenden α-Lesarten vorzuziehen: Sie hatten nach Möglichkeit einen idealtypischen Mischtext – bei uns: αβ – zu liefern, der an allen Stellen, an denen keine β-Korrektur verzeichnet war, genau dem ursprünglichen α-Text entsprach, aber an ausnahmslos allen Stellen, an denen eine β-Korrektur verzeichnet war, stets diese Korrektur und nicht die ursprüngliche α-Lesart aufwies. Lachmann geht ferner davon aus, dass die β-Korrekturen in α2 in einer Weise vermerkt waren (am Rande bzw. zwischen den Zeilen des α-Textes), d i e a n d e n b e t r e f f e n d e n S t e l l e n d i e L e s b a r k e i t d e s α- Te x t e s n i c h t b e e i n t r ä c h t i g t e . Demnach waren für die Schreiber von G, E und M beim Kopieren von α2 nicht nur die β-Korrekturen sichtbar, sondern überall auch der ursprüngliche α-Text, so wie er schon B als Vorlage gedient hatte.
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Vgl. dazu Sebastiano Timpanaro: La genesi del metodo del Lachmann, Prima ristampa corretta con aggiunte, Padova 1985 (Biblioteca di cultura), S. 105–106; Fritz Bornmann: Sui criteri di ‘recensio’ meccanica enunciati da Lachmann nel 1817, in: Rivista di letterature moderne e comparate 15, 1962, S. 46–53; Peter F. Ganz: Lachmann as an Editor of Middle High German Texts, in: Probleme mittelalterlicher Überlieferung und Textkritik. Oxforder Colloquium 1966, hg. v. Peter F. Ganz, Werner Schröder, Berlin 1968, S. 12–30, hier: S. 19; Magdalene Lutz-Hensel: Prinzipien der ersten textkritischen Editionen mittelhochdeutscher Dichtung. Brüder Grimm – Benecke – Lachmann. Eine methodenkritische Analyse, Berlin 1975 (Philologische Studien und Quellen 77), S. 230; Enzo Cecchini: Sulle ‘quattro regole’ di Lachmann, in: Orpheus, n. s. 3/1, 1982, S. 133–139, hier: S. 134; Giovanni Fiesoli: La genesi del lachmannismo, Firenze 2000, S. 276–277 mit Anm. 29 und S. 282–283 mit Anm. 40.
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Der Umstand, dass die Lesbarkeit des ursprünglichen α-Textes auch nach Eintragung der β-Korrekturen in α2 ungemindert war, hatte zur Folge, dass die Schreiber von G, E und M beim Abschreiben von α2 dem ursprünglichen αText versehentlich auch an solchen Stellen folgen konnten, an denen eine βKorrektur vermerkt war. Eine solche, trotz einer in α2 vermerkten β-Korrektur erfolgte und mithin unberechtigte Aufnahme ursprünglicher α-Lesarten in einer der drei α2-Abschriften wertet Lachmann als Verfehlung der den Schreibern vorgegebenen Textform, d.h. als F e h l e r. Schließlich nimmt Lachmann in plausibler Weise an, dass jeder der drei Schreiber von G, E und M beim Abschreiben von α2 auch S o n d e r f e h l e r begangen, d.h. Lesarten produziert hat, bei denen es sich weder um eine ursprüngliche αLesart noch um eine β-Korrektur handelt. Deshalb rechnet er damit, dass an einzelnen Stellen drei oder sogar vier verschiedene Lesarten auftreten können. Auch an Stellen, an denen nur zwei verschiedene Lesarten überliefert sind, versteht es sich nicht von selbst, dass diese Divergenz auf eine α/β-Divergenz zurückgeht. Das Begehen eines Sonderfehlers hält Lachmann für genauso wahrscheinlich wie die bereits erwähnte unberechtigte (d.h. trotz vorhandener βKorrektur erfolgte) Aufnahme einer α-Lesart durch eine α2-Abschrift. Anders steht es um die Übereinstimmung zweier Handschriften in einem Fehler. Er hält es für viel wahrscheinlicher, dass zwei α2-Abschriften zu Unrecht (d.h. trotz vorhandener β-Korrektur) die für beide Schreiber gleichermaßen sichtbare α-Lesart aufnehmen, als dass zwei Handschriften in einem beliebigen Sonderfehler übereinstimmen: Jene Fehlermöglichkeit ist gewissermaßen in der Vorlage schon angelegt, diese nicht. Das e d i t o r i s c h e Z i e l , das unter den angegebenen Voraussetzungen zu verfolgen sei, bestimmt Lachmann 1817 wie folgt: An die Herstellung der „älteren Gestalt“ des Textes, d.h. des eines reinen α-Textes, wie ihn der Codex α in seinem ursprünglichen Zustand α1 bot, s e i n i c h t z u d e n k e n – jedenfalls so lange nicht, wie nur eine einzige α1-Handschrift (B) bekannt sei. Das Kriterium ist hier offensichtlich gerade kein inhaltliches – etwa das von einer Sehnsucht nach dem „ursprünglichen Text“ motivierte Streben nach der Gewinnung der ältesten bezeugten Textform –, sondern ein rein methodisches: Die technische Durchführbarkeit einer mechanischen recensio. Und in der Tat: Nachdem Lachmann der Nibelungen-Ausgabe v. d. Hagens abgesprochen hatte, eine Ausgabe zu sein, weil sie allein auf dem St. Galler Codex G basiert, konnte er selbst schlecht empfehlen, den nur durch B direkt bezeugten reinen α-Text zu rekonstruieren. Zwar könnte man bei der Verfolgung dieses Ziels als immerhin partielle Zeugen auch die drei α2-Abschriften hinzuziehen, die stets dann, wenn sie mit B übereinstimmen, dessen Text als α-Text sichern. Doch im Fall einer Divergenz zwischen der von B überlieferten Lesart einerseits und einer einhellig bezeugten α2-Lesart andererseits lässt sich mechanisch nicht entscheiden, ob der von den α2-Abschriften überlieferte αβ-Text an dieser Stelle eine β-Kor114
Anhang 1: Lachmanns „Gesetze“ von 1817
rektur bietet, so dass die von B überlieferte Lesart eine α-Lesart darstellen kann, oder ob an dieser Stelle nicht vielmehr der αβ-Text – mangels einer βKorrektur – eine α-Lesart liefert, während es sich bei der von B überlieferten Lesart um einen Sonderfehler handelt. Deshalb bestimmt Lachmann als das beim Nibelungenlied allein mögliche Ziel einer mechanischen recensio vielmehr die „neuere Gestalt“ des Textes, d.h. den Mischtext αβ, i n d e m a u s n a h m s l o s a l l e i n α2 n o t i e r t e n β- K o r r e k t u r e n a n d i e S t e l l e d e r e n t s p r e c h e n d e n α- L e s a r t e n g e t r e t e n w ä r e n . Denn nach Lachmann stellte der Codex α in seinem späteren Zustand α2 kraft der in ihm hinzugefügten β-Korrekturen geradezu eine A n w e i s u n g für die Umarbeitung des α-Textes zum Mischtext αβ dar – der Schreiber, der im Codex α die β-Korrekturen eintrug, heißt bei ihm „Verbesserer“ –, und in eben diesem Zustand diente der Codex den Schreibern von G, E und M als Vorlage. Das Mittel zur w e i t g e h e n d e n mechanischen Rekonstruktion des idealen Mischtextes αβ ist nach Lachmann die „Vergleichung unserer Handschriften“. Damit meint er nicht etwa nur die drei α2-Abschriften, die nach Kräften die Anweisungen zur Herstellung von αβ umsetzen, sondern auch die α1-Abschrift B: Nur aufgrund einer Übereinstimmung einer oder mehrerer α2-Abschriften mit B kann ja gezeigt werden, dass diese α2-Abschriften die jeweilige α-Lesart bewahrt haben – sei es, weil in α2 an der betreffenden Stelle gar keine β-Korrektur verzeichnet war (sodass an dieser Stelle die α-Lesart mit der zu bevorzugenden αβ-Lesart identisch ist), sei es, weil eine α2-Abschrift die in α2 verzeichnete β-Korrektur übersehen hat, sodass die in diesem Fall für den αβ-Text anzunehmende β-Korrektur, wenn überhaupt, dann nur in den verbleibenden α2-Abschriften überliefert sein kann. Aus diesem Modell leitet Lachmann nun aber nicht nur seine bereits erwähnte editorische Zielsetzung ab – die Rekonstruktion des Mischtextes αβ – sondern auch vier „Gesetze“,20 die o h n e B e r ü c k s i c h t i g u n g v o n I n h a l t u n d F o r m d e r e i n z e l n e n L e s a r t e n anzuwenden sind: Eben dies ist ja gemeint, wenn man die von Lachmann geforderte recensio eine ‚mechanische‘ nennt. Für das Verständnis der Gesetze kommt es, wie die Forschungsgeschichte zeigt, entscheidend darauf an, dass Lachmann alle vier Textzeugen auf zwei unterschiedliche Bearbeitungsstufen e i n u n d d e r s e l b e n v e r l o r e n e n H a n d s c h r i f t (bei uns: α) zurückführt, d i e i n d i e s e r H a n d s c h r i f t b e i d e n o c h a b l e s b a r s i n d : zum einen die noch nicht mit β-Korrekturen versehene Bearbeitungsstufe α1, zum andern die mit β-Korrekturen versehene Bearbeitungsstufe α2. Wer dies nicht sieht, muss die Gesetze für vollkommen
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Lachmann 1817 [Anm. 2], Sp. 118.
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Oliver Primavesi und Anna Kathrin Bleuler
obskur halten.21 Lutz-Hensel und Fiesoli geben zwar eine korrekte Beschreibung der von Lachmann angenommenen Gestalt der Vorlage;22 doch LutzHensel scheint deren Charakteristika bei der Analyse der Gesetze aus dem Blick zu verlieren, was zu Unklarheiten in ihrer Argumentation führt;23 Fiesoli hingegen verwirft zwar die von Timpanaro und Bornmann am Text der „Gesetze“ vorgenommenen Emendationen,24 bietet selbst jedoch keine systematische Interpretation des unemendierten Wortlauts. Bei unserem Durchgang durch die „Gesetze“ wird sich zeigen, dass Lachmann einen rein mechanischen Vorzug stets nur einer Lesart zuerkennt, die von mindestens zwei Handschriften bezeugt wird. Der Grund hierfür dürfte darin liegen, dass bei einer nur von einer einzigen Handschrift bezeugten Lesart die Wahrscheinlichkeit, dass es sich dabei um einen Sonderfehler handelt, durch keine externe Stütze gemindert wird. Eben dieser Erwägung scheint Lachmanns Kritik an der Leithandschriftmethode v. d. Hagens ebenso zugrunde zu liegen wie seiner Verwerfung des nur von B direkt bezeugten reinen α-Textes als Rekonstruktionsziel. In sämtlichen „Gesetzen“ – die jeweils aus mehreren Teilgesetzen bestehen können – stellt Lachmann diejenige Handschriftengruppe, deren Lesart mechanisch zu bevorzugen ist, mittels eines „größer-als-Zeichens“ (>) den verbleibenden Handschriften bzw. Handschriftengruppen entgegen. Damit wird es als w a h r s c h e i n l i c h e r bezeichnet, dass die betreffende Handschriftengruppe die Lesart des zu rekonstruierenden Mischtextes αβ liefert, als dass sie es nicht tut – von G e w i s s h e i t ist bei Lachmann insoweit nicht die Rede. Der Weg zu einer rationalen Evaluation von Lachmanns Gesetzen bzw. Teilgesetzen führt nun über die Bestimmung des K r i t e r i u m s , mittels dessen sich der jeweils durch das „größer-als-Zeichen“ (>) angezeigte Vorrang einer bestimmten Handschriftengruppe objektiv begründen bzw. überprüfen lässt. Dieses Kriterium ist im Regelfall diejenige G e s a m t z a h l d e r F e h l e r d e r v i e r H a n d s c h r i f t e n , die jeweils in der Annahme impliziert ist, dass eine bestimmte 21
So spricht Bornmann 1962 [Anm. 19], S. 48, von „regole così oscure e contraddittorie“. Ein zusätzliches Problem ist, dass im Wiederabdruck des Textes in den Kleineren Schriften (hg. v. Müllenhoff 1876) in der dritten Regel ein größer-als-Zeichen gegenüber dem Erstdruck von 1817 umgekehrt ist (1817: „BG > E – M“ vs. 1876: „BG < E – M“). Bornmann ebd., S. 48–50, und Timpanaro 1985 [Anm. 19], S. 107–108, halten diese Abweichung für eine (berechtigte) Korrektur des Herausgebers, was zusätzliche Verwirrung stiftete. 22 Vgl. Lutz-Hensel 1975 [Anm. 19], S. 236; Fiesoli 2000 [Anm. 19], S. 278–280. 23 So gelangt Lutz-Hensel z.B. zum Ergebnis, dass Lachmanns Gesetze in einigen Fällen die Annahme von α-Lesarten und in anderen Fehlen die Annahme von β-Lesarten vorschreiben (bei Lutz-Hensel in Anlehnung an Timpanaro als φ1- und φ2-Lesarten bezeichnet), was richtig ist. Jedoch schließt sie aus diesem Befund, dass Lachmann hinsichtlich des Rekonstruktionsziels schwanke (vgl. Lutz-Hensel 1975 [Anm. 19], S. 235), wovon keine Rede sein kann. 24 Vgl. Fiesoli 2000 [Anm. 19], S. 278–280.
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Anhang 1: Lachmanns „Gesetze“ von 1817
Handschriftengruppe oder Einzelhandschrift im Gegensatz zu den übrigen Handschriften die richtige Lesart (d.h. im vorliegenden Fall: die für den Mischtext αβ zu fordernde Lesart) aufweist. Bei der Anwendung dieses Kriteriums sind nun zwei Parameter in Rechnung zu stellen, (I.) die jeweilige Handschriftenkonstellation und (II.) die dieser Konstellation zugeordneten, relevanten Richtig-Falsch-Kombinationen: I. H a n d s c h r i f t e n k o n s t e l l a t i o n e n : Jedes Lachmannsche Teilgesetz beansprucht Gültigkeit für eine ihm eigentümliche Konstellation der vier Handschriften, die von der Anzahl der voneinander abweichenden Lesarten und von ihrer Distribution abhängt: Liegen z w e i verschiedene Lesarten vor, dann können die drei α2-Abschriften gegen die α1-Abschrift B zusammengehen, oder B kann mit zwei α2-Abschriften gegen die verbleibende α2-Abschrift zusammengehen, oder B kann mit einer α2-Abschrift gegen die beiden verbleibenden α2-Abschriften zusammengehen. Liegen d r e i verschiedene Lesarten vor, dann können zwei α2-Abschriften gegen je eine Sonderlesart von B und der verbleibenden α2-Abschrift zusammengehen, oder B kann mit einer α2-Abschrift gegen je eine Sonderlesart der beiden verbleibenden α2Abschriften zusammengehen. Liegen schließlich v i e r verschiedenen Lesarten vor, so muss jede der vier Handschriften eine Sonderlesung aufweisen. II. R e l e v a n t e R i c h t i g - F a l s c h - K o m b i n a t i o n e n : Jede Handschrift kann entweder die ihr vorgegebene Lesart korrekt wiedergeben oder einen Fehler aufweisen. So kann zum einen die α1-Abschrift B entweder korrekt die α-Lesart bewahren oder einen Sonderfehler aufweisen. Und zum andern kann jede der drei α2-Abschriften jeweils entweder a) korrekt eine gegebenenfalls in α2 vermerkte β-Korrektur aufnehmen, oder b) z u R e c h t (nämlich in Ermangelung einer in α2 vermerkten β-Korrektur) die betreffende α-Lesart aufnehmen, oder c) z u U n r e c h t (nämlich trotz einer in α2 vermerkten β-Korrektur) die betreffende α-Lesart aufnehmen, oder schließlich d) einen Sonderfehler aufweisen. Mithin kann jede Handschriftenkonstellation in v e r s c h i e d e n e n R i c h t i g - F a l s c h - K o m b i n a t i o n e n realisiert sein. Für eine auf Wahrscheinlichkeiten gegründete mechanische recensio sind nun aber all die Kombinationen i r r e l e v a n t , weil extrem unwahrscheinlich, bei denen ein durch die Vorlage der betreffenden Handschrift nicht nahegelegter Fehler r e i n z u f ä l l i g mit der – sei es korrekten, sei es fehlerhaften – Lesart einer anderen Handschrift übereinstimmt. Alle übrigen Richtig-Falsch-Kombinationen sind als relevant zu berücksichtigen.
Jede Richtig-Falsch-Kombination von vier Handschriften weist eine bestimmte Fehlerzahl (zwischen 0 und 4) auf. Demnach lassen sich alle einer bestimmten Konstellation zugeordneten relevanten Richtig-Falsch-Kombinationen hinsichtlich ihrer Fehlerzahl miteinander vergleichen. Lachmann betrachtet nun, abgesehen von wenigen Sonderfällen, diejenige von je zwei Kombinationen als die wahrscheinlichere, die die geringere Fehlerzahl aufweist. Zu bevorzugen ist dann in jeder Konstellation diejenige Handschriftengruppe, die in der jeweils wahrscheinlichsten Richtig-Falsch-Kombination die korrekte Lesart des αβMischtextes liefert. Demgemäß ist die Schlüssigkeit eines Lachmannschen Teilgesetzes dann gezeigt, wenn diejenigen einschlägigen Richtig-Falsch-Kombina117
Oliver Primavesi und Anna Kathrin Bleuler
tionen, in denen die nach diesem Teilgesetz zu bevorzugende Handschriftengruppe die korrekte αβ-Lesart liefert, im Vergleich mit allen übrigen relevanten Kombinationen die geringste Fehlerzahl aufweisen. 1. Zwei konkurrierende Lesarten im Bezeugungsverhältnis 3 : 1 „Drey Handschriften unter unseren vieren überstimmen alle M a l e i n e “ . 25 D.h. in den Konstellationen, in denen drei Handschriften gegen die verbleibende vierte Handschrift übereinstimmen, ist es nach Lachmann durchweg wahrscheinlicher, dass die drei miteinander übereinstimmenden Handschriften die korrekte αβ-Lesart liefern, als dass sie es nicht tun. Dies führt auf die folgenden vier Teilgesetze: 1.1) GEM > B
1.2) BGE > M
1.3) BGM > E
1.4) BEM > G
Zu 1.1: Das Teilgesetz gilt für die Konstellation, in der die drei α2-Abschriften miteinander übereinstimmen, während die α1-Abschrift B abweicht. Diese Konstellation kann in vier relevanten Richtig-Falsch-Kombinationen realisiert sein: a) Die drei α2-Abschriften haben eine β-Korrektur und B hat die α-Lesart: 0 F e h l e r. b) Die drei α2-Abschriften haben eine β-Korrektur und B hat einen Sonderfehler: 1 F e h l e r. c) Die drei α2-Abschriften haben zu Recht die α-Lesart und B hat einen Sonderfehler: 1 F e h l e r. d) Die drei α2-Abschriften haben zu Unrecht die α-Lesart und B hat einen Sonderfehler: 4 F e h l e r.
In den drei Kombinationen a), b) und c), die aufgrund ihrer Fehlerzahlen 0 bzw. 1 deutlich wahrscheinlicher sind als die verbleibende Kombination d), liefern die drei übereinstimmenden α2-Abschriften stets die korrekte αβ-Lesart, sei dies nun eine β-Korrektur oder eine (mangels β-Korrektur) zu Recht aufgenommene α-Lesart. Infolgedessen ist es hier bei weitem wahrscheinlicher, dass die drei miteinander übereinstimmenden α2-Abschriften die korrekte αβ-Lesart liefern, als dass sie es nicht tun. Dem entspricht Lachmanns einschlägiges Teilgesetz 1.1: GEM > B. Zu 1.2–4: Diese drei Teilgesetze gelten für die drei Konstellationen, denen folgende Struktur gemeinsam ist: Die α1-Abschrift B stimmt mit zwei α2-Abschriften (GE, GM oder EM) überein, während die verbleibende α2-Abschrift (M, E oder G) davon abweicht. Diese Struktur kann jeweils in drei relevanten Richtig-Falsch-Kombinationen realisiert sein:
25
Lachmann 1817 [Anm. 2], Sp. 118.
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a) B hat die zu Recht auch von zwei α2-Abschriften aufgenommene α-Lesart und die verbleibende α2-Abschrift hat einen Sonderfehler: 1 F e h l e r. b) B hat die zu Unrecht auch von zwei α2-Abschriften aufgenommene α-Lesart und die verbleibende α2-Abschrift hat eine β-Korrektur: 2 F e h l e r. c) B hat die zu Unrecht auch von zwei α2-Abschriften aufgenommene α-Lesart und die verbleibende α2-Abschrift hat einen Sonderfehler: 3 F e h l e r.
In der Kombination a), die mit der Fehlerzahl 1 wahrscheinlicher ist als die beiden übrigen, liefern die α1-Abschrift B und die beiden mit ihr übereinstimmenden α2-Abschriften die korrekte αβ-Lesart, nämlich eine (mangels β-Korrektur) zu Recht aufgenommene α-Lesart. Infolgedessen ist es hier durchweg wahrscheinlicher, dass B und die beiden mit B übereinstimmenden α2-Abschriften die korrekte αβ-Lesart liefern, als dass sie es nicht tun. Dem entsprechen Lachmanns Teilgesetze 1.2–4: BGE > M, BGM > E und BEM > G.26 2. Zwei konkurrierende Lesarten im Bezeugungsverhältnis 2 : 2 „Wo j e z w e y ü b e r e i n s t i m m e n , i s t B G < E M ( d . h . i n S t e l l e n , wo B mit G übereinstimmt, die einstimmige Lesart von E und M v o r z u z i e h e n ) , G E > B M , G M > B E . “ 27 Hier liegen drei Teilgesetze vor: 2.1) EM > BG
2.2) GE > BM
2.3) GM > BE
Diese drei Teilgesetze gelten für die drei Konstellationen, in denen zwei α2-Abschriften (EM, GE, oder GM) miteinander übereinstimmen, während die jeweils verbleibende α2-Abschrift (G, M, oder E) mit der α1-Abschrift B übereinstimmt. Diese Konstellationen können nur in einer einzigen relevanten WahrFalsch-Kombination realisiert sein: Zwei α2-Abschriften haben die β-Korrektur, und B hat die zu Unrecht auch von einer α2-Abschrift aufgenommene α-Lesart: 1 F e h l e r. In dieser Kombination liefern nun aber die beiden miteinander übereinstimmenden α2-Abschriften stets die korrekte αβ-Lesart, nämlich eine β-Korrektur. 26
Die Tatsache aber, dass Lachmann die dreifach bezeugten Lesarten auch dann bevorzugt, wenn die auf den ursprünglichen Zustand des Codex (α1) zurückgehende Hs. B Bestandteil der Dreiergruppe ist (EMB vs. G; BEG vs. M; BGM vs. E), hat bei Timpanaro 1985 [Anm. 19], S. 107, Widerspruch hervorgerufen: Da B keine β-Korrekturen, sondern (bei korrekter Überlieferung) lediglich α-Lesarten bezeuge, lasse sich anhand der B einschließenden Dreiergruppen niemals eine β-Lesart ermitteln und mithin seien die Gesetze 1.2–1.4 falsch. Dass sich anhand von B keine β-Lesarten ermitteln lassen, ist zwar richtig, aber die zitierte Kritik geht gleichwohl ins Leere. Timpanaro übersieht nämlich, dass der Codex auch in seinem überarbeiteten Zustand α2 nicht in jedem einzelnen Fall, in denen die vier Handschriften Überlieferungsdifferenzen aufweisen, über β-Lesarten verfügt haben muss (vgl. auch Fiesoli 2000 [Anm. 19], S. 278–279), so dass die korrekte αβ-Lesart auch eine (mangels β-Korrektur) z u R e c h t aufgenommene α-Lesart sein kann, was wiederum impliziert, dass Hs. B sehr wohl die ‚richtige‘ Lesart bezeugen kann. 27 Lachmann 1817 [Anm. 2], Sp. 118.
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Infolgedessen ist es in den betreffenden Konstellationen durchweg wahrscheinlicher, dass zwei miteinander übereinstimmende α2-Abschriften die korrekte αβLesart liefern, als dass sie es nicht tun. Dem entsprechen Lachmanns Teilgesetze 2.1–3: EM > BG, GE > BM und GM > BE.28 3. Drei konkurrierende Lesarten im Bezeugungsverhältnis 2 : 1 : 1 „Wo d r e y L e s a r t e n s i n d , d a i s t B G > E – M ( d i e L e s a r t , w e l c h e B u n d G g e m e i n s c h a f t l i c h h a b e n , d e n 29 b e i d e n a n d e r e n i n E und M vorzuziehen), GE > B – M, GM > B – E; hingegen EM = B – G (die Übereinstimmung von E und M führt gegen die zwey Lesarten von B und G zu keiner sicheren Entscheid u n g ) , B M = G – E , B E = G – M . “ 30 Nur die ersten drei der insgesamt sechs Teilgesetze beziehen sich auf Konstellationen, in denen sich nach Lachmanns Einschätzung auf mechanischem Wege eine editorische Präferenz ermitteln lässt: 3.1) BG > E – M
3.2) GE > B – M
3.3) GM > B – E.
Hingegen bringen die drei verbleibenden Teilgesetze mittels eines Gleichheitszeichens zum Ausdruck, dass in den betreffenden Fällen eine editorische Präferenz auf mechanischem Wege nicht zu ermitteln ist: 3.4) EM = B – G
3.5) BM = G – E
3.6) BE = G – M.
Demnach wäre hier eine mechanische Entscheidungsfindung nur bei denjenigen Konstellationen möglich, bei denen an der Übereinstimmung je zweier Handschriften die alte St. Galler Handschrift G beteiligt ist; während eine solche Entscheidungsfindung bei den Konstellationen, bei denen G eine Sonderlesart aufweist, unmöglich wäre. Bei dieser Unterscheidung hat der Vorrang, den Lachmann einleitend der Handschrift G gegenüber den beiden verbleibenden α2-Abschriften eingeräumt hat (der „Umarbeitung E“ und der „jüngeren münchner Handschrift M“), nach allem Anschein eine wichtige Rolle gespielt.31 Doch bleibt zu prüfen, bei welchem der sechs Teilgesetze dieser Vorrang von G zum Tragen kommt (sodass sie o h n e die Annahme eines Vorrangs von G anders ausfallen würden), und welche Teilgesetze ohne die Annahme eines Vorrangs von G genauso ausfallen würden. Für eine solche Prüfung muss man jeweils diejenigen drei Teilgesetze zusammen betrachten, die – a b g e s e h e n von dem fraglichen Vorrang von G – die gleiche Struktur aufweisen.
28
Dieses Gesetz wird in der Forschung für korrekt gehalten (vgl. Timpanaro 1985 [Anm. 19], S. 107; Bornmann 1962, S. 47–48; Fiesoli 2000 [Anm. 19], S. 279). 29 Hier lesen wir „den“ statt des bei Lachmann 1817 gedruckten, ungrammatischen „die“. 30 Lachmann 1817 [Anm. 2], Sp. 118. 31 Vgl. auch Lutz-Hensel 1975 [Anm. 19], S. 233.
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Anhang 1: Lachmanns „Gesetze“ von 1817
Deshalb betrachten wir zunächst die drei Konstellationen 3.2, 3.3 und 3.4, deren gemeinsame Struktur darin besteht, dass jeweils zwei α2-Abschriften (GE, GM, oder EM) miteinander übereinstimmen, während die verbleibende α2-Abschrift (M, E oder G) ebenso wie die α1-Abschrift B jeweils eine Sonderlesart aufweisen. Diese Struktur kann jeweils in vier relevanten Richtig-Falsch-Kombinationen realisiert sein: a) Zwei α2-Abschriften haben eine β-Korrektur, B hat die α-Lesart und die verbleibende α2-Handschrift hat einen Sonderfehler: 1 F e h l e r. b) Zwei α2-Abschriften haben zu Recht die α-Lesart; B und die verbleibende α2-Abschrift haben jeweils einen Sonderfehler: 2 F e h l e r. c) Zwei α2-Abschriften haben zu Unrecht die α-Lesart, B hat einen Sonderfehler und die verbleibende α2-Abschrift hat eine β-Korrektur: 3 F e h l e r. d) Zwei α2-Abschriften haben zu Unrecht die α-Lesart, B und die verbleibende α2-Abschrift haben jeweils einen Sonderfehler: 4 F e h l e r.
In den beiden Kombinationen a) und b), die mit 1 bzw. 2 Fehlern niedrigere Fehlerzahlen aufweisen als die beiden verbleibenden Kombinationen, liefern die beiden miteinander übereinstimmenden α2-Abschriften die korrekte αβ-Lesart. Wenn die relative Wahrscheinlichkeit der Kombinationen auch hier allein nach der Fehlerzahl zu bemessen wäre, dann müssten die Kombinationen a) und b), in denen die beiden übereinstimmenden α2-Abschriften die korrekte αβ-Lesart liefern, aufgrund ihrer geringeren Fehlerzahl bei allen drei Konstellationen 3.2, 3.3 und 3.4 für wahrscheinlicher gehalten werden als die Kombination c), in der sie dies nicht tun. Doch de facto hält Lachmann die Kombinationen a) und b) nur bei den zwei Konstellationen, in denen G an Übereinstimmung zweier α2-Abschriften beteiligt ist, für wahrscheinlicher als c); dem entsprechen Lachmanns Teilgesetze 3.2 (GE > B – M) und 3.3 (GM > B – E). Da diese beiden Teilgesetze schon aufgrund der Fehlerzahlen zu erwarten sind, kommt ein möglicher Vorrang von G hier nicht zum Tragen. Bei der Konstellation 3.4 hingegen, in der G eine Sonderlesart aufweist, hält Lachmann die beiden Kombinationen a) und b), in denen E und M übereinstimmend die korrekte αβ-Lesart liefern, trotz geringerer Fehlerzahl n i c h t für wahrscheinlicher als die Kombination c), in der G die korrekte αβ-Lesart liefert; dem entspricht die Verneinung einer mechanischen Entscheidungsmöglichkeit im Teilgesetz 3.4 (EM = B – G). Die Abweichung dieses Teilgesetzes von dem aufgrund der Fehlerzahlen zu erwartenden Teilgesetz *3.4 (EM > B – G) beruht klarerweise auf der Annahme eines Vorrangs von G: Lachmann hält es eben n i c h t für wahrscheinlicher, dass allein G zu Unrecht die α-Lesart aufgenommen (Kombination a) oder einen Sonderfehler begangen haben könnte (Kombination b), als dass sowohl E als auch M zu Unrecht die α-Lesart aufgenommen haben (Kombination c). Diese Einschätzung steht nicht im Widerspruch zu dem bereits besprochenen Teilgesetz 2.1 (EM > BG), da dort die Priorisierung der Gruppe EM nur unter der extrem unwahrscheinlichen Annahme zu vermeiden wäre, dass E und M r e i n 121
Oliver Primavesi und Anna Kathrin Bleuler
z u f ä l l i g in einem von ihrer Vorlage α2 nicht nahegelegten Fehler übereinstimmen. Im vorliegenden Fall hingegen erfordert die Bestreitung der Priorität von EM nur die Anerkennung der deutlich weniger unwahrscheinlichen Möglichkeit (Kombination c), dass E und M in einer zu Unrecht aufgenommenen αLesart und damit in einem von ihrer Vorlage α2 nahegelegten Fehler übereinstimmen. Wir betrachten sodann die drei Teilgesetze 3.5, 3.6 und 3.1, deren gemeinsame Struktur darin besteht, dass die α1-Abschrift B jeweils mit einer α2-Abschrift (M, E oder G) übereinstimmt, während die beiden verbleibenden α2-Abschriften (G und E, G und M oder E und M) jeweils eine Sonderlesart aufweisen.32 Diese Struktur kann in jeweils drei relevanten Richtig-Falsch-Kombinationen realisiert sein: a) B hat die zu Recht auch von einer α2-Abschrift aufgenommene α-Lesart; die beiden verbleibenden α2-Abschriften haben jeweils einen Sonderfehler: 2 F e h l e r. b) B hat die zu Unrecht auch von einer α2-Abschrift aufgenommene α-Lesart; eine der zwei verbleibenden α2-Abschriften hat eine β-Korrektur, die andere einen Sonderfehler: 2 F e h l e r. c) B hat die zu Unrecht auch von einer α2-Abschrift aufgenommene α-Lesart; die zwei verbleibenden α2-Abschriften haben jeweils einen Sonderfehler: 3 F e h l e r.
Den beiden Kombinationen a) und b) ist die bei dieser Struktur überhaupt niedrigste mögliche Fehlerzahl 2 gemeinsam. Doch während in Kombination a) B und die damit übereinstimmende α2-Abschrift die korrekte αβ-Lesart liefern, ist dies in Kombination b) nicht der Fall. Wenn die relative Wahrscheinlichkeit der Richtig-Falsch-Kombinationen auch bei dieser Struktur allein nach der Fehlerzahl zu bemessen wäre, dürfte die Kombination a), bei der B und die damit übereinstimmende α2-Abschrift die korrekte αβ-Lesart liefern, hier n i c h t für wahrscheinlicher gehalten werden als Kombination b), in der sie dies nicht tun. Doch Lachmann hält die Kombinationen a) und b) nur in den beiden Konstellationen für gleich wahrscheinlich, in denen G eine Sonderlesart aufweist; dem entspricht die Verneinung einer mechanischen Entscheidungsmöglichkeit in den Teilgesetzen 3.5 (BM = G – E) und 3.6 (BE = G – M). Da diese
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Das Teilgesetz 3.1 (BG > E – M) präsentiert nach Timpanaro 1985 [Anm. 19], S. 107, der auch insoweit mit Bornmann übereinstimmt, „vere e proprie assurdità“. Die Übereinstimmung von BG gegen alleinstehende Lesarten von E und M bezeuge zwar mit hoher Wahrscheinlichkeit α-, aber sicher keine β-Lesarten, so dass die betreffende Lesart für jemanden, der die Vorlage von EGM rekonstruieren wolle, nicht „preferibile“ sein könne (vgl. Timpanaro ebd.). Auch hier begehen Bornmann und Timpanaro also den Fehler, der Vorlage von EGM in jedem Fall β-Lesarten zu unterstellen, was – wie oben dargelegt – bei dem Vorlagentypus, von dem Lachmann ausgeht (Codex α in seinem mit β-Korrekturen versehenen Zustand α2), keineswegs der Fall sein muss. Vielmehr kann eine α-Lesart auch für die Vorlage von EGM die richtige Lesart sein (zur Kritik an Bornmanns und Timpanaros Interpretation der dritten Regel vgl. auch Fiesoli 2000 [Anm. 19], S. 280).
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beiden Teilgesetze auch schon aufgrund der Fehlerzahlen zu erwarten sind, kommt ein möglicher Vorrang von G hier nicht zum Tragen. Für die Konstellation 3.1 hingegen, in der G mit B zusammengeht, hält Lachmann Kombination a), in der G die mit B geteilte α-Lesart z u R e c h t (d.h. in Ermangelung einer β-Korrektur) aufgenommen hat, trotz gleicher Fehlerzahl für wahrscheinlicher als Kombination b), in der G diese α-Lesart z u U n r e c h t aufgenommen hat; dem entspricht sein Teilgesetz 3.1 (BG > E – M). Die Abweichung dieses Teilgesetzes von der aufgrund der Fehlerzahlen zu erwartenden Verneinung einer mechanischen Entscheidungsmöglichkeit durch ein hypothetisches Teilgesetz *3.1 (EM = B – G) beruht klarerweise auf der Annahme eines Vorrangs von G: Allein bei G hält Lachmann in der vorliegenden Struktur eine berechtigte Aufnahme der α-Lesart für wahrscheinlicher als eine unberechtigte. Die Grenzen dieses Vorrangs von G werden auch wieder an Lachmanns bereits besprochener Regel 2.1 (EM > BG) deutlich: Eine Ü b e r e i n s t i m m u n g von EM gegen BG spricht nach Lachmann durchaus dafür, dass in α2 an der betreffenden Textstelle eine β-Korrektur vermerkt war, die EM korrekt in ihren Text übernommen haben, während G in diesem Fall die auch von B bezeugte α-Lesart versehentlich in den Text aufgenommen hat. Der Grund für d i e s e Differenz ist leicht einzusehen: Wenn man die Regel 2.1 umkehrte, so dass G die α-Lesart zu Recht in den Text aufgenommen hätte, dann müssten die beiden α2-Abschriften E und M, wie wir sahen, in einem S o n d e r f e h l e r übereinstimmen, was bei rein mechanischer Betrachtung, d.h. ohne Kenntnis von Form und Inhalt dieses Sonderfehlers, nicht plausibel zu machen ist. 4. Vier konkurrierende Lesarten im Bezeugungsverhältnis 1 : 1 : 1 : 1 „Ebenso ungewiss bleibt die ursprüngliche Lesart, wo alle v i e r u n e i n s s i n d . “ 33 In der hier vorliegenden Konstellation weist jede der vier Handschriften eine Sonderlesart auf. Diese Konstellation kann in acht relevanten Richtig-FalschKombinationen realisiert sein: a) Eine α2-Abschrift hat eine β-Korrektur, B die α-Lesart, die beiden verbleibenden α2-Abschriften haben jeweils einen Sonderfehler: 2 F e h l e r. b) Eine α2-Abschrift hat eine β-Korrektur, eine weitere α2-Abschrift zu Unrecht (d.h. trotz β-Korrektur) die α-Lesart, B und die verbleibende α2-Abschrift haben einen Sonderfehler: 3 F e h l e r. c) Eine α2-Abschrift hat eine β-Korrektur, B und die beiden verbleibenden α2-Abschriften haben jeweils einen Sonderfehler: 3 F e h l e r. d) Eine α2-Abschrift hat zu Recht (d.h. mangels β-Korrektur) die α-Lesart, B und die beiden verbleibenden α2-Abschriften haben jeweils einen Sonderfehler: 3 F e h l e r.
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Lachmann 1817 [Anm. 2], Sp. 118.
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e) B hat die α-Lesart, die mangels einer β-Korrektur die αβ-Lesart ist, die drei α2-Abschriften haben jeweils einen Sonderfehler: 3 F e h l e r. f) B hat die α-Lesart, die angesichts einer β-Korrektur nicht die αβ-Lesart ist, die drei α2-Abschriften haben jeweils einen Sonderfehler: 3 F e h l e r. g) Eine α2-Abschrift hat zu Unrecht (d.h. trotz β-Korrektur) die α-Lesart, B und die beiden verbleibenden α2-Abschriften haben jeweils einen Sonderfehler: 4 F e h l e r. h) Jede der vier Handschriften hat einen Sonderfehler: 4 F e h l e r.
Kombination a) weist mit zwei Fehlern eine geringere Fehlerzahl auf als die sieben übrigen Kombinationen. Wenn die Wahrscheinlichkeit sich allein nach der Fehlerzahl bemisst, dann kommt die höchste Wahrscheinlichkeit der Kombination a) zu, in der irgendeine der drei α2-Abschriften die β-Korrektur und mithin die αβ-Lesart hat, während B die α-Lesart und mithin (angesichts der vorhandenen β-Korrektur) sicher nicht die αβ-Lesart hat, und jede der beiden jeweils verbleibenden α2-Abschriften einen Sonderfehler. Für die vorliegende Konstellation im Ganzen ergibt sich daraus Folgendes: Zum einen ist es weniger wahrscheinlich, dass B die αβ-Lesart hat (Kombination e), als dass es sie nicht hat (alle übrigen Kombinationen), was auf ein Teilgesetz 4.1 (B < G – E – M) führt. Zum anderen ist es zwar wahrscheinlicher, dass irgendeine der drei α2-Abschriften die αβ-Lesart hat (Kombinationen a, b, c und d), als dass keine von ihnen sie hat (Kombinationen e, f, g und h); doch muss dabei offenbleiben, um welche α2-Abschrift es sich dabei handelt, da Lachmann offenbar keiner der drei α2-Abschriften einen für eine Bevorzugung hinreichenden Vorrang einräumt. Dies führt auf die folgenden weiteren Teilgesetze: 4.2 (G = B – E – M), 4.3 (E = B – G – M) und 4.4 (M = B – G – E). Hieran ist insbesondere das Teilgesetz 4.2 auffällig, und zwar in Anbetracht des Vorrangs, den Lachmann in den Teilgesetzen 3.1 (BG > E – M) und 3.4 (EM = B – G) der alten St. Galler Handschrift (G) eingeräumt hat: Wie wir sahen, setzt das Teilgesetz 3.1 (BG > E – M) voraus, dass nur bei G die berechtigte Aufnahme der α-Lesart wahrscheinlicher ist als die unberechtigte (positiver Vorrang), und das Teilgesetz 3.4 (EM = B – G) setzt voraus, dass die unberechtigte Aufnahme der α-Lesart oder ein Sonderfehler bei alleinstehendem G nicht wahrscheinlicher ist als die unberechtigte Aufnahme der α-Lesart bei E und M zusammen (negativer Vorrang). So könnte man es gewiss auch im vorliegenden Fall für weniger wahrscheinlich halten, dass die bei den Kombinationen a), b), c) und d) in einer der drei α2-Abschriften vorhandene αβ-Lesart von G verfehlt wird, als dass sie von den nachrangigen α2-Abschriften E und M verfehlt wird. Aber dieses Wahrscheinlichkeitsgefälle reicht eben nicht aus, um den oben bereits angedeuteten Grundsatz umzustürzen, dass einer Lesart, die nur von einer einzigen Handschrift bezeugt wird, allenfalls ein negativer, aber niemals ein positiver Vorrang eingeräumt werden darf: Eine solche Lesart kann zwar, wenn die sie bezeugende Handschrift qualitativ herausragt, eine konkur124
Anhang 1: Lachmanns „Gesetze“ von 1817
rierende, von den beiden unterlegenen Handschriften bezeugte Lesart blockieren, aber sie darf niemals aus rein mechanischen Gründen, d.h. ohne inhaltliche Bewertung, in den Text gesetzt werden.
*** Damit ist nach unserer Meinung gezeigt, dass die von Lachmann aufgestellten Gesetze – unter Berücksichtigung seiner von uns angegebenen Zusatzannahmen – als systematisch konsistent gelten dürfen. Für die E r m i t t l u n g des virtuellen Stemmas, das diesen Gesetzen zugrunde liegt, hat Lachmann freilich keine Methode mitgeteilt, und auch im Hinblick auf die vorliegenden Kollationen war die Zeit für die Anwendung seiner Gesetze nach seiner Meinung noch nicht reif, wie wir in der Einleitung zum vorliegenden Band (unter Punkt 1.3.1) bereits festgestellt haben. So betrachtet man seine Gesetze am besten als einen aufgrund ihrer inneren Stimmigkeit zukunftsweisenden theoretischen Entwurf, dem aber erst noch eine methodische Stemmatik (Paul Maas) und die materiellen Möglichkeiten zur Durchführung von Vollkollationen zur Seite treten mussten, bevor die Vision einer mechanischen recensio – in den jeweils durch die Überlieferungsverhältnisse gezogenen Grenzen – praktisch wirksam werden konnte.
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ANHANG 2: GRUNDSÄTZE FÜR EDITOREN ANTIKER TEXTE von Giorgio P a s q u a l i (1885–1952)1 Mit einer Übertragung ins Deutsche von Oliver Primavesi2 A me pare che il metodo del Pasquali sia quello del Maas ma adoperato in una maniera cauta e ben informata. Michael D. Reeve 2005
1) [Überlieferungen ohne Archetypus] Nicht immer geht die mittelalterliche Überlieferung griechischer und lateinischer Texte auf einen selbst schon mittelalterlichen oder aber spätantiken Archetypus zurück, d.h. auf eine einzige, bereits durch Fehler und Lücken entstellte Vorlage. In seltenen Fällen gehen die Handschriften unmittelbar auf das Original des Autors zurück; häufiger setzen sie, unmittelbar oder mittelbar, verschiedene antike Ausgaben fort.
Non sempre la tradizione medievale dei testi greci e latini risale a un archetipo esso stesso medievale o appartenente al periodo più tardo dell’età antica, a un unico esemplare già sfigurato da errori e lacune. In rari casi i manoscritti risalgono recta via all’originale dell’autore; più spesso essi proseguono, direttamente o indirettamente, varie edizioni antiche.
1
Aus: Giorgio Pasquali: Storia della tradizione e critica del testo, Firenze 1934-XII; hier zitiert nach: Ders.: Storia della tradizione e critica del testo, seconda edizione con nuova prefazione e aggiunta di tre appendici, Firenze 1952, S. XV–XIX. Die Wiedergabe des originalen Wortlauts und die Veröffentlichung einer deutschen Übertragung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags Casa Editrice Le Lettere, Firenze. 2 Eine französische Übersetzung findet sich bereits in einer anonymen Rezension der 1. Auflage von Pasqualis Buch (in: Supplément critique au bulletin de l’Association Guillaume Budé. Revue des publications étrangères relatives à la philologie classique, Tome VIII [1936], Paris 1937, S. 7–32, hier: S. 17–21), was man indessen ohne Vergleich mit dem Original gar nicht bemerkt, da der Anonymus seine Übersetzung der Grundsätze sonderbarerweise als eine erst von ihm selbst, wenn auch unter weitgehender Verwendung von Pasqualis Formulierungen, erstellte Synthese von dessen Buch präsentiert (S. 17: „D’un exposé si complexe […] il y a pourtant un corps de doctrine à tirer. Nous l’exposerons en nous attachant autant que possible aux expressions mêmes de Pasquali. Ce catéchisme philologique n’aura pas moins de douze points“; S. 21: „Tel est l’exposé très cohérent qui se dégage de l’œuvre de Pasquali“). Als Autor der Rezension bekannte sich später Alphonse Dain (Revue des Études Latines. 31e Année — 1953, Tome XXXI, Paris 1954, S. 433–436, hier: S. 434).
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Giorgio Pasquali
Man nimmt allgemein an, dass die byzantinischen Gelehrten des 9. Jahrhunderts n. Chr. sich höchst selten3 die Mühe gemacht hätten, eine antike, in Majuskel (d.h. „Capitalis“ oder häufiger „Unziale“)4 geschriebene Vorlage [in die Minuskel] umzuschreiben, wobei ja die Worttrennung einzuführen, jedes Wort zu akzentuieren und die vokalisch anlautenden Wörter mit einem Hauchzeichen zu versehen waren. Diese Vermutung gilt nicht für die lateinische Überlieferung, in der Akzente und Hauchzeichen nicht vorkommen. Aber auch in der griechischen Überlieferung wird sie bisweilen durch die Tatsachen widerlegt. Und nichts spricht im Allgemeinen gegen die Annahme, dass Abschriften eines mittelalterlichen Archetypus, wenn auch meist nur punktuell, mit anderen antiken Handschriften kollationiert [d.h. abgeglichen] wurden, die ja wohl weder postwendend zerstört wurden noch durch Zauberhand verschwanden, bloß weil es jetzt den einen Minuskelarchetypus gab.
Si ritiene in generale che i dotti bizantini del IX secolo si siano presi molto di rado la briga di trascrivere un manoscritto antico, maiuscolo, cioè capitale o più spesso onciale, introducendo la distinzione delle parole, corredando ciascuna di accento, quelle che cominciavano con vocale anche di spirito.
Tale presunzione non vale per la tradizione latina, in cui accenti e spiriti mancano. Ma anche nella tradizione greca essa è talvolta smentita dai fatti. E nulla vieta in genere di supporre che copie di un archetipo medievale siano state collazionate, certo per lo più soltanto saltuariamente, con altri codici antichi che né saranno stati subito distrutti, né saranno scomparsi per incanto per virtù di quell’unico archetipo minuscolo.
3
Dain 1937 [Anm. 2], S. 17 lässt in seiner Übersetzung die adverbiale Bestimmung molto di rado („höchst selten“) unter den Tisch fallen und verkehrt deshalb den Sinn des ganzen Satzes ins Gegenteil: „On estime en général que les savants byzantins du IXe siècle ont simplement pris la peine de transcrire en minuscule un manuscrit antique […] et qu’ils se sont bornés à marquer la séparation des mots etc.“. 4 Das von Pasquali zur Unterscheidung von antiker und frühbyzantinischer griechischer Majuskel verwendete Gegensatzpaar ‚Capitalis / Unziale‘ ist aus heutiger Sicht irreführend, weil ‚Capitalis‘ eigentlich eine Familie antiker lateinischer Majuskelschriften bezeichnet und ‚Unziale‘ früher sowohl für die griechische Majuskel insgesamt als auch für eine spätantik/frühbyzantinische Form dieser Majuskel verwendet wurde. Davon hat sich Dain ebd. verwirren lassen, wie seine Fehlübersetzung von più spesso mit „plus exactement“ zeigt.
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Anhang 2: Grundsätze für Editoren antiker Texte
2) [Vorsicht bei der Eliminatio] Im Osten besaß man zu byzantinischer Zeit, ebenso wie im Westen zu karolingischer Zeit und in der Renaissance, eine viel größere Zahl noch erhaltener Klassikerhandschriften als man anzunehmen pflegt. Noch im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert hat man in Frankreich und in Flandern höchst wertvolle Codices beschädigt, verlegt oder zerstört.5 Wer sich dies klarmacht, wird weniger oft als man glaubt den Fall annehmen dürfen, dass alle Handschriften auf einen erhaltenen Archetypus6 zurückgehen, und er wird für die Ausschaltung von Handschriften aufgrund ihrer Abhängigkeit von anderen erhaltenen Handschriften (eliminatio codicum descriptorum) stärkere Indizien fordern als gewohnt.
In Oriente l’età bizantina, in Occidente l’età carolingia e il Rinascimento possedettero molti più manoscritti di classici tuttora conservati di quanto non si soglia supporre. Ancora il Cinquecento e il Seicento francesi e fiamminghi hanno sciupato, perduto, distrutto codici preziosissimi. Chi consideri questo, dovrà ritenere meno frequente che non si creda il caso di manoscritti che risalgano tutti a un archetipo conservato, ed esigerà prove più sicure che non si usi, per l’eliminatio codicum descriptorum.
5
Den Grund hierfür sieht Pasquali 1934 [Anm. 1], S. 50 darin, dass nach Erfindung der Druckkunst gut lesbare Handschriften in Frankreich, Flandern und Deutschland vielfach direkt in die Druckerei gegeben und dort nicht selten beschädigt oder zerstört wurden bzw. verloren gingen. A. Dain, der dies womöglich nicht zur Kenntnis genommen hat (vgl. Dain 1937 [Anm. 2], S. 10–11), weist Pasqualis Beobachtung, soweit sie Frankreich betrifft, als willkürliche Beleidigung der grande nation zurück, vgl. ebd. S. 17: „ici le blâme que nous adresse Pasquali paraît tout gratuit“. 6 Man beachte, dass Pasquali hier (und unter 9) die jüngste gemeinsame Vorlage der uns vorliegenden Überlieferung auch dann als „Archetypus“ bezeichnet, wenn sie erhalten ist, im Gegensatz zu Paul Maas: Textkritik, Leipzig und Berlin 1927 (Einleitung in die Altertumswissenschaft. Herausgegeben von Alfred Gercke† und Eduard Norden. [Dritte Auflage des Gesamtwerks], I. Band/2. Heft), S. 2, der eine solche erhaltene Vorlage als „codex unicus“ bezeichnet, während er den „Archetypus“ sämtlichen erhaltenen „Zeugen“ kontrastierend gegenüberstellt, woraus man doch wohl schließen muss, dass er unter „Archetypus“ die verlorene Vorlage versteht, bei der die erste Spaltung unserer Überlieferung begann. Anders Michael D. Reeve, Archetypes, in: Miscellanea Barigazzi, Sileno XI (1985, publ. 1987), S. 193–201, wiederabgedruckt in: Ders.: Manuscripts and Methods. Essays on Editing and Transmission, Edizioni di Storia e Letteratura, Roma 2011 (Storia e Letteratura 270), S. 107–117, hier: S. 196 (= 110): „Whether […] Maas actually wanted to rule out extant archetypes I do not know“.
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Giorgio Pasquali
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stützte sich die Zurückführung einer jüngeren Handschrift auf eine ältere mit ähnlicher Textform in vielen Fällen eher auf Mutmaßungen als auf Beweise. Eine Übereinstimmung in naheliegenden Fehlern und in Trivialisierungen beweist keine Verwandtschaft. Und im Allgemeinen beweist auch die Übereinstimmung verschiedener Zeugen in echten Lesungen keine Verwandtschaft, da die echte Lesung in verschiedenen Überlieferungszweigen unabhängig voneinander bewahrt werden kann. Ebenso bedient sich die Sprachwissenschaft bei der Klassifikation ursprungsgleicher Sprachen nur noch der Übereinstimmungen in den Innovationen. Indessen empfiehlt es sich, zwischen griechischen und lateinischen Codices einen Unterschied zu machen: Von einem im Osten verbreiteten griechischen Werk ist oft nur eine einzige Abschrift in den Westen gelangt; Klosterbibliotheken mit ihren reichen Handschriftenbeständen [hingegen] gingen hier im Westen nur selten7 spurlos verloren; viele Texte waren im lateinischen Mittelalter in Hunderten von Abschriften verbreitet, weil sie den scholastischen Studien dienten. Man hat allen Grund zur Annahme, dass die Überlieferung lateinischer Autoren weniger eingeschränkt war als die Überlieferung griechischer Autoren.
Nella prima metà del XIX secolo la dipendenza di un manoscritto più recente da uno più antico di simile tradizione era troppo spesso piuttosto presunta che dimostrata. Coincidenza in errori ovvi e in «trivializzazioni» non prova parentela. E in genere non prova parentela la coincidenza di diversi testimoni in lezioni genuine, perché la lezione genuina si può essere conservata indipendentemente in rami diversi della tradizione. In pari modo la glottologia si serve ormai, per classificare lingue derivate dal medesimo ceppo, soltanto di coincidenze nelle innovazioni. Ma converrà stabilire una distinzione tra codici greci e codici latini: di un’opera greca diffusa in Oriente è spesso giunto in Occidente un esemplare solo; biblioteche claustrali ricche di codici si sono qui in Occidente perdute di rado senza lasciar traccia; molti testi erano diffusi nel Medioevo latino in centinaia di esemplari, perché servivano all’uso scolastico.
Si ha ogni ragione di presumere che la tradizione di autori latini sia in genere meno ristretta di quella di autori greci.
7
Dain ebd., S. 18 lässt in seiner Übersetzung die adverbiale Bestimmung di rado („selten“) unter den Tisch fallen und verkehrt deshalb den Sinn des ganzen Satzes ins Gegenteil: „En Occident, au contraire, on a vu certaines bibliothèques conventuelles très riches en manuscrits disparaître de fond en comble, sans laisser de trace“.
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Anhang 2: Grundsätze für Editoren antiker Texte
3) [Der mögliche Zeugniswert junger Handschriften] Aus denselben Gründen ist es bei der Überlieferung lateinischer Autoren stets von vornherein plausibel, dass späte Zeugen ganz oder teilweise von Quellen abhängen, die von der Quelle verschieden sind, von der die ältesten Zeugen abstammen. Mithin ist ein jüngerer Codex (recentior) nicht eo ipso auch ein schlechterer (deterior), und die Autorität eines Zeugen hängt nicht an seinem Alter.
Per le medesime ragioni nella tradizione di autori latini è sempre probabile «a priori» che testimoni tardi dipendano, totalmente o parzialmente, da fonti diverse da quella da cui sono discesi i testimoni più antichi. Un recentior non è perciò solo un deterior. L’autorità di un testimonio è indipendente dalla sua antichità.
4) [Der mögliche Zeugniswert frühneuzeitlicher Kollationen und Drucke] Das hier über junge Handschriften Gesagte gilt ebenso für humanistische Kollationen [d.h. Verzeichnisse abweichender Lesarten], sowie für Druckausgaben, bei deren Herstellung auch solche Handschriften wenigstens konsultiert wurden, die heute verloren sind; allerdings verlangt gerade die Auswertung der letztgenannten Art von Zeugnissen nicht nur besondere methodische Vorsichtsmaßnahmen, sondern auch eine nur sehr wenigen Philologen gegebene kritische Begabung.
Quel che qui si dice di manoscritti recenti vale nello stesso modo di collazioni umanistiche e di edizioni a stampa per le quali siano stati anche soltanto consultati codici ora perduti; tranne che specialmente quest’ultimo genere di testimonianze esige particolari cautele metodiche e ingegno critico, qual è concesso soltanto a pochissimi tra i filologi.
5) [Der mögliche Zeugniswert interpolierter Textzeugen] Willkürliche Veränderungen und sogar bewusste Fälschungen reichen noch nicht aus, um eine junge Handschrift oder eine humanistische Kollation [d.h. Zusammenstellung abweichender Lesarten] oder eine gedruckte Ausgabe, deren handschriftliche Quellen zum Teil nicht erhalten sind, zu disqualifizieren.
Alterazioni arbitrarie e persino falsificazioni conscie non bastano ancora a squalificare un manoscritto recente, una collazione umanistica, un’edizione a stampa della quale non siano conservate tutte le fonti.
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Giorgio Pasquali
Wer es, wie Lachmann, ablehnt, sich auch der interpolierten [d.h. mit Zusätzen versehenen] Handschriften zu bedienen, läuft Gefahr, zugleich auch echte Überlieferung preiszugeben. Auch für diese Aufgabe benötigt man besondere Vorsichtsmaßnahmen und sehr seltene natürliche Gaben.
Chi, come il Lachmann, rifiuta di servirsi degli interpolati, rischia di lasciar perdere anche tradizione genuina. Anche a questo compito sono necessarie cautele speciali e doni di natura rarissimi.
6) [Grenzen der mechanischen recensio] Es ist ein Vorurteil zu glauben, dass die Überlieferung der antiken Autoren immer mechanisch sei. Mechanisch ist sie in Wahrheit nur dort, wo der Kopist sich mit seinem Unverständnis abfindet. In vielen Epochen und in vielen Milieus hat man sich nicht damit abgefunden, den Text so zu belassen, wie man ihn vorgefunden hatte, sondern man hat ihn klarer gemacht, dem eigenen Geschmack angepasst und verschönert. Aus dieser Tatsache muss man sowohl bei der Feststellung der Überlieferung (recensio), als auch bei der Korrektur von Fehlern (emendatio) Nutzen ziehen: In Texten, die nicht auf mechanische Art und Weise überliefert wurden, ist die paläographisch einfachste Konjektur fast nie die plausibelste. Und was die recensio betrifft, so lassen sich nur in den relativ seltenen Fällen einer mechanischen Überlieferung und unter der Voraussetzung, dass unsere Handschriften auf einen Archetypus zurückgehen, die – auch ihrerseits mechanischen – Kriterien einer geschlossenen recensio anwenden, wie sie Lachmann formuliert hat. Wo die recensio offen ist, da gelten nur interne Kriterien.
È un pregiudizio credere che la tradizione degli autori antichi sia sempre meccanica; meccanica è solo dove l’amanuense si rassegna a non intendere. Numerose età e numerose cerchie non si sono rassegnate a lasciare il testo quale lo avevano ricevuto, ma lo hanno reso più chiaro, adattato al proprio gusto, abbellito. Da questa verità deve trar profitto non soltanto la recensio ma anche l’emendatio:
la congettura paleograficamente più facile non è in testi trasmessi non meccanicamente quasi mai la più probabile. Quanto alla recensio, solo nei casi, relativamente rari, di tradizione meccanica è possibile, se i nostri codici risalgono a un archetipo, applicare i criteri, essi stessi meccanici, della recensione chiusa, formulati dal Lachmann; dove la recensione è aperta, valgono solo criteri interni.
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Anhang 2: Grundsätze für Editoren antiker Texte
7) [Horizontale Überlieferung] Es ist ein Vorurteil zu glauben, dass die Textüberlieferung ausschließlich vertikal verläuft [d.h., dass auf jeder Stufe nur je eine einzige Vorlage benutzt wird]; die Überlieferung verläuft oft – und bei vielgelesenen Texten und bei scholastischen Texten im engeren Sinne könnte man sogar sagen: immer – auch „quer“ bzw. „horizontal“. Das will besagen, dass nicht nur gute oder schlechte Varianten, sondern auch uns offensichtlich erscheinende Fehler oft durch Kollation [d.h. Abgleich mit anderen Zeugen] in die Handschriften eindringen. Nur die Textauslassungen (lacunae) werden, wenigstens in der Regel, direkt übertragen.
É un pregiudizio credere che la trasmissione dei testi sia unicamente «verticale»;
essa è spesso, e in testi molto letti e in testi propriamente scolastici si potrebbe dir sempre, «trasversale» o «orizzontale»; vale a dire varianti buone o cattive, anche errori che a noi parrebbero evidenti, penetrano spesso nei manoscritti per collazione.
Solo le lacune sono, almeno di regola, trasmesse direttamente.
8) [Geographische Methode] In der Sprachwissenschaft ist heute allgemein anerkannt, dass die ältesten Sprachstufen in Randgebieten länger erhalten bleiben und dass daher die Übereinstimmung zweier peripherer und weit voneinander entfernter Sprachgebiete in einem Phonem, einer Form, einem Lexem oder einer syntaktischen Konstruktion deren Altertümlichkeit garantiert. In entsprechender Weise führt die Übereinstimmung einer Lesung in Codices, die weitab vom Zentrum der betreffenden Kultur und weit entfernt voneinander geschrieben wurden, auf die Vermutung, dass diese Lesung echt sei.
Come nella linguistica è ormai pacifico che gli stadi più antichi si conservano più a lungo in zone periferiche, e che quindi coincidenza di due zone periferiche lontane l’una dall’altra in un fonema, una forma, un vocabolo, un costrutto garantisce la loro antichità,
così anche coincidenza di lezione in codici scritti in zone lontane dal centro della cultura e lontane tra loro costituisce una presunzione per la genuinità di questa lezione.
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Von Texten, die sei es im Altertum sei es im Mittelalter viel gelesen wurden, hat sich häufig eine Vulgata [d.h. eine standardisierte Textform] herausgebildet, die sich dann, wie in der Mode üblich, vom Zentrum ausgehend in Richtung Peripherie ausbreitete; doch hat eine solche Vulgata die Peripherie nicht immer erreicht. Diese „geographische Methode“ ist leider nur selten8 auf die griechische Überlieferung anwendbar, weil wir die Schreibstile der [byzantinischen] Provinzen noch nicht voneinander unterscheiden können. Und im Westen wird die Methode durch die lebhaften Beziehungen zwischen Klöstern entkräftet, die zwar in verschiedenen Gebieten liegen, aber zu demselben Orden gehören. Hier ist die „geographische Methode“ durch das „geographische Kriterium“ zu ersetzen, dem zufolge man versucht, die komplizierte Entwicklung dieser Beziehungen von Kloster zu Kloster zu entwirren. Die Anwendung dieses Kriteriums wird umso einfacher und sicherer sein, je weiter die Erforschung der Geschichte der kirchlichen Kultur (und das bedeutet: der Kulturgeschichte im Allgemeinen) des frühen Mittelalters fortschreitet.
Spesso di testi molto letti sia nell’antichità, sia nei Medioevo, si è formata una vulgata che, come suole la moda, progrediva da un centro verso la periferia, ma non sempre la raggiungeva.
Questo «metodo geografico» è purtroppo di rado applicabile alla tradizione greca, perché non sappiamo ancora distinguere scritture provinciali;
esso è paralizzato in Occidente dalle relazioni vive tra conventi di regioni diverse ma appartenenti al medesimo ordine. Qui al «metodo geografico» si sostituisce il «criterio geografico», che tenta di districare il complicato sviluppo di tali relazioni tra convento e convento.
L’applicazione di esso sarà tanto più facile e tanto più sicura quanto più progredirà la storia della cultura ecclesiastica (cioè della cultura in genere) dell’Alto Medioevo.
8
Dain ebd., S. 19 übersetzt die adverbiale Bestimmung di rado („selten“) fehlerhaft als schlichte Negation und kommt so zu einer zu pessimistischen Wiedergabe des Satzes: „Cette méthode n’est malheureusement pas applicable à la tradition des textes grecs“.
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Anhang 2: Grundsätze für Editoren antiker Texte
9) [Antike Varianten] Varianten, auch fehlerhafte, können viel älter sein als die Handschriften, von denen sie uns erstmals dargeboten werden, und zwar selbst dann, wenn die Handschriften sich sämtlich als Abkömmlinge eines erhaltenen und sogar seinerseits mittelalterlichen Archetypus ausweisen können. Mittelalterliche Archetypi können Alternativvarianten geboten haben (wie sie sich auch in antiken Papyri finden), und man wird sie in diesem Fall als Sammelbecken solcher Varianten betrachten. Varianten können, wie wir [oben unter 1] gesehen haben, auch in einzelne Abschriften des Archetypus gelangt sein, und zwar durch Abgleich mit vom Archetypus unabhängigen Handschriften. Noch häufiger kommt der schon [oben unter 1] besprochene Fall vor, dass mittelalterliche Handschriftenfamilien jeweils verschiedene antike Ausgaben weiterführen (oder miteinander kontaminieren).
Le varianti, anche erronee, possono essere molto più antiche dei manoscritti che le presentano, anche se questi si possono dimostrare derivati tutti da un archetipo conservato persino medievale.
Archetipi medievali possono aver contenuto varianti alternative, come già ne presentano i papiri, e vanno in tal caso considerati come bacini di raccolta di tali varianti. Varianti possono anche, come abbiamo veduto, essere penetrate in copie singole dell’archetipo per collazione con manoscritti da esso indipendenti.
Più comune ancora è il caso, già considerato, che le famiglie di manoscritti medievali proseguano (o contaminino) più edizioni antiche.
10) [Antike Mischtexte] Für die griechische Überlieferung zeigen die Papyri, und für die lateinische zeigen es die antiken Zitate, dass schon im Altertum bei vielgelesenen Autoren jede Abschrift gewissermaßen eine eigene Ausgabe darstellt, d.h. eine je individuelle Kombination bereits vorliegender, teils authentischer, teils unechter Lesarten.
I papiri per la tradizione greca, le citazioni antiche per la latina mostrano che già nell’antichità per autori molto letti ogni esemplare rappresenta in qualche modo un’edizione particolare, cioè una miscela ogni volta variamente graduata di varianti preesistenti, genuine e spurie.
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Bereits im Altertum hatte der Prozess der Kontamination, der Angleichung zwischen verschiedenen Überlieferungssträngen begonnen, ein Prozess, der gelegentlich zur Herausbildung einer Vulgata [d.h. einer standardisierten Textform] führt. Solche Umstände erklären, dass Papyri, die an einer Textstelle die echte, von der mittelalterlichen Überlieferung entstellte Lesart wiederherstellen, dann wieder mit Zweigen oder Ästen dieser mittelalterlichen Überlieferung in einzelnen Korruptelen [d.h. Textverderbnissen] übereinstimmen.
Già nell’antichità era cominciato il processo di contaminazione, di conguagliamento fra tradizioni diverse, il processo che talvolta sbocca nella formazione di una «vulgata».
Tali condizioni spiegano come papiri che restituiscono in un punto la lezione genuina oscurata nella tradizione medievale, coincidano poi con rami e ramoscelli di essa in corruttele particolari.
11) [Antike Archetypi] Für die griechische Überlieferung gibt es keine sicheren Beispiele für Archetypi, die noch ins Altertum gehören; hingegen lässt sich für die lateinische Überlieferung das Vorkommen einiger solcher Archetypi schwerlich bestreiten. Sie werden in die Jahre gehören, die unmittelbar auf die stürmischste und zugleich trostloseste Periode der Kaiserzeit folgen, d.h. auf die Periode zwischen dem Ende der Severerdynastie und der Begründung des „Dominats“ [d.h. des spätantiken Kaisertums], 235–284 n. Chr.9
Non vi sono esempi certi di archetipi appartenenti ancora all’antichità per la tradizione greca; per la tradizione latina non pare che tali archetipi possano esser negati. Essi apparterranno agli anni che tengon subito dietro al periodo più turbolento insieme e più squallido dell’età imperiale, quello tra la caduta dei Severi e la fondazione del dominato, 235–284.
9
Üblicherweise lässt man diese sogenannte Reichskrise mit der Ausrufung Diokletians zum Kaiser im Jahre 284 n. Chr. enden, auch wenn er sein Vierkaisersystem (Tetrarchie zweier Augusti und zweier Caesares) erst im Jahre 293 n. Chr. vollständig etablierte.
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Anhang 2: Grundsätze für Editoren antiker Texte
12) [Autorenvarianten] Das Studium der einschlägigen antiken Nachrichten und einiger Papyrus-Autographe, die Analyse derjenigen zeitgeschichtlichen Werke (oder solcher mit zeitgeschichtlichen Bezügen), von denen verschiedene Handschriften verschiedene Versionen überliefern, und schließlich der Parallelfall mittelalterlicher Texte, für die wir eine Überlieferung aus der Zeit der Autoren selbst besitzen, wie vor allem bei den Texten von Petrarca und von Boccaccio – all dies rechtfertigt die Hypothese, dass ganz spezielle Typen von Varianten (eine sehr interessante Gruppe bilden die Varianten bei einem realen oder fiktiven Eigennamen) auch in Werken des Altertums auf die Autoren selbst zurückgeführt werden können.10 In einigen Fällen lässt sich diese Hypothese zwingend erweisen.
Lo studio delle testimonianze antiche e di pochi papiri autografi, l’analisi di opere storiche (o contenenti accenni storici) conservate in forma diversa in diversi manoscritti, l’analogia di testi medievali per i quali possediamo una tradizione contemporanea agli autori, specialmente dei testi del Petrarca e del Boccaccio, legittimano l’ipotesi che varianti di natura particolarissima (un gruppo molto interessante formano le varianti in nome proprio vero o fittizio) possano anche in opere dell’antichità essere ricondotte agli autori medesimi. In alcuni casi quest’ipotesi può essere dimostrata rigorosamente.
10
Giorgio Pasquali: Preghiera, in: Studi Italiani di filologia classica, Nuova Serie diretta da Giorgio Pasquali, Volume XXII, Felice le Monnier, Firenze 1947, S. 261, hat diesen Grundsatz relativiert: „Io credo ora di sapere […] che varianti di autore, frequenti in scritture medievali, rinascimentali, più moderne, in opere dell’antichità sono molto più rare di quanto allora credessi“.
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2 Antike Texte in mittelalterlichen Handschriften
2 THE PRODUCTION AND CIRCULATION OF BOOKS IN BYZANTIUM von Nigel W i l s o n , Oxford Abstract: The proportion of classical Greek literature that has been preserved is minute – one per cent was the estimate of the famous Italian humanist Pietro Bembo. This paper examines the economic factors which limited the production and circulation of books in the critical period which began soon after the eastern half of the Roman empire became a separate state. Writing material was generally more expensive than it had been in classical antiquity. Acute shortages were not unknown, and it is not clear how far the situation improved when paper came to be commonly used, since at least initially the price may have been fairly high. The result is that for texts that were not regularly copied as part of the very conservative school curriculum there are usually very few surviving copies for an editor to use as the basis of the text. Der Anteil der klassischen griechischen Literatur, der überliefert ist, ist winzig – ein Prozent war die Schätzung des berühmten italienischen Humanisten Pietro Bembo. Dieser Beitrag untersucht die wirtschaftlichen Faktoren, die die Produktion und Verbreitung von Büchern in der kritischen Zeit einschränkten, die kurz nach der Auflösung der östlichen Hälfte des Römischen Reiches begann. Schreibmaterial war im Allgemeinen teurer als in der Antike. Akute Engpässe waren nicht unbekannt, und es ist nicht klar, inwieweit sich die Situation verbessert hat, nachdem Papier allgemeinen erhältlich wurde, da der Preis zumindest anfangs recht hoch gewesen sein dürfte. Das Ergebnis ist, dass von Texten, die nicht regelmäßig im Rahmen des sehr konservativen schulischen Lehrplans kopiert wurden, normalerweise nur sehr wenige Kopien vorhanden sind, die ein Herausgeber als Grundlage für den Text verwenden kann.
I. Although the Byzantine empire was located at least partly in Europe, nevertheless by reason of its geographical position, its language and its fluctuating relationship with the Roman church, it was very different from other European states. It is customary to refer to the Byzantine state as an empire, and for some purposes this is a correct description. However, if one is concerned not merely with political and economic history but with questions of cultural influence, the concept of empire is misleading. For much of the period between the sixth century and the fall of the capital in 1453 Byzantine influence was felt well beyond the frontiers of the territories controlled by the emperor. My late colleague Dimitri Obolensky made a good decision when he chose to speak of the Byzantine commonwealth, using this term to refer to a number of countries, in all of which the Orthodox Church was well represented and in most of which the Greek language was known to at least a part of the population. This influence is demonstrated by the existence of Greek manuscripts written in the 141
Nigel Wilson
Levant, in Cyprus, in some Slavonic countries, in Sicily and some remote parts of southern Italy. It happens that most of the evidence which I cite in my survey today comes from areas that were part of the empire, but one should not lose sight of the wider picture. In this paper I will explore one facet of Byzantine material culture, the production and availability of books. It was a society with an intellectual elite that must have been very small as a percentage of the population, but there can be no doubt that it was passionate in its desire to preserve the literary heritage of Greece (I remark in passing that, paradoxically, the Byzantines commonly referred to themselves as Romans, despite the fact that from the end of the sixth century until the end of the thirteenth practically no-one spoke or read Latin). And so, apart from the need to ensure the necessary supply of religious and liturgical texts, the production of copies of the ancient pagan authors was also a high priority, partly because many of them offered practical information that was still the best available, and partly because the literary classics written in Attic Greek were the subject of close study in the schools. These texts retained a prominent place in the curriculum, and one contributory factor to the stability of the curriculum was no doubt the insistence of no less an authority than St Basil on the benefits that could be derived from study of the pagan classics. Throughout the Byzantine period it was the aspiration of almost every educated person to write, and often to speak, Attic Greek, a dialect which inevitably became increasingly archaic and difficult to master. The need to acquire competence in archaism, not matched in western Europe, with the exception of a single peripheral region which I shall mention again later, must have played an important part in sustaining book production. I turn now to discuss some practical details. The first question to consider is whether there were any bookshops. We do hear of such shops in the capital in the 6th century. The historian Agathias mentions (2.29.2.) a tiresome impostor called Ouranios who went to the Imperial Portico and frequented the bookshops (it is worth emphasising that he uses the plural), engaging in conversation with people who gathered there. From a slightly earlier date there is another reference to the booksellers in the Imperial Portico; this is at the beginning of the Life of Severus by Zacharias Scholasticus,1 which gives a fascinating picture of student life in Alexandria in the 480s, but was composed later, when the author had become a lawyer in the capital. He has nothing to say about the availability of the texts that were read by the students, and perhaps we should infer that they were easily obtained. It is disappointing to have to report that there is extremely little evidence from any later period. One must suppose that before the Arab conquest there had been some bookshops in Alexandria and in Beirut, 1
Marc Antoine Kugener: Vie de Sévère, in: Patrologia Orientalis 2, 1907, pp. 7–115.
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The production and circulation of books in Byzantium
where there was a law school, but to the best of my knowledge there is no evidence. The word for bookseller, bibliokapelos, is attested, but is rare. It occurs in the acts of the Council in Trullo of A.D. 692. Canon 68 prohibits the sale of copies of the Bible to booksellers, on the ground that they offered discarded parchment for re-use in palimpsests. This prohibition is commented on in the twelfth century by the canon lawyers Balsamon and Zonaras. Their reason for doing so, however, was not the current state of the book trade; the canon had been cited in a theological discussion on the question whether the ink and the parchment used in the production of copies had acquired a different nature, a special sacred status.2 But there is a famous complaint about the state of the book trade in a work by the accomplished scholar and bibliophile Michael Choniates, dating from the second half of the 12th century.3 He criticises booksellers for creating a situation in which he fears for the future supply of books; he claims that the booksellers have not only washed off texts in order to sell the parchment for re-use in palimpsests, but also have sold manuscripts and whole shiploads of parchment to the Italians. He is probably referring to merchants operating in the various Italian trading stations in the capital. A question arises here: did Italy not produce enough parchment of its own? In fact it looks as if there may have been a shortage in Apulia and Calabria, judging by the number of palimpsests that can now be attributed to those regions, and so perhaps the merchants put in at Otranto to sell their cargo to the Greek-speaking community there. If this conjecture is right, Choniates should have moderated his criticism, since the merchants will have been helping to maintain Greek culture in a place where it was perhaps already under threat. Whether the situation that Choniates complains of was a temporary crisis or the normal state of affairs is not clear, but I think one is bound to conclude that a well stocked bookshop was a rare phenomenon, if indeed it existed at all in his day. That being so, the book lover’s first need was to acquire writing material. I assume that the supply of parchment in the Byzantine world was subject to much the same conditions as elsewhere, even if agriculture flourished better in northern Europe. The yield of parchment from each animal was low; a note in an Oxford manuscript (MS Auct. T. 2.7, fol. 419v) allows us to calculate that a skin produced half a quire, in other words eight pages. At times there must have been shortages, as is proved by the fairly large number of palimpsests, and I have the impression that two areas in particular suffered: one was Mount Sinai, The text was edited by A. E. Lavriotes: Ἱστορικὸν ζήτημα ἐκκλησιαστικὸν ἐπὶ τῆς βασιλείας Ἀλεξιοῦ Κομνηνοῦ, in: Ἐκκλησιαστικὴ Ἀλήθεια (Ekkl4siastik4 Al4theia) 20, 1900, pp. 411–416, 445–447, 445–447, esp. pp. 411–413. It is discussed by C. Barker: Contesting the Logic of Painting. Art and Understanding in Eleventh-Century Byzantium, Leiden, Boston 2007, pp. 133–134. 3 In the edition by S. P. Lambros: Μιχαὴλ Ἀκομινάτου τοῦ Χωνιατοῦ τὰ σῳζόμενα. Vol. I, Athens 1879, p. 17, lines 23–26. 2
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Nigel Wilson
where the library of the monastery of St Catherine’s still has at least 160 such manuscripts, the other was southern Italy and Sicily. At this point I would like to emphasise a fact which is not very well known, namely that large parts of these two regions were bilingual or predominantly Greek-speaking throughout the Middle Ages; even today there are still a few villages in the heel of Italy where the language survives. In those regions the school curriculum was the same as in the rest of the Byzantine world. In the matter of writing material the Byzantines did, however, have one advantage: from the 9th century onwards they could import paper, which was being produced in Baghdad as early as 794. There is no convincing evidence that the Byzantines produced any themselves.4 The earliest Greek manuscript written on paper is Vaticanus gr. 2200, and though it cannot be dated precisely on palaeographical grounds it was probably written c. 800, presumably somewhere in the Levant. The history of the paper trade is infuriatingly obscure, and we cannot tell how quickly the use of the new material became widespread. But the imperial chancery was using it as early as 10525 and it can be stated with confidence that by the middle of the 12th century Greek books written on paper were no longer exceptionally rare; I personally claim credit for establishing this fact, since it depends largely on the proof that a copyist called Ioannikios, whose hand is found in nearly twenty manuscripts and who always used paper, was active no later than the middle of the 12th century (he had previously been dated to the early 14th century). It turns out that the paper he used came not only from the Levant but also from Játiva near Valencia, where Arab influence had led to the establishment of paper mills. This paper, some of which can be recognised by a kind of primitive watermark in the shape of a zigzag, was evidently exported to Byzantium but apparently not to northern Europe, since Bernhard Bischoff states that the earliest German manuscript on paper dates from 1246/7.6
4
An apparent suggestion to the contrary by R. J. H. Jenkins in his commentary to Constantine Porphyrogenitus, De administrando imperio, ch. 52.11 (Constantine Porphyrogenitus: De Administrando Imperio. Volume II, Commentary, ed. by Romilly James Heald Jenkins, London 1962, p. 205: “paper-making” for χαρτοποιοὶ), must be treated as a slip of the pen; in his own translation (Constantine Porphyrogenitus: De administrando imperio. Greek text ed. by Gyula Moravcsik, English translation by Romilly James Heald Jenkins, Budapest 1949, p. 257: “parchment-makers”), Jenkins avoided this error. 5 Franz Dölger, Ioannes Karayannopoulos: Byzantinische Urkundenlehre I, Munich 1968, p. 26. 6 Bernhard Bischoff: Latin Palaeography. Antiquity and the Middle Ages, transl. by Dáibhí Ó Cróinín and David Ganz, Cambridge 1990, p. 12. Incidentally it may be worth noting that Michael Choniates in the passage cited above does not suggest that the reduced quantity of available parchment could be remedied by the use of paper instead. Was it still rather expensive, or did he regard it as not sufficiently durable?
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The production and circulation of books in Byzantium
The question that now has to be asked is whether the availability of paper was translated into favourable prices. Initially it certainly was not; the prices paid by the young bibliophile Arethas for the calligraphic volumes he purchased c. 900 are stupendously high. His copy of Clement of Alexandria (Paris, BNF grec 451) cost six gold coins for the parchment and twenty for the transcription, his Plato (Oxford, Bodleian Library, E. D. Clarke 39) cost eight for the parchment and thirteen for transcription, while the annual salary of a civil servant could be as little as 72 gold coins; Michael Choniates in the essay already mentioned says that if he pursues a literary career he knows he will be poor.7 So large private libraries were rare; Arethas probably owned between twenty and thirty books, the landowner Eustathios Bolias some fifty, but in his case one might wonder if the collection had been built up by two or more generations of his family.8 For the later period it is hard to make reliable inferences. There must have been some improvement in the situation when Italian paper mills began to export at the end of the 13th century, and it is worth noting that by c. 1350 Greek books written on parchment are a minority, which does suggest that a reduction in cost had taken place. I should, however, issue a warning against the assumption that paper was very cheap. The practice of early printers proves that this was not the case. If one examines several copies of an incunable, they will be found to differ in a number of small details: there are misprints which have been corrected in some copies but not in all. This means that when a misprint was noticed in a freshly printed sheet, that sheet was not thrown away, and one has to infer that the paper was too precious to be wasted.
II. Once the parchment or paper had been obtained, who was to transcribe the text? Many people must have written copies of literary texts for their own use, but as in the West a number of monasteries had scriptoria, which presumably accepted orders from private clients as well as ensuring the supply of religious and liturgical texts. In the Byzantine capital the most famous scriptorium was at the Stoudios monastery, as it was generally known; in fact it was one of numerous monasteries dedicated to John the Baptist, founded by Stoudios, who had been consul in the year 454. A set of rules for this scriptorium has been preserved. This document lists penalties for copyists who fail to follow correct procedures, but is not informative about the supply of parchment or the price
7
Choniates [n. 4], I 18, lines 20–22. See E. Zardini: Akten des XI. internationalen Byzantinisten-Kongresses zu München 1958, Munich 1960, pp. 671–678; Speros Vryonis: the Will of a Provincial Magnate, Eustathius (1059), in: Dumbarton Oaks Papers 11, 1957, pp. 263–277.
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to be charged to external clients.9 The activity of this scriptorium is well attested in the 9th and early 10th centuries; whether it retained its primacy after that is not clear. The scriptorium at the monastery of St John on Patmos is attested in the year 1180 in MS Patmos 175. It is tempting to assume that a scriptorium might be equipped with several exemplars of texts in demand, as has been suggested in the case of Dante’s works.10 But I am not at all sure that any parallel from Byzantium can be cited. The only possible case is the new edition of the lives of the saints prepared under the direction of Symeon Metaphrastes. But Michael Psellos’ description of the operation of a team of assistants is difficult to interpret, and the traditional interpretation of it is based on a faulty translation of the Greek; my own view is that the team had instructions to revise the old texts so as to make them more elegant in style, and that the production of copies of the newly edited texts is not being described unless one chooses to emend the text.11 Apart from those working in a monastic scriptorium there appear to have been free-lance copyists. In the colophons, which in Byzantine manuscripts are not nearly as frequent or informative as one would like, a copyist sometimes describes himself as a calligrapher without adding that he is a monk. So for instance the scribe of the Bodleian Plato, completed in the year 895 for Arethas, calls himself John the calligrapher without any further description. I infer that he was a free-lance copyist, whose hand can in fact be recognised in two other important manuscripts, one containing works of an author of the so-called Second Sophistic, Aelius Aristides, who was very popular in Byzantium, the other being the unique copy of the Deipnosophistae of Athenaeus. But the opportunities for the free-lance copyist probably did not increase in Byzantium from the 12th century onwards, whereas in other countries the rise of the universities created employment. In Byzantium there was no university with a continuous history, and there is only scanty evidence for the existence of other institutions of higher learning. Attempts to establish an advanced school in the Magnaura palace in the capital in the 9th century and similar efforts later on seem to have had only limited success. For instance, the draft of a constitution for a law school drawn up in the middle of the 11th century may have remained an unrealised blueprint. Perhaps I am unduly sceptical, but my impression is that the only adequately attested academy was the one that func9
Thomas William Allen: The Origin of the Greek Minuscule Hand, in: JHS 40, 1920, pp. 1–12. 10 Paolo Trovato: Everything You Always Wanted to Know about Lachmann’s Method. A Non-Standard Handbook of Genealogical Textual Criticism in the Age of Post-structuralism, Cladistics, and Copy-Text, Padua 2017, p. 133, citing Alberto Varvaro. 11 I argued this in my Symeon Metaphrastes at Work, in: Nea Rhome 11, 2014, pp. 105– 107.
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tioned under the aegis of the patriarch and is best documented in the 12th century. Its most famous lecturer was Eustathius, who was promoted from his lecturership to become the archbishop of Thessalonica. This academy doubtless ceased to function after the capital was sacked by the Crusaders in 1204. Even if my scepticism is in due course proved to be unjustified by the discovery of fresh evidence, my main contention, namely that fewer openings for copyists were provided by institutions of higher education in Byzantium than in the West, can hardly be disputed. Given the high cost of books it is worth asking the question whether all pupils attending a school or the patriarch’s academy had their own copy of each text studied. If they had copies prepared by professional scribes the cost of education will have been extremely high. An alternative is to suppose that the master dictated the texts to the class. In that case one would expect to find examples of immature and childish script; but though I have found two such hands12 in a manuscript written in Italy in the 15th century, I have not seen any Byzantine copy that obviously falls into this category. Do we therefore have to believe that pupils merely listened to the master and attempted to memorise everything that they heard? Or did they make notes on wax tablets? This is a mystery on which I cannot throw any further light. In the 14th century one additional factor comes into play. In 1280 or thereabouts someone in Florence had invented a new piece of equipment for readers and scribes, namely reading-glasses. It may well be that this invention reached Germany before it was imported into the impoverished Byzantine empire. The first mention of it in a Greek text is in an essay by the historian and courtier Nicephorus Gregoras written in the 1350s, in which it is correctly stated that the invention helps the elderly reader. This of course applies not only to the reader but also to the copyists; most people after their mid-forties need glasses in order to read and write. I think we can identify the first Byzantine copyist to avail himself of the new invention. He is Ioasaph, a well known and productive copyist at the monastery of the Hodegoi in the capital, whose dated products range from 1360 to 1406. Though one cannot exclude the possibility, it seems to me unlikely that his career could have lasted as long as 46 years without the use of reading-glasses.
III. Assuming that the writing material and the copyist had been found, where did one find the exemplar from which the fresh copy was to be made, if a friend
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Utrecht, University Library, gr.13 (Thucydides), prepared for use in the school run by Vittorino da Feltre.
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had not already promised it? One possible source would have been a local monastery, as some of them had good libraries. The most famous inventory of a monastic library is the one drawn up in 1201 at St John’s on Patmos, in which 330 volumes and other valuables are listed. Of the manuscripts 267 were on parchment and 63 on paper. I once conjectured, but with much hesitation, that one of the libraries on Mount Athos may have had about 1,000 volumes, and to the best of my knowledge this figure has not been criticised as unrealistic. In these cases, and doubtless in other monastic libraries, pagan texts will hardly have been represented if at all, except perhaps if lay people retired to a monastery to end their days and brought their own books with them. In the capital the emperor had a collection, presumably well stocked, and at times when there were active institutions of higher education they too must have had working libraries. But in all such cases one has to ask whether they were accessible to the general public, and there is not much information on this matter. We do however know that in the difficult period when the government was exiled to Nicaea in the first half of the 13th century the emperor founded more than one library which the public could consult.13 The person who could easily have enlightened us is the patriarch Photius, who in the Bibliotheca several times states that he has consulted more than one copy of a text; but he never gives the slightest hint of their location or of any difficulty he encountered, a lamentable failure to foresee our curiosity. I should add here that there is evidence of loans and exchanges of books in the correspondence of Theophylact, archbishop of Ohrid in southwestern Macedonia,14 and in special circumstances the emperors are known to have made donations, which will have done something to mitigate the lack of a regular trade in books.15 One may also assume that the academy or a school with what we may call a working library could make its books available for consultation. Certainly many readers compared their own copies with others and noted in the margin variant readings. This procedure has created enormous difficulties for modern editors of the more popular texts, to the extent that in some cases it is not possible to give a clear picture of the stemmatic relations between the extant witnesses.
13
Theodori Scutariotae additamenta ad Geogii Acropolitae historiam, in: Georgii Acropolitae opera, ed. by A. Heisenberg, Vol. I, Leipzig 1903, pp. 297–298. 14 M. Mullett, Theophylact of Ohrid. Reading the Letters of a Byzantine Archbishop, Aldershot 1997, pp. 34, 99, 172. 15 Nigel Guy Wilson: The libraries of the Byzantine world, in: Griechische Kodikologie und Textüberlieferung, ed. by D. Harlfinger, Darmstadt 1980, p. 279 (revised version of a paper originally published in Greek, Roman and Byzantine Studies 8, 1967, pp. 53–80).
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IV. Finally we come to the reading public: where was it to be found? This was, as I have already said, a very small elite. It is generally believed that the capital of the empire was dominant as its cultural centre. This is a generalisation which needs to be qualified to some extent. In late antiquity Alexandria had a strong claim to be called a city of culture, but this did not last long after it fell to the Arabs. Otherwise the most important city was Thessalonica, and there for a short time in the 14th century, perhaps only for two or three decades, classical studies seem to have flourished, especially in the school run by Demetrius Triclinius c. 1320–1340; he did important work on the texts of classical tragedy and comedy, thanks to his understanding of some of the rules of ancient metre, which had been forgotten by his predecessors for many centuries. One should also note the activity of his contemporary Thomas Magister, who had similar interests in the dramatic texts that formed an important part of the school curriculum, and also composed a lexicon of Attic usage, another key element in Byzantine culture, as I have already mentioned. The works of both these scholars were frequently transcribed in the following decades, and probably not only in Thessalonica, but it is often hard to determine where a Greek manuscript was copied. This fact needs to be emphasised: whereas Latin manuscripts generally reveal by features of the script in which country or even in which scriptorium they were produced, the percentage of Greek manuscripts of which the same can be said is much smaller. While it is true that many books produced in the Greek-speaking regions of Italy and Sicily can be identified as such, books produced in other regions often fail to provide convincing and precise evidence about their place of origin. Another town which came into prominence in the 14th century was Mistra in the centre of the Peloponnese. It seems not to have been significant before that date, but in the middle of the century classical texts were copied there, and it was a place of some note in the second quarter of the 15th century, when the philosopher George Gemistos Plethon assembled a group of pupils that included the future cardinal Bessarion. The evidence for other centres is lacking or at best ambiguous. One case is notorious: when Michael Choniates, the last person known to have possessed Callimachus’ short epic poem Hekale, left his position in the capital in 1182 to become bishop of Athens, he was appalled to discover that his first sermon, preached in archaising Attic Greek in the Parthenon, was not understood by the members of the congregation. He says: “Recently in my inaugural address to you – some quite simple and unpretentious remarks – I nonetheless seemed to be saying things that were not intelligible or simply not in the same lan-
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guage;16 it was as if I were speaking Persian or Scythian” (by which he will have meant Turkish or a Slavonic language, probably Bulgarian; his claim to have spoken in simple language is utterly disingenuous).17 One suspects that the same fate had awaited another scholar promoted to a provincial bishopric a century earlier: when Theophylact reached Ohrid c. 1089 he is not likely to have found much intellectual company. In his letters he refers to books but seemingly not to booksellers or libraries. It is of course true that during his lengthy residence in Ohrid he managed to compose commentaries on scripture and polemical works, but this will have been made possible if we assume that like Choniates he brought his private library with him from the capital. This is one of the ways in which books circulated. This is the best explanation of two curious facts recently discovered. It turns out that Theophylact’s commentary on Mark 10 :28–31 contains a previously unnoticed fragment of Julian’s Contra Galilaeos.18 That work can hardly have survived, but it was quoted verbatim by Cyril of Alexandria in his lengthy refutation in nineteen books; we now have only the first ten, but one can imagine that Theophylact had a more complete copy. A second additional fragment of Julian’s work has been detected in a sermon by Philagathus of Cerami, a monk of Rossano in Calabria in the first half of the twelfth century.19 This is more difficult to explain, but it may be that someone had brought from the capital a copy of Cyril’s work and presented it to the monks of Rossano. On the other hand I have recently come across surprising evidence which points to intellectual activity in another remote provincial area. In a corner of the Peloponnese there was a small place called Astros, not far from Argos; its relative insignificance is shown by the fact that there is no entry for it in the Oxford dictionary of Byzantium and it is not discussed by the late Julian Chrysostomides in her papers on the economic history of Byzantium and especially the Morea.20 But I have recently been able to identify three manuscripts of works by ancient historians which were written there in the period 1350– 1375, the time when Mistra was flourishing. They are Oxford, Barocci 151, containing Josephus, Bellum Judaicum, which is not signed or dated, and Milan, Ambrosiana A 78 inf. of Xenophon’s Anabasis, dated 1374, written by the same copyist, who tells us in the colophon that he wrote it in Astros. The third is Paris, BNF grec 1634, a copy of Herodotus written in the same village by a different scribe in 1372. One is bound to ask whether, if copyists had been 16
Should one emend to “your”? Choniates [n. 4], I 124, lines 26–9. 18 PG 123.604B. 19 PG 132.801A. 20 Byzantium and Venice 1204–1453. Collected studies, ed. by Michael Heslop and Charalambos Dendrinos, Farnham 2011. 17
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more informative about their identity and their location, as their Armenian counterparts normally were, a number of other indications of cultural pursuits in remote areas would be revealed.21
V. Though the Byzantines produced an enormous quantity of literary texts, especially theology, history and letters, it is difficult to give a full and accurate picture of some features of daily life. One could reasonably have hoped to provide a more detailed account of the world of books, but the evidence is much less complete than one might expect. The main reason is presumably that the practical details of daily life were taken for granted and did not often need to be stated. One is left with the impression that for a long time literary circles suffered because the standard of living was lower than it had been in the Roman empire. But curiously, in the period from about 1280 up to 1330, when the economic decline of the empire was serious, there appears to have been a revival of scholarly activity. In these decades many copies of the central texts were prepared, and in passages where there seemed to be a difficulty one copy was compared with another, variant readings were recorded in the margin, and in any subsequent copy the scribe could blend one textual tradition with another. This kind of activity had of course occurred from time to time in earlier periods, but it became more intense at this date, and the result is that there is a serious challenge for editors of many texts if they wish to construct a stemma.
VI. A note on the origin of textual criticism Textual criticism is not an invention of the Renaissance. The earliest significant practitioners of this art were scholars based in Alexandria in the 3rd and 2nd centuries B.C. Their critical operations arose out of the determination of the Ptolemies to establish a grand library that would outclass those of Athens, where Plato and Aristotle and their successors will have had substantial, if rather specialised, collections. Multiple copies arrived in Alexandria from many parts of the Greek world – texts of Homer came from places as far apart as Massilia (Marseille) and Sinope on the Black Sea – and in view of the striking discrepancies in the texts that they presented it was necessary to assess their quality and authenticity. Some reports of some of their variant readings are preserved, as are fragments of papyrus copies that clearly come from these deviant texts; these are commonly referred to as the “wild papyri”. What is remarkable is that by the end of the 2nd century B.C. such papyri were becoming rare.22 21
Nigel Guy Wilson: Observations on the editio princeps of the Greek text, in: International Journal of the Classical Tradition 23, 2016, pp. 176–177 (This issue of the journal contained the proceedings of a seminar on Flavius Josephus). 22 Stephanie West: The Ptolemaic Papyri of Homer, Köln, Opladen 1967, p. 5.
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Evidently the librarians had established what could be regarded as a reliable text of Homer, and in order to do so they had needed to be textual critics, even if they did not go so far as to develop anything resembling stemmatic method. It is paradoxical that if digital technology had been available to them, it could have been exploited to present all the variant versions, although such a digital presentation would scarcely have counted as an edition. The Alexandrians were not the only textual critics in antiquity. Intelligent readers recognised faults in the books that they read; they knew that scribes made mistakes in copying and were sometimes able to make the necessary correction. The philosopher Demetrius Lacon (c. 100 B.C.) shows considerable sophistication in dealing with such issues; he discusses variation between copies, and in one passage he remarks on damage caused by book-worms and the subsequent attempt of a reader to correct the defective text.23 Similar awareness is shown in various essays by Galen. He begins his discussion of works by Zeuxis, an early commentator on Hippocrates, by noting that the texts had been seriously corrupted by unnecessary emendations, which obliged him to investigate the antiquity of various copies.24 And references to “reliable copies” occur from time to time.25 There is in fact no shortage of evidence that ancient readers could be critics and were sometimes forced to be, and there is evidence that these skills were not entirely lost in the Middle Ages.
23 Leighton D. Reynolds, Nigel G. Wilson: Scribes and Scholars, 4th ed., Oxford 2013, p. 19. 24 In Hipp. Epid. VI (Galeni in Hippocratis Epidemiarum librum VI, ed. by Ernst Wenkebach, Berlin 1956), p. 3. 25 E.g. In Hipp. De victu acutorum 1.2 (Galeni In Hippocratis de victu acutorum commentaria, ed. by Georg Helmreich, Leipzig, Berlin 1914), p. 119.
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3 Variantentypologie I: Eigenvarianten der Schreiber
3.1 EIN ANTIKER TEXT IN DREI FASSUNGEN UND DEREN MITTELALTERLICHES NACHLEBEN: CICEROS ‚ACADEMICA‘ von Tobias R e i n h a r d t , Oxford Abstract: Dieser Beitrag beschreibt zunächst allgemein die Aufgaben, die sich dem Herausgeber der Reste von Ciceros sogenannten Academica stellen, um dann am Beispiel der Korrekturen in zwei karolingischen Handschriften zu illustrieren, dass die Beurteilung und Darstellung der Überlieferung eines Textes gemäß der Lachmannschen Methode nicht nur durch Kontamination, sondern auch durch mittelalterliche Konjekturalkritik erschwert werden kann. Eine zusammenfassende Studie über diese mittelalterliche Konjekturalkritik wird als Desiderat benannt. This article first describes in general terms the tasks facing the editor of the surviving parts of Cicero’s so-called Academica. It then uses the example of the corrections in two Carolingian manuscripts to illustrate that the assessment and representation of the transmission of a text in accordance with the Lachmann method can be complicated not only because of contamination but also by medieval conjectural criticism. The article concludes that a comprehensive study of this medieval conjectural criticism is highly desiderable.
Versionen desselben Textes von der Hand des Autors sind ein bekanntes Phänomen in der Mediävistik, das für die Anwendung der Lachmannschen Methode eine Reihe von Konsequenzen hat, von denen die Rekonstruktion einer Mehrzahl von textlichen Ausgangspunkten die relativ einfachste ist. Dass auch antike Autoren gelegentlich mehr als eine Version eines Textes generierten, ist wohlbekannt.1 Ciceros sogenannte Academica sind jedoch ein extremer Fall: Bezeugt sind insgesamt drei verschiedene, nacheinander entstandene Bearbeitungsstufen dieses Textes, was bedeuten könnte, dass wir mit drei textlichen Ausgangspunkten zu rechnen hätten. Tatsächlich erfordern es jedoch die näheren Umstände der Überlieferung, dass man die Reste der Academica wie zwei verschiedene Texte behandelt, die auf jeweils einen eigenen Archetypen zurückgehen; denn die beiden Texte stellen einander nicht überlappende Teile des Ganzen dar, und die mittlere Bearbeitungsstufe ist gänzlich verloren. Dies ist allerdings lediglich durch die Zufälle der Überlieferung bedingt. Im folgenden Artikel wird die Überlieferungslage der Reste der Academica beschrieben, um anschließend ein Methodenproblem zu beleuchten, das die ältesten Handschriften eines erhaltenen Teils des Textes aufwerfen und das mit der Geschichte des Textes im Mittelalter zu tun hat.
1
Siehe H. Emonds: Zweite Auflage im Altertum. Kulturgeschichtliche Studien zur Überlieferung der antiken Literatur, Berlin 1941.
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Formal ist der Text ein Dialog, bzw. eine Serie von Dialogen, in denen sich dogmatische und skeptische Sprecher gegenüberstehen. Erstere vertreten und verteidigen die empirische Erkenntnistheorie der Stoa, die wir ansonsten vor allem aus Zusammenfassungen und kritisch-feindseligen Texten kennen (besonders Sextus Empiricus). Die skeptischen Sprecher greifen diese Theorie an. Die Debatte und ihre Rezeption in der Antike nimmt einige wesentliche Schachzüge der erkenntnistheoretischen Diskussion des 20. Jahrhunderts vorweg, wie etwa die Unterscheidung zwischen Internalismus und Externalismus oder sogenannte „brain in the vat”-Szenarien. In jedem Falle hat man häufig eine argumentative Struktur, die, wie wir sehen werden, bei der Textkonstruktion hilft und insofern mit dem Fall Aristoteles vergleichbar ist. Wenn man die Academica herausgibt, dann hat man es letztlich mit drei verschiedenen Editionsprojekten zu tun, die jeweils eigene Anforderungen stellen. Dies verhält sich so, weil Cicero, wie bereits gesagt, selbst mehrere Bearbeitungsstufen der Academica produzierte, die erste in zwei Büchern (Catulus und Lucullus), eine zweite, deren Titel und Buchzahl wir nicht kennen, sowie eine dritte in vier Büchern (Academici libri). Uns erhalten sind das zweite Buch der ersten Bearbeitungsstufe (Lucullus) sowie die erste Hälfte des ersten Buchs der dritten Bearbeitungsstufe, das Academicus Primus hieß. Von der dazwischen liegenden zweiten Bearbeitungsstufe wissen wir nur aus einem erhaltenen Brief Ciceros (Att. 13.16.1–2 = SB 323), und wir haben keinen Grund anzunehmen, dass Cicero sie jemals aus der Hand gegeben hat.2 Darüber hinaus haben wir eine indirekte, d.h. auf Zitaten und Paraphrasen basierende, Überlieferung der dritten Bearbeitungsstufe, die sich zum Teil mit dem erhaltenen Fragment des ersten Buches dieser Bearbeitungsstufe berührt, ansonsten aber primär Einsichten in die verlorenen Teile der dritten Bearbeitungsstufe gibt. In den Fällen, in denen die dritte Bearbeitungsstufe der Academica wörtlich zitiert wird und die entsprechende Passage nicht direkt handschriftlich überliefert ist, gewinnt man so „Fragmente” – hier ist vor allem der „Lexikograph des republikanischen Lateins“, Nonius Marcellus, als Quelle zu nennen. Daneben ist ein wichtiger Autor für die Rekonstruktion der verlorenen Teile der Academici Libri Augustinus, besonders sein Dialog Contra Academicos in drei Büchern, in dem die Academici Libri auf Schritt und Tritt benutzt werden. Augustinus hat allerdings die Angewohnheit, so gut wie nie wörtlich zu zitieren und insofern keine Fragmente zu liefern. Darüber hinaus denkt er kreativ und produktiv über die von Cicero aufgeworfenen philosophischen Probleme nach, so dass das cicero-
2
Zur Entstehung der verschiedenen Bearbeitungsstufen siehe Miriam T. Griffin: The Composition of the Academica – Motives and Versions, in: Assent and Argument. Studies in Cicero’s Academic Books, hg. von Brad Inwood und Jaap Mansfeld, Leiden 1997, S. 1– 35. Siehe den Anhang am Ende dieses Artikels zur Sprecherverteilung in den Dialogen und zu ihrem Erhaltungszustand.
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Ein antiker Text in drei Fassungen und deren mittelalterliches Nachleben
nische Textmaterial nicht nur in stilistischer, sondern auch in inhaltlicher Hinsicht verfremdet wird. Dem Herausgeber stellen sich also drei Aufgaben: 1. Die Edition des fragmentarisch überlieferten Academicus Primus (Ac. 1), des Anfangsteils der dritten Bearbeitungsstufe: Dies ist eine relativ unkomplizierte Aufgabe, da die Zahl der Handschriften überschaubar ist (etwa 50) und diese nur ein bescheidenes Maß an Kontamination aufweisen, so dass ein Stemma ohne besondere Mühe erstellt werden kann und sich Text und Apparat mit den üblichen Methoden erarbeiten lassen.3 Ac. 1 ist einer der Texte, die geeignet sind, Zweifel an der Gültigkeit der stemmatischen Methode auszuräumen. Für den erhaltenen Teil dieses Anfangs der dritten Bearbeitungsstufe wirft die indirekte Tradition einige Fragen zu einzelnen Lesarten auf, die sorgfältige Erwägung verdienen, da die zitierenden oder paraphrasierenden Autoren ein halbes Jahrtausend vor der Niederschrift der ältesten Handschriften von Ac. 1 tätig waren. 2. Die Ausgabe der Fragmente und Testimonien der dritten Bearbeitungsstufe (Academici Libri): Hier rekonstruiert man einen verlorenen und insofern instabilen Text – den der auf Ac. 1 folgenden Teile – im Umriss, jedoch innerhalb bestimmter, ungewöhnlich enger Parameter – ein Verfahren, das abstrakt betrachtet anderen editorischen Problemen, die Gegenstand dieses Bandes sind, ähnlich ist und deshalb hier kurz dargestellt wird. Hilfreich ist hier die enge inhaltliche Entsprechung zwischen der ersten und der dritten Bearbeitungsstufe. Wie schon gesagt, bestand die erste Bearbeitungsstufe der Academica aus zwei Büchern, von denen wir das zweite haben, den Lucullus. Quintilian erwähnt die beiden Bücher namentlich (3.6.64), aber kein antiker Autor vor ihm oder nach ihm zitiert aus ihnen.4 Gleichwohl erlauben uns Rückverweise im Lucullus, Schlüsse auf den Inhalt des Catulus zu ziehen, z.B. bezüglich der Sprecher (Catul. war ein Dialog wie Luc.), der Reihenfolge, in der sie auftreten, und des Inhalts ihrer Reden. Da Cicero, während er sich in der Schlußphase der Arbeit an den Academica befand, eine größere Zahl von Briefen an seinen Freund Atticus schrieb, in denen er unter anderem den Kompositionsprozess beschrieb und mit Atticus diskutierte, wissen wir, dass Cicero die erste Bearbeitungsstufe innerhalb weniger Tage umarbeitete und in dieser Zeit auch noch eine kurze Reise unternahm. Dies erweckt die Erwartung, dass die dritte Bearbeitungsstufe im Großen und Ganzen der ersten folgte, dasselbe Material aber auf vier Bücher verteilte. In diesem Fall würde der Catulus den Büchern 1 und 2 der Academici libri entsprechen, der Lucullus dagegen den Büchern 3 und 4. (Wir wissen aller3 Zur Textgeschichte von Ac. 1 siehe Terence J. Hunt: A Textual History of Cicero’s Academici Libri, Leiden, Boston, Köln 1998. 4 Plutarch kannte unter Umständen den Lucullus oder wusste zumindest von seiner Existenz, ausweislich § 42 seiner Biographie des Lucullus.
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dings bereits, dass Cicero fast alle Dialogteilnehmer austauschte sowie das dramatische Datum des Gesprächs veränderte.) Dies wird durch eine recht große Zahl von Fragmenten aus dem dritten und vierten Buch der Academici Libri bestätigt, die Nonius Marcellus – an selten gewordenem Vokabular interessiert – wörtlich und mit Buchangabe zitiert hat. Sieht man von Kleinigkeiten ab, sind diese in der Regel identisch mit dem Wortlaut der entsprechenden Partien im Lucullus, was nahelegt, dass Cicero lediglich einzelne Passagen tiefgreifend umgeschrieben hat. Die nahezu wörtlichen Entsprechungen zwischen den Fragmenten der dritten Bearbeitungsstufe und dem Lucullus bilden das Gerüst für die Rekonstruktion der verlorenen Bücher 3 und 4, wobei der Lucullus es uns erlaubt, die Fragmente in die richtige Reihenfolge zu setzen. Es ist dieses Gerüst, was denn auch die Benutzung von Augustinus zu keinem bloßen Ratespiel macht: Wann immer man nämlich hinter einer Passage eine bestimmte Stelle im Lucullus ausmachen kann, deren Bearbeitung und Erweiterung man aus verschiedenen Gründen nicht Augustinus selbst zuschreiben kann, drängt sich der Verdacht auf, dass die Differenz zwischen dem Text des Lucullus und Augustinus’ Wiedergabe auf Ciceros endgültige Fassung in den Academici Libri zurückgeht. Hier spielt der Gelehrte Varro eine besondere Rolle, dem Cicero in der letzten Version die Rolle des Dogmatikers gibt. Cicero scheint versucht zu haben, an verschiedenen Stellen auf Varros Werke anzuspielen, um ihm auf diese Weise Respekt zu zollen. Findet man solche Anspielungen in einer Passage bei Augustinus, so wird dadurch der Raum für Unsicherheiten, denen man bei der Rekonstruktion des Inhalts des ciceronischen Textes ausgesetzt ist, weiter verengt. Dem Herausgeber stellt sich die Frage, wie einschlägige Passagen aus Augustinus in einer Textausgabe dargestellt werden sollen. So könnte man etwa einen längeren Auszug daraus abdrucken und diesen als testimonium (wie etwa in Diels-Kranz’ Ausgabe der Vorsokratiker) behandeln, ohne allerdings einen bestimmten Abschnitt, den man im engeren Sinne für ein wörtliches ciceronisches Fragment halten könnte, kursiv zu setzen (Augustinus zitiert nur ausnahmsweise wörtlich und gibt manchmal vor, wörtlich zu zitieren, wo er es nachweislich nicht tut). In diesem Fall würde man in einem separaten Kommentar die im engeren Sinne ciceronischen Elemente zu isolieren suchen. Weniger geraten scheint es dagegen, einen vom Herausgeber nach Art einer Stilübung rekonstruierten ‚ciceronischen’ Text neben die augustinische ‚Quelle‘ zu setzen, obwohl in speziell diesem Fall die Versuchung dazu besteht, da wir, wie gesagt, innerhalb einer Reihe recht eng gesetzter Parameter rekonstruieren. 3. Die Ausgabe des Lucullus, d.h. des zweiten Teils der ersten Bearbeitungsstufe: Dieser Dialog blieb überhaupt nur deshalb erhalten, weil er der Kontrolle des Autors entglitt und so in die antike bzw. mittelalterliche Textüberlieferung gelangte. Wie dies geschehen konnte, kann man anhand eines Parallelfalls demonstrieren. Einer der Briefe an Atticus, die den Ent158
Ein antiker Text in drei Fassungen und deren mittelalterliches Nachleben
stehungsprozess der Academica dokumentieren, enthält einen seltenen Moment der Verstimmung zwischen den beiden Briefpartnern (Att. 13.21a. 1–2 = SB 327): Atticus hatte es zugelassen, dass das erste Buch von De Finibus von Bekannten gelesen wurde, bevor Cicero es Brutus zukommen lassen konnte, dem der Dialog gewidment ist, und bevor Cicero letzte Hand anlegen konnte. Entweder ist Luc. auf ähnliche Weise zu früh weitergegeben worden oder Cicero versuchte unmittelbar nach einer vorschnell autorisierten Weitergabe des Buchs einen Rückruf, der allerdings scheiterte.5 Überliefert ist uns der Lucullus in einer Vielzahl von mittelalterlichen Handschriften. Nachstehend findet sich eine Übersicht über die für den Editor besonders relevanten Handschriften, ihren Inhalt und ihre jeweilige Datierung: A = Leiden, Universiteitsbibl. Voss. Lat. F84; N. D., Div., Tim., Fat. Top., Parad., Luc., Leg.; IX. Jhd. Aa = erste Korrekturschicht in A, d.h. erste sekundäre Korrekturen im Gegensatz zu Korrekturen der ersten Hand; IX. Jhd. B = Leiden, Universiteitsbibl. Voss. Lat. F86; Cic. N. D., Div., Fat., Top., Parad., Luc., Leg., Tim.; IX. Jhd. Ba = erste Korrekturschicht in B, d.h. erste sekundäre Korrekturen im Gegensatz zu Korrekturen der ersten Hand; IX. Jhd. V = Wien, Österreichische Nationalbibliothek 189; Cic. N. D., Div., Tim., Fat., Parad., Luc. (i. e. §§ 1–104); IX. Jhd. V2 = erste Korrekturschicht in V, d.h. erste sekundäre Korrekturen im Gegensatz zu Korrekturen der ersten Hand; IX. Jhd. F = Florenz, Bibl. Medicea Laurenziana, San Marco 257; Cic. N. D., Div., Tim., Fat., Top., Parad., Luc., Leg.; IX. Jhd. S = Madrid, El Escorial (Antolin. R. I. 2); Cic. Tusc., Phil. 1–4, Catil. 1–4, Luc., [Cic.] Exil., [Sall.] in Cic., Cic. Marc., Lig., Deiot., [Cic.] in Sall., Sall. in Cic., Cic. Fin., Tim., liber Tullii de re militari, Cic. Tim., Verr. f. 98v–120r Luc.,f. 189r–93r Tim., f. 196r–200v Tim.; XIV. Jhd. R = Vatican, Biblioteca Apostolica Vaticana, Vat. Reg. Lat. 1762; (Hadoards collectaneum, basierend auf verschiedenen Quellen einschließlich F); IX. Jhd.
5
Cicero entwickelte bald Bedenken bezüglich der Glaubwürdigkeit der Dialogteilnehmer Catulus und Lucullus, die in den zwei Büchern der ersten Bearbeitungsstufe philosophische Probleme mit einer Kenntnis und einem Verständnis diskutierten, das den historischen Figuren nicht zuzutrauen war. Um dem Vorwurf der mangelnden Plausibilität des Dialoggeschehens zu begegnen, ersetzte er zunächst die Vorreden des Catulus und des Lucullus durch Versionen, die den Sachverstand von Catulus und Lucullus bekräftigen sollten (Lucullus wird tiefe persönliche Vertrautheit mit Antiochus von Ascalon sowie ein ausgezeichnetes Gedächtnis bescheinigt). Uns erhalten ist der Lucullus mit dieser ‚neuen‘ Vorrede. Man könnte die Fassungen des Catulus und Lucullus, die die ursprüngliche Vorrede aufwiesen, als eine weitere (d.h. vierte, chronologisch aber erste) Autorenfassung betrachten, die sich von der zweiten allerdings nur eben durch die Vorreden unterschied.
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Tobias Reinhardt
A und B sind die berühmten Träger des sogenannten Leidener corpus philosophischer Schriften Ciceros. Beide wurden um die Mitte des 9. Jahrhunderts im Nordosten Frankreichs geschrieben, von deutlich verschiedenen Händen. F wurde in Corbie geschrieben.6 Die Bedeutung von S für die Überlieferung von Luc. wurde erst vor kurzem durch Ermanno Malaspina erwiesen.7 R ist Hadoards berühmte Sammlung, die neben Ciceros Philosophica Macrobius und Martianus Capella exzerpiert, sowie ein offenbar von Hadoard selbst verfasstes Gedicht im klassizistischen Stil enthält.8 Für keinen anderen klassischen lateinischen Text ist so früh eine so hohe geographische Konzentration von Handschriften belegt. Es fällt auf, dass die zwei Leidener Handschriften sowie V den Lucullus neben verschiedenen von Cicero offiziell herausgegebenen Texten enthalten. Hier scheint eine weitere, wenn nicht ‚Ausgabe‘, dann Sammlung ciceronischer Werke greifbar, die vermutlich aus der Spätantike stammt. Dafür spricht unter anderem die Präsenz der Topica in A und B, die von Cicero selbst, wenn er am Anfang von Div. 2 2 auf seine philosophischen Werke zurückblickt, übergangen werden, während ein spätantikes Philosophie- und Methodenverständnis sie eher neben die Dialoge stellen würde.9 Man wüsste zu gerne, ob diese Sammlung einst auch den Catulus enthielt oder sogar den Hortensius, der mit den beiden AcademicaBüchern der ersten Bearbeitungsstufe als Ensemble konzipiert war. Bezüglich der Verhältnisse zwischen diesen Handschriften stehen einander zwei Sichtweisen gegenüber, wobei eine mehr oder weniger artikulierte Version der ersten Sichtweise von der Mehrzahl derer, die sich mit dem Gegenstand befasst haben, vertreten wird.
6
Siehe B. Bischoff: Manuscripts and Libraries in the Age of Charlemagne, Cambridge 1994, S. 146. 7 Ermanno Malaspina: Recentior non deterior: Escorial R. i. 2 e una nuova recensio del Lucullus di Cicerone, in: Paideia 73, 2018, S. 1970–1985. 8 Siehe Charles H. Beeson: The Collectaneum of Hadoard, in: Classical Philology 40, 1945, S. 201–222; anders Clara Auvray-Assayas: Qui est Hadoard? Une réévaluation du manuscrit Reg. Lat. 1762 de la bibliothèque Vaticane, in: Revue d’Histoire des Textes 8, 2013, S. 307–338. 9 Siehe Clara Auvray-Assayas: Diffusion et transmission du dialogue cicéronien De natura deorum. L’influence sous-estimée du néoplatonisme, in: Académie des inscriptions et belles-lettres. Comptes rendues des séances 2016, S. 363–377.
160
Ein antiker Text in drei Fassungen und deren mittelalterliches Nachleben
(i) kritische Auseinandersetzung mit den Texten und dem Editionsprozess:10 –
A und B, die verschiedenen Skriptorien –in beiden Fällen nicht Corbie – entstammen und nicht als Paar durch die Jahrhunderte gegangen sind, befanden sich um die Mitte des 9. Jahrhunderts in Corbie, wohin sie vermutlich verbracht wurden, um als Quelle von F zu dienen, das wie gesagt ein Corbie-Produkt ist. Ein weiteres Indiz dafür, dass A und B nur vorübergehend in Corbie waren, ist, dass der Text der Topica, den A und B fragmentarisch bieten, in A ebenfalls um die Mitte des neunten Jahrhunderts aus einer anderen Tradition vervollständigt worden ist, ohne dass sich diese Vervollständigung in F fände.
–
B, das die Texte in verworfener Form bietet, ist zunächst durchgeordnet worden (durch Randnotizen und Querverweise), vermutlich indem es mit A abgeglichen wurde. Allerdings war es nicht B selbst, das zuvor in Unordnung geraten ist, sondern bereits seine Quelle, da die Verwerfungen nicht lediglich durch die falsche Anordnung der Lagen bedingt sind.
–
für N. D. und Div. ist sodann B gegen A, für Tim. und den Rest der Texte A gegen B korrigiert worden, wobei der Korrektor zwar Konjekturen macht, dabei aber keine dritte Handschrift benutzt (dies ergibt Aa).
–
danach ist B gegen A/Aa für Tim. und den Rest der Texte korrigiert worden (dies ergibt Ba). Es ist aufgrund paläographischer Überlegungen nicht auszuschließen, dass Aa und Ba dieselbe Person sind.11
–
F basiert auf B/Ba für N. D. und Div., aber auf A/Aa für Tim. – Leg.
–
R bezieht seine dem Leidener corpus entnommenen Exzerpte aus F.
–
V ist noch im 9. Jh. korrigiert worden, was in V2 resultierte.12
10
Vgl. Peter Lebrecht Schmidt: Die Überlieferung von Ciceros Schrift De legibus in Mittelalter und Renaissance, München 1974, hier S. 108: „Das Bild der Korrekturen von B and A schwankt … von der Parteien Gunst und Hass verwirrt in der Geschichte“; Tobias Reinhardt: A Note on the Text of Cicero’s Topica in Cod. Voss. Lat. F86, in: Mnemosyne 55, 2002, S. 320–328. 11 Vgl. J. G. F. Powell: M. Tulli Ciceronis de re publica, de legibus, Cato maior de senectute, Laelius de amicitia, Oxford 2006, S. xliv. 12 Vgl. R. H. Rouse: De natura deorum, De Divinatione, Timaeus, De Fato, Paradoxa Stoicorum, Academica priora, De Legibus, in: Texts and Transmission. A Survey of the Latin Classics, hg. v. Leighton D. Reynolds, Oxford, 1983, S. 124–128, hier S. 126: „During the middle of the ninth century, Lupus, Abbot of Ferrières, corrected V against a Corbie manuscript. The fact that these corrections agree with the corrected version of B for the first two books of the corpus and with the corrected version of A for the remainder suggests that Lupus used F, and that F may have left Corbie at an early stage of its history.“ Während die Korrektur von V durch Lupus gesichert ist, bestehen unseres Erachtens Zweifel, dass bei der Korrektur von V die Handschrift F zur Verfügung stand.
161
Tobias Reinhardt
Folgendes Stemma entspricht diesem Szenario (Pfeile symbolisieren Einfluss, Linien Abhängigkeit): Ȧ
ȗ
B
ȟ
A
Ba
Aa V
F
V2
R
S
(ii) Man betrachtet das karolingische Skriptorium als einen Ort, an dem klassische lateinische Texte lediglich bewahrt werden. Hierzu Zelzer/Zelzer: Korrekturen und Konjekturen nach Art und Ausmaß, wie sie die traditionelle Auffassung und zuletzt Schmidt [Anm. 10] für das 9. Jh. annehmen wollte, halten wir jedoch […] für jene Zeit schlichtweg für ausgeschlossen. Philologische Arbeit an antiken Texten fand, nach Ausweis der wenigen erhaltenen alten Zeugen, viel eher im späteren 4. und frühen 5. Jh. statt als in karolingischer Zeit, als man erst wieder zu sammeln und abzuschreiben begann; technisch-paläographisch verfuhr man bei der Korrektur von Fehlern im strengen Sinn erst in der jüngeren Vergangenheit.13
Aus der Perspektive von Ansicht (ii) wird bestritten, dass die Korrekturschichten, die sich in A und B finden, entweder aus der jeweils anderen Handschrift geschöpft sind oder die Ergebnisse einer unabhängigen Konjekturalkritik darstellen. Stattdessen wird der Einfluss einer verlorenen Handschrift angenommen, entweder des Archetypen selbst oder einer gänzlich unabhängigen Handschrift. Die von Zelzer/Zelzer angeführte Überlegung über das, was mit klassischen Texten am Ausgang der Spätantike geschah, ist natürlich richtig, aber nicht unvereinbar mit der These, dass es im 9. Jahrhundert Anfänge ‚philologi13 Michaela Zelzer, Klaus Zelzer: Zur Frage der Überlieferung des Leidener Corpus philosophischer Schriften des Cicero – mit einer kritischen Bewertung karolingischer Textemendation, in Wiener Studien 114, 2001, S. 183–214, hier: S. 191.
162
Ein antiker Text in drei Fassungen und deren mittelalterliches Nachleben
scher Arbeit‘ gab. Bestritten wird auch die Position von F im Stemma. Da F öfter das Richtige liest, wo vor Korrektur A das Falsche bietet, wird von Zelzer/ Zelzer angenommen, dass F dem Archetypus näher steht als A. Man wird jedenfalls einräumen, dass es prima facie wahrscheinlich ist, dass wir nur Teile einer Konstellation sehen, wenn auch ungewöhnlich viele für derart alte Handschriften in enger Verwandtschaft. Ein Stemma, das Position (ii) reflektieren würde, müsste Aa und Ba entweder aus dem Archetypus oder aus einer verlorenen Handschrift, die außerhalb des Stemmas steht, ableiten. Dies hätte natürlich Folgen für den kritischen Apparat. Position (i) könnte sich dagegen unter Umständen darauf beschränken, lediglich erfolgreiche oder wenigstens interessante Emendationsversuche von Aa und Ba in den Apparat aufzunehmen. Eine klare Entscheidung zugunsten von Position (ii) wäre etwa dann möglich, wenn sich in den ersten Korrekturschichten von A oder B eine Emendation fände, die ein Korrektor unmöglich ohne Rekurs auf eine Handschrift hätte machen können (z.B. die nicht triviale Ergänzung einer Lücke). Eine Emendation dieser Art liegt allerdings nicht vor. Auch tun die Korrektoren Aa und Ba, wenn es sich um verschiedene Individuen handelt, nichts, was die Benutzung einer dritten Handschrift zu einer ökonomischen Annahme machen würde, wie etwa variae lectiones am Rand zu verzeichnen, die nicht in der jeweils anderen Handschrift A oder B zu finden sind. Da dies so ist, muss man alle Korrekturen in A und B identifizieren, um zu sehen, ob man in der Zusammenschau Position (i) plausibel machen kann, was wir an anderer Stelle versuchen wollen.14 Maas hat im Zusammenhang mit Trennfehlern bekanntlich darauf hingewiesen, dass das Niveau der Konjekturalkritik in einer bestimmten historischen Periode bei der Konstruktion eines Stemmas zu berücksichtigen ist.15 Gelungene eigene Verbesserungen seitens der Schreiber (emendatio ope ingenii) können nämlich die stemmatische Aussagekraft eines vermeintlichen Trennfehlers ebenso unterminieren, wie die Über14
Mit Bezug auf die karolingischen Korrekturen in den ältesten Handschriften des Lukrez hat Butterfield vor kurzem in einer sehr sorgfältigen Untersuchung dafür plädiert, bereits in dieser Zeit eine Emendationstätigkeit anzunehmen (David Butterfield: The Early Textual History of Lucretius’ De rerum natura, Cambridge 2013). Dieses Ergebnis ist von James E. G. Zetzel, was die zitierten Einzelfälle angeht, in einer Rezension (American Journal of Philology 136, 2015, S. 369–372) durch plausible Überlegungen in Zweifel gezogen worden. Sehr viel weiter geht allerdings seine Behauptung S. 370: „Most students of the subject believe that Carolingian scribes rarely if ever conjecture.“ Immerhin mag Zetzels Bemerkung illustrieren, dass Zelzer/Zelzer [Anm. 13] mit ihrer allgemeinen Beurteilung karolingischer Textkritik nicht allein stehen. Vgl. auch die sorgfältig abwägende Diskussion derselben Korrekturschichten in M. Deufert: Prolegomena zur Editio Teubneriana des Lukrez, Berlin, Boston 2017 sowie die unzweideutigen Äusserungen von E. J. Kenney: The Character of Humanist Philology, in: Classical Influences on European Culture A. D. 500–1500, hg. v. Robert Ralph Bolgar, Cambridge 1971, S. 119–130, besonders S. 120–121. 15 P. Maas: Textkritik, 3., verbesserte und vermehrte Aufl., Leipzig 1957, S. 26.
163
Tobias Reinhardt
nahme von Lesarten aus einer zweiten Vorlage (emendatio ope codicum). Im Folgenden werden wir Maas’ Feststellung mit Bezug auf Korrekturen in A und B illustrieren, wollen hierbei aber auch darauf hinweisen, dass es nicht nur eine Frage des Fleißes ist, besagtes Niveau objektiv zu bestimmen. Im Folgenden werden einige Textpassagen betrachtet, die die Art von Fragen verdeutlichen mögen, über die man sich Klarheit verschaffen möchte bzw. die wenigstens das Beziehen einer Haltung verlangen. Wir geben jeweils einen kritischen Apparat, der mit Bezug auf die oben eingeführten Siglen sowie das Stemma formuliert ist. 1. Luc. 24: Ipsa uero sapientia si se ignorabit sapientia sit necne, quo modo primum obtinebit nomen sapientiae? se ignorabit sapientia AaBVSF: omisit A (Die Weisheit selbst aber, wenn sie nicht weiß, ob sie die Weisheit ist oder nicht, wie wird sie dann erstens den Namen „Weisheit“ erlangen?)
Hier geht es um den stoischen Begriff der Weisheit, der so verstanden wird, dass es nicht ausreicht, nur wahre Meinungen zu haben, um weise zu sein; man muss darüber hinaus über eine Meinung (oder vielmehr ein Wissen) zweiter Ordnung darüber verfügen, dass man nur wahre Meinungen hat. Ohne dieses Wissen könnte man falsche sinnliche Wahrnehmungen, die einer wahren Wahrnehmung täuschend ähnlich sind, für wahr halten, und infolge davon andere wahre Meinungen aufgeben, weil sie mit der nun erworbenen falschen Meinung logisch unvereinbar sind. Die Genese der Lücke in A ist als ziemlich banaler Fall von saut du même au même leicht zu erklären, einmal im Text ist sie jedoch durch Konjektur nicht mehr einfach zu heilen. Hier würde man den Einfluss einer Handschrift postulieren, die Frage ist nur: ob von B (wie wir annehmen), vom Archetypus (wie Zelzer/Zelzer [Anm. 13] annehmen würden) oder von einer verlorenen und außerhalb des Stemmas zu verortenden Handschrift. An dieser Stelle sind natürlich auch paläographische und kodikologischen Tatsachen zu berücksichtigen, wiewohl auch diese keine Klarheit bringen: die Annahme, dass der Archetypus in Corbie verfügbar war, kann zwar nicht ausgeschlossen werden, stellt aber eine Erhöhung der Zahl der Unbekannten praeter necessitatem dar. Wenn es nur um die Rechtfertigung des gedruckten Textes geht, würde man im Apparat schlicht gar nichts bieten, da die Lesart des Archetypen klar ist, gleichgültig ob man Position (i) oder (ii) anhängt. Wenn es aber darum geht, künftigen Benutzern der Edition die Affiliierung von Handschriften zu ermöglichen, würde man den Apparat wie oben geben, da nicht auszuschließen ist, dass A entweder vor der Korrektur kopiert wurde oder ein recht mechanisch vorgehender Abschreiber die durch Aa vorgenommene Ergänzung nicht übernommen hat. Darüberhinaus können spätere Handschriften natürlich von V und F anhängen. 164
Ein antiker Text in drei Fassungen und deren mittelalterliches Nachleben
2. Luc. 49 fin. [am Ende einer Argumentation]: Huc si perueneris me tibi primum quidque concedente, meum uitium fuerit, sin ipse tua sponte processeris, tuum. concedente meum Aa, F p.c.: concedente eum A: concedentem eum BVSF: concedentem meum BaV2 (Wenn Du an diesen Punkt gelangt bist, weil ich Dir immer wieder einräume, was als nächstes kommt, ist es mein Fehler; bist Du aber von Dir aus vorangeschritten, dann liegt er bei Dir.)
Der Archetyp, dessen Lesart aus BVS zu rekonstruieren ist, wies hier einen Worttrennungsfehler auf, der offenbar in A mechanisch weiter verdorben worden ist: me … concedente muss ein kausaler absoluter Ablativ sein, und meum muss als Attribut zu uitium fungieren. Ansonsten ist hier weniger die relativ naheliegende Heilung der Korruptele durch Aa bemerkenswert als der Umstand, dass die Emendation nicht in der erwarteten Weise in der Korrekturschicht der anderen Handschrift erscheint. Ba und V2 führt eine Lösung ein, die zu konstruieren schwer fällt (auch wenn der Unterschied nur in einem Buchstaben besteht); me ist, wie gesagt, Ablativ, nicht Akkusativ. Wenn Ba das Richtige nicht von Aa übernimmt und stattdessen Falsches einführt, könnte man versucht sein, dies aus der Benutzung einer verloreren Handschrift zu erklären (aufgrund der Überlegung, dass ein Korrektor, der an sich mitdenkt, Falsches sekundär nur aufgrund von handschriftlicher Autorität einführt). Fälle dieser Art müssen in der Zusammenschau aller Korrekturen beurteilt werden. Ansonsten mögen sie Zweifel wecken, dass der Korrekturprozess wirklich ohne Hinzuziehung verlorener Handschriften verlaufen ist. 3. Luc. 27: Non potest igitur dubitari quin decretum nullum falsum possit esse sapientis, neque satis sit non esse falsum, sed etiam stabile fixum ratum esse debeat, quod mouere nulla ratio queat. Talia autem neque esse neque uideri possunt eorum ratione, qui illa uisa e quibus omnia decreta sunt nata negant quicquam a falsis interesse. uisa e quibus AaBaV2SF: AB non leguntur: uisam aequibus V (Also kann es keinen Zweifel geben, dass kein Lehrsatz falsch sein kann, wenn er eine Meinung des Weisen darstellt; ferner dass es nicht genügt, wenn ein Lehrsatz einfach nicht falsch ist, sondern dass er auch beständig, fest und gültig sein muss – von der Art, dass ihn kein Argument erschüttern kann. Solche Meinungen können allerdings weder wahr sein noch wahr erscheinen nach Meinung derer, die bestreiten, dass die Vorstellungen, aus denen alle Meinungen entstehen, in irgendeiner Weise verschieden sind von falschen.)
Die Lesart uisam aequibus ist grammatisch unmöglich und inhaltlich sinnlos. In A und B steht die korrigierende Hand auf Rasur. V mag hier durchaus allein die Lesart des Archetypen bewahren. Im weiteren Zusammenhang geht es um Vorstellungen (uisa), so dass ein aufmerksamer Leser durchaus den Text durch Emendation heilen kann, vorausgesetzt, er versteht die Beziehung von uisa und decreta. Das Stemma legt nah, dass der Korrektor in A sowie S oder einer der 165
Tobias Reinhardt
Ahnen von S dies unabhängig voneinander getan haben. Von Position (ii) aus würde man die Fähigkeit und Neigung zur Konjektur viel eher der späten Handschrift S als Aa zugestehen. Auch entsteht wiederum die Frage, ob der Apparat allein den gedruckten Text rechtfertigen oder auch Affiliierung ermöglichen soll. Ein minimalistischer Apparat, der nur den gedruckten Text rechtfertigt (uisa e quibus AaS: AB non leguntur: uisam aequibus V), würde derartige Affiliierung nicht ermöglichen. 4. Diese letzte Passage ist dazu geeignet, die Grundsatzentscheidungen, die man zu treffen hat, klar herauszustellen. Insofern ermöglicht sie ein sondenhaftes Eindringen in die skizzierten größeren Problemzusammenhänge. In diesem Fall bieten wir den Text in der Gestalt des Archetypen und nicht in der Fassung, die wir drucken würden. Luc. 73: 1 Is qui hunc maxime est admiratus, Chius Metrodorus, initio libri qui est de natura 2 ‚(a) nego‘, inquit, ‚scire nos sciamusne aliquid an nihil sciamus, (b) ne id 3 ipsum quidem nescire aut scire nos, (c) nec omnino sitne aliquid an nihil 4 sit.‘ 3 nescire aut seclusit Langerbeck 3 scire ABVSF: scire scire AaBa (Derjenige, der ihn am meisten bewundert hat, Metrodorus von Chios, sagt am Anfang seines Buches über die Natur: „Ich verneine, (a) dass wir wissen, ob wir etwas wissen oder nichts wissen, (b) dass wir nicht einmal das nicht wissen oder wissen, (c) noch ob überhaupt etwas existiert oder nichts existiert.“)
Der Archetypus, dessen Lesart sich aus ABVS ergibt, bietet hier im mit (ii) bezeichneten Teil des Satzes eine Disjunktion von Nichtwissen und Wissen, die so keinesfalls richtig ist. Stattdessen muss der Sprecher Metrodorus wie in Teil (a) verneinen, dass wir ein Wissen besitzen, ein Umstand, dem die Korrektur in der Hand von Aa Rechnung trägt (Ba übernimmt die Korrektur). Diese Einsicht scheint mir weder trivial noch einfach aus oberflächlich-formalen Entsprechungen zu gewinnen, und selbst wenn sie das wäre, bedürfte es zu ihrer Genese immer noch zusätzlich eines Willens zum Eingriff. Insofern würden wir in der Korrektur von Aa (und Ba) den Fall einer kreativen Konjektur des Korrektors erfüllt sehen, während Vertreter der Position (ii) wohl einen ausreichend tiefgehenden Eingriff ausmachen würden, um hier den Einfluss einer dritten Handschrift anzunehmen – in diesem Falle wohl einer unabhängigen Handschrift außerhalb des Stemmas, nicht des Archetypen (ansonsten würde scire scire nicht auch in VS fehlen). Vertreter von Position (ii) hätten wohl anzunehmen, dass die Doppelung von scire eine Spur spätantiker Emendationstätigkeit ist oder tatsächlich der anderweitig nicht überlieferte ciceronische Wortlaut. Der vom Korrektor hergestellte Text, der auch von den meisten neueren Herausgebern 166
Ein antiker Text in drei Fassungen und deren mittelalterliches Nachleben
gedruckt wird, ist grammatisch nicht unproblematisch, insofern nescire aut scire in Parenthese zu stehen käme, was eine ungewöhnliche Art und Weise wäre, die indirekte Frage aus dem vorherigen Satzglied wiederaufzunehmen (wenn auch nicht grammatisch oder stilistisch unmöglich). Das Richtige scheint uns allerdings Langerbeck gesehen zu haben,16 als er die Einfügung des Korrektors zurückwies und stattdessen nescire aut als eingedrungen identifizierte. Was der Text hier sagen sollte, ist, dass Metrodorus, nachdem er im vorherigen Satzglied ein Wissen zweiter Ordnung zurückgewiesen hatte, in (b) auch ein Wissen dritter Ordnung ablehnte. Der von Langerbeck hergestellte Text führt das Wissen dritter Ordnung in unkomplizierter und sprachlich völlig befriedigender Weise ein.17 Derselbe Sinn ist hingegen aus dem Text, wie ihn der Korrektor hergestellt hat, nicht einfach zu gewinnen, da dieser die Aussage des vorherigen Satzteils zu wiederholen scheint. Die Bewertung dieses speziellen Falles wird also letztlich davon abhängen, wie man den Text interpretiert und wie man grundsätzlich die Emendationspraxis und das Verständnisniveau karolingischer Schreiber beurteilt. Wir schließen mit der Beobachtung, dass „der Zustand der Konjekturalkritik zum Zeitpunkt x der Überlieferung eines Textes im Mittelalter“ für uns keine präzise Größe ist, sondern ein fragiles Konstrukt, das nicht frei ist von ideologischer Voreingenommenheit. Deufert nennt mit Recht eine grundlegende Monographie zur lateinischen Konjekturalkritik im Mittelalter ein Desiderat,18 doch steht zu befürchten, dass auch eine solche Studie für die karolingische Zeit keine schlagende Evidenz liefern würde. Gleichwohl bieten diejenigen philosophischen Schriften Ciceros, die das Leidener corpus ausmachen, einen besonders geeigneten Testfall, wenigstens für den Nordosten Frankreichs im 9. Jahrhundert und das Skriptorium von Corbie im Besonderen, da die Zahl der erhaltenen und miteinander verwandten Handschriften sowie die relative Menge von Informationen über den sozio-kulturellen Kontext, in dem diese Handschriften entstanden, ohne Parallele sind.
16 H. Langerbeck: ΔΟΞΙΣ ΕΠΙΡΡΥΣΜΙΗ. Studien zu Demokrits Ethik und Erkenntnislehre, Berlin 1935, S. 122. 17 Nescire aut, wenn unsere Interpretation des Textes richtig ist, mag durchaus das Produkt spätantiker Emendationstätigkeit sein, obwohl auch ein Eingriff bald nach Ciceros Zeit natürlich nicht auszuschließen ist. 18 Deufert (siehe Anm. 14 oben), S. 37 Anm. 93. Für eine Sammlung einschlägiger Studien siehe ders.: Eine verkannte Terenzbiographie der Spätantike, Göttingen 2003, S. 30 Anm. 7.
167
Tobias Reinhardt
Anhang: (a) Rollenverteilung in den drei Varianten der Academica: Erste Bearbeitungsstufe:
Zweite Bearbeitungsstufe:
Endgültige Bearbeitungsstufe:
Hortensius
Brutus
Varro
Lucullus
Cato
Varro
Catulus
Cicero
Cicero
Cicero
Cicero
Cicero
(b) Erhaltene Teile der Academica (Erhaltenes fett gesetzt): Erste Bearbeitungsstufe: Catul. und Luc.
Endgültige Bearbeitungsstufe: Academici Libri 1–4
Catulus: Vorrede über Catulus den Älteren Hortensius’ Rede
Ac. 1: Gespräch zwischen Cicero und Varro Varros erste Rede
Rede von Catulus dem Jüngeren
Erste Rede Ciceros (zwei Paragraphen sind erhalten)
Ciceros Rede
Ac. 2: Zweite Rede Ciceros
Lucullus: Vorrede Lucullus’ Rede
Ac. 3: Vorrede Varros zweite Rede
Ciceros zweite, längere Rede
Ac. 4: Ciceros dritte Rede
168
3.2 LACHMANN, DIE LACHMANNSCHE METHODE UND DIE ÜBERLIEFERUNG DES NIBELUNGENLIEDES von Jan-Dirk M ü l l e r , München Abstract: Der Beitrag versucht, die Überlieferung des „Nibelungenliedes“ aus einem Zusammenwirken von Schriftlichkeit und Mündlichkeit bei der Reproduktion des Textes zu erklären. Schriftlichkeit und Mündlichkeit werden im Allgemeinen als einander ausschließende Alternativen betrachtet. Demgegenüber sucht der Beitrag zu zeigen, dass bei Wiedergabe einer schriftlichen Vorlage nicht-schriftgestützte Verfahren (memoriale, klanggestützte) interferieren können. Die auf unterschiedlichen Ebenen des Textes dabei entstehenden Varianten müssen bei Anwendung der ‚genealogischen‘ Methode Karl Lachmanns als stemmatologisch irrelevant ausgeklammert werden. The aim of this article is to explain the tradition of the “Nibelungenlied” as a combination of written and oral elements in the reproduction of the text. Written and oral forms are generally considered mutually exclusive alternatives. In contrast to this view, the article seeks to show that non-writing-based processes (memory or sound based) can interfere when a written text is reproduced. When applying Karl Lachmann’s ‘genealogical’ method, variants arising on different levels of the text have to be excluded as irrelevant for the stemma.
I. Karl Lachmann verdankt man die erste wissenschaftliche Ausgabe des Nibelungenliedes. Wie er in dieser darlegt, hat er versucht, den ältesten uns überlieferten text der ursprünglichen aufzeichnung so nah zu bringen, als es erlaubt oder thunlich war. Es schien passend die ältesten veränderungen des ersten textes möglichst anschaulich hinzuzufügen.1
Lachmann glaubte, in der Hohenems-Münchner Hs. A (Lachmann 1817: Sigle B) den „am wenigsten bearbeitet[en]“ ältesten Text vor sich zu haben, der in der in St. Gallen überlieferten Hs. B (Lachmann 1817: Sigle G) ein erstes und in der Hohenems-Laßbergschen Hs. C (Lachmann 1817: Sigle E) ein weiteres Mal vermehrt und überarbeitet worden sei (S. VI). Was Korrekturen von A betrifft, blieb Lachmann in der Vorrede unbestimmt: „zwar der grundsatz fand sich gar leicht: was schreibfehler, was willkühr des schreibers, was allzu barbarisch war, muste hinweggeschafft werden, aber ich will nur hoffen, daß ich bei der ausführung nicht zu häufig gefehlt habe“. Eine von A abweichende Lesart in einer der übrigen Handschriften habe „keine größere beglaubigung als eine conjectur“, 1
Der Nibelunge not mit der Klage in der ältesten Gestalt mit den Abweichungen der gemeinen Lesart, hg. v. Karl Lachmann, Berlin 1826, S. III; vgl. Anmerkungen zu den Nibelungen und der Klage. Anmerkungen von Karl Lachmann. Wörterbuch von Wilhelm Wackernagel, Berlin 1836.
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Jan-Dirk Müller
doch überlässt er es dem Leser beim Abdruck der Lesarten, bei denen die gesamte Überlieferung gegen A spricht, mit Hilfe des Apparats „das echte“ herauszufinden (S. VII). Das Nibelungenlied ist für die Entwicklung der Lachmannschen Methode insofern ein schlechtes Beispiel, als Lachmann die Besonderheit von dessen Überlieferung klar erkannt hatte, die ihre Anwendung erschwerte: Er musste sich für seine Nibelungen-Edition auf eine einzige Handschrift stützen (S. VIf.). Vorausgegangen waren von der Hagens Ausgaben des Textes, die Lachmann als unwissenschaftlich kritisiert hatte.2 Die wissenschaftsgeschichtlich mit seinem Namen verbundene ‚genealogische‘ Methode hatte er seit seiner Habilitationsschrift in seinen zahlreichen latinistischen und altgermanistischen Ausgaben, gipfelnd im Lucrez von 1850, entwickelt, nicht aber beim Nibelungenlied angewandt.3 Sie bezieht alle überlieferten Textzeugen aufeinander (was idealiter in einem Stammbaum [Stemma] verbildlicht werden kann), vergleicht sie miteinander (Collatio), gruppiert sie auf Grund von Binde- und Trennfehlern, stellt die Abhängigkeiten der Textzeugen untereinander fest und kommt so zu einer Bewertung, welcher als bester Textzeuge zu gelten hat (Recensio). Ziel ist, die Überlieferung auf eine Ausgangsstufe, von der alle Handschriften ausgehen, zurückzuführen. Diese wird Archetyp genannt. Der Archetyp ist nicht identisch mit dem Original, aber die maximal mögliche Annäherung an dessen ursprüngliche Gestalt. Er weist bereits Fehler auf, die durch die Kopierpraxis bedingt sind und von denen er gereinigt werden muss. Überlieferung wird als lineare Folge einzelner Kopiervorgänge aufgefasst, die von Handschrift zu Handschrift fortschreitet und dabei anfällig für Fehler ist. Um die Lückenlosigkeit der ‚genealogischen‘ Ableitung jüngerer Handschriften von einer älteren Handschrift zu gewährleisten, müssen manchmal Zwischenstufen (durch * gekennzeichnet) erschlossen werden, an denen sich die Überlieferung verzweigt und die eine gemeinsame Vorstufe von Handschriften repräsentieren, die auf Grund vieler Übereinstimmungen zum gleichen Strang der Überlieferung gehören, jedoch sich in signifikanten Lesarten unterscheiden. Die erschlossene Handschrift steht dann am Punkt der Spaltung der Überlieferung in mehrere Überlieferungszweige bzw. -familien. 2
Der Nibelungen Lied in der Ursprache mit den Lesarten der verschiedenen Handschriften, hg. v. Friedrich Heinrich von der Hagen, Berlin 1810. – Der Nibelungen Lied, zum erstenmal aus der St. Galler Handschrift mit Vergleichung der übrigen Handschriften, hg. v. Friedrich Heinrich von der Hagen. Zweite mit einem vollständigen Wörterbuch vermehrte Auflage, Breslau 1816. – Der Nibelungen Noth. Zum erstenmal in der ältesten Gestalt aus der St. Galler Urschrift mit den Lesarten aller übrigen Handschriften, hg. v. Friedrich Heinrich von der Hagen. Dritte berichtigte, mit Einleitung und Wörterbuch vermehrte Auflage, Breslau 1820; vgl. Karl Lachmann, in: Jenaische allgemeine Literaturzeitung. 14/4 (1817), Sp. 113–142. 3 Sebastiano Timpanaro: Die Entstehung der Lachmannschen Methode [Florenz 1963], 2., erweiterte und überarbeitete Ausgabe, Hamburg o. J.
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Lachmann, die Lachmannsche Methode und die Überlieferung des Nibelungenliedes
Nicht Lachmanns Wahl der nach seiner Meinung besten Handschrift, wohl aber diese hier grob skizzierte textkritische Methode setzte sich in der Nibelungenphilologie durch. In den nachfolgenden Germanistengenerationen stritt man sich allerdings zuerst darum, welche unter den ältesten Handschriften dem Original am nächsten komme. An die Stelle von Hs. A trat die Hohenems-Laßbergsche Hs. C4 oder die – schon von von der Hagen favorisierte – St. Galler Hs. B, die Bartsch5 als die beste erweisen wollte. Die Frage schien, und zwar mit Hilfe der Lachmannschen Methode, entschieden, als 1900 Wilhelm Braune diese konsequent auf die gesamte Nibelungenüberlieferung anwandte und auf Grund sämtlicher Handschriften ein Stemma erstellte, demzufolge Hs. B als der dem Archetyp nächste Text erschien.6 B liegt seitdem den meisten Ausgaben des Nibelungenliedes zugrunde. Allerdings ist auch B nicht fehlerfrei und muss deshalb korrigiert und ergänzt werden. Korrekturen und Ergänzungen erfolgen nach der sonstigen Überlieferung, oft auch auf Grund der divinatorischen Intuition des Herausgebers. Unausgesprochen geht es dabei um den besten Text als den, der dem Autortext am nächsten kommt.7 Nahezu kanonischen Rang gewann die an Bartsch anschließende Ausgabe von Helmut de Boor nach B, die von Roswitha Wisniewski fortgesetzt wurde.8 Die textkritische Auszeichnung von B galt bis 1963, als Helmut Brackert nachwies,9 dass Braunes Gruppierung von Handschriften auf unausgewiesenen Vorannahmen zugunsten von B beruhte, dass er beim Textvergleich selektiv verfuhr, keine Gegenproben machte und dass einige seiner Annahmen inkonsequent oder sogar widersprüchlich sind. Indem er Braunes Entscheidung für eine bestimmte Lesart prüfte, zeigte Brackert, dass nahezu immer auch Alternativen denkbar waren. Damit war Braunes Rekonstruktion des Stemmas widerlegt. Dank Brackerts Diskussion des Überlieferungsmaterials setzte sich die Meinung durch, dass es unmöglich sei, ein Stemma der gesamten Nibelungenüberlieferung zu erstellen, denn trotz eines immensen Aufwandes an erschlossenen Zwi4
Das Nibelungenlied, hg. v. Friedrich Zarncke, Leipzig 1856; vgl. Adolf Holtzmann: Untersuchungen zum Nibelungenlied, Stuttgart 1854; Friedrich Zarncke: Zur Nibelungenfrage. Ein Vortrag gehalten in der Universität Leipzig am 28. Juli, Leipzig 1854. 5 Der Nibelunge Nôt. Mit den Abweichungen von der Nibelunge liet, den Lesarten sämmtlicher Handschriften und einem Wörterbuche, hg. von Karl Bartsch. Erster Theil. Text, Leipzig 1870. Zweiter Theil. Zweite Hälfte. Wörterbuch, Leipzig 1880; vgl. Karl Bartsch: Untersuchungen über das Nibelungenlied, Wien 1865. 6 Wilhelm Braune: Die Handschriftenverhältnisse des Nibelungenliedes, in: PBB 25 (1900), S. 1–222. 7 Regelmäßig wird dem B-Text die Programmstrophe vorausgestellt, die in B fehlt. Willkürlich zusammengesucht sind etwa die in B fehlenden Überschriften der Aventiuren. 8 Das Nibelungenlied. Nach der Ausgabe von Karl Bartsch, hg. v. Helmut de Boor, 22, revidierte u. von Roswitha Wisniewski ergänzte Auflage, Wiesbaden 1996 (Deutsche Klassiker des Mittelalters). 9 Helmut Brackert: Beiträge zur Handschriftenkritik des Nibelungenlieds (Quellen und Forschungen NF 135), Berlin 1963.
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schenstufen gelang es, wie Brackert nachwies, Braune nicht, sie „mit Hilfe eines Stammbaums“ auf einen Ausgangspunkt zurück zu beziehen, von dem aus „die Herstellung des ursprünglichen Textes möglich ist“. „Das klassische Ziel aller Textkritik scheint im Falle der Nl.-Überlieferung unerreichbar“. Dieser Eindruck verstärkte sich noch bei späteren Versuchen, Braunes Stemma zu modifizieren und zu korrigieren.10 An der Dominanz von B änderte sich allerdings nichts, wohl rückten die übrigen Kandidaten für den besten Text wieder stärker ins Zentrum der Aufmerksamkeit. 1971 erschien Batts‘ monumentale Parallelausgabe von A, B, und C samt abweichenden Lesarten der übrigen Überlieferung.11 1979 legte Ursula Hennig eine kritische Ausgabe von C vor.12 Es folgten Ausgaben der spätmittelalterlichen Bearbeitungen n,13 die eine Sonderstellung in der Überlieferungsgeschichte einnimmt, und k in Lienhard Scheubls Heldenbuch, die bis dahin nur in einer Ausgabe aus dem 19. Jahrhundert vorlag.14 Daneben erschienen mehrere Übersichten über die gesamte handschriftliche Überlieferung.15 Mit einiger Verzögerung wurden, nicht zuletzt unter dem Einfluss des Leithandschriftenprinzips, das sich zunächst in Editionsreihen wie den DTM durchgesetzt hatte und parallel in Frankreich von Joseph Bédier gegen Lachmann theoretisch begründet worden war,16 in den Neuausgaben von 10
Zitate Brackert (Anm. 9), S. 162 bzw. 166. „Ein solcher Stammbaum kann aber nur dann errichtet werden, wenn sich der Überlieferungsvorgang in allen seinen Stufen sicher nachzeichnen lässt, d.h. keine Faktoren in die Erörterung einbezogen zu werden brauchen, die a priori jede weitere stemmatologische Deutung der Hss.-Verhältnisse illusorisch machen“ (S. 160). 11 Das Nibelungenlied. Paralleldruck der Handschriften A, B, und C nebst Lesarten der übrigen Handschriften, hg. v. Michael S. Batts, Tübingen 1971. 12 Das Nibelungenlied nach der Handschrift C, hg. v. Ursula Hennig, Tübingen 1979 (ATB 83). 13 Eine spätmittelalterliche Fassung des Nibelungenliedes [n]. Die Handschrift 4257 der Hessischen Landes- und Hochschulbibliothek Darmstadt, hg. u. eingeleitet von Peter Göhler, Wien 1999; Das Nibelungenlied nach der Handschrift. Hs. 4257 der Hessischen Landes- und Hochschulbibliothek Darmstadt, hg. v. Jürgen Vorderstemann (ATB 114), Tübingen 2000. 14 Margarete Springeth: Die Nibelungenlied-Bearbeitung der Wiener Piaristenhandschrift (Lienhard Scheubels Heldenbuch: Hs. k). Transkription und Untersuchungen, Göppingen 2007 (GAG 660); vgl. Das Nibelungenlied nach der Piaristenhandschrift, hg. v. Adelbert von Keller (BLV 142), Tübingen 1879. 15 Joachim Heinzle: Die Handschriften des Nibelungenliedes und die Entwicklung des Textes, in: Die Nibelungen. Sage – Epos – Mythos, hg. v. J. H. u.a., Wiesbaden 2003, S. 191–212; Klaus Klein: Beschreibendes Verzeichnis der Handschriften des Nibelungenliedes, in: ebd., S. 213–238; Joachim Heinzle: Zu den Handschriftenverhältnissen des Nibelungenliedes, in: ZfdA 137 (2008), S. 305–334; Walter Kofler: Zu den Handschriftenverhältnisses des Nibelungenliedes. Die Verbindungen zwischen den Redaktionen I, d, n und k, in: ZfdPh 130 (2011), S. 51–82. 16 Joseph Bédier: La tradition du Lai de l’Ombre. Réflexions l’art d’éditer les anciens Textes, in. Romania 54 (1928), S. 161–196 u. 321–356.
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Reichert,17 Schulze18 und Heinzle,19 die den B-Text zugrunde legten, die meisten Eingriffe in den Text der Handschrift rückgängig gemacht und Abweichungen von B auf offenkundige ‚Fehler‘ beschränkt. Das Ergebnis in den drei Ausgaben ist nicht deckungsgleich, aber in jedem Fall wird ein überlieferungsnaher Text geboten. Darüber hinaus bemühte man sich, das Verhältnis der drei Haupthandschriften zueinander zu bestimmen. Während die Stellung der Hs. A im Überlieferungsprozess (ältere Vorstufe oder nachträgliche Kürzung?) kontrovers blieb,20 ist allgemein akzeptiert, dass C eine Bearbeitung darstellt.21 B repräsentiert – mit Heinzle in der Ausgabe des Klassikerverlags – eine ältere, noch unvollkommene Fassung des Epos, die in C nach den Regeln entwickelterer Schriftlichkeit korrigiert und ergänzt wurde.22 Zwischen diesen Fassungen stehen – so lange Zeit die communis opinio – die sog. kontaminierten Handschriften, die Merkmale beider Fassungen aufweisen, d.h. abwechselnd teils C, teils B folgen (Db) oder in einen hauptsächlich von B geprägten Text einen Teil der Zusätze von C übernehmen (Jh und d). Diese Auffassung ist nach der Veröffentlichung der ‚kontaminierten‘ Handschriften (DJbdh) (2009, 2011, 2012)23 nicht mehr möglich.24 Diese kombinie17
Das Nibelungenlied nach der St. Galler Handschrift, hg. und erläutert von Herrmann Reichert, Berlin/New York 2005; 2. Auflage 2017. 18 Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach der Hs. B hg. v. Ursula Schulze. Ins Nhd. übersetzt und kommentiert v. Siegfried Grosse (RUB 18914), Stuttgart 2010. 19 Das Nibelungenlied und die Klage. Nach der Handschrift 857 der Stiftsbibliothek St. Gallen. Mittelhochdeutscher Text, Übersetzung u. Kommentar. hg. v. Joachim Heinzle (Bibliothek deutscher Klassiker 196), Berlin 2013. Heinzle behält die übliche Zählung der älteren Ausgaben bei, weist aber an zweiter Stelle die abweichende Zählung von B nach. Im Folgenden wird diese, sofern ausschließlich von dieser Handschrift die Rede ist, zugrunde gelegt. 20 Michael Curschmann: Nibelungenlied und Nibelungenklage. Über Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Prozeß der Episierung, in: Deutsche Literatur im Mittelalter. Kontakte und Perspektiven. Hugo Kuhn zum Gedenken, hg. v. Christoph Cormeau, Stuttgart 1979, S. 85–119; Walter Kofler: „Nibelungenlied“ *A. Die Zuordnung der Fragmente Lg und die Folgen, in: ZfdPh 133 (2014), S. 357–387; Heinzle (Anm. 15, 2008), S. 306–310; zur narratologischen Position der Hs. A Jan-Dirk Müller: ‚Episches‘ Erzählen. Erzählformen früher volkssprachiger Schriftlichkeit, Berlin 2017 (Philologische Studien u. Quellen 259), S. 382–387. 21 Werner Hoffmann: Die Fassung *C des Nibelungenliedes und die Klage, in: Fs. Gottfried Weber […], hg. v. Heinz Otto Burger u. Klaus von See (Frankfurter Beiträge zur Germanistik 1), Bad Homburg v. d. H. u.a. 1967, S. 109–143. 22 Heinzle (Anm. 19), S. 1002 f. 23 Nibelungenlied und Klage. Redaktion I, hg. v. Walter Kofler, Stuttgart 2011; Nibelungenlied. Redaktion D, hg. v. Walter Kofler, Stuttgart 2012; Roswitha Pritz: Das Nibelungenlied nach der Hs. d des Ambraser Heldenbuch (Codex Vindobonensis Seria nova 2663, Wien ÖNB). Transkription u. Untersuchungen, Diss. Wien 2009 (eine korrigierte Version im Internet). 24 Jan-Dirk Müller: Vulgatfassung? Zur Fassung *C des Nibelungenliedes und den sog. kontaminierten Fassungen, in: PBB 138 (2016), S. 227–263, bes. S. 230; 236–243.
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ren nämlich nicht nur Merkmale von B und C; J25 und d vertreten gegenüber diesen Handschriften, aus denen sie angeblich kontaminiert wurden, einen selbständigen Text mit selbständigen Lesarten, und dies sogar dort, wo B und C übereinstimmen.26 Doch auch die Hss. D und b, in denen um Str. 270 ein Vorlagenwechsel von einer Hs. des *C-Typus zu einem des *B-Typus erfolgt, bezeugen eine gegenüber Hs. B und C selbständige Tradition, indem die beiden Teile keineswegs konsequent zuerst C und dann B folgen, sondern Lesarten der jeweils anderen Handschrift untermischen.27 Höchst zweifelhaft ist damit auch die These, dass Fassung *C, wie sie in Hs. C überliefert ist, die verbreitetste Fassung des Nibelungenliedes ist.28 Im Gegenteil sind einige Lesarten von C – gerade diejenigen, die am konsequentesten die Konzeption von C, die Verteufelung Hagens, vertreten – auf die Hss. C und a beschränkt, während die ‚kontaminierten‘ Hss. J, d und h nur einen Teil der Zusatzstrophen und wenige der abweichenden Lesarten von Ca haben. Es wird möglicherweise eine Zwischenstufe gegeben haben, die nur einige der Lesarten von C besaß.29 Damit wird die Rekonstruktion eines Stemmas, wie es Braune noch für möglich hielt, zusätzlich erschwert. Das wirft die Frage nach der Tauglichkeit von Braunes Modell für den Texttypus auf, den das Nibelungenlied vertritt. Braune denkt die Überlieferung nämlich als linear von einer Niederschrift zur nächsten fortschreitende Reproduktion eines und desselben literarischen Werks. Brackert hat auf drei Voraussetzungen von Braunes Verfahren verwiesen, das letztlich auf Lachmanns genealogische Methode, nicht jedoch auf Lachmanns Einschätzung des Nibelungenliedes zurückgeht. Von diesen ist die zweite in diesem Zusammenhang die wichtigste, die Annahme nämlich, dass sich „in lückenloser schriftlicher Tradition die einzelnen Handschriften“ verzweigen.30 Überlieferungsgeschichte wird als eine Kette zunehmender Textverderbnis verstanden, denn jede schrift-
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Hs. h ist eine Abschrift von J [I]. Müller (Anm. 24), S. 252 f. 27 Müller (Anm. 24), Anm. 58. 28 Joachim Heinzle: Mißerfolg oder Vulgata? Zur Bedeutung der *C-Version in der Überlieferung des Nibelungenliedes, In: Blütezeit. Fs. L. Peter Johnson, hg. v. Marc Chinca, Joachim Heinzle und Christopher Young, Tübingen 2000, S. 207–220. 29 Dies hatte ich schon 2001 vermutet, die kontaminierten Handschriften ‚genealogisch‘ zwischen B und C platziert; dabei ist zwar die Abfolge B > J > d > C, wie Heinzle nachgewiesen hat, auszuschließen (2008, Anm. 15). Davon unberührt ist, dass sie die Existenz einer solchen Zwischenstufe wahrscheinlich machen; vgl. Jan-Dirk Müller: Die ‚Vulgatfassung’ des Nibelungenliedes, die Bearbeitung C und das Problem der Kontamination. In: Das Nibelungenlied. Actas do Simpósio Internacional 27 de Outubro de 2000, hg. v. John Greenfield, in: Revista da Faculdade de Letras: Série Línguas e Literaturas 11, Porto 2001, S. 51–77. 30 Brackert (Anm. 9), S. 6 f. 26
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liche Kopie produziert potentiell Fehler;31 die Textentwicklung geht, wo ein von einem Autor verantworteter Text am Anfang steht, grundsätzlich in eine Richtung. Sie unterstellt durchgängige Schriftlichkeit der Reproduktion und bedeutet im Umkehrschluss, dass der beste Text auch der dem Original nächste ist, da er nicht in vielen Kopiervorgängen verderbt wurde. In seiner Kritik an Braune argumentiert auch Brackert noch mit einem derartigen Text (auch wenn er ihn im Fazit relativiert). Diese Annahme ist bis heute in vielen Fällen noch Voraussetzung der Textkritik, auch wenn Lachmanns Modell als Ganzes in der Nibelungenphilologie kritisiert wurde. Dabei ist in der Nibelungenforschung Konsens, dass an dem Text weitergearbeitet wurde, doch nicht bloß rezeptiv, mit der Folge zunehmender Textverderbnis, sondern produktiv an einer Verbesserung des Textes.32 Man unterscheidet mindestens zwei Fassungen (*B und *C) und muss möglicherweise, nimmt man A und die sog. kontaminierten Handschriften hinzu, weitere ansetzen. Man hat gezeigt, dass die eine Fassung (*C) eine Verbesserung der anderen (*B) darstellt, sie ist aber nicht, im Sinne des ‚genealogischen‘ Modells, aus ihr ‚hervorgegangen‘. Im Verhältnis zu B hat sie den Status einer Bearbeitung.33 Sie begründet eine eigene Texttradition, und es ist zu fragen, ob das nicht auch für weitere Fassungen des Textes gilt. Für ein Handschriftenstemma bedeutet das, dass man mit zwei oder mehr ‚Stammbäumen‘ zu rechnen hat, die nicht unmittelbar aufeinander zurückführbar sind.
31
Vgl. Paolo Trovato: Everything you Always Wanted to Know about Lachmann’s Method. A Non-Standard Handbook of Genealogical Textual Criticism in the Age of Post-Structuralism, Cladistics, and Copy-Text. Foreword by Michael D. Reeve, Padua 2014. Bei Trovato wird Überlieferung immer als Summe einzelner Schritte von einem schriftlichen Text zum anderen schriftlichen Text gedacht. Bei lückenloser schriftlicher Kopie von Handschrift zu Handschrift kumulieren Abweichungen, d.h. die Fehlerquote wächst kontinuierlich. Trovato schreibt auf S. 52: „every act of copying introduces a certain number of important errors into the text“. Ganz gleich, wie hoch man die Zahl der ‚Fehler‘ setzt, eröffnet das dem Editor erhebliche Eingriffsmöglichkeiten. 32 Zum derzeitigen Forschungskonsens Florian M. Schmid: Die Fassung *C des ‚Nibelungenliedes‘ und der ‚Klage‘. Strategien der Retextualisierung (Hermaea NF 147), Berlin, Boston 2018, S. 27–30. 33 Heinzle (Anm. 19), S. 1001 f. – Eine Bearbeitung nimmt auf einen zu bearbeitenden Text Bezug, ist aber nicht aus ihm „hervorgegangen“ (gegen Harald Haferland: Das ‚Nibelungenlied‘ im Zwischenbereich von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, in: ZfdA 148 [2019], S. 28–84; hier S. 45). Die Frage der Priorität von *B oder *C kann man vorläufig ausklammern. Es ist allerdings an vielen Stellen des Textes schwer vorstellbar, dass die ‚Begradigungen‘ der Hs. C, die Beseitigung von Motivationslücken, die Glättung schwieriger Handlungsverläufe (etwa im Umkreis der Str. B 1909), die Beseitigung von folgenlosen Umwegen der Handlung und dgl. in einer Bearbeitung B nachträglich rückgängig gemacht worden sind.
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Man stellt sich die Arbeit am Text in einer Passauer Nibelungenwerkstatt vor.34 Das mochte als Hilfskonstruktion für die Textentwicklung von B zu C nützlich sein,35 setzt aber einen Produktionsprozess wie bei einem neuzeitlichen literarischen Werk voraus. Deutlich überlebt in der Nibelungenwerkstatt der Gedanke des mit sich identischen ‚einen‘ Textes und verengt die Überlieferungsgeschichte unzulässigerweise, indem B und C in ein direktes Abhängigkeitsverhältnis gebracht werden. In ihr durchläuft das Nibelungenlied einen ähnlichen Weg wie Goethes „Faust“ vom Urfaust zur Tragödie in zwei Teilen, nur dass einmal ein einziger Autor, das andere Mal, ‚echt mittelalterlich‘, eine Art Handwerksbetrieb, eine Werkhütte, die Textentwicklung begleitet. Die Nibelungenwerkstatt ist eine Schwundstufe moderner Vorstellungen von der Textgeschichte eines literarischen Werks. Diese Tatsache sowie der Umstand, dass sich keine Spuren einer Passauer Nibelungenwerkstatt finden lassen,36 machen die Konstruktion suspekt. Man muss sich daher von der Vorstellung eines und nur eines Stemmas lösen und grundsätzlicher an Prämissen Lachmanns und der nachfolgenden Forschung ansetzen, um den Überlieferungsbefund besser zu interpretieren. Dazu ist es notwendig, sich von modernen Vorstellungen der Reproduktion eines Textes zu verabschieden und die Abschriften zu analysieren, insoweit sie Aufschlüsse über die Auffassung des Textes geben und Hinweise auf seine Reproduktion bieten. Braunes Handschriftenstemma und dessen Kritik durch Brackert 34
Heinzle hält ihre Annahme für „unabweislich“; vgl. Joachim Heinzle: Traditionelles Erzählen. Zur Poetik des Nibelungenliedes. Mit einem Exkurs über „Leerstellen“ und „Löcher“, in: Mittelalterliche Poetik in Theorie und Praxis. Festschrift für Fritz Peter Knapp zum 65. Geburtstag, Berlin, New York 2009, S. 59–76; hier S. 64, Anm. 17; vgl. Heinzle (Anm. 19), S. 1000–1003. Aber warum muss es nur eine Werkstatt sein, und warum muss sie ausgerechnet in Passau liegen? Dagegen erklärt Walter Kofler in der Einleitung seiner digitalen Edition der Nibelungen-Überlieferung (Die Nibelungen-Werkstatt. Synopse der vollständigen Handschriften, Vorchdorf 2013 ff., https://www.univie. ac.at/nibelungenwerkstatt/, S. I) die Werkstatt zum „Konstrukt der germanistischen Forschung. Sie steht für eine Gruppe von Redaktoren und Schreibern, die ab ca. 1200 unterschiedliche Fassungen des ‚Nibelungenliedes‘ und der ‚Klage‘ ausarbeitete“. Diesen Namen wählt er dann auch für die Wiener Arbeitsgruppe, die die Publikation der Überlieferung im Netz verantwortete. 35 Die Nibelungenwerkstatt erklärt dagegen nicht das Zustandekommen der ‚Zwischenstufen‘ bei der Auswahl der Ergänzungen von C in J, d und h. Wenn sie nicht ein ‚genealogisches‘ Zwischenglied zwischen B und C sein können, müssen sie in Distanz zu einer solchen Werkstatt entstanden sein. Man stellt sich vor, dass die in Jdh neu hinzukommenden Strophen nachträglich aus einem *C-Text in einen *B-Text eingetragen wurden, und zwar zunächst am Rand. Bei einer Abschrift wurden sie in den Text eingefügt (was ihre abweichende Platzierung erklären soll). Ebenso wohl möglich ist, dass sie aus einer Fassung stammen, die noch nicht alle Zusatzstrophen von C enthielt; vgl. Müller [Anm. 24], S. 242–246). 36 Ursula Schulze: Mündlichkeit und Schriftlichkeit im ‚Editionsprozess‘ des ‚Nibelungenliedes‘, in: editio 21 (2007), S. 1–18; hier S. 9 f.; ähnlich skeptisch Fritz Peter Knapp: Hochmittelalterliche Literaturwerkstätten?, in: ZfdA 144 (2015), S. 28–47; hier S. 44.
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Lachmann, die Lachmannsche Methode und die Überlieferung des Nibelungenliedes
haben nämlich eine gemeinsame Grundlage, die hinterfragt werden muss: Das Nibelungenlied stellt ihnen zufolge einen in sich geschlossenen literarischen Text dar, bei dem es sinnvoll ist, nach seiner ursprünglichen Gestalt zu fragen. Beide prüfen einzelne Lesarten im Hinblick darauf, ob sie vermutlich dieser ursprünglichen Gestalt entsprechen, was dann Rückschlüsse auf die Nähe der jeweiligen Handschrift(engruppe) zu ihr zulässt, mit Konsequenzen für die übrigen Lesarten der Handschrift(engruppe). Die Kriterien sind dabei die üblichen der Textkritik: Fehler, semantische Inkonsistenzen, lectio difficilior, metrische Unregelmäßigkeiten wie über- oder unterfüllte Verse, doppelter Auftakt und dgl., rührender Reim, unschöne Wortwiederholungen, syntaktische Schwierigkeiten, wahrscheinliche Richtungen von Veränderungen, Kontamination usw. Vor allem Braune glaubt auf diesem Wege zu sicheren Resultaten zu gelangen, während Brackert sie wiederum durch Gegenbeispiele in Frage stellt. Trotzdem, Braunes Thesen wie auch deren Falsifizierung durch Brackert benutzen dasselbe textkritische Instrumentarium, wenn auch Brackert den eindeutigen Lösungen Braunes alternative Möglichkeiten gegenüberstellt. Dabei ist zu fragen (und Brackert fragt auch gelegentlich), inwieweit dieses Instrumentarium dem Texttypus angemessen ist.
II. Dazu eine sehr allgemeine Beobachtung: Die Überlieferung des Nibelungenliedes weist zwei auf den ersten Blick widersprüchliche Merkmale auf: eine erstaunliche Festigkeit des Textes auf der einen, der makrostrukturellen Ebene, und ein hohes Maß an Varianz auf der mikrostrukturellen Ebene. Es gibt zwar in der Überlieferung eine Reihe von Zusatzstrophen und Formulierungsvarianten, die die Konzeption des Epos modifizieren, was jedoch stets vor dem Hintergrund einer stabilen Grundstruktur geschieht. Und es gibt die große Zahl iterierender (d.h. nicht textkritisch distinktiver) Varianten sowohl auf semantischer und syntaktischer Ebene (wo sie meist als einzige Beachtung finden) wie auch – im Allgemeinen nicht in Betracht gezogen – auf der Ebene der Wortstellung, der Morphologie und der Orthographie. Die Festigkeit des Textes verbietet, die überlieferten Texte als Zeugnisse einer dominant oralen Überlieferung zu betrachten, als improvisierend-memorierend für die jeweilige ‚Aufführung‘ oder auch Aufzeichnung ad hoc geschaffenen Text.37 Die Varianz verbietet, ihn
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Das hat besonders Haferland in mehreren Arbeiten behauptet; vgl. Harald Haferland: Mündlichkeit, Gedächtnis und Medialität. Heldendichtung im Mittelalter, Göttingen 2004; ders.: Das Nibelungenlied – ein Buchepos, in: Das Nibelungenlied. Actas do Simpósio Internacional 27 de Outobro de 2000, hg. v. John Greenfield, in: Revista da Faculdade de Letras: Série Línguas e Literaturas 11, Porto 2001, S. 51–77; ders.: Der auswendige Vortrag. Überlegungen zur Mündlichkeit des Nibelungenliedes, in: Situationen des Erzählens. Aspekte narrativer Praxis im Mittelalter, hg. v. Ludger Lieb u. Stephan Müller, Berlin, (Fortsetzung der Fußnote auf S. 178)
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als Produkt einer ausschließlich schriftlichen Kopierpraxis zu verstehen, wie apodiktische Formulierungen der Art: ‚Das Nibelungenlied ist am Schreibtisch entstanden‘ suggerieren.38 Das Nibelungenlied ist in einer strengen Dichotomie von Oralität und Literalität nicht zu fassen. Was also genau ist fest? Fest ist nicht nur der Handlungsverlauf im Allgemeinen, nicht nur die Abfolge der Aventiuren und der darin erzählten Szenen, sondern mit einigen Abstrichen auch die Strophenfolge, die Struktur der Strophe und das Metrum. Am festesten ist die Handlungsführung.39 An den Grundzügen der Geschichte ändert sich so gut wie nichts, wenn man von einigen Retuschen absieht, die auf bestimmte Bearbeitungsabsichten zurückgehen, nicht
New York 2002 (Quellen u. Forschungen NF 20), S. 245–282; ders.: Das Gedächtnis des Sängers. Zur Entstehung der Fassung *C des Nibelungenliedes, in: Kunst und Erinnerung. Memoriale Konzepte der Erzählliteratur des Mittelalters, hg. v. Ulrich Ernst u. Klaus Ridder, Köln [u.a.] 2003, S. 87–135; ders.: Oraler Schreibstil oder memoriale Text(re)produktion? Zur Textkritik der Fassungen des Nibelungenliedes, in: ZfdA 135 (2006), S. 173–212; ders. (Anm. 33). Haferland belastet seine teilweise bestechende Argumentation mit unnötigen Zusatzhypothesen wie der eines auswendigen Vortrags und Diktats des Epos oder einer personalen Identität der Verfasser verschiedener Fassungen. Da diese Hypothesen schwer beweisbar und oft auch unwahrscheinlich sind, wird es der Forschung leicht gemacht, sich mit Haferlands übrigen Beobachtungen und Überlegungen nicht ernsthaft zu beschäftigen. Vor allem stimmen einige jener Zusatzannahmen überraschend mit dem Bild vom Text überein, das Haferland an der traditionellen Philologie kritisiert: Er rechnet mit einem Urheber des einen Textes, der eben nur mündlich konzipiert statt schriftlich verfasst ist, d.h. mit einem Dichter, der seinen eigenen Text durch Gedächtnisfehler verändert, gegebenenfalls aber gleich im Anschluss ‚repariert‘, der die verschiedenen Fassungen verantwortet oder mindestens im gleichen Werkstattzusammenhang steht (z.B. [Anm. 33], S. 42 f.). 38 Heinzle (2008, Anm. 15), S. 317 f.; S. 322. Die Metapher am „Schreibtisch“ wäre als das zu hinterfragen, was sie ist – eine Metapher. 39 Schon Brackert (Anm. 9) weist auf die ‚Merkwürdigkeit‘ hin, „daß es trotz dieser Freiheit der Redaktoren niemals zur Ausbildung so völlig verschiedener Versionen gekommen ist wie etwa im Bezirk der Herzog Ernst-, der Wolfdietrich- oder gar der französischen Wilhelmssagen. Die bindende Kraft eines im Wesentlichen fest ausgeformten Textes ist in diesem Fall also recht groß gewesen“ (S. 169). Er verweist auf Höflers Rede von der „Traditionsmacht der alten maere“ (Otto Höfler: Die Anonymität des Nibelungenliedes, DViS 29 (1955), S. 167–213; hier S. 212). Sie wird allerdings im Allgemeinen der dem Text vorausliegenden Sage zugeschrieben, nicht der „engere[n] Überlieferung des Nls selbst“ (Brackert, ebd.). Das schließt zwar nicht aus, dass sagengeschichtlich fundiertes ‚Sondergut‘, das Altertümliches bewahrte, „auf jeder beliebigen Stufe der Tradition“ auftreten konnte (S. 171; vgl. S. 170–173), doch erweist sich im Ganzen, abgesehen von Sonderfällen wie dem ‚Darmstädter Aventiurenverzeichnis‘, dass Epos gegen ‚Sondergut‘ erstaunlich resistent ist. Resistent ist der Text auch gegen die angeblich ‚richtige‘ Version der Sage, wie sie im Norden überliefert sei. Es ist daher willkürlich, deren Handlungsverlauf gegen den des Nibelungenliedes auszuspielen. Man korrigiert Goethe auch nicht durch das Faustbuch.
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aber einer flottierenden Varianz sich verdanken.40 Die Erzählung des Geschehens weist zweifellos Lücken auf, die gefüllt werden konnten, Ungereimtheiten – wirkliche oder vermeintliche –, die zu beseitigen, Motivationsdefizite, die zu ergänzen, vor allem Wertungen, die zu modifizieren waren. Aber neue interpretierende Zusätze, wie sie am konsequentesten die Handschriften C und a aufweisen – Hagen als der eigentliche Bösewicht, der die Katastrophe verschuldet – haben sich gegen einen im Übrigen festen Text zu behaupten, was nicht immer bruchlos gelingt. Die vollständigen Erweiterungen und Umformulierungen sind überdies nur in wenigen Handschriften sicher nachweisbar (auch wenn man sie noch für einige mit Ca eng verwandte Fragmente postulieren kann). Sicherheit zu gewinnen ist umso schwieriger, als einzelne Handschriften nur einen Teil der Erweiterungen bringen, dagegen andere Zusatzstrophen nicht haben (J,d und h, von den Fragmenten H und O). Solche Varianten lassen sich als bewusste Eingriffe isolieren und machen im Übrigen nur einen Bruchteil der tatsächlichen Varianz aus. Sie begründen jeweils eigene Überlieferungsstränge, einen oder vielleicht auch mehrere. Aufs Ganze gesehen fest ist – von der Eingangsaventiure abgesehen – auch die Abfolge von Strophen; sie variiert an verhältnismäßig wenigen Stellen. In einer nicht schriftgestützt tradierten Dichtung wäre hier mit erheblich größeren Schwankungen zu rechnen. Eine Ausnahme sind nur wieder die aus verschiedenen Gründen ausgelassenen Strophen in Ca und A und die hineinmontierten Zusatzstrophen, die in Ca bzw. den sog. ‚kontaminierten‘ Hss. teils an unterschiedlicher Stelle erscheinen.41 Was die Akzentuierungen des Verlaufs im Einzelnen betrifft, sind kleinere Varianten durchaus möglich, doch die Entscheidung, was primär und was sekundär ist, ist meist schwer zu treffen. Relativ fest scheint auch die metrische und strophische Form des Epos zu sein; neu hinzutretende Strophen unterwerfen sich ihr selbstverständlich. Allerdings gilt das nur so lange, als man diesem Vers- und Strophentyp große Lizenzen zuspricht, zumal in seiner schriftlichen Aufzeichnung. Die Langverse erlauben traditionell eine erhebliche Füllungsfreiheit, fakultativen Auftakt, mehrsilbige Hebungen und Senkungen und sog. ‚beschwerte Hebungen‘, wo zwei betonte Silben aufeinanderprallen. Es gibt unter- und überfüllte Verse, unterschiedliche
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Darin hat Heuslers Auffassung der Geschichte des Nibelungenliedes als Geschichte einer geformten Dichtung ihre Berechtigung. Zwar ist seine Rekonstruktion einer Reihe von Dichtungen, die dem Epos angeblich vorausging, reine Spekulation, doch muss im 12. Jahrhundert eine als gültig angesehene Fassung entstanden sein, an der nicht mehr viel geändert wurde; vgl. Andreas Heusler: Nibelungensage und Nibelungenlied. Die Stoffgeschichte des Deutschen Heldenepos, Nachdruck der 6. Auflage 1965, Darmstadt 1982. 41 Man hat lange Zeit als selbstverständlich vorausgesetzt, dass die Reihenfolge in Ca als primär und maßgeblich anzusehen ist, allerdings wäre zunächst noch zu prüfen, ob sie in den sog. kontaminierten Fassungen inhaltlich nicht ebenso gut oder manchmal gar besser eingepasst sind; vgl. Müller (Anm. 24), S. 249–251.
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Kadenzen des Anverses u. Ä.42 Vor allem im verlängerten, die Strophe abrundenden vierten Vers scheint oft der zusätzliche Takt zu fehlen, sodass der ältere Typus volkssprachiger Metrik in Form paarig gereimter Langverse durchscheinen könnte.43 Allerdings ist fraglich, ob hier in zeitgenössischer Perspektive in allen Fällen überhaupt eine bemerkbare Abweichung vom Vers- und Strophenbau vorliegt und die in der schriftlichen Überlieferung feststellbaren Differenzen in der Ausfüllung der Nibelungenstrophe als solche überhaupt wahrgenommen wurden. Zählt man die Silben im schriftlich vorliegenden Text, dann ergeben sich in der Tat erhebliche Varianten der Versfüllung. Im mündlichen Vortrag dagegen fiel ein Teil von diesen aber möglicherweise nicht auf. Hier konnte der Formtypus stabil erscheinen, indem immer die annähernd gleiche Zeiteinheit für einen Vers realisiert wurde. Auch wenn ein Vers beim Kopiervorgang memoriert wurde, musste die Differenz der Silbenzahl nicht auffallen. Daneben gibt es natürlich eindeutig fehlerhaft unter- und überfüllte Verse, wie im Vergleich zur Parallelüberlieferung festzustellen, indem z.B. das finite Verb fehlt oder entbehrliche Füllwörter eingeschoben sind. Aber das sind besondere Fälle. Das gesamte Material wäre in diesem Punkt noch einmal zu sichten, bevor man eine idealisierte Nibelungenstrophe zur textkritisch relevanten Norm erklärt. Ohne Zweifel lassen sich in der Literatur um 1200 und auch in der Nibelungenüberlieferung Tendenzen zu einer regelmäßigeren Metrik (Auftakt, Taktfüllung) ausmachen, aber sie sind, wie Brackert gezeigt hat, in den einzelnen Handschriften nicht konsequent durchgeführt und lassen eindeutige textkritische Entscheidungen für oder gegen die ursprüngliche metrische Gestalt nicht zu: Ist die ungeregelte, ‚archaische‘ Metrik dem ‚Original‘ näher oder zeugt sie von einem vewilderten Text? Muss man dem Dichter bereits eine höhere Sensibilität in metrischen Fragen zutrauen, wie sie sich um 1200 nachweisen lässt?44 Fest scheinen bestimmte Formulierungsschemata zu sein, Pläne von Syntagmen und ganzen Sätzen, von Versen und Versteilen, manchmal auch Situationen. Ihre Festigkeit geht aber mit ihrer ubiquitären Einsetzbarkeit zusammen. Formeln sind im Nibelungenlied weniger identische Formulierungen – wie in einer genuin mündlichen Dichtung – als Bausätze, die mit unterschiedlichem Material besetzt werden können (Beispiel: der edele künec guot vs. der küene künec hêr usw.).45 Sie gehören also ebenfalls zu einer Übergangszone zwischen Festigkeit 42
Brackert (Anm. 9) S. 58–84 am Beispiel von A. Ein Sonderfall ist die Tendenz zur Prosa in a (Schmid [Anm. 32], S. 55). 43 Heusler vermutet (Anm. 40, S. 83 f.), dass sich in diesen skizzierten Fällen noch Spuren einer älteren Epenform finden, bei der der vierte Vers wie die ersten drei gebaut ist, das Epos also aus paarweise gereimten Langversen bestand. 44 Brackert (Anm. 9), S. 162–164. Er kritisiert an Braune, dass er zwecks „Fehlerbeurteilung“ für den Archetyp „eine größere metrische Vollkommenheit ansetzt“ (S. 162; vgl. S. 66). 45 Michael Curschmann: The Concept of Oral Formula as Impediment of our Understanding of Medieval Oral Poetry, in: Mediaevalia et Humanistica 8 (1977), S. 63–76.
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und Varianz. Curschmann hat bei diesen Fällen von „fingierter Mündlichkeit“ gesprochen, von einem besonderen poetischen Idiom, das aus dem Bereich der Mündlichkeit stammt, aber schriftsprachlich als poetisches Idiom ausgebildet und weiterentwickelt wird. Er hat dieses Idiom „nibelungisch“ genannt.46 Außerdem können formelhafte Wendungen in der Überlieferung durch sinnentsprechende, doch weniger formelhafte ersetzt werden. So lässt sich hier ebenfalls eine breite Übergangszone zwischen Festigkeit und Varianz feststellen. Aber auch hier wird man vorsichtig sein müssen, Abwägungen zwischen formelhafteren oder ‚individuelleren‘, ‚farbigeren‘ Wendungen als Hinweise auf geringere oder größere Distanz zum ‚Ursprünglichen‘ zu werten. Beides steht in den Handschriften nebeneinander. Entscheidend ist die Austauschbarkeit, die in beide Richtungen möglich ist.47 All dies legt den Schluss nahe: „Die Träger der uns greifbaren Hs.-Überlieferung konnten in einem gewissen Umfang neugestaltend in den Text eingreifen, ohne daß ihre Änderungen die Grenzen der stilistischen Möglichkeiten überschritten, die durch den gemeinsamen Text abgesteckt werden“.48 Allenfalls lassen sich auch hier Tendenzen ausmachen, die sich auf breiter Front in der volkssprachigen Literatur verstärkt seit dem 12. Jahrhundert durchsetzen.49 Aber solche Tendenzen erstrecken sich über einen längeren Zeitraum; sie werden ad hoc und ohne Konsequenz durchgeführt; sie können schon in einem frühen Stadium des Überlieferungsprozesses vorhanden gewesen sein oder vom Hersteller einer Handschrift später korrigierend eingeführt werden; doch ist es auch möglich, dass sie sich im einzelnen Fall bis ins späte Mittelalter nicht durchsetzten. „Da wir in den verschiedenen Textgruppen trotz durchgängiger metrischer Glättung überall Spuren einer noch nicht voll ausgebildeten Metrik finden, formelhaftes 46
Curschmann (Anm. 20); vgl. ders. (Anm. 45). Damit ist gemeint, dass formelhaftes Sprechen aus der Mündlichkeit stammt, sich aber gleichfalls in der schriftlichen Überlieferung findet und dort nicht nur konserviert, sondern weiterentwickelt und variiert wird. Kritisch hierzu Fritz Peter Knapp: Das Dogma von der fingierten Mündlichkeit und die Unfestigkeit heldenepischer Texte, in: Chanson de geste im europäischen Kontext. Ergebnisse der Tagung der deutschen Sektion der ICLS am 23. u. 24. 4. 2004 in Köln, hg. v. Hans-Joachim Ziegeler, Göttingen 2008 (Encomia deutsch 1), S. 73–88. Knapps Überlegungen sind plausibel, doch wird man zwischen unterschiedlichen Typen von Heldenepik unterscheiden müssen. Das Nibelungenlied ist den Chansons de geste nicht vergleichbar; die dort festgestellten Phänomene haben im Nibelungenlied keine Entsprechung. 47 Brackert (Anm. 9), S. 89–97, wenn es auch einen allgemeinen Trend weg von der Formel gibt (S. 164). Das sagt jedoch nichts für die konkrete Textentwicklung aus. Mit ‚Vertauschungen‘ rechnet auch Brackert immer wieder, wenn er Braunes stemmatologischen Schlüssen alternative Deutungen entgegenstellt (vgl. etwa S. 28 u.ö.). Er beschließt seine Prüfung der Gruppe *Db mit den Worten: „Wir dürften in einem noch näher zu bezeichnendem Ausmaße gar nicht mit einem festen Text rechnen, da der mündlichen oder schriftlichen Fixierung des Textes gleichwertige Erfüllungsmöglichkeiten des Textes vorauslägen“ (S. 24). 48 Brackert (Anm. 9), S. 165. 49 Brackert (Anm. 9), S. 164.
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Gut neben ‚farbigen‘, ‚individuellen‘ Wendungen, von höfischem Geist Unberührtes neben höfisch Überformtem, so könnte eine bestimmte Hs. oder Hss.Gruppe nur dann den Archetypus vertreten, wenn sich nachweisen ließe, daß die in dieser Hs. oder Hss.-Gruppe vorliegende Mischung jener Elemente ihrem Grad und ihrer Art nach genau den Intentionen des Dichters entspricht. Ein solcher Nachweis läßt sich jedoch nicht erbringen“.50 Etwas anderes ist es, wenn in jüngeren Handschriften mit Modernisierung des Wortmaterials als Motor der Textentwicklung zu rechnen ist oder auch mit Umdeutung einer Bezeichnung für einen nicht mehr bekannten Gegenstand.51 Diese relative Festigkeit des Rahmens legt eine auf schriftlicher Reproduktion basierende Transmission nahe.52 Das ist aber nur die eine Seite, auf der auch schon Lizenzen des Variierens zu verzeichnen sind. Darüber hinaus ist die Mikrostruktur durch ein hohes Maß an Varianz gekennzeichnet. Diese Varianten sind für die Rekonstruktion eines Stemmas erst recht ungeeignet, da sie offenbar auch zwischen eng verwandten Handschriften auftreten, meist nicht auseinander ableitbar sind und auf ihrer Basis keine Fehlergemeinschaften aufzubauen sind. Sie lassen sich in den meisten Fällen gar nicht als ‚Fehler‘ qualifizieren, denn eine Entscheidung zwischen ‚richtig‘ und ‚falsch‘ ist nicht möglich, und sie lassen sich überwiegend nicht eindeutig auf bestimmte Überlieferungszweige beschränken.53 Man muss einmal für einen Augenblick moderne Vorstellungen von der Reproduktion eines Textes auf Grund schriftlicher Vorlage suspendieren, um andere Möglichkeiten zu erwägen. Dafür sprechen auch pragmatische Überlegungen. Angesichts der faktischen Varianz der Handschriften würde eine Textkritik, die die gesamte Überlieferung ‚genealogisch‘ einordnet und sämtliche Abweichungen ‚jüngerer‘ Handschriften auf ‚ältere‘ Handschriften zurückzuführen beansprucht, sehr viele hypothetische schriftliche Zwischenstufen annehmen müssen, um die genealogische Linie zu vervollständigen, und dabei sehr komplizierte und unwahrscheinliche Überlieferungsvorgänge voraussetzen.54 Näherliegend ist es, ein Ineinandergreifen von schriftbasierter und nicht-schriftbasierter Überlieferung anzunehmen, wie es auch sonst im Mittelalter nachweisbar ist.55 In die 50
Brackert (Anm. 9), S. 165. So ersetzt z.B. g unz in älteren Hss. durch bis; das pfertkleit (B 1264,1; A 1207,1) scheint einigen Kopisten (Dag) nicht mehr bekannt gewesen zu sein (D 1264,1: pfert gereit). 52 Man müsste sonst schon die Identität des Verfassers verschiedener Fassungen annehmen. Die Überlieferung primär mündlich tradierter Heldenlieder, auf die sich Haferland immer wieder beruft, sieht ganz anders aus (vgl. Haferlands Anm. 37 zitierten Arbeiten). 53 Hierzu werde ich eine ausführlichere Studie vorlegen, der die These zugrunde liegt, dass die auf Fehlerkritik beruhende Editionsphilologie a limine unangemessen ist. 54 So etwa bei Walter Kofler: Zu den Handschriftenverhältnissen des Nibelungenliedes. Die Verbindungen zwischen den Redaktionen I, d, n und k, in: ZfdPh 30 (2011), S. 51–82. 55 Sie sind auch bei anderen Gattungen möglich; vgl. Christoph Gerhardt: Einige Fragen der Textkritik am Beispiel des Liedes ‚Willehalm von Orlens‘, in: editio 5 (1991), S. 96–121. 51
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Kette linearer Reproduktionen können nicht-schriftbasierte Formen der Wiedergabe eingreifen.56 Bei der Reproduktion eröffnet sich zwischen der in der Regel wohl schriftlich fixierten Vorlage und der wieder schriftlich fixierten Abschrift ein breiter Raum für ad libitum durch Improvisiertes oder Memoriertes zu Füllendes. Dabei sind die graphemische, phonetische, morphologische, lexikalische sowie seltener auch die syntaktische Ebene zu unterscheiden. Die Variantentoleranz ist bei diesen Typen durchaus unterschiedlich. Alle diese Varianten setzen aber den festen Rahmen der Makrostruktur, der Handlungs- und Strophenfolge, und in geringerem Umfang von Strophe, Metrum und Formulierungsschemata voraus. Die buchstabengetreue Übertragung ist im Mittelalter nicht der Regelfall. Bei manchen Texttypen ist sie zu finden, bei anderen nicht,57 bei lateinischen Handschriften eher als bei volkssprachigen, bei heiligen oder kanonischen Texten eher als bei solchen, die das nicht sind, im höfischen Roman eher als im anonymen Epos. Die Varianz ist auf verschiedenen Ebenen des Sprachsystems unterschiedlich ausgeprägt und textkritisch von unterschiedlich hoher Relevanz. Notwendig ist daher eine Typisierung von Varianten.58 Neben den konzeptionell relevanten Varianten, die sich auf einen bewussten Bearbeitungswillen zurückführen lassen, und Varianten, die auf einen bestimmten Übermittlungsfehler (Sehfehler, Hörfehler, sonstige Übermittlungsfehler) hindeuten,59 gibt es die äußerst umfangreiche Gruppe der textkritisch gleichwertigen Lesarten. Veränderungen in der Schreibung und im Lautbestand dürften eher unterhalb der 56 „Nicht schriftbasiert“ ist dabei „mündlich“ vorzuziehen. Im Kern wird Haferlands (Anm. 33) These, dass man rein schriftsprachlich die Nibelungen-Überlieferung nicht erklären kann, der Text also einem „Zwischenbereich“ angehört, bestätigt. „Mündlichkeit“ dominiert jedoch in Haferlands Vorstellungen von der Überlieferung und der Existenzweise des Textes. Unter welchen Umständen eher der Mündlichkeit zuzuweisende Stilphänomene in Schrifttexten auftauchen, habe ich in der in Anm. 20 zitierten Abhandlung untersucht. 57 Bruno Quast: Der feste Text. Beobachtungen zur Beweglichkeit des Textes aus Sicht der Produzenten, in: Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150–1450, hg. v. Ursula Peters, Stuttgart, Weimar 2001 (Germanistische Symposien 23), S. 34–46; Ursula Schulze: Varianz und Identität in rechtssprachlichen und dichterischen Texten, in: ebd., S. 47–71. 58 Jan-Dirk Müller: Typen von Varienz in der Nibelungenüberlieferung, in: PBB 142 (2020), S. 354–387. In der bisherigen Forschung werden Variantentypen zu wenig grundsätzlich unterschieden, sei es, dass sie allesamt zur Herstellung eines Originaltextes herangezogen werden, sei es, dass sie alle als Folgen eines auswendig vorgetragenen „Gedächtnistextes“ erscheinen. So durchmustert Haferland (Anm. 33), S. 45–52 die CVarianten der 23. Aventiure und überlegt von Fall zu Fall, ob sie bei einem ungenau memorierenden Vortrag ‚unterliefen‘ oder absichtsvoll gesetzt sind. Das ist, wie Haferland deutlich macht, schwer zu entscheiden. Alle Varianten gehen ihm zufolge aber gleichermaßen auf die gleiche Ursache in der Vortragssituation zurück. 59 Auch diese gibt es zweifellos, wenn auch in geringerer Zahl, als es die Textkritik unterstellte. Die Hinwendung zur material philology bedeutet keineswegs, wie immer wieder polemisch behauptet wird, dass man sich mit Transkriptionen tatsächlich überlieferter Hss., denen gleicher Rang zugeschrieben wird, so fehlerhaft sie auch sein mögen, begnügen muss (vgl. Trovato [Anm. 31], S. 13, 15).
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Wahrnehmungsschwelle des Kopisten liegen. Der Kopist kann den gehörten ebenso wie den ihm schriftlich vorliegenden Text in seine eigene Schreibtradition ‚übersetzen‘. Auch Handschriften, die engstens zusammenhängen, wie C und Fragment E, gehen auf dieser Ebene auseinander. Angesichts des geringen Grades von Standardisierung und Normierung des Schreib- und des Lautsystems sind Varianten auf diesen Ebenen kaum aussagekräftig. Graphemische und phonetische Varianten spielen in der Überlieferungskritik des Nibelungenliedes deshalb auch keine große Rolle.60 Deutlicher sind die Abweichungen im Bereich der Morphologie; doch gilt dort grundsächlich das Gleiche. Auch bei dialektaler Färbung eines Textes scheint die Übertragung in eine andere dialektale Färbung kein großes Problem zu sein, wenn auch hier häufiger Mischtypen auftreten. Maßgeblich ist nicht die Buchstabenfolge in einer schriftlichen Vorlage, sondern das Klangbild, das sie repräsentiert, und die syntaktische Funktion, die sie durch die – u.U. unterschiedliche – Morphologie anzeigt. Auch bei schriftlicher Vorlage kann man mündliche oder memoriale Realisation als Zwischenstufe annehmen, denn dann konnten Anpassungen an den eigenen Schreibusus oder an die eigene Sprache ohne Störung durch den vorliegenden Schrifttext mit andersartigem Schreibusus, andersartiger Morphologie und dgl. erfolgen. Die schriftliche Vorlage stimuliert u.U. nur die Wiedergabe des Textes, ohne dass man ein explizites Bewusstsein der Differenz und eine konsequente Anstrengung, sie zu beseitigen, voraussetzen müsste. Denkbar ist, dass die Vorlage mündlich vorgetragen und vom Kopisten in seiner eigenen Sprech- und Schreibsprache schriftlich wiedergegeben wurde, denkbar ist aber auch, dass er das Schriftbild memorierte (was Vorstellungen von dessen Klangbild einschließt), nach seinem eigenen Schreib- und Sprechusus interpretierte und umsetzte. Abweichungen scheinen hauptsächlich wahrgenommen worden zu sein, wenn sie Auswirkungen auf Reim oder Metrum hatten und deren Umformung erforderten. Dann war sekundär eine größere Umbildung erforderlich. Veranlasst werden konnte sie von einer der charakterisierten Varianten, denen kein expliziter Bearbeitungswillen zugrunde liegen musste. Nicht intendierte und intendierte Veränderungen konnten ineinandergreifen. Die Überlieferung ist im Numerus, im Modus, im Tempus, in der Wortfolge, dem Satzbau, manchmal auch in der Abfolge von Versteilen, selbst im Bereich der Lexik abseits von Formel60
Das liegt u.a. daran, dass man bisher relativ wenige Handschriften miteinander verglich. Bezieht man die Fragmente ein, dann zeigt sich erst das Ausmaß der Varianz. Eine Neuedition durch Walter Kofler ist inzwischen erschienen: Nibelungenlied und Klage. Die Fragmente, hg. v. Walter Kofler (Bibliothek des Literarischen Vereins zu Stuttgart 354, N.F.A.), Stuttgart 2020. Ich selbst werde am Beispiel der Fragmente dokumentieren, wie selbst verwandte Überlieferungsträger (oft in der Forschung zu Überlieferungs‚Gruppen‘ zusammengefasst) differieren, sodass in manchen Fällen die Gruppenzugehörigkeit noch einmal zu überdenken ist.
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schemata unfest, ohne dass eine klare Entscheidung für die bessere Lesart möglich wäre. Die folgenden Beispiele sind beliebig aus der 20. Aventiure genommen, um die Vielfalt der Variationsmöglichkeiten zu illustrieren; die Varianten übergreifen die Handschriftengruppen *AB und *C; sie finden sich auch innerhalb einer einzigen Handschriftengruppe: Austausch von Epitheta etc.: schoene(n) Uoten sun (B 1210,1; A 1153,1) gegen edeln U. s. (C 1237,1; Jah). Kriemhilds vil liehten ougen (B 1246,3; C 1273,3) gegen vil lieben ougen (A 1189,3); Kriemhild empfängt Rüdeger güetliche (B 1223,2; A 1166,2) gegen liepliche (C 1250,2) gegen tugentlichen (Jh); Kriemhild pflach […] jamers (B 1225,2; A 1168,2) gegen weinens (C 1252,2; sowie in der sonst zur B-Gruppe gezählten Hss. DVbd); die schoene Kriemhilt (B 1261,4; A 1204,4) gegen die vrowe K. (Db). Seinen Vermittlungsversuch über das restliche Nibelungengold trägt Rüdeger harte vroliche vor (B 1271,4; A 1214,4), herlîche (C 1297,4) oder gütlich (g).61 Name gegen Appellativ: der Criemhilde lip (B 1225,2; Db) gegen die vrouwe vil gemeit (A 1168,2, Jdg); den edelen man (B 1223,2; A 1166,2) gegen den Ezelen man (C 1223,2, aber auch die sonst B folgenden JVbdh). Wortstellung: Da mit siez lie (B 1246,1; A 1189,1) gegen Da mit liez siez (Dbg); minnen wolde (B 1251,1; A 1194,1) gegen wolte mynnen (g). Anderer Kasus: B 1210, 1: der schoenen (Genitiv) Uoten sun gegen A 1153,1 der schoene (Nominativ) Uoten sun. In B 1250,1 f. (A 1193,1 f.) bittet Rüdiger die Königin (Akkusativ), si solle ihn hören lassen, was ihre Antwort ist; indem in g si fehlt, wird ‚die Königin‘ Subjekt in g des Nebensatzes, ist also als Nominativ aufzufassen. Der Bedingungssatz wird einmal indikativisch (A 1188,4: gît er mir elliu rîche), einmal konjunktivisch (B 1245,4: gaebe er mir elliu rîche; C 1272,4; Jabdgh) ausgedrückt,
Die folgenden Beispiele kombinieren verschiedene Varianten:62 A 1164,4 der (Genitivus partitivus; von denen) sach man da gekleidet vil manigen herlichen man B 1221,4 do sah man da gechleidet vil manigen herlichen man C 1248,4 der sach man wol gekleidet manigen waetlichen man D 1221,4 man sach da gechleidet vil manigen wetlichen man b 1221,4 der sach man da geclaidet vil manigen herlichen man J 1221,4 man sach da wol bicleidet mangen herlichen man d 1221,4 des sach man da geclaidet vil manigen herlichen man 61
Ich führe nicht alle orthographischen Differenzen gegenüber der Schreibung von B (nach Heinzles Ausgabe) auf. Die Zählung von B folgt hier der Handschrift, nicht den üblichen Ausgaben. 62 Ich folge den einzelnen Handschriften, doch ersetze ich vokalisches v durch u, löse die Abbreviaturen auf und vereinfache die diakritischen Zeichen.
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A 1165,1 Criemhilt diu schoene und vil reine gemuot B 1222,1 Criemhilt diu here und vil trurech gemuot C 1248,1 Chriem(hilt) diu vil arme diu trurich gemuot D 1222,1 Crymhilt die vil here trourich was gemuot b 1222,1 Kriemhilt diu vil here waz vil traurig gemuot J 1222,1 Kriemhilt diu edel und vil trurich gemuot d 1222,1 Criemhilt die here und vil traurig gemuot A 1173,2 wer ieman der bekande minen scharphen ser B 1230,2 waer iemen der bechande miniu starchen ser C 1257,2 waer ieman der bechande diu minen scharphen ser D 1230,2 wer yeman der erchannte mine hertzen ser b 1230,2 wer yemant der erchante mine grosse ser J 1230,2 waer iemen der bicande miniu scharpfen ser d 1230,3 were yemand der erkanntte meinen scharffen ser A 1188,3 des muoz ich zer werlte immer schanden han B 1245,3 des muz ich cer werlde immer schaden han C 1272,3 des muse ich von der werlde groz itewize han D 1245,3 des muoz ich zer werlde immer schande han b 1245,3 des muos ich zu der werlt immer schande han J 1245,3 des muoz ich zer welt immer schande han d 1245,3 dez muoz ich bey der welte ymmer schande han g 1245,3 des muz zer werde schaden immer han
Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren. Bewusst wurden sie nicht nur aus den beiden großen Überlieferungstraditionen *B und *C gewählt; sie übergreifen die gesamte Überlieferung. Besonders auffällig sind Varianten zwischen Handschriften, die als eng verwandt angesehen werden. So erfolgt in den ‚kontaminierten‘ Handschriften D und b ein Vorlagenwechsel im Umkreis der Strophe 270 von einer Handschrift des *C-Typs zu einer des *B-Typs; eine gemeinsame Vorlage ist mithin wahrscheinlich. Nicht nur weichen aber beide Handschriften an vielen Stellen voneinander ab, sondern beide weisen in den *C bzw. *B folgenden Teilen auch Lesarten aus der jeweils anderen Vorlage auf.63 Die Varianten sind selbstverständlich nicht gleichwertig; einige lassen sich eindeutig als verderbt identifizieren, einige kommen durch Augensprung zustande, einige sind sekundär durch Klang induziert, einige durch Veralten eines Wortes 63
Vgl. Db 1223,2 entspricht C 1250,2 (nicht B); Db 1225,2 entspricht C 1252,2; D 1221,4 (mit B) gegen b 1221,4 (mit C); Db 1230,2 gegen b 1230,2 gegen B 1230,2 gegen C 1257,2.
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usw.64 Manchmal vermisst man ein qualifizierendes Adverb (z.B. wol), das eine andere Handschrift bietet, oder es sind durch Auslassungen oder Einschübe metrisch harte Verse entstanden. Häufig kann aber die Richtung der Variation nicht sicher angegeben werden (Verbesserung oder Fehler?). Auch das divergierende Verhalten der Schreiber und das unterschiedliche Alter der Handschriften sind in Rechnung zu stellen. Die differenzierten Einsichten der älteren Textkritik sind also nicht entwertet; sie sind nur nicht mehr dem einen Ziel untergeordnet, den Weg zum Archetyp (oder dem Original) zu weisen. Ein auf einen Punkt rückführbares Stemma ist – nach dem Scheitern von Braunes Versuch – Illusion. Die Instrumente der Lachmannschen Textkritik sind gewissermaßen ‚regional‘ einzusetzen; mit ihrer Hilfe kann der Zusammenhang einzelner Überlieferungsstränge nachgewiesen werden. Dabei hätte man mit mehreren Strängen zu rechnen, die nicht aufeinander rückführbar sind. Die Textkritik hätte also schärfer zwischen belastbaren und nicht belastbaren Varianten zu scheiden und dabei noch einmal zwischen mutmaßlichen Fehlern und Varianten, die einen eindeutigen Richtungssinn erkennen lassen, und Varianten, in denen eine Entscheidung offen bleiben muss. Gerade diese Fälle können aber demonstrieren, wie Variantenbildung in der Überlieferungsgeschichte des Nibelungenliedes funktioniert: der Schreibung, der Morphologie, der Wortstellung, zwischen Singular und Plural, zwischen semantisch oder klangverwandten Wörtern usw.
III. Die Formelhaftigkeit des Nibelungenliedes wurde, wie bemerkt, als ‚fingierte Mündlichkeit‘ beschrieben, als das Produkt einer erlernten und erlernbaren poetischen Sprache, deren Charakteristika zwar in der Mündlichkeit wurzeln, aber auch unter den Bedingungen von Schriftlichkeit adaptiert werden konnten. Auf diese Weise sollte der Platz des Nibelungenliedes in der hochmittelalterlichen Schriftkultur bestimmt werden. Die ‚fingierte Mündlichkeit‘ des Großepos, das „Nibelungische“, weist auf eine ‚echte‘ Mündlichkeit zurück. Es ist eine „Art Soziolekt“,65 der sich über die Grenze seiner mediengeschichtlichen Voraussetzungen erhalten haben könnte. Eine solche ‚Sprache‘ kann nicht nur bei der Produktion des Buchepos, sondern auch bei seiner Reproduktion zur 64
Natürlich wird man zwischen passenderen und weniger passenden Epitheta zu unterscheiden haben; Giselher der schoenen Uoten sun (B 1210,1) wird in A 1153,1 selbst schoene genannt, was durch nichts in der Situation motiviert ist und im übrigen ein ganz ungewöhnliches Epitheton für einen Helden scheint. Doch so einfach ist es nicht. Hier ist der Grund ein Kasuswechsel, anderwärts ersetzt schoene – für Siegfried ungewöhnlich – in A küene in B (Brackert [Anm. 9], S. 86): immerhin liegt es im Rahmen der Variationsmöglichkeiten. 65 Haferland (Anm. 37, 2004), S. 92 (im Blick auf die Kudrun). Er setzt also nicht notwendig schriftferne Mündlichkeit voraus.
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Anwendung kommen. Auch wer der Urheber einer neuen Wiedergabe des Nibelungenliedes ist – ob nun als Rezitator oder Kopist –, wird bald über ein ‚nibelungisches‘ Idiom verfügen, das er bei seiner Arbeit, auch nach einer schriftlichen Vorlage, mehr oder weniger produktiv und mehr oder weniger absichtlich einsetzen kann. Je besser er das Idiom beherrscht, umso leichter kann er sich von einem vorformulierten Text lösen, ohne den Charakter des Textes zu verfälschen, und umso leichter kann er Zusätze dem Rest anpassen.66 Jedenfalls gilt, dass ohne programmatische Absicht Änderungen einer schriftlichen Vorlage denkbar sind. Damit wird die Kontroverse um eine schriftliche oder mündliche Konstitution des Textes entschärft; es handelt sich nicht notwendig um eine strikte Alternative. Mittelalterliche Schreiber haben in der Regel den wiederzugebenden Text nicht Buchstaben für Buchstaben, nicht einmal Wort für Wort kopiert, sondern eher in Vers- oder Sinneinheiten.67 Das aber ist eine Quelle von Varianten. Damit werden die Grenzen zwischen memorierender und improvisierender Mündlichkeit einerseits und der mündlichkeitsaffinen, doch schriftlichen Aufzeichnung eines Schrifttextes andererseits fließend. Es bedeutet weiter, dass gewisse Lizenzen, die man bei ‚Oral formulaic epic‘ festgestellt hat, ein Merkmal auch bei der Wiedergabe ‚fingierter Mündlichkeit‘ sein können. Wenn ein Kopist einmal über das Idiom ‚nibelungisch‘ verfügte, konnten ihm „Reminiszenzlesarten“68 unterlaufen, wenn er den memorierten Vers oder Versteil aufzeichnete, Varianten, die er (oder auch ein Rezitator) aus dem Gedächtnis einfügen konnte, sofern sie dem vorgegebenen Inhalt entsprachen und in das metrisch-strophische Schema passten. Mit solchen im Gedächtnis gespeicherten Mustern rechnet auch Schulze: „Beim Hören und Sehen aufgenommene Informationen werden unbewusst auf ihre essenzielle Invarianz hin sortiert und in einem ‚Abstract‘ gespeichert, das dann wiederum mit Varianzen reproduziert wird“.69 Solche „Reminiszenzlesarten“ sind ebenso bei mündlichen wie bei schriftlichen Überlieferungsprozessen denkbar; sie wurden noch bei der Kopie einer spätmittelalterlichen Reimpaardichtung nachgewiesen.70 Das aber heißt: Sie können auf jeder Stufe der Überlieferung auftreten. 66
„Mit dem Schatz an epischen Formeln, den der Dichter bereitgestellt hat, kann in den uns vorliegenden Texten frei geschaltet werden, es können ‚seine‘ Formeln eintreten, es können aber auch individuelle Wendungen gebraucht werden“ (Brackert [Anm. 9], S. 96). 67 Andreas Heusler: Rezension zu Michels: Zur Handschriftenkritik im Nibelungenlied, in DLZ 50 (1929), Sp. 16–20; hier Sp. 18, zitiert nach Brackert (Anm. 9), S. 83. 68 Zum Vorschlag, mit „Reminiszenzlesarten“ zu rechnen, Stephan Müller: Das Gedächtnis des Schreibers B4/E. Ein Experiment zum Eingangsteil des Nibelungenliedes, in: Poesiae del Medioevo tedesco – Medieval German Poetry, hg. v. F. Raschellà, Assago (Milano) 2011, S. 161–177; hier S. 169; vgl Müller (Anm. 24), S. 261 f. Solche Varianten sind gewiss bei mündlicher Reproduktion wahrscheinlicher, doch auch bei schriftlicher nicht ausgeschlossen. 69 Schulze (Anm. 27), S. 13; dagegen Heinzle (Anm. 15), S. 323. 70 Vgl. Gerhardt (Anm. 55).
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Die Debatte über die Anteile von Mündlichkeit an der Nibelungenüberlieferung sollte sich von einer strikten Dichotomie Mündlichkeit – Schriftlichkeit, bei der die eine die andere ausschließt, lösen. Es muss sich bei Varianten wie den beschriebenen keineswegs notwendig um „Erscheinungen der Performanz“ handeln (was Heinzle aus einsichtigen Gründen bestreitet); auch die Arbeit in der „Schreibstube [war] mehr oder weniger gedächtnisorientiert“.71 Das ist aber mehr als eine theoretische Möglichkeit. Der Anteil des Gedächtnisses ist aus Art und Umfang der Varianten in der gesamten Nibelungenüberlieferung klar erkennbar. Die Schreibstube, wenn man sie denn als Regelfall ansetzt, besagt überhaupt nichts. Mündlichkeit ist nicht nur ein spekulatives Zugeständnis an eine dominant schriftliterarische Praxis. Bestimmte Varianten lassen sich zwanglos aus einem erinnerungsgestützten Reproduktionsverfahren erklären. Sie setzen nicht notwendig und in allen Fällen die Stütze durch eine bestimmte schriftliche Vorlage voraus, treten aber massenweise auch auf, wenn eine solche wahrscheinlich ist. Es sind dies semantisch neutrale Varianten, vor allem in formelhaft geprägten syntaktischen Verbindungen, Varianten der syntaktischen Anordnung, Ersetzen gleichwertiger Epitheta, morphologische Varianten, erst recht Varianten, die auf dialektale Unterschiede zwischen der Vorlage und der Sprache der Kopisten zurückgehen, und vor allem orthographische Varianten. Dieses Bild verstärkt sich durch die Analyse der Nibelungenfragmente zusätzlich.72 Sie wurden bislang allein unter dem Gesichtspunkt betrachtet, wie sie zu den konzeptionell unterschiedlichen Haupthandschriften stehen, ob sie sie stützen oder von ihnen abweichen, und ob sie sich folglich aus ihnen ergänzen lassen.73 Nicht beachtet wurde jedoch ihre Eigenständigkeit auf allen Ebenen. All diese Varianten setzen einen Hiat zwischen dem optischen oder akustischen Erfassen der Vorlage und ihrer Wiedergabe in der Abschrift voraus. 71
Heinzle (2008, Anm. 15), S. 324; S. 321 f. weist er auf Gerhardts Aufsatz (Anm. 55) hin, hält also den Einfluss von Mündlichkeit theoretisch für möglich, bezweifelt aber die Möglichkeit ihres Nachweises. Das Resultat – die Überlieferung – zwingt jedoch dazu, diese Möglichkeit stärker in Erwägung zu ziehen. Nicht nur die Grenzen „zwischen Abschrift und Diktat“ werden fließend, sondern die Abschrift selbst setzt ‚erinnerte Mündlichkeit‘ voraus. Das wird unabweisbar, wenn man nicht immer nur die ‚Haupthandschriften‘ B und C zugrunde legt. Nachträgliche Korrektur von Varianten des beschriebenen Typus wie in d 15,4 ist die Ausnahme (vgl. S. 326). 72 Besonders aufschlussreich ist hier das Fragment E. Sein Wortlaut lehnt sich – bis auf drei gegenüber C korrigierte Fehler und zwei winzige Abweichungen, ebenfalls als Reminiszenzlesarten zu werten – eng an einen *C-Text an, doch folgt der Schreiber seinem eigenen orthographischen Usus, der nahezu in allen relevanten Punkten von C abweicht. Phänomene dieser Art wird künftig die angekündigte Abhandlung (Anm. 53) verzeichnen. 73 Symptomatisch ist die bis vor kurzem im Netz befindliche digitale Wiedergabe der gesamten Überlieferung durch die ‚Wiener Nibelungenwerkstatt‘, in der die Fragmente, wo sie Lücken aufweisen, nach der vermutlich nächstverwandten Handschrift ergänzt werden.
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„Das bedeutet, daß im Kopiervorgang die Grenzen zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit, Abschrift und Diktat fließend waren. Es ist natürlich schwer zu sagen, inwieweit damit die Fülle der kontingenten Varianten erklärt ist. Auf jeden Fall verlieren sie vor diesem Hintergrund viel von ihrer Auffälligkeit“.74 Wenn man aber einmal damit rechnen muss, dass das Wortmaterial bei einer improvisierenden oder memorierenden (nicht unbedingt mündlichen, aber auch nicht notwendig schriftgestützten) Reproduktion variiert und in unterschiedlicher Weise arrangiert und orthographisch wiedergeben werden konnte, dann wird das Nibelungenlied damit noch lange nicht, wie polemisch gesagt wurde, „ein durch ungenaue Erinnerung zustande gekommener ‚Gedächtnistext‘“.75 Zwar haben dann viele Varianten keine Beweiskraft mehr für angebliche Fehlergemeinschaften oder Abhängigkeiten; wohl aber sind sie Zeugnisse für die Interferenz von schriftgestützter und nicht-schriftgestützter Reproduktion. Vor allem ist diese Form der Varianz charakteristisch für den Texttypus. Die erschrockene Frage, die man im Anschluss an Brackerts Handschriftenkritik stellte, ob man dann überhaupt noch von einem Dichter des Nibelungenliedes sprechen könne,76 wird dieser Kopierpraxis nicht gerecht. Varianten des besprochenen Typus liegen unterhalb der Schwelle, bei deren Überschreitung die Identität des Textes gefährdet ist. Wer bei ihnen änderte, durfte sich doch als treuer Aufzeichner des Nibelungenliedes fühlen. Etwas anderes sind bearbeitende Zusätze und Neuakzentuierungen. Doch auch durch sie scheint die Festigkeit und Verbindlichkeit des Epos insgesamt nicht grundsätzlich beeinträchtigt worden zu sein.77 74
Heinzle (2008, Anm. 15), S. 325. Heinzle (2008, Anm. 15), S. 317 gegen Haferland (Anm. 37, 2006 und noch Anm. 33, S. 29). Gemeint ist ein – durch die Performance bedingt – instabiler Text. Dass das Gedächtnis an Abschreibprozessen beteiligt ist, ist mediävistischer Konsens (Heinzle 2008, S. 324 f.) Nur wurden daraus bisher keine Konsequenzen für die von Lachmann inspirierte Textkritik gezogen. 76 Hans Fromm: Der oder die Dichter des Nibelungenliedes?, in: Colloquio italo-germanico sul tema: I Nibelunghi/Academia nazionale die Lincei. Atti die Convegno Lincei 1), Rom 1974, S. 63–74. Das ist durchaus zu trennen von der Debatte, ob es einen oder mehrere Dichter des Nibelungenliedes gegeben habe. Die Eingriffe bezeugen weder mindere Dichter noch schlampige Schreiber. Sie berühren den einen Text gar nicht (vgl. die am ‚Dichter‘ orientierte Diskussion bei Brackert [Anm. 9], S. 169 f.). 77 Brackert (Anm. 9) kommt dieser Auffassung nahe: „Die Urheber der verschiedenen Redaktionen, die uns vorliegen, lassen sich nicht p rin z ipi el l als Geister minderen Ranges von jenem Autor unterscheiden, auf den der gemeinsame Text zurückginge. Es wird unter den verschiedenen Dichtern, die an der Herausbildung dieses Textes mitwirkten, einen gegeben haben, der größer war als alle anderen – das relativ hohe Ansehen, das der gemeinsame Text genoß, kann als Stütze für eine solche Auffassung dienen –, grundsätzlich steht hinter diesem Text eine Mehrzahl, wenn nicht eine Vielzahl von Sängern […], die alle in der gleichen poetischen Technik bewandert, mit dem gleichen Stoffe vertraut, sich an der Ausformung des Textes beteiligten“ (S. 170). Es wird in der geplanten Abhandlung (Anm. 53) jedoch zu zeigen sein, dass Varianz weit radikaler zu denken ist. 75
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Lachmann, die Lachmannsche Methode und die Überlieferung des Nibelungenliedes
Welche Konsequenz hat das für die Rekonstruktion von Verwandtschaftsverhältnissen zwischen den Handschriften und eine darauf aufbauende Textkritik? Der von einigen Poststrukturalisten vorgeschlagene Verzicht auf die Identifizierung und Korrektur von ‚fehlerhaften‘ Lesarten, nur weil sie irgendwo überliefert sind, ist unhaltbar und geht an dem, was wir von mittelalterlicher Kopierpraxis wissen, vorbei. Die Kriterien für ‚Fehler‘ sollten aber eng gefasst sein und nicht auf Vorannahmen des Forschers beruhen, mögen diese nun alltagspsychologisch sein und dekretieren, wie eine Geschichte zu verlaufen hat und was die Akteure dabei zu denken oder zu fühlen haben,78 oder auf subjektiven Geschmackskriterien beruhen, die feststellen, welche Lesart dem Betrachter am schönsten scheint. Es darf nicht eine – im Allgemeinen am neuzeitlichen Realismus orientierte – Poetik unterstellt werden, mit deren Hilfe der moderne Philologe entscheidet, wie erzählt werden sollte.79 Ergänzend zur Fehlerkritik müssten die bearbeitenden Eingriffe als überlieferungsgenerierende Elemente betrachtet werden, die prinzipiell auf jeder Stufe der Überlieferung einsetzen können und von denen stemmatologisch – wie von Überlieferungsfehlern – wieder neue Überlieferungszweige ausgehen können. Wenn man damit rechnet, dass die Überlieferung nicht linear in einem einzigen Strang erfolgt ist, sondern durch Varianten sich früh in Haupt- und Seitenlinien ausdifferenziert, erscheinen manche Kontroversen über die in eine Edition aufzunehmende Lesart in neuem Licht. Dazu zum Schluss ein Beispiel: Nur in Jh 2324,4 erklärt Hagen vor dem Schlusskampf, er wolle ganz allein (eine wol) Dietrich bestehen, während der Rest der Überlieferung sich mit einer ungenaueren Floskel (z.B. so rehte wol in B 2324,4) begnügt.80 Dieses eine ist durch eine spätere Stelle (Dietrich sagt: ir jâhet daz ir eine mit strîte woldet mich bestân, B 2343,4) und den tatsächlichen Verlauf des Kampfes gut begründet. Brackert konjiziert in seiner Ausgabe entsprechend 2324,4 (= 2327,4), gegen alle anderen
78
In diesem Sinne habe ich in ‚Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes‘ (Tübingen 1998) gezeigt, dass vieles, was moderne Philologen als ‚Fehler‘ qualifizieren, aus mangelnder historischer Kenntnis und mangelnder Kenntnis der Poetik eines mittelalterlichen Epos resultiert. Manche Deutungen mögen anfechtbar sein, was aber moderne Philologen als ‚Fehler‘ bezeichnen und aus Gedächtnislücken, Schreiberversehen, konkurriender Sagenkenntnis usw. zu erklären suchen, ist es allemal. 79 Dass man ohne eine historische Poetik nur Unverständnis konstatieren kann, hat Lugowski an Motivationstypen im frühneuzeitlichen Roman gezeigt (Clemens Lugowski: Die Form der Individualität im Roman. Studien zur inneren Struktur der frühen deutschen Prosaerzählung [1932]. Neuausgabe mit einer Einleitung von Heinz Schlaffer [stw 151], Frankfurt 1976). 80 Brackert (Anm. 9), S. 171 f.; vgl. Brackerts Ausgabe: Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutscher Text und Übertragung, hg., übersetzt u. mit einem Anhang versehen von Helmut Brackert, 2 Bde., Frankfurt 1970, Bd. 2, S. 256. – Die Zählung Brackerts ist die der meisten Ausgaben (also 2327,4), während Hs. B drei Strophen kürzer ist, die entsprechende Strophe also die Nummer 2324 trägt. Ich folge hier der Zählung von B und nicht der Brackerts und der meisten Ausgaben.
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Handschriften den Text nach Jh, zu denen noch das Fragment K tritt.81 Das setzt eine ältere Position voraus, die sich um Herstellung des ursprünglichen Textes bemüht und diesen im Allgemeinen mit dem ‚besten‘, von Überlieferungsprozessen noch nicht beschädigten Text identifiziert; ein Lachmannianer (nicht Lachmann selbst) könnte annehmen, dass dieser ursprüngliche Text im Prozess der Überlieferung verderbt wurde. Also muss mit Brackert konjiziert werden. Doch die Lesart in den B-Text einzufügen, verstößt nicht nur gegen das Leithandschriftenprinzip, das verlangt, dass man einer möglichst guten, möglichst ursprungsnahen Handschrift soweit wie möglich folgt. In diesem Fall gibt der B-Text keinen Anstoß, der Wortlaut ergibt Sinn. Heinzle behält in seiner Ausgabe konsequenterweise die Lesart von B bei, sieht sich aber im Kommentar genötigt, auf Brackerts Entscheidung hinzuweisen, die er nicht für „zwingend“ hält.82 Er fällt die Entscheidung mit Blick auf ein mutmaßliches Original und betrachtet die Stelle nicht als Fall möglicher Varianz. Nach unseren Überlegungen handelt es sich um eine signifikante Bearbeitung, bei der ein nachdenkender Kopist die gesamte Szene vor Augen hatte und eine, als besser zum Verlauf passend, nachträglich an die Stelle der blasseren Formulierung eingefügt hat; dieser Zusatz wurde dann in einem besonderen Überlieferungszweig (JKh) beibehalten. Rechnet man nun mit einer mehrsträngigen Variantenbildung, verliert die Entscheidung zwischen den Lesarten an Dringlichkeit. Das Großepos wurde, nachdem es einmal den Weg aufs Pergament gefunden hatte, weiter bearbeitet, jedoch nicht nur, wie die Forschung suggeriert, konzeptionell, nicht Überlieferungen neben dem Nibelungenlied aufnehmend und nicht linear von Handschrift zu Handschrift fortschreitend. Vielmehr konnte bei jeder neuen Reproduktion der Ad libitum-Raum anders gefüllt werden, solange der Rahmen fest blieb. In der Nibelungenüberlieferung gibt es keine Textkontinuität auf allen Ebenen des Sprachsystems. Man muss eine Textgeschichte annehmen, die im Wesentlichen durch schriftliche Überlieferung dokumentiert ist, in die aber nicht-schriftbasierte Kopierpraktiken eingreifen konnten. Dagegen ist die meist erwogene nachträgliche Aufnahme mündlicher Überlieferungen – von Elementen, die keine Berücksichtigung im Epos gefunden haben wie z.B. Siegfrieds Rettung Kriemhilds vor einem Drachen83 – relativ unbedeutend. Es können, in die maßgebliche Form gebracht, ergänzende Strophen und Strophenteile hinzutreten, die die Handlung vervollständigen, begradigen oder besser plausibilisieren.84 Es 81
Brackert (Anm. 9), S. 172. Heinzle (Anm. 19), S. 1497; er verweist auf S. 1503, dass die konjizierte Lesart B 2346,4 (= 2343,4) entspricht. 83 So im Darmstädter Aventiurenverzeichnis m. 84 Trovato (Anm. 31), S. 156–158 gesteht für bestimmte Gattungen wie Chansons de geste oder italienische cantari zu, dass ad hoc improvisierte Varianten, Ergänzungen und dgl. je nach Aufführungssituation auftraten, hält aber eine Analyse sonstiger Varianten nach der genealogischen Methode, mit Stemmata auf Grund von Bindefehlern, grundsätzlich für angemessen (S. 157). 82
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können aber vor allem semantisch mehr oder weniger neutrale Formulierungsvarianten gewählt werden, die ein Kopist aus eigener Sprach- und Gedächtniskompetenz dem Epos einpasste, von der konkreten schriftlichen Gestalt, die er seiner Kopie gab, ganz abgesehen. Die erneute Betrachtung der Überlieferungsgeschichte erlaubt das folgende Fazit: Der feste Kern des Epentextes scheint dominant schriftsprachlich übermittelt worden zu sein. Zwischen schriftlicher Vorlage und schriftlicher Kopie tat sich aber eine Lücke auf, gleich ob die Vorlage durch das Auge (also lesend) oder durch das Ohr (hörend) vermittelt wurde. In diese Lücke trat der Hersteller der Handschrift ein, an erster Stelle mit seiner Ausbildung als Schreiber, die ihm einen bestimmten Schreibusus beigebracht hatte, an zweiter Stelle mit seiner Kompetenz als Sprecher, der einer bestimmten, u.U. dialektal geprägten Sprachgemeinschaft angehörte und eine anders geartete dialektale Prägung erfahren haben mochte als der Verfertiger des Vorlagentext, sodass er den Text phonologisch oder morphologisch umbilden, assimilieren oder nachbilden konnte. Auf Lexik, Syntax, Metrik, Reimschema war er stärker, wenn auch nicht absolut verpflichtet. Wenn seine eigene Sprache und der Vorlagentext kollidierten, musste er ändernd eingreifen. Aber er konnte auch ändernd eingreifen, wenn er einmal mit dem nibelungischen Idiom vertraut war und, was er gehört oder gelesen hatte, ungenau memorierte und deshalb sinngemäß aus seiner nibelungischen Kompetenz ergänzen musste. Manchmal ist eine solche Änderung als ‚Fehler‘ erkennbar. In manchen Fällen wird man begründen können, warum sie als sekundär anzusehen ist, in vielen anderen nicht. Buchstabentreue, selbst Wortwörtlichkeit sind keine selbstverständlichen Ziele vormoderner Textreproduktion, und sie brauchen seit der Frühen Neuzeit Jahrhunderte, bis sie zum philologischen Standard werden. Der mittelalterliche Kopist hätte gewiss trotz der vielen iterierenden Varianten sein Werk als getreue Wiedergabe des Ausgangstextes angesehen. Das bedeutet, dass die Überlieferungsgeschichte des Nibelungenliedes in wesentlichen Teilen neu geschrieben werden müsste. Das allerdings ist eine Lebensaufgabe. Zentrale Verfahren Lachmanns wie Recensio und Collatio und zentrale Indizien der Textkritik wie Bindefehler, Augensprung, Verlesungen usw. bleiben bei der Unterscheidung von Überlieferungszweigen unverzichtbar, aber mit ihnen lässt sich, wie schon Lachmann erkannte, nicht die gesamte Überlieferungsgeschichte rekonstruieren. Die Indizien für Fehler sind durch Indizien für signifikante Bearbeitungseingriffe zu ergänzen. Ziel ist nicht mehr, zu dem einen Ausgangspunkt zurückzufinden, sondern die Stränge der Überlieferung (u.U. mehrere!) zu ordnen und Handschriftenfamilien zu unterscheiden. Die Mehrzahl der Varianten ist aus diesem Verfahren auszuklammern, da sie offensichtlich zu einem Ad-libitum-Bereich gehören, der keine textkritische Relevanz hat. Man wird die Hoffnung, zum ursprünglichen oder auch nur zum besten Nibelungenlied zu gelangen, begraben müssen, und auch die unter dieser 193
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Prämisse erstellte Ordnung nach Überlieferungssträngen ist noch einmal zu überprüfen. Jeder Einzelfall wäre in seiner Besonderheit zu analysieren, bevor er in handschriftenübergreifende Überlieferungsreihen eingeordnet würde. Eine Edition, die alle Überlieferungen berücksichtigt, wäre wohl nur digital möglich, für literaturwissenschaftliche Interessen handhabbar wäre sie kaum. Wahrscheinlich würde man am Ende der Arbeit aus pragmatischen Gründen zu einem Text zurückkehren, wie er in den Ausgaben von Hermann Reichert, Ursula Schulze und Joachim Heinzle85 auf Grund der Handschrift B erstellt worden ist. Ihr tritt eine ähnliche Ausgabe auf Grund von C zur Seite. Zu erwarten wären von einer Revision der Überlieferungsgeschichte allerdings genauere Einsichten in das Literaturverständnis in Bezug auf volkssprachige Dichtung und in einen Überlieferungsprozess, in dem schriftgestützte und nicht-schriftgestützte Praktiken ineinandergreifen.
*** Der Beitrag war für ein Kolloquium konzipiert, das der Reichweite der Lachmannschen Methode gewidmet war. Er wollte nicht mehr als auf einige Probleme der jüngeren Forschung aufmerksam machen, die neu durchdacht werden müssen, wuchs sich jedoch zur Skizze eines Projektes aus, das mich seitdem beschäftigt hat und in einem Buch mit dem Titel ‚Varianz. Die Nibelungenfragmente und die Überlieferungsgeschichte des Nibelungenliedes‘ zum Abschluss kommen soll. Die vorläufige Skizze – wie auch eine weitere Vorarbeit (vgl. Anm. 58) – enthält schon einige Beobachtungen, die in diesem Buch über die Nibelungenfragmente zu einer Neufundierung der Überlieferungsgeschichte des Nibelungenliedes herangezogen werden sollen.
85
Vgl. Anm. 14–16.
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4 Variantentypologie II: Ursprüngliche Fassungsvarianz in der Liedüberlieferung?
4.1 HABEN WIR DIE TEXTE DER FRÜHGRIECHISCHEN LYRIKER? von Hans B e r n s d o r f f , Frankfurt Abstract: Sapphos Altersgedicht (fr. 58 Voigt, überliefert u.a. im berühmten ‚Kölner SapphoPapyrus‘) und Anakreons sympotische Verse PMG 396 werden in Teilen der jüngeren altphilologischen Forschung als Paradefälle für die Anwendbarkeit von Betrachtungsweisen der ‚New Philology‘ gehandelt. Eine genaue Prüfung der Fragmente mahnt allerdings zur Skepsis, was die Nachweisbarkeit von Primärvarianz (d.h. bereits vom Autor angelegter Varianz) angeht. Auf der anderen Seite verspricht die Erforschung der Sekundärvarianz, also vor allem der Anpassung von Texten an ein verändertes kulturelles Milieu, neue Einsichten in die Rezeptionsgeschichte; dies wird an einem kaiserzeitlichen römischen Mosaik veranschaulicht, das AnakreonVerse aus verschiedenen Gedichten zu einem neuen Kunstwerk kombiniert. Sappho’s poem on old age (fr. 58 Voigt, transmitted i.a. in the famous ‘Cologne SapphoPapyrus’) and Anacreon’s sympotic verses of PMG 396 are seen by some classicists as prime cases for the applicability of the approaches of ‘New Philology’. However, a close examination of the fragments recommends scepticism about the verifiability of primary variance (i.e. variance which can be traced back to the author). On the other hand, research on secondary variance, above all the adaptation of texts to a changed cultural milieu, promises new insights into the history of reception; this is illustrated by an imperial Roman mosaic which combines verses from a number of Anacreon's poems into a new work of art.
I. Textvarianz in Homer und frühgriechischer Lyrik; die ‚New Philology‘ in der germanistischen Diskussion Am Anfang der antiken Literatur stehen die Epen Homers. Hinter diesem einfachen Satz deutet sich bereits das zentrale Problem dieses Sammelbandes an: „Ilias“ und „Odyssee“ fußen auf einer Jahrhunderte alten Tradition mündlicher Dichtung. Diese Eigentümlichkeit, verbunden mit Verfasserpluralität und Unfestigkeit des Wortlauts, hatte schon Friedrich August Wolf in seinen Prolegomena ad Homerum 1795 festgehalten,1 dessen Erkenntnisse Karl Lachmann2 zu der Hypothese führten, die Ilias sei aus einer Reihe ursprünglich separater Einzellieder zusammengefasst worden. Den Einfluss mündlichen Improvisierens auf die Sprache der Epen selbst erforschte dann im frühen 20. Jh. der US-
1
Dazu Joachim Latacz: Tradition und Neuerung in der Homerforschung, in: Homer. Tradition und Neuerung, hg. v. Joachim Latacz, Darmstadt 1979, S. 25–44, hier: S. 29–32 und ders.: Homerische Frage I, in: DNP 14, 2000, S. 501–511, hier: S. 505–506. 2 Betrachtungen über Homers Ilias. Mit Zusätzen von M. Haupt, Berlin 1847.
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Amerikaner Milman Parry und initiierte damit die gräzistische Oral-PoetryForschung, deren Bedeutung für das Verständnis Homers heute – wenn auch in unterschiedlichem Maße – allgemein anerkannt wird. Die Annahme von Mündlichkeit im Entstehungs- und Vortragsprozess führt dabei sogleich zu der Frage, wie man Textvarianz vor diesem Hintergrund zu beurteilen hat: Wo ist ‚Homer‘, wenn es ihn überhaupt gab, in diesem Prozess anzusiedeln? War er es, der „Ilias“ oder „Odyssee“ oder beide Epen schriftlich fixierte? Wann haben wir überhaupt mit einer schriftlichen Fixierung von „Ilias“ und „Odyssee“ zu rechnen, und wie fließend war der Text vor und nach dieser Fixierung? Repräsentieren Varianten in der uns vorliegenden Textüberlieferung die Unfestigkeit dieses mündlichen Überlieferungsprozesses, etwa in der Weise, dass Textvarianten auf unterschiedliche Aufführungskontexte zurückgehen? Diese dornigen Fragen der Homerphilologie sollen hier nicht vertieft werden, da sie einen gesonderten Zugang erfordern. Mein Titel soll freilich darauf anspielen und damit die enge Verwobenheit mit dem hier eigentlich zu erörternden Bereich andeuten: 1966 erschien ein Aufsatz, in dem Adam Parry, der Sohn Milman Parrys, seine eigene Position umreißt: „Have we Homer’s Iliad?“3, eine Frage, die Adam Parry bejahte: Homer stehe zwar am Ende einer langen mündlichen Tradition; seine Leistung, die allein unter Benutzung der Schrift zu denken sei, dürfe aber nicht mit dieser Tradition verwechselt werden. In der neuesten Homerforschung lässt sich die mit der Oral-Poetry-Forschung verbundene Kontroverse um die rechte Beurteilung von Textvarianz durch Forscher wie M. L. West und R. Janko auf der einen, durch Gregory Nagy auf der anderen Seite charakterisieren, einen Professor in Harvard, das durch den Parry-Schüler Albert B. Lord4 seit jeher eine Hochburg der Oral-Poetry-Forschung war:5 Homer ist für Nagy ein sprechender Name („Zusammenfüger“, abgeleitet von hom- ‚zusammen‘ und der Wurzel in ἀραρίσκω [ararísk6] ‚fügen‘6), der nicht eine historische Person bezeichnete, sondern einen mythischen Archetyp, dessen persona Sänger in dieser Tradition annahmen. Nach Nagy gibt es keine ‚Originale‘ in Form eines schriftlich fixierten Textes; mit dem endgültigen Abschluss der schriftlichen Fixierung des Textes rechnet Nagy nicht vor dem Ende des vierten Jahrhunderts. Varianten sind mithin in der Regel original, da sie verschiedene ‚Aufführungskontexte‘ repräsentieren. Dabei beruft sich Nagy übrigens ausdrücklich auf Paul Zumthors Konzept der ‚mouvance‘ und ‚vari-
3
Adam Parry: Have we Homer’s Iliad?, in: YCS 20, 1966, S. 177–216. Vgl. Albert Lord: The Singer of Tales, Cambridge/Massachusetts 1960. 5 Das Folgende basierend auf Gregory Nagy: Poetry as Performance. Homer and Beyond, Cambridge 1996. 6 Vgl. Richard Janko: Rezension Nagy [Anm. 5], in: JHS 118, 1998, S. 206–207, hier: S. 206. 4
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Haben wir die Texte der frühgriechischen Lyriker?
ance‘.7 Auf dieser Grundlage kritisiert Nagy traditionelle Texteditionen wie die Ilias-Teubneriana M. L. Wests und fordert dagegen multitext editions, die mit Hilfe elektronischer Datenbanken alle Varianten zeigen, ohne eine Version zu privilegieren.8 Verteidiger der traditionellen philologischen Methode und Editionspraxis, wie West oder Janko, bestehen darauf, dass unser Homertext zu einem viel früheren Zeitpunkt (im 7. Jh. v. Chr.) schriftlich fixiert und seitdem der Überlieferungsverderbnis und der Gelehrtenkonjektur ausgesetzt war. Dabei schließt West die Möglichkeit nicht aus, dass in Aufführungen entstandene Varianten in den Text dringen; diese sind aber vom Editor als Verfälschungen des Originals zu eliminieren, wobei dessen Entscheidung auch durchaus nur auf Wahrscheinlichkeitsargumenten basieren darf. Keineswegs kann unsere Homerüberlieferung – so West – als ein Gemenge aus einer Reihe von Niederschriften mündlicher Aufführungen betrachtet werden,9 deren Varianten gleichberechtigt zu behandeln seien. Diese Diskussion setzt sich nun fort auf dem Gebiet der frühgriechischen Dichtung nach Homer und Hesiod, d.h. der monodischen und der Chorlyrik, der Elegie und des Iambos im Zeitraum vom 7. bis zum 5. Jh. v. Chr., und es überrascht nicht, dieselben Gelehrten als Protagonisten hier wiederzufinden. Auch hier scheinen unter denjenigen, die bei den Lyrikern mit auf verschiedene Aufführungskontexte zurückgehenden Varianten rechnen, oft amerikanisch sozialisierte Forscher zu dominieren: Neben den Beiträgen zu Sappho, auf die ich gleich noch näher eingehen werde, sei auf A. Lardinois’ Behandlung der Fragmente des Solon verwiesen, deren nicht selten erhebliche Textvarianten für ihn zum Teil nicht als Reproduktionsfehler, sondern als Adaptationen an verschiedene politische Milieus zu verstehen sind, die daher in einer Edition gleichberechtigt nebeneinander präsentiert werden müssen.10 Lardinois’ Aufsatztitel
7
Als illustratives Beispiel analysiert Nagy [Anm. 5], S. 7–28 ausführlich die Varianten π ο λυ η χέα (poly4chéa, „kummerreich“) und π ο λυδε υκ έα (polydeukéa, „farbenreich“) in Od. 19, 521. 8 Gregory Nagy: Rezension Martin Litchfield West, Homeri Ilias, K. G. Saur, Mainz/ Leipzig 2000, in: BMCR 2000.09.12.: „A multitext edition of Homer needs to be designed in a format that displays most clearly all the surviving textual variants, both vertical and horizontal. It should have a base text (texte à base) that is free of arbitrary judgments, such as the choosing of one variant over another on the basis of the editor’s personal sense of what is right or wrong, better or worse.“ 9 Martin Litchfield West: West on Nagy and Nardelli on West, in: BMCR 2001.09.6 (= ders., Hellenica I, Oxford 2011, S. 176–181, hier: S. 176–181). 10 Vgl. noch Christopher Faraone: The Stanzaic Architecture of Early Greek Elegy, Oxford 2008, S. 93–113, der freilich noch die von ihm aufgegriffene Hypothese von der strophischen Organisation der frühgriechischen Elegie dazu benutzt, ein verschiedenes Alter der Versionen nachzuweisen; zur Aktualisierung in der Neidhart-Überlieferung Anna Kathrin Bleuler: Überlieferungskritik und Poetologie, München 2008, S. 249.
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aus dem Jahre 2006, „Have we Solon’s Verses?“,11 deutet an, dass er sich in dem von Adam Parry initiierten Diskussionszusammenhang sieht (wobei er die Frage jedoch negativ beantwortet). Lardinois fordert jetzt (2019) ganz deutlich die Schaffung von multitext editions der frühgriechischen Dichtung und nimmt dabei neuphilologisch beeinflusste Editionen der mediävistischen Germanistik als Vorbild.12 Freilich ist zu berücksichtigen, dass in der Germanistik die Diskussion um die Thesen der ‚New Philology‘ seit dem Vorstoß Bernard Cerquiglinis aus dem Jahre 198913 nicht stehengeblieben ist. Dieser vertrat die Meinung, dass der Autor in der volkssprachlichen, mittelalterlichen Schriftkultur zugunsten der – wie er meint – kreativ arbeitenden volkssprachigen Schreiber zu vernachlässigen sei. Nach Cerquiglini nehmen die Schreiber im Prinzip die Autorrolle ein, was zur Folge hat, dass jedes Überlieferungszeugnis eines Textes als gleichwertig anzusehen und ein produktionsästhetischer Autorbegriff für das in Volkssprachen dichtende Mittelalter aufzugeben ist. Die mit dieser These verbundene Aufgabe jeglicher Unterscheidung von Überlieferungsvarianten wurde von Anfang an häufig als unbefriedigend empfunden. Stattdessen bemühte man sich, einerseits – anders als die ältere Germanistik – die Dynamik vormoderner Textualität anzuerkennen, andererseits aber zwischen verschiedenen Reproduktionsphänomenen zu differenzieren und daraus verschiedene Klassen von Überlieferungsvarianten abzuleiten. Die im folgenden Abschnitt erläuterte Terminologie basiert auf einer solchen Revision, wie sie Anna Kathrin Bleuler 2008 im Anschluss an Thomas Cramer, Rüdiger Schnell und andere unternommen hat.14 Sie soll hier auf zwei Beispiele aus dem Gebiet der frühgriechischen Lyrik angewandt werden: Eines davon ist ein durch einen Kölner Papyrusfund von 2004 komplettiertes Sappho-Gedicht, das neuphilologischen Interpreten als Paradefall einer frühen, aufführungsbe11
André Lardinois: Have we Solon’s Verses?, in: Solon of Athens: New Historical and Philological Approaches, hg. v. Josine Blok, André Lardinois, Leiden 2006, S. 15–35. 12 André Lardinois: New Philology and the Classics: Accounting for variation in the textual transmission of Greek lyric and elegiac poetry, in: The Reception and Transmission of Greek Lyric Poetry 600 BCE–400 CE (Studies in Archaic and Classical Greek Song 4), hg. v. Bruno Currie, Ian Rutherford, Leiden 2019. 13 Bernard Cerquiglini: Éloge de la variante: Histoire critique de la philologie, Paris 1989. 14 Innerhalb der neueren germanistischen Forschung zum Minnesang wird jetzt grundsätzlich an einem produktionsästhetischen Autorbegriff festgehalten, vgl. z.B. Bleuler [Anm. 10], S. 11–12. Ziel von Bleulers Arbeit ist es auch, „autornahe Liedversionen einzukreisen.“ Vgl. auch Karl Stackmann: Varianz der Worte, der Form und des Sinnes, in: ZfdPh 116 (Sonderheft), 1997, S. 131–149, hier: S. 145 und Kathryn Starkey, Haiko Wandhoff: Mouvance – Varianz – Performanz. Der unfeste Text, in: Walther von der Vogelweide und die Literaturtheorie, hg. v. Johannes Keller, Lydia Miklautsch, Stuttgart 2008, S. 45–75, hier: S. 65–66, die hinter der neuphilologischen Ablehnung des Autorbegriffs die romantische Vorstellung einer ‚Volkspoesie‘ sehen.
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Haben wir die Texte der frühgriechischen Lyriker?
dingten Textvarianz gilt. Das andere Beispiel stammt aus der Kommentierung des Anakreon.15
II. Terminologie Zugrunde gelegt werden soll folgende Klassifikation der Textvarianz:16 (i) Gleichrangige Fassungsvarianten (Primärvarianz eines Textes, die in seiner inhärenten Mutabilität begründet ist: Offenheit für Umstellungen und motivische Variationen)17 (ii) Sekundäre redaktionelle Eingriffe in den Text (Anpassungen an unterschiedliche kulturelle Milieus und Verwendungszusammenhänge) (iii) Reproduktionsfehler (Abschreibfehler und Fehler, die auf die mündliche Wiedergabe des Textes zurückgehen)18
Der Unterschied zwischen Typ (i) und (ii) entspricht dem zwischen ‚Mouvance‘ und ‚Mutanz‘, der vor allem in der Interpretation volkssprachlicher mittelalterlicher Lyrik eine Rolle spielt:19 ‚Mouvance‘ („Bewegung“) bezeichnet Textvarianz, die das Resultat einer vom Dichter selbst geregelten Offenheit des Textes ist, welche – etwa durch das Fehlen syntagmatischer Strukturelemente20 – Umstellung oder motivische Variationen ermöglicht, ja dazu einlädt.21 Diese Beschaffenheit des Ausgangstextes wird als ‚Mutabilität‘ bezeichnet.22 Manche Interpreten sehen den Autor als Urheber der
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H. B., Anakreon of Teos, Oxford 2020. Zu ‚Varianz‘ als Oberbegriff der im Folgenden betrachteten Einzelphänomene Bleuler [Anm. 10], S. 18. 17 Hiervon ist der auch in der klassischen Philologie verbreitete Begriff der Autorenvariante abzugrenzen, der von der Annahme verschiedener schriftlicher Fassungen des Textes durch den Autor ausgeht, vgl. Stephen Heyworth, Nigel Wilson: Autorenvarianten, in: DNP 2, 1997, S. 361–363. 18 Vgl. die Differenzierung von Hubert Heinen: Mutabilität im Minnesang. Mehrfach überlieferte Lieder des 12. und frühen 13. Jahrhunderts, Göppingen 1989: 1) Bearbeitung durch den Autor zum Versuch der Verbesserung; 2) Vortragsfassungen für ein verschiedenes Publikum, a) vom Urheber der ersten Fassung oder b) von einem Sänger, der das Lied eines anderen übernahm; 3) Vortragsfassungen, die an altes Publikum gerichtet sind, aber neues bringen wollten; 4) Kreative Rezeption durch spätere; 5) Resultate von Schreiberwillkür oder -unachtsamkeit. 19 Das Folgende nach Bleuler [Anm. 10], S. 17–18; Deborah Boedeker: No Way Out? Aging in the New (and Old) Sappho, in: Greene/Skinner [Anm. 36], S. 71–83, hier: S. 74– 75 beruft sich auf die mediävistische ‚New Philology‘, billigt aber der Frage nach dem Original „appeal and significance“ zu. 20 Vgl. die hypothetische Strophenumstellung, die Bleuler [Anm. 10], S. 68–71, für Neidhart SL 16 vornimmt. 21 Bleuler [Anm. 10], S. 15, im Anschluss an Thomas Cramer: Mouvance, in: ZfdPh 116, Sonderheft 1997, S. 150–169, hier: S. 150. 22 Nach Heinen [Anm. 18], S. iv. Zur Abgrenzung gegen den rezeptionstheoretischen Mutabilitätsbegriff Hausmanns Bleuler [Anm. 10], S. 17, Anm. 73. 16
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von ihm selbst durch Mutabilität bewirkten Mouvance (Schweikle).23 Andere kritisieren dieses ‚Autorvarianz-Modell‘ als spekulativ und siedeln die Mouvance vor allem im Rezeptionsprozess an, ohne freilich Fälle von Mouvance durch den ursprünglichen Dichter-Sänger grundsätzlich auszuschließen.24 Primär ist diese Form der Varianz in jedem Fall, weil „bei Liedvarianten, die nach den Regeln der Kunst gestaltet sind [d.h. nur die dem Lied inhärente Mutabilität nutzen, H. B.], keine Erkenntnis darüber gewonnen werden kann, welche Version zuerst ‚da war‘.“ Denn: „Überlieferungsvarianten, die dem Prinzip der Mouvance gehorchen, lassen sich nicht historisch-substanziell unterscheiden, sondern lediglich qualitativ nach dem Komplexitätsgrad ihrer Aussagestrukturen.“25 ‚Mutanz‘ dagegen ist Textvarianz, die ausschließlich im Prozess der Rezeption angesiedelt ist, sich aber nicht in den Grenzen der Mutabilität bewegt; sie ist daher als sekundär identifizierbar und weist auf einen gegenüber dem Ausgangstext veränderten zeitlichen, lokalen und kulturellen Kontext. An dieser Stelle sollte auf eine grundsätzliche Alternative hingewiesen werden, die für die Beurteilung von Textvarianten und für die Art und Weise, wie diese in einer Edition präsentiert werden sollen, von höchster Bedeutung ist: Nehmen wir das Werk eines zeitlich und lokal fixierbaren Autors an und betrachten wir den Wortlaut dieses Werkes als das ‚Original‘, das wir möglichst genau rekonstruieren wollen? Oder machen wir diese Annahme nicht, sondern vermuten hinter ‚Sappho‘ oder ‚Anakreon‘ eine persona, die ein oder verschiedene Dichter angenommen haben bzw. der man später andere Dichtungen zugeschrieben hat?26 Im zweiten Falle wäre die oben getroffene Unterscheidung zwischen Primär- und Sekundärvarianz schwierig, und man kann nicht mehr bestimmte Varianten privilegieren, selbst dann nicht, wenn sie sich als älter erweisen ließen. In der klassischen Philologie hat es – wohl unter dem Einfluss von OralPoetry-Forschung, Dekonstruktion und neuphilologischer Betrachtungsweisen
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Vgl. z.B. Günther Schweikle: Neidhart: Nu ist vil gar zergangen (Hpt. 29,27): Zur Geschichte eines Sommerliedes, in: Interpretationen mittelhochdeutscher Lyrik, hg. v. Günther Jungbluth, Bad Homburg 1969, S. 247–261, der die verschieden langen Versionen von Neidhards SL 26 unterschiedlichen Lebensstationen des Dichters zuordnet; dazu kritisch Bleuler [Anm. 10], S. 159. 24 Bleuler [Anm. 10], S. 15: „Ebenso wie die kontrollierte Offenheit des Textes dem Redaktor/Schreiber des 15. Jahrhunderts einen Spielraum für Umgestaltungen zugesteht, können einzelne Autoren das Potential auch selbst ausgeschöpft haben, um unterschiedliche Gedichtfassungen herzustellen.“ 25 Bleuler [Anm. 10], S. 17. 26 Letzteres im Sinne des Konzepts der „Autorkonkretisation“ (nach Albrecht Hausmann: Reinmar der Alte als Autor, Tübingen 1999, S. 26–31); demnach ist entscheidend, „ob der Text vom historischen Rezipienten als Eigentum eben dieses Produzenten rezipiert wurde“ (Bleuler [Anm. 10], S. 10).
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aus der Mediävistik27 – solche Versuche, den Autorenbegriff für die frühgriechische Dichtung aufzulösen, durchaus gegeben, wobei wieder G. Nagy eine Vorreiterrolle zukommt.28 Aber dies scheint mir doch eine Minderheitenmeinung zu sein, was schwerlich nur an einem antiquierten Originalitätsdenken liegt, sondern durchaus sachliche Gründe hat. Grundsätzlich ist nämlich festzuhalten: Wenn es ein persona-Dichten gegeben hat (dass falsche Zuschreibungen an der Tagesordnung waren, wissen wir z.B. aus der Gattung der Epigrammatik), muss der Dichter, dessen persona hier benutzt wird, doch irgendwie in die Welt gekommen sein. Die einfachste Vorstellung bleibt dabei immer noch, dass eine Dichterpersönlichkeit existierte, die so Eindrucksvolles hervorbrachte, dass man sich auf sie bezog. Die zahlreichen Ich-Aussagen bei den Lyrikern sind kaum ein wirklich zwingender Beleg für ein Autorenbewusstsein,29 aber gerade im Falle des Anakreon30 gibt es doch starke außerliterarische Indizien für das Wirken eines Individuums: Es ist (bei Ps.-Platon, Hipparch. 228b–c) bezeugt, dass der athenische Tyrann Hipparch Anakreon gegen Ende des 6. Jh. v. Chr. an seinen Hof brachte. Das Auftauchen von namentlichen Darstellungen des Anakreon auf rotfigurigen Vasen noch zu seinen Lebzeiten31 sowie ein poetischer Lobpreis des Anakreon durch den Athener Kritias (mit dessen Vorfahren Anakreon verbunden gewesen sein soll), nicht später als in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts entstanden, sind deutliche Reflexe einer persönlichen Präsenz, die einmal mit der Wirkung des
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Zu dieser Tendenz (und interner Kritik) in der Mediävistik Bleuler [Anm. 10], S. 3–4 mit Anm. 16 und S. 9–12. Der Zusammenhang zur Dekonstruktion wird deutlich in den Worten, mit denen sich der Thales-Editor Wöhrle von der Fragmentsammlung von Diels/ Kranz abgrenzt (Georg Wöhrle [Hrsg.]: Die Milesier: Thales, Berlin 2009, S. 2): „Gerade in einer Gegenwart also, in der die Gewissheit des ‚Autors‘ verloren gegangen ist und Texte als komplexe Zeichenzusammenhänge von mehr oder weniger offener Verweisstruktur aufgefasst werden können, scheint es angebracht, den Fokus des Interesses weniger auf die (erneute) Rekonstruktion als sozusagen auf die Genese der Konstruktionen zu richten, das heißt, den Verlauf der Rezeption nachzuzeichnen […]“ Zum Zusammenhang von Poststrukturalismus und New Philology jetzt auch Lardinois [Anm. 12]. 28 Nagy [Anm. 5], S. 207–225. 29 Vgl. Georg Danek: Rezension Elisabeth Stein: Autorbewußtsein in der Frühgriechischen Literatur, Günter Narr, Tübingen 1990, in: WS 105, 1992, S. 259–260, hier: S. 259. Zum Autorenbewusstsein in der mittelalterlichen Literatur vgl. Neidhart-Lieder. Texte und Melodien sämtlicher Handschriften und Drucke, hg. v. Ulrich Müller, Ingrid Bennewitz, Franz Viktor Spechtler. (= Salzburger Neidhart-Edition [SNE]), Bd. 3, Berlin 2007, S. 550, Anm. 51, a.E. 30 Anders würde man den Fall Homer beurteilen, vgl. Müller/Bennewitz/Spechtler [Anm. 29], Bd. 3, S. 550, Anm. 51: Über Homer als Person gibt es im Gegensatz zu Vergil keine gesicherten Informationen. Reinmar der Alte, der Mönch von Salzburg, Neidhart sind mit Homer zu vergleichen, Oswald von Wolkenstein und Hans Sachs mit Vergil. 31 London Brit. Mus. E 18, Schale des Oltos (John D. Beazley: Attic Red-Figure VasePainters, 2. Aufl. 1963, S. 62–63, Nr. 86), etwa 520–510 v. Chr. zu datieren.
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jugendlichen Mick Jagger verglichen wurde32. Der sichere Nachweis, dass ein Anakreon zugeschriebenes Fragment tatsächlich von Anakreon stammt, wird kaum gelingen, doch lässt sich gelegentlich durchaus wahrscheinlich machen, dass etwas nicht von ihm stammen kann. Dieses Geschäft mag schwierig sein und oft unsicher bleiben, so dass wir mit der Möglichkeit leben müssen, dass unter unseren Anakreon-Fragmenten manches Unechte bleibt. Die Annäherung an den Autor deshalb pauschal als obsolet zu betrachten, ist aber nicht statthaft.
III. Alexandrinische Editionen Die frühgriechische Lyrik scheint auf den ersten Blick ein Feld zu sein, auf dem die Anwendung neuphilologischer Methoden Erfolg verspricht. Denn es handelt sich in der Regel um zwar schriftlich konzipierte,33 aber mündlich vorgetragene Dichtung, die daher nicht anders als der deutsche Minnesang Merkmale der Mutabilität aufweisen kann. Daher verspricht die frühgriechische Lyrik, dass wir in ihren Hinterlassenschaften Spuren primärer Textvarianz finden, und tatsächlich gibt es Forscher, die Derartiges angenommen haben. Doch muss zugleich auf das überlieferungsgeschichtliche Faktum verwiesen werden, das die frühgriechische Lyrik grundsätzlich von der mittelalterlichen volkssprachigen Literatur trennt: Der weitaus größte Teil der direkt und indirekt überlieferten frühgriechischen Lyrik (d.h. durch Papyri und Zitate späterer Autoren) basiert mit hoher Wahrscheinlichkeit auf den Editionen, die alexandrinische Philologen im Hellenismus herstellten, im Falle der Sappho wahrscheinlich Aristophanes von Byzanz (2. Hälfte 3. Jh. v. Chr./Anf. 2. Jh.). Die Chancen, in der uns vor32
Peter Parsons: These Fragments We Have Shored against Our Ruin, in: The New Simonides: Contexts of Praise and Desire, hg. v. Deborah Boedeker, David Sider, Oxford 2001, S. 55–64, hier: S. 56. 33 Die Evidenz für schriftliche Produktion und Überlieferung frühgriechischer Dichtung ab dem achten Jahrhundert sammelt Joachim Latacz: Erschließung der Antike, Stuttgart 1994, S. 359–376. Sie besteht vornehmlich aus frühen Inschriften wie dem Nestorbecher, der Manuskripte epischer Dichtung vorauszusetzen scheint (allerdings nicht unzweifelhaft, da die Inschrift sich auch auf ein Element der mythischen Tradition anstatt auf eine bestimmte Passage aus der Ilias beziehen könnte; vgl. Laura Swift: Archilochus the ‘antihero’? Heroism, flight and values in Homer and the new Archilochus fragment (P. Oxy. LXIX 4708), in: JHS 132, 2012, S. 139–155, hier: S. 141 mit Anm. 15), aus dem Rückgang der Formelhaftigkeit in nachhomerischer Dichtung, aus Berichten über frühe Familienarchive (John Herington: Poetry into Drama. Early Tragedy and the Greek Poetic Tradition. Berkeley 1985, Appendix VI, B), aus Beispielen früher Intertextualität, aus der Hoffnung auf zukünftigen Ruhm und aus dem hohen Grad der Kunstfertigkeit und Verfeinerung (mit Recht betont von Herington, ebd., S. 41, der einen Unterschied zu Lyrik von oralen Kulturen sieht). Egert Pöhlmann: Einführung in die Überlieferungsgeschichte und Textkritik der antiken Literatur, Bd. i: Altertum, 2. Aufl., Darmstadt 2003, S. 15–17 ist der Meinung, dass lyrische Dichtung (vor allem Chorlyrik) in der Überlieferung nicht bis nach Alexandria gekommen wäre, wenn es keine frühe schriftliche Fixierung der Texte gegeben hätte. Es muss allerdings betont werden, dass dieser Punkt in der Forschung nicht unumstritten ist.
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liegenden Überlieferung auf Textvarianten hohen, d.h. vor den hellenistischen Editionen liegenden Alters zu stoßen, sind also sehr eingeschränkt. Man darf sie vor allem in Fällen erwarten, wo ein- und derselbe Text in einer Quelle überliefert ist, die auf einer alexandrinischen Ausgabe basiert, und in einem Textzeugen, der von dieser noch unberührt ist, etwa bei Zitat durch einen vor dem 2. Jh. v. Chr. schreibenden Autor oder bei Primärüberlieferung in einem vor dem 2. Jh. v. Chr. geschriebenen Papyrus. Eine solche Konstellation scheint nun mit dem erwähnten Kölner SapphoPapyrus aus dem frühen dritten Jahrhundert aufgetaucht zu sein, der 2004 und 2005 erstmals ediert wurde. Dieser bislang älteste bekannte Sappho-Papyrus vervollständigt ein Gedicht, das wir in Teilen schon durch einen rund 500 Jahre jüngeren Papyrus aus der zentralägyptischen Stadt Oxyrhynchos kannten. Die Gedichtanordnug dieses Oxyrhynchos-Papyrus scheint dem vierten Buch der Standardedition der sapphischen Gedichte zu folgen. Die Präsentation des Textes in dem frühen Kölner Papyrus zeigt freilich gewisse Merkmale, die wir auch für die alexandrinischen Ausgaben annehmen: Anordnung nach dem Metrum (dem Altersgedicht geht ein anderes im selben Metrum voraus; Gedichte dieses Versmaßes wurden wahrscheinlich im vierten Buch der alexandrinischen Edition gesammelt); an den Zeilenanfängen sind Paragraphoi zur Abtrennung von Disticha angebracht; ferner dient eine Coronis (ein Zeichen in Form eines Hakens) zur Bezeichnung von Gedichtanfängen. Deshalb hat man vermutet,34 es handle sich um eine von früher alexandrinischer Philologie beeinflusste Ausgabe, die später bei der Herstellung der autoritativen Ausgabe als Grundlage diente. Die Möglichkeit, im Kölner Papyrus auf primäre oder zumindest sehr alte, auf verschiedene Aufführungskontexte zurückgehende Textvarianz zu stoßen, wird durch einen anderen Umstand zugleich geschmälert: Der Kölner Papyrus weist Merkmale einer Anthologie auf, insofern ein enger thematischer Zusammenhang der erhaltenen Gedichte zu vermerken ist und auf das Altersgedicht ein lyrischer Text in einer anderen Hand folgt, der zwar metrisch und sprachlich an Sappho erinnert, aus metrischen und dialektalen Gründen aber nicht von ihr stammen kann. Wenn im neu gefundenen Papyrus also eine ‚kürzere Fassung‘ desselben Gedichts vorliegt, das im aus der hellenistischen Editionstradition stammenden Oxyrhynchus-Papyrus in längerer Form enthalten ist, könnte dies einfach das Resultat einer Kürzung gewesen sein, die einen Gedichtteil für das Thema der Anthologie herausschält. Das wäre auch eine Form der sekundären Textvarianz, aber doch nicht wirklich die Art, für die man sich aus Sicht der New Philology vorrangig interessiert, da es sich um eine (wenn auch mutwillige) Kürzung im Abschreibprozess handelte. 34
Gauthier Liberman: L’édition alexandrine de Sappho, in: I papiri di Saffo e di Alceo, hg. v. Guido Bastianini, Angelo Casanova, Florenz 2007, S. 41–65, hier: S. 50–52.
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IV. Sapphos Altersgedicht IV.1. Ein Paradefall für neuphilologische Ansätze Im Bereich der archaischen griechischen Lyrik sind traditionelle und ‚Neue‘ Philologie vor allem anlässlich dieses spektakulären Papyrusfundes aufeinander gestoßen: Der ‚Kölner Sappho-Papyrus‘ ergänzt ein bereits seit Längerem bekanntes – auf einem Oxyrhynchus-Papyrus überliefertes – Fragment, so dass zwölf weitgehend komplette oder doch mit einiger Wahrscheinlichkeit ergänzbare Verse hergestellt werden konnten. Was sich dabei allerdings auch zeigte: Der Kölner Neufund präsentiert das Gedicht sicher in einer Version, die um vier Verse kürzer ist, als man bisher – auf der Grundlage des Oxyrhynchus-Papyrus – angenommen hatte: Sappho fr. 58 Voigt (ed. Janko [Anm. 42], 269–270) ⊗
ὔμμεϲ τάδε Μοίϲαν ἰ]ο̣κ[ό]λ̣πων κάλα δῶρα, παῖδεϲ, ϲπουδάϲδετε καὶ τὰ]ν φιλάοιδον λιγύραν χελύνναν· ἔμοι δ’ ἄπαλον πρίν] π̣οτ̣ ̓ [ἔ]ο̣ντα χρόα γῆραϲ ἤδη κατέϲκεθε, λεῦκαι δ’ ἐγ]ένοντο τρίχεϲ ἐκ μελαίναν,
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βάρυϲ δέ μ ̓ ὀ [θ]ῦμο̣ϲ̣ πεπόηται, γόνα δ ̓ οὐ φέροιϲι, τὰ δή ποτα λαίψη̣ρ ̓ ἔον ὄρχηϲθ ̓ ἴϲα νεβρίοιϲι. τὰ ϲτεναχίϲδω θαμέωϲ· ἀλλὰ τί κεν ποείην; ἀ̣γ̣ήραον, ἄνθρωπον ἔοντ ̓, οὐ δύνατον γένεϲθαι. καὶ γάρ π̣[ο]τ̣α̣ Τίθωνον ἔφαντο βροδόπαχυν Αὔων,
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ἔρωι δε̣δά ̣ θ̣ειϲαν, βάμεν ̓ εἰϲ ἔϲχατα γᾶϲ φέροιϲα[ν, ἔοντα̣ [κ]ά̣λ̣ο̣ν καὶ νέον, ἀλλ ̓ αὖτον ὔμωϲ ἔμαρψε χρόνωι π̣ό̣λ̣ι̣ο̣ν̣ γῆραϲ, ἔχ̣[ο]ν̣τ̣ ̓ ἀθανάταν ἄκοτιν.
Quellen: Π1 = P. Oxy. 1787 fr. 1 (saec. iii p. C.); Π2 = P. Köln inv. 21351+21376 (saec. iii a. C.) „Ihr, Mädchen, übt Euch in diesen schönen Geschenken der veilchenbusigen Musen und in der gesangsliebenden hellstimmigen Lyra. Mir aber ergriff Alter schon die einstmals zarte Haut, weiß wurden die Haare aus schwarzen. Schwer ist mir das Herz gemacht, die Knie tragen nicht (mehr), die einstmals flink waren zum Tanzen, gleich Rehen. Dies bestöhne ich jetzt oft. Aber was kann ich tun? Alterslos, wenn man ein Mensch ist, kann man nicht werden. Denn einstmals, so sagte man, habe den Tithonos die rosenarmige Eos, von Eros belehrt (?), gebracht zu den äußersten Regionen der Erde, (Tithonos), der jung und schön war, doch gleichwohl ergriff ihn graues Alter mit der Zeit, obwohl er eine unsterbliche Gattin hatte.“
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In P. Oxy. 1787 fr. 1 folgt darauf (ed. Voigt 1971, dort fr. 58, 23–26) ]ι̣μέναν νομίϲδει
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]αιϲ ὀπάϲδοι 15
ἔγω δὲ φίλημμ’ ἀβροϲύναν,
] τοῦτο καί μοι
τὸ λάμπρον ἔρωϲ ἀελίω καὶ τὸ κάλον λέλογχε. Quellen: I = P. Oxy. 1787, II = Ath. 687 b (ll. 15–6) „glaubt … (möge) bringen … ich aber liebe die Üppigkeit … und mir hat die Liebe zur Sonne Anteil am Strahlenden und Schönen gegeben.“
Zunächst lief die Diskussion über diesen Befund in den Bahnen der traditionellen Philologie, indem man fragte, ob das bisher angenommene Gedichtende oder das neuerdings durch den Kölner Papyrus bezeugte als original anzusehen sei.35 Dann meldeten sich (soweit ich sehe, erstmals auf einem Panel der APATagung in San Diego 200736) Forscher zu Wort, die dafür plädierten, in den beiden unterschiedlich langen Fassungen mehr oder weniger gleichberechtigte Versionen und damit einen altphilologischen Musterfall für die Betrachtungsweise der ‚New Philology‘ zu sehen. Zudem gibt es ähnlich gelagerte Fälle auch im deutschen Minnesang. Ich verweise auf Kühnels Annahme, die Schlussstrophe C 108 in Neidhart SL 23, die von der älteren Forschung für unecht betrachtet wurde, sei „eine ursprünglich wohl an eine bestimmte Aufführungssituation gebundene Zusatzstrophe, die der Vortragende –wer eigentlich sonst, wenn nicht Neidhart? – bei entsprechender Reaktion des Publikums auf seinen Vortrag … als ‚Zugabe‘ parat hatte“.37 Anna Kathrin Bleuler ([Anm. 10], S. 229–30, vgl. S. 249) nimmt dies als Beleg dafür, „dass für das Variieren (mancher) der Lieder ein bestimmtes Arsenal an Jokerelementen zur Verfügung“ gestanden haben könnte. Sie folgert: „Das Dichten mit Neidhartschen Versatzstücken wäre dann nicht erst das Werk irgendwelcher Nachahmer aus dem 14. und 15. Jahrhundert, sondern könnte bereits von Neidhart selbst praktiziert worden sein.“38 Auch Starkey und Wandhoff rechnen mit der Möglichkeit, dass verschieden lange Versionen von
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Einen Abriss der Debatte gibt Luca Benelli: Sapphostudien zu ausgewählten Fragmenten; Teil 2, Paderborn 2017, S. 269–278. Er hält die Kurzversion für original. 36 Die Vorträge sind enthalten in The New Sappho on Old Age, hg. v. Ellen Greene, Marilyn Skinner, Washington 2009. 37 Jürgen Kühnel: Aus Neidharts Zettelkasten. Zur Überlieferung und Textgeschichte des Neidhardtschen Sommerliedes 23, in: „Dâ hœret ouch geloube zuo“. Überlieferungsund Echtheitsfragen zum Minnesang, hg. v. Rüdiger Krohn, Wulf-Otto Dreeßen, Stuttgart 1995, S. 103–137, hier: S. 117. 38 Anders gelagert ist der Fall in Neidhart SL 21, wo es um zwei alternative Schlussstrophen geht, Bleuler [Anm. 10], S. 226–229.
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Nemt, frouwe, disen kranz alle auf ein planvolles Vorgehen von Walther von der Vogelweide selbst zurückgehen.39 IV.2. Bezeugung zweier Varianten? Zunächst sei allerdings für das Sapphogedicht der Überlieferungsbefund noch einmal genauer geprüft: Denn hier zeigt sich bereits, dass die Ausgangslage für den neuphilologischen Ansatz ungünstiger ist, als es unser bisheriges Referat nahegelegt haben mag. Während die Kurzversion im Kölner Papyrus sicher bezeugt ist, bezeugt der Oxyrhynchus-Papyrus die Langversion nicht, er schließt sie nur nicht aus. Denn da der linke Kolumnenrand dort abgerissen ist, sind mögliche Coronides verloren (d.h. Zeichen, wie sie auch sonst in diesem Papyrus zur Bezeichnung eines Gedichtanfangs verwendet werden). Das bedeutet aber zugleich, dass auch im Oxyrhynchus-Papyrus die Kurzversion überliefert sein konnte.40 Wenden wir ‚Ockhams Rasiermesser‘ an, so ist die einfachste Interpretation des Befundes, dass beide Papyri die Kurzversion hatten, diese also als überliefert gilt, und dann in einer Edition als der Text Sapphos gedruckt werden kann, wenn nicht ein Widerspruch entsteht zu dem, was wir als Prinzipien von Sapphos Dichten rekonstruieren können. Ein solcher Widerspruch ist indes nicht erkennbar: Dem von den Ersteditoren des Kölner Papyrus und anderen Interpreten geäußerten Einwand gegenüber, dass der Tithonos-Mythos als Gedichtende mit V. 12 zu abrupt wirke, lässt sich die Technik des offenen Schlusses durch Hinweis auf Parallelen in anderer archaischer Dichtung sowie bei Horaz, der die äolischen Dichter imitiert,41 als möglich nachweisen.
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„Der Autor selbst könnte also die Spanne, die von einer dreistrophigen Pastourelle (oder einem ‚Mädchenlied‘), die in einer entsprechenden Aufführung zum vierstrophigen Tanzlied und in wieder einer anderen Situation zum fünfstrophigen, selbstreflexiven ‚Traumlied‘ wird, planvoll vorausgesehen haben.“ (Starkey und Wandhoff [Anm. 14], S. 68). 40 Auch der weitere Verlauf von P. Oxy. 1787, fr. 1 und 2 (zur Unsicherheit der erstmals von Hunt vorgenommenen Verbindung dieser beiden Teilfragmente vgl. Jürgen Hammerstaedt: The Cologne Sappho – Its Discovery and Textual Constitution, in: Greene/Skinner [Anm. 36], S. 17–40, hier: S. 24) kann nicht als Indiz dafür angeführt werden, wie das Tithonos-Gedicht in diesem Papyrus abgetrennt wurde. Denn, wie Hammerstaedt (ebd., S. 24) noch einmal ausführlich demonstriert hat, muss der Rest eines horizontalen Strichs unter Vers 16 nicht als Rest einer Coronis (und damit eines Gedichtendes) interpretiert werden. Genauso gut kann es sich um den Rest einer Paragraphos handeln, die Strophenpaare abtrennt; ließe sich ein Gedichtende an dieser Stelle nachweisen, dann verlöre ein weiteres Gedichtende nach Vers 12, wie es in P. Köln vorliegt, an Wahrscheinlichkeit, weil der Tithonosode dann ein mit vier Versen sehr kurzes Gedicht folgte. 41 Hans Bernsdorff: Offene Gedichtschlüsse, in: ZPE 153, 2005, S. 1–6 und Gordon Fain: A Lesbian ending in the „Odes“ of Horace, in: CQ n. s. 57, 2007, S. 318–321.
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IV.3. Struktur der Kurzversion deutet auf Abgeschlossenheit Zudem haben verschiedene Interpreten gezeigt,42 dass die Kurzversion durch einige Züge ihrer Struktur abgeschlossen wirkt:43 Zunächst lässt sich eine Teilung in zwei Abschnitte mit jeweils sechs Versen feststellen. Jeder von beiden ist von einem Gegensatz geprägt: Der erste von Jugend vs. Alter (repräsentiert durch die παῖδες [paídes, ‚Mädchen‘] und die Sprecherin), der zweite von Unsterblichkeit mit Alterslosigkeit vs. Unsterblichkeit ohne Alterslosigkeit (Eos und Tithonos).44 Jeder dieser beiden Teile ist syntaktisch so aufgebaut, dass jeweils ein Distichon vier enger zusammengehörigen Versen voransteht. 1–2 Anrede an die Gruppe von παῖδες (paídes, ‚Mädchen‘) 3–6 Katalog der Alterssymptome der Sprecherin 7–8 Seufzen als Resümee, mit allgemeiner Einsicht in die Unentrinnbarkeit des Alters 9–12 Tithonos-Mythos Beide Teile erhalten ferner eine ähnliche Struktur dadurch, dass der zweite ebenso wie der erste Teil mit einem Vergleich schließt (dort mit dem TithonosExempel, hier mit ἴσα νεβρίοισιν, ísa nebríoisin, ‚Kitzlein gleich‘). Dabei zeigen Anfang und Ende der Verse nach Janko Bezugnahmen, die eine Ringkomposition bewirken: So taucht am Anfang, mit der Erwähnung der Musen45, und am Ende durch ἀθανάταν ἄκοιτιν (athanátan ákoitin, ‚unsterbliche Ehegattin‘, von Eos) das Motiv der unsterblichen Göttin auf. Dabei ist jugendliche Schönheit jeweils durch ein Epitheton charakterisiert, das Blumenmetaphorik benutzt.46 42
Zuletzt Richard Janko: Tithonus, Eos and the cicada in the Homeric Hymn to Aphrodite and Sappho fr. 58, in: The Winnowing Oar – New Perspectives in Homeric Studies: Studies in Honor of Antonios Rengakos, hg. v. Christos Tsagalis, Andreas Markantonatos, Berlin/New York 2017, S. 267–295; vgl. schon Martin Steinrück: Sapphos Alterslied und kein Ende, in: QUCC 86, 2007, S. 89–94 und Rudolf Führer in Hans Bernsdorff: „Das beseufze ich oft …“ – Antiker Papyrus neu gefunden: Sapphos lyrische Klage über das Alter, in: Forschung Frankfurt 2/2007, S. 102–104, hier: S. 103. 43 Diese wurde auch von Vertretern der zwei Versionen anerkannt: Boedeker [Anm. 19], S. 74, spricht von „This well-crafted, memorable set of six couplets on old age“, übrigens mit Verweis auf Richard Janko: Sappho revisited, in: TLS vom 23. 12. 2005, S. 19–20, einer kürzeren Vorabversion von dem, was Janko [Anm. 42] jetzt ausführlich darlegt. 44 Vgl. Janko [Anm. 42], S. 274, mit Verweis auf die Verbindung von ἀ θά να τ ος (athánatos, ‚unsterblich‘) und ἀ γ ή ρ α ο ς (ag4́raos, ‚alterslos‘) in Hymn. Hom. Aphr. 224, 240. 45 Trotz dem Fehlen des Anfangs von Z. 1 ist ihr Auftauchen dort sicher, vgl. Felix Budelmann: Greek Lyric. A Selection, Cambridge 2018, S. 149. 46 Janko [Anm. 42], S. 274, weist noch auf eine Reihe weiterer Wort- und Motivwiederholungen zwischen beiden Hälften des Gedichts hin; diese tragen aber nicht zur Ringkomposition bei.
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IV.4. Anakreon PMG 395 zeigt frühe Rezeption der Kurzfassung Im Lichte der von Janko vorgeschlagenen Strukturanalyse zeigt sich nun, dass die Kurzfassung relativ früh, nämlich im 6. Jahrhundert, rezipiert wurde:47 Dass Anakreons Altersklage in PMG 395 wahrscheinlich direkt auf Sapphos Altersgedicht Bezug nimmt, ist schon längst gesehen worden.48 Was allerdings im Zusammenhang mit der Gedichtabtrennung noch nicht hinreichend beachtet worden zu sein scheint, ist, dass Anakreons Gedicht, setzt man voraus, dass Stobaios es vollständig zitiert hat,49 ebenfalls 12 Verse umfasst,50 also ebenso viele wie Sapphos Altersgedicht in der Kurzfassung. Dabei begegnet ein ähnlicher Ausdruck der Klage jeweils in Vers 7, also zu Beginn der zweiten Hälfte: Anakreon, PMG 395 (ed. Bernsdorff) ⊗
πολιοὶ μὲν ἧμιν ἤδη κρόταφοι κάρη τε λευκόν, χαρίεσσα δ ̓ οὐκέτ ̓ ἥβη πάρα, γηραλέοι δ ̓ ὀδόντες,
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γλυκεροῦ δ ̓ οὐκέτι πολλὸς βιότου χρόνος λέλειπται. διὰ ταῦτ ̓ ἀνασταλύζω θαμὰ Τάρταρον δεδοικώς· Ἀίδεω γάρ ἐστι δεινὸς
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μυχός, ἀργαλῆ δ ̓ ἐς αὐτὸν κάτοδος· καὶ γὰρ ἑτοῖμον καταβάντι μὴ ἀναβῆναι.
Quellen: Stob. 4. 51. 12 (5. 1068 Hense): Ἀνακρέοντος· πολιοὶ––– ἀναβῆναι. P. Mich. inv. 3250c r.col.i.7: πολιοὶ–––ἤδη
47
Dies spricht gegen die Hypothese von Boedeker [Anm. 19], S. 79–80 (im Anschluss an Nagy), dass die Kurzversion für Symposia im klassischen Athen hergestellt wurde. 48 Einen Überblick über die detaillierten Bezüge, die auf eine Einzeltextreferenz deuten, gibt jetzt Budelmann [Anm. 45], S. 200. 49 Vers 1 als Einleitungsvers des Gedichts wird neuerdings bestätigt durch eine Liste von Gedichtanfängen auf einem Papyrus des 2. Jh. v. Chr., vgl. Hans Bernsdorff: Notes on Mich. inv. 3498 + 3250b recto, 3250a and 3250c recto (list of lyric and tragic incipits), in: APF 60, 2014, S. 3–11, hier: S. 7. 50 Als anaklastische ionische Dimeter und nicht als Tetrameter analysiert, wofür es unabhängige strukturelle Gründe gibt.
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„Grau (sind) uns schon die Schläfen und das Haupt weiß, reizende Jugend (ist) nicht mehr da, alt sind die Zähne, 5
vom süßen Leben ist nicht mehr viel Zeit übriggelassen. Deswegen stöhne ich häufig, den Tartaros fürchtend: Denn furchtbar ist des Hades
10
Innerstes, schmerzvoll ist in ihn der Abstieg: denn es ist sicher für einen, der abgestiegen ist, nicht mehr aufzusteigen.“
Was in den Versen 9–12 bei Anakreon folgt, erscheint zunächst als ausführlichere Entsprechung des Adynatons in Vers 8 bei Sappho. Dies geschieht aber nicht in Form einer abstrakten Formel, sondern in einem konkreten Bild, dem der Katabasis ohne Rückkehr. Dies evoziert, ohne dass ausdrücklich darauf verwiesen wäre, Mythen, in denen eine Katabasis mit Wiederkehr als übermenschliche Leistung von Helden geschildert wird (vor allem Herakles). Die Verse 9–12 bei Anakreon haben somit einen mythologischen Beiklang, der sie auch als Pendant des Tithonos-Exempels bei Sappho erscheinen lässt.51 In PMG 395 würde also ein Beispiel für eine frühe Adaptation des Tithonos-Gedichtes mit einem ‚offenen Schluss‘ stehen.52 Wie ich sehe, vermutet jetzt Budelmann53 in seinem jüngst erschienenen Kommentar innerhalb eines Vergleichs zwischen Sapphos und Anakreons Altersgedichten, dass Letzterem wahrscheinlich die Kurzversion vorlag. Bei seiner Diskussion der verschiedenen Versionen (in der er letztlich die Kurzversion bevorzugt) führt Budelmann dieses intertextuelle Argument allerdings nicht an.
51
Vgl. Hor. c. 4,7, wo die Katabasis des Theseus (unter Betonung der nicht gelungenen Befreiung des Perithoos) den ‚offenen Schluss‘ der Ode bildet, deren strukturelle Ähnlichkeit mit Sapphos Altersgedicht Fain 2007 hervorgehoben hat. 52 Soll die Technik des ‚offenen Schlusses‘, die das Gedicht nicht zum Ausgangspunkt ‚zurückkehren‘ lässt, in Anakreons μὴ ἀναβῆναι (m4́ anab4́nai, „nicht wieder hinaufgehen“) reflektiert werden? 53 Budelmann [Anm. 45], S. 200.
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IV.5. Impliziter positiver Schluss der Kurzversion (Geißler/Janko) Im selben Beitrag hat Janko eine von Claudia Geißler54 und ihm selbst früher vertretene Interpretation des Tithonos-Mythos genauer entwickelt, die für unsere Fragestellung ebenfalls von Bedeutung ist. Nach einer seit dem 5. Jh. (durch Hellanikos von Mytilene) bezeugten, also erst nach Sappho auftauchenden Version des Mythos schrumpft der alternde Tithonos und wird schließlich zu einer Zikade, die ewig singt (das Tier galt als unsterblich). Verschiedene Indizien machen wahrscheinlich, dass der Sappho gewiss bekannte homerische Aphrodite-Hymnos diese Metamorphose voraussetzte,55 aber nicht erwähnte, weil sie nicht in den argumentativen Kontext passte und epische Texte wie der Aphrodite-Hymnos Metamorphosen-Darstellungen mieden56. Sappho und ihr Publikum kannten also den weiteren Verlauf des Mythos. Unter Verweis auf die häufige Reflexion über den Nachruhm in Sapphos Gedichten können Janko und Geißler plausibel machen, dass auch im vorliegenden Gedicht der Tithonos-Mythos erzählt wird, um implizit die Hoffnung auf die Unsterblichkeit des Gesangs trotz Alter und Sterblichkeit anzudeuten. Später wird der hellenistische Dichter Kallimachos sich wünschen, wie eine Zikade sein Alter ‚auszuziehen‘, und damit das Zikadenmotiv – wahrscheinlich im konkreten Gedanken an Tithonos – poetologisch deuten. Der auf den ersten Blick so pessimistische Mythos enthält also eine positive Wendung, jedoch eine, die nach Deutung von Janko und Geißler Sapphos Publikum selbst entwickeln musste. IV.6. Möglichkeit der Langversion? All dies erweist die Kurzversion des Gedichts als wohldurchdachte Komposition, die von Anakreon in PMG 395 zudem wahrscheinlich früh bezeugt wird.
54
Janko [Anm. 42] und Claudia Geißler: Der Tithonosmythos bei Sappho und Kallimachos. Zu Sappho fr. 58 V., 11–22 und Kallimachos, Aitia fr. 1 Pf., in: Göttinger Forum für Altertumswissenschaft 8, 2005, S. 105–114. 55 Janko [Anm. 42], S. 267–268. Die Metamorphosensage scheint zudem in der nordöstlichen Aegaeis ihren Ursprung gehabt zu haben, wie aus der Herkunft des Hellanikos aus Lesbos geschlossen wurde, ebd., S. 285–286. 56 Janko [Anm. 42], S. 283–284.
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Aber wir sollten andererseits die Langversion nicht voreilig verwerfen, obwohl es für sie, wie gesagt, keine Bezeugung gibt.57 Denn immerhin kann, wie gezeigt, durch die Überlieferungslage in P. Oxy. 1787 nicht ausgeschlossen werden, dass sie dort bezeugt war, und tatsächlich lassen sich in den zusätzlichen vier Versen Bezugnahmen auf die vorausgehenden feststellen: Die „Liebe zur Sonne“ und „das Strahlende“ würde Eos als Göttin des Sonnenaufgangs aufnehmen und καλόν (kalón, ‚das Schöne‘) in V. 16 würde auf καλόν (kalón, ‚schön‘) in 1 zurückweisen. In den Schlussversen würde sich Sappho also ähnlich wie möglicherweise in fr. 31 Voigt nach den dunklen Gedanken des Tithonos-Exempels an das Schöne der Gegenwart erinnern und darin Trost finden.58
57
Mario Puelma, Francesca Angiò: Sappho und Poseidippos: Nachtrag zum SonnenuhrEpigramm 52 A.-B. des Mailänder Papyrus, in: ZPE 152, 2005, S. 13–15 (ihnen folgt z.B. André Lardinois: The New Sappho Poem (P. Köln 21351 and 21376). Key to the old Fragments, in: Greene/Skinner [Anm. 36], S. 41–57, hier: S. 46) sehen Ähnlichkeiten zwischen der Langversion und einem Epigramm des frühhellenistischen Dichters Poseidipp (52 Austin/Bastianini), wobei Sapphos τοῦτο καί μοι | τὸ λάμπρον ἔρωϲ ἀελίω καὶ τὸ κάλον λέλογχε („und mir hat die Liebe zur Sonne Anteil am Strahlenden und Schönen gegeben“, V. 15–16 der Langversion) aufgenommen würde in dem Wunsch, das junge Mädchen Aste möge auf einem Grab ihres Vaters bis ins hohe Alter die Zeit ablesen (5–6): ἀλλὰ σὺ γῆρας ἱκοῦ, κούρη· παρὰ σήματι τούτῳ | σωρὸν ἐτέων μέτρει τὸν καλὸν ἠέλιον („Doch du, Mädchen, erlange ein hohes Alter: bei diesem Grabmal messe ab die schöne Sonne einen Haufen Jahre lang“). Poseidipp scheint aber überhaupt eine Tendenz zu haben, die Junktur von καλός (kalós, ‚schön‘) und ἠέλιος (4élios, ‚Sonne‘) an das Ende von Epigrammen zu setzen (13,4; 16,6 Austin-Bastianini); und ein Unterschied zu Sappho besteht darin, dass der Sprecher das hohe Alter nicht in ungünstigem Licht erscheinen lässt, sondern es dem jungen Mädchen sogar wünscht (pace Puelma/Angiò, ebd., S. 14, die von den „für eine κούρη (koúr4) [‚Mädchen‘, H. B.] im Begriff γῆρας (g4́ras) [‚Alter‘] normalerweise mitschwingenden negativen Aspekte[n]“ sprechen). Die Junktur γῆρας ἱκέσθαι (g4́ras hikésthai, ‚ein hohes Alter erreichen‘) ist an sich neutral (vgl. Theogn. 927, Bakchyl. fr. 25.2. Maehler). Auch kann ich anders als Puelma/Angiò in der Junktur σωρὸν ἐτέων (s6rón eté6n, „Haufen von Jahren“) nichts Negatives erblicken. Der Wunsch nach hohem Alter ist vielmehr im Zusammenhang der Sektion der Ἐπιτύμβια (Epitýmbia, ‚Grabgedichte‘) zu sehen, in der das Epigramm auf der Mailänder Papyrusrolle steht: hier dominiert das Motiv des vorzeitigen Todes (mors immatura, in den Epigrammen 44, 49, 50, 53, 54, 55, 56, 57 Austin/Bastianini), aber auch das des glücklich erreichten Alters (45, 46, 47, 58, 59, 60, 61). 58 Zu dieser möglichen Strukturähnlichkeit der Langfassung des Altergedichts und fr. 31 Voigt vgl. Lardinois [Anm. 57], S. 48–51: Ein Katalog von (erotischen) Leidenssymptomen kulminiert am Ende der vierten Strophe in einem Beinahe-Tod (wobei 16 φαίνομ᾿ [phaínom‘] ‚ich scheine (mir)‘ ringkompositorisch auf 1 φαίνεται [phaínetai] ‚es scheint‘ (mir) zurückverweist); in der fünften Strophe mittels einer gnomischen Wendung dann ruft sich die Sprecherin zum Aushalten auf. Dabei ist aber zu bedenken, dass von der fünften Strophe (wenn es sie gab, vgl. Steinrück [Anm. 42], S. 93) nur der erste Vers überliefert ist, der am Ende überdies verderbt ist. Eine poetologische Deutung der Schlussverse des Altersgedichts im Zusammenhang der Langfassung hatte René Nünlist: Poetologische Bildersprache in der frühgriechischen Dichtung, Cambridge 1998, S. 47, – also vor der Entdeckung des Kölner Papyrus – vorsichtig vorgeschlagen; sie ist ganz vage.
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Ist nun die Existenz einer solchen Langfassung denkbar? Ich will diese Frage differenziert nach den oben gesonderten Arten der Textvarianz diskutieren:59 Für die Annahme einer primären Textvarianz (i: gleichrangige Fassungsvarianten) könnte zunächst vielleicht genau der Zug des Gedichts angeführt werden, der Interpreten nach der Auffindung des Kölner Papyrus so frappiert hat: die Offenheit des Schlusses. Könnte nicht genau darin ein Beispiel für Mutabilität im eben skizzierten Sinne liegen? Das Gedicht lüde damit gerade zu einer Erweiterung ein, und Sappho selbst hätte die Erweiterung möglicherweise gleich mitgeliefert.60 Aber ist das wirklich ein plausibles Szenario? Sappho hätte dann die kurze Version geschrieben, in der das Gedicht nach dem Tithonos-Exempel zwar offen endet, aber doch zugleich auch Züge eines Abschlusses bekommt. Die Offenheit würde dann den weiteren Verlauf des Tithonos-Mythos – Verwandlung in eine Zikade und ewigen Gesang – evozieren und damit – folgen wir Geißler und Janko – die Hoffnung auf die Unsterblichkeit in der Dichtung. Die Langversion formuliert dagegen explizit eine positive Schlusswendung – freilich eine andere als die, die durch den weiteren Verlauf des Tithonos-Mythos nahegelegt wird, sodass in der Langversion der Gedanke an die Unsterblichkeit in der Dichtung keine Rolle spielt (der Rezipient hätte durch das Fehlen eines offenen Schlusses auch keine Gelegenheit, auf diesen Gedanken zu kommen). Sollen wir das wirklich annehmen? Sappho hätte den Tithonos-Mythos für die eine Version ausgewählt, weil sie eine positive, poetologisch begründete Wendung enthält, um diese für die andere Version durch eine explizite, anders geartete zu ersetzen?61 Keiner der mir bekannten Vertreter der Zwei-Versionen-Hypothese vertritt denn auch ausdrücklich primäre Textvarianz. Vielmehr vollzieht man die Differenzierung zwischen primär und sekundär gar nicht (so Boedeker [Anm. 19]), oder man nimmt eine Anpassung an ein späteres kulturelles Niveau an, also sekundäre Textvarianz: 59
Typ (iii) Reproduktionsfehler (Abschreibfehler; Fehler, die auf die mündliche Wiedergabe des Textes zurückgehen) ließe sich als Erklärung natürlich auch denken, und zwar ganz gleich, ob man meint, dass die vier zusätzlichen Verse versehentlich fortgelassen wurden oder durch falsche Gedichtabtrennung der Kurzfassung zugeschlagen wurden. 60 Im Sinne von Günther Schweikle: Minnesang, 2. Aufl., Stuttgart 1995, S. 23 (Kritik an der Lachmann-Schule): „Nicht wenigen Texteingriffen liegt überdies die z.T. offen ausgesprochene (fragwürdige) Meinung zugrunde, jedes Lied sei auf einen genau bestimmbaren Sinn hin ausgerichtet – und dies ohne Rücksicht darauf, daß – wie in der Neuzeit auch – der mittelalterliche Autor das Sinngefüge letztlich offen gehalten haben könnte und so wechselnde Zuhörer ihre Vorstellungen einbringen konnten, also in der Rezeption Deutungen entstehen mochten.“ 61 Vielleicht ist mir hier erlaubt, einen Vergleich aus meinem unmittelbaren Erfahrungsbereich anzuführen: Ein Sappho-Gedicht ist kein modularisierter Studiengang, in dem ein- und die dieselbe Lehrveranstaltung Teil eines Moduls x und Teil eines Moduls y sein kann.
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Nagy 200962 nimmt an, dass die Kurzversion in athenischen Symposia der klassischen Zeit entstanden sei. Edmunds63 weist darauf hin, dass in der archaischen Lyrik selbst (Pindar habe man dabei auszuklammern, weil seine Lyrik von der monodischen Sapphos verschieden sei) mythische Exempla ohne Rückführung auf die primäre Erzählebene selten seien, sodass die Langversion das ist, was das zeitgenössische Publikum erwarte. Die Deutungen der Kurzversion entsprächen einem modernen, von Horaz geprägten Umgang mit dem Mythos, der nicht auf Sappho zurückprojiziert werden dürfe. Aus diesem Grund schließt er sich, was die Erklärungen für die Entstehung der Kurzversion angeht, nicht Nagy an, der Lang- und Kurzversion verschiedenen Aufführungskontexten zuschreibt. Vielmehr folgt er Lardinois und Clayman, welche die Kürzung in der schriftlichen Überlieferung lokalisieren: Nach Clayman64 stammt der Kölner Papyrus aus einem hellenistischem Florilegium, das wie die Epigramme des etwa zeitgenössischen Poseidipp thematisch angeordnet war, etwa über Alter, Sterblichkeit und Gesang. Hier habe die Kurzversion ausgereicht. Die Anpassung an ein späteres kulturelles Milieu kann in diesem Fall theoretisch in zwei Richtungen verlaufen sein: (a) Die Langversion ist original und die Kurzversion stellt die spätere Adaptation dar. Wenn meine Deutung zutrifft, dass Anakreon PMG 395 die Kurzversion imitiert, dann wäre sie nicht erst im klassischen Athen (so Nagy) oder erst im Hellenismus (Lardinois und Clayman) entstanden, sondern spätestens ca. 70 Jahre nach Sappho. Die Beobachtungen zur strukturellen Abgeschlossenheit der Kurzversion und der Wirkung des offenen Schlusses wären eine interpretatorische Illusion, oder man müsste annehmen, dass sie erst durch die Kürzung bewirkt worden sind. Aber jeder, der von den vorgetragenen Beobachtungen überzeugt ist, wird schwerlich annehmen, dass diese Eigenschaften des Gedichts nicht schon bei seiner ursprünglichen Schöpfung im Blick waren. Allerdings ist dieses Szenario immerhin noch leichter vorstellbar (und wird daher von allen neuphilologisch argumentierenden Interpreten explizit oder implizit angenommen) als die umgekehrte Entstehungsrichtung, zu der ich jetzt komme: (b) Die Kurzversion ist original und die Langversion durch einen späteren Zusatz, möglicherweise von einem in Sapphos Stil dichtenden Sänger-Dichter, entstanden.65 Allerdings sind keine metrischen, sprachlichen oder sonstigen Abweichungen in dem freilich kurzen und fragmentarischen Textstück zu be62
Gregory Nagy: The „new Sappho“ reconsidered in the light of the Athenian reception of Sappho, in: Greene/Skinner [Anm. 36], S. 176–199. 63 Lowell Edmunds: Tithonus in the „new Sappho“ and the narrated mythical exemplum in archaic Greek poetry, in: Greene/Skinner [Anm. 36], S. 58–70, hier: S. 66–67. 64 Dee Clayman: The New Sappho in a Hellenistic Poetry Book’, in: Greene/Skinner [Anm. 36], S. 131–146. 65 Immerhin zeigt der ‚lyrische Text‘, der im Kölner Papyrus auf die Kurzversion folgt, dass es eine solche Tradition gegeben hat, ebenso wie die äolischen Gedichte Theokrits eid. 29–31.
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obachten. Oder wir nehmen die Vereinigung mit einem ursprünglich selbständigen Sappho-Gedicht an. Bei jeder dieser beiden Annahmen würde man den Text in der Edition allerdings in derselben Weise präsentieren wie im Falle der Annahme, dass in beiden Papyri die Kurzversion stand. Insgesamt sind beide hier dargestellten Szenarien einer Sekundärvarianz erheblich unwahrscheinlicher als die Annahme, dass gar keine Varianz vorliegt, d.h. der Kölner Papyrus das Gedicht in seinem originalen Umfang überliefert und die vier in der ‚Langversion‘ hinzugestellten Verse nicht zum Altersgedicht gehören – ein Befund, dem der Oxyrhynchus-Papyrus, wie vorgeführt, nicht widerspricht.
V. Anakreon V.1. Primärvarianz in PMG 396? Im Folgenden sei nun ein weiteres Fragment der frühgriechischen Lyrik betrachtet, für das die jüngere Forschung Primärvarianz angenommen hat. Es ist, wie dem beigefügten Quellenapparat zu entnehmen ist, unter anderem in Athenaios’ Deipnosophistae und einem kaiserzeitlichen Mosaik überliefert. Ein Papyruskommentar zu Anakreons Lyrik aus dem 2. Jh. n. Chr. bezeugt neuerdings, dass das Gedicht über den vierten Vers hinausging: Anakreon, PMG 396 (ed. Bernsdorff): ⊗
φέρ’ ὕδωρ, φέρ’ οἶνον, ὦ παῖ, φέρε δ’ ἀνθεμόεντας ἡμὶν στεφάνους ἔνεικον, ὡς μή πρὸς Ἔρωτα πυκταλίζω.
με̣θυ[ „Wohlan, bring uns Wein, bring uns Wasser, bring uns Kränze aus Blumen, damit ich nicht gegen Eros boxe. … betrunken …“ Quellen: Ath. epit. 11.782a (codd. CE) ἔθος δ῾ ἦν πρότερον ἐν τῷ ποτηρίῳ ὕδωρ ἐμβάλλεσθαι, μεθ’ ὃ τὸν οἶνον. … Ἀνακρέων· ‘φέρ’ ὕδωρ–––πυκταλίζω’. inscr. Augustoduni inventa (SEG 26.1213) φέρ’ ὕδωρ–––πυκταλίζω. [Demetr.] Eloc. 5 (p. 4 Radermacher = p. 346 Innes) οὐκ ἂν τὴν Ὁμήρου Ἰλιάδα πρεπόντως τις γράψει εν τοῖς Ἀρχιλόχου βραχέσιν … οὐδὲ τοῖς Ἀνακρέοντος, τὸ· ‘φέρ’ ὕδωρ, φέρ’ οἶνον, ὦ παῖ’· μεθύοντος γὰρ ὁ ῥυθμὸς ἀτεχνῶς γέροντος, οὐ μαχομένου ἥρωος. Anon. P. Oxy.220.col.vii.3–6, (= Heph. p. 404 Consbruch) [ἀνα]κρεόντειόν ἐστ[ι] [μέ]τρον τὸ τοιοῦτο· ‘[φέρ’] ὕδωρ, φέρ’ οἶνον, ὦ [παῖ]’. Orion 62.30 Ἀνακρέων· ‘ὡς δὴ πρὸς Ἔρωτα πυκταλίζω’. Et. Gen. B p. 26.5 Calame Ἀνακρέων, οἷον· ‘ὡς δὴ (ὡς ἤδη cod.) πρὸς Ἔρωτα πυκταλίζω’. EM 345.39 πυκταλίζω, Ἀνακρέων. Eust. Il. 1322.52–3 (= 4.809.7–9 van der Valk) ἐξ αὐτοῦ (sc. τοῦ πύκτου) δὲ παράγωγον ῥῆμα τὸ πυκταλίζειν, οὗ χρῆσις παρὰ Ἀνακρέοντι, οἷον· ‘ὡς μὴ πρὸς τὸν Ἔρωτα πυκταλίζω’. Cf. P.Oxy.3722.fr.15.col.ii.1 φέρ᾿ ὕδωρ, φέρ᾿ οἶν[, col.ii.10 με̣θυ[
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Textkritischer Apparat: 2 δ᾿ C: om. E | -όεντας lapis, Weber: –εῦντας CE | ἡμὶν Bergk 1834: ἡμῖν CE 3 ὡς μὴ CE, Eust., lapis: ὡς δὴ Orion: ὡς ἤδη Et. Gen.: ὡς ἂν coni. Dobree μέθυσ̣[ο]ν tempt. Bernsdorff
Eines der am heftigsten umstrittenen Probleme des Fragments ist die Frage, ob der abschließende Finalsatz positiv oder negativ ist, d.h. ob ὡς μή (h6s m4́, ‚damit nicht‘) oder ὡς δή (h6s d4́, ‚damit also‘) zu lesen ist. Für unseren Zusammenhang ist interessant, dass Giovanni Maria Leo, der sich gewöhnlich eher auf traditionellen textkritischen Bahnen bewegt, in seinem 2015 erschienenen Anakreon-Kommentar an dieser Stelle eine Variante annimmt, mit der die Verse verschiedenen Aufführungskontexten angepasst werden können. Dabei hält er eine sekundäre Variante, durch die der Text von späteren Rezipienten angepasst wurde, für wahrscheinlicher, scheint aber eine primäre, d.h. von Anakreon selbst angelegte Variante, nicht auszuschließen (Giovanni Maria Leo: Anacreonte: I frammenti erotici, Rom 2015, S. 141–142). Ich möchte daher hier die Möglichkeiten in ihren einzelnen Aspekten kurz durchspielen. Dabei ist zunächst die Frage, was der Inhalt des Finalsatzes – das ‚Boxen gegen Eros‘ eigentlich bedeutet (die Metapher mutet uns ja durchaus fremdartig an). Drei Bedeutungen sind in der Diskussion bislang angenommen worden: (1) Im Bild dominiert die Idee des Widerstands gegen Eros; als Parallele lässt sich Sophokles, Trachinierinnen 441–442 anführen: (Deianeira spricht über Iole, deren Liebe zu Herkules ihr entschuldbar scheint): Ἔρωτι μέν νυν ὅστις ἀντανίσταται πύκτης ὅπως ἐς χεῖρας, οὐ καλῶς φρονεῖ. „Wer Eros entgegentritt wie ein Boxer zum Kampf der Hände, ist nicht bei Trost.“
Das Boxen bezeichnet also demnach einen Akt, welcher der Vermeidung der Liebe dient. (2) Das Boxen gegen Eros meint das Liebeserleben selbst, und zwar in einem durchaus positiven Sinne. Parallelen, die πυκταλίζειν (pyktalízein, ‚boxen‘) oder Verwandtes enthalten, fehlen, aber immerhin kann man auf andere Kampfmetaphern in diesem Zusammenhang hinweisen. Das Boxen bezeichnet also einen Akt, der mit der Liebe identisch ist.
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(3) Das Boxen wird wie in Interpretation 2 als Bild für die Liebe selbst gesehen, aber – angesichts der Tatsache, dass das Boxen als ein besonders brutaler Sport66 galt – unter Betonung des damit für den Sprecher verbundenen Leidens. Anders als in Interpretation 2 wird das ‚Boxen mit Eros‘ hier nicht als etwas Erstrebenswertes gesehen, anders als in Interpretation 1 aber als ein Bild für die Liebe und nicht für das Vermeiden der Liebe. Ich bin der Meinung, dass diese Interpretationen durchaus verschieden plausibel sind,67 will hier aber auf eine weitere Sichtung verzichten, sondern vielmehr prüfen, wie sich ein Wechsel zwischen ὡς μή (h6s m4́, ‚damit nicht‘) und ὡς δή (h6s d4́, ‚damit also‘) in Verbindung mit allen drei Auffassungen auf den Gesamtsinn auswirkt und in welchen Konstellationen ein solcher Wechsel überhaupt sinnvoll sein könnte. Ein Faktor, der einbezogen werden muss, ist der Inhalt der Hauptsätze, die Anforderung an den παῖς (país, ‚Knabe‘), Wasser, Wein und Kränze zu bringen, was impliziert, dass der Sprecher trinken will. Wir müssen uns also fragen, welcher Zusammenhang zwischen Weintrinken und Lieben gesehen wird. Die Antwort hängt von der Dosis des Weines ab: Leichtes Trinken wird als durchaus förderlich für das Liebeserleben gesehen, insofern es Hemmungen beseitigt. Andererseits kann schwere Betrunkenheit das erotische Verlangen abtöten, aber auch das Liebesleiden vergessen machen. Wir wollen hier die Frage offen halten, ob in dem Anakreon-Fragment wirklich beide Arten des Trinkens gemeint sein können, und vielmehr mit der Möglichkeit rechnen, dass beides gemeint sein kann, nicht zur gleichen Zeit, aber etwa zu Anfang des Symposions das leichte Trinken, gegen Ende das schwere.68 Dann ergibt sich vielleicht ein konkretes Szenario, in dem eine Variierung des Finalsatzes sinnvoll wäre. 66
Wie Bonnie MacLachlan: To box or not to box with Eros? Anacreon Fr. 396 Page in: CW 94, 2001, S. 123–133, hier: S. 124–125 gezeigt hat, kann πυκταλίζειν (pyktalízein, „boxen“, welches weit brutaler ist, vgl. die Beschreibung tatsächlicher Boxkämpfe, z.B. in Il. 23.653–697, Od. 18.96–9, ARh 2.82–97, vgl. πυγμαχίη ἀργαλέη, pygmachí4 argalé4, ‚schmerzhafter Faustkampf‘) nicht mit Ringen gleichgesetzt werden. Während Letzteres aus vorsichtigen Griffen um den Körper des Gegners besteht (und somit den umschlungenen Körpern im Liebesakt viel ähnlicher ist), werden beim Boxen erbarmungslose Schläge ausgeteilt, die das Wegstoßen des Gegners zum Ziel haben. Dementsprechend scheint es zweifelhaft, dass πρὸς Ἔρωτα πυκταλίζω (prós Ér6ta pyktalíz6, ‚ich boxe gegen Eros‘) eine sexuelle oder erotische Aktivität im positiven Sinne symbolisieren kann. Natürlich kann ‚Schlagen‘ Teil eines erotischen Vorspiels sein, im Sinne der lateinischen rixa amoris (vgl. Wilhelm Kroll: C. Valerius Catullus, 6. Aufl., Stuttgart 1980, zu Catull. 66,13). Doch ich kann kein Wort für das ‚Boxen‘ in solchen Kontexten finden. 67 Ich selbst präferiere Interpretation 3 mit μή (m4́, ‚nicht‘). 68 Die Verse selbst scheinen zu Beginn des Symposions zu denken zu sein, da Kränze gefordert werden (vgl. Xenoph. fr. 1 West; Plut. conv. sept. sap. Kap. 5); gleichwohl können schon zu diesem Zeitpunkt verschiedene Phasen des Trinkens und damit des Grads der Trunkenheit in den Blick genommen sein; d.h. schon zu Beginn des Symposiums kann an schwerere Trunkenheit, die Vergessen bewirkt, gedacht sein.
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Die Bedeutung 1 (‚Widerstand‘) ist nur mit ὡς μή (h6s m4́, ‚damit nicht‘) verständlich; der (noch mäßig konsumierte) Wein wird bewirken, dass der Sprecher seinen Widerstand gegen Eros aufgibt. Mit einem schwere Trunkenheit bewirkenden Trinken im weiteren Verlauf des Symposiums ist die Metapher πυκταλίζειν (pyktalízein, ‚Boxen‘) nicht vereinbar, da sie eine Aktivität des Sprechers impliziert, während die Betrunkenheit eher Passivität nahelegt. Die Bedeutung 2 (‚günstig beurteiltes Liebeserleben‘) ist mit einem positiven Finalsatz verständlich, wenn von leichtem Trinken die Rede ist. Die Verbindung mit einem negativen Finalsatz ist dagegen problematisch: Das Trinken (und hier wäre an das schwere Trinken zu denken) diente dazu, den doch als positiv empfundenen Kampf zu vermeiden. Die Bedeutung 3 (‚Liebe als Leiden‘) ist nur mit negativem Finalsatz denkbar. Das Fragment würde dem Topos ‚Vergessen der Liebe im Wein‘ folgen. Ein positiver Finalsatz ist nicht nachvollziehbar, denn warum sollte der Sprecher ein als schmerzhaft empfundenes Leiden anstreben? Diese Durchmusterung hat gezeigt: Ein Wechsel zwischen ὡς μή (h6s m4́, ‚damit nicht‘) und ὡς δή (h6s d4́, ‚damit also‘) bei der Annahme einer konstanten Bedeutung der Metapher im Nebensatz ist sinnwidrig, selbst wenn wir in Anschlag bringen, dass sich die Aufforderung zum Bringen des Weins auf verschiedene Stadien im Laufe eines Symposions beziehen kann. Eine solche Variierbarkeit wäre aber nur anzunehmen, wenn man der Bedeutung der verwendeten Metapher eine erhebliche Flexibilität in der Bedeutung zuschriebe. Als Mutabilität, d.h. vom Autor kalkuliert, scheint mir das undenkbar, denn das Nebeneinander der verschiedenen Bedeutungen wäre für ein- und denselben Sprachbenutzer zu denken (die Metapher müsste mit Bezug auf den einen Zeitpunkt des Symposions so und mit Bezug auf einen anderen anders zu verstehen sein). Was allenfalls möglich scheint, ist ein verändertes Verständnis der Metapher durch spätere Sprachbenutzer, die die finale Konjunktion entsprechend ändern. Das wäre aber nur ein Beispiel von Mutanz und aus der Perspektive eines Anakreon-Editors eine Depravation des Originals, so interessant die Variante aus der Perspektive der Rezeptionsforschung sein mag.69 Das Beispiel lehrt, wie eng das hier diskutierte textkritische Problem mit grundsätzlichen literaturtheoretischen Fragestellungen bezüglich der Fixierbarkeit des Sinns von Textelementen verwoben ist: Wer – im Sinne des Poststrukturalismus – von einer grundsätzlichen Offenheit ausgeht, wird viel eher bereit sein, auch die Möglichkeit primärer Textvarianten anzunehmen. Ich gebe dagegen zu bedenken, dass die Offenheit des Sinns von Metaphern durchaus begrenzt ist, sowohl durch den Bildspender wie durch den Bildempfänger. Im Fall 69
Vgl. Richard Tarrant: Texts, Editors, and Readers: Methods and Problems in Latin Textual Criticsm, Cambridge 2016, S. 155, aus latinistischer Sicht, mit Blick auf den Beitrag lateinischer Kodizes der Renaissance zur Humanismusforschung.
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des Boxens gegen Eros ist es weniger der Bildempfänger – das notorisch wabernde Gebiet des erotischen Empfindens – als vielmehr der Bildspender, der solche Einschränkungen bewirkt: Denn das Bild des Boxens evoziert bestimmte, durch die zeitgenössische reale Praxis hervorgerufene Vorstellungen, die nicht nach Belieben ausgeblendet werden können. Es ist wahr, dass wir – nicht zuletzt wegen der großen zeitlichen Distanz – nicht immer in der Lage sind, diese Bestimmtheit für den Autor und sein Publikum präzise zu erfassen; daraus aber zu schließen, dass es diese Bestimmtheit nicht gab, scheint mir nicht erlaubt. V.2. Anakreon PMG 396 im Autunmosaik: Sekundärvarianz Unter unseren Zeugen für PMG 396 ist nun auch einer, an dem sich die Textvarianz des Typs ii (Mutanz) besonders gut verfolgen lässt. Oftmals kann man ja über den „kulturellen und diskursiven Kontext“ von Mutanz nur aufgrund des in Handschriften überlieferten Textes selbst spekulieren – ein Umstand, den z.B. Starkey/Wandhoff70 in ihrer neuphilologischen Betrachtung von Walther von der Vogelweides Kranzlied beklagen. Im nun vorgeführten Falle aber lassen sich der veränderte Verwendungszusammenhang und das veränderte Milieu recht präzise, nämlich archäologisch, verfolgen; denn die Verse wurden auf einem römischen Mosaik in Augustodunum, dem heutigen Autun, gefunden, das in das ausgehende 2. Jahrhundert n. Chr. datiert wird.
(Detail eines römischen Mosaiks des ausgehenden 2. Jahrhunderts n. Chr., Autun, Musée Rolin, inv. no. ML 1563)
70
Starkey/Wandhoff [Anm. 14], S. 64.
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Der Text begleitet das Portrait eines bärtigen Mannes mit Lyra, den wir daher leicht als Anakreon identifizieren können. Umschrift von IGG 137, Autun, Musée Rolin, inv. no. ML 1563 (nach Blanchard/ Blanchard71): ΦΕΡΥΔΩΡΦΕΡΟΙΝΟΝΩΠ[ ΘΕΜΟΕΝΤΑΣ
ΗΜΙ[
ΝΟΥΣΩΣΜΗ
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ΠΥΚΤΛΙΣΖΩ |––|
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ΛΩΝΜΑ
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ΡΕΣΤΙ
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1–4a: PMG 396, 1–4 4b–7a: PMG 429 7b–9: weiterer Text, exempli gratia zu ergänzen.
Es ist deutlich, wo der Text von der übrigen Überlieferung abweicht: Am auffälligsten ist das Fehlen des Imperativs ἔνεικον (éneikon, ‚bring‘) in V. 3, das freilich neben φέρ᾿… φέρ᾿ (phér … phér, ‚bring… bring) entbehrlich ist, dessen Fehlen jedoch das Metrum zerstört. Wir dürfen also annehmen, dass ἔνεικον (éneikon, ‚bring‘) mutwillig weggelassen wurde, wobei das Metrum nicht wichtig oder vielleicht auch gar nicht bewusst war. Eine klare Textvariante des Typs iii ist die Auslassung des α von πυκταλίζω (pyktalíz6, ‚ich boxe‘), das zweifellos einer Haplographie neben dem folgenden λ zum Opfer gefallen ist.72 Was den Umfang des Zitats angeht, so stellen wir fest, dass er identisch ist mit dem von Athenaios zitierten, obwohl das Gedicht doch, wie ich jetzt an P. Oxy. 3722.fr.15.col.ii zeigen konnte, weiterging. Vielleicht greifen Athenaios (oder seine Quelle) und der Redaktor der Mosaikinschrift nicht auf eine vollständige Anakreon-Edition zurück, sondern auf eine Anthologie, die nur die Anfangsverse des Gedichts enthielt. Außerdem ist bemerkenswert, dass der Text von PMG 396 mit weiteren, aus anderen Quellen bekannten Anakreonversen kombiniert ist:
71 Michèle Blanchard, Alain Blanchard: La Mosaïque d’Anacréon a Autun, in: RÉA 75, 1973, S. 268–279, hier: S. 273. 72 Ebd.
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Hans Bernsdorff
Obwohl nach πυκταλίζω (pyktalíz6, ‚ich boxe‘) ein Trennungszeichen steht, und obwohl das folgende Fragment ein anderes Metrum hat (2 iaΛ im Gegensatz zu 2io·· in PMG 396)73 und obwohl die folgenden Verse (PMG 42974) ebenfalls ein Gedichtanfang waren,75 soll hier doch wohl der Eindruck eines einheitlichen Textes entstehen, zumal wenn man in Rechnung stellt, dass die Texte auf den beiden anderen Teilen des Mosaiks (dazu gleich mehr) auch nur jeweils einen (prosaischen) Text enthalten. Ferner ist zu vermerken, dass nach dem sonst überlieferten Ende von PMG 429 (die letzten beiden Buchstaben von μαχέσθω [machésth6, ‚er soll kämpfen‘] am Beginn von Z. 7 der diplomatischen Edition) weiterer Text folgt. Da hier, anders als nach πυκταλίζω (pyktalíz6, „ich boxe“) in Z. 4, kein Trennungszeichen folgt, ist anzunehmen, dass die nächsten Buchstaben zu einer Fortsetzung von PMG 429 gehören. Der stark fragmentarische Zustand lässt nur exempli-gratia-Ergänzungen zu (in Anlehnung an Anacreont. 47 West, als dessen Teil PMG 429 erscheint, vgl. unten): Blanchard/Blanchard [Anm. 68], S. 275: ἐ[μοὶ δὲ δὸς] | προ[πίνειν με]|λιχρ[ὸν οἶνον,] | ὦ [παῖ]. „Gib mir zu trinken süßen Wein, o Knabe.“ Führer,76 S. 54: ἐ[γὼ θέλω] | προ[πίνειν με]|λιχρ[ὸν οἶνον,]| ὦ [παῖ.] „Ich will trinken süßen Wein, o Knabe.“
Doch ist aus den Resten in Z. 9 das Adjektiv der Inschrift μελιχρός (melichrós, ‚süß‘) zu entnehmen, das ein Beiwort von Wein sein kann,77 sodass in dem erweiterten Text von PMG 429 mit aller gebotenen Vorsicht eine Ablehnung des Kampfes und eine Erwähnung des Weintrinkens angenommen werden kann. Es entsteht also eine ‚Collage‘ aus zwei Gedichtanfängen,78 deren Bestandteile zwar noch formal durch das Trennungszeichen markiert sind, die aber andererseits einen neuen Zusammenhang bilden, denn μάχεσθαι (máchesthai, ‚kämpfen‘) soll zweifellos πυκταλίζω (pyktalíz6, ‚ich boxe‘) aufnehmen (cf. die Junktur πὺξ μάχεσθαι, pýx máchesthai, ‚mit der Faust kämpfen‘ vom Boxkampf in Il. 23.621), 73
Doch wird – wie schon bemerkt – in diesem Mosaik dem Metrum keine Aufmerksamkeit geschenkt. 74 PMG 429: ὁ μὲν θέλων μάχεσθαι, | πάρεστι γάρ, μαχέσθω. „Der, der kämpfen will, soll kämpfen, denn es ist ja möglich.“ 75 Da sie vom Metriker Hephaistion zitiert werden. 76 Rudolf Führer: Zum neuesten Anakreon, in: ZPE 20, 1976, 54. 77 Alk. fr. 338.7 V., Anakreon PMG 383. 78 Evidenz für PMG 396 ist, dass die Verse von einem Metriker zitiert werden.
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Haben wir die Texte der frühgriechischen Lyriker?
sodass durch die folgende wahrscheinliche Erwähnung des Weines eine chiastische Anordnung entsteht: A
PMG 396.1–3a: Aufforderung, Wein zu bringen
B
PMG 396.3b–4: Ablehnung des Kampfes
–––– B’ PMG 429.1–2: Ablehnung des Kampfes A’ PMG 429.3–4 (neu): Aufforderung, Wein zu bringen Dabei trägt die Anrede ὦ παῖ (6´ paí, ‚o Knabe‘) am Ende von PMG 396.1 mit dem von beiden exempli-gratia-Ergänzungen angenommenen Ende von Vers 4 zu dieser Struktur ebenso bei wie die Tatsache, dass beide Teile aus vier – wenn auch metrisch verschiedenen und auch nicht intakten – Versen bestehen. Übrigens taucht der Text von PMG 429, wie bereits erwähnt, auch als Teil eines Anacreonteum auf: Anacreontea 47 (ed. West [Anm. 75]) Ἐγὼ γέρων μέν εἰμι, νέων πλέον δὲ πίνω
σκῆπτρον ἔχων τὸν ἀσκόν 5
ὁ νάρθηξ δ’ οὐδέν ἐστιν. ὁ μὲν θέλων μάχεσθαι, πάρεστι γάρ, μαχέσθω· ἐμοὶ κύπελλον ὦ παῖ μελιχρὸν οἶνον ἡδύν
10
ἐγκεράσας φόρησον. ἐγὼ γέρων μέν εἰμι,
11a 3
κἂν δεήσηι με χορεύειν,
12
Σιληνὸν ἐν μέσοισι μιμούμενος χορεύσω.
carmen ita disposuit West „Ich bin ein Greis, doch ich trinke mehr als die Jungen als Stab den Weinschlauch haben, denn der Narthex ist nutzlos. Wer kämpfen will, soll kämpfen, denn es ist möglich. Bring mir eine Schale, Knabe, nachdem du gemischt hast süßen angenehmen Wein. Ich bin ein Greis, doch ich trinke mehr als die Jungen. Und wenn ich tanzen muss, dann werde ich zwischen allen tanzen, Silen nachahmend.“
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Hans Bernsdorff
Hier bildet er den Anfang einer nun allerdings fünfzeiligen Strophe,79 deren Inhalt dem der Fortsetzung auf dem Mosaik ähneln dürfte, denn μελιχρός (melichrós, ‚süß‘) begegnet auch hier. Diese Strophe steht jetzt an zweiter Stelle, so wie auf dem Mosaik. PMG 429 ist in Anacreont. 47 (mit der plausiblen Versumstellung Wests) also in eine ähnliche Struktur gefügt wie auf dem AutunMosaik. Dieser Umformungsprozess führt nun nicht nur zu Veränderungen des Textes (vor allem zur Verkürzung der ‚Originale‘), sondern auch zu Bedeutungsverschiebungen, nicht zuletzt auf dem Gebiete der Metaphorik: Wir haben festgestellt, dass in der Collage des Autunmosaiks μάχεσθαι (máchesthai, ‚kämpfen‘) klar das vorangehende πυκταλίζειν (pyktalízein, ‚boxen‘) aufnimmt. Es muss daher auch metaphorisch auf den mühevollen Kampf der Liebenden bezogen werden. Im originalen Anakreon, wo das Verspaar den Gedichtanfang bildete, wird das Wort nicht in eine bestimmte metaphorische Bedeutung gedrängt; man wird es daher auf ‚Kampf‘ im eigentlichen Sinne beziehen, das vielleicht im Zusammenhang mit einer topischen Abwertung des Krieges zugunsten von Gesang, Liebe und Trinken stand. Die Präsentation der Stücke aus Anakreon auf dem Autun-Mosaik scheint also zwei Prinzipien zu folgen: Zum einen die Reduktion auf einen gedanklichen Gegensatz, den zwischen symposiastischer Aktivität und Liebesleiden, zum anderen die Intensivierung dieses Gegensatzes durch seine Spiegelung an einem anderen Gedichtanfang, unter teilweiser Veränderung des Sinns. Sowohl was den Inhalt, als auch, was die formale Intensivierung seiner Präsentation angeht, fügt sich der Text in den Kontext des Mosaiks, soweit es rekonstruiert werden kann: Das Feld mit Anakreon befindet sich in der Mitte von zwei anderen, die Portraits des Epikur und seines Schülers Metrodor mit Zitaten zeigen. Wer auch immer auf den fünf anderen Feldern des Doppelquincunx abgebildet war, das erhaltene Ensemble suggeriert doch, Anakreon in einem moralphilosophischen, speziell epikureischen Kontext zu sehen. Als eine Art ‚Proto-Epikureer‘ liefert Anakreon den Rat, sich den seelischen Turbulenzen der Liebesleiden durch den Genuss des Symposions zu entziehen. Es wäre zu überlegen, ob sich in dieser Einordnung des Anakreon ein spezifisch römischer Zug zeigt, hatte doch die Lyrik des Horaz für die Vereinigung anakreontischer und epikureischer Tradition ein Modell geliefert.
79 Zur – syntaktisch vorgegebenen – Strophengliederung Martin Litchfield West, Carmina Anacreontea, 2. Aufl., Leipzig 1993, zur Stelle.
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Haben wir die Texte der frühgriechischen Lyriker?
VI. Konsequenzen für die Edition Zunächst ist festzuhalten, dass die frühgriechische Lyrik grundsätzlich anderen Bedingungen der Überlieferung unterliegt als z.B. Teile der mittelhochdeutschen Lyrik. Da ist zum einen die Tatsache, dass der Text durch die im 2. Jh. v. Chr. entstandenen philologischen Ausgaben fixiert wurde, vor die zeitlich zurückzugehen nur in Ausnahmefällen möglich ist. Zum anderen sind die Überlieferungsträger – mittelalterliche Handschriften, aber auch kaiserzeitliche Papyri – im Regelfall zeitlich erheblich weiter vom Original entfernt als die Handschriften der mittelhochdeutschen Lyrik, etwa Walthers von der Vogelweide.80 Daher ist dem Klassischen Philologen eher die Möglichkeit gegeben, Textvarianz späterer Entwicklungsstufen zu identifizieren, z.B. weil sie klar weit auseinander liegenden Stadien der Sprachentwicklung angehören. Solange man an der Vorstellung eines historischen Autors festhält (und dazu, im Falle des Anakreon daran zu zweifeln, besteht kein Anlass, trotz der reichen ‚anakreontischen‘ Tradition, die sich anschließt), ist es eine mögliche und sinnvolle Aufgabe, eine Ausgabe der Fragmente dieses Autors zu unternehmen. Daraus erwächst die Pflicht des Editors, nach bestem Wissen und Gewissen zu entscheiden, was unter dem Material, das dem Autor zugeschrieben wird, überhaupt von diesem stammen kann, d.h. Unechtes als solches kenntlich zu machen. Das muss nicht bedeuten, als unecht Erkanntes und als solches Gekennzeichnetes nicht in die Ausgabe zu übernehmen, wie es in vielen traditionellen Ausgaben ja auch durchaus geschieht. Zudem hat der Herausgeber die Pflicht, sich zu entscheiden, ob sich unter Adespota oder anderen Autoren zugeschriebenen Texten Material seines Autors befindet. Die Selbstüberschätzung, die Teile der altphilologischen und altgermanistischen Forschung im 19. und frühen 20. Jh. an den Tag gelegt haben, darf nicht dazu führen, Echtheitskritik insgesamt als obsolet zu diskreditieren. Solange sie die Grenzen ihrer Möglichkeit im Auge hat und durch einen die Varianz darstellenden Apparat dokumentiert, ist sie auch heute noch angebracht – nicht zuletzt, weil einer literaturwissenschaftlichen Erklärung, die auch auf den Zusammenhang der Texte mit ihrem historischen Kontext Wert legt, nicht mit einem diffusen Sammelsurium einer ‚Autorentradition‘ gedient ist, sondern mit einer historisch differenzierten Anordnung, zu der auch der Versuch gehört, den Bestand des originalen Autors zu identifizieren. Eine solche Echtheitskritik wird normalerweise immer eine Annäherung bleiben, nicht zuletzt, weil es eher möglich ist, Unechtheit wahrscheinlich zu machen als Echtheit: Unter dem Stehengebliebenen wird sich möglicherweise manches Unechte befinden.
80
Z.B. für Walther von der Vogelweide (ca. 1170–1230): Nemt, frouwe, disen kranz: Handschrift A ca. 1270, C zwischen 1300 und 1330/40, E zwischen 1345–1354 (nach Starkey/Wandhoff [Anm. 14], S. 51–3).
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Hans Bernsdorff
Wenn dies als Aufgabe des Editors81 akzeptiert wird, kann kein Zweifel darüber bestehen, was seine Aufgabe im Umgang mit sekundären redaktionellen Eingriffen in den Text und Reproduktionsfehlern sein muss: Beide Typen muss er als Entstellung des Originals bewerten, obwohl die Sekundärvarianz für den Editor, der (wie in meinem Fall der Anakreon-Edition) zugleich auch Kommentator ist – durchaus auch Interesse verdient: aber eben als Phänomen der Rezeption. Es wäre keine angemessene Form der Würdigung der Sekundärvarianten, wenn man sie in der Edition gleichberechtigt neben eine als original erkannte stellt.82 Ich möchte diesen Punkt der Sekundärvarianz als solchen nicht herunterspielen – ich sehe hierin vielmehr einen wichtigen Impuls der ‚New Philology‘ für die Altphilologie; das Gebiet der Sekundärvarianz genauer zu erforschen,83 erscheint im Falle der frühgriechischen Lyrik auch deswegen besonders lohnend, da sich die kulturellen Bedingungen, denen ein Text angepasst wurde, oft besser rekonstruieren lassen als der Primärkontext.84 Das gilt gerade auch für das in diesem Bereich so eminent wichtige Phänomen der Sekundärüberlieferung, d.h. der Überlieferung bei späteren Autoren, bei denen sich die Anpassung an den Kontext gewöhnlich gerade deswegen so gut verfolgen lässt, weil dieser Kontext und seine ästhetischen Strategien sicher erhalten sind (ich nenne nur die
81
Vgl. Tarrants ([Anm. 69], S. 156), Charakteristik des Editors: „Whatever changes the future may bring in the methods of editing classical texts, at the heart of the process will always be the scholar who applies his or her fallible judgement to the improvement of a text that can never be completely recovered. The age of heroes has passed and is not likely to return, but there remains something touchingly heroic about the enterprise: doomed, yet noble in its striving.“ 82 Dass sekundäre Varianten in den ‚Apparat verbannt‘ werden, ist für manche Anhänger der New Philology offenbar eine Form der Missachtung, vgl. Lardinois [Anm. 12], S. 46: „The same is true of the critical apparatus: its position at the bottom of the page shows that the variants recorded there are literally deemed “inferior”. New Philology is not interested in the hypothetical reconstruction of the original text, but in the recording of the development of a text from its beginnings right through to its later appearances.“ 83 Vgl. Joachim Bumke: Die vier Fassungen der „Nibelungenklage“. Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert, Berlin 1996, S. 49: „Während sich jedoch die Textkritik für diese Gruppen [die ‚Fassungen‘] nur unter dem Gesichtspunkt, wie weit darin der echte Text bewahrt ist, interessiert hat, können die Gruppen, wenn man sie als Fassungen betrachtet, in ihrer textlichen Eigenart gewürdigt werden.“ 84 Zur Berechtigung der Erforschung der ‚Reperformance‘ neben der Frage nach dem Original gut Patrick Finglass: Reperformances and the transmission of texts, in: Trends in Classics 7, 2015, S. 259–276, hier: S. 274–275: „Investigating the mutual relationship of reperformance and the transmission of texts should not force us to choose between either attempting to get as close as possible to the author’s text, or appreciating the social and cultural circumstances which led to the adaptation of these texts in the decades that followed. They are both legitimate forms of historical inquiry, and a genuine analysis of the problems that they present will lead to an enriched understanding of both.“
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Haben wir die Texte der frühgriechischen Lyriker?
Sappho-Überlieferung in Athenaeus’ Deipnosophistae).85 Das alles steht ganz im Einklang mit traditionellen Prinzipien der Edition. Eine wesentliche Änderung der editorischen Praxis wäre aber gefordert, wenn man mit einer Primärvarianz rechnet, die – gemäß der anfangs gegebenen Definition – entweder dem Autor selbst zuzuschreiben ist oder zwar der Rezeption entspringt, aber primär angelegt und daher nicht mehr als sekundär erkennbar ist. Wenn solche Verhältnisse wahrscheinlich gemacht werden können, sollten sie in der Edition ganz deutlich präsentiert werden, nämlich in der Form von zwei oder mehreren Texten, wodurch dokumentiert wird, dass jeder von ihnen ästhetisch eigenständig ist. Eine solche primäre Varianz kann für den Bereich der frühgriechischen Lyrik natürlich nicht ausgeschlossen werden. Das Phänomen muss freilich am Material plausibel gemacht werden (die Beweispflicht liegt hier auf Seiten derer, die in einem konkreten Fall eine Primärvarianz behaupten; für die beiden hier betrachteten Fragmente Sappho fr. 58 und Anakreon PMG 396 ist das m.E. nicht gelungen). Wir werden dabei immer wieder an die Grenzen unserer Erkenntnisfähigkeit gelangen und uns nicht in der Lage sehen, zu entscheiden, welche Version original ist. Aus diesem Befund aber ohne Weiteres abzuleiten, beide Versionen gingen auf den Autor zurück, ist ein verfehlter Schluss.
85 Dazu Mark De Kreij: Οὔκ ἐστι Σαπφοῦς τοῦτο τὸ ᾆσμα: Variants of Sappho’s Songs in Athenaeus’s Deipnosophistae, in: JHS 136, 2016, S. 59–72. Ich danke Anna Kathrin Bleuler, Mattis Heyne, Anton Li Koschak und Bernhard Neuschäfer für ihre Auskünfte und die kritische Diskussion der hiesigen Überlegungen, von denen einige in populärwissenschaftlicher und komprimierter Form bereits in Hans Bernsdorff: Von der Altphilologie zur New Philology, in: FAZ vom 17. 5. 2018, publiziert wurden.
227
4.2 FASSUNGSVARIANZ BEI NEIDHART1 Eine Vorlage mit Wahlmöglichkeiten als Ausgangspunkt der Überlieferung von Anna Kathrin B l e u l e r , Salzburg Abstract: Die Berliner Neidhart-Handschrift R enthält zehn Lieder, zu denen am Blattrand Strophen nachgetragen sind. Diese z.T. mit Zuordnungszeichen versehenen Randstrophen zeugen von einer Strophenvarianz, die bislang in keiner Neidhart-Ausgabe berücksichtigt wurde. Dieser Befund sowie eine Beobachtung, die in Bezug auf die Art der Verteilung von Wort- und Versvarianten in der Überlieferung gemacht wurde, legt die Vermutung nahe, dass die Neidhart-Überlieferung auf eine mit Varianten versehene schriftliche Vorlage zurückgeht. Dieser Befund – so die These des vorliegenden Beitrags – bietet Anhaltspunkte für die Erschließung von Variantenkonstellationen, die den erhaltenen Handschriften zeitlich vorausgehen. The Berlin Neidhart manuscript R contains ten songs, to which stanzas have been added in the margin. These margin stanzas, some of which are given assignment markers, testify to a strophic variance which has not yet been taken into account in any edition of Neidhart. This finding, as well as an observation on the way in which word and verse variants are distributed in the tradition, suggests that the Neidhart tradition goes back to a written original which contained variants. The thesis of the present article is that this finding offers clues for unearthing constellations of variant readings that precede the surviving manuscripts in time.
I. Problemstellung Es herrscht Einigkeit darin, dass die mhd. Lyrik zwar schriftlich – womöglich schon von den Autoren selbst – notiert wurde, dass die Texte aber für den Gesangsvortrag bestimmt waren. Die Lieder konnten zu Lebzeiten der Autoren variiert werden, was allein der Vortragspraxis geschuldet ist. Für die Lyrik wird ein Spiel von Freiheit und – durch implizite poetologische Normen vorgegebene – Gesetzmäßigkeiten angenommen, das Fassungsvarianz produziert hat, die sogenannte Mouvance.2 Niemand bestreitet, dass solche Fassungsvarianz nicht identisch ist mit der Varianz, die man vorfindet, wenn man heute die Handschriften betrachtet, in denen die Texte überliefert sind. Die handschriftliche Überliefe1
Der vorliegende Beitrag ist zum großen Teil während meines Forschungsaufenthalts am Wissenschaftskolleg zu Berlin (2017/18) entstanden. Ich danke meinen Fellows und ganz besonders meinem Kollegen und Mitherausgeber des vorliegenden Bandes, Oliver Primavesi, für den intensiven und förderlichen Meinungsaustausch über das hier vorzustellende Modell einer Vorlage, die Wahlmöglichkeiten bot, als heuristische Basis für die Rekonstruktion von Fassungsvarianz bei Neidhart. 2 Vgl. Thomas Cramer: Mouvance, in: ZfdPh 116, Sonderheft 1997, S. 150–169.
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Anna Kathrin Bleuler
rung der mhd. Lyrik setzt zumeist erst Jahrzehnte nach dem Tod der Autoren ein. Hier kommen ganz andere Formen der Abweichung ins Spiel: Überlieferungsverderbnisse, Abschreibfehler, redaktionelle Bearbeitungen, Modernisierungen der Sprache, Anpassungen an sich verändernde kulturelle Kontexte. Für viele mhd. Lyriker – allen voran für den späthöfischen Minnesänger Neidhart3 – verhält es sich dennoch so, dass keine Ausgabe vorliegt, die unterschiedliche Fassungen eines Liedes präsentiert. Stattdessen wird die Rekonstruktion von Fassungsvarianz heute entweder als ein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen angesehen oder aber sie ist gar nicht intendiert. Ersteres geht auf die Vorstellung zurück, dass man es mit einer lebendigen, von Mündlichkeit geprägten Überlieferung zu tun hat, die die Textvarianz zu einem unkontrollierbaren Phänomen macht.4 Letzteres ist die Folge einer Handschriftenfetischisierung, die in den Mittelalter-Philologien seit der Mitte des 20. Jahrhunderts zu beobachten ist und für die Bernard Cerquiglini eine theoretische Begründung geliefert hat.5 Nach Cerquiglini ist mittelalterliche Textvarianz nicht primär ein Phänomen der Mündlichkeit, sondern das Produkt kreativer, eigenmächtig handelnder Schreiber.6 Diese Sicht erhebt den Schreiber auf eine Stufe mit dem Autor, was zur Folge hat, dass alle Überlieferungszeugnisse eines Textes als gleichwertig angesehen werden müssen. Die Rekonstruktion von Fassungsvarianz erübrigt sich damit. Die Neidhart-Überlieferung liegt in zwei Ausgaben-Typen vor: Der eine geht auf die 1858 erschienene, kritische Ausgabe des Lachmann-Schülers Moriz Haupt zurück.7 Diese Ausgabe gründet auf der Annahme eines letztgültigen, festgefügten Originals als Ausgangspunkt der Überlieferung; sie bietet pro Lied 3
Neidhart war zwischen 1220 und 1240 als Sänger im bayerisch-österreichischen Raum aktiv (vgl. Anna Kathrin Bleuler: Autorprofil. Neidhart, erscheint in: Minnesang-Handbuch, hg. v. Beate Kellner, Volker Mertens und Susanne Reichlin, Berlin u.a. 2021, S. 712– 721). 4 Vgl. u.a. Ulrich Müller: Mündlichkeit und Schriftlichkeit: Probleme der Neidhartüberlieferung, in: Ulrich Müller: Textkonstitution bei mündlicher und bei schriftlicher Überlieferung. Basler Editoren-Kolloquium 19.–22. März 1990. Autor- und werkbezogene Referate, hg. v. Martin Stern, Tübingen 1991 (Beihefte zur editio 1), S. 1–6. 5 Vgl. Bernard Cerquiglini: Éloge de la variante. Histoire critique de la philologie, Paris 1989, sowie die englische Übersetzung Bernand Cerquiglini: In Praise of the Variant. A Critical History of Philology. Translated by Betsy Wing, Baltimore and London 1999. 6 Vgl. Cerquiglini: In Praise of the Variant, S. 33–36. 7 Neidhart von Reuenthal, hg. v. Moritz Haupt, Leipzig 1858 (Neidharts Lieder. Unveränderter Nachdruck der Ausgaben von 1858 und 1923, Bd. I. Moritz Haupts Ausgabe von 1858, hg. v. Ulrich Müller u.a., Stuttgart 1986). Auf dieser Ausgabe basiert ein Großteil der Neidhart-Ausgaben des 19. und 20. Jahrhunderts (vgl. u.a. Friedrich Keinz: Die Lieder Neidharts von Reuenthal. Auf Grund von M. Haupts Herstellung zeitlich gruppiert, mit Erklärungen und einer Einleitung, Leipzig 1889; Die Lieder Neidharts, hg. v. Edmund Wiessner, Tübingen 1955 (Altdeutsche Textbibliothek 44); Die Lieder Neidharts, hg. v. Edmund Wiessner, fortgeführt v. Hanns Fischer, hg. v. Paul Sappler, mit einem Melodieanhang v. Helmut Lomnitzer, 5. Aufl., Tübingen 1999 [Altdeutsche Textbibliothek 44]).
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Fassungsvarianz bei Neidhart
jeweils einen Text.8 Anders etwa als Lachmanns Iwein-Ausgabe basiert Haupts Neidhart-Ausgabe allerdings nicht auf mehreren ‚guten‘ oder gar auf allen Neidhart-Handschriften, sondern lediglich auf einer einzigen, nämlich der ältesten erhaltenen, der Berliner Neidhart-Handschrift R (Staatsbibliothek zu Berlin mgf 1062; entstanden in Niederösterreich um 1280).9 Dementsprechend erfolgen seine Rekonstruktionen nicht auf der Basis eines Handschriftenvergleichs, sondern sie gehen grundsätzlich vom Wortlaut der einen, favorisierten Handschrift aus. Wenn Haupt etwas für falsch hält, dann greift er ein, z.T. indem er freihändig korrigiert, z.T., indem er Lesarten aus anderen Handschriften übernimmt. Das heißt: Wir haben es hier mit einer Ausgabe der mhd. Lyrik aus dem LachmannKreis zu tun, die die stemmatische Methode – d.h. die von einem (hypothetischen) Ausgangspunkt der Überlieferung ausgehende Rekonstruktion von Verwandtschaftsverhältnissen zwischen den Handschriften – nicht anwendet. Die in Haupts Ausgabe abgedruckten Texte geben nicht zu erkennen, dass sie jeweils in zwei oder mehreren, in ihrem Wortlaut zumeist erheblich voneinander abweichenden mittelalterlichen Handschriften überliefert sind. Die Ausgabe enthält keinen Variantenapparat, sondern lediglich einen die Ausgabe abschließenden Kommentar, in dem die Texteingriffe (Konjekturen/Emendationen) dokumentiert werden.10 Diese Ausgabe wurde im 20. Jahrhundert mehrfach überarbeitet und neu aufgelegt und war bis in jüngere Zeit die maßgebliche Grundlage für Forschungsund Lehrzwecke.11 Zwar enthalten die neueren Auflagen Überlieferungskonkordanzen und Variantenapparate, die auf die Überlieferungsdifferenzen hinweisen; auch werden Plusstrophen zu den R-Liedern, die in anderen Handschriften überliefert sind, im Petitdruck beigegeben, jedoch wird bis in die neueste Auflage (ATB, 5. Aufl., 1999) am Prinzip ‚pro Lied ein Text‘ festgehalten. Der andere Ausgaben-Typus wird durch die 2007 erschienene, drei Bände umfassende Salzburger Neidhart-Edition repräsentiert.12 Genauso wie Haupts 8
Vgl. Haupt [Anm. 7], S. V: „Mir lag […] daran [sic] die echte gestalt der neidhartischen lieder nach kräften herzustellen.“ 9 Das Verfahren basiert auf Haupts Einschätzung des Textmaterials, wonach alles, „was in R nicht steht […] keine äussere gewähr der echtheit“ hat. Eine Erklärung für dieser Einschätzung liefert er nicht (ebd., S. IX). 10 Ebd., S. 104–244. 11 Vgl. Wiessner/Sappler [Anm. 7]. 12 Vgl. Neidhart-Lieder. Texte und Melodien sämtlicher Handschriften und Drucke, hg. v. Ulrich Müller, Ingrid Bennewitz, Franz Viktor Spechtler: Bd. 1: Neidhart-Lieder der Pergament-Handschriften mit ihrer Parallelüberlieferung. Bd. 2: Neidhart-Lieder der Papier-Handschriften mit ihrer Parallelüberlieferung. Bd. 3: Kommentare zur Überlieferung und Edition der Texte und Melodien in Band 1 und 2, Erläuterungen zur Überlieferung und Edition, Bibliographien, Diskographie, Verzeichnisse und Konkordanzen, Berlin/ New York 2007, abgekürzt zitiert als: SNE. Auf der SNE basiert die zweisprachige Ausgabe (deutsch/englisch) von Kathryn Starkey, Edith Wenzel: Neidhart. Selected Songs from the Riedegg Manuscript: Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, mgf 1062, 2. Aufl., Medieval Institute Publications 2016.
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Anna Kathrin Bleuler
Ausgabe basiert auch diese nicht auf einer überlieferungsgeschichtlichen Prüfung des Textmaterials. Anstatt jedoch wie jener einen Text pro Lied zu bieten, werden hier jeweils alle Überlieferungszeugen eines Liedes – ausgerichtet an der jeweils ältesten Handschrift – strophenweise synoptisch abgedruckt. Texteingriffe beschränken sich im Normalfall auf leichte Normierungen der Graphie (u.a. Auflösung von Nasalstrichen und Abkürzungen), die Einfügung von Interpunktion und Kennzeichnung von direkter Rede.13 Die Ausgabe folgt damit dem (neuphilologischen) Gebot der handschriftengetreuen Textwiedergabe; sie wird diesem jedoch insofern nicht gerecht, als jeweils nur die Strophen des ältesten Textzeugen in der historisch bezeugten Reihenfolge abgebildet sind. Beiden Ausgabentypen ist gemeinsam, dass sie den Sachverhalt, dass die mhd. Lyrik Fassungsvarianz aufgewiesen haben kann, nicht berücksichtigen: die Hauptsche Ausgabe, weil sie versucht, einen Originaltext zu rekonstruieren und die Möglichkeit alternativer Liedversionen nicht in Betracht zieht; die Salzburger Ausgabe, weil sie nicht zwischen Fassungsvarianz und anderen Typen der Differenz unterscheidet. Es stehen einander somit gegenüber: Textmonismus versus Handschriftenpluralismus. Diese Editionssituation war der Anlass dafür, eine neue Neidhart-Edition zu projektieren, die auf Prämissen basiert, die sowohl von denen der kritischen Ausgabe Haupts als auch von denen, die durch die New Philology postuliert wurden (und die letztlich auch der SNE zugrunde liegen), abweichen: 1. Im Unterschied zu Cerquiglini und seinen Nachfolgern halte ich am diachronen, von einem hypothetischen Ausgangspunkt der Überlieferung ausgehenden Denken und damit an der Unterscheidung zwischen primären und sekundären Lesarten eines Textes fest. Um die beiden Phänomene sprachlich auseinanderzuhalten, verwende ich die von Joachim Bumke definierten Begriffe der (primären) Fassung und (sekundären) Bearbeitung, wobei Bumkes Definition von Fassung, derzufolge sich diese dadurch auszeichnet, dass über sie hinaus keine Rekonstruktionen von Textzuständen mehr möglich sind,14 in Bezug auf die Neidhart-Überlieferung zu modifizieren sein wird. 2. Im Unterschied zu Haupt und seinen Nachfolgern gehe ich nicht von der Vorstellung eines festgefügten Texts als Ausgangspunkt der Überlieferung aus, sondern rechne mit der Möglichkeit von zwei oder mehreren Textversionen als Ausgangspunkte.
13
Eingegriffen wird darüber hinaus, wenn der überlieferte Text „entweder inhaltlich [für die Herausgeber] keinerlei Sinn ergibt oder aber sprachlich nach [ihrer] Meinung eindeutig unkorrekt ist“ (SNE, Bd. 3, S. 555); ausgewählte Stellen werden im Apparat erläutert (vgl. SNE, Bd. 3, S. 559). 14 Joachim Bumke: Die vier Fassungen der ‚Nibelungenklage‘. Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert, Berlin/ New York 1996 (Quellen und Forschungen zu Literatur- und Kulturgeschichte 8), S. 45–36.
232
Fassungsvarianz bei Neidhart
3. Anders als die Anhänger der Mündlichkeitsthese halte ich die Rekonstruktion von primären Liedfassungen nicht prinzipiell für unmöglich, sondern ich suche in der Überlieferung nach Anhaltspunkten für deren Rekonstruktion. Die Neidhart-Überlieferung enthält (mindestens) zwei solche Anhaltspunkte. Den einen liefern Strophen, die in der Berliner Neidhart-Handschrift R zu insgesamt zehn Liedern am Blattrand nachgetragen sind.15 Diese z.T. mit Zuordnungszeichen versehenen Randstrophen zeugen von einer Strophenvarianz dieser Lieder, die bislang in keiner Neidhart-Ausgabe berücksichtigt wurde, obwohl sie sich – wie gesagt – in R und damit in der Handschrift befinden, die sowohl für die Hauptsche als auch für die Salzburger Ausgabe (deren Transkriptionen an der Strophenanordnung in Hs. R ausgerichtet sind) grundlegend ist. Als Ausgangspunkt für die Rekonstruktion von Fassungsvarianz bieten sich diese Einträge an, weil mit ihnen an einem Punkt im Überlieferungsprozess angesetzt werden kann, an dem die Kontamination von Strophen noch nicht vollzogen ist. Einen zweiten Anhaltspunkt bietet der Vergleich der Überlieferungszeugen der Lieder. Dieser nämlich zeigt – was in der Forschung bislang nicht gesehen wurde –, dass sich die Überlieferung nicht durch ein beliebiges Changieren des Wortmaterials auszeichnet, sondern dass im Bereich der lexikalischen Varianten spezifische Verteilungsverhältnisse vorliegen. Diese Spezifik, die – wie zu zeigen sein wird – darauf hinweist, dass die Überlieferung auf eine schriftlich fixierte, mit Varianten versehene Vorlage zurückgeht, bietet einen Anhaltspunkt für die Rekonstruktion von Fassungsvarianz auf Wort- und Versebene sowie die Unterscheidung von primären und sekundären Lesarten. Im Folgenden wird die Rekonstruktion von Fassungsvarianz ausgehend von diesen beiden Merkmalen der Neidhart-Überlieferung an einem Beispiel – dem Lied Nr. 12 (Bl. 50v–51r; ATB: SL 11 / SNE: R 12) – vorgeführt sowie das daraus abgeleitete Textentstehungs- und Überlieferungsmodell diskutiert. 15
Hierzu zählen folgende Lieder: R 2, 4, 10, 12, 24, 25, 27, 30, 32, 34. Dass der Schreiber dieser Handschrift an manchen Stellen Liedstrophen am Blattrand nachgetragen und diese z.T. mit Zuordnungszeichen versehen hat, ist in der Forschung bekannt (vgl. u.a. Dietrich Boueke: Materialien zur Neidhart-Überlieferung, München 1967 [Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 16]; Franz-Josef Holznagel: Wege in die Schriftlichkeit. Untersuchungen uns Materialien zur Überlieferung der mittelhochdeutschen Lyrik, Tübingen 1995 [Bibliotheca Germanica 32]); jedoch liegt bislang keine detaillierte Beschreibung dieses Befunds vor. Meine Sichtung der Handschrift hat diesbezüglich neue Erkenntnisse gebracht, die für die Edition der Texte genutzt werden; eine Auseinandersetzung damit erfolgt in der Einleitung der Edition (vgl. künftig: Anna Kathrin Bleuler: Fassungsvarianz bei Neidhart. Rekonstruktion der durch die Berliner Handschrift R angezeigten Doppelfassungen). Hier soll lediglich darauf hingewiesen werden, dass die Zuordnungszeichen im Digitalisat z.T. nicht sichtbar und dass die Handschriftenbeschreibungen z.T. fehlerhaft sind.
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Anna Kathrin Bleuler
II. Rekonstruktion von Fassungsvarianz ausgehend von den Randeinträgen in der Berliner Neidhart-Handschrift R (mgf 1062) II.1. Die Randeinträge in der Berliner Neidhart-Handschrift R (mgf 1062) Die Neidhart-Sammlung der Hs. R (Bl. 48r–62v) enthält insgesamt 20 am Blattrand nachgetragene Strophen, die sich auf zehn Lieder verteilen.16 Franz Josef Holznagel hat in den 1990er-Jahren dargelegt, dass diese 20 Randstrophen aus nachträglich erschlossenen Quellen stammen müssen.17 Denn sie wurden (mit einer Ausnahme)18 zwar vom selben Schreiber notiert wie die Einträge des Haupttexts, aber manche weisen – ebenso wie die Strophen R 38–39,4 (Bl. 57vb– 58va) innerhalb des Haupttexts – eine vom Rest der Einträge abweichende rötlich-braune Tintenfärbung auf sowie weitere grafische Besonderheiten.19 Entscheidend für Holznagels Argument ist erstens, dass der sich im Haupttext befindende, grafisch abweichend gestaltete Abschnitt R 38–39,4 (Bl. 57vb–58va) zwei Vorlagenwechsel anzeigt (Bl. 57vb / Bl. 58va), zweitens, dass sich die Randstrophen alle in dem Teil der Sammlung befinden, der diesem grafisch abweichend gestalteten Abschnitt vorausgeht (R 1–37, Bl. 48r–57vb), und drittens, dass es zwei Typen von Randstrophen gibt:20 Der eine weist entsprechend der Strophenfolge R 38–39,4 eine rötlich-braune Tintenfärbung sowie alle weiteren grafischen Besonderheiten dieses Abschnitts auf,21 der andere Typus entspricht der grafischen Gestaltung des daran anschließenden Schlussteils der Sammlung (R 39,5–58; Bl. 58va–62v: dunkelbraune Tinte, Reimpunkte). Aus diesem Befund 16
Vgl. Abbildungen zur Neidhart-Überlieferung I: Die Berliner Neidhart-Handschrift R und die Pergamentfragmente Cb, K, O und M, hg. v. Gerd Fritz, Göppingen 1973 (Litterae 11) sowie das digitale Faksimile: https://digital.staatsbibliothek-berlin.de/werk ansicht?PPN=PPN721570089&PHYSID=PHYS_0001&DMDID=. 17 Holznagel [Anm. 15], S. 289–297. 18 Vgl. die zu R 10 nachgetragene Strophe auf Bl. 50v (= ATB: SL 28,VI). 19 Die Neidhart-Sammlung der Hs. R besteht aus zwei Lagen: Die erste Lage (Bl. 48r–55v) enthält den Schluss des ‚Pfaffen Amîs‘ und die Neidhart-Strophen R 1,1–33,2 sowie den Anfang der Strophe R 33,3. Diese Lage ist einheitlich mit 48 Zeilen pro Kolumne und abwechselnd rot-blauen Stropheninitialen eingerichtet. In der zweiten Lage (Bl. 56r–62v), die ausschließlich Neidhart-Lieder (R 33,3–58) enthält, sind die Seiten nur noch mit 47 Zeilen pro Spalte und die Stropheninitialen nur noch in roter Farbe gesetzt. Innerhalb der zweiten Lage heben sich die Strophen R 38–39,4 insofern von ihrer Umgebung ab, als sich hier die sonst dunkelbraune Tintenfarbe durch eine rötlich-braune Färbung unterscheidet und der Schriftduktus sowie die Kennzeichnung der Reimwörter (Virgel anstatt Reimpunkte) abweichen (vgl. Holznagel [Anm. 15], S. 294 f.). Mit Strophe 39,5 wechselt die Tintenfarbe wieder zu Dunkelbraun und der regelmäßige Wechsel der Initialfarben (der zwischen 56r–58r zugunsten nur roter Initialen aufgegeben wurde) setzt wieder ein, der bis zum Schluss (R 58) durchgehalten wird. 20 Hinzu kommt die von späterer Hand nachgetragene Randstrophe zu R 10 auf Bl. 50v (= ATB: SL 28,VI). 21 Hierzu zählen zwei Strophen zu R 4 (Bl. 49r), eine Strophe zu R 30 (Bl. 56r), eine Strophe zu R 32 (Bl. 56v) und eine Strophe zu R 34 (Bl. 57r) (vgl. Holznagel [Anm. 15], S. 295).
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Fassungsvarianz bei Neidhart
schließt Holznagel, dass dem Schreiber, nachdem er die zu 37 Liedern gehörenden Strophen aus seiner ersten Quelle eingetragen hatte, mindestens zwei weitere Neidhart-Sammlungen zugänglich wurden.22 Strophen, die er in diesen nachträglich erschlossenen Quellen zu bereits eingetragenen Liedern vorfand, hat er diesen jeweils am Seitenrand hinzugefügt.23 Sieht man sich diese Randeinträge näher an, stellt man fest, dass sie nicht willkürlich an den Blatträndern angeordnet sind, sondern unterschiedliche Arten der Zuordnung zu erkennen geben: Es gibt Strophen, die direkt neben einer Strophe des Haupttextes stehen (vgl. Bl. 57r); es gibt solche, die genau zwischen zwei Strophen des Haupttextes stehen (vgl. Bl. 54v); wenn es mehrere sind, sind sie am seitlichen oder unteren Blattrand eingetragen, jeweils mit Nummerierungen versehen (Vgl. Bl. 54r). Dieser Befund zeigt, dass es dem Schreiber darum ging, Auskunft darüber zu geben, in welchem Verhältnis die Randstrophen zu den Strophen des Haupttextes stehen. Er wollte zeigen, ob sie als Plusstrophen oder als Alternativstrophen aufzufassen sind und wo sie im Strophenensemble zu stehen haben. In Fällen etwa, in denen er Randeinträge als Einschübe in den Haupttext verstanden wissen will, nimmt er entsprechende Kennzeichnungen an den Randstrophen sowie am Haupttext vor. Zu sehen ist das z.B. bei Lied Nr. 24 (Bl. 54r)24: Die drei zu R 24 am Blattrand nachgetragenen Strophen sind mit den römischen Zahlen iii, iv, und v versehen. Die an dritter Stelle des Haupttextes stehende Strophe wiederum ist mit der römischen Zahl vi gekennzeichnet. Diese Ordnungszahlen weisen die Randstrophen eindeutig als Einschub zwischen zweiter und dritter Strophe des Haupttextes aus. Was hier vorliegt, ist außergewöhnlich für die deutschsprachige Schriftlichkeit des 13. Jahrhunderts, denn diese verfügte über keine etablierte Kommentartradition. Man hat es hier gewissermaßen mit den Gehversuchen eines philologisch bemühten Schreibers zu tun. Ein Detail, das bislang in keiner Handschriftenbeschreibung vermerkt wurde,25 deutet darauf hin, dass sich der (uns unbekannte) Schreiber bei der Niederschrift der Texte an der lateinischen Schriftkultur orientiert hat: Die Lieder, die mit Nachtragsstrophen versehen sind, weisen jeweils ein Kreuzzeichen auf, das neben der ersten Liedstrophe angebracht ist (vgl. u.a. Bl. 50v, 54r, 55v).26 Hierbei handelt es sich um ein aus 22
Holznagel rechnet mit weiteren Vorlagenwechseln bei R 21,6 und R 26,5 (Bl. 54v nach dem Wort tach) (vgl. ebd., S. 299, Anm. 55). 23 Vgl. ebd., S. 295. 24 ATB: WL 23; SNE: R 24. 25 Vgl. die Handschriftenbeschreibungen bei Boueke [Anm. 15]; Holznagel [Anm. 15] und SNE Bd. 3. 26 Die Kreuzzeichen sowie die Zuordnungszeichen sind z.T. so stark verblasst, dass man sie in der Handschrift zwar noch schwach erkennen kann, nicht aber im Digitalisat. Die Sichtung der Handschrift ergibt, dass zwei Liedeinträge ein Kreuzzeichen aufweisen, ohne dass Nachträge vorhanden sind (vgl. Bl. 49v). Dieser Befund bleibt erklärungsbedürftig.
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dem lateinischen Schrifttum bekanntes Symbol, mit dem auf einen Nachtrag hingewiesen wird.27 Für die Rekonstruktion von Fassungsvarianz ist dieser Handschriftenbefund signifikant, denn in der Konstellation ‚Haupttext – Randstrophen‘ werden jeweils zwei Liedversionen greifbar: zum einen die des Haupttextes (das ist die Version, wie sie dem Schreiber in seiner ersten Quelle vorlag) und zum anderen die Version, die die Randstrophen umfasst; das ist die Version, die dem Schreiber in seiner zweiten Quelle vorlag. Die Tatsache, dass dieser Befund bislang in keiner Edition von Neidharts Liedern berücksichtigt wurde, erklärt sich mit den texttheoretischen Implikationen, die den Ausgaben zu Grunde liegen. Für die Haupt’sche Ausgabe liegt das auf der Hand: Hier wird versucht, einen Text zu rekonstruieren; mit alternativen Liedversionen wird nicht gerechnet. Dementsprechend operieren Haupt und seine Nachfolger die Randstrophen in z.T. waghalsigen Verfahren in die Texte hinein. Bei der 2007 erschienenen Salzburger Neidhart-Edition verhält es sich anders, die Herausgeber*innen wollen nämlich die Unfestigkeit der mittelalterlichen Schriftlichkeit illustrieren; daher sind sie um handschriftengetreue Textwiedergabe bemüht. Ihnen geht es darum, Rekonstruktionen und Interpretationen möglichst zu vermeiden. Im Falle der Randeinträge in R wird ihnen dieses Vorgehen jedoch zum Verhängnis, denn auch sie integrieren die Randstrophen in den Haupttext und ebnen damit die in der Handschrift selbst enthaltene Varianz ein. Unternimmt man nun den Versuch, die in R angezeigte Fassungsvarianz zu rekonstruieren, muss man berücksichtigen, dass R zwar jeweils zwei Liedversionen anzeigt, jedoch nur eine – nämlich die des Haupttextes – als solche bezeugt. Die zweite Version ist insofern hypothetisch, als nicht bekannt ist, in welcher Gestalt und in welcher Anordnung die den Randeinträgen vorausgehenden und nachfolgenden Strophen dem Schreiber in seiner nachträglich erschlossenen Quelle vorgelegen haben. Angezeigt wird zwar die Strophenvarianz; Wort- und Versvarianten, mit denen er konfrontiert gewesen sein muss, sind jedoch bis auf wenige Ausnahmen nicht vermerkt.28 Zum einen stellt sich somit die Frage, wie sich die Randstrophen den Strophen des Haupttextes zuordnen und zum anderen, wie die Liedversion der zweiten Quelle aussah: Waren die Strophen identisch angeordnet wie in der Version des Haupttextes? Hat die Version der zweiten Quelle Wort- und Versvarianten aufgewiesen? – Hierzu nun als Beispielfall Lied Nr. 12 (Bl. 50v–51r; ATB: SL 11 / SNE: R 12). 27
Vgl. Lukas J. Dorfbauer, John J. Contreni: An Unidentified Epitome of the Expositiunculae in Euangelium Iohannis euangelistae Matthaei et Lucae (CPL 240) and Scholarship in the Margins at Laon in the Ninth Century, in: The Journal of Medieval Latin 28, 2018, S. 49–93. 28 Eine solche Ausnahme stellt die Randstrophe zu R 27 (Bl. 55r) dar, die sich von der vierten Strophe des Haupttextes nur durch den Anfangsvers abhebt. An einigen anderen Stellen in Hs. R wurden einzelne Wörter nachgetragen.
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II.2. Lied Nr. 12 (Bl. 50v–51r; ATB: SL 11 / SNE: R 12) Interpretation des Handschriftenbefunds Lied Nr. 12 umfasst im Haupttext sieben Strophen: I
Ez grvnet wol div haide mit grvnem lovbe stat der walt. der winder chalt. twanch si sere bæide. div zit hat sich verwandelot. min sendiv not. mant mich an div gDten. von der ich vnsanfte schayde.
Es grünt schön die Heide, in grünem Laub steht der Wald. Der kalte Winter hatte beiden Schmerz und Gewalt zugefügt. Die Zeit hat sich gewandelt. Mein Liebesschmerz erinnert mich an die Gute, von der ich unsanft getrennt bin.
II
Gegen der wandelvnge singent wol div vogelin. den vrivnden min. den ich gerne svnge des si mir alle sagten danch. vf minen sanch. ahten hie die Walhe nieht so wol dir divtschiv zvnge
In Erwartung des Frühlings singen die Vöglein für meine Freunde. Für die würde ich selber gerne singen, wofür sie mir alle Dank sagen würden. Auf meinen Gesang achten die Welschen hier nicht: Wohl dir, deutsche Sprache.
III Wie gerne ich nv sande der lieben einen boten dar. nv nemt des war. der daz dorf erchande. da ich die senden inne lie. ia mein ich die. von der ich den mFt mit stæte liebe nie gewant.
Wie gerne würde ich der Geliebten nun einen Boten senden – das könnt ihr mir glauben! –, dem das Dorf bekannt ist, in dem ich die Geliebte zurückließ. Ja, ich meine die, von der ich meine Gedanken in treuer Liebe nie abgewendet habe.
IV
Bot nv var bereite zv lieben vrivnden vber se. mir tvt vil we. sendiv arbeite. dv solt in allen von vns sagen. in chvrtzen tagen. sehens vns mit vrovden dort wan dvrch des wages praite.
Bote, nun mach dich schnell auf den Weg zu den geliebten Freunden übers Meer. Mich schmerzen bitterlich Sehnsuchtsqualen. Du sollst ihnen von uns ausrichten, dass sie uns in wenigen Tagen freudig empfangen könnten, wäre da nicht das breite Meer dazwischen.
V
Sag der meisterinne den willechlichen dienst min. si sol div sin. die ich von hertzen minne. vur alle vrowen hinne phvr. < … > e wold ich verchiesen der ich nimmer teil gewinne.
Sage der Herrin, dass ich ihr bereitwillig dienen will! Sie soll diejenige sein, die ich von Herzen liebe vor allen Frauen immerfort.
verzichte ich eher darauf, jemals eine andere zu gewinnen.
VI
Vrevnden vnde magen sag daz ich mih wol gehab. vil lieber chnab. ob si dich des vragen. wi ez vmb vns pilgerime ste. so sag wi we. vns die Walhen haben getan des mvz vns hie betragen.
Freunden und Verwandten sage, dass ich wohlauf bin. Lieber Knabe, wenn sie dich danach fragen, wie es uns Kreuzfahrern geht, dann sage ihnen, wie viel Leid uns die Welschen angetan haben! Darüber müssen wir uns hier ärgern.
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Anna Kathrin Bleuler VII Ob sich der bot nv sovme so wil ich sælbe bot sin ze den vrivnden min. wir leben alle chavme. daz her ist mer danne halbez mort. hey wær ich dort. bei der wolgetanen læge ich gern an minem rovme.
Der Bote könnte zu langsam sein, deshalb will ich mein eigener Bote sein und meinen Freunden künden: Wir sind alle kaum noch am Leben, das Heer ist mehr als zur Hälfte tot. Ach, wäre ich dort! An der Seite der Schönen läge ich gerne in meinem Zimmer.
In diesen Strophen geht es um ein Ich, das sich weit weg von zu Hause befindet und Heimweh hat (I–III). Es richtet sich an einen Boten und erteilt diesem den Auftrag, sich aufzumachen, um den Daheimgebliebenen Nachrichten zu übermitteln (IV–VI). In der letzten Strophe verwirft das Ich den Plan, einen Boten loszuschicken, wieder und beschließt, den Heimweg selbst anzutreten (VII). Diesem siebenstrophigen Eintrag sind auf dem unteren Blattrand (Bl. 51r) vier Strophen zugeordnet, die mit den römischen Ziffern vii, viii, ix und x versehen sind: vii
Wirb ez endelichen mit triwen la dir wesen gach ich chvm dar nah schire sicherliche. so ich aller baldist immer mach. den lieben tach lazz vns got geleben. daz wir hin heim ze lande strichen
Verrichte deinen Auftrag schnell, in Treue lass es dir eilig sein! Ich komme hinterher gewiss so bald und schnell, wie es mir irgend möglich ist. Den Freudentag lasse uns Gott erleben, an dem wir zurück ins Heimatland ziehen!
viii Solt ich mit ir nv alten ich het noch etteslichen don. vf minne lon her mit mir behalten des tovsent hertz wrden geil. gewinn ich heil gegen der wolgetanen min gewerft sol heiles walten
Könnte ich mit ihr alt werden, ich hätte noch so manches Lied, das Liebeslohn verspricht, in meinem Repertoire, worüber tausend Herzen froh würden. Habe ich Glück bei der Geliebten, wird es meinem Sängerberuf zugutekommen.
ix
Si reyen oder tanzen si tvn vil manigen weiten schrit ich allez mit. e wir heim geswantzen. ich sag iz bei den triwen min. wir solden sin. ze Osterich vor dem snit so setzet man di phlantzen
Sei es, dass sie springen oder tanzen oder viele große Schritte machen, in Gedanken bin ich immer dabei. Bevor wir aber heimtänzeln können, ich sage das bei meiner Treue, müssen wir erst einmal in Österreich sein. Erst setzt man die Pflanzen, dann schneidet man sie.
x
Er dvnchet mich ein narre. swer disen ovgest hie bestat. ez wær min tot liez er sich geharre. vnd vFr hin wider vber se. daz tvt niht we. nindert wær ein man baz dann da heim in siner pharre
Es ist ein Tor, wer diesen August über hier ausharrt; es wäre mein Tod. Wer die kranke Warterei sein lässt und übers Meer zurückkehrt, dem geht es gut. Nirgendwo ist ein Mann besser aufgehoben als daheim in seiner Pfarrgemeinde.
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Fassungsvarianz bei Neidhart
In Strophe vii entsendet das Ich einen mit einem Auftrag ausgestatteten Boten in die Heimat. Es schließen sich auf die Heimat bezogene Gedanken und Wunschvorstellungen des Ichs an (viii–ix), die im Entschluss münden, selbst so schnell wie möglich dorthin aufzubrechen (ix–x). Durch die Nummerierung mit den römischen Ziffern vii, viii, ix und x wird sowohl die Leserichtung als auch die Stellung der Randstrophen in Bezug auf den bereits abgeschriebenen Liedbestand angezeigt. Dennoch ist die Nummerierung doppeldeutig, denn der Haupttext enthält bereits sieben Strophen. Es stellt sich somit die Frage, ob die vier Randstrophen zwischen die sechste und siebte Strophe des Haupttextes einzufügen sind oder ob sie als alternatives Ende zur Schlussstrophe des Haupttextes vorgesehen waren. Je nach Auslegung steht der siebenstrophigen Version des Haupttextes eine zehn- (I–VI + vii–x) oder eine elfstrophige (I–VI + vii–x + VII) gegenüber. In den beiden vorgestellten Neidhart-Editionen wurde das Problem unterschiedlich gelöst: Moriz Haupt ignoriert die Nummerierung der Randstrophen und fügt sie an die letzte Strophe des Haupttextes an. Dabei allerdings entsteht ein argumentationslogischer Bruch, denn in der Schlussstrophe des Haupttextes wird der bereits erteilte Botenauftrag abgeschlossen (bzw. wieder aufgelöst); in der ersten Nachtragsstrophe wird dieser Auftrag aber erst erteilt. Haupt behebt diesen Bruch, indem er die Schlussstrophe des Haupttextes und die erste Nachtragsstrophe miteinander vertauscht (und durch einen kleinen Abstand zwischen den beiden Strophen anzeigt, dass das Lied in zwei Teile zerfällt). Diese Umstellung wird bis in die neueste Auflage der Ausgabe (ATB, 5. Aufl., 1999) beibehalten. In der Salzburger Neidhart-Edition wiederum wird die Doppeldeutigkeit des Überlieferungsbefunds mit keinem Wort erwähnt. Die Herausgeber fügen die vier Randstrophen nach der sechsten Strophe des Haupttextes an und stellen die siebte Strophe des Haupttextes an den Schluss des Liedes. Das Problem ist auch hier, dass der Abschluss des Botenauftrags an einer unpassenden Stelle steht, da der Bote bereits in der siebten Strophe in die Heimat entsandt wurde und es anschließend gar nicht mehr um den Boten geht.29 Da die Herausgeber keine Texteingriffe vornehmen, lassen sie diese Ungereimtheit so stehen. Bezieht man Holznagels Erkenntnisse zur Entstehung der Sammlung mit ein, kann man zumindest eines mit Sicherheit sagen: In der Quelle, die dem Schreiber als Vorlage für den Haupttext gedient hat, muss R 12 als siebenstrophiges Lied (R I–VII) vorgelegen haben. Das ist die sicherst bezeugte Version des Lie29
Neidharts Lieder zeichnen sich bekanntlich durch ihre Anspielungshaftigkeit und momenthafte Verdichtung aus; logische Brüche, wie hier einer vorliegt, gehören jedoch nicht in die Kategorie der Neidhart’schen Ellipsen (zu den Konstruktionsprinzipien der Sommerlieder vgl. Anna Kathrin Bleuler: Überlieferungskritik und Poetologie. Strukturierung und Beurteilung der Sommerliedüberlieferung Neidharts auf der Basis des poetologischen Musters. Tübingen 2008 [Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 136], S. 61–144).
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des, und umso erstaunlicher ist es, dass diese Kurzversion in der Forschung bislang nicht beachtet wurde. Die Frage ist nun allerdings, wie sich die Randstrophen dazu verhalten. Deren Nummerierung ist für sich genommen zwar doppeldeutig, betrachtet man sie jedoch in Hinblick auf die sonstige Art der Zuordnung von Randeinträgen sowie auf den Inhalt des Liedes, dann ergeben sich zwei Argumente, die gegen die elfstrophige (R I–VI + vii–x + VII) und für die zehnstrophige Version (R I–VI + vii–x) sprechen. Erstens: In Fällen, in denen der Schreiber Randeinträge als Einschübe in den Haupttext verstanden wissen will, nimmt er entsprechende Kennzeichnungen am Haupttext vor (vgl. oben). Da im vorliegenden Fall keine solche Markierung der Randstrophen als Einschub vorliegt, liefern die Eintragungsmodalitäten des Schreibers ex negativo einen Hinweis dafür, dass sie eben nicht als Einschub (zwischen VI und VII), sondern als Alternative zur Schlussstrophe des Haupttexts aufzufassen sind.30 Zweitens: Wenn man die vier Randstrophen als alternatives Ende zur Schlussstrophe des Haupttextes begreift, dann löst sich der konzeptionell nicht zu rechtfertigende, inhaltlich-logische Bruch auf, mit dem bislang alle NeidhartEditoren zu kämpfen hatten. Es werden zwei Versionen sichtbar: eine siebenstrophige, R 121: I–VII, und eine zehnstrophige, R2: I–VI/7–1031, von denen die siebenstrophige als solche im Haupttext von R steht, wohingegen die zehnstrophige eine Rekonstruktion auf der Basis der Interpretation des Überlieferungsbefunds darstellt. Die Frage, die sich nun stellt, ist, ob sich die Hypothese von zwei Liedversionen aus formaler und inhaltlicher Sicht stützen lässt. II.3. Lied Nr. 12 (Bl. 50v–51r; ATB: SL 11 / SNE: R 12): Inhaltliche Überprüfung des Handschriftenbefunds R 12 gehört zur Gattung der Kreuzzugslyrik. Es ist kein Propagandalied, sondern ein Anti-Kreuzzugslied, das eine desillusionierte Sicht auf die Kreuzzugsthematik aufweist. Alle elf Strophen sind metrisch gleich gebaut (Periodenstrophenform: 3wa 4mb 2mb 3wa 4mc 2mc 7wa) und weisen bayerischösterreichische Dialektmerkmale auf. Die einzige größere Unregelmäßigkeit besteht darin, dass in Strophe V ein Vers fehlt (V. 6). Ansonsten sind lediglich 30
Zwar ist im vorliegenden Fall ebenfalls eine Strophe des Haupttextes mit einer Nummer versehen. Neben der sechsten Strophe des Haupttextes (am linken Blattrand zum Falz hin, im Digitalisat nicht sichtbar) steht die römische Zahl vi. Das heißt, dass den vier Randstrophen vom Schreiber explizit die Position nach der sechsten Strophe des Haupttextes zugewiesen wird. Entscheidend dabei ist aber, dass die siebte Strophe des Haupttextes – anders als es beim oben vorgestellten Eintrag zu R 24 der Fall ist – keine Ordnungszahl aufweist (es müsste römisch xi sein). Denn das bedeutet im Umkehrschluss, dass die Strophe nicht auf die zehnte folgt, sondern ein alternatives Ende darstellt. 31 Um die in R angezeigten Liedversionen besser auseinanderhalten zu können, werden die Strophen des Haupttextes fortan mit römischen Zahlen bezeichnet (I–VII), die Randstrophen dagegen mit arabischen (7–10).
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einige Kasusfehler zu verzeichnen (Walhe anstatt Walhen [II,7]; staete anstatt staeter [III,7]; sicherliche anstatt sicherlichen [7,4]; hertz anstatt hertze [8,5]).32 Wenn man die Strophen inhaltlich betrachtet, zeigt sich, dass die – ausgehend vom Handschriftenbefund aufgestellte – Hypothese von zwei Liedversionen bestätigt werden kann. Dies sei im Folgenden dargelegt: Das Lied hebt mit einem Natureingang an, auf den eine Liebesklage des Sprechers folgt, die kontrastiv gegen das etablierte Sommerbild abgesetzt ist. Sein Seelenschmerz mahnt den Sprecher an seine Geliebte, von der er getrennt ist (I,7). Die zweite Strophe führt über das Motiv des Vogelsangs zu einer Reflexion über das Singen, der Sprecher entpuppt sich als Sänger. Er berichtet von seinem Wunsch, zu singen, der ihm verwehrt bleibt, weil er kein Publikum hat (II,6–7). Über das Thema des fehlenden Publikums wird ein in der Vorstellung des Sängers angesiedelter Handlungsraum etabliert, nämlich das Dort, wo die Vögel für die Freunde des Sängers singen und wo seine eigene Kunst sehnlich vermisst wird (II,5). Diesem Raum steht das Hier (II,7) gegenüber, in dem das Singen des Sprechers erfolglos bleibt, weil die Welschen – das sind die verbündeten Kreuzritter aus der Romania – nicht zuhören bzw. ihn nicht verstehen. Die Rede ist im Spannungsfeld von zwei Kommunikationssituationen situiert: einer auf Distanz ausgerichteten zu den abwesenden Freunden und einer auf Nähe angelegten zu den unverständigen Verbündeten des Sprechers. Das Bild des in der Ferne weilenden Sängers leitet über zur dritten Strophe, in der dieser den Wunsch äußert, einen Boten ins heimatliche Dorf zur Geliebten zu senden (R III). Hier kommt nun eine dritte Kommunikationssituation ins Spiel, denn der Ausruf nv nemt des war (III,3) richtet sich weder an die abwesenden Freunde noch an die anwesenden Kreuzritter, sondern im Zeigefeld der Aufführungssituation stellen solche Aufforderungen einen Publikumsbezug her. Für einen Augenblick wird die Aufmerksamkeit auf das Hier und Jetzt der Vortragssituation gelenkt, um im nächsten Moment die Vorstellung eines Boten zu etablieren. In Strophe IV,1–2 heißt es: Bot nv var bereite / zv lieben vrivnden vber se. Im Weiteren entpuppt sich der Sprecher dann als Kreuzfahrer, der sich mit der Bitte um Übersendung von Nachrichten an ebendiesen Boten wendet. Die Freunde und Verwandten sollen von der ersehnten Heimkunft erfahren (IV,1–6), von der bevorstehenden gefährlichen Reise (IV,7) und den Auseinandersetzungen mit den eigenen Verbündeten (VI). Der Minnedame – Strophe V 32
Haupts Konjektur des ‚unreinen‘ Reims in Strophe 10,2–3: bestat – tot (Haupt ersetzt das Wort tot durch rât aus der c-Version; dieser Eingriff wurde von den Neidhart-Editoren des 20. Jahrhunderts übernommen) erscheint aus mehreren Gründen als nicht gerechtfertigt: Erstens geht er von der heute als nicht mehr zutreffend angesehenen Annahme aus, dass für die mhd. Lyrik ab 1200 das Ideal des reinen Reims gegolten habe; zweitens vernachlässigt er die Möglichkeit der dialektalen ‚Färbung‘ in der Aussprache von bestat – tot, die es fraglich erscheinen lässt, ob man hier überhaupt von einem ‚unreinen‘ Reim sprechen kann und drittens ist das Wort tot in Vers drei Bestandteil der poetischen Konzeption des Textes (vgl. Bleuler [Anm. 29], S. 240).
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– gilt es die Dienstbereitschaft zuzusichern. In Strophe VII jedoch zerschlägt sich die Vorstellung des Boten wieder. Mit der Aussage: Ob sich der bot nv sovme / so wil ich sælbe bot sin (VII,1–2) stellt sich der Botenauftrag als optionale Erwägung – als bloße Wunschvorstellung – heraus. Der Bote verliert so seine eigentliche Funktion als Übermittler von Botschaften. Die Abgeschiedenheit des in den Trümmern der verlorenen Schlacht (VII,5) vegetierenden Sängers und Kreuzfahrers wird sichtbar. Weder erreicht sein Gesang die anwesenden Mitstreiter, noch wird über den Boten eine Verbindung zum heimatlichen Publikum (den Freunden) aufgebaut. Was bleibt, ist der unbeugsame Wille, der misslichen Lage zu entkommen und auf schnellstem Weg nach Hause zu fahren (VII,1–3). Mit dieser Absage an das Kreuzzugsgeschehen endet R 121. Die Desillusionierung der Kreuzzugsthematik vollzieht sich auf der Basis einer mehrschichtigen Kommunikationsstruktur.33 Die Fehlleitung des Kreuzritters und Sängers wird über ein Changieren zwischen Situationen der Nicht-Kommunikation vermittelt und manifestiert sich im Zustand seiner Isolation. Thematisch gesehen umfassen Neidharts Sommerlieder zwei Typen, die zeitkritischen Lieder und die sogenannten Dörperlieder.34 In den zeitkritischen Liedern tritt das lyrische Ich als Sänger auf, das über politische und gesellschaftliche Zustände und oftmals auch über die Funktion des Singens selbst nachdenkt. Die Dörperlieder dagegen zeichnen sich durch eine dreiteilige Themenstruktur aus. Sie beginnen jeweils mit einem Natureingang, an den sich eine appellative Passage – ein Aufruf zu Freude und Tanz – anschließt; als drittes folgt die Rede eines Mädchens, das den Wunsch äußert, am Tanz unter der Linde teilzunehmen, und damit vehementen Widerspruch bei Freunden und Verwandten auslöst. Die Lieder enden mit Drohungen, Streit und Schlägen, wobei entscheidend ist, dass der sommerliche Tanzplatz für die Akteure ein unerreichbarer Wunschort bleibt.35 Die vorliegende siebenstrophige Version von R 12 gehört zu den zeitkritischen Liedern; sie verbindet die Zeitklage mit Elementen der Kreuzzugslyrik. Wenn man nun das alternative Ende von R 12 (d.h. die Strophen 7–10) ansieht, zeigt sich, dass Strophe 7 inhaltlich in einem Punkt entscheidend von der Schlussstrophe der ersten Version (Str. VII) abweicht. Die Botenfiktion wird hier nämlich nicht aufgelöst, sondern aufrechterhalten: Mit der Aussage in Strophe 7,1–2: Wirb ez endelichen / mit triwen la dir wesen gach wird der Bote in die Heimat entsandt und damit in seiner eigentlichen Funktion als Übermittler von Nachrichten eingesetzt. Das heißt, die Verbindung zu den Daheimgebliebe-
33
Das christlich-politische Anliegen des Unternehmens verkommt in der Auseinandersetzung mit den eigenen Verbündeten zur Farce; in VI,6–7 beklagt sich der Sprecher über den Streit mit ihnen. 34 Zur Typenbeschreibung von Neidharts Sommerliedern vgl. Bleuler [Anm. 29]. 35 Vgl. Bleuler [Anm. 29], S. 127–133.
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nen wird aufgebaut. An den Botenauftrag schließt sich eine auf die Heimat bezogene Wunschvorstellung des Sprechers an (8–10): Er stellt sich vor, wie er zu Hause eine glückliche Minnebeziehung führt, die Hand in Hand mit einer erfolgreichen Künstlerkarriere geht (8), und wie er am sommerlichen Tanz unter der Linde teilnimmt (9). Das gedankliche Abgleiten in die ferne Heimat schärft sodann seinen Blick für die trostlose Wirklichkeit und zementiert den Entschluss, keinen Sommer mehr hier auszuharren (10,1–3), sondern so bald wie möglich nach Österreich zurückzukehren (9,5–7). Die abschließende Bemerkung nindert wær ein man baz dann da heim in siner pharre (10,7) erteilt der Kreuzzugsunternehmung eine definitive Absage. Der Durchgang zeigt: Wenn man die vier Randstrophen nicht als Zusätze, sondern als Alternativstrophen auffasst, dann ergibt sich ein sinnvoller Argumentationsgang, der im Vergleich mit der siebenstrophigen Liedversion andere Akzente setzt. Zum einen schließen die beiden Versionen den Botenauftrag in unterschiedlicher Weise ab: In der Kurzversion ist er bloßes Gedankenspiel; in der Langversion wird die Botenfiktion aufrechterhalten. Zum anderen – und das ist entscheidend – vollzieht sich in der längeren Version verglichen mit der kürzeren eine Verschiebung der Gattungsperspektive, denn die vier Randstrophen integrieren die Zeitklage in den Struktur- und Situationsrahmen des Neidhart’schen Dörperliedtypus. Die Themenstruktur der zweiten Liedversion ist, wenn auch inhaltlich umbesetzt, dreiteilig. An die Naturdarstellung (I–II, erster Liedteil) schließt sich eine appellative Passage an, nämlich der Botenauftrag (III–7, zweiter Liedteil). Als drittes folgt die auf die Heimat bezogene Wunschvorstellung des Sprechers, in der die Raumperspektive der Dörperlieder eingeblendet wird (8–10). Mit der Ausrichtung des Sprechers auf das heimatliche Tanzvergnügen scheint die Heterotopie des sommerlichen Tanzplatzes auf. In Strophe 9,1–3 heißt es: Si reyen oder tanzen / si tvn vil manigen weiten schrit / ich allez mit. Die Vision des Tanzes zeichnet ein Bild der Zuversicht und der Freude und schafft einen Illusionsraum, der den Sprecher für Augenblicke von allen Platzierungen des Realraums, an den er gebunden ist, entlastet und den Realraum damit als noch illusorischer denunziert. Die so erreichte Konfrontation beider Gattungen führt zu einer Konturierung bestimmter Wesenszüge. Die typenbildende Unerreichbarkeit der sommerlichen Tanzkulisse manifestiert sich im gleichen Zug, in dem sich in ihrer Spiegelung das sinngebende ideologische Moment der Kreuzzugsunternehmung auflöst und die verzweifelte Situation des in der Fremde weilenden Kreuzritters in aller Deutlichkeit hervortreten lässt. Insgesamt lässt sich sagen: Als zwei Liedversionen aufgefasst, wird in den Strophen der Hs. R eine Dimension der Mouvance fassbar, die in der NeidhartÜberlieferung auch andernorts zu beobachten ist, nämlich das Experimentieren mit Elementen verschiedener Lyrikkonzepte, das unterschiedliche Versionen eines Liedes hervorbringen kann. Im vorliegenden Fall enthält die kürzere Ver-
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sion Hybriditätsmerkmale, die in der längeren stärker ausgestellt sind.36 Die Konfrontation von Elementen der Kreuzzugslyrik mit Elementen der Neidhart’schen Dörperlieder verdichtet sich. Man hat es mit zwei Stufen eines poetischen Experiments zu tun, wobei ungewiss ist, welche Version die Ausgangslage darstellte: Die kürzere kann eine Reduktion der längeren sein, die längere kann eine Expansion der kürzeren sein. Der analytische Wert der Randeinträge für die Frage nach der Rekonstruktion von Fassungsvarianz betrifft die Ebene der Strophen; keine Aussagekraft haben die Randstrophen für die Rekonstruktion von Wort- und Versvarianten sowie für die Frage nach der historisch-genetischen Verortung der beiden Versionen. Ob es sich hier um primäre Fassungen handelt oder nicht, bleibt offen. Diesen Fragen wird im Folgenden anhand des zweiten Anhaltspunkts für die Rekonstruktion von Fassungsvarianz nachgegangen, der spezifischen Verteilung von Wort- und Versvarianten in der Überlieferung. Dabei wird sich zeigen, dass die Zehnerversion ausgehend von diesem Merkmal bis in den Wortlaut hinein erschlossen und der historisch-genetische Status der vorliegenden Liedversionen geklärt werden kann.
III. Rekonstruktion von Fassungsvarianz ausgehend von der spezifischen Verteilung der Wort- und Versvarianten in der Überlieferung III.1. Lied Nr. 12 (Bl. 50v–51r; ATB: SL 11 / SNE: R 12): Überlieferungsgeschichtliche Prüfung des Handschriftenbefunds R 12 ist als achtstrophiges Lied in der Großen Heidelberger Liederhandschrift C (Codex Manesse, entstanden Anfang 14. Jahrhundert in Zürich) und mit zwölf Strophen in der Berliner Neidhart-Handschrift c (entstanden zwischen 1461 und 1466 in Nürnberg) überliefert. Die achtstrophige Version in C (Lied Nr. 6, Bl. 274v) enthält alle Strophen von R1 sowie eine Schlussstrophe von R2 (C V ≈ R 8). Aufgrund eines Blattverlusts, der im 17. Jh. nach der achten Strophe eingetreten ist, ist sie möglicherweise unvollständig erhalten.37 Die zwölfstrophige Version in c (Nr. 27 [26], Bl. 158r–159r) enthält alle Strophen von R1
36
Die Untersuchung der Randeinträge in Hs. R zeigt, dass diese oftmals das für Neidhart typische Dörperlich-Burleske stärker ausstellen, als es in den Strophen des Haupttextes der Fall ist. Das deutet darauf hin, dass der Haupttext (v. a. Lieder 1–37) auf eine Quelle zurückgeht, die einen ‚konservativeren‘ Neidhart bewahrte, als es bei den Quellen der Fall war, denen die Randeinträge entnommen wurden. 37 Vgl. Lothar Voetz: Zur Rekonstruktion des Inhalts der verlorenen Blätter im Neidhart-Corpus des Codex Manesse, hg. v. Jens Haustein u.a.: Septuaginta quinque. Festschrift für Heinz Mettke, Heidelberg 2000, S. 381–408.
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Fassungsvarianz bei Neidhart
und R2 sowie eine zusätzliche, ansonsten unbezeugte Strophe38. Die den drei Textzeugen gemeinsame Anfangsstrophe (R I / C I / c I) ist zudem im Codex Buranus (Sigle M, entstanden im bayerischen Raum um 1230) als Schlussstrophe eines lateinischen Textes erhalten (Nr. 168). Dieser Eintrag gehört zu den ältesten Belegen von Neidharts Liedern und ist mutmaßlich zu Lebzeiten des Autors notiert worden. Hier die Strophenkonkordanz (Strophennummerierung nach R): Hs. M (bayerischer Raum, um 1230)
Hs. R (Niederösterreich, um 1280)
Hs. C (Zürich, um 1300)
Hs. c (Nürnberg, zw. 1461 u. 1466)
I
I II III IV V VI VII 7 (Randstr.) 8 (Randstr.) 9 (Randstr.) 10 (Randstr.)
I II III VII 8 IV V VI
I II III IV V VI 9 7 VII 8 10 + eine ansonsten unbezeugte Strophe
Vergleicht man die Überlieferungszeugen miteinander, kann man grundsätzlich sagen, dass weder die sieben- noch die zehnstrophige Version von R 12 in einer der beiden späteren Handschriften überliefert ist. Sowohl der Codex Manesse als auch die Berliner Neidhart-Handschrift c überliefern das Lied in offensichtlich verwirrter Strophenreihenfolge. Dieser Befund ist in der Forschung eingehend diskutiert worden, ich brauche darauf nicht näher einzugehen.39 Das Einzige, was ich hervorheben möchte, ist: Wenn man – wie hier vorgeschlagen – von zwei Liedversionen ausgeht, dann zeigt sich, dass die beiden jüngeren Handschriften Mischversionen aus der Siebener- und Zehnerfassung darstellen. 38
Gerd Fritz und Hans Becker werten die Schlussstrophe in c aufgrund sprachhistorischer und poetologischer Untersuchungen als spätere Hinzudichtung (vgl. Gerd Fritz: Sprache und Überlieferung der Neidhart-Lieder in der Berliner Handschrift germ. fol. 779 [c], Göppingen 1969 [Göppinger Arbeiten zur Germanistik 12]; Hans Becker: Die Neidharte. Studien zur Überlieferung, Binnentypisierung und Geschichte der Neidharte der Berliner Handschrift germ. fol. 779 [c], Göppingen 1978 [Göppinger Arbeiten zur Germanistik 225]). Meine überlieferungskritische Prüfung wird diese These stützen (s.u.). 39 Vgl. die überlieferungskritischen Beiträge zu R 12 von Edith Wenzel: Zur Textkritik und Überlieferungsgeschichte einiger Sommerlieder Neidharts, Göppingen 1973 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 110); Dorothea Klein: Der Sänger in der Fremde. Interpretation, literarhistorischer Stellenwert und Textfassungen von Neidharts Sommerlied 11, in: ZfdA 129, 2000.1–30; Jessika Warning: Neidharts Sommerlieder. Überlieferungsvarianz und Autoridentität, Tübingen 2007 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 132); Bleuler [Anm. 29].
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Die Überlieferungsbefunde legen nahe, dass sowohl C als auch c jeweils auf eine zehnstrophige Fassung zurückgehen, in die zu einem nicht rekonstruierbaren Zeitpunkt die Schlussstrophe der Siebenerfassung eingegangen ist (s.u.). Die Integration der Schlussstrophe der Siebenerfassung hat jeweils Strophenumstellungen in Gang gesetzt, die wiederum Eingriffe auf Wort- und Versebene nach sich gezogen haben. So wurden z.B. die inhaltlichen Brüche, die durch die Umstellungen an den Strophenübergängen entstanden sind, kleinräumig z.B. durch pronominale Verkettungen ausgeglichen.40 Im Kernbestand I–VI, der sowohl der Siebener- als auch der Zehnerversion zugrunde liegt und der in allen drei Handschriften überliefert ist, weisen die Textzeugen etliche lexikalische Wort- und Versvarianten auf. Das sowie die Tatsache, dass der Vers, der in der Handschrift R fehlt (V,6), im Codex Manesse und in der späteren Berliner Neidhart-Handschrift c in identischem Wortlaut erhalten ist, zeigen, dass weder C noch c auf R zurückgehen. Dasselbe gilt für das Verhältnis von c zu C, auch hier kann ein Abhängigkeitsverhältnis ausgeschlossen werden (s.u.). Das bedeutet: Man hat es mit drei voneinander unabhängigen Überlieferungszeugen des Liedes zu tun. III.2. Lied Nr. 12 (Bl. 50v–51r; ATB: SL 11 / SNE: R 12): Verteilung der Wort- und Versvarianten in der Überlieferung Betrachtet man nun die Varianz auf der Ebene der Einzelstrophen, so lässt sich eine Beobachtung machen, die einen Anhaltspunkt für die Unterscheidung von primärer und sekundärer Lesart und damit für die Rekonstruktion von Fassungsvarianz auf Wort- und Versebene liefert. Dies sei unter Einbezug einer Variantentypologie erläutert, die Thomas Bein und (darauf aufbauend) Christiane Henkes-Zin für Abweichungen erstellt haben, die auf der Ebene von mittelalterlichen Liedstrophen auftreten können:41 1. 2. 3. 4. 5.
Schreiberfehler, augenscheinliche Sinnentstellung, mechanischer Textverlust (Fragmente) orthografische Varianten Varianten des Lautstands grammatikalische Varianten auf der Wortebene hinsichtlich Modus, Kasus, Numerus, Flexion, Negation, Präfigierung Satzkonstruktionsvarianz
40
Vgl. die Diskussion der sekundären Wort- und Versvarianten in der Überlieferung von R 12 bei Wenzel [Anm. 39]; Klein: Der Sänger in der Fremde; Warning [Anm. 39], S. 69– 82, und Bleuler [Anm. 29], S. 281–291. 41 Typisierung nach Thomas Bein: Fassungen – iudicium – editorische Praxis. In: Walther von der Vogelweide: Textkritik und Edition, hg. v. Thomas Bein, Berlin/New York 1999, S. 72–90, hier S. 78 f. und Christiane Henkes-Zin: Überlieferung und Rezeption in der Großen Heidelberger Liederhandschrift (Codex Manesse), Aachen 2004, S. 46.
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6. Wort-/Versauslassungen bzw. -zufügungen 7a. lexikalische Varianten ohne größere semantische Relevanz 7b. lexikalische Varianten mit größerer semantischer Relevanz Alle hier aufgeführten Variantentypen sind in der Überlieferung von R 12 vertreten. Im Ensemble betrachtet enthält R 12 keinen einzigen Vers, der auch nur in zwei Handschriften identisch überliefert ist.42 Nimmt man jedoch ausschließlich die lexikalischen Varianten (7a und 7b) in den Blick, zeigt sich, dass die Handschriften nicht willkürlich voneinander abweichende Lesarten aufweisen, sondern dass sich die Binarität der Überlieferung, die in Hs. R auf der Ebene der Strophen vorliegt, auf der Wort- und Versebene fortsetzt. Ich illustriere das an der vierfach überlieferten Anfangsstrophe des Liedes: Lexikalische Varianten in der vierfach überlieferten Strophe I (durch Fettdruck bzw. graue Hinterlegung gekennzeichnet) Hs. M (bayerischer Raum, um 1230)
Hs. R (Niederösterreich, um 1280)
Hs. C (Zürich, um 1300)
Hs. c (Nürnberg, zw. 1461 u. 1466)
Nu grĤnet aver diu heide mit grĤneme l!be stat der walt der winder chalt twanch si sere beide. diu zit hat sich verwandelot ein senediu not mant mich an der gĤten von der ih ungerne scheide
Ez grvnet wol div haide mit grvnem lovbe stat der walt. der winder chalt. twanch si sere bæide. div zit hat sich verwandelot. min sendiv not. mant mich an div gĤten. von der ich vnsanfte schayde.
Nv grĤnet aber diu heide. mit niuwem l!be stet der walt. der winter kalt. twanc si sere beide. diu zit hat sich verwandelot. ein sendiv not. mant mich an die gĤten von der ich vnsanfte scheide.
Es grünet wol die haide. mit newem laube stet der walte der winter kalt. zwang sie sere baide. die zeitt hat sich verwandelett. ein sende nott. mant mich an die guten. von der ich vngern schaide
Was hier vorliegt, ist kein beliebiges Changieren des Wortmaterials, sondern man kann eine Regelmäßigkeit erkennen: Es liegen stets zwei verschiedene Lesarten vor, die sich im Verhältnis von zwei zu zwei bzw. eins zu drei auf die Überlieferung verteilen (V. 1: Nu grDnet aver diu heide [M / C] – Ez grvnet wol div haide [R / c], V. 2: mit grDneme l?be stat der walt [M / R] – mit niuwem l?be stet der walt. [C / c], V. 6: ein senediu not [M / c / C] – min sendiv not. [R]; V. 7: ungerne scheide [M / c] – vnsanfte schayde [R / C]). Des Weiteren ist zu sehen, dass sich die Varianten nicht gleichmäßig auf die Überlieferung verteilen, sondern ‚durcheinandergehen‘: Einmal gehen M und C gegen R und c; dann gehen M und R gegen C und c usw. Diese Art der Verteilung der Varianten setzt sich in den Strophen des Kernbestands, die dreifach überliefert sind, fort:
42
Eine Auflistung und Besprechung aller Wort- und Satzkonstruktionsvarianten von R 12 würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen.
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Lexikalische Varianten in den dreifach überlieferten Strophen des Kernbestands II-VI (durch Fettdruck bzw. graue Hinterlegung gekennzeichnet) Hs. R (Niederösterreich, um 1280)
Hs. C (Zürich, um 1300)
Hs. c (Nürnberg, zw. 1461 u. 1466)
RI/CI/cI
Ez grvnet wol mit grvnem lovbe min sendiv not. vnsanfte scheide
Nv grEnet aber mit niuwem lǂbe ein sendiv not. vnsanfte scheide.
Es grünet wol mit newem laube ein sende nott. vngern schaide
R II / C II / c II
Gegen der wandelvnge ahten hie die Walhe
Est in der wandelvnge. ahten es die walche
Gegen der wandelunge. achtent hie die walhen.
R III / C III / c III
Wie gerne ich nv sande von der ich den mEt mit stæte liebe nie gewant.
Gerne ich aber sande. von der ich den mEt mit rehter stete nie bewande.
Wie gern ich nu sandte. Von der ich den mutt mitt rechter stette nye gewannt.
R IV / C VI / c IV
mir tvt vil we.
mir tEt vil we.
mir thut so we
R V /C VII /c V
Sag der meisterinne die ich von hertzen minne.
Dv sage der meisterinne. die ich gar von herzen minne.
Nu sag der maisterynne. die ich mit trewen mynne.
R VI / C VIII / c VI
sag daz ich mih wol gehab.
solt iemer minen dienest sagen. ob dich die liute vragen. wies vmb vns bilgerine ste. so sage vil we. das vns die walhen haben getan des mEs mich hie betragen.
soltu meinen dinst sagen.
ob si dich des vragen. wi ez vmb vns pilgerime ste. so sag wi we. vns die Walhen haben getan des mvz vns hie betragen.
ob dich die leut fragen. wie es vmb die bilgreym stee. so sprich we. was vns die walhen laids thun des muß vns hie betragen.
Auch hier kann man eine Binarität der Wort- und Versvarianten erkennen. Und auch hier ist zu sehen, dass die Varianten ‚durcheinandergehen‘ (einmal gehen R und C gegen c; dann geht R gegen C und c usw.). Das heißt: Die Überlieferung präsentiert zwar voneinander abweichende Liedversionen, diese jedoch sind sowohl auf Strophen- als auch auf Vers- und Wortebene auf der Basis von jeweils zwei Möglichkeiten erstellt. Eine Abweichung von dieser Art der Verteilung der Varianten kann für die Schlussstrophen der beiden Liedversionen R1 (VII) und R2 (7, 8, 9, 10) beobachtet werden. Die Schlussstrophe der Siebenerfassung (R1: VII) – R VII = C IV, c IX – ist in allen drei Handschriften ohne lexikalische Varianten überliefert.43 Dieser Befund ist in überlieferungsgeschichtlicher Hinsicht aussagekräftig, denn er deutet darauf hin, dass C IV und c IX einer Siebenerfassung entstammen, die der von R1 (Haupttext) entspricht. Daraus wiederum lässt sich folgern, dass die restlichen Strophen von C und c – die im Kernbestand I–VI ja erheblich von R1 abweichen – nicht auf eine Siebener-, sondern auf eine Zehnerfassung zurückgehen, der sie jeweils die Schlussstrophe(n) jener Fassung (C V [8] / c VII [9], VIII [7], X [8], XI [10]) verdanken. Vergleicht man nun diese in R, C und c vorliegenden Schlussstrophen der Zehnerfassung (R 7 = c VIII; R 8 = C V / c X; R 9 = c VII; R 10 = c XI) miteinander, lässt sich eine weitere, in überlieferungsgeschichtlicher Hinsicht signifikante Feststellung machen. Hier zeigt sich nämlich, dass R und c keine lexikalischen Varianten 43
Sowohl R – C als auch R – c weichen jeweils nur durch eine Formulierungsvariante (R – C: V. 4: alle vs. hie vil; R – c: V. 7: laege ich vs. wer ich) voneinander ab.
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aufweisen,44 die in C erhaltene Schlussstrophe der Zehnerfassung (C V = R 8 / c X) von R und c inhaltlich jedoch erheblich abweicht.45 Das deutet darauf hin, dass c auf eine Zehnerfassung zurückgeht, die der, der die Randeinträge in R (R2: 7, 8, 9, 10) entstammen, entspricht,46 wohingegen C auf eine von R und c abweichende Zehnerfassung zurückgeht. Insgesamt heißt das: Während C und c auf voneinander abweichende Zehnerfassungen zurückführbar sind, in die jeweils zu einem nicht rekonstruierbaren Zeitpunkt die Schlussstrophe der Siebenerfassung (VII) integriert wurde (was Strophenumstellungen in Gang gesetzt hat), liegt in R der umgekehrte Fall vor. Hier bildet die Siebenerfassung (R1: Haupttext) die Basis, der die Schlussstrophen der Zehnerfassung (7, 8, 9, 10) vom Schreiber am Blattrand zugeführt wurden. Der Prozess der Strophenzusammenführung, der in C und c bereits vollzogen ist, ist in R historisch greifbar. Der Handschriftenvergleich ergibt somit, dass R 12 in drei (bzw. Str. I in vier) voneinander unabhängigen Überlieferungszeugen vorliegt, die vier Liedversionen greifbar machen: 1. Siebenerfassung (R Haupttext I–VII / C vierte Strophe [= VII], c neunte Strophe [= VII]) 2. Zehnerfassung a (R Randstrophen 7–10 / c erste bis achte und zehnte bis elfte Strophe [= I–VI/9/7/8/10]) 3. Zehnerfassung b (C erste bis dritte und fünfte bis achte Strophe [= I–III/8/ IV–VI]) 4. eine Fassung, auf die die Einzelstrophe in M zurückgeht, bei der sich nichts über die Strophenzahl und -anordnung aussagen lässt (M Schlussstrophe des lateinischen Liedes [= I]). Diese vier Versionen sind – wie gesagt – sowohl auf Strophen- als auch auf Wort- und Versebene auf der Basis von jeweils zwei Möglichkeiten erstellt. Der entscheidende Punkt dabei ist, dass sich diese Binaritäten nicht korrelieren lassen. Man kann nicht sagen, es habe einmal eine siebenstrophige Fassung exis44
Bei den Varianten in Strophe R 9,1–5 / c VII,1–5 handelt es sich nicht um mögliche Ursprungsvarianten, sondern die Abweichungen in c VII,1–5 sind der sekundären Strophenumstellung, die die c-Version zeigt, geschuldet (vgl. Bleuler [Anm. 29], S. 281–291; Klein [Anm. 39], S. 21–29). Des Weiteren weist c eine sekundäre Variante auf in Str. c XI,3 (vgl. Fußnote 32) sowie eine sprachgeschichtlich bzw. dialektal bedingte Variante in Str. c XI,1 (R 10,1: Er dvnchet mich ein narre – c XI,1: Er zymmet mich ein narre). 45 Vgl. 8,1 Solt ich mit ir nv alten Rc: Solt ich mit ir alten C // 8,4 her mit mir behalten Rc: so lange her behalten C // 8,7 gegen der wolgetanen min gewerft sol heiles walten Rc: swer hohe wirfet der sol heiles wiunschen vnd walten C. 46 Das wiederum stützt den Befund, dass es sich bei der nur in c überlieferten zwölften Strophe (c XII) tatsächlich um eine spätere Hinzudichtung handelt, wie Gerd Fritz ausgehend von einer sprachhistorischen Untersuchung postuliert (vgl. Fritz: Sprache und Überlieferung [Anm. 38]). Ansonsten müsste sie als Randstrophe bereits in R vorliegen, was nicht der Fall ist.
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tiert, der sich die einen Lesarten zuordnen lassen und eine zehnstrophige, der die anderen Lesarten zugeordnet werden können. Der Überlieferungsbefund lässt einen solchen Rückschluss nicht zu, stattdessen erweckt er den Eindruck eines freien Kommerzes der Varianten. Die Frage, die sich nun stellt, ist, inwiefern sich für diesen Textbefund ein Vorstellungsmodell der genealogischen Entfaltung gewinnen lässt. – Ist es möglich, ein Stemma zu erstellen? – Ist es möglich, die Liedversionen historisch-genetisch zu verorten? III.3. Entwicklung eines Vorstellungsmodells der genealogischen Entfaltung von R 12 (ATB: SL 11 / SNE: R 12): Das Modell der Vorlage mit Wahlmöglichkeiten Das Problem, das sich ergibt, wenn man versucht, für diesen Überlieferungsbefund ein Stemma zu erstellen, ist, dass, selbst wenn zwei Liedfassungen als Ausgangspunkte der Überlieferung angenommen würden, man für jeden der erhaltenen Überlieferungszeugen nicht nur die Kontamination von Strophen, sondern auch die von Wörtern und Versen voraussetzen müsste. Es wäre also davon auszugehen, dass die Schreiber jeweils mit zwei verschiedenen Vorlagen gleichzeitig gearbeitet hätten, aus denen sie nicht nur alle Strophen, die zu einem Lied gehören, zusammengetragen hätten, sondern auch abwechselnd variierende Wörter und Verse. Diese Annahme ist nicht plausibel. Allein schon Hs. R, für die evident ist, dass die Vorlagen dem Schreiber nicht gleichzeitig, sondern zeitlich gestaffelt zugänglich waren (s.o.), liefert hierfür einen Gegenbeweis. Untersuchungen zum Profil des Grundstockschreibers der Hs. C (Codex Manesse) sprechen ebenfalls gegen eine solche Form von Wort- und Vers-Eklektizismus.47 Vielmehr meine ich, dass der vorliegende Befund – d.h. die Binarität der Varianten einerseits, ihre unregelmäßige Verteilung in der (voneinander unabhängigen) Überlieferung andererseits – nach einer anderen Erklärung verlangt. Ich greife im Folgenden eine Hypothese auf, die Jürgen Kühnel in den 1990erJahren in Bezug auf die Produktion von Neidharts Liedern aufgestellt hat.48 Ausgehend von einer überlieferungskritischen Beurteilung einiger Lieder gelangt Kühnel zur Ansicht, dass Neidhart nach einer Art Baukastensystem gedichtet hat. Demnach fertigte er für das einzelne Lied mehrere Strophenblöcke an, die je nach Bedarf variierend kombiniert werden konnten. Diese Strophen47
Christiane Henkes-Zin gelangt in ihrer Untersuchung der doppelt und mehrfach überlieferten Strophen des Codex Manesse, die vom Grundstockschreiber eingetragen wurden, zur Ansicht, dass jener freihändig in die Textgestalt der Lieder eingegriffen hat, zumeist mit dem Ziel, Reim und Rhythmus der Lieder zu verbessern (vgl. Henkes-Zin [Anm. 41], S. 45–179). 48 Vgl. Jürgen Kühnel: Aus Neidharts Zettelkasten. Zur Überlieferung und Textgeschichte des Neidhartschen Sommerliedes 23, in: Dâ hoeret ouch geloube zuo: Überlieferungs- und Echtheitsfragen zum Minnesang, hg. v. Rüdiger Krohn, Stuttgart 1995, S. 103–173.
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blöcke habe er schriftlich festgehalten, wobei er für die Anfertigung von Liedfassungen immer wieder aufs Neue darauf zurückgegriffen habe.49 Nimmt man dieses Modell der Liedproduktion als Basis und erweitert es um einen Aspekt, lässt sich der vorliegende Überlieferungsbefund erklären:
Der Kreis stellt die primäre Liedproduktion dar. In der oberen Hälfte befinden sich die Strophenblöcke, die auf dem Manuskript notiert waren.50 Im vorliegen49
Ebd., S. 109–110. Dass die Strophenblöcke dabei auf „Zetteln“ notiert waren, wie Kühnel postuliert, ist eine bloße Vermutung. Er führt das auf die Überlieferungsbefunde eines R-Liedes zurück, bei denen die einzelnen Strophenblöcke durcheinandergeraten zu sein scheinen. Diesen Befund deutet Kühnel dahingehend, dass diese auf verschiedenen Zetteln gestanden haben, die bei der Abschrift dann falsch kombiniert wurden (vgl. ebd, S. 109–110). Gegen Kühnels Hypothese spricht, dass solche Fälle in der Überlieferung lediglich vereinzelt auftreten. Hätte Neidhart tatsächlich einen „Zettelkasten“ hinterlassen, auf den die Überlieferung seiner Lieder zurückgeht, dann wäre mit einer größeren Verwirrung der Strophenblöcke zu rechnen. Für das hier entwickelte Textentstehungsmodell ist es aber ohnehin unerheblich, ob die Strophenblöcke ursprünglich auf je eigenen Zetteln oder gemeinsam auf einem Einzelblatt bzw. in einem Vortragsbuch gestanden haben; es ändert nichts am Modell.
50
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den Fall sind das erstens der Kernbestand, Str. I–VI, zweitens die Schlussstrophe der Siebenerfassung, Str. VII, und drittens die vier Schlussstrophen der Zehnerfassung, Str. 7–10. Im unteren Halbkreis sind die Liedfassungen eingetragen, die aus den Strophenblöcken des oberen Halbkreises angefertigt wurden und die in der heute erhaltenen Überlieferung, wenn auch z.T. nur ansatzweise, fassbar sind.51 Meine Erweiterung von Kühnels Modell besteht nun darin, dass ich davon ausgehe, dass das Material für die Liedproduktion – die Strophenblöcke – mit Varianten versehen war (bzw. nach und nach versehen wurde). Konkret heißt das: Zu Wörtern bzw. Versen waren alternative Lesarten am Rand oder über der Zeile notiert. Bei der Herstellung von Liedfassungen standen diese Varianten zur freien Verfügung. Der Unterschied dieses Textentstehungsmodells zu Modellen, wie sie Lachmanns Editionen oder Bédiers Edition des Lai de l’ombre von 1928 zugrunde liegen (vgl. Einleitung), ist, dass als Ausgangspunkt der Überlieferung nicht ein festgefügter (Autor-)Text bzw. zwei oder mehrere festgefügte Bearbeitungsstufen eines Textes angenommen werden, sondern von einer schriftlichen Vorlage ausgegangen wird, die verschieden kombinierbare Textelemente aufwies. Dies stellt die einzige Möglichkeit dar, die freie Kombinatorik der Varianten zu erklären, die wir in den voneinander unabhängigen Überlieferungszeugen vorfinden. Ausschlaggebendes Argument dafür, dass einem Überlieferungskomplex eine solche Vorlage mit Wahlmöglichkeiten zugrunde liegt, sind spezifische Verteilungsverhältnisse von Varianten in voneinander unabhängigen Überlieferungszeugen. Im Fall von R 12 ist die vierfach überlieferte Anfangsstrophe (Str. I), in der Wortvarianten im Verhältnis von zwei zu zwei in wechselnden Handschriftenkombinationen auftreten, der Kronzeuge für diese Vermutung. Schließt man – wie oben dargelegt – eine auf zwei Fassungen zurückgehende Kontamination für die Ebene von Wörtern und Versen aus, käme als weitere Erklärungsmöglichkeit dafür in Frage, einen festen Text als Ausgangspunkt der Überlieferung anzunehmen, d.h. demzufolge jeweils eine der beiden Lesarten als Ursprungs51
Historisch betrachtet kann es sich hierbei um Reinschriften von Vortragsfassungen gehandelt haben, die z.B. als Geschenke fungierten und auf diese Weise in Umlauf gelangt sind. Einzelne Fragmentfunde belegen die schriftliche Aufzeichnung der mhd. Lyrik vor deren Niederschrift in den heute bekannten Sammelhandschriften um 1300. (Bei der Restaurierung alter Bücher sind wiederholt Pergamentseiten bescheiden ausgestatteter mittelhochdeutscher Liedersammlungen zum Vorschein gekommen, die in späterer Zeit zur Herstellung von Bucheinbänden verwendet worden waren [vgl. z.B. das BudapesterFragment: Széchény-Nationalbibliothek Cod. Germ. 92]). Dass es nur wenige Indizien für solche Aufzeichnungen gibt, könnte darin begründet sein, dass sie aus Einzelblättern oder kleinen Heftchen bestanden, die weniger repräsentativ waren, und deshalb die Jahrhunderte nicht überdauert haben (vgl. Anna Kathrin Bleuler: Der Codex Manesse. Geschichte, Bilder, Lieder, München 2018, S. 35). Im Codex Manesse jedenfalls finden sich Autorenbilder, die eine solche Praxis des Lieder-Verschenkens veranschaulichen (vgl. Der Taler, Bl. 303r; Rudolf der Schreiber, Bl. 362r).
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Fassungsvarianz bei Neidhart
variante zu betrachten und die jeweils andere als sekundäre Variante. Das aber würde bedeuten, dass sich die sekundäre Lesart jeweils zwei Mal unabhängig voneinander gebildet hätte. Nimmt man z.B. einmal an, das Adjektiv niuwe/ newe in den C- und c-Versionen von Strophe I Vers 2 (C I,2: mit niuwem l?be stet der walt; c I,2: mit newem laube stet der walte) sei eine Ursprungsvariante und das in M und R an dieser Stelle belegte Adjektiv grDne/grvne (M I,2: mit grDneme l?be stat der walt; R I,2: mit grvnem lovbe stat der walt) eine sekundäre Lesart, hieße das, dass sich die Ersetzung von niuwe durch grDne auf getrennten Überlieferungswegen, also unabhängig voneinander, zweimal vollzogen hätte. Für diese Annahme scheint zunächst zu sprechen, dass das Adjektiv grDne in allen vier Überlieferungszeugen bereits in Vers 1 vorkommt und es sich bei dieser Wortersetzung in M und R damit um einen Abschreibfehler handeln könnte, der dadurch zustande kam, dass die Schreiber der beiden Handschriften das in V. 1 vorkommende Adjektiv grDne jeweils versehentlich auf den zweiten Vers übertragen haben (sault du même au même). Fragwürdig wird die Bewertung von grDne als sekundäre Lesart jedoch, wenn man bedenkt, dass die Strophe noch an drei weiteren Stellen solche in wechselnden Handschriftenkombinationen auftretenden Zwei-zu-zwei-Verteilungsverhältnisse von Lesarten enthält (an zwei Stellen in V. 1 sowie in V. 7, s.o.). Bezogen auf die Vorstellung eines festen Texts als Ausgangspunkt der Überlieferung lässt sich dieser Befund nicht anders erklären, als dass sich im Laufe der Zeit an vier verschiedenen Stellen dieser Strophe Wortvariationen auf voneinander getrennten Überlieferungswegen jeweils zwei Mal identisch vollzogen haben. Das sind die Fälle, die das Modell der schriftlichen Vorlage mit Wahlmöglichkeiten als heuristische Basis für die Interpretation von Überlieferungsbefunden einfordern. Denn geht man davon aus, dass die Wortvarianz bereits im Material für die Liedproduktion angelegt war, dann brauchen die in der Überlieferung ‚durcheinandergehenden‘ Zwei-zu-zwei-Relationen von Varianten nicht mehr als Zufallsprodukte angesehen zu werden, sondern als Ergebnisse unterschiedlicher Realisierungen der in der Vorlage angelegten Kombinationsmöglichkeiten. Anders verhält es sich mit der Variante von R 12,I, die im Verhältnis von drei zu eins steht (V. 6 R: min sendiv not; M, C, c: ein sendiv not). Hier besteht eine Unsicherheit: Bei der nur einmal überlieferten Lesart min kann es sich zwar ebenfalls um eine (dem oberen Halbkreis im Schema angehörende) Ursprungsvariante handeln, da sie aber eben durch keinen zweiten, unabhängigen Zeugen gestützt wird, fehlt das entscheidende Argument für ihre Zuordnung zum Bereich der primären Produktion. Das heißt, Drei-zu-eins-Verhältnisse liefern keine stichhaltigen Argumente für die mit Wahlmöglichkeiten versehene Vorlage als Ausgangspunkt der Überlieferung, da sie sich stets auch von einem festen Ausgangstext her denken lassen, bei dem sich im Laufe der Zeit auf einem der Überlieferungswege eine Wortvariation vollzogen hat. Dasselbe Problem besteht in Bezug auf die dreifach überlieferten Strophen von R 12 (I–VI), in denen 253
Anna Kathrin Bleuler
Zwei-zu-eins-Relationen von Wortvarianten vorliegen (s.o.). Da auch hier die einfach überlieferten Varianten jeweils nicht durch einen unabhängigen Überlieferungszeugen gestützt werden, kann man nicht ausschließen, dass es sich bei ihnen um sekundäre Varianten handelt. Insgesamt heißt das, dass Überlieferungsfälle, die auf eine Vorlage mit Wahlmöglichkeiten zurückgehen, nur dann als solche identifizierbar sind, wenn sie mindestens vier voneinander unabhängige Überlieferungszeugen aufweisen (wie es bei der Anfangsstrophe von R 12 [Str. I] der Fall ist). Fünf- und sechsfach überlieferte Texte – darauf kann hier nur verwiesen werden – wiederum zeigen, dass die freie Kombinatorik von Varianten auch drei verschiedene Lesarten umfassen kann.52 Das bedeutet des Weiteren, dass es nicht die Binarität der Varianten als solche ist, die das Modell der Vorlage mit Wahlmöglichkeiten als heuristische Basis für die Rekonstruktion von Überlieferungsverhältnissen einfordert (sie ist noch nicht einmal Voraussetzung dafür), sondern die in einer Strophe bzw. einem Lied gehäuft auftretende, freie Kombinatorik von Varianten, von der jeweils jede durch einen unabhängigen Zeugen gestützt wird.
IV. Konsequenzen für die Rekonstruktion von Fassungsvarianz Wenn sich – wie oben dargelegt – die in einer Strophe bzw. einem Lied gehäuft auftretende, freie Kombinatorik von Varianten, von der jeweils jede durch einen unabhängigen Zeugen gestützt wird, nur damit plausibel erklären lässt, dass diese Varianten Ergebnisse unterschiedlicher Realisierungen der in der Vorlage angelegten Kombinationsmöglichkeiten sind, dann haben wir mit dieser Spezifik der Überlieferung ein Kriterium für die Bestimmung von primärer Textvarianz. Primäre Varianten sind folglich Varianten, die diese Spezifik aufweisen und deshalb auf den Variantenpool des Ausgangstexts zurückzuführen sind. Für solche Überlieferungsfälle muss Bumkes Fassungsbegriff modifiziert werden: Eine Textfassung zeichnet sich hier nämlich nicht dadurch aus, dass über sie hinaus keine Rekonstruktion von Textzuständen möglich ist, sondern Fassungen sind Textversionen, die aus Elementen eines zumindest teilweise rekonstruierbaren Variantenpools (Strophenblöcke, Wort- und Versvarianten) angefertigt wurden und die in der heute erhaltenen Überlieferung, wenn auch z.T. nur ansatzweise, greifbar sind (vgl. unterer Halbkreis im Schema). Wer der Autor solcher Liedfassungen ist, lässt sich anhand dieses Textentstehungsmodells nicht sagen. Für die Herstellung und produktive Nutzung der mit Wahlmöglichkeiten versehenen Vorlage kann eine Person verantwortlich sein, genauso aber können dies zwei oder mehrere sein. Da diese Vorlage jedoch die archäologisch tiefst liegende Schicht der Neidhart-Überlieferung darstellt, die erreicht werden kann, bietet es sich an, Autorschaft in Bezug darauf zu
52
Vgl. künftig: Bleuler: Fassungsvarianz bei Neidhart [Anm. 15].
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Fassungsvarianz bei Neidhart
definieren. Neidharts Lieder sind dann Lieder, deren Überlieferungszeugen die genannte Spezifik aufweisen und die damit darauf zurückgehen. So gesehen wird Autorschaft weder in Bezug auf eine reale historische Person definiert noch primär produktionsästhetisch, sondern produktionstechnisch. Die entscheidende Frage für die Rekonstruktion von Liedfassungen ist nun, welche Varianten dem Ausgangstext (oberer Halbkreis im Schema) zuzuordnen sind und welche nicht. Dafür sind zwei Kriterien ausschlaggebend, ein quantitatives und ein qualitatives. In quantitativer Hinsicht gilt, dass Varianten, die in Zweizu-zwei-Relationen vorliegen, – aufgrund oben genannter Erwägungen – dem Bereich des Ausgangstexts zugeordnet werden. Bei Lesarten, die in Drei-zu-einsoder Zwei-zu-eins-Relationen auftreten, kann die Lesart, die nur einmal überliefert ist – wie gesagt – sekundär sein, zugleich aber kann nicht ausgeschlossen werden, dass es sich um eine Ursprungsvariante handelt. Solche Minderheitsvarianten werden dem Ausgangstext als mögliche Ursprungsvarianten zugeordnet. In qualitativer Hinsicht stehen nicht alle oben angeführten Variantentypen als mögliche Ursprungsvarianten zur Debatte, sondern lediglich solche, die zumindest eine gewisse semantische Relevanz haben (das sind v. a. lexikalische Varianten des Typus 7a/7b). Davon abzugrenzen sind sprachlich bzw. sprachgeschichtlich bedingte Varianten (Abweichungen auf der Ebene von Orthografie, Phonetik, Grammatik und Syntax, ferner Schreibfehler und Textverderbnisse, Typen 1–6). Denn diese entspringen weniger einem freien Gestaltungswillen als vielmehr dem Umstand, dass mittelalterliche Textreproduktion (sei sie mündlich oder schriftlich) von der Rezeption gesteuert wird und das Rückwirken des Rezeptionsprozesses auf die Textgestalt in Kauf nehmen muss.53 Bei solchen Rezeptionsmerkmalen, die das räumliche, zeitliche und kulturelle Verhältnis der Textzeugen zueinander sichtbar machen und die an der Varianz der mhd. Lyriküberlieferung den größten Anteil haben,54 mag in manchen Fällen unklar sein, welche der divergierenden Lesarten der primären Produktion zuzurechnen sind,55 als mögliche Alternativen des Ursprungstexts kommen sie jedoch nicht in Frage.
53
Vgl. Albrecht Hausmann: Reinmar der Alte als Autor. Untersuchungen zur Überlieferung und zur programmatischen Identität, Tübingen, Basel 1999 (Bibliotheca Germanica 40), S. 15. 54 Vgl. u.a. die statistische Erhebung der Textvarianz im Corpus Walthers von der Vogelweide von Thomas Bein [Anm. 41], S. 80–81. Die verglichen mit dem lateinischen Schrifttum dieser Zeit als hoch einzustufende Textvarianz erklärt sich damit, dass das Mittelhochdeutsche nicht über überregionale Standardisierungen verfügte, sondern in Form von regional gebundenen (Schreib-)Dialekten existierte, die beim Kopieren der Texte auf die Textgestalt eingewirkt haben. 55 Vgl. z.B. Wortstellungs- und Satzkonstruktionsvarianten wie Gegen der wandelvnge / singent wol div vogelin (R II,1–2) – Est in der wandelvnge. / wol singent elliu vogellin (C II,1–2) – Gegen der wandelunge. / wol singen alle vogelein (c II,1–2). In solchen Fällen folgt die Edition der Hs. R (vgl. dazu unten S. 259–261).
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Anna Kathrin Bleuler
In Bezug auf die Varianten mit semantischer Relevanz (v. a. Typus 7a/7b) ist eine weitere Differenzierung erforderlich. Auch diese kommen nämlich nicht alle als Ursprungsvarianten in Betracht. Auszuschließen sind solche, die sich gegenüber der/den alternativen Lesart(en) als sekundär definieren lassen, z.B. weil sie sich als Begleiterscheinungen korrumpierter Strophenanordnung zu erkennen geben oder weil sie sich eindeutig dem Profil eines Schreibers/Redaktors einer bestimmten Handschrift zuordnen lassen.56 Insgesamt heißt das: Dem Bereich des Ausgangstexts (Strophenblöcke mit Varianten) werden Varianten mit semantischer Relevanz (v. a. 7a, 7b) zugeordnet, die jeweils von unabhängigen Überlieferungszeugen gestützt werden (bzw. die als Zwei-zu-eins-Relationen und damit als mögliche Ursprungsvarianten vorliegen) und die sich nicht als sekundäre Rezeptionszeugnisse (d.h. z.B. als Begleiterscheinungen korrumpierter Strophenanordnungen oder als Schreibermerkmale einer bestimmten Handschrift) definieren lassen.57 Bei R 12 ist das der Typus von Varianz, in Bezug auf den in der Überlieferung Binarität vorliegt und der schon aus quantitativen Gründen (Zwei-zu-zweibzw. Zwei-zu-eins-Relationen der Wortvarianten) darauf hinweist, dass es sich um Ursprungsvarianten handelt. Inhaltlich gesehen herrschen bei R 12 Wortvarianten mit einer geringen semantischen Relevanz (7a, 7b) vor.58 Andere Neidhart-Lieder hingegen – darauf kann hier nur hingewiesen werden – weisen lexikalische Varianten auf, die Auswirkungen auf den Sinngehalt des gesamten Textes haben und auch in poetologischer Hinsicht relevant sind.59 Insgesamt zeigt die Überlieferung der hier einbezogenen Texte, dass Sinnvarianten auf Wort- und Versebene dann stärker ausgeprägt sind, wenn die Mouvance auf der
56
Das sind die Typen von lexikalischen Varianten, die für R 12 ausführlich untersucht wurden (vgl. Fritz: Sprache und Überlieferung [Anm. 38]; Wenzel [Anm. 39]; Klein [Anm. 39]; Warning [Anm. 39] und Bleuler: Überlieferungskritik und Poetologie [Anm. 29]) und hier nicht eigens aufgeführt werden. 57 Hierzu können sowohl lexikalische Varianten zählen, die nicht an eine bestimmte Strophenanordnung gebunden sind (wie z.B. M I,2: mit grDneme l?be stat der walt / R I,2: mit grvnem lovbe stat der walt vs. C I,2: mit niuwem l?be stet der walt / c I,2: mit newem laube stet der walte) als auch solche, die sich auf voneinander abweichende, jedoch äquivalente Strophenanordnungen beziehen (dieser zweite Typus kommt in der Überlieferung von R 12 nicht vor). 58 Vgl. die oben auf S. 247 und S. 248 markierten Lesarten des Kernbestands von R 12. Die größten Sinndifferenzen ergeben die Versvarianten in Str. VI,2 (Vrevnden vnde magen / sag daz ich mih wol gehab, R VI,2 vs. Friunden vnd magen. / solt iemer minen dienest sagen, C VIII,1–2; Freunden vnd auch magen. / soltu meinen dinst sagen, c VI,1– 2) und Str. 8,7 (gegen der wolgetanen min gewerft sol heiles walten, R 8,7; gegen der wollgetanen mein gewerb soll hailes walten, c X,7 vs. swer hohe wirfet der sol heiles wiunschen vnd walten, C V,1). 59 Ein plakatives Beispiel dafür stellt die Varianz der Personalpronomen in der Überlieferung von R 30 (C Str. 249–254; c 128; ATB: WL 7; SNE: R 30) dar, die je unterschiedliche Ausprägungen des Machtverhältnisses zwischen Mann und Frau zur Folge hat.
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Fassungsvarianz bei Neidhart
Ebene von Strophen oder von Strophenbestandteilen schwach ausgebildet ist und umgekehrt.60 Für die Rekonstruktion von Fassungen und deren Edition stellt die Darstellung des Ausgangstextes die heuristische Basis dar. Als Material hierfür werden die Texte der Hs. R verwendet, wobei für die Wahl von R als Leithandschrift zwei Argumente sprechen. Das erste lautet, dass R der primären Produktionsphase von Neidharts Liedern zeitlich und räumlich näher steht als alle anderen Überlieferungszeugen und sprachlich daher in der Regel ‚ursprungsnähere‘ Lesarten aufweist als jene.61 Das zweite Argument resultiert aus der spezifischen Konzeption der geplanten Edition: Da es dezidiert um die Rekonstruktion der in Hs. R angezeigten Fassungsvarianz geht, steht diese als Leithandschrift außer Frage. Sprachliche Fehler in den R-Texten werden korrigiert, fehlende Wörter und Verse anhand der Parallelüberlieferung ergänzt, die Eingriffe werden durch Kursivsetzung angezeigt. Die alternativen Lesarten werden in Form eines Negativapparats dargestellt. In dieser Priorisierung von R entspricht die Edition sowohl der Haupt’schen als auch der Salzburger Ausgabe (s.o.). Für R 12 ergibt sich folgendes Modell einer Vorlage mit Wahlmöglichkeiten (Strophenblöcke mit Varianten):
V. Strophenblöcke mit Varianten Ez grvnet wol div haide mit grvnem lovbe stat der walt. der winder chalt. twanch si sere bæide. div zit hat sich verwandelot. min sendiv not. mant mich an div gDten von der ich vnsanfte schayde. (I)
Nv … aber niuwem
Gegen der wandelvnge singent wol div vogelin. den vrivnden min. den ich gerne svnge des si mir alle sagten danch. vf minen sanch. ahten hie die Walhen nieht so wol dir divtschiv zvnge. (II)
Est in
Wie gerne ich nv sande der lieben einen boten dar. nv nemt des war. der daz dorf erchande. da ich die senden inne lie. ia mein ich die. von der ich den mFt mit stæter liebe nie gewant. (III)
Gerne … aber
60
ein ungern
es
rehter stete
Der Befund deutet darauf hin, dass in der poetischen Praxis jeweils einem Typus von Mouvance der Vorzug gegeben wurde. (Zur Mouvance auf der Ebene von Strophen vgl. z.B. R 27, C Str. 139–145, c 106; ATB: WL 3; SNE: R 27 und von Strophenbestandteilen vgl. z.B. R 32, A Gedrut Str. 19, C 94–99, c 97, z 24; ATB: WL 17; SNE: 32). 61 Vgl. hierzu die sprachhistorische Untersuchung von Fritz: Sprache und Überlieferung (Anm. 28).
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Anna Kathrin Bleuler Bot nv var bereite zv lieben vrivnden vber se. mir tvt vil we. so sendiv arbeite. dv solt in allen von vns sagen. in chvrtzen tagen. sehens vns mit vrovden dort wan dvrch des wages praite. (IV) Sag der meisterinne den willechlichen dienst min. si sol div sin. die ich von hertzen minne. vur alle vrowen hinne phvr. < e ich si verkivr > e wold ich verchiesen der ich nimmer teil gewinne. (V) Vrevnden vnde magen sag daz ich mih wol gehab. vil lieber chnab. ob si dich des vragen. wi ez vmb vns pilgerime ste. so sag wi we. vns die Walhen haben getan des mvz vns hie betragen. (VI) Ob sich der bot nv sovme so wil ich sælbe bot sin ze den vrivnden min. wir leben alle chavme. hie vil daz her ist mer danne halbez mort. hey wær ich dort. bei der wolgetanen læge ich gern an minem rovme. (VII)
Nv mit trewen
solt iemer minen dienest sagen dich die liute die sprich was vns … laids thun … mich
Wirb ez endelichen mit triwen la dir wesen gach ich chvm dar nah schire sicherlichen. so ich aller baldist immer mach. den lieben tach lazz vns got geleben daz wir hin heim ze lande strichen (7) Solt ich mit ir nv alten ich het noch etteslichen don. vf minne lon her mit mir behalten des tovsent hertze wrden geil. gewinn ich heil gegen der wolgetanen min gewerft sol heiles walten (8)
Si reyen oder tanzen si tvn vil manigen weiten schrit ich allez mit. e wir heim geswantzen. ich sag iz bei den triwen min. wir solden sin. ze Osterich vor dem snit so setzet man di phlantzen (9) Er dvnchet mich ein narre. swer disen ovgest hie bestat. ez wær min tot liez er sich geharre. vnd vFr hin wider vber se. daz tvt niht we. nindert wær ein man baz dann da heim in siner pharre (10)
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Nv
so lange her swer hohe wirfet der sol heiles wiunschen vnd walten
Fassungsvarianz bei Neidhart
Von diesem Modell ausgehend lassen sich die Liedfassungen nun rekonstruieren. Die in R enthaltene Siebenerfassung (R-Haupttext: I–VII) entspricht den Strophen I–VI+VII. Die durch die Randstrophen und Zuordnungszeichen in R angezeigte Zehnerfassung entspricht den Strophen I–VI+7–10, wobei die textkritische Prüfung – wie bereits erwähnt – ergeben hat, dass die in R fehlenden Strophen I–VI durch c I–VI repräsentiert werden (Zehnerfassung a, s.o. Abb. S. 251). Für die Rekonstruktion dieser Fassung hat das zur Folge, dass die Strophen I–VI zwar ebenfalls auf der Basis von R abgedruckt, dass aber die lexikalischen Varianten der c-Version (durch Fettdruck markiert) integriert werden. Die Edition weist die Eingriffe mit Hilfe eines textkritischen Apparats aus: Auf der ersten Ebene werden (formal-)sprachliche Fehler der Hs. R dokumentiert; auf der zweiten sind die in der Überlieferung auftretenden, dem Ausgangstext zugerechneten lexikalischen Varianten aufgeführt. R 121: R I–VII
R 122: R I–VI/7–10
I
Ez grvnet wol div haide mit grvnem lovbe stat der walt. der winder chalt. twanch si sere bæide. div zit hat sich verwandelot. min sendiv not. mant mich an div gDten von der ich vnsanfte schayde.
I
II
Gegen der wandelvnge singent wol div vogelin. den vrivnden min. den ich gerne svnge des si mir alle sagten danch. vf minen sanch. ahten hie die Walhen nieht so wol dir divtschiv zvnge
II Gegen der wandelvnge singent wol div vogelin. den vrivnden min. den ich gerne svnge des si mir alle sagten danch. vf minen sanch. ahten hie die Walhen nieht so wol dir divtschiv zvnge
III Wie gerne ich nv sande der lieben einen boten dar. nv nemt des war. der daz dorf erchande. da ich die senden inne lie. ia mein ich die. von der ich den mFt mit stæter liebe nie gewant.
Ez grvnet wol div haide mit niuwem lovbe stat der walt. der winder chalt. twanch si sere bæide. div zit hat sich verwandelot. ein sendiv not. mant mich an div gDten von der ich vngern schayde.
III Wie gerne ich nv sande der lieben einen boten dar. nv nemt des war. der daz dorf erchande. da ich die senden inne lie. ia mein ich die. von der ich den mFt mit rehter stete nie gewant.
Textkritischer Apparat: I,7 nach gDten Reimpunkt R || II,7 Walhen ATB mit c (vgl. VI,7) : Walhe R || III,7 stæter Haupt : staete R. Parallelenapparat: I,1 Ez … wol Rc] Nv … aber MC || I,2 grvnem RM] niuwem Cc || I,6 min R] ein MCc || 1,7 vnsanfte RC] ungern Mc || II,1 Gegen Rc] Est in C || II,7 hie Rc] es C || III,1 Wie gerne … nv Rc] Gerne … aber C || III,7 stæter liebe R] rehter stete Cc.
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Textkritischer Apparat: I,2 newem c(C) : grvnem R(M) || I,6 ein c(MC) : min R || I,7 nach gDten Reimpunkt R || 1,7 vngern c(M) : vnsanfte R(C) || II,7 II,7 Walhen ATB mit c, vgl. VI,7 : Walhe R || III,7 rechter stette c(C) : stæter liebe R. Parallelenapparat: I,1 Ez … wol Rc] Nv … aber MC || II,1 Gegen Rc] Est in C || II,7 hie Rc] es C || III,1 Wie gerne … nv Rc] Gerne … aber C.
Anna Kathrin Bleuler IV Bot nv var bereite zv lieben vrivnden vber se. mir tvt vil we. sendiv arbeite. dv solt in allen von vns sagen. in chvrtzen tagen. sehens vns mit vrovden dort wan dvrch des wages praite.
IV Bot nv var bereite zv lieben vrivnden vber se. mir tvt so we. sendiv arbeite. dv solt in allen von vns sagen. in chvrtzen tagen. sehens vns mit vrovden dort wan dvrch des wages praite.
V
V Nv sag der meisterinne den willechlichen dienst min. si sol div sin. die ich mit trewen minne. vur alle vrowen hinne phvr. < e ich si verkivr > e wold ich verchiesen der ich nimmer teil gewinne.
Sag der meisterinne den willechlichen dienst min. si sol div sin. die ich von hertzen minne. vur alle vrowen hinne phvr. < e ich si verkivr > e wold ich verchiesen der ich nimmer teil gewinne.
VI Vrevnden vnde magen sag daz ich mih wol gehab. vil lieber chnab. ob si dich des vragen. wi ez vmb vns pilgerime ste. so sag wi we. vns die Walhen haben getan des mvz vns hie betragen.
VI Vrevnden vnde magen soltu minen dienest sagen. vil lieber chnab. ob dich die liute vragen. wi ez vmb die pilgerime ste. so sprich we. waz vns die Walhen laids thun des mvz vns hie betragen.
VII Ob sich der bot nv sovme so wil ich sælbe bot sin ze den vrivnden min. wir leben alle chavme. daz her ist mer danne halbez mort. hey wær ich dort. bei der wolgetanen læge ich gern an minem rovme.
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Textkritischer Apparat: V,6 e ich si verkivr Haupt nach Cc : Vers fehlt in R. Parallelenapparat: IV,3 vil RC] so c || V,1 Sag RC] Nu sag c || V,4 von hertzen RC] mit trewen c || VI,2 sag daz ich mih wol gehab R] solt iemer (soltu c) minen dienest sagen Cc || VI,4 si dich des R] dich die liute Cc || VI,5 vns RC] die c || VI,6 sag wi RC] sprich c || VI,7 vns … haben getan … RC] was vns … laids thun c || VI,7 vns Rc] mich C || VII,4 all Rc] hie vil C.
Wirb ez endelichen mit triwen la dir wesen gach ich chvm dar nah schire sicherlichen. so ich aller baldist immer mach. den lieben tach lazz vns got geleben daz wir hin heim ze lande strichen
Textkritischer Apparat: IV,3 so c : vil R(C) || V,1 Nu sag c : Sag R(C) || V,4 mit trewen c : von hertzen R(C) || V,6 e ich si verkivr Haupt nach Cc : Vers fehlt in R || VI,2 soltu (solt iemer C) meinen dinet sagen c(C) : sag daz ich mih wol gehab R || VI,4 dich die leut c(C) : si dich des R || VI,5 die c : vns R(C) || VI,6 sprich c : sag wi R(C) || VI,7 was vns … laids thun c : vns … haben getan … R(C) || 7,4 sicherlichen Haupt nach c : sicherliche R || 7,7 nach geleben Reimpunkt R ||. Parallelenapparat: VI,7 vns Rc] mich C || 7,1 Wirb R] Nun wirb c ||.
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Fassungsvarianz bei Neidhart 8
Solt ich mit ir nv alten ich het noch etteslichen don. vf minne lon her mit mir behalten des tovsent hertze wrden geil. gewinn ich heil gegen der wolgetanen min gewerft sol heiles walten
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Si reyen oder tanzen si tvn vil manigen weiten schrit ich allez mit. e wir heim geswantzen. ich sag iz bei den triwen min. wir solden sin. ze Osterich vor dem snit so setzet man di phlantzen
10 Er dvnchet mich ein narre. swer disen ovgest hie bestat. ez wær min tot liez er sich geharre. vnd vFr hin wider vber se. daz tvt niht we. nindert wær ein man baz dann da heim in siner pharre
Textkritischer Apparat: 8,5 hertze Haupt : hertz R. Parallelenapparat: 8,4 her mit mir Rc] so lange her C || 8,7 gegen der wolgetanen min gewerft sol heiles walten Rc] swer hohe wirfet der sol heiles wiunschen vnd walten C.
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5 Der Archetypus und seine Hyparchetypi
5.1 „AD RECENSIONEM IUDICIUM ADHIBENDUM EST“ Lachmanns Lukrez und die ‚Lachmannsche Methode‘* von Marcus D e u f e r t , Leipzig Abstract: Karl Lachmanns Lukrez (1850) galt lange Zeit als Musterfall für eine kritische, konsequent nach der stemmatischen Methode konstituierte Textausgabe. In jüngerer Zeit hat man Lachmann freilich Unklarheiten und Widersprüche vor allem in der praefatio dieser Ausgabe vorgeworfen und ihm eine klare Vorstellung vom Zustand der Lukrezüberlieferung und vom Aussehen des Stemmas abgesprochen. Der Beitrag geht diesen Vorwürfen nach und zeigt, dass viele Schwierigkeiten der praefatio auf Lachmanns implizit polemische Auseinandersetzung mit einer 1847 publizierten Vorgängerarbeit zur Lukrezüberlieferung von Jacob Bernays zurückzuführen sind, deren Bedeutung er nicht bereit ist anzuerkennen. Lachmanns Lukreztext selbst ist im Kern nach Bernays’ überlieferungsgeschichtlichen Ergebnissen konstituiert und bleibt ein Musterfall für die konsequente Anwendung der stemmatischen Methode. Karl Lachmann’s Lucretius (1850) was for a long time regarded as a model for a critical edition consistently constituted in accordance with stemmatic method. More recently, however, Lachmann has been accused of ambiguities and contradictions, above all in the praefatio of the edition, and it has been claimed that he did not have a clear idea of the state of Lucretius’s transmission and the shape of the stemma. The article investigates these accusations and shows that many of the difficulties of the praefatio can be traced back to Lachmann’s implicitly polemical reaction to a previous work, the significance of which he is not prepared to acknowledge: an essay on the manuscript tradition of Lucretius published by Jacob Bernays in 1847. Lachmann’s text of Lucretius itself is essentially constituted according to Bernays’ conclusions concerning the history of the tradition and remains a model for the consistent application of stemmatic method.
I. Lachmann kein ‚Lachmannianer‘? Als ‚Lachmannsche Methode‘ bezeichnete man im 20. Jahrhundert weithin1 das Verfahren, beim Edieren eines handschriftlich überlieferten Textes die erhaltenen Handschriften zunächst einer recensio zu unterziehen: Auf der Grundlage gemeinsamer Fehler wird ein Stammbaum der Handschriften dieses Textes erstellt, an dessen Spitze ein einziger (in der Regel rekonstruierter, vereinzelt auch
*
Für vielerlei Hilfe und Kritik danke ich Enrica Fantino, Vincent Graf, Silvia Ottaviano, Kevin Protze und Jonas Schollmeyer, außerdem und in besonderer Weise Erik Pulz und Michael Reeve. 1 Vgl. z.B. Giorgio Pasquali: Storia della tradizione e critica del testo, 2. Aufl., Florenz 1952, S. 5 in dem Kapitel „Il metodo del Lachmann“: „Il metodo […] è per la comune dei filologi senz’ altro il „metodo del Lachmann“.“
265
Marcus Deufert
erhaltener) Zeuge steht, d.h. der sogenannte Archetypus als letzter gemeinsamer Vorfahr der handschriftlichen Tradition.2 Der durch die recensio wiedererlangte Text des Archetypus ist die alleinige Grundlage für die Herstellung des ursprünglichen, vom Autor verfassten Textes, zu dem man schließlich durch die emendatio gelangt, die konjekturalkritische Beseitigung der im Archetypus tradierten Fehler. Inzwischen ist es freilich üblich geworden, von der sogenannten Lachmannschen Methode zu sprechen3 oder den Ausdruck ‚Lachmannsche Methode‘ in Anführungszeichen zu setzen.4 Das Bewusstsein dafür, dass der Ausdruck ‚Lachmannsche Methode‘ mindestens in historischer Hinsicht problematisch ist, verdanken wir einer berühmten Untersuchung von Sebastiano Timpanaro, die zu einem Klassiker der Wissenschaftsgeschichte unseres Fachs geworden ist: „La genesi del metodo del Lachmann“. Sie ist, nach vorangehenden Aufsätzen, erstmals 1963 als Buch erschienen und wurde dann von Timpanaro für Neuauflagen und Übersetzungen mehrfach überarbeitet und ergänzt.5 Ihr Kernergebnis hat Glenn Most auf unnachahmlich pointierte Weise zusammengefasst: In short, Timpanaro demonstrated, once and for all, both that “Lachmann’s method” was not in fact Lachmann’s method (for he did not invent it) and that Lachmann’s method was not in fact “Lachmann’s method” (for he did not apply it consistently). Since the first publication of Timpanaro’s study, scholars who use the term “Lachmann’s method” without quotation marks have done so at their peril.6
Gerade die zweite Beobachtung Timpanaros, Lachmann habe jene Methode, die seinen Namen trägt, nicht konsequent angewendet, ist von Späteren aufgegrif2
Zu diesem Verständnis von ‚Archetypus‘, bei dem auch eine erhaltene Handschrift eingeschlossen ist, von der die gesamte restliche handschriftliche Tradition abhängt (wie z.B. im Fall der zweiten Hälfte der „Annales“ und der „Historiae“ des Tacitus), vgl. Michael D. Reeve: Archetypes, in: Ders.: Manuscripts and Methods. Essays on Editing and Transmission, Rom 2011, S. 107–117. 3 So z.B. Geert Lernout: Continental editorial theory, in: The Cambridge Companion to Textual Scholarship, hg. v. Neil Fraistat, Julia Flansers, Cambridge 2013, S. 61–78 (dort S. 65: “the so-called Lachmannian method“). 4 Zur Forderung nach Anführungszeichen, welche Timpanaro selbst in den ursprünglichen Aufsätzen (vgl. die folgende Anmerkung) gesetzt hat, vgl. z.B. Michael D. Reeve: Dust and Fudge. Manuscripts in Housman’s Generation, in: Reeve [Anm. 2], S. 325–338, dort S. 331, Anm. 41, und Glenn Most [Anm. 5]. 5 Zu den einzelnen italienischen Ausgaben sowie einer deutschen Übersetzung aus dem Jahr 1971 und den werkgenetisch aufschlussreichen Unterschieden in ihren Textfassungen vgl. Glenn Most: Differences among the Various Editions, in: Sebastiano Timpanaro, The Genesis of Lachmann’s Method. Edited and translated by Glenn W. Most, Chicago, London 2005, S. 216–233. Ich zitiere Timpanaros Untersuchung im Folgenden nach der Übersetzung von Most, der Timpanaros adnotiertes Handexemplar der letzten zu dessen Lebzeiten erschienenen italienischen Ausgabe zugrunde liegt. 2016 ist schließlich in Paris eine französische Übersetzung von Aude Cohen-Skalli und Alain Philippe Segonds erschienen. 6 Most [Anm. 5], S. 11.
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„Ad recensionem iudicium adhibendum est“
fen worden. Peter Lebrecht Schmidt rückte Lachmanns tatsächliches Vorgehen als Editor in die Nähe des Leithandschriftenprinzips; Schmidt verdanken wir dabei die (in seinen Augen geradezu paradox anmutende) Beobachtung, dass es der Mediävist Joseph Bédier, also der theoretische Begründer des Leithandschriftenprinzips, gewesen ist, der den Begriff der von ihm bekämpften ‚Lachmannschen Methode‘ überhaupt erst geprägt hat: It is, I think, paradoxical that, as far as I can see, it was Bédier in 1913 who first connected the name of Lachmann, so to speak, officially and authoritatively with the genealogical method: […] I call this misunderstanding paradoxical because Bédier’s decision to exorcise the genealogical method as subjective and his concentration on a ‘manuscrit de base’ resembles Lachmann’s procedure much more closely than the method he was really attacking.7
In jüngerer Zeit hat dann Giovanni Fiesoli Lachmanns Arbeiten, gerade auch seine Lukrezausgabe, einer vernichtenden Kritik unterzogen: Sah man in ihr einst die nach Lachmann benannte Methode in musterhafter Weise in die Tat umgesetzt8, konstatiert Fiesoli vor allem methodische Fehler und Inkonsequenzen. Noch nicht einmal das Prinzip der Bindefehler sei ihm vertraut gewesen:
7
Peter Lebrecht Schmidt: Lachmann’s Method: On the history of a misunderstanding, in: Ders.: Traditio Latinitatis. Studien zur Rezeption und Überlieferung der lateinischen Literatur, hg. v. Joachim Fugmann, Martin Hose, Bernhard Zimmermann, Stuttgart 2000, S. 11–18 (ursprünglich 1988), dort S. 18. Schmidt zitiert als Erstbeleg Le Lai de l’ombre, hg. v. Joseph Bédier, Paris 1913, S. xxiii. Zu Bédiers editorischem Vorgehen siehe zuletzt Paolo Trovato: Everything you Always wanted to Know about Lachmann’s Method. A Non-Standard-Handbook of Genealogical Textual Criticism in the Age of Post-Structuralism, Cladistics, and Copy-Text, Revised Edition, Padua 2017, S. 77–83 und Oliver Primavesi: Philologische Einleitung, in: Aristoteles: De motu animalium. Über die Bewegung der Lebewesen. Historisch-kritische Edition des griechischen Textes und philologische Einleitung von Oliver Primavesi. Deutsche Übersetzung, philosophische Einleitung und erklärende Anmerkungen von Klaus Corcilius. Griechisch-Deutsch, Hamburg 2018, S. xxxv–xxxix, der darauf hinweist, dass Bédier seine in der oben genannten Ausgabe vertretene Position des Leithandschriftenprinzips später revidiert hat. Zu dem, was man vor Bédier unter Lachmanns methodischem Vorgehen verstanden hat, siehe Schmidt, S. 14–16 und Michael D. Reeve: Shared Innovations, Dichotomies, and Evolution, in: Reeve [Anm. 2], S. 55–103, dort S. 57, Anm. 9. Zur Frage, wie es zu der Bezeichnung ‚Lachmannsche Methode‘ hat kommen können, siehe Edward J. Kenney: The Classical Text. Aspects of Editing in the Age of the Printed Book, Berkeley, Los Angeles, London 1974, S. 109 f. Sowohl dem Begriff ‚Lachmannsche Methode‘ als auch dem, was wir unter ihm der Sache nach verstehen, kommt bereits recht nahe, was Theodor Bergk in seiner Rezension der Lukrezausgaben von Lachmann und Bernays, in: Kleine philologische Schriften I, Halle 1884, S. 455–473, dort S. 457, schreibt: „Was Lachmanns kritische Methode von Hermanns Verfahren streng scheidet, ist dies, daß für Hermann wenigstens in der Praxis alle Handschriften gleichen Werth haben, während Lachmann (und mit ihm vor allem auch Böckh und Bekker) überall darauf ausgeht, die unverfälschten Quellen von den abgeleiteten und werthlosen streng zu sondern. Und eben der Anwendung dieses Princips verdankt Lachmann die großen Erfolge, welche alle seine kritischen Arbeiten auszeichnen.“ 8 Vgl. z.B. Pasquali [Anm. 1], S. 5.
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Non abbiamo incontrato l’atteso ‚metodo degli errori comuni‘ a guidarlo nella recensio sul testo; semmai ci siamo imbattuti in ‚errori di metodo‘ e di valutazione compiuti dal Berlinese, e quando non si è trattato di veri e propri errori, erano deduzioni troppo affrettate, prive di un’indispensabile verifica.9
Ihm hat zuletzt Paolo Trovato zugestimmt: Now – as Sebastiano Timpanaro guessed in the 1960s and a young but already accomplished Giovanni Fiesoli proved in 2000 – Lachmann never employed the common-error method in any of the fields of study he worked in, whether in his essays on classical philology, on Biblical philology, or on Germanistics.10
Die an Timpanaro anschließende Forschung der letzten gut 50 Jahre vermittelt somit den Eindruck, Karl Lachmann sei gar kein „Lachmannianer“ gewesen. Zumindest für seine Lukrezausgabe scheint es mir erforderlich, diesem Eindruck entgegenzutreten. Für sie will ich im Folgenden zeigen, dass ihre praefatio mehrfach, in einem entscheidenden Punkt auch von Timpanaro, falsch verstanden worden ist, und dass Lachmann dann zu Unrecht Inkonsequenzen und methodische Fehler vorgeworfen und die Verdienste seiner Ausgabe nicht gerecht gewürdigt worden sind. Dabei ist Timpanaro zuzustimmen, dass Lachmann in der praefatio seiner Lukrezausgabe keine allgemeine Darlegung seiner Methode gibt.11 Vielmehr skizziert er das Bild, das er sich von der Lukrezüberlieferung gemacht hat, und begründet mit ihm sein Vorgehen als Editor, d.h. die Art und Weise, wie er in seinem Apparat die Überlieferung dokumentiert. Lachmanns knapper und eigenwilliger Stil12 macht es uns oft schwer, seine Anschauungen und die hinter ihnen stehenden methodischen Überlegungen zu verstehen. Zwei altbewährte Prinzipien haben mir bei meiner Untersuchung besonders geholfen: einmal das Prinzip, einen Autor aus sich heraus, also schwierige Stellen vor dem Hinter9
Giovanni Fiesoli: La genesi del Lachmannismo, Florenz 2000, S. 257. Trovato [Anm. 7], S. 83. Wegen „essays“ habe ich überlegt, ob Trovato Lachmanns Ausgaben von dieser Einschätzung ausgenommen wissen wollte. Aber die Formulierung „employed the common-error method“ scheint ganz auf Editionen gemünzt zu sein; in Essays kann man sie streng genommen nicht anwenden, sondern lediglich vorstellen oder begründen. Der ganze Satz ist schief formuliert. 11 Timpanaro [Anm. 5], S. 112. 12 Timpanaro [Anm. 5] spricht des Öfteren von Lachmanns „Orakelton“ (z.B. S. 117); von „oracular footnotes“ bzw. „delphic brevity of Lachmann’s notes“ spricht auch Peter Felix Ganz: Lachmann as an Editor of Middle High German Texts, in: Probleme mittelalterlicher Überlieferung und Textkritik. Oxforder Colloquium, hg. v. Peter Felix Ganz, Werner Schröder, Berlin 1968, S. 12–30, dort S. 13 und S. 25 in seiner Würdigung des Germanisten Lachmann. Das Bild begegnet bereits bei Munro (Titi Lucreti Cari De rerum natura libri sex, hg. von Hugh Andrew Johnstone Munro, Vol. II, 4. Aufl., Cambridge 1886, S. 21), im Rahmen einer sorgfältig abgewogenen Würdigung von Lachmanns Latein: „Though his Latin style is eminently clear lively and appropriate, yet from his aim never to throw away words, as well as from a mental peculiarity of his, that he only cared to be understood by those whom he thought worthy to understand him, he is often obscure and oracular on a first reading.“ 10
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grund ähnlicher Stellen bei ihm selbst zu verstehen, außerdem dann das Prinzip, einen Autor vor dem Hintergrund der Schriften seiner Zeit zu lesen: Es war ein wichtiges Verdienst von Timpanaro, wieder ins Gedächtnis gerufen zu haben, dass Jacob Bernays in einem langen Aufsatz die Lukrezüberlieferung bereits drei Jahre vor Lachmanns Ausgabe im Wesentlichen richtig rekonstruiert hat.13 Der Einfluss dieses Aufsatzes auf den Text der Lachmannschen praefatio ist bislang nicht systematisch untersucht worden; doch mehr als nur eine Stelle bei Lachmann erschließt sich meines Erachtens erst dann, wenn man sie vor dem Hintergrund des Aufsatzes von Bernays liest und als Reaktion auf ihn begreift.
II. Das Kernproblem der praefatio von Lachmanns Lukrezausgabe Der entscheidende Vorwurf, den Timpanaro erhebt und der bei Fiesoli dann Ausgangspunkt für die weitere Kritik ist, lautet, Lachmann habe sich in der praefatio seiner Lukrezausgabe über eine Kernfrage der recensio widersprüchlich geäußert, nämlich darüber, ob das Lukrezstemma zwei- oder dreispaltig sei. Um das Problem zu verdeutlichen, ist es geboten, die Grundzüge der Lukrezüberlieferung in Erinnerung zu rufen.14 Ausgangspunkt ist ein frühmittelalterlicher Archetypus ⍀, unterhalb dessen sich die Überlieferung in karolingischer Zeit in zwei Zweige teilt: Den einen vertritt der Codex Oblongus O (Leiden, Universiteitsbibliotheek, Vossianus Latinus F 30 [saec. IX1]), den anderen die verlorene Handschrift ⌫. Diese ist ihrerseits Vorlage des Codex Quadratus Q (Leiden, Universiteitsbibliotheek, Vossianus Latinus Q 94 [saec. IXmed.]) sowie dreier Handschriftenfragmente in Kopenhagen und Wien, der Schedae Gottorpienses G (Kopenhagen, GKS 211 2o), der Schedae Vindobonenses priores V (Wien, ÖNB Cod. Lat. 107, folia 9–14) und der Schedae Vindobonenses posteriores U (Wien, ÖNB Cod. Lat. 107, folia 15–18). Diese drei Fragmente stammen ursprünglich aller Wahrscheinlichkeit nach aus einer einzigen Handschrift vom Ende des neunten Jahrhunderts. Zu den drei Handschriften aus karolingischer Zeit kommt eine umfangreiche Gruppe von 56 italienischen Humanistenhandschriften aus dem 15. und frühen 16. Jahrhundert hinzu. Sie gehen auf einen heute verlorenen Codex zurück, der im Jahr 1417 an einem nicht bekannten Ort in Deutschland von einem lokalen Schreiber für den italienischen Humanisten Poggio angefertigt wurde und den dieser selbst sowie sein Freundeskreis um den Florentiner Humanisten Niccolò Niccoli mit eigenen Verbesserungen versehen haben, ehe er in Florenz abge-
13
Jacob Bernays: De emendatione Lucretii, in: Rheinisches Museum 5, 1847, S. 533–587; zur Bedeutung dieser Arbeit siehe Timpanaro [Anm. 5], S. 102–111. 14 Zu den Details siehe zuletzt Marcus Deufert: Prolegomena zur Editio Teubneriana des Lukrez, Berlin, Boston 2017 oder, in aller Kürze, die praefatio meiner Teubnerausgabe des Lukrez (Titus Lucretius Carus. De rerum natura libri VI. Edidit Marcus Deufert, Berlin, Boston 2019).
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schrieben und zum Stammvater der italienischen Lukrezüberlieferung wurde. Diesen Poggianus15 bezeichne ich in seiner Reinform, so wie er von einem lokalen Schreiber für Poggio angefertigt wurde, mit π, dagegen in seiner mit Konjekturen angereicherten Form, in der er dann abgeschrieben wurde, mit ξ. Es ist die Frage nach dem Verhältnis des Poggianus zu den Vertretern der karolingischen Überlieferung, über die sich Lachmann in den Augen von Timpanaro kein festes Urteil gebildet haben soll. Zu Beginn seiner praefatio habe Lachmann den Poggianus als eine direkte Abschrift des Archetypus eingestuft und damit für den Lukreztext ein dreispaltiges Stemma mit den drei unabhängigen Zeugen O, ⌫ und π angesetzt. Im weiteren Verlauf seiner praefatio sei Lachmann dann jedoch, ohne es zu merken,16 zu der Annahme eines zweispaltigen Stemmas übergegangen: Er habe dann den Poggianus als einen Bruder des Oblongus erachtet, so dass, stemmatisch gesprochen, unter ⍀ ein mit ⌫ auf gleicher Stufe stehender neuer Hyparchetypus anzusetzen sei (ich bezeichne ihn dort, wo ich auf ihn zu sprechen komme, als Δ), unter dem sich die Überlieferung in O und π aufteilt. Wenn Timpanaros Interpretation der praefatio zuträfe, wenn sich Lachmann also über eine so grundlegende Frage der Lukrezüberlieferung kein festes Urteil gebildet hätte, so stünde seine recensio in der Tat von Anfang an auf tönernen Füßen. Dabei ist es Timpanaros Verdienst, überhaupt erst auf Stellen der praefatio hingewiesen zu haben, an denen sich Lachmann für eine zweigeteilte Überlieferung ausspricht. Zuvor hatte man Lachmann wie selbstverständlich
15
Der Begriff „codex Poggianus“ geht zurück auf Bernays [Anm. 13], S. 556, der zuvor (S. 553–556) die Geschichte der Poggio verdankten Rückkehr des Lukrez nach Italien rekonstruiert hat. S. 560–563 weist Bernays dann die Existenz des Poggianus auch durch gemeinsame Sonderfehler der italienischen Lukrezhandschriften gegen O und Q nach. Als Poggianus bezeichnete Bernays die von Poggio entdeckte Handschrift, nicht (wie wir), die für ihn angefertigte Abschrift dieser Handschrift. Das Zeugnis, aus dem hervorgeht, dass Poggio den Lukreztext durch eine Abschrift der von ihm entdeckten Handschrift und nicht durch diese selbst nach Italien vermittelte, ein Brief Poggios an Francesco Barbaro, wurde erst 1899 publik gemacht; vgl. zuletzt Deufert, Prolegomena [Anm. 14], S. 66 f. Lachmann fasst auf S. 5 f. seiner praefatio Bernays’ Untersuchungsergebnisse so knapp zusammen, dass man das, was Lachmann schreibt (etwa über Poggios Ansicht, er habe lediglich eine „pars Lucretii“ ans Licht gebracht), nur vor dem Hintergrund der (nicht genannten) Darstellung von Bernays vollständig versteht. Vgl. hierzu auch unten, S. 294 mit Anm. 87. 16 Vgl. Timpanaro [Anm. 5], S. 109: „Lachmann […] slips from the first to the second in the course of his explanation without noticing it“; ähnlich auch S. 110, Anm. 27, etwas vorsichtiger dann S. 110: „Without saying so and, apparently, without noticing it, Lachmann has slipped from the hypothesis of a tripartite tradition to that of a bipartite one“, wo die Worte „without saying so and, apparently,“ in den älteren Fassungen vor 1981 fehlen; vgl. Most [Anm. 5], S. 223, Anm. n. Timpanaro [Anm. 5], S. 111, und nach ihm mit größerem Nachdruck Kenney [Anm. 7], S. 103 f., bringen diesen Widerspruch mit Lachmanns Widerwillen in Verbindung, die Überlieferungsverhältnisse in einem Stemma codicum bildlich zu fixieren.
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die Annahme eines dreispaltigen Stemmas unterstellt.17 Diese Unterstellungen sind, wie ich meine, falsch. Die Stellen, auf die man sich zugunsten der Annahme einer dreigespaltenen Überlieferung beruft, haben meines Erachtens keine Beweiskraft. Alle Stellen, an denen er sich in seiner praefatio explizit über das Verwandtschaftsverhältnis der Zeugen des Lukreztextes äußert, führen auf ein zweigeteiltes Stemma. Diese bespreche ich zunächst.
III. Lachmanns Aussagen über das Verwandtschaftsverhältnis der Zeugen des Lukreztextes III.1. Das Verhältnis zwischen dem Oblongus und dem Poggianus Lachmanns praefatio beginnt damit, dass er zunächst den Archetypus der gesamten handschriftlichen Überlieferung rekonstruiert und sich in Anschluss daran dessen Zeugen widmet. Er beginnt mit dem Oblongus und kommt dann auf den Poggianus als den Stammvater der italienischen Überlieferung zu sprechen. In diesem Zusammenhang äußert er sich erstmals über das Verwandtschaftsverhältnis dieser beiden Zeugen (S. 5): Alterum libri antiquissimi apographum in Italiam travectum est; quae quibus codicibus per saeculum quintum decimum usa est, eos omnes habuit eodem exemplo scriptos, oblongo nostro ab omni parte simillimos neque tamen ex oblongo ductos: aliquando enim ab hoc dissentiunt et cum quadrato faciunt, idque in iis rebus quas coniectura adsequi nemo potuit. Eine zweite Abschrift des ältesten Buches gelangte nach Italien; alle Handschriften, die Italien das fünfzehnte Jahrhundert hindurch verwendete, hatte es als Abschriften aus eben dieser Vorlage, dem Oblongus in jeder Hinsicht sehr ähnlich und dennoch nicht aus ihm abgeleitet: Bisweilen nämlich weichen sie von diesem ab und stimmen mit dem Quadratus überein, und dies in Dingen, die niemand durch Konjektur erreichen kann.
Wie zuvor der Oblongus wird hier der Poggianus als ein „apographum libri antiquissimi“, also als eine Abschrift des Archetypus charakterisiert;18 er ist seinerseits das „exemplum“, aus dem alle italienischen Handschriften des 15. Jahrhunderts abgeschrieben sind.
17
So z.B. Richard Heinze in seiner Rezension der Lukrezausgabe von Hermann Diels, in: Deutsche Literaturzeitung 1, 1924, S. 38–49, dort S. 41: „Einen sehr wichtigen Fortschritt bedeutet Diels’ These, daß der Codex […], von dem Poggio eine Abschrift nach Italien brachte, […] nicht, wie man seit Lachmann allgemein angenommen hat, einen neben O und Q selbständigen Zweig der Überlieferung repräsentiert, sondern von O abstammt.“ Vgl. auch Bailey im ersten Band seiner großen Lukrezausgabe (Oxford 1947), S. 42 f., wo er das von ihm gedruckte dreispaltige Stemma als „Lachmann’s view“ charakterisiert, obwohl er sich zuvor bei dessen Herleitung auf Munro [Anm. 12] beruft, der sich in der Tat, meines Erachtens als Erster, für ein dreispaltiges Stemma ausgesprochen hat; vgl. unten, S. 299 Anm. 100. 18 Hierzu unten, S. 291–295.
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Seine Auffassung über das Verhältnis des Oblongus und des Poggianus macht Lachmann dann im Folgenden deutlich: Die italienischen Handschriften sind (als Abschriften des Poggianus) dem Oblongus in jeder Hinsicht sehr ähnlich, aber nicht von ihm abgeschrieben, weil sie bisweilen vom Oblongus abweichen und mit dem Quadratus übereinstimmen, und zwar in Dingen, die kein Mensch durch Konjektur hätte erreichen können. In dieser Aussage ist ein zentrales Konzept des Leitfehlersystems von Paul Maas vorweggenommen, nämlich das Konzept des ‚Trennfehlers‘. Der Poggianus kann in Lachmanns Augen keine Abschrift des Oblongus sein, weil der Oblongus – in der Terminologie von Maas – Trennfehler gegenüber dem Poggianus aufweist:19 Die italienischen Handschriften stimmen nämlich mit dem Quadratus (für Lachmann, wie wir gleich sehen werden, dem repräsentativen Vertreter des zweiten Überlieferungszweigs) in Lesarten überein, die sie nicht durch Konjektur erlangt haben können. Mit anderen Worten: Der Oblongus weist in Lachmanns Augen eigene Fehler auf, die so gravierend sind, dass sie im Poggianus, wenn er eine Abschrift des Oblongus wäre, unmöglich durch Konjektur hätten berichtigt werden können, sodass die Italici dann aufgrund einer solchen Konjektur mit der (richtigen) Lesart des Quadratus übereinstimmen könnten.20 Damit ist klar, dass Lachmann bei der Formulierung „aliquando ab hoc dissentiunt“ der Ausdruck „ab hoc“ im Sinn von „ab hoc peccante“ zu fassen ist.21 Dementsprechend liegt die Vermutung nahe, dass man auch die in dem knappen Ausdruck „oblongo nostro ab omni parte simillimos“ konstatierte Ähnlichkeit zwischen dem Oblongus und dem Poggianus zu verstehen hat als eine Ähnlich19
Vgl. die Definition von ‚Trennfehler‘ bei Paul Maas: Leitfehler und stemmatische Typen, in: Byzantinische Zeitschrift 37, 1937, S. 289–294, dort S. 289: „Die Unabhängigkeit eines Zeugen (B) von einem anderen (A) wird erwiesen durch einen Fehler von A gegen B, der so beschaffen ist, daß er, nach unserem Wissen über den Stand der Konjekturalkritik in der Zeit zwischen A und B, in dieser Zeit nicht durch Konjektur entfernt worden sein kann.“ Der Gedanke ist bereits antizipiert bei Paul Maas: Textkritik, Leipzig, Berlin 1927, S. 3, ohne dass der Terminus ‚Trennfehler‘ fällt: „Zeigen zwei Zeugen […] gemeinsame Sonderfehler gegenüber allen übrigen Zeugen, außerdem aber noch jeder von beiden mindestens einen eigenen Sonderfehler, so müssen beide von einer gemeinsamen Vorlage […] abstammen“: Der mindestens eine eigene Sonderfehler in jedem von beiden ist der Trennfehler, der ausschließt, dass der andere von ihm abgeschrieben ist. Maas’ Aufsatz ist ab der zweiten Auflage (Leipzig 1950) in seinem Handbuch „Textkritik“ am Ende nachgedruckt; ebenso auch in den mir bekannten Übersetzungen ins Englische und Italienische. 20 Es wäre interessant zu wissen, welche Stellen Lachmann im Auge hat; ein Beispiel gibt er jedenfalls nicht. Tatsächlich hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass die Italici aus dem Oblongus abgeleitet sind; vgl. zuletzt Deufert, Prolegomena [Anm. 14], S. 74–78 (mit weiterer Literatur), außerdem S. 93–105 (wo ich jene Fehler des Oblongus bespreche, von denen die italienischen Handschriften frei sind und von denen keiner so gravierend ist, dass er nicht im 15. Jahrhundert durch Konjektur hätte beseitigt werden können); in aller Kürze auch Deufert, praefatio [Anm. 14], S. XIII f. 21 Das Wort peccare verwendet Lachmann später (S. 10) in einem Zusammenhang, der den gleichen Sachverhalt aus einer anderen Perspektive beschreibt. Siehe unten, S. 281 f.
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keit dieser beiden Zeugen gegenüber dem Codex Quadratus (bzw. der von ihm vertretenen dritten Textklasse) aufgrund von gemeinsamen Fehlern,22 von denen der Quadratus frei ist: also, mit Maas gesprochen, aufgrund von Bindefehlern.23 Anders als das Konzept des Trennfehlers, das ich für die Lukrezüberlieferung zum ersten Mal bei Lachmann ausgesprochen finde, hat das Konzept des Bindefehlers bereits kurze Zeit vor Lachmann in der Lukrezüberlieferung Anwendung gefunden, als Jacob Bernays Bindefehler zwischen dem Oblongus und dem Poggianus gegen den Quadratus nachgewiesen hat: Oblongus und Poggianus lassen in 5, 884 das richtige, in Q überlieferte nam aus; in 6, 768 fehlt in ihnen das richtige und in Q überlieferte de re24. Zur Beschreibung dieser Bindefehler verwendet Bernays den gleichen Begriff, den wir auch bei Lachmann finden, nämlich den Begriff der similitudo. Dabei erklärt sich Lachmanns etwas dunkle Formulierung „oblongo nostro ab omni parte simillimos“ als eine für Lachmann typische Verknappung der breiteren Darstellung von Bernays. Bernays hatte den Poggianus zunächst demselben „antiquae familiae genus“ zugeordnet wie den Oblongus, weil beide frei sind von den gravierenden Fehlern des ⌫-Zweiges (wie z.B. der Verstellung von 1, 734–785 und dreier weiterer Passagen an das Werkende sowie Auslassung von 1, 123).25 Darüber hinaus stellt er auch für die einzelnen Lesarten eine so große Ähnlichkeit zwischen dem Oblongus und dem Poggianus fest, dass man auf diesen praktisch ohne Schaden für die Lukrezkritik verzichten könne,26 um im Anschluss hieran eben diese similitudo mit den oben genannten Bindefehlern zu beweisen. All das scheint mir Lachmann in der Formulierung „ab omni parte simillimos“ zu verdichten.27
22
Timpanaro [Anm. 5], S. 110, stellt die richtige Frage – „extraordinary similarity (in correct readings or only in errors?)“ –, versucht aber nicht, sie zu beantworten. 23 Vgl. die Definition von ‚Bindefehler‘ bei Maas, Leitfehler [Anm. 19], S. 290: „Die Zusammengehörigkeit zweier Zeugen (B und C) gegenüber einem dritten (A) wird erwiesen durch einen den Zeugen B und C gemeinsamen Fehler, der so beschaffen ist, daß aller Wahrscheinlichkeit nach B und C nicht unabhängig voneinander in diesen Fehler verfallen sein können.“ 24 Vgl. Bernays [Anm. 13], S. 557–559. Wie er hier trotz seiner beschränkten Kenntnis der italienischen Überlieferung die gemeinsamen Auslassungen im Oblongus und Poggianus nachweist, ist musterhaft und noch immer lesenswert. 25 Vgl. Bernays [Anm. 13], S. 557: „Quibus indiciis quum secundum antiquae familiae genus agnoscatur: apparet Poggianum codicem […] eiusdem fuisse generis, cuius Lugdunensem 1. (= Oblongum)“. 26 Vgl. Bernays [Anm. 13], S. 557: „Verum […] non solum ad idem, quod Lugdunensis 1., genus pertinuit Poggianus, sed etiam in singulis scripturis tam similis Lugdunensi 1., ut qui huius plenam habeat notitiam, Poggiani testimoniis carere possit cum Lucretianae criticae detrimento minimo.“ 27 Auch sonst stellt Lachmann in seiner praefatio die Ergebnisse der Bernayschen Untersuchung derartig verkürzt dar, dass sich das, was er meint, erst dann vollständig erschließt, wenn man Bernays als Lachmanns (nicht genannte) Vorlage kennt; vgl. hierzu unten, S. 293–295.
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Dass Lachmann, wie zuvor Bernays, die similitudo zweier Zeugen gegenüber einem dritten an das Kriterium gemeinsamer Fehler bzw. Innovationen (mit Maas gesprochen: an Bindefehler) knüpft, belegen zwei spätere Stellen der praefatio (S. 6 f.), an denen Lachmann das Attribut similis erneut verwendet – diesmal, um Ähnlichkeiten unter den Vertretern der italienischen Lukrezüberlieferung zu beschreiben. Zunächst unterscheidet er unter den italienischen Handschriften zwischen konservativeren Vertretern und solchen, die stärker durch Konjektur bearbeitet worden sind: So sieht er die stark verbesserte Handschrift F (Flor. Laur. 35.31) gegenüber der konservativen Handschrift L (Flor. Laur. 35.30) durch eine „multo et audacior et ingeniosior […] diorthosis“ gekennzeichnet.28 Marullus, der bedeutendste Verbesserer des Lukrez am Ende des 15. Jahrhunderts, habe als Vorlagen teils stark verbesserte, teils konservative Humanistenhandschriften benutzt (S. 6):29 huic [scil. codici F] simillimis exemplaribus Michahelem Marullum […] usum esse manifestum est: sed eidem […] alia praesto fuerunt minus emendata, hoc est antiquae archetypi lectionis tenaciora. Es ist offensichtlich, dass Michael Marullus diesem (dem Codex F) sehr ähnliche Vorlagen benutzt hat: aber ihm standen ebenso andere, weniger stark verbesserte Vorlagen zur Verfügung, das heißt solche, welche die alte Lesart des Archetypus treuer bewahrten.
Bei den mit starken Innovationen versehenen Quellen des Marullus betont Lachmann ihre Ähnlichkeit mit F, bei den konservativen Quellen spricht er dagegen nicht von einer Ähnlichkeit mit L, sondern beschreibt sie als „alia [scil. exemplaria] […] minus emendata.“ In Anschluss daran kommt er auf die frühen Lukrezdrucke (die Editio Brixiensis [circa 1473], die Editio Veronensis [1486] und die Editio Veneta [1495]) zu sprechen und postuliert für sie aufgrund von zwei gemeinsamen Fehlern, den Auslassungen der Verse 1, 157 f. und 2, 492–494, die Abstammung von einer gemeinsamen oder zwei sehr ähnlichen Vorlagen (S. 6 f.): hi enim [scil. libri olim impressi] cum et in aliis rebus plerisque et in duobus libri primi (157 158) tribusque secundi versibus (492–494)30, quos habent Antonius Marii (i. e. codex F) et Marullus, omittendis inter se consentiant, […] crediderim eos omnes aut uno exemplari aut duobus inter se simillimis usos esse.
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Zu diesen beiden Humanistenhandschriften, ihrer Stellung in der italienischen Lukreztradition und dem in der Tat unterschiedlich hohen Grad an konjekturalkritischer Textbearbeitung vgl. Deufert, praefatio [Anm. 14], S. XII–XVIII. 29 Zu dieser Stelle vgl. auch unten, S. 296. Timpanaro hat sie in den späteren Auflagen seines Buchs ab 1981 nachträglich besprochen und falsch verstanden. 30 Zu diesen Auslassungen in der italienischen Überlieferung vgl. Deufert, Prolegomena [Anm. 14], S. 71, S. 89, mit Anm. 242, 127 und 130.
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Weil diese nämlich (scil. die Frühdrucke) sowohl in sehr vielen anderen Punkten untereinander übereinstimmen als auch darin, dass sie zwei Verse von Buch I (157–158) und drei von Buch II (492–494) auslassen, welche Antonius Marii (also die Handschrift F) und Marullus haben, möchte ich glauben, dass sie alle entweder eine einzige Vorlage oder zwei einander sehr ähnliche benutzt haben.
Die similitudo der Vorlagen der Frühdrucke wird also auf gemeinsame Auslassungen gegenüber anderen Zeugen (F und Marullus) – in den Worten von Paul Maas: auf Bindefehler – zurückgeführt.31 Wie aber erklärt sich die similitudo zwischen dem Oblongus und dem Poggianus (gegenüber dem Quadratus), wenn der Poggianus nicht aus dem Oblongus abgeschrieben ist? Lachmann stellt sich diese Frage nicht und gibt daher auch keine Antwort auf sie. Sie müsste lauten, dass der Oblongus und der Poggianus auf eine gemeinsame Vorlage zurückgehen, die zwischen diesen beiden Zeugen und dem Archetypus steht, also auf einen gemeinsamen Hyparchetypus32, wie ihn bereits Bernays postuliert hat.33 Die individuellen Fehler dieses Hyparchetypus sorgen für jene similitudo zwischen dem Oblongus und dem Poggianus, die sie von dem Quadratus unterscheidet. Es gehört zu den Eigenwilligkeiten der Lachmannschen praefatio, dass er weder hier noch an einer anderen Stelle von einem solchen Hyparchetypus spricht, der stemmatisch unterhalb des Archetypus und oberhalb des Oblongus und des Poggianus stehen müsste. Wir werden auf diesen Punkt noch zu sprechen kommen und sehen, wie Lachmann – offensichtlich mit dem Ziel, die Dinge zu vereinfachen – Hyparchetypen und das, was sie ausmacht, gewissermaßen in den Archetypus selbst zurückprojiziert34, sodass er vom Oblongus und vom Poggianus als „apographa“ des Archetypus sprechen kann.
31
Ich behaupte damit nicht, dass Lachmann die similitudo zweier Zeugen gegenüber einem dritten ausschließlich auf der Grundlage von gemeinsamen Fehlern abgeleitet hat. Wenn unsere Deutung seines Ausdrucks „ab omni parte simillimos“ richtig ist, dann ist für Lachmann ein Bestandteil der Ähnlichkeit zwischen dem Oblongus und dem Poggianus, dass sie nicht die Fehler der ⌫-Familie aufweisen. Bernays [Anm. 13], S. 557, hat – zu Unrecht – bereits aufgrund des Nicht-Teilens dieser Fehler geschlossen, dass der Poggianus und der Oblongus in das gleiche „antiquae familiae genus“ gehören. Von einer similitudo zwischen dem Oblongus und dem Poggianus spricht Bernays freilich, wenn ich recht sehe, allein aufgrund ihrer gemeinsamen Fehler. 32 Zu diesem Begriff siehe Maas, Textkritik 1927 [Anm. 19], S. 4. 33 Vgl. Bernays [Anm. 13], S. 570, wo er ein Stemma der Lukrezüberlieferung zeichnet und den Oblongus und den Poggianus aus dem von ihm rekonstruierten „exemplar generis 2.“ ableitet. 34 Vgl. hierzu unten, S. 280–283 und S. 294.
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III.2. Das Verhältnis zwischen dem Quadratus und den Schedae Nach dem Oblongus und dem Poggianus geht Lachmann auf das „tertium genus“ des Lukreztextes ein. Er beschreibt den Codex Quadratus, die Schedae und deren Verwandtschaftsverhältnis (S. 7–8): Superest ut de tertio genere exponam, quod ab eadem stirpe venisse supra dixi. Ex hoc duo mihi nota sunt35 exemplaria […] horum codicum alter est Leidensis quadratus […] alterius codicis Schedae octo Hauniae in bibliotheca regia adservantur, decem Vindobonae in Caesarea. […] neque harum Schedarum […] ulla propria auctoritas est, nisi cum aliquando cum oblongo consentiunt: pleraque enim vel minima cum quadrato ita habent communia, ut quadratum nimia fide36, schedarum autem librarios […] summa neglegentia peccasse certum sit. Übrig bleibt, dass ich über ein drittes Geschlecht Ausführungen mache, welches, wie ich oben sagte, vom selben Ursprung herkommt. Aus ihm sind mir zwei Abschriften bekannt […] Die eine von diesen Handschriften ist der Leidenser Quadratus […] von einer zweiten Handschrift werden acht Blätter in Kopenhagen in der königlichen, zehn in Wien in der kaiserlichen Bibliothek aufbewahrt. […] Und nicht haben diese Blätter irgendeine eigene Bedeutung, außer wenn sie wirklich einmal mit dem Oblongus übereinstimmen: Denn das meiste und selbst Kleinstes haben sie mit dem Quadratus gemeinsam, und zwar so, dass gewiss ist, dass der Quadratus durch allzu große Treue, die Schreiber der Blätter dagegen durch ein Höchstmaß an Nachlässigkeit gesündigt haben.
Für das Verwandtschaftsverhältnis des Quadratus und der Schedae gilt somit das Gleiche wie für das des Oblongus und des „Italicorum parens“, was Lachmann durch die Ähnlichkeit der Formulierungen unterstreicht: „pleraque vel minima cum quadrato habent communia“ entspricht „oblongo nostro ab omni parte simillimos“; „neque harum Schedarum […] ulla propria auctoritas est, nisi cum aliquando cum oblongo consentiunt“ entspricht „aliquando enim ab hoc dissentiunt et cum quadrato faciunt“. Auch hier lässt sich die konstatierte similitudo zwischen dem Quadratus und den Schedae nicht anders erklären, als dass man für sie einen Hyparchetypus ansetzt, dessen Fehler sie geerbt haben und durch die sie sich vom Oblongus (bzw. dem Hyparchetypus des anderen
35
Lachmanns Kenntnis basiert einerseits wieder auf der Untersuchung von Bernays [Anm. 13], S. 544–551, der für zwei vermeintliche Zeugen dieser Familie (Lambins Codex Bertinianus und den Codex Francisci Modii) nachwies und für einen dritten (Lambins codex Memmianus) wahrscheinlich machte, dass sie mit dem Quadratus zu identifizieren sind, und andererseits auf seiner eigenen (im Folgenden auf S. 8 f. eingehend begründeten) Beobachtung, dass die Kopenhagener und Wiener Blätter ursprünglich derselben Handschrift angehörten. 36 Zu „quadratum nimia fide“ ist gewiss wegen der antithetischen Parallelität zu „schedarum librarios summa neglegentia“ als Prädikat „peccasse“ zu ergänzen. Lachmann beklagt offensichtlich, dass im Quadratus allzu gewissenhaft die Fehler der Vorlage unberichtigt wiedergeben sind – anders als etwa im Oblongus, in dem sich, wie Lachmann weiß (praef., S. 5), zahlreiche Korrekturen zeitgenössischer Hände nachweisen lassen.
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„Ad recensionem iudicium adhibendum est“
Zweiges) unterscheiden.37 Aber auch hier fällt kein Begriff wie z.B. Quadrati et Schedarum parens, der einen Hyparchetypus konkret beschreiben würde. Stattdessen spricht Lachmann in allgemeinerer Weise und in Abhängigkeit von Bernays38 von einem „novum“ bzw. „tertium genus codicum“ (S. 7). III.3. Das Verhältnis zwischen den beiden Zweigen der Überlieferung So ähnliche Worte Lachmann auch wählt, um die Identität der Verwandtschaftsbeziehung zwischen Oblongus und Poggianus einerseits und Quadratus und Schedae andererseits zu unterstreichen, so kommt doch in dem späteren Abschnitt ein neuer Gedanke hinzu, nämlich der, dass die Schedae für die recensio keinen eigenen Wert haben („neque harum Schedarum […] ulla propria auctoritas“), außer wenn sie mit dem Oblongus übereinstimmen, d.h. wenn sie – mit Paul Maas gesprochen – durch ihre Übereinstimmung mit dem Oblongus gewisse Fehler des Quadratus als Sonderfehler entlarven, die damit für die Rekonstruktion des Archetypus ohne Bedeutung sind und deshalb eliminiert werden können.39 Für die Überlieferung insgesamt gilt dann in Lachmanns Augen – angesichts der Identität des Verwandtschaftsverhältnisses zwischen Oblongus und Poggianus auf der einen Seite und Quadratus und Schedae auf der anderen Seite –, dass es für die Rekonstruktion des Archetypus genügt, die Lesarten des Oblongus und des Quadratus zu erfassen, nachdem man sie mit Hilfe der Italici und der Schedae von ihren Sonderfehlern befreit hat, da sie an diesen Stellen keine Autorität haben (S. 9): Omnis enim vetustae lectionis memoria e Vossianis codicibus [scil. ex Oblongo et Quadrato] repetenda est; nisi quod oblongo fidem interdum Italici abrogant, quadrati auctoritatem aliquando, ut dixi, imminuunt schedae. Die gesamte Kunde der alten Überlieferung muss aus den Vossianischen Handschriften [also aus dem Oblongus und dem Quadratus] abgeleitet werden, außer dann, wenn dem Oblongus bisweilen die italienischen Handschriften seine Glaubwürdigkeit entziehen, die Schedae, wie ich sagte, die Autorität des Quadratus mindern.
37
Auch hier ist ihm Bernays [Anm. 13] vorausgegangen: S. 534 verzeichnet Bernays Bindefehler zwischen Q und den Schedae gegen O; auf S. 570 wird dann dementsprechend ein „exemplar“, also ein Hyparchetypus, für sie angesetzt. Timpanaro [Anm. 5], S. 105 mit Anm. 13, tut Bernays Unrecht, wenn er meint, dessen Beweis sei unzureichend, weil Bernays sich nur auf jene vier gemeinsamen Textauslassungen stütze, die auf Blattverluste im Archetypus zurückzuführen und daher auch ohne eine gemeinsame Vorlage erklärbar seien. Aber Bernays verweist außerdem noch auf die Auslassung von Vers 1, 123 (124 in seiner Zählung), in Bezug auf den er dann auf S. 535 – explizit Haverkamps falsche Angabe richtigstellend – noch einmal sagt, dass er nicht nur im Quadratus, sondern auch in den Schedae Gottorpienses fehlt. 38 Vgl. hierzu unten, S. 294 f. 39 Maas, Textkritik [Anm. 19], S. 3 f.
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Marcus Deufert
Auch hier unterstreicht die Parallelität der Formulierungen die Parallelität der Überlieferungsverhältnisse in beiden Zweigen; und was bereits auf der Seite des Quadratus ausgeführt wurde (hierauf zielt „ut dixi“), nämlich die Funktionsreduktion der Schedae auf die Elimination der Sonderfehler des Quadratus, wird jetzt in gleicher Weise für den anderen Zweig des Stemmas nachgeholt: Hier sind es die Italici, deren Funktion auf die gelegentliche Elimination von Sonderfehlern des Oblongus beschränkt ist.40 Lachmann genügen also Oblongus und Quadratus nach Abzug ihrer Sonderfehler zur Gewinnung der Lesarten des Archetypus in seiner Gesamtheit („omnis vetustae lectionis memoria“); nur ihn und seinen Text hat er im Blick, während die Hyparchetypi erneut übergangen sind. Dadurch nimmt er eine Vereinfachung vor, die methodisch anfechtbar ist. Bei seinem Vorgehen bleiben nämlich mögliche Lesarten des Archetypus immer dann unberücksichtigt, wenn die Mitglieder einer Familie (Oblongus und Poggianus auf der einen, Quadratus und Schedae auf der anderen Seite) unter sich Varianten aufweisen und die andere Familie von beiden durch eine wieder andere Lesart abweicht (oder auch durch zwei andere Lesarten, sodass zu dieser Stelle dann insgesamt vier Lesarten überliefert sind). Ein fiktives Beispiel soll diesen Fall verdeutlichen: ȍ ǻ ȅ
ʌ
facere
facere
ī
4
6FKHGDH
gerere
petere
Bei dieser Überlieferungslage kommen als Lesart des Archetypus facere, gerere und petere in Frage. Aber die Lesart der Schedae, petere, fällt unter den Tisch, wenn man Lachmann folgt und „omnis […] vetustae lectionis memoria e Vossianis codicibus repetit“.
40
So bereits richtig Timpanaro [Anm. 5], S. 110. Fiesoli [Anm. 9], S. 231 f., dagegen meint, Lachmann würde an dieser Stelle den Wert der Italici höher erachten als den der Schedae, weil „„abrogant“ (= annullano) […] è senz’altro molto più forte del „imminuunt“ (= diminuiscono)“. Tatsächlich handelt es sich nur um eine stilistisch elegante Variation, weil „abrogant“ durch „interdum“ eingeschränkt ist: Gelegentlich (wenn sie mit dem Quadratus übereinstimmen) entziehen die Itali dem Oblongus seine Glaubwürdigkeit; die Schedae mindern bisweilen die Autorität des Quadratus, weil sie gelegentlich mit dem Oblongus übereinstimmen und damit Sonderfehler des Quadratus entlarven. Dass die Schedae sehr viel mehr Sonderfehler aufweisen als der Quadratus, hat Lachmann (S. 8 der praefatio) in dem oben, Anm. 36, diskutierten Satz richtig festgestellt.
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„Ad recensionem iudicium adhibendum est“
Die Zahl der Fälle, an denen bei Lukrez die Überlieferung tatsächlich in dieser Weise gespalten ist, ist freilich extrem gering, sodass der Wert des Lachmannschen Textes und die Zuverlässigkeit seiner recensio hierunter kaum leidet. Sie tut es übrigens in der Praxis noch weniger als in der Theorie, da der Poggianus, wie inzwischen feststeht, kein Bruder, sondern eine Abschrift des Oblongus ist.41 Wäre also in unserem fiktiven Beispiel die Verteilung der Lesarten folgendermaßen: ȍ
ǻ
ȅ gerere
ʌ
ī
4
6FKHGDH
petere
facere
facere
dann bliebe bei Lachmann die Lesart petere unterdrückt, obwohl sie nach seiner Auffassung der Überlieferung eine Lesung des Archetypus repräsentieren könnte. Bei unserem jetzigen Wissen über die Lukrezüberlieferung sind wir dagegen Lachmann dankbar, dass er uns vor solchen Fehlern des Poggianus verschont hat. Da Lachmann die an sich erforderlichen Hyparchetypi der Lukrezüberlieferung konsequent übergeht, macht er Aussagen über das Verhältnis zwischen den Handschriften (dem Oblongus, dem Quadratus, aber auch dem Poggianus) und dem Archetypus, die tatsächlich auf das Verhältnis zwischen diesen Handschriften und ihren Hyparchetypi zutreffen. So äußert er sich, was bislang (soweit ich sehe) noch niemand diskutiert hat, über den Quadratus in einer auf den ersten Blick eklatant widersprüchlich erscheinenden Weise. An der Stelle, wo er die Texttradition beschreibt, aus der der Quadratus und die Schedae abgeleitet sind, sagt er zu Recht, dass der Quadratus keine direkte Abschrift des Archetypus sein kann (S. 7): ex hoc [scil. tertio genere] duo mihi nota sunt exemplaria, alterum non integrum, neutrum vetustate par oblongo, neutrum denique ita scriptum ut librario librum antiquissimum ipsum ante oculos fuisse appareat. Aus diesem [dem dritten Geschlecht] sind mir zwei Abschriften bekannt, die eine nicht vollständig, keine hinsichtlich des Alters dem Oblongus gleich, keine schließlich so geschrieben, dass es offensichtlich ist, dass dem Schreiber das älteste Buch selbst vor Augen gewesen wäre. 41
Vgl. Deufert, Prolegomena [Anm. 14], S. 74–78 (mit weiterer Literatur), außerdem S. 93–105; in aller Kürze auch Deufert, praefatio [Anm. 14], S. XIII f.
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Marcus Deufert
Aber an einer späteren Stelle, wo Lachmann die geringe Genauigkeit hervorhebt, mit der Oblongus und Quadratus ihre Vorlage kopiert haben, spricht er ganz selbstverständlich davon, dass die Schreiber beider Handschriften den Archetypus vor Augen hatten (S. 9 f.): iam si eadem fide eademque arte qua Mediceum Vergilii codicem Fogginius42 expressit, ii librarii qui Vossianos conscripserunt exemplar antiquissimum per ductus litterarum singulos imitati essent, in Lucretii carminibus recensendis, quoniam uterque eodem exemplo scriptus esset, […] nihil sane agendum esset nisi ut paucula, in quibus eorum alteruter peccasset, notarentur. Wenn nun mit der gleichen Zuverlässigkeit und Kunstfertigkeit, mit der Fogginius den Codex Mediceus des Vergil abgebildet hat, die Schreiber, die die Vossiani [des Lukrez] geschrieben haben, die älteste Vorlage bis in die Einzelheiten des Schriftzugs nachgeahmt hätten, dann wäre bei der recensio des Lukrezgedichts, weil ja jeder von beiden von derselben Vorlage abgeschrieben wäre, gar nichts anderes zu tun, als dass sehr wenige Dinge zu rügen wären, bei denen einer der beiden Fehler gemacht hätte.
Lachmann sagt hier für den Oblongus und den Quadratus, dass sie dieselbe Vorlage („idem exemplum“) abgeschrieben hätten43: Dieses „exemplum“ ist das „exemplar antiquissimum“, also der Archetypus. In Wahrheit können sie freilich beide, so wie Lachmann die Überlieferung rekonstruiert, diesen Archetypus nicht zu Gesicht bekommen haben. Für den Quadratus hat er es an der eben angeführten Stelle (S. 7), wo er dessen Verwandtschaft mit den Schedae bespricht, ausdrücklich gesagt; für den Oblongus wurde es aus der korrespondierenden (von uns oben, S. 271–273, besprochenen) Stelle (S. 5) evident, wo er die Verwandtschaft des Oblongus mit dem Poggianus in einer Weise beschreibt, die zwingend eine gemeinsame Vorlage erforderlich macht, diese aber nicht nennt, sondern so tut, als seien Oblongus und Poggianus Abschriften des Archetypus und nicht dieses Hyparchetypus. Das Gleiche tut er hier für den Oblongus und den Quadratus. Erneut also sind die Hyparchetypi gewissermaßen in den Archetypus zurückprojiziert. Eine alternative Erklärung unserer Stelle, nämlich, dass Lachmann ein vierspaltiges Stemma mit vier unabhängigen Abschriften des 42
Lachmann verweist auf folgendes Buch: P. Vergili Maronis codex antiquissimus in bibliotheca Mediceo-Laurentiana adservatus. […] typis descriptum […] antiquitatis aestimatoribus Pet. Franc. Fogginius dedicabat A. S. 1741. Tatsächlich bildet Fogginius in seinem Druck das Layout des spätantiken Vergilcodex Flor. Laur. 39, 1 bis in die Buchstabenformen und die Kompendien hinein ab. 43 Lachmann formuliert den Gedanken in der Form einer irrealen Periode, von der man sich nicht irremachen lassen darf: Irreal ist lediglich die hypothetisch durchgespielte Handlung, nämlich, dass die mittelalterlichen Schreiber genauso originalgetreu kopierten wie Fogginius in der Mitte des 18. Jahrhunderts; real dagegen sind die Subjekte und die Objekte der Handlung, nämlich die Kopisten (Fogginius und die Schreiber von O und Q), die Vorlagen (der Mediceus des Vergil, der in Lachmanns Augen [vgl. praef., S. 3] genauso alte und in der gleichen Buchform wie der Mediceus geschriebene Lukrezarchetypus) sowie die Abschriften (der Druck des Fogginius; der Oblongus und Quadratus).
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„Ad recensionem iudicium adhibendum est“
Archetypus (dem Oblongus und dem Quadratus, und dann dementsprechend auch dem Poggianus und den Schedae) angesetzt habe, ist nach all dem, was Lachmann zuvor gesagt hat, ausgeschlossen. III.4. Die Doppellesarten des Archetypus, die Varianten zwischen O und Q, und das Ziel der Lachmannschen recensio Unsere Vermutung, dass Lachmann die Hyparchetypi in den Archetypus zurückprojiziert, bestätigt sich, wenn wir eine letzte schwierige Stelle der praefatio betrachten, die bislang, soweit ich sehe, nicht richtig verstanden worden ist. Lachmann zieht hier aus dem Überlieferungsbefund seine Folgerungen für die Edition (S. 10): hoc dico. ubicumque testimoniis fide dignis inter se collatis perspicuum est in archetypo scripturam fuisse duplicem (hoc autem ita est, quotiens oblongus et quadratus inter se dissentiunt, neque eorum alterutrum peccare aut e schedis aut ex Italicis sive manu scriptis sive impressis apparet), ad recensionem iudicium adhibendum est, neque tam certo utra scriptura antiquior fuerit dici potest, quam utra aut vera aut verae propior sit disputari. sed ego cum hoc de testium dissensu iudicium paene ubique certissimum et extra periculum positum intellexissem, nolui mendis, quae in altero libro essent, in altero non essent, enumerandis taedium et mihi et lectoribus facere sine ullo ad verum inveniendum emolumento. Dies sage ich: Wo auch immer nach dem gegenseitigen Vergleich der vertrauenswürdigen Zeugen offensichtlich ist, dass im Archetypus eine Doppellesart gewesen ist (dies ist aber der Fall, sooft der Oblongus und der Quadratus voneinander abweichen, und es aufgrund der Schedae oder aufgrund der Italici [Handschriften oder Frühdrucke] klar ist, dass keiner von ihnen einen Fehler gemacht hat), muss man bei der recensio Urteil anwenden; und nicht lässt sich mit so großer Sicherheit sagen, welche der beiden Lesarten die ältere gewesen ist, mit wie großer Sicherheit dargelegt werden kann, welche entweder wahr oder der wahren näher ist. Aber nachdem ich begriffen hatte, dass bei einem Abweichen der Zeugen dieses Urteil beinahe überall absolut sicher ist und keine Gerichtsverhandlung erforderlich macht, wollte ich nicht durch das Aufzählen von Fehlern, die in dem einen Buch vorhanden, in dem anderen Buch nicht vorhanden waren, mir und dem Leser Verdruss bereiten ohne irgendeinen Ertrag für die Entdeckung des Wahren.
Lachmann behauptet hier zunächst, dass die nach dem Abzug aller individuellen Sonderfehler verbleibenden Varianten zwischen dem Oblongus und Quadratus auf eine „duplex scriptura“, also auf Doppellesarten, im Archetypus zurückzuführen seien. An welche Art von Varianten denkt hier Lachmann? Nach Pasqualis Auffassung an solche, die auf die „Denk- und halbbewusst umgestaltende Tätigkeit der Schreiber“ zurückgehen, und damit nicht an simple Reproduktionsfehler.44 Ganz ähnlich deuten Timpanaro und Orlandi die Stelle: Nach Timpanaro geht es um Varianten, die zustande kommen, wenn „the copyists of 44
Giorgio Pasquali in seiner Rezension von Maas’ Textkritik [Anm. 19], in: Gnomon 5, 1929, S. 417–435, dort S. 427.
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the two subarchetypes could have, I will not say voluntarily altered the text, but even fallen into psychological errors of a certain magnitude, for example, substituting one word for another similar one“45; für Orlandi ist es evident, dass „con tali discordanze egli intendeva alternative tra lezioni ambedue interessanti o in qualche modo plausibili, non tra una lezione ineccepibile e un evidente errore di copia.“46 Alle drei vermuten also, dass Lachmann im Archetypus Doppellesarten dort ansetzt, wo die Varianz zwischen O und Q nicht trivial ist und auf versehentlichen Kopistenfehlern beruht, sondern Folge eines bewusst oder unbewusst vorgenommenen Textabänderung durch einen Schreiber und damit von einem gewissen Belang ist47 – etwa an Stellen wie der unten besprochenen 1, 357, wo die Überlieferung zwischen ualerent (⌫) und fieri (der Korrektor des Oblongus und die italienischen Handschriften) schwankt und wo Lachmann im Kommentar explizit die Vermutung äußert, im Archetypus habe eine Doppellesart vorgelegen.48 Aber einer solchen Einschränkung der Varianz auf nicht-triviale Varianz widerspricht die Allgemeingültigkeit von Lachmanns Formulierung „quotiens oblongus et quadratus inter se dissentiunt“ – „sooft sie voneinander abweichen“. Die Sprache ist unmissverständlich: Lachmann meint die gesamte Varianz zwischen O und Q nach Abzug der individuellen Sonderfehler, oder anders formuliert: Er meint, in der Terminologie von Maas, die Varianz zwischen den Hyparchetypi Δ und ⌫, und zwar in ihrer Gesamtheit, auch in ihrer gesamten Trivialität. Es geht also um sämtliche Varianten, angefangen mit 1,5 lumina Δ: lumine ⌫,
endend mit 6,1285 et Δ: fit ⌫.
Eben, weil Lachmann nicht von Hyparchetypi spricht, muss er die individuellen Sonderfehler der Hyparchetypi in den Archetypus selbst zurückprojizieren und ihm eine große Zahl an Doppellesarten (darunter jede Menge trivialer Fehler und ihrer evidenten Korrekturen) zuweisen. Diese Rückprojektion bedeutet letztlich keine Verfälschung der Überlieferungsverhältnisse: Die Lesarten des Oblongus und Quadratus sind (nach Abzug der jeweiligen Sonderfehler) stem45
Timpanaro [Anm. 5], S. 111. Giovanni Orlandi, Perché non possiamo non dirci lachmanniani, in: Ders.: Scritti di filologia mediolatina, hg. v. Paolo Chiesa u.a., Florenz 2008, S. 95–130, dort S. 112. 47 So zuletzt auch Fiesoli [Anm. 9], S. 244, der Lachmann gar unterstellt, er greife auf die Vorstellung von Doppellesarten im Archetypus dort zurück, wo die Zeugen „due lezioni adiafore, concorrenziali“ bieten, „che lo avrebbero costretto a utilizzare magari in apparato quel fortasse recte che da sempre aborriva ben più del ricorso al iudicium“. 48 Zu dieser Stelle vgl. unten, S. 297; die weiteren gerade einmal acht Stellen im Kommentar, an denen Lachmann Doppellesarten im Archetypus vermutet hat, stellt Fiesoli [Anm. 9], S. 244, zusammen. 46
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„Ad recensionem iudicium adhibendum est“
matisch gleichwertig, jede von ihnen kann den Archetypus repräsentieren. Von Lachmann wird jedes von beidem, das im Archetypus gestanden haben kann, tatsächlich in den Archetypus hineingesetzt. Lachmann ist hier an einem Punkt angelangt, wo ein mechanisches Eliminieren von Lesarten nicht mehr möglich ist, wo also, um mit Maas zu sprechen, die recensio endet und die examinatio, die zweite der drei Aufgaben des Editors, beginnt: Bei zweigespaltener Überlieferung führt die recensio oft […] auf zwei Varianten. Die examinatio hat also festzustellen, ob eine der beiden oder ob keine der beiden original ist.49
Den Begriff der examinatio hat Maas zu Beginn seines Handbuchs im Abschnitt „Grundbegriffe“ als etwas Neues eingeführt. Sie tritt als drittes officium editoris zwischen die beiden altbekannten, die recensio und die emendatio (diese wird bei Maas durch den wertneutralen Begriff divinatio ersetzt, ohne dass sich aber an der Sache selbst etwas ändert): Der originale Text ist im Einzelfall entweder überliefert oder nicht überliefert. Zunächst ist also festzustellen, was als überliefert gelten muß oder darf (recensio), und dann ist die Überlieferung zu prüfen, ob sie als original gelten darf (examinatio); erweist sie sich als nicht original, so muß versucht werden, durch Vermutung (divinatio) das Originale herzustellen […]. Bei der üblichen Einteilung der Textkritik in recensio und emendatio bleiben sowohl die Fälle unberücksichtigt, in denen die Prüfung zu dem Ergebnis führt, dass die Überlieferung heil, oder dass sie unheilbar ist, wie die Fälle, in denen das Originale erst durch die Wahl (selectio) zwischen verschiedenen vom Standpunkt der recensio aus gleichwertigen Überlieferungen festgestellt werden kann.50
Hinsichtlich der Terminologie ist Maas innovativ gegenüber Lachmann:51 Lachmann gliedert die praefatio seiner Lukrezausgabe, die den Titel „T. Lucreti Cari de rerum natura libri VI. Carolus Lachmannus recensuit et emendavit“ trägt, in die Abschnitte „recensio“ und „emendatio.“ Aber der Sache nach ist er es nicht: Denn die „examinatio“ als „officium editoris“ wird von Lachmann ebenfalls durch die Feststellung „ad recensionem iudicium adhibendum est“ eingefordert und zwar an der gleichen Stelle wie bei Maas, nämlich im Anschluss an das, was Maas alleine als „recensio“ bezeichnet hat. Lachmann unterscheidet zwei Schritte der recensio: eine „recensio sine iudicio“, bei der mechanisch, nach rein stemmatischen Schritten, „testimoniis fide dignis inter se collatis“ Lesarten als Sonderfehler einzelner Handschriften eliminiert 49
Maas, Textkritik [Anm. 19], S. 9. Maas, Textkritik [Anm. 19], S. 1 f. 51 Zu der eben ausgeschriebenen Stelle vgl. den Kommentar zur Maas’schen Textkritik von Elio Montanari: La critica del testo secondo Paul Maas. Testo e Commento, Florenz 2003, S. 19: „Maas […] si offerma diffusamente a sottolineare la novità e la rilevanza teoretica della propria posizione“. 50
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werden können. Dem entspricht bei Maas der Begriff recensio allein. Dort dagegen, wo zwei gleich gut überlieferte Varianten begegnen (in Lachmanns Worten: wo der Archetypus eine Doppellesart hat; in Maas’ Worten: wo die Hyparchetypi eine Variante aufweisen), hat der Editor in Lachmanns Worten eine „recensio cum iudicio“, in Maas’ Worten eine „selectio“ nach der „examinatio“ durchzuführen: Er hat angesichts zweier gleich gut überlieferter Varianten zu entscheiden, welche die ursprüngliche ist.52 Erst vor diesem Hintergrund ergibt dann auch das Sinn, was Lachmann im Folgenden sagt: „Und nicht lässt sich mit so großer Sicherheit („tam certo“) sagen, welche der beiden Lesarten die ältere gewesen ist, mit wie großer Sicherheit dargelegt werden kann („quam disputatur“), welche entweder wahr oder der wahren näher ist“.53 Lachmann warnt also davor, an einer Stelle wie 1, 5 uisitque 52
Es stellt sich hier die Frage, ob Lachmann mit der Aussage „ad recensionem iudicium adhibendum est“ eine berühmte frühere, viel zitierte und oft erörterte Aussage vom Anfang der praefatio seiner Ausgabe des Neuen Testaments (tomus prior, Berlin 1842, S. V) stillschweigend revidiert, die man gemeinhin auf die Formel „recensere sine interpretatione“ reduziert und oft so versteht, als habe Lachmann das „recensere“ als einen rein mechanischen Vorgang erachtet. Man müsste die Stelle erneut in ihrem Zusammenhang betrachten, was hier nicht im Einzelnen geschehen kann. Das Erste, was Lachmann in der praefatio zum Neuen Testament tut, ist, dass er dem „iudicare“ und dem „interpretari“ verschiedene Aufgaben zuweist. Unter „iudicare“ versteht er das Erörtern, „qui scriptor quid scripserit“, unter „interpretari“ das Darlegen, „quo rerum statu quid senserit [scil. scriptor] et cogitarit“. Lachmann scheint mir hier mit „iudicare“ und „interpretari“ im Wesentlichen das zu unterscheiden, was man in seiner Zeit als ‚niedere‘ und ‚höhere‘ Kritik der Bibel bezeichnet hat. Dementsprechend ordnet er das „recensere“ und überhaupt die Textkritik dem Bereich des „iudicare“ zu („iudicandi tres gradus sunt, recensere, emendare, originem detegere“), wobei er einräumt, dass sich bei der „emendatio“ das „iudicare“ und das „interpretari“ überlagern (vgl. hierzu Orlandi [Anm. 46], S. 103 f.). Die Kritik, die Timpanaro [Anm. 5], S. 88, an dem Prinzip des „recensere sine interpretatione“ äußert, scheint mir daher unberechtigt zu sein: „But recensere sine interpretatione was never anything more than empty boasting, even on Lachmann’s part, not only because he had at the very least to understand the meaning of the manuscripts in order to be able to classify them, but also because after the eliminatio lectionum singularium there still remained a large mass of variants of equal documentary authority from among which he too had to choose on the basis of internal criteria“. Ich denke, dass jene intellektuellen (nicht mechanischen) Vorgänge, die Timpanaro zu Recht mit der „recensio“ verbindet, für Lachmann in den Bereich des „iudicare“ fallen, nicht in den des „interpretari“. Dann aber ist ein „recensere sine interpretatione“ kein „empty boasting“. Lachmanns Standpunkt zur „recensio“ scheint mir in beiden praefationes letztlich der gleiche zu sein. 53 Most, der in dankenswerter Weise Timpanaros lateinische Zitate aus Lachmann übersetzt, gibt den Satz folgendermaßen wieder (Timpanaro [Anm. 5], S. 111): „[…] nor can it be said with as much certainty which reading is older, as there can be disagreement about which one is true or closer to the truth“. Diese Übersetzung mag Timpanaros Auffassung der Stelle entsprechen: Er rechnet ja mit nicht-trivialen Varianten, bei denen das Urteil schwierig ist. Aber das Lateinische „quam (certo) disputari (potest)“ heißt nicht „as there can be disagreement“. Lachmann verbindet „disputare“ wie hier mit „certo“, so an anderen Stellen mit „egregie“ (1, 1012) oder „optime“ (5, 1006); das Verb heißt dann „darlegen“, „durch Erörtern klären“.
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„Ad recensionem iudicium adhibendum est“
exortum (scil. genus omne animantum) lumina solis mit Gewissheit behaupten zu wollen, das richtige lumina sei älter als das falsche lumine: Korruptes lumine mag durchaus im Archetypus die ältere Lesart gewesen und dann durch lumina berichtigt worden sein. Aber das „iudicium“ führt zu der Gewissheit, dass lumina die wahre Lesart sein muss. Dass Lachmann tatsächlich in erster Linie triviale und ganz leicht zu beurteilende Varianten wie lumina und lumine in 1, 5 im Blick hat, für die er gleichwohl die Anwendung des iudicium verlangt (übrigens nicht anders, als auch Maas dies tut54), zeigt erneut der Fortgang des Gedankens: Weil beim Vorliegen von Varianten zwischen O und Q das Urteil darüber, was richtig und was falsch ist, beinahe überall absolut sicher ist, will er es seinem Leser ersparen, ihm die Fehler von O und Q im Einzelnen vor Augen zu führen. Hier also muss der Leser Lachmanns iudicium vertrauen, worauf er ihn ausdrücklich hinweist.55 Tatsächlich hält sich Lachmann in seiner Textausgabe an diese Vorgabe: Der unter seinem Text gedruckte Apparat erfasst zwar vollständig und zuverlässig jene Abweichungen, die zwischen dem von Lachmann gedruckten und dem in O und Q einheitlich bezeugten Text bestehen.56 Dagegen verschweigt er mit letzter Konsequenz sämtliche Varianten, die O und Q untereinander aufweisen; die wichtigeren von ihnen erscheinen immerhin im Kommentar. Im Text selbst steht selbstverständlich jene Lesart, die Lachmann für die richtige hält.57 Lachmanns recensio ist also nicht so angelegt, dass der Leser den Text des Archetypus in seiner Gesamtheit, einschließlich seiner Doppellesarten (wir würden heute sagen: einschließlich aller nicht mechanisch eliminierbaren Varianten) geboten bekommt. Dort, wo der Archetypus eine Doppellesart aufweist (d.h., wo zwei gleich gut überlieferte Varianten vorliegen), präsentiert Lachmann nur das ‚Richtige‘. Indem er von seinem Leser verlangt, ihm im Bereich der selectio blind zu vertrauen, lenkt er dessen Blick ganz auf den Bereich der emendatio.
54
Vgl. Maas, Textkritik [Anm. 19], S. 10: „So verschiedenwertig die beiden Variantenträger auch sein mögen, die selectio muss von Fall zu Fall geschehen, keine Variante darf ungeprüft verworfen werden.“ 55 Praefatio, S. 10 f. „scio quidem multos in hac re confidentiam meam reprehensuros esse, qui mihi id quod ipsi videre velint credi postulem. […] quibus ego auctor sum [wohl im Sinn von: ‚ich versichere ihnen‘] ut […], si possint, mihi, homini quidem neque errorum experti, non tamen nimis incurioso aut neglegenti, credant non facile usquam multo quam ego dixerim plus auctoritatis inesse exemplaribus nostris antiquissimis.“ 56 Praefatio, S. 11: „emendationem his rebus contineri arbitratus sum, primum ut […]; deinde ut ipsa versuum vocabula, ubi vel perissent vel depravata essent, quantum fieri posset, reciperarentur, ita tamen ut singula ad codicum fidem scripta […] in imis paginis carminum enumerarentur.“ 57 Praefatio, S. 11: „Itaque recensendi munere ita functus sum, ut quodcumque bonum et verum esset aut in utroque aut in alterutro codice, id sine ullo dubitationis indicio exhiberem.“
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Das Ziel der recensio besteht darin, dem Leser unmittelbar klarzumachen, was im Text auf Überlieferung beruht und was auf Konjektur. In dieser radikalen Beschränkung des Apparats ist Lachmann kein Lukrezherausgeber mehr gefolgt. Seine Nachfolger haben die Varianz zwischen O und Q dann mehr oder weniger systematisch in ihren Apparaten verzeichnet.58 Die Varianz zwischen den beiden gleichwertigen Zweigen der Überlieferung, also zwischen O und ⌫, ist erst jetzt, im Apparat meiner Ausgabe, systematisch dokumentiert.59 III.5. Gründe für Lachmanns Verzicht auf die Hyparchetypi Lachmanns Auffassung von der Lukrezüberlieferung ist klar, Theorie der praefatio und editorische Praxis entsprechen sich. Die Lukrezüberlieferung ist zweigeteilt; auf der einen Seite des Zweiges stehen Oblongus und Poggianus, auf der anderen Quadratus und Schedae. Lachmann unterlässt es freilich, die Hyparchetypi zu rekonstruieren, die über Oblongus und Poggianus sowie über dem Quadratus und den Schedae stehen. Stattdessen nutzt er Poggianus und Schedae lediglich dazu, die Sonderfehler des zweiten Zeugen ihres jeweiligen Zweiges zu eliminieren, und projiziert die verbleibende Varianz, eben die nichteliminierbare Varianz der Hyparchetypi, in den Archetypus selbst, in Form von Doppellesarten, zurück: In ihm hat nicht A oder B gestanden, sondern A und B.60 Es stellt sich hier die Frage, weshalb Lachmann so verfährt. Sie stellt sich nicht zuletzt deshalb, weil (worauf schon mehrfach hingewiesen wurde) bereits wenige Jahre vor dem Erscheinen von Lachmanns Lukrezausgabe Jacob Bernays die Lukrezüberlieferung in der gleichen Weise rekonstruiert hat, wie es Lachmann in seiner praefatio tut. Dabei hat Bernays unterhalb des Archetypus explizit zwei Hyparchetypi – in seinen Worten: das „exemplar generis prioris“ (aus dem der Quadratus und die Schedae stammen) und das „exemplar generis alterius“ (die Vorlage des Oblongus und des Poggianus) – angesetzt.61 Bernays hatte seine Arbeit, eine von ihm als Studenten mit 22 Jahren verfasste Preisschrift, im April 1846 abgeschlossen, und damit, nach Lachmanns Worten (praefatio, S. 4), genau zu jener Zeit, als Lachmann selbst anfing, den Oblongus und den Quadratus sechs Monate lang in Berlin mit eigenen Augen zu studieren. Spätestens seit Oktober 1846 kennt Lachmann in groben Zügen den Inhalt von Bernays’ Arbeit aus der im Bonner Vorlesungsverzeichnis für das Winter-
58 59 60 61
Vgl. hierzu Deufert, Prolegomena [Anm. 14], S. 9–17. Deufert [Anm. 14]. Diese Formulierung, welche die Sache auf den Punkt bringt, verdanke ich Erik Pulz. Bernays [Anm. 13], S. 570.
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semester 1846/1847 veröffentlichten laudatio auf die Preisschrift.62 Spätestens im April 1847 hatte er Bernays’ Arbeit, die 1847 im Rheinischen Museum als Aufsatz mit dem Titel „de emendatione Lucretii“ gedruckt wurde63, vor sich und zumindest einen ersten Eindruck von ihr: „Der Bernays hat wie ein vernünftiger Mensch untersucht: was mir entgangen wäre wird er aber wohl nichts haben. Ich werde ihn erst wenn ich fertig bin ganz lesen und sein Lob nachtragen“64 – was Lachmann dann tatsächlich in der praefatio (S. 4) auf seine ganz eigene Art und Weise getan hat, die Timpanaro und Kenney mit vornehmer Zurückhaltung als selbstgefällig und großspurig beziehungsweise als gönnerhaft charakterisiert haben:65 Bereits Lachmanns Vorgehen, Bernays in einem Atemzug mit Hugo Purmann zu würdigen und ihn mit diesem auf eine Stufe zu stellen, obwohl Purmann für Lukrez nichts annähernd Vergleichbares geleistet hat66,
62
Vgl. Karl Lachmanns Briefe an Moriz Haupt, hg. v. Johannes Vahlen, Berlin 1892, S. 174 (aus einem Brief an Haupt vom 23. Oktober 1846: „Dann hat mich Ritschls überschwängliches Lob des Jacob Bernays doch auch bewegt ut quam primum in publicum edito tam eximio eruditionis specimine de ipsis litteris latinis augendis promovendisque bene mererem.“ Lachmann zitiert in den kursiv gesetzten Worten den Schluss der Laudatio (mit mererem statt mereat), die im Index Scholarum […] in universitate litterarum Fridericia Guilelmia Rhenana per menses hibernos 1846.47 a die 15. m. Octobris publice privatimque habendarum, S. XI f., veröffentlicht ist. In dem Index wird die laudatio dem „philosophorum ordo“, also der Philosophischen Fakultät, zugesprochen (vgl. S. IX aus dem Grußbrief des Rektors und des Senats an die Studenten: „visum est hoc vobiscum communicare, quae de novissimis contentionibus vestris singuli ordines iudicarunt“); dass Ritschl die deutschen Universitätsgepflogenheiten entsprechende Zuarbeit geleistet hat, scheint Lachmanns naheliegende und gewiss richtige Vermutung zu sein. 63 Ihr unmittelbares Vorbild dürfte Friedrich Ritschls berühmte Studie „Ueber die kritik des Plautus“ (Opuscula philologica II, S. 1–165) gewesen sein, die gut zehn Jahre vorher, 1835, ebenfalls im Rheinischen Museum erschienen war; mit der Imitation dieses Vorbildes erklärt sich das den Fluss der Untersuchung unterbrechende „Caput II. de libris editis“. 64 Lachmann [Anm. 62], S. 180 (in einem Brief an Haupt vom 5. April 1847). Kenney [Anm. 7], S. 107, schreibt hierzu: „These read to me like the words of a man who had already made up his mind“. Für mich klingen sie noch mehr nach den mit gönnerhafter Pose zum Selbstschutz vorgetragenen Worten eines etablierten Wissenschaftlers, der nicht wahrhaben will und vor allem nicht will, dass wahrgehabt wird, dass ihm ein unbekannter Anfänger mit einer großen Entdeckung zuvorgekommen ist: Haupt, seit 1843 ordentlicher Professor für deutsche Sprache und Literatur in Leipzig, ist, bei aller Freundschaft, auch Kollege Lachmanns. 65 Vgl. Timpanaro [Anm. 5], S. 103; Kenney [Anm. 7], S. 104 und S. 107. Bereits oben habe ich Bernays grundlegende Beobachtungen erwähnt, dass die Italici auf eine von Poggio entdeckte Handschrift zurückgehen und dass der Poggianus und der Oblongus Bindefehler gegen den Quadratus, ebenso der Quadratus und die Schedae gegen den Obongus aufweisen – alles gesicherte Erkenntnisse, die Lachmann (praef., S. 4) unter einem „de quibusdam rebus recte sensisse“ subsumiert. 66 Vgl. hierzu Timpanaro [Anm. 5], S. 104 f., und David Butterfield: The Early Textual History of Lucretius’ De rerum natura, Cambridge 2013, S. 16 f.
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kann man wohl kaum anders erklären als eine Strategie, Bernays’ Leistung zu verdunkeln und zu schmälern.67 Angesichts der großen Bedeutung, die Bernays’ Arbeit für Lachmanns eigene Forschung hat, und angesichts seines hohen Interesses an dieser Arbeit von Anfang an68 scheint es mir ausgeschlossen, dass Lachmann den Aufsatz von Bernays beim Abfassen seiner eigenen praefatio nur so oberflächlich studiert69 und darüber hinaus auch seine eigene Rekonstruktion der Überlieferungsgeschichte des Lukrez so wenig konsequent zu Ende gedacht haben könnte, dass er sich über die Erfordernis zweier Hyparchetypi nicht im Klaren gewesen wäre.70 Andere Stellen der praefatio zeigen jedenfalls, wie genau Lachmann die Arbeit von Bernays kannte: So erklärt sich die Art und Weise, wie Lachmann
67
In seinen Briefen an Haupt spricht Lachmann von Bernays, sowie er von dessen Arbeit erfahren hat, von Purmanns „Quaestionum Lucretianarum specimen“, einer Breslauer Dissertation, die bereits im März 1846 erschienen ist, nur einmal nebenbei und spät, in einem Brief vom 2. Februar 1849 (Lachmann [Anm. 62], S. 207): „Dass die Gottorper und Wiener Fragmente zusammen gehören, habe ich mühsamst ausrechnen müssen und 2 Seiten darüber schreiben, weil Heinrichsen albern und Purmann gar nicht […] angeben wieviele Zeilen die Seiten haben.“ Bernays ist ihm gefährlich, Purmann nicht. 68 Zwischen der Veröffentlichung der laudatio im Bonner Vorlesungsverzeichnis und dem Zitat aus ihr in Lachmanns Brief an Haupt liegen vielleicht nur wenige Tage, höchstens wenige Wochen. Die Briefstelle zeigt, dass Lachmann die Arbeit des jungen RitschlSchülers als einen schmerzhaften Stachel empfunden hat. 69 Timpanaro [Anm. 5], S. 106, schließt aus der oben zitierten Briefstelle vom April 1847, dass Lachmann „had decided that he would read Bernays’ article in its entirety only after he had finished the first draft of his preface to Lucretius to his own satisfaction“. Lachmanns allgemeine Aussage „wenn ich fertig bin“ ist also ganz konkret im Sinn von „wenn ich fertig bin mit meiner praefatio“ gedeutet. Ich bezweifele, dass diese Konkretisierung statthaft ist; vgl. auch Timpanaros einschränkende Anm. 17 (die sich – was Most [Anm. 5], S. 223, nicht sichtbar macht – in der deutschen Fassung von 1971 noch nicht findet). Für Timpanaros (auch auf S. 110, Anm. 27 vertretene) Auffassung, es habe zwei Fassungen der Lachmannschen praefatio, eine vor und eine nach der Kenntnisnahme der Arbeit von Bernays, gegeben, existiert meines Erachtens kein tragfähiges Indiz. Für mich klingt die praefatio so, als habe sie Lachmann in einem Zuge, nachdem alles andere bereits fertig war, geschrieben: Erst dann, wenn er mit allem fertig ist (mit der Textkonstitution und dem Kommentar), will er, so behauptet er zumindest, Bernays ganz lesen und dann in der praefatio, die er als Letztes schreibt, dessen Lob nachtragen. Gelegenheit, ihn zu loben, hätte es auch im Kommentar reichlich gegeben, etwa zu 1, 1068 und 1, 1093; vgl. hierzu Bernays [Anm. 13], S. 579–582. Zu meiner Auffassung passt gut, was Lachmann selbst [Anm. 62], S. 207, in einem Brief an Haupt vom 2. Februar 1849 schreibt: „Fünf Blätter Einleitung zum Lucrez sind geschrieben: es fehlen höchstens 2.“ Das klingt so, als hätte er die praefatio in einem Zug geschrieben. Der Kommentar ist zu dieser Zeit schon fertig; Lachmann hat in den Jahren zuvor immer wieder textkritisch schwierige Stellen, die er im Kommentar behandelt, in Briefen mit Haupt diskutiert. 70 Gegen diese von Luciano Canfora in seiner Rezension der ersten Ausgabe von Timpanaros Buch geäußerte Vermutung (in: Belfagor 19, 1964, S. 611–615, dort S. 612), der sich Fiesoli [Anm. 9], S. 232, angeschlossen hat, vgl. Timpanaro selbst [Anm. 5], S. 110, Anm. 27, des Weiteren Orlandi [Anm. 46], S. 111, Anm. 56.
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über die Wiederentdeckung des Lukrez durch Poggio und den Poggianus als Ahnherrn der italienischen Lukrezüberlieferung spricht, nur vor dem Hintergrund der korrespondierenden Seiten bei Bernays71, vor dem sie auch dem heutigen Leser erst voll verständlich wird. Und dass Lachmann grundsätzlich auch unterhalb des Archetypus mit verlorenen, aber aus ihren erhaltenen Abschriften rekonstruierbaren Handschriften rechnet, zeigt schon seine Bezeichnung des (verlorenen) Poggianus als „Italicorum parens“ (S. 7). Wenn Lachmann also die Lukrezhyparchetypi – im Unterschied zu Bernays – außen vor lässt und sie gewissermaßen in den Archetypus selbst hineinverlegt, dann tut er dies nicht aus fehlender Einsicht, sondern mit Absicht. Über die Gründe hierfür kann man nur spekulieren. Vielleicht wollte er nicht auch noch diese Entdeckung, mit der ihm wie mit so vielem anderen Bernays zuvorgekommen ist, stillschweigend für sich beanspruchen. Des Weiteren hatte Lachmann – anders als für den Oblongus und den Quadratus, die er sechs Monate lang im Original studieren konnte – für die Schedae und die italienischen Handschriften keine Kenntnis aus erster Hand:72 So bewundernswert genau er daher die Lesarten des Oblongus und des Quadratus mitteilen konnte73, so wenig wäre er in der Lage gewesen, die über O und Q stehenden Hyparchetypi zu rekonstruieren. Und schließlich hätten die beiden Hyparchetypi ohnehin nur abgelenkt von dem, was Lachmann allein aus dem Oblongus und dem Quadratus mit atemberaubender Präzision dem staunenden Leser vor Augen führen konnte und wollte: nämlich das Layout des Archetypus selbst, die seiten- und zeilengenaue Zuweisung des Lukreztextes an dieses eine alte Buch. Die Rekonstruktion des Archetypus als eines alten Buchs ist Lachmanns eigene (von Bernays nicht vorweggenommene) Leistung.74 Sie hat gehörig Eindruck
71
Man vergleiche Bernays [Anm. 13] S. 553–556, mit Lachmann, praefatio, S. 5 f. Vgl. hierzu seine praefatio, S. 6 (über die italienischen Handschriften) und S. 8 (über die Schedae). 73 Vgl. hierzu Hermann Diels in seiner Rezension der Lukrezausgabe von Ernout (Paris 1920), in: Göttingische gelehrte Anzeigen 183, 1921, S. 185–190, dort S. 187: „seine Fehler sind nach Zahl und Bedeutung minimal, sein Scharfblick aber namentlich in Ermittlung der unter Rasur stehenden Lesarten unerreicht“. Diels wusste, wovon er sprach. 74 Vgl. hierzu Timpanaro [Anm. 5], S. 106–108, der die Großartigkeit der Lachmannschen Rekonstruktion trotz ihrer Fehler (insbesondere bei der Datierung des Archetypus) und Unsicherheiten ausdrücklich gewürdigt hat. Neuere Rekonstruktionen, die auf Lachmann aufbauen und ihn geringfügig variieren, versuchten G. P. Goold: A lost manuscript of Lucretius, in: Acta Classica 1, 1958, S. 21–30, und Butterfield [Anm. 66], S. 299–304. Letzte Sicherheit wird es hier nie geben. 72
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gemacht.75 Lachmann, ein Mann von kleinlichem Geltungsdrang76, verstand es, sie zu inszenieren: Gleich mit den ersten Zeilen der praefatio weiht er als allwissender Erzähler seinen Leser in die Geheimnisse des verlorenen alten Buches ein.77 Er präsentiert ihm ein geschlossenes Bild dieses Buches, so wie es sich ihm in seiner Gesamtheit in einem Moment der Offenbarung eingestellt hat.78 Für die Nachweise im Einzelnen verweist er auf den Kommentar, in dem er dann – wie bei einer Schnitzeljagd – über viele Stellen verteilt die einzelnen Puzzleteile des Bildes vor Augen führt79 und so nach und nach die Evidenz enthüllt, auf der das große Geheimnis beruht. So ist es nicht erstaunlich, wenn Lachmann, „a great simplifier“, die Hyparchetypi der Lukrezüberlieferung übergeht und sich gleich an die Rekonstruktion des Archetypus mithilfe der (von ihren Sonderfehlern bereinigten) Vossiani macht.80 75
Vgl. Timpanaro [Anm. 5], S. 107 f. Anders kann ich mir die sich durch den ganzen Kommentar ziehenden Attacken gegen seine ihm haushoch unterlegenen Vorgänger als Lukrezherausgeber, Eichstädt und Forbiger kaum erklären: Vgl. hierzu bereits Deufert, Prolegomena [Anm. 14], S. 144 (ein paar zufällige, aus anderem Grund zitierte Kostproben unten, S. 298; charakteristischer beispielsweise die Noten zu 1, 442 oder 6, 1234); vgl. dazu auch, was Martin Hertz: Karl Lachmann. Eine Biographie, Berlin 1851, S. 5, über den Gymnasiasten Lachmann schreibt: „Von vielen seiner Mitschüler aber war er gefürchtet, denn nicht ohne den Hang, Andere seine geistige Superiorität fühlen zu lassen, neckte und foppte er gern“. Der polemisch-triumphale Habitus des Lukrezkommentars hat nichts von dem hohen Ernst, mit dem in dieser Zeit Gottfried Hermann mit Gelehrten auf Augenhöhe um die Sache stritt. Bereits bei dem Rezensenten Theodor Bergk [Anm. 7], S. 457, hat die „schonungslose, schneidende Polemik“ einen „unerquicklichen Eindruck“ zurückgelassen; Bergk wollte sie damit entschuldigen, dass Lachmann der Ansicht gewesen sei, er würde mit seiner Polemik künftige mittelmäßige Philologen vor Aufgaben abschrecken, denen sie nicht gewachsen wären. Aber sollte Lachmann wirklich geglaubt haben, dass sich seine Leser (gerade die mittelmäßigen!) mit seinen Opfern und nicht mit ihm selbst identifizieren würden? 77 Zum Stil der praefatio vgl. auch Pasquali [Anm. 1], S. 3, und, kritischer, Kenney [Anm. 7], S. 106. 78 Praefatio, S. 4: „cetera (praeter numerum paginarum […]) eo ipso paene momento patuerunt quo membranae Vossianae a me excuti coeptae sunt, mense Aprili anni MDCCCXLVI“. Vgl. hierzu Kenney [Anm. 7], S. 102 f. Der Moment der Offenbarung fällt also nach Lachmanns Worten zusammen mit dem Zeitpunkt, zu dem Bernays seine Arbeit abgeschlossen hat – ein bemerkenswerter Synchronismus! 79 Man findet sie leicht dank Franciscus Harder: Index copiosus ad K. Lachmanni commentarium in T. Lucretii Cari de rerum natura libros, Berlin 1882, S. 40, unter dem Lemma „Lucretius. Archetypus Lachmanni“. 80 Als „a great simplifier“ wird Lachmann von Timpanaro [Anm. 5], S. 117, und in Anschluss an ihn von Kenney [Anm. 7], S. 107, gewürdigt. Kenney fügt hinzu: „and simplification is a species of falsehood“. Das ist grundsätzlich gewiss richtig, aber in unserem konkreten Fall zieht, wie wir oben, S. 278 f., gesehen haben, die Vereinfachung angesichts des vorgenommenen Ziels, der Rekonstruktion des Archetypus, nur ein ganz geringes Maß an Verfälschung nach sich. 76
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IV. Spricht Lachmann von einer dreigeteilten Lukrezüberlieferung? Vor dem Hintergrund des voranstehenden Kapitels lassen sich schließlich jene Stellen der praefatio neu einordnen, auf denen die Auffassung beruht, Lachmann habe ein dreigeteiltes Stemma der Lukrezüberlieferung angenommen. Es handelt sich um Stellen, an denen von drei Abschriften des Archetypus die Rede ist. So spricht Lachmann ganz am Anfang der praefatio, wo er erstmals die Nachkommenschaft des von ihm vorausgesetzten Lukrezarchetypus in den Blick nimmt, von drei „exempla“, auf welche die heute vorhandenen Handschriften zurückgehen (S. 3): ex illo [scil. exemplari antiquo] […] multi [scil. libri] tribus, quantum cognoscere possumus, exemplis descripti sunt. Aus jener [alten Vorlage] sind viele [Bücher] aufgrund von [soweit wir sehen können] drei Vorlagen abgeschrieben worden.
Diese Aussage greift er etwas später wieder auf, nachdem er den Archetypus näher beschrieben und die Geschichte seiner Erforschung nachgezeichnet hat, um sich jetzt als Nächstes den drei Abkömmlingen des Archetypus, zunächst dem Oblongus als dem ältesten, zuzuwenden (S. 4): De illis autem tribus apographis, quibus inde a saeculo nono memoriam Lucretiani carminis ad nostram aetatem propagatam esse dixi, ante omnia sciendum est unum horum eo ipso saeculo ex archetypo factum superesse. Aber über jene drei Abschriften, durch die, wie ich sagte, vom neunten Jahrhundert an die Kunde des Lukrezgedichts bis in unsere Zeit verbreitet worden ist, muss man vor allen Dingen wissen, dass eine einzige von ihnen erhalten ist, die in eben diesem Jahrhundert aus dem Archetypus angefertigt wurde.
Die gesamte Lukrezüberlieferung speist sich also, so Lachmann, aus drei Abschriften – „tria exempla“ bzw. „tria apographa“ – des Archetypus. Unter ihnen versteht er, wie im Folgenden deutlich wird, den Oblongus, den Poggianus und die Vorlage des Quadratus und der Schedae. An beiden Stellen ist der Akzent der Darstellung darauf gerichtet, die handschriftliche Lukrezüberlieferung in ihrer Gesamtheit auf lediglich drei Zeugen zu reduzieren. Über das Verwandtschaftsverhältnis dieser drei „apographa“ äußert sich Lachmann nicht explizit. Er sagt auch nicht, dass es sich um drei voneinander unabhängige Abschriften des Archetypus handelt: Weder das Wort „apographum“81 81
Johan Nicolai Madvig: De aliquot lacunis codicum Lucretii, in: Opuscula academica, Kopenhagen 1834, S. 305–322, hier S. 309, sprach von dem Stammvater der italienischen Lukrezhandschriften als einem einzigen codex, „ex quo nova profluxit apographorum propago“; wenig später stellte er „in his apographis“ die Tendenz willkürlicher Textverbesserung fest. Hieraus darf man gewiss nicht schließen, Madvig habe diese italienischen apographa alle für direkte, voneinander unabhängige Abschriften dieses einen Codex gehalten.
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noch das Wort „exemplum“82 bezeichnen zwingend eine direkte Abschrift ihrer Vorlage. Wenn daher Timpanaro aufgrund dieser Stellen von „three independent apographs“83 spricht, dann ist „independent“ ein sinnentscheidender und, wie ich meine, sinnentstellender Zusatz. Im Übrigen haben wir oben gesehen, dass Lachmann die Hyparchetypi gewissermaßen in den Archetypus selbst hineinverlegt: Aussagen wie (Oblongus) „ex archetypo factus“ (S. 4) oder (Poggianus) „alterum libri antiquissimi apographum“ sind vor dem Hintergrund dessen zu verstehen, was wir dort zu Stellen wie „ii librarii qui Vossianos conscripserunt exemplar antiquissimum per ductus litterarum singulos imitati essent“ und „uterque eodem exemplo scriptus esset“ (S. 10) gesagt haben.84 Was freilich noch immer irritiert, ist Lachmanns Insistieren auf der Dreizahl der Apographa des Archetypus: Der Oblongus, der Poggianus sowie die Vorlage des Quadratus und der Schedae sind „tria exempla“ (S. 3) bzw. „tria apographa“ (S. 4): Der Quadratus und die Schedae werden also unter einer gemeinsamen Vorlage subsumiert, der Oblongus und der Poggianus dagegen nicht. Dabei wird Lachmann gerade bei der Behandlung dieser Vorlage von Quadratus und Schedae nicht müde zu betonen, dass es sich bei ihr um die dritte aus dem Archetypus abgeleitete Textform handelt (S. 7; Hervorhebungen von mir): Superest ut de tertio genere exponam, quod ab eadem stirpe venisse supra dixi. […] quo85 factum est ut ea quae his schedis continebantur (quaenam ea fuerint dicam ad librum 1, 734) in hoc novo codicum genere, quod erat tertium, suis locis sine ullo defectus indicio omissa post libri sexti finem seorsum reponerentur. Hoc novum et tertium genus dico: nam siquis hoc primum fuisse atque illud damnum codicem prius quam oblongus et Italicorum parens nascerentur fecisse existimabit, is quomodo librarii schedas perturbatas in verum ordinem restituerint docere non poterit. Übrig bleibt, fass ich über ein drittes Geschlecht Ausführungen mache, welches, wie ich oben sagte, vom selben Ursprung herkommt. […] So kam es, dass das, was diese Blätter umfassten (was das war, werde ich zu Buch 1, Vers 734 sagen), in diesem neuen Geschlecht von Handschriften, welches das dritte war, an seinem Platze ohne irgendeinen Hinweis auf einen Ausfall ausgelassen und 82
Lachmann bezeichnet auf S. 5 den Poggianus als das exemplum der italienischen Lukrezhandschriften. Aus seiner Formulierung „eos omnes eodem exemplo […] scriptos“ darf man aber nicht schließen, dass er sie alle für direkte und voneinander unabhängige Kopien des Poggianus erachtet hätte. Denn er unterscheidet später (S. 6 f.) zwischen konservativen italienischen Handschriften und solchen, die sich aufgrund konjekturaler Innovationen sehr ähnlich seien (vgl. hierzu oben, S. 274 f.): Damit ist ausgeschlossen, dass er alle codices Italici für unabhängige Abschriften des Poggianus erachtet hat. 83 Timpanaro [Anm. 5], S. 109. Ähnlich spricht Fiesoli [Anm. 9], S. 227, von „tria apographa tratti dall’archetipo stesso“. 84 Siehe oben, S. 280 f., wo wir auch gezeigt haben, dass sich das durch den Irrealis zum Ausdruck gebrachte hypothetische Element dieser Aussage auf die Art und Weise des Abschreibens beschränkt, nicht aber auch den Vorgang des Abschreibens selbst inkludiert, der für ihn eine Tatsache ist. 85 Nämlich durch das Herauslösen von vier Einzelblättern des Archetypus aus ihrer ursprünglichen Lage und deren Verstellung an das Ende des Archetypus.
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nach dem Ende des sechsten Buches abgesondert nachgetragen ist. Ich spreche von diesem neuen und dritten Geschlecht: Denn wenn jemand glauben wird, dieses Geschlecht sei das erste gewesen und der Codex habe jenen Verlust erlitten, bevor der Oblongus und der Vater der Italici entstanden sind, dann wird er nicht dartun können, wie die Schreiber die durcheinander gebrachten Blätter in ihre wahre Ordnung zurückführen konnten.“
Warum ist ihm die Dreiteilung, warum die Tatsache, dass die Familie um den Quadratus ein „tertium et novum genus“ des Archetypus vertrete, so wichtig, dass Lachmann, der doch sonst so sehr mit Worten geizt, es gar nicht oft genug betonen kann? Und wieso fasst er hier den Quadratus und Schedae als ein „genus codicum“ zusammen, den Oblongus und den „Italicorum parens“ dagegen nicht, obwohl er zwei Seiten zuvor deren similitudo hervorgehoben hat? Die Antwort lautet meines Erachtens86: All das, was Lachmann in seiner praefatio über die drei Texttypen – den Oblongus, den Poggianus und über die 86
Andere Antworten geben einerseits Timpanaro [Anm. 5], S. 111, Anm. 30, und Michael Reeve (per E-Mail), andererseits Orlandi [Anm. 46], S. 111–113: Orlandis Ausgangspunkt ist seine Ansicht, Lachmann habe einen mit gravierenden Varianten ausgestatteten Archetypus der Lukrezüberlieferung angenommen (siehe hierzu oben, S. 281 f.). Nachdem der Oblongus und der Poggianus aus ihm kopiert worden seien, seien dann, in Lachmanns Vorstellung, noch weitere Varianten in den Archetypus gelangt, die dann nur in die Vorlage des Quadratus und der Schedae als die jüngste Abschrift des Archetypus eingeflossen seien. Hieraus habe sich für Lachmann die „similitudo“ zwischen Oblongus und Poggianus trotz einer dreigeteilten Überlieferung ergeben. M. E. ist die Vermutung, Lachmann habe einen mit gravierenden Varianten ausgestatteten Archetypus angenommen, verfehlt; siehe hierzu oben, S. 282 f. Sie hätte im Übrigen bei einem dreigeteilten Stemma das zur Folge, was Orlandi so beschreibt (S. 113): „Così stando le cose, ciascuna delle tre copie medievali dell’archetipo poté a scelta riprodurre, caso per caso, l’una o l’altra lezione ivi rappresentata“. Aber dann hätte Lachmann die vielen Lesarten der italienischen Tradition, die er in seinem Kommentar diskutiert, wie alte (dem Oblongus und Quadratus gleichwertige) Überlieferung behandeln müssen und nicht, wie er es konsequent tut, als Konjekturen; vgl. hierzu unten, S. 297–299. – Timpanaro gibt folgende Erklärung: „One might suppose that, before reading Bernays’ article carefully, Lachmann had become convinced that the tradition of Lucretius was tripartite, and that reading Bernays then made him incline to the other hypothesis. But it remains strange that he did not revise his whole exposition to make it coherent. Probably the preface to Lucretius was written hastily.“ Einen ähnlichen Vorschlag hat mir Michael Reeve (in einer E-Mail) gemacht und zwar zunächst unabhängig von Timpanaro, auf den er mich dann später selbst noch hingewiesen hat. Ich zitiere auch ihn, weil Reeves Erklärung anschaulicher ist und das Problem der fehlenden Hyparchetypi berücksichtigt: „I prefer to think the Dreiteilung was his [= Lachmanns’s] own and older than his knowledge of Bernays’s Zweiteilung, which he superimposed (because obviously right on the evidence available at the time) without acknowledging Bernays’s hyparchetypes.“ Bei Timpanaros und Reeves Erklärung ist man wohl gezwungen, eine „Urfassung“ der praefatio ansetzen, die älter ist als der Kommentar (in dem Bernays’ Zweiteilung bereits vorausgesetzt ist) und die dann in die gegenwärtige Fassung umgearbeitet wurde. Zu dieser von Timpanaro vertretenen, m.E. unwahrscheinlichen Annahme von zwei Fassungen der Lukrez-praefatio siehe oben, S. 288 Anm. 69. Wir haben jetzt gewissermaßen (si parva licet componere magnis!) eine ‚Lachmannsche Frage‘, die Timpanaro und Reeve analytisch, Orlandi und ich (s.u.) unitarisch beantworten.
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⌫-Zeugen – schreibt, schreibt er in Abhängigkeit von der Untersuchung von Bernays87, dessen breite Darstellung er verkürzt und mit der er sich stillschweigend auseinandersetzt, um am Ende einen kleinen Sieg auszukosten, den er in einem Punkt über seinen Vorgänger erzielen konnte. Bernays hatte in seiner Untersuchung die Lukrezüberlieferung zunächst historisch in zwei „classes“ untergliedert: eine karolingische Klasse (die „antiqua familia“) und eine humanistische Klasse (die „interpolata familia“).88 In der „antiqua familia“, um die es in seinem Kapitel A geht, unterscheidet er zwei „genera“: ein „prius genus“, das er zuerst (in § 1) behandelt und in das der Quadratus und die Schedae gehören, und ein „secundum genus“, das er in § 2 behandelt und dem er unter den karolingischen Zeugen nur den Oblongus zuordnet. Gegenstand von Kapitel B ist dann die „interpolata familia“ der italienischen Humanistenhandschriften, die er auf eine mit Interpolationen versehene Schwesterhandschrift des Oblongus zurückführt. Insgesamt behandelt Bernays in seinem Aufsatz also letztlich drei Texttypen: das „prius genus antiquae familiae“, zu dem der Quadratus und die Schedae gehören, das „alterum genus antiquae familiae“, dessen einziges erhaltenes Mitglied der Oblongus ist, und die humanistische „interpolata familia“, für die er zeigt, dass sie aus einer interpolierten Schwesterhandschrift des Oblongus abgeleitet ist. Bernays’ Reihenfolge der Behandlung entspricht dabei dem von ihm vermuteten Alter der drei Textttypen: Bernays hält nämlich den Codex Quadratus, den wichtigsten Vertreter des „prius genus“, zumindest in seiner Gesamtheit für älter als den Oblongus, den einzigen erhaltenen Vertreter des „alterum genus“.89 Bernays’ präzise, aber umständliche Bezeichnungen dieser drei Texttypen verkürzt Lachmann auf die knappe Formel „tria apographa“, die für uns missverständlich ist, weil nur eines dieser drei apographa eine direkte Abschrift des Archetypus ist, die zwei anderen dagegen indirekte Abschriften sind, die aus einem Hyparchetypus abgeleitet werden, über den Lachmann, wie auch sonst in seiner praefatio, hinwegsieht: Da Lachmann die beiden Hyparchetypi konsequent in den Archetypus zurückprojiziert, spielt für ihn die genaue Zahl der Abschriften dieses Archetypus letztlich gar keine Rolle, weil durch die beiden in den Archetypus projizierten Hyparchetypi die Zweiteilung der Überlieferung von vornherein gewährleistet ist. 87
Was Lachmann hier tut, entspricht der Art und Weise, wie er zuvor (ebenfalls, ohne seinen Vorgänger zu nennen) die Rückführung der italienischen Lukrezhandschriften auf den von Poggio entdeckten Codex besprochen hat; vgl. dazu oben, S. 270 Anm. 15. 88 Die hier zitierten Begriffe erscheinen z.B. bei Bernays [Anm. 13], S. 533 und S. 553. 89 Vgl. Bernays [Anm. 13], S. 543, über den Quadratus: „Membranorum aspectus et literarum conformatio non post saec. IX scriptum esse librum arguere videntur“; S. 552 über den Oblongus: „Iam patefacta illa Lugdunensis 1. compositione, priorem partem [also von 1, 1 bis 6, 78] fortasse saeculo X ineunte, posteriorem [also der Rest] saeculo IX ineunte scriptam esse coniicio.“
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Die griffige Formulierung „tria apographa“ dient Lachmann dazu, seine Korrektur an Bernays wirkungsvoll in Szene zu setzen. Denn an der oben zitierten Stelle (S. 7 der praefatio) wendet er sich gegen Bernays’ Auffassung vom zeitlichen Verhältnis der drei Texttypen; und gegen Bernays’ „prius antiquae familiae genus“ (534) richten sich Lachmanns triumphierende Worte „in hoc novo codicum genere, quod erat tertium“ bzw. „hoc novum et tertium genus dico“. Jenes „genus“, das Bernays als das älteste erachtete und in seiner Arbeit als erstes, vor dem Oblongus und den Italici, behandelte, ist in Wahrheit das dritte und jüngste und wird von Lachmann als letztes, nach dem Oblongus und den Italici, besprochen. Mit den Worten „nam siquis hoc primum fuisse […] existimabit“ polemisiert Lachmann gegen Bernays, ohne ihn zu nennen: Dessen vermeintlich ältestes „genus“ repräsentiert eine Textfassung, die in Wahrheit jünger ist als selbst die der Familie der humanistischen Italici, weil es auf eine Zeit zurückgeht, als der Archetypus durch Blattverstellungen einen Schaden erlitten hat, von welchem er noch frei war, als „oblongus et Italicorum parens nascerentur“, und welchen in Lachmanns Augen die Schreiber des Oblongus und des „Italicorum parens“ nicht hätten reparieren können. Hier schließt sich ein Kreis der Polemik, die dezent, aber unüberhörbar gleich in jenem Satz angestimmt wurde, mit dem Lachmann von der Besprechung des Archetypus zu der Besprechung seiner drei Zeugen (S. 4) überleitet: „de illis autem tribus apographis […] ante omnia sciendum est unum horum [nämlich der Oblongus, nicht, wie bei Bernays zu lesen ist, der Quadratus!] eo ipso saeculo [scil. nono] ex archetypo factum superesse.“ Ich denke inzwischen nicht mehr, dass Lachmanns Beweis für das höhere Alter von Δ (bzw. richtiger des Oblongus, da sich die Italici als dessen Abschriften herausgestellt haben) gegenüber ⌫ absolut zwingend ist.90 Ebenso wenig möchte 90
Anders noch Deufert, praefatio [Anm. 14], S. XI: „quattuor illa folia, quae primum suo loco servata sunt, cum Oblongus descriptus est, dein in fine affixa sunt, cum ⌫ descriptus est“ und Butterfield [Anm. 66], S. 17–19, der in seinem Stemma (S. 19) eine ältere Form des Archetypus (⍀) vor, und eine jüngere Form (⍀’) nach der Blattverstellung ansetzt. Das ist gewiss wahrscheinlich, aber es ist nicht vollkommen sicher: Möglich ist auch, dass der Archetypus den Fehler hatte, als ⌫ abgeschrieben wurde und noch immer fehlerhaft war, als man die Abschrift des Oblongus vorbereitete, aber für sie den Fehler korrigierte. Es gibt gewichtige Indizien dafür, dass der Codex Oblongus, eine prächtige Luxushandschrift, von einem Schreiberteam unter der Anleitung des irischen Gelehrten Dungal angefertigt wurde (vgl. hierzu zuletzt Deufert, Prolegomena [Anm. 14], S. 22, Anm. 53 und 85 mit Verweis auf die Beobachtungen von Wallace Martin Lindsay, Paul Lehmann: The (Early) Mayence scriptorium, in: Palaeographia Latina. Part IV, 1925, S. 15–39, dort S. 17, und von David Ganz: Lucretius in the Carolingian Age. The Leiden Manuscripts and their Carolingian Readers, in: Medieval Manuscripts of the Latin Classics: Production and Use, hg. v. Claudine A. Chavannes-Mazel und Margaret McFadden Smith, Los Altos Hills, London 1996, S. 91–102, dort S. 92 f.). Dungal traue ich das zu, was Lachmann für ausgeschlossen hielt, nämlich, dass er in der Lage war, solche Blattverstellungen rückgängig zu machen.
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ich entscheiden müssen, ob Lachmann seinen kleinen Sieg auch dann ausgekostet hätte, wenn er geahnt hätte, wie sehr man ihn eines Tages für Formulierungen wie „tria apographa“ und „tertium genus codicum“ missverstehen würde. Bernays selbst hat er jedenfalls nicht in die Irre geführt: Er, schreibt Bernays am Anfang der praefatio seiner Lukrezausgabe (Leipzig 1852) über sich selbst, sei es gewesen, der in der recensio den Weg gewiesen habe, an dem Lachmann fast unverändert festgehalten habe.91
V. Weitere Indizien für Lachmanns Auffassung eines dreigeteilten Lukrezstemmas? Neben den jetzt geklärten Stellen über die „tria libri antiquissimi apographa“ haben Timpanaro und Fiesoli auf weitere Aussagen in Lachmanns praefatio und in seinem Kommentar verwiesen, wo er den Italici eigenständigen Überlieferungswert (das Bewahren ursprünglicher Lesarten des Archetypus) zugesprochen und damit letztlich ein dreispaltiges Stemma vorausgesetzt habe. Ich kann mich hier kürzer fassen, weil sich diese Missverständnisse rasch klären lassen. In einem seit 1981 nachgetragenen Passus seines Buches sagt Timpanaro von Lachmann, er sei „an almost too ardent believer in recentiores non deteriores“, weil er von den Italici sage, dass sich in ihnen zwar „many […] conjectural emendations“ fänden, dagegen aber auch andere Stellen „which are less emended, that is, which better preserve the reading of the ancient archetype“.92 Timpanaro bezieht sich auf die bereits oben, S. 274, besprochene Stelle, S. 6 der praefatio, die er für seinen Nachtrag nicht noch einmal sorgfältig genug gelesen hat. Lachmann vergleicht nämlich nicht einzelne Textstellen, die von den Italici (in ihrer Gesamtheit) unterschiedlich rein tradiert sind, sondern vielmehr einzelne Italici, von denen die einen (wie F) stärker, die anderen (wie L) weniger stark konjekturalkritisch überarbeitet sind. In dem Ausdruck „alia praesto fuerunt minus emendata, hoc est antiquae archetypi lectionis tenaciora“ ist nicht „loca“ („other passages“; in der italienischen Fassung von 1981: „altri passi“) zu ergänzen, sondern „exemplaria“ (aus dem vorausgehenden Ausdruck „huic simillimis exemplaribus“). Lachmann sagt vollkommen richtig, dass in diesen konservativeren, weniger stark mit konjekturalen Innovationen versehenen Zeugen wie L an der alten Lesart des Archetypus hartnäckiger festgehalten ist (scil. als in konjekturalkritisch stärker bearbeiteten Zeugen wie F). Statt von der alten Lesart des Archetypus hätte Lachmann hier übrigens auch von der alten Lesart des „Italicorum parens“ sprechen können. Aber wieder einmal schaut er über einen Hyparchetypus hinweg sofort auf den Archetypus selbst. 91 „In recognoscendo Lucretiano carmine eam persecutus sum viam, quam olim significavi in commentatione de emendatione Lucretii […]. Prope eandem viam cum Lachmannus teneret in recensione sua […], tamen evenit ut ab aliquot recedendum mihi esset Lachmannianis scripturis.“ 92 Timpanaro [Anm. 5], S. 112.
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Fiesoli schließlich behauptet, dass die „radicata convinzione di fondo del Berlinese nel tripartitismo“ auch in seinem Kommentar zum Ausdruck komme.93 Zwar muss er selbst einräumen, dass Lachmann die attraktiven Lesarten der Italici an zahllosen Stellen seines Kommentars als Konjekturen erachte, glaubt aber, drei Stellen ausfindig gemacht zu haben, wo Lachmann voraussetzt, dass der Poggianus authentische Lesarten aus dem Archetypus geerbt hat. Aber keine dieser Stellen beweist die Annahme eines dreigeteilten Stemmas: 1,357 schreibt Lachmann zu ualerent ratione uideres: ita quadratus et schedae: oblongus in litura fieri ratione uideres, non ab eo correctore qui pleraque emendavit, sed ab eo quem litera Saxonica usum dixi. Hunc quia tam audacem non novi94, suspicor in archetypo ipso ad ualerent adscriptum fuisse fieri, quod ipsum Itali et impressi recte secuti sunt. So Quadratus und Schedae; der Oblongus auf einer ausgebesserten Stelle fieri ratione uideres, nicht von dem Korrektor, der das meiste verbesserte, sondern von dem, der, wie ich sagte, die angelsächsische Schrift verwendet hat. Da ich diesen nicht als so kühn kennengelernt habe, vermute ich, dass zu ualerent im Archetypus selbst fieri hinzugeschrieben war, eben welche Lesart die Itali und die Drucke zu Recht aufgenommen haben.
Hier sagt Lachmann lediglich, dass die italienischen Zeugen eben jene Lesart (also fieri) aufgenommen haben, die im Oblongus auf den Korrektor mit der angelsächsischen Hand zurückgeht und von der Lachmann vermutet, sie habe im Archetypus neben ualerent gestanden. Woher die Itali diese Lesart haben, lässt Lachmann offen: „quod ipsum“ bezieht sich auf fieri, nicht auf „in archetypo“.95 3,358 schreibt Lachmann zu perditum expellitur aeuo quam: quam, quod in fine versus legitur, ex margine dextro codicis archetypi illuc venit: est enim hic versus tertius paginae huius libri quintae decimae, quae fuit in parte sinistra schedae. Debebat autem scribi quom, quod erat in ipso versu mutilatum um. Hoc Itali viderunt et Brixiensis editor, qui dederunt cum.
93
Fiesoli [Anm. 9], S. 229. Fiesoli [Anm. 9], S. 230, Anm. 46, ergänzt als Vergleichselement „quam Italos scribas“; aber zu ergänzen ist natürlich „quam eum correctorem qui pleraque emendavit“; zur Aktivität der beiden Korrektoren vgl. Lachmanns praefatio, S. 5. Erst Butterfield [Anm. 66], S. 203–233, hat richtig gesehen, dass der Korrektor mit der angelsächsischen Schrift (Bernhard Bischoff hat ihn mit Dungal identifiziert) aktiver war als der (oder die) zeitgenössischen Korrektor(en) in karolingischer Minuskel; zu den Korrektoren des Oblongus vgl. zuletzt Deufert, Prolegomena [Anm. 14], S. 21–26. 95 Zu Lachmanns etwas eigentümlicher Wendung „quod […] secuti sunt“ im Sinn von „welche Lesart […] aufgenommen haben“ vgl. seinen Kommentar zu 1, 749 „quadratus ueneni, corrector oblongi uenena; quod cum ceteri secuti essent“ und zu 5, 1001 „corrector oblongi ledebant. Hoc secuti sunt postea Itali“; zu „quod ipsum“ im Sinn von „eben welche Lesart“ vgl. z.B. 5, 1259 „in oblongo capite, radendo factum capiti, quod ipsum habent quadratus et Brixiensis editio“. 94
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quam, das am Ende des Verses zu lesen ist, kam dahin vom rechten Rand des Codex archetypus: Dieser Vers ist nämlich der dritte der fünfzehnten Seite dieses Buches, die auf dem linken Teil des Blattes war. Es hätte aber quom geschrieben werden müssen, was im Vers selbst, zu um verstümmelt, vorhanden war.
Fiesoli versteht die Stelle so: Il Berlinese pensa trattarsi non di un caso di correzione palmare alla portata di un doctus Italus, ma di conservazione della lezione originaria che nell’archetipo doveva presentarsi nella forma arcaica quom, suscettibile di equivoco.
Lachmanns Idiomatik ist hier missverstanden. Denn „debebat“ ist, wie immer bei Lachmann, irreal („Man [gemeint ist die Person, die im Archetypus an den rechten Zeilenrand „quam“ geschrieben hat] hätte quom schreiben müssen“; vgl. z.B. 2, 512 „qui [nämlich Eichstadius et Forbiger] si Latine scissent, scribere debebant sed, non quin“; 4, 712 „debebat [scil. Forbiger] scire leones rapidos dici non posse“); „videre“ bedeutet bei Lachmann (noch viel häufiger als bei Lukrez selbst) ‚geistiges, nicht optisches Schauen‘, das Lachmann dann regelmäßig im AcI mit einer Form von scribi konstruiert: Vgl. z.B. 3, 593 „in his exsangui scribendum esse corrector quadrati et Itali viderunt“; 4, 754 „verba postrema hoc ordine scribenda esse Itali iam viderunt“. Daher ist „hoc“ in dem Ausdruck „hoc Itali viderunt“ im Sinn von „scribi debere quom, quod erat in ipso versu mutilatum um“ aufzulösen. Die Itali haben also, so Lachmann, ihr cum durch Konjektur. Am interessantesten ist die dritte von Fiesoli herangezogene Stelle, nämlich 6, 1279. Lachmann schreibt zu quo pius hic populus: Quo quadratus, oblongus Huc. cum oblongo faciunt olim impressi […] scilicet cum vetus codex hic sordibus obductus esset, primum legerunt huc, postea, cum singulos apices accuratius tractassent, viderunt esse quo. quo der Quadratus, huc der Oblongus. Mit dem Oblongus gehen die Frühdrucke. Offensichtlich, weil der alte Codex hier mit Schmutz bedeckt war, las man zunächst huc, später sah man, nachdem man sich mit den einzelnen Spitzen genauer beschäftigt hatte, dass quo steht.
Fiesoli [Anm. 8] 230 erklärt „legerunt [scil. Oblongus et Italicorum parens]“ und „viderunt [scil. Quadratus et Schedae]“. Ich denke nicht, dass diese Konkretisierung statthaft ist; stattdessen hat man wohl doch vielmehr „legerunt“ und „viderunt“ unbestimmt im Sinn von ‚man las‘, ‚man sah‘ aufzufassen. Aber selbst, wenn Fiesoli Recht hat, beweist die Stelle nichts für die Annahme eines dreigeteilten Stemmas, sondern bestätigt vielmehr das, was wir oben bereits gezeigt haben:96
96
Oben, S. 280 f., bei der Besprechung der Stelle auf S. 10 der praefatio.
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Nämlich, dass Lachmann ein zweigeteiltes Stemma annimmt, aber dabei die beide Hyparchetypi in den Archetypus hineinverlegt.97 Für Lachmann haben die Zeugen der italienischen Überlieferung das, was er explizit von den Schedae sagt: „nulla propria auctoritas“. Das geht aus seiner praefatio klar hervor, und daran hält er sich konsequent im Text und im Kommentar.98 Die verkehrte Auffassung einer dreigespaltenen Lukrezüberlieferung gibt es weder bei Lachmann noch vor Lachmann.99 Ich kann sie zum ersten Mal bei Munro nachweisen, der vielleicht der Erste gewesen ist, der Lachmann falsch verstanden hat.100
97
Fiesoli [Anm. 9], S. 230, kommt in seiner Anm. 48 dem, was ich für richtig halte, sehr nahe, verkennt es aber letzten Endes in seiner Voreingenommenheit für Lachmanns vermeintliche Überzeugung von einem dreigeteilten Stemma: „A rigor di termini avrebbe dovuto scrivere „vidit“, perché il riferimento qui va al ramo di Q + Schedae, a differenza di quello di O e di P, non è disceso ‚recta via’ dall’archetipo. Effettivamente il nostro filologo, benché nella prefaz. avesse ipotizzato, in termini piuttosto vaghi, la presenza di un intermediario […], in pratica si comportò poi come se non esistesse.“ 98 Selbst an einer Stelle wie 1, 215, wo drei Varianten vorliegen und der Poggianus im Unterschied zu O und ⌫ eine metrisch und sprachlich akzeptable (zuletzt von dem Herausgeber Flores in den Text gesetzte) Lesart bietet, verwirft Lachmann diese Lesart zugunsten einer anderen Konjektur, weil sie ‚besser‘ ist als die Konjektur der Itali: „uti quicquid in sua corpora. Quadratus et schedae quidquid. Itali quaeque: recte Lambinus quicque.“ 99 Nicht richtig Butterfield [Anm. 66], S. 22: „The […] option, that Oψπ [in unseren Siglen: O⌫π] each derived independently from the same lost archetype, was advocated by Lachmann (3) after Orelli and Madvig.“ Hier ist „independently“ der auf Timpanaro zurückgehende (falsche) interpretatorische Zusatz, den Butterfield dann auch auf Orelli und Madvig überträgt. Johann Kaspar Orelli (Jahrbücher für Philologie und Paedagogik, 2. Jahrgang, 1. Band, 4. Heft, 1827, S. 86*) hat vermutet und Madvig [Anm. 81] hat danach gezeigt, dass die handschriftliche Lukrezüberlieferung auf einen Archetypus zurückgeht. Aber keiner von ihnen spricht von einer dreigeteilten Überlieferung. 100 Vgl. Munro [Anm. 12], S. 17 (= S. 22 in der letzten Ausgabe von 1886): „It (scil. the Oblongus) has been corrected by two scribes at the time that the ms. was written […]. One of these is of great importance: in most essential points he agrees minutely with the ms. of Niccoli, the oldest of the Italian mss.; and doubtless therefore gives the reading of the archetype. It will be seen in notes 1 how often I make the united testimony of A (= the Oblongus) and Niccoli to outweigh the rest.“ Wenig später heißt es dann (S. 18 und S. 23 in der Ausgabe von 1886): „Niccoli himself seems on the whole to have copied Poggio’s ms. faithfully, and not to have made many changes. His ms. therefore, as will be seen in notes 1, is of great value in deciding between A (= the Oblongus) and B (= the Quadratus).“ Anders als bei Lachmann dient der Poggianus (vertreten durch Niccolis Abschrift L) nicht mehr lediglich dazu, Sonderfehler des Oblongus durch seine Übereinstimmung mit Q zu entlarven: Der Oblongus und L haben gemeinsam ein Gewicht, gegenüber dem die übrige Tradition bedeutungslos wird; bei der Frage, ob der Oblongus oder der Quadratus das Richtige überliefert, ist L von hohem Wert: All das führt auf ein dreigeteiltes Stemma, bei dem sich die Lesart des Archetypus in der Regel mechanisch, bei Übereinstimmung zweier Zeugen gegen den dritten, ermitteln lässt. Was Munro in seinen „Notes 1“ als Evidenz für die Annahme eines dreigespaltenen Stemmas anführt, wäre noch zu untersuchen.
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VI. Lachmann und die ‚Lachmannsche Methode’ Wir haben gesehen, dass Lachmann in der praefatio seiner Lukrezausgabe die Dreiteilung der Aufgabenbereiche des Herausgebers, nach der Maas später sein Handbuch der „Textkritik“ gliedern wird, vorwegnimmt. Zwischen recensio und emendatio setzt er das, was wir mit Lachmann als recensio cum iudicio bezeichnen können und was Maas als examinatio bezeichnet hat. Beide Schritte, Maas’ recensio und examinatio, Lachmanns recensio sine iudicio und recensio cum iudicio, dienen letztlich dem gleichen Zweck, aus der Fülle des Tradierten auf das zu stoßen, was der Autor geschrieben haben kann, bedienen sich aber unterschiedlicher Mittel. Durch den ersten Schritt reduziert Lachmann die überlieferten Lesarten der Lukrezhandschriften auf maximal zwei, die alleine für den Text des Dichters in Frage kommen können. Indem er die Überlieferung in zwei Zweige mit je zwei Zeugen teilt, die durch ihre similitudo gekennzeichnet sind, werden die Sonderfehler der einzelnen Zeugen eliminiert. Hier ist das Maassche Konzept des ‚Bindefehlers‘ vorweggenommen: Wir haben gesehen, dass Lachmann die similitudo von Zeugen untereinander gegenüber anderen Zeugen an gemeinsame Fehler dieser Zeugen bindet. Der Vorwurf, „Lachmann never employed the commonerror method“101, ist falsch. Ebenso wie das Maassche Konzept des ‚Bindefehlers‘ kennt Lachmann auch das Maassche Konzept des ‚Trennfehlers‘, durch das er ausschließen möchte, dass der Poggianus aus dem Oblongus abgeschrieben ist, auch wenn er, wie wir gesehen haben, kein konkretes Beispiel für diesen Fehler anführt.102 Der mechanischen recensio folgt die recensio cum iudicio: Lachmann prüft die nach Abzug der individuellen Sonderfehler verbleibende Varianz zwischen O und Q. Er betont mit Nachdruck und mit Recht die grundsätzliche Trivialität dieser Varianz, die eine Entscheidung über das Richtige fast überall so spielend leicht macht, dass Lachmann darauf verzichtet, die Varianten im Apparat zu dokumentieren. Lachmann weiß: Die Varianz der Lukrezhandschriften speist sich lediglich aus einer einzigen antiken Handschrift. Sie ist damit ganz anders geartet als die ungleich gravierendere Varianz, die dann vorliegt, wenn für die Konstitution eines Textes gleichwertige antike Varianten überliefert sind. Bei einem Dichter wie Vergil ist man durch das Vorhandensein mehrerer antiker Handschriften fortwährend mit solchen schwerwiegenden Varianten konfrontiert, und dementsprechend kontrastiert Lachmann die Varianz zwischen O und Q mit der Varianz zwischen den antiken Vergilhandschriften M und R, also den Codices
101 102
Siehe oben, S. 271–275. Siehe oben, S. 272.
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Mediceus (Flor. Laur. 39.1) und Romanus (Vat. Lat. 3867).103 Bei Lukrez finden sich solche frühen und gravierenden Varianten nur ganz vereinzelt – nämlich dort, wo zu der direkten Überlieferung des Archetypus die indirekte Überlieferung in der Form von Lukrezzitaten bei antiken Autoren hinzutritt. Solche Varianten hat Lachmann in seinem Kommentar (nicht anders als bereits zuvor in den Apparaten des Catull [1829] und des Terentianus Maurus [1836]) mit musterhafter Sorgfalt gesammelt. Er nimmt sie so ernst, dass die bei der Varianz zwischen O und Q angeschlagene Sprache der Gewissheit (S. 10: „hoc de testium dissensu iudicium paene ubique certissimum et extra periculum positum“) dann auf einmal einer Sprache der Ungewissheit weicht, wenn er etwa zu dem Variantenpaar pauit ⍀ und lauit Nonius in 2, 376 bekennt: „ego neutrum alteri praestare iudico“.104 Lachmann hat seinen Lukreztext nach den Vorgaben seiner praefatio konstruiert. Mit dem Leithandschriftprinzip hat der Lukrez nichts zu tun: Lachmann bevorzugt weder den Oblongus noch den Quadratus. Seine Leithandschrift ist vielmehr der von ihm aus der Überlieferung rekonstruierte Archetypus, nicht anders als es die tatsächlich erhaltenen Archetypi jener klassischen Autoren waren, die er in den 15 Jahren vor dem Lukrez ediert hat: Genesius (Bonn 1834), Terentianus Maurus (Berlin 1836; der Apparat dieser Ausgabe hat die größte Ähnlichkeit mit dem des Lukrez), die institutiones des Gaius (Bonn 1841) und die Fabeln des Babrius (Berlin 1845).105 103 Praef., S. 10: „quoniam uterque (nämlich Oblongus und Quadratus) eodem exemplo scriptus esset, neque ii tantum usquam inter se quantum Romanus et Mediceus Maronis dissentire possent“. – Über den Germanisten Lachmann und dessen unterschiedliche Behandlung unterschiedlicher Überlieferungen verschiedener Texte schreibt Ganz [Anm. 12], S. 29: „I think he would have appreciated J. Bidez’ remark: Tous les cas sont spéciaux“. Diese Einschätzung trifft gewiss auch auf Lachmann als Klassischen Philologen zu. 104 Ähnliche Urteile finden sich in seinem Kommentar zu 1,66; 1, 306; 6, 868. 105 Es ist damit deutlich geworden, dass ich mich dem oben zitierten Urteil von Schmidt [Anm. 7], S. 18, in seiner Grundsätzlichkeit nicht anschließen kann: „His (= Bédier’s) concentration on a ‘manuscrit de base’ resembles Lachmann’s procedure much more closely than the method he was really attacking“; verhaltene Kritik an diesem Urteil äußert bereits Orlandi [Anm. 46], S. 110. An Bédiers Vorgehen mag Lachmanns erste Ausgabe, sein Properz (Leipzig 1816), erinnern; seine letzte, der Lukrez, erinnert jedoch nicht daran und seine germanistischen Editionen tun es auch nicht; zu ihnen vgl. Ganz [Anm. 12], S. 19–30. Die oben genannten Ausgaben griechischer und lateinischer Autoren, deren Archetypus erhalten ist und die zwischen dem Properz und dem Lukrez stehen, dürften Lachmann zu der Art und Weise ermutigt haben, wie er die Lesarten des rekonstruierten Lukrezarchetypus in seinem Apparat präsentiert. Seine Entscheidung, bei Doppellesarten des Archetypus (= bei Varianz zwischen O und Q nach Abzug der individuellen Sonderfehler) das offensichtlich Falsche zu übergehen, erinnert an manche neuere Editionen von Texten mit erhaltenem Archetypus, deren Apparate (wie z.B. der von Heubner in seiner Ausgabe der historiae des Tacitus) die bereits vom Schreiber selbst oder anderen zeitgenössischen oder späteren Korrektoren beseitigten Fehler des Codex archetypus nicht oder nicht vollständig verzeichnen.
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Als das entscheidende Ziel und den eigentlichen Sinn der ‚Lachmannschen Methode‘ erachte ich die Reduzierung der Überlieferung in ihrer Gesamtheit auf das für die Textkonstitution alleine Relevante. Wer bereit ist, dem beizupflichten, wird Lachmanns Lukrezausgabe als ein Muster der Umsetzung der ‚Lachmannschen Methode‘ anerkennen. Ich jedenfalls kenne keine Ausgabe vor ihr und kaum eine nach ihr, in der die ‚Lachmannsche Methode‘ mit größerer Konsequenz verwirklicht worden ist. Man stelle ihr zum Vergleich die zwei Jahre vor Lachmanns Lukrez erschienene Ausgabe des plautinischen Trinummus von Friedrich Ritschl (Bonn 1848) entgegen: Gewiss hat Ritschl einerseits in den berühmten Prolegomena die Verwandtschaftsverhältnisse der Plautushandschriften mustergültig aufgearbeitet und in einem bis heute im Wesentlichen gültigen Stemma in aller wünschenswerten Klarheit präsentiert, aber andererseits setzt er unter seinen Text einen Apparat, der mit Hunderten von Sonderfehlern der von ihm kollationierten Zeugen zugestellt ist, obwohl doch deren Elimination eigentlich der letzte Zweck des Stemmas wäre. Hier bleibt ein zentrales Prinzip der ‚Lachmannschen Methode‘ außen vor.106 Es ist Lachmanns Lukrezausgabe, in der erstmals die ‚Lachmannsche Methode‘ so angewendet ist, dass ihre Vorzüge unübersehbar vor Augen treten und an der in den kommenden Jahrzehnten „alle die kritische Methode gelernt haben.“107 Dass ihr Fundament bereits von Bernays gelegt worden ist, ändert nichts am Wert der Textausgabe selbst. Gewiss hätte Lachmann seiner Wissenschaft und langfristig auch sich selbst einen Gefallen getan, wenn er die Größe gehabt hätte, Bernays’ Leistung offen anzuerkennen; die Enigmata der praefatio wären uns dann erspart geblieben. Die Edition selbst hätte dadurch nichts von ihrer Strahlkraft eingebüßt, und sie stünde um nichts weniger als Muster für das, was man als ‚Lachmannsche Methode‘ bezeichnet hat. Ich stimme Timpanaro zu, wenn er resümierend schreibt, dass wir auch in Zukunft an dieser Bezeichnung festhalten sollten: „And we will be able to continue to speak of ‘Lachmann’s method’, even if we will have to use this expression as an abbreviation and, as it were, a symbol, rather than as a historically accurate expression“.108 Auch die Einschränkung, die Bezeichnung sei historisch nicht exakt, ist gewiss richtig. Aber sie scheint mir schon mehr zu sein als lediglich ein Symbol.
106
Zu diesem Defizit Ritschls vgl. schon Timpanaro [Anm. 5], S. 116. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Geschichte der Philologie, Leipzig, Berlin 1921, S. 59. 108 Timpanaro [Anm. 5], S. 118. – Eine Würdigung des Wissenschaftlers Timpanaro gibt jetzt Giorgio Piras, ‚Timpanaro, Sebastiano‘, in: Dizionario biografico degli Italiani 95, 2019, 688–692. 107
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5.2 DIE MÜNSTERSCHE „TRISTAN“-AUSGABE UND IHR LEITASTPRINZIP von Frank S c h ä f e r und Tomas T o m a s e k , Münster Abstract: Aufgrund der starken ‚Kontamination‘ der Überlieferung lässt sich der Archetyp von Gottfrieds „Tristan“ nicht durchgängig rekonstruieren, was aber nur einer von vielen Gründen für eine sehr unbefriedigende Editionslage ist. Wie die in Münster entstehende Ausgabe zeigen wird, ermöglicht das hier angewandte ‚Leitastprinzip‘ eine zuverlässige Rekonstruktion des Hyparchetyps *X. Ein neuartiges Konzept des Variantenapparats erlaubt es zudem, den Blick gezielt auf mögliche Archetyplesarten zu lenken. Due to strong ‘contamination’ of the tradition, the archetype of Gottfried’s “Tristan” cannot be reconstructed for the whole text, which is only one of many reasons for a very unsatisfactory editorial situation. As the Münster edition will show, the ‘guiding branch principle’ applied here allows a reliable reconstruction of the hyparchetype *X. A new concept of the variant apparatus also makes it possible to focus attention on possible archetypal variants.
I. Einleitung Obwohl seit über 200 Jahren gedruckte Ausgaben von Gottfrieds „Tristan“ vorliegen, bleibt festzustellen, dass die Editionsgeschichte des bedeutendsten Liebesromans des deutschen Mittelalters sehr unglücklich verlaufen ist. Darauf, dass dies auch etwas mit Karl Lachmann zu tun haben könnte, wird noch zurückzukommen sein. Ein Aspekt der „Tristan“-Philologie, der sich im Laufe von 150 Jahren allerdings sehr positiv entwickelt hat, ist die Handschriftenkollation, die in Abschnitt II betrachtet wird, denn das Konzept der in diesem Beitrag vorzustellenden münsterschen Ausgabe (vgl. Abschnitt III) beruht auf den Erkenntnisfortschritten der neueren Handschriftenkritik (inzwischen sind 30 Textzeugen bekannt). In Abschnitt IV soll in der gebotenen Kürze gezeigt werden, dass der neue Ansatz auch zu einem neuen Gottfried-Text führt, und Abschnitt V wird anhand der Editionsgeschichte abschließend das Desiderat einer neuen Ausgabe begründen.
II. Zur Handschriftenkritik 1868 gelang es Theodor von Hagen, aufgrund verschiedener Bindefehler und Fehlverse zwei aus dem Urtext des „Tristan“ entstandene Textklassen herauszuarbeiten (X und Y):1 1
Theodor von Hagen: Kritische Beiträge zu Gottfrieds von Strassburg Tristan, Göttingen 1868.
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Frank Schäfer und Tomas Tomasek
Abb. 1: Stemma nach Theodor von Hagen (aus: Schröder [Anm. 12], S. 346 = Darstellung nach von Hagen [Anm. 1], S. 30).
Seitdem hat sich die Forschung gezielt mit den Überlieferungsverhältnissen des „Tristan“ weiterbeschäftigt. So hat z.B. Hermann Pauls Einwand, es lägen in Wirklichkeit drei Textklassen vor,2 zu einer nachhaltigen Diskussion über die Verortung der ‚mehrgesichtigen‘ Textzeugen geführt. Paul nahm insbesondere an von Hagens Zuordnung von W und FN zum selben Überlieferungszweig (Y) Anstoß: W stehe „den beiden Gruppen“ – gemeint sind (X) und (x) nach von Hagens Stemma – „vollkommen selbständig und gleichberechtigt gegenüber“3. Von Hagens Grundannahme, dass der Archetyp durch astbildende Hyparchetypen unmittelbar fortgeführt wurde, ist jedoch – von Karl Marolds Sonderweg abgesehen4 – stets bestätigt worden.5
2
Vgl. Hermann Paul: Zur Kritik und Erklärung von Gottfrieds Tristan, in: Germania 17, 1872, S. 385–407. 3 Ebd., S. 387. 4 Marold ging davon aus, dass der im Vergleich zur Parallelüberlieferung kürzere und teils abweichende Text der Hs. M eine frühe Autorfassung repräsentiere, während alle nicht von M abhängigen Textzeugen auf „einer späteren Bearbeitung“ Gottfrieds beruhten (vgl. Karl Marold: Einleitung, in: Gottfried von Straßburg: Tristan, hg. v. K. M., Berlin/ New York 52004, Bd. 1, S. VII–LXIV, hier S. LIVf.). 5 Vgl. etwa Oskar Jänicke: [Rezension zu von Hagen, Anm. 1], in: ZfdPh 2, 1870, S. 228 f.; Johannes Kottenkamp: Zur Kritik und Erklärung des Tristan Gottfrieds von Straßburg, Göttingen 1879; ders.: Zu Gottfrieds Tristan, in: Germania 26, 1881, S. 393–401.
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Die münstersche „Tristan“-Ausgabe und ihr Leitastprinzip
1917 erbrachte dann die großangelegte Studie Friedrich Rankes6 weitere wichtige Einsichten:
Abb. 2: Stemma nach Friedrich Ranke (aus: Wetzel [Anm. 9], S. 402 = Darstellung nach Ranke [Anm. 6], S. 404).
Ranke konnte das Profil des X-Astes durch Einbeziehung des Fragments a schärfen und eine Gabelung des Y-Astes in einen α-Zweig mit RS und einen βZweig mit WOP plausibel machen. Dieses zweipolige Stemma hat fast ein Jahrhundert lang die Sicht auf die Gottfried-Überlieferung geprägt – und tatsächlich ist das Zusammengehen der Gruppen MH, WOP und RS (bzw. WORPS) kaum zu übersehen. Rankes Studie hat aber vor allem auch dadurch großen Eindruck hinterlassen, dass sie erstaunlich viele Kontaminationen7 in der „Tristan“-Überlieferung aufgezeigt hat.
6
Friedrich Ranke: Die Überlieferung von Gottfrieds Tristan, in: ZfdA 55, 1917, S. 157– 278 u. 381–438. 7 Dieser Begriff ist insofern problematisch, als seine negative Konnotation der Mehrfachbenutzung von Vorlagen durch die „Tristan“-Schreiber nicht gerecht wird. Vielmehr ist dieses Vorgehen in seinen verschiedenen Erscheinungsformen als ein konstruktives Bemühen um den Text zu würdigen (das der Zielsetzung eines Editors durchaus ähnelt). Der Terminus ‚Kontamination‘ wird hier aber aus Gründen der ‚Griffigkeit‘ beibehalten.
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Frank Schäfer und Tomas Tomasek
Seither sind weitere Publikationen erschienen, die sich auf der Basis des RankeAnsatzes mit Handschriftenabhängigkeiten beschäftigten,8 bis 1992 René Wetzels Dissertation9 anhand einer Untersuchung der „Tristan“-Fragmente einen neuen Blick auf die stemmatischen Verhältnisse ermöglichte:
Abb. 3: Stemma nach René Wetzel (aus: ders. [Anm. 9], S. 403). 8
Vgl. etwa Con Kooznetzoff: Genealogical Analysis of an Unpublished Tristan-Fragment, Cod. vindob. 15340, in: Festschrift for E. W. Herd, Dunedin 1980, S. 134–150; ders.: A Genealogical Analysis of the Berlin „Tristan“ Fragment l, in: Neuphilologische Mitteilungen 83, 1982, S. 4–14. 9 René Wetzel: Die handschriftliche Überlieferung des „Tristan“ Gottfrieds von Strassburg. Untersucht an ihren Fragmenten, Freiburg/Schweiz 1992.
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Die münstersche „Tristan“-Ausgabe und ihr Leitastprinzip
Wetzel gelang es, zu zeigen, dass die „Tristan“-Überlieferung ein verschlungenes Delta bildet, in das sich der Archetyp über drei Zuflüsse ergießt, denn die frühen Fragmente m, f1/f und t sind Belege für einen dritten Überlieferungsast neben X und Y, der sich ab der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts mit dem Xund dem Y-Ast vermischte. Diese Erkenntnis Wetzels hat den Weg für eine Neuausgabe des „Tristan“ geebnet, und dementsprechend fußt die münstersche Edition auf seinen bis heute unwidersprochenen Resultaten. Die Arbeit an der neuen Edition bot aber natürlich auch die Gelegenheit, Wetzels Ergebnisse kritisch zu überprüfen – wobei seine Sicht bis auf wenige Details bestätigt wurde. In einer Hinsicht war jedoch Nacharbeit erforderlich: Die Fragezeichen, die Wetzel bei den Nebeneinflüssen der Handschriften E und O setzen musste, erschweren die textkritische Einschätzung dieser Textzeugen. Letztlich geht es hier um die „Tristan“-Fortsetzung Heinrichs von Freiberg, die in den Handschriften E und O vorliegt und zu der es bislang keine textkritischen Studien gibt. Ein adäquates Gottfried-Stemma hat aber immer auch die Heinrich-Überlieferung mitabzubilden, weil Heinrichs Text nur im Verbund mit Gottfrieds „Tristan“ überliefert wird. Gleiches gilt für die Fortsetzung Ulrichs von Türheim. Das ‚münstersche‘ Stemma, das die Überlieferung aller drei Werke berücksichtigt, hat derzeit folgende Gestalt:
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Abb. 4: Weiterentwickeltes „Tristan“-Stemma.
Dabei wird der Archetyp der Ulrich-Fortsetzung in der Handschrift *X verortet, während für den Heinrich-Archetyp ein Textzeuge **Ebe vorauszusetzen ist. 308
Die münstersche „Tristan“-Ausgabe und ihr Leitastprinzip
Auffällig an der Gottfried-Überlieferung bleiben die vielfältigen Kontaminationsbeziehungen zwischen den Handschriften, die Ranke zuerst aufgedeckt hatte und von denen sowohl durch Wetzel als auch im Rahmen der münsterschen Editionsarbeit noch weitere identifiziert werden konnten. Die Ursachen für dieses Kennzeichen der Gottfried-Überlieferung können hier nicht ausführlich diskutiert werden; sie haben jedoch, wie die Recherche zu Heinrich von Freiberg ergab, auch mit den Fortsetzungen zu tun.10 Aus einer derart kontaminierten Überlieferungslage folgt, dass sich der Anspruch aller bisherigen „Tristan“-Ausgaben, den Gottfried-Archetyp zu rekonstruieren, nicht einlösen lässt – obwohl ein dreiastiges Stemma theoretisch ideale Voraussetzungen für ein solches Vorhaben böte, denn wenn die Lesart zweier Äste gegen den dritten übereinstimmt, dürfte es sich in der Regel um die des Archetyps handeln. Allerdings ist der Z-Ast unkontaminiert nur über die Fragmente m, f1/h/f und t sowie im Bereich der M-Fehlstellen, an denen sich *BNE und ihre Derivate *Bq und *Ebe aus Z-Quellen bedienen, als dritter Überlieferungszweig greifbar – Bereiche, die zusammen nur etwa 19 % des Gesamttextes abdecken. So speist sich z.B. die für stemmatologische Überlegungen wichtige Ganzhandschrift F aus dem Z-Ast (*FBNE), aber genauso häufig auch aus dem Y-Ast (α) sowie gelegentlich aus dem M-Zweig des X-Astes (*BNE) – das Verhältnis der F-Varianten zum Archetyp ist also stark verunklart. Unter Umständen könnte hier ein Blick in die Handschriften R und S helfen, deren Befunde α-Zeugnisse darstellen, aber ebenso aus *BNE nach *NRS gelangt sein mögen – wobei auch ein B-Einfluss im Spiel sein könnte. Auch der vor allem durch W repräsentierte β-Zweig kann über die Ausgangslesarten des Y-Astes nur bedingt Auskunft geben, insofern schon β sowohl aus dem Z-Ast (t) als auch aus dem X-Ast (M) beeinflusst wurde und *OP eine zusätzliche Kontamination aus dem X-Ast (*H) erfuhr. So stellt die Gottfried-Überlieferung ein hyperdynamisches Gebilde dar, das es unmöglich macht, den Archetyp als Gesamttext zu erfassen, zumal die Ausrichtung eines kontaminierten Textzeugen von einem Vers zum anderen (oder gar von Wort zu Wort) umspringen kann. In den bisherigen Editionen11 hat sich dieses Problem u.a. darin niedergeschlagen, dass mehrfach zwischen Varianten verschiedener Überlieferungsäste hin10
In der Frühphase der Überlieferung müssen (bis hin zu W) einige Gottfried-Handschriften ohne Fortsetzung in Umlauf gewesen sein. Seitdem es aber Fortsetzungen gab, haben sich Schreiber, denen eine unfortgesetzte Quelle vorlag, in der Regel um eine weitere Quelle mit Fortsetzung bemüht, die dann natürlich auch zur Überprüfung des Gottfried-Teils herangezogen werden konnte und somit zu Einflüssen aus einem anderen Überlieferungszweig führte. Später haben auch Präferenzen für die eine oder die andere Fortsetzung eine Rolle gespielt. Außerdem haben die Lücken in M zur Benutzung von Nebenquellen beigetragen. Einigen Schreibern wird man sogar ein fast philologisches Interesse am Gottfried-Text attestieren können. 11 Vgl. zu allen in diesem Beitrag zitierten Ausgaben Abschnitt V.
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und hergewechselt wurde: hauptsächlich zwischen der Heidelberger Handschrift H, der Münchner Handschrift M, der Wiener Handschrift W und der Florentiner Handschrift F, d.h. den vier ältesten und wichtigsten Ganzhandschriften; in Einzelfällen wurden aber auch Varianten anderer Handschriften genutzt. Dieses Vorgehen hat Werner Schröder für die Ausgabe von Friedrich Ranke aktenkundig gemacht,12 der zwar gewisse Editionsprinzipien aufgestellt hatte,13 sich aber keineswegs immer daran hielt. In den älteren Ausgaben des „Tristan“ lässt sich dieses ‚Handschriften-Hopping‘ mannigfach belegen.14 In diesen Zusammenhang gehört auch der Umstand, dass in den bisherigen Editionen das Mittel der Konjektur fast völlig gemieden wurde15 und man selbst bei gravierenden Verderbnissen stets Abhilfe bei (irgend)einer vermeintlich rettenden Variante gesucht hat.16 Welchen Ausweg gibt es aber nun, um der Gefahr eines ahistorischen Mischtextes, eines ‚Flickenteppichs‘ der Gottfried-Überlieferung, zu entgehen? Üblicherweise wird hierzu das Leithandschriftverfahren genutzt, wofür sich Handschrift H anböte. Doch kann man – wie die münstersche Ausgabe zeigt – dem Archetyp und damit auch dem Dichter noch deutlich näher kommen.
12
Vgl. Werner Schröder: Nachwort, in: Gottfried von Straßburg: Tristan, Bd. 1: Text, hg. v. Karl Marold, Berlin/New York 52004, S. 339–356, hier S. 351 f. 13 Vgl. Ranke [Anm. 6], S. 428. 14 So ediert Ranke etwa in V. 369 verliesen unde gewinnen (WF = Y) statt verliesen oder gewinnen (MH = X), in V. 15376 dagegen an ir ere oder an ir lip (MH) statt an ir ere unde an ir lip (WF), ohne dass inhaltliche Entscheidungsgründe jeweils klar auf der Hand lägen. 15 Eine seltene Ausnahme stellen Rankes eckige Klammern dar (vgl. etwa 2715 lief[e], 19418 zuo [z]ir jeweils gegen alle Handschriften). 16 Typisch hierfür ist der Umgang mit der bekannten „Setmunt“-Stelle V. 12216 (vgl. hierzu ausführlich Tomas Tomasek: Das „Setmunt“-Problem in Gotfrids „Tristan“ (Ranke, V. 12216), in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 230, 1993, S. 371–378). Die mutmaßliche Archetyplesart grœzer dan ie seite munt (so erstmals bei Haug/Scholz [Anm. 38]) war offenbar in Teilen schwer zu entziffern gewesen, was zu frühen Entstellungen geführt hat (danne sefremvnt H, danne sefte munt f1, danne senftemunt W, dan setmunt F). Die F-Variante (die durch E dann settmunt gestützt zu werden scheint) wurde seit von der Hagen in der Form danne Setmunt editorisch tradiert (die einen Namen unterstellende Großschreibung auch bei Ranke, ansonsten Kleinschreibung), ohne dass hierdurch ein verständlicher Text konstituiert worden wäre. Auch mit Blick auf die dreisilbigen Varianten in H, f1 und W (u.a.) erscheint setmunt als Archetyplesart unwahrscheinlich. In F ist zudem set aus seí korrigiert worden, und die O-Lesart dan seite mȳ mūt weist wohl am ehesten den Weg zum Archetyp, der sich demzufolge noch am besten über die *FBNE-Linie des Z-Astes erhalten hat. Von der Verderbnis sind aber letztlich alle erhaltenen Textzeugen betroffen, sodass an einer Konjektur kein Weg vorbeiführt: Danne ohne Zeitadverb erscheint hier nicht sinnvoll, eine Verlesung von dan ıe indes durchaus möglich (vgl. auch den Stellenkommentar bei Haug/Scholz [Anm. 38]).
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Die münstersche „Tristan“-Ausgabe und ihr Leitastprinzip
III. Zum Konzept der münsterschen Ausgabe Im oberen Teil des Stemmas finden sich (vor allem linksseitig) einige Textzeugen, die von Kontaminationsvorgängen nicht betroffen sind. Da hierzu die wichtigen Ganzhandschriften H und M zählen, ist eine Rekonstruktion des den X-Ast begründenden Hyparchetyps *X möglich, und genau dieses Ziel verfolgt die neue „Tristan“-Ausgabe. Es spricht einiges dafür, dass es sich bei *X um einen bedeutenden Textzeugen von hoher Qualität handelte, der aus dem Umkreis Konrads von Winterstetten, des Auftraggebers der Gottfried-Fortsetzung Ulrichs von Türheim, stammen dürfte. Überall dort, wo die Handschriften M und H im Wortlaut übereinstimmen, gelingt die Rekonstruktionsaufgabe in der Regel problemlos – und dies gilt (bei Nichtberücksichtigung der Fehlstellen von M und H) für etwa 90 % des Wortmaterials. Meistens gehen dann auch noch W und/oder F – d.h. der Archetyp – mit, sodass die Rekonstruktion von *X zu einem archetypnahen Text führt. Entsprechend übersichtlich gestaltet sich der Negativapparat der Frühüberlieferung (Apparat I = ‚Editionsapparat‘) im Vergleich mit dem der variableren Spätüberlieferung (Apparat II = ‚Rezeptionsapparat‘ in Bd. 2). Wo aber H gegen M steht, weil H z.B. ein Fehler unterlaufen ist oder M eigene Wege geht, sind die Handschriften W und F wegweisend, da zwischen H und W sowie H und F keinerlei Kontaminationsbeziehungen bestehen. Übereinstimmungen von H mit W oder F weisen somit auf den Archetyp – und folglich auch auf *X. Beispiele: Negativapparat Vers 695 Editionstext: sô was der höfsche Riuwalîn App. I: der stolze M. App. II: der stolze B, der werde OP. Vers 1028 Editionstext: den sînen keiserlîchen lîp App. I: minneclichen M. App. II: da sinen N. minnenclichen B. Diese beiden Stellen zeigen den Normalfall, d.h. einen Negativapparat, der Varianzen in textkritisch unproblematischen Fällen dokumentiert. Sofern sich die edierte X-Lesart dem Archetyp zuordnen lässt (hier sind höfsche und keiserlîchen jeweils durch die Konstellation HWF abgesichert), ist eine singuläre Abweichung davon als ‚Individualvariante‘ einzustufen. Der hier ersichtliche Austausch bestimmter Adjektivattribute ist typisch für die Hs. M, deren Lesarten im Apparat der Frühüberlieferung (App. I) erscheinen. Die Übereinstimmungen der jüngeren Hs. B (App. II) mit M ergeben sich aus der linearen Filiationsbeziehung.
Alle sonstigen Fälle müssen individuell in situ geklärt werden, wobei ggf. auch ein editorischer Kommentar („→ ed. Komm.“-Verweis in Apparat I) ange311
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bracht sein kann. Grundsätzlich gilt: Wo immer möglich, wird einer X-Handschrift gefolgt – im Zweifel der Handschrift H.17 Dieses Konzept bietet verschiedene Vorteile. Es erlaubt, kursiv markierte Korrekturen gegen die X-Handschriften vorzunehmen, sobald eine Textherstellung gegen den Leitast der Ausgabe nötig wird. Hierbei sind drei Szenarien möglich: Wenn (1.) eine der X-Handschriften ausfällt und die andere offensichtlich einen geringfügigen Schreibfehler aufweist, wird eine Emendation durchgeführt und durch Kursivsatz kenntlich gemacht, die fehlerhafte Variante im Negativapparat verzeichnet. Bsp.: Emendation Verse 11619f. Editionstext: „des wirt iu spâte“, sprach diu maget, / „von mir iemer danc gesaget. App. I (11619): Init. F. wir H. App. I (11620): immer d. von mir g. F. vor H. H ist ein treuer Kopist, dem aber immer wieder kleinere Verschreibungen unterlaufen. Wo die Hs. M verfügbar ist, kann sie in der Regel die entsprechende korrekte Lesart für *X bezeugen, die dann ediert wird. Wo M fehlt, muss der H-Fehler durch Emendation korrigiert werden (wobei die Kontrollhandschriften W und F stets zu berücksichtigen sind); der Eingriff gegen den in diesen Bereichen einzigen X-Zeugen wird durch Kursivsatz kenntlich gemacht und die fehlerhafte Variante in Apparat I nachgewiesen.
Wenn (2.) aufgrund eines *X-Fehlers die Y-Variante zu edieren ist, wird dies nicht nur durch Kursivierung, sondern auch durch den Variantenapparat ersichtlich gemacht, der in solchen Fällen als Positivapparat erscheint, d.h. alle Varianten zur Textstelle nachweist. Bsp.: Korrektur eines *X-Fehlers Vers 2168 Editionstext: unde wart des mæres alsô vil App. I: des marketes MH, der mere W, des meres F [des markedis B(E), der meren NO, des meres RP(S)]. *X-Fehler von inhaltlichem Gewicht sind selten. Hier aber dürfte wohl kaum gemeint sein, dass der market (V. 2161) noch weiter anwächst, den die norwegischen Kaufleute bereits ûz geleit hatten (ebd.), sondern vielmehr das Gerede darüber (vgl. V. 2164 hier under kâmen mære), sodass die F-Lesart vermutlich der des Archetyps entspricht. Sie ist aber nur deshalb zu edieren, weil die durch MH repräsentierte X-Variante nicht sinnvoll erscheint: Der *X-Schreiber wird durch Kontext und Schriftbild auf die falsche Fährte geraten sein. Die W-Variante stützt F inhaltlich, kommt aber als Editionsgrundlage nicht in Frage, weil Gottfried mære als Neutrum verwendet und des m…es auch durch MH gesichert ist. Der auf X-externer Grundlage korrigierte Bereich wird im Text 17
Der M-Schreiber hat nämlich den *X-Text gekürzt und an zahlreichen Stellen in den Wortlaut eingegriffen.
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durch Kursivierung kenntlich gemacht. Da es sich um einen inhaltlichen Eingriff handelt (und nicht nur um die Emendation einer einfachen Verschreibung), weist Apparat I neben der Früh- auch die Spätüberlieferung aus (die in eckigen Klammern erscheint, um die Abweichung vom üblichen Belegverfahren zu verdeutlichen): Wie sich zeigt, stützen NORPS die mære-Lesart (RPS auch den Genitiv Neutrum), wohingegen BE als M-Derivate nicht weiter belastbar sind.
Falls (3.) ein Fehler des Archetyps per Konjektur zu beheben ist, ist dies ebenfalls anhand der Beleglage im (Positiv-)Apparat erkennbar.18 Ein wesentliches Anliegen der münsterschen Ausgabe ist die Funktionalität des Apparats: ‚Variantengräber‘ sollen unbedingt vermieden werden. So gelten für die Aufnahme von Varianten ausschließlich semantische Kriterien; sprachhistorisch bzw. dialektal abweichende Formen oder iterierende Varianten werden nicht im Apparat verzeichnet, sondern im Rahmen der Handschriftenbeschreibungen dokumentiert. Der Editionsapparat auf der Textseite dient dem Zweck, einem vornehmlich literaturwissenschaftlich interessierten Nutzerkreis größtmögliche editorische Transparenz zu bieten. Aus diesem Grund werden Varianten der Spätüberlieferung, die für das auf die Rekonstruktion von *X gerichtete Editionsziel unerheblich sind, in einem gesonderten Apparat aufgeführt, sodass der Nutzer bei der Überprüfung der Edition sicher sein kann, im Editionsapparat nur die für die Textherstellung relevanten Daten vorzufinden. Zum Gebrauchsprofil der neuen Edition ist außerdem Folgendes zu sagen: Die Ausgabe ist vornehmlich zur akademischen Verwendung gedacht und richtet sich an Nutzer mit Mittelhochdeutsch-Vorkenntnissen. Die Beigabe einer Übersetzung ist nicht geplant; stattdessen verfügt die Edition über Verständnishilfen, die in Zusammenarbeit mit Studierenden entwickelt wurden. Die Ausgabe soll 2022 bei V&R unipress (Göttingen) erscheinen und besteht aus einem Textband (1), der auch preisgünstig als Studienausgabe erhältlich ist, sowie einem ausführlichen Einführungsband (2), der u.a. den erwähnten Rezeptionsapparat und die editorischen Kommentare enthält. Mit dem Verlag ist eine Bindung in ‚englischer Broschur‘ verabredet, sodass eine ausfaltbare Innenklappe mit dem aufgedruckten Stemma für die Arbeit mit dem Editionsapparat zur Verfügung steht. Eine letzte Besonderheit der neuen Ausgabe sei noch angesprochen: Wie bereits erwähnt, rekonstruiert sie – ohne jede Ambition auf den Archetyp – den archetypnahen Textzeugen *X, bleibt also nicht bei einem Leithandschriftverfahren stehen. Wenn die Handschriften M und H einen sinnvollen gemeinsamen Text 18
Eindeutige Archetypfehler lassen sich höchst selten ausmachen. Nahe liegt eine solche Ursache z.B. bei der Variantenlage zu V. 18593, wo friundîn (durch den Reim auf sîn) als korrekte Lesart gesichert ist und ausgerechnet die Frühüberlieferung (HWF) abweicht (App. I: „vrivnden H(WF) [vrFndin B(NORPS)]“). Der Reimfehler ist leicht zu korrigieren, was in der Überlieferung aber erst spät geschah.
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(der dann ediert wird) gegen einen ebenso sinnvollen WF-Text bieten, ist über das Verhältnis von MH (= *X) zum Archetyp in der Regel nichts ausgesagt: Die WF-Variante kann hier mit gleichem Recht den Archetyp repräsentieren wie MH, solange ungewiss bleibt, ob F sich im konkreten Fall aus Y oder Z speist. Infolgedessen sieht sich ein „Tristan“-Editor mit demselben Problem konfrontiert, das sich auch jedem Editor eines zweiastig überlieferten Textes stellt: dem Problem, dass gleichwertige (Präsumptiv-)Varianten einen Zugriff auf den Archetyp an vielen Stellen verunmöglichen.19 Solche Fälle sind im Rahmen einer Ausgabe, die sich editorisch für den unkontaminierten frühen X-Ast entschieden hat, über den Apparat darzustellen. Auf diese Weise kann aber gerade durch den Verzicht auf eine Archetypedition zumindest die Frage nach dem Archetypwortlaut einer konkreten Textstelle durchaus aufgeworfen werden (‚Bilden MH oder WF hier den Archetyp ab?‘). Dies hat der Nutzer jeweils für sich zu beantworten, was dann für seine Textinterpretation von Wichtigkeit sein kann. Oder anders formuliert: Die *X-Rekonstruktion bildet einen Sockel, von dem aus auf den Archetyp ausgeblickt werden kann. Derartige Fälle werden in Apparat I mit einer Zeigehand markiert, um die Rezipienten auf das über die Edition hinausgehende textkritische Potential einer Stelle aufmerksam zu machen, wobei sich verschiedene Fallgruppen ausmachen lassen: Beispiele: Zeigehand Vers 4062 Editionstext: der rîche künec, der hiez in dô / füeren ze kemenâten App. I: riche MH, gDte W(F) [gDte z1(NO)R(PS), riche BE]. Die Zeigehand signalisiert, dass es neben der edierten X-Lesart (mindestens) eine weitere sinnvolle Variante gibt, die auf den Archetyp zurückweisen könnte. Hier ist von einer Präsumptivvarianz zu sprechen, da die durch MHBE repräsentierte X-Variante genauso sinnvoll erscheint wie die der Restüberlieferung, die *Y zugeordnet werden kann.20 Ein Archetyp-Editor hätte hier also die ‚Qual der Wahl‘ und müsste nach eigenem Gutdünken entscheiden; in einer X-Edition ist die Entscheidung in einem solchen Fall vorgegeben. Vers 2233 Editionstext: „ei“, sprach er, „edelen koufman, / […] daz saget mir!“, / unde sprach in ir zungen. App. I: sprach in MH, sprach daz in WF [sprach dc in z(NOP), sprach in BE, sprach das (in fehlt) RS]. 19
Hinsichtlich der Gottfried-Überlieferung ist nicht von ‚Fassungsvarianten‘ zu sprechen. Vgl. hierzu Tomas Tomasek: Gottfried von Straßburg, Stuttgart 2007, S. 66 (unter Bezug auf Joachim Bumke): „Von Gottfrieds Werk existieren keine Fassungen mit Originalitätsmerkmalen, denn die […] MBE-Version trägt die Züge einer kürzenden, gegenüber dem Autortext sekundären Bearbeitung.“ 20 Zwar könnte F seine Lesart auch aus dem Z-Ast bezogen haben, dies wäre aber nur nachzuweisen, wenn B, E oder ein frühes Fragment aus dem Z-Ast mitginge.
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Wie im vorigen Fall weichen MHBE von allen übrigen Handschriften ab, die hier einen pronominalen Rückbezug (daz) auf die wörtliche Rede bieten. Die Varianten stehen also auch hier in der Konstellation ‚X gegen Y‘;21 sie sind jedoch – im Gegensatz zum vorherigen Beispiel – kaum als ‚gleichwertig‘ einzuschätzen, da der Ausfall eines Wortes grundsätzlich wahrscheinlicher ist als seine Hinzufügung und der pronominale Bezug in diesem Kontext naheliegt. Es liegt also keine Präsumptivvarianz im strengen Sinne vor, und ein ArchetypEditor hätte hier vermutlich eine Präferenz für die daz-Lesart (vgl. etwa Ranke), die aber nicht stemmatologisch, sondern inhaltlich und/oder überlieferungstheoretisch begründbar wäre. Die X-Lesart verzerrt den Sinn der Textstelle jedoch nicht und ist somit in der Ausgabe regelkonform zu edieren. Vers 19442 Editionstext: sus wirt der michele Rîn / vil kûme ein kleinez rinnelîn. App. I: rinnelin H, rivelin W, rinlin F[(BNORPS)]. Auf den ersten Blick scheint wieder eine Präsumptivvarianz vorzuliegen: Dass der im Rahmen der Minnemetaphorik herangezogene michele Rîn sich mit H (M fehlt) in ein kleinez rinnelîn (‚Bächlein‘) verwandelt, ist ein ebenso poetischer Vergleich wie die Verwandlung in ein kleinez Rîn(e)lîn (‚Rheinlein‘, FBNORPS). Die W-Individualvariante rivelin dürfte auf rinelin zurückgehen und bestätigt diese Lesart für die Y-Seite. Besonderes Gewicht kommt hier allerdings der Hs. B zu, da der Filiationsweg M→*BNE hier ausfällt und folglich nur der frühe Z-Ast (*mfh) als Quelle in Frage kommt. Da Y und Z zusammengehen, ist Rînelîn mit hoher Wahrscheinlichkeit die Archetyplesart. Diese stemmatologische Beweislage wird im Apparat durch eine Umrahmung kenntlich gemacht.
Diese Beispiele zeigen, dass sich unter den Zeigehand-Fällen drei Grade der (Un-)Sicherheit bezüglich des Archetypwortlauts unterscheiden lassen: (1) maximale Unsicherheit aufgrund einer Präsumptivvarianz in bipolarer Verteilung; (2) relative (Un-)Sicherheit aus außerstemmatischen Gründen bei ebenfalls bipolarer Verteilung; (3) stemmatologische Sicherheit, wenn drei Überlieferungsäste erkennbar sind und zwei davon übereinstimmen. In allen diesen Fällen erlaubt es das Instrument der Zeigehand, einerseits dem X-Ast editorisch treu zu bleiben und andererseits den Archetyp im Blick zu behalten.
IV. Ein neuer Text Dass die neue Ausgabe über die genannten methodischen Innovationen hinaus an zahlreichen Stellen auch einen neuen „Tristan“-Text zu bieten hat, sei im Folgenden kurz anhand eines eindrücklichen Beispiels aus der MinnegrottenEpisode verdeutlicht, bei dem die nach H edierte X-Lesart eine andere, deutlich sinnvollere Interpretation ergibt als die bisherigen Ausgaben, in denen nämlich die Tür der Minnegrotte als einziges Grottenrequisit keine explizierte allegori-
21
Anm. 20 gilt analog.
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sche Bedeutung aufweist. Die X-Lesart, die hier auch dem Archetyp entsprechen dürfte, ergänzt nämlich das Wertesystem der Minnegrotten-Allegorese um den bei Gottfried zentralen Aspekt der triuwe, den die Forschung am GrottenLehrgebäude auch immer wieder vermisst hat:22 Vers 17006 Editionstext: durch daz ist dâ der minnen tor, / diu êrîne triuwe, vor App. I: erine túr W(F). App. II (Auszug): irrenne túre R, yrenne tuer Tur S. [Im Negativapparat nicht verzeichnet: (erine) trivwe H(NOP).]
Auch diese Passage fehlt in M, sodass X-seitig nur der H-Text zur Verfügung steht und nach den Editionsregeln zu edieren ist. Obwohl die H-Lesart triuwe sich auch in NOP findet, haben sich fast alle bisherigen Editoren23 für die WFRS-Lesart tür(e) entschieden, die eine Formulierung aus Vers 16985 aufgreift (innen an der êrînen tür). Êrîne triuwe ist eine poetische Formulierung analog zu Vers 17056 guldîne linge, wogegen die redundante Abfolge von tor und tür in WFRS inhaltlich blass bleibt. Möglich erscheint hier eine mehrfache Verlesung der lectio difficilior (spätestens in W, F und *RS) tıwe (= triuwe) zu tv´re (vgl. R), die dadurch begünstigt worden sein könnte, dass die Schreiber Vers 16985 noch ‚im Ohr hatten‘.24 Unter Umständen bedarf es auch nur einer einmaligen Verlesung durch *Y; dann hätte der Kontaminationsweg *H→*OP→*N hier eine Weitergabe der Archetyplesart ermöglicht. Von derlei auch interpretatorisch bemerkenswerten Fällen wird die neue Ausgabe einige zu bieten haben.
V. Zur Editionsgeschichte Eigentlich hatte die Editionsgeschichte von Gottfrieds „Tristan“ während der Frühromantik mit Myllers Abdruck der Handschrift F (1785)25 hoffnungsvoll begonnen. Mit Eberhard von Grootes Ausgabe (1821)26 entstand auf Basis der Leithandschrift H sogar eine erste kritische Edition, wenn auch naturgemäß nur unter Berücksichtigung der damals bekannten Textzeugen (HWFBNOR).
22
Vgl. z.B. Ingrid Hahn: Raum und Landschaft in Gottfrieds Tristan. Ein Beitrag zur Werkdeutung, München 1963, S. 125. 23 Auszunehmen ist lediglich von Groote [Anm. 26], der H als Leithandschrift verwendete. 24 Der umgekehrte Weg ist kaum vorstellbar, da Gottfried im Singular offenbar nur die einsilbige Form tür verwendet hat. W und F haben – Gottfrieds Verwendung gemäß – spontan zu tür verkürzt; bei S ist offenbar auch Unaufmerksamkeit im Spiel gewesen. 25 Tristran. Ein Rittergedicht aus dem XIII. Iahrhundert von Gotfrit von Strazburc. Zum erstenmal aus der Handschrift abgedrukt, in: Samlung deutscher Gedichte aus dem XII. XIII. und XIV. Iahrhundert, [hg. v. Christoph Heinrich Myller], Bd. 2, Berlin 1785, S. 1–141. 26 Tristan von Meister Gotfrit von Straszburg mit der Fortsetzung des Meisters Ulrich von Turheim, in zwey Abtheilungen, hg. v. E[berhard] von Groote, Berlin 1821.
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Die münstersche „Tristan“-Ausgabe und ihr Leitastprinzip
Seitdem jedoch ist die Editionsgeschichte von einer nicht abreißenden Kette von Rückschlägen durchzogen gewesen:27 Von der Hagen verlor seinen Apparat bei einem Druckereibrand, sodass in seiner Edition (1823)28 keine Lesarten verzeichnet sind; Maßmanns Ausgabe (1843)29 verfügt nur über einen rudimentären Apparat, der die vier Haupthandschriften MHWF verzeichnet (mit der Begründung, dass von Groote die Lesarten von BNOR bereits angegeben habe) – und auch dies, wie Maßmann selbst schreibt, lediglich zu Anfang „ausführlicher“, später dagegen nur noch bei „wesentlichen Textabweichungen“30; Bechstein und Golther haben für ihre Editionen (186931 bzw. 1888/8932) die Handschriften nicht einmal mehr selbst kollationiert.33 Marold berücksichtigte im Apparat seiner Ausgabe (1906)34 erstmals alle heute bekannten elf Ganzhandschriften und ebenso viele Fragmente. Damals mochte es kurzfristig so aussehen, als verfügte die Forschung nun über eine solide textkritische Basis, bis Friedrich Ranke die Ausgabe im Jahre 1917 vernichtend rezensierte und darin Fehler über Fehler nachwies.35 Ranke legte dann 1930 seine eigene Edition vor,36 die allerdings mit einem gravierenden Makel behaftet ist: Der für 1932 avisierte Lesartenband ist nie erschienen. Noch in den 1960erJahren wollte sein Schüler Eduard Studer den Apparat nachliefern,37 was aber nie geschah. Mit der Ausgabe von Haug und Scholz (2011),38 die weitestgehend Rankes Edition folgt und wie diese keinen kritischen Apparat bietet, hat sich die Lage nicht wesentlich verändert: Gearbeitet wird heute zumeist mit dem Rankeoder dem Marold-Text, wobei sich der eine mangels Lesarten nicht überprüfen lässt (Rankes Text ist ein gänzlich unbelegter, in den sich Haug/Scholz an gut 27
Vgl. ausführlicher Tomasek [Anm. 19], S. 60–66. Gottfrieds von Strassburg Werke, aus den beßten Handschriften mit Einleitung und Wörterbuch, hg. v. Friedrich Heinrich von der Hagen, Bd. 1: Tristan und Isolde mit Ulrichs von Turheim Fortsetzung, Breslau 1823. 29 Tristan und Isolt von Gottfried von Strassburg, hg. v. H[ans] F[erdinand] Maßmann, Leipzig 1843. 30 Ebd., S. 592. 31 Gottfried’s von Straßburg Tristan, hg. v. Reinhold Bechstein, 2 Bände, Leipzig 1869. 32 Gottfried von Straßburg: Tristan und Isolde und Flore und Blanscheflur, hg. v. Wolfgang Golther, 2 Bände, Berlin/Stuttgart 1888/89. 33 Vgl. Schröder [Anm. 12], S. 345. – Bechstein versprach, seine Editionsprinzipien in einem späteren Aufsatz zu erläutern, der jedoch nie erschienen ist (vgl. Gottfried von Straßburg: Tristan, nach der Ausgabe von Reinhold Bechstein hg. v. Peter Ganz, Wiesbaden 1978, Einleitung, S. XVIII). 34 Gottfried von Straßburg: Tristan, hg. v. Karl Marold, Leipzig 1906. 35 Vgl. Ranke [Anm. 6]. 36 Gottfried von Straßburg: Tristan und Isold. Text, hg. v. Friedrich Ranke, Berlin 1930. 37 Vgl. Schröder [Anm. 12], S. 352. 38 Gottfried von Straßburg: Tristan und Isold, hg. v. Walter Haug u. Manfred Günter Scholz, mit dem Text des Thomas, hg., übers.u. komm. v. Walter Haug, 2 Bände, Berlin 2011 [inhalts- und seitenidentisch mit der Ausgabe Berlin 2012]. 28
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30 Stellen einzugreifen genötigt sahen39), während die Marold-Ausgabe zwar Transparenz suggeriert, in Wahrheit jedoch unzuverlässig ist.40 Damit befindet sich die Gottfried-Philologie in einer sehr misslichen Lage, denn fundierte Forschung am Text ist streng genommen nicht möglich, solange nicht wenigstens die Varianten vollständig vorliegen. Will man verstehen, warum die Editionsgeschichte – bei einer Vielzahl von Akteuren, die alle auch Wertvolles dazugegeben haben – zwei Jahrhunderte lang kein überzeugendes Resultat hervorzubringen vermochte, dann ist eine prominente Bemerkung Karl Lachmanns mitzubedenken: In der Einleitung seiner Auswahlausgabe von 1820 bezeichnete er Gottfrieds Werk als gotteslästerlich, weichlich und unsittlich.41 Angesichts dieses Verdikts verwundert es nicht, dass sich im 19. Jahrhundert kein Editor vom Schlage eines Moriz Haupt dem „Tristan“ verschrieb – Lachmanns Autorität und die Biedermeiermoral standen dagegen.42 Mit Fleiß und Pflichtbewusstsein allein ist Gottfrieds komplexem Werk aber nicht beizukommen: Dieser besondere Roman mit seiner besonderen Überlieferung verlangt von einem Editor, Flagge zu zeigen. Wenn in der Editionsgeschichte von Gottfrieds Text neben einer großen Portion Unglück offenbar auch Halbherzigkeit und Nachlässigkeit eine Rolle gespielt haben, dann ist hiervon allerdings Friedrich Ranke auszunehmen. Ranke hat sich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zielstrebig und mit breit angelegten Vorarbeiten seinem „Tristan“-Projekt zugewandt und hundert Jahre nach Lachmann die Gottfried-Philologie erstmals auf das Lachmann-Niveau gehoben (unvergessen sind auch Rankes literaturwissenschaftliche Arbeiten zum „Tristan“43). Dass er seiner Ausgabe dann aber nicht den krönenden Lesartenband beigab, auf den die Germanistik im 20. Jahrhundert jahrzehntelang wartete, bleibt rätselhaft und entbehrt wohl auch nicht einer gewissen Tragik. Die münstersche Arbeitsgruppe unternimmt nun alle Anstrengungen, um die Editionsgeschichte von Gottfrieds „Tristan“ mittels eines vollständigen, systematisch angelegten Apparats und eines solide begründeten Editionsverfahrens aus ihrer langen Krise zu führen.
39
Vgl. ebd., Bd. II, S. 230 f. Die Handschriften P und S etwa sind von Marold allenfalls kursorisch eingearbeitet worden. Der Apparat wurde 1977 nur notdürftig durch Werner Schröder gebessert. In den Apparat der Ausgabe von 2004 sind viele neue (Scan-)Fehler hineingeraten. 41 Vgl. Karl Lachmann: Auswahl aus den Hochdeutschen Dichtern des dreizehnten Jahrhunderts, Berlin 1820, S. VI. 42 Lachmann wurde von Jacob Grimm als „offener Tristanverächter“ bezeichnet. Vgl. dazu Hazel van Rest: A critical study of the translations of Gottfried’s Tristan by Hermann Kurz, Karl Simrock und Wilhelm Hertz, Magisterarbeit London 1961, S. 15. 43 Exemplarisch sei hier auf die wegweisende Studie zur Minnegrotten-Allegorese verwiesen (Friedrich Ranke: Die Allegorie der Minnegrotte in Gottfrieds „Tristan“, Berlin 1925). 40
318
6 Partielle Überlieferung abweichender älterer Textstufen
6.1 DIE ÜBERLIEFERUNG DER „BIBLIOTHEKE“ DES PHOTIOS UND DIE FRAGE NACH DEM ARCHETYPUS* von Peter I s é p y, München Abstract: Die „Bibliotheke“ des Photios galt lange als Musterbeispiel für eine zweispaltige Überlieferung mit Archetypus, deren Zweige durch die beiden Marciani gr. Z. 450 (A) bzw. 451 (M) repräsentiert schienen. Aufbauend auf den Erkenntnissen der jüngeren Forschung möchte der vorliegende Beitrag für die grundlegende Abhängigkeit und die nur punktuelle Unabhängigkeit des Codex M von A argumentieren und einen Vorschlag für die daraus resultierende adäquate Methode der Textkonstitution unterbreiten. For a long time, the “Bibliotheca” of Photius was considered a model for a twocolumned tradition with an archetype, the branches of which seemed to be represented by the two Marciani gr. 450 (A) and 451 (M). Building on the results of recent research, this article argues for a fundamental dependence with only selective independence of Codex M from A and makes a proposal for an adequate method of constituting the text based on this finding. Γλυκυφιλούσῃ
I.
Einführung
Im Vorwort zur neuesten, griechisch-italienischen Ausgabe (2016)1 der sog. „Bibliotheke“2 des Patriarchen Photios I. von Konstantinopel (~810/20–893 * Eine mündliche Fassung dieses Beitrags durfte ich am 09. 03. 2018 im Rahmen des Workshops „Lachmanns Erben“ am Wissenschaftskolleg zu Berlin vorstellen. Vielmals danke ich meinem Lehrer Oliver Primavesi für zahlreiche Diskussionen und wertvolle Hinweise sowie Anna Kathrin Bleuler und Nigel Wilson für Ihren Rat. Mein Dank gilt ferner Samuel Kopp, Lukas Wich und Sándor Isépy. Der Biblioteca Nazionale Marciana sowie dem Master und den Fellows des Trinity College Cambridge, besonders Bibliothekar Nicolas Bell, danke ich für die freundlichen Aufnahme im Mai 2017. 1 Bei dem griechischen Text der Neuausgabe, Fozio: Biblioteca. Introduzione di Luciano Canfora, Nota sulla tradizione manoscritta di Stefano Micunco, a cura di Nunzio Bianchi e Claudio Schiano, Pisa 2016 handelt es sich um eine von mehr als 30 Personen in der Regel nur um grobe bzw. Druck-Fehler verbesserte Fassung der jüngsten kritischen Edition der „Bibliotheke“ (vgl. Bianchi, Schiano [Anm. 1], LXXXVII; die Liste der Textänderungen: LXXXVII–XCIII): Photius: Bibliotèque, Texte établi et traduit par René Henry, I–VIII, Paris 1959–1977 (ein neunter, Index-Band wurde später hinzugefügt: Photius: Bibliotèque, IX: Index, par Jacques Schamp, Paris 1991). 2 Sowohl der Titel „Myriobiblos“ (‚Tausend-Buch‘) als auch „Bibliotheke“ sind unecht und tauchen erst im 14. bzw. 16. Jh. auf; vgl. Konrat Ziegler: Photios (13), in: RE XX,1 (1941), S. 667–737, hier: S. 684, Anm. 1, und Paul Lemerle: Le premier humanisme byzantin. Notes et remarques sur enseignement et culture à Byzance des origines au Xe siècle, Paris 1971, S. 189. Der ursprüngliche Titel lautet: Ἀπογραφὴ καὶ συναρίθµησις τῶν ἀνεγνωσµένων ἡµῖν βιβλίων ὧν εἰς κεφαλαιώδη διάγνωσιν ὁ ἠγαπηµένος ἡµῶν ἀδελφὸς Ταράσιος ἐξῃτήσατο. Ἐστι δὲ ταῦτα εἴκοσι δεόντων ἐφ’ ἑνὶ τριακόσια („Zusammenschreibung und Aufzählung der von uns gelesenen Bücher, um deren summarische Beurteilung unser geliebter Bruder Tarasios gebeten hat; insgesamt sind dies 279“).
321
Peter Isépy
n. Chr.)3 heißt es über die Überlieferungsgeschichte des Werkes: „[L]a tradizione della Biblioteca sfugg[e] a una rigida classificazione di tipo lachmanniano[.]“4 Diese Feststellung, nach der die strikte Anwendung der nach Karl Lachmann benannten und von Paul Maas kodifizierten Methode der Textkritik5 im Falle der Überlieferung und Edition der „Bibliotheke“ ins Leere laufe, muss zunächst sehr verwundern: Die Photianische „Bibliotheke“ galt nämlich während des ganzen letzten Jahrhunderts geradezu als Musterbeispiel für eine zweispaltige Überlieferung mit Archetypus und mithin für eine Überlieferung, die sich eben gerade durch die ‚Maassche Methode‘ beschreiben lässt. In diesem Sinne wird sie nicht nur gerade in Paul Maas’ „Textkritik“ als Beispiel in Anspruch genommen6 und in den einschlägigen Nachschlagewerken charakterisiert,7 sondern die zweigeteilte archetypale Überlieferung ist schließlich auch die methodische Grundlage für die jüngste kritische Ausgabe der „Bibliotheke“ von René Henry (acht Bände, 1959–1977).8 Der vorliegende Beitrag hat einerseits zum Ziel, die Behauptung, nach der eine starre „Maassche Methode“ im Falle der „Bibliotheke“ nicht anwendbar sei, im Lichte der Forschungsgeschichte zu begründen, sie andererseits aber aufgrund von neuen Beobachtungen zu präzisieren und die sich daraus für eine dringend 3
Zur Person des Photios vgl. Ziegler [Anm. 2], S. 668–684, Jacques Schamp, Bastien Kindt. Thesaurus Patrum Graecorum. Thesaurus Photii Constantinopolitani. Bibliotheca (= Corpus Christianorum. Thesaurus patrum Graecorum 16), Turnhout 2004, S. XXI– XXXVII, sowie Ralph-Johannes Lilie u.a.: Photios, in: Prosopographie der mittelbyzantinischen Zeit, hg. v. Ralph-Johannes Lilie u.a., 6253/corr. und 26667 (http://telota.bbaw.de/ pmbz/scripts/browse.xql?id=6253/corr. bzw. http://telota.bbaw.de/pmbz/scripts/browse. xql?target=PMBZ28821; 10. 10. 2018). 4 Stefano Micunco: Dallo schedarion al codice: sulla tradizione manoscritta della Biblioteca, in: Bianchi, Schiano [Anm. 1], S. LXV–LXXXV, hier: S. LXXIII. 5 Siehe die Einleitung des Bandes S. 33–49. 6 Paul Maas: Textkritik, 4. Aufl., Darmstadt 1960, S. 19: „Von der zweispaltigen Überlieferung der Bibliotheke des Photios ist nur ein Arm ausreichend bekannt.“ 7 Die communis opinio des 20. Jhs. von der zweigeteilten archetypalen Überlieferung der „Bibliotheke“ ruht auf den maßgeblichen Arbeiten von Edgar Martini: Textgeschichte der Bibliotheke des Patriarchen Photios von Konstantinopel, Teil 1: Die Handschriften, Ausgaben und Übertragungen, Leipzig 1911, S. 50–56 und 108 sowie Albert Severyns: Recherches sur la chrestomathie de Proclos, Permière partie: le codex 239 de Photius, Tome I: Étude paléographique et critique, Liége 1938, S. 15–382, auf. Sie findet sich in den einschlägigsten Publikationen wieder, so über Maas [Anm. 6], S. 19, hinaus etwa im wirkungsvollen Lexikon-Eintrag von Ziegler [Anm. 2], S. 726, oder im Standardwerk von Hans-Georg Beck: Überlieferungsgeschichte der Byzantinischen Literatur, in: Geschichte der Textüberlieferung der antiken und mittelalterlichen Literatur, hg. v. Herbert Hunger u.a., Zürich 1961, Bd. I: Überlieferungsgeschichte der antiken Literatur, S. 423–510, hier: S. 468–469. 8 Vgl. Henry [Anm. 1], I, S. XXVII–XXVIII. Zur Editionsgeschichte der „Bibliotheke“ vgl. besonders Martini [Anm. 7], S. 109–133, und Luciano Canfora: Il Fozio ritrovato, Juan de Mariana e André Schott, con l’inedita Epitome della Biblioteca di Fozio ed una raccolta di documenti a cura di Giuseppe Solaro, Bari 2001.
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Die Überlieferung der „Bibliotheke“ des Photios und die Frage nach dem Archetypus
benötigte Neuedition der „Bibliotheke“9 ergebenden Implikationen herauszustellen. Aus methodischer Sicht handelt es sich um ein besonders gutes Beispiel dafür, dass die Anwendbarkeit der „Maasschen Methode“ nur und gerade so lange gewährleistet und zwingend ist, als die durch sie selbst formulierten Voraussetzungen bestehen, sie jedoch jede Berechtigung und jeden Nutzen verliert, sobald sich diese Voraussetzungen ändern.
II. Zum Wesen der „Bibliotheke“ Die „Bibliotheke“ ist nicht das Werk eines Autoren, sondern stellt unter dem Namen des Photios eine Synthese von 279 – nach moderner Konvention 280 –10 Kapiteln11
9
Schon aufgrund der hohen Zahl an Kollations- und Druckfehlern in Henrys Ausgabe ist eine Neuedition der „Bibliotheke“ ein Desiderat. Die technische Qualität der Ausgabe wird von zahlreichen der bei Margherita Losacco: Photius, la Bibliothèque, et au-delà: l’état de la recherche, l’usage des classiques et les préfaces du corpus, in: Autour du “Premier humanisme byzantin” et des “Cinq études sur le XIe siècle”, quarante ans après Paul Lemerle, hg. v. Bernard Flusi, Jean-Claude Cheynet, Paris 2017, S. 235–308, hier: Anm. 77 zusammengestellten Rezensionen der Ausgabe bemängelt. Eine Liste von Verbesserungen am Text Henrys bieten auch Schamp, Kindt [Anm. 3], S. XII–XIX. Siehe auch oben, Anm. 1, und vgl. ferner Peter Isépy, Oliver Primavesi: Helladios und Hesychios – Neues zum Text der Bibliotheke des Photios (Cod. 279), in: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 192, 2014, S. 121–142, hier: S. 129–130. 10 Um Missverständnisse zu vermeiden, wird an der modernen Zählung festgehalten. Drei Mal jedoch – im Vorwort, Titel [siehe Anm. 2] und Nachwort – hat Photios selbst die programmatische Nummer von 279 Kapiteln festgesetzt. Letztendlich geht die fehlerhafte moderne Zählung darauf zurück, dass in den Handschriften ein Kapitel „89“ fehlt, d.h. übersprungen ist, und deshalb in den gedruckten Ausgaben das in den Handschriften als Nr. 88 geführte Kapitel in die Nr. 88/89 aufgeteilt worden ist (vgl. Ziegler [Anm. 2], S. 691–693). Die Editio princeps (Βιβλιοθήκη τοῦ Φωτίου, Librorum Quos Legit Photius Patriarcha Excerpta Et Censurae, D. Hoeschelius Augustanus primus edidit, Augustae Vindelicorum 1601) setzte den Beginn des Kap. 89 bei 67a2 Γελασίου, die Bekkersche Ausgabe – der auch Henry [Anm. 1], II, S. 15, folgt – hingegen bei 67a28 ἡ δὲ λοιπὴ βίβλος fest. Siehe zur Problematik der Zählung der Kapitel auch Peter Isépy: Towards a New Text of Helladius – Neglected manuscript evidence on Photius’s „Bibliotheke“, Rheinisches Museum 163, 2020, S. 189–230, hier: S. 217–221 und ferner unten V. 2. c). 11 Die Aufteilung in „Kapitel“, κεφάλαια spiegelt sich im Titel der „Bibliotheke“ (siehe Anm. 2) wider, die als κεφαλαιώδης διάγνωσις, d.h. eine ‚summarische Beurteilung‘ der von Photios gelesenen Bücher bezeichnet wird (vgl. Luciano Canfora: Thesaurus insignis, non liber, in: Schiano Bianchi [Anm. 1], S. XI–LXIV, hier: XLI). Im ersten Satz der an den Anfang gestellten Widmungsepistel spricht Photios von ὑποθέσεις (wörtl. ‚zugrundeliegender Stoff‘, ‚Inhalt‘, ‚Zusammenfassungen‘). Phot. Bibl. 1,1–8: Ἐπειδὴ τῷ τε κοινῷ τῆς πρεσβείας καὶ τῇ βασιλείῳ ψήφῳ πρεσβεύειν ἡμᾶς ἐπ' Ἀσσυρίους αἱρεθέντας ᾔτησας τὰς ὑποθέσεις ἐκείνων τῶν βιβλίων, οἷς μὴ παρέτυχες ἀναγινωσκομένοις, γραφῆναί σοι, ἀδελφῶν φίλτατέ μοι, Ταράσιε, ἵν' ἔχοις ἅμα μὲν τῆς διαζεύξεως ἣν βαρέως φέρεις παραμύθιον, ἅμα δὲ καὶ ὧν οὔπω εἰς ἀκοὰς ἡμῶν ἀνέγνως εἰ καὶ διατυπωτικήν τινα καὶ κοινοτέραν τὴν ἐπίγνωσιν […] ὅσας αὐτῶν ἡ μνήμη διέσωζε, […] ἐκδεδώκαμεν. („Da Du, mir Liebster der Brüder, Tarasius, nachdem wir durch die Entscheidung der Gesandtschaft und den kaiserlichen (Fortsetzung der Fußnote auf S. 324)
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Peter Isépy
mit Kurzbeschreibungen von bzw. Auszügen aus 38612 griechischen Werken der Antike, Spätantike und frühbyzantinischen Zeit dar.13 Da davon ungefähr 60 profane und 100 christliche Werke heute nicht in integraler direkter Überlieferung vorliegen,14 kann die „Bibliotheke“ mit Recht als wichtigstes Werk des byzantinischen Mittelalters zählen.15 Das synthetische Wesen der „Bibliotheke“ als Produkt von aus Primärwerken gewonnenen Zusammenfassungen und Exzerpten des Photios (und seiner entourage)16, gleichsam als codex suorum
Beschluss für eine Gesandtschaft zu den [wrtl. gegen die] Assyrer[n] ausgewählt worden waren, darum gebeten hast, dass die Hypotheseis jener Bücher, die in Deiner Abwesenheit gelesen worden sind, für Dich abgeschrieben würden – damit Du zugleich einen Trost für die Dir schmerzhafte Trennung und die, wenn auch summarische und allgemeine Kenntnis jener Werke habest, aus denen Du noch nicht zu unseren Ohren vorgelesen hast, habe ich soviele von ihnen [d.h. von den Hypotheseis], wie das Gedächtnis bewahrt hat, veröffentlicht.). Die Kapiteleinteilung bzw. -zahl kann sich weder auf in der „Bibliotheke“ behandelte Autoren noch auf ihre Werke noch auf (von Photios) gelesene Bücher, im Sinne von Buchbänden bzw. Codices, beziehen, da es sich um viel weniger Autoren und erheblich mehr Werke und Bücher handelt. Vielmehr muss die Zahl der Kapitel die in Heftchen (σχεδάρια) aufbewahrten Notizen und Mitschriften betreffen, die Photios (und sein Schülerkreis) angefertigt haben (dazu siehe im Folgenden). Die irreführende Bezeichnung der Kapitel als „codices“ kann nur auf diese Heftchen bezogen zutreffend verstanden werden. Vgl. Canfora [Anm. 2], S. XLI–XLIII. 12 Vgl. Warren Treadgold: The Nature of the Bibliotheca of Photius, Washington 1980, S. 5. 13 Das beste Porträt der „Bibliotheke“ bietet immer noch Ziegler [Anm. 2], S. 684–727. Vgl. für allgemeine Angaben des Weiteren Nigel G. Wilson: Scholars of Byzantium, Revised Edition, 2. Aufl., London 1996, S. 93–111, und Canfora [Anm. 2], S. XI–LXIV. 14 Vgl. Ziegler [Anm. 2], S. 705 und 713. 15 Vgl. etwa Wilson [Anm. 12], S. 93. 16 Die Idee, nach der sich die Aktivität der Mitglieder eines ‚reading circle‘ um Photios im Text der „Bibliotheke“ widerspiegelt, hat in den letzten beiden Jahrzehnten mit plausiblen Argumenten Luciano Canfora vertreten; vgl. v. a. Canfora [Anm. 2], S. XIV–XX und die dort angegebene Literatur. Die Existenz eines solchen gelehrten χορός ist durch einen von Photius 861 an Papst Nikolaus I. gesandten Brief (Photii Patriarchae Constantinopolitani Epistulae et Amphilochia, Vol. III: Epistularum pars tertia, recensuerunt Basileios Laourdas et Leendert Gerrit Westerink, Leipzig 1985, ep. 290,64–81) für die Zeit vor Photios’ erstem Patriarchat (858–867) belegt (vgl. Lemerle [Anm. 2], S. 197–199), und sein Fortbestehen als Ort der Beschäftigung mit heidnischer Literatur (sapientia[m] quae a Deo stulta facta est; Sacrorum Caonciliorum Nova, et amplissima collectio, […] quae Joannes Dominicus Mansi […] evulgavit, Tomus XVI, Venetiis 1771, S. 165) wird in den nur auf Lateinisch überlieferten Akten des Ökumenischen Konzils von 869/870, das die Verbannung und Exkommunikation Photius’ bewirkte, gegen ihn ins Feld geführt (vgl. Luciano Canfora, Le „cercle des lecteurs“ autour de Photios: une source contemporaine, in: Revue des études byzantines 56, 1998, S. 269–273). Die Beobachtung, dass Photius bei der Erstellung der Bibliotheke nicht alleine war, ist ebenfalls nicht neu: So schrieb etwa Ludolph Küster bereits 1705 – neque enim Bibliothecam Photii ab uno auctore compilatam esse […] puto […] (ΣΟΥΙΔΑΣ. Suidæ Lexicon, Græce & Latine, Textum Græcum cum Manuscriptis codicibus collatum a quamplurimi mendis purgavit, Notisque perpetuis illustravit: Versionem Latinam Æmilii Porti innumeris in locis correxit; Indicesque Auctorum & Rerum
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Die Überlieferung der „Bibliotheke“ des Photios und die Frage nach dem Archetypus
excerptorum17, ist seit dem 17. Jh. immer genauer erkannt worden.18 So ist denn auch bereits seit einiger Zeit bekannt,19 dass sich die „Bibliotheke“, was die Beschaffenheit ihrer Kapitel betrifft, in zwei ungleiche Teile gliedert: Der Großteil, die Kap. 1–233, enthalten (auf 292 Bekker-Seiten20) von Photios selbst redigierte Kurzdarstellungen mit Bemerkungen zu Autor, Werk, Stil u.ä. In den restlichen 47 Kapiteln, 234–280 (252 Bekker-Seiten), finden sich hingegen längere, nicht oder kaum überarbeitete Zitat- bzw. Exzerpt-Aneinanderreihungen aus den jeweiligen Werken. Wie es auch immer zu diesem ungleichen Nebeneinander bei der Entstehung der „Bibliotheke“ gekommen ist,21 nur der erste Teil (Kap. 1–233) der von Photios selbst bestimmten Anzahl von 279 Kapiteln22 stellt dabei jenen überarbeiteten Textzustand von aus Büchern geschöpften Notizen und Exzerpten dar, den er im Vorwort mit dem Begriff der ὑποθέσεις, „Zusammenfassungen“ (wörtl. ‚der zugrundeliegende Stoff, Inhalt‘ scil. ‚eines Werkes‘), als Inhalt der „Bibliotheke“ angekündigt hatte.23 In den übrigen Kapiteln ist eine solche Redigierung und Kürzung – aus der Sicht der Nachwelt: glücklicherweise! – unterblieben und wir stehen damit hier den in kleinen Heftchen, den sog.
Rerum adjecit Ludolphus Kusterus, Cantabrigiæ MDCCV, tomus II., S. 68, Anm. 1). Es ist die (insbesondere von Canfora propagierte) Verbindung des bezeugten ‚reading circle‘ mit der Entstehung der „Bibliotheke“, die von einigen Forschern angezweifelt (vgl. Nigel Wilson: The composition of Photius’ Bibliotheca, in: Greek, Roman, and Byzantine Studies 9, 1968, S. 451–455, hier: S. 452, und Lemerle [Anm. 16], S. 199) oder völlig abegelehnt wird (vgl. Warren Treadgold: Photios and the reading public for classical philology in Byzantium, in: Byzantium and the Classical Tradition, hg. v. Margaret Mullett, Roger Scott, Birmingham 1981, S. 124, und ders.: Photius before his patriarchate, in: The Journal of Ecclesiastical History, 53, 2002, S. 1–17, hier: S. 10, Anm. 35, sowie Jacques Schamp: ‚Vendez vos biens‘ (Luc. 12, 33): Remarques sur le Julien de Photios et la date de composition de la ‚Bibliothèque‘, in: Philomathestatos: Studies in Greek and Byzantine texts presented to Jacques Noret for his sixty-fifth birthday, hg. v. Bart Janssens, Bram Roosen, Peter van Deun, Leuven 2004, S. 535–554, hier: S. 554, Anm. 57). 17 CASAVBONIANA sive ISAACI CASAVBONI Varia de Scriptoribus Librisque judicia, Observationes Sacrae in utriusque Foederis loca, Philologicae item & Ecclesiasticae et al., ed. Jo. Christophorus Wolfius, Hamburgi 1710, 12: Apparet, Virum doctum [i. e. Photium], ut quemcunque librum fors ei obtulisset, solitum devorare, ac statim in codicem suorum excerptorum aliquid sibi ex eo annotasse. 18 Vgl. für einen forschungsgeschichtlichen Überblick Canfora [Anm. 1], S. XVII–XX. 19 Zur strukturellen Dichotomie der „Bibliotheke“ vgl. Severyns [Anm. 7], S. 6–7, Tomas Hägg: Photios als Vermittler antiker Literatur. Untersuchungen zur Technik des Referierens und Exzerpierens in der Bibliotheke, Stockholm 1975, S. 136 und insbesondere Treadgold [Anm. 12], S. 16–51. 20 Der Text der „Bibliotheke“ wird gemeinhin nach den Seiten- und Spaltenangaben der diesbezüglich maßgeblichen Ausgabe: Photii Bibliotheca, I–II, hg. v. Immauel Bekker, Berlin 1824–1825, der letzten Ausgabe vor Henrys Edition (siehe Anm. 1), zitiert. 21 Vgl. die Überlegungen von Canfora [Anm. 2], S. XLII–XLIII. 22 Siehe oben, Anm. 10. 23 Siehe oben, Anm. 11 und vgl. etwa Canfora [Anm. 2], S. XLII.
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Peter Isépy
σχεδάρια,24 zusammengetragenen, nicht überarbeiteten Photianischen Notizen und Exzerpten gegenüber.25 Was die Entstehungszeit der „Bibliotheke“ betrifft, so wurde lange vom größten Teil der Forschung eine frühe Abfassung vor Photios’ erster Ernennung zum Patriarchen, d.h. vor dem 25. Dezember 858,26 vertreten.27 Im Lichte der weiter unten referierten Neuerkenntnisse zur Überlieferung der „Bibliotheke“ kommt mittlerweile jedoch nur eine Komposition der „Bibliotheke“ am Lebensabend des Photios in Frage.28
III. Die ‚Lachmannsche‘ communis opinio des 20. Jh.s: Zwei texttragende Handschriften und ein Archetypus In den 1911 erschienenen, ersten umfassenden Studien zur Überlieferung der „Bibliotheke“ hat Edgar Martini (1871–1932) zwei Handschriften identifiziert, Zum Begriff des σχεδάριον vgl. Canfora [Anm. 2], S. XVI–XVII. Photius selbst beschreibt die Herstellung und Verwendung der σχεδάρια in seinen Amphilochia (Photii Patriarchae Constantinopolitani Epistulae et Amphilochia, V, recensuerunt Basileios Laourdas, Leendert Gerrit Westerink, Leipzig 1986, 78,97–102 und 148,40–42). 25 Vgl. etwa Treadgold [Anm. 12], S. 37–51. „In any event, in codices 234 through 280 we evidently possess a word for word copy, except for a few identifiable interpolations, of Photius‘ reading notes.“ (S. 51). 26 Vgl. Lilie [Anm. 3]. In Anlehnung an Joseph Hergenröther: Photios, Patriarch von Konstantinopel: Sein Leben, seine Schriften und das griechische Schisma, I, Regensburg 1867, S. 379, und Emil Orth: Photiana, Leipzig 1928, S. 5, wird häufig der 25. Dezember 857 angegeben (so z.B. auch Severyns [Anm. 7], S. 2). 27 Da Photios’ Lieblingsbruder, Tarasios, nach der „Ernennung Photios’ zum Gesandten zu den Assyrern“ (siehe oben, Anm. 11) um die Zusammenstellung der „Bibliotheke“ gebeten hat (siehe Phot. Bibl. 1,1–8), sind die Interpretationen hinsichtlich der Abfassungszeit der „Bibliotheke“ strenggenommen an diese Reise als terminus ante quem gebunden: Eine solche Gesandtschaft – nach Bagdad, wie allenthalben mit Edward Gibbon (vgl. Edward Gibbon: The History of the Decline and the Fall of the Roman Empire, ed. John B. Bury, IX, London 1907, S. 369, Anm. 114) angenommen wurde – könne jedoch nur vor der Ersternennung des Photios zum Patriarchen stattgefunden haben. Vgl. für eine Zusammenstellung der diesbezüglichen Meinungen Luciano Canfora: Libri e biblioteche, in: Lo spazio letterario della Grecia antica, II. La ricezione e l’attualizzazione del testo, hg. v. Giuseppe Cambiano, Luciano Canfora, Diego Lanza, Rom 1995, S. 11–93, hier: S. 31–33. 28 Die alleinstehende These von der „Bibliotheke“ als Spätwerk (vgl. François Halkin, La date de la ‚Bibliothèque‘ de Photius remise en question, in: Analecta Bollandiana 81, 1963, S. 414–417, hier: S. 416–417) wurde lange Zeit zurückgewiesen (vgl. z.B. Paul Lemerle, Le premier humanisme byzantin, notes et remarques sur enseignement et culture à Byzance des origines au 10e siècle, Paris 1971, 190, n. 48) und ist erst durch die Arbeiten Canforas mit Nachdruck aufgegriffen worden (vgl. etwa Canfora [Anm. 2], S. XXX–XLI): Canfora hat die πρέσβεια ἐπ' Ἀσσυρίους („Gesandtschaft gegen die Assyrer“) auf plausible Weise als metaphorische Ausdrucksweise für Photios’ Exilzeit nach dem 8. Ökumenischen Konzil (869/70) im Sinne einer persönlichen ‚Babylonischen Gefangenschaft‘ interpretiert. Im Gegensatz zu einer wörtlichen Interpretation der ‚Gesandtschaft nach Bagdad‘, die auf eine Frühdatierung der „Bibliotheke“ führen musste, ist so eine spätere Datierung der Entstehung naheliegend, die durch die Neuerkenntnisse bezüglich der Rolle des Codex Marc. gr. Z. 450, A, als ‚Wiege der „Bibliotheke“‘ (s.u., Kap. IV) ohnehin eingefordert wird. 24
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Die Überlieferung der „Bibliotheke“ des Photios und die Frage nach dem Archetypus
auf die alle anderen Textzeugen29 direkt oder indirekt zurückgeführt werden können30: die Marc. gr. Z. 450, A, und 451, M. Martini datierte diese beiden mit Abstand ältesten Textzeugen auf die 2. Hälfte des 10. Jh.s (A) bzw. auf die 1. Hälfte des 12. Jh.s. (M).31 Durch „eine Menge fehlerhafter Auslassungen“ im Text von A schien Martini eindeutig bewiesen zu haben, dass der jüngere Marcianus M „nicht aus A geflossen sein kann“32. „Den Wert der Überlieferung von A und M zu bestimmen“33, hatte sich Martini jedoch für einen zweiten Teil seiner Untersuchungen aufgespart, der bedauerlicherweise nie veröffentlicht worden ist. Es war Albert Severyns (1900–1970), der im Rahmen einer Arbeit zum Kap. 239 (Proklos) der „Bibliotheke“ (1938) auf Martinis Arbeiten aufbauend dessen Vorsatz teilweise erfüllen konnte.34 Martinis und Severyns Ergebnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen und zeigen einen vermeintlichen Paradefall für eine zweigeteilte Überlieferung mit Archetypus und mithin für die „Maassche Methode“: a) A weist klare Trennfehler gegen M auf,35 insbesondere fehlt das ganze Kapitel 185 (Dionysios von Aegeae)36 in A, und zwar nicht aufgrund späterer mechani-
29
Martini behandelte alle ihm bekannten 52 Handschriften, die die „Bibliotheke“ ganz bzw. größtenteils (25) oder in Einzelkapiteln bzw. Exzerpten (28) enthalten. Obwohl die aktuellste Liste der „Bibliotheke“-Textzeugen von Paolo Eleuteri: I manoscritti greci della Biblioteca di Fozio, in: Quaderni di storia 51, 2000, S. 111–156, insgesamt sogar 129 Titel zählt, beinhalten die von Martini nicht erwähnten Handschriften jeweils nur einzelne Kapitel der „Bibliotheke“ (zu meist die Nr. 59, 139/140, 239, 250) oder deren Exzerpte. Zur Rolle der Martini unbekannten Einzelabschriften von Kap. 279 (Helladios) in den Handschriften Cambridge, Trinity College, O.I.5 (1029) und O.5.23 (1304) sowie Vat. gr. 2222 vgl. Isépy [Anm. 10], S. 206–210 und siehe unten V., 2). 30 Vgl. Martini [Anm. 7], S. 50–105. Der Versuch von R. Cantarella, Il testo della „Biblioteca“ di Fozio, in: Rivista Indo Greco Italica 13, 1929, S. 131–140, neben A und M einen dritten Überlieferungsarm auszumachen, wurde von Edgar Martini: Zur handschriftlichen Überlieferung der „Bibliotheke“ des Photios, in: Charisteria, Alois Rzach zum achtzigsten Geburtstag dargebracht, o. Hg., Reichenberg 1930, S. 136–141, hier: S. 138–141, überzeugend zurückgewiesen. 31 Vgl. Martini [Anm. 7], S. 7 bzw. 16. 32 Ebd., S. 50. 33 Martini [Anm. 30], S. 139. 34 Severyns [Anm. 7]. 35 Vgl. in erster Linie jene 25 ausgewählten Auslassungen in A, die Martini [Anm. 7], S. 50–53, zum Beweis der Unabhängigkeit von M gegenüber A anführt. 36 Ein anderweitig nicht überlieferter Mediziner, vgl. Hans von Arnim, Dionysios (124), in: RE V,1 (1903), S. 975.
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scher Beschädigung der Handschrift.37 Schon wegen seines geringeren Alters kann M nicht Vater von A gewesen sein – doch auch ihm fehlt darüber hinaus ein ganzes Kapitel, Nr. 202 (Hippolytos von Rom, „De Antichristo“; in direkter Überlieferung erhalten).38 b) A und M weisen zudem klare Bindefehler auf, stammen damit also auf unabhängige Weise aus einer gemeinsamen Quelle. c) Diese Quelle kann nicht das Original – das im Widmungsschreiben dem Bruder des Photios, Tharasios, gewidmete Ur-Exemplar – gewesen sein, da die von A und M bezeugten Bindefehler einem gebildeten Griechen, wie Photios es ohne Zweifel war, unmöglich zuzutrauen sind.39 Conclusio: A und M stammen demnach von einer heute verlorenen Handschrift ab, die auf das Original des Photios zurückgeht und aus stemmatischer Sicht den (aus A und M durch examinatio) zu rekonstruierenden Archetypus (ω) darstellt. Eine weitere Beobachtung Severyns’ war für die Forschungsgeschichte von großer Wichtigkeit: Severyns konnte für Kap. 239 (Proklos) zeigen, dass der AText sprachlich einfacher und ursprünglicher ist, M jedoch eine überarbeitete, vielfach sprachlich geglättete Fassung enthält.40 Als gelehrten Redaktor der MFassung hat er dabei den Photios-Schüler Arethas von Caesarea (860–nach 944) ins Spiel gebracht, da dieser nämlich eigenhändig am Rand des Paris. gr. 451 (a.D. 914) ein Scholion im Wortlaut des M-Textes eingetragen hat.41 Dass M den überarbeiteten, A den ursprünglicheren Text enthält, wurde in Ansätzen bereits von Severyns selbst,42 doch vollends durch die nachfolgende Forschung
37
In A fehlen heute zudem aufgrund von Blattverlust die Kap. 238 partim, Kap. 240 und der Schluss der Bibliotheke, ab ungefähr der Mitte von Kap. 278 [527b34]. Zum besonderen Fall von Kap. 279, siehe unten (Kap. IV. 2). Wenigstens im Falle von Teilen der Kap. 238, 278 und 280 kann das A-Apographon, Parisinus. gr. 1266, B, aus dem 13. Jh. als stemmatischer Ersatz herangezogen werden (siehe unten Anm. 44, 64 und 129; zur Frage des stemmatischen Ersatzes für A durch andere Handschriften in Kap. 278 und 280 vgl. auch Isépy [Anm. 10], Anm. 125). Zum Parisinus vgl. Martini [Anm. 7], S. 20–21 und S. 56–57, sowie Stefano Micunco: Biblioteche di patriarchi: Fozio nella collezione di Metrofane III (Par. Gr. 1266), in: Bollettino dei Classici 36, 2015, S. 77–122, hier: S. 88, 94–95 und 108–110. 38 Vgl. Treadgold [Anm. 12], S. 155. 39 Vgl. etwa die Fehlschreibung des (mehrmals, 171a6 und 441a16, richtig geschriebenen) Namens des Geschichtsschreibers Agatharchides als „Anarchides“ in 32a4. Siehe Hartmut Erbse: Photius, Bibliotèque, Tome I, Codices 1–83, Texte établi et traduit par R. Henry, Paris 1959, in: Gnomon 32, 1960, S. 608–618, hier: S. 613. 40 Severyns [Anm. 7], S. 62–255. 41 Ebd., S. 279–295 und S. 353–357. Das im Paris. gr. 451 (f. 6r) annotierte Scholion des Arethas gibt die kurze Passage 321a34–b30 wieder. 42 Vgl. etwa Ebd. [Anm. 7], S. 359.
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Die Überlieferung der „Bibliotheke“ des Photios und die Frage nach dem Archetypus
auf die gesamte „Bibliotheke“ übertragen.43 So geht denn auch die jüngste kritische Ausgabe der „Bibliotheke“ (Henry) von einer durchweg zweigeteilten Überlieferung aus,44 gibt jedoch aufgrund von Severyns’ Erkenntnissen bei der constitutio textus tendenziell der ‚ursprünglicheren‘ A-Lesung den Vorrang.45 Martinis und Severyns’ Ergebnisse lassen sich schematisch wie folgt zusammenfassen: ÄPDQXVFULWSUHPLHU³ ([HPSODUGHV7DUDVLRV
Ν *
hEHUDUEHLWHWGXUFK$UHWKDV
A
+-K
M
+-K
Vereinfachte Darstellung der unabhängigen, texttragenden Überlieferung der „Bibliotheke“ nach Martini und Severyns; vgl. Severyns [Anm. 7], 286 und 382.
43
Vgl. etwa Erbse [Anm. 39], S. 610. Die These, nach der Arethas der ‚Begründer‘ der M-Fassung als ganzer sei, wurde lange Zeit (so auch von Henry [Anm. 1], S. XLIV) akzeptiert, doch kann sie seit den Beobachtungen von Tomas Hägg, Photius, Bibliotèque, Tome I/VII, Codices 1–83, Texte établi et traduit par R. Henry, Paris 1959/74, in: Göttingische Gelehrte Anzeigen 228, 1976, S. 32–60, hier: S. 53–54, nicht aufrecht erhalten werden. Siehe dazu unten Kap. VI. 44 Vgl. Henry [Anm. 1], I, S. XXVII–XXVIII. Die Ausgabe von Immanuel Bekker stützte sich neben A (und dessen Apographon Paris. gr. 1266, B) noch nicht auf M: Bekker hatte zu dieser Tradition nur insoweit Zugang, als seine anderen beiden Textzeugen Codex Paris. gr. 1226 (C) und dessen Abschrift Paris. gr. 1227 (D), einen Mischtext bieten (vgl. Luciano Canfora: Il Fozio ritrovato, Juan de Mariana e André Schott, con l’inedita Epitome della Biblioteca di Fozio ed una raccolta di documenti a cura di Giuseppe Solaro, Bari 2001, S. 50–51), der für den Anfang der „Bibliotheke“ aus A stammt, für einen zweiten Teil jedoch aus dem Escorial. Ψ. I. 10 (S), einem M-Apographon, abgeschrieben wurde. 45 Vgl. Henry [Anm. 1], I, S. XLIV: „La confiance dans le manuscrit A est légitime [dies ist bezogen auf Severyns; Anm. d. Verf.]); c’est pourquoi j’ai suivi au maximum son texte […] Je n’ai suivi M que là où A présente un texte déficient.“ Henrys Vorgehen ist nicht ohne Kritik geblieben, vgl. etwa die Liste von Stellen, aufgeführt durch Erbse [Anm. 39], S. 610–612, im Falle derer M „einen besseren Wortlaut bietet“ (S. 610).
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IV. Die neuere Forschung: Codex A – das ‚Original‘ der „Bibliotheke“ Das im Lichte der geschilderten Voraussetzungen zwingende Ergebnis einer zweigeteilten Überlieferung mit Archetypus wurde jäh durch die im Jahre 1999 publizierte erste moderne paläographische Bewertung des Codex A durch Guglielmo Cavallo und einer darauf fußenden Folgerung Luciano Canforas erschüttert: Denn nach der eingehenden paläographischen Untersuchung Cavallos wurde der ältere der beiden Marciani, A, nicht in der 2. Hälfte des 10. Jh.s, sondern bereits spätestens im letzten Jahrzehnt des 9. Jh.s geschrieben. Vor diesem Hintergrund lassen die Charakteristika von A laut Canfora den Schluss zu, dass es jenes Manuskript gewesen sein muss, in dem die „Bibliotheke“, wie wir sie kennen, überhaupt erst entworfen bzw. zusammengestellt worden ist. Die Argumentation und Ergebnisse der neueren Forschung lassen sich wie folgt skizzieren. a) Der durch sieben Hände (A–G) kopierte Codex A wurde laut Guglielmo Cavallos Studie (1999) nicht später als im letzten Jahrzehnt des 9. Jh.s fertiggestellt.46 b) In einer Postille zu Cavallos Untersuchung hat Canfora auf Grundlage der Neudatierung erstmals die These formuliert, dass es sich bei Codex A, der also möglicherweise zu Lebzeiten des 893 verstorbenen Photios geschrieben worden ist, um die Erstsynthese des Inhalts jener Notizhefte und Mitschriften handelt, die in dem um Photios gescharten Lesezirkel47 bei der Lektüre angefertigt und zum großen Teil von Photios zu den ὑποθέσεις („Zusammenfassungen“) redigiert worden waren.48 Sowohl die Vordatierung des Codex A ins ausgehende 9. Jh.49 als auch die These Canforas50 hat sich seitdem erhärtet: Da A offensichtlich keine gewöhnliche Abschrift eines schon vorhandenen Werkes darstellt, sondern alle Zeichen der Zusammenstellung und Anordnung eines im Werden begriffenen Großwerkes auf46
Guglielmo Cavallo: Per le mani e la datazione del codice Ven. Marc. gr. 450, in: Quaderni di storia 49, 1999, S. 157–174, hier: S. 162 („… può difficilmente essere più tardo dell’ultimo decennio del secolo IX“). 47 Siehe oben [Anm. 16]. 48 Vgl. Luciano Canfora: Postilla, in: Quaderni di storia 49, 1999, S. 175–177. 49 Niccolò Zorzi: Lettori bizantini della ‘Bibliotheca’ di Fozio: marginalia del Marc. Gr. 450, in: Atti del VI congresso nazionale dell’Associazione Italiana di Studi Bizantini, Catania-Messina 2–5 ottobre, hg. v. Tiziana Creazzo, Catania 2004, S. 829–844, hier: S. 830 (Ende des 9. oder Anfang des 10. Jh.s), Filippo Ronconi: L’automne du patriarche. Photios, la Bibliothèque et le Venezia, Bibl. Naz. Marc., Gr. 450, in: Textual Transmission in Byzantium: between Textual Criticism and Quellenforschung, hg. v. Juan Signes Codoñer, Inmaculada Pérez Martín, Turnhout 2014, S. 91–130, hier: S. 100–101 (Aktivität der Hände zwischen 850/860 und den ersten Jahren des 10. Jh.s) und Micunco [Anm. 4], S. LXV. Eine Datierung um 900 scheint auch Nigel Wilson durchaus möglich (mündliche Mitteilung, 09. 03. 2018).
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Die Überlieferung der „Bibliotheke“ des Photios und die Frage nach dem Archetypus
weist, muss es als der Punkt gelten, in welchem die „Bibliotheke“ ‚geschaffen‘ worden ist.51 Die folgenden Charakteristika des Codex A sind diesbezüglich von entscheidender Bedeutung: –
Die Kapitelzählung – im Text wie im Inhaltsverzeichnis (dem sog. Pinax) – ist oft konfus und fehlerhaft.52
–
Man stößt häufig auf beim Kopieren freigelassene Bereiche, sog. ἄγραφα, von denen einige aller Wahrscheinlichkeit nach erst zu einem zweiten Zeitpunkt ‚aufgefüllt‘ worden sind.53
–
Es besteht eine Parallelität zwischen der schon lange beobachteten Zweiteilung54 der „Bibliotheke“ in Zusammenfassungen, ὑποθέσεις (Kap. 1–233) und reine Exzerptsammlungen (Kap. 234–280) auf der einen und der Aktivität von zwei Schreiberteams (Hände A/B bzw. C/D/E/F/G) auf der anderen Seite.55
–
Der Pinax von A wurde vom Hauptkopisten (A) auf Grundlage der Handschrift A selbst erstellt – vielleicht sogar in zwei Arbeitsphasen, analog zur Zweiteilung des Codex bzw. der „Bibliotheke“.56
c) Wenn die synthetische Kompositionsstruktur der „Bibliotheke“ auch schon seit langem bekannt war, stand es bis hierhin schlicht nicht zur Debatte, diese gedanklich mit unserer handschriftlichen Überlieferung zu verknüpfen, da der älteste uns erhaltene Codex, A, gemeinhin auf nach-photianische Zeit (10.– 12. Jh.) datiert worden war.57 Die neuentdeckte Rolle von Codex A als ‚Urschrift der „Bibliotheke“‘ hat nun aber eine, was die Bewertung der Überlieferung betrifft, schwerwiegende Konsequenz: Es kann nun überhaupt keinen
50
Skeptisch gegenüber Canforas Verknüpfung der Neudatierung von Codex A durch Cavallo mit der Überlieferung der „Bibliotheke“ äußerst sich Schamp, Kindt [Anm. 3], S. XLI, Anm. 140. 51 Vgl. im Allgemeinen Micunco [Anm. 4], S. LXXIII. 52 Maria Rosaria Acquafredda: Un documento inesplorato: il Pinax della Biblioteca di Fozio, Bari 2015, S. 25–52. 53 Das Vorwort (f. 1r) und der Pinax (1v–4v) sind in A – nach der etwas kleiner gehaltenen Schrift des Kopisten A1 zu schließen – erst nachträglich auf in der ersten Lage zunächst freigelassenen Blättern geschrieben worden. Vgl. Acquafredda [Anm. 52], S. 51 und Canfora [Anm. 2], S. XXVII. Vgl. auch Filippo Ronconi: La Bibliothèque de Photius et le Marc. Gr. 450, Recherches préliminaires, in: Segno e Testo 10, 2012, S. 249–278, hier: S. 258–265, sowie Micunco [Anm. 4], S. LXX–LXXII und LXXVII–LXXVIII. 54 Siehe oben „I. Zum Wesen der ‚Bibliotheke‘“. 55 Vgl. Ronconi [Anm. 53], S. 272–274, Ronconi [Anm. 49], S. 109–118, und Filippo Ronconi: Il Moveable Feast del Patriarca. Note e ipotesi sulla genesi della Bibliotheca di Fozio, in: Nel segno del testo. Edizioni, materiali e studi per Oronzo Pecere, hg. v. Lucio Del Corso, Franco De Vivo, Antonio Stramaglia, Florenz 2015, S. 203–238, hier: S. 205–206. 56 Ronconi [Anm. 53], S. 257–270, Ronconi [Anm. 49], S. 112–114, und Acquafredda [Anm. 52], S. 51. 57 Vgl. Martini [Anm. 7], S. 7.
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Archetypus mehr im „Maasschen“ Sinne geben, da mit A – wenn auch nicht das echte Autograph des Photios –,58 jedenfalls aber ein „quasi autografo“59 und somit das ‚Original‘ der „Bibliotheke“ auf uns gekommen ist. Da die „Maassche Methode“ ihr Ziel nun aber mit der „Herstellung eines dem Autograph (Original) möglichst nahekommenden Textes“60 definiert, beschränkt sie sich per definitionem auf Fälle, in denen das Autograph bzw. „Original“ eines Textes nicht erhalten ist. d) Wenn die „Bibliotheke“ nun aber im Codex A ‚geschaffen‘ wurde, muss – in welcher Weise auch immer – auch Handschrift M von ihm abhängig sein. Es ist nämlich auszuschließen, dass eine zweite, von A völlig unabhängige Zusammenstellung der Photianischen Zusammenfassungen (ὑποθέσεις) und Notizheftchen (σχεδάρια) zu einem dem Codex A so ähnlichen Ergebnis führen konnte.61 Insbesondere die Tatsache, dass der Pinax von M nicht in erster Linie mit dem Text von M selbst in Übereinstimmung steht, sondern dem Pinax bzw. Text von A folgt, wiegt schwer.62 e) Nach der klaren Neuverortung von Codex A als Ursprung der Überlieferung haben die früher als „Bindefehler von A und M“ geltenden Fälle natürlich keinerlei Bedeutung und bedürfen auch keiner Begründung mehr.63 Allerdings muss nun für all jene Stellen oder Kapitel eine Erklärung gefunden werden, die nie in A enthalten waren,64 aber in M überliefert werden und dabei nicht auf einen Eingriff des ‚M-Redaktors‘ suo ingenio zurückgeführt werden können. Diese Fälle lassen sich nur durch die Annahme einer wie auch immer gearteten ‚Umgehung von A‘, und damit einen Rückgriff auf ‚Photianische Materialien‘, d.h. die Photianischen Zusammenfassungen (ὑποθέσεις) und Notizheftchen
58
Identifizierte autographe Schriftproben des Photios sind bisher unbekannt. Obwohl Photios bekanntlich in den sog. Amphilochia über den Mangel an Schreibern (Photii Patriarchae Constantinopolitani Epistulae et Amphilochia, rec. B. Laourdas, L. G. Westerink, V, Leipzig 1986, 78,13: τῶν ὑπογραφέων τὸ ἄπορον) während seiner Exilzeit (siehe oben, Anm. 28) klagt, ist es nicht wahrscheinlich, dass es sich bei einer der in Codex A zu beobachtenden Hände (vgl. Cavallo [Anm. 46], S. 158–162) um Photios selbst handeln sollte. 59 Canfora [Anm. 2], S. LI. 60 Maas [6], S. 5. 61 Text-Invarianz kann unter Umständen erklärungsbedürftiger und aussagekräftiger sein als Text-Varianz; vgl. etwa Peter Strohschneider: Situationen des Textes. Okkasionelle Bemerkungen zur „New Philology“, in: Zeitschrift für deutsche Philologie, Sonderheft, 116, 1997, S. 65–86, hier: S. 81. 62 Vgl. Acquafredda [Anm. 52], S. 51–52. 63 Sie finden nun ihre einfache Erklärung einerseits in Fehlern eines der A-Kopisten beim Abschreiben der Photianischen Materialien, andererseits durch die Tatsache, dass M – trotz Überarbeitung – gewisse Fehler von A beibehalten hat. 64 Im Falle der Kap. 238, 240, 278 und 280 zeigt der mechanische Ausfall in A und zudem für 238, 278 und 280 der Inhalt des A-Apographons B (siehe oben Anm. 37), dass diese Kapitel ursprünglich auch Teil von A waren.
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Die Überlieferung der „Bibliotheke“ des Photios und die Frage nach dem Archetypus
(σχεδάρια), durch den Redaktor der M-Version erklären.65 Der Stand der neueren Forschung lässt sich also wie folgt zusammenfassen: L’ipotesi più verosimile pare dunque che sì, chi ha allestito l’esemplare da cui M discende abbia potuto fare ricorso ai materiali foziani [d.h. die redigierten und nicht-redigierten σχεδάρια]; ma la guida nel lavoro di ‚sistemazione editoriale‘ sia stata A.66
Ä3KRWLDQLVFKH0DWHULDOLHQ³
A YHUEHVVHUW DQJHUHLFKHUW
* M
Struktur der Überlieferung der „Bibliotheke“ den Ergebnissen der neueren Forschung zufolge (vgl. Micunco [Anm. 4], LXXIII).
Gemäß den Neuerkenntnissen müsste daher ein solcher Rückgriff des Redaktors (der Vorlage) von M für zwei Kategorien von Text angenommen werden: a) Für nur in M vorhandene kürzere Textstellen, die nicht ohne Korrekturvorlage bei der Abschrift aus A verbessert werden konnten.67 b) Für in A fehlende und nur in M überlieferte Kapitel, d.h. Kap. 185 und 279. Nummer „185“ wurde in Codex A übersprungen (auf f. 124v, von ρπδ′ = 184 zu ρπϚ′ = 186), sodass dieses Kapitel nur in M überliefert wird und nie Teil von A gewesen ist. Kap. 279 (Helladios) hingegen fällt in den Bereich des Schlussstücks der Handschrift A, das durch späteren mechanischen Ausfall verloren gegangen ist (ab ungefähr der Mitte von Kap. 278 [527b34]). Da das Kapitel 279 jedoch weder in dem von erster Hand geschriebenen Pinax von A genannt wird noch im Paris. gr. 1266 (B), Abschrift von A aus dem 13. Jh.68 enthalten 65
Micunco [Anm. 37], S. 101–113, und Micunco [Anm. 4], S. LXIX–LXX bzw. LXXIII– LXXIV, erachtet es als möglich, dass auch einige Lesarten des Parisinus B (siehe oben, Anm. 37) auf „materiali antecedenti al manoscritto A“ (Micunco [Anm. 4], S. LXXIV), d.h. im Grunde sogar auf die σχεδάρια selbst zurückgehen könnten. 66 Ebd. [Anm. 4], S. LXXIII. 67 Vgl. die 25 von Martini ausgewählten ‚Trennfehler‘ von A gegenüber M (siehe oben, Anm. 35) „und zahlreiche andre [sic], die hier aufzuzählen zu weit führen würde“ (Martini [Anm. 7], S. 53). 68 Siehe oben, Anm. 37.
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ist, geht die communis opinio davon aus, dass es ebenfalls nie Teil von A gewesen ist.69 Aus methodischer Sicht lässt sich also über die in diesem Absatz vorgestellten Ergebnisse der neueren Forschung zur Überlieferung der „Bibliotheke“ feststellen, dass eine – in der Paläographie durchaus nicht ungewöhnliche –70 Korrektur einer jahrhundertelang übernommenen Handschriften-Datierung (A) die Voraussetzungen, unter denen die Überlieferung der „Bibliotheke“ betrachtet werden muss, in einer unerwartet deutlichen Weise geändert hat: Der bis dahin im Grunde als völlig sicher (zu) geltende Gesamtbefund einer die ganze „Bibliotheke“ gleichermaßen betreffenden zweigeteilten Überlieferung mit Archetypus muss nun auf einmal als unmögliche Konstruktion erscheinen, sodass damit, wie Micunco zutreffend formuliert hat, auch eine starre Anwendung der „(Lachmann-)Maasschen Methode“ in der Tat nur ins Leere laufen kann.
V. Die grundlegende Abhängigkeit des Codex M vom ‚Original‘ A Die Ergebnisse der neueren Forschung führen zu einer eindeutigen Fragestellung, was die Textkonstitution der „Bibliotheke“ betrifft: Auf welchen Textzeugen darf bzw. muss die constitutio textus in der nächsten Edition der „Bibliotheke“ aufruhen?71 Fraglos ist nämlich eine (mehr oder minder subjektive) Variantenauswahl zwischen den Lesarten von A und M, wie es im Lichte der früheren Rekonstruktion der Überlieferung geboten war, nun völlig unmethodisch. Vielmehr stellt sich die Frage, ob man nicht auch hier in einer Weise verfahren muss, die im Falle eines Textes mit zwei oder mehreren, in der handschriftlichen Überlieferung abgrenzbaren Autorfassungen geboten ist: Bekanntlich hat der Editor in solchen Fällen eine Entscheidung zu treffen, welche Fassung sinnvollerweise zu edieren ist und welcher(/-n) Handschrift(en) er somit
69
Vgl. Martini [Anm. 7], S. 50–53, Niccolò Zorzi: Studi sulla tradizione della Bibliotheca di Fozio: il ms. Marc. gr. 450 (= 652). Con uno specimen di edizione dei marginalia e un capitolo su Teodoro Scutariota, unpubl. Diss., Universität Padua 1998, S. 50; Jacques Schamp: Photios abréviateur, in: Condensing texts – condensed texts, hg. v. Marietta Horster, Christiane Reitz, Stuttgart 2010, S. 649–734, hier: S. 650, Anm. 5; Canfora [Anm. 2], S. LXIII, Anm. 174; Acquafredda [Anm. 52], S. 45 und Micunco [Anm. 4], S. LXXIII, Anm. 91. 70 Man denke nur an die spektakuläre Vordatierung des Ioannikios-Ateliers durch Nigel Wilson: A mysterious Byzantine scriptorium. Ioannikios and his colleagues, in: Scrittura e Civiltà 7, 1983, S. 161–176, aus dem 14. ins 12. Jh. 71 Es ist merkwürdig, dass diese Frage bisher nicht ausgesprochen geschweige denn diskutiert worden ist. So lässt insbesondere die neue griechisch-italienische Ausgabe der „Bibliotheke“ von Bianchi und Schiano keinerlei Konsequenzen für die Textkonstitution bzw. Diskussion darüber erkennen (siehe oben, Anm. 1), obwohl die genannten Neuerkentnisse hinsichtlich Codex A – wie das obige Zitat aus Micuncos Einleitung zur Überlieferung deutlich zeigt –, in derselben Ausgabe deutlich herausgestellt worden sind.
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Die Überlieferung der „Bibliotheke“ des Photios und die Frage nach dem Archetypus
folgen muss.72 Dabei kann es durchaus angemessen sein und ist nicht unüblich, der letzten als der reifsten Textstufe den Vorzug zu geben.73 Da man nun, wie zu sehen war, in dem durch M bezeugten, vollständigeren Text der „Bibliotheke“ nicht ohne Grund eine „sistemazione editoriale“74 und eine „fase redazionale della Biblioteca più avanzata e più completa”75 zu erkennen geglaubt hat, gilt es also zu fragen, ob nicht auch im Falle der „Bibliotheke“, soweit möglich, der späteren, vollständigeren Handschrift bzw. Fassung (M) zu folgen sei. Schnell wird jedoch klar, dass ein solcher Schritt methodisch nicht vertretbar ist: Nicht nur ist mehr als zweifelhaft, inwiefern wir es überhaupt – die komplexe Entstehung der „Bibliotheke“ einmal beiseite gelassen – beim Text (der Vorlage) von M mit einer echten ‚Autorfassung‘ zu tun haben;76 auch die Tatsache, dass der Pinax von M die Situation in A abbildet,77 und auch im Text von M viele mehr oder minder kurze Passagen78 und das ganze Kapitel 202 fehlt, zeigt die Grenzen der ‚Überlegenheit‘ dieser ‚Fassung‘. Doch das entscheidende 72
Zum Problem und den Methoden der Edition eines Textes im Falle von multiplen Autor-Fassungen vgl. Hilarius Emonds: Zweite Auflage im Altertum, Kulturgeschichtliche Studien zur Überlieferung der antiken Literatur, Leipzig 1941, v. a. S. 6–9; Martin West: Textual Criticism and Editorial Technique, Stuttgart 1973, S. 70; Paolo Trovato: Everything You Always Wanted to Know about Lachmann’s Method. A Non-Standard Handbook of Genealogical Textual Criticism in the Age of Post-Structuralism, Cladistics, and Copy-Text, Revised edition, 2. Aufl., Padua 2017, S. 161–164, und Oliver Primavesi: Philologische Einleitung, in: Aristoteles: De motu animalium, Über die Bewegung der Lebewesen, Historisch-kritische Edition des griechischen Textes und philologische Einleitung von Oliver Primavesi: Deutsche Übersetzung, philosophische Einleitung und erklärende Anmerkungen von Klaus Corcilius, Hamburg 2018, S. XI–CXLIV, hier: XXXIII–XXXV. 73 Vgl. etwa die Ausgaben der mittelalterlichen griechisch-lateinischen Übersetzungen des Aristoteles Latinus, z.B. Aristoteles Latinus (XXV 3.1/2), Metaphysica lib. I–XIV, Recensio et Translatio Guillelmi de Moerbeka, Praefatio et Editio textus, hg. v. Gudrun Vuillemin-Diem, Leiden 1995. 74 Micunco [Anm. 4], S. LXXIII. 75 Acquafredda [Anm. 52], S. 52. 76 Aus paläographisch-historischer Sicht ist die Fertigstellung der „Bibliotheke“ in Codex A an das Lebensende des Photios zu datieren, sodass es schon aus dieser Hinsicht fraglich ist, ob er selbst mit einer Rezension in Verbindung gebracht werden kann. Zur Mehrschichtigkeit des ‚M-Textes‘ siehe unten, Kapitel VI. 77 Siehe oben, Anm. 62. 78 Die in Henrys Apparat vermerkten Textomissionen mehrerer Wörter oder gar Sätze in M finden sich in allen Teilen der „Bibliotheke“ (9a28–29; 17b19–23; 23b33–34; 29a8; 40b30; 41b46–37; 42a3–5, 43a2–3; 50a3–4; 71b29; 75a14; 93b19–30; 113b8–9; 151b31–32; 163a19–23; 170a6; 178a31–32; 207a1–2; 208a9; 209b37; 260a6–7; 265a16–17; 269a39–41; 293b37–39; 294a38; 297a3–4; 305b17–18; 307b40; 310a18–21; 25–28; 311b35; 312a7–8; 313b19–26; 318b22; 319a2; 319a33–35; 321a7–8; 321a35; 322a2; 327b32; 339a23–24; 365b28– 29; 370a14–17; 374b3–8; 388b3–4; 389a32; 393a38–b1; 406a3–4; 409a8–9; 409b1–2; 412a19–20; 414a37–38; 415a33–34; 422b18; 423a8–10; 426a23–26; 427b25–26; 428b3–5; 429b5–9; 30–32; 433a28–30; 435b5–6; 436b15–16; 437a9–10; 24; 441b20; 447b39–40; 460b17–20; 465a12; 467b17; 469a5; 469b15–16; 477b23–24; 481b11–12; 500a38; 507b17–18) und sind ohne Zweifel zahlreicher als jene von A (siehe die Tabelle unten, S. 341).
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Argument gegen eine Bevorzugung von M und für eine höchstmögliche Priorisierung des A-Textes, des ‚Originals‘ der „Bibliotheke“, besteht in der Tatsache, dass die M-Fassung in viel geringerem Ausmaß als angenommen und nur punktuell durch Rückgriff auf die ‚Photianischen Materialien‘ gegenüber Codex A erweitert worden und daher also in viel größerem Maße von A abhängig ist, als man gemeinhin anzunehmen pflegte. Es lassen sich dafür drei wichtige Argumente anführen: 1. Kap. 185 – eine Dublette von Kap. 211: Schon bisher war bekannt, dass der Inhalt des in A von Anfang an fehlenden Kapitels 185 (Dionysios von Aegeae) bis auf weniges identisch ist mit jenem von Kap. 211. Es besteht kein Zweifel, dass für die beiden Kapitel schlicht ein und dasselbe Notizheftchen (σχεδάριον) zwei Mal verwendet worden ist79 – wie es wohlgemerkt auch in 14 anderen Fällen in der „Bibliotheke“ vorkommt –80 und der ‚M-Redaktor‘ das Problem des Fehlens von Nummer „185“ in A durch Einfügen dieser Dublette gelöst hat. Ein Vergleich der beiden Bearbeitungen desselben ‚Dionysios-σχεδάριον‘ zeigt nun auch, dass dessen auch in A vorhandene frühere ‚Fassung‘, das Kap. 211 (168b21–169b16), durch eine Kurzeinleitung zu Werk und Stil gewisse Charakteristika einer Photianischen Zusammenfassung (ὑπόθεσις) aufweist, wie sie in den Kapiteln 1–233 vorkommen, während das erst in der M-Redaktion hinzugekommene Kap. 185 (129b12–130b23) etwas länger ist und eine bloße Aneinanderreihung der den Inhalt wiedergebenden Punkte darstellt.81 Der ‚Redaktor der MFassung‘ bringt hier also keineswegs etwas völlig Neues, sondern glättet lediglich die durch die Auslassung von Nr. 185 in A entstandene Unebenheit durch den Rückgriff auf ein Notizheftchen (σχεδάριον), dessen Inhalt bereits (durch Photios leicht) überarbeitet als Kap. 211 in die „Bibliotheke“ Eingang gefunden hatte. 2. Kap. 279 war einst doch Teil des Marcianus A: Es konnte vor kurzem gezeigt werden,82 dass das andere als für in A fehlend erklärte Kapitel, 279 (Helladios), einst doch Teil des Codex A gewesen sein muss – obwohl es im Pinax nicht verzeichnet ist. Das Fehlen des Helladios-Titels kann aufgrund der großen Unregelmäßigkeiten am Ende des Pinax83 ohnehin nicht ungeprüft mit dem Fehlen des Kapitels als solchem gleichgesetzt werden: Denn bereits nach dem Titel des 79
Vgl. Canfora [Anm. 2], S. XLII–XLIII. Vgl. Treadgold [Anm. 12], S. 41 mit Anm. 13. Die Kap. 15/88, 43/240, 44/241, 49/169, 61/264, 70/244, 76/238, 144/191, 159/260, 165/243, 181/242, 185/211, 213/250, 214/251 stellen inhaltliche Dubletten dar, 182/208/280 sogar eine Triplette. 81 So schließt etwa in Kap. 211 sowohl die Einführung (168b32–33 Ἡ δὲ ὑπόθεσις λέγει ταῦτα – ‚Die Hypothesis lautet wie folgt‘) als auch das Ende des ganzen Kapitels (Ταῦτα καὶ ἡ ὑπόθεσις διατείνεται – ‚Und dies ist, was die Hypothesis umfasst‘) mit dem Begriff der ὑπόθεσις. Des Weiteren nimmt Kap. 211 im Gegensatz zu Kap. 185 u.a. die 100 Punkte, in die der Inhalt des Werkes zerfällt, geschickt in nur 50 zusammen. 82 Isépy [Anm. 10], Kap. 4–6. 83 Am Ende von fol. 4v, vgl. in Isépy [Anm. 10], S. 230, Pl. II oder Acquafredda [Anm. 52], 115, tav. VIII. 80
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Kapitels 278 (Theophrast) hatte der Schreiber des Pinax mit einem eindeutigen Zeichen das Ende des Inhaltsverzeichnisses markiert84 und erst in einem späteren Schritt noch Kap. 280 (Eulogios) – aufgrund des Platzmangels am Seitenende in einer auffallend gedrängten und von Abkürzungen gekennzeichneten Schrift – hinzugefügt. In diesem Lichte erscheinen die nach Nr. 278 folgenden Kapitel als eine – warum auch immer benötigte – Zugabe85 und es besteht immerhin die Möglichkeit, dass das Helladios-Kapitel bei der sekundären Erweiterung des Pinax schlicht versehentlich oder aufgrund des offensichtlichen Platzmangels nicht eingetragen worden ist. Dass aber Kapitel 279 (Helladios) einst tatsächlich Teil von Codex A gewesen ist, wird nun dadurch bewiesen, dass in den von ein und demselben Kopisten im 14. Jh.86 kopierten Handschriften Vat. gr. 2222 (v) und Cambridge Trinity College, O.I.5 (1029) (I) (bzw. ihrer Abschrift Cambridge Trinity College O.5.23 [1304], c, aus dem 16. Jh.) eine von M abweichende und bisher in keiner Edition herangezogene Textfassung des Helladios-Kapitels überlebt hat.87 Der aus v und I(c) rekonstruierte Text weist nun sowohl einerseits einen ursprünglichen Charakter auf, wie er von Severyns einst für den A-Text im Falle von Kap. 239 beobachtet worden ist,88 als auch hat er im Falle der Fehler von M den richtigen Text bewahrt.89 Dass es sich hierbei tatsächlich um eine (mittelbare?) Kopie eines Teils des im Laufe der Zeit ausgefallenen Endstückes von Codex A (Mitte Kap. 278 bis zum Ende der „Bibliotheke“)90 handeln muss (= A†), wird durch mehrere Umstände nachgewiesen:
84
Vgl. Isépy [Anm. 10], S. 215. Der Doppelpunkt mit verziertem Paragraphos in Tildenform steht im Codex A nur am Ende von Kapiteln (vgl. Martini [Anm. 7], S. 11 bzw. Severyns [Anm. 7], S. 21) und kommt im Pinax nur hier vor. Zur Bedeutung dieses Zeichens im (Inhaltsverzeichnis von) Codex A, vgl. auch Ronconi [Anm. 53], S. 258–259, Ronconi [Anm. 49], S. 124–125, und Acquafredda [Anm. 52], S. 45. 85 Siehe das Folgende unter V. 2. c). 86 Dem Duktus bzw. den Wasserzeichen nach zu urteilen, handelt es sich um eine Schrift der sog. „tendenza tricliniana“ (vgl. Lidia Perria: Γραφίς – Per una storia della scrittura greca libraria [secoli IV a. C.–XVI d. C.], Roma 2011, S. 151), wohl auf der Peloponnes in den 1330/40er-Jahren zu lokalisieren. Vgl. Isépy [Anm. 10], S. 206–210. 87 Diese Textfassung war jedoch Johannes van Meurs (1579–1639) bekannt, der mithilfe einer Abschrift des Cantabrigiensis O.5.23 in seinen postum veröffentlichen Anmerkungen (Ἐλλαδίου Βησαντινόου Χρηστομάθειαι, Helladii Besantinoi Chrestomathiae, Cum notis Joannis Meursi, Ultrajecti 1686) punktuell den von der Editio princeps gebotenen Text verbessern konnte. Vgl. Isépy [Anm. 10], S. 206–210. 88 Siehe oben, Anm. 40, und unten, Anm. 139. 89 Zur constitutio textus des Hellados-Kapitels und seiner Edition vgl. Isépy [Anm. 10], S. 221–228 und Peter Isépy: Preliminary Text of Photius’s Bibliotheca c. 278 [279] – the Chrestomatheiai of Helladius of Antinoupolis (erscheint 2021 in der Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik). 90 Siehe oben, Anm. 37.
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a) Das im Cantabrigiensis und Vaticanus als klar abgegrenzte Partie zwischen verschiedenem anderen überlieferte Kapitel beginnt ohne Titel und Textanfang. Es handelt sich also um die Abschrift einer akephalen, beschädigten Vorlage.91 b) Der Vaticanus überliefert zudem – und zwar nicht vor, sondern nach dem Helladios-Kapitel „279“ (!) – eine kleine Passage aus Kap. 278 der „Bibliotheke“ (Theophrast), das ebenfalls in das fehlende Ende von Codex A fällt. Nun sind aber sowohl das (akephale) Helladios-Kapitel als auch das im Vaticanus darauffolgende Fragment aus Kap. 278 nicht im Paris. gr. 1266 (B) aus dem 13. Jh. enthaltenen, der aus A abgeschrieben wurde, als dessen Ende bereits beschädigt worden war.92 Die Tatsache, dass in verschiedenen Handschriften (B, I, v) zueinander komplementäre Fragmente ein und derselben Textfassung (‚A‘)93 überlebt haben, weist auf ihre gemeinsame Quelle hin.94 c) Die programmatische Zahl der 279 Kapitel der „Bibliotheke“ wird von Photios drei Mal – im Widmungsschreiben, im Titel und im Schlusswort –95 genannt. Dies zeigt jedenfalls, dass Photios den in der „Bibliotheke“ zusammengestellten Stoff bewusst in gerade diese Anzahl an κεφάλαια (Kapiteln) – drei Mal unterschiedlich formuliert als eine Form von 300-21 – eingeteilt hat.96 Dass er zur Anzahl 279 nicht aufgrund des Pinax von A gelangt sein kann, wird daraus ersichtlich, dass dieser in seiner ursprünglichen Form auf 278 (σοη′)
Der Text beginnt mit der zweiten ὅτι-Passage des Kapitels, ὅτι Διονύσιός φησι (529b29) und wurde daher auch für eine Epitome aus dem Werk des Dionysios Attikistes gehalten. Vgl. den von Henry Scrimgeour (†1572) im Cant. O.5.23 eingetragenen Titel κατὰ τὴν ἐπιτομήν τινα ἐκ τῶν διονυσίου τοῦ ἀττικιστοῦ, den auch Patrick Young in seinem Brief an van Meurs vom 31.10.1624 nennt (ex Codice Henrici Scrimgeri magni avunculi mei excerpta quaedam Διονυσίου Ἀττικιστοῦ adiungo; Johannes Kemke: Patricius Junius (Patrick Young), Bibliothekar der Könige Jacob I. und Carl I. von England, Mitteilungen aus seinem Briefwechsel, Leipzig 1898, Nr. 85). Vgl. Isépy [Anm. 10], Anm. 104 und 106. 92 Codex B schließt in Kap. 278 mit dem letzten kompletten ὅτι-Abschnitt (527b24 εὐθηνήσωσιν), wenige Zeilen, bevor in seinem Modell A der heute zu beobachtende Abbruch kommt (527b34 ταχεῖαν). Ohne sichtbare Lücke setzt er erst wieder am Ende des Kapitels ein (528b37 ὅτι οἱ παῖδες bis zum Ende, d.h. 529b23), worauf dann Kap. 280 folgt, das dann ungefähr bei der Hälfte inmitten eines Satzes unvermittelt abbricht (p. 359, 540b7 αὐτοῦ). Zur Zeit der Abschrift von B war also einerseits bereits die auch heute zu beobachtende Beschädigung in A eigetreten (527b34), andererseits hatte der Kopist aber noch Zugriff auf gewisse (lose?) Textstücke. Vgl. dazu Isépy [Anm. 10], S. 211–217. 93 Dass das Theophrastus-Fragment in v keinerlei klare Übereinstimmung mit A (oder auch M) aufweist, ist unerheblich für die Argumentation, da es sich um einen sehr kurzen Textabschnitt handelt (528a40–b22). 94 Vgl. Isépy [Anm. 10], S. 211–217 und insbesondere die dort zu findende Synopse zur Überlieferung des Endes der „Bibliotheke“. 95 Siehe oben, Anm. 10. 96 Zu der möglicherweise kryptischen Bedeutung der Ziffer 279 vgl. Canfora [Anm. 2], S. LIII–LVI und Acquafredda [Anm. 52], S. 23, Anm. 23). 91
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Kapitel kommt.97 Wenn Codex A wirklich die ‚Ur-„Bibliotheke“‘ ist, so sollte man erwarten können, dass die programmatische Zahl 279 – wenn schon nicht im Pinax abgebildet – mit der Anzahl der Kapitel in der Handschrift selbst korrespondiert. Nimmt man nun jedoch alle Kapitel zusammen, die ursprünglich sicher in A enthalten waren (d.h. auch die heute teilweise fehlenden 238, 240, 278 und 280), beachtet dabei aber, dass ein echtes Kap. „89“ und „185“ nie existiert hat und lässt Kap. 279 (Helladios) zunächst beiseite, so ergibt die Addition die Anzahl von lediglich 277 Kapiteln. Es ist unwahrscheinlich, dass nach dem Pinax auch der Inhalt der Handschrift A selbst nicht mit der Zahl von 279 übereinstimmen sollte, zumal Photios nicht nur das Nachwort, sondern auch den Widmungsbrief erst am Ende der Arbeiten an A abgefasst zu haben scheint.98 Vielmehr muss im Lichte dieser deutlichen Differenz von zwei fehlenden Kapiteln (277 : 279) – soweit nichts anderes dagegenspricht –, ein ja vorhandenes, aber noch nicht in die Rechnung miteinbezogenes Kap. 279 (Helladios) in Gestalt des ‚A-Textes‘ ohne Frage als ursprünglicher Teil von Codex A gewertet werden. Des Weiteren zeigt die Differenz 277 : 279 eine auffällige Verbindung zum unübersichtlichen Ende des Pinax (siehe oben): Dass man bei einer konsequenten Durchzählung der Kapitel in Codex A auf gerade nur 277 Abschnitte kommt, könnte nämlich auch der Grund für die durch den Befund im Pinax eindeutig belegte sekundäre Erweiterung der „Bibliotheke“ nach Kapitel „278“ (Theophrast) gewesen sein.99 All dies zeigt also, dass es – entgegen früheren Annahmen – kein einziges Kapitel im Sinne neuen Stoffes gibt, das nicht schon in A vorhanden gewesen (vgl. Kap. 185) und erst in der M-Redaktion hinzugefügt worden wäre.100 Die ‚MRedaktion‘ spiegelt daher noch mehr, als bisher schon gesehen worden ist, die Struktur von Codex A wider, ohne – über kleinere Ergänzungen hinaus – strukturell entscheidend Neues hinzuzfügen. 3. Der nur punktuelle Rückgriff durch den M-Text auf die ‚Photianischen Materialien‘: Überblickt man nun den ganzen Text der „Bibliotheke“ entlang des Apparates der Edition von Henry, zeigt sich als drittes Argument für die grundsätzliche Abhängigkeit des Codex M von A, dass die M-Redaktion nur für bestimmte Kapitel des zweiten Teils der „Bibliotheke“ einen deutlichen Rekurs auf die „Photianischen Materialien“ unternommen hat.
97
Zum Folgenden vgl. Isépy [Anm. 10], S. 217–221. Zur sekundären Eintragung u.a. des Vorwortes in Codex A siehe oben, Anm. 53. 99 Um schließlich die volle Anzahl der „279“ „Bibliotheke“-κεφάλαια zu erreichen, kommt als letztes fehlendes Element Kap. 185 in Frage, das der M-Text ja (im Gegensatz zu einem Kap. 89; siehe oben, Anm. 10) neu hinzugenommen hat (siehe oben, V. 1). 100 Im Vergleich dazu ist das in M fehlende Kapitel 202 keine Dublette. 98
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Martini hat die vermeintlich vollständige Unabhängigkeit des M-Textes von A – neben dem Fehlen von Kap. 185 in A – anhand von 25 ausgewählten Stellen101 beweisen wollen, an denen A im Gegensatz zu M einen Textausfall (in der Regel aufgrund eines saut du même au même) aufweist.102 Bereits Micunco hat auf den bedeutsamen Umstand hingewiesen, dass 23 (!) der von Martini aufgezählten Fälle im zweiten Teil der „Bibliotheke“, d.h. im Bereich der ExzerptKapitel (234–280) zu finden sind, und auch die beiden Stellen aus dem ersten Teil nicht die Worte des Photios betreffen bzw. ein freihändiger Zusatz in M zu sein scheinen.103 Die Feststellung Micuncos lässt sich nun aber auf die gesamte „Bibliotheke“ erweitern: Die „zahlreichen anderen Auslassungen“104, auf deren Nennung Martini verzichtet hatte, befinden sich keineswegs, wie man durchaus glauben konnte, über den ganzen Text der „Bibliotheke“ verteilt, sondern allesamt in der zweiten, der ‚Exzerpt-Hälfte‘ des Werks. Damit nicht genug: Auch hier sind die am M-Text gemessenen ‚Auslassungen‘ von A in lediglich einer geringen Anzahl, nämlich in nur etwa 20 (!) Kapiteln, kondensiert. Martinis 25 Stellen miteinbezogen, sind dies die folgenden Kapitel:
101
Siehe oben, Anm. 35 und 67. Vgl. Martini [Anm. 7], S. 50–53, und siehe oben, Anm. 35. 103 Vgl. Micunco [Anm. 4], S. LXXIII. In der Tat muss der in A zu beobachtende Ausfall von 19a17–18 ὅτι ὑβρίζει τοὺς ἐπισκόπους καὶ ἐκπιγγάτους κελεύει ἐκβληθῆναι τῆς οἰκίας αὑτοῦ∙ δωδέκατον (saut du même au même ὅτι __ὅτι), d.h. des 12. der 17 Punkte in der Aufzählung der Anklagepunkte des Bischofs Isaakios in seinem Büchlein gegen Johannes Chrysostomos (Kap. 59 über die Akten der sog. „Eichensynode“, 403), aus einer Zusatzvorlage im M-Text ergänzt worden sein. Der andere Fall, die ‚Auslassung‘ 73b12–13 μετά τε___Δίωνα (Kap. 93), stellt zwar aus technischen Gesichtspunkten erneut einen Sprung vom Gleichen zum Gleichen dar, kann aber durchaus eine freihändige, kommentierende Hinzufügung des M-Redaktors gewesen sein; vgl. Micunco [Anm. 4], S. LXXIII, mit Anm. 94 (S. LXXXIV) und Stefania Montecalvo in: Bianchi, Schiano [Anm. 1], S. 1027. 104 Vgl. Martini [Anm. 7], S. 53 und siehe das Zitat oben, Anm. 67. 102
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erster Teil: Kap. 1–233 (ὑποθέσεις)105 Kap. 59107, 185108
zweiter Teil: Kap. 234–280 (σχεδάρια)106 Kap. 234109, 236110, 237111, 238112, 239113, [240114,] 241115, 242116, 243117, 244118, 245119, 246120, 247121, 248122, 249123, 250124, 258125, 277126, [278127], 279128, [280129]
105
Zu Kap. 93, 73b12–13, Martinis ‚Fall 2‘ siehe oben, Anm. 103. Kap. 257, 474a23–24 τοῦ Κωνσταντιωουπόλεως ἐπισκόπου M : om. A und Kap. 276, 513b39–40 μεμόρφωται, μᾶλλον δὲ ἀληθῶς εἰπεῖν M : om. A erscheint mir eine freie Einfügung im M-Text zu sein. Kap. 269, 497b36–41 (Martini 22) fehlt zwar als Anfangssatz des Kapitels im Text, ist jedoch im Pinax von A überliefert. Kap. 276, 513b39–40 μεμόρφωται, μᾶλλον δὲ ἀληθῶς εἰπεῖν M : om. A. 107 Zu 19a17–18, Martinis ‚Fall 1‘, siehe oben, Anm. 103. 108 Siehe oben, V. 1). 109 295b2–3, 295b31 (Martini 3 u. 4). 298a2–3 om. A, könnte auch eine freie Einfügung im M-Text sein. 110 305a16, 307a11–12 (Martini 5 u. 6), 307a32–33 (ἀντίκειται, ἀλλήλοις δὲ ταῦτα ἀντίκειται M : ἀντίκειται A), 307a41–b1, 307b8 (Martini 7 u. 8). 111 311a36–38 (Martini 9), f. 323r. Martini [Anm. 7], 51 lässt die Lücke aber fälschlicherweise bereits ein Wort früher, bei λέγει beginnen. 313a11–12 om. A, könnte auch eine freie Einfügung im M-Text sein. 112 315b19 (Martini 10). Der zweite Teil des Kapitels ab 316a35 ἀνεῖλε fehlt in A wegen mechanischen Ausfalls, vgl. Martini [Anm. 7], S. 9. 113 318b27 (Martini 11), f. 300v. Martini [Anm. 7], 51 bezeichnet das Ende der Lücke jedoch fälschlicherweise bereits ein Wort früher, mit μὲν. 114 Das Kapitel fehlt aufgrund eines sekundären mechanischen Ausfalls, vgl. Martini [Anm. 7], S. 9, Anm. 1. 115 324b28–32 (Martini 12). 116 346a25–26, 348a2 (Martini 13 u. 14), 352b22–23 (περιαλγήσασα, καὶ παιᾶνα καλέσασα M : περιαλγήσασα A). 117 354b37–38, 361b9–11, 361b14–15 (Martini 15, 16a, 16b), 364b27 (καὶ πρὸ τῆς πείρας ἐβούλευσεν M : om. A : πεποίηκεν A2 in marg.; siehe unten Anm. 161), 369b14–15 (Martini 17). 355a16 οὐχ οὕτω δ’ ἔχειν edd.: οὐχ οὕτως ἔχειν M : om. A könnte auch eine freie Einfügung im M-Text sein. 118 388a4–7 (τῶν ἀποστατῶν ὡς δὴ συμμεθέξων τοῦ κατὰ Ῥωμαίων πολέμου· εὐμενῶς δὲ καὶ φιλοφρόνως προσδεχθεὶς ᾑρέθη διὰ τὴν ἀνδρείαν καὶ στρατηγός, καὶ προὔδωκε τὸ φρούριον. τῶν δ’ ἀποστατῶν M : τῶν ἀποστατῶν A), 388a16 (στρατιωτῶν ἀπολελυμένων M : om. A). 119 397b17–18 (Martini 18). 120 In den Aristides-Kapiteln 246–248 zeigt die durchgehend überaus häufige Übereinstimmung (nicht nur von M3, sondern) auch von M1 in kleinsten Dingen mit der direkten Überlieferung gegen A, dass der M-Redaktor den A-Text hier nicht nur bei größeren Ausfällen emendiert, sondern ihn anhand der Aristides-σχεδάρια bzw. der Primärwerke regelrecht durchgearbeitet haben muss. Bsp. 403b7 γῆς A : τῆς γῆς M Aristid.; 404a21 ἐφικέσθαι M Aristid. : ἀφικέσθαι A etc. Im Folgenden sind nur die größeren ‚Auslassungen‘ von A berücksichtigt. 401a16 (ὥσπερ ἐκ δυοῖν ποδοῖν ὡς ἀληθῶς καὶ μηδεμίαν M : om. A), 401a 20–21 (Martini 19), 401b9–10 (ἀλλ’ οὐκ ἔστι τὸ σχῆμα συγκριτόν, ἀλλ’ M : ἀλλ’ A), 404b9–10 (μόνη δὲ ἐκ τῶν κοινῶν εὐεργεσιῶν τὴν ἡγεμονίαν ἐκτήσατο M : om. A), 406a37– 38 (πόλεως ἢ τῶν συμβάντων κατηγοροῦσιν; εἰ μὲν γὰρ τῆς πόλεως M : πόλεως A), 408b11 (ἢ διέλοι δ ἄν τις οἰκειότερον λέγων ἢ M : ἢ A), 408b28 (εἰς Ἀλέξανδρον ἀποτείνεται M : om. A). 106
(Fortsetzung der Fußnoten auf S. 342)
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Dieser Überblick zeigt deutlich, dass Micuncos hinsichtlich der 25 Martini-Stellen getroffene Feststellung, keine einzige Ergänzung im M-Text beziehe sich auf die Worte des Photios, wirklich für die ganze „Bibliotheke“ gelten muss. Wenn dadurch auch nicht völlig ausgeschlossen ist, dass im Falle der nicht von den ‚A-Auslassungen‘ betroffenen Kapitel einzelne Lesartenabweichungen zwischen A und M auf Korrekturmaterial zurückgehen könnten,130 so gilt es doch eines festzuhalten: Die Tatsache, dass für gut 260 Kapitel der „Bibliotheke“ überhaupt keine ‚Omissionen‘ in A,131 jedoch zahlreiche im Falle einiger bestimmter Kapitel zu beobachten sind, zeigt, dass ein effektiver Rekurs auf ‚Originalmaterialien‘ auf Seiten des M-Textes eher als Einzelfall denn als generelles Charakteristikum einer umfassenden ‚M-Redaktion‘ zu sehen ist. Außerdem spricht 121 411a21 (βέλτιστα ἐρεῖ, ὁ ῥήτωρ δ‘ αὐτὸς οὐκ ἐρεῖ τὰ βέλτιστα M : βέλτιστα A), 413a30– 31 (εὑρεῖν· τῇ γὰρ μὴ οὔσῃ πῶς ἐνῆν εὑρεῖν M : εὑρεῖν A), 413b4–5 (οὔτε τῶν εἰρημένων οὐδὲν μετατίθεμαι M : οὐ μαι A), 413b29 (οὕτως; Ἀλλὰ μὴν οὕτω γε οὐκ εἴδωλον. Kατ’ εἰρωνείαν τὸ οὕτως M : οὕτως A), 418a16–17 (κολακείᾳ προσήκουσι, πῶς ῥητορικὴ κολακεία M : κολακείᾳ A), 419a15 (καὶ Περικλέους M : om. A), 419b18 (καὶ ἡνιόχους καὶ M : καὶ A), 420b21 (ἐλέγχων ἰσχυροτέρων οὐδ’ ἂν M : om. A). 422b10 ἄλλα ἄττα τοιαῦτα M : om. A könnte auch eine freie Einfügung im M-Text sein. 122 429a10 (ἐν τῷ τότε τὴν ἡγεμονίαν M Aristid. : om. A). 123 439b11–12 (μεταξύ, τραχέων καὶ λείων καὶ τῶν μεταξύ M : μεταξύ A), 440a25 (Ἑρμῆς δὲ καὶ Ἀφροδίτη M : εἰ δὲ καὶ ὅτι A). 124 449a24 (Martini 20), 450b1 (ἡμῖν δεινῶν ὁμοίαν ἡμῖν M : ἡμῖν A). 455b20 περὶ μὲν τὸν ἄρρενα ταῦτα M : om. A könnte auch eine freie Einfügung im M-Text sein. 125 484a21–22 (Martini 21). 477b22–23 τοῦ ἐν ἁγίοις πατρὸς ἡμῶν ἐπισκόπου Ἀλεξανδρείας M : A könnte auch eine freie Einfügung im M-Text sein. 126 524a16–17 (Martini 24). 516a32–33 (Martini 23) ist von M2 geschrieben. 127 Kapitel fehlt in A aufgrund mechanischen Ausfalls ab 527b34; im ersten Teil gibt es jedoch keine im M-Text aufgefüllten ‚Lücken von A‘. 128 Die folgenden Passagen fehlen in den von A† (d.h. dem ausgefallenen und verschollenen Ende von A) abstammenden Textzeugen v und I (siehe oben, Anm. 91 und vgl. Isépy [Anm. 10], Anm. 92 und 95) und werden nur von M überliefert: 529b27–29, 530a20–29, 532a6–15, 532b14–17, 533a14–17, 24–31, 35–38, 534a2–12, 31–33, 535a34–41. 129 Das Kapitel fehlt in A aufgrund mechanischen Ausfalls, vgl. Martini [Anm. 7], S. 10. Hier die Hilfe des A-Apographons, Paris. gr. 1266 (B), zu beanspruchen, ergibt wenig Sinn, da sich ein Ausfall wegen Homoioteleutons ebensogut erst bei der Kopie A–B hätte ereignen können und der Kopist von B ohnehin – auch unabhängig von der Beschädigung seiner Vorlage für die Kap. 278 und 280 (siehe oben Anm. 92) – in mehreren Fällen nur Teile der Kapitel kopiert hat (vgl. Martini [Anm. 7], S. 20–21 und Micunco [Anm. 37], S. 95). 130 Dies könnte man freilich nur nach einer in dieser Hinsicht durchgeführten, detaillierten Überprüfung der einzelnen Kapitel behaupten. Dennoch sei bemerkt, dass man im Henryschen Apparat – die genannten ‚A-Auslassungen‘ natürlich ausgenommen – schwerlich auf viele von A abweichende M-Lesungen stoßen wird, die nachweislich nicht durch Konjektur eines gebildeten Byzantiners oder durch einen Fehler entstanden sein können. Das Gleiche gilt auch im Falle der von Erbse zwar mit plausiblen Gründen, doch im Lichte einer zweispaltigen Überlieferung (!) zusammengestellten Liste von M-Lesarten „besseren Wortlauts“ (s.o., Anm. 45). 131 Hinsichtlich der hohen Anzahl der M-Omissionen durch das ganze Werk siehe oben, Anm. 78.
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Die Überlieferung der „Bibliotheke“ des Photios und die Frage nach dem Archetypus
alles dafür, dass man die Photianische Überarbeitung der Primärtexte bzw. der σχεδάρια, d.h. im Grunde den ganzen ersten Teil der „Bibliotheke“, in dieser Art im Wesentlichen entweder nicht korrigieren und verändern wollte oder nicht verändern konnte. Ganz offensichtlich war es im Gegensatz dazu aber durchaus möglich, im zweiten, Exzerpt-Teil gewisse Kapitel bzw. Passagen mithilfe von Primärtexten oder der Photianischen σχεδάρια zu ergänzen und zu verbessern. Dass wir dabei nur und gerade in einigen, aufeinander folgenden Kapiteln der zweiten Hälfte (234, 236–[240]–250) eine solch hohe Dichte an A‚Auslassungen‘ beobachten können, scheint eher an der Nachlässigkeit der beiden A-Kopisten „C“ (Kap. 234–241) und „D“ (Kap. 241–250)132 zu liegen als an dem grundsätzlich unterschiedlichen Zugang des ‚M-Korrektors‘ zu Korrekturmaterialien: Denn sobald in Kap. 250 (450b12) Kopist „E“ das Schreiben (bis zum Ende von Codex A – in Kap. 251, 252, 257 möglicherweise unter geringer Beteiligung von C/D/F/G) übernimmt, gehen die ‚Ausfälle‘ sofort derart zurück, dass wir nur noch in Kap. 258 und 277 jeweils eine ernstzunehmende ‚Auslassung‘ finden. Mag nun aber diese Frage der Gewichtung, d.h. inwieweit die Kondensierung von A-‚Omissionen‘ in gewissen Bereichen an der Nachlässigkeit einzelner A-Kopisten oder (auch) am Eifer bzw. den Möglichkeiten des oder der ‚M-Korrektors (-en)‘, auf ‚Photianische Materialien‘ zurückzugreifen, gelegen hat, für die Enstehungsgeschichte der „Bibliotheke“ in Codex A von Bedeutung sein, so ist sie für den Textkritiker und Editor unerheblich. Dieser ist nämlich nur am relativen Textverhältnis von A : M interessiert, mithin an der Frage, ob der M-Text aus unserer Sicht eine Hinzufügung (bzw. A eine Auslassung) aufweist und M dadurch punktuell als von A unabhängig zu werten ist – nicht, wie es zu diesem Befund gekommen ist. Bevor nun aber die aus all dem resultierenden Implikationen für eine adäquate Methode der constitutio textus der „Bibliotheke“ besprochen werden, sollen in den Teilkapiteln VI. und VII. einige Beobachtungen zum Wesen des ‚M-Textes‘ folgen.
VI. Die mehrschichtige ‚M-Redaktion‘ Die von Severyns auf Grundlage eines klaren zweispaltigen Stemmas formulierten Ergebnisse hinsichtlich eines ‚M-Redaktors‘133 – sei dieser nun anonym oder als Arethas benannt – ließen sich durch die neuere Forschung, wie zu sehen war, ohne Schwierigkeiten auch in das neue Bild einer gewissen Abhängigkeit M-s von Codex A implementieren:134 Demnach hätte nach der Entste-
132 Für die Abgrenzung der Hände in Codex A vgl. Cavallo [Anm. 46], S. 159 und Ronconi [Anm. 53], S. 256–257. 133 Siehe oben, S. 328. 134 Siehe oben, S. 333, das vereinfachte Schema der Überlieferung nach Micunco [Anm. 4], S. LXXIII.
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hung von A unter Rückgriff auf ‚Photianische Originalmaterialien‘ an einer Vorlage von M eine Überarbeitung stattgefunden, die letztlich zum Resultat des M-Textes geführt hätte. Diese Rekonstruktion lässt sich nun weiter gut damit vereinbaren, dass das von Arethas geschriebene Proklos-Scholion größtenteils mit dem M- und nicht dem A-Text des Proklos-Kapitels (239) der „Bibliotheke“ übereinstimmt: Sowohl M als auch das Scholion würden in gewisser Weise aus einem von A abstammenden, und (von Arethas?) überarbeiteten, heute verlorenen Textzeugen geflossen sein. Zwar lässt sich nun Severyns’ Beobachtung teilweise vorsichtig sogar für Kap. 279 (Helladios) bestätigen, für das erst seit Neuestem die Möglichkeit besteht, die vier bekannten Arethas-Scholien neben dem M-Text auch mit der ursprünglicheren Fassung von A†(vI) zu vergleichen: Auch hier scheint sich nämlich eine gewisse Verbindung zwischen Arethas und dem M-Text abzubilden.135 Doch muss eine solche Verbindung ja nicht unbedingt, wie Severyns annahm, eine direkte gewesen sein. So hatte bereits Thomas Hägg – ebenfalls noch auf Grundlage eines zweispaltigen Stemmas – darauf hingewiesen,136 dass Severyns’ These, nach welcher Arethas (unfreiwilliger) Begründer des M-Textes der ganzen „Bibliotheke“ sei, nicht gehalten werden kann. Im Falle von Kap. 209 (Dion von Prusa) stimmen die Arethas-Scholien nämlich größtenteils (20 Stellen) mit A gegen M und weit seltener (3 Stellen)137 mit M gegen A überein. Es lässt sich nun vor dem Hintergrund, dass sich die stilistische Überarbeitung des M-Textes, die von Severyns am Kap. 239 aufgezeigt worden ist,138 offen-
135 Zu A†(vI) siehe oben V. 2. In den vier von Arethas aus den Chrestomathien des Helladios zitierten Passagen kann in der einzigen, wo eine Lesartendivergenz zwischen M und A†(vI) vorliegt eine Übereinstimmung mit dem M-Text hergestellt werden (532b13 βρένθιον M Areth. : βρένθυον A†(vI) : βρένθειον Etym. Gen.). Daneben zeigt ein anderes, Lukian-Scholion (von H. Rabe in den Scholia in Lucianum, Leipzig 1906, auf Grundlage der Vat. gr. 1322 and Vind. phil. gr. 123 ediert) eine klare Verbindug zum M-Text des Helladius-Kapitels, wenn es auch nicht (nachweislich) von Arethas stammt: 535b38 κνισᾶν ἀγυάς M schol. Rabe 97, 22(ἀγυιάς): κνισσᾶν ἀγυιάν A†(v) (I deest). Vgl. die Diskussion in Isépy [Anm. 10], Anm. 159. 136 Vgl. Hägg [Anm. 43], S. 53–54. 137 Als eigentliche M-Lesarten bei Arethas kommen nur die folgenden in Frage: 166a20 καὶ ὡς πλοῦτος A : καὶ ὅτι πλοῦτος Areth. M ǁ 166b2–3 καὶ αὐτὸν εἶναι ἀνδράποδον Μ: ὃ καὶ αὐτὸν ἀνδράποδον ἀποφαίνει Areth.: καὶ αὐτῶν ἀνδραπόδων Α ǁ 167b6 ἐπιδείκνυσι A : ἐπιδεικνύει Areth.M. Nach Hägg [Anm. 43], S. 53, Anm. 18, sind es insgesamt acht: Doch ist 166a38 fälschlich auch hier genannt (= „Areth. A : M“) und die vier Fälle „Areth. A2M : A“ kommen nicht in Betracht, da – wie im Folgenden gezeigt werden soll – M von A2 abhängig ist, aber auch darüber hinaus die einfachen A2-Verbesserungen ohne Korrekturvorlage entstanden sind und daher auf gleicher Basis grundsätzlich koinzidentell auch in M vorkommen können. 138 Vgl. Severyns [Anm. 7], S. 62–255, bes. S. 62–84 and 231–239.
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sichtlich in der ganzen „Bibliotheke“ – auch in den Kapiteln 209 und 279139 – widerspiegelt140, aus der unterschiedlichen Beziehung der Arethas-Scholien zum Text der „Bibliotheke“ zunächst auf eine gewisse Mehrschichtigkeit des M-Textes schließen: Der – wie auch immer geartete – Rückgriff auf ‚Originalmaterialien‘, der für Kap. 239 (Proklos) und vielleicht 279 (Helladios) zur deutlichen textlichen Übereinstimmung der Arethas-Scholien mit dem M-Text geführt hat, kann unmöglich ein mit der generellen stilistischen Überarbeitung des ganzen M-Textes identischer Arbeitsschritt gewesen sein. Anders gesagt: Arethas oder ein anderer Bearbeiter könnte schon aufgrund der unterschiedlichen Beziehung seiner Scholien zu den Textzeugen der „Bibliotheke“-Überlieferung in verschiedenen Kapiteln nicht der einzige ‚M-Redaktor‘ gewesen sein. Würde dies nämlich zutreffen, so müssten wir uns auch im Falle von Kap. 209 Arethas-Scholien v. a. vom Typ des M-Textes gegenüber sehen. Doch da davon keine Rede sein kann, ist der M-Text offenbar nicht das Resultat einer großen Überarbeitung und ‚Rezension‘ des A-Textes, sondern es lassen sich im Charakter des M-Textes mehrere wesentliche Elemente unterscheiden: 1) eine grundlegenden A-Abhängigkeit, 2) ein gewisser Rekurs auf ‚Photianische Originalmaterialien‘, 3) eine den ganzen Text betreffende stilistische Glättung und 4) eine davon unabhängige und mehr oder minder ausgeprägte punktuelle Übereinstimmung mit Arethas-Scholien (Kap. 209, 239 und vielleicht 279). Doch Hägg ist über die rein mechanische Feststellung einer unterschiedlichen A- bzw. M-Nähe der Arethas-Scholien hinausgekommen: Aus dem Umstand, dass im Falle von Kap. 209 (Dion von Prusa) weder klare Fehler von A noch überhaupt die „ausgeprägten M-Varianten“141 bei Arethas auftauchen bzw. des139 Einige Beispiele der von Severyns [Anm. 7], v. a. S. 231–239, als typisch verzeichneten Zeichen der glättenden Überarbeitung (sie betrifft am häufigsten – in der Regel als Hinzufügung: den Artikel, καί, τε, τε καί, δέ, μέν, τις etc.) in Kap. 209: 165b4 δ‘ A : τε M ǁ 38 ἐν A : ἐν τῷ M ǁ 166a1 περὶ A : καὶ περὶ M ǁ 4 παραινεῖ A : καὶ παραινεῖ M ǁ 166b35 καὶ οὗτος A : οὗτος M ǁ 167b31 ὁ δὲ A : καὶ ὁ μὲν M ǁ Ziffernangaben: 168a5 β´ καὶ ξ´ A : ξβ´ M ǁ 8 γ´ καὶ ξ´ A : ξγ´ M ǁ 19 ζ´ καὶ ξ´ A : ξζ´ M ǁ 38 ζ´ καὶ ο´ A : οζ´ M etc. Zu Kap. 279 vgl. Isépy [Anm. 10], Anm. 110. 140 Es folgen einige Beispiele aus verschiedenen Bereichen der „Bibliotheke“ in Codex M, der von sechs Händen geschrieben worden ist (vgl. Margherita Losacco: Ancora su testimoni della Bibliotheca foziana: sulle mani del Marc. gr. 451, in: Segno e Testo 12, 2014, S. 223–259, hier: S. 232–236); die sehr zahlreichen Omissionen der jeweiligen durch M hinzugefügten Wörter sind nicht aufgezählt, da sie – wie auch im Falle mehrerer Wörter, siehe Anm. 78 – fehlerhaft sein können. Add. δὲ M: e.g. 2a40, 2b28, 6a20, 14a16, 15b16, 16a26, 17a16, 24a35 …; 172a17, 195b9, 235b25. Add. καὶ, τε, τε καί M: e.g. 6b35, 9b28, 11a9, 13a2, 16b13, 19a12, 21b16, 24a35, 24b32 … 176b33, 177b38, 178b17, 185b16, 186a2, 186b27, 188a2, 217b6, 219a1, 223b21, 225a12. Add. articulum M: e.g. 7a32, 9a24, 12a29, 13b35, 14a1, 18a6, 24b32 … 182b29, 189b4, 191b14, 193b25, 209a13, 217b6, 218a12, 218b24, 222a36, 223a25, 228a17, 229a36, 230b16, 231b36, 233b32. Add. μέν vel οὖν vel μέν οὖν M: e.g. 3a23, 41… 171b29, 173a6, 176a7, 211a39, 219a2, 225a35. Add. vel corr. φησί(ν)φασί(ν) M: 5b35, 7a14, 20a5 … 172a24, 182a8, 185a21, 204a36. 141 Hägg [Anm. 43], S. 54.
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sen Formulierungen nicht in unseren Handschriften zu finden sind, kam er zu dem Ergebnis, dass „[d]ie Vorlage von Arethas […] also nicht nur älter als unsere Hss. A und M [ist], sondern […] auch, wie es scheint, keiner dieser Linien an[gehört].“142 Mit anderen Worten heißt das, dass sich keinerlei Übereinstimmungen im Fehlerhaften, also keine „Bindefehler“, zwischen A oder M und den Arethas-Scholien, sondern nur Übereinstimmung im Richtigen (bzw. nicht klar Fehlerhaften) festellen lassen. Dieselbe Situation finden wir aber auch in dem vom Severyns untersuchten Kap. 239, im Falle dessen die Scholien nur dann die M-Lesart teilen, wenn es sich um das Richtige (oder wenigstens nicht um klar Fehlerhaftes) handelt; andernfalls, auch wenn selten, stimmen sie – ebenfalls im Richtigen – mit A überein.143 Daher lässt sich selbst im Lichte einer neu erkannten generellen A-Abhängigkeit der Handschrift M aus all dem mit Hägg nur ableiten, dass Arethas nicht mit den Handschriften A und M, sondern mit deren Vorlage(n), d.h. den ‚Originalmaterialien‘ (σχεδάρια), in Verbindung zu bringen ist. Und da Photios und Arethas bekanntlich mehrmals aus demselben handschriftlichen Material geschöpft haben,144 wird es sicherlich niemanden verwundern, gewisse Materialien aus dem Kreis des Photios in Arethas’ Händen zu finden.145 Die Kongruenz zwischen einem von A abhängigen M mit Arethas im Richtigen gegen A wird demnach dadurch erklärt, dass neben A sowohl Arethas (bei der Annotierung des Paris. gr. 451 im Jahre 914) als auch der verantwortliche M-Bearbeiter aus den ‚Originalmaterialien‘ geschöpft haben, gleichzeitig aber ein Fehler des (jeweiligen) AKopisten oder schlicht Koinzidenz vorliegt. Ferner scheint es vor dem Hintergrund der strukturellen Zweiteilung der „Bibliotheke“ (Kap. 1–233 / 234–280) auch kein Zufall zu sein, dass von den drei uns als Vergleichspunkt mit den Arethas-Scholien zur Verfügung stehenden Kapiteln (209, 239, 279), nur im Falle von Kap. 209 aus dem ersten Teil der „Bibliotheke“ die Scholien größtenteils mit A (im Richtigen) übereinstimmen. Schenkt man den oben vorgestellten Beobachtungen Glauben, so hat nämlich mit großer Wahrscheinlichkeit in diesem
142
Hägg [Anm. 43], S. 54. Vgl. Severyns, S. 282–283, 70 Αἰολέων A : ἐώων M ǁ προκατεχομένας A : προσκαθεζομένας M. Man beachte zudem, dass Arethas auch in gewissen nicht unbedingt selbstverständlichen Orthographica (70 κατώικουν A : κατώκουν M oder 75 δὲ A : δ’ M) mit A übereinstimmt. 144 Vgl. etwa Ernst Wenkebach: Die Überlieferung der Schriften des Dion von Prusa 1944, Hermes 79 (1944), S. 40–65, hier: v. a. S. 45, Basil Laourdas: Τὰ εἰς τὰς ἐπιστολὰς τοῦ Φωτίου σχόλια τοῦ κώδικος Baroccianus graecus 217, Ἀθηνᾶ 55 (1951), S. 125–154, hier: S. 145–154, ders.: Τὰ εἰς τὰ „Ἀμφιλόχια“ τοῦ Φωτίου σχόλια τοῦ κώδικος 449 τῆς Λαύρας, Ἐλληνικά 12 (1953), S. 252–272, hier: S. 268–269, und ders.: Photius and Arethas. A chapter in the history of classical and byzantine scholarship, in: Bulletin de l’Association internationale d’études du sud-est européen VIII, 1970, S. 52–65. 145 Vgl. auch Giuseppe Russo: Contestazione e conservazione. Luciano nell’esegesi di Areta, Berlin 2012, S. 107–110. 143
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Kapitel ohnehin kein Rückgriff auf ‚Originalmaterialien‘ für den M-Text stattgefunden und die nur drei nominellen Übereinstimmungen zwischen M und Arethas dürften hier schlicht auf Koinzidenz zurückzuführen sein.146 Bereits die Mehrschichtigkeit des M-Textes lässt es als höchst unwahrscheinlich erscheinen, dass der Rückgriff auf die ‚Originalmaterialien‘ erst im Rahmen des Kopiervorganges der Handschrift M erfolgt sein sollte. Dass mindestens eine Zwischenstufe (*) zwischen M und A zu postulieren ist, muss auch deshalb angenommen werden, weil a) die verschiedenartige Überarbeitung des A-Textes in M keinerlei äußere Spuren hinterlassen hat, b) der M-Text eine sehr hohe Anzahl an versehentlichen Textausfällen (i.d.R. aufgrund von Homoioteleuton) aufweist,147 was bei einer mühevoll erstellten ‚Neuredaktion‘ des A-Textes nicht so recht ins Bild passen möchte, und c) sowohl diese Ausfälle als auch das Phänomen der sprachlich-stilistischen Überarbeitung in M148 sich im Ganzen gleichmäßig über alle Bereiche des von sechs Kopisten geschriebenen149 Codex M verteilen.150 Das Alter der Zwischenstufe(n) * und damit den Zeitpunkt des Rückgriffs auf die ‚Photianischen Materialien‘ für den M-Text würde man bei der wohl nicht besonders zeitbeständigen materiellen Beschaffenheit der Notizheftchen des Photios (σχεδάρια)151 naheliegenderweise eher früher als später vermu-
146 Siehe oben, Anm. 137. Sowohl 166a20 ὡς A : ὅτι M Areth. (M korrigiert z.B. auch in 198b42 ὡς in ὅτι) als auch 167b6 ἐπιδείκνυσι A : ἐπιδεικνύει M Areth. als auch 166b2–3 (-ων zu -ον) kann ohne Weiteres auf Koinzidenz zurückgehen. 147 Siehe oben, Anm. 78. 148 Siehe oben, Anm. 139 und 140. 149 Vgl. Losacco [Anm. 140], S. 232–245. 150 Nicht als maßgebliches Argument kann hingegen die Tatsache zählen, dass für beinahe den ganzen zweiten Teil der „Bibliotheke“ (Kap. 232–277) in Codex M ein Schreiber („6“; vgl. Losacco [Anm. 140], S. 234–236) am Werk war: Die Überlegung, dass im Lichte der unterschiedlichen Häufigkeit der A-‚Auslassungen‘ im zweiten Werkteil (siehe oben, V. 3) ein M-Schreiber nicht – und damit nur der/ein Vorfahre von M – für den Rekurs auf ‚Photianische Materialien‘ infrage komme, lässt sowohl die oben geschilderte unterschiedliche Zuverlässigkeit der A-Kopisten als auch die Möglichkeit außer Acht, dass der ‚MKorrektor‘ vielleicht nur auf gewisse, nicht die Gesamtheit der Originalmaterialien Zugriff hatte. 151 Vgl. Basile Atsalos: La terminologie du livre-manuscrit à l’époque byzantine, Première partie. Termes désignant le livre-manuscrit et l’écriture, Thessalonikē 1971, S. 168, Anm. 4: „Il semble que cette habitude d’esquisser un ouvrage sous une forme de « brouillon » était assez répandue à l’époque byzantine. On appelait ces « brouillons » σχέδη ou σχέδια ou σχεδάρια qui se présentaient comme des feuilles non reliées, le plus souvent roulées en guise de « volumen ».“
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ten.152 Allerdings scheint nun gegen einen Rekurs bereits im 9. oder 10. Jh. vermeintlich die Tatsache zu sprechen, dass – nach den Angaben des Apparates der Henry-Ausgabe zu urteilen – der M-Text auch die Benutzung der konjekturalen Eintragungen des gelehrten Schreibers A2 aus dem 11./12. Jh. widerspiegelt, deren Vorkommen im M-Text sinnvollerweise aber nur vor einem Rückgriff auf die ‚Photianischen Materialien‘ angenommen werden könnten.
VII. Der M-Text – abhängig sogar von A2? Codex A wurde bekanntlich von mehreren Annotatoren überarbeitet,153 am stärksten durch den Anonymus A2, den die Paläographie ins 11./12. Jh. datiert hat.154 Dieser gebildete Schreiber A2 hat den Codex von Anfang bis Ende durchgearbeitet, den Text mehrfach in Kleinigkeiten korrigiert, Scholien bzw. Zwischentitel (περί… oder ὅτι…) am Rand eingetragen und die Schriftzzüge von A1 häufig nachgefahren. Martini und Severyns haben jedoch zeigen können,155 dass alle A2-Emendationen und -Ergänzungen von einem gebildeten Byzantiner ausführbar waren und er ganz offensichtlich nicht im Stande war, größere Lücken zu füllen, d.h. über keine entsprechende Korrekturvorlage verfügte. Dies wird nicht nur an gewissen Stellen klar, an denen A2 versucht hat,
152 Dass im Allgemeinen die Möglichkeit eines Rückgriffs auf die ‚Photianischen Originalmaterialien‘ nach Entstehung der „Bibliotheke“ in Codex A in gewissem Maße vielleicht noch länger bestand, bestätigt zumindest nach Micunco [Anm. 37], S. 110–113 eine Notiz des Schreibers A3 aus dem 13. Jh., nach welcher sogar dieser noch in der Lage war, die direkte handschriftliche Vorlage von A einzusehen. Die Notiz am inneren Rand vonf. 339v nimmt – deutlich durch Unterstreichung gekennzeichnet – auf die von A (und M) im Haupttext überlieferten Worte δοκεῖ μοι ταῦτα ἀξιόμομφα καθεστάναι (Kap. 242, Vita Isidori des Damaskios, vgl. 336b2) Bezug und lautet: ἐν τῷ μετώπ(ῳ) ἦν τῆς πρωτοτύπ(ου) βίβ(λου) ὁ δὲ μεταγράψας καὶ τοῦτο ἐντὸς τέθεικεν – „war am Rand des Originals (πρωτοτύπου βίβλου); der Abschreiber hat auch dies (in den Text) hineingenommen“. Laut Micunco [Anm. 37], S. 110–113, und Micunco [Anm. 4], S. LXXIV, schließt die präzise Angabe ἐν τῷ μετώπῳ eine bloße Vermutung von Seiten des Schreibers A3 aus und legt – auf Grundlage der belegten Verwendungen des Begriffes der πρωτότυπος βίβλος als a) direktes antigraphon einer Handschrift oder b) ‚ursprüngliche oder erste handschriftliche Fassung bzw. Redaktion‘ – eine tatsächliche Einsichtnahme weniger in irgendein Exemplar der Isidorosvita als vielmehr in die ‚Photianischen Originalmaterialien‘ nahe. Martini [Anm. 7], S. 55 hingegen hält es für außerordentlich unwahrscheinlich, dass der Schreiber A3 die Vorlage von A eingesehen haben könnte. Sein Hauptargument ist, dass A3, wie A2, keinerlei größere Lücke im A-Text verbessert hat. 153 Vgl. Martini [Anm. 7], S. 12–15. 154 Martini [Anm. 7], S. 12, und Henry [Anm. 1], I, S. XXX sehen seine Schrift im 11. Jh. Severyns [Anm. 7], S. 24–25, spricht sich für den Übergang zum 12. Jh. und Boris Fonkič für die Mitte des 12. Jh.s aus (bei Zorzi [Anm. 69], S. 246; zitiert nach Micunco [Anm. 4], S. LXXXI, Anm. 34). 155 Vgl. Martini [Anm. 7], S. 53–54 bzw. Severyns [Anm. 7], S. 52.
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Die Überlieferung der „Bibliotheke“ des Photios und die Frage nach dem Archetypus
den unbefriedigenden Text von A1 konjektural zu emendieren,156 sondern lässt sich insbesondere auch anhand einer paläographischen Beobachtung Martinis nachweisen. Eine genaue Prüfung aller längeren, d.h. konjektural nicht zu bewerkstelligenden Korrekturen und Textergänzungen in der Hand und Tinte von A2 „führt in allen Fällen zu dem Resultat, daß A2 nur die Schriftzüge von A1 nachgezogen hat“ und demnach „kein längeres Textsupplement von A2 stammt“157. Das geschickte Vorgehen des Schreibers A2 bei Übermalen verlangt also eine große Vorsicht bei der Zuweisung von Eintragungen an A2, die – v. a. gegenüber von A1 und A3 – häufig selbst in situ oder an besten Digitalisaten nicht mit letzter Sicherheit erfolgen kann.158 Es war nun auch diesbezüglich Thomas Hägg, der darauf hingewiesen hat,159 dass sich laut Henrys Apparat – entgegen Martinis und Severyns’ Beobachtungen – drei wichtige, A2 zugeschriebene Korrekturen auch im M-Text wiederfinden. Dieser Befund war vor der vermeintlich klaren zweispaltigen Überlieferung erklärungsbedürftig. Die drei Fälle sind: – 92b4 ξίφει A2s. l. M : om. A (f. 89v) – 108b1–2: καὶ πάλιν εἰς τὸν αὐτὸν Βασίλειον A2 in marg. M : om. A (f. 104r) – 125b34: καὶ αὐτῇ A2 in marg. M : om. A (f. 120v).
Nach Hägg müsste, falls Henrys Zuweisungen der Korrekturen an A2 zuträfen, der Schreiber A2 über ein zweites Exemplar der „Bibliotheke“, d.h. im Grunde einen Vorfahren von M, verfügt haben, was aber wiederum der Tatsache widersprach, dass A2 doch offensichtlich nicht in der Lage war, ‚A-Lücken‘ jenseits von Konjektur zu schließen. Dieser Widerspruch wird nun dadurch verschärft, dass es sich bei der Beobachtung Häggs nicht um Einzelfälle handelt, sondern der gesamte Apparat Henrys vom Anfang bis zum Schluss der „Bibliotheke“ gespickt ist mit Lesartenverteilungen nach dem Muster A2M : A bzw. A : A2M. Es ist nun bezeichnend, dass der Glaube an die starre Zweispaltigkeit der Überlieferung der „Bibliotheke“-Überlieferung derart ungefährdet war, dass angesichts der massenhaften A2M-Verbindungen weder bei Hägg noch – soweit wir sehen – anderswo eine viel näherliegende Schlussfolgerung als die (eigentlich ja bereits ausgeschlossene) Benutzung einer Korrekturvorlage durch A2 erwogen wurde: Die Abhängigkeit der jüngeren Handschrift M von A, versehen mit den Eintragungen der Hand A2. Da nämlich nicht zuletzt die drei von Hägg angeführten ‚A2-Zusätze‘ – in Übereinstimmung mit der Beobachtung Martinis – 156 Neben der ganzen Reihe von offensichtlichen ‚A-Lücken‘ (im Verhälnis zu M), die A2 nicht ausfüllen konnte, ist die Stelle 364b27 καὶ πρὸ τῆς πείρας ἐβούλευσεν M : om. A : πεποίηκεν A2 in marg. (f. 366v; dass es sich hier nicht um einen übermalten A1-Eintrag handelt, ist aus der Majuskelform des π ersichtlich) ein gutes Beispiel: A2 konjiziert ohne Hilfsmittel, der M-Redaktor verbessert unter Heranziehen von Originalmaterial. 157 Martini [Anm. 7], S. 54. 158 Vgl. dazu Severyns [Anm. 7], S. 24–27 und Zorzi [Anm. 69], S. 831 mit Anm. 11. 159 Vgl. Hägg [Anm. 43], S. 43–44.
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tatsächlich ope ingenii ausführbar scheinen (selbst 108b1–2), aber durchaus nicht alle in derselben Form unabhängig voneinander ein zweites Mal in genau derselben Gestalt erdacht worden sein könnten, müsste die zutreffende Angabe im Grunde bereits einer einzigen ‚leitenden‘ Lesartengemeinschaft von A2M : A bzw. A : A2M in Henrys Apparat die Abhängigkeit des M-Textes von A erweisen und zwar eine Abhängigkeit, deren Ursprung zeitlich nach der Aktivität des Gelehrten A2, d.h. im bzw. nach dem 11./12. Jh. zu verorten wäre. Denn an der Richtung der Verbindung zwischen A2 und M könnte dann kein Zweifel bestehen: Dass der M-Text von A2 abhängig sein müsste und nicht der Schreiber A2 – die Datierungsfrage einmal beseite –160 aus M oder dessen Modell geschöpft hätte, wird nicht nur durch gewisse Einzelstellen klar angezeigt,161 sondern eine Verbesserung von A durch A2 auf Grundlage von M oder seiner Vorlage ist auch durch die zahlreichen Fälle des Typus A2 : AM ausgeschlossen:162 Wie könnte nämlich A2 auf Grundlage von (*)M korrigiert haben, M selber aber mit A übereinstimmen? Die Korrekturrichtung A2 → M wäre aber darüber hinaus bereits aus der oben geschilderten Beobachtung Martinis und
160 Nimmt man die Datierung der Handschrift M durch Losacco [Anm. 140], S. 246– 252, auf ungefähr 1080–1120 als Grundlage und geht zudem von einem gewissen Spielraum bei der Datierung von A2 (11./12. Jh.) aus, so ist es aus rein paläographischer Sicht nicht auszuschließen, dass M vor den Eintragungen von A2 (11. Jh.) entstanden ist. 161 Siehe für den Fall 364b27 oben, Anm. 156. Von großer Deutlichkeit ist weiter die von Hägg [Anm. 43], S. 43–44, genannte Stelle 131b4: Ob die Verbesserung im M-Text dabei, wie Hägg meint, das Ergebnis einer auf Korrekturmaterial gestützten oder viel eher einer konjekturalen Emendation darstellt, ist sekundär; sie zeigt jedenfalls, dass die Korrekturrichtung im Falle der A2-Annotationen nicht von M nach A gegangen sein kann: Das fehlende Prädikat im Satz ὁ δὲ Ἡρακλῆς […] βόες ἐξ Ἐρυθείας ἐλαύνων παρὰ τῷ Λοκρῷ ergänzte A2 (f. 125r) in Form eines schlichten und wenig befriedigenden ἧκε zwischen ἐλαύνων und παρὰ. Der M-Text hingegen weist an derselben Stelle εἰς Ἰταλίαν ἀφικνεῖται καὶ ξενίζεται φιλοφρόνως auf. Hätte der Gelehrte A2 auf Grundlage von M seine Eintragungen in A gemacht, hätte er den völlig befriedigenden Wortlaut aus M übernommen und nicht einen problematischen (ἧκε παρὰ τῷ Λοκρῷ?!) Gegenvorschlag gemacht. Es ist keine Frage, dass zunächst die A2-Korrektur als mäßige Konjektur aufgrund des unvollständigen Satzes getätigt worden ist. Es steht auf einem anderen Blatt, ob der M-Text nicht auch aufgrund von Konjektur zustande gekommen sein könnte. Alleine für diese – aufgrund des problematische Befundes von A1 und A2 benötigte – Korrektur die Benutzung einer Zusatzquelle zu postulieren, erscheint mir nämlich zu weit gegriffen: Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass ca. 5 Zeilen vorher (131a38–39) zu lesen war: ἐπ´ Ἰταλίας πλεύσας ξενίζεται παρὰ Λατίνῳ,war die M-Korrektur durchaus aus dem Kontext zu bewerkstelligen. 162 Vgl. etwa 43a15 ὄνομα A2 s. v. : om. AM ǁ 77b36 ἐξ ἧς ἦν AM : ἔξεισι A2 ǁ 86b16 τοὺς μαθητὰς A2 : τῶν μαθητῶν AM ǁ 86b40 προτιθείς AM : προστιθείς A2 ǁ 98a24 τὰ ᾄσματα ΑΜ : τὸ ᾄσμα A2 ǁ 101b27 πέμπτον AM : ἓν A2 ǁ 178b37–38 ἐπισυμβαίνει οἷον AM : ἐπισυμβαίνειν εἴωθε A2 ǁ 225b27 Λυσιμάχου A2 : Σελεύκου AM ǁ 320b12 δὲ M : οὖν A2 : om. A ǁ 328a35 εἶδον M : ἰνδὸν A : ἰδὼν A2 ǁ 336b25 τρίτων AM : τούτων A2 ǁ 343a21 Ὄσιριν AM : Σείριον A2 ǁ 369a16 ἐποίουν A2 : ἔσπευδον AM ǁ 459a9 πρὸς τὸ οἴκοι ἐνδιατρίβειν A2 : om. AM ǁ 477b4 σὺν A2 : om. AB.
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Severyns’ abzuleiten, nach der A2 keine Zusatzquelle vor sich hatte, mit der er nämlich alle A-‚Lücken‘ geschlossen hätte. Eine Konsequenz der Abhängigkeit A2-M – so sie sich bestätigen würde – wäre also die Gewissheit, dass der Rückgriff auf die ‚Photianischen Materialien‘ erst nach der Aktivität von A2 stattgefunden hat. S .D
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Hypothese: Gewisse ‚leitende‘ Lesarten von A2 sind auch in M vorhanden – der von A abhängige M-Text hat erst nach der Aktivität von A2 (11./12. Jh.) den Einfluss der ‚Photianischen Materialien‘ erfahren. Nun hat Hägg aber wenigstens für die drei von ihm beobachteten Stellen (s. o.) diesen Widerspruch entschärfen können: Gemäß seiner Kontrolle an der Handschrift zeigt es sich, dass „es sich hier um Ergänzungen von der Hand des ursprünglichen Schreibers selbst handelt, die er auf Grund des Vergleichs mit seiner Vorlage gemacht hat. Die verblaßte Schrift hat dann A2 […] nur aufgefrischt.“163 Doch wie sieht es mit den anderen zahllosen A2M-Verbindungen gegen A in Henrys Apparat aus? Gehen wirklich auch diese letztlich allesamt auf A1 zurück? Kollationiert man im Falle einer langen Reihe der bei Henry genannten A2MVerbindungen durch die ganze „Bibliotheke“ die Handschrift A in situ,164 so 163 Hägg [Anm. 43], S. 43. Auch Martini [Anm. 7], S. 54, sieht für 108b1–2 A2 lediglich als ‚Auffrischer‘ am Werk. 164 Vgl. die Appendix unten mit den jeweiligen Stellen aus den Kapiteln 1–65, 167–184, 222, 234–239, 243 und 265–274.
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wird einerseits klar, dass Henrys Angabe „A2“ in den meisten Fällen nicht zutreffend ist, und andererseits zahllose Verbesserungen von A2 oder anderen Händen in seinem Apparat nicht vermerkt worden sind.165 Des Weiteren ist, häufig im Falle von Rasur, schlicht nicht festzustellen, wer der Urheber der Verbesserung war.166 Sicher A2 zuzuweisen sind nur Korrekturen, die, nicht übermalt, klar eine der Tintenfarben von A2 oder seine Schrift zeigen.167 Als Ergebnis der Überprüfung der von Henry verzeichneten A2M-Übereinstimmungen kann nun festgehalten werden, dass die entsprechenden Lesarten (a) entweder bereits von A1 geschrieben und eventuell durch A2 übermalt wurden oder (b) einfacher Natur sind (Itazismen etc.) und deshalb ohne Weiteres zwei Mal unabhängig voneinander auszuführen waren. Es seien jeweils einige Beispiele genannt (vgl. für Weiteres bzw. genauere Angaben die Liste im Anhang). (a) Von A1 ausgeführt, teils durch A2 übermalt (=+2): 2b16 ὑποτεταγμένων A : τῶν s. l. A1 : τῶν ὑποτεταγμένων M 5b31 τὸ A1s. l. +2 M : om. A 112b30 καὶ πόσαι εἰσὶν αἰσθήσεις A1 in marg. +2 : πόσαι εἰσὶν αἱ αἰσθήσεις M : om. A 116b3 αὐτοῦ γράμματα A : αὐτοῦ συγγράμματα A1+2 : φέρονται add. A3 : συγγράμματα M 118a21 τὸν A1s. l. +2 M : om. A 118a37 χρηματίσαντος Ap. ras. 1 M : χρημαντίσαντα A 199b15 δὲ A1s. l. +2 M 202a11 ὁ A1s. l. +2 M 308b39 ὁ Ὅμηρος M : Ὅμηρος A1s. l. +2 : om. A 490b40 σξε A1p. c. M : σξδ A1a. c. 509b37 τὸ δεξιὸν A1s. l. +2 M : δεξιὸν A (b) Einfache A2-Korrekturen: 19b10 ἀδίκως A2 M : ἀδίκους A1 21b21 ῥωμαίοις A2 M : ῥωμαίους 22a9 τῆς βασιλείας Α2 M : τῆς βασιλεί A 29a13 Ἀριστοβούλου A2 M : Ἀριστούλου A 165 Dies mag auch daran liegen, dass Henry offenbar größtenteils mit Mikrofilm gearbeitet hat (vgl. Isépy, Primavesi [Anm. 9], S. 132–133). 166 Rasuren werden von Martini [Anm. 7], S. 12, grundsätzlich A2 zugewiesen, können aber, gerade wenn keinerlei zusätzliche Emendation getätigt worden ist, auch von der bzw. einer ersten Hand stammen. Zwar sind nämlich viele über Rasur eingetragene Verbesserungen von einer jüngeren Hand, d.h. wohl von A2 ausgeführt. In einigen Fällen jedoch scheint auch eine Hand der frühen Minuskel über der Rasur verbessert zu haben, vielleicht „Hand A“ der in A tätigen Kopisten (vgl. Cavallo [Anm. 46], S. 158–162). 167 Wie schon Martini [Anm. 7], S. 12, bemerkt, ist „[s]eine Tinte […] braun, je nach dem Pergament manchmal heller, manchmal dunkler schimmernd“. Die dunklere Tinte neigt dazu, ‚abzublättern‘ bzw. nicht vollends am Pergament zu haften oder auszubleichen (vgl. z.B. f. 31v in marg.), die hellere Tinte ähnelt jener der ersten Hände (vgl. f. 499r). Liegt keine Übermalung vor, so lässt sich häufig im ersteren Fall aufgrund der Tinte, im letzteren Fall durch die Schriftform eine begründete Identifizierung vornehmen.
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112b39 τὰ μετὰ τὰ φυσικὰ A2 M : τὰ μεταφυσικὰ A 113a7 δὲ Ap. ras. 2 M : om. A 192b34 ὑιοῦ Α2 M : υ(ιο)σ A 207b26 αὐτὸ A2 M : αὐτῶ A 302a8 εἰς τὴν εἰς Χριστὸν πίστιν A2 M : εἰς τὴν Χριστὸν πίστιν A 306b22 καταλελοιπέναι Α2 M : καταλέλοιπεν καὶ A 309a22 ὑμεῖς Ap. ras. 2 M : ἡμεῖς A 309a29 τὰς τῆς ἡλικίας … μεταβολάς A2 in marg. M : τὰς ἡλικίας … μεταβολάς A 311b34 ἀπαγορευτικοὺς A2 M : ἀπαγορευτικὰς A 321b27 καθειμένος cod. B, Areth.: καθειμένας A2 M : καθημένας A 321b34 πάνακτον A2 M : πάρακτον A ut vid. 355b15 ὑπάρχη A2 M : ὑπάρχει A 356b24 καινὴν A2 M : κενὴν A 357a2 ταύτην τὴν δόξαν A2 M : ταύτην δόξαν A 357a13 χρησάμενοι Α2M : χρησάμενος ut vid. A 358b11 ποιεῖν A2 M : ποιεῖ A 495a4 κατέλιπε δὲ A2 M : κατέλιπεν A 499a38 τοὺς πόδας τοῦ σωτῆρος τοῖς δάκρυσιν ἐπιρραίνουσα Ap. ras. 2 M : τοῖς ποσὶν τοῦ σωτῆρος τοῖς δάκρυσιν ἐπιρρένουσα Aa. ras. 501a39 πήρωσιν Ap. ras. 2 M : πείρωσιν ut vid. Aa. ras. 502a7 τότε δὴ τότε A2 M : τότε δὲ τότε A 504b9 ἐκβάλλοντες A2 M : ἐκβάλλον 509b2 ἀντὶ τοῦ ὅτι καταμανθάνουσιν A2 M : ἀντὶ ὅτι καταμανθάνουσιν A.
Selbstverständlich können nun alle bereits von A1 getätigten Eintragungen (a) eine Abhängigkeit M-s von A nach der Aktivität von A2 nicht beweisen, da sie von *(M) auch schon bei einer früheren Abschrift von Codex A übernommen werden konnten. Auch die unter b) genannten A2M-Übereinstimmungen fallen diesbezüglich aus, da es sich um leichtere Emendierungen handelt und sowohl A2 als auch der M-Redaktor den Text bewusst zu verbessern bzw. zu glätten versucht haben. Fehler hinsichtlich der Antistoicha (d.h. der gleichlautenden Vokale bzw. Diphthonge) oder hinsichtlich einfacher Kongruenz wurden von beiden Korrektoren selbstverständlich currente calamo ausgebessert. Einige wenige Einzelfälle scheinen zwar vielleicht auf den ersten Blick eine A2-M-Abhängigkeit nahe zu legen, doch entpuppen auch sie sich als koinzidentell.168 – 492a27 δ´ καὶ κ´ ἔτη γεγονότα Henry: τέσσαρα καὶ εἴκοσι γεγονότα A : τέσσαρα καὶ εἴκοσι ἔτη γεγονότα A2 (ἔτη in marg.): τέσσαρα καὶ εἴκοσι γεγονότα ἔτη M – 506a1 περικαθαίρων τὴν τοῦ βίου κηλῖδα A2 : περικαθαίρων τοῦ βίου τὴν κηλῖδα M : περικαθαίρων τοῦ βίου κηλῖδα A 168 Es gibt zugegebenermaßen einige Fälle, die eine genaue Zuweisung an die Hände nicht zulassen und daher nicht zu Beweiszwecken herangezogen werden können (siehe auch Anm. 166). Dazu gehören alle Stellen, wo Rasur vorliegt, es allerdings nicht klar ist, was A ante rasuram aufwies und so nicht entschieden werden kann, ob M auch unabhängig zu demselben Ergebnis wie A2 hätte kommen können. Immerhin betreffen jedoch viele Rasuren itazistische Fehler, so dass dies gut möglich erscheint. Zum anderen gibt es Einzelfälle, wie 313b3 μὴ A(1 ut vid.) s. l. +2 M : om. A, die entweder bereits auf A1 zurückgehen oder zwei aufmerksame Korrektoren voraussetzen.
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Die Lesart einer Randnotiz von A2 erscheint in diesen beiden Fällen leicht verschoben in M, was ein typisches Anzeichen von Abhängigkeit sein könnte. Doch da in beiden Fällen das durch A2 hinzugefügte Wort (ἔτη auf f. 498r bzw. τὴν auf 513v) so eng am Zeilenende positioniert ist, kann eine mögliche Falscheinfügung ausgeschlossen werden. Zudem erfordert korrektes Griechisch hier ἔτη zur Altersangabe bzw. den bestimmten Artikel vor κηλῖδα. – 509b34 ποὺς ὑπερηφανίας A2 M : πῶς ὑπερηφανίας A Die Alternativlesarten ποὺς : πῶς sind nicht durch eine triviale lautliche Übereinstimmung, sondern wohl eher paläographisch zu erklären. Doch wird jeder aufmerksame Leser aus dem Kontext das Fragepronomen πῶς zu πούς korrigiert haben, da Johannes Chrysostomos hier (Kap. 274) den vom Psalmisten angeführten ποὺς ὑπερηφανίας (‚Fuß der Arroganz‘, Ps 36,12) im vorangehenden Satz zitiert.
Es zeigt sich also, dass es – gemessen an der von uns ausgeführten Kollation weiter Passagen der „Bibliotheke“ – keine A2M-Kongruenzen gegen A zu geben scheint, die nicht unabhängig durch zwei Korrekturvorgänge hätten entstanden sein können. c) Darüber hinaus sind wir jedoch auf eine ganze Menge von evident richtigen bzw. wenigstens sehr einleuchtenden A2-Konjekturen gestoßen, die nicht im MText anzutreffen sind.169 Einige Beispiele: 124a12 ἀναζαρβεύς A2 : ἀναβαρζεύς AM (119r) 191b21 ἐμυήθ(η) Aa. m. ut. vid. +2 in fine versus : om. A : om. M in lac. (191r) 199b13 διὰ A2 s. l. : om. AM (199v) 202a33–34 νεκρὸν ἐγεῖραι; τὸν ἐν βηθανία λάζαρον ἤγειρεν· ἐν ἧι A2p. ras.: νεκρὸν ἐγεῖραι … ἐν ἧι plus de A non constat : νεκρὸν ἐγεῖραι Λάζαρον ἀλλ’ ἐξ εὐσεβούσης οἰκίας ἐν ᾗ M (202v). 295a8 εἰσοικῆσαν Ap. ras. 2 : εἰσοικίσθαι M : εἰσοικ … αι plus de A non constat (307r) 305b8 γεγονέναι A2s. l. : γέγονεν AM (317r) 306b25 τούτων ποιητὴν εἰπεῖν ἀνάγκη A2 partim p. ras. : τούτων εἰπεῖν ἀνάγκη A : αἴτιον τούτων M (318r) 308b15 τὸ ἐν τοῖς εὐαγγελίοις εἰρημένον Μ : τὸ τοῖς εὐαγγελίοις εἰρημένον Α2s. l. : τοῖς εὐαγγελίοις εἰρημένον Α (320r) [Der M-Text scheint unabhängig emediert worden zu sein.] 360a17 συνιέντα A2 : συνιόντα AM (361v) 360a17 εἰ ἐθέλεις A2 : ἐθέλεις AM (361v) 369a16 ἐποίουν Ap. ras. 2 : ἔσπευδον Aa. ras. M (370v) 371b41 ἀνάξιοι τῆς πατρώας ἀρετῆς γενόμενοι A2 : ἀνάξιοι τῆν πατρώαν ἀρετὴν γενόμενοι AM (373v) 493b27 πολεμική A2s. l. : πομπικὴ AM (500r) 494b1 φυγεῖν Α2: φυγὴν AM (500v) 494b2 παρασκευαζομένων A2 : παρασκευαζομένη AM (500v)
Das zweifache Ergebnis unserer Kollationen der A2-Korrekturen ist also, dass einerseits nur verhältnismäßig einfache Lesarten auch im M-Text zu beobachten sind (vgl. b), andererseits aber eine ganze Reihe von richtigen und teils nicht trivialen Lesarten (vgl. c) dort nicht zu finden ist. Dies lässt sich nur dadurch befriedigend erklären, dass die A2-Eintragungen bei der Abschrift des Textzeugen 169
Siehe auch Anm. 162. Die Folienangaben in Klammern beziehen sich auf Codex A.
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*(M) von A noch nicht in A vorzufinden waren und gewisse, einfachere Verbesserungen von den Korrektoren *(M) und A2 unabhängig voneinander zwei Mal ausgeführt worden sind.170 Der großteils von A abhängige M-Text muss also – über *(M) – aus A geflossen sein, als der Schreiber A2 die Handschrift noch nicht durchgearbeitet hatte. So ist die in diesem Teilkapitel überprüfte Hypothese einer A2-M-Abhängigkeit widerlegt und der sekundäre Einfluss der ‚Photianischen Materialien‘ in *(M) kann durchaus früh, schon kurze Zeit nach der Entstehung von Codex A, stattgefunden haben. Nach all dem lässt sich also die für die constitutio textus im Allgemeinen relevante Überlieferung der „Bibliotheke“ graphisch wie folgt darstellen: S .D
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170
Zwar hat Martini [Anm. 7], S. 12–13 und S. 55, zweifellos recht, dass der Kopist A3 (vgl. Martini [Anm. 7], S. 13–15, Raimondo Tocci: Bemerkungen zur Hand des Theodoros Skutariotes, in: Byzantinische Zeitschrift 99, 2006, S. 127–144, hier: S. 131–132 und S. 135– 136, Margherita Losacco: Niceforo Gregora lettore di Fozio, in: Storia della scrittura e altre storie, hg. v. Daniele Bianconi, Roma 2014, S. 53–100, hier: S. 73, Micunco [Anm. 37], S. 108, Anm. 71, und Zorzi [Anm. 69], S. 837) keine größeren Textergänzungen vorgenommen hat und daher wohl konjektural gearbeitet hat (z.B. 22a6 ὕστερον καὶ A3(καὶ abbr. inser.) M : ὕστερον A; 21v oder 194b20 ῥαπίσμασι A3 s. l. : ῥαπίσματι AM; f. 194r). Doch sei darauf hingewiesen, dass A3 bisweilen am Rand vor einer Alternativlesart ein γρ(άφετ)αι notiert, was strenggenommen auf eine anderswo zu findende varia lectio hinweist; so z.B. auf f. 20v Κωνστάς zu Κωνστάντιος (20b31–32) und f. 318r δὴ zu ἢ (306a12). So es sich nicht doch um freihändig Hinzugesetztes handelt, scheidet jedenfalls M als Lesarten-Lieferant aus, da es an den jeweiligen Stellen nichts Entsprechendes aufweist. Da auch der Gebrauch der Vorlage von M nicht erklären könnte, warum A3 dann nicht auch andere Lücken in A verbessert hat, mag das γρ. am ehesten auf Primärtexte Bezug nehmen.
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Struktur der (teilweise) unabhängigen Überlieferung der Photianischen „Bibliotheke“: Der M-Text ist zu großen Teilen von A abhängig. Die Vorlage von M, *, wurde von A abgeschrieben bevor der Gelehrte A2 (11./12. Jh.) seine Eintragungen vorgenommen hat.
VIII. Vorschlag für die Methode der constitutio textus der „Bibliotheke“ Bei voneinander abweichenden Überlieferungssituationen innerhalb ein und desselben Werkes muss verständlicherweise auch die Methode der constitutio textus auf die jeweiligen Umschwünge hin angepasst werden. Nun haben wir es im Falle der „Bibliotheke“ grundsätzlich mit zwei unterschiedlichen Konstellationen zu tun, in denen sich die beiden maßgeblichen Handschriften, A und M, zueinander befinden. Alles deutet darauf hin, dass im weitaus größeren Teil der „Bibliotheke“ die jüngere Handschrift M vollständig vom ‚Original‘ A abhängig ist und ihr Text sich lediglich durch stilistische Glättungen oder eigene Fehler von dem in A überlieferten Wortlaut unterscheidet. Im Falle einiger Kapitel jedoch hat der M-Text in A überlieferte Fehler durch die Benutzung von ‚Photianischen Originalmaterialien‘ (σχεδάρια), die auch schon Vorlage für A gewesen waren, oder von Primärtexten emendieren können. Es scheint nun weniger problematisch, für diese beiden Überlieferungssituationen die entsprechende Methode für die Textrekonstruktion zuzuweisen, als vielmehr die beiden Bereiche zu erkennen und genau voneinander abzugrenzen. Es liegt auf der Hand, dass für alle Kapitel der „Bibliotheke“, für die sich in irgendeiner Weise die Benutzung von Korrekturmaterial im M-Text nachweisen lässt, auch die Unabhängigkeit von M feststeht: Damit liegt hier im Grunde eine zweispaltige Überlieferung vor, wie sie von Martini und Severyns – doch für die ganze „Bibliotheke“ und hinsichtlich eines zu rekonsturierenden Archetypus, ‚jünger‘ als das Original –, skizziert worden war. Beide Textzeugen, A und (die Vorlage von) M hatten hier Zugang zu den ‚Photianischen Materialien‘, so dass M-Lesarten – wenigstens potenziell – dieselbe stemmatische Güte haben wie Lesungen von A. Um also zur Rekonstruktion des Wortlautes der ‚Photianischen Materialien‘ zu gelangen – nur so kann das Ziel der constitutio textus der „Bibliotheke“ nämlich lauten –, gilt es hier also eine examinatio der Varianten von A gegen M im Maasschen Sinne durchzuführen,171 und, soweit möglich, die Entscheidung für die insgesamt bessere der beiden Varianten zu treffen. Als ‚Schiedrichter‘ zwischen den Varianten können dabei – soweit überliefert – die Primärtexte oder manchmal auch für nur einzelne Kapitel relevante Sonderphänomene dienen. So ist es etwa für das Helladios-Kapitel (279) mög-
171
Vgl. Maas [Anm. 6], S. 9–15.
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Die Überlieferung der „Bibliotheke“ des Photios und die Frage nach dem Archetypus
lich, das Kriterium des iambischen Versmaßes bei unterschiedlichem Wortlaut in A, d.h. A†(vI) und M anzuwenden.172 Zu dieser Gruppe der ‚zweispaltig‘ überlieferten Textstücke der „Bibliotheke“ zählen nun mit Sicherheit all jene Kapitel, in denen der Rückgriff auf Korrekturmaterial durch die Existenz von A-‚Omissionen‘ bewiesen wird. Dies sind die Kap. 59, 185, 234, 236–239, 241–250, 258, 277 und 279 – bis auf die Sonderfälle von Kap. 59 und 185173 allesamt in der zweiten Hälfte der „Bibliotheke“ (Kap. 233–280) gelegen. Ob ein Rekurs auf ‚Originalmaterialien‘ auch für die Kap. 240, 278, 280 angenommen werden muss, ist unklar, aber auch nur insofern von Belang, als der A-Text für diese Bereiche überhaupt rekonstruierbar ist.174 Auf der anderen Seite würde man bei einer nachgewiesenen Abhängigkeit M-s von Codex A fraglos zustimmen, dass A bei der Textkonstitution die Rolle des codex unicus einnimmt. Die M-Lesarten (nicht -Varianten!175) hätten hier – technisch gesprochen – keinen höheren Wert mehr als an anderer Stelle der Überlieferung getätigte Konjekturen und dürften erst dann ‚zur Anwendung kommen‘, wenn sich der A-Text als sprachlich oder inhaltlich „unerträglich“176 erwiesen hat. Es geht hier also nicht mehr um die Wahl der insgesamt besseren von zwei Lesarten, sondern um die Frage, ob der in A überlieferte Wortlaut gehalten werden kann oder nicht. Doch für welche Kapitel der „Bibliotheke“ darf man mit Sicherheit von einer vollständigen Abhängigkeit der Handschrift M von A sprechen? Im Lichte der Erkenntnis, dass A die Erstkomposition der „Bibliotheke“ darstellt, muss M überall dort als von A abhängig gelten, wo nicht das Gegenteil, d.h. die Unabhängigkeit von M, bewiesen werden kann. Dies ist gleichsam unweigerlich – aber auch ohne weitere Bedeutung für die constitutio textus – in jenen 33 Kapiteln des ersten Teils der „Bibliotheke“ der Fall, in denen die Handschriften A und M überhaupt keinen Unterschied in ihrem Wortlaut aufweisen bzw. M lediglich durch Omissionen von A abweicht.177 Darüber hinaus hat Codex A so lange als textkonstituierend zu gelten, als nicht bewiesen werden kann, dass M vom Wortlaut von A nicht suo ingenio, sondern nur unter Rückgriff auf ‚Photianisches Material‘ oder etwaige Primärtexte abgewichen sein kann. Ein solches jedoch angesichts der in aller Regel trivialen bzw. ohne Weiteres durch freie Korrektur und Konjektur auszuführenden Abweichungen des M-Textes nachweisen zu können, scheint uns insbesondere für den ersten Teil 172
Vgl. Isépy [Anm. 10], S. 221–228. Siehe oben, V., 1) und Anm. 103. 174 Siehe oben, Anm. 37, 64 und v. a. 92. 175 Vgl. Maas [Anm. 6], S. 6, § 7 c). 176 Vgl. Maas [Anm. 6], S. 10, § 14. 177 Dies sind die in der Regel sehr kurzen Kapitel 2, 7, 1–12, 15–16, 20–21, 38–39, 45, 100–101, 110, 122–124, 130–135, 142, 145–148, 151, 154 und 156–157. 173
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der „Bibliotheke“ (Kap. 1–233), d.h. die ‚Worte des Photios‘ – mit Ausnahme von Kap. 59 und 185 – nur schwer möglich.178 Letztlich kann es aber nur die Prüfung der Lesartenabweichungen zwischen A und M im Einzelkapitel sein,179 die eine weitere punktuelle Unabhängigkeit M-s erweisen, und die Lesungen von M für das jeweilige Kapitel aus einer Stellung coiecturae instar in den Stand von Präsumptivvarianten180 erheben könnte. Dies ist, wenn überhaupt, für jene 28 Kapitel des zweiten, Exzerptteils der „Bibliotheke“, zu erwarten, für die eine M-Unabhängigkeit nicht ohne Weiteres durch die Beobachtung von A-‚Omissionen‘ gesichert werden konnte.181 Da ein Rekurs auf ‚Originalmaterialien‘ nämlich in diesem Werkteil alles andere als erstaunlich wäre, muss es Hauptaufgabe des Editors sein, eine mögliche Unabhängigkeit der M-Lesarten im Einzelnen zu prüfen.
IX. Fazit Aus dem Vorhergehenden ist klar geworden, inwiefern die eingangs zitierte Behauptung, nach welcher die Überlieferung der „Bibliotheke“ durch die starre Anwendung der „Maasschen Methode“ nicht zu greifen wäre, zutrifft. Der Codex Marc. gr. Z. 450, A, aus dem Ende des 9. Jh.s hat sich durch die Erkenntnisse der neueren Forschung als das ‚Original‘ der „Bibliotheke“ erwiesen und stellt die Erstsynthese der „Bibliotheke“ aus ‚Photianischen Originalmaterialien‘, der ὑποθέσεις (1–233) und σχεδάρια (234–280), dar. Entgegen der communis opinio des 20. Jh.s ist A so auch (indirekter) Vorfahre des Codex Marc. gr. Z. 451, M, der bis zuletzt als vollständig unabhängig gegolten hat. Wie nun im vorliegenden Beitrag gezeigt worden ist, wird diese grundsätzliche Abhängigkeit nur in einem Bruchteil – nach bisherigem Ermessen in gut 20 der 280 Kapitel – durch einen Rückgriff eines Bearbeiters des M-Textes auf die ‚Photianischen Originalmaterialien‘ durchbrochen. Die „Maasschen Regeln“ können verständlicherweise nur an eben diesen Punkten in Form der examinatio zum ‚Zuge kommen‘, da hier die Unabhängigkeit der Handschrift M durch ein Umgehen von Codex A bewiesen ist und damit in gewissem Sinne eine zweispaltige Überlieferung vorliegt. Es ist aber der speziellen Natur der „Bibliotheke“ als 178 Solange dem durchaus nicht selten fehlerhaften Text von A nur richtige M-Lesarten gegenüberstehen, die durch – wenn auch nicht jedem Byzantiner zuzutrauende – Konjektur entstandenen sein können (z.B. 229a17 Κάμιλλος M : κάμηλος A), reicht dies für eine Unabhängigkeit von M freilich nicht aus. Dass die Konjektur von nicht ohne Weiteres aus dem Kontext zu erschließenden (lateinischen) Namen versucht und teils mit Erfolg unternommen wurde, zeigt auch die Arbeit der Korrektoren A2/3 (z.B. 66a3 Ἰνοκέντιον Α3Μ : Ἰοκέντιον A, 230b29 Μάνιος AM : Μάριος A2). Die Nennung eines anderweitig nicht erwähnten Namens 14a1 Δοτιανὸς M : διά τινος A (Kap. 53) könnte den Sachbestand der punktuellen Unabhängigkeit vielleicht aber erfüllen. 179 Vgl. bereits Isépy [Anm. 10], S. 221–228. 180 Vgl. Maas [Anm. 6], S. 8, § 10 bzw. 14, § 19 c). 181 Kapitel 235, 251–257 und 259–276.
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Zusammenstellung verschiedener Primärmaterialien geschuldet, dass ein – andernfalls paradoxer – Rückgriff vor das ‚Original‘ A überhaupt möglich ist. Das Besondere an der Überlieferung der „Bibliotheke“ ist das Schwanken zwischen dieser Konstellation und der für den Großteil des Werkes bestehenden Abhängigkeit A–M, die Codex A die Rolle des codex unicus zuteilt. Wenn Henry in seiner Edition das Motto „Je n’ai suivi M que là où A présente un texte déficient“182 ausgerufen hat, so ist er, gemessen an seinem Bekenntnis zu einer zweispaltigen Überlieferung, im Grunde unmethodisch verfahren; doch er hat instinktiv die richtige Richtung gewählt. Denn er hat damit einen methodischen Ansatz formuliert, der aus heutiger Sicht im Grunde immerhin für den Großteil der „Bibliotheke“ angewendet werden muss. Die entscheidende methodische Erkenntnis für den Editor besteht allerdings darin, dass die constitutio textus der ganzen „Bibliotheke“ nicht nach ein und derselben Methode erfolgen kann. Vielmehr müssen sich die beiden Konstellationen – A als Codex unicus bzw. die Zweiteilung A–M – auch methodisch in der Textkonstitution niederschlagen. Appendix Stichprobenkollationen von in Henrys Apparat als A2M : A-Verbindungen notierten Stellen an der Handschrift A in situ (teilweise auch an M = *). Hinzugenommen sind einige Fälle, die beim Durcharbeiten der Handschrift aufgefallen, aber nicht bei Henry vermerkt sind. (In Klammern sind die Folienangaben von A angegeben, manchmal mit Spalte und Zeile; z.B. 8v A7 ex inf.). +2 = Übermalung durch A2; a. m. = alia manus; m. rec. = manus recentior; p. c./a. c. = post/ ante correcturam; p. ras./a. ras. = post/ante rasuram; A1 manus A = „Kopist A“ der an Codex A beteiligten Schreiber (vgl. Cavallo [Anm. 46], 158–162); ex atram(ento) / litt(erae vel -erarum) forma = Entscheidung auf Grundlage der Tinte / der Buchstabenform.
KAP. 1–65: 2b16 ὑποτεταγμένων A : τῶν s. l. A1 : τῶν ὑποτεταγμένων M (5v) ǁ 2b25 ἔαρος A1M : ἑνός A (5v) ǁ 3a15 αἰγόκερων τὲ· καὶ M* (7v) : αἰγοκέρω τὰ καὶ A1a. c. : αἰγοκέρω τὲ καὶ A1p. c. +2(partim) (6r) ǁ 3b19 λαμπρὸς A2(ex atram.) M : λαμπρῶς A (6r) ǁ 4a16 δεῖ Aa. m. (2 ut vid.) M : δὴ A (6v) ǁ 4b10 φασὶ Ap. ras. 2(ex atram. et litt. φ forma) M : φησὶ A (7r A) ǁ 4b17 Ἀντωνίνου A : Ἀντωνίου Ap. ras. (-ν-) M (7r) ǁ 5a39 ματαιοπονίαν A : s. l. -λογϊ- varia lectio A1(ut vid. ex litterarum λ et γ forma) (+2?, ex litt. | forma), exp. et del. manus rec. : ματαιολογίαν M (7v A15) ǁ 5b11 Φιλόπονον A3(ut vid. ex atram.) M : Φίλιππον A (7v) ǁ 5b31 τὸ A1s. l. +2 M : om. A (7v) ǁ 6a3 ἀποκατέστη Ap. c. (5? ex atram.) M : ἀπεκατέστη A (7v B v. ult. ex inf.) ǁ 6a41 βελτίων A1s. l. M : βλτίων A (f. 8r) ǁ 7a2 ἀφεῖναι A1 v. lec. (εῖ s. l. A1 ex atram.) M : ἀφῆναι A (8v A 7 ex inf.) ǁ 7a20 ἐπιλαβόμενος ut. vid. A : ἐπιλυόμενος Ap. ras. M (8v) ǁ 10a25 πάντων A1a. ras. (+ p. c. m. rec., 2 ut vid.) M : πάντα Ap. ras. Henry (11r) ǁ 11a28 γνωμολογικὸς Ap. ras. m. rec. (2 ut vid.) (-λο-, -γι- s. l.) M : γνωμολ[±1]κὸς plus de A1 non constat (12r) ǁ 11a32 ἁλώσεως Ap. ras. +2(ex atram.) M : de A non constat (12r) ǁ 12b20 ἀδελφιὸν Aa. m. -ι- s. l. (2 ut vid. ex atram. et litt. ϊ forma) M : ἀδελφὸν A (13r) ǁ 13a22 ἐμπίπτων Ap. ras. +2(ut vid. ex atram.) M : de A non constat (13v) ǁ 13b6 Λαμπέτιος A2(ex atram. fusciore) +3(ex litt. -ΪΟ- forma et atram. clariore) M : Λαμπέτις vel Λαμπέτης A1a. c. ut vid. (13v) ǁ 14a1–2 Τεπτεντεσίου Aa. m. (2?) M(τοῦ 182
Henry [Anm. 1], I, S. XLIV. Siehe oben, Anm. 45.
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Τεπτεντεσίου): Τεπεντεσίου A1 (15r) ǁ 14a12 ἓξ· ἀναθεματίζει Aa. m. (2 ut vid. ex atram.) M : ἐξαναθεματίζει A1 (15r) ǁ 14b15 λέγουσι γὰρ A2ut vid. ex atram., -ϊ Γ-) M : fort. λέγουσιν γὰρ Aa. ras. (15v) ǁ 16b24 Ἀσκανίου Ap. ras. 2(ex atram.) M : de Aa. ras. non constat (17r) ǁ 16b37 ὕβρει Ap. ras. 2 ut vid. M : de Aa. ras. non constat (17v) ǁ 17b29 πτολεμαΐδοσ Aa. m. (2 vel 3?) M : πτολεμαΐοσ A1 (18r) ǁ 18a9 τρϊοβολιμαίους Aa. m. (2 vel 3?) : τριωβολιμαίους M : τριβολιμαίους A1 (18r) ǁ 19b10 ἀδίκως A2(ex atram.) M : ἀδίκους A1 (19v) ǁ 20b33–34 ὁ δὲ ἕτερος Ap. ras. 1 manus A ut vid. (ex litt. -ὲ ἕ- forma minuscula antiqua) vel 2? : fort. ὁ δεύτερος A1a. ras. (20v) ǁ 21b21 ῥωμαίοις A2(ex atram.) M : ῥωμαίους (21r) ǁ 22a6 δὲ vel δ’ ὕστερον Ap. ras. et corr. manuum duarum (1 manus A et 2?) : de A1 non constat (21v) ǁ 22a9 τῆς βασιλείας Α2(-ας in abbr., ex atram.) M : τῆς βασιλεί A (21v) ǁ 24a17 ἀπώνατο Α1 manus A ut vid. (ex litt. -τ- forma minuscula antiqua) M : ἀπώνα A (23v) ǁ 26a12 Θεοφάνους A3 ut vid. (ex atram. et litt. ους forma) M : Θεοφάν. plus de A1 non constat (26r) ǁ 27a31 ὡς πρίν Ap. ras. 2 (ex litt. -ϊν forma) M : de A1 non constat (27r) ǁ 29a13 Ἀριστοβούλου A2(ex atram.) M : Ἀριστούλου A (28v) ǁ 29b18 δημηγορεῖ A2 ut vid. (ex litt. µ forma, -μη- s. l.) M : δηγορεῖ A (29r) ǁ 30a23 βασιλικοὶ A1 manus A, -λι- s. l. (ex litt. forma et atram.) +2? M : βασικοὶ A (29v) ǁ 31b35 διεμελέτησαν A2 ut vid. (ex atram.) M : διεμελέτησεν A (31r) ǁ 32a16–17 μεμενήκασιν A2 ut vid. (ex litt. ε forma, -ε- s. l.) M : μεμνήκασιν A (31r). KAP. 167–184: 112a23 πρὸς M A3?(ut vid. ex litt. -C forma et ex atram.) : πρὸ A (107v) ǁ 112b30 καὶ πόσαι εἰσὶν αἰσθήσεις A1 in marg. +2 : πόσαι εἰσὶν αἱ αἰσθήσεις M : om. A. (108r) ǁ 112b39 τὰ μετὰ τὰ φυσικὰ A2 (` τὰ s. l.; ex atram. et litt. τ forma) M : τὰ μεταφυσικὰ A (108v) ǁ 112b41 εἴτε A : εἴτε καὶ A1? +2(abbr. s. l.) M (108v) ǁ 112b42 τοῦ A1? +2 M : om. A (108v) ǁ 113a7 δὲ Ap. ras. (ex atram.) M : om. A (108v) ǁ 113a31 εὐκαίρως A1corr. M : ἀκαίρως A (108v) ǁ 114a5 φέρειν A2 (ut vid. ex atram.; litt. N inser.) M : φέρεισ. plus de A non constat (109v) ǁ 114a16–17 τῶν ὑποθηκῶν A1(τῶν s. l.) +2 M : ὑποθηκῶν A (109v) ǁ 115b26 καλῶν Ap. ras. +2 : de A (καλλῶν?) non constat (111r) ǁ 116b3 αὐτοῦ γράμματα A : αὐτοῦ συγγράμματα A1 +2(litt. γ s. l.) : φέρονται add. A3 : συγγράμματα M (111v) ǁ 117a8 συγγραφεὺς A p. ras. a. m. (2? ex atram.) M : συγγραφὲσ A (112r) ǁ 117b8 ἀλλόκοτον Ap. ras. 1 ut vid. +2 M : de A non constat (112v) ǁ 118a13 ἐπιτέλειται Ap. ras. 2 ut vid. (ex atram.) : de A non constat (113r) ǁ 118a18 τοῖς Ap. ras. 1 +2 M : ταῖς A (113r) ǁ 118a21 ἀνελήφθη Ap. ras. 2(litt. -ε-) M : de A non constat (113r) ǁ 118a21 τὸν A1 s. l. +2 M : om. A (113v) ǁ 118a34 ἱεροσολύμων A1 p. ras. (litt. -λ-) +2 (113v) ǁ 118a37 χρηματίσαντος Ap. ras. 1(litt. -ος) M : χρημαντίσαντα A (113v) ǁ 120a33 διαβαλὼν Ap. ras. (1?+)2(-ιαβ-) M : de A non constat (115v) ǁ 120b13 λύκιοι A+2(-ι) M (115v) ǁ 121a15 συμβαλεῖν Ap. ras. 2(σϋμ-) M : de A non constat (116r) ǁ 121a39 θεοπόμπω Ap. ras. a. m. (ex litt. π forma)? +2(ex atram.) M : de A non constat (116r) ǁ 121b20 καὶ A+2 M (116r) ǁ 122a4 ἔκ[±4]δοσιν Ap. ras. +2 M(ἔκδοσιν) (117r) ǁ 122a18 τὸ ἐξ Ap. ras. a. m. M : de A non constat ǁ 123a38 κατασκεδάζει A p. ras. 1(-εδα-) +2 M : de A non constat (118v) ǁ 124a32 μωυσέα Aa. c. : μωσέα Ap. ras. (-υ-) M (118v) ǁ 125b25 θειάζει Ap. ras. a. m. M : de A non constat (120v) ǁ 125b34 καὶ αὐτῆ A1 s. l. sive marg. +2 M : om. A in textu (120v) ǁ 128a25 ναυῆ Ap. ras. a. m. M : de A non constat ǁ 128b22 τε A 1 ut vid. + 2 M : om. A (123v) ǁ 129a4 πυρὶ A1 in marg. +2 M : om. A in textu ǁ 129a32 τοῦ A1 in marg. +2 M : om. A (124r). KAP. 222: 182b9 μέντοι A1s. l. + 2 Μ: μὲν A (180v) ǁ 185b40 ἀγγέλους Aa. m. (1 manus M : ἀγγέλων A (ων s. l. iterum A3 [ex atram. et litt. ω forma]) (184v) ǁ 186a35 οὗ τοῖς A1+a. m. M : οὕτος Aa. c. (184v) ǁ 189b20 ἐμφάνειαν Ap. ras. 2(ex atram. et litt. -φ- forma) M : de A non constat (188v) ǁ 190a19 τὴν A1 in marg. +2 M : om. A in textu (189r) ǁ 191a31 καινοτομοῦσα Aa. m. M : κενοτομοῦσα A (190v) ǁ 191b18 αὐτὸν Ap. ras. 2 ut vid.
A?)
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M : αὐτῶ A (191r) ǁ 192b34 ὑιοῦ A2 M : υ(ιο)σ A (192r) ǁ 193b11 φυγεῖν Ap. ras. a. m. (2 ut vid.) M : φυγὴν Aa. ras. (193r) ǁ 193b23 μὴ Ap. ras. 2 M : de A non constat (193r) ǁ 194a3 καὶ A1s. l. +2 M : om. A (193r) ǁ 194a5 οὐδὲ A1+2 M (193r) ǁ 194a17 ἐλάμβανε τὸ A1+2 M (193v) ǁ 197b3 τὰ A1 marg. +2 M : om. A (197r) ǁ 198b23 ἀνθρώποις A1+2 M (198v) ǁ 199a8 πρὸς Ap. ras. 2 M : de A non constat (198v) ǁ 199b15 δὲ A1s. l. +2 M (199v) ǁ 200a28 πρὸς Ap. ras. 2 M : de A non constat (200r) ǁ 201a15 οὕτως A, A3 corr. s. l. : οὗτος A2M (201r) ǁ 202a11 ὁ A1s. l. +2 M (202r) ǁ 202a21 πόρνων Aa. m. (3?) : πορνῶν A1+2 M (202r) ǁ 204b5 κύριον Ap. ras. a. m. (3?) M : fort. nomen sacrum Aa. c. ǁ 207b26 αὐτὸ A2M : αὐτῶ A (208v). KAP. 234–239: 295a8 μου Ap. ras. 2(ut vid.) M : de A non constat (307r) ǁ 296a28 ὃν Aa. m. (2?) M : οἷον A (308r) ǁ 296b30 ἐφελκομένoυ Ap. ras. 1(ex atram.) +2? M : ἐφελκόμενον A (308v) ǁ 300a11 πρὸς Aa. m. (-σ) M : πρὸ A (312r) ǁ 302a8 εἰς τὴν εἰς Χριστὸν πίστιν A2 s. l. (εἰς) M : εἰς τὴν Χριστὸν πίστιν A (314r) ǁ 302b12 ἑαυτοῦ πλήρωμα A1+2 M (314v) ǁ 302b13 μένον Ap. ras. M : μένων A (314v) ǁ 302b38 ἑαυτὸν Ap. ras. 2(-?) M : ἑαυτὸ plus de A non constat (314v) ǁ 302b38 ἀτελὴς ἔσται M : ἀτελεὶς ἀτελεὶς A : ἀτελὴς, ἀτελὴς ἂν Ap. ras. 2(partim, bis -ὴς) (314v) ǁ 303a37 μὴ τῆς Aa. m. M : μή τις A (315r) ǁ 303b4 εἴτω A : ἤτω A1 +2(ut vid.) M (315r) ǁ 303b17 αὐτοματισμὸν M : αὖτοματισμὸν Ap. ras. a. m. ut vid. : τοματισμὸν plus de A non constat (315r) ǁ 304a8 οὐκ Ap. ras. 1(ου-) +2 ut vid. M : de A non constat (315v) ǁ 304a14 τὸ Ap. ras. M : τὸν fort. A (315v) ǁ 304b8 ἑξακισχιλιοστὸν Ap. ras. 1 +2 ut vid. M : ἑξακισχίλιος τὸν ut vid. A (316r) ǁ 304b30 φερομένης Ap. ras. M : φερομένης καὶ Aa. ras. (316v) ǁ 306a1 δύναται Ap. ras. 2 ut vid. M : δύνασθαι fort. A (317v) ǁ 306a3 κακὸν ΑΜ : κακὸς A2 (317v) ǁ 306b22 καταλελοιπέναι A2(ex atram.) M : καταλέλοιπεν καὶ A (318r) ǁ 307a28 αὐτὸ ἑαυτῶι Ap. ras. 2 M : αὐτ. ἑαυτῶι plus de A non constat (318v) ǁ 308b15 τὸ ἐν τοῖς εὐαγγελίοις εἰρημένον M : τὸ τοῖς εὐαγγελίοις εἰρημένον A2s. l. (τὸ): τοῖς εὐαγγελίοις εἰρημένον A (320r) ǁ 308b20 κατεληλυθέναι A1(-αι s. l.) +2 M : κατελήλυθεν A (320r) ǁ 308b39 ὁ Ὅμηρος M : Ὅμηρος A1s. l. abbr. +2: om. A (320r) ǁ 309a10 τὴν Ap. ras. 2 M : τὸν fort. A (320v) ǁ 309a11 τὸν Ap. ras. 2 M : τὴν A (320v) ǁ 309a17 τελευταίαν Ap. ras. 1s. l. (-αι-) M : de Aa. ras. non constat (320v) ǁ 309a22 ὑμεῖς Ap. ras. 2 M : ἡμεῖς A (320v) ǁ 309a29 τὰς τῆς ἡλικίας … μεταβολάς A2 in marg. M : τὰς ἡλικίας … μεταβολάς A ǁ 311b34 ἀπαγορευτικοὺς A2M : ἀπαγορευτικὰς A (323r) ǁ 313b3 μὴ A(1 ut vid.) s. l. +2 M : om. A (325r) ǁ 314a9 ἅπτεσθαι Ap. ras. (1? +)2 M : ἅ … plus de Aa. ras. non constat (325v) ǁ 314a11 ἥδε ἡ As. l. 1(ἡ) +2 ut vid. M : ἥδε A (325v) ǁ 314b13 τἀδελφῶ A+2(τʼ) M (326r) ǁ 319b27 κωμωιδεῖσθαι A2s. l. (ω) M(κωμωδεῖσθαι): κωμιδεῖσθαι A (301v) ǁ 320a18 προσίωσι Severyns, 1938, II, p. 42 : προσίασιν A2 M(προσίασι) : προσείασιν A (302v) ǁ 321a10 ἤδη A(1?) +2 M : εἴδη ut vid. A (303r) ǁ 321b4 ἐνστάσης Ap. ras. 2(-η- ut vid.) M : ἐνστάσεις A1p. ras. : de Aa. rasuras non constat (303r) ǁ 321b8 τινὰ Ap. ras. M : τινὰν A (303r) ǁ 321b27 καθειμένος cod. B, Areth. : καθειμένας A2 M : καθημένας A (303v) ǁ 321b34 πάνακτον A2 M : πάρακτον A ut vid. (303v) ǁ 322a13 ἑορτὴν Ap. ras. M (304r). KAP. 243: 353b5 φείδονται A+2 M (355v) ǁ 353b17 συμβουλεύοντι Aa. m. s. l. (-ον- et -ϊ) +a. m. (2?) s. l. (-ον abbr.) M : συμβουλεύτι A (355v) ǁ 353b19 ἐπηρμένος Ap. ras. +2 M : ἐπηρμένοις Aa. ras. (355v) ǁ 355b15 ὑπάρχη A2 M : ὑπάρχει A (357v) ǁ 356a26 ὁμολογεῖ A+2 : ὁμολογεῖται M (358r) ǁ 356a41 θέλει Henry : θέλη A+2 M (358r) ǁ 356b24 καινὴν A2(-αι-) M : κενὴν A (358v) ǁ 357a2 ταύτην τὴν δόξαν A2(ins. τὴν) M : ταύτην δόξαν A (358v) ǁ 357a13 χρησάμενοι A2(-ι) M : χρησάμενος ut vid. A (358v) ǁ 357b14 ὑπάρχη A1p. c. (ex atram.) M : ὑπάρχει A1a. c. +2 (359r) ǁ 358a15 νομίζοντες A+2 M (359v) ǁ 358b11 ποιεῖν A2(s. l. -ν abbr.) M : ποιεῖ A (360r) ǁ 358b32
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ὡς A1(s. l. abbr. ut vid.) +2(ὡσ) M : om. A (360v) ǁ 358b37 λοιπὸν A2M : λιπὸν A (360v) ǁ 360a18 πρεσβύτις Ap. ras. 2 M : πρεσβύτης A (361v) ǁ 363b41 βοιώτιον Ap. ras. +2, +3 ut vid. M : βοιώτικον Aa. ras. (365v) ǁ 365a37 τὸν αθηναῖον A2 M(τὸν ἀθηναῖον) : τῶν αθηναίων A (367r) ǁ 365b9 λέγη A2M : λέγει A (367r) ǁ 365b36 ἔσβεσεν Ap. ras. +2(῎) : ἐσέβεσεν ut vid. Aa. ras. (367v) ǁ 366a6 λήξεως Ap. ras. 1 ut vid. +2 M : de A non constat (367v) ǁ 366a13 ἐφιλονείκησεν σοι A : ἐφιλονείκησέ σοι A2 M (367v) ǁ 366a36 ἀφεγγεστάτην Ap. ras. 2 M : ἀφε … … plus de Aa. ras. non constat (368r) ǁ 366b15 τίς A2M : τῆς A (368r) ǁ 367a12 ἀττικῆς Ap. ras. 2 M : … κῆς plus de Aa. ras. non constat (368v) ǁ 368a2 ὅταν οἱ A1 ut vid. s. l. (-αν abbr.) +2 M : ὅτοἱ A (369v) ǁ 368a2 στυγνάζωσιν Ap. ras. 2(-ω- s. l.) M : στυγνάζεσιν ut vid. A (369v) ǁ 368a42 μελέτη A1 ut vid. +2 M : μελέτ. plus de Aa. c. non constat (370r) ǁ 369a12 ἑταίρους A2 M : ἑτέρους A (370v) ǁ 369a28 πήξαιο A2(-αι-) M : πήξεο A (370v) ǁ 371a2 παρείκουσα A1p. c. curr. cal. M : παράκουσα fort. Aa. c. (372v) ǁ 371a3 προσκλύζει Ap. ras. 2(προ-) +3(-σ-) M : … κλύζει plus de Aa. ras. non constat (372v) ǁ 371b19 εἶχε τὸν Ap. ras. 2 M : de Aa. ras. non constat (373r) ǁ 372b30 ἐπ’ ἰνδοὺς ὁ διόνυσος Ap. ras. 2 M : ἐπ’ [ras. ±6] διόνυσος (374r) ǁ 373b34 εἶχεν A2 M : εἴυχεν A (375r) ǁ 374a25 κολάσαι Ap. ras. 2 M : κολάσε vel -ει Aa. ras. (375v) ǁ 374a38 πεδίον A2 M : παιδίον A (375v) ǁ 375a28 θεάσωνται recte : θεάσωντε ut vid. A : θεάσονται A2 M (376v) ǁ 375a29–30 θεώμενοι A1 ut vid. (-ω- s. l.) +2 M : θέμενοι Aa. c. (376v) ǁ 376a26 γλῶττα A2 M : γλ[ras. ±5]τα (377v). KAP. 265–274: 490b40 σξε A1p. c. M : σξδ A1a. c. (496v) ǁ 491a42 συνδιασώσασθαι Ap. ras. 2 M : συνδια … σθαι plus de Aa. ras. non constat (497v) ǁ 492a27 δ´ καὶ κ´ ἔτη γεγονότα Henry: τέσσαρα καὶ εἴκοσι γεγονότα A : ἔτη in marg. add. A2(ex script. forma et atram., cf. f. 499r) : -ν ῎η A2 iterum, alio atram. : τέσσαρα καὶ εἴκοσι γεγονότα ἔτη M* (498r, 392r) ǁ 493b1 ἀπήει Ap. ras. 2 M : ἀπ. plus de Aa. ras. non constat (499v) ǁ 494b3 τὸ Ap. ras. +2 M : τὸν A (501r) ǁ 494b33 οὔποτ’ ἂν Ap. ras. 2 M : οὔπο … plus de Aa. ras. non constat (501r) ǁ 495a4 κατέλιπε δὲ A2(ex atram.) inser. M : κατέλιπεν A (501v) ǁ 495a32 ἀπεκέχρητο Ap. ras. +2 M : ἀπεκ. έχρητο plus de Aa. ras. non constat (501v) ǁ 496b12 δημητρίου τοῦ φαληρέως A2 M : δημητρίου τοῦ φαλαρέως A (503v) ǁ 498a5 πρωτοπαγὴς A2 M : πρωτοπαγὴς A (504v) ǁ 498a35 ἀποστόλοις φαινόμενον Ap. ras. 2(-ς φαι-) M : ἀποστόλοις φενόμενον Aa. ras. (505r) ǁ 499a38 τοὺς πόδας τοῦ σωτῆρος τοῖς δάκρυσιν ἐπιρραίνουσα Ap. ras. 2(-ὺ- -´δας … ἐπιραίνουσα) M : τοῖς ποσὶν τοῦ σωτῆρος τοῖς δάκρυσιν ἐπιρρένουσα Aa. ras. (506r) ǁ 499b16 ἐν ἰδία A2M : ἐν ἰδίω A (506v) ǁ 501a39 πήρωσιν Ap. ras. 2 M : πείρωσιν ut vid. Aa. ras. (508v) ǁ 501b17 κατέλιπε Aa. m. (2, 3, 5?) M : κατέλειπε A (508v) ǁ 502a7 τότε δὴ τότε A2(s. l. -ὴ) M : τότε δὲ τότε A (509r) ǁ 502b21 παραίνεσιν Ap. ras. 2(-αίνε-) M : παρένεσιν fort. Aa. ras. (510r) ǁ 502b22 ἀποτείνει Ap. ras. +2(-ει) M : ἀποτείνειν Aa. ras. (510r) ǁ 502b28 εἰ μή τις ἄλλος A2(-σ) M : εἰ μή τι ἄλλος A (510r) ǁ 503a25–26 προσδεδεμένος Ap. ras. 2 M : προσδεδεγμένος Aa. ras. (510v) ǁ 503a28 τοῦ ὑπὲρ … κάλλους Α(+)2 M : τὸ ὑπὲρ … κάλλους A (510v) ǁ 503b22 ἐβλέπετο A2 M : ἐβλάπτετο A (511r) ǁ 504b9 ἐκβάλλοντες A2(ex litt. -τες forma et atram.) M : ἐκβάλλον (512r) ǁ 505a16 τῆς παστάδος Ap. ras. 2 M : [±3]στάδος A (512r) ǁ 506a1 περικαθαίρων τὴν τοῦ βίου κηλῖδα A2(add. τὴν in marg.) : περικαθαίρων τοῦ βίου τὴν κηλῖδα M : περικαθαίρων τοῦ βίου κηλῖδα A (513v) ǁ 509b2 ἀντὶ τοῦ ὅτι καταμανθάνουσιν A2(s. l. τοῦ) M : ἀντὶ ὅτι καταμανθάνουσιν A (517v) ǁ 509b34 ποὺς A2 M : πῶς A (518r) ǁ 509b37 τὸ δεξιὸν A1s. l. +2 M : δεξιὸν A (518r) ǁ 510a17 τὸ δὲ Ap. ras. 2(-ὸ) M : τῶι δὲ Aa. ras. (518v) ǁ 510a18 τὸ δὲ Ap. ras. 2(-ὸ) M : τῶι δὲ Aa. ras. (518v) ǁ 510a39–40 κρίνεται A2(-νε s. l.) M : κρίται A (518v).
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6.2 KONRADS VON WÜRZBURG „PARTONOPIER UND MELIUR“ Prolegomena zu einer Neuausgabe1 von Holger R u n o w , München Abstract: Konrads von Würzburg „Partonopier und Meliur“ gehört zum Typus der spät, (weitgehend) unikal und vielfach fehlerhaft überlieferten Texte. Nach genauer Betrachtung der Überlieferungsverhältnisse und in Auseinandersetzung mit den jüngeren Methodendiskussionen, zu deren zentralen Forderungen die Wahrung größtmöglicher Handschriftennähe gehört, plädiert der Beitrag gleichwohl für einen traditionellen editorischen Zugang. Denn die nötigen Voraussetzungen dafür, dem ursprünglichen Text mittels ‚klassischer‘ Rekonstruktionsphilologie nahe zu kommen, sind in diesem Fall günstig. Ein solches Verfahren ist notwendig mit vielen Unsicherheiten und Kontingenzen behaftet, die es zu reflektieren und transparent zu machen gilt. Konrad von Würzburg’s “Partonopier und Meliur” belongs to the type of texts which are (mostly) transmitted in a single late manuscript, frequently incorrectly. After taking a closer look at the conditions under which the tradition took place and addressing the recent methodological debate, one of the central demands of which is to maintain the greatest possible closeness to the manuscript, this article nevertheless advocates a traditional editorial approach. The prerequisites for getting as close as possible to the original text by means of ‘classical’ reconstruction philology are favourable in this case. Such a procedure is necessarily fraught with many uncertainties and contingencies, which need to be reflected on and made transparent.
I. Die Ausgangslage Der „Partonopier“-Roman Konrads von Würzburg gehört zu jenen Texten aus dem 13. Jahrhundert, die, obwohl in der Forschung immer irgendwie präsent, es nie in die erste Riege der viel behandelten kanonischen Erzähltexte geschafft
1
Der Aufsatz bündelt Überlegungen verschiedener Vorträge, die ich u.a. in Wien, Berlin, München und Graz halten und diskutieren durfte. Als ein erstes Ergebnis davon ist erschienen: Holger Runow: Edition als Revision zwischen ‚alter‘ und ‚neuer‘ Philologie. Zu einer Neuausgabe von Konrads von Würzburg Partonopier und Meliur, in: Textrevisionen. Beiträge der Internationalen Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition, Graz, 17. bis 20. Februar 2016, hg. v. Wernfried Hofmeister, Andrea HofmeisterWinter, unter redaktioneller Mitarbeit von Astrid Böhm, Berlin, Boston 2017, S. 33–46. Der vorliegende Beitrag ist in seiner Argumentation ausführlicher und z.T. anders perspektiviert, dennoch ließen sich Überschneidungen und Wiederholungen nicht ganz vermeiden.
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Holger Runow
haben.2 Gerade in der akademischen Lehre wird er eher selten behandelt, obwohl er durchaus fasziniert als exorbitant erzählter Gattungsmix aus Feenmärchen bzw. Mahrtenehenerzählung und höfischem Minne- und Aventiureroman mit Elementen der Chanson de geste.3 Die ansprechende Story bietet nicht nur etwa für strukturalistisch ausgerichtete Erzählanalysen ein interessantes Testfeld:4 mit den zunächst klar getrennten Raumsemantiken von höfischer vs. Feenwelt, die dann aber z.T. aufgelöst werden; mit einer klaren Krise des Protagonisten, der über mehrere Stufen und in beinahe barock anmutenden Wirrungen – dabei aber ganz aufgehoben in mittelalterlichen Erzähllogiken von Sichtbarkeit, Präsenz und deren gezielter Verschleierung5 – wieder aufgebaut wird, und der sich nach einem ersten happy ending erneut bewähren muss, woran der Text schließlich doch zu scheitern scheint, indem er Fragment geblieben ist. Hinzu kommen eine Figurenzeichnung mit ausführlicher Innenschau und Ansätzen zu psychologisierenden Motivationsstrukturen, wie sie für Konrads Erzählstil durchaus typisch sind,6 eine gewisse Lust an fein-herber Erotik zwischen dem jugendlichen Protagonisten und der unsichtbaren (vermeintlichen) Fee Meliur sowie lebendig gestaltete Dialoge, detaillierte Kampf-, Architekturund Landschaftsbeschreibungen usw. All dies macht den Text ebenso zu einer attraktiven Lektüre wie insgesamt seine elegante Erzählweise in glatten mittelhochdeutschen Versen, in die man sich gut einlesen kann (nach Gert Hübner 2
Oder auch nur in die zweite, wo Texte wie z.B. Wirnts von Grafenberg „Wigalois“, Ulrichs von Zatzikhoven „Lanzelet“ oder die „Kudrun“ rangieren. Abgesehen davon, dass der alte Kanon, nicht zuletzt durch die Ausrichtung etwa von Staatsexamensprüfungen, für die ihre genaue Kenntnis vorausgesetzt wird, weiter Bestand hat, liegt das heute sicher auch an dem Faktor, ob ein Text in neuhochdeutscher Übersetzung vorliegt. Wo eine solche fehlt, scheint mir das zunehmend (auch) zu einem Ausschlusskriterium für die Lehre zu werden und marginalisiert so in erheblichem Maße Texte, die durchaus des intensiveren Studiums wert wären, wie z.B. Herborts von Fritzlar „Liet von Troye“ oder Heinrichs von Neustadt „Apollonius“, um nur zwei Kandidaten zu nennen. 3 Vgl. etwa Armin Schulz: Poetik des Hybriden. Schema, Variation und intertextuelle Kombinatorik in der Minne- und Aventiureepik: Willehalm von Orlens – Partonopier und Meliur – Wilhelm von Österreich – Die schöne Magelone, Berlin 2000. 4 Vgl. Ralf Simon: Einführung in die strukturalistische Poetik des mittelalterlichen Romans. Analysen zu deutschen Romanen der matière de Bretagne, Würzburg 1990, bes. S. 123–139; Armin Schulz: Schwieriges Erkennen. Personenidentifizierung in der mittelhochdeutschen Epik, Tübingen 2008, S. 409–455. 5 Vgl. zuletzt Holger Runow, Julia Zimmermann: Von unsichtbarer Schönheit und der Beschreibung des Unbeschreiblichen in Konrads von Würzburg Partonopier und Meliur, in: Übertragung. Bedeutungspraxis und ‚Bildlichkeit‘ in Literatur und Kunst des Mittelalters, hg. v. Franziska Wenzel, Pia Selmayr, Wiesbaden 2017, S. 175–194. 6 So z.B. in Partonopiers ausgebreitetem Schwanken zwischen kindlicher Angst und Sinneslust, zwischen Furcht vor dem Teufel und schicksalsergebenem Opportunismus, das von einem Erzähler mit klarer Regie und konterkarierenden Wertungen flankiert ist. – Vgl. dazu auch Arnim Schulz: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive. Studienausgabe. 2., durchgesehene Aufl., hg. v. Manuel Braun, Alexandra Dunkel, Jan-Dirk Müller, Berlin, München, Boston 2015, S. 386–395.
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Konrads von Würzburg „Partonopier und Meliur“
bietet Konrad überhaupt „das eleganteste Mittelhochdeutsch, das erhalten geblieben ist“7). – Was dem Text allerdings fehlt, ist eine moderne Ausgabe. Man liest ihn bis heute in der editio princeps von Karl Bartsch aus dem Jahr 1871,8 die ganz der Textkritik klassischer Prägung verpflichtet ist. Solche Textausgaben aus dem 19. Jahrhundert stehen in der modernen Altgermanistik im Ruch der überkommenen Lachmannschen Methode. Nicht erst seit der ‚New Philology‘, sondern spätestens seit Karl Stackmanns Reflexionen über die Anwendbarkeit der Textkritik im Sinne Lachmanns unter den Bedingungen mittelalterlicher volkssprachiger Textüberlieferung,9 und nicht zuletzt seit der Begründung des überlieferungsgeschichtlichen Paradigmas durch Kurt Ruh und seine Würzburger Forschergruppe,10 begegnet man der textkritisch rekonstruierenden Methode sowie der ‚Kunstsprache‘ des Normalmittelhochdeutschen, mit der die sprachliche Realität der Überlieferung übertüncht wird, mit erheblicher Skepsis. Die Überlieferung, speziell die einzelne Handschrift, steht seither verstärkt im Fokus und wird nicht mehr nur als sekundäres Material zu Herstellung des verlorenen Originals betrachtet, sondern als primäres authentisches und lebendiges Dokument mittelalterlicher Textkultur ernstgenommen: Die Handschrift repräsentiert nicht bloß einen Text, sie selbst ist Text. Eine Neuausgabe von Konrads Roman bedürfte schon insofern keiner weiteren Begründung. Es lohnt sich aber, diesen Reflex differenzierter zu hinterfragen. Der Blick auf die Überlieferung und die theoretischen Prämissen, unter denen man mittelalterliche Textualität beschreibt, mögen sich gegenüber dem 19. Jahrhundert grundsätzlich geändert haben. Die Überlieferung des Textes selbst ist freilich dieselbe geblieben, neue Handschriftenfunde etwa sind nicht zu verzeichnen. Und die weitgehend unikale, aber nicht unproblematische Überlieferungslage (dazu unten mehr) ist schon prinzipiell gar nicht dazu angetan,
7
Mit dem in unserem Zusammenhang wichtigen Zusatz: „– in der Überlieferung einiger anderer Werke glücklicherweise auch unbeschadeter als beim Partonopier“; vgl. Gert Hübner: wol gespræchiu zunge. Meisterredner in Konrads von Würzburg Partonopier und Meliur, in: Redeszenen in der mittelalterlichen Großepik. Komparatistische Perspektiven, hg. v. Monika Unzeitig, Nine Miedema, Franz Hundsnurscher, Berlin 2011, S. 215–234, hier S. 233. 8 Konrads von Würzburg Partonopier und Meliur – Turnier von Nantheiz – Sant Nicolaus – Lieder und Sprüche. Aus dem Nachlasse von Franz Pfeiffer und Franz Roth, hg. v. Karl Bartsch, Wien 1871. Vgl. den Neudruck: Konrads von Würzburg Partonopier und Meliur. Aus dem Nachlasse von Franz Pfeiffer und Franz Roth, hg. v. Karl Bartsch. Mit einem Nachwort von Rainer Gruenter in Verbindung mit Bruno Jöhnk, Raimund Kemper, Hans-Christian Wunderlich, Berlin 1970. 9 Karl Stackmann: Mittelalterliche Texte als Aufgabe, in: Festschrift für Jost Trier zum 70. Geburtstag, hg. v. William Foerste, Karl Heinz Borck, Köln, Graz 1964, S. 240–267. 10 Zu deren Geschichte und Wirkung vgl. Überlieferungsgeschichte transdisziplinär. Neue Perspektiven auf ein germanistisches Forschungsparadigma, hg. v. Dorothea Klein in Verbindung mit Horst Brunner und Freimut Löser, Wiesbaden 2016.
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Holger Runow
auf ihrer Grundlage nach der Lachmannschen Methode mittels recensio und emendatio einen Archetyp zu rekonstruieren. Demnach wäre noch einmal grundsätzlich danach zu fragen, wie Karl Bartsch als Editor vorgegangen ist, wie man das heute unter den oben angedeuteten gewandelten Perspektiven zu beurteilen hat, und welche editorischen Konsequenzen für eine Neuausgabe zu ziehen wären. – Man sollte dabei auch nicht leichtfertig allein auf der Grundlage einer neuen Prämisse Bartschs Leistung als obsolet abtun. Das philologische Instrumentarium, mit dem er operiert, ist ja nicht per se zu dispensieren,11 sondern im Gegenteil hat es sich in den letzten anderthalb Jahrhunderten noch erheblich vergrößert und verfeinert.12 Vielmehr wäre danach zu fragen, inwiefern und mit welchen Begründungen eine veränderte Einschätzung der Textualitäts- und Überlieferungspragmatik es noch zulässt, jenes Instrumentarium überhaupt zur Anwendung kommen zu lassen.
II. Die Handschriften Der „Partonopier“ ist nicht so breit, nicht so vollständig und insgesamt nicht in so guter Qualität bewahrt worden, wie man es sich wünschen würde. Erhalten sind zwei Textzeugen:13 A: Zürich, Zentralbibliothek, Ms. 184 Nr. XXVI und Nr. XXVII. Es handelt sich um zwei beschnittene Pergamentdoppelblätter unbekannter Herkunft, die dem Schriftbild nach wohl noch aus dem 13. Jahrhundert stammen14 und damit nahe an die Lebenszeit Konrads von Würzburg († 1287) heranreichen. Die Schriftsprache weist ins alemannische Sprachgebiet und damit auch auf seinen Wirkungsraum, denn der „Partonopier“ ist nach Auskunft des Prologs (ebenso 11
Bartschs Begründungen für seine editorischen Entscheidungen sind, sofern vorhanden, knapp, aber meist konzis; vgl. den Kommentar in der Ausgabe (Bartsch, Gruenter [Anm. 8], S. 403–420). 12 In jüngster Zeit v. a. durch die Projekte einer neuen Grammatik auf der Grundlage eines handschriftlichen Corpus sowie eines neuen Wörterbuchs des Mittelhochdeutschen: Thomas Klein, Hans-Joachim Solms, Klaus-Peter Wegera: Mittelhochdeutsche Grammatik. 4 Bde. 2009 ff. (bislang erschienen: Teil III: Wortbildung, Tübingen 2009; Teil II: Flexionsmorphologie, Berlin, Boston 2018). – MWB = Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Im Auftrag der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Bd. 1, hg. v. Kurt Gärtner, Klaus Grubmüller, Karl Stackmann. Bd. 2., hg. v. Kurt Gärtner, Klaus Grubmüller, Jens Haustein, Stuttgart 2006 ff. 13 Die Angaben beschränken sich ganz auf das für die folgenden editorischen Betrachtungen Notwendige. Zur genaueren Beschreibung der Handschriften vgl. v. a. Gruenter [Anm. 8], S. 339–351 (mit weiterer Literatur) sowie die Einträge im ‚Handschriftencensus‘: http://handschriftencensus.de/werke/209 (zuletzt aufgerufen 27. 3. 2019). – Die Gepflogenheit, entweder Papierhandschriften oder Fragmente mit Kleinbuchstaben zu bezeichnen, stößt hier notwendig an Grenzen: Erhalten sind ein Pergamentfragment und ein Papiercodex. Angesichts der nicht komplexen Überlieferung verwende ich daher im Folgenden die einfachen Siglen A und B. 14 (Teil-)Abbildung bei Gruenter [Anm. 8], S. 372 und 374.
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Konrads von Würzburg „Partonopier und Meliur“
wie der „Trojanerkrieg“ und die drei Legenden) in Basel entstanden.15 Die beiden Blätter bewahren, jeweils mit Lücken, Passagen aus zwei verschiedenen Teilen des Romans.16 Sie bezeugen eine Vollhandschrift des Textes, deren ursprüngliche Anlage mit einiger Sicherheit zu rekonstruieren ist: Bei zwei Spalten je Seite mit abgesetzten Versen und 38 Zeilen je Spalte kann man die wahrscheinliche Position der Blätter im einstigen Codex gut errechnen. In jedem der beiden Stücke fehlt (neben wenigen Versen je Spalte) ein Teil von etwas über 600 Versen, das entspricht dem Textumfang von zwei Doppelblättern. Zwischen den beiden Stücken fehlen 3950 Verse, was 13 Doppelblättern entspricht. Daraus lässt sich schließen, dass die Fragmente jeweils das zweitäußerste Blatt eines Quaternio waren, dazwischen sind nochmals drei vollständige Quaternionen ausgefallen (12 Doppelblätter sowie das letzte und erste Blatt der in den Fragmenten vertretenen Lagen; das entspricht insgesamt dem Umfang von 13 Doppelblättern mit 3952 Versen). Die Fragmente bieten höchst wertvolles Vergleichsmaterial im Umfang von immerhin rund 450 (zum geringeren Teil durch Beschnitt verstümmelten) Versen, was aber nur gut zwei Prozent des in B bezeugten Gesamtumfangs von über 21500 Versen entspricht.17 B: Berlin, SBB-PK, Mgf 1064 (ehemals „Riedegger Handschrift“). In dem Papiercodex folgt der „Partonopier“ auf Thürings von Ringoltingen „Melusine“. Er ist durch einen Schreiberkolophon eindeutig lokalisiert und datiert: Heinrich Winckler hat die Abschrift am Montag nach Mariä Himmelfahrt des Jahres 1471 in Hall am Inn vollendet. Seine Schreibsprache ist ein bairisch-tirolisches Frühneuhochdeutsch. Die Berliner Handschrift ist die einzige einigermaßen vollständige Handschrift von Konrads „Partonopier“; ‚einigermaßen‘ deswegen, weil der Codex zwar physisch unversehrt ist, der Text aber auf fol. 185r mitten in der Romanhandlung abbricht.18 Unmittelbar darunter folgt der Schreiberver15
Vgl. dazu zuletzt Seraina Plotke: Konzeptualisierungen von Mäzenatentum. Konrad von Würzburg und seine Basler Gönner, in: Mäzenaten im Mittelalter aus europäischer Perspektive. Von historischen Akteuren zu literarischen Textkonzepten, hg. v. Bernd Bastert, Andreas Bihrer, Timo Reuvekamp-Felber, Göttingen 2017, S. 125–147. 16 Fragment I (Ms. 184, Nr. XXVII): V. 8413–8558 (mit einigen Fehlversen je Spalte; genaue Aufstellung bei Gruenter [Anm. 8], S. 358 f.) sowie V. 9173–9203 und 9287–9317 (alle Versangaben bezogen auf die Zählung bei Bartsch) mit Passagen aus der Entdeckungsszene nach dem Tabubruch sowie dem Auftritt von Meliurs Schwester Irekel; Fragment II (Ms. 184, Nr. XXVI): V. 13267–13413 und V. 14027–14172 (ebenfalls mit einigen Fehlversen je Spalte) mit Teilen aus der Vorbereitung auf das große Turnier um Meliurs Hand: Partonopier und Gaudin nehmen Lager – Heldenschau bei den heidnischen und christlichen Heeresparaden. 17 In der Ausgabe: 21784 Verse, der tatsächliche Textbestand in B beläuft sich auf rund 21600 (dazu s.u.). 18 Nach dem erfolgreichen Wiedergewinn Meliurs im Turnier brechen neue Streitigkeiten aus, in denen Partonopier sich nun als herrschender Kaiser im Kampf bewähren muss. Bei der Schilderung einer Belagerungssituation hört der Text mitten auf der Seite auf, ohne inhaltlich einen Abschluss zu finden.
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merk, der das Werk explizit als abgeschlossen bezeichnet (finito isto laus detur Jhesu Christo usw.). Ein Dutzend weiterer Blätter ist leer geblieben. Warum der Roman Fragment geblieben ist, ob und inwiefern die spätere Überlieferung an seiner Unvollständigkeit teilhat, das sind Fragen, denen sich weitere literarhistorische Untersuchungen widmen müssten;19 die Edition hat sich mit dem überlieferten Textbestand zu begnügen. Dieser bietet schon auf ganz anderer Ebene Schwierigkeiten, auf die weiter unten zurückzukommen sein wird: Ein nicht ganz unerheblicher ‚schleichender‘ Textverlust zieht sich zumal durch den ersten Teil der „Partonopier“-Abschrift, indem immer wieder ohne jede Lücke auf der Seite einzelne Verse unterschlagen sind. Es fehlt jeweils eine Reimzeile, womit in aller Regel auch ein inhaltlicher und syntaktischer Bruch verbunden ist. Soweit die knappe Heuristik. Wollte man auf ihrer Grundlage methodisch im Sinne des Lachmannschen Erbes ansetzen, dürfte das schwerfallen. Eine Edition hat ja zumindest für 98 % des Textbestands keine andere Wahl, als sich auf den codex unicus B zu stützen. Das entspräche letztlich einem strengen Leithandschriftenprinzip, wie es seit Jahrzehnten ein bevorzugter Weg in der Edition mittelhochdeutscher literarischer Texte ist.20 Eine kritische Edition im engeren Sinne ist nicht möglich, die Überlieferung würde selbst bei zwei Vollhandschriften kaum hinreichen, um im klassischen Verfahren mittels einer soliden recensio auf einen Archetyp zu schließen. Lachmann selbst hat 1817 im Rahmen seiner sehr ins Grundsätzliche gehenden Besprechung der „Nibelungenlied“Ausgabe Friedrich Heinrich von der Hagens postuliert: „Weniger als vier oder fünf ziemlich gute [Handschriften, H. R.] werden wohl nie zu einem ächten Texte führen“.21 Im Falle des „Partonopier“ hat man es bei A durchaus mit einem ‚guten‘ Fragment zu tun; dass hingegen auch der Berliner Codex als ‚gut‘ gelten könnte, darf mehr als bezweifelt werden, wie im Folgenden näher zu begründen sein wird. Zumindest aus einer streng produktionsästhetischen Perspektive ist die Handschrift weit entfernt von dem, was als Konrads von Würzburg mittelhochdeutscher Text gelten darf. Heinrich Wincklers frühneuhochdeutsche Abschrift stellt sich einerseits als Arbeit eines recht mechanisch-
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Bereits Konrads mit sieben Vollhandschriften, zwei Fragmenten und einem Exzerpt recht breit überlieferte anonyme französische Vorlage ist unvollständig geblieben, die Handschriften brechen an verschiedenen Stellen des an sich schon verwirrenden und seltsam nachgeklappt erscheinenden Teils nach dem Turnier ab; vgl. dazu im Einzelnen Wolfgang Obst: Der Partonopier-Roman Konrads von Würzburg und seine französische Vorlage. Diss. masch., Würzburg 1976, S. 68–75. 20 Zudem ist das Leithandschriftenverfahren bereits seit über einem Jahrhundert das Prinzip der von Gustav Roethe begründeten Reihe „Deutsche Texte des Mittelalters“ (DTM; seit 1904). 21 Karl Lachmann: Kleinere Schriften zur deutschen Philologie, hg. v. Karl Müllenhoff, Berlin 1876, S. 89.
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gedankenlos verfahrenden Kopisten dar,22 lässt andererseits aber doch zumindest punktuell den mitdenkenden Schreiber erkennen, dem man indes kein besonderes Interesse an den formästhetischen und stilistischen Dimensionen des von ihm kopierten Ausgangstextes attestieren kann. Das ist ein Ärgernis für den Textkritiker, wie es andererseits je nach Einzelfall aber auch eine pragmatische Hilfe sein kann. Projiziert man nämlich die Abschrift auf den anzunehmenden Vorlagentext – den man freilich in theoretisch kaum einholbarer Unterstellung aus ihr selbst abstrahieren muss –, erlaubt dies Rückschlüsse über bestimmte Fehlertypen und deren Ursachen, was dann wiederum für die Textkonstitution fruchtbar gemacht werden kann.
III. Überlieferung – Text – Stemma: Möglichkeiten der recensio Hat man es also im Wesentlichen mit einem unikal, spät und – wie gleich zu zeigen ist – vielfach fehlerhaft überlieferten Text zu tun, besteht doch insgesamt kein Grund zur völligen Verzweiflung. Denn das alte Fragment A erlaubt für mehrere Passagen einen Vergleich der Textzeugen, aus dem sich wichtige Beobachtungen zur Textgeschichte gewinnen lassen, die, wenn auch nicht ganz generalisierbar, doch im Einzelfall auf den Umgang mit dem unikalen Text in B übertragbar sind. Ein genauer Vergleich der Textzeugen, wo er denn möglich ist, lohnt sich. Denn einerseits unterscheiden sich die Handschriften im Hinblick auf ihre diachrone, diatopische und dialektale Einordnung nicht unerheblich voneinander; andererseits bleibt die textkritisch relevante – d.h. insbesondere die morphologische, syntaktische und semantische – Varianz insgesamt überschaubar. Die beiden Handschriften sind so nahe beieinander, dass nicht von unterschiedlichen Fassungen zu sprechen ist. Mit anderen Worten: Sie bezeugen denselben Text und haben als filiatorisch eng miteinander verwandt zu gelten.23 Dabei gibt es freilich auch etliche Abweichungen zwischen beiden Handschriften. In den allermeisten Fällen weist dann A einen sprachlich-semantisch oder formal und stilistisch konsistenteren, damit erkennbar besseren, d.h. vermutlich auch ursprünglicheren Text auf. B hat demgegenüber die Sprachgestalt oft mit wenig Gespür für Form und Gehalt an die frühneuhochdeutschen Gepflogen22
Ein besonders harsches Urteil fällt Franz Pfeiffer: Über Konrad von Würzburg. I. Partonopier und Meliur, in: Germania 12, 1867, S. 1–41, hier S. 21: „Beispiele absichtlicher Änderungen dürften sich in der Riedegger Hs. mit Sicherheit kaum nachweisen lassen, um so häufiger sind die Fälle grober Nachlässigkeit und Unwissenheit, und die Zahl der ausgelassenen Zeilen übersteigt alles Maß. Größerer Unsinn, und zwar an Stellen, die dem Verständnis nicht die geringste Schwierigkeit darbieten, ist niemals niedergeschrieben worden“. – Als großen Unsinn darf man heute allerdings auch die Schlussfolgerung bezeichnen, die Pfeiffer gleich darauf aus diesem Befund zieht (S. 22): „Die Vorlage war also wohl von eigenthümlicher Beschaffenheit […], ohne Zweifel mit feiner, schwer leserlicher Schrift geschrieben, mit éinem Wort: es war das Autograph des Dichters selbst.“ 23 Zu beweisen wäre das klassischerweise über Bindefehler; solche sind im überlieferten Textbestand aber kaum auszumachen.
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heiten angepasst. Das sei anhand einiger synoptischer Gegenüberstellungen aufgezeigt. (1.) Auf den Rat der skeptischen Mutter und des Bischofs von Paris hin bricht der junge Protagonist Partonopier mittels einer Zauberlaterne das ihm von seiner geliebten Meliur auferlegte Sichttabu. Dadurch kann er sie zwar in ihrer ganzen Schönheit sehen, und auch Partonopier wird für die Hofgesellschaft in Meliurs ‚Feen‘-Reich sichtbar. Sie aber muss ihn dafür verfluchen und aus ihrem Reich verstoßen. Bevor er geht, drängen bei Tagesanbruch die Hofdamen in die Kemenate, nehmen die Szene wahr und beschimpfen zunächst Partonopier, rügen sodann aber auch Meliur für ihre unorthodoxe Partnerwahl (V. 8456–61): Hs. A waz mCht ein laſter grozer ſin ſo daz ir manegen werden kvnec vf der erden verſprochen hant ze manne vnde ivch zekebſe danne tvi ten liezent diſen kneht
Hs. B Was möchte ain laſter groſſˀr ſein So daz ir manigen werd! man Chunig auff erden ſchon Verſproch! habt zem%ne Vnd euch ze chebeſſe d%ne Trautt! lieſſent diſen knecht
(A:) Was könnte eine größere Schande sein, als dass Ihr Euch vielen edlen Königen in der Welt versagt habt und Euch stattdessen in unehelicher Liebe diesem Burschen hingegeben habt?
Es geht um den zweiten und dritten Vers, wo in B gegenüber A nicht nur die Syntax, sondern auch der mittelhochdeutsche Reim zerstört wird. In A ist der Text durch ein Enjambement gestaltet: manegen werden / kunec. Zu vermuten ist wohl, dass der B-Schreiber mit dieser Konstruktion nicht gerechnet oder sie als solche nicht erkannt hat. Stattdessen ergänzte er zu manigen werd(e)n man.24 Das kollidierte dann aber syntaktisch unauflösbar mit chunig im folgenden Vers und wurde nur formal notdürftig durch den – allerdings im (‚Normal‘-)Mittelhochdeutschen nicht möglichen – Reim auf schon geflickt.25 A bietet jedenfalls den konsistenteren und stilistisch anspruchsvolleren Text.26 24
Möglicherweise ist die Ergänzung man auch durch einen Augensprung in den übernächsten Vers (ze manne) beeinflusst. 25 Im Bairischen hingegen sind Reime von /a/ auf /o/, auch in unterschiedlichen Quantitäten nicht ungewöhnlich; vgl. Hermann Paul: Mittelhochdeutsche Grammatik. 25. Aufl., neu bearbeitet von Thomas Klein, Hans-Joachim Solms, Klaus-Peter Wegera. Mit einer Syntax von Ingeborg Schröbler, neubearbeitet und erweitert von Heinz-Peter Prell, Tübingen 2007, § E 27 und § L 27. 26 Nur auf den ersten Blick scheint im letzten Vers (V. 8461) A fehlerhaft zu sein. B weist hier mit trautten (zu mhd. triuten bzw. trûten ‚liebkosen‘) sicher die richtige Lesart auf, das in A – nur vermeintlich – überlieferte tiuten will zunächst keinen Sinn ergeben. Allerdings zeigen mehrere Vergleichsstellen in der Handschrift, dass hier kein Fehler vorliegt, sondern die gerade in alemannischen Handschriften des 13. und 14. Jahrhunderts verbreitete paläographische Praxis, ein r durch das Hochstellen des folgenden Vokals zu kürzen (Vgl. Karin Schneider: Paläographie und Handschriftenkunde für Germanisten. Eine Einführung. i 2., überarbeitete Aufl., Tübingen 2009, S. 88). So ist hier das handschriftliche tvten also ebenfalls als triuten zu lesen (vgl. in A ebenso V. 9197 und V. 9306 tewe für triuwe).
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(2.) Im zweiten Teil des Romans wird in einem großen internationalen Turnier um die Hand Meliurs gekämpft. Daran nimmt nach etlichen Wirren inkognito auch Partonopier teil. Im Vorfeld schließt er Freundschaft mit dem Ritter Gaudin (in B durchgängig Gandin), der ihn in sein Lager mitnimmt. Der folgende Ausschnitt stammt aus der mit Elementen des locus amoenus gestalteten Beschreibung dieses Lagers (V. 13280–91): 27 A ein pavilvne wol ze lobe waz in geſlagen vf dc velt vnde ſt:nt vil ſchCne ſin gezelt mit l:men vnd [mit]27 graſe beſt[..]t dϟ meie hete do gevrCvt mit der liehten kvi nfte ſin div wilden walt vogellin dar vmbe alda ze priſe ir ſvezen ſvmer wiſe wurden lvte erklenket ſi heten ſich geſenket in die ſchCnen bomes bl:t
B Ain pauilone wol zelobe Was jm geſchlag! auff daz veldt Vnd ſtund vil schön sein gezelt Mit pluem vnd gras beſträt Der maie het do geſät Mit der liecht! chunſte ſchein dÿ wild! waldt vogellein Darumbe alda zepreÿſe Ir ſueſſ! ſumer weiſe Wurd! laut erchannet Sy het! ſich geſencket In dy ſchonen pawmes plued
(A:) Ein sehr ansehnliches Zelt war für sie auf dem Feld aufgeschlagen, und sein Zeltplatz war auf schöne Weise mit *Blumen und *mit Gras *bestreut. Der Mai hatte da mit seiner strahlenden Ankunft die wilden Waldvöglein erfreut, weswegen sie da in schönster Art ihre süße Sommerweisen laut erklingen ließen. Sie hatten sich niedergelassen inmitten der schönen Blüten am Baum.
Im vierten Vers hat B für beströuwet (so ist es auch trotz Buchstabenverlust in A wegen des Reims auf gevrCvt zu lesen) – möglicherweise wegen einer nicht verstandenen Form in der Vorlage (vielleicht beſtraut o.ä.) – die auffällige Schreibung beſträt;28 im folgenden Vers hat der Schreiber mit geſät den Reim zu retten versucht. Hinzu kommt noch die (bei gotischen Schriften nicht ganz unwahrscheinliche) Verwechslung von Schaft-s und in kunft vs. kunſt; dadurch entsteht in B insgesamt ein ziemlich schiefes Bild. Der Text dort wäre demnach etwa so zu verstehen: ‚Der Mai hatte da mit dem hellen Schein der Kunst die wilden Waldvöglein ausgesät.‘ Demgegenüber mutet der Text in A um einiges stimmiger und stilsicherer an: ‚Der Mai hatte da mit seiner strahlenden Ankunft die Waldvöglein erfreut.‘ – Auch mit erklenket (Nebenform zu mhd. erklengen ‚erklingen lassen‘, die auch sonst bei Konrad mehrfach belegt ist29) im drittletz27
Die Handschrift ist hier stellenweise stark berieben; vnd ist noch einigermaßen gut zu erkennen, das folgende mit nur mit einiger Phantasie. 28 Das ist kaum als ‚Fehler‘ zu werten, sondern die Schreibung repräsentiert wohl „die mittel- und südbairische Aussprache der Entsprechung zu mhd. ou“, wie sie sich etwa auch in der besonders autornahen Oswald von Wolkenstein-Handschrift B findet; vgl. Die Lieder Oswalds von Wolkenstein, hg. v. Karl Kurt Klein. 4., grundlegend neu bearbeitete Aufl. von Burghart Wachinger, Berlin, Boston 2015, hier S. XXIX. 29 S.u., Anm. 37.
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ten Vers ist B nicht zurechtgekommen. Der Sinn ist zwar in diesem Fall nicht so beträchtlich berührt, doch ist durch das Ersetzen des wohl nicht mehr verstandenen gewählteren Ausdrucks nun der Reim verfehlt, mithin die formästhetische Dimension des Textes gestört. Die Stelle zeigt zwar auch, dass der Text in A seinerseits nicht völlig frei von Fehlern ist. Im vierten Vers fehlt bei l:men das initiale b, hier handelt es sich aber mit Sicherheit um einen schlichten Abschreibfehler und nicht etwa um eine aus einer Verlegenheit heraus entstandenen aktive Umgestaltung. Zu diskutieren wäre gegebenenfalls eine Präsumtivvariante im zweiten Vers. Dort heißt es, das Zelt (pavilun) war in ‚ihnen‘ (A) bzw. jm ‚ihm‘ (B) aufgeschlagen. Beides scheint zunächst möglich, der Plural wäre auf Gaudin und Partonopier zu beziehen, der Singular auf Gaudin allein. Allerdings spricht der weitere Kontext der Stelle für Letzteres, denn wenige Verse zuvor heißt es bei der Beschreibung des Ortes, an dem sich das Lager befindet, in analoger Formulierung mit dem Dativ Singular (V. 13276–78; Text nach A, in B nur unwesentliche Abweichung in der Wortstellung des ersten Verses; Hervorhebung H. R.): ein herberge vnd ein obedach waſ im alda gewunnen bi eime kalten brvnnen Ein Lager und ein Dach über dem Kopf war ihm da bereitet neben einer kühlen Quelle.
(3.) Am ersten Morgen des Hauptturniers (nach der vesperîe, dem vorabendlichen ‚Vorturnier‘) wird der prächtige Aufzug der Heerscharen geschildert, auf der einen Seite angeführt vom Sultan von Persien, auf der anderen vom römischen Kaiser. Über deren kostbare Gewänder wird berichtet (V. 14158–61): B Von endian vnd aus chriecht Von chriech! vnd von haidenlant Was jn zu ſtewre dar geſant Vil manig edel ſameit
A von endian von vztrieht von kriechen vnde von heiden lant waſ in ze ſtivre dar geſant vil manec edel ſamit
(A:) Aus Indien, aus Utrecht, aus Griechenland und den heidnischen Reichen waren ihnen viele edle Samtstoffe als Gabe dorthin gesandt worden.
B hat anscheinend in seiner Vorlage mit dem nomen geographicum „ûztrieht“ nichts anfangen können. Gemeint ist Utrecht, das neben Indien (endian) als weit entfernter Herkunftsort exotischer Handelswaren genannt ist.30 Darüber, wie der Fehler in B genau entstanden sein mag, kann man immerhin plausible Vermutungen anstellen: Das mittelhochdeutsche lange /û/ ist, wie in der Handschrift üblich, zu /au/ diphthongiert. Die Grapheme und sind sich in 30
Utrecht war wohl ein wichtiger Handelsumschlagpunkt. Der deutsche Erstbeleg findet sich im frühmittelhochdeutschen „Merigarto“ (V. 11,1 und 12,1); vgl. Norbert Voorwinden: Merigarto. Eine philologisch-historische Monographie, Leiden 1973, S. 106–113.
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gotischen Handschriften oft sehr ähnlich, das Verwechslungspotential ist hoch. Zudem mag der Blick in den nächsten Vers mit kriechen eingewirkt haben (das Phonem /k/ ist in B, wie in bairischen Handschriften üblich, als verschriftet). Insofern kann aus uztrieht in der Vorlage allein durch (halb-)mechanisches Abschreiben die vorliegende Lesart aus chriecht entstanden sein, ohne dass dem Schreiber eine (wie auch immer sinnhaltige) Gestaltungsabsicht unterstellt werden müsste. Jedenfalls hat A sicher das Richtige bewahrt, zumal die auffällige Paarung von Endia und Ûztrieht auch in Konrads „Trojanerkrieg“ (V. 17614)31 vorkommt, und zwar in einem ähnlichen Verwendungszusammenhang: Dort geht es um Gold und Elfenbein als exquisite Importmaterialien, die zum Bau von Priamus’ Thron verwendet werden. (4.) Noch ein letztes kurzes Beispiel, wiederum aus dem Textbestand des ersten A-Fragments. Nach dem Tabubruch setzen die oben erwähnten Hofdamen mit ihren Schimpftiraden Meliur so sehr zu, dass ihr der Angstschweiß ausbricht (V. 8500–8503): A di taten ir gelovbet mir mit ſmehen worten alſe heiz dc ir der angeſtbere ſweiz von der blanken hvi te ſeic
B Dÿ tat! all gelaubet mir Mit ſmach! wort! alſo hais Daz ir angſware ſwais Von der planck! hande ſaig
(A:) Glaubt mir, die heizten ihr mit ihren Schimpfreden so sehr ein, dass ihr der Angstschweiß von der hellen Haut herablief.
Abgesehen davon, dass in B im ersten Vers das Dativobjekt ir durch das adjektivische all ersetzt ist und im dritten der zu erwartende Artikel der fehlt, fällt dort als besonders ungewöhnlich auf, dass Meliur der Angstschweiß speziell von der blanken ‚Hand‘ läuft und nicht überhaupt von der ‚Haut‘ wie in A. Die Erklärung dürfte hier darin liegen, dass B auf einer Vorlage mit bereits diphthongiertem Lautstand beruht, wo also nicht hiute bzw. ohne Umlautbezeichnung hute stand, sondern haute. War zudem die Vorlage, wie man weiter schließen kann, eine gotische Textura (oder auch eine – frühere – Bastarda) mit vielen gleichförmigen vertikalen Schäften, ist die Verwechslung von u und n schnell passiert, der Schritt von haut zu hant ist paläographisch betrachtet nur ein sehr kleiner. Die Vermutung lässt sich zudem an anderen Stellen erhärten, die ebenso zu erklären sind, und ist auch auf weitere Fehler in B übertragbar, zu denen A keinen parallelen Vergleichstext bietet.32 Ziemlich eindeutig ist z.B. eine Stelle 31
Konrad von Würzburg: Trojanerkrieg und die anonym überlieferte Fortsetzung. Kritische Ausgabe von Heinz Thoelen und Bianca Häberlein, Wiesbaden 2015. – Den Ortsnamen Ûztrieht weist die „Mittelhochdeutsche Begriffsdatenbank“ (http://mhdbdb.sbg.ac.at; zuletzt aufgerufen am 13. März 2019) ansonsten nur noch in Konrads Legendenroman „Engelhard“ (V. 2634) sowie in Rudolfs von Ems „Der guote Gêrhart“ (V. 2633) nach. 32 Bezogen auf die neuhochdeutsche Diphthongierung vgl. ähnlich etwa V. 167 entſlueſſe für mhd. entsliuze, wo man für die Vorlage vielleicht entſleuſſe annehmen darf.
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gegen Ende des Prologs, wo das Dichter-Ich – Von wirczburg ich conradt (V. 192) – seinen Basler Gönner Peter Schaler nennt und diesen dafür lobt, dass er auf die vorliegende Erzählung aufmerksam gemacht bzw. die Vorlage vermittelt hat (V. 194–198): Dicz märe danckt jn alſo guet […] Das er durch ſein4 rainen ſyn Mich hat gelernet das jch pin Auff dicz puech mit vleiſe ch7en. Diese Geschichte *fand er so gut, […] dass er in seiner untadligen Gesinnung mich dazu angeleitet hat, dass ich mich geflissentlich an dieses Buch gemacht habe.
Im ersten Vers ist statt danckt, das zudem erkennbar aus dancht korrigiert ist, unbedingt das Präteritum mhd. dûcht(e) (‚dünkte‘) zu erwarten. Analog zum zuvor beschriebenen Fall (hût – haut – hant) ist also für die Vorlage von diphthongiertem daucht(e) auszugehen. So weit ein Textvergleich der beiden Überlieferungszeugen.33 Was lässt sich nun über das Verhältnis der Handschriften zueinander und gegebenenfalls im Hinblick auf einen Archetyp sagen? Angesichts einer so schmalen Überlieferung scheint es beinahe müßig, die einzelnen Textzeugen in einem Stemma sortieren zu wollen. Spielt man die Optionen dennoch einmal durch, ergeben sich in der klassischen Textkritik (wie sie Paul Maas ausformuliert hat34) bei zwei Handschriften und sofern man nicht von eigenständigen Fassungen auszugehen hat, was aber bereits ausgeschlossen wurde, prinzipiell drei Möglichkeiten der Verwandtschaft: (1.) A ist eine direkte Abschrift von B. Das ist hier schon rein chronologisch nicht möglich, da B viel jünger ist als A. (2.) B ist umgekehrt eine direkte Abschrift von A. Dem widerspricht die Beobachtung, dass für B aufgrund der Fehlertypologie eine Vorlage auf diphthongiertem Lautstand anzusetzen ist, deren kalligraphisches Niveau durch große Gleichförmigkeit der vertikalen Schäfte Verwechslungen z.B. von u und n befördert. Beides ist in A nicht der Fall. So bleibt als plausible Vermutung (3.) jene übrig, dass beide Handschriften als voneinander unabhängige Abschriften auf eine gemeinsame Vorlage zurückzuführen sind. Dabei legen die oben angestellten Fallanalysen nahe, eine Zwischenstufe (Textualis auf diphthongiertem Lautstand) zwischen B 33
Die Beispiele ließen sich vermehren; fast immer ist wie in den besprochenen Fällen mit guten Gründen davon auszugehen, dass B über einen sekundären, zumeist schlechteren Text verfügt. In A treten ebenfalls Fehler auf, es handelt sich dann aber, wie gezeigt, eher um ‚mechanische‘ Versehen wie ausgefallene Buchstaben oder einmal ein ganzes Wort (z.B. V. 8532; 14040). Daneben gibt es nur wenige anders gelagerte Fälle. In V. 9176 etwa liest B zaher (‚Zähre, Träne‘), in A ist der Vers durch Beschnitt fragmentiert, es ist aber noch der Worteingang t[r… zu erkennen, vermutlich also das als synonyme Präsumptivvariante einzuschätzende trahen (‚Träne‘). 34 Paul Maas: Textkritik, 4. Aufl., Leipzig 1960.
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und dem Archetyp anzusetzen. Das Stemma sähe dementsprechend folgendermaßen aus: x
A *B
*B
IV. Der Blick ‚hinter‘ die Überlieferung: Chancen der emendatio Viel scheint damit zunächst noch nicht gewonnen. Doch immerhin: Auf der Grundlage des genauen Textvergleichs lässt sich sagen, dass die zwar schmale Überlieferung keine gravierenden Fassungsdivergenzen im Sinne eines erkennbaren je eigenen „Formulierungs- und Gestaltungwille[n]“35 aufzeigen; man darf von einer dünnen, aber geschlossenen Überlieferung ausgehen. Zudem bezeugt das Fragment A – ganz anders als B – eine Textgestalt, wie sie dem Entstehungskontext des Romans entsprochen haben kann. Dem Sprachstand nach ist es sogar sehr nahe am sog. ‚Normalmittelhochdeutschen‘36 (zu den praktischen Implika35
Joachim Bumke: Die vier Fassungen der Nibelungenklage. Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert, Berlin, New York 1996, S. 32. 36 Der Begriff und das mit ihm verbundene Konzept stehen bereits seit Längerem in der Kritik als bloßes Philologenkonstrukt des 19. Jahrhunderts (vgl. zuletzt David Martyn: Muttersprache und Edition. Lachmanns Esperanto, in: Sprache und Literatur 47 [2018], S. 215–238). Mit Augenmaß betrachtet und ohne Polemik sollte mit ihm indes nichts anderes ausgesagt werden, als dass aus den Verschriftungsgewohnheiten hochmittelalterlicher oberdeutscher Handschriften ein relativ einheitlicher Lautstand zu abstrahieren ist, der seinerseits (wegen eines frühgermanistisch geprägten kanonisierenden Interesses an literarischen Texten von Autoren vorwiegend oberdeutscher Provenienz wie Walther von der Vogelweide, Hartmann von Aue, Wolfram von Eschenbach, Gottfried von Straßburg etc.) auch zum Ausgangspunkt der modernen historischen Lexikologie und Lexikographie geworden ist. So verstanden ist das Konzept durchaus noch tragfähig. Es wäre gleichwohl kritisch zu hinterfragen, etwa im Hinblick auf das Verhältnis zu anderen, nicht oberdeutschen ‚Literatursprachen‘ (wie z.B. das Niederrheinische), und insbesondere auch auf die von Lachmann geprägte Vorstellung, dass es unweigerlich zur Textkritik dazugehöre, auch zur originalen Sprachgestalt des Dichters bzw. des poetischen Kunstwerks vorzudringen. Darauf ist hier nicht einzugehen; einen Problemaufriss bietet Florian Kragl: Normalmittelhochdeutsch. Theorieentwurf einer gelebten Praxis, in: ZfdA 144, 2015, S. 1–27. – Als hochmittelalterlicher oberdeutscher Dichter bleibt Konrad mit seinem „Partonopier“ von allen Problemen, die dem Begriff des ‚Normalmittelhochdeutschen‘ anhaften, weitgehend unbetroffen, insofern man ihn ideologiefrei auf jenen (sprach-)historisch kaum zu bezweifelnden Kernbereich oberdeutscher Literatur und deren in der Überlieferung zu beobachtende und von ihr zu abstrahierende Sprachgestalt bezieht.
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tionen s.u.). A hat, wie oben gezeigt werden konnte, neben den inhaltlich und stilistisch konsistenteren Lesarten mit den korrekteren Reimen auch das formästhetische Prinzip des Textes besser bewahrt. Und dass es sich beim „Partonopier“ (wie bei so gut wie allen Erzähltexten des deutschen Mittelalters) um eine Dichtung in prinzipiell vierhebigen Reimpaarversen handelt, kann nicht bezweifelt werden; auch B gibt dies trotz gelegentlicher Formverstöße sehr deutlich zu erkennen. Unter der Prämisse, dass nach dem überlieferungsgeschichtlich gemeinsamen Ausgangspunkt der beiden Textzeugen gesucht wird, rechtfertigen die besseren A-Lesarten Anpassungen bei erkennbaren Unzulänglichkeiten des B-Textes. Von hier aus kann man noch einen Schritt weiter gehen. Denn für etliche Verbesserungen von Fehlern in B bedürfte es nicht einmal unbedingt des Korrektivs von A. Der Handschriftenvergleich bestätigt allerdings bestimmte charakteristische Fehlertypen, die etwa durch Sprachwandel oder paläographische Unsicherheiten auftreten können (s.o.). So wäre man vielleicht im obigen zweiten Textbeispiel durch Anwendung reimgrammatischer Regeln und durch den inhaltlichen Zusammenhang auch ohne die Parallele in A auf den Reim geströut : gevröut (V. 13283 f.) gekommen; und der falsche Reim erchannet : geſencket (V. 13289 f.) hätte sich womöglich auch mithilfe traditioneller Parallelstellenphilologie ermitteln lassen.37 Die Hypothese bestünde also darin, dass man, bestärkt durch die Befunde des Textvergleichs von A und B, auch allein auf der Grundlage von B einen mittelhochdeutschen Text wie in A herstellen kann. Ein Beispiel hierfür wurde oben bereits genannt (V. 194: danckt/danchte – dauchte – dûhte). Auch in vielen weiteren Fällen ist nach ähnlichem Prinzip eine Textbesserung ohne das Korrektiv einer älteren Parallelüberlieferung möglich. Das sei an einer kurzen Passage vom Beginn des Romans vorgeführt.38 Der Jüngling Partonopier – er ist erst 13 Jahre alt – tut sich auf der Jagd mit seinem Onkel, König Clogiers, als besonderer Jägermeister39 (vgl. V. 413) hervor. Durch einen Stoß ins Jagdhorn erweist er dem erlegten wilden Eber die Ehre, und er belohnt die Jagdhunde (B, V. 404–413):
37
Formen von erklenken finden sich bei Konrad im „Engelhard“ V. 5339 (auch dort ist die Rede von den wilden waltvogellîn, die ir niuwen sumerwîse / erklancten) und im „Trojanerkrieg“ V. 15143; ein Reimbeleg findet sich in einem seiner Minnelieder (Konrad von Würzburg: Kleinere Dichtungen. III: Die Klage der Kunst. Leiche, Lieder und Sprüche, hg. v. Edward Schröder. Mit einem Nachwort von Ludwig Wolff, 3. Aufl., Dublin, Zürich 1967, hier Nr. 20, V. 5 f.): In die taubenetzten Blüten senkent sich diu vogellîn, / diu gedœne lûte erklenkent. 38 In gleicher Weise und mit gleichem Ziel verfährt Runow [Anm. 1], S. 40 f., für die Prologverse 1–15. 39 Die motivische Anlehnung an den jungen Tristan bei Gottfried von Straßburg (den Konrad im Epilog zu seinem „Herzmære“ auch explizit als Vorbild nennt) ist dabei kaum zu übersehen.
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Nu daz der eber tote geleit Ward von jm auff daz grüne gras Do warb jm alz gemere was Der jungl1g vil hoch gepor! Ze valle plies er jn daz hore! Der edel v! ſueſſe chnecht Vnd tet dem ſwein gar ſein recht Gab den hund! iren tail Er macht ſi frech v! gail Als ain iagermaisſtˀ hoch
An dem knappen Textausschnitt lassen sich gut verschiedene Schritte der Textkonstitution zeigen, die einerseits die Sprachgestalt betreffen, andererseits die philologisch-divinatorischen Dimensionen der Besserung von ‚Fehlern‘. Der erste Schritt zielt auf die Sprachgestalt, in welcher der „Partonopier“ in B überliefert ist. Die neuhochdeutsche Monophthongierung ist hier in Ansätzen zu erkennen (V. 411 grüne für mhd. grüene), die Diphthongierung ist ganz durchgeführt, hier z.B. in V. 405 auff für mhd. ûf und in V. 410 ſwein für mhd. swîn. Bei letzterem handelt es sich um den Dat. Sing.; im Frühneuhochdeutschen ist das auslautende -e, das im Mittelhochdeutschen als Flexionsendung noch zu erwarten ist, apokopiert. Ebenso verhält es sich mit der Synkope bei jungling (V. 407). Macht man diese rückgängig, erhält man für beide Verse auch die zu erwartende ideale metrische Form von alternierenden vierhebigen Versen (V. 407: der júngelíng vil hóch gepórn; V. 401: und tét dem swíne gár sin récht). Fügt man noch – weitgehend für das moderne Ohr und Auge – ein wenig ‚Kosmetik‘ hinzu, ist der Text ohne Weiteres in die Sprachgestalt des Normalmittelhochdeutschen versetzt.40 Dazu gehört, dass man neben der üblichen graphischen Vereinheitlichung (Auflösung der Abbreviaturen wie Nasalstrich und [e]r-Kürzung; Ausgleich der Schreibungen von u/v- sowie i/j etc.) die bairische Einfärbung von B zurücknimmt (hier v.a.
im Anlaut für mhd. /b/: geporn, plies; als übliche Schreibweise für /k/: chnecht),41 den Zirkumflex zur Bezeichnung langer Monophthonge sowie Umlautbezeichnungen einführt und ggf. die Auslautverhärtung von /b, d, g/ auch graphisch anzeigt. Zur weiteren Leseführung hilft eine moderne Interpunktion. Durch keine dieser Operationen
40
Die Normalisierung ist nicht in jedem Punkt mit letzter Konsequenz durchzuführen, sondern muss Augenmaß und ein Gespür für die Eigenheiten des Textes zeigen. Darauf ist hier nicht im Detail einzugehen; einige Eckpunkte für den „Partonopier“ sind formuliert bei Runow [Anm. 1], S. 38 f. 41 Weiteres kommt hinzu, so steht oft für mhd. /w/, was nicht nur beim modernen Leser Verwirrung zu stiften geeignet ist, sondern auch schon im Mittelalter bisweilen Quelle für Missverständnisse war.
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ist hier in irgendeiner Weise die Syntax oder Semantik des Textes beeinflusst.42 Die Normalisierung leistet das, was ein im Umgang mit der Überlieferung mittelhochdeutscher Texte entsprechend Geübter schon bei der Lektüre der Handschrift leisten kann. Dem weniger versierten Leser ist sie eine „Vor- und LautLese-Hilfe“43, die zugleich auch Verständnishilfe ist (weil sie den Text in einer Form visualisiert und hörbar macht, in der die meisten Leser sich die Sprachstufe des Mittelhochdeutschen angeeignet haben, geschult nämlich an den normalisierten Ausgaben der mittelhochdeutschen ‚Klassiker‘). Neben dieser pragmatischen Dimension trägt die Normalisierung zudem bereits zur Ästhetik des Textes bei, weil er durch die sprachhistorische ‚Rückübersetzung‘ metrisch geglättet erscheint. In diesem Sinne ist die Normalisierung auch schon eine textkritische Operation in Richtung auf einen der Überlieferung vorgängigen Text – der ziemlich genau jener Sprachgestalt entspricht, die das Fragment A tatsächlich bezeugt. Der solchermaßen hergestellte Text sähe dann so aus (eine noch zu besprechende unverständliche Stelle steht vorläufig in Cruces): nu daz der eber tôt geleit wart von im ûf daz grüene gras, dô warp †im als gemere† was der jüngelinc vil hôch geborn. ze valle blies er in daz horn, der edele unde süeze knecht, und tet dem swîne gar sîn recht, gab den hunden iren teil, er machte si frech unde geil als ein jägermeister hôch.
Zweitens fällt nun die unverständliche Stelle im dritten Vers (V. 406) auf. Ohne Parallelüberlieferung ist man auf eine Kombination aus philologischem und hermeneutischem Gespür angewiesen, um zu erfassen, was hier – und wie es – ausgesagt werden soll.44 Dazu ist die Stelle in ihrem Kontext zu interpretieren: Die 42
Die Einführung einer ‚modernen‘ Interpunktion bringt freilich eine nicht unerhebliche syntaktische (und damit ggf. semantisierende) Lenkungswirkung mit sich. Historisches und modernes syntaktisches Empfinden können aber durchaus verschieden sein, was auch in der Medialität der für den Vortrag bestimmten Texte innerhalb einer Kultur der ‚Vokalität‘ begründet liegt. Insbesondere ist die Satzfügung im Mittelhochdeutschen oft ‚lockerer‘ und gelegentlich polyvalenter (z.B. durch im Neuhochdeutschen nicht mehr ohne weiteres mögliche apo koinou-Stellung einzelner Satzglieder). Insofern ist auch die Interpunktion nicht einfach eine Selbstverständlichkeit. Zum Problem vgl. zuletzt Martin Schubert: Interpunktion mittelalterlicher deutscher Texte durch die Herausgeber, in: editio 27, 2013, S. 38–55. – Die hier gebotenen Beispiele indes bieten dem Editor in dieser Hinsicht keine größeren Schwierigkeiten, und das gilt auch weithin verallgemeinerbar für Konrads Epik. 43 Kragl [Anm. 36], S. 25. 44 Dabei muss ich zugeben, dass ich die Stelle immer schon in Kenntnis der Rekonstruktion durch Bartsch wahrgenommen habe, die mir einleuchtet – aus dieser Schleife kommt man nur schwer heraus –, die er jedoch nicht begründet, was ich hier zumindest versuche.
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ganze Passage zu Beginn des Romans ist darauf hin angelegt, den jugendlichen Protagonisten in seiner Exzeptionalität vorzuführen. Dazu gehört seine königliche Verwandtschaft, und sein Adel äußert sich auch im vorbildlichen Jagdverhalten. In diesem Sinne ‚verhielt sich‘ (warp) der ‚hochwohlgeborene Jüngling‘. Mit als ‚wie‘ ist daran anschließend offenbar ein Vergleich eingeleitet: Der junge Jäger verhielt sich, „als gemere was“. Das Verständnis dieser Phrase scheitert daran, dass ein mhd. Lexem gemere, das hier den Satz trägt, nicht belegt ist. Ein nur geringfügiger Eingriff führt aber zu mhd. gemæze ‚angemessen‘, was an dieser Stelle sehr gut passt: ‚Er verhielt sich, wie es für ihn (für seinen Status) angemessen war‘; um das syntaktisch aufzufangen, bedarf es zudem aber noch der Umstellung der Einleitung des Vergleichs von im als gemæze zu als im gemæze was.45 Damit ist ein stimmiger Satz hergestellt. Das Unbehagen darüber, dass die Herstellung einzig auf einem hermeneutischen, letztlich also auf einem assoziativ-interpretierenden Zugang beruht, lässt sich philologisch aber zumindest einhegen. Denn dass in der mittelalterlichen Texttradition ausgerechnet die Grapheme z und r verwechselt werden, was die Konjektur unterstellt, ist einigermaßen plausibel. Insbesondere gotische Handschriften kennen zwei Formen des Minuskel-r: Neben der ‚normalen‘ Form nämlich die so genannte ‚runde‘, die als Ligaturform nach o und anderen Bogenformen entstanden ist, seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts und verstärkt im 14. Jahrhundert aber auch nach weiteren Buchstaben stehen kann.46 Beide Formen kommen in B vor. Man vergleiche die folgende Abbildung des besprochenen Textausschnitts aus B:
Abb.: Hs. B, Berlin, Mgf 1064, fol. 57ra unten (V. 404–411).
Die übliche Form findet sich etwa in Zeile 1 bei der und eber, in der folgenden Zeile in grüne und gras. Auch die runde r-Form ist hier außer in besagtem ge45
Die Umstellung ließe sich nur vermeiden, wenn man argumentieren könnte, dass mhd. werben auch in reflexiver Verwendung im Sinne von ‚sich verhalten‘ vorkommt. Das ist aber nicht der Fall; vgl. das reiche Belegmaterial in BMZ = Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Mit Benutzung des Nachlasses von Georg Friedrich Benecke. Ausgearbeitet von Wilhelm Müller und Friedrich Zarncke. 3 Bd. e (in 4), Leipzig 1854–1866, hier Bd. III, Sp. 722–724. 46 Schneider [Anm. 26], S. 44 u. 51.
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mere (Z. 3) noch mehrfach gut zu sehen (Z. 2: ward, Z. 3: warb, Z. 4 f.: gepor!, hor4n). Vergleicht man dieses runde r mit dem direkt über gemere stehenden z in daz (ebenso auch zwei Zeilen weiter unten), fällt das Verwechslungspotential ins Auge: Das z hat gegenüber dem r lediglich einen zusätzlichen Unterstrich, der gerade in Handschriften auf kalligraphisch höherem Niveau noch feiner ausfallen kann. Damit wäre der fehlerhafte Vers zu heilen: do warp, als im gemæze was, / der jüngelinc. – So hat es auch Bartsch in seiner Edition gelöst. Ein dritter Aspekt kommt noch hinzu, der zum Ausgangspunkt für weitere Eingriffe in den überlieferten Text wird. Dem geschulten Stilempfinden fällt der Schluss der Passage auf. (‚Stil‘ und ‚Empfinden‘ sind freilich sehr unpräzise Analysekategorien, und doch wecken gerade auch solche Indikatoren das divinatorische Gespür des Textkritikers!) Das Unbehagen geht von der drittletzten Zeile der Passage aus (V. 411): gab den hunden iren teil, ein (Teil-)Satz, dem das Subjekt fehlt. Dieses könnte zwar entweder ergänzt werden aus dem vorvorausgehenden Vers: der edele unde süeze knecht; doch solche Wiederaufnahme über Distanz ist für das Mittelhochdeutsche ziemlich untypisch. Oder es wäre sehr leicht zu konjizieren: ‹er› gab den hunden iren teil; so hat es Bartsch gemacht, was für sich genommen syntaktisch völlig unanstößig ist. Die Konjektur produziert aber zusammen mit dem folgenden Vers eine parataktische Reihe, die jeweils mit er eingeleitet wird: er gab … / er machte…, was seinerseits wiederum ungewöhnlich für Konrad von Würzburg ist. Mehr noch, und das ist hier das gewichtigere Argument: Konrads epischer Stil ist durchweg geprägt vom Prinzip der ‚Reimbrechung‘. Das bedeutet, dass die syntaktische Einheit über lange Strecken nicht mit dem klanglichen Abschluss des Paarreims zusammenfällt. Ein Kolon endet stattdessen mit der ersten Reimzeile, die zweite eröffnet dann das nächste. Dabei handelt es sich um ein bei vielen Epikern zu beobachtendes Prinzip, das durch die sich abwechselnden Triebkräfte von Reim und Syntax, von Inhalt und Form, eine spezifische Dynamik entwickelt. Dies wird bei Konrad deutlicher als bei anderen Dichtern jeweils über längere Passagen von 30 bis 60, manchmal gar an die hundert Verse oder mehr durchgehalten. Jene Stellen, an denen der Abschluss der syntaktischen Einheit mit dem Reimpaar zusammenfällt, wo also ‚Reimbindung‘ vorliegt, markieren oft einen inhaltlichen Einschnitt. Vor allem ist dieses Prinzip auch in der Überlieferung erkannt und erkennbar, denn der syntaktische Neueinsatz nach Reimbindung ist in den Handschriften sehr konsequent durch eine Lombarde ausgezeichnet. Das gilt für die Berliner Handschrift ganz durchgehend, und für die überlieferten Passagen auch im Fragment A.47 All diese Stilauffälligkeiten scheinen in der Summe sehr dafür zu sprechen, dass B hier den ursprünglichen Text nicht richtig wiedergibt (obwohl der Text auch in der überlieferten Gestalt verständlich 47
Das Prinzip scheint in A nur einmal – und auch nur ansatzweise – durchbrochen in V. 13170, wo die Handschrift nur eine (nicht wie sonst farbige bzw. verzierte) Klein(st)Initiale setzt (Majuskel in schwarzer Tinte, die nur leicht in den Rand hinausgezogen ist).
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bleibt). Und mit den angeführten stilistisch-produktionsästhetischen Argumenten scheint es möglich, diese Korruptel durch einen überschaubaren Eingriff besser zu ‚heilen‘, als Bartsch es getan hat, nämlich durch eine einfache Umstellung der Verse 409 und 410, die alle beobachteten Unstimmigkeiten – Subjektlosigkeit, ungewöhnliche Satzanapher, Reimbindung bzw. -brechung – ohne weitere Konjekturen behebt.48 Die gesamte Passage liest sich dann normalisiert und mit den beschriebenen Eingriffen wie folgt (Änderungen, die über reine Normalisierung hinausgehen, sind recte hervorgehoben, Umstellungen durch hochgestellte Häkchen ˹ ˺ eingeklammert): nu daz der eber tôt geleit wart von im ûf daz grüene gras, dô warp ˹als im˺ gemæze was der jüngelinc vil hôch geborn. ze valle blies er in daz horn ˹und tet dem swîne gar sîn recht. der edele unde süeze knecht˺ gab den hunden iren teil, er machte si frech unde geil als ein jägermeister hôch. Als nun der Keiler von ihm tot auf das grüne Gras hingelegt worden war, da handelte der Jüngling von hoher Geburt so, wie es für ihn angemessen war: Zum Erlegen des Wildschweins blies er ins Horn und erwies ihm damit die Ehre. Der adlige und anmutige Knabe gab den Hunden ihren Anteil, damit weckte er ihre Kraft und Jagdlust, ganz wie ein gestandener Jägermeister.
V. Exkurs zur Methodenreflexion Alle Argumentationen, welche die hier angestellten Versuche zur Emendation des Textes begründen, beruhen auf Prämissen, die ihrerseits ganz ‚Lachmannianisch‘ sind. Denn erstens gehen sie selbstverständlich von einer Trennung und Trennbarkeit von ‚Text‘ und ‚Textzeugen‘ aus, die bereits an sich eine qualitative Gewichtung impliziert: Der (konkreten) Handschrift wird dabei weniger Wert beigemessen als dem (abstrakten) Text, den sie ‚nur‘ bezeugt. Aus dieser ersten Prämisse folgt sodann zweitens die Entscheidung zur Rekonstruktion des nicht erhaltenen, in seiner ‚Bezeugung‘ aber durchscheinenden, Ausgangstextes oder zumindest zur Annäherung an einen solchen. Die Voraussetzung hierfür ist drittens der erkennbare spezifische Gestaltungs- und Stilwille des Texturhebers, des Autors Konrad von Würzburg, dessen produktionsästhetische Prinzipien in einer gewissen Regelhaftigkeit erkennbar und dabei soweit operationalisierbar sein müssen, dass sie als Argument für Textbesserungen herangezogen werden können. 48
Bartsch [Anm. 8], S. 404, hat eine Umstellung, allerdings in Verbindung mit weiteren Eingriffen, im Kommentar als Möglichkeit erwogen, sie in der Edition jedoch nicht durchgeführt.
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Die Gültigkeit solcher Prämissen ist in der jüngeren Methodengeschichte grundsätzlich in Frage gestellt worden. Demgegenüber sind andere Erkenntnisinteressen jenseits eines stemmatologisch-rekonstruktiven Blicks auf die Texte und ihre Überlieferung in den Vordergrund gerückt. Wenn man nämlich im Sinne einer „Material Philology“49 die Handschrift als historisch authentisches Zeugnis ernstnimmt, wenn man an ihr kulturelle Praktiken von Texttradition und -präsentation aufzeigen will, wenn die Multidimensionalität des Codex mit seiner mise en page, wenn das je epochenspezifische Weiterarbeiten am Text und die „Situationen des Textes“50 untersucht werden sollen, dann spielt der Autortext als verlorener Ausgangspunkt der Überlieferung keine oder nur eine untergeordnete Rolle. Im Zuge der ‚New Philology‘ wurde ja die historische Relevanz der Kategorien ‚Autor‘ und ‚Werk‘ als Instanzen, welche die mittelalterlicher Textrezeption und -überlieferung steuern, ganz grundsätzlich in Frage gestellt.51 Wenn man unter solchen Voraussetzungen arbeitet, dann sind die oben formulierten und zuvor bereits reichlich angewendeten Prämissen notwendig obsolet. Eine Instanzentrennung von Text und Textzeuge ist demnach nämlich unzulässig, denn in dieser Perspektive interessiert die einzelne Handschrift als einzig erreichbarer, authentischer Text. Um Rekonstruktion kann es dann auch nicht gehen, sondern in den Fokus rückt das Gestaltungsprinzip, die individuelle Ausprägung der jeweiligen Handschrift. Und unter solchen Gesichtspunkten, wenn es also nicht darum geht, den Gestaltungswillen des einen, der Überlieferung vorgängigen Ausgangstextes zu erkennen, sondern darum, unterschiedliche Manifestation von Text in ihren Eigenheiten zu beschreiben, bedeutet dies folgerichtig auch den ‚Tod des Autors‘ – zumindest als Analysekategorie. Mit diesem Blickrichtungswechsel ist ein grundlegend anderes Erkenntnisinteresse formuliert, was Konflikte zwischen der klassischen Textkritik und der modernen Materialphilologie unvermeidbar macht. Hier hat sich seit dem Ausrufen der ‚neuen‘ Philologie im Jahr 1990 eine harte Front zwischen (vermeintlich) alten und neuen Methoden gebildet. Das ist insofern verständlich, als die Prämissen, Erkenntnisinteressen und Methoden beider Zugänge sich notwendigerweise gegenseitig ausschließen. Dies jedoch muss nur gelten, solange ‚alte‘ 49
Stephen G. Nichols: Why Material Philology? Some Thoughts, in: Philologie als Textwissenschaft. Alte und neue Horizonte, hg. v. Helmut Tervooren, Horst Wenzel, Berlin 1997, S. 10–29. 50 Peter Strohschneider: Situationen des Textes. Okkasionelle Bemerkungen zur ‚New Philology‘, ebd., S. 62–86. 51 Jüngere Forschungsbeiträge zu ‚Autor‘ und ‚Werk‘ und den damit verbundenen Fragen nach vormoderner Textualität sind Legion. Hier sei nur pauschal auf das bekannte „Speculum“-Heft Nr. 65 von 1990 sowie die Reflexionen bei Strohschneider [Anm. 50] verwiesen. Vgl. darüber hinaus als einen der jüngeren Umrisse des Problemfelds ebenfalls Peter Strohschneider: Höfische Textgeschichten. Über Selbstentwürfe vormoderner Literatur, Heidelberg 2014, insbes. S. 23–27 mit der dort genannten Literatur.
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und ‚neue‘ Verfahren aus der Überlieferung je eigene, einander widersprechende Schlüsse ziehen (müssen), gleichwohl aber auf dasselbe Outputformat abzielen, nämlich die Edition. Darin liegt – zumindest für die seither mit editionsphilologischem Fokus geführte Debatte – das eigentliche Dilemma. Dass dieses so prominent und so dauerhaft provoziert worden ist, hätte an sich gar nicht notwendig oder gar selbstverständlich sein müssen. Hier scheint (neben wohl auch nationalphilologischen Besonderheiten) eine gewisse Kontingenz in der jüngeren Fachgeschichte hineinzuspielen. Sie besteht darin, dass die erste umfassende Rezeption der ‚neuen‘ Philologie in Deutschland auf der Bamberger Editionstagung von 1991 stattfand.52 So wurde aus der ‚New Philology‘-Debatte eine (auch und vorwiegend) editorische, obwohl sie als solche jedenfalls primär gar nicht angelegt war. Das ist freilich sehr schematisch-axiologisch gedacht. Dabei sind solche Vereinfachungen und klaren Frontstellungen nicht angebracht und auch nicht hilfreich. So ist unter Umständen eine friedliche und sich gegenseitig befruchtende Koexistenz beider Zugänge durchaus möglich.53 Wichtig ist es jedoch, sehr genau den jeweiligen Einzelfall zu betrachten (tous les cas sont speciaux!) und zu entscheiden, welche Voraussetzungen er bietet, welche Erkenntnisinteressen dominieren und worin das Erkenntnisziel der jeweiligen Analysen besteht. Wenn etwa ein berechtigtes Interesse an der literarhistorischen Stellung eines Textes bzw. der Texte eines Autors besteht und die Überlieferung sowie eine inner-, intra-, kon- und intertextuelle Einbettung des Textes erlaubt, dieses substantiell zu bedienen, spricht auch weiterhin nichts dagegen, den Blick auf den oder die Ausgangspunkte einer sich verzweigenden Überlieferung zu richten – auch und gerade, wenn diese nicht erhalten sind, was zumindest für die mittelhochdeutsche Literatur schließlich der Normalfall ist. Ziel solcher Bestrebungen kann, muss aber nicht, eine kritische Edition sein, die versucht, einen möglichst autornahen54 Text zu erreichen. – Ist das Erkenntnisinteresse indes allein auf die überlieferte(n) Textgestalt(en) gerichtet, steht demgegenüber zunächst eine genaue Dokumentation der Überlieferung im Vordergrund, deren Durch52
Dokumentiert im editio-Beiheft Nr. 4: Methoden und Probleme der Edition mittelalterlicher deutscher Texte. Bamberger Fachtagung 26.–29. Juni 1991. Plenumsreferate, hg. v. Rolf Bergmann, Kurt Gärtner unter Mitwirkung von Volker Mertens, Ulrich Müller, Anton Schwob, Tübingen 1993. – Vgl. zudem auch die Beiträge der Jenaer Tagung von 1995, die sich explizit der Frage einer ‚neuen‘ Philologie widmen und ebenfalls als editioBeiheft (Nr. 8) erschienen sind: Alte und neue Philologie, hg. v. Martin-Dietrich Gleßgen, Franz Lebsanft, Tübingen 1997. 53 Vorgeführt hat das etwa Joachim Bumke mit seinen Untersuchungen (s. Anm. 35) und seiner Edition der vier Fassungen der „Nibelungenklage“. 54 Das ist etwas plakativ formuliert und wäre differenzierter zu beschreiben. Ebenso gälte dies nämlich auch für die Rekonstruktion verschiedener Fassungen eines Textes, auch abgelöst von einer konkreten Autorinstanz (z.B. bei den generell anonym verfassten Heldenepen); eher wäre demnach allgemeiner vom Ziel eines entstehungs- oder abfassungsnäheren Textes zu sprechen.
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dringung dann durch begleitende andere diskursive Formate wie Kommentare und Studien mit z.B. überlieferungs-, rezeptions-, medien- und diskursgeschichtlichen Schwerpunktsetzungen erfolgen kann. In diesem Sinne bilden (kritische) Edition (die immer schon auf Entscheidungen als Ergebnissen von Interpretation beruht) und ‚bloße‘ Dokumentation (als Ausgangspunkt für weitere Interpretation) eine Art Gegensatzpaar mit je eigenen und strikt voneinander zu trennenden Erkenntnispotentialen. Integrierende Verfahren sind wünschenswert, aber nicht immer möglich oder sinnvoll; das hängt entschieden von den Voraussetzungen des Einzelfalls ab. Ein immer wieder instruktives und in seiner Editionshistorie gerade wieder hochaktuelles Beispiel ist Hartmanns von Aue „Erec“, von dem, aus einigermaßen entstehungsnaher Zeit, nur wenige Bruchstücke überliefert sind, die zudem unterschiedliche Fassungen repräsentieren, von denen die eine wohl nicht einmal von Hartmann selbst stammt, sondern einen eigenständigen mitteldeutschen ErecRoman bezeugt.55 Einen halbwegs vollständigen Text, in dem die Forschung recht einhellig den Hartmannschen sieht, hat nur das zu Beginn des 16. Jahrhunderts angefertigte „Ambraser Heldenbuch“ Kaiser Maximilians I. (Wien, ÖNB, Cod. Ser. nova 2663) bewahrt. Dabei entspricht die frühneuhochdeutsche südbairische Sprache, in die der Schreiber Hans Ried den Text gegossen hat, kaum dem schwäbisch geprägten Mittelhochdeutsch, das für Hartmann gut bezeugt ist; gerade sein „Iwein“ ist bereits in frühen und guten Handschriften überliefert. Vielfach hat Ried den Hartmannschen Text nicht mehr verstanden, ihn dabei bisweilen wohl seinem eigenen Verständnishorizont angepasst, oft aber auch bloß mechanisch kopiert, ohne sich um Sinn, Form oder gar übergreifende Kohärenzstrukturen zu kümmern, was zu allerlei Unverständlichkeiten, Brüchen und Widersprüchen – kurzum: Fehlern – geführt hat. Mit dieser hier nur knapp angedeuteten Überlieferungslage bildet der „Erec“ einen signifikanten (und ungleich prominenteren) Parallelfall zum „Partonopier“. Vom „Erec“ liegt nun seit kurzem eine Edition vor,56 die konsequent den neuphilologischen Ansatz verfolgt, indem sie nicht mehr nach dem vermeintlichen Autorwillen fragt, sondern den Ambraser Text um (fast) jeden Preis ernst nimmt. Dabei verstrickt sich die Ausgabe jedoch vielfach in Widersprüche. Diese müssen hier nicht im Detail ausgeführt werden, zwei umfangreiche Rezen-
55
Zum Überblick vgl. Joachim Bumke: Der Erec Hartmanns von Aue, Berlin 2006, S. 9– 17, sowie die Einleitung der kritischen Ausgabe: Hartmann von Aue: Erec. Mit einem Abdruck der neuen Wolfenbütteler und Zwettler Erec-Fragmente, hg. v. Albert Leitzmann, fortgeführt von Ludwig Wolff, 7. Aufl., besorgt von Kurt Gärtner, Tübingen 2007, S. VII–XXIII. 56 Hartmann von Aue: Ereck. Textgeschichtliche Ausgabe mit Abdruck sämtlicher Fragmente und der Bruchstücke des mitteldeutschen Erek, hg. v. Andreas Hammer, Victor Millet, Timo Reuvekamp-Felber unter Mitarbeit von Lydia Merten, Katharina Münstermann, Hannah Rieger, Berlin, Boston 2017.
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sionen haben sie bereits in aller Klarheit offengelegt.57 Es sei nur angedeutet, inwiefern der Ansatz unter den spezifischen Bedingungen der Überlieferung des „Erec“ notwendig in methodische Aporien gerät. Die Ausgabe verweigert konsequent eine Rekonstruktion im Hinblick auf eine Vorstellung von Hartmanns „Erec“; sie dokumentiert stattdessen mit einiger Strenge den Text in seiner überlieferten Gestalt, unterstellt ihm dabei aber implizit einen Gestaltungswillen, der indes oft nur unter enormem hermeneutischen Aufwand und mit manchmal kurios anmutenden Begründungen zu erkennen ist (um nicht zu sagen: von den Herausgebern hergestellt wird).58 In den allermeisten Fällen wird man dem Schreiber Hans Ried, über dessen Abschreibeverhalten man gut informiert ist,59 einen solchen Gestaltungswillen, der nicht selten gegen die erkennbaren Form- und Stilprinzipien des Textes verstößt, kaum zumuten können. Die Herausgeber versuchen gleichwohl, den solchermaßen mit durchaus dokumentarischem Anspruch wiedergegebenen Text als verständlich zu erklären. Dabei ziehen sie alle Register des philologischen Hilfsmittelapparates, dessen Relevanz sie andererseits grundsätzlich in Frage stellen, weil „die Wörterbücher aus dem 19. Jahrhundert […] von der fraglichen Überzeugung ausgingen, es habe auch im Mittelalter eine Art beständiges Hochdeutsch gegeben“,60 welches aber seinerseits ein „Kunstprodukt“ sei, das nicht auf der Überlieferung, sondern auf den nach der Lachmannschen Methode hergestellten Textausgaben beruhe.61 Vor allem aber entsteht ein Unbehagen daraus, dass die Ausgabe mit ihrem neuphilologischen Ansatz, der konsequenterweise den Autor des Textes hinter der Überlieferung ausblenden muss, ebenso konsequent Erkenntnispotentiale ignoriert, die sich geradezu aufdrängen und die genau diesen Autor sichtbar machen. Erkennbare Formprinzipien und Kohärenzstrukturen, wie sie die Poetik des Romans um 1200 und insbesondere Hartmanns Sprache und Stil bestimmen, dürfen hier nicht gelten, zumindest nicht als Argument zur Besserung des im 16. Jahrhundert nicht mehr Verstandenen und – manchmal nachvollziehbar, bisweilen aber auch völlig sinnfrei – Transformierten. 57
Stephan Müller, in: Arbitrium 36, 2018, S. 302–311; Sonja Glauch, in: PBB 141, 2019, S. 112–127. 58 Zahlreiche instruktive Beispiele hierfür liefern Müller und Glauch [Anm. 57]. 59 Meistens war Ried erkennbar bestrebt, sich an seine Vorlagen zu halten, wobei ihm aber oft Fehler unterlaufen, die z.B. durch Fehlinterpretationen bestimmter paläographischer Eigenheiten älterer Vorlagenhandschriften zu erklären sind oder auch dadurch, dass ältere und seltenere Lexeme oder Phraseme ihm nicht mehr verständlich waren. Ein aktiv formendes und gestaltendes Prinzip, gar eine umgestaltende ‚Poetik‘ eignet seinen Abschriften nicht. Vgl. dazu Glauch [Anm. 57] mit etlichen Beispielen sowie die dort in Fußnote 11 angeführte Forschungsliteratur. 60 Hammer, Millet, Reuvekamp-Felber [Anm. 56], S. XII. 61 Um nicht falsch verstanden zu werden: Es kann tatsächlich kein Zweifel daran bestehen, dass hier auf ein wichtiges Problem der Grundlagen unserer Hilfsmittel hingewiesen wird. Es hätte dann aber im Rahmen der Ausgabe klarer begründet werden sollen, inwiefern die Wörterbücher (und Grammatiken), die auf solchen abgelehnten Prämissen ruhen, dennoch zur Erklärung des Textes herangezogen werden dürfen.
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Es geht hier nicht darum, die „Ereck“-Ausgabe einer Fundamentalkritik zu unterziehen, ihr Zielkonflikt ist aber im Hinblick auf das Vorhaben der „Partonopier“-Edition von Belang. Das Dilemma liegt darin, gleichzeitig die Forderung nach Handschriftennähe erfüllen und (mögliche) Sinnpotentiale des Überlieferten erschließen zu wollen. Beides zugleich kann aber eine Edition unter den Bedingungen unikaler, später und schlechter Überlieferung,62 wie sie für den „Erec“ wie für den „Partonopier“ gelten, kaum leisten. Das Erkenntnispotential einer neuphilologischen Ausgabe kann durchaus darauf zielen zu zeigen, wie ein Text des 12. oder 13. Jahrhunderts am Ausgang des Mittelalters „verstanden (oder auch nicht mehr verstanden) wurde“63. Man muss dann aber auch tatsächlich hinnehmen, dass oft nicht mehr verstanden wurde, was da gleichwohl tradiert worden ist. Die Dokumentation der Überlieferung sollte dann einhergehen mit einem Kommentar, der das (transformierte) Verständnis des Textes aufschlüsselt, dabei vor allem aber auch die Achtlosigkeiten, Gleichgültigkeiten, Fehlgriffe und misslungenen Rettungsversuche in der Überlieferung benennt und zu erklären versucht. Unzulässig ist es hingegen, diese selbst in Gestalt des spätmittelalterlichen Schreibers zum Subjekt eines Gestaltungswillens zu machen und daraus für einen modernen Leser ein Textverständnis erschließen zu wollen, das für das Spätmittelalter selbst aber höchst unwahrscheinlich ist. Für den Fall des „Erec“/„Ereck“ pointiert dies Sonja Glauch: Ried […] beweist keinen Gestaltungswillen. Das einzige historische Subjekt, das mit dem Text […] jemals auf allen Ebenen der Textkonstitution ‚etwas gewollt‘ hat, ist der ursprüngliche Autor, den wir ohne Zweifel Hartmann von Aue nennen dürfen.64
Anders wäre die Situation allenfalls zu bewerten, wenn der „Erec“ in der Ambraser Handschrift die einzige Überlieferung des Hartmannschen Œuvres überhaupt wäre. Dann hätte man zwar weniger Anhaltspunkte für Sprache und Stil dieses Autors, wie man ihn in der z.T. guten und alten Überlieferung insbesondere des „Iwein“, aber auch in den übrigen Erzählungen sowie in den Minneliedern erkennen kann; doch selbst dann noch wären etliche Fehler, die Hans Ried ‚unterlaufen‘, aus dem von ihm nicht mehr verstandenem Sprachgebrauch und für ihn nicht mehr bindenden poetischen Formprinzip (Vers und Reim) des Mittelhochdeutschen um 1200 heraus zu erklären und leicht zu beheben. Auch ohne den Autor Hartmann von Aue (und selbst abgesehen von dessen breiter Rezeption schon im Mittelalter) wäre im Ambraser „Ereck“ der „Erec“ als Artusroman aus dem Hochmittelalter zu erkennen. 62
Vgl. zu diesem Typus auch Nathanael Busch: ‚lumpenpapierhandschriften‘. Zum editorischen Umgang mit unikal, spät und schlecht überlieferten Texten, in: editio 24, 2010, S. 96–116. 63 So das Ziel der „Ereck“-Ausgabe; s. Hammer, Millet, Reuvekamp-Felber [Anm. 56], S. XVIII. 64 Glauch [Anm. 57], S. 118.
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All dies ist analog auf den „Partonopier“ zu übertragen. Was beim „Erec“ über Hans Ried zu sagen ist, gilt in ganz ähnlicher Weise für den „Partonopier“Schreiber Heinrich Winckler. Man kann ihn als überwiegend mechanischen Abschreiber charakterisieren, der punktuell wohl Unverstandenes in seinem Sinne anpasst, ohne dass man darin aber einen eigenen Gestaltungswillen erkennen könnte. Nicht selten sind seine Fehlleistungen auf der Grundlage paläographischer, sprachlicher oder stilistischer Spezifika älterer Prägung zu erklären. Ansätze dazu haben die obigen Beobachtungen geliefert. So kann man auch hier mit guten Gründen behaupten, dass als historisches Subjekt des Textes, den die Berliner Handschrift bezeugt, allein der Autor Konrad von Würzburg festzumachen ist. Dessen erkennbare form-, sinn- und stilgebende Intentionen kann und will die hier projizierte Edition sichtbar machen. Die Begründung für die dazu vorauszusetzende Trennung von ‚Text‘ und ‚Überlieferung‘ entwickelt Sonja Glauch gerade aus jenem unhintergehbaren Dilemma, dass die allermeisten mittelalterlichen Handschriften etwas Ideelles, intentional Gestaltetes repräsentieren, das in seiner präzisen Gestalt verloren ist, und dass sie zwar selbst präzise Gestalt haben, die aber nichts intentional Gestaltetes ist, man könnte vielleicht auch sagen: die keinen Werkcharakter hat.65
Das Dilemma ist unauflösbar, es hat aber Konsequenzen. Man kann sich ihm nur stellen, indem man es transparent hält. Von besonderem Gewicht ist der Hinweis auf den fehlenden „Werkcharakter“ der Handschrift, was zusammenzubringen wäre mit der oben angedeuteten Unterscheidung zwischen der Edition, die auf das ‚Werk‘ zielt, und der Dokumentation, deren Fokus sich (auf anderer Ebene) auf die Überlieferung richtet. Die angestrebte „Partonopier“-Edition nimmt bekennendermaßen das Werk des Autors Konrad von Würzburg aus dem 13. Jahrhundert in den Blick. Die Voraussetzungen, sich diesem anzunähern, sind günstig, vielleicht sogar noch besser als im Fall von Hartmanns „Erec“: Konrad ist der profilierteste deutsche 65
Ebd., S. 119. – Was hier für die „allermeisten mittelalterlichen Handschriften“ behauptet wird, schließt andererseits nicht aus, dass einzelne Handschriften sehr wohl klar intentionale (Um-)Gestaltungsprozesse erkennen lassen. Nicht selten ist das z.B. in der Lyriküberlieferung der Fall. Dort zeigen sich im Fassungsvergleich von Strophen und Liedern durchaus Tendenzen von Aktualisierung (etwa formaler Art, z.B. wenn in Meisterliederhandschriften ältere Strophen konsequent mit einem Auftakt versehen oder sie systematisch an jüngere Tonvarianten angepasst werden) oder Ent- bzw. Umaktualisierung (z.B. bei Sangspruchstrophen mit zeitgeschichtlichen Referenzen; vgl. etwa Peter Kern: Entaktualisierung in der Jenaer Liederhandschrift? Fassungsvarianten zweier Spruchstrophen Bruder Wernhers in den Handschriften C und J, in: ZfdPh 104, 1985, S. 157–166). Wie eine späte Autorsammlung als ganze von gewissen Restaurierungs- und Aktualisierungstendenzen bestimmt und mitgeformt wird, zeigt am Beispiel Neidharts Anna Kathrin Bleuler: Zwischen Konservierung, Restaurierung und Aktualisierung. Zur Frage nach dem Verwendungszweck der Berliner Neidhart-Handschrift c, in: ZfdPh 127, 2008, S. 373–393. – In solchen Fällen könnte man durchaus davon sprechen, dass der einzelnen Handschrift wiederum ‚Werkcharakter‘ zukommt.
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Autor des 13. Jahrhunderts mit einem ungewöhnlich breiten Œuvre von hohem Wiedererkennungswert, das zudem gut erschlossen ist. Zu seinen anderen Romanen, dem „Trojanerkrieg“ und dem „Engelhard“, die wichtige Vergleichsgrößen darstellen, liegen moderne Ausgaben vor,66 die den Blick auf die Überlieferung nicht verstellen. Und schon die in den 1950er-Jahren entstandenen Reimwörterbücher zum „Partonopier“67 und zum „Engelhard“68 arbeiten zwar auf der Grundlage der älteren Ausgaben, haben dabei aber immer auch die Überlieferung im Blick und notieren Auffälligkeiten. Auch wenn man diese außer Acht lässt, bleiben wiederkehrende stilbildende Muster im Reimgebrauch erkennbar. All dies belegt gut den (eben nicht nur subjektiven) Eindruck, der sich bei ausgedehnteren Konrad-Lektüren einstellt, sei es in seiner Lyrik, in den Legenden oder den epischen Klein- und Großdichtungen: Er dichtet auf der Grundlage eines erkennbar rekurrenten sprachlich-stilistischen Repertoires,69 das man dann auch als Argument für die Textkonstitution heranziehen dürfen sollte. Diesen ‚Konradschen Wiedererkennungswert‘ kann man im Fall des „Partonopier“ sogar geradezu empirisch festmachen: Die Handschrift B, deren Text im Prolog eindeutig Auskunft über die Autorschaft Konrads gibt, wurde 1829 entdeckt und erst 1867 durch Franz Pfeiffer der Fachöffentlichkeit bekannt.70 Die Züricher Fragmente A kannte man aber bereits seit den Abdrucken bei Johann Jacob Bodmer (1743)71 bzw. Christoph Heinrich Müller (1785)72. Wie selbstverständlich behandelte Jacob Grimm diese als ein Werk
66
Konrad von Würzburg: Trojanerkrieg [Anm. 31]; Konrad von Würzburg: Engelhard, hg. v. Ingo Reiffenstein, 3., neubearbeitete Aufl. der Ausgabe von Paul Gereke, Tübingen 1982. – Nicht verschwiegen werden darf dabei, dass der „Engelhard“ ebenfalls spät und prekär (nur in einem Druck von 1573) überliefert ist. Das andere Extrem bildet die allegorische Kurzerzählung „Der Welt Lohn“, deren älteste Handschrift (München, BSB, Cgm 16) auf 1284 datiert und damit sogar noch zu Lebzeiten Konrads entstanden ist; auch die einzige Handschrift der „Silvester“-Legende (Trier, Stadtbibl., Hs. 1990/17 8°) fällt noch ins letzte Viertel des 13. Jahrhunderts. 67 Otto Kunz: Reimwoerterbuch zu Konrads von Wuerzburg Partonopier und Meliur. Vers 1–10050. Diss. masch., Wien 1952; Alexander Hofböck: Reimwörterbuch zu Konrad von Würzburg: Partonopier und Meliur, II. Teil, V. 10051–21784. Diss. masch., Wien 1955. 68 Rudolf Raab: Reimwörterbuch zu Konrads von Würzburg Engelhard. Diss. masch., Wien 1955. 69 Vgl. bereits Ulrich Wyss: Theorie der mittelhochdeutschen Legendenepik, Erlangen, 1973, der das „Verwenden immer wieder derselben Versatzstücke im Wortschatz und Reim“ als Effekt der „Arbeitsökonomie“ und als „Rationalisierungsmaßnahme“ deutet (S. 227). 70 Pfeiffer [Anm. 22]. 71 Johann Jacob Bodmer (Hg.): Sammlung critischer, poetischer und anderer geistvoller Schriften zur Verbesserung des Urtheiles und des Witzes in den Werken der Wohlredenheit und der Poesie. Siebendes Stück, Zürich 1743, S. 36–46. 72 Christoph Heinrich Myller (Hg.): Samlung deutscher Gedichte aus dem XII., XIII. und XIV. Jahrhundert. Bd. III, Berlin 1787, S. XII–XIV.
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Konrads,73 ebenso tat es Lachmann.74 Wilhelm Wackernagel ist – unabhängig von ihnen – noch einmal zum selben Schluss gekommen: „nach Allem kann nur er es gewesen sein“.75 Dieser Konradsche Text bildet den Fluchtpunkt der Edition. Dass man ihn mit Gewissheit erreichen könnte, wäre eine Illusion.76 Es hingegen gar nicht erst zu versuchen, wäre angesichts der günstigen Ausgangsbedingungen ein verschenktes philologisches wie literarhistorisches Erkenntnis- und Vermittlungspotential. Man sollte sich nur klar dazu bekennen, dass das Edieren unter den hier beschriebenen Voraussetzungen eben nicht bloß – gar ‚mechanisches‘ – Handwerk ist,77 sondern, wie oben exemplarisch vorgeführt, bereits auf komplexeren hermeneutischen Operationen aufbaut: „Edieren heißt interpretieren.“78 Wenn man sich das zugesteht, dann liegt aber genau darin auch der spezifische Mehrwert der Edition. – Denn im Umkehrschluss gilt: Arbeitet man auf der Grundlage von Prämissen, die das Interesse an Kategorien wie Archetyp, Originalität, Autor und Werk gänzlich suspendieren, dann bedarf es dafür keiner Edition, schon gar nicht im Falle unikaler Überlieferung. Was es dann braucht, ist die Dokumentation und Beschreibung der Handschrift selbst (bzw. bei Mehrfachüberlieferung einen Darstellungsmodus, ob im Druck oder digital, der die Gesamtschau der Überlieferung ermöglicht79).
73
Jacob Grimm: Deutsche Grammatik. Erster Theil, Zweite Ausgabe, Göttingen 1822, S. 776, und hier eher beiläufig, als sei es eine Selbstverständlichkeit, innerhalb einer Fußnote zum Abschnitt „declination der städtenamen“, wo es um das oben besprochene ûztrieht geht. 74 Nicht minder beiläufig im Apparatband zu seiner „Nibelungen“-Ausgabe: Karl Lachmann: Anmerkungen zu den Nibelungen und zur Klage, Berlin 1836, S. 96 (zu 682,3). 75 Wilhelm Wackernagel: Geschichte der deutschen Litteratur bis zum Dreissigjährigen Kriege. Ein Handbuch, Basel 1848, S. 213. 76 Dass eine solche Rekonstruktion mit großer Unsicherheit behaftet ist, war auch dem ersten Herausgeber des „Erec“, dem Lachmann-Schüler Moriz Haupt, völlig klar (Erec. Eine Erzählung von Hartmann von Aue, hg. v. Moriz Haupt, Leipzig 1839, S. VIII): „Aus einer einzigen handschrift aus dem anfange des sechzehnten jahrhunderts, deren schreiber oft die redeweise seiner zeit eingemengt hat, wird niemand meinen ein mittelhochdeutsches gedicht dieses umfangs so wie es der dichter schrieb herstellen zu können; aber den versuch dem Erec zu erträglicher gestalt zu verhelfen durfte ich wagen.“ 77 Wie Lachmanns berühmte Formel „recensere […] sine interpretatione et possumus et debemus“ es allzu leicht implizieren mag – sie stammt freilich aus der Einleitung der Edition des griechischen Neuen Testaments (Berlin 1842) und bezieht sich damit auf einen ganz anders gelagerten Überlieferungstypus. 78 Joachim Heinzle: Zur Logik mediävistischer Editionen. Einige Grundbegriffe, in: editio 17, 2003, S. 1–15, hier S. 15. 79 Die Möglichkeit der vergleichenden Gesamtschau der Überlieferung eines Textes am Bildschirm, die bei Bernard Cerquiglini (Éloge de la variante. Histoire critique de la philologie, Paris 1989) noch als Vision entworfen war, ist heute durch die Verfügbarkeit von Handschriftendigitalisaten alltäglich geworden.
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Der Mehrwert der Edition bemisst sich darin, inwiefern sie zwischen einer historischen Überlieferung auf der einen Seite und modernen Benutzern mit ihren Bedürfnissen und Fähigkeiten auf der anderen vermitteln kann.80 Eine solche Vermittlungsfunktion sollte sich insofern nicht darauf beschränken, das handschriftlich Überlieferte bloß dokumentarisch sichtbar zu machen. Sie sollte vor allem auch darin bestehen, einen Teil der historischen Fremdheit und Verfremdungen abzubauen, die für den modernen Benutzer überhaupt erst die Vermittlungsbedürftigkeit begründen. Die Vermittlungsleistung speziell im Falle der „Partonopier“-Überlieferung liegt einerseits in der Anpassung an eine Sprachform, die dem literarhistorischen ‚Ort‘ des Textes entspricht und mit der die meisten Mittelhochdeutschlernenden vertraut sind, andererseits in der Offenlegung und, wo immer möglich, Bereinigung von erkennbar Falschem.81 Kurzum: Die wesentlichen Elemente der editorischen Arbeit, verstanden als Dienst für den Benutzer, sind (sprachliche) Normalisierung und (textkritische) Rekonstruktion. Wer solcher Operationen nicht bedarf (entweder weil er sie für methodisch falsch hält, oder weil er sie selbst leisten kann), der braucht die Edition nicht, ihm genügt die Dokumentation als Grundlage für weitere eigene Erkenntnisse. Mit den Schlagworten ‚Normalisierung‘ und ‚Rekonstruktion‘ ist genau das Programm der Ausgabe von Bartsch umrissen, und wenn man einen solchen Ansatz verfolgen will, dann hat man sich zwangsläufig der kritischen Frage zu stellen, ob dann überhaupt eine Neuausgabe des „Partonopier“ notwendig ist und ob man nicht ebenso gut weiterhin mit Bartsch arbeiten kann. Letzterer Option ist dreierlei entgegenzusetzen: Erstens sind – schon vor und jenseits der fundamentaleren Bedenken des neuphilologischen Ansatzes – oft die Unzulänglichkeiten der Ausgabe beklagt worden, insbesondere was die Gestaltung und Verlässlichkeit des Apparats anbelangt. Demnach ist zumindest eine gründliche Revision angebracht.82 Zweitens kann man – auch aufgrund der verfeinerten Hilfsmittel und der besseren Erschließung des Konradschen Œuvres nicht zu-
80
Zum Folgenden vgl. Holger Runow: Wem nützt was? Mediävistische Editionen (auch) vom Nutzer aus gedacht, in: editio 28, 2014, S. 50–67. 81 Ich wähle die Formulierung bewusst weich; üblicherweise würde man von der Bereinigung ‚offensichtlicher Fehler‘ sprechen. Was aber wäre das, gerade angesichts der oben bereits besprochenen Fälle, bei denen es nicht bloß um objektiv richtig oder falsch geht? Die ‚Offensichtlichkeit‘ ist auf unterschiedlichen Ebenen jeweils neu zu begründen. Betroffen sind nicht nur agrammatische oder gänzlich unverständliche Formulierungen, sondern auch solche, die in anderer Weise auffällig sind, weil der Text bestimmten Kohärenzerwartungen nicht entspricht. 82 Nach dem Urteil Gruenters [Anm. 8], S. 354, ist „[d]er kritische Apparat […] sehr nachlässig gearbeitet.“ – Bei ihm sind zudem auch die Verbesserungsvorschläge der bisherigen Forschung gelistet (ebd., S. 358–363), die erneut zu prüfen und fallweise zu berücksichtigen sind.
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letzt durch digitale Ressourcen83 – vielfach zu anderen und durchaus auch besseren, zumindest besser begründeten, editorischen Entscheidungen gelangen. Das haben die exemplarisch besprochenen Stellen zu zeigen versucht. Drittens, und das dürfte von besonderem Gewicht sein, vermittelt Bartschs Edition, bei im Wesentlichen gleichen Voraussetzungen und Prämissen, viel größere Sicherheit in ihrem Tun, als es heute zu vertreten wäre. Das betrifft zumal den Anspruch des zeittypischen Layouts der Ausgabe: Unter dem Text findet sich der Apparat, in den alles verbannt ist, was als Problem bereits gelöst wurde. Nichts im edierten Text darüber weist darauf hin, wo in ihm konjiziert wurde und wann ein Blick in den Apparat angebracht wäre, um die editorischen Entscheidungen zu überprüfen und gegebenenfalls zu hinterfragen. So würde man es heute keinesfalls mehr machen. Das hat mit veränderten Wahrnehmungsgewohnheiten zu tun,84 diese entsprechen aber auch einem gewandelten methodischen Verständnis. Denn wenn Edition Interpretation ist, haftet ihr stets auch etwas Kontingentes an. Jede Konjektur ist dann ein Interpretament, das auch anders hätte ausfallen können. Deshalb sollte man beim Edieren größtmögliche Transparenz walten lassen und den permanenten editorischen Zweifel nicht typographisch überdecken, sondern ihn im Gegenteil dadurch ausstellen, dass Konjekturen, Streichungen, Umstellungen etc. im Text selbst durch Kursivierungen und Klammern sichtbar gemacht werden. Sie sollen aktiv den prüfenden Blick über den Apparat zurück in die Überlieferung lenken. So hatte es Karl Stackmann schon vor über einem halben Jahrhundert gefordert,85 und so hat es sich seitdem weitgehend als Usus in altgermanistischen Editionen durchgesetzt: Der hergestellte Text soll auch beim Benutzer das Gefühl größtmöglicher Unsicherheit erzeugen, ihn zum Mitdenken und Hinterfragen herausfordern. Dementsprechend darf auch eine normalisierende und rekonstruierende neue „Partonopier“-Edition ihren Benutzer angesichts einer schwierigen Überlieferungslage eben nicht in Sicherheit wiegen (wozu Bartschs Ausgabe stark tendiert), sondern sie muss den Text ganz im Stackmannschen Sinne „als Aufgabe“ an ihn weitergeben. Dabei soll sie ihn aber andererseits auch nicht, wie die reine Textdokumentation in einem wie auch immer gearteten handschriftennahen
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Insbesondere sind hier die vielfältigen Recherchemöglichkeiten der ‚Mittelhochdeutschen Begriffsdatenbank‘ [Anm. 31] hervorzuheben. 84 Bartschs Ausgabe ist in ihrer Anlage nur konsequent, der Apparat rechtfertigt auch hier die Textkonstitution. Doch sie fordert einen kritischen Benutzer (wie man ihn vielleicht im 19. Jahrhundert selbstverständlich voraussetzen mochte), der den Apparat immer mitbenutzt. Sie befördert indes (zumindest heute) einen solchen, der ihn allzu leicht ignoriert. Die bloße Präsenz des Apparats suggeriert Verlässlichkeit; vgl. Florian Kragl: Kritik des Apparats. Anlässlich der neuen Ausgabe der ‚Laurine‘, in: PBB 136, 2014, S. 601–623. 85 Stackmann [Anm. 9].
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Abdruck es tun würde, mit einer Aufgabe allein lassen, die ihn permanent überfordert.86 So weit der Versuch, die Prämissen und Zielsetzungen der Ausgabe darzulegen und zu begründen. Indem die Edition das Prozesshafte und Kontingente des Edierens ausstellt, gewinnt sie bei ähnlichen Grundannahmen und oft gleichen Ergebnissen in der Textkonstitution doch ein anderes, expliziteres Reflexionsniveau gegenüber den Editionen klassischer Prägung. Wie das aussehen und im 86
So bedarf es der Neuausgabe in der beschriebenen Gestalt nicht nur, um auch philologisch nicht so versierten Benutzern den Einstieg in die literaturwissenschaftliche Diskussion zu ermöglichen, sondern bisweilen auch, um sie dabei vor sich selbst zu schützen. Dazu zwei Beispiele von eher anekdotischer Art: (1.) In den Versen 8336–39 ergeht sich Partonopier nach dem Tabubruch (s.o.) in Selbstanklage. Der Text in B lautet: Fraw waſſer noch daz ertreich Mich leid! ſolte noch der luft Der tiefel in der helle kruft Mich ſolte lebendig pegrab! Die Stelle habe ich gewissermaßen als Testfall mit Studierenden im Seminar diskutiert. Auffällig ist natürlich die Formulierung ‚Frau Wasser‘ im Satzeingang. Daran schloss sich leicht die Assoziation eines feenhaften Wasserwesens an. Man denkt vielleicht an „Melusine“, und Thürings von Ringoltingen Prosaroman geht ja in der Handschrift dem „Partonopier“ voraus. So lief eine Interpretation darauf hinaus, eine besondere Pointe bestehe darin, dass Partonopier, der ‚seine‘ Fee Meliur hier gerade verloren hat, sich nun die Verwünschung durch alle oder bestimmte andere Feen wünscht. Das unterstellt dem Text sicher zu viel und verkennt, dass die Formulierung im Rahmen einer Aufzählung aller Elemente (wasser, ertreich, luft) eine Konjektur verlangt zu (normalisiert) viur, wazzer noch daz ertrîch / mich lîden solte noch der luft (so natürlich auch der Text bei Bartsch). (2.) Auch professionelle Germanisten sind nicht immer gefeit vor derartigen Fehlgriffen. So kritisiert etwa Lydia Jones (The Residue of History. Quotation Marks and Character Speech in Bartsch’s Edition of Konrad’s Partonopier und Meliur, in: Hybridität und Spiel. Der europäische Liebes- und Abenteuerroman von der Antike zur Frühen Neuzeit, hg. v. Martin Baisch, Jutta Eming, Berlin 2013, S. 71–92, hier S. 73) einen für sie unzulässig suggestiven Aufsatztitel, der einen Vers aus dem „Partonopier“ zitiert, welcher seinerseits auf einer Konjektur von Bartsch beruht. Es geht um V. 530 (aus der Anfangspartie; Partonopier ist im Wald allein und zu Tode verängstigt, vgl. V. 529: So pin ich tod das wais ich wol), er lautet in B: Der wald iſt bumes vol. Bartsch hat konjiziert zu der walt ist aller würme vol. Freilich wäre die genaue Art der Konjektur weiter zu diskutieren. Dass aber bumes nicht als mhd. boum zu lesen ist, wie Jones meint (sie übersetzt „the forest is full of trees“), kann keinem Zweifel unterliegen. Die Auffassung von bumes als mhd. boumes geht auf allen Ebenen völlig fehl, schon was die sprachhistorischen Voraussetzungen betrifft (es würde ja ein mhd. Lexem *bûm unterstellen), aber auch was den usus scribendi in B anbelangt. Die mhd. langen Monophthonge sind hier immer schon diphthongiert, zudem wäre für anlautendes /b/ ein
zu erwarten (mhd. boum ist im Text mehr als 20 mal belegt und immer „pawm“ geschrieben). Verkannt wird außerdem, dass im Bairischen häufig b und w wechseln, was die Konjektur stützt; vor allem aber ist in den folgenden Versen von aſpis, cocodrille und waſilike (‚Basilisk‘) die Rede, nach mittelalterlicher Kategorisierung also allerlei ‚Gewürm‘ (mhd. würme), das in dem Knaben Partonopier die Angst schürt. (Und warum auch sollten die Bäume ihm Angst machen?)
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Vergleich zu Bartsch wirken könnte, sei hier mit dem Beginn des Prologs (V. 1– 15)87 illustriert, einer textkritisch nicht sehr heiklen Stelle:88
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(Bartsch:) Ez ist ein gar vil nütze dinc, daz ein bescheiden jungelinc getihte gerne hœre und er niemen stœre, der singen unde reden kan. dâ lît vil hôhes nutzes an und ist ouch guot für ürdrutz ich zel iu drîer hande nutz, die rede bringet unde sanc. daz eine ist, daz ir süezer klanc daz ôre fröuwet mit genuht; daz ander ist, daz hovezuht ir lêre deme herzen birt; daz dritte ist, daz diu zunge wirt gespræche sêre von in zwein.
(Neuausgabe:) Ez ist ‹ein› gar vil nütze dinc, daz ein bescheiden jungelinc getihte gerne hœre und er niemen stœre, der singen unde reden kan. dâ lît vil hôhes nutzes an und ist ouch guot vür urdrutz. ich zel iu drîer hande nutz, die rede bringet unde sanc: daz ein ist, daz ir süezer klanc das ôre fröuwet mit genuht, daz ander ist, ‹daz› hovezuht ir lêre deme herzen birt, daz dritte ist, daz diu zunge wirt gespræche sêre von in zwein.
–––––––––– 1 ein fehlt. 3 geren. 4 niemant swäre. 6 do leit. 7 fur furdrucz. 8 dreir. 9 dew. und immer. 10 ain. 11 frawt vnd. 12 daz nach ist fehlt. 13 deme] ein4; German. 12,7 in deme. birt] virt. 15 gesprochen. czain.
–––––––––– 1 Platz für eine 4-zeilige Initiale, nicht ausgeführt, das e aber vorgezeichnet. –––––––––– 3 geren. 4 2nüre(?). 6 do. 7 furdrucz. 9 dew. 11 vnd. 13 ein4. virt. 14. wˀt. 15 Ge2prach!. czain.
Es ist eine sehr nützliche Sache, wenn ein verständiger junger Mensch gerne Dichtungen hört und niemanden unterbricht, der sich auf Gesang und Vortrag versteht. Daran liegt höchster Nutzen, und es hilft auch gegen Verdruss. Ich will euch dreierlei Nutzen aufzählen, die Vortrag und Gesang einbringen. Erstens erfreuen und erfüllen sie das Ohr mit ihrem süßen Klang; zweitens bieten sie dem Herzen Unterweisung in höfischem Benehmen; drittens wird die Zunge sehr eloquent gemacht durch sie.
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Zur Begründung der Textkonstitution vgl. Runow [Anm. 1], S. 40 f. Der mhd. Text hier ausnahmsweise recte, um die Unterschiede durch Kursivierungen deutlicher zu machen. – In spitzen Klammern stehen Konjekturen, die gegenüber der Handschrift Text ergänzen (als solche erfordern sie, anders als bei Bartsch, keinen Apparateintrag). Kursivierung bezeichnet Eingriffe am überlieferten Text, die nicht allein auf Normalisierung zurückgehen, und erfordert immer einen Apparateintrag. Bartsch dokumentiert hier großzügiger, aber auch wahlloser (die Sigle „German.“ verweist auf den ersten Textherstellungsversuch durch Pfeiffer [s. Anm. 22], später erscheint für dessen Vorschläge die Sigle „Pf.“). Der doppelte Apparat unterscheidet zwischen kodikologischen/ überlieferungsgeschichtlichen Hinweisen und solchen zur Textkonstitution; ggf. wäre für die Edition als Drittes noch ein forschungsgeschichtlicher Apparat zu ergänzen.
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VI. An den Grenzen des Rekonstruktionsoptimismus89 An Grenzen stößt das Verfahren, wenn die Überlieferung größere Defekte oder gar Lücken erkennen lässt. Das trifft auf den „Partonopier“ leider nicht ganz selten zu. Wie bereits eingangs erwähnt, sind öfters einzelne Verse ausgefallen, wobei neben der Form auch der Inhalt beeinträchtigt und die Syntax defekt ist. Insgesamt ist dies in nicht weniger als ca. 180 Fällen passiert.90 Der Edition Bartschs sind diese Lücken bis auf ganz wenige Ausnahmen91 nicht anzusehen. Er hat sie gefüllt, indem er, gewissermaßen im Geiste Konrads, Verse nachbzw. neudichtete. Dass die betreffenden Verse nicht überliefert sind, sondern von ihm stammen (bisweilen auf der Grundlage vorausgehender Vorschläge von Pfeiffer), ist zwar im Apparat vermerkt – freilich immer mit dem ontologisch prekären Vermerk, dass in der Handschrift „fehlt“, was der Text doch bietet –, der Text selbst gibt aber darauf keinen Hinweis. Das ist so natürlich nicht zulässig. Und doch könnte man argumentieren, dass es unter dem Gesichtspunkt von ‚Edition als Interpretation‘ – und selbstverständlich unter dem beschriebenen strengen Transparenzgebot – auch heute noch erlaubt sein sollte, den Versuch der Ergänzung zu wagen, gerade weil hier die Voraussetzungen ungewöhnlich günstig erscheinen. Konjekturen, so wurde oben gesagt, sind Interpretamente, und als solche sind sie Teil der literaturwissenschaftlichen Diskussion um den Text. Die Frage, was in einem ausgefallenen Vers gestanden haben könnte, muss erlaubt sein. Sie zu beantworten, wird gerade wiederum durch Konrads erzählenden Stil begünstigt, dessen Darstellungsmodus breit bis an den Rand der Redundanz und bisweilen geradezu berechenbar baukastenartig sein kann (was nicht unwesentlich zum Ruf des Epigonen beiträgt, der ihm vonseiten der älteren Forschung zukam). Selbst wenn ein Vers fehlt, ist der Sinn einer Passage in aller Regel noch gut zu erfassen, und auch das benötigte Reimwort liegt oft geradezu auf der Hand. Als versierter Philologe und guter Kenner des Konradschen Gesamtœuvres hat Bartsch durch seine Zudichtungen immer wieder auch durchaus ernstzunehmende Sinnangebote gemacht. – Wenn also das Edieren Teil des hermeneutischen Prozesses ist, warum nicht solche Sinnangebote weiter diskutieren? Die Edition als Medium der Ver89
Den treffenden Begriff, der insbesondere auf das konjekturfreudige 19. Jahrhundert zielt, habe ich zuerst gelesen bei Florian Kragl [Anm. 84], S. 602, der mir aber mitteilt, dass er ihn nicht erfunden, sondern selbst bereits verschiedentlich vorgefunden hat. 90 Statistisch gesehen fehlt damit etwa jeder 120. Vers in B. Auffälligerweise findet keine dieser Fehlstellen eine Parallele im Textbestand des etwa 450 Verse umfassenden Fragments A. 91 Nach V. 13682 ist in der Handschrift selbst Platz gelassen für etwa vier Verse; Bartsch setzt eine Lücke von 5 Versen an. Nach V. 1201 hat die Edition einen Fehlvers angesetzt, aber nicht rekonstruiert, ohne dass Bartsch sich im Kommentar dazu äußert, ob er auch hier eine größere Lücke vermutet. Inhaltlich wäre das einigermaßen plausibel, viel Text kann jedoch nicht verloren gegangen sein. – Mehrmals ergänzt Bartsch zwei aufeinanderfolgende Verse (V. 1548 f., 7468 f., 9410 f., 11832 f., 21437 f.).
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bindung zwischen Philologie und Hermeneutik ist dann auch der geeignete Ort, um die Debatte über die Defizite der Überlieferung fortzusetzen, sei es zustimmend, sei es ablehnend und korrigierend, von Fall zu Fall sicher auch resignierend. Dafür abschließend nur zwei Beispiele:92 (1.) Noch einmal eine Stelle aus der Anfangspartie des Romans, aus jener Szene, in der der junge Protagonist sich allein im Wald verirrt hat. Bei Einbruch der Nacht tut sich vor ihm ein neuer Anblick auf (B, V. 562–567). Nu das der i7ge deg! pald Vorcht alſo der ſorg! wertte Nach lang! vngeferte Zü dem trug in der hertte Steig den er nit laÿde fur
Auffällig ist dabei der (scheinbare) Dreireim wertte : ungeferte : hertte. So etwas gibt es sonst bei Konrad nicht, und auch der Sinn der Stelle bleibt schleierhaft. Was sollte der sorgen wert sein? Ganz offenbar fehlt hier etwas, und der Kontext macht sehr klar, worum es sich handelt: Der harte Anstieg führt den Knaben einen Berg hinauf, auff den hoch! vlins, ‚Felsen‘ (V. 583), von dem im Weiteren die Rede ist und von dem aus (V. 593: Nv das er auf den perg was chumen) er das Meer erblicken wird. Bartsch konjiziert dementsprechend (V. 562–565, Hervorhebung H. R.): nu daz der junge degen balt vorhte alsô der sorgen werc, dô sach er vor im einen berc nâch langem ungeverte: zuo dem truog in der herte stîc, den er mit leide fuor. Da nun der junge kühne Held so sehr in Furcht und Sorge war, sah er, nach langer unwegsamer Wildnis, vor sich einen Berg. Zu dem brachte ihn der beschwerliche Anstieg, den er mühsam bewältigte.
Das ist mehr als einleuchtend, und es entspricht erstens der Beobachtung, dass zumal in spätmittelalterlichen Handschriften die Grapheme c und t einander oft so ähnlich sind, dass kaum eine Unterscheidung möglich ist (was hier die Emendation von wert[te] zu werc stützt). Eine Recherche in der ‚Mittelhochdeutschen Begriffsdatenbank‘ zeigt zudem, dass Konrad in seinem gesamten Œuvre auf werc ganz überwiegend berc reimt (daneben gelegentlich getwerc ‚Zwerg‘); umgekehrt ist werc bei ihm der ausschließliche Reimpartner auf berc. Freilich könnte man diskutieren, wie methodisch valide die Argumentation hier ist, die ja notwendig zirkulär bleibt (der Kontext macht wahrscheinlich, dass es um einen Berg geht, daraus begründet sich – auch – die Konjektur zu werc). Und dass es überhaupt unsicher bleibt, ob die sprachliche Realisierung der unterstellten Aussageabsicht im vom Autor intendierten Wortlaut getroffen ist, 92
Zu einem weiteren vgl. Runow [Anm. 1], S. 45.
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dürfte auch klar sein. Doch wird man die Stelle insgesamt kaum anders verstehen können als in dem Sinn, wie es Bartsch vorschlägt. Die Konjektur hat etwas Kontingentes,93 sie ist aber nicht beliebig. (2.) Das zweite Beispiel zeigt demgegenüber einen schwerwiegenden Fehlgriff von Bartsch,94 den es in einer Neuausgabe unbedingt aus der Welt zu schaffen gilt. Es geht um eine Stelle etwas früher in der gleichen Szene. Den ganzen Tag über schon ist Partonopier allein im Wald (V. 520–525): Den tag er drine gar vˀtreib Pis auff die nacht vil timper Nicht anders w%n gezimber Dÿ hochen pawm er do ſach Egedechſen v! wilde tier
Offenbar fehlt ein Reim auf sach (V. 524). Unklar bleibt, wie Nicht anders wa! gezimber fortzusetzen wäre. Insbesondere das offenbar exzipierende wan scheint den Sachverhalt zu verdrehen, näher läge der Gedanke ‚er hatte kein anderes gezimber wan…‘, nämlich kein Obdach außer jenem ‚Zimmer‘, das er im Wald und im verlorenen Vers vorfand. Bartsch ging vielleicht von dem wan aus, das wegen einer Ähnlichkeit im folgenden (ausgefallenen) Vers verrutscht sein könnte und zum Ausfall geführt haben mag. Er setzt die Lücke vor V. 524 an und nimmt überdies einen weitergreifenden Defekt an, so dass sich seine Konjektur auch auf den vorherigen sowie auf den folgenden Vers erstreckt. Bei ihm sieht der Text dann so aus (V. 522–525, Hervorhebung H. R.): niht ander wongezimber wan hôhe boume was sîn dach. ûf den boumen er dâ sach egedehse und wildiu tier. Kein anderes ‚Wohnzimmer‘ außer den hohen Bäumen war sein Dach. Auf den Bäumen sah er dort Eidechsen und wilde Tiere.
Dabei fällt insbesondere die Konjektur zu wongezimber auf. Sie scheint zwar geradezu auf der Hand zu liegen, denn der Eingriff ist ausgehend von wa! gezimber nur sehr geringfügig. Nun ist das Kompositum aber für das Mittelhochdeutsche nicht belegbar. Das Mittelhochdeutsche Wörterbuch von Benecke/ Müller/Zarncke weist es gar nicht nach; in Lexers Handwörterbuch findet sich ein Beleg,95 nämlich genau jene hier besprochene Stelle, und dies ohne jeden 93
Und solche Kontingenzen wären zu diskutieren, so könnte man als Variante zu Bartsch vorschlagen: dô sach er einen oder do kam er an einen (noch besser: z’einem) hôhen berc o.ä. – In keinem Fall wäre die Aussageabsicht wesentlich verändert. 94 Vgl. zu dieser Stelle auch schon Runow [Anm. 1], S. 45 f. 95 Matthias Lexer: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Zugleich als Supplement und alphabetischer Index zum Mittelhochdeutschen Wörterbuche von Benecke – Müller – Zarncke, 3 Bd. e, Leipzig 1872–1878, hier Bd. 3, Sp. 975. – Ein vergleichbares Kompositum wonzimber ist ebenfalls mhd. noch nicht belegt.
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Hinweis darauf, dass es sich um eine Konjektur handelt.96 Das mittelhochdeutsche ‚Wohnzimmer‘ ist mithin eine Erfindung von Karl Bartsch. Das Problem liegt auf der Hand: Editionen müssen auch als verlässliche Grundlage für Wörterbücher, für lexikologische Studien usw. dienen. Das Ansetzen neuer Wörter ist deshalb immer eine besonders sensible Entscheidung. Allzu leicht gerät man sonst in die Falle, die Konjektur für bestätigt zu halten, nachdem das Wort immerhin im Wörterbuch erscheint, und neue Wörterbücher verzeichnen es dann, weil offenbar ein Textbeleg existiert. In diesem Fall impliziert der Text geradezu, dass ein kulturhistorisch viel jüngeres Konzept schon im Mittelalter seinen Begriff gefunden habe. Wer eine Kulturgeschichte des Wohnzimmers schreiben wollte, würde nach Konsultation der Wörterbücher in Konrads „Partonopier“ den Erstbeleg für das Wort finden müssen, das tatsächlich aber erst seit dem 17. Jahrhundert belegt ist. Solche Unfälle gilt es zu vermeiden und zu revidieren. Dabei dürfte Bartsch andererseits mit dem Reimwort dach im Kontext des umherirrenden Jungen, der erfolglos nach Schutz im Wald sucht und doch kein befestigtes ‚Bauwerk‘ (gezimber)97 findet, das Richtige getroffen haben.98 Demnach könnte man als weniger brisante Konjekturen vorschlagen: niht anderz [ ] gezimber / *er hete wan der bleter dach.* / ûf hôhen boumen er dô sach […] (‚Kein anderes [schützendes] Bauwerk hatte er als das Blätterdach. Auf hohen Bäumen sah er da …‘) bzw. alternativ den fehlenden Vers ergänzen als *wan daz der walt dô was sîn dach* (‚außer dass der Wald ihm da ein Dach war‘) o.ä.; oder – im erhaltenen V. 522 noch etwas näher an der Überlieferung – etwas wie niht anderswâ gezimber / *er vant wan grüener bleter dach* (‚nirgendwo anders fand er ein [schützendes] Bauwerk als nur das Dach aus grünen Blättern‘). Das alles verfolgt die gleiche unterstellte Aussageabsicht. Nochmals: Solche Konjekturen sind Explorationsversuche, die überlegen, wie der verlorene Text gelautet haben mag. Es sind Interpretamente im vollen Bewusstsein ihrer Kontingenz, die aber eben doch auf der Grundlage gewisser Wahrscheinlichkeiten und Plausibilitäten operieren. Als solche sind sie deutlich sichtbar zu machen und mit entsprechenden Warnsignalen zu versehen. Einem Benutzer der Ausgabe muss sofort ersichtlich sein, dass solchermaßen konjizierte Verse als bloß tastende Annäherungen an den verlorenen Text keinen Anspruch auf valide Rekonstruktion oder Restitution haben; ihr textueller Status ist dabei nicht einmal als prekär zu bezeichnen, sondern als schlicht (historisch) nichtexistent. Dementsprechend ist hierfür ein Darstellungsmodus zu finden, 96
Das zeigt wohl auch, dass es mit dem kritischen Benutzer der Edition im 19. Jahrhundert, der selbstverständlich den Apparat zu Rate zieht (s.o., Anm. 84), doch nicht immer allzu weit her ist. 97 Vgl. MWB [Anm. 12], Bd. 2, Sp. 759 f. 98 Das ist hier zwar nicht so offensichtlich wie beim o.g. Reimpaar werc : berc, denn die Form sach gehört zu den hochfrequenten Formen, die vielfach auch im Reim auftreten. Am häufigsten reimt es mit geschach, sprach, (un)gemach etc., aber auch dach kommt als Reimpartner vor, wofür hier einiges spricht.
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der unmissverständlich klar macht, dass solche Stellen sich zwar zutrauen, Brücken zu bauen für das Textverständnis, dass es aber verboten ist, sie philologisch und hermeneutisch weiter zu verwerten. Dazu könnten die Verse z.B. über die übliche Auszeichnung durch Kursivierung hinaus etwa in ansonsten nicht verwendete Klammern99 oder, wie hier, zwischen Asteriske gesetzt werden. – Die redlichere, zugleich ‚unbequemere‘ Alternative bestünde vielleicht darin, die Lücken im Text selbst als solche auszustellen und die Ergänzungsvorschläge in einen forschungsgeschichtlichen Apparat zu setzen oder im Kommentar zu diskutieren.100 Die Diskussion um die endgültige Gestalt der Edition, v.a. in diesem letzten prekären Punkt, mit dem sie sich auch auseinanderzusetzen hat, ist damit noch nicht abgeschlossen. Dass die Neuausgabe aber nicht bei der Dokumentation der Überlieferung haltmacht, sondern „wider die Resignation“101 mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln den Versuch angeht, dem Konradschen „Partonopier“ näher zu kommen, der darin und dahinter sichtbar wird, das ist ihr ausgemachtes Ziel.
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Im früheren Aufsatz [Anm. 1] hatte ich vorgeschlagen, für solche Ergänzungen ohne Anker in der Überlieferung, sei es auf Wort- oder auf Versebene, geschweifte Klammern zu verwenden. Besser wäre es aber wohl, zwischen der Einzelwortkonjektur und dem Ergänzen ganzer Verse auch durch unterschiedliche Auszeichnungen zu differenzieren. In Bezug auf die geschweiften Klammern wurde zudem beim Berliner Kolloquium darauf hingewiesen, dass damit im ‚Leidener Klammersystem‘ (das in der klassischen Philologie v. a. bei der Edition papyrologischer und epigraphischer Quellen Anwendung findet) zu tilgender Text ausgezeichnet wird. – Ich muss gestehen, dass das den hier diskutierten Ergänzungen eine ironische Note verleihen würde, die mir nicht einmal unsympathisch wäre. 100 Die Diskussion meines Beitrags auf dem Berliner Kolloquium ging vor allem von diesem Punkt aus. Die Vorschläge – vor allem von germanistischer Seite – gingen dahin, Ergänzungen, sofern man sie denn überhaupt vornehmen sollte, keinesfalls in den Editionstext zu übernehmen. 101 Dies nach Klaus Grubmüller: Wider die Resignation. Mären kritisch ediert. Einige Überlegungen am Beispiel der ‚Halben Birne‘, in Bergmann, Gärtner (Hgg.) [Anm. 52], S. 92–106.
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7 Partiell oder ausschließlich indirekte Überlieferung
7.1 TEXTKRITIK UND INDIREKTE ÜBERLIEFERUNG Zur Rekonstruktion der antiken Überlieferungsgeschichte der Aristotelischen „Metaphysik“ von Mirjam E. K o t w i c k , Princeton Abstract: Der Beitrag untersucht am Beispiel der Aristotelischen „Metaphysik“, inwieweit die Regeln der Textkritik auf indirekte Textzeugen angewendet werden können. Es wird dargelegt, dass eine textkritische Auswertung des Kommentars von Alexander von Aphrodisias Aufschluss über wichtige Eckpunkte der antiken Überlieferungsgeschichte der „Metaphysik“ gibt und sporadischen Zugang zu einer Textstufe ermöglicht, die über den Archetypus der direkten Überlieferung hinausgeht. This article examines on the basis of Aristotle’s “Metaphysics” the extent to which the rules of textual criticism apply to indirect textual witnesses. A text-critical evaluation of the commentary by Alexander of Aphrodisias provides information about important factors in the ancient text-history of the “Metaphysics” and provides sporadic access to a text version prior to the archetype of the direct transmission.
I. Einleitung Antike Texte sind uns häufig durch eine Vielzahl von Handschriften überliefert, die untereinander in verschiedenem Umfang und auf verschiedene Weise divergieren. Es ist das Ziel der textkritischen Methode in ihrer von Paul Maas1 kodifizierten Form, aus der Vielzahl divergierender Handschriften diejenige verlorene Fassung zu rekonstruieren, auf die alle erhaltenen Fassungen zurückgehen. Oliver Primavesi hat diese Fassung, die als „Archetypus“ bezeichnet wird, jüngst folgendermaßen definiert: „Der Archetypus ist die späteste verlorene Abschrift, auf die die gesamte erhaltene direkte Überlieferung zurückgeht und die mindestens einen Fehler bindenden Charakters aufweist.“ [Hervorhebungen im Original].2 Der Archetypus ist diejenige rekonstruierte Textfassung, die mindestens einen aussagekräftigen Fehler3 mit allen uns erhaltenen 1
Paul Maas: Textkritik. 4. Auflage, Leipzig 1960. Oliver Primavesi: Philologische Einleitung, in: Aristoteles, Über die Bewegung der Lebewesen – De motu animalium, Griechisch – Deutsch, hg. v. dems. und Klaus Corcilius, Hamburg 2018, S. XI–CXLIV, hier: S. XXXIII, Anm. 54. Zur Verwendung des Begriffs „Archetypus“ vgl. auch Michael D. Reeve: Archetypes, in: Manuscripts and Methods. Essays on Editing and Transmission, hg. v. dems., Rom 2011, S. 107–117 und Paolo Trovato: Everything you always wanted to know about Lachmann’s Method. A Non-Standard Handbook of Genealogical Textual Criticism in the Age of Post-Structuralism, Cladistics, and Copy-Text. Revised Edition, Padua 2017, S. 63–67, und Primavesi [diese Anm.], S. XXXI–XL. 3 Zur Beschaffenheit eines solchen Bindefehlers siehe Maas [Anm. 1], S. 26, Primavesi [Anm. 2], S. XXXII–XXXIII und im Folgenden. 2
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Mirjam E. Kotwick
Handschriften teilt. Impliziert ist hierbei, dass der Archetypus nicht mit der vom Autor verfassten, originalen Fassung identisch ist. Zwischen der antiken Autorfassung und dem Datum des rekonstruierten Archetypus liegen meist viele Jahrhunderte. In der Definition von Primavesi ist außerdem hervorgehoben, dass die Rekonstruktion des Archetypus auf der Auswertung aller erhaltenen direkten Zeugen beruht, d.h. aller uns erhaltenen Handschriften. Die Überlieferung antiker Werke ist jedoch oftmals nicht auf handschriftliche Direktzeugen beschränkt, sondern umfasst auch indirekte Zeugen. Solche indirekten Überlieferungszeugen gewähren einen vermittelten Zugang zu einem antiken Text: So kann zum Beispiel ein antiker Kommentar – etwa durch Zitate – indirekt Zugang zu dem Text geben, den er kommentiert. In einigen Fällen verschaffen uns indirekte Zeugen Zugang zu Textstufen, die älter sind als unsere mittelalterlichen Handschriften oder sogar älter als der Archetypus. Gleichzeitig ist der Zugang, den solche indirekten Zeugen gewähren, oft eingeschränkt. Wenn wir beim Beispiel des antiken Kommentars bleiben, so leuchtet es ein, dass der Kommentar zwar ausgiebig auf den Text, den er kommentiert, verweist und daraus zitiert, aber eher selten den ganzen Text wörtlich wiedergibt. Außerdem ist zu bedenken, dass der Text eines antiken Kommentars selbst das Produkt eines Überlieferungsprozesses ist. Diese Faktoren und der somit veränderte Zeugnischarakter indirekter Textzeugen ist bei der Auswertung zu berücksichtigen. Beachtet man dies, so verhindert der veränderte Zeugnischarakter indirekter Textzeugen deren Nutzbarmachung für die Rekonstruktion eines antiken Textes jedoch keineswegs. Wie verhält sich die Auswertung der indirekten Überlieferung zum Archetypus der direkten Überlieferung? Der folgende Beitrag möchte am Beispiel der Aristotelischen „Metaphysik“ illustrieren, wie die Methode der Textkritik über die Auswertung der direkten handschriftlichen Überlieferung hinaus auch bei der Auswertung indirekter Zeugen Anwendung finden kann. Zu diesem Zweck wird im Folgenden der für den Text der Aristotelischen „Metaphysik“ wichtigste indirekte Textzeuge untersucht und mit Hilfe der Regeln der Textkritik für die Rekonstruktion der antiken Überlieferungsgeschichte dieses Textes nutzbar gemacht. Die textkritische Methode, angewandt auf die indirekte Überlieferung, erlaubt es, für viele Teile des Textes eine Fassung zu rekonstruieren, die älter ist als der Archetypus unserer Handschriften. Diese frühere, sporadisch zu rekonstruierende Textversion soll hier versuchsweise als Hyperarchetypus bezeichnet werden. Auch diese Fassung ist keineswegs mit der antiken Autorfassung identisch, sondern vielmehr als diejenige verlorene Fassung zu verstehen, die einen aussagekräftigen Fehler aufweist, der von allen uns erhaltenen Handschriften und der indirekten Überlieferung geteilt wird. Bevor wir uns mit Hilfe der indirekten Textzeugen der Rekonstruktion der antiken Überlieferung und somit des Hyperarchetypus der Aristotelischen „Metaphysik“ zuwenden, müssen die wichtigsten Eckpunkte der direkten 402
Textkritik und indirekte Überlieferung
Überlieferung benannt werden bzw. dasjenige, was sich aufgrund der erhaltenen mittelalterlichen Handschriften und des erreichten Forschungsstandes über den Zustand des „Metaphysik“-Textes sagen lässt.
II. Die zwei handschriftlich überlieferten Fassungen der „Metaphysik“ Die „Metaphysik“ des Aristoteles ist uns durch mindestens 53 mittelalterliche Handschriften überliefert.4 Die Auswertung dieser Handschriften im Hinblick auf Trenn- und Bindefehler führt zu dem Ergebnis, dass alle 53 Handschriften auf zwei Hyparchetypen zurückgehen.5 Seit Harlfingers Stemma von 1979 werden diese beiden Hyparchetypen mit den Buchstaben α und β bezeichnet.6 Die beiden Hyparchetypen repräsentieren zwei Fassungen, die im 9. Jahrhundert n. Chr. vorlagen und somit den Ausgangspunkt unserer direkten Überlieferung bilden.7 Dieses Ergebnis der Auswertung aller 53 Handschriften soll hier weder hinterfragt noch weiter diskutiert werden.8 Vielmehr soll versucht werden, mit Hilfe der indirekten Überlieferung die Genese der beiden Fassungen α und β zu verstehen und somit weiter in der Zeit vor das 9. Jahrhundert zurückzugehen. Die beiden Fassungen α und β entspringen einem gemeinsamen Archetypus. Auf wann ist dieser zu datieren bzw. wann haben sich α und β aus ihrem gemeinsamen Vorfahren abgespalten? Um die Geschichte von α und β besser zu verstehen, gilt es zunächst die beiden Fassungen kurz zu charakterisieren. Die Textversionen in α und β unterscheiden sich an zahlreichen Stellen in kleinerem oder größerem Umfang voneinander. Die Varianten umfassen zum einen 4
Die älteste Handschrift ist der „Vindobonesis phil. gr.“ 100 (= J) aus dem 9. Jahrhundert n. Chr. Zu den Handschriften insgesamt vgl. Dieter Harlfinger: Zur Überlieferungsgeschichte der Metaphysik, in: Études sur la Métaphysique d’Aristote. Actes du VIe Symposium Aristotelicum, hg. v. Pierre Aubenque, Paris 1979, S. 7–33. 5 Harlfinger [Anm. 4] und Oliver Primavesi: Introduction: The Transmission of the Text and the Riddle of the Two Versions, in: Aristotle’s Metaphysics Alpha, hg. v. Carlos Steel, with a new critical edition of the Greek Text by Oliver Primavesi, Oxford 2012, S. 388–464. 6 Harlfinger [Anm. 4]. Bereits Bonitz hat in seiner „Metaphysik“-Edition auf die Zweiteilung der Überlieferung hingewiesen (Hermann Bonitz: Aristotelis Metaphysica, Bonn 1848, S. XV–XVI) und diese zur Grundlage seiner Edition gemacht. Die nachfolgenden Herausgeber Christ und Gercke haben diese Einsicht weiter ausgebaut. 7 Im 9. Jahrhundert n. Chr., einem Zeitraum kultureller Renaissance, fand eine umfassende Transliteration (μεταχαρακτηρισμός) statt, im Zuge derer antike Texte von der bisher üblichen Majuskelschrift in eine neue zeit- und vor allem platzsparende Minuskelschrift übertragen wurden. Die neue Schrift war neben der Einführung von Papier aus dem Orient (gegen Ende des 8. Jahrhunderts n. Chr.) eine Maßnahme, um dem Mangel an Papyrus zu begegnen. Siehe Nigel G. Wilson: Scholars of Byzantium, London 1983, S. 63–67. 8 Siehe den Forschungsstand bei Primavesi [Anm. 5] und dazu Pantelis Golitsis: Editing Aristotle’s Metaphysics: A Response to Silvia Fazzo’s Critical Appraisal of Oliver Primavesi’s Edition of Metaphysics Alpha, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 98, 2017, S. 458–473.
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Mirjam E. Kotwick
relativ eindeutig zu identifizierende Fehler, die z.B. auf die Mechanik des Abschreibprozesses oder andere äußere Einflüsse zurückzuführen sind; zum anderen unterscheiden sich α und β aber auch durch Varianten, bei denen die Identifizierung der besseren und/oder älteren Lesart sehr viel schwieriger ist; viele der Varianten zwischen α und β scheinen auf bewusste Veränderungen bzw. redaktionelle Bearbeitungen des Textes hinzudeuten.9 Will man den Archetypus der „Metaphysik“ datieren, muss man in der Textgeschichte vor die direkte Überlieferung und somit vor das 9. Jahrhundert n. Chr. zurückgehen.10 Wie weit können wir die beiden Versionen zurückverfolgen? Wie im Folgenden illustriert werden soll, kann uns das indirekte Textzeugnis des Alexander von Aphrodisias helfen, diese Frage zu beantworten und damit den Archetypus auf einen genaueren Zeitraum zu datieren, als es zuvor möglich war.11 Die indirekte Überlieferung enthält hier also den Schlüssel zum Verständnis der antiken Textgeschichte der „Metaphysik“.12
III. Die indirekte Überlieferung der „Metaphysik“ Die indirekte Überlieferung der „Metaphysik“ besteht aus vielen verschiedenen und verschiedenartigen Zeugen. Als indirekte Zeugen sind uns (zumindest in Teilen) erhalten: die antiken und spätantiken (sowie byzantinischen) Kommentare des Alexander von Aphrodisias, Syrian, Asklepios von Tralles und Michael von Ephesos; die arabische Übersetzung der „Metaphysik“, die in Averroes’ „Großem Kommentar zur Metaphysik“ („Tafs1r M% ba‛ad at-Tab1‛at“) erhalten ist; und die mittelalterlichen lateinischen Übersetzungen der „Metaphysik“. Im Folgenden beschränke ich mich auf die Auswertung des frühesten und vielleicht wichtigsten indirekten Zeugen, des Kommentars von Alexander von Aphrodisias. Von diesem Kommentar sind allein die ersten fünf Bücher (A–Δ) erhalten.13 9
Für eine Charakterisierung der beiden Familien siehe Primavesi [Anm. 5]. Vgl. Primavesi [Anm. 5], S. 409–410. 11 Hierbei stütze ich mich auf Mirjam Kotwick: Alexander of Aphrodisias and the Text of Aristotle’s Metaphysics, Berkeley 2016. Werner Jaeger, einer der einflussreichsten Aristoteles-Forscher des 20. Jahrhunderts, hatte den Ursprung der beiden Fassungen α und β auf Aristoteles selbst zurückführen wollen (siehe Werner Jaeger: Aristotelis Metaphysica, Oxford 1957, S. v–xxi). Für eine Auseinandersetzung mit Jaegers These und textkritischer Arbeit zur „Metaphysik“ vgl. Mirjam Kotwick: The Entwicklungsgeschichte of a Text: On Werner Jaeger’s Edition of Aristotle’s Metaphysics, in: Werner Jaeger. Wissenschaft, Bildung, Politik, hg. v. Colin Guthrie King und Roberto Lo Presti, Berlin/New York 2017, S. 171–208. 12 Vgl. die Diskussion der beiden Familien und Alexanders Bedeutung für das Verständnis ihrer Genese in Primavesi [Anm. 5]. 13 Daneben enthält der arabische Kommentar des Averroes Hinweise auf Alexanders Kommentar zum Buch Λ. Siehe Kotwick 2016 [Anm. 11], S. 29–32 und Matteo Di Giovanni und Oliver Primavesi: Who Wrote Alexander’s Commentary on Metaphysics Λ? New Light on the Syro-Arabic Tradition, in: Aristotle, Metaphysics Lambda – New Essays. Proceedings of the 13th Conference of the Karl and Gertrud-Abel Foundation Bonn, hg. v. Christoph Horn, Berlin/Boston 2016, S. 11–66. 10
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Textkritik und indirekte Überlieferung
Der Kommentar selbst wurde um 200 n. Chr. verfasst; der „Metaphysik“-Text, der dem Kommentar zugrunde liegt, und weitere mögliche Textversionen, die Alexander vielleicht zugänglich waren, gehen diesem Datum noch voraus. Dieser indirekte Zeuge führt uns somit viele Jahrhunderte vor den Beginn der direkten Überlieferung im 9. Jahrhundert n. Chr. zurück. Oder anders gesagt: Zwischen dem Abfassungsdatum der „Metaphysik“ und unserer frühesten „Metaphysik“Handschrift liegen ca. 1200 Jahre; die Textfassung, die Alexander vorlag, verkürzt diese Zeitspanne um mindestens die Hälfte. Um aber den „Metaphysik“Text, der in Alexanders Kommentar indirekt enthalten ist, als Textzeugen auswerten zu können, muss dieser zunächst aus dem Kommentartext rekonstruiert werden. Eine solche Rekonstruktion kann immer nur punktuell erfolgen bzw. ist auf die Textstellen beschränkt, die Alexander zitiert und/oder kommentiert. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie uns Alexanders Kommentar und die aus ihm zu gewinnende(n) Textversion(en) der „Metaphysik“ mit Hilfe der textkritischen Methode Aufschluss über die antike Textgeschichte der „Metaphysik“ geben können. Alexanders Kommentar ermöglicht es nämlich, die Genese des Textes bis zur frühesten für uns greifbaren Textversion (dem Hyperarchetypus) aus dem 1. vorchristlichen Jahrhundert zurückzuverfolgen.
IV. Alexanders Kommentar als Textzeuge für die „Metaphysik“ Bei der Einschätzung der Zeugniskraft von Alexanders Kommentar als Textzeugen für die „Metaphysik“ ist besonders die Art und Weise zu berücksichtigen, in der der „Metaphysik“-Text darin erhalten ist. Zunächst ist zu bedenken, dass Alexanders Kommentar so, wie er uns vorliegt, selbst ein Produkt der mittelalterlichen Überlieferung und somit ein rekonstruierter Text ist.14 Dies stellt einen ersten Unsicherheitsfaktor für die Rekonstruktion von Lesarten des „Metaphysik“-Textes dar. Ein zweiter Unsicherheitsfaktor ist durch das Format des Kommentars gegeben. Der „Metaphysik“-Text, den Alexander verwendet hat, ist in vier verschiedenen Formen im Kommentar enthalten. 1) Lemmata, d.h. Zitate aus der „Metaphysik“, die einen Kommentarabschnitt einleiten; 2) Zitate aus der „Metaphysik“, die in den Kommentartext integriert sind; 3) Paraphra-
14
Die Standardedition von Alexanders Kommentar ist immer noch Michael Hayduck: Alexandri Aphrodisiensis in Aristotelis metaphysica commentaria. Consilio et auctoritate Academiae Litterarum Regiae Borussicae, Berlin 1891. Eine kritische Neuedition wird zur Zeit von Pantelis Golitsis vorbereitet (vgl. Pantelis Golitsis: The manuscript tradition of Alexander of Aphrodisias’ commentary on Aristotle’s Metaphysics: towards a new critical edition, in: Revue d’Histoire des Textes 11, 2016, S. 55–94). Für meine Arbeit am Kommentar habe ich neben Hayduck auch die Handschrift O („Laurentianus plut.“ 85,1) herangezogen (vgl. Kotwick 2016 [Anm. 11], S. 20–32). Zu deren Bedeutung für den Text von Alexanders Kommentar vgl. Dieter Harlfinger: Edizione critica del testo del ‚De ideis‘ di Aristotele, in: Il „De Ideis“ di Aristotele e la teoria platonica delle idee, hg. v. Walter Leszl, Florenz 1975, S. 15–54, hier: S. 17–20 und Golitsis [diese Anm.], S. 63–64.
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sen, in denen Alexander Aristoteles’ Aussage in engem Bezug auf dessen Wortlaut wiedergibt, und schließlich 4) Alexanders eigene Diskussion und Auseinandersetzung mit dem aristotelischen Text und dessen Inhalt. Diese vier Formen zeigen naturgemäß eine unterschiedliche Nähe zum „Metaphysik“-Text. So wird man einerseits zum Beispiel einem wörtlichen Zitat von Alexander unter bestimmten Umständen mehr Glauben schenken wollen als einer freien Paraphrase.15 Andererseits kann ein Lemma, obwohl es ein wörtliches Zitat ist, unzuverlässiger erscheinen, weil es dadurch, dass es zumeist vom Rest des Kommentars abgesetzt ist, leichter kontaminiert werden konnte.16 Um diesen Unsicherheitsfaktoren zu begegnen bzw. ihren Einfluss auf die Verfälschung der Evidenz für den „Metaphysik“-Text so gering wie möglich zu halten, ist es für unseren Zweck ratsam, bei der Rekonstruktion des Wortlautes von Alexanders „Metaphysik“-Exemplar folgender Regel zu folgen: Nur solche Wörter gelten als sichere Evidenz, die in mindestens zwei der vier genannten Formate bzw. an mindestens zwei Stellen in Alexanders Kommentar belegt sind.17 Schließlich ist festzuhalten, dass Alexander beim Verfassen seines Kommentars höchstwahrscheinlich vorrangig ein „Metaphysik“-Exemplar verwendet hat.18 Durch Randnotizen, die variante Lesarten enthielten, hatte er außerdem vereinzelten Zugang zu weiteren Exemplaren. Daneben hat Alexander wohl den „Metaphysik“-Kommentar des Aspasios (ca. 80–150 n. Chr.) zur Hand gehabt, durch den er indirekt von varianten Lesarten in Aspasios’ eigenem Exemplar und möglichen weiteren Textversionen Kenntnis erhielt.19
V. Die Überlieferungsgeschichte der „Metaphysik“ zwischen 200–900 n. Chr. Zunächst ist zu fragen, wie sich Alexanders „Metaphysik“-Text (= ωAL), der mit dem Kommentar auf ca. 200 n. Chr. zu datieren ist, zum Text der direkten Überlieferung verhält. Die direkte Überlieferung ist uns durch die Textversionen α und β zugänglich, die in der Form, in der sie uns überliefert sind, auf ca. 900 n. Chr. zu datieren sind.
15
Vgl. Kotwick 2016 [Anm. 11], S. 50–60. Siehe Kotwick 2016 [Anm. 11], S. 38–50 für eine ausführliche Diskussion der Lemmata in Alexanders Kommentar, mit weiterführender Literatur. 17 Zu dieser Regel vgl. Kotwick 2016 [Anm. 11], S. 60. Die Regel ist sicher strenger als nötig, da es kaum anzunehmen ist, dass alle einmaligen Zitate oder Bezugnahmen Alexanders auf den Text der „Metaphysik“ sekundären Veränderungen ausgesetzt waren. 18 Für eine ausführliche Begründung dieser Annahme siehe Kotwick 2016 [Anm. 11], S. 34–38. 19 Kotwick 2016 [Anm. 11], S. 60–70 und S. 89–98. 16
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Textkritik und indirekte Überlieferung
Die beiden Versionen α und β sind durch signifikante Fehler miteinander verbunden, die Alexanders Text nicht teilt.20 Diese Bindefehler in α und β gegenüber ωAL zeigen, dass bereits der gemeinsame Vorfahr von α und β, der Archetypus der „Metaphysik“, diese Fehler enthielt. Dieser gemeinsame Vorfahr, der Archetypus, kann mit dem Kürzel ωαβ bezeichnet werden. Gleichzeitig handelt es sich bei den signifikanten Fehlern in ωαβ um Trennfehler gegenüber ωAL, die zeigen, dass ωAL keine Abschrift von ωαβ ist und somit gegenüber ωαβ als unabhängig zu gelten hat.21 Das folgende Beispiel kann dies illustrieren. In 1005a21 hat unsere gesamte direkte Überlieferung (α und β) und damit ωαβ eine fehlerhafte Lesart, die Alexanders Text nicht teilt; Alexanders Lesart hingegen ist mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht das Resultat einer Korrektur. Der fehlerhafte Text in ωαβ lautet: Aristoteles, „Metaphysik“ Γ 3, 1005a19–23 λεκτέον δὲ πότερον μιᾶς ἢ ἑτέρας ἐπιστήμης περί τε [20] τῶν ἐν τοῖς μαθήμασι καλουμένων ἀξιωμάτων καὶ περὶ [21] τῆς οὐσίας. φανερὸν δὴ ὅτι μιᾶς τε καὶ τῆς τοῦ φιλοσόφου [22] καὶ ἡ περὶ τούτων ἐστὶ σκέψις· ἅπασι γὰρ ὑπάρχει τοῖς [23] οὖσιν ἀλλ᾽ οὐ γένει τινὶ χωρὶς ἰδίᾳ τῶν ἄλλων.
Es muss gesagt werden, ob es Gegenstand einer oder verschiedener Wissenschaften ist, über die in der Mathematik sogenannten Axiome und über die Substanz zu handeln. Es ist offensichtlich, dass auch die Untersuchung der Axiome Gegenstand einer (Wissenschaft) und zwar der des Philosophen ist. Denn sie gelten für alles Seiende, und nicht (nur) für eine Gattung im Speziellen, abgetrennt von den anderen.
21 τε καὶ τῆς τοῦ φιλοσόφου ω Aru (Scotus) edd. : καὶ τῆς αὐτῆς ωAL (Al. l 264,30, Al. p 264,34–35; 265,6–9)
Aristoteles wiederholt hier die von ihm als zweite Aporie in Buch B gestellte Frage, um sie dann direkt zu beantworten. Gehören die Axiome zu derselben Wissenschaft wie die (Prinzipien der) Substanz? Laut ωαβ ist Aristoteles’ Antwort: „Die Untersuchung der Axiome ist Gegenstand einer Wissenschaft und zwar der des Philosophen.“ Alexanders Kommentar gibt uns Zugang zu einem Text, in dem die Antwort des Aristoteles anders ausfiel. Sein Kommentar zur Stelle lautet wie folgt: 22
20
Kotwick 2016 [Anm. 11], S. 99–124. Maas [Anm. 1], S. 26: „Die Unabhängigkeit eines Zeugen (B) von einem anderen (A) wird erwiesen durch einen Fehler von A gegen B, der so beschaffen ist, dass er, nach unserem Wissen über den Stand der Konjekturalkritik in der Zeit zwischen A und B, in dieser Zeit nicht durch Konjektur entfernt worden sein kann. Solche Fehler mögen ‚Trennfehler‘ heißen (errores separativi).“ Vgl. auch Primavesi [Anm. 2], S. XXXII.
21
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Alexander, „In Metaph.“ 264,28–35; 265,6–9 Hayduck 1005a19 Λ ε κ τ έ ο ν δ ὲ πό τ ε ρ ο ν μ ι ᾶ ς ἢ ἑ τ έ ρ α ς ἐ π ιστ ή μ η ς π ε ρί τ ε [29] τ ῶ ν ἐ ν τ ο ῖς μ α θ ή μ α σ ι κα λ ο υ μ έ ν ω ν ἀ ξ ι ω μ ά τ ω ν κ α ὶ π ε ρ ὶ τ ῆ ς [30] ο ὐ σ ί α ς. φ α ν ε ρ ὸ ν δ ὴ ὅ τ ι μ ι ᾶ ς κα ὶ τ ῆ ς αὐτῆς.
E s m u s s a be r g e s a g t w e r d e n , o b e s G e g e n s t a n d e in e r Wi s s e n s c h a f t o d e r v e r s c h ie d e n e r is t , ü b e r d i e in d e r M a t h e m a t i k s o g e n a n n t e n A x io m e u n d ü b e r d i e S u bs t a n z z u h a n d e ln . E s is t o f f e n s ic h t li c h , d a s s … ( e s G e g e n s t a n d ) e i n u n d d e r s e l be n ( Wi s s e n s c h a f t ) i s t .
[31] Τῶν ἐν τῷ δευτέρῳ22 κειμένων ἀποριῶν μέμνηται νῦν· ἔστι δὲ αὕτη, [32] πότερον τὰς τῆς οὐσίας ἀρχὰς τὰς πρώτας ἐστὶ τῆς ἐπιστήμης τῆς προκει-[33]μένης ἰδεῖν μόνον, ἢ καὶ περὶ τῶν ἀρχῶν ἐξ ὧν δεικνύουσι πάντες, ἃ [34] ἀξιώματά εἰσιν· περὶ ὧν ζητεῖ νῦν εἰ τῆς αὐτῆς ἐπιστήμης ἐστὶ περί τε [35] τῆς οὐσίας θεωρεῖν καὶ περὶ ἐκείνων.
Er (Aristoteles) kommt nun auf die im zweiten Buch dargelegten Aporien zurück: Eine davon ist, ob die Betrachtung der ersten Prinzipien der Substanz die einzige Aufgabe der vorliegenden Wissenschaft darstellen, oder auch die Prinzipien, auf die alle ihre Beweise aufbauen, d.h. die Axiome. Bezüglich dieser untersucht er jetzt, ob es Aufgabe derselben Wissenschaft ist, sowohl die Substanz zu betrachten als auch jene (Axiome).
[264,35–265,6] [265,6] λέγει δὲ μιᾶς καὶ τῆς αὐτῆς εἶναι ἐπιστήμης τήν τε περὶ [7] οὐσίας τε καὶ τοῦ ὄντος θεωρίαν καὶ τὴν περὶ τῶν ἀξιωμάτων· αὕτη δέ [8] ἐστιν ἡ πρώτη φιλοσοφία· καὶ ὅτι τῆς αὐτῆς ἐστι δείκνυσι διὰ τοῦ πᾶσιν [9] αὐτὰ τοῖς οὖσιν ὑπάρχειν, ἀλλ’ οὐκ ἀφωρισμένῳ τινὶ τοῦ ὄντος γένει.
[Erklärung, was mit den Axiomen gemeint ist] Er sagt aber, dass die Betrachtung sowohl der Substanz und des Seienden als auch der Axiome Aufgabe ein und derselben Wissenschaft sei. Diese aber ist die erste Philosophie. Und dass es die Aufgabe derselben ist, zeigt er dadurch, dass diese (Axiome) für alles Seiende gelten, und nicht nur für eine abgegrenzte Gattung des Seienden.
Aus Alexanders Lemma und seiner Paraphrase geht hervor, dass in seinem „Metaphysik“-Text in Zeile 1005a21 nicht „Es ist offensichtlich, dass auch die Untersuchung der Axiome Gegenstand einer (Wissenschaft) und zwar der des Philosophen ist“ stand, sondern vielmehr „Es ist offensichtlich, dass auch die Untersuchung der Axiome Gegenstand ein und derselben Wissenschaft ist“. Für die Authentizität der ωAL-Lesart gegenüber der ωαβ-Lesart spricht: (i) Die Antwort passt besser zur in 1005a19 gestellten Frage; (ii) erst nach eingehender Erörterung der Frage kommt Aristoteles dann am Ende des Abschnitts in Γ 3, 1005b5–8 zu der Schlussfolgerung, dass es Aufgabe der Philosophie (und nicht
22
D.h. das dritte Buch (B) nach unserer Zählung.
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Textkritik und indirekte Überlieferung
einer Spezialwissenschaft wie der Physik) ist, die Axiome zu untersuchen.23 Demnach wäre es zwar nicht unmöglich, aber doch verwunderlich, dass Aristoteles sein Ergebnis bereits am Anfang des Abschnitts vorweggenommen hätte. (iii) Die Entstehung der Lesart in ωαβ aus ωAL ist leichter zu erklären als umgekehrt.24 Schließlich sei festgehalten, dass die Lesart in ωαβ nicht so eklatant falsch oder auffällig ist, dass sie eine spontane Verbesserung hervorgerufen hätte. Somit handelt es sich hierbei um einen Trennfehler in ωαβ gegenüber ωAL, der zeigt, dass ωAL nicht von ωαβ abhängt. Doch auch umgekehrt lässt sich zeigen, dass ωαβ nicht von ωAL abhängig ist. Das folgende Beispiel zeigt einen Fehler in ωAL, von dem wiederum ωαβ frei ist, wobei erneut mit hoher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden kann, dass die richtige Lesart in ωαβ erst das Ergebnis einer Korrektur ist.25 In A 2, 982a21 ist in Alexanders Text das Wort πάντα („alles“) ausgefallen, das in ωαβ enthalten und sicher die richtige Lesart ist. Die Textstelle lautet in ωαβ: Aristoteles, „Metaphysik“ A 2, 982a21–23 τούτων δὲ τὸ μὲν πάντα ἐπίστασθαι τῷ μά-[22]λιστα ἔχοντι τὴν καθόλου ἐπιστήμην ἀναγκαῖον ὑπάρχειν [23] (οὗτος γὰρ οἶδέ πως ἅπαντα τὰ ὑποκείμενα),
Von diesen Ansichten [scil. über die Weisen], muss notwendigerweise die Eigenschaft, alles zu wissen, demjenigen zukommen, der am meisten Wissen vom Allgemeinen besitzt (denn dieser kennt gewissermaßen alles Untergeordnete).
21 πάντα α Ascl. c 16,21 : ἅπαντα β : om. ωAL (Al. l 11,3), τὰ πάντα ci. Al. 11,5
Das Wort πάντα in Zeile 982a21 ist zum einen dadurch im Kontext verankert, dass Aristoteles die Eigenschaft, alles zu wissen, bereits als Merkmal des Weisen eingeführt hat (982a8–10)26 und zum anderen dadurch, dass der Satz ohne πάντα keinen befriedigenden Sinn ergibt.27 In ωAL jedoch war πάντα ausgefallen. Dies zeigt sowohl das Lemma als auch die Kommentierung.
23 Arist., „Metaph.“ Γ 3, 1005b5–8: ὅτι μὲν οὖν τοῦ φιλοσόφου, καὶ τοῦ περὶ πάσης τῆς οὐσίας θεωροῦντος ᾗ πέφυκεν, καὶ περὶ τῶν συλλογιστικῶν ἀρχῶν ἐστὶν ἐπισκέψασθαι, δῆλον. „Dass es also Aufgabe des Philosophen ist, und desjenigen, der das ganze Sein betrachtet, insofern es ist, auch die Beweisprinzipien zu untersuchen, ist klar.“ 24 Der dritte Gesichtspunkt folgt dem textkritischen Prinzip utrum in alterum abiturum erat? Für eine ausführliche Behandlung der Textstelle vgl. Kotwick 2016 [Anm. 11], S. 105–112. 25 Kotwick 2016 [Anm. 11], S. 124–140. 26 „Metaph.“ 982a8–10: ὑπολαμβάνομεν δὴ πρῶτον μὲν ἐπίστασθαι πάντα τὸν σοφὸν ὡς ἐνδέχεται, μὴ καθ’ ἕκαστον ἔχοντα ἐπιστήμην αὐτῶν· „Wir nehmen als Erstes an, dass der Weise alles, soweit dies möglich ist, weiß, ohne dabei Wissen von jedem einzelnen zu haben.“ 27 Auch der parenthetische Erklärungssatz οὗτος γὰρ οἶδέ πως ἅπαντα τὰ ὑποκείμενα (982a23) setzt durch die Wiederaufnahme des ἅπαντα das πάντα in a21 voraus.
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Alexander, „In Metaph.“ 11,3–6 Hayduck 982a21 Το ύ τ ω ν δ ὲ τ ὸ μ ὲ ν ἐ π ίστ α σθ α ι τ ῷ μ ά λισ τ α ἔ χο ν τ ι τ ὴ ν [4] κα τ ὰ π ά ν τ ω ν ἐ π ιστ ή μ η ν . [5] Ἐλλείπει τῷ ἐπίστασθαι τὸ ‚τὰ πάντα‘· ὸ γὰρ πάντα ἐπίστασθαι τῷ [6] μάλιστα ἔχοντι τὴν καθόλου ἐπιστήμην ὑπάρχει· τοῦτο γὰρ ἦν τὸ κείμενον.
Von d i e s e n ( m u s s n o t w e n di g e r w e is e ) d i e E i g e n s c h a f t z u w is s e n d e m z u k o m m e n , d e r a m m e is t e n Wis s e n v o m A l lg e m e in e n b e s i t z t . Es fehlt dem Wort „wissen“ der Ausdruck „das Ganze“. Denn die Eigenschaft, alles zu wissen, kommt dem zu, der am meisten Wissen vom Allgemeinen besitzt. Denn dieses war die Annahme.
Alexander bemerkt, dass etwas in seinem Text nicht stimmt und schlägt vor, τὰ πάντα „das Ganze“ zu ergänzen. Die Tatsache, dass sein Verbesserungsvorschlag das Richtige nicht exakt trifft, zeigt uns, dass er die Lesart πάντα nicht kannte. Und es zeigt uns außerdem, dass Alexanders Kommentar nicht die Quelle für das πάντα in unserem Text sein kann.28 Textstellen wie diese machen deutlich, dass ωαβ keine Abschrift von ωAL ist. Aus Trennfehlern wie diesen, die in beiden Texten ωαβ und ωAL zu finden sind, ergibt sich der Schluss, dass es sich um zwei voneinander unabhängige Textversionen handelt. Für die Bewertung der Varianten in α und β bedeutet dies, dass wann immer ωAL mit einer der beiden Lesarten zusammengeht, es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um die ältere Lesart handelt.29 Bindefehler in α und β zeigen an, dass ihr gemeinsamer Vorfahr (ωαβ), der Archetypus des „Metaphysik“-Textes, diese Fehler enthielt. Auf wann können wir diesen Text datieren? Für die Datierung der Spaltung von ωαβ in die beiden Versionen α und β wurde in der Forschung zunächst die Tatsache nutzbar gemacht, dass der β-Text im Gegensatz zum α-Text sogenannte Reklamanten enthält. Reklamanten oder „Kustoden“ liegen dann vor, wenn die Anfangsworte des nachfolgenden Buches am Ende des vorausgehenden vermerkt sind, um das Zuordnen von Papyrusrollen zu erleichtern.30 Der β-Text scheint demnach auf eine 28
Zu Alexanders Kommentierung als Ursache für eine Lesart in unserem Text siehe im Folgenden. 29 Vgl. die Diskussion in Kotwick 2016 [Anm. 11], S. 138–177. 30 Christ (in Wilhelm v. Christ: „Aristotelis Metaphysica“, Leipzig 1886, VII) hatte zuerst auf das Vorhandensein von Kustoden in der β-Handschrift Ab aufmerksam gemacht. Jaeger zog dann den für uns relevanten Schluss, dass „die Kustoden … uns in die Zeit der Buchrollen zurück[führen], in die Zeit vor der Umschrift der Texte in codices.“ (Werner Jaeger: Studien zur Entstehungsgeschichte der Metaphysik des Aristoteles, Berlin 1912, S. 181. Vgl. auch Jaeger [Anm. 11], S. ix–x). Primavesi [Anm. 5], S. 393 weist, im Anschluss an Alexandru (Stefan Alexandru: Traces of Ancient „Reclamantes“ Surviving in Further Manuscripts of Aristotle’s „Metaphysics“, in: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 131, 2000, S. 13–14), darauf hin, dass es sich bei den Kustoden in Ab um ein Merkmal der β-Version insgesamt handelt.
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Textkritik und indirekte Überlieferung
„Metaphysik“-Edition in Papyrusrollen zurückzugehen und seine Abspaltung vom α-Text auf einen Zeitpunkt vor der Verdrängung der Papyrusrolle durch den Kodex.31 Da der Kodex nach einer Zeit der Koexistenz (bis zum Ende des 3. Jahrhunderts n. Chr.)32 gegen Ende des 4. Jahrhunderts die Papyrusrolle weitgehend verdrängt hatte,33 kann das Jahr 400 n. Chr. als terminus ante quem für die Spaltung von ωαβ in α und β angenomen werden.34 Die Tatsache, dass die Spaltung vor 400 n. Chr. stattgefunden hat, bringt uns einer genaueren Datierung von ωαβ einen wichtigen Schritt näher. Allerdings benötigen wir noch einen terminus post quem, um den Archetypus des Textes genauer zwischen dessen Abfassungszeit im 4. vorchristlichen Jahrhundert und 400 n. Chr. datieren zu können. Mit anderen Worten, wir benötigen einen externen Zeugen, der uns hilft, den Zeitpunkt zu bestimmen, nach dem die Spaltung stattgefunden hat. Dieser externe Zeuge ist durch Alexanders Kommentar gegeben. Es lässt sich nämlich zeigen, dass Alexanders Kommentierung des „Metaphysik“-Textes die Überlieferung eben dieses Textes beeinflusst hat. Der „Metaphysik“-Text in der Fassung von ωαβ weist Spuren einer Kontamination durch Alexanders Kommentar auf. Mit anderen Worten, der Text, auf den alle unsere Handschriften zurückgehen, ωαβ, enthält Lesarten, die nicht von Aristoteles, sondern von seinem Kommentator Alexander stammen. Diese Tatsache kann durch folgendes Fallbeispiel belegt werden.35 In α 2, 994b26 steht in α und β übereinstimmend und somit in ωαβ der Satz „vielmehr muss man die Materie in etwas Bewegtem erkennen“ (ἀλλὰ καὶ τὴν ὕλην ἐν κινουμένῳ νοεῖν ἀνάγκη). Dieser Satz ist sowohl inhaltlich (Was soll die darin formulierte Regel bedeuten?) als auch im gegebenen Kontext (Wie passt der Satz zu dem, was vor ihm und nach ihm steht?) problematisch.
31
Primavesi [Anm. 5], S. 393. Tiziano Dorandi: 1 Tradierung der Texte im Altertum; Buchwesen, in: Einleitung in die griechische Philologie, hg. v.H.-G. Nesselrath, Stuttgart/Leipzig 1997, S. 3–16, hier: S. 7. 33 Vgl. die Aufstellung in Adam Bülow-Jacobsen: Writing Materials in the Ancient World, in: The Oxford Handbook of Papyrology, hg. v. R. S. Bagnall, Oxford 2009, S. 3– 29, hier: S. 25. 34 Vgl. Primavesi [Anm. 5], S. 457. 35 Für eine ausführliche Diskussion der Textstelle im Kontext des Aristotelischen Werkes siehe Mirjam Kotwick und Christian Pfeiffer: How To Think The Infinite. A New Reading and Interpretation of Aristotle, Metaphysics II, 994b21–27, in: Mnemosyne 72, 2019, S. 24–52. 32
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Aristoteles, „Metaphysik“ α 2, 994b23–27 οὐ γὰρ ὅμοιον ἐπὶ τῆς γραμμῆς, ἣ κατὰ τὰς διαιρέ-[24]σεις μὲν οὐχ ἵσταται, νοῆσαι δ᾽ οὐκ ἔστι μὴ στήσαντα (διόπερ [25] οὐκ ἀριθμήσει τὰς τομὰς ὁ τὴν ἄπειρον διεξιών), ἀλλὰ καὶ [26] τὴν ὕλην ἐν κινουμένῳ νοεῖν ἀνάγκη. καὶ ἀπείρῳ οὐδενὶ ἔστιν [27] εἶναι· εἰ δὲ μή, οὐκ ἄπειρόν γ᾽ ἐστὶ τὸ ἀπείρῳ εἶναι.
Denn es ist nicht wie bei der Linie, deren Teilung zwar niemals zum Halten kommt, die aber nicht als unaufhörlich teilbar zu denken ist (weswegen einer, der die Teilungen ins Unendliche durchgeht, sie nicht zählen können wird). Vielmehr muss man die Materie in etwas Bewegtem erkennen. Und es ist unmöglich für etwas Unendliches zu existieren. Wenn aber doch, dann ist das Unendlich-Sein nicht unendlich.
26 ὕλην ωαβ Al. l 164,15 Al. c 164,23 Bekker Bonitz Christ Jaeger: ὅλην ci. Ross || ἐν κινουμένῳ ci. Al. 164,23 ωαβ Bekker Bonitz Christ Jaeger: κινουμένῳ ωAL (164,19; 148,13): κινουμένην Al. l 164,15 (ci. τινὲς secundum Al. 164,24): οὐ κινουμένῳ ci. Ross
Alexanders Kommentar zur Stelle gibt uns sowohl Aufschluss darüber, wie sein „Metaphysik“-Text an dieser Stelle gelautet hat, als auch darüber, wie die Lesart in ωαβ entstanden ist. Alexanders Text hat anstatt ἐν κινουμένῳ („in etwas Bewegtem“) nur κινουμένῳ, d.h. ohne die Präposition ἐν, gelesen. Durch diese kleine Differenz ändert sich aufgrund eines veränderten Verständnisses des Partizips κινουμένῳ die komplette Bedeutung des Satzes. Er lautet nun: „vielmehr muss derjenige, der sich (entlang der Linie) bewegt, die Materie (der Linie) denken“. Diese Bedeutung des Satzes ergibt Sinn im gegebenen Kontext und kann durch Parallelstellen aus der Aristotelischen „Physik“ gestützt werden.36 Alexanders Text bezeugt hier sicher den originalen Wortlaut. Darüber hinaus verrät uns Alexanders Kommentierung, wie es zu dem Zusatz ἐν in ωαβ gekommen ist. Die Hinzufügung der Präposition hat ihren Ursprung in Alexanders Kommentar. Da sich für Alexander der Sinn des Satzes in der ihm vorliegenden Version (also mit κινουμένῳ ohne ἐν) nicht in einem zufriedenstellenden Maße erschließt,37 schlägt er ein alternatives Verständnis vor und möchte dieses klarer zum Ausdruck bringen, indem er die Präposition ἐν ergänzt: Alexander, „In Metaph.“ 164,22–23 Hayduck τὸ αὐτὸ δὲ σημαίνοι ἂν καὶ εἰ [23] εἴη γεγραμμένον ἀλλὰ καὶ τὴν ὕλην ἐν κινουμένῳ νοεῖν ἀνάγκη.
Dieselbe (d.h. die zuvor ausgebreitete und favorisierte) Bedeutung dürfte wohl ausgedrückt werden, wenn geschrieben stünde: „Aber es ist auch notwendig, die Materie in etwas bewegtem zu erkennen“.
36
Arist. „Ph.“ III 4, 204a17–19; III 6, 207a21–26; III 7, 207a32–b1; VIII 8, 263a23–b9. Vgl. Kotwick/Pfeiffer [Anm. 35], S. 39–50. 37 Alex. „In Metaph.“ 164,15–23 Hayduck.
412
Textkritik und indirekte Überlieferung
Ein Leser, Bearbeiter oder Herausgeber von ωαβ ist Alexanders Vorschlag offenbar gefolgt und hat zur vermeintlichen Klarstellung, tatsächlich aber massiven Veränderung des originalen Textsinns, die Präposition ἐν in den AristotelesText eingefügt. Dieser und ähnliche Fälle sind für die Frage nach dem Zeitpunkt der Spaltung von ωαβ in α und β von fundamentaler Bedeutung. Denn das Vorhandensein von ἐν ist ein Bindefehler, den α und β teilen und der somit bereits in ωαβ vorlag. Durch solche von Alexanders Kommentar bedingte Bindefehler lässt sich beweisen, dass die Spaltung frühestens stattgefunden haben kann, nachdem Alexanders Kommentar verfasst worden bzw. als führendes Begleitwerk zur „Metaphysik“ in Umlauf gekommen war. Alexanders Tätigkeit als Professor an der peripatetischen Schule in Athen fällt in die Jahre zwischen 189 und 211. Wahrscheinlich ist der Kommentar in diesem Zeitraum entstanden und hat danach rasch Berühmtheit erlangt. Somit ergibt sich das Jahr 200 n. Chr. als terminus post quem für die Spaltung von ωαβ in α und β und demnach lässt sich ωαβ auf den Zeitraum zwischen 200 und 400 n. Chr. datieren. Ein kurzes Zwischenresümee: Der Text der „Metaphysik“, den Alexander beim Verfassen seines Kommentars vorrangig verwendet hat und der auf 200 n. Chr. zu datieren ist, ist eine von ωαβ unabhängige Textversion. Diese unabhängige Version des Textes kann dem Editor der Metaphysik wichtige Hinweise bei der Entscheidung geben, welche der beiden direkt überlieferten Lesarten in α und β die ältere Lesart ist. Außerdem ermöglicht Alexanders Kommentar insgesamt eine Bestimmung des Zeitraums, in dem sich die beiden Versionen α und β von ihrem gemeinsamen Vorfahr ωαβ abgespalten haben und damit die Datierung von ωαβ, des Archetypus des „Metaphysik“-Textes. Dieser Zeitraum ist auf 200–400 n. Chr. anzusetzen. Doch was bedeutet die Tatsache, dass wir mit ωAL und ωαβ zwei unabhängige Versionen haben, für die Einschätzung ihrer jeweiligen Lesarten? Anders gefragt: wie unterschiedlich sind die beiden Versionen insgesamt voneinander? Nachdem wir oben bereits zwei Varianten als Trennfehler zwischen den beiden Fassungen diskutiert haben, lohnt es sich nun, einen Blick auf alle uns (auf der Basis von Alexanders Kommentar) sicher greifbaren Varianten zwischen ωαβ und ωAL zu werfen. Die folgende Liste zeigt alle Varianten zwischen ωαβ und ωAL, die sich aus den erhaltenen Teilen von Alexanders Kommentar (den Büchern A–Δ) rekonstruieren lassen, wobei – und das ist wichtig zu betonen – die eingangs formulierte Regel angewendet wurde, wonach nur solche Lesarten für ωAL als sicher gelten, die in zwei unterschiedlichen Formaten oder an zwei verschiedenen Stellen im Kommentar belegt sind. Die Anwendung dieser Regel reduziert die Anzahl der zu berücksichtigenden Varianten stark.
413
Mirjam E. Kotwick
Varianten in ωαβ und ωAL (d.h. vor 400 n. Chr.):
3839
ωαβ
ωAL38
Bewertung/Ursache
1 981b27
οὗ δ’ ἕνεκα νῦν
ὧν οὖν ἕνεκα
Verschreibung in ωAL? + bewusster Zusatz in ωαβ
2 982a21
A
πάντα / ἅπαντα
om.
Ausfall in ωAL
982b10
ἓν τῶν αἰτίων
τῶν αἰτίων
Ausfall in ωAL ?
4 985a22
ἐπὶ πλέον μὲν
μὲν ἐπὶ πλέον
wohl bewusster Eingriff in ωAL
5 986b12
κατὰ τὴν φύσιν
κατὰ φύσιν
falscher Zusatz in ωαβ
6 988a14
τοῦ εὖ καὶ τοῦ κακῶς τοῦ εὖ τε καὶ τοῦ κακῶς
bewusster Zusatz in ωAL?
7 988b26
καὶ φθορᾶς
om.
wohl Ausfall in ωAL
8 988b28
ἀναιροῦσιν
παρέλιπον
–39
κἂν εἴ
καὶ εἴ
–
τοσοῦτον
μόνον
ωAL als idiomatisch vorzuziehen
3
9
989a20
10 990a34 11 990b18
εἰδῶν
ἰδεῶν
–
12 991a9
om.
ἢ
–
38
Evidenz: 1) Al. l 8,6, Al. p 8,7; 2) Al. l 11,3, Al. 11,5; 3) Al. p 15,9, Al. c 15,13; 4) Al. l 35,5, Al. p 35,6; 5) Al. c 43,2, Al. p 43,2-3; 6) Al. c 60,13, Al. p 60,14; 7) Al. c 64,26, Al. p 64,26–27; 8) Al. c 64,29, Al. p 64,25; 9) Al. c 66,17, Al. p 67,1; 10) Al. c 76,2, Al. p 76,3; 11) Al. l 85,13, Al. p 85,19; 12) Al. l 95,4, Al. c 96,2; 13) Al. l 106,7, Al. c 106,9; 14) Al. c 129,14, Al. p 129.18; 15) Al. l 145,27, Al. p 145,28–29; 16) Al. c 146,25, 149,11; 17) Al. l 149,14, Al. p 149,21; 18) Al. c 156,33 et passim, Al. p 156,33–157,11; 19) Al. p 164.19, Al. c 148.12–13; 20) Al. c 167,10, Al. p 167,11; 21) Al. p 137,1–138,9, Al. c 137,15–16, Al. p 169,19–170,11; 22) Al. c 182,6, 182,13, Al. p 182,5; 23) Al. l 196,29, Al. p 196,31; 24) Al. l 203,25, Al. p 203,29; 25) Al. l 204,8, Al. p 204,11; 26) Al. c 206.9, Al. p 206.9-12; 27) Al. c 211,12, cf. Al. p 211,17 (τὰ καθ᾽ ἕκαστα); 28) Al. c 223,33, Al. p 223,34–35; 29) Al. c 225,8 225,23 et passim; 30) Al. l 228,30, Al. p 228,32–229,1; 31) Al. l 245,21, Al. c 245,25, Al. c 251,5; 32) Al. l 249,1, Al. p 249,4; 33) Al. l 252,2, Al. p 252,18; 34) Al. c 253,35, 254,7–8; 35) Al. l 256,19–20 et passim, Al. 256,21ff; 36) Al. l 259,23, Al. p 259.26; 37) Al. l 260,31, Al. p 260,35; 38) Al. l 264,30, Al. p 265,6; 39) Al. c 267,15, 267,19–20; 40) Al. l 296,22, Al. p 296,25; 41) Al. c 298,23, Al. p 298,24; 42) Al. c 316,27-28, Al. p 316,28; 43) Al. l 320,35, Al. p 321,4; 44) Al. c 321.5, Al. p 321,6; 45) Al. c 328,25, Al. p 329,24; 46) Al. l 336,24, Al. c 336,30; 47) Al. c 350,1, Al. p 350,3 cf. Physik 194b32; 48) Al. p 350,22, Al. c 350,25; 49) Al. c 352.4, Al. p 352,2-3; 50) Al. c 355,36, Al. p 355,28–39; 51) Al. c 360,11, Al. p 360,12; 52) Al. l 362,11, Al. p 362,12; 53) Al. c 368,20, Al. p 368,22; 54) Al. c 376,34, Al. p 376,33–35; 55) Al. c 387,4, Al. p 387,5; 56) Al. c 397,30, Al. p 397,31–32; 57) Al. c 424,22; 27; 31; 58) Al. c 438,14, Al. p 438,16. 39 Bei einigen der Varianten lässt sich nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit feststellen, welche der beiden Lesarten die ursprüngliche oder bessere ist.
414
Textkritik und indirekte Überlieferung
ωαβ
ωAL38
Bewertung/Ursache
13 991b3
λέγεται
λέγομεν
bewusster Eingriff in ωαβ
14 992b25
γνωρίζοντα
γνωρίζοντας
–
A
α 15 993b23
ἄνευ τῆς αἰτίας
ἄνευ αἰτίας
–
16 993b29
τί (ἐστι)
om.
eingedrungene Randnotiz in ωαβ
17 994a1
ἀρχή τις
τις ἀρχή
–
18 994a32
ἔστι
om.
falscher Zusatz in ωαβ
19 994b26
ἐν κινουμένῳ
κινουμένῳ
bewusster Zusatz in ωαβ40
20 995a1
λέγεσθαι
ἔτι τὸ λέγεσθαι
falscher Zusatz in ωAL
21 995a19–20
καὶ___ἐστιν
om.
bewusster Zusatz in ωαβ
αὐτοῦ
αὑτοῦ
Fehler in ωαβ
B 22 996a24 23
997b5
πολλαχῇ___δυσκολίαν πολλὰς___δυσκολίας
–
24 998b10
τὸ μέγα καὶ μικρὸν
τὸ μέγα καὶ τὸ μικρὸν Ausfall oder Streichung in ωαβ
25 998b11
γε
om.
26 998b25–26
ἄνευ τῶν αὐτοῦ εἰδῶν ἄνευ τῶν εἰδῶν
bewusster Zusatz in ωαβ41
27 999a19
τὸ καθ᾽ ἕκαστον
τὰ καθ᾽ ἕκαστον
bewusster Eingriff in ωαβ? (lectio difficilior in ωAL)
28 1001a7–8
τὸ ὂν καὶ τὸ ἓν
τὸ ἓν καὶ τὸ ὂν
–
29 1001a27
οὐσίαν αὐτῶν
αὐτῶν οὐσίας
–
30 1001b27
καὶ τὰ ἐπίπεδα
om.
wohl Ausfall in ωAL
4041
40 41
Vgl. oben und Kotwick/Pfeiffer [Anm. 35]. Vgl. Kotwick 2016 [Anm. 11], S. 178–87.
415
Ausfall in ωAL
Mirjam E. Kotwick
ωαβ
ωAL38
Bewertung/Ursache
31 1003b22
τε
δὲ
–
32 1003b32
οὐ κατὰ συμβεβηκός
καὶ οὐ κατὰ συμβεβηκός
–
33 1004a10
πλῆθος
τὸ πλῆθος
–
34 1004a19
κατὰ πλῆθος
κατὰ τὸ πλῆθος τε
bewusster Eingriff in ωAL
35 1004a31
λεχθήσεται
λέγεται
–
36 1004b17
σοφισταὶ
οἱ σοφισταὶ
Ausfall in ωαβ?
εἰς ἓν
εἰς τὸ ἓν
Ausfall in ωαβ?
38 1005a21
τε καὶ τῆς τοῦ φιλοσόφου
καὶ τῆς αὐτῆς
bewusster Eingriff in ωαβ
39 1005b2
τῶν λεγόντων
om.
Ausfall in ωAL
40 1008a30
περὶ οὐθενός ἐστι
μηδενός
Verschreibung in ωAL?
41 1008b10
ὑπολαμβάνει
ὑπολαμβάνοι
–
ὅλως τ᾽
ἄλλως
Verschreibung in ωAL
A Γ
37
42
1004b28
1010b30
43 1011a31
ψευδῆ καὶ ἀληθῆ
ψευδῆ τε καὶ ἀληθῆ
–
44 1011a31
φαίνεσθαι
φαίνεται
Vereinfachung in ωAL
45 1011b28
εἶναι
τοῦτο εἶναι
bewusster Zusatz in ωAL?
46 1012a30
κατὰ
τὰ κατὰ
bewusster Zusatz in ωAL?
47 1013a32
τὸ μεταβλητικὸν τοῦ μεταβάλλοντος
τὸ μεταβλητικὸν τοῦ μεταβαλλομένου
bewusster Eingriff in ωAL (ωαβ lectio difficilior)
48 1013b 6
εἶναι
εἶναι καθ’ αὑτὸ καὶ
wohl Ausfall in ωαβ
Δ
49
1013b
26–7 καὶ τέλος τῶν ἄλλων ἐθέλει εἶναι
om.
50 1014b9
ἀρχάς
ἀρχάς καὶ στοιχεῖά
bewusster Zusatz in ωAL
51 1015a19
ἐντελεχείᾳ
ἐνεργείᾳ
–
ἓν
τὸ ἓν
bewusster Zusatz in ωAL
γνωρίζομεν
γνωρίζομεν τι
bewusster Zusatz in ωAL
52
1015b16
53 1016b19
416
Textkritik und indirekte Überlieferung
ωαβ
ωAL38
Bewertung/Ursache
54 1017b33
πάντα ταῦτα
ταῦτα πάντα
–
55 1019a3
κατὰ φύσιν καὶ οὐσίαν
κατὰ φύσιν τε καὶ οὐσίαν
bewusster Zusatz in ωAL?
56 1020a 23–24
μεῖζον καὶ ἔλαττον
τὸ μεῖζον καὶ τὸ ἔλαττον
bewusster Zusatz in ωAL?
57 1023b 20
τὸ ἔχον τὸ εἶδος
τὸ ἔχον εἶδος
bewusster Zusatz in ωαβ?
58 1025a25
οὐδὲν
om.
bewusster Eingriff in ωαβ42
A
42
Betrachtet man diese 58 Varianten als repräsentativ, lassen sich folgende Schlussfolgerungen über den Varianzcharakter der beiden Textversionen ωαβ und ωAL ziehen: Die meisten der Varianten scheinen auf eine bewusste Veränderung des Textes zurückzugehen. Hierbei handelt es sich meist um feine Unterschiede, die nach näherer Betrachtung den Anschein erwecken, kleine Justierungen zu sein, welche jemand bewusst vorgenommen hat. Da die Motivation dahinter oft nachvollziehbar ist, verraten sie sich als spätere ‚Verbesserungen‘. Als Beispiel kann Nr. 13 dienen:43 Hier steht λέγεται „es wird gesagt“ (ωαβ) gegen λέγομεν „wir sagen“ (ωAL). Aristoteles sagt hier entweder „es wird im ‚Phaidon‘ gesagt“ oder „wir sagen im ‚Phaidon‘“. Auf den ersten Blick scheint die ωαβ-Lesart „es wird gesagt“ überlegen, da ja nicht Aristoteles, sondern Platon der Autor des „Phaidon“ ist. Auf den zweiten Blick jedoch wird klar (wie übrigens auch Alexander in seinem Kommentar 106,7–10 zeigt), dass Aristoteles selbst λέγομεν, „wir sagen“, geschrieben hat, weil er im ersten Buch der „Metaphysik“ als Mitglied der Akademie spricht. Dass man im Nachhinein zur neutraleren Form „es wird gesagt“ verbessert hat, leuchtet schnell ein. Auf einfache Reproduktionsfehler gehen nur wenige der Varianten zurück. Bei nur drei der insgesamt 58 Varianten ist sofort klar, dass es sich bei einer der beiden Möglichkeiten um einen Fehler handelt, der als Verschreibung erklärt werden kann. Diese drei Fälle sind Nr. 2, Nr. 39 und Nr. 42. In allen drei Fällen ist es Alexanders Text, der fehlerhaft ist. In Fall 2 ist πάντα („alles“) ausgefallen (siehe oben), in Fall 39 fehlt in ωAL das für den Satz-Sinn notwendige τῶν λεγόντων („von denen, die sprechen“) und in Fall 42 ergibt das ἄλλως in Alexanders Text keinen überzeugenden Sinn, ist aber leicht als Verschreibung zu erklären, da im vorangehenden Satz, etwa im Abstand von einer Zeile, die Wendung ἄλλως καὶ ἄλλω? vorkommt. Dass einfache und eindeutige Reproduktionsfehler so selten unter den uns zugänglichen Varianten sind, ist vor allem 42
Vgl. Kotwick 2016 [Anm. 11], S. 187–91. Zu diesem Fall vgl. Werner Jaeger: „We say in the ‚Phaedo‘.“ in: Harry Austryn Wolfson Jubilee Volume, Vol. 1, Jerusalem 1965, S. 407–421, und Primavesi [Anm. 5], S. 413–420.
43
417
Mirjam E. Kotwick
durch die Art der Textzeugen bedingt. Beide Textversionen ωAL und ωαβ sind rekonstruiert und somit gefiltert: ωAL wird insofern durch Alexanders Kommentar gefiltert, dass Alexander wohl keinen Text kommentieren würde, der offensichtliche Schreibfehler enthält bzw. diese wohl stillschweigend verbessern würde. Dadurch sind offensichtliche Reproduktionsfehler in ωAL für uns kaum nachweisbar. Varianten, die man als gleichrangige Fassungsvarianten des Aristoteles verstehen könnte, lassen sich nicht feststellen. Die beiden Versionen zeigen so gut wie keine Varianten, die ihrem Charakter nach als alternative Fassungen oder als eine Weiterentwicklung ein und desselben Gedankens zu verstehen wären. Aufs Ganze gesehen und gestützt auf die hier aufgelisteten Varianten können die beiden Versionen als in einem hohen Maß übereinstimmend bezeichnet werden. Wie bereits hervorgehoben sind die 58 Varianten sozusagen nur die Spitze des Eisbergs. Nichtsdestoweniger lässt sich aus der Art der Varianten die Tatsache ableiten, dass der „Metaphysik“-Text in seiner Überlieferung im Zeitraum von 200–900 n. Chr. als ganzer sehr stabil gewesen ist.44
VI. Die Überlieferung der „Metaphysik“ zwischen dem 1. Jahrhundert v. Chr. und dem 2. Jahrhundert n. Chr. Alexanders Kommentar hilft uns, über das bisher Gezeigte hinaus und damit vor die Zeit seiner Abfassung um 200 n. Chr. zurückzugehen. Wir haben durch Alexanders Kommentar nicht nur Zugang zu ωAL, sondern auch, wenn auch nur ganz vereinzelt, Zugang zu varianten Lesarten aus anderen Versionen. Da Alexander zum Beispiel auf den „Metaphysik“-Kommentar des Aspasios (ca. 80–150 n. Chr.) zurückgegriffen und daraus Elemente in seinen Kommentar übernommen hat, lassen sich in Alexanders Kommentar Erwähnungen von Varianten zu ωAL finden, die in anderen Textfassungen vor 200 n. Chr. enthalten waren. Als mögliche Texte, die Varianten zu ωAL enthalten haben, lassen sich mindestens ωASP1 (einer der von Aspasios verwendeten Texte und Vorfahr von ωαβ), ωASP2-n (ein von ωASP1 verschiedenes Exemplar, das in Aspasios’ Kommentar Eingang gefunden hat) und φ (ein hypothetisches Exemplar, aus dem mögliche Randnotizen in ωAL stammen) feststellen. Die folgende Liste enthält die variae lectiones, die Alexander explizit als Varianten zu ωAL anführt.45
44 45
Vgl. Trovato [Anm. 2], S. 62. Vgl. Kotwick 2016 [Anm. 11], S. 89–92.
418
Textkritik und indirekte Überlieferung
ωAL46
φ, ωASP1, ωASP2-n
1 985b12–13
τὸν αὐτὸν τρόπον καὶ οὗτοι (ωαβ)
καὶ ὥσπερ τῶν μαθηματικῶν τὸν αὐτὸν τρόπον καὶ οὗτοι
Eingedrungene Randnotiz in ωASP2-n
2 987a1047
μοναχώτερον
μορυχώτερον
Fehler in ωASP2-n
3 988a9-11
τὰ γὰρ εἴδη τοῦ τί ἐστιν αἴτια τοῖς ἄλλοις, τοῖς δ’ εἴδεσι τὸ ἕν (ωαβ)
bewusster Eingriff τὰ γὰρ εἴδη τοῦ τί in ωASP2-n ἐστιν αἴτια τοῖς ἄλλοις, τοῖς δὲ εἰδόσι τὸ ἓν καὶ ἡ τοῦ εἴδους ὕλη48
A
4 988a 12–13 τὰ εἴδη τὰ μὲν … τὰ δὲ ἐπὶ ἀδικία (ωαβ)
τὰ εἴδη (τὰ) μὲν … τὸ Fehler in ωAL δ’ ἓν ἐν (ωαβ) ἀνικία
Fehler in ωASP2-n
om.
Ausfall in ωASP2-n
ἔσται τε πλείω___καὶ εἰκών.
om.
Streichung in ωASP2-n
8 993a30
ὅτι ἡ περὶ τῆς ἀληθείας θεωρία
ἡ περὶ τῆς ἀληθείας θεωρία (ωαβ)
Verbesserung in ωASP1?
9 993b22-4
oὐκ ἀίδιον (β)
oὐ τὸ αἴτιον καθ᾿ αὑτὸ (α)
–49
10 995a17
λόγος
τρόπος (ωαβ)
–50
γένη ἔχοντα (α)
γένη ἔχον (β)
5 990a24 6
990b31
7 991a27-b1
μή
(ωαβ)
α
Γ 11 1004a5 12
1006a19-20
τὸ ἀξιοῦν
οὐ(χὶ) τὸ ἀξιοῦν
13
1012b22-28
φανερὸν δ᾽ ὅτι οὐδ᾽ οἱ___ἀλλὰ δέδεικται ὅτι ἀδύνατον. (ωαβ)
om.
– (ωαβ)
Ausfall in ωAL Streichung in ωASP2-n
46 47 48 49 50
46
1) Al. 36,12–13; 2) Al. 46,23–4; 3) Al. 58,31–59,2; 4) Al. 59,16–23, Al. 59,18; 5) Al. 75,26–7; 6) Al. 90,34; 7) Al. 104,20–21; 8) Al. 138,24–8; 9) Al. 145,21–25; 10) Al. 169,9; 11) Al. 251,10; 12) Al. 273,20–21, 23–24; 13) Al. 341,30; 14) Al. 348.7–8; 15) Al. 354,31–32; 16) Al. 356,21; 17) 417,2–3. 47 Vgl. Primavesi [Anm. 5], S. 428–431. 48 Alexanders Quelle ist der Kommentator Aspasios, die Lesart hingegen geht zurück auf Eudorus. Vgl. hierzu Primavesi (in Vorbereitung). 49 Vgl. Kotwick 2016 [Anm. 11], S. 271–278. 50 Vgl. Kotwick 2016 [Anm. 11], S. 83–89.
419
Mirjam E. Kotwick
A
ωAL46
φ, ωASP1, ωASP2-n
Δ 14 1013a21-23 καλόν (β)
κακόν (α)
Fehler in ωASP2-n
15 1014a26–27 ἀδιαιρέτου τῷ εἴδει.
ἀδιαιρέτου τῷ εἴδει εἰς ἕτερον εἶδος. (ωαβ) ἀδιαιρέτου εἰς τὸ αὐτὸ εἶδος
bewusste Zusätze in ωASP1 und ωASP2-n
τῶν τριῶν
τῶν τριῶν μέσων
Fehler in ωASP2-n
κεχωρισμένον
κεχρωσμένον
Fehler in ωASP2-n
16 1014b2-3 17
1022a35-36
Im Vergleich zu den Varianten, die wir zwischen ωAL und ωαβ feststellen und analysieren konnten, haben die Varianten zwischen Alexanders primärem Text (ωAL) und den Versionen, zu denen er indirekt Zugang hatte (ωASP1, ωASP2-n, φ), einen markanteren Charakter. So verweist Alexander z.B. an zwei Textstellen darauf, dass in anderen Exemplaren ein ganzer Absatz des Aristotelischen Textes fehlt (Nr. 7 und 13). Alexanders eigener Text ωAL und auch ωαβ enthalten den Text jeweils komplett. Das Fehlen der Absätze in den anderen Ausgaben scheint auf bewusste, passgenaue Streichungen zurückzugehen: in Nr. 7 sind es genau zwei der ca. 30 Aristotelischen Argumente gegen die Ideenlehre, und in Nr. 13 genau eines der fünf Aristotelischen Argumente gegen die Annahme, dass etwas zugleich wahr und falsch sein kann. Auch wenn die Anzahl der Varianten insgesamt verringert ist, handelt es sich oftmals um gravierende textliche Unterschiede, bei denen es manchmal trotz eingehender Untersuchung nicht möglich ist zu entscheiden, welche mit größerer Wahrscheinlichkeit die originale Lesart ist (vgl. Nr. 9 und 10). Dieser Befund kann entweder darauf hindeuten, dass die Textfassungen zwischen dem 1. Jahrhundert vor und dem 2. Jahrhundert n. Chr. generell stärker variierten. Eine alternative, vielleicht plausiblere Erklärung ist, dass Alexander (wie auch sein Vorgänger Aspasios) vor allem an einer philosophischen Interpretation und nicht an einer philologischen Analyse interessiert war, und daher nur solche Varianten erwähnte, die einschlägige Textänderungen beinhalten. Ein weiterer Mentalitätsunterschied zwischen Alexander und uns ist hierbei von Bedeutung. Der Kommentator Alexander ist sich zwar bewusst, dass es textliche Varianz im „Metaphysik“-Text gibt, jedoch empfindet er dies an keiner Stelle als Problem. Sein Umgang mit Varianten scheint von einem grundsätzlich anderen Bewusstsein geprägt. Diesem Bewusstsein fehlt zum einen die implizite Annahme, dass nur eine von zwei oder mehreren Varianten die ursprüngliche Lesart sein kann, und zum anderen das Bedürfnis, etwa durch Wahrscheinlichkeitsüberlegungen herauszufinden, welche der Varianten dies ist. Dies besagt jedoch keineswegs, dass Alexander davon ausgeht, dass Aristoteles selbst mehrere verschiedene Versionen verfasst hat; oder jedenfalls deutet nichts 420
Textkritik und indirekte Überlieferung
auf eine solche Annahme hin. Varianten werden von Alexander einfach durch die Wendung γράφεται ἔν τισιν, „in manchen (Exemplaren) steht geschrieben“, eingeleitet und dann eventuell (aber keineswegs immer) im Hinblick auf ihre Bedeutung erläutert; nur sehr selten ist dies mit einem Qualitätsurteil verbunden, wonach die eine besser ist als die andere. In Anbetracht der verschiedenen Versionen, die wir mit Hilfe von Alexanders Kommentar auf einen Zeitraum vor 200 n. Chr. datieren und wenigstens für bestimmte Lesarten rekonstruieren können, stellt sich die Frage, wie weit wir in die Zeit vor Alexander hinauskommen. Aspasios’ Kommentar, den Alexander ausgewertet hat, kann auf die erste Hälfte des 2. nachchristlichen Jahrhunderts datiert werden. Kommen wir auf der Basis der Informationen in Alexanders Kommentar und damit auf der Basis unserer indirekten Textzeugen noch darüber hinaus? Textkritisch umformuliert lautet diese Frage: Gibt es eine Fassung – wir haben sie eingangs als Hyperarchetypus bezeichnet – die wir als gemeinsamen Vorfahren aller hier angenommenen Fassungen identifizieren können bzw. gibt es einen aussagekräftigen Fehler, den alle uns zugänglichen Fassungen teilen? Ein solcher früher Bindefehler kann, wie ich abschließend kurz darlegen möchte, im Fall der „Metaphysik“ tatsächlich gefunden werden. Die „Metaphysik“ besteht aus 14 Büchern, die durch die Buchstaben des griechischen Alphabets gekennzeichnet sind:51 A, α, B, Γ, Δ, E, Z, H, Θ, I, K, Λ, M, N. In dieser Liste fällt auf, dass das zweite Buch nicht mit einem eigenen Buchstaben bezeichnet wird, sondern als α ἔλαττον, als „kleines Alpha“ sozusagen an das erste Buch („Groß-Alpha“) angehängt wird. Diese Praxis der Buchmarkierung ist antik und spiegelt die Tatsache wider, dass das zweite Buch sich weder inhaltlich in befriedigender Weise zwischen A und B einzufügen scheint,52 noch überhaupt ohne Einschränkung als eigenständiges Buch verstanden werden kann.53 Hinzukommt, dass, wie bereits Alexander hervorhebt,54 einiges im kurzen α ἔλαττον 51
Zur antiken Praxis der Buchzählung vgl. Oliver Primavesi: Ein Blick in den Stollen von Skepsis: Vier Kapitel zur frühen Überlieferung des Corpus Aristotelicum“, in: Philologus 151, 2007, S. 51–77. 52 Dies zeigt besonders deutlich der Schlusssatz des ersten Buches (A) in 993a25–27, der auf das dritte Buch (B) als Anschluss verweist. Vgl. John M. Cooper: Conclusion – and Retrospect, in: Aristotle’s “Metaphysics” Alpha, hg. v. Carlos Steel, with a new critical edition of the Greek Text by Oliver Primavesi, Oxford 2012, S. 335–354, hier: S. 351–354. Zum problematischen Schlusssatz von α ἔλαττον der als späterer Zusatz identifiziert und als Versuch einer Einbettung des Buches zwischen A und B verstanden werden kann, vgl. Kotwick 2016 [Anm. 11], S. 101–105. 53 Zur Problematik des Buches α ἔλαττον vgl. Enrico Berti: La fonction de Métaph. Alpha elatton dans la philosophie d’Aristote, in: Zweifelhaftes im Corpus Aristotelicum. Studien zu einigen Dubia, Akten des 9. Symposium Aristotelicum, hg. v. Paul Moraux und J. Wiesner, Berlin/New York 1983, S. 260–294, und Th. A. Szlezák: Alpha Elatton: Einheit und Einordnung in die Metaphysik, ebd., S. 221–259. 54 Alex. „In Metaph.“ 137, 12–15. Vgl. ebenfalls Jaeger [Anm. 30], S. 114–118.
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Mirjam E. Kotwick
darauf hindeutet, dass es ursprünglich als Einleitung oder jedenfalls im Hinblick auf die Aristotelische „Physik“ konzipiert wurde. Kurz gesagt, das „kleine Alpha“ gehört nicht dorthin, wo es steht. Es ist ein ‚Fehler‘. Gleichzeitig ist jedoch in diesem Zusammenhang zu bedenken, dass wohl keine der uns erhaltenen Schriften des Aristoteles von ihm selbst zur Publikation vorbereitet worden sind. Vielmehr handelt es sich sehr wahrscheinlich um Schriften, die zunächst für den Unterricht vorgesehen waren. Nichtsdestoweniger dürfen wir davon ausgehen, dass die Schriften, die uns erhalten sind, jeweils thematische Einheiten bilden, die auf Aristoteles zurückgehen. Das Vorhandensein von α ἔλαττον in der „Metaphysik“ darf dann insofern als „Fehler“ bezeichnet werden, dass das Buch wohl kaum von Aristoteles selbst in die „Metaphysik“ integriert worden ist.55 Das Vorhandensein des Buches α ἔλαττον legt es vielmehr nahe, dass ein späterer Editor das kleine Buch den übrigen Büchern der „Metaphysik“ beigefügt hat, vielleicht weil er keinen besseren Ort dafür finden konnte.56 Die für unser Anliegen gewichtige Tatsache, die diesen ‚Fehler‘ zu einem Bindefehler aller uns zugänglichen Fassungen macht, besteht darin, dass nicht nur Alexanders Text (ωAL) das Buch enthalten hat,57 sondern offensichtlich auch alle ihm bekannten Fassungen. Dieser Schluss ergibt sich aus der Tatsache, dass Alexander den auffälligen Charakter und Status des Buches α ἔλαττον zwar bespricht, dabei aber mit keinem Wort erwähnt, dass in anderen Handschriften das Buch nicht vorhanden ist.58 Der Schluss, dass in allen Alexander direkt und indirekt zugänglichen Fassungen α ἔλαττον enthalten war, ist zwar ex silentio, wird jedoch dadurch gestützt, dass Alexander sich mehrfach mit der Zugehörigkeit und Position des Buches beschäftigt. Wenn das Buch in einer anderen Ausgabe komplett fehlen würde, hätte es Alexander – so dürfen wir vermuten – erwähnt (so wie er es für andere Auslassungen tut)59. 55
Vgl. Szlezák [Anm. 53], S. 259. In der arabischen Tradition des „Metaphysik“-Textes ist das Buch α ἔλαττον vor Buch A platziert worden. Vgl. Maurice Bouyges: Averroès. Tafs1r M% ba’d at-Tab1’at. Texte arabe inédit établi par Maurice Bouyges, S. J., Notice, Beyrouth 1952, S. CL Anm. 1. Vgl. auch Di Giovanni und Primavesi [Anm. 11]. Dass es bereits in der griechischen Spätantike Diskussionen um die korrekte Platzierung des Buches α ἔλαττον gab, belegt der Kommentator Asklepios, „In Metaph.“ 113,15–23. Jedoch wird aus Asklepios’ Diskussion klar, dass auch für ihn die vorgegebene Position von α ἔλαττον hinter dem ersten Buch ist (vgl. 113,20–23 mit der Emendation von Primavesi, in Di Giovanni und Primavesi [ebd.], S. 32 Anm. 87). 57 Dies geht aus der Kommentierung des Buches klar hervor. Alexander hat α ἔλαττον jedoch nicht als eigenständiges Buch gezählt (Alex. „In Metaph.“ 257,10–16; 264,31). In diesem Zusammenhang ist ein weiteres Detail von Bedeutung: In Alexanders Text (ωAL) ist das Buch α ἔλαττον durch das Wort ὅτι am Beginn explizit als Exzerpt aus einem anderen Buch gekennzeichnet. Vgl. dazu Kotwick 2016 [Anm. 11], S. 78–83. 58 Vgl. Alex. „In Metaph.“ 137,5–138,23. 59 Z.B. Alex. „In Metaph.“ 104,20–21 und 341,30. 56
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Textkritik und indirekte Überlieferung
Doch wann ist Buch α ἔλαττον in die „Metaphysik“ integriert worden? Mit anderen Worten, auf wann können wir diesen ältesten Bindefehler datieren? Die Frage, was mit Aristoteles’ Schriften nach seinem Tod und in den unmittelbar folgenden Jahrhunderten passierte, ist komplex und kann hier nicht behandelt werden.60 Das früheste für uns sicher greifbare Datum für den Text der „Metaphysik“ ist die Edition der Aristotelischen Schriften durch Andronikos von Rhodos im 1. vorchristlichen Jahrhundert.61 Nun gibt es durchaus Hinweise, die nahelegen, dass eben in diesem Editionsprozess α ἔλαττον in die „Metaphysik“ integriert worden ist. Wir haben zwei unterschiedliche antike Verzeichnisse Aristotelischer Werke. In dem früheren Verzeichnis, das aus hellenistischer Zeit62 stammt,63 fehlen wichtige Werke, darunter auch die „Metaphysik“.64 Hingegen sind in dem zweiten, späteren Werkverzeichnis, das durch Ptolemaios al-Gharîb in arabischer Sprache überliefert ist, beinahe vollständig alle Titel unseres corpus aristotelicum enthalten.65 Die Differenz der beiden Verzeichnisse wird durch die von Primavesi [Anm. 51] herausgestellte Tatsache untermauert, dass im älteren Verzeichnis des Diogenes Laertios das hellenistische Buchzählungssystem gegeben ist, während die Werke im Verzeichnis des Ptolemaios die vor-hellenistische Zählung aufweisen, die auch in den uns bekannten Aristotelischen Schriften gegeben ist.66 Da sich Ptolemaios explizit auf Andronikos von Rhodos bezieht,67 der nicht nur von Plutarch und Porphyrios als Herausgeber der Aristotelischen Werke beschrieben wird,68 sondern auch einen ausführlichen Katalog („Pinakes“) Aristotelischer Schriften erstellt hat,69 liegt es nahe, Andronikos von Rhodos eine – in welchem 60
Antike Berichte finden sich bei Strabon („Geographika“ XIII,1,54 Radt [S. 602–605]) und Plutarch („Sulla“ 26; 468B). Vgl. Paul Moraux: Der Aristotelismus bei den Griechen. Von Andronikos bis Alexander von Aphrodisias. Erster Band: Die Renaissance des Aristotelismus im 1. Jh. v. Chr., Berlin/New York 1973, S. 3–44; H. B. Gottschalk: Aristotelian Philosophy in the Roman World, in: ANRW II 36.2, 1987, S. 1079–1174, hier: S. 1083– 1097; Jonathan Barnes: Roman Aristotle, in: Philosophia Togata II. Plato and Aristotle at Rome, hg. v. Jonathan Barnes und Miriam Griffin, Oxford 1997, S. 1–69, hier: S. 2–31. 61 Die genaue Datierung von Andronikos innerhalb des 1. vorchristlichen Jahrhunderts ist umstritten, Ciceros Tod im Jahr 43 v. Chr. wird jedoch meist als terminus post quem akzeptiert. Vgl. Barnes [Anm. 60], S. 21–24; Anders Moraux [ebd.], S. 45–58. 62 Vgl. Primavesi [Anm. 51], S. 58–59. 63 Es ist in zwei Rezensionen bei Diogenes Laertios (5, 22–27; Zeilen 257–409 Dorandi; dazu Paul Moraux: Les listes anciennes des ouvragges d’Aristote, Louvain 1951, S. 15–193) und Hesychios von Milet (Text: Ingemar Düring: Aristotle in the Ancient Biographical Tradition, Göteborg 1957, S. 83–89; dazu Moraux [diese Anm.], S. 195–209) überliefert. 64 Moraux [Anm. 63], S. 73. 65 Moraux [Anm. 63], S. 287–309; Christel Hein: Definition und Einteilung der Philosophie. Von der spätantiken Einleitungsliteratur zur arabischen Enzyklopädie, Frankfurt 1985, S. 424–429. Vgl. auch Gottschalk [Anm. 60], S. 1090. 66 Primavesi [Anm. 51], S. 63–70. 67 Hein [Anm. 63], S. 417–419. 68 Plutarch, „Sulla“ 26; 468B; Porphyrios, „De vita Plotini“, 24,2–11.
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Mirjam E. Kotwick
Umfang auch immer – kompilierende Tätigkeit der Aristotelischen Schriften zuzuschreiben.70 Im Verzeichnis von Ptolemaios, das sich aus dem Katalog des Andronikos speist, ist die „Metaphysik“ ein Werk in 13 und nicht in 14 Büchern.71 Während die „Metaphysik“ im hellenistischen Verzeichnis von Diogenes Laertios, abgesehen von Buch Δ,72 ganz fehlt, ist im Verzeichnis bei Hesychios zusätzlich zur Nennung von Δ ein späterer, wohl aus dem frühen 1. Jahrhundert v. Chr. stammender Zusatz – der somit knapp vor Andronikos datiert werden kann – eingedrungen, der von einer „Metaphysik“ in zehn Büchern spricht.73 Die Tatsache, dass im Verzeichnis von Ptolemaios die „Metaphysik“ als Werk in 13 Büchern auftaucht, legt den Schluss nahe, dass die Erweiterung auf Andronikos zurückgeht.74 Doch wie können wir wissen, dass α ἔλαττον zu den Büchern gehört, die hinzugefügt wurden und wieso enthält diese „Metaphysik“ (noch) nicht die 14 uns bekannten Bücher? Zunächst liegt es nahe, die Differenz zwischen unseren 14 Büchern und den 13 der Edition des Andronikos eben dadurch zu erklären, dass α ἔλαττον in der Antike nicht als eigenständiges Buch gezählt wurde. Wie der Name andeutet, wurde es als Appendix75 zu „Groß Alpha“ hinzugefügt.76 Alexanders Kommentar belegt diese antike Zählweise. Er kommentiert den Inhalt und Status des (für uns) zweiten Buches, α ἔλαττον, ausführlich, zählt aber Buch B als zweites Buch.77 Dass α ἔλαττον tatsächlich in der 2. Hälfte des 1. Jahrhunderts v. Chr. zur „Metaphysik“ gehörte, belegt nun Nikolaos von Damaskus (* 64 v. Chr.), der sich in seiner Schrift „De philosophia Aristotelis“ direkt auf eine Textstelle in α 1 bezieht.78
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Barnes [Anm. 60], S. 26–27 und Moraux [ebd.], S. 58–94. Dabei hat Andronikos offenbar die vor-hellenistische Zählung der wiederentdeckten Schriften beibehalten und gegebenenfalls auf die anderen Bücher übertragen. Vgl. Primavesi [Anm. 51], S. 68. 71 Hein [Anm. 63], S. 429. 72 Diog. Laert. 5, 23; Zeile 293 Dorandi; Hesychios, Nr. 37; Düring [Anm. 63], S. 84. 73 Hesychios, Nr. 154; Düring [Anm. 63], S. 87. Dazu Jaeger [Anm. 30], S. 177–180, der davon ausgeht, dass diese „Metaphysik“ die Bücher Δ, K, Λ und α nicht enthielt. Vgl. auch Primavesi [Anm. 51], S. 70. 74 Barnes [Anm. 60], S. 62: „Perhaps, then, it was Andronicus who first produced the ‚Metaphysics‘.“ Vgl. auch Primavesi [Anm. 51], S. 70. 75 Vgl. Alexanders Beschreibung: ὡς μέρος βιβλίου (137,4), … ὥσπερ τινὰ προγραφόμενα καὶ προλεγόμενα (138,7–8]). 76 Vgl. Jaeger [Anm. 30], S. 178 und Primavesi [Anm. 51], S. 70. Siehe auch Kotwick 2016 [Anm. 11], S. 15–18. 77 Alex. „In Metaph.“ 257,10–16; 264,31. Vgl. auch 137,2–9. 78 Unter den im Arabischen erhaltenen Fragmenten des Werkes (F 21; Hendrik Joan Drossaart Lulofs: Nicolaus Damascenus on the Philosophy of Aristotle, Leiden 1965, S. 76, Zeile 137–139) befindet sich ein frei formuliertes Exzerpt der Textstelle in α 1, 993b9–11. 70
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Textkritik und indirekte Überlieferung
Somit dürfen wir abschließend festhalten, dass das Buch α ἔλαττον im 1. Jahrhundert v. Chr. im Zuge der Herausgabe des Andronikos in die „Metaphysik“ integriert worden ist und somit für uns als frühester ‚Bindefehler‘ verstanden werden kann. Alle uns direkt und indirekt, vollständig oder nur sehr sporadisch zugänglichen Textversionen der „Metaphysik“ gehen auf eine Ausgabe im 1. Jahrhundert v. Chr. zurück. Diese Version kann, wie eingangs vorgeschlagen, als Hyperarchetypus bezeichnet werden.
VII. Fazit Abschließend kann festgehalten werden, dass die textkritische Methode, angewandt auf die indirekte Überlieferung der „Metaphysik“, es uns erlaubt, durch die Identifizierung von Trenn- und Bindefehlern den Text der „Metaphysik“ weit über den Beginn der handschriftlichen Überlieferung im 9. Jahrhundert n. Chr. hinaus zurückzuverfolgen und die antike Überlieferungsgeschichte der „Metaphysik“ wenigstens in wichtigen Eckpunkten zu rekonstruieren. Alle uns direkt und indirekt zugänglichen Texte sind Nachfahren der Edition des Andronikos, mit der sie die Besonderheit oder den ‚Fehler‘ des Vorhandenseins des Buches α ἔλαττον teilen. In Anbetracht des langen Zeitraums, in dem wir mit Hilfe der indirekten Überlieferung die Tradierung der „Metaphysik“ verfolgen können, fällt auf, wie konstant der Text der „Metaphysik“ insgesamt war.
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7.2 ZITATFRAGMENT UND TEXTKRITIK Empedokles’ Theorie der Augenfunktion und der Text des Laternengleichnisses von Oliver P r i m a v e s i , München
Abstract (Deutsch und Englisch). – Einleitung: Problem und Methode. – 1. Die Empedokleische Theorie der Augenfunktion. – 2. Das Laternengleichnis. – 3. Unser hypothetisches Stemma zur Gleichnisüberlieferung und die Aristotelesforschung.
Abstract: Da von den Werken frühgriechischer Dichterphilosophen keine integralen mittelalterlichen Abschriften überliefert sind, hängt unsere Kenntnis dieser Werke in der Regel an ihrer indirekten Überlieferung durch erhaltene Prosawerke späterer Autoren, d.h. einerseits an wörtlichen Zitaten („Fragmenten“) und andererseits an Inhaltsangaben bzw. Stellungnahmen („Testimonien“). Mithin muss sich der Editor dieser Fragmente sowohl auf die Testimonien zu den einschlägigen Lehrstücken, als auch auf die zum Zitatfragment selbst überlieferten Textvarianten stützen, die im Lichte der Überlieferungsverhältnisse des zitierenden Werkes zu beurteilen sind. Andererseits weisen schwierige Dichterzitate oft eine gegenüber ihrem prosaischen Kontext erhöhte Dichte gravierender Leitfehler auf, so dass sich eine davon freie Handschrift besonders klar von der übrigen Überlieferung abhebt. Doch bevor man daraus auf einen von Hause aus unabhängigen Überlieferungszweig des zitierenden Werkes schließen kann, bleibt zu prüfen, ob hier nicht eher eine alte, unmittelbar aus dem zitierten Werk geschöpfte Emendation bewahrt geblieben ist. Diese komplexe Situation wird im vorliegenden Beitrag an einer kritischen Neuedition des Empedokleischen Laternengleichnisses (31 B 84 DK) exemplifiziert. Since complete manuscript copies of the works of early Greek philosopher poets are not extant, our knowledge of these works depends mainly on their indirect transmission by later prose authors: i.e., both on quotations (“fragments”) and on summaries and other references (“secondary sources”). Therefore, an editor of these fragments must put to use both the reports on the relevant philosophical doctrine and the transmitted textual variants of the quotation, which are to be judged in the light of the relationships between the extant manuscripts of the quoting work. On the other hand, difficult poetical quotations often display a higher ratio of significant errors than their prose contexts; in such cases, a manuscript that happens to be free from those errors stands out very clearly from the rest of the tradition. Yet before extrapolating from such a manuscript an independent branch of the transmission of the quoting work it remains to be seen whether one has not rather to assume the preservation of an ancient emendation based directly on the quoted work. In the present article, this complex situation will be illustrated by a new critical edition of Empedocles’ simile of the lantern (31 B 84 DK).
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Oliver Primavesi
Einleitung: Problem und Methode Bruno Snell […] machte mich mit dem Grundsatz vertraut, dass Philologie ohne Textkritik ein nichtiges Spiel bleibt. Hartmut Erbse (1950)
Der frühgriechische Dichterphilosoph Empedokles wurde um 484/483 v. Chr. in der dorischen Kolonie Akragas (heute: Agrigento) an der Südküste Siziliens geboren und starb sechzigjährig um 424/423 v. Chr.; er zählt mit Anaxagoras und Demokrit zu den bedeutendsten Denkern der Generation nach Parmenides. Die Werke des Empedokles sind nur fragmentarisch überliefert.1 Dabei ist die Überlieferung größtenteils indirekt, d.h. sie besteht aus ‚Zitatfragmenten‘ (Zitaten originalen Wortlauts bei anderen Autoren), und ‚doxographischen‘, d.h. auf seine Lehren bezogenen Berichten. Bei Empedokles kommen aber Fragmente direkter Überlieferung hinzu, in concreto: Bruchstücke einer gegen Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. hergestellten Abschrift des vollständigen Textes („Straßburger Empedoklespapyrus“),2 was bei den bedeutenden Philosophen vor Platon sonst nicht vorkommt. Die überlieferten Fragmente originalen Wortlauts sind durchweg im Versmaß des epischen Hexameters abgefasst, doch stammen sie aus zwei verschiedenen Gedichten: zum einen aus den mythologisch-ethischen ‚Reinigungen‘ (Katharmoi) in zwei Büchern, die sich als ein offener Brief geben, der an ein größeres Publikum gerichtet ist, und die einmal sogar bei den Olympischen Spielen rezitiert wurden, und zum andern aus dem
1
Empedokles wird im Folgenden durchweg nach dem Text zitiert, den der Verfasser zu dem Werk „Die Vorsokratiker Griechisch/Deutsch“ von Mansfeld/Primavesi beigesteuert hat, und zwar nach dessen soeben erschienener Neuausgabe: Jaap Mansfeld, Oliver Primavesi (Hg.): Die Vorsokratiker Griechisch/Deutsch. Ausgewählt, übersetzt und erläutert, überarbeitete und erweiterte Neuausgabe, Stuttgart 2021 (im Folgenden: MP2). Wo möglich, fügen wir unter der Sigle DK die Numerierung des EmpedoklesKapitels der Fragmente der Vorsokratiker von Hermann Diels hinzu, und zwar nach Walther Kranz (Hg.): Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch von Hermann Diels, Sechste Aufl., erster Band, Berlin 1951, S. 276–375 (Nachdruck der Fünften Auflage von 1934) mit dem Nachtrag auf S. 498–501. Auf von Kranz in der fünften Auflage von 1934 vorgenommene Änderungen bzw. Ergänzungen und auf seinen Nachtrag von 1951 verweisen wir im Folgenden einfach mit: Kranz. 2 Editio princeps: Alain Martin, O. Primavesi: L’Empédocle de Strasbourg. Introduction, édition et commentaire, Berlin, New York 1999. Zu den textkritischen Konsequenzen des Neufundes für bereits zuvor aus Zitaten bekannte Verse vgl. Oliver Primavesi: Editing Empedocles. Some longstanding problems reconsidered in the light of the Strasburg papyrus, in: Fragmentsammlungen philosophischer Texte der Antike — Le raccolte dei frammenti di filosofi antichi. Atti del Seminario Internazionale Ascona, Centro Stefano Franscini, 22–27 Settembre 1996, hg. v. Walter Burkert u.a., Göttingen 1998, S. 62–88. Eine Rekonstruktion des Textzusammenhangs, dem die Papyrusfragmente entstammen, bietet Oliver Primavesi: Empedokles Physika I. Eine Rekonstruktion des zentralen Gedankengangs, Berlin, New York 2008.
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Zitatfragment und Textkritik
Naturgedicht (Physika) in drei Büchern, das als mündliche Unterweisung eines fortgeschrittenen Einzelschülers stilisiert ist. Die auf viele antike Autoren verteilten, wörtlichen Empedokles-Zitate wurden schon in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts erstmals zu einer Fragmentsammlung zusammengestellt.3 Doch als man seit dem frühen 17. Jahrhundert dann auch die systematische Rekonstruktion der von Empedokles in den Physika vorgetragenen Theorie der Natur in Angriff nahm, stützte man sich zunächst nicht so sehr auf die oftmals korrupt überlieferten und deshalb schwer verständlichen Zitatfragmente, als vielmehr, wie auch im Falle anderer frühgriechischer Denker, auf die doxographischen Berichte.4 Erst Hermann Diels schuf im Rahmen seiner „Poetarum Philosophorum Fragmenta“ (1901) eine Empedoklesausgabe, in der eine Auswahl der wichtigsten doxographischen (und biographischen) Berichte (‚A-Texte‘) mit einer nach damaligem Kenntnisstand vollständigen Sammlung der Zitatfragmente (‚B-Texte‘) verbunden war.5 Damit war zugleich das Spannungsfeld zwischen den A-Texten und den B-Texten etabliert, in dem sich die Vorsokratikerforschung seither vollzieht, die Spannung zwischen der sekundären, oft hilfreich systematisierenden, aber terminologisch anachronistischen Doxographie (A) einerseits und den originalen, aber inhaltlich begrenzten und sprachlich schwierigen Fragmenten (B) andererseits. Diese Lage hat Uvo Hölscher am Beispiel des Anaximander, d.h. des frühesten
3
Die erste Zusammenstellung legte Henri II Estienne (1531–1598) auf den Seiten 17–31 seiner Poiesis philosophos von 1573 vor, die darauf aufbauende, viel reichhaltigere Sammlung des Joseph Justus Scaliger (1540–1609) blieb ungedruckt, ist aber in Scaligers Manuskript in der Universiteitsbibliotheek Leiden erhalten (Ms. Scal. 25; f. 97r–101r: Hesiodi reliquiae; f. 102r–109v: Empedoclis carmina; f. 110r–112v: Parmenidis carmina; f. 113r–120v: Orphei carmina); zu beiden Sammlungen vgl. Oliver Primavesi: Henri II Estienne über philosophische Dichtung. Eine Fragmentsammlung als Beitrag zu einer poetologischen Kontroverse, in: The Presocratics from the Latin Middle Ages to Hermann Diels. Akten der 9. Tagung der Karl und Gertrud Abel-Stiftung vom 5.–7. Oktober 2006 in München, hg. v. O. Primavesi und K. Luchner, Stuttgart 2011, S. 157–196, zu Scaliger: S. 170–172. 4 Ein frühes Beispiel dafür liefert eine Vorlesung des Pisaner Philosophiedozenten Scipione Aquiliano (1577–1623), in der Aristoteles’ Darstellung der Prinzipienlehren seiner vorsokratischen Vorgänger durch eine Fülle weiterer Testimonien erläutert wird; diese Vorlesung wurde durch einen Schüler Aquilianos veröffentlicht: Scipionis Aquiliani Pisani De Placitis Philosophorum, qui ante Aristotelis tempora floruerunt, Ad Principia Rerum Naturalium, & causas motuum assignandas pertinentibus, Venedig 1620. Speziell zu Empedokles vgl. Cap. XXII (S. 102): Quot & quæ fuerint Empedocli principia rerum; Cap. XXIII (S. 111): Quæ Empedocles de ijsdem principijs dixerit; Cap. XXIV (S. 121): Quæ iuxta Empedoclis opinionem de generatione & corruptione alijsque motus speciebus dicenda videantur. 5 Hermann Diels (Hg.): Poetarum philosophorum fragmenta, Berlin 1901, S. 74–168 (im Folgenden: Diels 1901). Demgegenüber hat Diels im Empedokleskapitel seiner Fragmente der Vorsokratiker (Hermann Diels [Hg.]: Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch, Dritte Auflage, Erster Band, Berlin 1912, S. 193–283 [im Folgenden: Diels 1912]) eine deutsche Übersetzung der Zitatfragmente beigefügt, während die Dokumentation der Quellentexte und ihrer Lesarten dort stark gekürzt ist.
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Oliver Primavesi
Vorsokratikers, aus dessen Werk ein wörtliches Zitat überliefert ist, treffend wie folgt charakterisiert (Zusätze in eckigen Klammern von uns):6 Der Satz Hermann Fränkels, daß alle doxographischen Berichte [= A] so lange unbestimmt sind, als nicht originaler Wortlaut [= B] hinzukommt, gilt in gewissem Sinne auch umgekehrt. Denn obwohl jener Satz gerade auch mit Rücksicht auf Anaximander gesagt worden ist, hat doch die Diskussion des Anaximanderfragments [= B] gezeigt, wie vieldeutig ein Satzbruchstück bleibt, wenn man es für sich betrachtet, aber auch, wie viel Hilfe aus der Analyse der Überlieferung [= A] kommen kann.
In diesem Spannungsfeld kann sich auch die Textkritik eines vorsokratischen Zitatfragments als ein einigermaßen komplexes Unterfangen erweisen: Nimmt man sie in Angriff, dann muss man seine Aufmerksamkeit für eine gewisse Zeit von dem betreffenden vorsokratischen Denker selbst abwenden und sie einerseits der doxographischen Tradition, andererseits dem zitierenden Autor zuwenden. Einerseits muss man, um die gerade auch textkritisch entscheidende Frage nach dem möglichen Sachgehalt des problematischen Zitatfragments beantworten zu können, die thematisch einschlägigen doxographischen Referate umfassend heranziehen und sie sorgfältig darauf prüfen, ob sich dort ein genau stimmender inhaltlicher Anknüpfungspunkt für das Fragment bzw. eine seiner überlieferten Gestalten ermitteln lässt. Andererseits muss man sich ein eigenes Urteil über die Frage bilden, welcher Wortlaut bzw. welche Textvarianten des textlich problematischen Zitatfragments überhaupt als ursprünglich überliefert gelten können, und hierzu reichen die in einer Fragmentsammlung mitgeteilten Lesarten des Quellentextes, dem das Zitat entstammt, in der Regel nicht hin: Um sicherzugehen, dass man alle textkritisch wichtigen Lesarten kennt und das überlieferungsgeschichtliche Gewicht der sie jeweils bietenden Zeugen richtig beurteilt, muss man auf eine gute kritische Edition des Quellentextes zurückgehen und diese ggf. durch eigene, weiterführende Forschung zur Überlieferung dieses Quellentextes ergänzen. Hierbei empfiehlt es sich, die Überlieferung eines Zitats aus einem vorsokratischen Werk von zwei diametral auseinanderliegenden, zueinander komplementären Sehepunkten aus zu betrachten. Einerseits ist leicht einzusehen, dass das Urteil über die handschriftliche Überlieferung eines solchen Zitates mit der korrekten Beurteilung der Überlieferungsverhältnisse des zitierenden Quellentextes steht und fällt. Andererseits aber lassen sich Überlieferungsverhältnisse nach Paul Maas gar nicht anders beurteilen als am Leitfaden bestimmter, aussagekräftiger Fehler, d.h. solcher, deren gemeinsames Vorliegen zwei oder mehrere Zeugen gegen alle übrigen zu einer Familie zusammenschließt (Bindefehler), und solcher, deren Fehlen in einem Zeugen seine Unabhängigkeit von
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Uvo Hölscher: Anaximander und der Anfang der Philosophie, in: Hermes 81, 1953, S. 257–277 und S. 385–418, hier: S. 257.
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allen mit diesen Fehlern behafteten Zeugen erweist (Trennfehler).7 Im Hinblick auf derartige ‚Leitfehler‘ kann nun ein aus seinem originalen Kontext herausgelöstes, sprachlich schwieriges Zitat heuristisch besonders ergiebig sein: Wegen der erhöhten Schwierigkeit des elementaren Wortverständnisses wurden die in einem ohnehin rätselhaften Zitat unterlaufenen Schreibfehler unter Umständen zunächst übersehen, so dass sie nicht mehr anhand der Vorlage korrigiert wurden. Daraus kann sich in der Überlieferung des Zitats eine erhöhte Konzentration gravierender Fehler ergeben, von der sich die überlegene Qualität einzelner Zeugen gegebenenfalls besonders deutlich abhebt. Allerdings ist dann zu klären, ob solche vielversprechenden Zeugen ihren überlegenen Zitatwortlaut der Abstammung von einem unabhängigen Überlieferungszweig verdanken oder einer aus dem originalen Zitatkontext geschöpften Emendation. Hierzu hat man sie auch außerhalb des Zitats auf ihre Unabhängigkeit zu prüfen. Die damit allgemein umrissene methodische Situation wollen wir in der vorliegenden Abhandlung am Beispiel eines Empedokleischen Gleichnisses verdeutlichen, das durch ein Zitat in Aristoteles’ De sensu erhalten geblieben ist und mit dem Empedokles einen bestimmten Aspekt seiner Theorie der Augenfunktion illustrieren möchte. Beschrieben wird, wie ein Mann vor einem Ausgang in stürmischer Winternacht außen vor seiner Haustüre die Funktionsfähigkeit seiner Laterne prüft. Alles kommt hierbei auf die Wände der Laterne an: Diese müssen einerseits das Licht, das von dem Feuer in der Laterne ausgeht, nach außen dringen lassen, andererseits aber dürfen sie dem außen wehenden Sturmwind keinen Einlass in die Laterne gewähren, weil sonst das Feuer erlöschen würde. Der Sachgehalt und der Wortlaut dieses Gleichnisses können nun geradezu als Modellfall der Schwierigkeiten gelten, mit denen man bei der Textkritik von Zitatfragmenten zu rechnen hat. Die sachliche Schwierigkeit besteht hier darin, dass Empedokles den Sehvorgang nach dem übereinstimmenden Zeugnis von Platon und Theophrast darauf zurückgeführt hat, dass bestimmte Elementteilchen, die von den Gegenständen optischer Wahrnehmung abfließen, durch geeignete Öffnungen (‚Poren‘) ins Augeninnere einströmen und eben damit die Wahrnehmung auslösen: Feuerteilchen die Wahrnehmung von Hellem, Wasserteilchen die Wahrnehmung von 7
Paul Maas: Leitfehler und stemmatische Typen, in: Byzantinische Zeitschrift 37, 1937, S. 289–294 (wiederabgedruckt in: Ders., Textkritik, Vierte Auflage, Leipzig 1960, S. 26–30), hier: S. 290 (= 26): „Die Zusammengehörigkeit zweier Zeugen (B und C) gegenüber einem dritten (A) wird erwiesen durch einen den Zeugen B und C gemeinsamen Fehler, der so beschaffen ist, daß aller Wahrscheinlichkeit nach B und C nicht unabhängig voneinander in diesen Fehler verfallen sein können. Solche Fehler mögen ‚Bindefehler‘ heißen (errores coniunctivi).“ Ebd., S. 289 (= 26): „Die Unabhängigkeit eines Zeugen (B) von einem anderen (A) wird erwiesen durch einen Fehler von A gegen B, der so beschaffen ist, daß er, nach unserem Wissen über den Stand der Konjekturalkritik in der Zeit zwischen A und B, in dieser Zeit nicht durch Konjektur entfernt worden sein kann. Solche Fehler mögen ‚Trennfehler‘ heißen (errores separativi).“
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Dunklem. Hingegen wird in dem kunstvollen Laternengleichnis offenkundig nur das Ausströmen von Feuerteilchen aus dem Auge veranschaulicht, nicht aber das Einströmen von Feuerteilchen, und von Wasser ist überhaupt nur insoweit die Rede, als sein Einströmen verhindert wird: Vom eigentlichen Sehvorgang kann hier also jedenfalls nicht die Rede sein. Die Frage aber, welchen anderen in der Empedokleischen Augentheorie behandelten Vorgang das Gleichnis veranschaulicht, konnte bisher nicht schlüssig beantwortet werden, erst recht nicht die Frage, welcher Aspekt der Empedokleischen Augentheorie neben der Erklärung des eigentlichen Sehvorgangs so wichtig sein kann, dass er die Hervorhebung durch ein so kunstvoll ausgeführtes episches Gleichnis überhaupt verdient. Der Grund dafür liegt darin, dass die beiden genannten Aufgaben – einerseits die Erschließung der doxographisch überlieferten Theorie, andererseits die Kenntnis und Bewertung der direkten wie der indirekten Überlieferung des Quellentextes – im vorliegenden Fall bisher auch nicht annähernd gelöst wurden. Zum einen wurden die doxographischen Zeugnisse zu der dem Gleichnis zugrundeliegenden Empedokleischen Theorie der Wahrnehmung im Allgemeinen und der Augenfunktion im Besonderen in der bisherigen Forschung zum Gleichnis nur erstaunlich selektiv zur Kenntnis genommen. Zum andern wurde ein radikaler, bereits im Jahre 1883 unternommener Vorstoß zur Neubewertung der im Aristotelischen Quellentext (De sensu) überlieferten, extrem divergenten Lesarten des Gleichnistextes zunächst gar nicht und bis heute nicht konsequent auf seine überlieferungsgeschichtlichen Konsequenzen hin bedacht. Hinzu kommt, dass die Auseinandersetzung mit den mittelalterlichen lateinischen Übersetzungen dieses Quellentextes teils völlig versäumt wurde, teils zu flüchtig geriet, und dass auch eine im Sommer 1887 in die Kgl. Bibliothek zu Berlin gelangte Aristoteleshandschrift, der für die Beurteilung der Überlieferungsverhältnisse eine Schlüsselrolle zukommt, allen bisherigen Editoren des Aristotelischen Quellentextes schlicht unbekannt geblieben ist. So wurde die bisherige Forschung zum Gleichnis durch ein verschwommenes Bild sowohl der relevanten Theorie als auch der Textüberlieferung behindert. Diesem unbefriedigenden Forschungsstand sucht die folgende Argumentation in drei Schritten abzuhelfen. Wir werden (1.) vor allem anhand der Platonischen und Theophrastischen Zeugnisse die Empedokleische Theorie der Sinneswahrnehmung bis zu demjenigen, zur Erklärung des Laternengleichnisses bisher gar nicht herangezogenen Lehrstück der Augentheorie resümieren, von dem aus sich der Sachgehalt dieses Gleichnisses in den Grundzügen erschließen lässt. Dann werden wir uns (2.) dem Gleichnis selbst und den ihm anhaftenden Text- und Deutungsproblemen zuwenden und klären, wie weit sich diese Probleme schon im Lichte der Empedokleischen Theorie lösen lassen, und welchen Beitrag zur Lösung der verbleibenden Probleme eine Überprüfung und Neubewertung der direkten wie der indirekten Überlieferung des Gleichnistextes leisten kann. Das dabei erzielte Ergebnis wollen wir abschließend (3.) an den Resultaten der neueren Überlieferungsforschung zum Aristotelischen Quellentext im Allgemeinen 432
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messen und dabei zugleich die methodischen Schwierigkeiten analysieren, die nicht nur der korrekten Beurteilung, sondern sogar der Wahrnehmung entscheidender Zeugen lange Zeit entgegengestanden haben.
1. Die Empedokleische Theorie der Augenfunktion 1.1 Das Empedokleische Naturgedicht und seine Prinzipienlehre. – 1.2 Der Empedokleische Grundsatz ‚Gleiches zu Gleichem‘. – 1.3 Die Empedokleische Theorie der Sinneswahrnehmung. – 1.4 Empedokles’ Theorie der Augenfunktion nach Simplikios, Platon und Theophrast.
Wer einen Text konstituieren will, muß ihn verstehn; es geht wirklich nicht anders. Ulrich von Wilamowitz (1896)
1.1 Das Empedokleische Naturgedicht und seine Prinzipienlehre Im Naturgedicht ist der streng vertrauliche Lehrvortrag eines sterblichen Lehrers an seinen mitunter etwas begriffsstutzigen Schüler (‚Pausanias‘) dichterisch nachgestaltet. Der Lehrvortrag enthält eine umfassende Naturerklärung, die auf der Annahme von sechs ungewordenen und unvergänglichen Prinzipien beruht, nämlich den vier Elementen Feuer, Wasser, Erde und Luft sowie den beiden Kräften Streit und Liebe.8 Die Liebe hat die Funktion, verschiedene Elemente bzw. Elementportionen zu organischen Verbindungen (‚Lebewesen‘) zusammenzufügen, während der Streit die Funktion hat, solche organischen Verbindungen wieder aufzulösen.9 Die Eigenfunktion der Elemente aber liegt im ‚Streben des Gleichen zu Gleichem‘. 1.2 Der Empedokleische Grundsatz ‚Gleiches zu Gleichem‘ Dem ihnen inhärenten Streben des Gleichen zum Gleichen geben Elementteile sich hin, sobald der Streit sie aus einer organischen Verbindung gelöst hat. Eine originale Formulierung des Theorems liefert, auf das Feuer angewendet, eine Stelle aus dem zweiten Buch der Physika, an der der Empedokleische Lehrer die Tendenz des Feuers beschreibt, sich vom Erdmittelpunkt fort nach oben zu bewegen, um sich dort mit seinesgleichen, nämlich mit der Sonne, zu vereinigen:10 θέλον πρὸς ὁμοῖον ἱκέσθαι im Bestreben, zum Gleichen zu gelangen. 8
Empedokles Fr. 66b MP2, Verse 249–251 (Simplikios, In Phys. S. 158 Diels = DK 31 B 17, 18–20) πῦρ καὶ ὕδωρ καὶ γαῖα καὶ αἰθέρος ἄπλετον ὕψος. / Νεῖκός τ᾿ οὐλόμενον δίχα τῶν, ἀτάλαντον ἁπάντηι, / καὶ Φιλότης ἐν τοῖσιν, ἴση μῆκός τε πλάτος τε. 9 Empedokles Fr. 68b MP2, Verse 3–7 (Simplikios, In Phys. S. 33 Diels = DK 31 B 26, 3–7): αὐτὰ γάρ ἐστιν ταῦτα, δι᾽ ἀλλήλων δὲ θέοντα / γίνοντ᾽ ἄνθρωποί τε καὶ ἄλλων ἔθνεα θηρῶν / ἄλλοτε μὲν Φιλότητι συνερχόμεν᾽ εἰς ἕνα κόσμον, / ἄλλοτε δ᾽ αὖ δίχ᾽ ἕκαστα φορεύμενα Νείκεος ἔχθει, / εἰσόκεν ἓν συμφύντα τὸ πᾶν ὑπένερθε γένηται. 10 Empedokles Fr. 164 MP2, Vers 6 (Simplikios, In Phys. S. 382,1 Diels = DK 31 B 62, Vers 6): τοὺς μὲν π ῦ ρ ἀνέπεμπε θ έ λ ο ν π ρ ὸ ς ὁ μ ο ῖ ο ν ἱ κ έ σ θ α ι .
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Auf das erwähnte Empedokleische Theorem spielt in allgemeiner Form bereits Platon an:11 Dann bist du doch sicherlich auch auf die Schriften der Weisesten gestoßen, die eben genau dieses sagen, dass das Gleiche dem Gleichen notwendigerweise immer lieb ist? Diese Autoren dürften aber diejenigen sein, die sich über die Natur und das All unterhalten und Schriften verfassen.
Aufgrund dieses Strebens liegen die Elemente im uns bekannten Weltzustand nicht nur in vielerlei organischen Verbindungen (Lebewesen) vor; vielmehr haben sich – ermöglicht durch das zunehmende Trennungswirken des Streites – vier mächtige, konzentrisch umeinander geschichtete, homogene Massen herausgebildet: Erdkugel, See, Atmosphäre, Sonne. Andererseits bildet jede von diesen Massen mit den mit ihnen zwar stofflich identischen, aber in Lebewesen gebundenen Elementteilen ein Netzwerk:12 Denn verbunden sind all diese Elemente mit ihren Teilen, also die strahlende Sonne, die Erde, der Himmel und die See mit allen, die abgeschlagen den sterblichen Wesen eingewachsen sind.
Dieser Netzwerk-Charakter jedes der vier göttlichen Elemente kommt in ihrer Empedokleischen Bezeichnung als rhizo¯mata (‚Wurzelsysteme‘ d.h. ‚elementare Netzwerke‘) treffend zum Ausdruck:13 Die vier Wurzelsysteme aller Dinge höre zuerst: blitzender Zeus und lebenspendende Hera und Aïdoneus und Nestis, die mit ihren Tränen tränkt, was den Sterblichen entströmt!
Nach der im Altertum herrschenden Auslegung dieser Verse steht Zeus hier für das Feuer, Hera für die Erde, Aïdoneus (= Hades) für die Luft und Nestis (≈ Persephone) für das Wasser.14 Mittels der Götternamen und -attribute wird 11
Empedokles Fr. 60 MP2 (Platon, Lysis 214b 2–5; vgl. den Nachtrag zu DK 31 B 62, Vers 6): Οὐκοῦν καὶ τοῖς τῶν σοφωτάτων συγγράμμασιν ἐντετύχηκας ταῦτα αὐτὰ λέγουσιν, ὅτι τ ὸ ὅ μ ο ι ο ν τ ῶ ι ὁ μ ο ί ω ι ἀ ν ά γ κ η ἀ ε ὶ φ ί λ ο ν ε ἶ ν α ι ; εἰσὶν δέ που οὗτοι οἱ περὶ φύσεώς τε καὶ τοῦ ὅλου διαλεγόμενοι καὶ γράφοντες. 12 Empedokles Fr. 58 MP2, Verse 1–3 (Simplikios, In Phys. S. 160–161 D.; DK 31 B 22, Verse 1–3): ἄρθμια μὲν γὰρ αῦτα ἑαυτῶν πάντα μέρεσσιν, / ἠλέκτωρ τε χθών τε καὶ οὐρανὸς ἠδὲ θάλασσα, / ὅσσα φιν ἐν θνητοῖσιν ἀποπλαγχθέντα πέφυκεν. 13 Empedokles Fr. 49b MP2 (Sextus Empiricus, Adv. dogm. IV 315 u. Aëtios I 3,19, Part 1, S. 206 M./R.; DK 31 B 6): τέσσαρα γὰρ πάντων ῥιζώματα πρῶτον ἄκουε / Ζεὺς ἀργὴς Ἥρη τε φερέσβιος ἠδ᾽ ᾽Αιδωνεύς / Νῆστίς θ᾽, ἣ δακρύοις τέγγει κρούνωμα βρότειον. 14 Dies gilt insbesondere auch für das Zeugnis des Aëtios (Empedokles Fr. 49c MP2), das entgegen älterer Forschungsmeinung gemäß dem bei Stobaios (I 10, 11b, S. 121,16–20 Wachsmuth) und beim arabischen Ps.-Plutarch (Qusṭa¯ S. 104–105 Daiber) im Kern übereinstimmend überlieferten Wortlaut herzustellen ist: Δία μὲν λέγει τὴν ζέσιν καὶ τὸν αἰθέρα, Ἥραν δὲ φερέσβιον τὴν γῆν, ἀέρα δὲ τὸν Ἀιδωνέα, […] Νῆστιν δὲ καὶ κρούνωμα βρότειον τὸ σπέρμα καὶ τὸ ὕδωρ. Dass Stobaios und Ps.-Plutarch auch hier aus ein und derselben Quelle, d.h. aus Aëtios, schöpfen, ergibt sich daraus, dass nur diese beiden Zeugen, im Gegensatz zur übrigen Überlieferung, die idiosynkratischen Formeln τὴν ζέσιν καὶ τὸν αἰθέρα für das Feuer und τὸ σπέρμα καὶ τὸ ὕδωρ für das Wasser aufweisen.
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in der Sprache des Mythos die in der Bezeichnung rhizo¯mata liegende Vorstellung vielverzweigter Element-Netzwerke veranschaulicht, und zwar dahingehend, dass damit die Verbindung und Interaktion der großen Elementmassen mit den mit ihnen jeweils stofflich identischen, aber exilierten, d.h. in Lebewesen gebundenen Elementteilen angezeigt wird.15 Diese Netzwerke sind es, die sich in dem bereits erwähnten Sachverhalt manifestieren, dass jedes Elementteil, sobald es durch den Streit aus einer organischen Verbindung gelöst ist, sich gemäß dem Streben des Gleichen zu Gleichem mit einer Elementmasse zu vereinigen sucht, die mit ihm stofflich identisch ist. Dieses Streben wirkt sich auch auf das menschliche Denken aus. So warnt der Empedokleische Lehrer seinen Schüler Pausanias vor Gedankenverlust durch unkonzentrierte Lebensweise; denn auch wenn (um mit Goethe zu sprechen) seine „starke Geisteskraft / die Elemente / an sich herangerafft“ hat,16 werden die betreffenden Elementteile ihn dann, wenn er sich mit nichtigen Zerstreuungen abstumpft, sogleich wieder verlassen, um zu den mit ihnen jeweils stofflich identischen Elementvorkommen zu gelangen:17 Wenn du aber nach andersartigen Dingen trachtest – wie es ja bei Männern zahllose nichtige Dinge gibt, die ihre Gedanken abstumpfen –, dann werden sie dich bestimmt im Nu verlassen, begierig, im Umlauf der Zeit wieder zu ihrer eigenen Sippe zu gelangen. Denn du sollst wissen, dass sie alle Empfindung haben und ihren Anteil an Urteilskraft.
Die für das Streben des ‚Gleichen zum Gleichen‘ relevante Gleichheit besteht, den bisher zitierten Stellen zufolge, durchweg in der stofflichen Identität. Umso mehr wird im Folgenden der Sachverhalt im Auge zu behalten sein, dass mit ‚Gleichheit‘ Verschiedenes gemeint sein kann: nicht nur eine stoffliche Identität, sondern z.B. auch eine Übereinstimmung in der geometrischen Form.
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Der ‚blitzende Zeus‘ schleudert auf unseren Lebensraum feurige Brandgeschosse; seine Gemahlin, die ‚lebenspendende Hera‘ sichert mit den Früchten der Erde unsere Ernährung; ‚A-ïdoneus‘ d.h. der ‚unsichtbar machende‘ Totenherrscher Hades, herrscht über die Unterwelt, deren neblige Luft (Aër, wozu Bruno Snell: Hera als Erdgöttin, in: Philologus 96, 1944, S. 159–160, auf Ilias 15 [O] 191: Ἀίδης δ᾽ ἔλαχε ζόφον ἠ ε ρ ό ε ν τ α verwiesen hat) uns den Blicken unserer Mitmenschen für immer entzieht; seine Gemahlin ‚Ne¯stis‘ schließlich, die ‚in Trauer fastende‘ Totengöttin Persephone, speist (nach Christian Gottlob Heyne: Vorrede, in: Dieterich Tiedemann, System der stoischen Philosophie, Erster Theyl, Leipzig 1776, S. III–XVIII, hier: S. VIII–IX, Anm. zu S. VIII) mit ihrem Wasser den Tränenstrom der Hinterbliebenen. 16 Goethe Faust II, Verse 11958–11960. 17 Empedokles Fr. 125 MP2 (Hippol. Ref. VII 29,26; DK 31 B 110), Verse 6–10: εἰ δὲ σύ γ᾽ ἀλλοίων ἐπορέξεαι, οἷα κατ᾽ ἄνδρας / μυρία δειλὰ πέλονται ἅ τ᾽ ἀμβλύνουσι μερίμνας, / ἦ σ᾽ ἄφαρ ἐκλείψουσι, περιπλομένοιο χρόνοιο / σφῶν αὐτῶν ποθέοντα φίλην ἐπὶ γένναν ἱκέσθαι· / πάντα γὰρ ἴσθι φρόνησιν ἔχειν καὶ γνώματος αἶσαν.
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1.3 Die Empedokleische Theorie der Sinneswahrnehmung 1.3.1 ‚Gleiches mit Gleichem‘ als allgemeine Erklärung der Sinneswahrnehmung. – 1.3.2 Die Abflusshypothese. – 1.3.3 Die Wahrnehmung von Elementteilchen mittels geometrisch gleicher Poren. – 1.3.4 Das Streben zum materiell Gleichen als Bewegungsursache?
Die systematische Sammlung der naturphilosophischen Lehrmeinungen (Physikai doxai) älterer Philosophen, die Theophrast von Eresos (ca. 371–ca. 287 v. Chr.), der engste Schüler und Mitarbeiter des Aristoteles, zusammengestellt hat,18 ist zwar zum größeren Teil verloren, doch gerade das Kapitel über die Sinneswahrnehmungen wurde unter dem Titel Περὶ αἰσθήσεων (De sensibus)19 gesondert überliefert und blieb erhalten.20 In diesem Kapitel wird Empedokles von Theophrast denjenigen Denkern zugezählt, die die Sinneswahrnehmung als ein Erfassen des Gleichen mit dem Gleichen erklärt haben. Nimmt man dieses Theophrast-Kapitel mit den einschlägigen Nachrichten und Zitaten bei Platon, Aristoteles und Plutarch zusammen, kann man sich von der Wahrnehmungstheorie des Empedokles und insbesondere von seiner Theorie des Sehens eine für unsere Zwecke hinreichend genaue Vorstellung machen, auch wenn manche Frage offenbleiben muss. 1.3.1 ‚Gleiches mit Gleichem‘ als allgemeine Erklärung der Sinneswahrnehmung Nach Theophrast lassen sich die meisten griechischen Denker hinsichtlich ihrer allgemeinen Grundannahmen über die Sinneswahrnehmung (aisthe¯sis) in zwei Gruppen einteilen. Nach den Denkern der ersten Gruppe, zu denen er neben Parmenides und Platon insbesondere auch Empedokles rechnet, kommt jegliche Sinneswahrnehmung durch dasjenige in uns zustande, das dem Wahrnehmungsgegenstand gleich ist (‚Gleiches mit Gleichem‘), hingegen nach den Denkern der zweiten Gruppe, wie Anaxagoras und Heraklit, durch dasjenige in uns, das dem Wahrnehmungsgegenstand entgegengesetzt ist (‚Entgegengesetztes mit Entgegengesetztem‘).21 Empedokles und die anderen Vertreter des Grundsatzes ‚Gleiches
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Zum ‚Sitz im Leben‘ dieses verlorenen Werkes vgl. Jaap Mansfeld: Physikai doxai and problêmata physika in Philosophy and Rhetoric. From Aristotle to Aëtius (and Beyond), in: Ders., David T. Runia: Aëtiana. The Method and Intellectual Context of a Doxographer, Volume Three. Studies in the Doxographical Tradition of Ancient Philosophy, Leiden, Boston 2010, S. 33–97, hier: S. 33–41 und 94–97. 19 Zum griechischen Titel vgl. Doxographi Graeci. Collegit Hermannus Diels, Berlin 1879, S. 114 Anm. 1 (im Folgenden zitiert als Diels, Dox.). 20 Im Folgenden zitiert nach Diels, Dox. [Anm. 19], S. 497–527. Zu Methode und Zielstellung von Theophrasts Werk vgl. Han Baltussen: Theophrastus Against the Presocratics and Plato. Peripatetic Dialectic in the De sensibus, Leiden 2000. 21 Theophrast, Sens. 1 (Diels, Dox. [Anm. 19], S. 499,1–4): Περὶ δ’ αἰσθήσεως αἱ μὲν πολλαὶ καὶ καθόλου δόξαι δύ’ εἰσίν· οἱ μὲν γὰρ τῶι ὁμοίωι ποιοῦσιν, οἱ δὲ τῶι ἐναντίωι. Παρμενίδης μὲν καὶ Ἐμπεδοκλῆς καὶ Πλάτων τῶι ὁμοίωι, οἱ δὲ περὶ Ἀναξαγόραν καὶ Ἡράκλειτον τῶι ἐναντίωι.
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mit Gleichem‘ hätten ihre Überzeugung auf die Beobachtung gegründet, dass Fremdes oder Unverständliches sich am besten am Leitfaden gleichartiger Erscheinungen erklären lasse, d.h. aufgrund von Analogien, und dass alle Lebewesen von Natur aus ihre Blutsverwandten als solche erkennten.22 Ferner seien sie von der Erwägung ausgegangen, dass „einerseits die Wahrnehmung durch einen Element-Abfluss vom Wahrnehmungsgegenstand bewirkt werde und andererseits das Gleiche sich zum Gleichen bewege“.23 Diese Engführung der (für die Wahrnehmung mit Gleichem grundlegenden) Abflusstheorie mit dem Streben zum Gleichen legt die Erwartung nahe, dass zwischen ‚mit Gleichem‘ und ‚zum Gleichen‘ ein sachlicher Zusammenhang besteht – doch erschließt sich nicht auf Anhieb, worin dieser Zusammenhang bestehen soll. Es erscheint nämlich als sehr fraglich, dass die für die Wahrnehmung ‚des Gleichen mit Gleichem‘ relevante Gleichheit abermals, wie beim Streben des ‚Gleichen zum Gleichen‘, in einer stofflichen Identität besteht. Zwar hat man eine bejahende Antwort auf diese Frage gelegentlich den folgenden drei Versen entnehmen wollen:24 Denn mit Erde haben wir im Sinn (wörtlich „haben wir erblickt“: opo¯pamen) die Erde, mit Wasser das Wasser, mit Äther den strahlenden Äther, aber mit Feuer das vernichtende Feuer; die Liebe mit Liebe und den Streit mit unheimlichem Streit.
Doch scheitert diese Auffassung schon an der von Theophrast hinzuzitierten Fortsetzung, die außer Zweifel stellt, dass der Empedokleische Lehrer sich hier gar nicht auf den Sehsinn bezieht, sondern auf das Denken (φρονεῖν) und auf Emotionen wie Vergnügen (ἥδεσθαι) und Ärger (ἀνιᾶσθαι):25 Denn aus diesen ist alles fest verbunden und zusammengefügt und mit diesen denken sie und sind vergnügt und ärgern sich.
Diels, Dox. [Anm. 19], S. 499,4–6: τὸ δὲ πιθανὸν ἔλαβον οἱ μὲν ὅτι τῶν ἄλλων τε τὰ πλεῖστα τῆι ὁμοιότητι θεωρεῖται καὶ ὅτι σύμφυτόν ἐστι πᾶσι τοῖς ζώιοις τὰ συγγενῆ γνωρίζειν. 23 Diels, Dox. [Anm. 19], S. 499,6–7: ἔτι δ’ ὡς τὸ μὲν αἰσθάνεσθαι τῆι ἀπορροίαι γίνεται, τὸ δ’ ὅμοιον φέρεται πρὸς τὸ ὅμοιον. 24 Empedokles Fr. 121b MP2 (Aristot. De an. A 2, 404b13–15 = DK 31 B 109): γαίηι μὲν γὰρ γαῖαν ὀπώπαμεν, ὕδατι δ᾽ ὕδωρ, / αἰθέρι δ᾽ αἰθέρα δῖον, ἀτὰρ πυρὶ πῦρ ἀίδηλον, / στοργὴν δὲ στοργῆι, νεῖκος δέ τε νείκεϊ λυγρῶι. 25 Empedokles Fr. 121c MP2 (Theophrast Sens. 10 bei Diels, Dox. [Anm. 19], S. 502,11– 12 = DK 31 B 107): ἐκ τούτων πάντα πεπήγασιν ἁρμοσθέντα / καὶ τούτοις φρονέουσι καὶ ἥδοντ᾽ ἠδ᾽ ἀνιῶνται. 22
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Demnach bedeutet im ersten der fünf Verse das Perfekt ὀπώπαμεν (opo¯pamen, zur Wurzel ὀπ-, ‚erblicken‘) nicht ‚erblickt haben‘, sondern ‚im Sinne haben‘,26 genau wie das Perfekt οἶδα (oida, zur Wurzel ϝιδ- ‚videre‘) bekanntlich nicht ‚gesehen haben‘ bedeutet, sondern ‚wissen‘. Für Theophrast geht es denn auch in allen fünf Versen ausschließlich um Denken (φρόνησις) und Unwissenheit (ἄγνοια), selbst wenn er daraus auf die systematische Nähe von Denken und Wahrnehmung bei Empedokles schließt.27 In ganz ähnlicher Weise zitiert Aristoteles die ersten drei Verse einmal im allgemeinen Zusammenhang von Erkennen und Wahrnehmung,28 ein andermal speziell im Zusammenhang der Theorie der gno¯sis (‚Erkenntnis‘).29 Für die spezifische Erklärung der Sinneswahrnehmung, geschweige denn der einzelnen Wahrnehmungsarten, geben die fünf Verse nichts aus. Es muss also erst noch geklärt werden, worin nach Theophrast die für die Empedokleische Theorie der Sinneswahrnehmung mit Gleichem relevante Gleichheit eigentlich bestehen soll. Um diese Frage zu beanworten, muss man die beiden spezifischen Hypothesen hinzuziehen, auf die Empedokles nach dem Referat des Theophrast seine Theorie gegründet hat, nämlich auf die Abflusshypothese, die Theophrast dem Empedokles an der bereits referierten Stelle zuschreibt,30 und auf die Porenhypothese.31
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Richtig Carl Werner Müller: Gleiches zu Gleichem. Ein Prinzip frühgriechischen Denkens, Wiesbaden 1965, S. 51 Anm. 70: „Aus ὀπώπαμεν schließen zu wollen, es handle sich in B 109 um eine Theorie des Sehens, geht nicht an […]. Daß Empedokles hier vom ‚Denken‘, nicht vom Sehen als Sinneswahrnehmung spricht, ergibt sich aus B 17, 21, wo es heißt, daß man die Liebe (und also auch den Streit) nur ‚mit dem Geiste schauen‘ kann, nicht mit den Augen“. Der gleiche Einwand dann bei Denis O’Brien: The effect of a simile. Empedocles’ theories of seeing and breathing, in: The Journal of Hellenic Studies 90, 1970, S. 140–179, hier: S. 164. 27 Theophrast, Sens. 9–10 (Diels, Dox. [Anm. 19], S. 502,7–14; Fr. 121a MP2 = DK 31 A 86): ὡσαύτως δὲ λέγει καὶ περὶ φρονήσεως καὶ ἀγνοίας. τὸ μὲν γὰρ φρονεῖν εἶναι τοῖς ὁμοίοις, τὸ δ᾽ ἀγνοεῖν τοῖς ἀνομοίοις, ὡ ς ἢ τ α ὐ τ ὸ ν ἢ π α ρ α π λ ή σ ι ο ν ὂ ν τ ῆ ι α ἰ σ θ ή σ ε ι τ ὴ ν φ ρ ό ν η σ ι ν . διαριθμησάμενος γάρ, ὡς ἕκαστον ἑκάστωι γνωρίζομεν [Zitat von Fr. 121b MP2], ἐπὶ τέλει προσέθηκεν ὡς [Zitat von Fr. 121c MP2]. διὸ καὶ τῶι αἵματι μάλιστα φρονεῖν· ἐν τούτωι γὰρ μάλιστα κεκρᾶσθαι ἴσα τὰ στοιχεῖα τῶν μερῶν. 28 Aristoteles, An. A 2, 404b8–10: ὅσοι δ᾽ ἐπὶ τὸ γινώσκειν καὶ τὸ αἰσθάνεσθαι τῶν ὄντων (scil. ἀποβλέπουσι), οὗτοι δὲ λέγουσι τὴν ψυχὴν τὰς ἀρχάς. 29 Aristoteles, Metaph. B 4, 1000b5–6: ἡ δὲ γνῶσις τοῦ ὁμοίου τῶι ὁμοίωι. 30 Theophrast, Sens. 1 (Diels, Dox. [Anm. 19], S. 499,6): ἔτι δ’ ὡς τὸ μὲν αἰσθάνεσθαι τῆι ἀπορροίαι γίνεται. 31 Müller [Anm. 26], S. 33: „Empedokles hat […] durch seine Theorie von den πόροι und ἀπορροαί versucht, die mechanischen Voraussetzungen zu erklären, die eine Verbindung des Gleichartigen ermöglichen“.
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1.3.2 Die Abflusshypothese Nach einem von Plutarch zitierten Vers nimmt Empedokles einen von jedem Gegenstand und damit insbesondere von jedem potentiellen Wahrnehmungsobjekt ausgehenden Element-Abfluss (ἀπορροή) an:32 Überlege Dir also die Sache, nachdem du mit Empedokles ‚erkannt, dass es von allem, was entstanden ist, Abflüsse gibt‘: Nicht nur von Lebewesen und Pflanzen oder von Erde und Meer, sondern auch von Steinen und Kupfer und Eisen gehen kontinuierlich zahlreiche Ströme aus.
Plutarch bezeugt weiter, dass Empedokles die Ursache für die Geruchswahrnehmung von einem Gegenstand im Riechen bestimmter Elementabflüsse dieses Gegenstandes gesehen hat. Empedokles habe beschrieben, wie Jagdhunde die Witterung des Wildes aufnehmen, indem sie die vom Wild ausgehenden Elementabflüsse erschnuppern,33 Fetzen von Gliedern wilder Tiere mit ihren Nüstern aufspürend.
Dadurch wird Theophrasts Zeugnis gestützt, dem zufolge neben Parmenides und Platon auch Empedokles die sinnliche Wahrnehmung eines Gegenstandes mit der Wahrnehmung der verschiedenen von diesem Gegenstand ausgehenden Elementabflüsse gleichgesetzt hat. 1.3.3 Die Wahrnehmung von Elementteilchen mittels geometrisch gleicher Poren Während Theophrast die Abflusshypothese ebenso wie den Rückgriff auf das Streben des Gleichen zum Gleichen nicht nur für die Empedokleische Theorie der Sinneswahrnehmung bezeugt, sondern auch für die Parmenideische und die Platonische,34 sieht er den spezifischen Beitrag des Empedokles in der Annahme von Wahrnehmungsporen. Diese Annahme besagt, dass die erwähnten Elementabflüsse des Wahrnehmungsobjekts durch bestimmte, sehr kleine Öffnungen (‚Poren‘; vgl. Emp. Fr. 43,12 MP2 = DK 31 B 3,12) in die Wahrnehmungsapparate Empedokles Fr. 101 MP2 (Plut. Quaest. nat. 916 D = DK 31 B 89): σκόπει δή, κατ᾿ Ἐμπεδοκλέα γ ν ο ύ ς , ὅ τ ι π ά ν τ ω ν ε ἰ σ ὶ ν ἀ π ο ρ ρ ο α ί , ὅ σ σ ᾽ ἐ γ έ ν ο ν τ ο · οὐ γὰρ ζώιων μόνον οὐδὲ φυτῶν οὐδὲ γῆς καὶ θαλάττης, ἀλλὰ καὶ λίθων ἄπεισιν ἐνδελεχῶς πολλὰ ῥεύματα καὶ χαλκοῦ καὶ σιδήρου. In dem zitierten Vers ist das Oxytonon mit einfachem ο(ἀπορροαί zu ἀπορροή) metrisch gesichert; in den Testimonien ist auch das Proparoxytonon mit diphthongischem οι- (ἀπόρροιαι zu ἀπόρροια) überliefert, wie z.B. die in der folgenden Anmerkung zitierte Plutarch-Stelle zeigt. 33 Empedokles Fr. 118a MP2 (Plut. Quaest. nat. 917 E = DK 31 B 101): Διὰ τί δυσστίβευτος ἡ τοῦ ἔαρος ὥρα; πότερον αἱ κύνες, ὥς φησιν Ἐμπεδοκλῆς, κ έ ρ μ α τ α θ η ρ ε ί ω ν μ ε λ έ ω ν μ υ κ τ ῆ ρ σ ι ν ἐ ρ ε υ ν ῶ σ α ι , τὰς ἀπορροίας ἀναλαμβάνουσιν, ἃς ἐναπολείπει τὰ θηρία τῆι ὕληι, ταύτας δὲ τοῦ ἔαρος ἐξαμαυροῦσι καὶ συγχέουσιν αἱ πλεῖσται τῶν φυτῶν καὶ τῶν ὑλημάτων ὀσμαί. 34 Theophrast, Sens. 1 (Diels, Dox. [Anm. 19], S. 499,6–7) über diejenigen Denker, die eine Wahrnehmung des Gleichen mit Gleichem annehmen: ἔτι δ’ ὡς τὸ μὲν αἰσθάνεσθαι τῆι ἀπορροίαι γίνεται, τὸ δ’ ὅμοιον φέρεται πρὸς τὸ ὅμοιον (bereits zitiert). 32
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der Lebewesen eintreten und dass die Poren eines jeden Wahrnehmungsapparates aufgrund ihres Formats und ihrer Kontur jeweils nur von demjenigen Element passiert und kontaktiert werden können, dessen Wahrnehmung die Aufgabe des betreffenden Wahrnehmungsapparates ist:35 Empedokles spricht über alle Sinne in gleicher Weise: Er behauptet, dass Wahrnehmung stattfinde, weil es [d.h. das Wahrgenommene] in die Poren (πόροι) des betreffenden Wahrnehmungsapparats hineinpasse. Eben deshalb könne auch der eine Sinn nicht die Objekte eines anderen unterscheiden (κρίνειν), weil die Poren des einen zu weit und die des anderen zu eng für das Wahrnehmungsobjekt (τὸ αἰσθητόν) seien, so dass das eine, ohne in Kontakt zu sein, hindurchgehe und das andere überhaupt nicht imstande sei, einzudringen.
Demnach fungieren nach Empedokles die Poren der Wahrnehmungsapparate nicht nur als Zugang für die einströmenden Elementteile und als Barriere bzw. Filter gegen zu große Elementteile; vielmehr kommt es für das Zustandekommen der Sinneswahrnehmung entscheidend darauf an, dass die einströmenden Elementteile für die von den Wahrnehmungsporen gebotene Öffnung auch nicht zu klein sind: Sie müssen geometrisch, d.h. in Format und Kontur, dieser Öffnung genau entsprechen (Theophrast: ἐναρμόττειν), damit sie beim Einströmen in Kontakt mit den Poren kommen (Theophrast: ἅπτεσθαι). Eben dieser Kontakt der einströmenden Elementteile mit den Wahrnehmungsporen ist das physiologische Äquivalent der Sinneswahrnehmung,36 so dass das eigentliche Organ dieser Wahrnehmung die Wahrnehmungsporen selbst sind. Dann aber kann die für die ‚Wahrnehmung mit dem Gleichen‘ relevante Gleichheit nur in der geometrischen Passform bestehen, die die vom Wahrnehmungsobjekt herkommenden Elementteilchen bezüglich der Wahrnehmungsporen aufweisen müssen: An die hier vorausgesetzte, wenn auch nicht spezifizierte geometrische Form der Elementteilchen dürfte Platon anknüpfen, wenn er im Timaios die Erdteilchen aus vier gleichseitigen Vierecken (= Kubus) zusammengesetzt sein lässt, und die übrigen drei Arten von Elementteilchen aus gleichseitigen Dreiecken, nämlich die Feuerteilchen aus vier (= Tetraeder), die Luftteilchen aus acht (= Oktaeder), die Wasserteilchen aus zwanzig (= Ikosaeder).37 Hingegen spielt in dem zitierten Text Theophrasts eine stoffliche Identität von Wahrnehmungsobjekt und Wahrnehmungsporen für die Funktion der letzteren nicht die geringste Rolle: Keine Rede ist dort davon, dass Empedokles die von 35 Empedokles Fr. 104 MP2 (Theophr. Sens. 7/1, Diels, Dox. [Anm. 19], S. 500,19–23; DK 31 A 86): Ἐμπεδοκλῆς δὲ περὶ ἁπασῶν [scil. αἰσθήσεων] ὁμοίως λέγει καί φησι τῶι ἐναρμόττειν εἰς τοὺς πόρους τοὺς ἑκάστης [scil. αἰσθήσεως] αἰσθάνεσθαι· διὸ καὶ οὐ δύνασθαι τὰ ἀλλήλων κρίνειν, ὅτι τῶν μὲν εὐρύτεροί πως, τῶν δὲ στενώτεροι τυγχάνουσιν οἱ πόροι πρὸς τὸ αἰσθητόν, ὡς τὰ μὲν οὐχ ἁπτόμενα διευτονεῖν, τὰ δ᾽ ὅλως εἰσελθεῖν οὐ δύνασθαι. 36 Theophrast charakterisiert die Sinneswahrnehmung hier auch als ein ‚Unterscheiden‘ (κρίνειν); vgl. z.B. Aristoteles, Mot. An. 6, 700b19–21: καὶ γὰρ ἡ φαντασία καὶ ἡ αἴσθησις τὴν αὐτὴν τῶι νῶι χώραν ἔχουσιν· κ ρ ι τ ι κ ὰ γὰρ πάντα. 37 Platon, Timaios 54a–56c.
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den Poren perforierte Membran, und damit die Innenwand der Poren selbst, auch ihrerseits aus dem Element bestehen ließ, welches durch diese Poren hindurchströmt. Die Annahme einer solchen stofflichen Identität würde auch in der Sache schwer nachzuvollziehen sein; denn auch für Bewegungen, die durch das Streben zum Gleichen ausgelöst werden, muss ja gelten, dass jede durch eine Strebung ausgelöste Bewegung mit dem Erreichen des Strebungsziels ihre Bewegungsursache konsumiert hat und damit unweigerlich beendet ist. Umso dringender wird die Frage, worin dann der von Theophrast erwähnte Zusammenhang zwischen dem Streben zum Gleichen einerseits und der Abflusshypothese und damit der Wahrnehmung mit Gleichem andererseits38 eigentlich besteht; dieser Frage wenden wir uns jetzt zu. 1.3.4 Das Streben zum materiell Gleichen als Bewegungsursache? Die bisher herangezogenen Fragmente und Testimonien liefern einige notwendige Bedingungen dafür, dass die Element-Abflüsse (ἀπορροαί) eines potentiellen Wahrnehmungsobjekts durch die Wahrnehmungsporen nicht nur in den Wahrnehmungsapparat des Lebewesens hineinkommen können, sondern beim Passieren der Poren mit diesen in Kontakt kommen und damit eine Sinneswahrnehmung auslösen. Doch was lässt die vom Wahrnehmungsobjekt abfließenden Elementteile überhaupt danach streben, die Wahrnehmungsporen eines Lebewesens zu passieren? Den Element-Abfluss des Wahrnehmungsobjekts wird man zwar auf das in unserer Welt niemals ruhende Trennungswirken des Streits zurückzuführen haben, aber die dadurch ermöglichte Bewegung der Elementteile zu den Wahrnehmungsporen und durch sie hindurch lässt sich mit dem Wirken des Streites nicht erklären – und ebensowenig mit dem Vereinigungswirken der Liebe, da mit der Sinneswahrnehmung keine neue organische Verbindung etabliert wird. So bleibt nur das von uns als Eigenfunktion der Elemente beschriebene Streben des Gleichen zum Gleichen, eine Annahme, die auch angesichts der von Theophrast referierten und von uns soeben noch einmal zitierten Sequenz ‚Abfluss eines Elementstroms vom Wahrnehmungsobjekt → Streben des Gleichen zum Gleichen‘ überaus naheliegt. Die für das Streben zum Gleichen relevante Gleichheit besteht nun aber allgemein, wie wir sahen, in einer stofflichen Identität – im Gegensatz zu der geometrischen Passform von Objekt und Organ, auf der die mittels der Wahrnehmungsporen erfolgende Wahrnehmung mit Gleichem beruht. Mithin steht und fällt die Kohärenz der Empedokleischen Wahrnehmungstheorie damit, dass zwar einerseits die vom Wahrnehmungsobjekt herkommenden Elementabflüsse durch ein Quantum des gleichen Stoffes zum 38
Theophrast, Sens. 1 (Diels, Dox. [Anm. 19], S. 499,6–7) nennt unter den Gründen, die für die Annahme der Wahrnehmung mit Gleichem sprachen, auch diesen: ἔτι δ’ ὡς τὸ μὲν αἰσθάνεσθαι τῆι ἀπορροίαι γίνεται, τὸ δ’ ὅμοιον φέρεται πρὸς τὸ ὅμοιον.
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Durchströmen der Wahrnehmungsporen motiviert werden, dass aber andererseits die Wahrnehmungsporen selbst – bzw. die von ihnen perforierte Membran – gerade nicht aus dem gleichen Stoff bestehen. Wäre es anders, dann hätten die hinzuströmenden Elementabflüsse schon mit ihrer Ankunft an der Außenseite der Membran das ihnen Gleiche und damit ihr Strebungsobjekt erreicht; es würde folglich keinerlei Bewegungsursache mehr dafür geben, dass die Abflüsse die Poren auch durchqueren; vielmehr würden die Poren sogleich verstopft und eine Wahrnehmung käme gar nicht erst zustande. Wenn also der die Sinneswahrnehmung auslösende Element-Zustrom durch das Streben zum materiell Gleichen motiviert ist – und es ist nicht zu sehen, wodurch er bei Empedokles sonst motiviert sein könnte –, dann kann sich das dafür als Strebungsobjekt benötigte Quantum des jeweils gleichen Stoffes nur im Inneren des betreffenden Wahrnehmungsapparats befinden. Treffen die vorgetragenen Überlegungen das Richtige, dann müsste sich die von Empedokles entworfene allgemeine Theorie der Sinneswahrnehmung als Verbindung zweier zueinander komplementärer Ursachen wie folgt beschreiben lassen: – Auf das Streben zum materiell Gleichen ist es zurückzuführen, dass die Elementabflüsse des Wahrnehmungsobjekts danach streben, sich mit einem Quantum des materiell gleichen Elements zu vereinen, und dass sie deshalb ihnen materiell ungleiche Poren durchströmen, sofern diese ihnen einen gangbaren Zugang zu einem (im Inneren des betreffenden Wahrnehmungsapparats vorhandenen) Quantum des materiell Gleichen eröffnen. – Auf die Wahrnehmung mittels des geometrisch Gleichen ist es zurückzuführen, dass die Elementabflüsse des Wahrnehmungsobjekts von den materiell ungleichen Poren, die sie auf ihrem Weg zu einem (im Inneren des betreffenden Wahrnehmungsapparats vorhandenen) Quantum des materiell Gleichen durchströmen, wahrgenommen werden, sofern sie eine zu diesen Poren passende geometrische Form aufweisen.
Nach dem Zeugnis des Theophrast war Empedokles der Einzige unter den älteren Denkern, der seine allgemeine Theorie der Sinneswahrnehmung auch konkret auf der Ebene der einzelnen Sinneswahrnehmungen durchzuführen suchte.39 Indessen würde eine Diskussion der Frage, wie weit er damit bei jeder einzelnen Wahrnehmungsart jeweils gekommen ist,40 und wie weit das Ergebnis jeweils unserem oben begründeten Modell entsprach, im Hinblick auf unser Thema – Bedeutung und Text des Laternengleichnisses – zu weit ausgreifen. Für das Verständnis dieses Gleichnisses kommt es vielmehr allein auf die Empedokleische Theorie des Sehens und auf die Frage an, ob in dieser Theorie die Theophrast, Sens. 2 a.E. (Diels, Dox. [Anm. 19], S. 499,11–13): καθόλου μὲν οὖν περὶ αἰσθήσεων αὗται παραδέδονται δόξαι. περὶ ἑκάστης δὲ τῶν κατὰ μέρος οἱ μὲν ἄλλοι σχεδὸν ἀπολείπουσιν, Ἐμπεδοκλῆς δὲ πειρᾶται καὶ ταύτας ἀνάγειν εἰς τὴν ὁμοιότητα. 40 Vgl. hierzu Theophrast, Sens. 9 (Diels, Dox. [Anm. 19], S. 501,11–502,10). 39
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Axiome ‚Gleiches mit (geometrisch) Gleichem‘ und ‚Gleiches zu (materiell) Gleichem‘ in der oben von uns beschriebenen Weise zueinander komplementär waren; diese Frage aber kann, wie nun gezeigt werden soll, vor allem aufgrund der Zeugnisse Platons und Theophrasts klar bejaht werden. 1.4 Empedokles’ Theorie der Augenfunktion nach Simplikios, Platon und Theophrast 1.4.1 Simplikios über den Empedokleischen Kontext der Augentheorie. – 1.4.2 Platon über die Empedokleische Theorie des Sehvorgangs. – 1.4.3 Ophthalmologia generalis: Theophrast über Grundzüge der Empedokleischen Augentheorie. – 1.4.4 Ophthalmologia specialis: Theophrast über Sonderfälle in der Empedokleischen Augentheorie. – 1.4.4.1 Feuer- bzw. Wasserdefizit. – 1.4.4.2 Die Kompensation der Element-Defizite als Weg des Gleichen zum Gleichen. – 1.4.4.3 Feuer- bzw. Wasserüberschuss. – 1.4.4.4 Die Blockadewirkung der Element-Überfüllungen. – 1.4.4.5 Ausscheidung überschüssigen Wassers. – 1.4.4.6 Ausscheidung überschüssigen Feuers. – 1.4.4.7 Folgerungen aus der Ungleichzeitigkeit beider Ausscheidungsvorgänge. – 1.4.5 Ein Textproblem in Theophrasts Referat.
1.4.1 Simplikios über den Empedokleischen Kontext der Augentheorie Nach dem Zeugnis des neuplatonischen Aristoteles-Kommentators Simplikios, eines der besten Kenner des Empedokles in der gesamten Literatur des Altertums, hat Empedokles Bau und Funktion des Auges im Rahmen seiner Darstellung der Anfänge der schöpferischen Tätigkeit der Liebe behandelt. Er habe beschrieben, dass die Liebesgöttin Aphrodite (bzw. Kypris) damals, als sie die zuvor voneinander getrennten vier Elemente zum ersten Mal zu organischen Verbindungen zusammenfügen konnte, neben anderen Einzelgliedmaßen auch die Augen gesondert konstruierte, und zwar zunächst die gewöhnlichen Augen, dann besondere Typen von Augen, die teils in heller Umgebung weit schärfer sehen als in dunkler Umgebung, teils umgekehrt:41 Aber auch dort, wo er über die Entstehung der körperlichen Augen spricht, wie wir sie kennen, führt er zum Beleg (scil. für das schöpferische Wirken der Liebesgöttin) folgendes an:42 ‚woraus die göttliche Aphrodite die unermüdlichen Augen fertigte‘. Und ein wenig später:43 ‚mit Nägeln der Sympathie arbeitend, Aphrodite‘. Und indem er die Ursache angibt, weshalb einige Augen besser am Tage, andere besser in der Nacht sehen, sagt er:44
Simplicius, In Cael., S. 529,21–27 Heiberg: ἀλλὰ καὶ περὶ γενέσεως τῶν ὀφθαλμῶν τῶν σωματικῶν τούτων λέγων ἐπήγαγεν· ἐ ξ ὧ ν ὄ μ μ α τ ᾽ ἔ π η ξ ε ν ἀ τ ε ι ρ έ α δ ῖ ᾽ Ἀ φ ρ ο δ ί τ η , καὶ μετ᾽ ὀλίγον· γ ό μ φ ο ι ς ἀ σ κ ή σ α σ α κ α τ α σ τ ό ρ γ ο ι ς Ἀ φ ρ ο δ ί τ η , καὶ τὴν αἰτίαν λέγων τοῦ τοὺς μὲν ἐν ἡμέραι τοὺς δὲ ἐν νυκτὶ κάλλιον ὁρᾶν· Κ ύ π ρ ι δ ο ς , φησίν, ἐ ν παλάμηισιν ὅτε ξὺμ πρῶτ᾽ ἐφύοντο. 42 Empedokles Fr. 108 MP2 (DK 31 B 86). 43 Empedokles Fr. 109 MP2 (DK 31 B 87). 44 Empedokles Fr. 110 MP2 (DK 31 B 95). 41
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‚in den Händen der Liebesgöttin Kypris, als die Elemente zum ersten Mal zusammenkamen, (scil. entstand eine besondere Art von Augen)‘.
Die Darstellung von Bau und Funktion des Auges erfolgte also im Zusammenhang eines Berichts von der Konstruktion der verschiedenen Augen-Prototypen durch die Liebe, sowohl der normalen Prototypen als auch insbesondere der durch eine Funktionsasymmetrie gekennzeichneten. In der Einführung des letzten Zitats legt der Verweis auf Augen mit je nach Tageszeit unterschiedlicher Sehfähigkeit die Vermutung nahe, dass die Schilderung des Konstruktionsvorgangs und die Funktionsbeschreibung Hand in Hand gingen, und in diesem Zitat selbst steht eine Zeitangabe („als die Elemente zum ersten Mal zusammenkamen“), die die Zuordnung der Augenherstellung zu einer bestimmten Phase des von Empedokles angenommenen kosmischen Zyklus ermöglicht, wie im Folgenden zu zeigen ist. Nach der Empedokleischen Theorie des Zyklus finden die von der Liebe bewirkte Hervorbringung kurzlebiger organischer Verbindungen und ihre vom Streit bewirkte Auflösung nicht nur während der allmählichen Vermischung der vier Elementmassen zum Sphairos (Liebesexpansion) statt, sondern auch während der allmählichen Überführung des Sphairos in die vier reinen Elementmassen (Streitinvasion). Empedokles nimmt weiter an, dass sich das jeweilige Kräfteverhältnis zwischen Liebe und Streit bzw. die in der betreffenden Zyklushälfte vorliegende Entwicklungsrichtung (zunehmende Vereinigung bzw. zunehmende Trennung) darin spiegele, dass jeweils unterschiedliche Formen sterblicher Wesen entstehen. Dies vollzieht sich nach Empedokles im Durchgang durch die von Aëtios bezeugten vier ‚zoogonischen Stufen‘,45 von denen die beiden ersten Stufen offenkundig in die Phase zunehmender Vermischung fallen, d.h. in die Liebesexpansion, die schließlich die Vereinigung aller vier Elemente zu einem göttlichen Kugelwesen (Sphairos) herbeiführt, die dritte und vierte hingegen ebenso offenkundig in die Phase zunehmender Trennung, d.h. in die Streitinvasion, die in der Wiederherstellung von vier getrennten, in sphärischer Schichtung umeinander rotierenden Elementmassen kulminiert. Auf der ersten Stufe erzeugt die Liebe zunächst nur isolierte Körperteile, die unverbunden umherirren: nicht nur Schläfen ohne Hals und Arme ohne Schultern, sondern eben auch, worauf es in unserem Zusammenhang besonders ankommt, einsame Augen, der Stirn ermangelnd.46 Auf der zweiten Stufe ist die Kraft der Liebe soweit erstarkt, dass sie die einzelnen Gliedmaßen zu phantastischen Zufalls-Kombinationen zusam45 Zum Folgenden vgl. Empedokles Fr. 151 MP2 (DK 31 A 72) und dazu jetzt O. Primavesi: Pythagorean Ratios in Empedocles’ Physics, in: Brill’s Companion to the Reception of Presocratic Natural Philosophy in Later Classical Thought. Edited by Chelsea C. Harry and Justin Habash, Leiden, Boston 2021, S. 113–192, hier: S. 153–161 mit Figure 5.1. 46 Empedokles Fr. 153b MP2 (DK 31 B 57): ἧι πολλαὶ μὲν κόρσαι ἀναύχενες ἐβλάστησαν, / γυμνοὶ δ᾽ ἐπλάζοντο βραχίονες εὔνιδες ὤμων, / ὄμματά τ᾽ οἶ᾽ ἐπλανᾶτο πενητεύοντα μετώπων.
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menschließen kann, bis schließlich der Sphairos hergestellt ist. Auf der dritten Stufe, nach Zerstörung des Sphairos durch den Streit, steigt Feuer rasch aus der Erde empor und transportiert dabei kugelförmig-unartikulierte, stumme und ungeschlechtliche Lebewesen an die Erdoberfläche. Hierauf folgt die vierte Stufe, die mit unserer Gegenwart gleichzusetzen ist: Die Kugelwesen der dritten Stufe werden durch den erstarkenden Streit halbiert und seither pflanzt sich das Leben im Durchgang durch Lebewesen der gleichen Art fort, da die Liebe der ihrem Triumph entgegengehenden Streitinvasion solange wie möglich durch die sexuelle Reproduktion sterblicher Wesen entgegenzuwirken sucht. Vor dem Hintergrund dieses Überblicks ist klar, dass der dritte der drei von Simplikios zitierten Verse (‚unter den Händen der Aphrodite, als die Elemente zum ersten Mal zusammenkamen‘)47 auf die erste zoogonische Stufe verweist: Im Rahmen seiner Darstellung der damals von Aphrodite konstruierten – und in den Organismen der späteren Stufen integrierten – Einzelgliedmaßen behandelte Empedokles auch Bau und Leistungsfähigkeit besonderer Augen-Prototypen, die teils in der Dunkelheit besser sehen als im Hellen, teils umgekehrt. 1.4.2 Platon über die Empedokleische Theorie des Sehvorgangs Platon lässt den Sokrates die von dem jungen Thessalier Menon im gleichnamigen Dialog48 gestellte Frage nach dem Wesen der Farbe49 in der Weise beantworten, dass er die Farbwahrnehmung – unter Berufung auf den EmpedoklesSchüler Gorgias – mit der Empedokleischen Theorie des Sehens erklärt. Demnach gehen von den Wahrnehmungsgegenständen Elementabflüsse aus, die durch passende Poren hindurch ins Auge einströmen und damit eine Farbwahrnehmung auslösen:50 Empedokles Fr. 110 MP2 (DK 31 B 95): καὶ τὴν αἰτίαν λέγων τοῦ τοὺς μὲν ἐν ἡμέραι τοὺς δὲ ἐν νυκτὶ κάλλιον ὁρᾶν· Κ ύ π ρ ι δ ο ς , φησίν, ἐ ν π α λ ά μ η ι σ ι ν ὅ τ ε ξ ὺ μ π ρ ῶ τ ᾽ ἐφύοντο. 48 Platons Menon wird im Folgenden, wenn nicht anders vermerkt, nach der Ausgabe von Richard Stanley Bluck zitiert: Plato’s Meno, Edited with Introduction and Commentary by R. S. B., Cambridge 1961. Diese Ausgabe bringt für den Menon erstmals die bessere Dokumentation des Vindobonensis suppl. phil. gr. 39 (F), die Wilamowitz gefordert hatte; vgl. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Platon, Zweiter Band. Beilagen und Textkritik, Zweite Aufl., Berlin 1920, S. 334: „W ist durchaus nicht hinreichend bekannt, F durch Burnet hervorgezogen, man möchte aber doch mehr wissen“. 49 Platon, Menon 76a8: τὸ δὲ χρῶμα τί λέγεις, ὦ Σώκρατες; 50 Empedokles Fr. 105/I MP2 (Platon, Menon 76c7–d5; S. 161 Bluck = DK 31 A 92): |c7| ΣΩΚΡΑΤΗΣ Οὐκοῦν λέγετε ἀπορροάς τινας τῶν ὄντων κατὰ Ἐμπε-|c8|δοκλέα; ΜΕΝΩΝ Σφόδρα γε. — ΣΩΚΡ. Καὶ πόρους εἰς οὓς καὶ δι’ ὧν αἱ |c9| ἀπορροαὶ πορεύονται; ΜΕΝ. Πάνυ γε. — ΣΩΚΡ. Καὶ τῶν ἀπορ-|d1|ροῶν τὰς μὲν ἁρμόττειν ἐνίοις τῶν πόρων, τὰς δὲ ἐλάττους ἢ |d2| μείζους εἶναι; ΜΕΝ. Ἔστι ταῦτα. — ΣΩΚΡ. Οὐκοῦν καὶ ὄψιν καλεῖς |d3| τι; ΜΕΝ. Ἔγωγε. — ΣΩΚΡ. Ἐκ τούτων δὴ σ ύ ν ε ς ὅ τ ο ι λ έ γ ω , |d4| ἔφη Πίνδαρος. ἔστιν γὰρ χρόα ἀπορροὴ χρημάτων ὄψει σύμμετρος |d5| καὶ αἰσθητός. ΜΕΝ. Ἄριστά μοι δοκεῖς, ὦ Σώκρατες, ταύτην τὴν ἀπόκρισιν εἰρηκέναι. 47
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SOKRATES Nehmt ihr nicht mit Empedokles an, dass es gewisse Abflüsse von den Dingen (onta) gibt? MENON Aber ja. — SOKR. Und Poren, in die hinein und durch die hindurch diese Abflüsse gehen? MEN. Genau. — SOKR. Und dass bestimmte von diesen Abflüssen zu einigen der Poren passen, wohingegen die anderen Abflüsse dafür zu klein oder zu groß sind? MEN. So ist es. — SOKR. Gibt es nicht auch etwas, das Du ‚Sehorgan‘ (opsis) nennst? MEN. Das will ich meinen. — SOKR. Aufgrund dieser Prämissen sollst Du jetzt, um mit Pindar zu sprechen,51 ‚verstehen, was ich Dir sage‘: ‚Farbe‘ ist nämlich derjenige Abfluss der Gegenstände (chre¯mata),52 der in seinen Abmessungen mit dem Sehorgan (opsis) übereinstimmt und folglich für dieses Organ wahrnehmbar ist. MEN. Mit dieser Antwort auf meine Frage hast du, wie ich finde, den Nagel auf den Kopf getroffen, Sokrates!
Diesem Referat des Platonischen Sokrates zufolge dürfen nach Empedokles die zum Auge strömenden Elementteilchen, um eine optische Wahrnehmung auslösen zu können, nicht nur nicht größer, sondern auch nicht kleiner als die von den Poren des Auges gebotenen Durchlässe sein. Vielmehr müssen sie in ihrem Format genau mit diesen Durchlässen übereinstimmen; mit anderen Worten: Die Elementteilchen müssen den Poren geometrisch, d.h. in Format und Kontur, gleich sein. Wenn Platon hier denjenigen Teil des Auges, der diese Passform aufweist, d.h. der Sache nach die Wahrnehmungspore, als opsis (‚Sehorgan‘) bezeichnet, dann liegt darin, dass er die Wahrnehmungsporen des Auges als die eigentlichen Sehorgane betrachtet. Dies entspricht der Sache nach genau der von uns bereits zitierten Zusammenfassung, die Theophrast von der allgemeinen Wahrnehmungstheorie des Empedokles gibt: Sinneswahrnehmung entsteht nur, wenn die betreffenden Elementteilchen die zugehörigen Wahrnehmungsporen passieren und dabei aufgrund ihrer geometrischen Passform mit diesen Poren in Kontakt kommen, d.h. sich an ihnen reiben.53 Demnach bezeugen beide Autoren für Empedokles die Annahme, dass die Sinneswahrnehmung bzw. das Sehen mittels geometrisch Gleichem erfolgt, d.h. mit Poren, die zu den einströmenden Elementteilchen eine geometrische Passform aufweisen.
Pindar Fr. 105 (a) Maehler: Σύνες ὅ τοι λέγω, ζαθέων ἱερῶν ἐπώνυμε / πάτερ, κτίστορ Αἴτνας. 52 76d4 χρημάτων Tγρ : σχημάτων BTWF : σωμάτων Alexander, In Sens. 24, 7–9 Wendland. Die von Hermann Diels: Gorgias und Empedokles, in: Sitzungsberichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Jahrgang 1884, S. 343–368, hier: S. 348–350 vorgetragenen Argumente dafür, die in T (Cod. Ven. Marc. gr. App. Class. IV, 1, ca. 950 n. Chr.) mit dem Vermerk γράφεται als Variante verzeichnete Lesart χρημάτων in den Text aufzunehmen, halten wir für überzeugend; anders Bluck [Anm. 48], S. 252 (zu d4), der ein non liquet diagnostiziert und deshalb das σχημάτων der Vulgata beibehält. 53 Empedokles Fr. 104 MP2: Theophrast, Sens. 7/1 (Diels, Dox. [Anm. 19], S. 500,19–20; DK 31 A 86) Ἐμπεδοκλῆς δὲ περὶ ἁπασῶν ὁμοίως λέγει καί φησι τῶι ἐναρμόττειν εἰς τοὺς πόρους τοὺς ἑκάστης αἰσθάνεσθαι. 51
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Keinen Aufschluss gibt die Menon-Stelle über die Frage nach der Bewegungsursache, die die vom Wahrnehmungsobjekt abfließenden Elementteilchen überhaupt danach streben lässt, die Wahrnehmungsporen eines Lebewesens zu passieren, mit anderen Worten: Über eine Bewegung zum materiell Gleichen verlautet an dieser Menon-Stelle nichts. Umso wichtiger ist es, dass Theophrast – neben seinem von uns bereits ausgewerteten Referat der allgemeinen Wahrnehmungstheorie des Empedokles im ersten Teil von De sensibus 7 – im zweiten Teil von De sensibus 7 und in De sensibus 8 auch eine Darstellung der von Empedokles angenommenen Struktur und Funktionsweise des Auges vorgelegt hat,54 die die Angaben Platons nicht nur bestätigt und präzisiert, sondern auch substantiell ergänzt. 1.4.3 Ophthalmologia generalis: Theophrast über Grundzüge der Empedokleischen Augentheorie Dem zweiten Teil von Theophrast, De sensibus 7 zufolge hat Empedokles angenommen, dass die Außenhülle des Auges aus Erde und Luft besteht,55 und dass diese Erd-Luft-Hülle sowohl Poren ‚für das Feuer‘, d.h. im Format von Feuerteilchen aufweist, als auch Poren ‚für das Wasser‘, d.h. im Format von Wasserteilchen. Für den Sehsinn sind demnach unter den Elementabflüssen der Wahrnehmungsgegenstände nur deren Feuer- und Wasserabflüsse relevant: Nur sie sind es, die durch den Kontakt mit den jeweils passenden Poren die optische Wahrnehmung auslösen. Dabei sind die vom Wahrnehmungsgegenstand abgelösten Feuer- bzw. Wasserteilchen so fein, dass sie, wenn sie mit den jeweils zuständigen Poren in Kontakt kommen, nicht etwa buchstäblich als Feuer bzw. Wasser wahrgenommen werden, sondern die Feuerteilchen als Weiß (Hell) und die Wasserteilchen als Schwarz (Dunkel):56
54 Empedokles Fr. 105/II MP2: Theophrast, Sens. 7/2 (Diels, Dox. [Anm. 19], S. 500,23– 29; DK 31 A 86). 55 Diels, Dox. [Anm. 19], S. 500,24–2: τὸ δὲ περὶ αὐτὸ γῆν καὶ ἀέρα. Dass die Hülle und damit auch die Innenseiten der sie perforierenden Wahrnehmungsporen aus Erde und Luft besteht, und nicht etwa aus Feuer und Wasser, stimmt zu dem entsprechenden Postulat, das wir bereits bei der Darstellung der allgemeinen Wahrnehmungstheorie begründet haben: Die hinzuströmenden Feuer- und Wasserabflüsse dürfen nicht schon mit ihrer Ankunft an der Außenseite der Augenhülle das ihnen stofflich Gleiche und damit ihr Strebungsobjekt erreichen, wenn anders ihr Streben zum stofflich Gleichen, und damit die Ursache ihrer Bewegung, noch anhalten soll, bis sie sich mit den Feuer- bzw. Wasserquanten im Augeninneren vereinigen; vgl. dazu oben die Abschnitte 1.3.3 am Ende und 1.3.4. 56 Theophrast, Sens. 7/2 (Diels, Dox. [Anm. 19], S. 500,25–29): τοὺς δὲ πόρους ἐναλλὰξ κεῖσθαι τοῦ τε πυρὸς καὶ τοῦ ὕδατος, ὧν τοῖς μὲν τοῦ πυρὸς τὰ λευκά, τοῖς δὲ τοῦ ὕδατος τὰ μέλανα γνωρίζειν (scil. τὴν ὄψιν)· ἐναρμόττειν γὰρ ἑκατέροις ἑκάτερα. φέρεσθαι δὲ τὰ χρώματα πρὸς τὴν ὄψιν διὰ τὴν ἀπορροήν.
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Die Poren für das Feuer und die für das Wasser seien schachbrettartig angeordnet, und mit den Poren für das Feuer erkenne der Sehapparat die weißen, mit den Poren für das Wasser hingegen die schwarzen Dinge, denn die entsprechenden Elementteile passten in die entsprechenden Poren. Die Farben würden zum Sehapparat mittels des vom Gegenstand ausgehenden Ausflusses transportiert.57
Wie in der Gesamtheit all dessen, was wir in einem beliebigen Augenblick sehen, in aller Regel Weißes (d.h. Helles) und Schwarzes (d.h. Dunkles) miteinander kombiniert sind, so ist auch der von Empedokles angenommene Sehapparat darauf ausgerichtet, Weiß (Hell) und Schwarz (Dunkel) zwar jeweils gesondert, d.h. durch je eigene Poren, aber eben doch gleichzeitig wahrzunehmen. Nun formuliert Theophrast die Zuordnung des Feuers zur Weiß-Wahrnehmung und die Zuordnung des Wassers zur Schwarz-Wahrnehmung mittels instrumentaler Dative: Mittels der Poren für das Feuer erkennt unser Sehapparat Weißes (τοῖς μὲν τοῦ πυρὸς τὰ λευκά), und mittels der Poren für das Wasser erkennt er Schwarzes (τοῖς δὲ τοῦ ὕδατος τὰ μέλανα γνωρίζειν). Diese Redeweise bestätigt erneut, dass die Wahrnehmungsporen nicht etwa nur Durchlässe sind, sondern dass sie auch von Theophrast, wie schon an der zuletzt behandelten Stelle aus Platons Menon, als die eigentlichen Wahrnehmungsorgane des Sehapparats präsentiert werden. Ferner sind die beiden Porenarten, wie Theophrast ausdrücklich sagt, in einem Schachbrettmuster (enallax) angeordnet. Demnach sind sie an ein und derselben Stelle gemeinsam untergebracht, was an der sichtbaren Außenseite des „Schachbretts“ ein permanentes Stelldichein aus- bzw. eintretender weißer Feuer- und schwarzer Wasserteilchen zur Folge hat. Dieses kann schwerlich auf der weißen Lederhaut oder auf der schwarz glänzenden Hornhaut über der Pupillenöffnung lokalisiert sein, sondern nur auf der bunten, d.h. eine Farbmischung zeigenden Iris. 1.4.4 Ophthalmologia specialis: Theophrast über Sonderfälle der Empedokleischen Augentheorie Erst das achte Kapitel von Theophrasts De sensibus ermöglicht die Beantwortung unserer Frage nach der Stellung, die das Streben zum stofflich Gleichen in
An der hier übersetzten Theophrast-Stelle ist der Genetiv in den Fügungen οἱ πόροι τοῦ πυρός und οἱ πόροι τοῦ ὕδατος nicht etwa als ein Genetivus materiae (z.B. ‚Poren aus Feuer‘) zu fassen – dann käme die Bewegung der Feuer- und Wasserteilchen zum materiell Gleichen bereits am Poren-Eingang ans Ende! –, sondern als ein Genetivus pertinentiae (Eduard Schwyzer, Albert Debrunner: Griechische Grammatik. Auf der Grundlage von Karl Brugmanns Griechischer Grammatik, Zweiter Band. Syntax und syntaktische Stilistik. Vervollständigt und hg. v. Albert Debrunner, München 1950, S. 117: „Pertinentiv“); des Näheren wäre hier an einen Genetiv des Dienstverhältnisses zu denken, wofür Schwyzer/Debrunner, S. 118 u.a. Ilias, 1, 334 zitieren: χαίρετε κήρυκες, Διὸς ἄγγελοι ἠδὲ καὶ ἀνδρῶν („Seid gegrüßt, Herolde, Ihr Boten sowohl für Zeus als auch für die Männer!“). Bei Theophrast ist also von den ‚Poren für das Feuer‘ und von den ‚Poren für das Wasser‘ die Rede.
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der Empedokleischen Theorie des Sehvorgangs einnimmt.58 Theophrast referiert dort bestimmte von Empedokles angenommene Sonderfälle, die in der bisherigen Forschung bei der Rekonstruktion der Empedokleischen Theorie im Ganzen nicht ernsthaft berücksichtigt worden sind,59 obwohl gerade ihnen hierfür eine Schlüsselfunktion zukommt, wie wir nun zeigen wollen. Nach Theophrast hat Empedokles besondere Aufmerksamkeit den Arten von Lebewesen zugewandt, in deren Sehapparat ein Mangel bzw. ein Überschuss eines der beiden für den Sehvorgang relevanten Elemente vorliegt; der Mangel bzw. der Überschuss bemisst sich hier an der als Norm betrachteten quantitativen Parität von Feuer und Wasser im Augeninneren.60 Am besten gemischt und am leistungsfähigsten sei der Sehapparat, der gleichviel Feuer und Wasser enthält.
Die von dieser Norm abweichenden Defizite bzw. Überschüsse haben nach Empedokles zur Folge, dass die betreffenden Arten von Lebewesen sich voneinander hinsichtlich ihrer jeweiligen Sehfähigkeit in der Tageshelle bzw. im nächtlichen Dunkel unterscheiden:61 Die Sehapparate seien nicht [scil. bei allen Lebewesen] gleich zusammengesetzt, sondern die einen aus weniger Feuer und mehr Wasser, die anderen umgekehrt [scil. aus weniger Wasser und mehr Feuer] […] Deswegen sähen von den Lebewesen die einen bei Tag schärfer, die andern bei Nacht.
Hiermit bezieht sich Theophrast eindeutig auf die besonderen Augentypen mit je nach Tageszeit verschiedener Leistungsfähigkeit, die wir bereits bei Simplikios erwähnt fanden und deren erstmalige Konstruktion von der Liebe auf der ersten zoogonischen Stufe vorgenommen wird. Des Näheren hat Empedokles hier zwei komplementäre Effekte unterschieden: – Einerseits verstärkt ein augeninterner, angeborener Mangel des in der Umgebung je nach Tageszeit gerade vorherrschenden Elements die Fähigkeit des Auges, eben dieses Element wahrzunehmen,
58 Empedokles Fr. 107 MP2: Theophrast, Sens. 8 (Diels, Dox. [Anm. 19], S. 500,29– 501,11 = DK 31 A 86). 59 Eine beachtenswerte Ausnahme bildet das sogleich (am Ende von Punkt 1.4.4.1) zu zitierende, präzise Résumé von Ferdinand Höfer: Die Lehre von der sinnlichen Wahrnehmung im 4. Buche des Lucrez, Erster Theil. Vom Sehen (v. 1–521), in: Zu der öffentlichen Prüfung des Gymnasiums zu Seehausen in der Altmark und zur Vorfeier des Geburtsfestes Sr. Majestät des Kaisers und Königs und zur Entlassung der Abiturienten am 20. und 21. März 1872 ladet ergebenst ein Dir. Dr. Aug. Dihle, Stendal 1872, S. 1–24, hier: S. 5–6, das auf knappem Raum viel Richtiges enthält. 60 Diels, Dox. [Anm. 19], S. 501,10–12: ἄριστα δὲ κεκρᾶσθαι καὶ βελτίστην εἶναι τὴν ἐξ ἀμφοῖν ἴσων συγκειμένην (scil. ὄψιν). 61 Diels, Dox. [Anm. 19], S. 500,29–501,2: συγκεῖσθαι δ᾿ οὐχ ὁμοίως , τὰς δ᾿ ἐκ τῶν ἀντικειμένων […]· διὸ καὶ τῶν ζῴων τὰ μὲν ἐν ἡμέρᾳ, τὰ δὲ νύκτωρ μᾶλλον ὀξυωπεῖν.
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– andererseits schwächt ein augeninterner, angeborener Überschuss des je nach Tageszeit auch in der Umgebung gerade vorherrschenden Elements die Aufnahmefähigkeit des Auges für beide Elemente.
1.4.4.1 Feuer- bzw. Wasserdefizit Die Lebewesen, in deren Augeninnerem von Hause aus ein Mangel des für die Hellwahrnehmung verantwortlichen Feuers besteht, sehen am Tag schärfer. Dann wird nämlich der Mangel des in ihrem Auge befindlichen Feuers (τὸ ἐντὸς φῶς) durch das externe Feuer (ὑπὸ τοῦ ἐκτός), das in der taghellen Umgebung reichlich vorhanden ist und das durch die Poren mit Feuerformat ins Augeninnere strömt, kompensiert (ἐπανισοῦσθαι):62 Alle diejenigen nämlich, die zu wenig Feuer haben, sähen am Tag schärfer. Denn das in ihrem Auge befindliche Licht werde bei ihnen durch das externe Licht bis zum Erreichen gleicher Quantität vermehrt.
Bei den Lebewesen hingegen, in deren Augeninnerem von Hause aus ein Mangel des für die Dunkelwahrnehmung verantwortlichen Wassers besteht, verhält es sich analog: Sie sehen bei Nacht schärfer, da das in der nachtdunklen Umgebung reichlich vorhandene Wasser von ihrem Auge besonders gut aufgenommen wird, um dessen defizienten internen Wasservorrat aufzufüllen (ἐπαναπληροῦσθαι):63 Alle diejenigen aber, bei denen es sich umgekehrt verhält, sähen bei Nacht schärfer. Denn auch bei diesen werde das defiziente Element aufgefüllt.
Wenn man sich die Frage vorlegt, welche Arten von Lebewesen Empedokles die Annahme solcher angeborenen Defizite überhaupt nahelegen konnten, so wird man bei dem Fall eines angeborenen Wasserdefizits an nachtaktive Tiere zu denken haben wie z.B. den Uhu: Der ruht sich tagsüber aus und geht nachts auf die Jagd. Dies konnte die Vermutung nahelegen, dass der Uhu tagsüber schlechter sieht als nachts, und diese Vermutung wiederum konnte dann unter Voraussetzung der Empedokleischen Theorie damit erklärt werden, dass das Auge des Uhus bei Nacht das dann außen überwiegende wässrige Dunkel besonders gut aufnehmen kann, weil es bei ihm ein internes Wasserdefizit aufzufüllen gibt: So sieht er bei Nacht die dann zahlreichen dunklen Objekte besonders scharf, wie z.B. seine im nächtlichen Dunkel vergebens sich bergenden Beutetiere – ohne dass damit gesagt wäre, dass er die vereinzelten hellen Objekte nicht auch sehen könnte.
Diels, Dox. [Anm. 19], S. 501,2–3: ὅσα μὲν πυρὸς ἔλαττον ἔχει, μεθ᾿ ἡμέραν· ἐπανισοῦσθαι γὰρ αὐτοῖς τὸ ἐντὸς φῶς ὑπὸ τοῦ ἐκτός. 63 Diels, Dox. [Anm. 19], S. 501,3–4: ὅσα δὲ τοῦ ἐναντίου, νύκτωρ· ἐπαναπληροῦσθαι γὰρ καὶ τούτοις τὸ ἐνδεές. 62
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Bis zu diesem Punkt der Empedokleischen Theorie ist Theophrasts Referat derselben bereits im Jahre 1872 von Ferdinand Höfer knapp, aber treffend zusammengefasst worden:64 Die von den Gegenständen sich ablösenden Ausflüsse (ἀποῤῥοαί) gelangen durch die Poren unserer Sinnesorgane in dieselben hinein; weil die einzelnen Sinne verschiedenartige Poren haben, können sie nicht dieselben Ausflüsse in sich aufnehmen, also nicht der eine die Wahrnehmung des andern gleichfalls empfangen. […] Das Auge ist rings umhüllt von Erde und Luft, sein Inneres besteht aus Feuer und Wasser. Die Poren in der Oberfläche des Auges führen abwechselnd zu Feuer und Wasser; in die einen dringt das helle, in die anderen das dunkle ein und gelangt so zur Wahrnehmung. Wessen Auge weniger Feuer enthält, der sieht am Tage besser, denn der Mangel an innerm Licht wird durch das äußere ersetzt; aus der entgegengesetzten Ursache sehen die feurigern Augen besser des Nachts.
Dass dieses Referat in der Forschung bisher nicht die verdiente Aufmerksamkeit gefunden hat, dürfte der platonisierenden Verfremdung der Theorie durch den sonst so ausgezeichneten Eduard Zeller und seinem ungewöhnlich oberflächlichen Referat von Höfers Arbeit geschuldet sein.65 1.4.4.2 Die Kompensation der Element-Defizite als Weg des Gleichen zum Gleichen Der von den Element-Defiziten im Augeninneren bei Tageslicht und in der Dunkelheit jeweils bewirkte Kompensations-Effekt lässt sich wie folgt schematisieren: Natürliches Defizit Kompensation im Hellen im Augeninnern Feuerdefizit
Kompensation im Dunklen
Zum Ausgleich des internen Feuermangels strömt mehr externes Feuer ein, wodurch Helles schärfer gesehen wird.
Wasserdefizit
Zum Ausgleich des internen Wassermangels strömt mehr externes Wasser ein, wodurch Dunkles schärfer gesehen wird.
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Höfer [Anm. 59], S. 5–6. Eduard Zeller: Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung dargestellt, Erster Teil. Allgemeine Einleitung. Vorsokratische Philosophie, Zweite Hälfte, 6. Aufl. hg. v. W. Nestle, Leipzig 1920, S. 994 mit Anm. 4. Dort gibt Zeller die Schwierigkeiten, die das Verständnis von Theophrasts Referat ihm bereitet hat, mit der nicht weiter ausgeführten Bemerkung zu erkennen, dass Empedokles bei Theophrast die unterschiedliche Sehfähigkeit verschiedener Augentypen bei Tag und bei Nacht „eigentümlich begründet“.
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Das Sehen von Hellem, d.h. das Einströmen von externem Feuer, bewirkt also eine Vermehrung desjenigen Feuers, welches im Augeninneren, wenngleich nur in geringer Menge, bereits vorhanden ist; ebenso bewirkt das Sehen von Dunklem, d.h. das Einströmen von externem Wasser, eine Vermehrung desjenigen Wassers, welches im Augeninneren, wenngleich nur in geringer Menge, bereits vorhanden ist. Daraus ergibt sich für die oben aufgeworfene Frage nach dem Verhältnis zwischen ‚mit Gleichem‘ und ‚zu Gleichem‘ Folgendes: Der Weg der heranströmenden Elementteilchen zum Kontakt mit den ihnen geometrisch gleichen Poren der Augenhülle – und damit zur Auslösung der optischen Wahrnehmung des Gleichem mit dem Gleichen – ist in der Tat nur eine erste Etappe auf ihrem Weg zum Gleichen, nämlich zu dem im Augeninneren befindlichen stofflich Gleichen. Noch aufschlussreicher für das Empedokleische Laternengleichnis sind aber die verbleibenden von Theophrast referierten Sonderfälle, in denen im Augeninneren von Natur aus ein Überschuss an Feuer oder aber an Wasser vorliegt. Diesen Überschüssen und ihrer Behebung wenden wir uns jetzt abschließend zu. 1.4.4.3 Feuer- bzw. Wasserüberschuss Die Lebewesen, in deren Augeninnerem von Hause aus ein Überschuss des für die Hellwahrnehmung verantwortlichen Feuers vorhanden ist, sehen im Tageslicht unscharf, da das außen überwiegende Feuer beim Einströmen in ihr Auge das dort ohnehin schon reichlich vorhandene Feuer bis zur allgemeinen Überfüllung des Augeninneren weiter vermehrt und deshalb alle Poren, insbesondere auch die für das Wasser zuständigen, von innen blockiert und damit das Sehen nicht nur heller, sondern auch dunkler Objekte behindert:66 Unter entgegengesetzten Bedingungen aber verhalte es sich bei beiden jeweils entgegengesetzt. Denn auch bei denjenigen, bei denen das Feuer überwiegt, trete unscharfes Sehen auf: Da nämlich das [scil. in ihnen bereits vorhandene] Feuer bei Tag [scil. von außen] noch weiter vermehrt werde, verschmiere und blockiere es [scil. auch] die für das Wasser zuständigen Poren.
Auch den Fall eines internen Feuerüberschusses mag man sich wieder am Beispiel des Uhus veranschaulichen: Wenn man die auffällige, orange-gelbe Iris seiner Augen als Anzeichen eines internen Feuerüberschusses deutet, dann lässt sich die weitere Tatsache, dass er sich tagsüber ausruht, innerhalb der Empedokleischen Theorie damit erklären, dass er bei Tage besonders schlecht sieht, weil das in seinen Augen schon von Hause aus überwiegende Feuer durch Wahr-
66 Diels, Dox. [Anm. 19], S. 501,4–7: ἐν δὲ τοῖς ἐναντίοις ‹ἐναντίως› ἑκάτερον. ἀμβλυωπεῖν μὲν γὰρ καὶ οἷς ὑπερέχει τὸ πῦρ· ἐπαυξηθὲν ‹γὰρ› ἔτι μεθ᾿ ἡμέραν ἐπιπλάττειν καὶ καταλαμβάνειν τοὺς τοῦ ὕδατος πόρους.
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Zitatfragment und Textkritik
nehmungs-Zuströme des tagsüber die Umgebung dominierenden Feuers bis zur Überfüllung gesteigert wird.67 Ebenso sehen Lebewesen, in deren Augeninnerem von Hause aus ein Überschuss des für die Dunkelwahrnehmung verantwortlichen Wassers vorhanden ist, im nächtlichen Dunkel unscharf, da das außen überwiegende Wasser beim Einströmen in ihr Auge das dort ohnehin schon reichlich vorhandene Wasser bis zur allgemeinen Überfüllung des Augeninneren weiter vermehrt und deshalb alle Poren, insbesondere auch die für das Feuer zuständigen, von innen blockiert und damit das Sehen nicht nur der dunklen, sondern auch der hellen Objekte behindert:68 […] und bei denen, in denen das Wasser überwiegt, trete nachts das Entsprechende ein, indem [scil. auch] das Feuer durch das Wasser blockiert werde.
1.4.4.4 Die Blockadewirkung der Element-Überfüllungen Der von diesen Element-Überschüssen im Augeninneren bei Tageslicht und in der Dunkelheit jeweils bewirkte Blockade-Effekt lässt sich wie folgt schematisieren: Natürlicher Überschuss im Augeninnern
Blockade im Hellen
Feuerüberschuss
Der interne Feuerüberschuss wird durch Zustrom des außen dominierenden Feuers so stark erhöht, dass er alle Poren von innen blockiert und so das Sehvermögen schwächt.
Wasserüberschuss
Blockade im Dunklen
Der interne Wasserüberschuss wird durch Zustrom des außen dominierenden Wassers so stark erhöht, dass er alle Poren von innen blockiert und so das Sehvermögen schwächt.
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Unbeschadet der Tatsache, dass sich im Rahmen der Empedokleischen Theorie sowohl das natürliche Wasserdefizit als auch der natürliche Feuerüberschuss des Auges gut an ein und demselben nachtaktiven Tier mit feuerfarbiger Iris wie dem Uhu veranschaulichen lässt, stellt Theophrast in seinem Referat keinen systematischen Zusammenhang zwischen dem Defizit des einen und dem Überschuss des anderen Elements her. Vielmehr ist sein Referat auch mit der Annahme kompatibel, dass der Überschuss bzw. das Defizit des einen Elements mit einem wie auch immer zu definierenden „Normalmaß“ des anderen Elements einhergeht. 68 Diels, Dox. [Anm. 19], S. 501,7–8: οἷς δὲ τὸ ὕδωρ, ταὐτὸ τοῦτο γίνεσθαι νύκτωρ, καταλαμβάνεσθαι γὰρ τὸ πῦρ ὑπὸ τοῦ ὕδατος.
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Auch die hier beschriebene Akkumulation einer Überfüllung ist nicht anders denkbar, als dass die einströmenden Feuer- bzw. Wasserteilchen nach dem Durchmessen der zuständigen Poren ins Augeninnere gelangen und das dort bereits vorhandene Quantum des jeweils gleichen Elements vermehren: Durch diesen Befund wird unsere Vermutung bestätigt, dass der Weg der Elementteilchen zu den ihnen geometrisch gleichen Wahrnehmungsporen der Augenhülle nur eine erste Etappe eines Weges darstellt, der letztlich zur Vereinigung mit dem stofflich Gleichen im Augeninnern führt. Neuen Aufschluss gewährt zudem der von Theophrast besonders hervorgehobene Umstand, dass eine Überfüllung des Augeninneren mit dem außen jeweils vorherrschenden der beiden Elemente ohne Weiteres auch die Einmündungen der für das andere Element zuständigen Poren ins Augeninnere blockiert: Diese Annahme setzt einen einheitlichen Innenraum des Auges voraus, der (in wechselnden Proportionen) von Feuer- und von Wasserteilchen ausgefüllt ist.69 Soll nun aber nach einer solchen, durch den Überschuss eines der beiden Elemente bewirkten Blockade aller Wahrnehmungsporen die Sehfunktion des Auges wieder in Gang kommen, so reicht dazu ein Wechsel der Tageszeit – von der feurigen Tageshelle zum wässrigen Nachtdunkel oder umgekehrt – nicht aus. Zwar ist durch einen solchen Wechsel des in der Umgebung vorherrschenden Elements sichergestellt, dass vorerst kein übermäßiger weiterer Zustrom des das Augeninnere überfüllenden Elements zu erwarten steht. Doch ungeachtet dessen bleiben die Wahrnehmungsporen der Augenhülle solange von innen blockiert, wie die Überfüllung des Augeninnern anhält. 1.4.4.5 Ausscheidung überschüssigen Wassers Dies zeigt Theophrast zunächst an den Lebewesen, in deren Augeninnerem von Hause aus ein Wasserüberschuss vorhanden ist. Dieser Wasserüberschuss wird, wie wir sahen, des Nachts durch das Einströmen weiteren Wassers (d.h. Dunkels) von außen noch vermehrt, so dass die im Laufe der Nacht eintretende Wasserüberfüllung des Augeninnern sämtliche Wahrnehmungsporen der Augenhülle von innen blockiert. Doch selbst nach Tagesanbruch – und hierin liegt die Schwierigkeit – ist ungeachtet des in der Umgebung nunmehr überwiegenden Feuers die Wiederaufnahme der Sehtätigkeit immer noch nicht möglich, solange die interne Wasserüberfüllung und damit die Blockade sämtlicher Wahrnehmungsporen der Augenhülle anhält. Zur Behebung dieser Schwierigkeit hat Empedokles nun folgerichtig angenommen, dass die Wasserüberfüllung, die nachts die Poren blockiert hat, nach Tagesanbruch zunächst wieder auf ein er69
Schon dies spricht gegen die von O’Brien [Anm. 26] vorgetragene (und von uns unter Punkt 2.2.2 noch zu diskutierende) Vermutung, dass das im Augeninneren vorhandene Feuer in einem gesonderten Behältnis untergebracht und dadurch gegen das Wasser im Augeninneren abgeschirmt sein könnte.
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Zitatfragment und Textkritik
trägliches Maß reduziert wird, indem ein hinreichendes Quantum Wasser durch die für das Wasser zuständigen Poren in einer Art Konzentrationsangleichung in die nunmehr helle, d.h. wasserarme Umgebung ausgeschieden wird. Dies hat dann zur Folge, dass die Einmündungen aller Poren im Augeninnern nicht mehr blockiert sind, so dass Sehvorgänge wieder möglich sind:70 [Die Blockade halte solange an,] bis den einen das Wasser durch das von außen her wirkende Licht [bzw. den Wassermangel der taghellen Umgebung] wieder abgezogen werde.
Dies lässt sich wie folgt schematisieren: Natürlicher Überschuss im Augeninnern
Effekt in der Dunkelheit
Effekt bei Tageslicht
Wasserüberschuss
Der zur Überfüllung gesteigerte Wasserüberschuss im Augeninneren blockiert von innen alle Poren der Augenhülle.
Der Wassermangel der Umgebung ermöglicht eine Wasserausscheidung, die die blockierten Poren befreit.
1.4.4.6 Ausscheidung überschüssigen Feuers Für die Lebewesen, in deren Augeninnerem von Hause aus ein Feuerüberschuss vorhanden ist, referiert Theophrast, mutatis mutandis, das Entsprechende: Ihr interner Feuerüberschuss wird bei Tage durch das beim Sehen heller Objekte von außen einströmende Feuer stets noch weiter vermehrt, so dass die tagsüber eintretende Feuerüberfüllung des Augeninnern sämtliche Wahrnehmungsporen der Augenhülle von innen blockiert. Um die Wiederaufnahme der Sehtätigkeit zu ermöglichen, muss zunächst einmal, bei Einbruch der Dunkelheit, die Blockade der für das Wasser zuständigen Poren beendet werden, indem durch die für das Feuer zuständigen Poren – im Wege der Konzentrationsangleichung – genügend internes Feuer in die nunmehr feuerarme Umgebung ausgeschieden wird:71 [Die Blockade halte solange an, bis] den andern durch die äußere feuchte Luft [bzw. den Feuermangel der nachtdunklen und in diesem Sinne ‚wässrigen‘ Umgebung] das Feuer wieder abgezogen werde. Für beides nämlich liege die Heilung im jeweils entgegengesetzten Element.
Diels, Dox. [Anm. 19], S. 501,8–9: ἕως ἂν τοῖς μὲν ὑπὸ τοῦ ἔξωθεν φωτὸς ἀποκριθῆι τὸ ὕδωρ. 71 Diels, Dox. [Anm. 19], S. 501,9–10: τοῖς δ᾿ ὑπὸ τοῦ ἀέρος (scil. ἀποκριθῆι) τὸ πῦρ. ἑκατέρων γὰρ ἴασιν εἶναι τὸ ἐναντίον. 70
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Dies lässt sich wie folgt schematisieren: Natürlicher Überschuss im Augeninnern
Effekt bei Tageslicht
Effekt in der Dunkelheit
Feuerüberschuss
Der zur Überfüllung gesteigerte Feuerüberschuss im Augeninneren blockiert von innen alle Poren der Augenhülle.
Der Feuermangel der Umgebung ermöglicht eine Feuerausscheidung, die die blockierten Poren befreit.
1.4.4.7 Folgerungen aus der Ungleichzeitigkeit beider Ausscheidungsvorgänge Die Ausscheidung überschüssigen Feuers und die Ausscheidung überschüssigen Wassers aus dem Auge stehen unter Ermöglichungsbedingungen, die nicht gleichzeitig erfüllt sein können. Da sich nämlich die Ausscheidung im Wege der Konzentrationsangleichung vollzieht, muss sich das Auge in jedem der beiden Fälle in einer Umgebung befinden, in der das von dem auszuscheidenden Element verschiedene der beiden Elemente im betreffenden Zeitraum absolut vorherrscht: Nur im feurigen Tageslicht (oder in einer vergleichbar feuererfüllthellen Umgebung) kann das Auge Wasser ausscheiden (vgl. oben 1.4.4.5), und nur im wässrigen Dunkel der Nacht (oder in einer vergleichbar wassererfülltdunklen Umgebung) kann das Auge Feuer ausscheiden (vgl. oben 1.4.4.6). Da in ein und derselben Umgebung nicht zur gleichen Zeit Tageslicht (bzw. Feuerdominanz) und Nachtdunkel (bzw. Wasserdominanz) herrschen kann, können auch die beiden Ausscheidungsvorgänge nicht gleichzeitig erfolgen.72 Hierin liegt ein prinzipieller Unterschied zwischen der Ausscheidung von Element-Überschüssen einerseits und der in umgekehrter Richtung (d.h. durch Element-Zustrom ins Auge) erfolgenden optischen Wahrnehmung andererseits: In unserem Gesichtsfeld koexistieren in aller Regel, wenn auch natürlich in jeweils unterschiedlicher Gewichtung, helle mit dunklen Objekten, so dass der Sehvorgang für gewöhnlich durch ein gleichzeitiges Einströmen von Feuer- und von Wasserabflüssen in die jeweils zuständigen Poren unserer Iris charakterisiert ist – man denke nur an die gleichzeitige Wahrnehmung der weißen und der schwarzen Felder eines Schachbretts. Die Hell- bzw. Dunkelwahrnehmungen der einzelnen Poren werden dann zu einem einheitlichen Bild synthetisiert:73 Der von beiden (d.h. Feuer und Wasser) jeweils bewirkte optische Eindruck wird zu einem.
72
Im Übrigen betrifft die Überfüllung des Auges und damit die Notwendigkeit der Element-Ausscheidung vor allem Lebewesen, in deren Auge eines der beiden Elemente bereits von Natur aus im Übermaß vorhanden ist, während die Möglichkeit, dass beide Elemente zugleich im Übermaß vorhanden sein könnten, in der Theorie keine Rolle spielt. 73 Empedokles Fr. 106 MP2 (= DK 31 B 88): μία γίνεται ἀμφοτέρων ὄψ.
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Mit dieser Differenz, die zwischen Elementausscheidung und Sehvorgang hinsichtlich der Gleichzeitigkeit besteht, haben wir den Punkt der Theorie erreicht, von dem aus man den Sachgehalt des Laternengleichnisses in den Grundzügen verstehen und die ihm anhaftenden Interpretationsprobleme zum guten Teil lösen kann. Im Gleichnis wird nämlich, wie wir sehen werden, die Ausscheidung eines Feuerüberschusses aus dem Auge (unser Punkt 1.4.4.6) durch einen vergleichbaren, lebensweltlich vertrauten Vorgang veranschaulicht. Hieraus ergibt sich in Verbindung mit der notwendigen Ungleichzeitigkeit der beiden Ausscheidungstypen eine für die Interpretation des Gleichnisses fundamentale Konsequenz: Während ein Gleichnis zum Sehvorgang idealerweise das gleichzeitige Einströmen von Feuer- und Wasserteilchen durch die jeweils zuständigen Poren zu veranschaulichen hätte, und während in einem Gleichnis zum Aufbau des Auges neben seiner Erd-Luft-Hülle sowohl das augeninterne Feuer als auch das augeninterne Wasser zu berücksichtigen wären, kann ein Gleichnis zum Vorgang der Feuerausscheidung aus dem Auge nicht zugleich auch den zu einer anderen Zeit stattfindenden Vorgang der Wasserausscheidung veranschaulichen. Deshalb wird in unserem Gleichnis von einer Wasserausscheidung ebensowenig die Rede sein, wie umgekehrt in einem Gleichnis zur Wasserausscheidung von der Feuerausscheidung die Rede sein könnte. Bevor wir nun aber zur Behandlung des Gleichnisses übergehen, müssen wir uns noch einmal zum Anfang des im Vorstehenden interpretierten TheophrastReferats der Empedokleischen Augentheorie zurückwenden, um dort anhand unserer inzwischen entwickelten Rekonstruktion dieser Theorie ein Textproblem zu klären, das in der Forschung zum Gleichnis erhebliche Verwirrung gestiftet hat. 1.4.5 Ein Textproblem in Theophrasts Referat Theophrast eröffnet den zweiten Teil von De sensibus 7, d.h. seinen von uns soeben interpretierten Bericht über die Empedokleische Augentheorie, indem er den von Empedokles angenommenen Aufbau des Auges zusammenfasst. Der Wortlaut dieses Résumés ist wie folgt überliefert:74 |500,23| πειρᾶται δὲ καὶ τὴν ὄψιν λέγειν, ποία τίς ἐστι· |24| καί φησι τὸ μὲν ἐντὸς αὐτῆς εἶναι πῦρ, τὸ δὲ περὶ αὐτὸ γῆν καὶ |25| ἀέρα, δι᾽ ὧν διιέναι λεπτὸν ὂν καθάπερ τὸ ἐν τοῖς λαμπτῆρσι φῶς.
Und er versucht auch zu sagen, wie der Sehapparat beschaffen ist; und er sagt, dass dessen Inneres Feuer sei, und dass um es herum Erde und Luft sei; durch diese gehe es (d.h. das Feuer) dank seiner Feinheit hindurch wie das von Laternenwänden umschlossene Licht.
24 πῦρ mss. : πῦρ Diels
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Diels, Dox. [Anm. 19], S. 500,23–25.
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Diesem Wortlaut zufolge würde Theophrast dem Empedokles die Lehre zuschreiben, dass das Augeninnere einfach nur aus Feuer bestehe. Dies ist deshalb problematisch, weil der verbleibende Teil des Theophrast-Referats, wie wir inzwischen gesehen haben, nicht den geringsten Zweifel daran lässt, dass nach der Empedokleischen Theorie das Augeninnere sowohl Feuer als auch Wasser enthält: Die Erd-Luft-Hülle des Auges enthält sowohl Poren mit Feuerformat, durch welche die für die Hellwahrnehmung verantwortlichen Feuerabflüsse der Wahrnehmungsobjekte ins Augeninnere gelangen, als auch Poren mit Wasserformat, durch welche die für die Dunkelwahrnehmung verantwortlichen Wasserabflüsse der Objekte ins Augeninnere gelangen;75 das Einströmen sowohl der Feuerteilchen als auch der Wasserteilchen ins Augeninnere ist durch das Streben des Gleichen zum Gleichen motiviert, so dass im Augeninneren von vornherein sowohl Feuer als auch Wasser vorhanden sein muss,76 wobei es aber Lebewesen gibt, deren Auge von Natur aus zu wenig oder zu viel Feuer enthält,77 wie auch solche, deren Auge von Natur aus zu wenig oder zu viel Wasser enthält;78 am besten aber sehen die Lebewesen, deren Sehapparat (opsis) von Natur aus gleich viel Feuer und Wasser enthält.79 Vor diesem Hintergrund ist es sehr gut nachzuvollziehen, dass Diels die Erwähnung des im Augeninnern befindlichen Feuers (πῦρ) zu einer Erwähnung von Feuer und Wasser (πῦρ ) emendiert hat. Gleichwohl haftet dieser Emendation eine Schwierigkeit an: Im Anschluss an die Erwähnung des Augeninneren und der Erd-Luft-Hülle des Auges berichtet Theophrast, dass „es“ aufgrund seiner Leichtigkeit diese Hülle ebenso passieren könne wie das im Innern einer Laterne brennende Licht die Wände dieser Laterne; mit diesem Vergleich spielt Theophrast offenkundig auf das uns interessierende Laternengleichnis an, in dem ja auch nur von einer Feuerausscheidung aus dem Auge die Rede ist. Umso deutlicher ist, dass mit demjenigen, das aufgrund seiner Leichtigkeit die Augenhülle leicht passieren kann, hier nur das Feuer im Augeninneren gemeint sein kann. Daraus ergibt sich folgende Alternative. Entweder a): Der überlieferte Text ist korrekt. In diesem Fall hätte Theophrast zur Anbahnung seiner unmittelbar folgenden Anspielung auf das Gleichnis zur Feuerausscheidung bereits in seinem Referat des von Empedokles angenommenen Aufbaus des Auges von den beiden im Augeninneren lokalisierten Elementen nur das Feuer genannt und das Wasser in fehlerhafter Weise ausgelassen. Oder b): Diels’ Emendation trifft prinzipiell das Richtige. In diesem Fall hätte Theophrast zunächst die Lokalisie75
Vgl. oben Punkt 1.4.3. Vgl. oben die Punkte 1.3.4 und 1.4.4.2. 77 Vgl. oben die Punkte 1.4.4.1 und 1.4.4.3. 78 Vgl. oben die Punkte 1.4.4.1 und 1.4.4.3. 79 Diels, Dox. [Anm. 19], S. 501,10–11: ἄριστα δὲ κεκρᾶσθαι καὶ βελτίστην εἶναι τὴν ἐξ ἀμφοῖν ἴσων συγκειμένην (scil. ὄψιν). 76
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Zitatfragment und Textkritik
rung sowohl von Feuer als auch von Wasser im Augeninneren referiert, aber anschließend in seiner Anspielung auf das Gleichnis zur Feuerausscheidung als impliziten Subjektsakkusativ zum Infinitiv διιέναι nur eines der beiden zuvor im Augeninneren lokalisierten Elemente Feuer und Wasser aufgenommen, nämlich das Feuer. Von diesen beiden Möglichkeiten scheint die Annahme der elliptischen Formulierung b) weitaus plausibler als die Annahme des groben Fehlers a); zumal sich die Entstehung des bei Annahme b) vorauszusetzenden Überlieferungsfehlers leicht aus der Absicht erklärt, die Spannung zwischen der anfänglichen Nennung von Feuer und Wasser und der späteren, stillschweigenden Beschränkung auf das Feuer zu beseitigen. Allerdings ist Diels’ sachlich unabdingbare Emendation in ihrer vorliegenden Form sprachlich noch nicht plausibel: Statt πῦρ ist vielmehr πῦρ zu schreiben. Die der Emendation von Diels zugrundeliegende Annahme, dass bei der Anspielung auf das Gleichnis implizit nur eines der beiden zuvor genannten Elemente im Augeninnern wiederaufgenommen wird, ist nämlich ungleich plausibler, wenn diese einseitige Wiederaufnahme an das letztgenannte der beiden Elemente anknüpft: |500,23| πειρᾶται δὲ καὶ τὴν ὄψιν λέγειν, ποία τίς ἐστι· |24| καί φησι τὸ μὲν ἐντὸς αὐτῆς εἶναι πῦρ, τὸ δὲ περὶ αὐτὸ γῆν καὶ |25| ἀέρα, δι᾽ ὧν διιέναι λεπτὸν ὂν καθάπερ τὸ ἐν τοῖς λαμπτῆρσι φῶς.
Und er versucht auch zu sagen, wie der Sehapparat beschaffen ist; und er sagt, dass dessen Inneres Feuer sei, und dass um es herum Erde und Luft sei; durch diese gehe es (d.h. das Feuer) dank seiner Feinheit hindurch wie das von Laternenwänden umschlossene Licht.
24 πῦρ dedimus : πῦρ Diels
Aber ganz gleich, ob man Diels’ Emendation des Theophrast-Texts oder unsere Modifikation derselben oder eine noch weitergehende Emendation für geboten hält, oder ob man die in diesem Text überlieferte, fehlerhaft verkürzte Darstellung des Augenaufbaus nach Empedokles am Ende doch auf einen von Theophrast selbst begangenen Flüchtigkeitsfehler zurückführen möchte – all dies kann man ohne schädliche Folgen für das Gesamtverständnis der Theorie tun, solange man nur nicht die fehlerhafte Beschränkung des Augeninnern auf das Feuer für ein authentisches Empedokleisches Lehrstück hält und sich damit in Widerspruch mit dem konsistenten, von Theophrast im gesamten verbleibenden Teil seines Empedokles-Referats gezeichneten Bild setzt. Damit kommen wir zum Text des Gleichnisses.
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2. Das Laternengleichnis 2.1 Bekkers Text des Gleichnisses. – 2.2 Die Aporien der bisherigen Forschung. – 2.3 Erklärung und Kritik von Bekkers Text im Lichte der Empedokleischen Theorie. – 2.4 Neuedition des Gleichnistextes.
Empedokles’ Vergleich des Auges mit einer Laterne (B 84) scheint aber lediglich die Porosität der Sinnesorgane erläutert zu haben. Jedenfalls kann man ihn nicht mit Sicherheit auf eine Lehre von den Sehstrahlen beziehen. Albrecht Dihle (1983)
2.1 Bekkers Text des Gleichnisses Der Text des Gleichnisses, das von Aristoteles im zweiten Kapitel seiner Abhandlung über die Sinneswahrnehmung (De sensu 2) zitiert wird, war in der ersten einschlägigen Fragmentsammlung, der ποίησις φιλόσοφος des Henri II Estienne von 1573, noch nicht erfasst, wohl aber in der im Manuskript erhaltenen Sammlung des Joseph Justus Scaliger (Ms. Scal. 25; folium 108 verso). Wir legen zunächst den von Immanuel Bekker (1785–1871) im ersten Band seiner grundlegenden Aristotelesausgabe von 1831 edierten Wortlaut vor (437b26–438a3):80 b26 b27 b28 b29 b30 b31 b32 a1 a2 a3
ὡς δ᾽ ὅτε τις πρόοδον νοέων ὡπλίσσατο λύχνον, χειμερίην διὰ νύκτα πυρὸς σέλας αἰθομένοιο, ἅψας παντοίων ἀνέμων λαμπτῆρας ἀμουργούς, οἵτ’ ἀνέμων μὲν πνεῦμα διασκιδνᾶσιν ἀέντων, φῶς δ᾽ ἔξω διαθρῶσκον, ὅσον ταναώτερον ἦεν, λάμπεσκεν κατὰ βηλὸν ἀτειρέσιν ἀκτίνεσσιν· ὣς δὲ τότ᾽ ἐν μήνιγξιν ἐεργμένον ὠγύγιον πῦρ λεπτῇσιν ὀθόνῃσι λοχάζετο κύκλοπα κούρην, αἳ δ᾽ ὕδατος μὲν βένθος ἀπέϛεγον ἀμφινάοντος, πῦρ δ᾽ ἔξω διαθρῶσκον, ὅσον ταναώτερον ἦεν.
Diese von Bekker edierte Textform wollen wir im Folgenden übersetzen und dabei die textkritisch bedeutsamen der von Bekker in seinem apparatus criticus verzeichneten Lesartendivergenzen sowie die entsprechenden Lesungen Scaligers in Anmerkungen verzeichnen. Indessen schließen wir in unserer Übersetzung vier Wörter in cruces desperationis (‚Kreuze der Verzweiflung‘) ein, da wir die ihnen entsprechenden, von Bekker in den Text aufgenommenen griechischen Lesungen für metrisch problematisch bzw. für sinnlos halten: 80
Aristoteles Graece ex recensione Immanuelis Bekkeri. Edidit Academia Regia Borussica, Volumen prius, Berlin 1831. Nach den Seiten, Spalten (links: a, rechts: b) und Zeilen dieser Ausgabe wird Aristoteles bis heute zitiert. Seinem Text von De sensu hat Bekker die folgenden sieben Handschriften als ständige Zeugen zugrunde gelegt: Parisinus gr. 1853 (E). – Vaticanus gr. 253 (L). – Urbinas gr. 37 (M). – Vaticanus gr. 1339 (P). – Laurentianus Plut. 81.1 (S). – Vaticanus gr. 260 (U). – Vaticanus gr. 261 (Y).
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Zitatfragment und Textkritik b26 b27 b28 b29 b30 b31 b32 a1 a2 a3
Doch wie wenn ein Mann, der einen Ausgang machen wollte, seine Laterne gerüstet hatte, den Glanz eines durch die Winternacht brennenden Feuers, indem er Laternenwände montiert hatte, †‚Abwischer‘†81 von Winden aller Art, die82 den Atem der wehenden Winde zu zerstreuen pflegen – doch das Licht,83 nach außen hindurchspringend gemäß seiner wachsenden Ausdehnung,84 leuchtete hinunter zur Türschwelle mit unermüdlichen Strahlen, so hat damals das urzeitliche Feuer, das in den Membranen eingeschlossen war, d.h. †den feinen Leintüchern†,85 das kreisförmige ‚Mädchen‘ (d.h. Auge/ Pupille?) †belauert†,86 die die Masse des ringsum strömenden87 Wassers abhielten, während das Feuer, nach außen †hindurchspringend† gemäß seiner wachsenden Ausdehnung,88 […]
ἀμουργούς LSU P Scaliger : ἀμοργούς (‚Abwischer‘) EMY : (ἀμορ)β(ούς) (‚Begleiter‘) Esupr. lin. Scaliger in marg. Zu den Siglen vgl. oben Anm. 80. 82 οἵτ’ (pron. rel. masc. pl.) LSU Scaliger : αἵτ’ (pron. rel. fem. pl.) EMY P. 83 φῶς (‚Licht‘) LSU Scaliger : πῦρ (‚Feuer‘) EMY P. 84 ἔξω διαθρῶσκον (‚nach außen hindurchspringend‘) EMY LSU Scaliger : ἔξω διάνταται τρείατο θεσπεσίησιν ὀθόνησιν διαθρῶσκον (d.h. ἔξω {δι᾽ ἄντα τετρήατο θεσπεσίηισιν} διαθρῶισκον ‚nach außen {sie waren geradeaus durchbohrt mit göttlichen …} hindurchspringend‘) P. 85 λεπτῆσιν ὀθόνησιν (‚den feinen Leintüchern‘) LSU (λεπτῆσιν γ᾽ ὀθόνησιν corr. Vat. gr. 266) : λεπτῆ(ι)σιν χθονίη(ι)σι (‚den feinen unterirdischen‘) EMY Scaliger : λεπτῆσι χοανῆσιν (‚den feinen Öffnungen‘) P. In der von Bekker aus LSU in den Text aufgenommenen Fügung λεπτῇσιν ὀθόνῃσι müsste das -ν am Ende von λεπτῇσιν normalerweise zum anlautenden ο- von ὀθόνῃσι gezogen werden, so dass die Schlusssilbe von λεπτῇσι(ν) kurz zu messen wäre, was metrisch falsch sein würde. Dass auslautendes -ν im epischen Hexameter prosodisch als Doppelkonsonant gewertet wird (vgl. hierzu M. L. West: Greek Metre, Oxford 1982, S. 16, unter Punkt 3), ist im Gegensatz zur entsprechenden, vielfach etymologisch begründeten Lizenz bei anlautendem ν- (vgl. Pierre Chantraine: Grammaire Homérique, Tome I. Phonétique et Morphologie, Paris 1942, S. 175–177, §§ 69–70 [im Folgenden: Chantraine, Morphologie]) eine seltene Ausnahme, für die René Nünlist: Homerische Metrik, in: Homers Ilias. Gesamtkommentar, Prolegomena, hg. v. Joachim Latacz, München, Leipzig 2000, S. 109–114, hier: S. 110, unter Punkt 4.6 den Vers Ilias 1 (A), 85 θαρσήσας μάλα εἰπὲ θεοπρόπιον ὅ τι οἶσθα als Beispiel nennt. 86 λοχάζετο (‚belauerte‘) EMY Scaliger : ἐχεύατο (‚ergoß sich‘ d.h. ‚verbreitete sich‘) SU P (ἐχείατο L). 87 ἀμφινάοντος (Ptz. Präs. Akt. ‚das umfloss‘) L Scaliger : ἀμφινάεντος (Ptz. Aor. Pass. ‚das umflossen hatte‘) SU P vel ἀμφὶ νάεντος EY : ἀμφὶ κάεντος (‚ringsum brennend‘) M. 88 διαθρῶσκον (Ptz. Präs. ‚hindurchspringend‘) EMY LSU Scaliger : διίεσκον (Ind. Impf. ‚sie ließen hindurch‘) P. 81
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Auch ohne bereits auf die Divergenz der handschriftlich überlieferten Lesungen einzugehen und in die Diskussion der Textprobleme einzutreten, lässt sich über das Gleichnis doch jetzt schon so viel sagen, dass der von einer Laterne in einer stürmischen Nacht verbreitete Feuerschein (437b26–31) hier dazu dient, das Austreten (438a3) von Feuer (437b32) aus dem Auge (438a1) in eine von ‚Wasser‘ erfüllte, d.h. dunkle Umgebung (438a2) hinein zu illustrieren – und damit einen Vorgang, der uns aus Theophrasts Referat der Theorie gut bekannt ist. Dennoch gibt es unseres Wissens bis heute weder eine Interpretation noch gar eine textkritische Behandlung des Gleichnisses, die auf einer Berücksichtigung des Theophrast-Referats im Ganzen aufgebaut wäre; infolgedessen hat man in der bisherigen Forschung die von Theophrast erst gegen Ende seines Referats behandelte und für das Gleichnis entscheidende Ausscheidung überschüssigen Feuers aus dem Auge durchweg übersehen. Stattdessen hat man zu Unrecht angenommen, dass das Gleichnis den von Empedokles angenommenen Aufbau des Auges89 oder gar eine Empedokleische Theorie des Sehvorgangs selbst90 veranschaulichen solle. Dabei hat man sich in Aporien verstrickt, die im Folgenden kurz zu besprechen sind. 2.2 Die Aporien der bisherigen Forschung 2.2.1 Die Fehldeutung des Gleichnisses durch Aristoteles und Zeller und ihre Folgen. – 2.2.2 O’Brien (1970): Die Laterne im Augeninnern. – 2.2.3 Sedley (1992): Die Hornhaut als beleuchteter Spiegel.
Bereits Aristoteles selbst, dem wir doch das Zitat des Gleichnisses verdanken, ist bei seiner Deutung dieses Gleichnisses an der fundamentalen, von Theophrast für Empedokles bezeugten Unterscheidung zwischen Sehvorgang und Element-Ausscheidung vollkommen vorbeigegangen. Wie wir im Folgenden zeigen werden, setzte Aristoteles im Zusammenhang mit seinem Zitat des Gleichnisses die dort beschriebene Feuer-Ausscheidung unbesehen mit dem Sehvorgang gleich und konnte so einen ihm erwünschten, da für anti-Empedokleische Polemik verwertbaren Widerspruch zwischen dem Gleichnis einerseits und der sonst bezeugten Empedokleischen Theorie des Sehvorgangs andererseits konstruieren. Auch Eduard Zeller zeigt sich in seinem vielbändigen Standardwerk Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung bei seiner Darstellung der Empedokleischen Sehtheorie weitgehend von Aristoteles abhängig, was in diesem Fall fatale Folgen hat.
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Harold Cherniss: Aristotle’s Criticism of Presocratic Philosophy, Baltimore 1935; O’Brien [Anm. 26]. 90 David Sedley: Empedocles’ Theory of Vision and Theophrastus’ De sensibus, in: Theophrastus. His Psychological, Doxographcial and Scientific Writings, hg. v. William W. Fortenbaugh, Dimitri Gutas, Piscataway 1992, S. 20–31.
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Zitatfragment und Textkritik
2.2.1 Die Fehldeutung des Gleichnisses durch Aristoteles und Zeller und ihre Folgen Aristoteles eröffnet und schließt sein Zitat des Gleichnisses mit den folgenden Worten:91 Ἐμπεδοκλῆς δ᾽ ἔοικε νομίζοντι ὁτὲ μὲν ἐξίοντος τοῦ φωτὸς, ὥσπερ εἴρηται πρότερον, βλέπειν· λέγει γοῦν οὕτως· (Hier folgt das Zitat von Empedokles Fr. 111 MP2 [DK 31 B 84]). ὁτὲ μὲν οὖν οὕτως ὁρᾶν φησίν, ὁτὲ δὲ ταῖς ἀπορροίαις ταῖς ἀπὸ τῶν ὁρωμένων. Empedokles scheint manchmal anzunehmen, dass der Sehvorgang mit dem Austreten von Feuer (scil. aus dem Auge) einhergeht, wie bereits bemerkt.92 Jedenfalls drückt er sich folgendermaßen aus: [hier folgt das Zitat des Laternengleichnisses]. Manchmal also sagt er, dass man in dieser Weise sieht [d.h. wie im Gleichnis beschrieben], doch ein andermal sagt er, dass man mittels der Elementabflüsse sieht, die von den Gegenständen optischer Wahrnehmung ausgehen.
Wie die letzten Worte zeigen, widerspricht Aristoteles nicht etwa der PlatonischTheophrastischen Darstellung der Empedokleischen Sehtheorie; vielmehr missdeutet er das Gleichnis als eine von insgesamt zwei konkurrierenden Empedokleischen Erklärungen des eigentlichen Sehvorgangs. Aus dieser Fehldeutung des Gleichnisses leitet er einen Widerspruch zwischen dem Gleichnis und der sonst von Empedokles vertretenen Sehtheorie ab, wie sie von Platon und Theophrast bezeugt wird und wie sie auch dem Aristoteles selbst bestens bekannt war.93 So kann er insinuieren, dass Empedokles zwischen dieser und jener Erklärung des Sehvorgangs unklar hin und her geschwankt habe. Es ist erstaunlich, dass Aristoteles mit dieser Volte selbst einen Philosophiehistoriker vom Range Eduard Zellers und einen Sprachkenner wie Willem Jacob Verdenius dazu verführen 91
Aristoteles, Sens 2, 437b23–25 und 438a4–5. Der Rückverweis bezieht sich auf 437b10–13: εἴ γε πῦρ ἦν, καθάπερ Ἐμπεδοκλῆς φησὶ καὶ ἐν τῶι Τιμαίωι γέγραπται, καὶ συνέβαινε τὸ ὁρᾶν ἐξίοντος ὥσπερ ἐκ λαμπτῆρος τοῦ φωτός. Auch schon dieser Bemerkung liegt die Aristotelische Fehldeutung des Laternengleichnisses zugrunde, wie der Vergleich des Sehvorgangs mit dem aus einer Laterne austretenden Licht außer Zweifel stellt. 93 Mit dieser Aristoteles-Deutung folgen wir dem De sensu-Kommentar Alexanders von Aphrodisias zur Stelle; vgl. Paul Wendland: Alexandri in librum De sensu commentarium, consilio et auctoritate Academiae litterarum Regiae Borussicae, Berlin 1901 (Commentaria in Aristotelem Graeca voluminis III pars I), S. 23: λέγει δὲ αὐτὸν (scil. Ἐμπεδοκλέα) ποτὲ μὲν τὸ ἀπὸ τῆς ὄψεως ἐκπεμπόμενον φῶς αἰτιᾶσθαι τοῦ ὁρᾶν, ποτὲ δὲ ἀπορροίας τινὰς ἀπὸ τῶν ὁρωμένων (‚Er sagt aber, dass Empedokles einmal das vom Sehapparat ausgesandte Licht für das Sehen verantwortlich macht, ein andermal aber die von den Sehobjekten ausgehenden Abflüsse‘). Ebenso Paweł (‚Paulus‘) Siwek S.J. (Hg.): Aristotelis Parva Naturalia Graece et Latine, Rom 1963 (Collectio philosophica Lateranensis 5) [im Folgenden: Siwek, Edition], S. 78 Anm. 67: „Aristoteles asserit Empedoclem certo theoriam effluviorum admisisse (438a4–5), attamen adiungit eum probabiliter etiam aliam theoriam tenuisse, eam scil., quae explicat visionem per ignem exeuntem ex oculo tamquam e quadam lanterna (437b 24–25). Ad assertionem suam confirmandam citat Empedoclis fragmentum“. 92
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konnte, in dem Gleichnis – ungeachtet der dem entgegenstehenden, völligen eindeutigen Zeugnisse Platons und Theophrasts – den Sehvorgang selbst oder wenigstens ein Teilmoment dieses Vorgangs beschrieben zu sehen.94 Bereits Harold Cherniss hat zwar gegen Aristoteles völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass im Gleichnis von einem Sehvorgang keine Rede ist:95 Aristotle […] implies that the two explanations are contradictory, implying that he could not be sure which one Empedocles really held; and the passage from Empedocles, the sole evidence Aristotle could find for attributing to him the theory of emergent fire from the eye, is a simile concerning the structure of the eye without a word about vision or its cause. That the fire within could emerge from the eye Empedocles no doubt believed, since there were pores in the membrane through which the effluences from without passed; and the gleaming and ‚flashing‘ of the eyes had to be accounted for even apart from vision.
Doch ist die pars destructiva bei Cherniss überzeugender als die pars constructiva. Zum einen wird die Überzeugungskraft von Cherniss’ eigenem, freihändigen Versuch, die Beschreibung von aus dem Auge ausströmendem Feuer im Gleichnis inhaltlich zu begründen („the gleaming and ‚flashing‘ of the eyes“), dadurch beeinträchtigt, dass auch er mit keinem Wort auf die Entlastungsfunktion der Feuer-Ausscheidung eingeht, die für das Gleichnis konstitutiv ist und die Theophrast für Empedokles ausdrücklich bezeugt. Zum andern war es für die weitere Forschung geradezu verhängnisvoll, dass Cherniss im Gleichnis anstelle des Sehvorgangs nunmehr ‚die Struktur des Auges‘ (the structure of the eye) veranschaulicht sah: Da das Gleichnis in Wahrheit von der Ausscheidung überschüssigen Feuers handelt, kann dort vom augeninternen Wasser naturgemäß keine Rede sein. Wer also einerseits, auf Cherniss’ Spuren, im Gleichnis die Struktur des Auges sucht und andererseits die von Theophrast referierte Augentheorie des Empedokles immerhin gut genug kennt, um zu wissen, dass das Augeninnere nach Empedokles von Feuer und Wasser erfüllt ist – für den muss das vollkommene Fehlen jeglicher Erwähnung des augeninternen Wassers im 94 Zeller [Anm. 65], S. 994: „Wenn nun die Ausflüsse der sichtbaren Dinge am Auge anlangen, treten durch die Poren Ausflüsse des inneren Feuers und Wassers hervor, und aus dem Zusammentreffen beider entsteht die Anschauung“. Wie soll dieses Zellersche Konstrukt mit den klaren, von uns oben unter 1.4.2 interpretierten Worten in Platons Menon (76c7–d5; S. 161 Bluck) vereinbar sein, nach denen es der Empedokleischen Theorie zufolge die von den Gegenständen herkommenden Elementabflüsse sind, die in die Augenporen hineinpassen müssen? Der gleiche Einwand spricht auch gegen W. J. Verdenius: Empedocles’ doctrine of sight, in: Studia varia Carolo Guilielmo Vollgraff a discipulis oblata, Amsterdam 1948, S. 155–164, hier: S. 162–163: „When we are seeing anything, we are not only aware of receiving an impression but also suppose this impression to correspond to reality. Our being conscious of a correspondence takes the form of a projection by which we return our impressions to the object […]: the effluences and pores explain the impression, the lantern explains the projection.“ 95 Cherniss [Anm. 89], S. 318, Fortsetzung von Anm. 106 zu S. 317. Vgl. Müller [Anm. 26], S. 61, Anm. 101.
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Gleichnis als ein schweres Problem erscheinen. Daraus erklärt sich das Bedürfnis, dieses Scheinproblem durch massive Umdeutung des Gleichnistextes oder durch konjekturale Änderung seines Wortlautes zu beheben.96 2.2.2 Denis O’Brien (1970): Die Laterne im Augeninnern O’Brien nimmt mit Cherniss an, dass der ‚So-Teil‘ des Gleichnisses nicht auf den Sehvorgang zu beziehen ist,97 sondern auf die Zusammensetzung und Struktur des Auges.98 Um der vermeintlichen Beschreibung der Augenstruktur im Gleichnis die dort fehlende Erwähnung des augeninternen Wassers zu verschaffen, postuliert O’Brien, dass mit der im ‚So-Teil‘ erwähnten ‚Tiefe des ringsum strömenden Wassers‘99 gar nicht die dunkle Außenwelt gemeint ist, in der sich das Auge befindet, sondern eben das augeninterne Wasser. Demgemäß entnimmt er dem ‚So-Teil‘ eine Struktur, in der das augeninterne Feuer gesondert im Zentrum untergebracht wäre und vor dem umgebenden, gleichfalls internen Wasserquantum100 durch eine Spezialmembran getrennt und geschützt würde,101 eine Membran, die einerseits wasserdicht, andererseits dank ganz feiner Öffnungen feuerdurchlässig wäre: Einzig und allein dieser Schutz des internen Feuers vor dem internen Wasser sei das Thema des Laternengleichnisses.102 Während O’Brien zunächst noch anzunehmen scheint, dass im ‚So-Teil‘ beschrieben werde, wie Feuer das Auge verlässt,103 auch wenn unklar bleibe, wo96 So wollte Marwan Rashed: La jeune fille et la sphère. Études sur Empédocle, Paris 2018, Chapitre 4 (La pupille et l’Infante: reconstitution & interprétation du fragment 84), S. 151–172, dem vermeintlichen Wassermangel abhelfen, indem er die im ‚So-Teil‘ des Gleichnisses verwendete Bezeichnung des Auges (κούρη) zu einer mythologisch mehrfach verschlüsselten Bezeichnung des Wassers umdeutete. Wir werden darauf unten unter Punkt 2.3.4 zurückkommen. 97 O’Brien [Anm. 26], S. 143: „Does the image of the lantern in fact describe fire leaving the eye, and does it make this fire responsible for vision? The answer is yes to the first question, and no to the second.“ 98 Ebenso O’Brien ebd., S. 166: „The point to notice is that in Theophrastus’ summary the image of the lantern is introduced antecedently to the account of vision, as part of a description of the composition and the structure of the eye.“ 99 438a2: ὕδατος μὲν βένθος ἀπέστεγον ἀμφινάοντος. 100 O’Brien [Anm. 26], S. 165–166: „Therefore the description in the fragment of the fire which gets out while the water cannot get in, seems to me to apply most naturally to the water inside the eye.“ 101 O’Brien ebd., S. 165: „The membranes therefore, it seems to me, must be designed not to keep water out of the eye, nor to hold water within the eye, but to protect the fire in the eye from the water in the eye.“ 102 O’Brien ebd., S. 166: „The point to appreciate, I suggest, is that the lantern itself does not represent the whole of the eye, but only the fire in the pupil and the membranes. The fire in the lantern and the winds outside the lantern together represent the fire and the water in the eye.“ 103 O’Brien ebd., S. 143: „Fire leaves the eye in the way in which fire or light […] leaves the lantern.“
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zu,104 hat er 23 Seiten später seine Meinung offenbar dahingehend geändert, dass im ‚So-Teil‘ lediglich beschrieben werde, wie Feuer seinen Schutzraum im Augeninnersten verlässt.105 Bei der von Theophrast erwähnten Erd-Luft-Hülle könne es sich auch nicht um die Außenhülle des Auges handeln, sondern nur um die interne Membran zum Schutz des Feuers im Augeninneren, und die im Gleichnis wie von Theophrast erwähnten feinen Durchlässe für das Feuer seien streng zu trennen von den für die optische Wahrnehmung verantwortlichen Poren der Außenhülle.106 Externes Feuer könne nach seinem Einströmen ins Auge und nach Durchquerung des internen Wasserreservoirs mittels der feinen Öffnungen der internen Erd-Luft-Membran den internen Schutzraum erreichen, und andererseits könne internes Feuer mittels derselben Öffnungen der internen Erd-Luft-Membran seinen Schutzraum verlassen, um nach Durchquerung des internen Wasserreservoirs schließlich aus dem Auge hinaus zu gelangen.107 Demgegenüber bestehe die – nach O’Brien im Gleichnis gar nicht thematisierte – Außenhülle des Auges bzw. die sie perforierenden Wahrnehmungsporen aus den von den Poren jeweils wahrzunehmenden Elementen selbst, d.h. aus Feuer bzw. Wasser;108 wohingegen Luft und Erde im Auge nach O’Brien ausschließlich als Material der vermeintlich internen Membran zum Schutz des Feuers dienen.109
104 O’Brien ebd., S. 144: „there may well have been no need for Empedocles to explain what fire did when it left the eye.“ 105 O’Brien ebd., S. 166: „the lantern itself does not represent the whole of the eye, but only the fire in the pupil and the membranes. The fire in the lantern and the winds outside the lantern together represent the fire and the water in the eye.“ Wenn letzteres zuträfe, dann würde das Gleichnis klarerweise gerade nicht für den Austritt des Feuers aus dem Auge stehen, wie von O’Brien auf S. 143 behauptet, sondern für seinen Austritt aus seinem von O’Brien im Innersten des Auges imaginierten Schutzraum in das umgebende, ebenfalls noch augeninterne Wasser-Reservoir. Nach unserer Meinung hat O’Brien auf S. 143 Recht und auf S. 166 Unrecht. 106 O’Brien ebd., S. 144: „The funnels which pierce the membranes are not the same therefore as the pores of fire and water by which we see white and black, or light and dark things.“ 107 O’Brien ebd., S. 166: „The fire in the eye is enclosed in membranes of earth and air, which ‚keep off‘ water in the eye from the fire in the eye, without hampering the movement of fire in and out of the eye.“ 108 O’Brien ebd., S. 144: „The pores of f ir e a nd w a te r“, S. 164: „we perceive black things by the w a t e r y pores in the eye, and white things by the fi er y pores“ und S. 166: „I conclude that fire and water are the only percipient elements in the eye.“ Zu diesem letzten, ernsten Schritt mag O’Brien durch ein obiter dictum von Cherniss [Anm. 89], S. 318, Fortsetzung von Anm. 106 zu S. 317 („the colors are brought to the organ of sight by effluence and are perceived by the mechanism of f ie ry and aq ue ou s pores in the eyes“) angeregt worden sein (Hervorhebungen von uns). 109 O’Brien [Anm. 26], S. 166: „Earth and air are present in the eye solely as constituents of the membranes, whose function it is to protect the fire in the eye from the water which surrounds it.“
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Zwischen dem ‚Wie-Teil‘ und dem ‚So-Teil‘ des Gleichnisses nimmt O’Brien folgende Entsprechungen an: Die Laterne des ‚Wie-Teils‘ entspreche dem augeninternen Feuerschutzraum des ‚So-Teils‘,110 die Laterne und die sturmwinderfüllte nächtliche Außenwelt des ‚Wie-Teils‘ entspreche dem aus Feuerschutzraum und umgebendem Wassertank bestehenden Augeninneren.111 Dem im ‚Wie-Teil‘ geschilderten Ausströmen des Feuers korrespondiert im ‚So-Teil‘ ein Vorgang, dessen Funktion Empedokles wahrscheinlich gar nicht erklärt habe.112 O’Briens Deutungsversuch vermag aus mehreren Gründen nicht zu überzeugen: –
Die Korrespondenz, die bei O’Briens Interpretation zwischen dem ‚WieTeil‘ und dem ‚So-Teil‘ des Gleichnisses besteht, ist verzweifelt schwach: Im ‚Wie-Teil‘ dringt Feuer ungehindert hinaus in die sturmwinderfüllte nächtliche Außenwelt, im ‚So-Teil‘ aber findet der nächtliche Wintersturm seine Entsprechung nur im augeninternen Wasserreservoir. Das Pendant der Laterne im ‚So-Teil‘ des Gleichnisses ist nicht das Auge, sondern ein von O’Brien postulierter Feuer-Schutzraum innerhalb des Auges. Und dem im ‚Wie-Teil‘ zentralen Ausströmen des Feuers entspricht im ‚So-Teil‘ ein Vorgang, zu dessen Relevanz O’Brien eingestandenermaßen nichts zu sagen weiß.
–
Die Annahme einer Abschirmung des internen Feuers gegen das interne Wasser erscheint deshalb als unplausibel, weil nach Theophrast eine Überfüllung des Augeninneren mit dem außen jeweils vorherrschenden der beiden Elemente ohne weiteres auch die Einmündungen der für das andere Element zuständigen Poren ins Augeninnere blockiert: Diese Annahme setzt einen einheitlichen Innenraum des Auges voraus, der (in wechselnden Proportionen) von Feuer- und von Wasserteilchen ausgefüllt ist.
–
Es ist nicht einzusehen, wozu das Feuer der von O’Brien ihm zugedachten Schutzhülle überhaupt bedürfen sollte, da in dem von O’Brien ausgedachten Szenario das Feuer auf seinen Wegen von und zu der Peripherie des Auges das Wasserreservoir völlig schadlos durchquert.
–
O’Briens weitere These, dass die Außenhülle des Auges bzw. die sie perforierenden Wahrnehmungsporen selbst aus Feuer und Wasser bestehen, ist mit der allgemeinen Wahrnehmungstheorie des Empedokles schwerlich zu vereinbaren: Das stoffgleiche Strebungsobjekt, durch das nach der Empedokleischen Prinzipienlehre der vom Sehobjekt ausgehende Zustrom der Feuerund Wasserabflüsse durch die Wahrnehmungsporen des Auges hindurch
110 O’Brien ebd., S. 166: „the lantern itself does not represent the whole of the eye, but only the fire in the pupil and the membranes.“ 111 O’Brien ebd., S. 166: „The fire in the lantern and the winds outside the lantern together represent the fire and the water in the eye.“ 112 O’Brien ebd., S. 144: „there may well have been no need for Empedocles to explain what fire did when it left the eye.“
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motiviert sein muss, kann sich, wie wir sahen, nur im Inneren des Auges befinden. Wenn nämlich schon die Außenhülle des Auges bzw. deren Poren aus Feuer und Wasser bestünden, wie von O’Brien behauptet, dann hätten die hinzuströmenden Feuer- und Wasserabflüsse schon mit ihrer Ankunft an der Außenhülle des Auges – bzw. am Eingang der Poren – den ihnen gleichen Stoff und damit ihr Strebungsobjekt erreicht, und die Poren wären sogleich verstopft, während es für ihre Durchquerung keinerlei Bewegungsursache mehr geben würde; infolgedessen könnte der Sehvorgang nie zustande kommen. Wenn nun Theophrast für die von Empedokles angenommene Augenstruktur ausdrücklich eine durch Poren perforierte Erd-Luft-Hülle bezeugt, die die systematische Forderung materialer Verschiedenheit von Wahrnehmungsporen und Wahrnehmungsobjekt genau zu erfüllen vermag, dann muss es als geradezu gewaltsam gewertet werden, dieser Hülle um eines anderen, gänzlich hypothetischen Zweckes willen ihre auf der Hand liegende Funktion als der durch Wahrnehmungsporen perforierten Außenhülle des Auges abzusprechen. –
In einer Beschreibung der Augenstruktur wäre es ein eklatanter Mangel, wenn dort über die Außenhülle des Auges, die bei der optischen Wahrnehmung eine Schlüsselrolle spielt, buchstäblich gar nichts gesagt würde und statt dessen ausschließlich Strukturmomente des Augeninneren behandelt würden, die, selbst wenn Empedokles sie angenommen hätte, für die Wahrnehmungsfunktion des Auges doch irrelevant bleiben würden.113
Aus diesen Gründen ist O’Briens Lösungsvorschlag abzuweisen: Auf dieser Basis ist eine textkritische Behandlung des Gleichnisses nicht möglich. 2.2.3 David Sedley (1992): Die Hornhaut als beleuchteter Spiegel Sedley hat die Schwächen des Vorschlags von O’Brien deutlich gesehen und sucht sie mit einem eigenen Vorschlag zu vermeiden, der sich freilich in der Berufung auf den vermeintlichen Parallelfall der Spiegelungstheorie Alkmaions von Kroton überraschend eng mit dem von uns bereits erwähnten Aufsatz von Willem Jacob Verdenius berührt.114 Sedley weist O’Briens Hypothese von der internen, zum Schutz des Feuers bestimmten Erd-Luft-Membran zurück und sieht in der von Theophrast erwähnten Erd-Luft-Hülle plausiblerweise wieder die Außenhülle des Auges. Ebenso einleuchtend ist es, wenn er um der Entsprechung von ‚Wie-Teil‘ und ‚So-Teil‘ des Gleichnisses willen darauf insistiert, dass das Wasser im ‚So-Teil‘ dem im ‚Wie-Teil‘ außerhalb der Laterne wehenden nächtlichen Sturmwind nur dann korrespondiert, wenn es sich außerhalb des Auges befindet. 113 O’Brien ebd., S. 144: „In the simile only one kind of pore or passage is mentioned: the ‚wonderful funnels‘ in line 9 of the fragment […]. The ‚wonderful funnels‘ do not therefore, according to Theophrastus, act as channels of perception.“ 114 Vgl. Verdenius [Anm. 94], S. 159–163.
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Doch so überzeugend seine Kritik an O’Brien 1970 ist, so unhaltbar ist sein eigener Lösungsvorschlag. Sedley bezieht das Gleichnis wieder auf den Sehvorgang selbst; dabei beruft er sich zwar auf das Theophrast-Referat in De sensibus 7–8, nimmt es aber nur äußerst selektiv zur Kenntnis. Sedley greift nämlich aus diesem Referat in der Hauptsache die korrupt überlieferte und unemendierte Gestalt der folgenden, von uns bereits behandelten Worte heraus:115 |500,24| καί φησι τὸ μὲν ἐντὸς αὐτῆς εἶναι πῦρ, τὸ δὲ περὶ αὐτὸ γῆν καὶ |25| ἀέρα.
und er sagt, dass dessen (scil. des Sehapparates) Inneres Feuer sei, und dass um es herum Erde und Luft sei.
24 πῦρ mss. : πῦρ dedimus : πῦρ iam Diels
Ohne auch nur mit einem Wort auf den eklatanten Widerspruch zwischen der überlieferten Gestalt dieser Worte und dem Rest des Theophrast-Referats einzugehen,116 entnimmt Sedley dem korrupten Wortlaut die erste Grundthese seiner Deutung, der zufolge das Augeninnere nach Empedokles ausschließlich Feuer und kein Wasser enthalte:117 Empedocles’ account of the eye apparently did not even mention internal water.
Die zweite Grundthese von Sedleys Deutung besteht in der Annahme, dass mit der im ‚So-Teil‘ des Empedokleischen Gleichnisses erwähnten „Tiefe des ringsum strömenden Wassers“118 der dünne Film von Tränenflüssigkeit gemeint sei, der die Hornhaut des Auges bedecke:119 What is the water which the membranes are said to keep out? […] the moisture on the surface of the cornea—the lachrymal fluid.
Von dem offensichtlichen Einwand, dass der Empedokleische Ausdruck „Tiefe des ringsum strömenden Wassers“ als Bezeichnung eines dünnen Films von Tränenflüssigkeit einigermaßen exzentrisch sein würde, zeigt Sedley sich unbeeindruckt:120 βένθος, ‚the deep‘ or ‚the ocean‘, is of course an extravagant term for a thin film of water, but the extravagance is not untypical of Empedocles.
Und so kommt er flugs zu der Behauptung, dass sich aus dem ‚So-Teil‘ des Gleichnisses eine Empedokleische Sehtheorie gewinnen lasse: Empedokles habe
115
Diels, Dox. [Anm. 19], S. 500,24–25. Für Sedleys sehr unvollständige Berücksichtigung des Theophrast-Referats bietet seine Erwähnung einiger der von Theophrast gegen Empedokles vorgebrachten Kritikpunkte keinen Ersatz. 116 Diesen Widerspruch und damit die sachliche Berechtigung von Diels’ Emendation haben wir oben unter Punkt 1.4.5 erwiesen. 117 Sedley [Anm. 90], S. 23. 118 438a2: ὕδατος μὲν βένθος ἀπέστεγον ἀμφινάοντος. 119 Sedley [Anm. 90], S. 23. 120 Sedley ebd., S. 23, Anm. 10.
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eine Interaktion des aus dem Augeninneren zur Hornhautoberfläche gelangenden Feuers und des dort schon vorhandenen Tränenfilms angenommen:121 If water cannot get into the eye but fire get out, this mixture of passages of water and fire must take place on the surface of the cornea.
Im Rahmen dieser Interaktion diene das Austreten des internen Feuers der Beleuchtung der Hornhaut:122 Empedocles has thus turned the old belief about fire in the eye into a handy explanation of the role of light in vision.
Und die durch den Tränenfilm bewirkte Spiegel-Qualität der durch das Austreten des internen Feuers beleuchteten Hornhaut sei verantwortlich für den Sehvorgang:123 it is the reflective surface of the eye that is responsible for vision.
Wie man sieht, ist Sedleys Deutung, so ungern man eine solche Diagnose ausspricht, in jeder Hinsicht unvereinbar mit dem von Platon und Theophrast übereinstimmend bezeugten Hauptpunkt der Empedokleischen Theorie der Augenfunktion, dem zufolge die Elementabflüsse des Wahrnehmungsgegenstandes durch die Durchquerung der Augenporen in Richtung Innenauge die optische Wahrnehmung dieses Gegenstandes auslösen. Auf der Basis dieser Deutung ist eine textkritische Behandlung des Gleichnisses ebenso wenig möglich wie auf der Basis der Deutung von O’Brien. 2.3 Erklärung und Kritik von Bekkers Text im Lichte der Empedokleischen Theorie 2.3.1 Der ‚Wie-Teil‘: die Erprobung einer Laterne. – 2.3.2 Die Deutung des ‚So-Teils‘ durch Theophrast. – 2.3.3 Der ‚So-Teil‘ im Lichte des ‚Wie-Teils‘: Aphrodite erprobt ein neukonstruiertes Auge. – 2.3.4 Das Auge im ‚So-Teil‘: Zu dem Beitrag von Rashed (2018). – 2.3.5 Die beiden Hauptprobleme von Bekkers Text. – 2.3.5.1 Im ‚So-Teil‘ fehlen die Poren. – 2.3.5.2 Im ‚Wie-Teil‘ fehlt ein Pendant zu den Poren. – 2.3.5.3 Folgerungen für die Textkritik.
Angesichts des dargestellten Forschungsstandes scheint es dringend geboten, das Gleichnis einmal konsequent im Lichte der von Platon und Theophrast bezeugten Empedokleischen Theorie der Augenfunktion zu interpretieren. Dabei halten wir uns in einem ersten Schritt an die von Bekker edierte Gestalt des Textes bzw. an unsere Übersetzung dieser Textform, um sodann die dabei noch offengebliebenen Probleme nach Möglichkeit im Wege einer Klärung der Überlieferungsverhältnisse und einer kritischen Neukonstitution des Gleichnistextes zu lösen.
121 122 123
Sedley ebd., S. 25. Sedley ebd., S. 26. Sedley ebd., S. 25.
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Zitatfragment und Textkritik
2.3.1 Der ‚Wie-Teil‘: die Erprobung einer Laterne Im ‚Wie-Teil‘ des Gleichnisses (437b26–31) wird Folgendes erzählt: Nachdem ein Mann seine Laterne für einen nächtlichen Ausgang vorbereitet hatte, indem er Laternenwände montiert hatte (die den Schein des in der Laterne brennenden Feuers nach außen lassen und zugleich dieses Feuer vor dem außen wehenden Wind schützen sollen), war zu sehen, wie das Licht der Laterne durch die Laternenwände ungehindert nach außen in die Umgebung der Laterne drang und dabei die Türschwelle des Mannes beleuchtete: b26 b27 b28 b29 b30 b31
Doch wie wenn ein Mann, der einen Ausgang machen wollte, seine Laterne gerüstet hatte, den Glanz eines durch die Winternacht brennenden Feuers, indem er Laternenwände montiert hatte, †‚Abwischer‘†124 von Winden aller Art, die den Atem der wehenden Winde zu zerstreuen pflegen – doch das Licht, mit wachsender Ausdehnung nach außen hindurchspringend, leuchtete hinunter zur Türschwelle mit unermüdlichen Strahlen,
Für die genauere Bestimmung der geschilderten Situation kommt es nun entscheidend auf eine bisher unverstanden gebliebene Einzelheit an: Von dem aus der Laterne dringenden Licht wird nicht etwa berichtet, dass es den nächtlichen Weg des Mannes beschien, sondern seine Türschwelle (437b31).125 Dem ist zu entnehmen, dass der Mann seine Laterne bereits fertig montiert und entzündet, und auch sein Haus schon verlassen hat, dass er aber seine Laterne vernünftigerweise vor dem Losgehen, d.h. außen vor seiner Haustüre, darauf prüft, ob die lichtdurchlässigen Laternenwände das in der Laterne brennende Feuer vor dem außen wehenden Sturmwind zu schützen vermögen. Die Prüfung fällt positiv aus: Das Laternenfeuer wird durch den Sturmwind nicht beeinträchtigt
124 Die appositive Charakterisierung der Laternenwände als ‚Abwischer von Winden aller Art‘ – wenn denn die von Bekker in den Text aufgenommene, sonst nicht belegte Form ἀμουργούς dasselbe bedeuten soll wie die ebenfalls überlieferte Form ἀμοργούς (von ἀμέργω ‚abpflücken‘) – ist offenbar unsinnig: Zu erwarten ist vielmehr die Charakterisierung der Wände als ‚Abhilfen gegen Winde aller Art‘; hierauf wird unter Punkt 2.4.3.7 zurückzukommen sein. 125 437b31: λάμπεσκεν κατὰ βηλὸν ἀτειρέσιν ἀκτίνεσσιν. Nach dem Lexikon des frühgriechischen Epos (LfgrE), Bd. II, Spalte 53 wird βηλός im Epos ausnahmslos in der Bedeutung ‚Türschwelle‘ verwendet. Die antike Fehldeutung als ‚Himmel‘ erklärt sich aus der epischen Beschränkung des Wortes auf die Türschwellen von Götterwohnungen und insbesondere aus den beiden iliadischen Reminiszenzen daran, dass Zeus aufrührerische Götter von der Schwelle seines himmlischen Palastes zur Erde hinab schleuderte (A [1] 591 bzw. O [15] 23): Dort ist die Fehlübersetzung ‚Himmel‘ immerhin nachvollziehbar. An unserer Stelle aber ist es vollends abwegig, mit Alexander v. Aphrodisias (bei Wendland [Anm. 93], S. 23,22–23) und Diels 1912 [Anm. 5], S. 253 bzw. Kranz [Anm. 1], S. 342 die Bedeutung ‚Firmament‘ oder ‚Himmel‘ anzusetzen, da man auf einer Nachtwanderung zweckmäßigerweise nicht, als Hanns Guck-in-die-Luft, den Himmel, sondern den eigenen Weg beleuchten wird.
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und verbreitet sein Licht über den bei geschlossenen Haustürflügeln außerhalb gelegenen Teil des als Türschwelle fungierenden Steinblocks. Wie man sich den hier vorschwebenden Typus von Türschwelle (βηλός, be¯los) vorzustellen hat, ergibt sich aus dem berühmten Anhang „Ueber altgriechische Thüren und Schlösser“, den Hermann Diels seiner kommentierten Ausgabe des Parmenideischen Lehrgedichts (1897) beigegeben hat:126 Abgesehen davon, dass die schweren Haustürflügel vielfach nach außen geöffnet wurden,127 so dass der außerhalb gelegene Teil der Türschwelle ihnen als Stütze dienen konnte,128 fungierte der äußere Teil der Schwelle vor allem als Antrittsstufe,129 und eben dies, ‚Stufe am Eingang‘, ist offensichtlich auch die Grundbedeutung von βηλός;130 deshalb werden wir das Wort βηλός in unserem Gleichnis von nun an mit ‚Stufe seiner Haustür‘ übersetzen. Damit ist geklärt, dass der Wandersmann zunächst die Funktionsfähigkeit seiner Laterne prüft, indem er sie über der Stufe seiner Haustür leuchten lässt, so dass das Gewicht des ‚Wie-Teils‘ weder auf der Montage der Laterne liegt – auf 126 Hermann Diels: Parmenides Lehrgedicht. Griechisch und Deutsch. Mit einem Anhang über Griechische Thüren und Schlösser, Berlin 1897, S. 117–151; vgl. insbesondere die Wiedergabe der Türschwelle in den beiden Rekonstruktionszeichnungen ‚Homerische Thür von innen‘ und ‚Homerische Thür von aussen‘ auf S. 136 (Fig. 23 und 24). 127 Diels ebd., S. 137: „Die Thürflügel öffnen sich, wie dies für die ältere Zeit überwiegend durch die Ausgrabungen festgestellt ist, nach aussen“, mit Verweis auf die ebd., S. 139 (Fig. 29) abgebildete Wiener Kentaurenvase, auf der dargestellt ist, wie eine Dienerin einen Türflügel der Tür zum Thalamos nach außen geöffnet hat, um ihrer vor einem Kentauren fliehenden Herrin Einlass zu gewähren. Vgl. Helladios bei Photios, Bibl. 535b26–30 (Peter Isépy: A Preliminary Text of Photius’ Bibliotheca c. 278 [279] – the Chrestomatheiai of Helladius of Antinoupolis, in: ZPE 220 (2021), S. 97–117, hier: S. 115,1–3): ὅτι, φησί, τούτου χάριν κόπτουσι παρὰ τοῖς κωμικοῖς οἱ ἐξιόντες τὰς θύρας, διότι οὐχ ὡς παρ’ ἡμῖν νυνὶ τὸ παλαιὸν ἀνεῴγνυντο αἱ θύραι, ἀλλ’ ἐναντίῳ τρόπῳ. ἔξω γὰρ αὐτὰς ἀνατρέποντες ἔνδοθεν ἐξῄεσαν. („Er sagt, bei den Komikern klopften die Hinausgehenden deshalb gegen die Türen, weil sich die Türen in der Vergangenheit nicht wie zu unserer Zeit öffneten, sondern auf entgegengesetzte Weise. Indem sie sie nämlich nach außen aufstießen, gingen sie von innen hinaus.“) Wir verdanken P. Isépy den Hinweis auf die Stelle, ein Separatum seiner Edition und die Übersetzung. 128 Auf diese Funktion ist in der Rekonstruktionszeichnung ‚Homerische Thür von aussen‘, ebd., S. 136 (Fig. 24) die Tiefe des vorkragenden äußeren Teils der Schwelle berechnet. 129 Die Funktion der Türschwelle als Antrittsstufe wird gut durch die Berliner rotfigurige Hydria illustriert, die Diels ebd., S. 133 als Fig. 22 wiedergibt. 130 βηλός ist eine durchsichtige Ableitung von der Verbalwurzel βη- (z.B. im Aor. βῆναι zu βαίνω ‚schreiten‘), die allgemein soviel bedeutet wie ‚die Füße setzen‘ und deshalb in den kausativen sigmatischen Aktivformen βῆσε und βήσομεν auch ‚(ein- oder aus-)steigen lassen‘. Die Verwendung von βη-λός ‚Antrittsstufe, Einstiegsstufe‘ an unserer Stelle – das übliche epische Wort für Türschwelle ist ja οὐδός – stimmt also exakt zu der hier beschriebenen Beleuchtung der Schwelle von außen. Doch auch die epische Beschränkung von βηλός auf die Eingangsstufe eines göttlichen Hauses im Himmel schwingt mit: Dem im ‚Wie-Teil‘ auftretenden Wandersmann entspricht im ‚So-Teil‘ die Göttin Aphrodite, wie wir gleich sehen werden.
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diese wird vielmehr mittels der punktuellen Aoriste des ersten und dritten Verses bereits zurückgeblickt –, noch auf ihrem bestimmungsgemäßen Gebrauch während der Wanderung – dieser steht noch bevor –, sondern vielmehr auf ihrer erfolgreichen Erprobung. 2.3.2 Die Deutung des ‚So-Teils‘ durch Theophrast Wir kommen nun zur Interpretation des ‚So-Teils‘ und halten uns auch hier zunächst wieder an seine von Bekker 1831 edierte Gestalt (437b32–438a3): b32 a1 a2 a3
so hat damals das urzeitliche Feuer, das in den Membranen eingeschlossen war, d.h. †den feinen Leintüchern†, das ringgestaltige ‚Mädchen‘ (d.h. die Iris) †belauert†: Die hielten die Masse des ringsum strömenden Wassers ab, während das Feuer, mit wachsender Ausdehnung nach außen hindurch †springend†.
Das wichtigste externe Zeugnis zur Bedeutung des ‚So-Teils‘ verdanken wir Theophrast, der schon gleich zu Beginn seiner Darstellung der Empedokleischen Augentheorie ausdrücklich das Lehrstück bezeugt, dass das im Auge befindliche Feuer dank seiner Feinheit durch die Erd-Luft-Hülle des Auges hindurch – und mithin: nach außen – dringt, wie das in den Wänden einer Laterne eingeschlossene Licht.131 Dass er sich mit diesem Vergleich auf unser Laternengleichnis bezieht, liegt offen zu Tage. Nach Theophrast wird also im ‚SoTeil‘ des Gleichnisses beschrieben, wie zu einem bestimmten Zeitpunkt der Vergangenheit (437b32 τότε) Feuer aus dem Augeninneren durch die Augenhülle nach außen drang. Nach Theophrasts eigener Darstellung der Empedokleischen Theorie aber geschieht, wie wir sahen, ein solcher Feueraustritt nicht beim Sehvorgang, sondern nur dann, wenn im Dunkel ein Feuerüberschuss aus dem Auge ausgeschieden wird.132 Auf diese Situation hat Theophrast mithin das Gleichnis bezogen. Zu Theophrasts Interpretation des Gleichnisses wie zu seiner Darstellung der Theorie als ganzer stimmt der ‚So-Teil‘ des Gleichnisses in mindestens drei wichtigen Hinsichten. 1. Im ersten Vers des ‚So-Teils‘ (437b32) wird ein in Membranen gehülltes, urzeitliches Feuer erwähnt: so hat damals das urzeitliche Feuer, das in den Membranen eingeschlossen war […]
Diels, Dox. [Anm. 19], S. 500,24–25: καί φησι τὸ μὲν ἐντὸς αὐτῆς (scil. τῆς ὄψεως) εἶναι πῦρ, τὸ δὲ περὶ αὐτὸ γῆν καὶ ἀέρα, δι᾽ ὧν διιέναι (scil. τὸ πῦρ) λεπτὸν ὂν κ α θ ά π ε ρ τ ὸ ἐ ν τ ο ῖ ς λ α μ π τ ῆ ρ σ ι φ ῶ ς (Hervorhebung des Vergleichs von uns). Zu Text und Deutung vgl. oben Punkt 1.4.5. 132 Vgl. oben Punkt 1.4.4.6. 131
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Mit der Bestimmung ‚urzeitlich‘ (ὠγύγιον) wird angezeigt, dass hier das im Auge von Hause aus, d.h. seit der Konstruktion des Auges durch Aphrodite auf der ersten zoogonischen Stufe,133 vorhandene Feuer gemeint ist, auf dessen Übermaß134 Empedokles nach Theophrast die Notwendigkeit einer nächtlichen Feuerausscheidung zurückgeführt hat.135 2. Von diesem Feuer wird dann im letzten Vers des Gleichnisses (438a3) berichtet, dass es nach außen sprang, d.h. ausgeschieden wurde: während das Feuer, mit wachsender Ausdehnung nach außen hindurch †springend†.
3. Im vorletzten Vers des Gleichnisses (438a2) ist davon die Rede, dass das Auge von Wasser umströmt wird: Die (scil. Membranen) hielten die Masse des ringsum strömenden Wassers ab.
Nun muss man hierbei nicht gleich an das vollkommen ‚spekulative Wasser‘ denken, von dem Georg Wilhelm Friedrich Hegel in seiner Vorlesung über Thales von Milet gesprochen hat.136 Andererseits würde es im Hinblick auf die Empedokleische Sehtheorie ebenso verfehlt sein, bei der Erwähnung von Wasser im ‚So-Teil‘ lediglich an vollkommen ‚empirisches Wasser‘ zu denken, d.h. an solches, das wir mit unseren Sinnen unmittelbar als Wasser wahrnehmen – wie z.B. die Tränenflüssigkeit, die David Sedley hier sonderbarerweise ins Spiel gebracht hat.137 Nach der Sehtheorie des Empedokles wird nämlich, wie wir sahen, jeglicher dunkle Gegenstand, unabhängig davon, wie ‚wässrig‘ oder ‚trocken‘ im empirischen Sinne er sein mag, durch das Einströmen der von diesem dunklen Gegenstand abfließenden Wasserpartikel ins Auge als dunkel wahrgenommen. Das Vorliegen einer nachtdunklen und in diesem Sinne wassererfüllten Umgebung aber ist genau die Bedingung, die nach Theophrasts Referat der Augentheorie erfüllt sein muss, damit das geschieht, wovon im ‚So-Teil‘ des Gleichnisses jedenfalls die Rede ist: die Ausscheidung eines Feuerüberschusses durch eine Membran in die Umgebung. Die Konvergenz dieser drei Übereinstimmungen spricht entschieden dafür, dass Theophrasts Deutung des Gleichnisses zutrifft und dass Empedokles sich im ‚So-Teil‘ auf die Ausscheidung eines im Auge vorhandenen Feuerüberschusses 133
Vgl. oben Punkt 1.4.1. Vgl. oben Punkt 1.4.4.3. 135 Vgl. oben Punkt 1.4.4.6. 136 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel’s Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, hg. v. D. Karl Ludwig Michelet, Erster Band, Berlin 1833, S. 201 über Thales von Milet: „Das Wasser hat nicht sinnliche Allgemeinheit, — eben eine spekulative. Aber daß sie spekulative Allgemeinheit sey, muß sie Begriff seyn, das Sinnliche aufgehoben werden. Die Flüssigkeit ist ihrem Begriffe nach Leben, — das spekulative Wasser, als selbst nach Geistesweise gesetzt, nicht wie die sinnliche Wirklichkeit sich darbietet.“ 137 Sedley [Anm. 90], S. 23. 134
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in eine Umgebung bezieht, in der ausweislich ihres stockdunklen Erscheinungsbildes die feinen Wasserpartikel bei weitem überwiegen, so dass eine Konzentrationsangleichung an das überwiegend von Feuer erfüllte Augeninnere möglich wird. 2.3.3 Der ‚So-Teil‘ im Lichte des ‚Wie-Teils‘: Aphrodite erprobt ein neukonstruiertes Auge Zu Beginn des ‚So-Teils‘ ist als drittes Wort von Vers 437b32 mit Bekker τότ᾽ ‚damals‘ zu lesen, nicht etwa τό τ᾽, d.h. die Kombination Artikel + τε,138 die als funktionslos und gekünstelt gewertet werden muss, da sie weder dem Anschluss ans Vorherige dient, noch auf ein zweites τε oder auf ein καί vorausweist, noch gar durch Berufung aufs „epische τε“ zu rechtfertigen ist.139 Mithin gibt es keine Alternative zur Zusammenschreibung τότ᾽ und damit zur Lesung eines temporalen Demonstrativadverbs mit der Bedeutung ‚damals‘: b32
so hat damals das urzeitliche Feuer, das in den Membranen eingeschlossen war […]
Dann aber ist mit Sicherheit auszuschließen, dass im ‚So-Teil‘ einfach die reguläre nächtliche Feuerausscheidung aus dem Auge bestimmter nachtsichtiger Lebewesen unserer Gegenwart (d.h., nach dem oben unter Punkt 1.4.1 Ausgeführten, der vierten zoogonischen Stufe) beschrieben wird. Die dadurch aufgeworfene Frage, auf welchen Zeitpunkt des von Empedokles gelehrten Kosmischen Zyklus das demonstrative ‚damals‘ im ‚So-Teil‘ verweist, soll im Folgenden im Wege eines Rückgriffs auf den ‚Wie-Teil‘ unseres Gleichnisses beantwortet werden.
138 Das richtige τότ᾽ las vor Bekker bereits Joseph Justus Scaliger [Anm. 3] in seiner im ausgehenden 16. Jahrhundert entstandenen Fragmentsammlung, vgl. f. 108v. Das falsche τό τ᾽ hingegen findet sich bei Friedrich Wilhelm Sturz: Empedocles Agrigentinus, de vita et philosophia eius exposuit, carminum reliquias ex antiquis scriptoribus collegit […] M. Frider. Guil. Sturz, Leipzig 1805, Band II, S. 525, Vers 282, sowie bei Simon Karsten: Empedoclis Agrigentini carminum reliquiae. De vita ejus et studiis disseruit, fragmenta explicuit, philosophiam illustravit S. K., Amsterdam 1838 (Philosophorum Graecorum veterum praesertim qui ante Platonem floruerunt operum reliquiae, volumen alterum), S. 130, Vers 307. Aus Karstens Fragmentsammlung wird es gedankenlos in die Parva naturalia-Ausgaben nach Bekker übernommen. 139 Zu den Verwendungsweisen des epischen τε bei Empedokles vgl. C. J. Ruijgh: Autour de „τε épique“, Études sur la syntaxe grecque, Amsterdam 1971, S. 929–934 (§§ 759–762). Einspruch gegen die Getrenntschreibung τό τ᾽ in 437b32 erhob mit Recht Friedrich Panzerbieter: Zu Empedokles, in: Zeitschrift für die Alterthumswissenschaft, Dritter Jahrgang, 1845, Nr. 111–112, Spalten 883–887 und 889–893, hier: Spalte 884 mit Verweis auf Empedokles Fr. 108 MP2 (DK 31 B 86): „… die Darstellung ist historisch: ἐξ ὧν ὄμματ᾽ ἔπηξεν Ἀφρ.“. Danach ist auch Heinrich Stein: Empedoclis Agrigentini fragmenta disposuit recensuit adnotavit H. S., Praemissa est de Empedoclis scriptis disputatio, Bonn 1852, S. 71–72, Verse 316–325, hier: Vers 322, zu Bekkers Schreibung τότ᾽ zurückgekehrt.
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Nach dem bereits interpretierten Zeugnis des Simplikios140 hat Empedokles in seinem Bericht über die ersten Elementverbindungen, die Aphrodite nach dem Wendepunkt des Zyklus herstellen kann, d.h. über die isolierten Einzelgliedmaßen der ersten zoogonischen Stufe, auch die Zusammensetzung des Auges durch die Göttin behandelt.141 In diesem Zusammenhang hat er insbesondere die Konstruktion derjenigen Augentypen beschrieben, die aufgrund eines eingebauten Wasser- bzw. Feuerüberschusses teils in der Dunkelheit besser sehen als im Hellen, teils umgekehrt142 – und mithin auch die Konstruktion der Augen mit eingebautem Feuerüberschuss, um dessen partielle Ausscheidung es, nach Theophrast, in unserem Gleichnis geht. Nun ist zwar in der im ‚So-Teil‘ geschilderten Situation der Vorgang der Augenkonstruktion selbst bereits abgeschlossen: Insbesondere das ursprüngliche Feuer, von dessen partieller Ausscheidung der ‚So-Teil‘ handelt, ist bereits in den Membranen, d.h. in der Augenhülle, eingeschlossen. Indessen wird im ‚Wie-Teil‘, wie wir sahen, beschrieben, wie ein Mann, unmittelbar nachdem er seine Laterne zusammengesetzt und entzündet hat, noch vor seinem Aufbruch die Laternenwände auf ihre Lichtdurchlässigkeit und Winddichtigkeit prüft, indem er sie über die Stufe seiner Haustür hält. Deshalb liegt eine analoge Deutung des ‚So-Teils‘ überaus nahe: Unmittelbar nachdem Aphrodite auf der ersten zoogonischen Stufe u.a. den Prototypen eines Auges mit Feuerüberschuss konstruiert hat, prüft sie dieses Auge darauf, ob in dunkler Umgebung der unentbehrliche Abbau des Feuerüberschusses wie vorgesehen funktioniert, d.h. ob die Augenhülle einen Teil des internen Feuers im Wege der Konzentrationsangleichung nach außen passieren lässt, ohne dass das die Umgebung erfüllende Element der Dunkelwahrnehmung, d.h. das ‚Wasser‘, die Ausscheidung des Feuers behindert. Auf den Zeitpunkt dieser Erprobung verweist das ‚damals‘ (τότε) im ‚So-Teil‘. Mithin entspricht der Wanderung selbst, zu der sich der Mann im ‚Wie-Teil‘ rüstet, im ‚So-Teil‘ die triumphale Expansion der Liebe auf der zweiten zoogonischen Stufe, im Laufe derer sie die auf der ersten Stufe von ihr geschaffenen Einzelgliedmaßen und Einzelorgane bei der Schaffung immer komplexerer Organismen einsetzen wird. 2.3.4 Das Auge im ‚So-Teil‘: Zu dem Beitrag von Rashed (2018) Nach dem Gesagten darf wohl erwartet werden, dass im ‚So-Teil‘ des Gleichnisses das Auge auch erwähnt wird. Eine solche Erwähnung hat man dem Vers 438a1 in der Tat entnommen, und zwar des Näheren dem Akkusativ κούρην (ku¯re¯n ‚Mädchen‘), dem man die Bedeutung ‚Pupille‘ zuschrieb: 140
Vgl. oben Punkt 1.4.1. Vgl. das ebenfalls oben unter 1.4.1 interpretierte Zeugnis Simplicius, In Cael., S. 529,21–25 Heiberg: ἀλλὰ καὶ περὶ γενέσεως τῶν ὀφθαλμῶν τῶν σωματικῶν τούτων λέγων ἐπήγαγεν· ἐ ξ ὧ ν ὄ μ μ α τ ᾽ ἔ π η ξ ε ν ἀ τ ε ι ρ έ α δ ῖ ᾽ Ἀ φ ρ ο δ ί τ η , καὶ μετ᾽ ὀλίγον· γ ό μ φ ο ι ς ἀσκήσασα καταστόργοις Ἀφροδίτη. 142 Simplicius, In Cael., S. 529,26–27 Heiberg: καὶ τὴν αἰτίαν λέγων τοῦ τοὺς μὲν ἐν ἡμέραι τοὺς δὲ ἐν νυκτὶ κάλλιον ὁρᾶν· Κ ύπ ρι δ ο ς , φησίν, ἐν παλάμηισιν ὅτε ξὺμ πρῶτ᾽ ἐφύοντο. 141
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Zitatfragment und Textkritik 437b32 438a1
ὣς δὲ τότ᾽ ἐν μήνιγξιν ἐεργμένον ὠγύγιον πῦρ λεπτῆισιν ὀθόνηισι λοχάζετο κύκλοπα κούρην, so hat damals das urzeitliche Feuer, das in den Membranen eingeschlossen war, d.h. †den feinen Leintüchern†, das ringgestaltige ‚Mädchen‘ (ku¯re¯n = ‚Pupille‘?) †belauert†.
Indessen ist diese Deutung von ‚Mädchen‘ (ku¯re¯n) nicht frei von Problemen. Es trifft zwar durchaus zu, dass κούρη/κόρη bzw. κόρα (episch/ionisch ku¯re¯/kore¯ bzw. attisch kora¯ ‚Mädchen‘) bereits im Griechischen des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr. das Auge oder einen Teil des Auges, insbesondere die Pupille, bezeichnen kann: Einerseits verwendet Euripides das Wort κόρα allgemein in der Bedeutung ‚Augapfel‘,143 so wie man im Deutschen umgekehrt das Wort ‚Augapfel‘ als Bezeichnung „für das unantastbarste und liebste, das man am sorgfältigsten hütet, für den liebling des herzens“ verwenden kann.144 Andererseits findet sich κόρη bereits in frühen Schriften des Corpus Hippocraticum145 und später bei Aristoteles146 in der Bedeutung ‚Pupille‘. Doch in beiden Fällen fragt sich, wie dann die Verbindung von κούρην (‚Auge‘/‚Pupille‘) mit dem Beiwort κύκλοπα zu verstehen sein soll. In dieser Frage hat das „Greek-English 143 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf: Euripides, Herakles. Zweite Bearbeitung, Vol. II., Berlin 1895, S. 233 zu Euripides Herakles 1111 (πάτερ, τί κλαίεις καὶ συναμπίσχηι κ ό ρ α ς): „κόρη braucht Eur. ohne jede nuance der bedeutung für ὀφθαλμός. den kosenamen für den augapfel haben die Athener aufgebracht, die Römer haben ihn übersetzt und die modernen sprachen verwenden das lateinische lehnwort ohne empfindung seiner bedeutung. die Ionier hatten ein eigenes bezeichnendes wort, γλήνη, besessen“. 144 Jacob Grimm, Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Erster Band. A—Biermolke, Leipzig 1854, Spalte 788. 145 Hippokrates, De carnibus XVII,2 (8,606,7 Littré), in: Hippocrate, Tome III. Des lieux dans l’homme, du système des glandes, des fistules, des hémorroïdes, de la vision, des chairs, de la dentition. Texte établi et traduit par Robert Joly, Paris 1978, S. 177–312, hier: S. 199: Ἡ δὲ κόρη καλεομένη τοῦ ὀφθαλμοῦ μέλαν φαίνεται διὰ τοῦτο, ὅτι ἐν βάθει ἐστὶ καὶ χιτῶνες περὶ αὐτὸ εἰσὶ μέλανες· χιτῶνα δὲ καλέομεν τὸ ἐνεὸν ὥσπερ δέρμα· ἔστι δὲ οὐ μέλαν ὄψει, ἀλλὰ λευκὸν διαφανές. Robert Joly übersetzt: „La partie de l’œil dite pupille paraît noire parce qu’elle est située au fond et entourée de tuniques noires.“ Jacques Jouanna: Hippocrates. Translated by M. B. DeBevoise, Baltimore, London 1999, S. 391 datiert De carnibus sehr früh, spätestens ins fünfte vorchristliche Jahrhundert. 146 Aristoteles, Historia animalium I, 9, 491b20–22: Τὸ δ’ ἐντὸς τοῦ ὀφθαλμοῦ, τὸ μὲν ὑγρόν, ὧι βλέπει, κόρη, τὸ δὲ περὶ τοῦτο μέλαν, τὸ δ’ ἐκτὸς τούτου λευκόν. Vgl. hierzu Stephan Zierlein: Aristoteles, Historia animalium Buch I und II. Übersetzt, eingeleitet und kommentiert, Berlin 2013, S. 271–272: „Am Auge […] unterscheidet Aristoteles drei innere Teile: die Pupille (ἡ κόρη), das Schwarze (τὸ μέλαν) und das Weiße (τὸ λευκόν). […] Als […] Bestandteil des Auges befinde sich um die feuchte und transparente Pupille herum das Schwarze […]. Als solches bezeichnet Aristoteles die Iris bzw. Regenbogenhaut unabhängig von den farblichen Abstufungen der menschlichen Regenbogenhaut, […] der Begriff τὸ μέλαν ist folglich ein von der tatsächlichen Farbabstufung unabhängiger Terminus technicus der Iris schlechthin […]. Bei dem dritten von Aristoteles genannten Teil des inneren Auges, den er als das Weiße bezeichnet, handelt es sich um die aus der Hornhaut (Cornea) hervorgehende Lederhaut (Sclera).“
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Lexicon“ von Liddell und Scott noch in der Neubearbeitung durch Sir Henry Stuart Jones – d.h. in diesem Falle: im Jahre 1930 – mit der Unterstellung operiert, dass die an unserer Stelle schon metrisch unabdingbare kurz-vokalische Form κύκλοπα hier als Akkusativ des bekannten lang-vokalischen Possessivcompositums κύκλωψ, -ωπος (‚der mit dem Kreisauge‘) zu verstehen sei,147 was auf die gewagte Gleichung κύκλοπα = κύκλωπα bzw. ο=ω hinausläuft. Bestünde diese Gleichung zu Recht, dann müsste κύκλοπα κούρην soviel bedeuten wie ‚das Mädchen mit dem Kreisauge‘, und wenn man diese Formulierung dann mit der weiteren, an unserer Stelle fast allgemein angenommenen Gleichung ‚Mädchen = Auge/Pupille‘ verbindet, ergibt sich als Bedeutung des Ganzen entweder ‚das Auge mit dem Kreisauge‘ oder ‚die Pupille mit dem Kreisauge‘, was offensichtlich beides gleichermaßen abwegig ist. Deshalb müsste man, wenn die Erklärung von κύκλοπα bei Liddell/Scott zuträfe, wohl in der Tat erwägen, an unserer Stelle von der Gleichung ‚Mädchen = Auge/ Pupille‘ abzurücken. Vielleicht hängt es mit diesem Dilemma zusammen, dass Marwan Rashed148 unter Voraussetzung der Gleichung κύκλοπα = κύκλωπα („à l’œil rond“) vorgeschlagen hat, in κούρην (ku¯re¯n ‚Mädchen‘) nicht eine Bezeichnung des Auges bzw. der Pupille zu sehen, sondern vielmehr den fromm-verhüllenden Namen der mädchenhaft-unheimlichen Totengöttin Persephone,149 um diese Göttin sodann mit der bei Empedokles als Gemahlin des Hades figurierenden Göttin
147 Henry George Liddell, Robert Scott: A Greek-English Lexicon. A New Edition, Revised and Augmented throughout by Henry Stuart Jones, Part V, θησαυροποιέω–κώψ, Oxford 1930, S. 1007, s.v. Κύκλωψ. 148 Rashed [Anm. 96]. 149 Diese Benennung der Persephone hätte Rashed [Anm. 96], S. 163, Anm. 34 übrigens auch im Drama des 5. Jahrhunderts v. Chr. belegt finden können. Vgl. Euripides, Alkestis 851–852 Diggle: εἶμι τῶν κάτω / Κόρης ἄνακτος τ’ εἰς ἀνηλίους δόμους (‚ich werde in die sonnenlose Wohnstatt der Unteren gehen, in die der Kore [= Persephone] und des Herrn [= Hades]‘). Aristophanes, Wespen 1435–1440 Wilson: ΦΙΛΟΚΛΕΩΝ ἄκουε, μὴ φεῦγ’. ἐν Συβάρει γυνή ποτε / κατέαξ’ ἐχῖνον. – ΚΑΤΗΓΟΡΟΣ ταῦτ’ ἐγὼ μαρτύρομαι. / – ΦΙ. οὑχῖνος οὖν ἔχων τιν’ ἐπεμαρτύρατο· / εἶθ’ ἡ Συβαρῖτις εἶπεν, „αἰ ναὶ τὰν κόραν / τὰν μαρτυρίαν ταύταν ἐάσας ἐν τάχει / ἐπίδεσμον ἐπρίω, νοῦν ἂν εἶχες πλείονα“, was Lutz Lenz (Aristophanes Wespen. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert, Berlin 2014, S. 286) wie folgt wiedergibt: „PHILOKLEON: Höre, laufe nicht weg! In Sybaris zerbrach einmal / eine Frau ihren Topf (schlägt ihn dabei auf den Kopf). KLÄGER: Zeugen, aufgemerkt! / PHILOKLEON: Der Topf nun hatte jemanden zur Hand und nahm ihn sich zum Zeugen. / Da sagte die Frau von Sybaris: ‚Wenn du, bei Kore, / diese Zeugensache unterlassen und rasch einen Verband gekauft hättest, hättest du mehr Verstand.‘“
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Ne¯stis gleichzusetzen150 und diese wiederum mit dem ihr von Empedokles zugeordneten Element, dem Wasser.151 Unter Einfügung eines anderen, freilich nicht auf die Erprobung, sondern noch auf die Montage des Auges durch Aphrodite bezogenen Empedoklesfragments 109 MP2 (DK 31 B 87) setzt Rashed sich sodann den Anfang des ‚So-Teils‘ wie folgt zusammen:152 b32 B 87 a1
a2
ὣς δὲ τότ᾽ ἐν μήνιγξιν ἐεργμένον ὠγύγιον πῦρ
λεπτῇσ᾽153 εἰν154 ὀθόνῃσιν ἐχεύατο155 κύκλοπα Κούρην, αἳ δ᾽ ὕδατος μὲν βένθος ἀπέστεγον ἀμφινάεντος156 κτλ. so hat damals, als sie das in Membranen eingeschlossene urzeitliche Feuer
sich die Kore mit dem Kreisauge (= das Wasser) eingeschenkt in die feinen Leintücher, die die Masse des ringsum strömenden Wassers abhielten, etc.
Bei dieser Umgestaltung des ‚So-Teils‘ würde dort eine Situation beschrieben, in der Aphrodite das augeninterne Feuer bereits in einem von den Membranen umhegten Feuerschutzraum im Innersten des Auges untergebracht hat (437b32– DK B 87). Es würde weiter geschildert, wie Aphrodite sich daraufhin das augeninterne Wasser um den Feuerschutzraum herum in ein Behältnis aus Leintüchern eingeschenkt hätte (438a1: die dort aufgenommene P/LSU-Lesart ἐχεύατο müsste hier als indirektes Medium [‚gieße für mich‘] aufgefasst werden). Bei diesem Leinenbehältnis müsste es sich bereits um die Außenhülle des Auges handeln, da von den Leintüchern im folgenden Vers 438a2 gesagt werden würde, dass sie das Augeninnere gegen das externe Wasser, welches das Auge umströmt, abdichten. Die vermeintlichen Leintücher würden mithin als ein Behältnis für das augeninterne Wasser fungieren, welches dieses augeninterne Wasser vor dem externen Wasser zu schützen hätte.
150 Empedokles Fr. 49b MP2 (= DK B6): τέσσαρα γὰρ πάντων ῥιζώματα πρῶτον ἄκουε· / Ζεὺς ἀργὴς Ἥρη τε φερέσβιος ἠδ’ Ἀιδωνεύς / Νῆστίς θ’, ἣ δακρύοις τέγγει κρούνωμα βρότειον (‚Die vier Wurzelsysteme aller Dinge höre zuerst: blitzender Zeus und lebenspendende Hera und Aïdoneus [d.h. Hades] und Ne¯stis, die mit ihren Tränen tränkt, was den Sterblichen entströmt‘). 151 Diese Gleichungskette bei Rashed [Anm. 96], S. 163. Zur Gleichsetzung von Ne¯stis mit dem Wasser vgl. Empedokles Fr. 49c MP2: Νῆστιν δὲ (scil. λέγει) καὶ κρούνωμα βρότειον τὸ σπέρμα καὶ τὸ ὕδωρ (‚als ‚Ne¯stis‘ und ‚Strom der Sterblichen‘ bezeichnet er den Samen und das Wasser‘). 152 Rashed [Anm. 96], S. 165. 153 λεπτῇς εἰν (+ Vokal) Panzerbieter : λεπτῆσῐν (+ Vokal) Al.c 23,24 LSU (was Vat. gr. 266 um des Metrums willen zu λεπτῆσιν γ᾽ und Diels 1901 [Anm. 5] zu λεπτῆισιν korrigiert haben) bzw. λεπτῆσῐ (+ Konsonant) P : λεπτῆ(ι)σιν (+ Konsonant) EMY. 154 ὀθόνησιν Al.c 23,24 LSU : χθονίη(ι)σι EMY : χοανῆσιν (sic!) P. 155 ἐχεύατο Al.c 23,24 LSU P : λοχάζετο EMY. 156 Lies: ἀμφιναέντος.
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Nun haben wir die Annahme eines gesonderten Feuerschutzraumes im Innersten des Auges, die Rashed von O’Brien übernimmt, bereits oben unter Punkt 2.2.2 widerlegt. Deshalb seien hier nur noch zwei zusätzliche Bedenken gegen Rasheds Umgestaltung des ‚So-Teils‘ genannt. Das erste Bedenken betrifft die von Rashed in 438a1 zugrunde gelegte LSU-Lesart ὀθόνησιν selbst, mag diese auch bereits von früheren Editoren durchweg in den Text aufgenommen worden sein: Liest man ὀθόνηισιν (‚den Leintüchern‘), so muss sich zwangsläufig auch der Relativsatz 438a2 auf ὀθόνηισιν beziehen: αἳ δ᾽ ὕδατος μὲν βένθος ἀπέστεγον ἀμφιναέντος (‚die die Masse des ringsum strömenden Wassers abhielten‘); diese Beziehung aber ist mit Grundzügen der Empedokleischen Theorie der Augenfunktion unvereinbar. Wenn nämlich die als ‚Leintücher‘ bezeichnete Augenhülle als ganze tatsächlich wasserdicht wäre, so dass sie das augeninterne Wasser zuverlässig drinnen und das augenexterne Wasser zuverlässig außen hielte, dann würde weder die optische Wahrnehmung dunkler Gegenstände möglich sein (die Empedokles, wie oben unter 1.4.3 gezeigt, auf das Einströmen von Wasserteilchen ins Augeninnere zurückführte), noch die von Empedokles (nach 1.4.4.5) angenommene Ausscheidung eines augeninternen Wasserüberschusses. In Wahrheit kann sich der Relativsatz nicht auf die Augenhülle im Ganzen beziehen, sondern nur auf die speziell für das Einströmen bzw. die Ausscheidung von Feuer zuständigen Poren. Zum anderen scheint uns in Rasheds Konstruktion das für die Gleichnisform konstitutive Korrespondenzverhältnis zwischen dem ‚So-Teil‘ und dem ‚WieTeil‘ nicht genügend beachtet zu sein. Das Gewicht des ‚Wie-Teils‘ liegt, wie wir unter 2.3.1 gesehen haben, nicht auf der Montage der Laterne, sondern auf der Erprobung ihrer Leuchtkraft über der Stufe der Haustür. Im ‚So-Teil‘ hingegen rückt Rasheds Einschaltung des Einzelverses B 87 Diels-Kranz vor 438a1 in Verbindung mit seiner Deutung des ἐχεύατο in 438a1 als indirektes Medium (‚sich etwas einschenken‘) die Konstruktion des Auges durch Aphrodite in den Fokus. Demgegenüber kann die Erprobung der Laterne im ‚Wie-Teil‘ eine angemessene Entsprechung im ‚So-Teil‘ nur dann finden, wenn dort in der Hauptsache die erfolgreiche Ausscheidung des internen Feuerüberschusses beschrieben wird, da die erprobende Göttin sich nur hierdurch davon überzeugen kann, dass die Augenhülle feuerdurchlässig ist. Gemessen an diesem Erfordernis bleibt der von Rashed umgestaltete ‚So-Teil‘, in dem die Feuerausscheidung erst am Schluss in 438a3 erwähnt und dadurch marginalisiert würde, hinter dem ‚Wie-Teil‘ eindeutig zurück. Vor allem aber wäre es paradox, wenn der zentrale Gegenstand des ‚So-Teils‘, nämlich das Auge, dort gar nicht bzw. nur in Form eines funktionslosen Attributs der Totengöttin bzw. des Wassers erwähnt würde: Die Geschlossenheit der Form eines epischen Gleichnisses spricht gegen die Annahme, dass Empedokles im ‚So-Teil‘ das dort als Pendant zur Laterne des ‚Wie-Teils‘ figurierende Auge selbst unerwähnt gelassen habe, so dass der Leser sich dies aus dem Kontext erschließen musste. Aufs Ganze gesehen scheint es 480
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uns also nicht ratsam, durch Verzicht auf eine in ku¯re¯ liegende Nennung des Auges einen Verweis auf das augeninterne Wasser zu erkaufen, zumal ein solcher in einem Gleichnis über die Ausscheidung überschüssigen Feuers aus dem Auge auch gar nicht benötigt wird. Nach dem Gesagten ist klar, dass die von Liddell/Scott/Jones noch 1930 vertretene Gleichung κύκλοπα = κύκλωπα nicht zu halten ist, und dass man die Empedokleische Form κύκλοπα vielmehr als das zu nehmen hat, was sie ist, nämlich ein episches Possessivcompositum mit kurzvokalischem -οψ. Hinter dem bei flüchtiger Betrachtung marginalen Unterschied der Vokalquantität verbirgt sich nun aber eine folgenschwere semantische Differenz. Als Hinterglied epischer Composita hat -οψ, wie Ernst Risch in seinem zuerst 1937 erschienenen Buch zur Wortbildung der homerischen Sprache nachgewiesen hat, nicht etwa die Bedeutung ‚Auge‘, sondern vielmehr die Bedeutung ‚Aussehen‘: Bei Homer bedeutet αἶθοψ ‚funkelnd‘, οἶνοψ ‚weinfarbig‘, μῆλοψ ‚apfelfarbig‘ (vom Getreide) und so fort.157 Dass Empedokles sich dieses epischen Sprachgebrauchs vollkommen bewusst war, wird dadurch außer Zweifel gestellt, dass er selbst durch Ausgliederung aus jenen homerischen Composita das kurzvokalische Simplex ὄψ in der Bedeutung ‚optischer Eindruck‘ geschaffen hat.158 Da demgemäß an unserer Stelle nicht von einer ‚ku¯re¯ mit rundem Auge‘, sondern von einer ‚ku¯re¯ von kreisförmigem Aussehen‘ die Rede ist,159 kann hier mit ku¯re¯ sicher kein Mädchen gemeint sein: Mädchen sehen nicht aus wie ein Kreis. Wir müssen also wieder zu der traditionellen Annahme zurückkehren, dass ku¯re¯ hier das Auge bzw. einen Teil des Auges bezeichnet. Diese Annahme steht uns jetzt aber auch frei, da die Bedeutung ‚Auge/Teil des Auges‘ in Verbindung mit der korrekten Übersetzung von κύκλοψ ‚von kreisförmigem Aussehen‘ keine unüberwindlichen Schwierigkeiten mehr bietet. Es bleibt lediglich zu klären, ob durch κύκλοψ das Auge insgesamt oder einer seiner Teile charakterisiert wird, und wenn ein Teil, welcher.
157 Vgl. E. Risch: Wortbildung der homerischen Sprache, Zweite, völlig überarbeitete Aufl., Berlin, New York 1974, S. 171–172 (§ 63 b): „… formelhaft gebrauchte Adjektive auf -οψ, bei denen die Bedeutung ‚Auge‘ ganz verblaßt ist: αἶθοψ (αἴθοπι χαλκῶι am Versende, αἴθοπα καπνόν am Versende Odyssee 10 [κ], 152, αἴθοπα οἶνον und Dativ meist am Versende) ‚funkelnd‘ […], οἴνοπι πόντωι (und Akkusativ am Versende außer Odyssee 1 [α], 183), βόε οἴνοπε Ilias 13 [N], 703 ~ Odyssee 13 [ν], 32 ‚weinfarbig‘, μήλοπα καρπόν am Versende Odyssee 7 [η], 104 ‚apfelfarbig‘ (vom Getreide!).“ Die Empedokleische Verwendung von κύκλοπα κούρην am Versende entspricht auch metrisch genau der von Risch dokumentierten epischen Formel. 158 Empedokles Fr. 106 MP2 (= DK 31 B 88): μία γίνεται ἀμφοτέρων ὄψ (‚Der von beiden [d.h. Feuer und Wasser] jeweils bewirkte optische Eindruck wird zu einem‘). 159 Prinzipiell richtig Diels 1912 [Anm. 5], S. 253: „der runden Pupille“, auch wenn „Pupille“ womöglich zu eng ist, falsch hingegen Kranz [Anm. 1], S. 342: „dem rundäugigen Mädchen“.
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Als Kreis (kyklos) wird in der griechischen Dichtung primär ein Ring bezeichnet – bei Homer z.B. die ringförmige Anordnung der Sitze des Ältestenrates160 –, dann aber auch die Kreisscheibe als ganze, wie z.B. die kreisscheibenförmige Erscheinung der Sonne bei Empedokles selbst und bei Sophokles.161 Ringgestalt kommt im Auge nur der Iris zu, Kreisscheibenform hingegen sowohl der Pupille als auch der Kombination von Pupille und Iris. Die damit gegebene Alternative lässt sich zwar mit rein sprachlichen Argumenten nicht entscheiden, aber der Sache nach verdient im vorliegenden Fall die Annahme den Vorzug, dass die Bezeichnung ku¯re¯ (‚Auge‘) durch die differentia specifica κύκλοψ (‚ringgestaltig‘) zu ‚Iris‘ spezifiziert wird.162 Empedokles ließ nämlich die feuerdurchlässigen und die wasserdurchlässigen Poren der Augenhülle nach dem Zeugnis des Theophrast, wie wir oben unter Punkt 1.4.3 gesehen haben, in einem Schachbrettmuster (enallax) angeordnet sein. Demnach dürften sie wohl weder auf der weißen Lederhaut noch auf dem Hornhautabschnitt über der schwarz glänzenden Öffnung in der Augenmitte („Pupille“) zu denken sein, sondern auf der durch Farbmischung gekennzeichneten bunten Iris bzw. auf dem sie bedeckenden Hornhautabschnitt. Die Spezifizierung der Bedeutung von κούρη von ‚Auge‘ zu ‚Iris‘ stimmt gut zu der von uns bereits unter 1.4.4.3 vorgeschlagenen Zurückführung der Empedokleischen Hypothese, der zufolge im Auge nachtsichtiger Tierarten ein angeborener Feuerüberschuss besteht, auf die im empirischen Sinne feurige, d.h. orange-gelbe Iris bestimmter nachtaktiver Tiere. Jedenfalls aber dürfte nunmehr, unabhängig von den noch offenen Textproblemen, bereits soviel feststehen, dass es im ‚So-Teil‘ des Gleichnisses in der Tat, wie von Theophrast bezeugt, primär um die Ausscheidung eines Überschusses an ursprünglichem Feuer aus dem Auge geht, und zwar wahrscheinlich: aus der Iris des Auges. 2.3.5 Die beiden Hauptprobleme von Bekkers Text Unbeschadet der damit gesicherten Analogie zwischen ‚Wie-Teil‘ (Erprobung der soeben montierten Laterne) und ‚So-Teil‘ (Erprobung des soeben konstruierten Auges) weist der von Bekker konstituierte Text des Gleichnisses gerade
160 Ilias 18, 504: εἵατ᾽ ἐπὶ ξέστοισι λίθοις ἱερῶι ἐνὶ κύκλωι (‚sie saßen auf behauenen Steinen in heiligem Kreise‘). 161 Empedokles, Fr. 139 MP2 (DK 31 B 47): ἀθρεῖ μὲν γὰρ ἄνακτος ἐναντίον ἁγέα κύκλον (‚Die Mondgöttin blickt dem ehrwürdigen Rund des Sonnenherrn entgegen‘). – Sophokles, Antigone 415–416: ἔστ᾽ ἐν αἰθέρι / μέσωι κατέστη λαμπρὸς ἡλίου κύκλος (‚bis das strahlende Rund der Sonne den Zenit erreichte‘). 162 Julián Méndez Dosuna: El secreto de sus ojos: niñas y pupilas en Homero, Ilíada 8.168 y Aristófanes, Tesmoforiantes 406, in: Studia Philologica Valentina Vol. 18, n. s. 15, 2016, S. 229–240, hier: S. 240: „Modern dictionaries record for κόρη ‚girl‘ the metonymic sense ‚pupil (of the eye)‘. They fail, however, to include the sense ‚iris‘ and, by synecdoche, ‚eye‘“.
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im Hinblick auf diese Analogie zwei entscheidende Mängel auf, die, wenn sie nicht aufgrund einer Neubewertung der handschriftlichen Überlieferung behoben werden können, die Konsistenz des Gedankens stärker unterminieren und die poetische Qualität des Gleichnisses radikaler diskreditieren als die übrigen, unter Punkt 2.1 bereits notierten Textverderbnisse. Diese beiden Mängel betreffen das Verhältnis des Gleichnisses zur Porentheorie, in der Theophrast, wie bereits bemerkt, die eigentliche Innovation des Empedokles auf dem Gebiet der Wahrnehmungstheorie sieht.163 2.3.5.1 Im ‚So-Teil‘ fehlen die Poren Während die Laternenwände die Funktion haben, kleine Teilchen des im Innern der Laterne brennenden Feuers nach außen durchzulassen und gleichzeitig den Wind nicht einzulassen, trifft das Entsprechende für die Augenhülle durchaus nicht zu: Die Augenhülle hat zwar bei Tieren mit Feuerüberschuss die Funktion, im ‚wässrigen‘ Dunkel der Nacht die auszuscheidenden Feuerteilchen ungehindert nach außen passieren zu lassen, aber sie hat zugleich die Funktion, die für die Dunkelwahrnehmung zuständigen Wasserteilchen ins Auge einzulassen. Vermöchte sie Letzteres nicht, dann wären die Tiere mit Feuerüberschuss nicht etwa nachtsichtig, wie von der Empedokleischen Theorie gefordert, sondern, im Gegenteil, nachtblind.164 Diese komplexe Funktion vermag die Augenhülle deshalb zu erfüllen, weil die Iris des Auges nach Theophrast in schachbrettartiger Anordnung sowohl von feuerdurchlässigen als auch von wasserdurchlässigen Poren perforiert ist,165 deren jeweilige Funktion entgegengesetzt ist. Die feuerdurchlässigen Poren können die auszuscheidenden Feuerteilchen deshalb ungehindert nach außen passieren lassen, weil sie aufgrund ihres kleinen Feuerformats den Wasserteilchen keinen Einlass gewähren, wohingegen die wasserdurchlässigen Poren das Eindringen der Wasserteilchen ins Auge und damit die Dunkelwahrnehmung ermöglichen. Demnach finden die Laternenwände des ‚Wie-Teils‘ der Sache nach ihr funktionales Äquivalent im ‚So-Teil‘ gerade nicht in der Augenhülle oder auch nur in der Iris als ganzer, sondern einzig und allein in den feuerdurchlässigen Poren. Da es mithin in dem Gleichnis nach Albrecht Dihles
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Vgl. oben Punkt 1.3.3. Das gleiche gilt natürlich, mutandis mutandis, auch für die Tiere mit Wasserüberschuss: Bei diesen hat die Augenhülle die doppelte Funktion, im ‚feurigen‘ Tageslicht die auszuscheidenden Wasserteile ungehindert nach außen passieren zu lassen, und zugleich die für die Hellwahrnehmung zuständigen Feuerteile ins Auge einzulassen. 165 Vgl. das oben unter 1.4.3 interpretierte Theophrastzeugnis Sens. 7/2 (Diels, Dox. [Anm. 19], S. 500,25–29): τοὺς δὲ πόρους ἐναλλὰξ κεῖσθαι τοῦ τε πυρὸς καὶ τοῦ ὕδατος, ὧν τοῖς μὲν τοῦ πυρὸς τὰ λευκά, τοῖς δὲ τοῦ ὕδατος τὰ μέλανα γνωρίζειν (scil. τὴν ὄψιν)· ἐναρμόττειν γὰρ ἑκατέροις ἑκάτερα. φέρεσθαι δὲ τὰ χρώματα πρὸς τὴν ὄψιν διὰ τὴν ἀπορροήν. 164
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treffender Formulierung lediglich um die Porosität des Sinnesorgans geht,166 ist es ein erheblicher sachlicher Mangel des Gleichnistextes in seiner von Bekker konstituierten Gestalt, dass im ‚So-Teil‘ von den Poren mit keinem Worte die Rede ist: Ohne Erwähnung der Poren ist der ‚So-Teil‘ sachlich falsch. 2.3.5.2 Im ‚Wie-Teil‘ fehlt ein Pendant zu den Poren Wenn es nun aber zutrifft, dass im ‚So-Teil‘ gemäß Theophrasts Referat der Empedokleischen Theorie alles Gewicht auf der spezifischen Leistung der feuerformatigen Poren liegen muss, dann würde es für die poetische Qualität des Gleichnisses schlechthin fatal sein, wenn der ‚Wie-Teil‘ diesen entscheidenden Punkt, statt ihn zu veranschaulichen, vielmehr stillschweigend voraussetzen würde: Ein episches Gleichnis hat ja die Aufgabe, dem Hörer mittels der Beschreibung eines vergleichbaren, aber anschaulichen Vorgangs Aspekte des Darzustellenden vor Augen zu führen, die sich selbst der sinnlich-anschaulichen Darstellung entziehen. Solche Aspekte sind bei Homer: 1. seelisches Geschehen, das als solches nicht äußerlich wahrnehmbar ist, 2. kollektive Vorgänge, die „aus einer unabsehbaren Vielfalt nebeneinander geschehender Einzelvorgänge“ bestehen, 3. das Wirken der Götter, „bei denen die Tüchtigkeiten der Kriegshelden, die schon das äußerste an Menschenmöglichem erreichen, abermals zu einem übermenschlichen Ausmaß von kosmischer Dimension gesteigert sind“.167 Demgemäß hat das Gleichnis im vorliegenden Fall die Funktion, die Ausscheidung eines Feuerüberschusses mittels der von Empedokles postulierten unvorstellbar feinen Poren der Iris durch einen Vergleich mit einem bekannten oder doch leicht vorstellbaren Vorgang zu illustrieren, der sich für eine sinnlich-anschauliche Darstellung gut eignet. Es stellt sich also die Frage, von welcher Machart die im ‚Wie-Teil‘ genannten Laternenwände zu sein hätten, um die im ‚So-Teil‘ dargestellte Filterfunktion der feuerdurchlässigen Poren der Iris zu veranschaulichen. Überblickt man nun das von Siegfried Loeschcke (1909) zusammengestellte Belegmaterial zu ‚Antiken Laternen und Lichthäuschen‘, dann fallen zunächst die beiden anscheinend häufigsten und schon im 4. Jahrhundert v. Chr. sicher bezeugten Arten von Laternenwänden ins Auge, nämlich solche aus dünn gesägten Hornplatten168 und solche aus Tierhaut oder Blase.169 Doch die Lichtdurchläs166 Albrecht Dihle: Vom sonnenhaften Auge, in: Platonismus und Christentum, Festschrift für Heinrich Dörrie, hg. von Horst-Dieter Blume und Friedhelm Mann, Münster i. W. 1983 (Jahrbuch für Antike und Christentum, Ergänzungsband 10), S. 85–91, hier: S. 86: „Empedokles’ Vergleich des Auges mit einer Laterne (B 84) scheint aber lediglich die Porosität der Sinnesorgane erläutert zu haben“. 167 Harald Patzer: Die Formgesetze des homerischen Epos, Stuttgart 1996, S. 118–130, 139–142, 148–151. 168 Siegfried Loeschcke: Antike Laternen und Lichthäuschen, in: Bonner Jahrbücher. Jahrbücher des Vereins von Altertumsfreunden im Rheinlande, Heft 118, Bonn 1909, S. 370–430, hier: S. 416–417, Anm. 15. 169 Loeschcke ebd., S. 417, Anm. 17.
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sigkeit derartiger Laternenwände hätte Empedokles im Rahmen seiner Theorie – keine Wahrnehmung von etwas Hellem ohne Einströmen eines vom Objekt ausgehenden Feuerabflusses ins Auge des Betrachters – nicht anders erklären können, als mit dem Sachverhalt, dass diese aus Tierkörpern gewonnenen Materialien von Natur aus feuerdurchlässig sind, also Poren aufweisen. Gerade deshalb aber wäre die Veranschaulichungsleistung eines Hornlaternen- oder Tierhautlaternen-Gleichnisses für die Empedokleische Porentheorie gleich Null: Die exklusive Feuerdurchlässigkeit der feuerformatigen Poren der Iris würde dann nämlich mit transluzenten Laternenwänden veranschaulicht, deren Feuerdurchlässigkeit – im Empedokleischen System – ihrerseits die Porentheorie bereits voraussetzt. Zu postulieren ist vielmehr, dass der ‚Wie-Teil‘ zu den feuerdurchlässigen Poren des ‚So-Teils‘ ein anschauliches Pendant in Gestalt von Laternenwänden bietet, deren eigene Feuerdurchlässigkeit gerade nicht auf biologisch gegebenen, d.h. von Aphrodite geschaffenen Öffnungen im Sinne der Empedokleischen Porentheorie beruht. Eine solche nicht-biologische Feuerdurchlässigkeit aber ist im allgemeinen Rahmen der Empedokleischen Elementenphysik nicht anders denkbar, als dass die Laternenwände des Gleichnisses mit mechanisch hergestellten Durchbohrungen versehen sind. Eine überraschende Stütze für dieses Postulat liefert eine ebenfalls von Loeschcke170 zitierte Stelle aus dem Lexikon des Photios, an der für den klassischen Komödiendichter Aristophanes (ca. 450–ca. 380 v. Chr.) eine Anspielung auf eine Laterne mit tönernen Wänden bezeugt ist, die man mittels feiner Durchbohrungen lichtdurchlässig gemacht hat:171 ἐγένοντο δὲ καὶ ἐκ τῶν καθαρῶν καὶ διαφανῶν δερμάτων λαμπτῆρες κα ὶ κ ε ρ α μ εο ῖ δ ι α τ ε τ ρ η μ έ ν ο ι , ὥ σ τ ε δ ι α φ α ί ν ε ι ν . ο ὕ τ ω ς Ἀ ρι στ ο φ ά ν η ς .
Aber es gab auch Laternenwände (lampte¯res) aus den gereinigten und durchsichtigen Häuten, u nd s o lc h e a u s To n , d i e D u r c h b o h r u n g e n a u f w ie s e n , s o dass sie durchscheinend waren. So Aristophanes.
170
Loeschcke ebd., S. 384. Photios, Lexicon λ 494 (s.v. λυχνοῦχον; Christos Theodoridis (Hg.): Photii Patriarchae Lexicon, Volumen II. E–M, Berlin, New York 1998, S. 527). In der Zuordnung des Hinweises auf Aristophanes speziell zu den tönernen, mit Durchbohrungen versehenen Laternen folgen wir Rudolf Kassel, Colin Austin: Poetae Comici Graeci, Vol. III 2: Aristophanes. Testimonia et Fragmenta, Berlin, New York 1984, S. 38, die diesen Hinweis überzeugend auf Aristophanes Fr. 8 (aus dem Αἰολοσίκων) beziehen, wo ein durchscheinendes, d.h. wohl abgetragenes und deshalb löchriges Männergewand (ἐξωμίς) mit einer neuen bzw. neuartigen Laterne (λυχνοῦχος) verglichen wird; zur Interpretation vgl. Christian Orth: Aristophanes. Aiolosikon – Babylonioi (fr. 1–100). Übersetzung und Kommentar, Heidelberg 2017 (Fragmenta Comica Bd. 10.3), S. 70–71. Abbildungen antiker Tonlaternen mit feinen Durchbohrungen finden sich bei Loeschcke [Anm. 168], S. 383 (Abb. 6).
171
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Es liegt auf der Hand, dass ein Vergleich mit dem hier bezeugten Typus einer Laternenwand einen überzeugenden Beitrag zur Veranschaulichung der von unsichtbar feinen Poren perforierten Iris leisten würde: Die tönerne, fein perforierte Laternenwand vermag kraft ihrer Feuerdurchlässigkeit und Winddichtigkeit die Feuerdurchlässigkeit und Wasserdichtigkeit der feuerdurchlässigen Augenporen zu veranschaulichen, ohne dass die Feuerdurchlässigkeit einer solchen Laternenwand ihrerseits auf biologisch gegebenen, d.h. von Aphrodite geschaffenen Poren beruhen würde. Gemessen an dieser Möglichkeit geht die Beschränkung der von Bekker hergestellten Fassung des ‚Wie-Teils‘ auf die bloße, nicht mit einer näheren Beschreibung versehenen Erwähnung der Laternenwände an der poetischen Aufgabe des Gleichnisses vorbei. 2.3.5.3 Folgerungen für die Textkritik Es hat sich gezeigt, dass der von Bekker konstituierte Gleichnistext gemessen an der von Platon und Theophrast referierten Empedokleischen Theorie zwei systematisch schwerwiegende Mängel aufweist: Bekkers ‚So-Teil‘ geht nicht auf die Wahrnehmungsporen des Auges ein; in Bekkers ‚Wie-Teil‘ gibt es kein Pendant zu diesen Poren. Deshalb wird man bei der Bewertung der überlieferten Textvarianten vor allem diese beiden Punkte ins Auge zu fassen haben. Mit dieser Überlegung haben wir die Schwelle der Textkritik erreicht; denn gerade an der Frage, ob im ‚So-Teil‘ des Gleichnisses von den Poren der Augenhülle und im ‚Wie-Teil‘ des Gleichnisses von den feinen Durchbohrungen der Laternenwände die Rede ist oder nicht, scheiden sich die beiden Hauptzweige der insgesamt zweispaltigen De sensu-Überlieferung, von denen freilich der zweite von den bisherigen Sens.-Herausgebern noch nicht zureichend gewürdigt worden ist. 2.4 Neuedition des Gleichnistextes 2.4.1 Unsere These. – 2.4.2 Von Bekkers Edition (1831) bis zum Vorstoß von Blass (1883). – 2.4.2.1 Stagnation: Das Gleichnis in der Forschung von Karsten (1838) bis Stein (1852). – 2.4.2.2 Die Gruppierung der Parva Naturalia-Handschriften durch Freudenthal (1869). – 2.4.2.3 Die Erschließung der indirekten Überlieferung: Alexander von Aphrodisias und die mittellateinische Übersetzung. – 2.4.2.4 Blass (1883): Die Lesungen des Codex Vaticanus P im Gleichnistext. – 2.4.3 Ein neuer Text auf der Grundlage von P und der mittellateinischen Übersetzung. – 2.4.3.1 Der Zusatzvers 437b30A: Die Perforation der Laternenwände. – 2.4.3.2 Wiederherstellung von 438a1: Die Feuerausscheidung mittels entsprechender Poren. – 2.4.3.3 Zu 438a3: Die syntaktische Integrität des Gleichniszitats. – 2.4.3.4 Die Unabhängigkeit des Vaticanus P und das Problem seiner Kontamination. – 2.4.3.5 Zu 437b30: Aus der Laterne tritt Feuer aus. – 2.4.3.6 Zur Korrespondenz von 438a2 (ναέντος) und 437b29 (ἀέντων). – 2.4.3.7 Zu 437b28–29: Die Laternenwände als ‚Abhilfen‘ gegen den Sturmwind. – 2.4.3.8 Ergebnis: Ein neuer Text und ein hypothetisches Stemma.
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Zitatfragment und Textkritik
2.4.1 Unsere These Immanuel Bekker hatte seiner Ausgabe der Aristotelischen Schrift De sensu (Sens.), wie wir sahen,172 die folgenden sieben ständigen Zeugen zugrunde gelegt: Parisinus gr. 1853, Mitte 10. Jh. (E). – Vaticanus gr. 253, um 1300 (L). – Urbinas gr. 37, 14. Jh. (M). – Vaticanus gr. 1339, 2. Hälfte d. 14. Jhs. (P). – Laurentianus Plut. 81.1, ca. 1280–1320 (S). – Vaticanus gr. 260, 12.–13. Jh. (U). – Vaticanus gr. 261, um 1300 (Y).
Zu den in Bekkers kritischem Apparat aus diesen sieben Sens.-Handschriften zum Gleichnistext angeführten Lesungen ist nun zunächst allgemein festzustellen, dass nach dem von David Bloch 2004 publizierten Lesartenapparat173 sprachlich oder sachlich bessere Lesungen als die von Bekker verzeichneten für den Bereich des Laternengleichnisses in den 190 Jahren, die nunmehr seit dem Erscheinen von Bekkers Edition vergangen sind, trotz inzwischen stark vermehrter Kenntnis der direkten und indirekten Überlieferung nicht bekannt geworden sind. Zwar gibt es eine einzige Stelle, an der die von Bekkers Apparat gebotenen Lesungen das Potential der Überlieferung für die Konstitution eines sprachlich und inhaltlich plausiblen Textes noch nicht ausschöpfen. Aber auch hier kann von einem nachträglichen Bekanntwerden der korrekten Lesung im Grunde keine Rede sein, da sie in diesem Fall durch die mittellateinische De sensu-Übersetzung überliefert wird, welche 1489 in den Quaestiones super parva naturalia cum textu Aristotelis des spätmittelalterlichen Thomisten Johannes Versor abgedruckt wurde.174 Die Tatsache, dass für einen überlieferungsgeschichtlich informierten Apparatus criticus teilweise andere als die von Bekker verzeichneten Handschriften auszuwählen und natürlich auch die indirekte Überlieferung – neben der mittellateinischen Übersetzung vor allem der Kommentar Alexanders von Aphrodisias – zu dokumentieren wären, bleibt davon selbstverständlich unberührt.
172
Oben Punkt 2.1. David Bloch: The Manuscripts of the De Sensu and the De Memoria. Preliminary Texts and Full Collations, in: Cahiers de l’Institut du Moyen-Âge grec et latin 75, 2004, S. 7–119 (im Folgenden zitiert als Bloch, Manuscripts), insbesondere S. 54–55 (Apparat zum Gleichnistext). 174 Johannes Versor: [1] Quaestiones super libros De generatione et corruptione cum textu Aristotelis; [2] Quaestiones super libros De caelo et mundo et Meteororum cum textu Aristotelis; [3] Quaestiones super Parva naturalia cum textu Aristotelis. Daran: [4] Thomas de Aquino: De ente et essentia cum commento Gerardi de Monte. – [5] Gerardus de Monte: Concordantiae dictorum Thomae Aquinatis et Alberti Magni, Köln (Heinrich Quentell), 1489. Bayerische Staatsbibliothek, Sign. 2 Inc. c. a. 2195. Der Gleichnistext findet sich in Teil [3], fol. iii recto am Fuß der linken Spalte. Zu dieser Inkunabel vgl. Alexander Birkenmajer: Die Wiegendrucke der physischen Werke Johannes Versors, in: Bok- och biblioteks-historiska studier tillägnade Isak Collijn på hans 50-årsdag, Uppsala 1925, S. 121–135, hier: S. 122–125 und S. 134–135. 173
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Des Näheren hatten wir in den Anmerkungen zu unserer Übersetzung von Bekkers Text175 acht der in Bekkers kritischem Apparat zum Gleichnistext (437b26–438a3) angeführten Lesungsdivergenzen seiner ständigen Zeugen ELMPSUY als textkritisch bedeutsam herausgehoben. Diese acht Divergenzen seien im Folgenden zusammengestellt, wobei wir in den Anmerkungen noch einmal Text und Übersetzung der betreffenden Verse verzeichnen:176 (1) 437b28:177 ἀμουργούς (?) LSU P : ἀμοργούς (‚Abwischer‘) EMY : ἀμορβούς (‚Begleiter‘) Esupr. lin.. (2) 437b29:178 οἵτ’ (pron. rel. masc. pl.) LSU : αἵτ’ (pron. rel. fem. pl.) EMYP. (3) 437b30:179 φῶς (‚Licht‘) LSU : πῦρ (‚Feuer‘) EMYP. (4) ἔξω διαθρῶσκον (‚nach außen hindurchspringend‘) EMYLSU : ἔξω διάνταται τρείατο θεσπεσίησιν ὀθόνησιν διαθρῶσκον (d.h. ἔξω {δι᾽ ἄντα τετρήατο θεσπεσίηισιν} διαθρῶισκον: ‚nach außen {durchbohrt waren sie geradeaus mit wunderbar feinen […]} hindurchspringend‘) P (Sonderlesart!). (5) 438a1:180 ὀθόνησιν (‚den Leintüchern‘) LSU (γ᾽ ὀθόνησιν fecit Vat. gr. 266) : χθονίη(ι)σι (‚den unterirdischen‘) EMY : χοανῆσιν (‚den Öffnungen‘) P (Sonderlesart!). (6) λοχάζετο (‚belauerte‘) EMY : ἐχεύατο (‚ergoß sich‘ d.h. ‚verbreitete sich‘) SU P (ἐχείατο L). (7) 438a2:181 ἀμφινάοντος (Ptz. Präs. Akt. ‚das umfloss‘) L : ἀμφιναέντος (?) SU P vel ἀμφὶ νάεντος EY : ἀμφὶ καέντος (intr. Ptz. Aor. Pass. ‚das ringsum gebrannt hatte‘) M. (8) 438a3:182 διαθρῶσκον (Ptz. Präs. ‚hindurchspringend‘) EMYLSU : διίεσκον (Ind. Impf. ‚sie ließen hindurch‘) P (Sonderlesart!).
175
Oben Punkt 2.1. Im Gegensatz zu Bekkers Apparat ist das folgende Lesartenverzeichnis nicht negativ, sondern positiv; d.h. wir verzeichnen nicht nur diejenigen Lesarten der sieben von Bekker als ständige Zeugen angeführten Handschriften, die von seinem Text abweichen, sondern auch, und zwar stets an erster Stelle, diejenigen, die ihn stützen. Bekkers Angaben wurden an den von Bloch, Manuscripts [Anm. 173], S. 54–55 vorgelegten Kollationen überprüft, die Lesungen des Parisinus E und des Vaticanus P zusätzlich an Digitalisaten der Handschriften. 177 Bekkers Text von 437b28: ἅψας παντοίων ἀνέμων λαμπτῆρας ἀμουργούς (‚indem er Laternenwände montiert hatte, †‚Abwischer‘† von Winden aller Art‘). 178 Bekkers Text von 437b29: οἵτ’ ἀνέμων μὲν πνεῦμα διασκιδνᾶσιν ἀέντων (‚die zwar den Atem der wehenden Winde zu zerstreuen pflegen‘). 179 Bekkers Text von 437b30: φῶς δ᾽ ἔξω διαθρῶσκον, ὅσον ταναώτερον ἦεν (‚das Licht aber, mit wachsender Ausdehnung nach außen hindurch springend‘). 180 Bekkers Text von 438a1: λεπτῇσιν ὀθόνῃσι λοχάζετο κύκλοπα κούρην (in der Übersetzung beginnen wir um des Zusammenhangs willen bereits mit dem vorangehenden Vers 437b32: ‚[so hat damals das urzeitliche Feuer, das in den Membranen eingeschlossen war], d.h. den feinen †Leintüchern†, das ringgestaltige ‚Mädchen‘ †belauert†‘). 181 Bekkers Text von 438a2: αἳ δ᾽ ὕδατος μὲν βένθος ἀπέϛεγον ἀμφινάοντος (‚Die hielten die Masse des ringsum strömenden Wassers ab‘). 182 Bekkers Text von 438a3: πῦρ δ᾽ ἔξω διαθρῶσκον, ὅσον ταναώτερον ἦεν (‚während das Feuer, mit wachsender Ausdehnung nach außen hindurch †springend‘). 176
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Für das Folgende kommt es nun auf Bekkers Behandlung der Lesungen des Codex Vaticanus gr. 1339 P an, einer Handschrift, deren Datierung lange umstritten war, bis sie von Dieter Harlfinger dem Kopisten Joasaph zugeschrieben und in die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts datiert werden konnte.183 Wie man sieht, hat Bekker aus diesem Vaticanus P allein im ersten der acht von uns aufgelisteten Fälle eine – in diesem Fall übrigens sinnlose – Lesart in den Gleichnistext aufgenommen, während er sich in den Fällen 2–8 gegen die auch oder allein vom Vaticanus P gebotene Lesart entschieden hat. Im Laufe der Arbeit an den einzelnen Problemen des Gleichnistextes und seiner Deutung hat sich uns nun allmählich eine These ergeben, die in stärkstem Gegensatz zu Bekkers Textgestaltung steht. Unsere These besagt nämlich, dass in allen sieben Fällen (2–8), in denen Bekker die P-Lesart verschmäht hat, in Wahrheit die P-Lesart zu bevorzugen ist, sei es, dass sie unmittelbar in den Text zu setzen ist, sei es, dass der Text nur auf der Grundlage der P-Lesart in Verbindung mit der mittellateinischen De sensu-Übersetzung überzeugend emendiert werden kann. Wenn unsere These zuträfe, dann wären drei überlegene Lesungen unter den von Bekker (1831) herangezogenen Handschriften allein vom Vaticanus P bewahrt worden und eine überlegene Lesung allein von der mittellateinischen Übersetzung bzw. ihrer griechischen Vorlage (Γ). Es wäre dann zum einen möglich, dass der vorzügliche Gleichnistext von P und Γ gar keinen Aufschluss über die Aristotelische Form des Zitats gibt, weil er auf eine insoweit aus einer externen Empedokles-Quelle emendierte Vorlage zurückgeht.184 Es wäre zum andern aber auch möglich, dass die erwähnten Sonderlesungen stets auch in einem unabhängigen Zweig der Aristotelesüberlieferung bewahrt geblieben sind. Zur Entscheidung zwischen beiden Möglichkeiten werden wir den Gleichnistext neu konstituieren und dann durch ein Stemma verdeutlichen, wie die Überlieferungsverhältnisse dieses Textstücks strukturiert sein müssten, wenn die überlegenen P- und Γ-Sonderlesungen aus einem von Hause aus unabhängigen Zweig der Aristoteles-Überlieferung stammten. Dieses zunächst hypothetische Stemma werden wir abschließend mit den Forschungen zur Überlieferung der ersten Gruppe der Parva naturalia insgesamt konfrontieren und zeigen, dass unser Gleichnis-Stemma sich mit dem nach aktuellem Forschungsstand anzunehmenden Stemma der De sensu-Überlieferung weitestgehend deckt. Durch dieses Ergebnis wird die Zurückführung des guten Gleichnistextes von P und Γ auf eine externe Kontamination zwar nicht stricto sensu widerlegt, wohl aber als überflüssig erwiesen. 183 Dieter Harlfinger: Die Textgeschichte der pseudo-Aristotelischen Schrift Περὶ ἀτόμων γραμμῶν. Ein kodikologisch-kulturgeschichtlicher Beitrag zur Klärung der Überlieferungsverhältnisse im Corpus Aristotelicum, Amsterdam 1971, S. 251–261, hier: S. 260. 184 Zur Zugänglichkeit von Empedoklestexten in Spätantike und Mittelalter vgl. O. Primavesi: Lecteurs antiques et byzantins d’Empédocle. De Zénon a Tzétzès, in: Qu’est-ce que la Philosophie Présocratique?, hg. v. A. Laks, C. Louguet, Villeneuve d’Ascq (Nord) 2002 (Cahiers de Philologie, vol. 20), S. 183–204.
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Die Einsicht in die heuristische Fruchtbarkeit des Gleichnistextes für eine stemmatische Neubewertung des Vaticanus P hat sich in der Forschung schon vor langer Zeit angebahnt: Wie wir gleich sehen werden, ist die Authentizität von immerhin vier Lesungen des Vaticanus P im Gleichnistext bereits von Friedrich Blass (1883) vertreten worden. Das noch offene Problem besteht hier eher darin, dass Blass aus seinen grundlegenden Beobachtungen Folgerungen für die Textgestaltung gezogen hat, die sowohl hinsichtlich ihrer paläographischen Plausibilität als auch hinsichtlich ihrer Implikationen für Struktur und Bedeutung des Gleichnisses höchst problematisch sind. Noch offen ist dieses Problem deshalb, weil die Forschung seit Blass dessen Beitrag teils ignoriert, teils sein problematisches Hauptergebnis entweder unkritisch übernommen oder en bloc verworfen hat. Deshalb bleibt uns keine andere Wahl, als wieder auf den Beitrag von Blass selbst zurückzugreifen. Auf der Grundlage seiner Beobachtungen werden wir seine textkritischen Folgerungen, wo nötig, durch paläographisch und inhaltlich plausiblere Vorschläge ersetzen, denen wir noch weitere, in die gleiche Richtung weisende Beobachtungen und Vorschläge hinzufügen werden. So werden sich aus unserer Würdigung und Kritik des fundamentalen Beitrags von Blass zugleich die Hauptpunkte unserer Neukonstitution des Gleichnistextes ergeben. Dabei versteht es sich von selbst, dass unsere Vorschläge zur Textgestaltung sich in der Sache an den Resultaten orientieren werden, die wir hinsichtlich der Empedokleischen Theorie der Augenfunktion und hinsichtlich der Bedeutung des Gleichnisses bereits erzielt haben. 2.4.2 Von Bekkers Edition (1831) bis zum Vorstoß von Blass (1883) 2.4.2.1 Stagnation: Das Gleichnis in der Forschung von Karsten (1838) bis Stein (1852) In den ersten zwanzig Jahren nach Erscheinen der Bekkerschen Aristotelesausgabe (1831) wurden weder in der Kenntnis der direkten und indirekten Überlieferung des Laternengleichnisses noch in der Gestaltung seines Textes nennenswerte Fortschritte erzielt, wie die einschlägigen Empedoklesarbeiten von Simon Karsten (1838),185 Theodor Bergk (1844),186 Friedrich Panzerbieter (1845)187 und Heinrich Stein (1852)188 zeigen. Bekkers Ablehnung der P-Lesarten aber wurde eher noch verstärkt: Das auch von P überlieferte und in der 185 Karsten [Anm. 138], S. 128–131, Verse 302–311 (Karstens Verszählung ist ab 310 um 1 zu niedrig). 186 Theodor Bergk: Commentationum criticarum specimen II, in: Indices Lectionum et publicarum et privatarum, quae in Academia Marburgensi per semestre hibernum a. MDCCCXLIV–V. inde a d. XXI. m. Octobris usque ad d. XV. m. Martii habendae proponuntur, Marburg 1844, S. III–IX, hier: S. III–IV (nachgedruckt in: Ders.: Kleine philologische Schriften, hg. v. Rudolf Peppmüller, II. Band. Zur griechischen Literatur, Halle 1886, S. 43–45). 187 Panzerbieter [Anm. 139], Spalten 884–885. 188 Stein [Anm. 139], S. 71–72, Verse 316–325.
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Tat äußerst dubiose (weil bedeutungslose) ἀμουργούς in Vers 437b28 wurde von Bergk, Panzerbieter und Stein durch das vom Parisinus E und anderen überlieferte, freilich auch nicht besonders überzeugende ἀμοργούς (‚Pflücker, Abwischer‘) ersetzt.189 2.4.2.2 Die Gruppierung der Parva Naturalia-Handschriften durch Freudenthal (1869) In der Analyse der direkten Überlieferung von De sensu brachte erst der Parva Naturalia-Aufsatz von Jacob Freudenthal aus dem Jahre 1869 einen Fortschritt.190 Freudenthal teilte Bekkers sieben ständige Zeugen in zwei Familien ein, auf der einen Seite („Familie A“) Parisinus E, Urbinas M und Vaticanus Y, auf der anderen Seite („Familie B“) Vaticanus L, Laurentianus S und Vaticanus U, sowie „der noch unter diesen stehende P“. Dass EMY einerseits und LSU andererseits je eine Familie bilden, stimmt genau zu dem Befund unserer unter 2.4.1 vorgelegten Zusammenstellung der kritisch bedeutsamen Lesungsdivergenzen; aber die Klassifikation des Vaticanus P als (schlechtester) Vertreter der zweiten Familie findet jedenfalls an Bekkers Gestaltung des Gleichnistextes keine Stütze, da Bekker nicht nur Lesarten verwirft, die P mit LSU teilt (438a1 ἐχεύατο), sondern auch solche, die P mit EMY teilt (437b29 αἵ τ’, 437b30 πῦρ). Hätte Bekker mit seiner Ablehnung der drei Lesungen recht, dann würde P auch Bindefehler mit der ersten Familie aufweisen, so dass man seinen Text in diesem Fall eher als Mischtext zu klassifizieren hätte. Deshalb werden wir im Folgenden die Handschriftengruppen EMY und LSU zwar weiterhin als die erste bzw. zweite Familie Freudenthals bezeichnen, den Vaticanus P aber keiner der beiden Familien zurechnen. 2.4.2.3 Die Erschließung der indirekten Überlieferung: Alexander von Aphrodisias und die mittellateinische De sensu-Übersetzung Nachdem Bekkers Mitarbeiter Friedrich August Brandis in seiner 1834 im vierten Band der Berliner Akademieausgabe vorgelegten Auswahl aus der antiken Aristoteleserklärung (‚Scholien‘) die Abhandlung De sensu nicht berücksichtigt hatte, wurde die Existenz einer indirekten De sensu-Überlieferung zum einen 189 Vgl. Bergk [Anm. 186], Panzerbieter [Anm. 139], Spalte 884 und Stein [Anm. 139], S. 71. Bergk deutete dies nach Harpokration 26, 13 Dindorf (ἔστι παραπλήσιόν τι βύσσωι) als leinenähnlichen Stoff; Panzerbieter hingegen erklärte: „ἀμοργὸς von ἀμέργω, destringere, decerpere: die allerlei Winde, von welcher Seite sie auch kommen, vom Lichte abstreifen, abwehren, abgleiten lassen.“ In Vers 438a1 änderte Panzerbieter (gefolgt von Stein) Bekkers metrisch nicht unproblematisches λεπτῇσιν ὀθόνῃσι (vgl. oben Anm. 85) zu λεπτῇς εἰν ὀθόνῃσι. 190 Jacob Freudenthal: Zur Kritik und Exegese von Aristoteles’ πεϱὶ τῶν κοινῶν σώματος καὶ ψυχῆς ἔϱγων (parva naturalia), in: Rheinisches Museum für Philologie, Neue Folge 24, 1869, S. 81–93 (I. Allgemeines) und S. 392–419 (II. Zu de memoria [Schluss]); zu den Überlieferungsverhältnissen vgl. S. 87–88.
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durch die von Charles Thurot 1875 vorgelegte Edition von Alexanders (zuletzt 1527 gedrucktem) De sensu-Kommentar191 und zum anderen durch den 1866 erschienenen Nachdruck des (zuletzt 1660 gedruckten) Kommentars zu De sensu und De memoria von Thomas von Aquin in Erinnerung gerufen.192 Thurot erschloss den um 200 n. Chr. verfassten und hinsichtlich des griechischen Originaltextes seit der Aldina von 1527 vernachlässigten Kommentar Alexanders von Aphrodisias zu De sensu zum ersten Mal durch eine kritische Edition, der er auch eine von ihm aus dem Codex Parisinus lat. 14714 geschöpfte mittelalterliche lateinische Übersetzung beigab, die er zu Recht mit Wilhelm von Moerbeke in Verbindung brachte.193 Die Bedeutung von Alexanders Kommentar für die Konstitution des Gleichnistextes beruht vor allem darauf, dass der Kommentator in seine Erklärung des dem Gleichnis gewidmeten Aristoteles-Abschnitts einige wörtliche Zitate daraus einflicht, die durchweg auf der Seite des durch EMY/LSU überlieferten Vulgatatextes stehen, und an Stellen, an denen EMY und LSU auseinandergehen, in der Regel bereits den Text von Freudenthals zweiter Familie (LSU) bieten – selbst im Fall der korrupten Lesung ἀμουργούς in Vers 437b28. Der durch den Nachdruck von 1866 wieder leicht zugänglich gemachte Kommentar des Thomas von Aquin (1224/1225–1274) zu De sensu war auch für die 191
Charles Thurot (Hg.): Commentaire sur le traité d’Aristote De sensu et sensibili, édité avec la vieille traduction latine, Paris 1875 (Notices et extraits des manuscrits de la Bibliothèque Nationale et autres bibliothèques, publiés par l’Institut National de France, tome vingt-cinquième, deuxième partie); dazu die eingehende Rezension von Hermann Usener in: Jenaer Literaturzeitung 3, 1876, Nr. 34, S. 534–539. Alexanders Kommentar zum Gleichnistext nebst der mittellateinischen Übersetzung findet sich bei Thurot auf den Seiten 48–50; dazu Usener S. 538. Thurots Edition des griechischen Alexandertextes, nicht aber die der mittellateinischen Übersetzung, wurde inzwischen ersetzt durch die von Paul Wendland [Anm. 93]. 192 Sancti Thomae Aquinatis in Aristotelis Stagiritae nonnullos libros commentaria, Volumen Tertium, Parma (Typis Petri Fiaccadori), 1866 (Sancti Thomae Aquinatis doctoris angelici ordinis praedicatorum opera omnia ad fidem optimarum editionum accurate recognita Tomus XX), S. 145–214. 193 Thurot [Anm. 191], S. 386. Entschiedener für Wilhelms Autorschaft Augustin Mansion: Le commentaire de Saint Thomas sur le De sensu et sensato d’Aristote, Utilisation d’Alexandre d’Aphrodise, in: Mélanges Mandonnet. Études d’histoire littéraire et doctrinale du moyen age, Tome I, Paris 1930, S. 83–102, hier: S. 91–96, sowie George Lacombe: Aristoteles latinus, Codices descripsit †Georgius Lacombe, in societatem operis adsumptis A. Birkenmajer, M. Dulong, Aet. Franceschini, Pars prior, Rom 1939, S. 97, Nr. (90). Für Wilhelms Autorschaft sprechen auch die Beobachtungen von A. J. Smet C. P. (Hg.): Alexandre d’Aphrodisias, Commentaire sur les Météores d’Aristote. Traduction de Guillaume de Moerbeke. Édition critique, Leuven, Paris 1968 (Corpus latinum commentariorum in Aristotelem graecorum IV), S. xi–xiv, zu den intertextuellen Beziehungen zwischen Wilhelms Prolog zu seiner Übersetzung von De partibus, seiner Übersetzung von Alexanders Meteorologica-Kommentar und der von Thurot edierten mittellateinischen Übersetzung von Alexanders De sensu-Kommentar.
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Geschichte der Textforschung zu dieser Aristotelischen Abhandlung von Bedeutung, und zwar im Hinblick auf die von Thomas zugrunde gelegte und in seinem Kommentar vollständig wiedergegebene mittellateinische Übersetzung von De sensu. Die Übersetzung wurde zwar schon 1489 in den auf Thomas’ Kommentar fußenden Quaestiones super parva naturalia cum textu Aristotelis des Johannes Versor194 gedruckt und erst vier Jahre später in der Editio princeps von Thomas’ Kommentar (1493),195 doch im Druck ist sie seither am einfachsten im Rahmen von Thomas’ Kommentar zugänglich und fand durch dessen Nachdruck von 1866 auch Eingang in die neuere Aristotelesforschung. Die Übersetzung steht offenbar unter dem Einfluss zweier verschiedener griechischer Textformen, die wir im Folgenden Γ1 und Γ2 nennen werden. 2.4.2.4 Blass (1883): Die Lesungen des Codex Vaticanus P im Gleichnistext Auf der Grundlage der durch Freudenthals Familienunterscheidung und Thurots Alexander-Edition verbesserten Überlieferungskenntnis, aber noch ohne Berücksichtigung der mittellateinischen Übersetzung, veröffentlichte Friedrich Blass im Jahre 1883 eine lakonische Miszelle im Umfang von gerade einmal zwei Seiten, die den bis heute wichtigsten Beitrag zur Beurteilung der zum Gleichnistext überlieferten Lesungen darstellt.196 Darin stellte er Bekkers damals bereits eingebürgerte Bewertung der Lesarten des Vaticanus P im Gleichnistext gleichsam vom Kopf auf die Füße, indem er, wie wir im Folgenden dokumentieren werden, gleich vier von Bekker verschmähte P-Lesarten, darunter sämtliche drei Sonderlesungen von P, in den Gleichnistext aufnahm. 437b30 (i): In diesem vorletzten Vers des ‚Wie-Teils‘ (Bekker: φῶς δ᾽ ἔξω διαθρῶσκον, ὅσον ταναώτερον ἦεν ‚doch das Licht, nach außen hindurchspringend gemäß seiner wachsenden Ausdehnung‘) ist nach Bekkers Apparat als erstes Wort nur in Freudenthals zweiter Familie (LSU) φῶς (‚Licht‘) überliefert – eine Lesart, die auch von der Hauptvorlage Γ1 der mittellateinischen Übersetzung geteilt wird –, in Freudenthals erster Familie (EMY) und in P hingegen πῦρ (‚Feuer‘). Blass erschloss aus dem Kommentar Alexanders von Aphrodisias zur Stelle,197 194
Zu den Quaestiones super parva naturalia des Johannes Versor vgl. oben [Anm. 174]. Das Kolophon der editio princeps von Thomas’ Kommentar lautet (f. q7): „Parua hec aristotelis naturalia cum sancti Thome aquinatis expositione. Dilligentissime emendata fuere per Clarissimum artium et medicine doctorem Magistrum Onofrium de funtana Placentinum : ac Impressa Padue per Hieronimum de durantis. Anno domini .Mcccclxxxxiij. die .xxiiij. mensis May ad laudem eterni dei eiusque gloriosissime matris virginis Marie“. 196 Friedrich Blass: Zu Empedokles, in: Jahrbücher für Classische Philologie 29 (Neue Jahrbücher für Philologie und Paedagogik 53, Bd. 127), 1883, S. 19–20. Da die Miszelle nur zwei Seiten umfasst, verzichten wir im folgenden Referat der von Blass unterbreiteten Vorschläge auf einzelne Stellenangaben. 197 Vgl. Alexander bei Thurot [Anm. 191], S. 49,1–2 bzw. bei Wendland [Anm. 93], S. 23,13–14: τοῦ δὲ πυρὸς τὸ λεπτότατον εἰς τὸ ἔξω δίεισιν (so die Überlieferung, die Thurot S. 441 verfehlterweise zu διίησιν ändern möchte), ὅπερ ἐστὶ φῶς. 195
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dass auch letzterer πῦρ gelesen habe, und setzte – unter Berufung auf die Handschriftenmehrheit (EMYP gegen LSU) und auf Alexander – πῦρ anstelle von Bekkers φῶς in den Text: πῦρ δ᾽ ἔξω διαθρῷσκον, ὅσον ταναώτερον ἦεν. doch das Feuer, nach außen hindurchspringend gemäß seiner wachsenden Ausdehnung.
437b30 (ii): Zum weiteren Verlauf desselben Verses vermerkt Bekker im Apparat, dass dort in P zwischen πῦρ δ᾽ ἔξω und διαθρῶσκον die vier (teils unverständlichen) Worte διάνταται τρείατο θεσπεσίησιν ὀθόνησιν eingeschoben sind: Von diesen Worten findet sich weder in den verbleibenden Handschriften der beiden Familien Freudenthals, EMY und LSU, noch in Alexanders Kommentar noch auch in der mittellateinischen Übersetzung) die geringste Spur. Blass hat nun erkannt, dass die ersten drei dieser Worte als δίαντα τετρήατο θεσπεσίῃσιν und damit als der größere Teil eines Hexameters zu dechiffrieren sind, dem nur der Anfang fehlt: — ◡◡ — ◡ δίαντα τετρήατο θεσπεσίῃσιν. […] durchbohrt waren sie geradeaus mit wunderbar feinen […]
Das im P-Einschub noch folgende Wort ὀθόνησιν hat Blass bei der Herstellung des zusätzlichen Teilverses übergangen: Dieses ὀθόνησιν kann den wiederhergestellten Teilvers schon aus metrischen Gründen nicht fortgesetzt haben. Blass stand nun vor zwei Fragen: (i) Woher kommt das überflüssige ὀθόνησιν im P-Einschub? (ii) Kann der aus dem P-Einschub gewonnene Teilvers sinnvoll in den Gleichnistext eingefügt werden? Seine Antwort auf beide Fragen hängt mit einer weiteren, ebenso wichtigen Beobachtung zusammen, die ihm weiter unten in Vers 438a1 gelungen ist. 438a1: In diesem Vers, dem zweiten des ‚So-Teils‘ (Bekker: λεπτῇσιν ὀθόνῃσι λοχάζετο κύκλοπα κούρην ‚†mittels feiner Leintücher†, das ringgestaltige ‚Mädchen‘ †belauert†‘) ist laut Bekkers Apparat als zweites Wort anstelle des von LSU (und bereits von Alexander198 und von der Hauptvorlage Γ1 der mittellateinischen Übersetzung199) gelesenen ὀθόνησιν (‚mittels der Leintücher‘) allein von P das Wort χοανῆσιν (‚mittels trichterförmiger Öffnungen‘) überliefert. Blass kam nun zu dem Schluss, dass χοανῆσιν im vorliegenden Zusammenhang die Poren in der Augenhülle bezeichnen muss, worin natürlich ein starkes Argument dafür lag, dieses Wort in den Text aufzunehmen. Aus diesem Befund zog Blass zwei Folgerungen: Zum einen erklärte er das Auftreten des überschüssigen ὀθόνησιν in dem P-Einschub von 437b30 überzeugend damit, dass in der Vorlage von P zu Vers 438a1 als Variante zur dortigen P-Lesart χοανῆσιν die Alexander/LSU-Lesart 198 Vgl. Alexander bei Thurot [Anm. 191], S. 49,11 bzw. bei Wendland [Anm. 93], S. 23,24. 199 Vgl. oben unter Punkt 2.4.2.3 am Ende.
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ὀθόνησιν beigeschrieben war und dann dem in 437b30 eingeschalteten zusätzlichen Teilvers angefügt wurde. Zum andern nahm er die P-Lesart χοανῆσιν selbst in der Tat in den Text auf – aber nicht an der Stelle, an der sie in P überliefert ist, d.h. nicht in 438a1. Vielmehr benutzte er dieses Wort, um es dem von ihm aus dem P-Einschub in 437b30 hergestellten Teilvers voranzustellen, wobei er die auch dann noch fehlende erste Länge des neuen Verses mit einem femininen Relativpronomen im Nominativ Plural füllte: δίαντα τετρήατο θεσπεσίῃσιν. geradeaus durchbohrt waren, mit unendlich kleinen
Den so aus drei Worten der erweiterten P-Überlieferung von Zeile 437b30 (‚Wie-Teil‘) und einem Wort der P-Überlieferung von Vers 438a1 (‚So-Teil‘) zusammengestückten Vers setzte Blass nach Vers 438a1, d.h. als dritten Vers des ‚So-Teils‘, in den Text, so dass er die Membranen bzw. die ‚Leintücher‘ des Auges näher erläutert: b32 438a1
NEU a2
NEU
ὣς δὲ τότ᾽ ἐν μήνιγξιν ἐεργμένον ὠγύγιον πῦρ λεπτῇς εἰν (?) ὀθόνῃσι. λοχάζετο (?) κύκλοπα κούρην,
αἱ δ᾽ ὕδατος μὲν βένθος ἀπέστεγον ἀμφινάοντος κτλ. So hat damals das urzeitliche Feuer, das in den Membranen eingeschlossen war, d.h. †in feinen Leintüchern†, das ringgestaltige ‚Mädchen‘ †belauert†, , die (scil. Poren) aber hielten zwar die Masse des ringsum strömenden Wassers ab […]
Über das Zustandekommen der von ihm angenommenen Textverschiebung des Teilverses äußert sich Blass nur sehr vage: Die drei Worte δίαντα τετρήατο θεσπεσίῃσιν seien aus dem in einem Vorfahren von P noch auf 438a1 folgenden Vers gemeinsam mit der dort in 438a1, nämlich über dem Wort χοάνησιν, als Variante vermerkten Alexander- bzw. LSU-Lesart ὀθόνησιν nach oben in Vers 437b30 „verschlagen“ worden. 438a3: In diesem Vers, dem letzten des Gleichnisses (Bekker: πῦρ δ᾽ ἔξω θεσπεσίῃσιν, ὅσον ταναώτερον ἦεν ‚doch das Feuer, aus der Laterne †hindurchspringend† gemäß seiner wachsenden Ausdehnung‘) hat Blass gesehen, dass das nach Bekkers Apparat von den sechs Handschriften EMY/LSU gebotene und von Bekker auch in den Text gesetzte Partizip (διαθρῶισκον ‚hindurchspringend‘) deshalb schweren Bedenken unterliegt, weil es den letzten Satz des Gleichnisses seines verbalen Prädikats beraubt und so einen syntaktischen Torso produziert. Blass machte nun darauf aufmerksam, dass der dort nur von P überlieferte Indikativ Imperfekt διίεσκον (‚sie ließen hindurch‘) einen vollständigen Satz liefert, und dass man das Eindringen des falschen διαθρῶσκον in 438a3 auf eine mechanische Wiederholung des korrekten διαθρῶσκον in 437b30 zurückführen könne. So setzte Blass διίεσκον in den Text: 495
Oliver Primavesi a3
πῦρ δ᾽ ἔξω διίεσκον, ὅσον ταναώτερον ἦεν doch das Feuer ließen sie hindurch nach außen, gemäß seiner wachsenden Ausdehnung.
2.4.3 Ein neuer Text auf der Grundlage von P und der mittellateinischen Übersetzung Die große wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung von Blass’ soeben referierter Miszelle wird daran deutlich, dass Hermann Diels die Änderungen, die Blass auf der Grundlage der Lesungen des Vaticanus P an Bekkers Text des Gleichnisses vorgenommen hatte, en bloc – mit der einen Ausnahme der Ersetzung von φῶς (LSU) durch πῦρ (EMY/P) in Vers 437b30 – in die grundlegende EmpedoklesEdition übernahm, die er 1901 im Rahmen seiner Poetarum Philosophorum Fragmenta [Anm. 5] vorlegte; dabei ist es auch in allen Auflagen seiner „Fragmente der Vorsokratiker“ geblieben. Auf der anderen Seite wurde Blass’ Beitrag bzw. Diels’ darauf aufbauende Edition des Gleichnistextes im 20. Jahrhundert gerade in den überlieferungsgeschichtlich ambitionierten Beiträgen zur Parva Naturalia-Forschung vollständig ignoriert. Diese Alternative zwischen der unkritischen Übernahme von Blass’ Vorschlägen auch in ihren problematischen Aspekten einerseits und der Nichtberücksichtigung seines Beitrages andererseits hatte zur Folge, dass seine Vorschläge für die Textgestaltung des Laternengleichnisses und ihre Konsequenzen für die überlieferungsgeschichtliche Einordnung des Vaticanus P bis heute niemals von Grund auf durchdacht worden sind. Deshalb muss eine fundierte Neukonstitution des Gleichnistextes nach unserer Auffassung unmittelbar bei der Würdigung, Kritik, Weiterentwicklung und Ergänzung von Blass’ Textbehandlung ansetzen. Wir beginnen mit den drei P-Sonderlesungen, die Blass in den Gleichnistext aufgenommen hat, und insbesondere mit seinen beiden wichtigsten Beiträgen zur Überlieferung des Laternengleichnisses: Im ‚Wie-Teil‘ (Vers 437b30) hat er dem P-Einschub einen zusätzlichen Teilvers abgewonnen, in dem von wunderbar feinen Perforationen die Rede ist, und im ‚So-Teil‘ (Vers 438a1) hat er gesehen, dass das Wort χοάνησιν (‚den trichterförmigen Öffnungen‘), welches dort nur von P (wenn auch in der Fehlschreibung χοανῆσιν) anstelle des metrisch und semantisch zweifelhaften ὀθόνησιν (Alexander/LSU ‚den Leintüchern‘) überliefert wird, im vorliegenden Zusammenhang die Poren der Augenhülle bezeichnen muss. Tritt man nun einen Schritt zurück und erinnert sich der beiden von uns oben unter 2.3.5 diagnostizierten Hauptprobleme von Bekkers Gleichnistext – im ‚So-Teil‘ fehlen die Augenporen, im ‚Wie-Teil‘ ein passendes Pendant in Gestalt einer mechanischen Perforation der Laterne –, dann liegt die Vermutung auf der Hand, dass diese beiden Probleme auf der Grundlage von Blass’ Beobachtungen zu 437b30 und 438a1 lösbar sein müssten. Wie nun zu zeigen ist, trifft diese optimistische Vermutung in der Tat zu, aber nur unter der Bedingung, dass man 496
Zitatfragment und Textkritik
von diesen Beobachtungen einen textkritisch behutsameren und überlieferungsgeschichtlich plausibleren Gebrauch macht, als Blass selbst es getan hat. 2.4.3.1 Der Zusatzvers 437b30A: Die Perforation der Laternenwände Der in Vers 437b30, dem fünften Vers des ‚Wie-Teils‘, in P eingeschobene Teilvers δι ̓ ἄντα τετρήατο θεσπεσίηισιν (‚durchbohrt waren sie geradeaus, mit wunderbar feinen […]‘) stimmt genau zu dem nach Photios in einer Komödie des Aristophanes anvisierten und von uns oben unter 2.3.5.2 für den ‚Wie-Teil‘ geforderten Laternentyp, einer Tonlaterne, die mittels feiner Durchbohrungen lichtdurchlässig gemacht wurde:200 καὶ κεραμεοῖ (scil. λαμπτῆρες) διατετρημένοι, ὥστε διαφαίνειν. und (scil. Laternenwände) aus Ton, die durchbohrt waren, so dass sie durchscheinend waren.
Angesichts dieser Übereinstimmung muss es als schwerer Fehlgriff gewertet werden, dass Blass den von ihm selbst aus dem P-Einschub im ‚Wie-Teil‘ wiedergewonnenen Teilvers willkürlich aus diesem Zusammenhang herausgerissen und ihn, in konjektural vervollständigter Form, in den ‚So-Teil‘ verpflanzt hat. Der Teilvers verspricht gerade in dem Kontext, in dem er überliefert ist, die Lösung eines der beiden Hauptprobleme von Bekkers Gleichnistext und muss deshalb schon aus inhaltlichen Gründen unbedingt im ‚Wie-Teil‘ gehalten werden. Darüber hinaus lässt sich zeigen, dass die Art und Weise, in der der Teilvers in 437b30 eingeschoben ist, zwingend nahelegt, dass der betreffende Vers ursprünglich unmittelbar auf 437b30 folgte. Im Vulgatatext der beiden Familien EMY und LSU hat der Vers 437b30 folgende Gestalt: πῦρ (φῶς LSU/Γ1) δ᾽ ἔξω διαθρῶσκον ὅσον ταναώτερον ἦεν doch das Feuer, nach außen hindurchspringend gemäß seiner wachsenden Ausdehnung.
Im Vaticanus P hingegen ist in Zeile 437b30 Folgendes überliefert: πῦρ δ᾽ ἔξω {διάνταται τρείατο θεσπεσίησιν ὀθόνησιν} διαθρῶσκον ὅσον ταναώτερον ἦεν doch das Feuer, nach außen {durchbohrt waren sie geradeaus mit wunderbar feinen} hindurchspringend gemäß seiner wachsenden Ausdehnung.
Blass hat richtig gesehen, dass die von P zusätzlich überlieferte Wortfolge keinen Anlass bietet, an dem anderwärts überlieferten Wortlaut von Vers 437b30 zu zweifeln: Die zusätzliche Wortfolge ist in P eben ein Einschub in einen Vers, der dort ansonsten genauso überliefert ist wie in den übrigen Handschriften – von der Spaltung der Überlieferung hinsichtlich des ersten Wortes (πῦρ EMY/P: φῶς LSU/Γ1) einmal abgesehen. Auch seine Annahme, dass das Wort ὀθόνησιν am Ende des P-Einschubs einen sekundären, auf eine zu 438a1 beigeschriebene 200
Photios, Lexicon λ 494 (s.v. λυχνοῦχον; Theodoridis [Anm. 171], S. 527).
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Alexander/LSU-Variante zurückgehenden Zusatz darstellt, traf das Richtige. Abgesehen davon, dass ὀθόνησιν den Teilvers weder in metrischer noch in inhaltlicher Sicht fortsetzen könnte, ist gerade dieses Wort innerhalb des P-Einschubes gleichsam durchgestrichen, genauer: durch eine waagrechte Reihe von mit schwarzer Tinte darüber angebrachten Punkten getilgt. Dies war in Bekkers Apparat noch nicht angegeben, sondern wurde erstmals von Aurél Förster in seiner Edition von De sensu und De memoria (1942) vermerkt.201 Dass es zu der dadurch als sekundär markierten Anfügung von ὀθόνησιν an den Teilvers überhaupt kommen konnte, erklärt sich leicht aus der syntaktischen Unvollständigkeit des Teilverses: Dem Adjektiv θεσπεσίησιν (‚mit wunderbar feinen‘) fehlt das Beziehungswort, bei dem es sich um den Dativ Plural eines femininen Substantivs handeln muss, und genau dies schien die Alexander/LSU/(Γ1)-Lesart ὀθόνησιν zu liefern, wenn sie, wie von Blass höchst plausibel vermutet, in einem Vorfahren von P am Rand von Vers 438a1 als Variante zu χοάνησιν vermerkt war. Wir haben Blass also auch darin zu folgen, dass wir das Wort ὀθόνησιν bei der Herstellung des zusätzlichen Teilverses unberücksichtigt lassen. Um nun aber in plausiblerer Weise, als Blass es getan hat, erklären zu können, warum im P-Text von 437b30 der zusätzliche Teilvers selbst eingeschoben ist, muss man den Teilvers einmal direkt unter 437b30 schreiben: 437b30
πῦρ δ᾽ ἔξω διαθρῶισκον ὅσον ταναώτερον ἦεν — ◡◡ — ◡ δίαντα τετρήατο θεσπεσίηισιν
doch das Feuer, durchspringend nach außen gemäß seiner wachsenden Ausdehnung, durchbohrt waren sie geradeaus mit wunderbar feinen.
Mit dieser Anordnung tritt uns sogleich die Möglichkeit vor die Augen, erstmals eine nachvollziehbare Erklärung für die Genese des P-Einschubs zu entwickeln (etwas, das Blass und alle, die ihm unkritisch gefolgt sind, gar nicht ernsthaft versucht haben): Ein Abschreiber, der im ersten der beiden Verse bereits die vier Worte πῦρ δ᾽ ἔξω δια- (‚Feuer aber nach außen durch-‘) geschrieben und sich als zuletzt geschriebenes Wort die Präposition διά (‚durch‘) gemerkt hatte, irrte sich beim erneuten Blick auf seine Vorlage in der Zeile, und setzte nicht nach dem oberen, sondern nach dem unteren der beiden mehr oder weniger untereinanderstehenden δια- wieder ein, d.h. im Wort δίαντα.202 Dies ergab eine Zeile mit folgendem unmetrischen und sinnlosen Text: πῦρ δ᾽ ἔξω δία|ντα τετρήατο θεσπεσίηισιν Feuer aber nach außen durch|bohrt waren sie geradeaus mit wunderbar feinen. 201 Aurél Förster (Hg.): Aristotelis De sensu et De memoria libri, Budapest 1942 (im Folgenden: Förster, Edition), S. 7 im Apparat zu 437b30: „sed ὀθόνησιν exp“. 202 Differenzen der Akzente und Worttrennung konnten den Schreiber vor diesem Fehler nicht bewahren, da er, wie wir gleich sehen werden, noch vor der Hauptspaltung unserer Überlieferung in die Vulgata und den P-Text begangen worden sein muss und damit nach aller Wahrscheinlichkeit in einer Zeit, in der man noch ohne Worttrennung und Akzente in Majuskeln schrieb.
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Damit aber war der Schlussteil des oberen Verses, d.h. die Worte -θρῶισκον ὅσον ταναώτερον ἦεν (‚-springend nach außen gemäß seiner wachsenden Ausdehnung‘) zunächst genauso verloren wie der Anfang des unteren. Doch ein Korrektor bemerkte immerhin den ersten dieser beiden Textausfälle und trug die ausgefallenen Worte διαθρῶισκον ὅσον ταναώτερον ἦεν am Rand nach. Dies muss er aber in einer Weise getan haben, die auf zwei verschiedene Weisen verstanden werden konnte: entweder a) als Anweisung, die fälschlich bereits hinter πῦρ δ᾽ ἔξω geschriebenen Worte δία-ντα τετρήατο θεσπεσίηισιν durch διαθρῶισκον ὅσον ταναώτερον ἦεν zu ersetzen, oder b) als Anweisung, im Anschluss an die Worte δίαντα τετρήατο θεσπεσίηισιν die Worte διαθρῶισκον ὅσον ταναώτερον ἦεν nachzutragen. Der Vulgatatext des Gleichnisses geht auf eine Handschrift zurück, deren Schreiber die Randkorrektur im Sinne von a) verstand, während der P-Text auf eine Handschrift zurückgeht, deren Schreiber sie im Sinne von b) deutete. Da nun auch Alexander, der eine ungemein sorgfältige Paraphrase des Wie-Teils gibt,203 dort keinerlei Kenntnis des von P bewahrten zusätzlichen Teilverses verrät, scheint sowohl der Fehler selbst als auch die Randkorrektur auf eine Zweispaltung der Überlieferung zurückzugehen, die bereits vor Alexander, d.h. vor ca. 200 n. Chr. erfolgt ist. Der ganz ungewöhnliche Sachverhalt, dass in P nur die letzten zwei Drittel eines ursprünglich zum Gleichnis gehörenden Verses ausgerechnet hinter dem ersten Drittel von 437b30 eingefügt ist, lässt sich nach dem Gesagten nur mit der Annahme erklären, dass der betreffende Vers ursprünglich unmittelbar auf 437b30 folgte, so dass wir ihn im Folgenden 437b30A nennen werden: Hier liegt ein Sonderfall vor, den man keineswegs mit dem trivialen Fall verwechseln darf, in dem ein vollständiger Vers durch Zeilensprung ausfällt, am Rande nachgetragen wird und schließlich an falscher Stelle wieder eingefügt wird: Die (immer noch begrenzte) Freiheit, die der Editor in solchen trivialen Fällen bei der Auswahl einer möglichst geeigneten Stelle zur Unterbringung des versprengten Verses hat, ist im vorliegenden Falle gerade nicht gegeben. Auch aus paläographischen Gründen war es also verfehlt, dass Blass den von ihm entdeckten zusätzlichen Teilvers aus dem Zusammenhang des ‚Wie-Teils‘ herausgerissen hat. Da nun in Vers 437b30 erzählt wird, dass Feuerteilchen aus der Laterne durch die Laternenwände hindurch nach außen drangen, liegt die Bedeutung des daran unmittelbar anschließenden Zusatzverses 437b30A, seiner fragmentarischen Überlieferung zum Trotz, auf der Hand: Er präzisiert, dass die Feuerteilchen dort durch die Laternenwände nach außen gelangten, wo diese Laternenwände mit feinen Öffnungen perforiert waren. Die fehlende Bezeichnung dieser Öffnungen, die ausweislich des Attributs θεσπεσίηισιν (‚mit wunderbar feinen‘) ein im instrumentalen Dativ Plural stehendes Femininum sein muss, kann nun aber, da wir uns im ‚Wie-Teil‘ des Gleichnisses befinden, gerade nicht das Wort χοάνηισιν (‚mit Öffnungen‘) gewesen sein, welches nach Blass’ treffender Ein203
Alexander [Anm. 93], S. 23,11–14 Wendland.
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sicht im ‚So-Teil‘ des Gleichnisses von P als Bezeichnung der Wahrnehmungsporen des Auges überliefert ist: Das, was im ‚So-Teil‘ der Veranschaulichung durch den ‚Wie-Teil‘ bedarf, d.h. die unendlich feinen Poren, darf dieser ‚WieTeil‘ natürlich nicht schon voraussetzen. Wir konjizieren deshalb exempli gratia die metrisch passende, inhaltlich neutrale Bezeichnung διόδοισι (‚mit Durchlässen‘), die Empedokles im Gleichnis vom Wasserheber zur Bezeichnung der Durchlässe im Atemapparat verwendet, die die Luft durchlassen, aber das Blut nicht.204 So kommen wir zu folgendem Text von 437b30–437b30A:205 b30 b30A
πῦρ δ᾽ ἔξω διαθρῶισκον ὅσον ταναώτερον ἦεν δί᾽ ἄντα τετρήατο θεσπεσίηισιν doch das Feuer, dort nach außen hindurchspringend gemäß seiner wachsenden Ausdehnung, wo sie (scil. die tönernen Laternenwände) mit wunderbar feinen Durchlässen geradeaus durchbohrt waren.
Damit ist der erste Hauptmangel von Bekkers Gleichnistext geheilt: Der ‚WieTeil‘ veranschaulicht die Feuerdurchlässigkeit der Augenhülle am Beispiel von Laternenwänden, die aus gebranntem, mechanisch perforiertem Ton bestehen – und damit gerade nicht aus organischen Materialien wie Horn oder Haut, deren Feuerdurchlässigkeit für Empedokleische Begriffe nur darauf beruhen würde, dass sie ihrerseits mit biologisch gegebenen Poren ausgestattet sind. 2.4.3.2 Wiederherstellung von 438a1: Die Feuerausscheidung mittels entsprechender Poren Der Vers 438a1, der zweite des ‚So-Teils‘, ist in der von Bekker hergestellten Fassung (λεπτῇσιν ὀθόνῃσι λοχάζετο κύκλοπα κούρην ‚[das Feuer hat] †mittels feiner Leintücher†206 das ringgestaltige „Mädchen“207 †belauert†‘208) offensichtlich 204 Empedokles Fr. 116 MP2 (DK 31 B 100), 3–5: καί σφιν ἐπὶ στομίοις πυκιναῖς τέτρηνται ἄλοξιν / ῥινῶν ἔσχατα τέρθρα διαμπερές, ὥστε φόνον μέν / κεύθειν, αἰθέρι δ᾽ εὐπορίην δ ι ό δ ο ι σ ι τετμῆσθαι (‚Und an den oberen Eingängen der Röhren befinden sich die inneren Abschlüsse beider Nasenlöcher, die dort durchweg mit dichtgedrängten Ritzen durchbohrt sind; und zwar so, dass zwar das Blut innen verborgen ist, der Luft aber durch die Durchgänge freie Bahn geschaffen ist.‘) 205 Im neuen Vers 437b30A schreiben wir die elidierte Präposition δι(ὰ) anders als Blass getrennt von ἄντα, da wir sie unter Annahme einer adverbial freien Stellung in erster Linie auf das Verb τετρήατο beziehen, so wie auch bei Photios als Bezeichnung für das Durchbohrtsein der tönernen Laternenwände das Partizip διατετρημένοι überliefert ist. Im Übrigen ist die Form δίαντα, wie Blass selbst einräumt, sonst gar nicht belegt. 206 λεπτῆσιν ὀθόνησιν (‚den feinen Leintüchern‘) Alexander S. 49,11 Thurot LSU (λεπτῆσιν γ᾽ ὀθόνησιν corr. Vat. gr. 266 : λεπτῇς εἰν ὀθόνῃσι. ‚in feinen Leintüchern‘ Panzerbieter) : λεπτῆ(ι)σιν χθονίη(ι)σι (‚den feinen unterirdischen‘) EMY : λεπτῆσιν χοανῆσιν (sic!) (‚den feinen Öffnungen‘) P. 207 Zur Interpretation von κύκλοπα κούρην ‚das ringgestaltige Mädchen‘ (= Iris des Auges) vgl. oben unter 2.3.4. 208 λοχάζετο (‚belauerte‘) EMY : ἐχεύατο (‚ergoß sich‘, d.h. ‚verbreitete sich‘) Alexander S. 49,11 Thurot SU P (ἐχείατο L).
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korrupt: Zum einen ist in der von Bekker aus LSU gegen EMY (λεπτῆ(ι)σιν χθονίη(ι)σι) und P (λεπτῆσι χοανῆσιν) in den Text aufgenommenen, auch von Alexander zitierten Fügung λεπτῇσιν ὀθόνῃσι die Schluss-Silbe von λεπτῇσιν metrisch nicht gut lang zu messen;209 zum andern ist das Verb λοχάζετο (‚belauerte‘), das Bekker aus EMY gegen LSU und P – und nach heutigem Kenntnisstand auch gegen Alexander und die mittellateinische Übersetzung – in den Text aufgenommen hat, offensichtlich fehl am Platz: Das überschüssige Feuer im Augeninnern soll ausgeschieden werden, und dazu darf es die umschließende Augenhülle bzw. die Iris nicht nur belauern, es muss sie vielmehr durchqueren. Blass hat dies erkannt und die beiden Problemstellen im griechischen Text mit Fragezeichen markiert. Doch sein Umgang mit dieser Diagnose kann nicht anders als paradox genannt werden: Blass nahm an, dass der Vaticanus P auch für den Vers 438a1 eine authentische Lesart überliefert, nämlich χοάνησιν (‚mittels der Öffnungen‘) anstelle der Alexander/LSU/(Γ1)-Lesart ὀθόνησιν (‚mittels der Leintücher‘); er war nämlich der Ansicht, dass χοάνῃσιν im vorliegenden Zusammenhang die Poren in der Augenhülle bezeichnet, was im Hinblick auf die Augentheorie, die hier veranschaulicht werden soll, in der Tat ein denkbar starkes Argument für die Authentizität dieser Lesart ist. Mithin hätte es mehr als nahegelegen, nicht nur χοάνηισιν in den Text von 438a1 aufzunehmen – womit das metrische Problem am Versanfang sofort gelöst wäre, denn in der Fügung λεπτῆισιν χοάνηισιν ist die Schluss-Silbe des ersten Wortes lang –, sondern auch zu prüfen, ob die weitere P-Lesart dieses Verses, ἐχεύατο (Alexander LSU/P: ‚ergoß sich‘, d.h. ‚verbreitete sich‘), im vorliegenden Kontext nicht weit sinnvoller ist als das von Bekker aufgenommene λοχάζετο (EMY: ‚belauerte‘). Doch genau das hat Blass nicht getan: Vielmehr riss er, wie wir unter 2.4.2.4 gesehen haben, die P-Lesart χοανῆσιν (‚mittels der Poren‘) aus dem Vers 438a1, in dem sie überliefert ist, heraus, um sie für seine Ergänzung des von P in 437b30 zusätzlich überlieferten Teilverses nutzen zu können; den korrupten Vers 438a1 aber, den Blass doch selbst der möglicherweise rettenden P-Lesart beraubt hat, fertigt er mit der kargen Feststellung ab, dass er die Schwierigkeiten dieses Verses leider nicht lösen könne.210 Das Paradoxe seines Vorgehens liegt ersichtlich darin, dass er einerseits sowohl den nur von P in 437b30 zusätzlich überlieferten Teilvers als auch das nur von P in 438a1 überlieferte Wort χοανῆσιν für authentisch hält, dass er aber andererseits den jeweiligen Ort, an dem P dieses beides überliefert, konsequent ignoriert, ohne darüber auch nur ein Wort zu verlieren – und dies, obwohl er, wie wir sahen, die Unhaltbarkeit der Gestalt, in der Bekker den zweiten der betreffenden Verse (438a1) ediert hatte, klar sieht. Blass’ zunächst unbegreiflicher Umgang mit der von ihm selbst in ihrer Bedeutung klar erkannten P-Lesung χοανῆσιν kann wohl nur so erklärt werden, dass er die BekkerLesart ὀθόνῃσιν im Vers 438a1 selbst nicht anzutasten wagte, und zwar deshalb 209
Vgl. oben Anm. 85.
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nicht, weil sie dort eben nicht nur von LSU, sondern auch schon von Alexander und damit um 200 n. Chr. bezeugt wird: Blass konnte sich zwar vorstellen, dass der Vaticanus P dort, wo kein Alexander-Zitat entgegensteht, auch alleine das Richtige bewahren kann, aber er konnte sich offenbar nicht vorstellen, dass eine Spaltung der Überlieferung, die sich auf Seiten Alexanders und der zweiten Familie in 438a1 in dem klaren, die Unabhängigkeit des Vaticanus P beweisenden Trennfehler ὀθόνησιν niedergeschlagen hätte, bereits vor Alexander, d.h. vor ca. 200 n. Chr. eingetreten sein könnte. Damit ist das Vorurteil bezeichnet, von dem wir uns frei zu machen haben, wenn wir bei der Wiederherstellung des Gleichnistextes über Blass hinauskommen wollen. Wir werden also unvoreingenommen prüfen, ob das von P in 438a1 überlieferte χοάνηισιν tatsächlich, wie von Blass angenommen, eine passende Bezeichnung der Augenporen ist.211 Wenn diese Frage aber zu bejahen ist, dann spricht viel dafür, χοάνηισιν – pace Alexandri – in den Text desjenigen Verses (438a1) aufzunehmen, in dem P das Wort überliefert: Die dem entgegenstehende Verwendung von χοάνηισιν zur Ergänzung des Zusatzverses durch Blass hat sich uns ja bereits als unhaltbar erwiesen. Doch bleibt natürlich zu prüfen, ob unter der Voraussetzung der Aufnahme von χοάνηισιν auch der ganze Vers 438a1 sinnvoll hergestellt werden kann – wobei dann auch die weitere, seine zweite Hälfte betreffende P/LSU-Lesart (ἐχεύατο) bzw. die in der mittellateinischen Übersetzung wiedergegebene Lesung διεχεύατο zu berücksichtigen sein wird. 210
Blass [Anm. 196], S. 20: „die schwierigkeiten der verse 222f. [= 437b32–438a1] vermag ich leider nicht zu lösen“. Während Diels 1901 [Anm. 5], S. 138 die beiden Verse in ihrer von Bekker edierten, nur metrisch leicht geglätteten Gestalt (ὣς δὲ τότ᾽ ἐν μήνιγξιν ἐεργμένον ὠγύγιον πῦρ / λεπτῆισιν ὀθόνηισι λοχάζετο κύκλοπα κούρην) in den Text aufnahm und 1912 [Anm. 5], S. 253 wie folgt übersetzte: „So barg sich das urewige Feuer damals (bei der Bildung des Auges) hinter der runden Pupille in Häute und dünne Gewänder eingeschlossen“, wies Aurél Förster: Empedocleum, in: Hermes 74, 1939, S. 102–104 (im Folgenden: Förster, Empedocleum) mit vollem Recht darauf hin, dass diese Textform unhaltbar ist und dass „Diels in seiner Übersetzung an mehreren Stellen zu stärkeren Retuschen greifen“ musste. Doch wenn Förster selbst konjizierte: ὣς δὲ τότ᾽ ἐν μήνιγξιν ἐεργμένον ὠγύγιον πῦρ / λεπτῆισιν ὀθόνηισι λ ο χ ε ύ σ α τ ο κύκλοπα κούρην (‚So brachte damals, in Häuten eingeschlossen, das urewige Feuer die rundäugige Tochter zur Welt, inmitten zarter Linnen‘), dann ist dies nicht nur keine Lösung des metrischen Problems, sondern auch inhaltlich unsinnig: Das Auge wurde von der Liebe gebaut, nicht vom Feuer geboren. 211 Aus der Tatsache, dass Blass χοάνῃσιν nicht in dem Vers belassen hat, in dem es von P überliefert wird, sondern es konjektural in einen rekonstruierten Zusatzvers umgestellt hat, hätte man niemals folgern dürfen, dass auch schon die Annahme einer Verwendung von χοάνη durch Empedokles nur auf einer Konjektur beruhe (so Henry George Liddell, Robert Scott: A Greek-English Lexicon. A New Edition, Revised and Augmented throughout by Henry Stuart Jones, Volume II: λ–ᾠώδης, Oxford 1940, S. 1996 s.v. χοάνη I.3). Dadurch wurden Colin Austin und S. Douglas Olson (Aristophanes, Thesmophoriazusae. Edited with Introduction and Commentary, Oxford 2004, S. 58) zu der ebenfalls verfehlten Behauptung verleitet, dass die Empedokleische Verwendung von χοάνη bei der Erklärung von Aristophanes, Thesmophoriazusen 18 außer Betracht zu bleiben habe.
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Die von Theophrast für die Empedokleischen Poren verwendete maskuline Bezeichnung πόρος (poros, wörtlich ‚Durchgang‘) findet sich auch schon im Wortschatz des Empedokles selbst. Doch ist πόρος bei ihm nicht auf die Spezialbedeutung ‚Wahrnehmungspore‘ festgelegt.212 Das Wort χοάνη (choáne¯), das uns aufgrund seiner Überlieferung durch P als möglicher Kandidat für diese spezielle Funktion interessiert, ist nun seit Aristophanes in der Bedeutung ‚Trichter‘ bezeugt.213 Im Empedokleischen Zusammenhang würde das Wort des Näheren als metallurgische Metapher aufzufassen sein: χοάνη (choáne¯) ist eng verwandt mit dem maskulinen χόανος (chóanos ‚1. Schmelzofen bzw. Schmelztiegel, 2. Gussform‘),214 das ebenfalls bei Empedokles vorkommt215 und bereits bei Hesiod216 und Homer217 belegt ist. Die Verwandtschaft beider Wörter besteht 212 Empedokles Fr. 43,12 MP2 (DK 31 B 3,12) ὁπόσηι π ό ρ ο ς ἐστὶ νοῆσαι (von den verschiedenen Wahrnehmungsporen, die die Vorstellung eines Gegenstandes vermitteln). – Fr. 69b,1 MP2 (DK 31 B 33,1) αὐτὰρ ἐγὼ παλίνορσος ἐλεύσομαι ἐς π ό ρ ο ν ὕμνων (von den Überleitungsstellen von einem Empedokleischen Gedankengang zum andern). – Fr. 116,17 MP2 (DK 31 B 100,17) πορθμοῦ χωσθέντος βροτέωι χροῒ ἠδὲ π ό ρ ο ι ο (von der oberen, zum Einströmen der Luft dienenden Öffnung einer Klepsydra, worunter Empedokles einen Wasser-Saugheber versteht). 213 Aristophanes, Thesmophoriazusen 18. 214 Hugo Blümner: Technologie und Terminologie der Gewerbe und Künste bei Griechen und Römern, Vierter Band, Leipzig 1887, S. 330–331, Anm. 5 zu S. 330: „Χόανος bedeutet einmal allgemein jegliche Vorrichtung, in welcher Metall geschmolzen wird, andrerseits auch speciell die Gussform, so viel als λίγδος. In jenem Sinne kann es daher ebensowohl der Schmelzherd als ein Schmelztiegel oder ein Ofen sein.“ 215 Empedokles Fr. 100,1 MP2 (DK 31 B 96,1). 216 Hesiod Theogonie, 862b–864a (Hesiodi Theogonia, Opera et Dies, Scutum. Edidit Friedrich Solmsen. Fragmenta selecta ediderunt R. Merkelbach et M. L. West, Editio altera cum appendice nova fragmentorum, Oxford 1983, S. 42): καὶ ἐτήκετο κασσίτερος ὣς / τέχνηι ὑπ᾽ αἰζηῶν ὑπό τ᾽ εὐτρήτου χοάνοιο / θαλφθείς: ‚und geschmolzen wurde er (d.h. das Monster Typhoeus vom feurigen Blitz des Zeus) wie Zinn, / das kunstreich von Arbeitern und von dem mit gebohrten Öffnungen wohlversehenen Schmelzofen / erhitzt wurde‘. Zur Funktion der hier erwähnten Durchbohrungen des Schmelzofens vgl. Martin L. West: Hesiod, Theogony. Edited with Prolegomena and Commentary, Oxford 1966, S. 394 (im Folgenden: West, Theogony): „εὔτρητος refers to the holes or passages through which bellows were inserted to excite the fire.“ 217 Ilias 18 (Σ), 470: φῦσαι δ᾽ ἐν χοάνοισιν ἐείκοσι πᾶσαι ἐφύσων, was Kurt Steinmann: Homer, Ilias, aus dem Griechischen übersetzt und kommentiert, München 2017, S. 358, korrekt wie folgt übersetzt hat: „In die Schmelztiegel bliesen die Bälge, zwanzig im Ganzen“. Zur Syntax Pierre Chantraine: Grammaire Homérique, Tome II: Syntaxe, Paris 1953, S. 101 (im Folgenden: Chantraine, Syntaxe): „Ἐν avec le datif s’observe avec des verbes qui impliquent proprement un mouvement“. Zwar behauptet Mark W. Edwards: The Iliad. A Commentary, Volume v, books 17–20, Cambridge 1991, S. 210, dass χόανος hier nicht den Schmelzofen, sondern die Einmündung (tuyère ‚Düse‘) der vom Blasebalg gespeisten Luftzuleitungen bezeichnen könnte, doch zu Unrecht, weil dann die Schmelzöfen selbst nirgends erwähnt würden. Diese Umdeutung des maskulinen χόανος wird pace Edwards weder durch die Bedeutung des femininen χοάνη gestützt, noch durch Theogonie 862b–864a, wo als Ursache für die Erhitzung des Zinns sicher der Schmelzofen selbst und nicht bloß (Fortsetzung der Fußnote auf S. 504)
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nicht nur auf der Ebene der Wortbildung – es handelt sich um zwei gleichartige Ableitungen von χέω (chéo, ‚gießen‘) –, sondern auch auf semantischer Ebene. Nach dem Lexikon des Hesych v. Alexandria bedeutet nämlich χοάνη (bzw. sein kontrahiertes Äquivalent χώνη) das Gleiche wie φυσητήρ (physe¯te¯r, ‚Öffnung zum Hindurchblasen‘),218 womit im metallurgischen Kontext des Lexikoneintrags nur die Öffnung gemeint kann, durch die der von einem Blasebalg erzeugte Luftstrom mittels eines geeigneten Einfüllstutzens in den Schmelzofen (χόανος) eingeblasen wird.219 Kurz: choánai bezeichnet von Hause aus die Lufteinlasslöcher eines chóanos. Gerade diese semantische Nähe ist wohl, neben der Ähnlichkeit der Lautgestalt von χόανος (‚Schmelzofen‘) und χοάνη (‚Luftloch eines Schmelzofens‘), dafür verantwortlich, dass der Bedeutungsunterschied zwischen den beiden Wörtern in der späteren Lexikographie eingeebnet wurde.220 Empedokles hingegen verwendet χόανοι (chóanoi) eindeutig als Bezeichnung der Schmelztiegel, in denen die Liebe zu Beginn ihres Vereinigungswirkens durch Element-Verbindung verschiedene Arten von organischem Gewebe herstellt.221 Vor diesem Hintergrund ist zu fragen, ob es plausibel ist, ihm die Verwendung
die Einmündung der Luftzuleitung genannt wird. Edwards Irrtum wurde wiederholt von Joachim Latacz in A. Bierl, J. Latacz (Hg.): Homers Ilias. Gesamtkommentar, Band XI. 18. Gesang [Σ], Fasz. 1. Text und Übersetzung, Berlin, Boston 2016, S. 29: „Die Blasebälge, zwanzig insgesamt, die bliesen in den Düsen“. 218 Die entscheidende Juxtaposition τοῖς φυσητῆρσι, ταῖς χώναις steht in dem Eintrag Hesych χ 577 (Hesychii Alexandrini Lexicon, Volumen IV [Τ–Ω], Editionem post Kurt Latte continuantes recensuerunt et emendaverunt Peter Allan Hansen, Ian C. Cunningham, Berlin, New York 2009, S. 223), auf dessen heterogenen Gesamtinhalt wir sogleich zurückkommen werden. 219 Auf der in Band II der „Archaeologia Homerica“ (Teil K; Robert Jacobus [James] Forbes: Bergbau, Steinbruchtätigkeit und Hüttenwesen, Göttingen 1967), Seite K 13, Abb. 7 wiedergegebenen ägyptischen Darstellung einer Bronzegießerei (letztes Drittel des 15. Jahrhunderts v. Chr., im sogenannten Grab des Rechmirê) sind Blasebälge zu sehen, deren Luftstrom durch Röhren mit trichterförmigen Einfüllstutzen in die Öffnungen des Schmelzofens eingeleitet wird. 220 Bei Hesych χ 577 (Hansen/Cunningham [Anm. 218], S. 223) werden für χόανος gleich drei Erklärungen angeboten, nämlich 1) Öffnung für die Luftzufuhr (= χοάνη), 2) Schmelztiegel, 3) Gussform: „χοάνοις] τοῖς φυσητῆρσι, ταῖς χώναις / καὶ κοιλώμασιν, εἰς ἃ ἐγχεῖται τὸ χωνευόμενον / ἢ τοῖς πηλίνοις τύποις“. Die Erklärungen 1) und 2) sind bereits bei Apollonios, Lex. Hom. s.v. χοάνοισι (Apollonii Sophistae lexicon Homericum ex recensione Immanuelis Bekkeri, Berlin 1833, S. 168,17–18) miteinander verbunden: „χοάνοισι] ταῖς χώναις / οἷον τοῖς χωνεύμασιν, εἰς ἃ ἐγχεῖται τὰ χωνευόμενα“ (ἐγχεῖται Blümner : ἐγκεῖται die Handschrift). Zwar wird bei Hesych χ 577 die Erklärung 2) womöglich durch die aufgrund einer Verschreibung des Lemmas nach vorn gerückte Dublette Hesych χ 529 (Hansen/Cunningham [Anm. 218], S. 221) als die primäre erwiesen: „χ{λ}οάνοις] τοῖς κοιλώμασιν, ἐν οἷς ἀναχεῖται τὰ χωνευόμενα“. Doch andererseits wird eine Verbindung der Erklärungen 1) und 3) bei Hesych χ 576 (ebd., S. 223) unter das Lemma χοάνη gestellt: „χοάνη] χώνη / τύπος, εἰς ὃν μεταχεῖται τὸ χωνευόμενον“. 221 Empedokles Fr. 100 MP2 (DK 31 B 96), Verse 1–3a: ἡ δὲ χθὼν ἐπίηρος ἐν εὐστέρνοις χοάνοισι / τὼ δύο τῶν ὀκτὼ μερέων λάχε Νήστιδος αἴγλης, / τέσσαρα δ᾽ Ἡφαίστοιο.
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von χοάναι (choánai) als spezifische Bezeichnung der Poren, durch die beim Sehvorgang die Element-Abflüsse des Wahrnehmungsgegenstandes ins Auge einströmen, zuzuschreiben. Diese Frage ist eindeutig zu bejahen. Zwar bringt Empedokles seine Porentheorie nur außerhalb des Bereichs der Sinneswahrnehmung unmittelbar mit Schmelzvorgängen in Verbindung: Schweiß und Tränen betrachtet er als „geschmolzenes“ Blut, das eben dank dieser Schmelzung, d.h. Verdünnung, durch die Schweiß- bzw. Tränenporen austreten kann, während das Blut in seinem vergleichsweise dickflüssigen Normalzustand von diesen Poren zurückgehalten wird.222 Gleichwohl ist die metallurgische Metapher χοάνη gerade als Spezialbezeichnung für die Wahrnehmungsporen besonders treffend, da die χοάναι in der Metallurgie, wie wir sahen, der Zufuhr von Luft in den Schmelzofen dienen. Mithin würde Empedokles durch die Bezeichnung der Wahrnehmungsporen als χοάναι deren primäre Funktion unterstrichen haben: Bei der Sinneswahrnehmung kommt es in erster Linie auf das für die eigentliche Wahrnehmung allein verantwortliche Einströmen der Element-Abflüsse durch die Wahrnehmungsporen an – im Gegensatz zu der sekundären, wenn auch unabdingbaren Ausscheidung von Feuer- und Wasserüberschüssen aus dem Auge bzw. zum Austritt von Schweiß und Tränen. Damit ist erwiesen, dass das von P in 438a1 überlieferte χοάνηισιν, als Bezeichnung der Wahrnehmungsporen, der schon metrisch nicht unproblematischen Alexander/LSU/Γ1-Lesart ὀθόνησιν ebenso deutlich überlegen ist wie der EMY-Lesart χθονίη(ι)σι.223 Indessen setzt die Aufnahme dieser P-Lesart in Vers 438a1 voraus, dass χοάνηισιν (als instrumentaler Dativ) dasjenige Werkzeug bzw. Organ bezeichnen kann, mittels dessen das augeninterne, urzeitliche Feuer (437b32 ὠγύγιον πῦρ) als Satzsubjekt die in 438a1 beschriebene Aktion ausführen kann. Daraus ergibt sich nun ein Kriterium für die Bestimmung dieser Aktion selbst und damit für die in der zweiten Vershälte zu treffende Entscheidung zwischen dem von Bekker aus EMY aufgenommenen Verb λοχάζετο (‚belauerte‘) und dem sowohl von Alexander/LSU als auch von P bezeugten Verb ἐχεύατο,224 welch letzteres hier angesichts des Subjekts (Feuer) natürlich in der intransitiven Be222 Empedokles Fr. 97 MP2 (DK 31 A 78): Ἐμπεδοκλῆς […] ἱδρῶτα καὶ δάκρυον γίνεσθαι τοῦ αἵματος τηκομένου καὶ παρὰ τὸ λεπτύνεσθαι διαχεομένου. 223 Der Urheber des EMY-Verbesserungsversuchs χθονίη(ι)σι (Adj. zu χθών ‚Erde‘) wollte dies womöglich auf die im vorhergehenden Vers erwähnten Membranen (μήνιγξιν) des Auges bezogen wissen. Doch zum einen bedeutet χθόνιος in aller Regel nicht ‚irden‘, sondern ‚unterirdisch, unterweltlich‘, und zum andern besteht die Augenhülle nach Empedokles nicht einfach aus Erde, sondern aus Erde und Luft, wie Theophrast bezeugt (Diels, Dox. [Anm. 19], S. 500,24–25: τὸ δὲ περὶ αὐτὸ γῆν καὶ ἀέρα, vgl. oben unter 1.4.3). 224 ἐχεύατο Alexander P SU : ἐχείατο L, doch ist letzteres nichts weiter als eine Verschreibung aus ἐχεύατο. Im Epos ist zwar als Präsens neben χέω (< χέϝω) auch χείω bezeugt (West, Theogony [Anm. 216], S. 182–183), aber nicht *ἔχεια als Aorist neben dem üblichen ἔχευα oder ἔχεα (< ἔχεϝα).
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deutung ‚ergoß sich‘ bzw. ‚verbreitete sich‘ zu nehmen wäre, die schon im siebten Buch der Ilias belegt ist.225 Man kann nämlich vom urzeitlichen Feuer im Auge sehr gut sagen, dass es ‚sich mittels der Augenporen in der Umgebung verbreitete‘, aber man kann sicher nicht sagen, dass es ‚mittels der Augenporen auflauerte‘. So zieht offenbar die Entscheidung für die P-Lesart χοάνηισιν die Entscheidung für die Alexander/ LSU/P-Lesart ἐχεύατο nach sich, was in 437b32–438a1 vorläufig auf folgende Textgestaltung führt: ὠγύγιον πῦρ λεπτῆισιν χοάνηισιν ἐχεύατο // κύκλοπα κούρην das urtümliche Feuer hat sich mittels feiner Poren verbreitet // das ringgestaltige ‚Mädchen‘ (die Iris).226
Hieran aber wird sogleich der Grund deutlich, aus dem die Lesart λοχάζετο (‚belauerte‘) sich ihrer Sinnlosigkeit zum Trotz so lange im Text des Fragments halten konnte: Da ἐχεύατο an unserer Stelle, mit dem Feuer als Subjekt, die gut epische, intransitive Bedeutung (‚es verbreitete sich‘) haben muss, ist es mit dem präpositionslosen Akkusativ κύκλοπα κούρην (‚das ringgestaltige Mädchen‘, d.h. ‚die Iris‘) nicht zu konstruieren, da es in dieser intransitiven Bedeutung kein Akkusativobjekt regieren kann. Mit einem Zielakkusativ κούρην aber könnte ἐχεύατο hier schon aus inhaltlichen Gründen erst recht nicht verbunden werden,227 da der augeninterne Feuerüberschuss, wie bereits bemerkt, ausgeschieden werden soll, und dazu darf er die umschließende Augenhülle bzw. die Iris nicht bloß erreichen, er muss sie vielmehr durchqueren. Nun ist zwar bei dem seltenen Verb λοχάζομαι (eigentlich intr.: ‚auf der Lauer liegen‘)228 die Konstruktion mit direktem Akkusativobjekt ebenfalls nicht bezeugt,229 aber das Ilias 7 (H), 63: οἵη δὲ Ζεφύροιο ἐ χ ε ύ α τ ο πόντον ἔπι φρίξ, wo ἐχεύατο im Lexikon des frühgriechischen Epos (LfgrE), Bd. IV, Spalte 1199 s.v. χέω, χείω, 2b mit „sich verbreitet“ übersetzt wird. 226 Zur Interpretation von κύκλοπα κούρην ‚das ringgestaltige Mädchen‘ (= Iris des Auges) vgl. oben unter 2.3.4. 227 Ganz abgesehen von den formalen Restriktionen, denen bereits in der epischen Sprache der Gebrauch des präpositionslosen Akkusativs als Zielkasus unterliegt, vgl. Chantraine, Syntaxe [Anm. 217], S. 45–46 (§ 45). 228 Vgl. Hesych λ 1302: λοχάζει· ἐνεδρεύει, in: Hesychii Alexandrini Lexicon, Volumen IIb (K–O), recensuit et emendavit Kurt Latte, editionem alteram curavit Ian C. Cunningham, Berlin, New York 2020, S. 767. 229 In einem von Liddell/Scott/Jones als einziger weiterer Beleg für λοχάζομαι angeführten Epigramm des Euenos (Anthologia Palatina 9, 251), das an ein Bücher schädigendes Insekt gerichtet ist, wird das Verb ebenfalls intransitiv verwendet; vgl. A. S. F. Gow, D. L. Page (Hg.): The Greek Anthology **, The Garland of Philip and Some Contemporary Epigrams, Cambridge 1968, Vol. I, S. 254–255, Verse 2296–2301 (= Euenus I), hier: Verse 2298–2299 (= Verse 3–4; dazu den Kommentar in Vol. II, S. 290–291): „τίπτε κελαινόχρως ἱεραῖς ψήφοισι λοχάζηι, / σίλφη, τὴν φθονερὴν εἰκόνα πλαττομένη;“ (‚Du schwarzfarbige, warum nur liegst Du in meinen heiligen Rechnungsbüchern im Hinterhalt, Du Kakerlake, indem Du dort das Bild des Neides formst?‘). 225
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stammverwandte und gleichbedeutende Verb λοχάω zeigt neben seiner im Epos üblichen intransitiven Bedeutung (‚auf der Lauer liegen‘) in der Odyssee auch die transitive Bedeutung ‚jmdn. (nämlich den Telemachos) belauern‘ (= ‚jmdm. [nämlich dem Telemachos] auflauern‘), die dann im Geschichtswerk des Herodot wiederkehrt:230 Hierdurch glaubte man sich berechtigt, die transitive Bedeutung per analogiam auch dem Verb λοχάζομαι zu vindizieren, so dass man an unserer Stelle die Konstruktion λοχάζετο […] κούρην, verglichen mit ἐχεύατο […] κούρην, in rein formal-syntaktischer Hinsicht für das kleinere Übel halten konnte. Doch gegen diesen Ausweg spricht, dass die Lesart λοχάζετο aus inhaltlichen Gründen nicht in Betracht kommt: Der auszuscheidende augeninterne Feuerüberschuss darf die umschließende Augenhülle bzw. die Iris, wie gesagt, nicht nur belauern, er muss sie durchqueren. Deshalb ist die Lösung des Problems nach unserer Ansicht auf einem gänzlich anderen Wege zu suchen, nämlich im Ausgang von der Alexander/LSU/P-Lesung ἐχεύατο in Verbindung mit der mittellateinischen Übersetzung unserer Stelle. Der oben bereits erwähnte homerische Vers, der das Vorbild für die intransitive Verwendung von ἐχεύατο bot, hat folgenden Wortlaut:231 οἵη δὲ Ζεφύροιο ἐ χ ε ύ α τ ο πόντον ἔπι φρίξ und wie ein vom Westwind bewirktes Wellengekräusel sich über die See hin verbreitete.
Hier wird der Akkusativ πόντον (‚das Meer‘) natürlich nicht von dem intransitiven Verb ἐχεύατο (‚verbreitete sich‘) regiert; vielmehr hängt der Akkusativ von der adverbial frei positionierten Präposition ἔπι (‚über … hin‘) ab. Diese homerische Konstruktion legt die Erwartung nahe, dass der Akkusativ κούρην in unserem Empedokleischen Vers ebenfalls mittels einer Präposition an ἐχεύατο angeschlossen war. Nun verbreitet sich das urzeitliche Feuer bei der hier beschriebenen Feuerausscheidung aus dem Auge klarerweise ‚durch die Iris hindurch‘, so dass der Akkusativ κούρην in unserem Fall von der Präposition διά (‚hindurch‘) abhängig gewesen sein müsste, die, wie bei Homer, adverbial frei positioniert sein konnte. Eben diese Konstruktion ist nun auch für unseren Empedoklesvers überliefert – auch wenn das in der bisherigen Forschung zum Laternengleichnis niemandem aufgefallen zu sein scheint –, und zwar durch die mittellateinische De sensu-Übersetzung, die Thomas von Aquin seinem Kommentar zu De sensu zugrunde gelegt hat. Nach dem frühen Druck der Quaestiones des Johannes Versor (1489) teilt diese Übersetzung in ihrer Wiedergabe des Gleichnisses zwei 230 Zum homerischen Sprachgebrauch vgl. das Lexikon des frühgriechischen Epos, Band 2 (Β–Λ), Göttingen 1991, s.v. λοχάω, Spalten 1712–1713; auf Herodot 5, 121 (Zeilen 1715– 1716 Wilson: ἐλόχησαν [scil. οἱ Κᾶρες] τὴν ἐν Πιδάσωι ὁδόν) berief sich Panzerbieter [Anm. 139], Spalte 884. 231 Ilias 7 (H), 63.
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signifikante Fehler mit den Handschriften der zweiten Familie (LSU) und einen weiteren mit Alexander:232 437b26 b27 b28 b29 b30 b31 b32 438a1 a2 a3
ut quando quis progressum meditans properauit [lies: preparauit] lucernam hyemalem per noctem ignis ardentis attendens [lies: accendens]: ut omnium uentorum impetus prohibeat uentorum enim spiritum dispergit flantium: lumen autem extra dissiliens quantomagis expansum fuerit: illustrat per uelum [Transliteration von βηλόν] domitis [lies: indomitis] radiis: sic quod mirinigis occultatum [lies: contutatum] antiquum lumen subtilibus linteis diffunditur circulo per pupillam que aque quidem profundum reuelauerunt circumfluentis: lumen autem extra peruenit quantomagis expulsum fuerit.
Hingegen liegt hier der Übersetzung der uns interessierenden zweiten Vershälfte von 438a1 nach allem Anschein ein griechischer Text zugrunde, in dem die syntaktische Verbindung zwischen dem von P/LSU überlieferten Verb ἐχεύατο und dem Akkusativ κούρην, genau wie von uns postuliert, durch die Präposition διά (lateinisch: per) hergestellt war: diffunditur circulo per pupillam es (scil. das Feuer) verbreitet sich ringsum233 durch die Pupille hindurch.
Mehr noch: Die von uns postulierte Präposition διά scheint hier gleich zweimal übersetzt, nicht nur in dem Präpositionalausdruck per pupillam, sondern auch in dem Compositum dif-funditur, in welchem die Präposition dis- für διά in der Bedeutung in diversas partes (‚auseinander, in verschiedene Richtungen‘) steht. Eben deshalb ist der Übersetzer zu seiner Wiedergabe schwerlich allein aufgrund des Ausdrucks ἐχεύατο κύκλοπα κούρην gelangt, den der seiner Übersetzung des Laternengleichnisses sonst zugrundeliegende Text der zweiten Familie 232 Johannes Versor [Anm. 174], folium iii recto. Bei der Entzifferung des stark abgekürzten Textes stützen wir uns auf Adriano Cappelli: Lexicon Abbreviaturarum, zweite verbesserte Aufl., Leipzig 1928, für die von uns im Text der Übersetzung vermerkten Korrekturen stemmatisch irrelevanter, sekundärer Fehler auf René ‚Antoine‘ Gauthier O. P. (Hg.): Sancti Thomae de Aquino opera omnia, iussu Leonis XIII P. M. edita, Tomus XLV, 2. Sentencia Libri de sensu et sensato, cuius secundus tractatus est De memoria et reminiscentia. Cura et studio fratrum praedicatorum, Rom, Paris 1985, S. 16. In 437b30 liegt der Übersetzung lumen die LSU-Lesart φῶς zugrunde (gegen πῦρ EMY/P) und in 438a1 der Übersetzung linteis die LSU/Alexander-Lesart ὀθόνησιν (gegen χθονίη(ι)σι EMY bzw. χοανῆσιν P). In 438a3 hingegen entspricht die Übersetzung peruenit weder dem in EMY/LSU fehlerhaft aus 437b30 wiederholten Partizip διαθρῶσκον (‚hindurchspringend‘), noch dem korrekten διίεσκον (‚sie ließen hindurch‘) des Vaticanus P, sondern vielmehr dem in Alexanders De sensu-Kommentar einhellig überlieferten δίεισιν (Wendland [Anm. 93], S. 23,17 ‚es geht hindurch‘), welches Wilhelm von Moerbeke in seiner Übersetzung des Kommentars durch (das jedenfalls mit präsentischem peruenit gleichbedeutende) penetrat wiedergegeben hatte (Thurot [Anm. 191], S. 49); hierzu vgl. oben Anm. 193 und unten Anm. 241. 233 Die Wiedergabe des epischen Beiworts κύκλοπα mit circulo bleibt natürlich aufgrund mangelnder Kenntnis der epischen Dichtersprache sehr vage, doch darauf kommt es für uns nicht an.
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(LSU) bietet: Schon dass er mit der Einfügung der Präposition per korrekt das räumliche Verhältnis zum Ausdruck brachte, dass zwischen der Ausbreitung des Lichts (lumen) und der Augenhülle besteht – das Licht durchquert die Augenhülle von innen nach außen –, wäre auf der alleinigen Grundlage der LSU/ P-Lesart ἐχεύατο […] κούρην schwerlich zu begreifen; dass der Übersetzer aber überdies auch noch diffunditur schrieb statt bloß funditur, lässt sich auf diese LSU/P-Lesart vollends nicht zurückführen. Vielmehr lässt sich der Wortlaut der mittellateinischen Übersetzung des Gleichnistextes im Ganzen am einfachsten mit der Annahme erklären, dass die Übersetzung (bzw. ihre Vorlage) zwar im Wesentlichen auf einen griechischen Text Γ1 zurückgeht, der Freudenthals zweiter Familie (LSU) angehörte, dass sie aber darüber hinaus nicht nur in 438a3 (pervenit) von dem Kommentar Alexanders von Aphrodisias (438a3 δίεισιν, Wilhelm von Moerbeke: penetrat) beeinflusst ist, sondern auch (für die zweite Vershälfte von 438a1) von einer weiteren Textform (im Folgenden: Γ2), die von beiden Familien Freudenthals unabhängig ist. In Γ2 war in 438a1, mindestens als beigeschriebene Variante, statt ἐχεύατο (LSU/P) vielmehr δι᾽ ἐχεύατο bzw. διεχεύατο überliefert – gleichviel, ob ΔΙΕΧΕΥΑΤΟ noch einmal ausgeschrieben oder ob nur die fehlende Präposition ΔΙ᾽ beigefügt war –, und eben dieses gibt der Übersetzer mit diffunditur wieder, wobei es dann im Lateinischen zum Anschluss des Akkusativs κούρην noch der Einfügung einer zusätzlichen Präposition bedurfte.234 Die von ihm hierfür gewählte Präposition per bringt eine korrekte räumliche Auffassung des an unserer Stelle gemeinten Vorgangs zum Ausdruck. Die vom Übersetzer in 438a1 wiedergegebene Variante ΔΙΕΧΕΥΑΤΟ, die nach dem Gesagten auf die Textform Γ2 zurückgeht, halten wir nach ihrem Buchstabenbestand für authentisch. Wir meinen aber, dass damit bei Empedokles nicht das verbum compositum διεχεύατο gemeint war, sondern dass Empedokles vielmehr dem verbum simplex ἐχεύατο in adverbial freier Position die Präposition δι(ά) voranstellte, von der er den Akkusativ κύκλοπα κούρην abhängen ließ. Des Weiteren kann die erste Vershälfte ursprünglich aus metrischen Gründen nicht erst nach der ersten Kürze des dritten Versfußes (d.h. mit der Zäsur κατὰ τρίτον τροχαῖον), vielmehr muss sie bereits nach dessen erster Länge (d.h. mit der Penthemimeres) geendet haben. Die Wiedereinsetzung der Präposition δι᾽ bedingt also die Änderung des nach unserer Meinung sekundär eingedrungenen langendigen Dativ pl. auf -ηισιν, wie er im von P überlieferten χοάνηισιν vorliegt, zum kurzendigen Dativ pl. auf -αις, d.h. zu χοάναις. Folglich lesen wir 437b32–438a1 in folgender Gestalt: 234 Das Präfix dis- gehört nicht einmal im klassischen Latein zu denjenigen Präpositionen, deren Zusammensetzung mit einem intransitiven verbum simplex ein transitives Kompositum hervorbringt; vgl. Raphael Kühner: Ausführliche Grammatik der Lateinischen Sprache, Zweiter Band. Satzlehre, Zweite Auflage in zwei Teilen, neubearbeitet von Dr. Carl Stegmann, Erster Teil, Hannover 1912, S. 265–272 (§ 70/4).
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ὠγύγιον πῦρ λεπτῆισιν χοάναις δι᾽ ἐχεύατο κύκλοπα κούρην es hat sich das urtümliche Feuer mittels feiner Poren verbreitet durch das ringgestaltige ‚Mädchen‘ hindurch.
Die mit dieser leichten Korrektur des P-Textes produzierte Wortstellung: Präposition / verbales Prädikat / von der Präposition regiertes Nomen,
die Schwyzer/Debrunner mit einer Stelle aus Pindars Olympischen Siegesliedern belegen,235 kann Empedokles unbedenklich zugeschrieben werden, wie der Empedokleische Vers 77,3 MP2 (= DK 31 B 30,3) zeigt: πλατέος π α ρ ᾽ ἐλήλαται ὅ ρ κ ο υ (≈ ἐλήλαται παρὰ πλατέος ὅρκου). [der Zeitraum,] der von einem breitverschnürten Eidvertrag her festgesetzt ist.
Auch der Umstand, dass wir mit unserer Emendation die Fügung λεπτῆισιν χοάναις herstellen, in der auf einen langendigen Dativ pl. auf -ῆισιν ein kurzendiger Dativ pl. auf -αις folgt, entspricht einem bei Empedokles gut belegten Sprachgebrauch.236 Überdies laden solche Fügungen natürlich dazu ein, beim Abschreiben die zweite Endung mechanisch an die erste anzugleichen: Ein Schreiber, der das von uns für ursprünglich gehaltene λεπτῆισιν χοάναις vor sich hatte, konnte es leicht zu λεπτῆισιν χοάνηισιν vereinheitlichen, was dann aus metrischen Gründen den Verlust der Präposition nach sich zog. Mit dieser Herstellung des Verses 438a1 auf der Grundlage der beiden dort überlieferten P-Lesungen und der aus der mittellateinischen Übersetzung zu erschließenden Variante (δι᾽ ἐχεύατο) ist auch der zweite Hauptmangel von Bekkers Gleichnistext auf überlieferungsgeschichtlich sinnvolle Weise geheilt: Im ‚SoTeil‘ des Gleichnisses werden sehr wohl die (in Bekkers Text fehlenden) feinen Wahrnehmungsporen (χοάναι) in der Iris erwähnt, die zugleich feuerdurchlässig und wasserdicht sind, so dass der augeninterne Feuerüberschuss sich durch sie hindurch in dunkler, d.h. von ‚Wasser‘ erfüllter Umgebung nach außen verbreiten kann, ohne dabei durch eindringende Wasserteilchen behindert zu werden. Damit ist insbesondere gezeigt, dass die P-Sonderlesung χοάνηισιν, wenn auch hinsichtlich ihrer langen Dativ-Endung bereits leicht fehlerhaft, so doch inner235 Schwyzer/Debrunner [Anm. 57], S. 57 verweisen speziell für diese Spielart der „mittelbaren Voranstellung“ einer als Begleitwort eines Kasus fungierenden Präposition auf Pindar, Ol. 6 (datiert auf 468 v. Chr.), Verse 53–54 (Maehler): ἀλλ᾽ ἔ ν / κέκρυπτο γὰρ σ χ ο ί ν ω ι βατιᾶι τ᾽ ἐν ἀπειρίτωι (‚Doch er [scil. der neugeborene Iamos, Sohn der Euadne und des Apollon] war versteckt in Binsen und in undurchdringlichem Dickicht‘). 236 Vgl. Empedokles Fr. 69b MP2 (DK 31 B 35), Vers 17: π α ν τ ο ί α ι ς ἰδέηισιν ἀρηρότα, θαῦμα ἰδέσθαι. – Fr. 81 MP2 (DK 31 B 54): μ α κ ρ ῆ ι σ ι κατὰ χθόνα δύετο ῥ ί ζ α ι ς . Ferner die neutralen bzw. maskulinen Dativkombinationen in Fr. 25a MP2 (DK 31 B 128), Vers 5: γ ρ α π τ ο ῖ ς τε ζ ώ ι ο ι σ ι μ ύ ρ ο ι σ ί τε δ α ι δ α λ ε ό δ μ ο ι ς und Vers 8: ταύρων δ᾽ ἀ ρ ρ ή τ ο ι σ ι φ ό ν ο ι ς οὐ δεύετο βωμός, sowie die Kombination eines langendigen femininen mit zwei kurzendigen maskulinen Dativen in Fr. 66b MP2, Physika I, Vers 324 (DK 31 B 76, Vers 1): τοῦτο μὲν ἐν κ ό γ χ α ι σ ι θ α λ α σ σ ο ν ό μ ο ι ς β α ρ υ ν ώ τ ο ι ς .
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halb der uns vorliegenden griechischen Überlieferung primär ist. Dieses Ergebnis wirft nun abschließend die Frage auf, wie sich unter dieser Voraussetzung die Verderbnis dieser Lesung zu der Alexander/LSU-Lesung ὀθόνησιν einerseits und zu der EMY-Lesung χθονίη(ι)σι andererseits erklären lässt. Angesichts der Sinnlosigkeit dieser beiden Lesungen ist mit Sicherheit davon auszugehen, dass ihre Entstehung von einer paläographisch bedingten Verschreibung der primären Lesung χοάνηισιν ausging. Da eines der beiden Endergebnisse dieses Vorgangs, die LSU-Lesung ὀθόνησιν, bereits bei Alexander vorliegt, muss der ganze Vorgang sich in der Majuskelschrift abgespielt haben. In dieser Schrift aber konnte das Wort χοάνηισιν (= ΧΟΑΝΗΙCΙΝ), durch die verbreitete Verlesung von Ο zu Θ, ganz leicht zu sinnlosem *χθανηισιν verderbt werden: ΧΟΑΝΗΙCΙΝ → *ΧΘΑΝΗΙCΙΝ. Trat eine solche Verderbnis ein, dann wurde sie in vielen Fällen durch einen sorgfältigen Korrektor der Papyrusrolle gleich nach Abschluss des Kopiervorgangs durch Vergleichung mit der Vorlage entdeckt und verbessert, in diesem Fall mittels eines über das falsche Θ geschriebenen Ο. War nun aber das Ο des Korrektors etwas zu weit rechts angebracht, konnte es leicht als Korrektur des auf das falsche Θ folgenden Α missverstanden werden und somit die Lesung *ΧΘΟΝΗΙCΙΝ suggerieren. Wenn man nun annimmt, dass fehlerhaftes und durch leicht versetzt darübergeschriebenes Ο korrigiertes *ΧΘΑΝΗΙCΙΝ in dem gemeinsamen Ahnherrn beider Familien Freudenthals (einerseits EMY, andererseits Alexanders Vorlage/LSU) gestanden hat, dann lässt sich die Genese der beiden Lesungen ὀθόνησιν und χθονίηισι gut nachvollziehen; denn bei dem Versuch, aus dem vermeintlich intendierten, aber sinnlosen *χθονηισιν durch eine möglichst geringfügige Änderung ein griechisches Wort herzustellen, konnte man ebenso leicht auf jenes verfallen wie auf dieses: Die Änderung des ersten Buchstaben zu Ο macht aus *χθονηισιν das von Alexander und LSU gelesene ὀθόνηισιν bzw. ὀθόνησιν (‚mittels der Leintücher‘); die Einfügung eines ι ergibt χθονίηισιν bzw. χθονίη(ι)σι (EMY: ‚mittels der unterirdischen‘). 2.4.3.3 Zu 438a3: Die syntaktische Integrität des Gleichniszitats In diesem Vers, dem Schlussvers des Gleichnisses (πῦρ δ᾽ ἔξω διαθρῶσκον, ὅσον ταναώτερον ἦεν ‚doch das Feuer, aus der Laterne †hindurchspringend† gemäß seiner wachsenden Ausdehnung‘), ist die von Blass vorgeschlagene Aufnahme der P-Sonderlesung διίεσκον (‚sie ließen hindurch‘) in den Text ebenso überzeugend wie die von ihm als Begründung ins Feld geführte syntaktische Unvollständigkeit der EMY/LSU-Lesart. Wollte man dort nämlich das von EMY und LSU, d.h. von beiden Familien Freudenthals überlieferte Partizip διαθρῶσκον (‚hindurchspringend‘) im Text belassen, dann müsste man annehmen, dass der ausgewiesene Homeriker Aristoteles sich die Mühe gemacht hat, ein Empedokleisches Gleichnis (und damit eine besonders klar abgegrenzte epische Form) im Umfang von vollen zehn Versen auszuschreiben, nur um schließlich mitten im letzten Satz vor dessen verbalem Prädikat abzubrechen und damit einen syntaktischen Torso zu produzieren. Dies ist eher unwahrscheinlich. 511
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Ferner korrespondiert das Iterativpräteritum διίεσκον im letzten Vers des ‚SoTeils‘ (438a3) gut mit dem Iterativpräteritum λάμπεσκεν im letzten Vers des ‚Wie-Teils‘ (437b31). Schließlich lässt sich die von Blass nur angedeutete paläographische Erklärung dafür, warum das von P bewahrte διίεσκον im Vulgatatext durch das Partizip διαθρῶισκον verdrängt wurde („διαθρῷσκον stammt aus v. 320 [scil. Stein]“), wie folgt präzisieren: Da in 438a3 dem fraglichen Wort διαθρῶισκον bzw. διίεσκον die gleichen Worte vorangehen und folgen, die in Vers 437b30 dem Wort διαθρῶισκον vorangehen (nach der dort von uns für authentisch gehaltenen EMY/P-Lesart πῦρ; vgl. unten unter 2.4.3.5) und folgen, nämlich πῦρ δ᾽ ἔξω einerseits und ὅσον ταναώτερον ἦεν andererseits, liegt die Annahme überaus nahe, dass diese so weitgehende Entsprechung in 438a3 einen Kopisten dazu verführt hat, aus 437b30 mechanisch den ganzen Vers πῦρ δ᾽ ἔξω διαθρῶισκον ὅσον ταναώτερον ἦεν zu wiederholen, so dass das Iterativpräteritum διίεσκον unter den Tisch fiel. Ist nun aber die von Blass bevorzugte P-Sonderlesung διίεσκον korrekt, dann ist weiter zu fragen, ob der Schreiber von P (Joasaph) oder der Schreiber eines Vorfahren von P diese Form auch durch Konjektur wiederhergestellt haben kann, oder ob man das korrekte διίεσκον auf den Archetypus zurückführen sollte. Für eine konjekturale Wiederherstellung von διίεσκον wäre eine aktive Beherrschung der homerischen Formenbildung erforderlich gewesen. Das in δι-ίε-σκ-ον (zu δι-ἵημι ‚hindurchlassen‘) vorliegende Suffix -σκ- wird zur Bildung der ionisch-epischen Iterativpräterita verwendet,237 die von Hause aus eine wiederholte Handlung der Vergangenheit bezeichnen, und bei denen eine fakultative Verwendung des Suffixes -σκ- im Imperfekt von solchen Verben vorliegt, die ebensogut auch ohne dieses Suffix verwendet werden können. Diese freie, auch in διίεσκον vorliegende Formenbildung ist ein Charakteristikum der homerischen Sprache, der an Homer anschließenden Dichtersprache und der ionischen Prosa Herodots, nicht aber der für Kaiserzeit und Spätantike verbindlichen attischen Prosa; dort ist das Suffix -σκ- vielmehr auf vergleichsweise wenige Verben wie εὑρίσκω (‚finden‘) oder γιγνώσκω (‚erkennen‘) beschränkt, bei denen es dann aber ausnahmslos immer in sämtlichen Tempora und Modi des Durativstammes (vulgo: ‚Präsensstammes‘) auftritt.238 Im vorliegenden Fall kommt
237 Eduard Schwyzer: Griechische Grammatik. Auf der Grundlage von Karl Brugmanns Griechischer Grammatik, Erster Band. Allgemeiner Teil. Lautlehre. Wortbildung. Flexion, München 1939, S. 710–712; Pierre Chantraine, Morphologie [Anm. 85], S. 318–323. Vgl. auch Rudolf Wachter: Grammatik der homerischen Sprache, in: Homers Ilias. Gesamtkommentar, Prolegomena, hg. v. Joachim Latacz, München, Leipzig 2000 S. 61–108, hier: S. 88 § 60. 238 Schwyzer [Anm. 237], S. 708–710.
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hinzu, dass bei Homer ein Iterativpräteritum auf -σκ- speziell zu dem hier einschlägigen Simplex ἵημι ‚senden‘ oder einem seiner Komposita nirgends vorkommt, am nächsten kommt das bei Hesiod belegte ἀνίεσκε (zu ἀν-ἵημι ‚hinauflassen‘).239 Die eigenständige, formal korrekte Bildung eines epischen Iterativpräteritums zu einem Verb, für welches eine solche Bildung bei Homer nicht belegt ist, wird man Empedokles als dem anerkannten Meister der epischen Form im 5. Jahrhundert v. Chr. selbstverständlich zutrauen, nicht aber einer konjekturalkritischen Initiative des byzantinischen Aristoteles-Kopisten Joasaph240 oder eines seiner Vorgänger. Wenn es aber ausgeschlossen scheint, dass P oder seine Vorlage aus Eigenem zu dieser Form gelangt sein kann, haben wir die P-Sonderlesart διίεσκον auf originäre Tradition, d.h. auf den Archetypen unserer Überlieferung zurückzuführen. Schließlich bleibt noch die auch für die Überlieferungsverhältnisse wichtige Frage zu klären, wie sich die P-Lesart διίεσκον zur Paraphrase des Gleichnisses in Alexanders De sensu-Kommentar verhält:241 ὡς γὰρ ὁδοιπορεῖν τις νυκτὸς μέλλων λύχνον παρασκευασάμενος ἐντίθησιν εἰς λαμπτῆρα – ὁ γὰρ λαμπτὴρ τὰ μὲν ἔξωθεν πνεύματα ἀπείργει τε καὶ κωλύει, τοῦ δὲ πυρὸς τὸ λεπτότατον εἰς τὸ ἔξω δ ί ε ι σ ι ν (διίησιν Thurot [Anm. 191], S. 441 u. 452; Wendland [Anm. 93]), ὅπερ ἐστὶ φῶς –, οὕτω, φησί, καὶ ἐν ταῖς μήνιγξι καθειργόμενον τὸ πῦρ ὑπὸ λεπτῶν ὑμένων περιέχεται, οἳ τὰ μὲν ἔξωθεν προσπίπτοντα λυμαντικὰ τοῦ πυρὸς ἀπείργουσι καὶ οὐκ ἐῶσιν ἐνοχλεῖν τῆι κόρηι, τὸ δὲ λεπτότατον τοῦ πυρὸς εἰς τὸ ἐξω δ ί ε ι σ ι ν (διιᾶσιν Usener [Anm. 191], S. 538; Wendland). Denn wie einer, der sich des Nachts zu einer Wanderung anschickt, seine Leuchte vorbereitet, indem er sie in eine Laterne stellt – die Laterne hält nämlich die von außen kommenden Windstöße ab und behindert sie, doch der feinste Teil des Feuers geht hindurch nach außen [Thurot konjizierte: „doch den feinsten Teil des Feuers lässt sie hindurch nach außen“] –, so, sagt er, wird auch das Feuer, sofern es in den Membranen zurückgehalten wird, von feinen Häutchen umgeben, die zwar das Schädigende, das von außen andrängt, vom Feuer fernhalten und nicht zulassen, dass es den Augapfel belastet, doch der feinste Teil des Feuers geht hindurch nach außen [Usener konjizierte: „doch den feinsten Teil des Feuers lassen sie hindurch nach außen“].
239 Hesiod, Theogonie 157. Die Überlieferung schwankt zwischen ἀνίεσκε und ἀνίησκε; vgl. West, Theogony [Anm. 216], S. 214 zur Stelle, der seine Präferenz für ἀνίεσκε auf Apollonios v. Rhodos 3,274 (μεθίεσκεν), 4,622 (ἐξανίεσκον) und 799 (μεθίεσκεν) stützt. 240 Harlfinger [Anm. 183], S. 260 schreibt über den Eigenanteil des Joasaph an der von P gebotenen Textgestalt: „Daher dürfte der persönliche Anteil des Kopisten an der Textgestaltung der Schrift über die Atomlinien, der abgesehen von drei relativ einfachen Berichtigungen nur aus Versehen, Fehlern und Flüchtigkeiten besteht, auch für die übrigen Traktate des Kodex durchaus repräsentativ sein.“ 241 Alexander bei Thurot [Anm. 191], S. 48,13–49,5 bzw. bei Wendland [Anm. 93], S. 23,11–17.
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Die Bewegung des Feuers aus der Laterne bzw. aus dem Auge heraus wird sowohl in der Paraphrase des ‚Wie-Teils‘ als auch in derjenigen des ‚So-Teils‘, dem überlieferten Alexandertext zufolge, mittels der 3. Pers. Sg. Präs. Akt. δίεισιν bezeichnet (‚er/sie/es wird hindurchgehen bzw. geht hindurch‘, zu δίειμι). An beiden Stellen des Alexandertextes aber wurde diese Verbform im 19. Jahrhundert konjektural durch eine Form des Verbs διίημι (‚ich lasse hindurch‘) ersetzt – und damit durch eine Form eben desjenigen Verbs, von dem auch das von P am Schluss des Gleichnisses überlieferte epische Iterativpräteritum διίεσκον gebildet ist: In der Paraphrase des ‚Wie-Teils‘ hielt Charles Thurot es ohne weitere Begründung für evident, dass man das überlieferte δίεισιν zu διίησιν (‚sie, d.h. die Laterne, lässt das Feuer hindurch‘) zu ändern habe („Il faut évidemment lire διίησιν au lieu de δίεισιν“), für die Paraphrase des ‚So-Teils‘ forderte Hermann Usener die Änderung des überlieferten δίεισιν zu διιᾶσιν (‚sie, d.h. die das Feuer im Auge umgebenden Häutchen, lassen das Feuer hindurch‘). Wenn sich nun sichern oder doch wahrscheinlich machen ließe, dass Alexander insbesondere in seiner Paraphrase des ‚So-Teils‘ tatsächlich das dort von Usener konjizierte διιᾶσιν gelesen hat, dann würde ein vielleicht nicht zwingendes, aber doch plausibles Argument dafür gewonnen sein, dass in dem von ihm benutzten De sensu-Text im ‚So-Teil‘ die uns sonst nur aus P bekannte, korrekte Lesung διίεσκον stand. Doch in Wahrheit sind die beiden Konjekturen gänzlich verfehlt, wie nun zu zeigen ist. Gegen das in Alexanders Paraphrase des ‚Wie-Teils‘ wie des ‚So-Teils‘ überlieferte δίεισιν könnte man bei flüchtiger Betrachtung zwei Einwände erheben: a) Zum einen werden in der klassischen attischen Prosa die indikativischen Präsens-Formen von ἰέναι (‚gehen‘) und seinen Composita bekanntlich in futurischer Bedeutung gebraucht, und eine solche futurische Bedeutung würde in der Paraphrase des Gleichnisses fehl am Platz sein. b) Zum andern impliziert das überlieferte δίεισιν jeweils einen Subjektswechsel von der Laternenwand (λαμπτήρ) bzw. von den Augenhäutchen (οἵ = ὑμένες) zum Feuer (πῦρ) (‚Die Laternenwand bzw. die Augenhülle hält zwar das außen befindliche Element ab, doch das Feuer geht hindurch nach außen‘), während die beiden Konjekturen Thurots und Useners die glattere Konstruktion ohne Subjektswechsel liefern würden (‚Die Laternenwand bzw. die Augenhülle hält zwar das außen befindliche Element ab, doch das Feuer lässt sie hindurch nach außen‘). Einwand a) wird nun dadurch entkräftet, dass die indikativischen Präsens-Formen von ἰέναι nur beim Simplex und nur in der klassischen attischen Prosa regelmäßig futurische Bedeutung zeigen, während die präsentische Bedeutung bei den Composita durchaus vorkommt, bei den nachklassischen Prosaikern
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sogar häufig ist, und vor allem auch bei Alexander v. Aphrodisias selbst belegt werden kann.242 Einwand b) ist bezüglich der Paraphrase des ‚Wie-Teils‘ deshalb haltlos, weil Alexander mit dem im überlieferten δίεισιν implizierten Subjektswechsel nur den entsprechenden Subjektswechsel im ‚Wie-Teil‘ des Gleichnisses selbst nachbildet. Doch stellt sich in Anbetracht dieser genauen Nachbildung der Struktur des Empedokleischen ‚Wie-Teils‘ natürlich umso dringender die Frage, warum Alexander dann in seiner Paraphrase des Empedokleischen ‚So-Teils‘ einfach die Struktur seiner eigenen Paraphrase des ‚Wie-Teils‘ und sogar das Verb δίεισιν repetiert, obwohl dort im Gleichnis selbst, nach dem korrekten und von Blass wiederhergestellten P-Text, ein anderes verbum finitum (διίεσκον) verwendet wird und obwohl dort gerade kein Subjektswechsel stattfindet. Die Antwort scheint uns auf der Hand zu liegen: Alexander las bereits den uns durch EMY/LSU bekannten Mehrheitstext, in dem der letzte Satz sein verbales Prädikat eingebüßt hat und die syntaktische Struktur dieses Satzes unklar bleibt; diese syntaktische Lücke seiner Vorlage schließt Alexander auf eigene Hand, indem er den ‚So-Teil‘, faute de mieux, exakt nach dem Muster seiner Wiedergabe des ‚Wie-Teils‘ paraphrasiert. 2.4.3.4 Die Unabhängigkeit des Vaticanus P und das Problem seiner Kontamination An den drei behandelten Stellen 437b30, 438a1 und 438a3 hat Blass, ungeachtet der verfehlten Gewaltsamkeit seiner Verwertung der P-Sonderlesarten in 437b30 und 438a1, prinzipiell insoweit Recht behalten, als die drei Sonderlesarten des Vaticanus P sich als authentisch erwiesen haben (bzw., in 438a1, als notwendige Basis für die Herstellung des authentischen Textes anhand der mittellateinischen Übersetzung). In 438a1 liefert von den sieben bei Bekker 1831 erfassten Sens.-Handschriften allein P die für das Gleichnis schlechterdings fundamentale Nennung der Augenporen (χοάναι), und in 437b30 (Zusatzvers) und in 438a3 (διίεσκον) hat nicht nur allein P von den sieben Handschriften das Richtige bewahrt, sondern die sechs übrigen, also beide Familien Freudenthals, stimmen an 242 Vgl. Schwyzer [Anm. 237], S. 674: „Hom. att. εἶμι ‚gehe‘ (att. außer den Komposita nur futurisch)“ sowie Friedrich Blass: Ausführliche Grammatik der Griechischen Sprache von Dr. Raphael Kühner, Erster Teil. Elementar- und Formenlehre, Dritte Auflage in zwei Bänden. In neuer Bearbeitung besorgt von Dr. Friedrich Blass, Zweiter Band, Hannover 1892, S. 217 (§ 202 Anmerk. 5): „In der Dic ht e rspr ac he aber hat der Indikativ auch Präsensbedeutung, als: εἶσι Aesch[ylus] S[upplices] 355. πρόσειμι Eum[enides] 237, sehr häufig auch bei den späteren Prosaisten“. Zu Alexander selbst vgl. Alexandri Aphrodisiensis in Aristotelis Metaphysica Commentaria. Consilio et auctoritate Academiae Litterarum Regiae Borussicae edidit Michael Hayduck, Berlin 1891, S. 166,15–18: εἰ δὴ ὁ μὲν νοῦς ἃ νοεῖ ἐν πεπερασμένωι χρόνωι ν ο ε ῖ τ ε κ α ὶ δ ι έ ξ ε ι σ ι , τὰ δὲ ἄπειρα ἀδύνατον ἐν πεπερασμένωι χρόνωι διεξελθεῖν τε και νοῆσαι τῶι ἀεί τι τοῖς περιειλημμένοις καὶ νενοημένοις προστίθεσθαι, οὐκ ἂν ὁ νοῦς νοοίη τὰ ἄπειρα.
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beiden Stellen im Falschen überein. Mithin tritt P in 437b30 und in 438a3 den sechs übrigen Handschriften als einziger Träger einer nicht nur von ihnen unabhängigen, sondern ihnen in ihrer Gesamtheit gleichberechtigten Überlieferung gegenüber. Dieser Befund spricht dafür, für den Gleichnistext eine zweispaltige Überlieferung anzunehmen, innerhalb derer der Vaticanus P in gerader Linie auf einen der beiden Hyparchetypi zurückgeht, und die übrigen von Bekker 1831 herangezogenen Sens.-Handschriften auf den anderen Hyparchetypus, d.h. auf die antike Vulgata. Damit ist aber noch nicht geklärt, welches Gewicht dem Vaticanus P in den Fällen zukommt, in denen er mit einer von Freudenthals beiden Familien EMY und LSU gegen die jeweils verbleibende Familie zusammengeht. Vielmehr muss man zur Beantwortung dieser Frage wissen, ob P ein durchweg unabhängiger Zeuge ist, oder ob sein Text im Einzelfall, mag er auch prinzipiell auf einen eigenen Hyparchetypus zurückgehen, unter dem Einfluss Alexanders oder einer der beiden Familien umgeformt wurde (‚Kontamination‘). Das Kriterium hierfür sind gemeinsame eindeutige Fehler von der Art, dass sie nicht leicht zweimal unabhängig voneinander begangen werden können (‚Bindefehler‘):243 Ist ein solcher Bindefehler von P und dem von Alexander gelesenen Text bzw. einer der beiden Vulgatafamilien nicht nachweisbar, dann hat P als ein von Alexander bzw. der betreffenden Handschriftenfamilie unabhängiger Zeuge zu gelten, und das Gewicht einer von Alexander oder einer der beiden Familien überlieferten Lesart, die von P gestützt wird, wird dadurch so entscheidend verstärkt, dass die Lesart sicher auf den Archetypus zurückgeführt werden kann. Ist hingegen dem Vaticanus P mit Alexander oder einer der beiden Familien der Vulgataüberlieferung ein solcher Fehler gemeinsam, dann ist sein Text durch den Text Alexanders bzw. der betreffenden Familie kontaminiert, so dass das Gewicht der Lesung durch das Zeugnis von P nicht verstärkt wird. Nun haben wir in der oben unter 2.4.1 vorgelegten Zusammenstellung der kritisch bedeutsamen Lesungsdivergenzen zu Bekkers Gleichnistext bereits eine der zweiten Familie (LSU) und dem Vaticanus P gemeinsame Lesart dokumentiert, bei der es sich eindeutig um einen Bindefehler handelt: die übrigens bereits von Alexander nicht nur überlieferte, sondern auch ausführlich diskutierte vox nihili ἀμουργούς in 437b28. Zudem lässt die in P überlieferte, verfehlte Anfügung des Wortes ὀθόνησιν an den dort in 437b30 eingeschobenen zusätzlichen Teilvers darauf schließen, wie bereits Blass gesehen hat, dass im Gleichnistext der Vorlage von P weiter unten zu 438a1 (P: χοανῆσιν) die Alexander/LSU-Lesung ὀθόνησιν
243 Vgl. die bereits zitierte Definition von Maas [Anm. 7], S. 290 (= S. 26): „Die Zusammengehörigkeit zweier Zeugen (B und C) gegenüber einem dritten (A) wird erwiesen durch einen den Zeugen B und C gemeinsamen Fehler, der so beschaffen ist, daß aller Wahrscheinlichkeit nach B und C nicht unabhängig voneinander in diesen Fehler verfallen sein können. Solche Fehler mögen ‚Bindefehler‘ heißen (errores coniunctivi).“
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als Variante beigeschrieben war.244 Demnach war die vom Vaticanus P überlieferte Textform bereits in seiner Vorlage durch Vergleichung mit Alexanders Kommentar oder mit einer LSU-Handschrift sekundär modifiziert, d.h. ‚kontaminiert‘. Dann aber kann in 438a1 die Lesart ἐχεύατο nicht schon allein deshalb dem Archetypus zugeschrieben werden, weil Alexander/LSU diese Lesung mit P gemeinsam haben. Vielmehr bedarf es hier einer sprachlichen und inhaltlichen Prüfung; diese aber hat ergeben, dass in 438a1 die Alexander/LSU/P-Lesart ἐχεύατο zweifelsfrei korrekt ist. Zu klären bleibt hingegen das Verhältnis zwischen dem Vaticanus P und Freudenthals erster Familie (EMY). Einerseits gibt es drei Stellen, an denen Bekker eine durch P bestätigte EMY-Lesung verschmäht hat und bei denen es sich, wenn Bekker daran recht getan hätte, um Bindefehler handeln könnte. Andererseits wurde die zweite dieser drei P/EMY-Lesarten (437b30) bereits von Blass (1883) und die dritte (438a2) von Diels (1901) als korrekt in den Text aufgenommen. Nur an der ersten Stelle (437b29) ist es bis heute bei Bekkers Ablehnung der P/EMY-Lesart geblieben, aber auch diese Ablehnung muss solange als vorläufig gelten, wie eine mit der fraglichen Lesartendivergenz eng zusammenhängende Textverderbnis im vorangehenden Vers 437b28 nicht überzeugend geheilt ist. Deshalb überprüfen wir zunächst die beiden vergleichsweise unproblematischen Stellen 437b30 und 438a2, um uns dann abschließend der schwierigen Stelle 437b28–29 zuzuwenden. 2.4.3.5 Zu 437b30: Aus der Laterne tritt Feuer aus In Vers 437b30, dem fünften des ‚Wie-Teils‘ (Bekker: φῶς δ᾽ ἔξω διαθρῶσκον, ὅσον ταναώτερον ἦεν ‚das Licht aber, nach außen hindurch springend gemäß seiner wachsenden Ausdehnung‘), hat bereits Blass die von Bekker aus LSU geschöpfte Lesung φῶς (‚Licht‘) durch πῦρ (P/EMY: ‚Feuer‘) ersetzt. Zwar wird man sich hier auf die von Blass zur Begründung ins Feld geführte größere Zahl der Zeugen für πῦρ nicht verlassen dürfen. Handschriften sind nämlich nicht zu zählen, sondern zu wägen; und wir haben ja erst noch zu prüfen, ob das Zeugnis der Handschriften EMY durch die Übereinstimmung mit Vaticanus P gestärkt wird, oder ob P nachweislich von EMY kontaminiert ist: Im letzteren Fall könnte von einer solchen Verstärkung keine Rede sein. Gewichtiger ist Blass’ Verweis auf Alexanders (ihm durch Thurots Ausgabe bekannten) Kommentar zu De sensu: Alexanders Paraphrase von 437b30 spricht in der Tat dafür, dass in dem von ihm gelesenen Text von 437b30 πῦρ stand,245 und wenn dies zu244
Vgl. oben unter 2.4.2.4. Alexander bei Thurot [Anm. 191], S. 49,1–2 bzw. bei Wendland [Anm. 93], S. 23,13–14 τοῦ δὲ πυρὸς τὸ λεπτότατον εἰς τὸ ἔξω δίεισιν, ὅπερ ἐστὶ φῶς (‚Der feinste Teil des Feuers geht hindurch nach außen; dies ist das Licht‘; die Authentizität des überlieferten δίεισιν haben wir bereits festgestellt). Darin liegt, dass der im Wie-Teil genannte feinste Teil des Feuers (πῦρ) der Sache nach das Licht ist. 245
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trifft, dann ist die Lesung φῶς überhaupt erst sekundär, d.h. nach Alexander, in den LSU-Zweig (einschließlich der von der mittellateinischen Übersetzung in den meisten Fällen wiedergegebenen Textform Γ1)246 gelangt, was ihr überlieferungsgeschichtliches Gewicht stark vermindert. Hinzu kommen aber inhaltliche und, damit Hand in Hand gehend, poetische Gründe, die für die Aufnahme der P/EMY-Lesart πῦρ in den Text sprechen. Wie unsere bisherige Untersuchung gezeigt hat, besteht die spezifische Leistung des Laternengleichnisses darin, die Ausscheidung überschüssigen Feuers aus dem Auge mittels der feuerdurchlässigen, aber wasserdichten Poren der Iris zu veranschaulichen: Dies geschieht durch den Vergleich mit dem Leuchten einer Laterne, das durch die feuerdurchlässigen, aber winddichten Öffnungen der tönernen Laternenwände ermöglicht wird. Für diese Veranschaulichungsleistung ist es nun aber essentiell, dass auch im ‚Wie-Teil‘ explizit von einer Durchlässigkeit für einen Stoff die Rede ist; denn gerade in der von den Poren bzw. Laternenöffnungen geleisteten Verbindung von Durchlässigkeit für einen Stoff X einerseits und Dichtigkeit gegen einen zu X antagonistischen Stoff Y andererseits liegt der im Blick auf die Empedokleische Porentheorie maßgebliche Vergleichspunkt.247 Die zentrale Bedeutung dieses Vergleichspunktes hat Empedokles nun dadurch treffend zum Ausdruck gebracht, dass – dem P/EMY-Text zufolge – der fünfte Vers des ‚Wie-Teils‘ (437b30: πῦρ δ᾽ ἔξω διαθρῶισκον ὅσον ταναώτερον ἦεν) einerseits und der letzte Vers des ‚So-Teils‘ (438a3: πῦρ δ᾽ ἔξω διίεσκον, ὅσον ταναώτερον ἦεν) andererseits, abgesehen von der jeweils unterschiedlichen Verbform, genau den gleichen Wortlaut aufweisen. Die hierdurch offensichtlich erstrebte Verdeutlichung des Vergleichspunktes würde nun schwer beeinträchtigt, wenn auf Seiten des ‚Wie-Teils‘ das Wort Feuer (πῦρ) gar nicht vorkäme und so anstelle der austretenden Teilchen des (feurigen) Stoffes nur vage der Schein des Lichts erwähnt würde:248 Bekanntlich nimmt der physikalisch unreflektierte Alltagsverstand auch heute noch die Wahrnehmbarkeit des Lichtscheins durch transluzente Materialien wie Pergament oder dünn geschliffenes Horn u.ä. hindurch als gegeben hin, ohne sich dabei Rechenschaft über eine den Abstand zwischen Objekt und Betrachter überbrückende Bewegung bestimmter stofflicher Teilchen (bzw. Wellen) zu geben. Aus diesem Grund halten wir die gemeinsame Lesung von P und EMY gegen Bekker (1831) und mit Blass (1883) für zweifellos authentisch; mithin lässt diese Übereinstim-
246
Vgl. oben Anm. 232. Walther Kranz: Gleichnis und Vergleich in der frühgriechischen Philosophie, in: Hermes 73,1938, S. 99–122 [im Folgenden: Kranz, Gleichnis], hier: S. 108: „Mag es oft geradezu falsch sein, im homerischen Gedicht nach dem Tertium comparationis zu suchen, weil die Gleichnisse vielmehr einer immanenten Einheit entsprungen sind als künstlich Vereintem: hier [scil. im Empedokleischen Gleichnis] ist das Tertium das, worauf allein alles ankommt“. 248 ‚Schein‘ ist die wörtliche Bedeutung von φῶς < φά-ος ‚Licht‘. 247
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mung keinen Schluss auf die Annahme einer Kontamination von P aus EMY zu. 2.4.3.6 Zur Korrespondenz von 438a2 (ναέντος) und 437b29 (ἀέντων) In Vers 438a2, dem fünften des ‚Wie-Teils‘ (Bekker: αἳ δ᾽ ὕδατος μὲν βένθος ἀπέϛεγον ἀμφινάοντος: ‚Die hielten die Masse des ringsum strömenden Wassers ab‘) hat Blass das von Bekker aus einer einzigen Handschrift (L) von Freudenthals zweiter Familie geschöpfte Partizip Präsens Aktiv ἀμφι-νάοντος (‚um-fließend‘) im Text gehalten, während erst Diels (1901) die von den Handschriften der ersten Familie (EMY) gebotene und vom Vaticanus P sowie von den zwei verbleibenden Handschriften der zweiten Familie (SU) gestützte Form ἀμφιναέντος in den Text aufgenommen hat. Der Grund, aus dem Bekker und Blass die schwach bezeugte Form ἀμφι-νάοντος der ungleich besser bezeugten Form ἀμφι-ναέντος vorgezogen haben, liegt auf der Hand: νάοντος ist ein regelmäßig gebildeter Gen. sg. masc. des aktivischen Partizips von νάω (‚fließen‘), von dem überhaupt nur Formen des Durativstamms belegt sind, während die Form ναέντος, ungeachtet ihrer besseren handschriftlichen Bezeugung an unserer Stelle, weder von νάω noch von einem anderen griechischen Verb auf reguläre Weise gebildet werden kann. Im Hinblick auf unsere Frage nach einer möglichen Kontamination des Vaticanus P durch die von EMY bezeugte Gestalt des Gleichnistextes stellt sich also die Frage, ob P und EMY (und SU) hier eine fehlerhafte Form des Partizips miteinander gemeinsam haben. Hermann Diels hat die Aufnahme der Form ἀμφι-ναέντος mit der Annahme zu rechtfertigen gesucht, dass es sich dabei um das Partizip eines für νάω sonst nicht bezeugten Wurzelaorists (*ἐνάην) handele, dass sich also νάω zu *ἐνάην und seinem Partizip *ναείς (Gen. ναέντος) genau so verhalte wie ῥέω (‚fließen‘) zu ἐρρύην und seinem Partizip ῥυείς (Gen. ῥυέντος).249 Indessen können wir die formale Plausibilität dieses Vorschlags250 ebenso dahingestellt sein lassen wie insbesondere die Frage, wie weit diese Plausibilität durch die von Diels zusätzlich als Beleg angeführte, ihrerseits aber hochumstrittene Futurform ναιήσονται des Fragments B 111 DK verstärkt wird. Wir meinen nämlich, dass an unserer Stelle eine Aoristform angesichts der ihr anhaftenden punktuellen Bedeutung schon aus inhaltlichen Gründen nicht in Betracht kommen kann. Nach Empedokles benötigt das Auge, um sich von einem internen Feuerüberschuss entlasten zu können, ein dunkles, d.h. von ‚Wasser‘-Teilchen dominiertes Milieu, das für die Dauer der Feuerausscheidung stabil bleibt. Dies war entweder durch ein Partizip des bei νάω allein vertretenen Durativstammes auszudrücken – d.h. durch die von L überlieferte Form -νάοντος –, oder durch ein Partizip eines be249
Diels 1901 [Anm. 5], S. 138. Hjalmar Frisk: Griechisches Etymologisches Wörterbuch, Band II. Κρ–Ω, Heidelberg 1970, S. 294, s.v. νάω (‚quellen, strömen‘) zitiert den Vorschlag vorsichtig zustimmend: „Das Ptz. ἀμφι-ναέντος (Emp. 84) wurde wohl nach ῥυέντος gebildet“. 250
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deutungsverwandten resultativen Perfektstamms – wie die metrisch im Hexameter freilich unbrauchbare Genetivform ἐρρυηκότος (‚des erflossenen‘, zu ῥέω ‚fließen‘) –, aber sicher nicht durch ein Aoristpartizip von punktueller Bedeutung, durch welches auf das Fließen als auf eine abgeschlossene Handlung zurückgeblickt würde. Diels übersetzt sein angebliches Aoristpartizip denn auch mit ‚ringsum erflossen‘, d.h. wie ein resultatives Perfekt.251 Die Lösung des Problems sehen wir in der Annahme, dass Empedokles selbst die Form ναέντος als duratives Partizip gebildet hat: Er hat von der für die homerische Sprache charakteristischen Freiheit Gebrauch gemacht, bei ein und demselben Verbal- oder Nominalstamm alternierend verschiedene Flexionstypen zu verwenden, und er hat dies im vorliegenden Fall getan, um die Korrespondenz zwischen ‚Wie-Teil‘ und ‚So-Teil‘ durch ein feines weiteres Detail zu unterstreichen: Dem das Auge umfließenden ‚Wasser‘ des ‚So-Teils‘ korrespondieren im ‚Wie-Teil‘ die die Laterne umwehenden Winde, und zur Bezeichnung dieses Wehens wird in Vers 437b29 (Bekker: οἵτ’ ἀνέμων μὲν πνεῦμα διασκιδνᾶσιν ἀέντων ‚die zwar den Atem der wehenden Winde zu zerstreuen pflegen‘) das durative Partizip ἀέντων (‚der wehenden‘) verwendet, welches zu dem athematischen (d.h. im Durativstamm ohne den Themavokal o/e gebildeten) Verb ἄημι (‚wehen‘) gehört. Um nun die Entsprechung zwischen dem ‚Wehen‘ des ‚Wie-Teils‘ und dem ‚Fließen‘ des ‚So-Teils‘ hörbar zu machen, hat Empedokles das Partizip (‚des fließenden‘) so gebildet, als ob das zugrundeliegende Verb nicht thematisch νάω, sondern, analog zum athematischen ἄημι (‚wehen‘), athematisch *νάημι lautete:252 Er schreibt in Vers 438a2 ναέντος (statt νάοντος), um die Korrespondenz mit ἀέντων (Vers 437b29) hörbar zu machen. Von einem „Fehler“, der die Annahme einer Kontamination des Vaticanus P durch EMY stützen würde, kann hier also keine Rede sein. Damit ist für den gesamten Gleichnistext mit Ausnahme der abschließend noch zu behandelnden Stelle 437b28–29 gezeigt, dass sich dort kein Bindefehler zwischen P und EMY nachweisen lässt. 2.4.3. Zu 437b28–29: Die Laternenwände als ‚Abhilfen‘ gegen den Sturmwind Der Vers 437b29, der vierte des ‚Wie-Teils‘, beginnt mit einem Relativpronomen im Nominativ Plural, welches von LSU in der maskulinen Form οἵ τ’ überliefert wird, die alle bisherigen Herausgeber in den Text aufgenommen haben, von P/EMY hingegen in der femininen Form αἵ τ’. Für die von LSU überlieferte maskuline Form οἵ τ’ scheint zu sprechen, dass der vorangehende Vers 437b28 für das uns interessierende Relativpronomen ein maskulines Beziehungswort liefert, nämlich λαμπτῆρας (‚Laternenwände‘): 251
Diels 1912 [Anm. 5], S. 254. Zu dieser „alternance entre une flexion athématique et une flexion thématique“ bei ein und demselben Verb vgl. Chantraine, Morphologie [Anm. 85], S. 295. 252
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Zitatfragment und Textkritik b28 b29
ἅψας παντοίων ἀνέμων λαμπτῆρας ἀμοργούς,253 οἵ τ’254 ἀνέμων μὲν πνεῦμα διασκιδνᾶσιν ἀέντων, indem er Laternenwände montiert hatte, †‚Abwischer‘† von Winden aller Art, die den Atem der wehenden Winde zu zerstreuen pflegen –
Man kann also bei flüchtigem Hinsehen den Eindruck gewinnen, dass hier das sowohl von der Familie EMY als auch von P überlieferte feminine Relativpronomen αἵ τ’ ein gemeinsamer Fehler ist, der dann als Bindefehler gelten müsste. Bei näherem Hinsehen stellt sich indessen rasch heraus, dass auf die überlieferte Gestalt des Verses 437b28 nichts zu geben ist. Denn dort ist zu λαμπτῆρας (‚Laternenwände‘) ein höchst problematisches Attribut überliefert (von dem zugleich der Genetivus obiectivus παντοίων ἀνέμων [‚von Winden aller Art‘] abhängt), und zwar teils die vox nihili ἀμουργούς (Alexander/LSU/P), teils das Adjektiv ἀμοργούς (EMY), das soviel wie ‚abpflückend, abstreifend, abwischend‘ bedeuten müsste, und das im vorliegenden Zusammenhang ersichtlich keinen Sinn ergibt: Das Faktum, dass die tönernen Laternenwände dank ihrer winzig kleinen Lichtöffnungen den außen wehenden Winden keinen Einlass in die Laterne bieten, kann man unmöglich dahingehend charakterisieren, dass die Laternenwände über die Fähigkeit verfügen, die Winde abzupflücken oder abzustreifen oder abzuwischen. Gerade an dem von Hermann Diels255 unternommenen Versuch, ἀμοργούς zu verteidigen, wird dies unübertrefflich deutlich. Er führt nämlich zum Vergleich die folgende Stelle aus der berühmten Horaz-Ode I, 7 (Laudabunt alii claram Rhodon aut Mytilenen) an:256 albus ut obscu¯ro¯ de¯terget nu¯bila caelo¯ saepe Notus neque parturit imbrı¯s perpetuo¯, sı¯c tu¯ sapie¯ns fı¯nı¯re memento¯ trı¯stitiam vı¯taeque labo¯re¯s mollı¯, Plance, mero¯. Wie der Südwind oft mit aufklarendem Hauch die Wolken vom dunklen Himmel wischt, statt immer und ewig nur mit Regen schwanger zu gehen, so sollst auch du, Plancus, wenn du klug bist, darauf bedacht sein, die Bedrückung und die Plagen des Lebens in entspannendem Wein zu ertränken.
Diels behauptet nun allen Ernstes, dass das Horazische Bild vom Wind, der die Wolken vom Himmel wegwischt, ebenso gewagt sei wie das im Empedokleischen Gleichnis überlieferte Bild von den Laternenwänden, die dazu imstande sind, die andrängenden Winde wegzuwischen, so dass sich diese Empedokles-
ἀμουργούς (?) LSU P : ἀμοργούς (‚Abwischer‘) EMY : (ἀμορ)β(ούς) (‚Begleiter‘) Esupr. lin.. οἵ τ’ (pron. rel. masc. pl.) LSU : αἵ τ’ (pron. rel. fem. pl.) EMY P. 255 Hermann Diels: Studia Empedoclea, in: Hermes 15, 1880, S. 161–179, hier: S. 170–171 (im Folgenden: Diels, Studia). 256 Horaz, Carm. I, 7, 15–19; Text nach D. R. Shackleton Bailey (Hg.): Q. Horati Flacci opera. Editio tertia, Stuttgart 1995, S. 10. 253
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Überlieferung durch jenes Horazische Bild rechtfertigen lasse.257 Doch in Wahrheit besteht hier ein Unterschied ums Ganze: Bei Horaz ist der Südwind Subjekt des Wegwischens, bei Empedokles hingegen müssten die Winde Objekt des Wegwischens sein und die Laternenwände das Subjekt. Die kraftvolle Dynamik aber, die den Südwind ohne weiteres zum Wegwischen von Wolken befähigt, liegt den fest montierten Laternenwänden denkbar fern. Deshalb halten wir ἀμοργούς für korrupt: Anstelle von ἀμουργούς/ἀμοργούς wird ein Wort benötigt, und zwar ein gut episches Wort, welches die Funktion der Laternenwände als Abhilfen gegen allerlei Winde zum Ausdruck bringt. Als strukturelles Vorbild für den anzunehmenden Originalwortlaut mag der folgende, bedeutungsverwandte Satz des Empedokles gelten:258 φάρμακα δ᾽ ὅσσα γεγᾶσι, κακῶν καὶ γήραος ἄλκαρ, / πεύσηι. Soviele Heilmittel es auch gibt, eine Abhilfe gegen Unheil und Alter: Du wirst von ihnen erfahren.
Objekt dieses Satzes ist ein Substantiv im Akkusativ Neutrum Plural, die ‚Heilmittel‘ (φάρμακα); als Apposition dazu steht ein Substantiv im Akkusativ Neutrum Singular, ‚Abhilfe‘ (ἄλκαρ); von dieser Apposition sind die genetivi obiectivi ‚gegen Unheil und Alter‘ (κακῶν καὶ γήραος) abhängig, die angeben, wogegen die Heilmittel helfen sollen. Eine solche Struktur ist auch in Vers 437b28 zu erwarten, wenngleich für ‚Abhilfe‘ aus metrischen Gründen ein anderes Wort benötigt wird als ἄλκαρ. Nun besitzt die Harvard College Library ein Exemplar von Heinrich Steins Empedoklesausgabe,259 in dem zu unserer Stelle260 von der Hand eines unbekannten Gelehrten eine Konjektur vermerkt ist: Der annotator Harvardianus – wie wir ihn nennen wollen, auch wenn es sich ebenso gut um einen europäischen Vorbesitzer der Ausgabe handeln kann – möchte statt des überlieferten ἀμουργούς/ἀμοργούς vielmehr ἀρωγούς lesen (Akk. Pl. des maskulinen homerischen Substantivs ἀρωγός ‚Helfer‘). Diese Konjektur geht nach unserer Ansicht inhaltlich in die richtige Richtung. Allerdings erscheint die Einführung eines maskulinen Substantivs als unüberlegt. Die Laternenwände (λαμπτῆρας), bzw. die Apposition dazu, werden nämlich im folgenden Vers 437b29 durch ein Relativpronomen aufgenommen, welches, wie wir sahen, nur die Handschriften von Freudenthals zweiter Familie 257 Diels Studia [Anm. 255], S. 171: „laminis corneis circumdatae ventorum vim illisam velut detergent neque intra permeare sinunt [scil. lucernae]. neque audacius est hoc quam Horatianum istuc I 7, 16“. 258 Empedokles Fr. 42 MP2 (DK 31 B 111), Verse 1–2. 259 Erworben mit Mitteln des von Evangelinos Apostolides Sophokles (1807–1883), dem seinerzeit als Lexikograph bekannten Neogräzisten der Harvard University, testamentarisch gestifteten „Constantius Fund for Greek, Latin, and Arabic Literature“ und inventarisiert am 27. Oktober 1928. 260 Stein [Anm. 139], S. 71, Vers 318.
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Zitatfragment und Textkritik
(LSU) in der maskulinen Form οἵ τ’ überliefern, hingegen die Handschriften der ersten Familie (EMY) und der Vaticanus P in der femininen Form αἵ τ’. Die Tatsache, dass neben οἵ τ’ (LSU) auch das syntaktisch scheinbar falsche αἵ τ’ (P/ EMY) überliefert ist, sollte man nun nicht einfach hinnehmen – zumal es im Gleichnistext sonst kein Beispiel für eine von P gestützte und dennoch fehlerhafte EMY-Lesart gibt; man sollte vielmehr nach einer Erklärung dafür suchen. Wenn eine solche Erklärung überhaupt möglich ist, dann kann sie nur in dem Umstand zu finden sein, dass in der Überlieferungsgeschichte des vorangehenden Verses 437b28, auf den das fragliche Relativpronomen bezogen ist, zwei Phasen zu unterscheiden sind: In der ersten Phase war der originale Wortlaut erhalten, in der zweiten Phase war die originale Apposition der Laternenwände zu dem überlieferten, sinnlosen ἀμουργούς/ἀμοργούς korrumpiert. Da nun die maskuline Form des Relativpronomens in 437b29 (οἵ τ’) zu dem korrupten Wortlaut stimmt, den der Vers 437b28 in der zweiten Phase aufwies, muss die feminine Form des Relativpronomens in 437b29 (αἵ τ’) doch wohl mit dem authentischen Wortlaut kongruiert haben, den der Vers 437b28 in der ersten Phase aufwies. Nach allem Anschein wurde also das Relativpronomen in 437b29 nur in der zweiten Familie (LSU) sekundär an den korrumpierten Wortlaut des Verses 437b28 angepasst. Mithin sieht sich die konjekturale Verbesserung des korrupten ἀμουργούς/ ἀμοργούς in 437b28 zu einer maskulinen Apposition erheblichen Bedenken ausgesetzt: Zum einen wäre nach der Aufnahme einer solchen Konjektur die Koexistenz eines femininen und eines maskulinen Relativpronomens in der Überlieferung von 437b28 unbegreiflich, und zum andern würde man damit geradezu mutwillig eine Version von 437b28 herbeikonjizieren, an der gemessen das von P/EMY in 437b29 überlieferte feminine Relativpronomen als Fehler gelten müsste, obwohl ansonsten, wie gezeigt, ein Bindefehler zwischen EMY und P in dem ganzen schwierigen Gleichnistext nicht nachweisbar ist. Aus diesen Gründen scheint es uns evident, dass als Apposition zu den Lampenschirmen (λαμπτῆρας) in 437b28 nur ein feminines pluralisches Substantiv in Frage kommt, auf das sich dann der folgende Relativsatz beziehen kann. Deshalb schlagen wir vor, die inhaltlich treffende Konjektur ἀρωγούς des Annotator Harvardianus so zu modifizieren, dass das zu Beginn von 437b29 von P/EMY überlieferte feminine und pluralische Relativpronomen in 437b28 ein Beziehungswort findet. Hierfür bietet sich das feminine Substantiv ἀρωγή an, das in der epischen Sprache vorzugsweise verwendete Nomen actionis für ‚Beistand, Parteinahme‘,261 welches dann in der Tragödie des 5. Jahrhunderts v. Chr. auch einzelne Hilfeleistungen oder die Person bzw. Sache bezeichnen kann, die
261 Lexikon des frühgriechischen Epos (LfgrE), Bd. I, Spalte 1390. Dem Lexikonartikel zufolge ist ἀρωγή im homerischen Epos „das einzige nomen actionis außer ἀλκή […] im Umkreis der Verben für ‚helfen‘ und der zahlreichen Wörter für ‚Helfer‘“.
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den Beistand leistet; in diesen Fällen kann das Wort auch in den Plural gesetzt werden.262 Demgemäß emendieren wir das korrupte ἀμοργούς zu ἀρωγάς: b28 b29
ἅψας παντοίων ἀνέμων λαμπτῆρας ἀρωγάς, αἵ τ’ ἀνέμων μὲν πνεῦμα διασκιδνᾶσιν ἀέντων, indem er Laternenwände montiert hatte, als Abhilfen gegen Winde aller Art, die zwar den Atem der wehenden Winde zu zerstreuen pflegen –
Die hier nach unserer Meinung anzunehmende Verwendung von pluralischem ἀρωγάς als Apposition zu einer vorher genannten Mehrzahl von unterstützenden Dingen (bzw. Personen) findet eine genaue Entsprechung im Sophokleischen Oidipus auf Kolonos:263 καὶ τὸν ἀγρευτὰν Ἀπόλλω καὶ κασιγνήταν πυκνοστίκτων ὀπαδὸν ὠκυπόδων ἐλάφων στέργω δ ι π λ ᾶ ς ἀ ρ ω γ ὰ ς μολεῖν γ ᾶ ι τ ᾶ ι δ ε κ α ὶ π ο λ ί τ α ι ς . Und den Jäger Apollon und seine Schwester, die Begleiterin der dicht gesprenkelten, schnellfüßigen Hirsche, würde ich liebend gerne kommen sehen: zwei Beistände für unser Land und seine Bürger.
Die Verwendung von appositiv gestelltem ἀρωγή mit einem Genetiv, der – wie in dem bereits zitierten Empedokleischen Ausdruck κακῶν καὶ γήραος ἄλκαρ (Abhilfe gegen Unheil und Alter)264 – das Übel bezeichnet, gegen das der Beistand wirken soll, ist an zwei Platonstellen bezeugt:265 μετὰ δὲ τοῦτο ἐλαίου γένεσιν, π ό ν ω ν ἀ ρ ω γ ή ν , ἀνῆκεν τοῖς ἐκγόνοις. Daraufhin hat sie (scil. die attische Erde) auch die Entstehung des Olivenöls, eine Abhilfe gegen Strapazierungen (scil. der Haut), für ihre Abkömmlinge emporgesandt. τίς οὖν δὴ τ ῆ ς ν ό σ ο υ τ α ύ τ η ς ἀ ρ ω γ ὴ γίγνοιτ’ ἂν ἐν νοῦν ἐχούσηι πόλει; Welche Abhilfe gegen diese Krankheit könnte es wohl in einer Stadt geben, die bei Verstand ist? 262 Aischylos, Eumeniden Vers 598 (Orest über seinen toten Vater): πέποιθ’· ἀ ρ ω γ ὰ ς δ’ ἐκ τάφου πέμπει πάτηρ (‚Ich zähle auf Apoll, und Hilfen schickt der Vater aus dem Grab‘; Übersetzung frei nach Aischylos, Die Orestie. In einer Neuübersetzung von Kurt Steinmann, Stuttgart 2016, S. 154). 263 Sophokles, Oidipus auf Kolonos, Verse 1091–1095. Die appositive Verwendung von singularischem ἀρωγή als Apposition findet sich schon bei Aischylos, vgl. Agamemnon Verse 45–46: στόλον Ἀργείων χιλιοναύτην / τῆσδ’ ἀπὸ χώρας ἦραν, σ τ ρ α τ ι ῶ τ ι ν ἀ ρ ω γ ή ν (‚Der Griechen Flotte, tausend Schiffe an Zahl, / aus diesem Land / ließen sie stechen in See: eine Hilfe im Krieg‘). Ebenda Verse 223–227: ἔτλα δ’ οὖν / θυτὴρ γενέσθαι θυγατρός, γ υ ν α ι κ ο π ο ί ν ω ν π ο λ έ μ ω ν ἀ ρ ω γ ὰ ν , / καὶ προτέλεια ναῶν. (‚Wie auch immer – er bracht’s über sich, / seiner Tochter Töter zu werden: eine Förderung der Kriegszüge, / die rächen sollten den Raub eines Weibes, / und ein Opfer für die Flotte, ehe sie abfuhr‘); die Übersetzungen wieder frei nach Steinmann [Anm. 262], S. 9 und S. 15. 264 Empedokles Fr. 42 MP2 (DK 31 B 111), Vers 1. 265 Platon, Menexenos 238a und Nomoi 919c.
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Zitatfragment und Textkritik
Das für unser textkritisches Problem entscheidende Merkmal des von uns hergestellten Textes der beiden Verse 437b28–29 liegt darin, dass das am Anfang von 437b29 von P/EMY überlieferte feminine Relativpronomen mit der ihm unmittelbar vorangehenden femininen Apposition ἀρωγάς kongruiert, nicht mit deren maskulinem Beziehungswort λαμπτῆρας. Als Parallele hierzu lässt sich eine Stelle aus dem hellenistischen Lehrgedicht Theriaka des Nikander von Kolophon (2. Jh. v. Chr.) anführen, das die Bisse und Stiche giftiger Tiere (wie z.B. Schlangen) und die dagegen anzuwendenden Heilmittel behandelt:266 520 521 522
ναὶ μὴν καὶ τρίσφυλλον ὀπάζεο, κ ν ω ψ ὶ ν ἀ ρ ω γ ή ν , ἠέ που ἐν τρήχοντι πάγωι ἢ ἀποσφάγι βήσσηι, τ ὴ ν ἤτοι μινυανθές, ὁ δὲ τριπέτηλον ἐνίσποι. Ja auch Erdbeerklee nimm mit, eine Abhilfe gegen Schlangen, sei es auf einem steinigen Hügel oder in einem abschüssigen Tal! Diese (fem., scil. Abhilfe) würde der eine Asphaltklee nennen, der andere Hornklee.
In Vers 520 steht das feminine ἀρωγήν (‚Abhilfe‘) in Apposition zum neutralen τρίσφυλλον (‚Erdbeerklee‘); gleichwohl wird in Vers 522 die Einführung der beiden (vermeintlichen) Alternativbezeichnungen μινυανθές (‚Asphaltklee‘) und τριπέτηλον (‚Hornklee‘) mit einem femininen Demonstrativpronomen eingeleitet, das sich auf die feminine Apposition ἀρωγήν zurückbezieht, nicht auf deren neutrales Beziehungswort τρίσφυλλον. Diese genaue Parallele zu unserem Text von 437b28–29 ist für uns umso wertvoller, als der Empedokleische Einfluss auf die angeführte Nikanderstelle schon an der einleitenden Partikelkombination ναὶ μήν abgelesen werden kann, die überhaupt erst von Empedokles – nämlich zur affektischen Belebung lehrhafter Aufzählungen – eingeführt worden ist.267 2.4.3.8 Ergebnis: Ein neuer Text und ein hypothetisches Stemma Es hat sich gezeigt, dass der Text des Laternengleichnisses in der Tat, wie oben unter 2.4.1 bereits angekündigt, nur mit Hilfe der sieben von Bekker verschmähten Lesungen des Vaticanus P und der mittellateinischen Übersetzung der zweiten Vershälfte von 438a1 in einer Art und Weise konstituiert werden kann, die sowohl der von Platon und Theophrast bezeugten Empedokleischen Theorie der Augenfunktion als auch der komplexen Form des epischen Gleichnisses entspricht. –
Das von P/EMY in 437b29 überlieferte, von Blass noch verschmähte feminine Relativpronomen (αἵ τ’) hat den Sachverhalt ans Licht gebracht, dass die Verderbnis des am Versende von 437b28 überlieferten maskulinen Attributs der Laternenwände (ἀμουργούς/ἀμοργούς) tiefer geht als gedacht: Überlieferungsgeschichtliche Plausibilität kann an dieser Stelle nur eine feminine Apposition beanspruchen, wie wir sie exempli gratia mit ἀρωγάς hergestellt haben.
266
Nikander, Theriaka 520–522. Zum Empedokleischen ναὶ μήν und zu seinem Fortleben in der hellenistischen und kaiserzeitlichen Lehrdichtung vgl. Martin/Primavesi [Anm. 2], S. 259.
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Dank der erstmals von Blass aufgenommenen P/EMY-Lesung in 437b30 (πῦρ) wird deutlich, dass die Korrespondenz zwischen ‚Wie-Teil‘ und ‚So-Teil‘ durch die Identität der hier wie dort, in 437b30 wie in 438a3, verwendeten Formel für die Auswärtsbewegung des Feuers (πῦρ δ᾽ ἔξω) unterstrichen wird. Dank den beiden P-Sonderlesungen in 437b30 (Zusatzvers) und 438a1 (χοάνηισιν) in Verbindung mit der Alexander/LSU/P-Lesung in 438a1 (ἐχεύατο) bzw. der dort aus der mittellateinischen Übersetzung des Gleichnisses zu erschließenden Lesung δι᾽ ἐχεύατο konnte wieder sichtbar gemacht werden, dass in diesem Gleichnis ein ‚So-Teil‘, in dem es um die Filterfunktion der feuerdurchlässigen Poren des Auges geht, durch einen ‚Wie-Teil‘ vorbereitet wird, der diese Filterfunktion mittels tönerner, durch feine mechanische Durchbohrungen feuerdurchlässig gemachter Laternenwände veranschaulicht. Das erste dieser beiden Resultate hatte bereits Friedrich Blass durch die Aufnahme des von P in 438a1 überlieferten Wortes für ‚Poren‘ (χοάνηισιν) in den Text erzielt, das zweite Resultat hingegen hatte er durch die Verquickung dieses Wortes mit dem von P in 437b30 überlieferten Zusatzvers und durch dessen willkürliche Versetzung in den ‚So-Teil‘ verstellt. Die von Blass noch verschmähte P/EMY-Lesung von 438a2 (ναέντος) zeigt, dass Empedokles diese Korrespondenz auch dadurch sinnfällig gemacht hat, dass er dem athematischen Durativ-Partizip ἀέντων des ‚Wie-Teils‘ (437b29) an der inhaltlich entsprechenden Stelle des ‚So-Teils‘ (438a2) das von ihm eigens neu gebildete athematische Durativ-Partizip ναέντος zur Seite gestellt hat. Dank der erstmals von Blass aufgenommenen Sonderlesung von P in 438a3 (διίεσκον), einem von Empedokles frei gebildeten epischen Iterativpräteritum, schließt der ‚Wie-Teil‘ mit einem syntaktisch vollständigen Satz.
In der Summe führen diese Verbesserungen auf folgenden Gleichnistext, dem wir im Sinne unserer These einen kritischen Apparat beigeben, der sich nur auf Bekkers sieben Handschriften, Alexanders Kommentar und auf die beiden aus der mittellateinischen Übersetzung partiell zu erschließenden griechischen Textformen Γ1 und Γ2 stützt: 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
ὡς δ᾽ ὅτε τις πρόοδον νοέων ὡπλίσσατο λύχνον χειμερίην διὰ νύκτα πυρὸς σέλας αἰθομένοιο ἅψας παντοίων ἀνέμων λαμπτῆρας ἀρωγάς, αἵ τ’ ἀνέμων μὲν πνεῦμα διασκιδνᾶσιν ἀέντων, πῦρ δ᾽ ἔξω | διαθρῶισκον ὅσον ταναώτερον ἦεν, δι᾽ ἄντα τετρήατο θεσπεσίηισιν, λάμπεσκεν κατὰ βηλὸν ἀτειρέσιν ἀκτίνεσσιν·― ὣς δὲ τότ᾽ ἐν μήνιγξιν ἐεργμένον ὠγύγιον πῦρ λεπτῆισιν χοάναις δι᾽ ἐχεύατο κύκλοπα κούρην· αἳ δ᾽ ὕδατος μὲν βένθος ἀπέστεγον ἀμφὶ ναέντος, πῦρ δ᾽ ἔξω διίεσκον, ὅσον ταναώτερον ἦεν.
437b26 437b27 437b28 437b29 437b30 437b30A 437b31 437b32 438a1 438a2 438a3
3 ἀρωγάς dedi (ἀρωγούς iam annotator Harvardianus) : ἀμοργούς (‚carpentes‘ / ‚detergentes‘, cf. Cratinus, fr. 221 K./A.) EMY vel (ἀμορ)β(ούς) (‚pedisequos‘) Es.l. vel ἀμουργούς (‚?‘) Al.c 23,18 et 20 P/LSU || 4 αἵ τ’ P/EMY : οἵ τ’ LSU || 5 πῦρ P/EMY, cf. Al.p 23,13– 14 (τοῦ δὲ πυρὸς τὸ λεπτότατον εἰς τὸ ἔξω διίησιν, ὅπερ ἐστὶ φῶς) : φῶς LSU/Γ1 | post ἔξω verba διάνταται τρείατο θεσπεσίησιν ὀθόνησιν inseruit P, i. e. δι᾽ ἄντα τετρήατο θεσπεσίηισιν (ita fere Blass), quae verba posteriorem partem versus olim sequentis servant || 6 hic sunt
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Zitatfragment und Textkritik restituenda verba δι᾽ ἄντα―θεσπεσίηισιν in P (post 5 ἔξω) servata | anteposui : Blass ut qui hunc versum perperam e contextu evulsum post v. 9 insereret || 8 ἐεργμένον P/LSU, cf. Al.p 23,14–15 (οὕτω, φησί, καὶ ἐν ταῖς μήνιγξιν κατειργόμενον) : ἐελμένον EMY | πῦρ ω Al.p 23,15 (ἐν ταῖς μήνιγξι καθειργόμενον τὸ πῦρ) : φῶς Al.c 34,16 || 9 λεπτῆισιν χοάναις metri causa dedi : λεπτῆσι χοανῆσιν (sic!) P : λεπτῆ(ι)σιν χθονίη(ι)σι EMY : λεπτῆσιν ὀθόνησιν Al.c 23,24/LSU/Γ1 (λεπτῆσιν γ᾽ ὀθόνησιν corr. Vat. gr. 266 : λεπτῇς εἰν ὀθόνῃσιν Panzerbieter : λεπτῆισιν ὀθόνηισι Diels 1901) | δι᾽ ἐχεύατο κύκλοπα κούρην Γ2 (diffunditur circulo per pupillam Lat.) : ἐχεύατο κύκλοπα κούρην P Al.c 23,24 LSU : λοχάζετο κύκλοπα κούρην EMY || post 9 v. 6 inseruit Blass || 10 ἀμφὶ ναέντος dedi : ἀμφὶ νάεντος EY vel ἀμφινάεντος P/SU : ἀμφὶ καέντος M : ἀμφινάοντος L || 11 διίεσκον P : διαθρῶσκον cett. ex 5 perperam repetiverunt; Alexander autem in huius participii vicem δίεισιν scripsit quod vertentes Guillelmus penetrat et Aristotelis interpres pervenit dederunt.
Doch wie wenn ein Mann, einen Ausgang planend, seine Laterne gerüstet hatte, den Glanz eines durch die Winternacht brennenden Feuers, |3| indem er (tönerne) Laternenwände montiert hatte als Abhilfen gegen Winde aller Art, |4| die zwar den Atem der wehenden Winde zerstreuen – |5| doch das Feuer, dort nach außen hindurchspringend gemäß seiner wachsenden Ausdehnung, |6| jene (Wände) mit wunderbar feinen geradeaus durchbohrt waren, |7| leuchtete auf die Stufe der Haustür hinunter mit unermüdlichen Strahlen, |8| genauso hat sich damals das (von Aphrodite) in den Membranen (des Auges) eingeschlossene urtümliche Feuer |9| ausgebreitet, indem es die ringförmige Iris vermittels der feinen Poren durchquerte: |10| Diese Poren aber hielten die Masse des rings herum strömenden Wassers ab (d.h. das Element der Dunkelwahrnehmung), |11| doch das Feuer ließen sie hindurch nach außen, gemäß seiner wachsenden Ausdehnung. |1| |2|
Erst mit diesem Wortlaut ist für das Laternengleichnis die durchgängige Entsprechung der Einzelzüge von ‚Wie-Teil‘ und ‚So-Teil‘ wiedergewonnen, die Walther Kranz als Wesensmerkmal der Empedokleischen Gleichnisse insgesamt erwiesen hat:268 – – –
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Die bereits abgeschlossene Montage der Laterne durch den Wanderer entspricht der bereits abgeschlossenen Konstruktion des Augen-Prototypen durch Aphrodite; das Wehen der Winde in der nächtlichen Umgebung korrespondiert auch klanglich dem Strömen des ‚Wassers‘ in der dunklen Umgebung der Augenprobe; die vom Wanderer mit Bedacht vor dem Aufbruch vorgenommene Erprobung der Laternenwände entspricht der von Aphrodite mit Bedacht vor dem Einbau des Auges in einen Organismus vorgenommenen Erprobung der Augenhülle; die Beleuchtung der Haustürstufe im nächtlichen Dunkel mittels des aus der Laterne austretenden Feuers entspricht der Ausscheidung des augeninternen Feuerüberschusses im Wege der Konzentrationsangleichung, die Aphrodite durch Verbringung des Auges in eine dunkle Umgebung gezielt herbeigeführt hat;
268 Kranz, Gleichnis [Anm. 247], S. 108: „Der Physiker dagegen, der die Natur in ihren Einrichtungen e rkl äre n will, verwendet dazu gerade als Analogon ein anderes Gebiet. Und er will nicht nur erklären, er will so greifbar reden, daß das Gleichnis etwas wie Beweiskraft erhält: wir haben hier ja die Vorstufe des Experiments. Gerade darum wird die traditionelle Weise, Gleichnis und umgebende Erzählung durch Wiederholung einzelner Worte einander anzuähneln, hier zu besonderer Kunst gesteigert. Zug um Zug soll sich entsprechen“.
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die zu prüfende Kombination von Feuerdurchlässigkeit und Winddichtigkeit der Laternen-Lichtlöcher entspricht der zu prüfenden Kombination von Feuerdurchlässigkeit und Wasserdichtigkeit der feuerformatigen Poren der Augenhülle.
Der unmittelbare Zweck der dem ‚So-Teil‘ zufolge erprobten Ausscheidung augeninternen Feuers besteht, wie wir sahen, einzig und allein im Abbau eines im Auge akkumulierten Feuerüberschusses, unbeschadet der Tatsache, dass dieser Vorgang nach erfolgtem Einbau des Auges in Lebewesen mittelbar, nämlich durch Aufhebung der inneren Blockade der Augenporen, auch der optischen Wahrnehmung dienen wird. Die Entscheidung dafür, im ‚So-Teil‘ die Erprobung gerade dieses Vorgangs zu beschreiben, hat ihren Grund offenbar darin, dass auch in diesem Vorgang ein Indiz für das Vorliegen selektiv durchlässiger Poren in der Augenhülle liegt, und dass gerade dieser Vorgang sich durch ein besonders einprägsames Gleichnis veranschaulichen lässt, nämlich durch das im ‚Wie-Teil‘ beschriebene nächtliche Leuchten einer Laterne, deren tönerne Wände mit feinen Löchern perforiert sind. Hinsichtlich der Überlieferung des Gleichnisses führt unsere Textkonstitution – unter der Voraussetzung einer geschlossenen Überlieferung, bei der die überlegenen P- bzw. Γ2-Lesungen nicht erst durch sekundäre Emendation aus einer Empedokles-Quelle in die Aristoteles-Überlieferung gelangt sind (vgl. oben 2.4.1) –, für die herangezogenen Zeugen auf folgende Überlieferungsverhältnisse. Alle diese Zeugen sind auf einen Archetypus ω zurückzuführen, – –
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der in 437b28 bereits das fehlerhafte maskuline Attribut der Laternenwände aufwies, sei es ἀμοργούς (EMY) oder die Variante ἀμουργούς (Alexander/LSU/P), dem durch den Sprung eines Schreibers von δια(θρῶισκον) nach δια(ντα) bereits der Schluss von 437b30 und der Anfang von 437b30A abhanden gekommen war; wobei aber der Schluss von 437b30 (διαθρῶισκον ὅσον ταναώτερον ἦεν) am Rande von ω nachgetragen war, in dem in 438a1 λεπτῆισιν χοάναις bereits zu λεπτῆισιν χοάνηισιν homogenisiert war, da allen drei an dieser Stelle überlieferten Lesarten des zweiten Wortes (χοανῆσιν P : χθονίη(ι)σι EMY : ὀθόνησιν Alexander/LSU/Γ1/P-Einschub in 437b30) die hier fehlerhafte lange Dativ-Plural-Endung -ηισιν gemeinsam ist. Die nach Eindringen des langendigen χοάνηισιν zu ἐχεύατο gekürzte originale Lesung δι᾽ ἐχεύατο (bzw. das δι᾽) war in ω marginal oder interlinear nachgetragen.
Der von uns (unter 2.4.3.1–3) geführte Nachweis der Korrektheit der drei PSonderlesungen impliziert zugleich, dass sowohl der EMY-Zweig als auch der Alexander/LSU/Γ1-Zweig der Überlieferung an den drei betreffenden Stellen fehlerhaft ist. Überdies impliziert insbesondere die zweimalige Übereinstimmung beider Zweige im Falschen (438a1: Θ statt Ο; 438a3: διαθρῶσκον statt διίεσκον), dass sie auf einen gemeinsamen Ahnherrn (im Folgenden: α) zurückgehen, über dessen Lesungen sich folgende Feststellungen und Vermutungen aufstellen lassen:
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In 437b30 hat α den im Archetypus ω noch am Rand nachgetragenen Schluss von 437b30 nicht, wie in P, als Ergänzung, sondern als Ersatz für den Schluss von 437b30A aufgefasst. In 438a1 war in α die (uns aus P bekannte) Lesart χοάνηισιν des Archetypus ω weiter verschlechtert, nämlich durch eine Verschreibung zu *χθάνηισιν und ein zur Korrektur oberhalb des falschen Θ, aber leicht nach rechts versetzt angebrachtes Ο, worauf offenbar sowohl χθονίη(ι)σιν (EMY) als auch ὀθόνησιν (Alexander/LSU) zurückgehen. In 438a3 war das uns aus P bekannte, aber schon von Alexander nicht mehr gelesene διίεσκον des Archetypus ω aufgrund mechanischer Wiederholung des ansonsten wortgleichen Verses 437b30 durch διαθρῶισκον verdrängt, wodurch sich Alexander zur freien Paraphrase mit δίεισιν bewogen fühlte.
Demnach ist bereits vor Alexander eine Zweispaltung der Überlieferung des Gleichnistextes eingetreten, auf deren einer Seite, als erster Hyparchetypus, der gemeinsame Ahnherr α des EMY-Zweiges und des Alexander/LSU/Γ1-Zweiges der Überlieferung stand, und auf deren anderer Seite, als zweiter Hyparchetypus (im Folgenden: β), der Ahnherr des Vaticanus P zu situieren ist. Über die Lesarten von β lassen sich folgende Feststellungen und Vermutungen aufstellen: – –
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Der Schluss von 437b30 war zwar im Text (wie in ω) durch den Schluss von 437b30A verdrängt, doch (wie in ω) marginal oder inlinear nachgetragen. In 438a1 bewahrte nur β (aus ω) die P-Lesung χοάνηισιν, und allein zu ihr stimmt inhaltlich die Restitution des originalen (schon in ω zu ἐχεύατο gekürzten) δι᾽ ἐχεύατο. Mithin dürfte auch der von der mittellateinischen Übersetzung vorausgesetzte Korrekturzusatz δι᾽ nicht aus der (einen LSU-Text bietenden) Hauptvorlage Γ1 dieser Übersetzung stammen, sondern über eine Zweitvorlage Γ2 auf die Quelle von P zurückgehen, d.h. auf β. In 438a3 stand die Lesung διίεσκον im Text.
Mithin führen wir nicht nur den Vaticanus P, sondern auch die aus der mittellateinischen Übersetzung zusätzlich zu erschließende Textform Γ2 auf den zweiten Hyparchetypus β zurück. Die α-Überlieferung spaltete sich weiter in zwei Zweige auf. Von diesen ist der EMY-Zweig durch folgende Fehler charakterisiert: 437b28 437b32 438a1 438a1
ἀμοργούς (‚die wegwischenden‘). ἐελμένον (‚zusammengedrängt‘). χθονίηισι (‚den unterirdischen‘). λοχάζετο (‚belauerte‘).
Der LSU/Γ1-Zweig hingegen weist folgende charakteristische Fehler auf, von denen einige sich bereits für Alexanders Vorlage nachweisen lassen: 437b28 437b29 437b30 438a1
ἀμουργούς (Alexander/LSU). οἵτ’ (pron. rel. masc. pl.) LSU (Alexanders Text nicht erschließbar). φῶς (‚Licht‘) LSU/Γ1 (gegen Alexander, der noch πῦρ las). ὀθόνησιν (‚mittels der Leintücher‘) Alexander/LSU/Γ1.
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Der Vaticanus P ist mit zwei Lesungen des Alexander/LSU/Γ1-Zweiges kontaminiert, die schon in der unmittelbaren Vorlage (*) von P vermerkt waren: 437b28 438a1
ἀμουργούς (Alexander/LSU/P). ὀθόνησιν (Alexander/LSU/Γ1/im P-Einschub bewahrte Variantenangabe).
Insgesamt lassen sich die Überlieferungsverhältnisse zwischen den herangezogenen Zeugen – unter der Voraussetzung einer geschlossenen Überlieferung, bei der die überlegenen P- bzw. Γ2-Lesarten nicht aus externer Kontamination durch eine Empedokles-Quelle stammen – am einfachsten durch das folgende Stemma veranschaulichen, wobei der Pfeil (→) lediglich die interne Kontamination der Vorlage * von P andeutet:
3. Unser hypothetisches Stemma zur Gleichnisüberlieferung und die Aristotelesforschung Of the whole collating project, the hardest part to carry out with complete success is probably the business of finding out what manuscripts there are. […] The quality of a manuscript can only be established by reading it. Martin West (1973) 3.1 Einführung. – 3.2 Die Stellung von Sens. in der Schriftenreihe zur Psychophysik. – 3.3 Die Mot. An.-Überlieferung und ihre Bedeutung für die Sens.-Überlieferung. – 3.4 Stand und Desiderate der Forschung zu unseren Zeugen für den zweiten Hyparchetypus. – 3.4.1 Der Vaticanus P in der Parva naturalia-Forschung. – 3.4.2 Wilhelm von Moerbeke als Erstübersetzer des Laternengleichnisses. – 3.4.3 Die späte Entdeckung des Berolinensis Be. – 3.4.3.1 Handschriftenheuristik: Das Inventaire von Wartelle. – 3.4.3.2 Zur Erforschung der Parva naturalia-Handschriften von Mugnier bis Isépy/Prapa. – 3.4.3.3 Die Probe aufs Exempel: Der Gleichnistext des Berolinensis Be. – 3.5 Schluss.
3.1 Einführung Die 11 Verse des Laternengleichnisses sind nur ein kleiner Ausschnitt aus De Sensu, und Bekkers sieben Handschriften, Alexanders Zitate und die von Thomas von Aquin benutzte mittellateinische Übersetzung sind quantitativ betrachtet nur ein relativ kleiner Teil der Sens.-Überlieferung. Zwar war Bekkers Spürsinn 530
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für das überlieferungsgeschichtliche Gewicht von Handschriften hoch entwickelt, so dass ihm ein unabhängiger Zweig der Aristotelesüberlieferung, abgesehen von bestimmten Sonderfällen, nicht leicht entging.269 Zudem dürfte inzwischen deutlich geworden sein, dass das Laternengleichnis ein herausragendes Beispiel für den von uns einleitend erwähnten Fall darstellt, in dem die Überlieferung eines Vorsokratikerzitats eine ungewöhnliche Häufung stemmatisch relevanter Fehler aufweist. Gleichwohl hängt das im zweiten Hauptteil unseres Beitrages entwickelte Bild der Überlieferungsverhältnisse samt Gleichnis-Stemma solange in der Luft, wie es nicht mit den einschlägigen Forschungsergebnissen zur Überlieferung der Parva naturalia konfrontiert wurde. Dabei muss es uns vor allem auf die Überprüfung unserer überlieferungsgeschichtlichen Hypothese ankommen, der zufolge sowohl die vom Vaticanus P gebotene Textform des Gleichnistextes – unbeschadet seiner leichten Kontamination mit LSU-Lesarten – als auch die mittellateinische Übersetzung der zweiten Hälfte von 438a1 nicht etwa auf eine nachträglich aus einer externen Empedokles-Quelle geschöpfte Emendation, sondern auf einen zweiten Hyparchetypus (β) der Sens.-Überlieferung zurückgeht, der nicht nur von den beiden Familien Freudenthals unabhängig ist, sondern sogar das gleiche Gewicht hat wie diese beiden, vom ersten Hyparchetypus (α) abstammenden Familien zusammen.270 Daraus ergeben sich folgende Fragen: –
Hat die Aristotelesforschung unabhängige Evidenzen für die Zurückführung von P (bzw. seiner Vorlage *) auf einen zweiten Hyparchetypus der De sensuÜberlieferung zutage gefördert?
269 Harlfinger [Anm. 183], S. 10 Anm. 4: „Man kann freilich, auf das gesamte Corpus des Stagiriten bezogen, Bekker nicht ein feines Gespür für die textkritisch wichtigsten aus der Masse der Handschriften absprechen“. Weiter geht Wilt Aden Schröder: Immanuel Bekker – der unermüdliche Herausgeber vornehmlich griechischer Texte, in: Die modernen Väter der Antike. Die Entwicklung der Altertumswissenschaften an Akademie und Universität im Berlin des 19. Jahrhunderts, hg. v. Annette M. Baertschi, Colin G. King, Berlin, New York 2009, S. 329–368, hier: S. 352: „Auch lässt sich feststellen, dass Bekker mit sicherem Griff, d.h. doch wohl aufgrund wie auch immer gearteter stemmatischer Überlegungen aus der großen Menge der von ihm eingesehenen Handschriften die entscheidenden ausgewählt hat“. Entgehen konnten ihm natürlich akephale Abschriften, d.h. solche, deren Anfang ausgefallen ist, wie der Metaphysik-Text des Cod. Vindob. phil. gr. 100 (J), der erst mit α 2, 994a6 (τοῦ ἀέρος) einsetzt bzw. der Poetik-Text des Cod. Riccardianus 46 (B), der erst von c. 3.1448a29 an (τινες αὐτά φασιν) erhalten ist. Das gleiche gilt für Handschriften aus kleinen oder entlegenen Sammlungen, die Bekker gar nicht berücksichtigt hat, wie für den Cod. Erlangensis Univ. Bibl. A 4 oder den Cod. Alexandrinus Bibl. Patriarch. 87. 270 Bei der im Folgenden vorzunehmenden Prüfung lassen wir das lateinisch überlieferte De sensu-Compendium des Ibn Rušd (Averrois Cordubensis compendia librorum Aristotelis qui parva naturalia vocantur, recensuit Aemilia Ledyard Shields, Adiuvante Henrico Blumberg, Cambridge, MA, 1949 [Corpus commentariorum Averrois in Aristotelem. Versionum latinarum vol. VII], S. 3–44) außer Betracht, weil Ibn Rušd in diesem Compendium das Empedokles-Zitat übergangen hat; vgl ebd. S. 33–37.
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Was wurde zum Urheber der von Thomas von Aquin verwendeten mittellateinischen De sensu-Übersetzung bzw. zur stemmatischen Stellung der vom Übersetzer verwendeten Vorlagen ermittelt? Sind im Zuge der Erweiterung unserer Handschriftenkenntnis weitere Nachfahren eines zweiten Hyparchetypus der De sensu-Überlieferung aufgetaucht, deren Sonderlesungen sich mit denen des Vaticanus P weitgehend decken?
Zur Beantwortung dieser Fragen ist zunächst das Untersuchungsfeld genauer abzustecken als bisher üblich. Die Schrift De sensu wurde bekanntlich nicht isoliert überliefert; sie bildet vielmehr mit anderen Aristotelischen Schriften die Überlieferungsgemeinschaft der sogenannten Parva naturalia. Doch die präzise Abgrenzung dieser Überlieferungsgemeinschaft hat man in der bisherigen Forschung zu De Sensu bzw. zum Gleichnistext in der Regel versäumt. Deshalb hat man nicht alle Schriften berücksichtigt, von deren Überlieferung Licht auf diejenige von Sens. fallen kann. 3.2 Die Stellung von Sens. in der Schriftenreihe zur Psychophysik Das Buch De sensu, in dem das Empedokleische Laternengleichnis zitiert wird, erscheint in den modernen Editionen als das erste Stück einer Gruppe von neun Aristotelischen Abhandlungen, die indessen erst Immanuel Bekker in seiner grundlegenden Aristoteles-Ausgabe (1831) zu einer zusammenhängenden Großschrift verbunden hat:271 (1) ‚De sensu‘ (Sens.). – (2) ‚De memoria‘ (Mem.). – (3) ‚De somno et vigilia‘ (Somn. Vig.). – (4) ‚De insomniis‘ (Insomn.). – (5) ‚De divinatione per somnum‘ (Div. Somn.). – (6) ‚De longitudine vitae‘ (Long.). – (7) ‚De iuventute et senectute‘ (Iuv.). – (8) ‚De vita et morte‘ (VM). – (9) ‚De respiratione‘ (Resp.).
Auf diese Zusammenstellung engt man seit dem 19. Jh. den scholastischen Obertitel Parva naturalia ein,272 ein Derivat der Bezeichnung parvi libri naturales, die Peter v. Auvergne um 1280 beim Paraphrasieren eines Abschnitts aus Thomas v. Aquin eingeführt hat.273 Doch war dieser sekundäre Obertitel zunächst keineswegs genau auf die soeben aufgeführten Aristotelica beschränkt, 271
Bekker [Anm. 80], S. 436–480. So noch in allerjüngster Zeit wieder Wolfram Brinker: Zur Einheit der Parva naturalia des Aristoteles, in: Aristoteles. Parva naturalia. Akten der 18. Tagung der Karl und Getrud Abel-Stiftung vom 30. September bis 2. Oktober 2015 in Mainz, hg. v. Jochen Althoff, Berlin, Boston 2021, S. 9–69. 273 Petrus de Alvernia, Quaest. in Sens. (ca. AD 1279–1284), Ms. Coll. Merton. 275, f. 205ra, Z. 44–48: Deinde applicat ipsa ad uiuencia, et hoc primo determinans illud quod est commune omnibus uiuentibus, sicut de anima et potenciis eius; deinde conparando partes anime ad organa determinando qualia uiuencia cuiusmodi debent habere organa. Prima consideracio datur libro De anima; secunda in p a r u i s l i b r i s n a t u r a l i b u s ; 3a in libro De animalibus. Wir datieren und zitieren nach Kevin White: St. Thomas Aquinas and The Prologue to Peter of Auvergne’s Quaestiones super De sensu et sensato, in: Documenti e studi sulla tradizione filosofica medievale, I, 2, 1990, S. 427–456, hier: S. 450–451 mit Anm. 49 und S. 455. 272
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sondern er konnte auch die Abhandlungen ‚De motu animalium‘ (Mot. An.) und ‚De incessu animalium‘ (Inc. An.) mitumfassen.274 Daran war die Einbeziehung von Mot. An. sogar genuin Aristotelisch, da sie genau dem umfassenden Forschungsprogramm entspricht, das Aristoteles im ersten Kapitel von Sens. aufgestellt hat. Dieses Programm lautet wie folgt:275 (I.) Die wichtigsten Funktionen der Lebewesen, seien sie nun Gemeinsamkeiten aller oder Eigentümlichkeiten einiger, sind offenkundig gemeinsame Funktionen von Seele und Körper, wie z.B. (a) Sinneswahrnehmung und (b) Gedächtnis und (c) Leidenschaft bzw. Begierde, d.h. allgemein die Strebung, sowie die mit diesen verbundene Lust- oder Schmerzempfindung; denn auch letztere sind gewissermaßen allen Lebewesen eigen. (II.) Hinzu kommen weitere Funktionen, die teils allen Wesen, die am Leben teilhaben, gemeinsam sind, teils einigen von ihnen. Die wichtigsten von diesen lassen sich praktischerwiese zu vier Paaren zusammenstellen: (d) Wachen und Schlafen, (e) Jugend und Alter, (f) Einatmen und Ausatmen, (g) Leben und Tod. Diese sind nun sowohl hinsichtlich ihres Begriffs zu untersuchen, als auch hinsichtlich der Ursachen, aufgrund derer sie auftreten.
Wie man sieht, gliedert Aristoteles die in seinem Forschungsplan aufgelisteten Lebensfunktionen in zwei Gruppen: Die Funktionen der I. Gruppe (a bis c) unterscheidet er durch ihre ausdrückliche Kennzeichnung als seelisch-körperliche, d.h. als psychophysische Funktionen von denen der II. Gruppe (d bis g), die er allein durch das bei der I. Gruppe auch vorliegende Merkmal ihres allen oder doch mehreren Arten von Lebewesen gemeinsamen Vorkommens charakterisiert. Vergleicht man dieses Forschungsprogramm mit Bekkers einleitend angeführter Zusammenstellung der sogenannten Parva naturalia, so bemerkt man neben einer globalen Entsprechung auch erhebliche Differenzen. Die globale Entspre274 Vgl. den Titel der 1523 in Venedig erschienenen Gesamtübersetzung des bedeutenden Aristotelikers Niccolò Leonico Tomeo (* Venedig 1456, † Padua 1531): ARISTOTELIS STAGIRITAE PARVA NATURALIA: De Sensu & sensili. De Memoria & reminiscentia. De Somno & uigilia. De Insomniis. De Diuinatione per somnia. De Animalium motione. De animalium incessu. De Extensione & breuitate vitæ. De Iuuentute & Senectute, Morte & Vita, & de Spiratione. Omnia in latinum conuersa & antiquorum more explicata. á. N. Leonico Thomæo. 275 Sens. 1, 436a6–15: Φαίνεται δὲ τὰ μέγιστα, καὶ τὰ κοινὰ καὶ τὰ ἴδια τῶν ζώιων, κ ο ι ν ὰ τ ῆ ς τ ε ψ υ χ ῆ ς ὄ ν τ α κ α ὶ τ ο ῦ σ ώ μ α τ ο ς , οἷον α ἴ σ θ η σ ι ς καὶ μ ν ή μ η καὶ θ υ μ ὸ ς κ α ὶ ἐ π ι θ υ μ ί α καὶ ὅ λ ω ς ὄ ρ ε ξ ι ς , καὶ πρὸς τούτοις ἡ δ ο ν ὴ κ α ὶ λ ύ π η · καὶ γὰρ ταῦτα σχεδὸν ὑπάρχει πᾶσι τοῖς ζώιοις. Πρὸς δὲ τούτοις τὰ μὲν πάντων ἐστὶ τῶν μετεχόντων ζωῆς κοινά, τὰ δὲ τῶν ζώιων ἐνίοις. Τυγχάνουσι δὲ τούτων τὰ μέγιστα τέτταρες οὖσαι συζυγίαι τὸν ἀριθμόν, οἷον ἐ γ ρ ή γ ο ρ σ ι ς κ α ὶ ὕ π ν ο ς , καὶ ν ε ό τ η ς κ α ὶ γ ῆ ρ α ς , καὶ ἀ ν α π ν ο ὴ κ α ὶ ἐ κ π ν ο ή , καὶ ζ ω ὴ κ α ὶ θ ά ν α τ ο ς · Περὶ ὧν θεωρητέον, τί τε ἕκαστον αὐτῶν, καὶ διὰ τίνας αἰτίας συμβαίνει. Hierzu und zum Folgenden vgl. die Ausführungen von Klaus Corcilius in: Aristoteles, De motu animalium. Über die Bewegung der Lebewesen. Historisch-kritische Edition des griechischen Textes und philologische Einleitung von Oliver Primavesi. Deutsche Übersetzung, philosophische Einleitung und erklärende Anmerkungen von Klaus Corcilius, Hamburg 2018 (korrigierte Lizenzausgabe Darmstadt 2019; im Folgenden: Primavesi/Corcilius), S. CLXXI–CLXXVI.
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chung liegt darin, dass die bei Bekker an 1. Stelle stehende Abhandlung De sensu der Sinneswahrnehmung (Aristoteles: Funktion a) gewidmet ist, die an 2. Stelle stehende Abhandlung De memoria dem Gedächtnis (Aristoteles: Funktion b), die an 7. Stelle stehende Abhandlung De iuventute et senectute der Jugend und dem Alter (Aristoteles: Funktion e), die an 8. Stelle stehende Abhandlung De vita et morte dem Leben und dem Tod (Aristoteles: Funktion g) und die an 9. Stelle stehende Abhandlung De respiratione der Ein- und Ausatmung (Aristoteles: Funktion f). Demgegenüber liegt eine erste wichtige Differenz darin, dass die bei Aristoteles die II. Gruppe eröffnende Funktion von Wachen und Schlafen (Aristoteles: Funktion d) der bei Bekker bereits an 3. Stelle stehenden Abhandlung De somno et vigilia entspricht: Damit ist dieses Thema bei Bekker in die I., ausdrücklich als psychophysisch charakterisierte Gruppe umgestellt, und zwar in einer um die Funktion des Traumes (4. De insomniis) und die Frage nach seinem Realitätsbezug (5. De divinatione per somnum) erweiterten Form. Die zweite wichtige Differenz liegt darin, dass die bei Aristoteles genannte Funktion (c) der Strebung (Leidenschaft/Begierde) und der damit verbundenen Lust- bzw. Schmerzempfindung sich in Bekkers Schriftenzusammenstellung überhaupt nicht unterbringen lässt. Die erste Differenz, d.h. die von Bekker dokumentierte Zuordnung der SchlafFunktion zur psychophysischen ersten Gruppe, findet ihre sachliche Rechtfertigung darin, dass die von Aristoteles offenbar erst bei der Durchführung des Forschungsplans vollzogene Verbindung der Schlaf-Funktion mit der TraumFunktion jener einen stärker psychophysischen Charakter verliehen und damit ihre Überweisung an die erste Gruppe nach sich gezogen hat. Hinsichtlich der zweiten Differenz hingegen läuft Bekkers Zusammenstellung den Intentionen des Aristoteles offenkundig zuwider. Zum einen spielen die Strebungsfunktion und die mit ihr zusammenhängenden Lust- bzw. Schmerzempfindungen (Aristoteles: Funktion c) in der Abhandlung De motu animalium eine zentrale Rolle, nämlich als seelische Ursachen der dort behandelten animalischen Selbstbewegung. Zum andern hat Aristoteles bereits in De anima festgestellt, dass das körperliche Organ, mittels dessen die seelische Strebung den Körper in Bewegung setzt – und damit kann er sich nur auf das im 7. und 10. Kapitel von De motu animalium behandelte angeborene Pneuma beziehen –, im Rahmen der psychophysischen Funktionen zu behandeln sein werde, d.h. im Rahmen der bei Aristoteles wie bei Bekker I. Schriftengruppe.276 Zum dritten blickt Aristoteles am Ende von De motu animalium auf die nunmehr abgehandelten Themen Sinneswahrnehmung, Schlaf, Gedächtnis und animalische Selbstbewegung als auf eine einheitliche Themengruppe zurück – eben auf die Gruppe
276 Aristoteles, An. III 10, 433b13–21: ὧι δὲ κινεῖ ὀργάνωι ἡ ὄρεξις, ἤδη τοῦτο σωματικόν ἐστιν· διὸ ἐ ν τ ο ῖ ς κ ο ι ν ο ῖ ς σ ώ μ α τ ο ς κ α ὶ ψ υ χ ῆ ς ἔ ρ γ ο ι ς θεωρητέον περὶ αὐτοῦ.
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der psychophysischen Lebensfunktionen.277 Aus diesen konvergierenden Indizien folgt, dass der I. (psychophysischen) Schriftengruppe von Bekkers Zusammenstellung noch die Abhandlung De motu animalium angefügt werden muss, wenn diese Zusammenstellung der von Aristoteles angekündigten wie der von ihm ausgeführten Gestalt des Forschungsprogramms entsprechen soll. Bekkers Ausschluss der Abhandlung De motu animalium aus der psychophysischen Schriftengruppe ist rückblickend umso problematischer, als dieser Ausschluss mit der inzwischen aufgearbeiteten und insoweit völlig eindeutigen Text- bzw. Überlieferungsgeschichte von Mot. An. unvereinbar ist. In der nur in arabischer Übersetzung erhaltenen Aristoteles-Werkliste eines kaiserzeitlichen Philologen namens Ptolemaios findet sich ein Abschnitt, der exakt unserem Corpus Aristotelicum korrespondiert, und dort verzeichnet Ptolemaios unter anderem eine Gruppe von drei Schriften: Über Wahrnehmung und das Wahrgenommene – Über Erinnerung und Schlaf – Über die Bewegung der Lebewesen.278 Während die erste Schrift unserem De sensu entspricht und die dritte unserem De motu animalium, handelt es sich bei der zweiten offenkundig um das Ergebnis einer editorischen Kombination von De memoria / De somno et vigilia / De insomniis / De divinatione per somnum zu einer größeren Abhandlung.279 Demnach folgte in der hier beschriebenen antiken Ausgabe unseres Corpus Aristotelicum auf die fünf Abhandlungen Sens. / Mem. / Somn. Vig. / Insomn. / Div. Somn. an sechster Stelle die Abhandlung De motu animalium. Diese Position von Mot. An. als Abschlussbuch der psychophysischen ersten Schriftengruppe war im Archetypus unserer mittelalterlichen Überlieferung bewahrt. Bezeichnet man die erste, der Psychophysik zugeordnete Gruppe der sogenannten Parva naturalia mit Marwan Rashed als PN1, und die zweite Gruppe als PN2,280 dann lässt sich der Zusammenhang, in dem Mot. An. überliefert ist, als eine feste Verbindung PN1—Mot. An. beschreiben:281 In dreizehn MA 11, 704b1–2: ἔτι δὲ καὶ περὶ αἰσθήσεως καὶ ὕπνου καὶ μνήμης καὶ τῆς κοινῆς κινήσεως εἰρήκαμεν τὰς αἰτίας. 278 Marwan Rashed (Hg.): Ptolémée « al-gharı¯b », Épître à Gallus sur la vie, le testament et les écrits d’Aristote, texte établi et traduit par M. R., Paris 2021, S. CLXII–CLXIII und Doppelseite 16, Titel Nr. 44–46. 279 Paul Moraux: Les listes anciennes des ouvrages d’Aristote, Louvain 1951, S. 296: „La dénomination περὶ μνήμης καὶ ὕπνου […] résulte de la fusion de plusieurs petits traités, les pièces 2 à 5, des Parva naturalia“. 280 Marwan Rashed: Agrégat de parties ou vinculum substantiale? Sur une hésitation conceptuelle et textuelle du corpus aristotélicien, in: Aristote et le mouvement des animaux. Dix études sur le De motu animalium, hg. v. André Laks, Marwan Rashed, Villeneuve d’Ascq 2004, S. 185–202, hier: S 191: „on commencera par distinguer dans les PN deux sous-ensembles PN1 et PN2, le premier regroupant les traités Sens., Mem., Somn. Vig., Insomn., Div. Somn., et le second les traités Long., Juv. et Respir.“ 281 Rashed ebd., S. 192: „Il est au contraire hors de doute que toute la tradition conservée remonte à un exemplaire où DMA suivait immédiatement Div. Somn.“ Die folgenden Angaben nach Primavesi/Corcilius [Anm. 275], S. LXV–LXVI. 277
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der insgesamt siebzehn erhaltenen unabhängigen Mot. An.-Handschriften folgt Mot. An. gleich auf PN1, und zwar achtmal in Mittelstellung zwischen beiden Gruppen der Parva naturalia, d.h. nach PN1 und vor PN2,282 und fünfmal in Handschriften, die zwar PN1 enthalten, aber nicht PN2.283 Demgegenüber sind nur vier unabhängige Handschriften erhalten, in denen es sich anders verhält.284 Da in allen Zweigen unserer Mot. An.-Überlieferung die Anordnung Sens. / Mem. / Somn. Vig. / Insomn. / Div. Somn. / Mot. An. vorherrscht, muss diese Anordnung auf den Archetypus dieser Überlieferung zurückgehen. Demnach ist die uns interessierende Abhandlung De sensu (Sens.) hinsichtlich ihrer Text- und Überlieferungsgeschichte zweckmäßigerweise weder isoliert, noch im Rahmen von Bekkers Parva naturalia-Zusammenstellung als ganzer zu betrachten; vielmehr hat sie als erste Abhandlung der Großschrift zur Psychophysik (PN1 + Mot. An.) zu gelten. Dieser Zusammenhang hat in den Forschungen zur Überlieferung der sogenannten Parva naturalia bzw. von De sensu lange Zeit nicht die gebührende Beachtung gefunden: Schon Jacob Freudenthal gab zwar im Titel seines Aufsatzes von 1869 das psychophysische Thema von Parva naturalia 1 korrekt wieder,285 aber einerseits stellte er undifferenziert die Gesamtheit von Bekkers Schriftenzusammenstellung unter dieses Thema, andererseits schloss er Mot. An. gegen die Sache und gegen die handschriftliche Überlieferung aus der Behandlung dieses Themas aus. Im Jahre 1898 hat Wilhelm Biehl in seiner Parva naturalia282 Fünf unabhängige Mot. An.-Handschriften – Ambrosianus H 50 sup. (X), Vaticanus gr. 253 (L), Marcianus gr. 214 (Ha), Mosquensis Sinod. 240/Vlad. 453 (Mo) und Vat. gr. 1339 (P) – weisen die Folge PN1 + Mot. An. + PN2 auf. Diese Folge wurde in zwei weiteren Handschriften – Berolinensis Phill. 1507/I (Be) und Laurentianus Plut. 81.1 (S) – durch Einschaltung der Schrift De generatione animalium nach der Gruppe PN1 + Mot. An. intern erweitert, was durch Mot. An. 11, 704b2–3 (Überleitung zu Gener. An.) motiviert ist. Nur in einer einzigen unabhängigen Mot. An.-Handschrift, im Vat. gr. 258 (N), sind zwischen PN1 + Mot. An. und Gener. An. + PN2 noch weitere naturphilosophische Traktate eingefügt, nämlich De generatione et corruptione, Meteorologica, De partibus animalium und De incessu animalium. 283 In drei dieser Handschriften, Parisinus gr. 1853 (E), Laurentianus Plut. 87.21 (Za) und Palatinus gr. 97 (Vp), folgt Mot. An. unmittelbar auf die vollständige Serie PN1, in den verbleibenden zwei, Parisinus gr. 1859 (b) und Berolinensis Phill. 1507/II (Bp), hingegen auf eine leicht unvollständige Fassung von PN1: Im Parisinus b findet sich die Folge Mem. / Somn. Vig. / Insomn. / Div. Somn. / Mot. An., während der Berolinensis Bp die Folge Somn. Vig. / Insomn. / Div. Somn. / Mot. An. überliefert. 284 Im Marcianus gr. 209 (Od) ist lediglich die Reihenfolge vertauscht, so dass Mot. An. unmittelbar vor PN1 zu stehen kommt, im Erlangensis Er folgt Mot. An. unmittelbar auf PN2, während im Laurentianus Plut. 87.4 (Ca) auf Sens. zunächst Mot. An. und dann PN2 folgt. Der Vaticanus gr. 1950 (Vg) schließlich enthält außer Mot. An. überhaupt kein Aristotelisches Werk. 285 Freudenthal [Anm. 190], „Zur Kritik und Exegese von Aristoteles’ πεϱὶ τῶν κοινῶν σώματος καὶ ψυχῆς ἔϱγων (parva naturalia).“ Was hier noch zurückhaltend in Klammern gesetzt ist, sollte 29 Jahre später bei Wilhelm Biehl zum Haupttitel mutieren.
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Ausgabe diesen scholastischen Pseudo-Werktitel vollends mit Bekkers defizienter Zusammenstellung verknüpft und damit den (teils zu weiten, teils zu engen) Rahmen der anschließenden Forschung zur Überlieferung von Sens. abgesteckt.286 Noch David Bloch geht in seinem 2008 vorgelegten Aufsatz zu den Überlieferungsverhältnissen von De sensu und De memoria nur sporadisch und unsystematisch auf Mot. An. ein.287 Umso nachdrücklicher ist nun auf die Tatsache hinzuweisen, dass gerade die Überlieferungsverhältnisse von Mot. An. für die Beurteilung der Gleichnisüberlieferung in Sens. von besonderer Bedeutung sind: Zwei spektakuläre Sonderlesungen des Vaticanus P in Mot. An. (700b23–24 und 700b35) hatte bereits Bekker in den Text aufgenommen, und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stellte sich heraus, dass auch der mittelalterliche Übersetzer Wilhelm von Moerbeke Zugang zu diesen beiden Sonderlesungen hatte: Diese Beobachtungen haben in jüngster Zeit eine weitgehende Neubewertung der Mot. An.-Überlieferung nach sich gezogen, die in Anbetracht ihrer großen Nähe zu unserem Stemma der Gleichnisüberlieferung in Sens. im Folgenden zu skizzieren ist. 3.3 Die Mot. An.-Überlieferung und ihre Bedeutung für die Sens.-Überlieferung Die weitaus meisten der insgesamt 47 Mot. An.-Handschriften288 weisen im 6. Kapitel dieser Abhandlung eine fatale Textlücke auf, wodurch sie ausgerechnet das tragende Fundament der gesamten, den Inhalt von Mot. An. bildenden Theorie animalischer Selbstbewegung289 eingebüßt haben, nämlich die Worte: „Erster Beweger (scil. der animalischen Selbstbewegung) ist das Strebungsobjekt“ (700b23–24: κινεῖ πρῶτον τὸ ὀρεκτόν). Unter den vier von Bekker zu seinem Mot. An.-Text herangezogenen griechischen Handschriften290 überliefert allein der uns interessierende Vaticanus P die zitierten, schlechthin unentbehrlichen Worte, die Bekker denn auch in den Text aufnahm; darin lag im Grunde bereits 286
Vgl. Wilhelm Biehl (Hg.): Aristotelis Parva naturalia, Leipzig 1898. David Bloch: The Text of Aristotle’s De Sensu and De Memoria, in: Revue d’histoire des textes, nouvelle série, t. III, 2008, S. 1–58 (im Folgenden: Bloch, Text), hier: S. 55. 288 Zusammengestellt von O. Primavesi in: Primavesi/Corcilius [Anm. 275], S. XXIII– XXXI. 289 Die maßgebliche monographische Darstellung dieser Theorie ist das Buch von Klaus Corcilius: Streben und Bewegen. Aristoteles’ Theorie der animalischen Ortsbewegung, Berlin, New York 2008. Vgl. auch seine ‚Philosophische Einleitung‘ in: Primavesi/Corcilius [Anm. 275], S. CXLV–CCXL. 290 Bekker [Anm. 80], S. 698–704 baute seinen Text von De motu animalium auf den folgenden vier Handschriften auf: Parisinus gr. 1853 (E) – Vaticanus gr. 261 (Y) – Laurentianus Plut. 81.1 (S). – Vaticanus gr. 1339 (P). Demnach war in seinem Text von den beiden durch Freudenthal [Anm. 190], S. 87–88 unterschiedenen Familien die erste durch EY vertreten, die zweite durch S, wozu dann noch P hinzukam. Demgemäß wies auch Werner Jaeger (Hg.): Aristotelis De animalium motione et De animalium incessu, Ps-Aristotelis De spiritu libellus, Leipzig 1913, S. IV die Handschriften EY der ersten und SP der zweiten Handschriftenklasse zu. 287
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ein unübersehbarer Hinweis auf die unabhängige Stellung von P bzw. der Quelle, aus der diese vier Worte bei ihm stammen. Als in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts erstmals moderne Lesetexte der um 1260 n. Chr. entstandenen mittellateinischen Mot. An.-Übersetzung Wilhelms von Moerbeke (ca. 1215– 1286) gedruckt wurden,291 kam überdies ans Licht, dass auch Wilhelms griechische Vorlage bzw. eine seiner Vorlagen die betreffenden Worte enthielt; er übersetzt an der betreffenden Stelle nämlich: „movet primum quod appetibile“.292 Daraus zog Martha Nussbaum in ihrer 1978 erschienenen Edition des griechischen Mot. An.-Textes den korrekten Schluss, dass der Vaticanus P ebenso wie Wilhelms mittellateinische Übersetzung, auch wenn beide jeweils auf einer Hauptvorlage beruhen, die auf den gemeinsamen Stammvater aller übrigen, von Nussbaum herangezogenen griechischen Mot. An.-Handschriften zurückgeht, an der betreffenden Stelle aus dem Text einer verlorenen, von jenem gemeinsamen Stammvater unabhängigen Quelle („independent source“) kontaminiert sind.293 In ihrem Stemma benannte Nussbaum diese Quelle als „Majuscule MS“ und machte zugleich deutlich, dass vollständige Abschriften des von jenem „Majuscule MS“ einst gebotenen Textes sich nach ihrer Meinung nicht erhalten haben.294 Indessen konnte Pieter De Leemans in seiner 2011 erschienenen kritischen Edition von Wilhelms Mot. An.-Übersetzung zeigen,295 dass diese Übersetzung auf zwei uns nicht erhaltenen griechischen Vorlagen beruht, nämlich einer Hauptvorlage Γ1 und einem im Laufe eines längeren Revisionsprozesses zunehmend stärker herangezogenen Korrektivexemplar Γ2. Insbesondere die entscheidende, auch in P überlieferte Lesart (700b23–24: κινεῖ πρῶτον τὸ ὀρεκτόν), die Nussbaum mit Recht auf einen von der sonst bekannten Überlieferung unabhängigen Überlieferungszweig zurückführte, hat Wilhelm nachweislich erst seinem griechischen Korrektivexemplar Γ2 entnommen. Vor allem aber hat De Leemans auf eine kleine, zuvor unbeachtete Gruppe von vier griechischen Mot. An.-Handschriften des 14. und 15. Jahrhunderts aufmerksam gemacht, die ebenfalls den korrekten Text von 700b23–24 bieten:296 291 Bernhard Geyer (Hg.): Alberti Magni Liber de principiis motus processivi. Ad fidem autographi, in: Sancti doctoris Ecclesiae Alberti Magni Opera omnia, Tomus XII, Münster 1955, S. 47–70 druckte Wilhelms Übersetzung in einem apparatus specialis zu seinem Albert-Text ab. Den nächsten Lesetext bot Luigi Torraca (Hg.): Aristotele, De motu animalium, Neapel 1958 (Collana di studi Greci XXX), S. 51–63. 292 Geyer [Anm. 291], S. 57,66; Torraca [Anm. 291], S. 58,8–9. 293 Martha Craven Nussbaum: Aristotle’s De Motu Animalium. Text with Translation, Commentary and Interpretative Essays, Princeton 1978, S. 16–17: „William of Moerbeke’s translation shares, with P, access to the independent source in 700b23–24“. 294 Nussbaum ebd., S. 17. 295 Pieter De Leemans (Hg.): De progressu animalium, De motu animalium, Translatio Guillelmi de Morbeka, Turnhout 2011 (Aristoteles Latinus XVII 2.ii–iii). 296 De Leemans ebd., S. CLXXXII und S. CCIV.
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Alexandria: Bibl. Patriarch. 87 (AD 1484–1485). – Berlin: Phillippicus 1507/Teil I (ca. 1440–1453). – Erlangen: Universitätsbibliothek A 4 (ca. 1440–1453). – Paris: Parisinus gr. 1859 (bald nach 1300).
Der von De Leemans an zweiter Stelle genannte Codex Berolinensis Phillippicus 1507, der für uns im Hinblick auf De sensu von besonderer Bedeutung ist, enthält in seinem ersten Teil (Sigle: Be)297 u.a. die vollständige Großschrift zur Psychophysik (PN1 + Mot. An.). Pieter De Leemans hat nun nachgewiesen, dass sein Text von Mot. An., ebenso wie derjenige der drei Handschriften aus Alexandria, Erlangen und Paris, dem Text von Wilhelms Korrektivexemplar Γ2 noch viel nähersteht als der Vaticanus P.298 Nun sah aber De Leemans in seiner im Frühjahr 2011 erschienenen Edition der Mot. An.- und Inc. An.-Übersetzungen Wilhelms von Moerbeke erklärtermaßen davon ab, die Stellung dieser neuen Handschriftengruppe im Stammbaum (stemma codicum) der griechischen Mot. An.-Überlieferung zu bestimmen.299 Dagegen haben wir im Sommer des gleichen Jahres im Anschluss an seine Forschungen die These begründet, dass der Mot. An.-Text von Wilhelms (uns nicht erhaltenem) Korrektivexemplar Γ2 ebenso wie der von De Leemans’ neuer Handschriftengruppe unmittelbar auf das von Nussbaum (1978) postulierte unabhängige ‚Majuscule MS‘ zurückgeht: Dieser Überlieferungszweig tritt der Gesamtheit der von Nussbaum herangezogenen Textzeugen gleichrangig gegenüber. Demgemäß haben wir damals Nussbaums vermeintlichen Archetypus, d.h. den jüngsten gemeinsamen Vorfahren der beiden von ihr unterschiedenen Handschriftenfamilien, zu einem von insgesamt zwei Hyparchetypi herabgestuft (α) und im Gegenzug den jüngsten gemeinsamen Vorfahren von De Leemans’ unabhängigem Überlieferungszweig zu einem neuen Hyparchetypus erhoben (β).300 297 Zum Aufbau der Handschrift im Ganzen vgl. Peter Isépy und Christina Prapa: Der Codex Berolinensis Phillippicus 1507: Nachfahre eines unabhängigen Zweiges der Aristoteles-Überlieferung? Eine kodikologisch-paläographische, stemmatische und textkritische Untersuchung am Beispiel von Aristoteles, Sens. und Mem., in: Revue d’histoire des textes, n. s. t. XIII, 2018, S. 1–58, hier: S. 16–28. 298 De Leemans [Anm. 295], S. CCXIV: „The survey of passages that were revised by Moerbeke has now shown that P appears to be less interesting for explaining Moerbeke’s revision than four other manuscripts, three of which are rather late“. 299 De Leemans ebd., S. CCXIV Anm. 214: „In the present context, it is not my intention to determine the place of these manuscripts in the stemma codicum.“ 300 Diese These haben wir am 21. Juli 2011 im Rahmen des Vortrags The Text of the De Motu Animalium auf dem in München abgehaltenen 19. Symposium Aristotelicum vorgestellt. Eine ausgearbeitete Fassung unserer damaligen Argumentation findet sich in unserer forschungsgeschichtlich angelegten Introduction Part II: The Text of De Motu Animalium in: Christof Rapp, Oliver Primavesi (Hg.): Aristotle’s De Motu Animalium (Symposium Aristotelicum), with a new critical edition of the Greek Text by Oliver Primavesi and an English Translation by Benjamin Morison, Oxford 2020, S. 67–156, hier: S. 103–122; vgl. auch unsere text- bzw. überlieferungsgeschichtlich angelegte ‚Philologische Einleitung‘ in: Primavesi/Corcilius [Anm. 275], S. XI–CXLIV.
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Aus dem Kreis der Zeugen für den Text des neuen Hyparchetypus β war von De Leemans’ vier Codices der Alexandrinus 87 (Tp) als Kopie des Parisinus gr. 1859 (b) zu eliminieren, während der Parisinus b selbst den neuen β-Text nur in kontaminierter Form bietet. Als reine und unabhängige β-Handschriften verbleiben demnach der Erlangensis Univ. Bibl. A 4 (Er) und der von uns bereits näher vorgestellte erste Teil (Be) des Berolinensis Phillippicus 1507; Er und Be wurden in der Hauptstadt Konstantinopel nicht lange vor deren Fall an die Türken (1453 n. Chr.) geschrieben. Vor dem Verdacht aber, dass es sich bei dem neuen β-Text um ein Produkt rinascimentaler Konjekturalkritik handeln könnte, ist diese Textform dadurch geschützt, dass ein Großteil ihrer charakteristischen Lesarten bereits in dem bald nach 1300 n. Chr. geschriebenen Parisinus b vorliegen, und dass Wilhelm von Moerbeke eine demselben Überlieferungszweig angehörige Handschrift als Korrektivexemplar für seine schon bald nach 1260 n. Chr. entstandene Mot. An.-Übersetzung benutzte. Da nunmehr im Falle von Mot. An. die Textform des zweiten Hyparchetypus (β) vollständig vorliegt, lässt sich auch die stemmatische Stellung der beiden uns im Hinblick auf Sens. besonderen interessierenden Mot. An.-Zeugen – des Vaticanus P und der Übersetzung Wilhelms von Moerbeke – genau bestimmen: Sowohl der von P gebotene Mot. An.-Text als auch Wilhelms Übersetzung gehören zwar im Kern in die Nachkommenschaft des ersten Hyparchetypus (α), des Näheren: in die zweite Familie (γ) des ersten Hyparchetypus, und damit in den Zweig, welcher in unserem Stemma der Gleichnisüberlieferung der von Freudenthal in PN1 als zweite Familie bezeichneten Gruppe LSU entspricht. Doch ist der Text von P in Mot. An. vor allem vom 6. Kapitel an mit wichtigen Lesungen des zweiten Hyparchetypus (β) der Mot. An.-Überlieferung kontaminiert; überdies lässt sich zeigen, dass diese Kontamination bereits seine Vorlage * traf.301 Deren Schreiber verfügte demnach seinerseits über zwei Vorlagen: eine γ-Handschrift und eine β-Handschrift, wobei er die γ-Handschrift durchweg als Hauptvorlage verwendete, während ihm die β-Handschrift vom 6. Kapitel an als Korrektivexemplar diente. Für die beiden Vorlagen von Wilhelms lateinischer Mot. An.-Übersetzung gilt Entsprechendes, wie Peter Isépy gezeigt hat: Wilhelms griechische Hauptvorlage Γ1 gehört in die zweite Familie 301 Vgl. hierzu unser Stemma am Schluss von Primavesi/Corcilius [Anm. 275] bzw. in Rapp/Primavesi [Anm. 300], S. 133. Die Erschließung der Vorlage * von P sei an einem Beispiel veranschaulicht: In Mot. An. 8, 702a29 lautet die zweifellos korrekte, von Berolinensis Be, Erlangensis Er, Parisinus b überlieferte und von Wilhelm bei den Revisionen seiner Übersetzung vorausgesetzte Lesart des Hyparchetypus β κινεῖ καὶ κινεῖται ‚er bewegt und er wird bewegt‘, während dies in den Handschriften des α-Zweiges (quasi durch Haplographie) fehlerhaft zu κινεῖται ‚er wird bewegt‘ halbiert ist. Doch im Vaticanus P steht vollständig, aber in falscher Reihenfolge κινεῖται καὶ κινεῖ ‚er wird bewegt und er bewegt‘. Demnach war zunächst, in der Vorlage von P, das aktivische, in α ausgefallene κινεῖ aus einer β-Handschrift am Rande nachgetragen, und P selbst hat es dann an falscher Stelle, nämlich nach κινεῖται statt davor, in den Text aufgenommen.
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(γ) des ersten Hyparchetypus (α), sein Korrektivexemplar Γ2 aber war ein Nachfahr des zweiten Hyparchetypus (β).302 Im Hinblick auf unser Stemma zur Überlieferung des in Sens. zitierten Laternengleichnisses ist aus der Überlieferung von Mot. An. noch eine Stelle im 7. Kapitel (701a24) dieser Abhandlung besonders hervorzuheben: Dort war die von Aristoteles geschriebene Fügung ΔΙΑΔΥΕΙΝΟΔΩΝ (διὰ δυεῖν ὁδῶν ‚mittels eines Paars von Wegen‘) schon im Archetypus ω durch einen einfachen Majuskelfehler (Ν → Π) zu ΔΙΑΔΥΕΙΠΟΔΩΝ (διαδυειποδων) entstellt, was marginal zu trivialem ΔΙΑΔΥΟΕΙΔΩΝ (διὰ δύο εἰδῶν ‚mittels zweier Arten‘) korrigiert wurde, wobei die Frage: ‚Arten von was?‘ offen bleibt. Die Fehlschreibung des ωHaupttextes hat der Schreiber der wichtigsten β-Handschrift Berolinensis Be, ohne nach links oder rechts zu schauen, mit seiner sinnlosen Schreibung διὰ δυ᾽ εἱ ποδῶν treu bewahrt; der Schreiber der ältesten α-Handschrift Parisinus E setzte offenbar zunächst ebenfalls zu διὰ δυειποδων an, korrigierte dann aber zu διὰ δύο εἰδῶν, während die verbleibenden β-Handschriften Erlangensis Er und Parisinus b ebenso wie alle übrigen α-Handschriften von vornherein das triviale διὰ δύο εἰδῶν aufweisen. Diese Streuung der Varianten lässt sich angesichts der sonst eindeutigen, wechselseitigen Unabhängigkeit von α und β schwerlich anders erklären denn mit der Annahme, dass in 701a24 beide Hyparchetypi α und β sowohl den Fehler im Haupttext als auch seine marginale Korrektur aus dem Archetypus ω übernommen hatten. Dieser Befund liefert eine Parallele zu unserer Annahme, dass im Text des in Sens. zitierten Laternengleichnisses die im Archetypus ω verzeichneten Varianten zu 437b30 (Zusatzvers 437b30A) und zu 438a1 (δι᾽ ἐχεύατο statt ἐχεύατο) in derselben Form auch noch im Hyparchetypus β gestanden haben und von dort aus teils dem Schreiber einer Vorlage des Vaticanus P, teils dem Übersetzer Wilhelm von Moerbeke bekannt wurden.303 Mit dem Gesagten ist gezeigt, dass es den von uns für das Gleichniszitat in Sens. postulierten zweiten Hyparchetypus (β) im Falle von Mot. An. tatsächlich gegeben hat und dass der früheste erhaltene Zeuge dafür die Übersetzung Wilhelms von Moerbeke ist, die bereits in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts – neben Lesarten der zweiten Familie (γ) des ersten Hyparchetypus (α) – auch solche des zweiten Hyparchetypus (β) überliefert; das gleiche gilt dann in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts auch für den Vaticanus P, dessen Vorlage * sowohl die Kenntnis von Lesarten der zweiten Familie (γ) des ersten Hyparchetypus (α) verrät als auch von solchen des zweiten Hyparchetypus (β). Der einzige Unterschied, der zwischen der Mot. An.-Überlieferung einerseits und unserem Bild der Überlieferung des Gleichnistextes in Sens. andererseits hinsichtlich der Stel302 Peter Isépy: Zur mittelalterlichen Überlieferung von Aristoteles’ De motu animalium. Die Bedeutung der Übersetzung Wilhelms von Moerbeke und der Paraphrase Alberts des Großen für die griechische Texttradition, Wiesbaden 2016 (Serta Graeca Bd. 31), S. 83– 125. 303 Vgl. oben unter Punkt 2.4.3.8.
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lung des Vaticanus P besteht, liegt darin, dass der Schreiber von dessen Vorlage * im Gleichnistext von Sens. die β-Handschrift als Hauptvorlage und die LSU(γ)-Handschrift als Korrektivexemplar benutzt haben muss, während er in Mot. An. genau umgekehrt verfuhr. Demgegenüber hat die in Mot. An. von Wilhelm hinzugezogene β-Handschrift Γ2 ebenso wie die in Sens. aus der mittellateinischen Übersetzung von Vers 438a1 zu erschließende weitere Textform (von uns ebenfalls Γ2 genannt) eine quantitativ nur subsidiäre, qualitativ aber desto wichtigere Rolle gespielt. Die strukturelle Entsprechung zwischen der Mot. An.-Überlieferung und unserem Stemma zur Überlieferung des Gleichnisses in Sens. legt nun die Arbeitshypothese nahe, dass die Überlieferungsverhältnisse der 6. Abhandlung (= Mot. An.) der Großschrift PN1 + Mot. An. prinzipiell den Überlieferungsverhältnissen ihrer ersten fünf Abhandlungen (= PN1) und insbesondere denen der 1. Abhandlung, De sensu, entsprechen. Indessen bleibt die Reichweite dieser Hypothese im Einzelfall zu prüfen. Die globale Überlieferungsgemeinschaft zwischen den sechs Büchern der Großschrift schließt nämlich offensichtlich nicht aus, dass die Schreiber einzelner Handschriften beim Übergang von einem Buch zum nächsten oder auch innerhalb eines Buches die Vorlage gewechselt haben: Wir haben ja bereits gesehen, dass die Vorlage * von P die beiden von ihr benutzten Texte – einen γ-Text und einen β-Text – im Verhältnis zueinander in Mot. An. diametral anders gewichtet hat als es, soweit der Gleichnistext einen Schluss zulässt, in Sens. der Fall war. Nun ist die Abhandlung De sensu, auf die es uns ankommt, nur in einer der drei unabhängigen griechischen Handschriften überliefert, die in Mot. An. den β-Zweig repräsentieren, nämlich im ersten, von uns mit De Leemans als Be bezeichneten Teil des Berolinensis Phillippicus 1507, wohingegen De sensu in den beiden verbleibenden unabhängigen β-Handschriften aus verschiedenen Gründen nicht enthalten ist: Der Parisinus b überliefert PN1 erst von De memoria an, und der Erlangensis Er überliefert PN1 gar nicht.304 Demnach sind die Leitfragen, die wir unter Punkt 3.1 zur Konfrontation unseres Stemmas der Gleichnisüberlieferung mit der Parva naturalia-Forschung formuliert haben, im Lichte der Neubewertung der De motu-Überlieferung wie folgt zu präzisieren: –
–
Bestätigt sich die für Mot. An. erwiesene partielle Zurückführung von P (bzw. seiner Vorlage *) auf einen zweiten Hyparchetypus auch im Fall von PN1 und insbesondere in De sensu? Lässt sich auch die mittellateinische Übersetzung des in Sens. überlieferten Gleichnistextes Wilhelm von Moerbeke zuschreiben?
304 Der Parisinus gr. 1859 (b) enthält die Schriften Mem. / Somn. Vig. / Insomn. / Div. Somn. / Mot. An.; hier folgt Mot. An. also auf eine unvollständige Version von PN1. Der Erlangensis UB A 4 (Er) enthält die Schriften Long. / Juv. / VM / Respir. / Mot. An.; hier folgt Mot. An. also auf eine vollständige Version von PN2.
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–
Bestätigt sich die für Mot. An. erwiesene partielle Unterstützung der Sonderlesungen von P durch diejenigen des Berolinensis Be auch in PN1 und insbesondere im Gleichnistext von De sensu?
Mit diesen Fragen wenden wir uns nun an die Forschung zur Überlieferung von Parva naturalia 1. 3.4 Stand und Desiderate der Forschung zu den Zeugen für den zweiten Hyparchetypus Es ist eine allbekannte Tatsache, dass die Aristotelesforschung durch die fünfbändige Aristotelesausgabe der Preußischen Akademie (1831–1870) und insbesondere durch die beiden ersten, Bekkers Textrezension enthaltenden Bände (1831) auf eine neue Grundlage gestellt wurde. Eine solche wissenschaftliche Pionierleistung konnte naturgemäß nicht sogleich in jeder Hinsicht vollkommen sein. So hat Bekker im De sensu-Text von den drei Zeugen, die dort bzw. im Gleichnistext aus heutiger Sicht – angesichts der Überlieferungsverhältnisse von Mot. An. – ganz oder teilweise auf einen zweiten Hyparchetypus zurückgehen können, nur den Vaticanus P herangezogen, während die mittellateinische Übersetzung und der Berolinensis Be in der Parva naturalia-Forschung erst nach Bekker Beachtung fanden. Die zu den drei Zeugen inzwischen vorliegenden Forschungsergebnisse sind nun auszuwerten. 3.4.1 Der Vaticanus P in der Parva naturalia-Forschung Immanuel Bekker hat in seinem kritischen Apparat den für unsere Konstitution des Gleichnistextes fundamentalen Codex Vaticanus gr. 1339 (P) lediglich für die 1. Abhandlung (De sensu) und für die 6. Abhandlung (De motu animalium) der Großschrift PN1 + Mot. An. sowie für PN2 berücksichtigt, nicht aber für die dazwischen stehenden PN1-Abhandlungen De memoria / De somno et vigilia / De insomniis / De divinatione per somnum, so dass sogar der Eindruck entstehen konnte, dass die letztgenannten vier Abhandlungen im Vaticanus P ausgelassen sind.305 Erst im Jahre 1900 hat Karl Eduard Bitterauf (1874–1940) in seiner Münchener Dissertation darauf hingewiesen, dass der Vaticanus P keineswegs nach dem Ende von De sensu abbricht, sondern vielmehr den vollständigen Text von PN1 enthält, und dass er mitunter allein mit der mittellateinischen Übersetzung
305 Isépy/Prapa [Anm. 297], S. 38 nehmen versehentlich an, dass Bekker mit der Dokumentation des Vaticanus P nur in De memoria aussetze und in den „übrigen Parva Naturalia“ seine Lesarten verzeichne; in Wahrheit verzeichnet er die P-Lesarten – abgesehen von De motu animalium – nur für De sensu und PN2. Die traurige, von Isépy/Prapa übersehene Wahrheit ist, dass der P-Text von De memoria / De somno et vigilia / De insomniis / De divinatione per somnum nicht nur von Bekker nicht dokumentiert wird, sondern auch Biehl und Mugnier vollständig unbekannt war, so dass deren Beurteilung des Vaticanus P auf ungleich schwächeren Füßen steht, als Isépy/Prapa ahnen.
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oder mit dem Parisinus E das Richtige teilt;306 an den von ihm kritisch behandelten Stellen hat Bitterauf jeweils auch die Lesart von P mitgeteilt. Im Anschluss an Bitterauf kollationierte zwar bereits Aurél Förster für seine 1942 erschienene Ausgabe von De sensu und De memoria die P-Lesungen auch für De memoria, doch der überhaupt erste Editor, der die P-Lesungen für die Gesamtheit von PN1 dokumentierte, war der schottische Philosoph Sir David Ross (1955). Deshalb können die vor Erscheinen der Ausgabe von Ross von Editoren wie Biehl, Förster und Mugnier geäußerten Meinungen zur stemmatischen Stellung des Vaticanus P in den Parva naturalia nur vorläufige Geltung beanspruchen, da sie auf einer ungleich schmaleren Materialbasis ruhen als das Urteil von Ross. Wilhelm Biehl,307 der 1898 die erste selbständige Parva naturalia-Edition seit Bekkers Akademieausgabe vorlegte,308 schrieb dem Vaticanus P aufgrund dessen von Bekker für Sens. verzeichneten Lesarten einen aus beiden Familien Freudenthals gemischten Text zu, der überdies durch Fehler und Interpolationen entstellt sei; wo er das Richtige habe, beruhe es nicht auf Überlieferung, sondern auf Konjektur.309 Diese Einschätzung spiegelt sich auch in Biehls Textgestaltung des Laternengleichnisses in Sens. wieder.310 Den von P im Text des Gleichnisses bewahrten zusätzlichen Teilvers hat er nicht einmal im kritischen Apparat erwähnt, und auch sonst hat er den Gleichnistext ohne Kenntnis der Miszelle von Blass311 konstituiert: Zwar übernimmt er gegen Bekker und unter irreführender Berufung auf Alexander die (bereits auf Theodor Bergk zurückgehende) Ersetzung von ἀμουργούς (Alexander/LSU/P) durch ἀμοργούς (EMY)
306 Karl Bitterauf: Quaestiunculae criticae ad Aristotelis Parva Naturalia pertinentes. Dissertatio inauguralis quam auctoritate atque consensu amplissimi philosophorum ordinis sectionis prioris Academiae Ludovico-Maximilianeae ad summos in philosophia honores capessendos scripsit Carolus Bitterauf Windsheimensis, München 1900, S. 4: „Tum igitur id quodque cognovi codicem P in pagina 449b3 non exire, sed parva naturalia omnia continere; quare a pagina 449b3 usque ad 464b18 primus excussi hunc codicem, qui quamquam non ita magni est, tamen nonullis locis emendationes et correctiones editorum recentium aetate praecurrit. habet enim 450a13: νοητικοῦ (= Biehl et vet. tr.) pro νοουμένου, 455a10: πάσαις (corr. Christ) pro πᾶσιν, 459b25: καθ᾽ αὑτὸ (= Them.) pro καθ᾽ αὑτὸν. Duobus autem locis lectionis, quam Biehlius in textum recepit, testis praeter codicem E etiam P est: 451b5 ἡ μνήμη et 460a29 πλησίων.“ 307 Wilhelm Biehl (*1826 Weidenhahn/Nassau, †1898 Graz) war k. k. Gymnasialdirektor (zuletzt von 1879–1886 am neugegründeten Elisabethgymnasium zu Wien) und erarbeitete seine Teubner-Ausgaben der Aristotelischen Schrift De anima und der Parva naturalia im Ruhestand, den er nach österreichischer Sitte in Graz verbrachte; vgl. Franz Strauch: Director Dr. Wilhelm Biehl †. in: XIV. Jahresbericht über das K. K. Elisabeth-Gymnasium in Wien für das Schuljahr 1898/99. Veröffentlicht von Dr. Franz Strauch, k. k. Director, Wien 1899, S. 13–16. 308 Biehl [Anm. 286]. 309 Biehl ebd., S. X. 310 Biehl ebd., S. 5. 311 Blass [Anm. 196].
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in Vers 437b26; in Vers 437b30 druckt er gemäß seiner allgemeinen Hochschätzung von Freudenthals erster Familie312 πῦρ (EMY/P) statt φῶς (LSU); doch im Übrigen entspricht sein Text dem von Bekker (1831) – abgesehen davon, dass er in Vers 437b32 (unter Berufung auf das quod der mittellateinischen Übersetzung) auf die verfehlte Getrenntschreibung von τότ᾽ als τό τ᾽ zurückfällt, auf die sich einst F. W. Sturz und S. Karsten kapriziert hatten313 und die schon von Bekker und erneut von Panzerbieter und Stein korrigiert worden war.314 Aurél Förster315 veröffentlichte 1942 seine Edition von Sens. und Mem.,316 in deren Apparat er die Lesungen des Vaticanus P erstmals auch für die Abhandlung Mem. mitteilt. Er sieht im Vaticanus P, wie einst Freudenthal, au fond einen Vertreter der zweiten Familie (von ihm b genannt), der freilich aufgrund seiner Kontamination mit Lesarten der ersten Familie (a) den Anschein eines Mischtextes erwecke.317 In klarem Widerspruch zu dieser allgemeinen Einschätzung steht nun aber sein Text des Laternengleichnisses, zu dem er schon im Jahre 1939 den problematischen, von uns bereits diskutierten Emendationsvorschlag zu Vers 438a1 (Änderung der EMY-Lesart λοχάζετο zu λοχεύσατο) beigesteuert hatte.318 Förster folgt nämlich im Gleichnistext im Wesentlichen dem auf der Miszelle von Friedrich Blass beruhenden Text von Hermann Diels, und er schließt sich sogar noch enger an die Vorschläge von Blass an, als Diels es getan hatte:319 Er setzte erstmals alle vier von Blass aufgenommenen P-Lesungen, nämlich neben den drei P-Sonderlesungen in ihrer Bearbeitung durch Blass
312 Biehl [Anm. 286], S. VII–IX gibt der ersten Familie (EMY) den Vorzug vor der zweiten (LSU), die nach seiner Meinung einen geglätteten Text bietet; er sieht aber auch, dass der Text der zweiten Familie des öfteren mit dem von Alexander zitierten übereinstimmt, und dass die Spaltung der Überlieferung, die sich in der Koexistenz der beiden Familien niedergeschlagen hat, bereits auf die Zeit vor Alexander zurückgeht. 313 Vgl. oben Anm. 138. 314 Vgl. oben Anm. 139. 315 Aurél Förster (*1876 Budapest, †1962 Budapest) war zunächst Ordinarius für Klassische Philologie an der K. Ungarischen Franz-Joseph-Universität Szegedin (deren Sitz von 1940 bis 1945 noch einmal an ihren siebenbürgischen Gründungsort Klausenburg zurückverlegt wurde) und dann von 1942 bis zu seiner Pensionierung 1947 Ordinarius für Alte Geschichte an der Universität Budapest; vgl. Peter Isépy: Biographisch-bibliographischer Artikel zu Aurél Förster, Commentaria in Aristotelem Graeca, Personen (https://cagbdb.bbaw.de/register/personen.xql?id=cagb:pd51cf284-4cb5-4f30-9a03-f62aaa758d00). 316 Förster, Edition [Anm. 201]. 317 Förster ebd., S. IX. 318 Hierzu vgl. oben Anm. 210. 319 Förster, Edition [Anm. 201], S. 69, ist der erste Sens.-Editor, der die Miszelle von Blass überhaupt erwähnt.
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auch πῦρ in Vers 437b30, in den Text.320 Doch eben deshalb ist sein Gleichnistext mit dem von ihm skizzierten Stemma, dem zufolge der Vaticanus P eine lediglich aus der ersten Familie kontaminierte Handschrift der zweiten Familie wäre, schlechterdings nicht zu vereinbaren: Bei Förster scheint das Empedokles-Zitat durch eine Art diplomatischer Immunität gegen die Frage nach der stemmatischen Einordnung seiner Textvarianten geschützt zu sein. Hendrik Joan Drossaart Lulofs321 wurde im Jahre 1943, also mitten im zweiten Weltkrieg, in Utrecht mit einer Ausgabe von De somno promoviert322 und gab in der unmittelbaren Nachkriegszeit auch De insomniis und De divinatione heraus (1947).323 In der Auswahl der als ständige Zeugen herangezogenen griechischen Handschriften geht er in De somno nur unwesentlich (Vaticanus gr. 258 [N] und Vaticanus gr. 266 [V]), in De insomniis und De divinatione überhaupt nicht über Bekker hinaus; doch während er in seiner De somno-Ausgabe den Vaticanus P nicht einmal erwähnt, zitiert er für De insomniis und De divinatione immerhin einige wenige von Bitterauf an ausgewählten Stellen mitgeteilte P-Lesungen. Das Hauptverdienst seiner Editionen liegt jedoch auf dem Gebiet der indirekten Überlieferung, wie wir noch sehen werden. Im Jahre 1953 legte der französische Gymnasiallehrer René Mugnier324 eine Edition der Parva naturalia vor,325 für welche seine 1937 und 1952 veröffent320 Förster ebd., S. 7, akzeptiert a) die EM/P-Lesart πῦρ in 437b30, b) den in 437b30 von P überlieferten zusätzlichen Teilvers, c) die in 438a1 von P überlieferte Bezeichnung der Augenporen (χοάναις) und d) das in 438a3 von P überlieferte Vollverb διίεσκον. Leider machte er sich darüber hinaus – wie vor ihm Hermann Diels – auch die problematische, von Blass durch Verquickung von b) und c) hergestellte Version des Zusatzverses und deren vollkommen willkürliche Verschiebung hinter 438a1 zu eigen. Zu loben ist hingegen, dass Förster in 437b32 mit Diels zu der korrekten Schreibung τότ᾽ (statt des unmöglichen τό τ᾽) zurückkehrte. 321 Hendrik Joan Drossaart Lulofs (*1906 Amersfoort, †1998 Delft) war von 1967 bis 1975 Professor für antike Philosophie an der Universität Amsterdam. 322 H. J. Drossaart Lulofs (Hg.): Aristotelis De somno et vigilia liber adiectis veteribus translationibus et Theodori Metochitae commentario (Diss. Utrecht 1943), Leiden 1943, S. XI–XXII [im Folgenden: Drossaart Lulofs, De somno]. 323 H. J. Drossaart Lulofs (Hg.): Aristotelis De insomniis et De divinatione per somnum. A New Edition of the Greek Text with the Latin Translations, 1. Preface, Greek Text, Leiden 1947 (Philosophia antiqua Volume II, 1). – H. J. Drossaart Lulofs (Hg.): Aristotelis De insomniis et De divinatione per somnum. A New Edition of the Greek Text with the Latin Translations, 2. Translations, Index verborum, Leiden 1947 (Philosophia antiqua Volume II, 2) [im Folgenden: Drossaart Lulofs, De insomniis et De divinatione]. 324 René Mugnier (1905–1972) verbrachte sein Berufsleben, abgesehen von einem siebenjährigen Aufenthalt in der Türkei, während dessen er auch an der Universität von Istanbul lehrte, als Gymnasiallehrer in Frankreich, zuletzt am Lycée von Rodez (okzitanisch: Rodés), wie aus den Gedenkworten von Raymond Weil hervorgeht: Allocution de M. Raymond Weil, Président de l’Association; in: Revue des Études Grecques, tome 86, fascicule 411–413, Juillet-décembre 1973, S. 27–34, hier: S. 27–28. 325 Aristote: Petits traités d’histoire naturelle. Texte établi et traduit par René Mugnier, Paris 1953 (im Folgenden: Mugnier, édition).
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lichten Studien zu den Parva naturalia-Handschriften326 weitgehend folgenlos blieben, weil er seinen Text letztlich, wie einst Biehl, allein auf Bekkers sieben ständige Zeugen aufbaut. Dabei geht seine Abhängigkeit von Bekker/Biehl so weit, dass er in seinem kritischen Apparat für die erste Familie durchweg die Lesarten von EMY angibt, obwohl er M und Y zuvor in direkter Linie auf den Parisinus E zurückgeführt hatte.327 Insbesondere den Vaticanus P zitiert er in seinem Apparat zu PN1 nur in dem bereits von Bekker und Biehl erfassten Umfang, d.h. nur zu De sensu: Offenbar hat er weder von der den Arbeiten von Bitterauf (1900) und Förster (1942) zu verdankenden Dokumentation zusätzlicher P-Lesarten Kenntnis genommen, noch hinreichende eigene Kollationen angefertigt. Mehr noch: Der vom Vaticanus P in 437b30 bewahrte zusätzliche Teilvers, den schon Bekker als P-Sonderlesung verzeichnet hatte, wird in Mugniers Apparat (wie in dem von Biehl) mit keinem Wort erwähnt. Dieses Zurückbleiben hinter dem Forschungsstand ist umso merkwürdiger, als Mugnier im Gegensatz zu Biehl (und Förster) ausdrücklich feststellt, dass sich der Vaticanus P weder einer der beiden Familien Freudenthals zuschreiben lasse noch der von ihm, Mugnier, selbst neu identifizierten „famille composite“ (in deren Text Lesungen der beiden ersten Familien gemischt sind), sondern dass P vielmehr eine für sich stehende Textform biete.328 Für die Konstitution des Gleichnistextes macht Mugnier weder seine These zur Sonderstellung von P in irgendeiner Weise fruchtbar, noch zieht er dazu die Miszelle von Blass (1883), die grundlegende Empedoklesedition in Diels’ Poetarum Philosophorum Fragmenta (bzw. in Diels’ darauf aufbauenden Fragmenten der Vorsokratiker) oder Försters Edition von 1942 heran;329 vielmehr entspricht sein Text des Gleichnisses nahezu durchweg dem von Biehl.330 Sogar 326 René Mugnier: Les manuscrits des « Parva Naturalia » d’Aristote, in: Mélanges offerts à A.-M. Desrousseaux par ses amis et ses élèves en l’honneur de sa cinquantième année d’enseignement supérieur (1887–1937), Paris 1937, S. 327–333 (im Folgenden: Mugnier, manuscrits), und Ders.: La filiation des manuscrits des „Parva Naturalia“ d’Aristote, in: Revue de philologie, de littérature et d’histoire anciennes, ser. 3: 23 = 78, 1952, S. 36–46 (im Folgenden: Mugnier, filiation). 327 Vgl. Mugnier, filiation [Anm. 326], S. 37–41 und besonders S. 41: „Mais, ce qui ressort de ce schéma, c’est que le manuscrit E est vraiment l’archétype de la famille EMY“. 328 Mugnier, manuscrits [Anm. 326], S. 332–333: „Enfin, deux manuscrits n’entrent pas dans ces trois familles et constituent chacun un texte à part, ce sont: le Vaticanus gr. 1339, P, et l’Oxoniensis collegii Corporis Christi CVIII, Z.“ Mugnier, filiation [Anm. 326], S. 37: „seuls, deux manuscrits, le Vaticanus gr. 1339 (P) du XIIIe siècle, et l’Oxoniensis collegii Corporis Christi CVIII (Z) du XIIe siècle, n’entrent pas dans ces familles.“ Mugnier, édition [Anm. 325], S. 16: „P, espèce d’intermédiaire entre nos deux familles, qui présente, dans certains cas, la meilleure leçon“. 329 Man vergleiche Mugnier, édition [Anm. 325], Doppelseite 25 mit Blass [Anm. 196], Diels 1901 [Anm. 5], S. 137–138 und Förster, Edition [Anm. 201], S. 7. 330 Man vergleiche Mugnier, édition [Anm. 325], Doppelseite 25 mit Biehl [Anm. 286], S. 5.
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die dubiose Getrenntschreibung von τότ᾽ als τό τ᾽ in 437b32 hat er bewahrt und an der einzigen Stelle, an der er von Biehl abweicht, nämlich in 437b29 mit der Aufnahme des femininen Relativs αἵ τ’ (EMY/P) anstelle des maskulinen οἵ τ’ (LSU), ist das Resultat, angesichts des von ihm unverändert beibehaltenen maskulinen Beziehungsworts λαμπτῆρας ἀμοργούς, syntaktisch ganz unhaltbar. Einen entscheidenden Fortschritt hinsichtlich der Beurteilung des Vaticanus P erbrachte die von dem oben bereits erwähnten schottischen Philosophen Sir David Ross331 1955 veröffentlichte kommentierte Parva naturalia-Ausgabe.332 Ross erweiterte nämlich durch eigene Kollationen die Kenntnis der Lesungen von P auf die gesamten Parva naturalia, und kam auf dieser stark erweiterten Grundlage zu dem Schluss, dass P von beiden Familien Freudenthals unabhängig sei;333 unter den hierfür von ihm zum Beleg angeführten Lesungen stammen zwei aus dem Laternengleichnis.334 Insbesondere die Textgestaltung des Gleichnistextes übernahm Ross telle quelle von Förster, und damit – neben dessen problematischer Konjektur λοχεύσατο in 438a1 – auch alle vier bereits von Blass in Spiel gebrachten P-Lesungen. Doch war bei Ross die Aufnahme von P-Sonderlesungen in den Text methodisch viel besser abgesichert als bei Blass, Diels und Förster, da Ross aus dem gesamten Text von PN1 Belege für die stemmatische Unabhängigkeit von P beigebracht hatte. Allerdings mochte er offenbar ebenso wenig wie Blass die Möglichkeit zugeben, dass P auch gegen beide Familien Freudenthals und Alexander das Richtige haben könne: Bei Divergenzen zwischen den beiden Familien solle, so Ross, in erster Linie das Votum Alexanders den Ausschlag geben335 und nur an Stellen, auf die Alexanders Kommentar
331 Sir William David Ross KBE FBA (*15.04.1877 Thurso/Schottland, †05. 05. 1971 Oxford), diente als White’s Professor of Moral Philosophy an der University of Oxford (1923–1928), Provost des Oriel College, Oxford (1929–1947), Präsident der British Academy (1936–1940) und Vice-Chancellor der University of Oxford (1941–1944). 332 Aristotle, Parva Naturalia, A Revised Text with Introduction and Commentary by Sir David Ross, Oxford 1955. 333 Ross ebd., S. 64–65: „we must consider whether P is genuinely independent of the two groups, and not merely picking and choosing between the readings of the two. This doubt seems to be set aside by noting passages in which P stands alone or almost alone in having the clearly right reading. […] P, then, is independent of both groups“. 334 Ross ebd., S. 64 führt für die Unabhängigkeit von P aus allen Parva naturalia insgesamt 11 Belege an; dabei handelt es sich in zwei Fällen um P-Sonderlesungen aus dem Laternengleichnis, nämlich um den zusätzlichen Teilvers in 437b30 und um das Iterativpräteritum διίεσκον in 438a3. 335 Ross ebd., S. 64: „What can be said is that the merits of the two groups are pretty evenly balanced, and that where they diverge and the intrinsic probabilities of the two readings are evenly balanced the support of Alexander for either group should dictate our choice“.
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kein Licht wirft, der Vaticanus P.336 Deshalb stellte es für Ross wie schon für Blass und Förster ein Problem dar, dass allein der Vaticanus P in Vers 438a1 des Gleichnisses gegen Alexander/LSU und gegen EMY den für das Gleichnis unentbehrlichen Begriff der „Poren“ (χοάναι) überliefert. Ross übernahm wie Förster auch die gewaltsame Lösung des Problems von Blass, der, wie wir sahen,337 zwar den Begriff χοάναι als authentisch akzeptierte, ihn aber aus dem Vers, in dem P ihn überliefert,338 herausriss und ihn stattdessen zur Auffüllung des von P in 437b30 zusätzlich überlieferten Teilverses benutzte.339 Der so zusammengestückte Text wird auch dadurch nicht plausibler, dass Gelehrte ersten Ranges wie Diels und Ross ihn übernommen haben. Die nächste und bis heute letzte Gesamtausgabe der Parva naturalia wurde 1963 von dem polnischen Jesuiten Paweł Siwek340 veröffentlicht,341 der zuvor, wie Mugnier, mit einigem Aufwand nach Handschriften geforscht hatte.342 Die auf Freudenthal zurückgehende Einteilung der Handschriften in zwei Familien scheint bei Siwek verwirrenderweise zunächst durch eine Einteilung in sieben „familles“ (α, β, γ, δ, ε, ζ, η) ersetzt zu sein, wobei er drei Handschriften immer noch keiner „famille“ zuordnen konnte, darunter der Vaticanus gr. 1339 (P).343 Doch in seiner Edition stellte Siwek dann klar, dass seine ersten fünf „familles“ (α β γ δ ε) zusammen eine einzige Klasse bilden („classis prima“), die Freudenthals zweiter Familie (LSU) entspricht (wenn auch in stark erweitertem Umfang), und dass seine beiden verbleibenden „familles“ (ζ η) zusammen ebenfalls eine einzige Klasse bilden („classis secunda“), die Freudenthals erster Familie 336 Ross ebd., S. 64–65: „What are we to do when Alexander throws no light on the situation? The suggestion naturally arises that P, which does not belong to either group, and which agrees better with Alexander than any other MS., may be taken as a sort of substitute for Alexander in helping us to choose between the readings of the rival groups. […] P, then, is independent of both groups, and its support may to some extent be used as a reason for preferring the reading of whichever group it agrees with“. 337 Zum Folgenden vgl. oben 2.4.2.4 und 2.4.3.2. 338 438a1 im Vaticanus P: λεπτῆσι χ ο α ν ῆ σ ι ν ἐχεύατο κύκλοπα κούρην. 339 Den von P in 437b30 zusätzlich überlieferten Worten δίαντα τετρήατο θεσπεσίῃσιν stellte Blass das aus der P-Version von 438a1 stammende Wort χοάνῃσιν und zusätzlich das Relativpronomen αἳ voran, und versetzte schließlich das Resultat (αἳ χοάνῃσιν δίαντα τετρήατο θεσπεσίῃσιν) an eine Position zwischen 438a1 und 438a2. 340 Paweł Siwek, SJ (*1893 Trojanowice bei Krakau, †1986 Rom) musste aufgrund seiner jüdischen Abstammung im Juni 1940 Rom verlassen und ging ins Exil nach Brasilien; er kehrte aber nach dem 2. Weltkrieg nach Rom zurück, lehrte dort von 1960 bis 1975 an der päpstlichen Lateranuniversität Philosophie und Psychologie und edierte neben den Parva naturalia auch die Schrift De anima, vgl.: Józef Bremer, Jacek Poznaíski: Philosophy and Psychology in the Service of the Catholic Faith: Paweł Siwek, SJ and His Legacy, in: Revista Portuguesa de Filosofia 76/4, 2020, S. 1297–1330. 341 Siwek, Edition [Anm. 93]. 342 Paweł (‚Paul‘) Siwek S. J.: Les Manuscrits grecs des Parva Naturalia d’Aristote. Préface de M. Augustin Mansion, Rom u.a. 1961 (im Folgenden: Siwek, Manuscrits). 343 Siwek, Manuscrits [Anm. 342], S. 25.
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(EMY) entspricht.344 Wenn Siwek also feststellt, dass er den Vaticanus P weder den „familles“ ζ η, noch den „familles“ α β γ δ ε zuordnen kann, dann besagt dies prinzipiell nichts anderes als die uns inzwischen schon gut bekannte Feststellung, dass P weder der ersten Familie Freudenthals (EMY) noch der zweiten Familie Freudenthals (LSU) zuzuordnen ist. Siweks Gleichnistext aber, den er offenbar ohne Kenntnis der Miszelle von Blass und unter nur marginaler Berücksichtigung der fundamentalen Empedoklesedition in Diels’ Poetarum Philosophorum Fragmenta (1901) konstituierte, läuft sämtlichen Einsichten zuwider, die die Forschung seit Bekker gewonnen hatte:345 So ließ er wie Mugnier die Anhaltspunkte ungenutzt, die die von beiden angenommene unabhängige Stellung des Vaticanus P für die Gestaltung des Gleichnistextes bietet. Der Vergleich der Beiträge von Mugnier und Siwek mit demjenigen von Ross führt auf ein paradoxes Resulat: Einerseits stimmen alle drei darin überein, dass sich der Vaticanus P keiner der beiden Familien Freudenthals zuordnen lasse. Andererseits ist ihre Einschätzung des Wertes der P-Lesarten jedenfalls im Gleichnistext diametral verschieden: Ross baut den Gleichnistext im Anschluss an Blass, Diels und Förster weitgehend auf den P-Lesarten auf, während Mugnier und Siwek die P-Lesarten geradezu ängstlich vermeiden. In ihren Augen scheint die einzig relevante Frage die zu sein, welcher der beiden Familien Freudenthals (EMY etc. oder LSU etc.) der Vorzug zu geben sei, während ihnen der Umstand, dass der Vaticanus P sich keiner der beiden Familien zuordnen lässt, nicht als potentiell vielversprechendes Indiz von Unabhängigkeit erschien, sondern als verdächtiger Defekt. Im Jahre 1990 wurde Ángel Escobar in Berlin mit einer Arbeit zur Überlieferung von De insomniis, d.h. der vierten Abhandlung der Großschrift PN1 + Mot. An. promoviert.346 Das beträchtliche, in bestimmter Hinsicht einzigartige Verdienst von Escobars Arbeit, auf das wir noch zurückkommen werden, liegt
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Siwek, Edition [Anm. 93], S. XVI mit den Anmerkungen 61 und 62. Siwek, Edition [Anm. 93], S. 10 ersetzt in 437b30 die korrekte EM/P-Lesart πῦρ wieder durch das falsche φῶς (LSU), ignoriert in 437b30 den von P überlieferten zusätzlichen Teilvers nicht nur im Text, sondern auch im Apparat, fällt in 437b32 wieder auf die verfehlte Getrenntschreibung τό τ᾽ zurück, verschmäht in 438a1 die von P überlieferte Bezeichnung der Augenporen (χοάναι), nimmt dort das von Förster, Empedocleum [Anm. 210], S. 103 als unhaltbar erwiesene λοχάζετο (EM) wieder in den Text auf und ersetzt das in 438a3 von P überlieferte, unentbehrliche Vollverb διίεσκον wieder durch das Partizip διαθρῷσκον. Das einzige Detail, das er dem Text von Diels zu entnehmen wusste, ist die Änderung des von LSU überlieferten λεπτῆσιν ὀθόνησιν zu λεπτῇσιν τ ̓ ὀθόνῃσιν, wodurch abgesehen von der metrischen Glättung die verfehlten ‚Leintücher‘ den im vorhergehenden Vers 437b32 erwähnten Membranen koordiniert werden. 346 Ángel Escobar: Die Textgeschichte der Aristotelischen Schrift ΠΕΡΙ ΕΝΥΠΝΙΩΝ. Ein Beitrag zur Überlieferungsgeschichte der Parva Naturalia. Inauguraldissertation zur Erlangung des Doktorgrades am Fachbereich Altertumswissenschaft der Freien Universität Berlin, Berlin 1990. 345
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auf dem Gebiet der Handschriftenheuristik, während seine Anwendung der von Paul Maas kodifizierten Methode einer fehlerbasierten Rekonstruktion von Überlieferungsverhältnissen durch den konzeptionellen Mangel beeinträchtigt wird, dass er unter „Fehler“ in mechanischer Weise einfach eine Abweichung von dem (von ihm aus gutem Grund als Kollationsgrundlage benutzten) Text Immanuel Bekkers versteht, und zwar auch auf den obersten Stufen der Überlieferung,347 statt sich über die Fehlerhaftigkeit der von ihm als Leitfehler betrachteten Lesungen ein eigenes Urteil zu bilden.348 Deshalb wird man bis zur Überprüfung des Sachverhalts durch den nächsten Parva naturalia-Editor die Frage offen lassen müssen, ob die Vorlage * des Vaticanus P in Insomn. wirklich, wie Escobar meint, von Hause aus in eine „famille composite“ (Mugnier) gehört, deren Text teils Lesarten der ersten Familie, teils solche der zweiten aufweist. Unbeschadet dessen ist es für uns aufschlussreich, dass nach Escobar die Vorlage * aus unabhängiger Quelle kontaminiert ist, so dass er insoweit schon genau zu demjenigen Ergebnis kommt, das auch die neuen Forschungen zur Überlieferung von Mot. An. gezeitigt haben. In die Jahre 2004 bis 2008 fallen schließlich die Arbeiten von David Bloch zu Überlieferung und Text von De sensu und De memoria.349 Während wir auf die methodischen Probleme von Blochs Handschriftenheuristik unter Punkt 3.4.3.2 eingehen werden, kommt es uns im gegenwärtigen Zusammenhang zunächst nur auf die stemmatische Stellung an, die er dem Vaticanus P zuweist.350 Blochs Stemma ist dreispaltig: Mitten zwischen den beiden zu erwartenden Hyparchetypi der ersten Familie (α, d.h. EMY etc.) und der zweiten Familie (β, d.h. LSU etc.) steht ein dritter Hyparchetypus, bei Bloch: γ, aus dem die Vorlage des Vaticanus P (bei Bloch: η), die Bloch primär auf seinen β-Zweig zurückführt, sekundär mit Sonderlesungen kontaminiert sei. Bloch will hiermit vor allem den von P in Vers 437b30 des Laternengleichnisses zusätzlich eingeschalteten Teilvers erklären, und er beruft sich dabei auf den Parallelfall in Mot. An. 6, 700b23–24, wo P eine korrekte, aus sekundärer Quelle stammende Lesung aufweist.351 Doch hat sich Bloch von der willkürlichen Amalgamierung und Transposition der P-Sonderlesungen in 437b30 und in 438a1 durch Friedrich Blass 347 Auf der Grundlage dieses Verständnisses von „Fehler“ müsste man sich bei den Parva naturalia im Allgemeinen und bei unserem Gleichnistext im Besonderen einfach mit dem Abdruck von Bekkers Text begnügen. 348 Vgl. hierzu unsere ausführliche Auseinandersetzung mit Escobars Arbeit in Rapp/ Primavesi [Anm. 300], S. 100–103 und S. 146–156. 349 David Bloch: Alexander of Aphrodisias as a Textual Witness. The Commentary on the De Sensu, in: Cahiers de l’Institut du Moyen-Âge grec et latin 74, 2003, S. 21–38. – Bloch, Manuscripts [Anm. 173]. – David Bloch: Aristotle on Memory and Recollection. Text, Translation, Interpretation, and Reception in Western Scholasticism, Leiden, Boston 2007 (im Folgenden: Bloch, Memory). – Bloch, Text [Anm. 287]. 350 Vgl. Bloch, Text [Anm. 287], S. 51–56 sowie das Stemma auf S. 58. 351 Bloch ebd., S. 54–55.
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über die stemmatischen Konsequenzen täuschen lassen, die aus dem in 438a1 vorliegenden Befund zu ziehen sind. Zum einen fand der Schreiber von P (Joasaph) in Vers 438a1352 die überlegene Sonderlesung χοάνησιν (‚Poren‘) offenkundig im Text seiner Vorlage und übernahm sie demgemäß in seinen Haupttext, während die abwegige LSU-Lesung ὀθόνησιν (‚Leintücher‘) dort nur sekundär als Variante vermerkt war, wie sich aus der von Joasaph vorgenommenen, verfehlten Anfügung dieses ὀθόνησιν an den Einschub des Verses 437b30 ergibt. Dieser Befund spricht entschieden gegen Blochs Annahme, derzufolge auch in De sensu die Vorlage des Vaticanus P primär eine Handschrift der zweiten Familie (Bloch: β) gewesen sei, die ihre aus der unabhängigen Quelle stammenden Sonderlesungen erst durch sekundäre Kontamination erhalten habe. In Wahrheit verhält es sich umgekehrt: In De sensu bietet P den mit Lesungen der zweiten Familie kontaminierten Text der unabhängigen Quelle, in Mot. An. und wohl auch schon in De insomniis hingegen einen mit Lesungen der unabhängigen Quelle kontaminierten Text der zweiten Familie. Zudem hat in Vers 438a1 nur die unabhängige Quelle der P-Sonderlesungen die prinzipiell korrekte (wenn auch bereits sekundär mit langer Endung versehene) Lesung χοάνησιν bewahrt, während wir sowohl die Lesart der ersten Familie (EMY), nämlich χθονίηισι, als auch die der zweiten Familie (LSU), nämlich ὀθόνησιν, auf einen gemeinsamen Ursprungsfehler zurückzuführen konnten, nämlich auf die Verschreibung des Ο von χοάνηισιν zu Θ.353 Demnach stimmen an dieser Stelle die Lesarten der ersten und der zweiten Familie in einem Fehler, nämlich in der Verlesung von Ο zu Θ, gegen die unabhängige Quelle der P-Sonderlesungen überein. Hierin liegt ein erstes Indiz gegen die von Bloch angenommene Dreispaltigkeit des Stemmas und für die Annahme eines zweispaltigen Stemmas, dessen einer Hyparchetypus, der gemeinsame Vorfahr der ersten und der zweiten Familie, als zweiten Buchstaben des fraglichen Wortes das falsche Θ aufwies, während der andere Hyparchetypus, d.h. die unabhängige Quelle der P-Sonderlesungen, als zweiten Buchstaben das richtige Ο bewahrt hatte. Die Bestätigung der Zweispaltigkeit des Stemmas liefert der Vers 438a3,354 in dem nur P das spezifisch epische, für die syntaktische Integrität des Aristotelischen Gleichniszitats unentbehrliche Iterativpräteritum διίεσκον bewahrt hat, während beide Familien Freudenthals, d.h. EMY (etc.) ebenso wie LSU (etc.), das Partizip διαθρῶσκον und damit einen gemeinsamen Fehler bieten, der jene syntaktische Integrität unterminiert und dessen sekundäre Entstehung durch mechanische Wiederholung des ansonsten identischen Verses 437b30 auf der Hand liegt. Es ist nicht nachzuvollziehen, dass Bloch sich hier allein unter Ver352 353 354
Vgl. hierzu oben Punkt 2.4.3.2. Dies haben wir oben unter Punkt 2.4.3.2 (am Ende) ausgeführt. Vgl. hierzu oben Punkt 2.4.3.3.
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weis auf den unhaltbaren Gleichnistext von Siwek355 und ohne Mitteilung eines sachlichen Grundes für die Lesung διαθρῶσκον ausspricht:356 Er wird doch wohl nicht meinen, dass dem Auge in einem von Aristoteles nicht mehr zitierten Schlussvers des ‚So-Teils‘ noch eine der Wirkung der Laterne im ‚Wie-Teil‘ vergleichbare Scheinwerferfunktion zugeschrieben wurde! Auch sonst kann Blochs eigener Gleichnistext durchaus nicht überzeugen;357 doch wollen wir auf diesem Punkt nicht weiter insistieren, da Bloch seinen De sensu-Text von 2004 ausdrücklich als vorläufig („preliminary“) bezeichnet. Unser Durchgang durch die Behandlung des Vaticanus P in der Forschung zu Parva naturalia 1 führt auf ein einfaches Fazit: Der Gang der Forschung hat den von Blass 1883 in seiner Miszelle zum Gleichnistext gewagten, auf die Lesungen des Vaticanus P gestützten Vorstoß insofern prinzipiell bestätigt, als diese Forschung unübersehbar durch die Tendenz zur Anerkennung der Unabhängigkeit des Vaticanus P von beiden Familien Freudenthals gekennzeichnet ist. Am klarsten hat diese Diagnose Sir David Ross ausgesprochen, der denn auch der erste Parva naturalia-Editor war, der sein Urteil über die Stellung des Vaticanus P auf Kollationen des P-Textes aller fünf Abhandlungen von PN1 stützen konnte. Allerdings lässt sich diese Unabhängigkeit des Vaticanus P stemmatisch auf zwei verschiedene Weisen konkretisieren: Die Quelle der P-Sonderlesungen kann entweder den beiden Stammvätern der zwei von Freudenthal unterschiedenen Familien als dritter von insgesamt drei Hyparchetypi zur Seite treten, oder dem gemeinsamen Stammvater beider Familien Freudenthals als zweiter von insgesamt zwei Hyparchetypi. Während David Bloch 2008 für das erste dieser beiden Modelle und damit für ein dreispaltiges Stemma optierte, scheint uns die Evidenz des Gleichnistextes eindeutig dafür zu sprechen, jedenfalls für De sensu das zweite Modell und damit ein zweispaltiges Stemma anzunehmen. Auf einem andern Blatt steht die Frage, in welchem Verhältnis die Vorlage des Vaticanus P jeweils zum zweiten Hyparchetypus einerseits und zur zweiten Familie des ersten Hyparchetypus andererseits steht. Hier hat die neuere Forschung zu De motu animalium gezeigt, dass in dieser Abhandlung die Vorlage 355
Vgl. hierzu oben Anm. 342. Bloch, Text [Anm. 287], S. 55, Anm. 172. 357 Bloch, Manuscripts [Anm. 173], S. 15 (Text) bzw. S. 54–55 (Apparat) kehrt in 437b28 wieder zu der vox nihili ἀμουργούς (Alexander/LSU/P) zurück, muss sich deshalb in 437b29 mit dem nach seinem eigenen Stemma minoritären maskulinen Relativum οἵ τ’ abfinden, verzeichnet in 437b30 den von P zusätzlich überlieferten, sachlich unentbehrlichen Teilvers 437b30A nur im Apparat, ohne ihn bei der Textgestaltung zu berücksichtigen, zieht in 438a1 die sinnlosen Leintücher (ὀθόνῃσιν) den sachlich unentbehrlichen Poren (χοάνῃσιν) vor, macht ebendort durch die Aufnahme von Försters unglücklicher Konjektur λοχεύσατο das Feuer zur Gebärerin des Auges, fällt in 438a2 wieder auf die absolut minoritäre lectio facilior ἀμφινάοντος zurück und bringt in 438a3 die syntaktische Integrität des Aristotelischen Gleichniszitats dem mechanisch aus 437b30 repetierten Partizip διαθρῶσκον zum Opfer. 356
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* von P einen Text der zweiten Familie (γ) des ersten Hyparchetypus bot, dem Lesarten des zweiten Hyparchetypus (β) als Varianten beigegeben waren; die Beobachtungen Ángel Escobars zu De insomniis weisen prinzipiell in die gleiche Richtung, auch wenn seine Annahme, dass es sich bei dem Grundtext der Vorlage von P um einen Mischtext beider Familien des ersten Hyparchetypus handelt, dringend überprüft werden muss. In De sensu hingegen spricht die Evidenz der Gleichnisüberlieferung eindeutig dafür, dass die Vorlage von P primär den Text des zweiten Hyparchetypus bot, dem Lesarten der zweiten Familie des ersten Hyparchetypus als Varianten beigegeben waren. Demnach hatte der Schreiber der Vorlage von P Zugang zu beiden Textformen, die er von Abhandlung zu Abhandlung bzw., wie im Fall von De motu animalium, sogar innerhalb ein und derselben Abhandlung unterschiedlich gewichten konnte. 3.4.2 Wilhelm von Moerbeke als Erstübersetzer des Laternengleichnisses Wir kommen zum zweiten unserer Zeugen für den von uns angenommenen zweiten Hyparchetypus der Gleichnis-Überlieferung, der mittellateinischen De sensu-Übersetzung, die Thomas v. Aquin seinem zwischen 1268 und 1270 entstandenen De sensu-Kommentar zugrunde gelegt hat.358 Diese Übersetzung haben wir oben zur Wiederherstellung des Verses 438a1 herangezogen und auf den Einfluss zweier griechischer Textformen Γ1 und Γ2 zurückgeführt,359 deren zweite in unserem Stemma der Gleichnisüberlieferung der Nachkommenschaft des zweiten Hyparchetypus zugewiesen ist.360 Nun entspricht diese Vermutung nach allem Anschein genau den von Pieter De Leemans und Peter Isépy für die mittellateinische De motu animalium-Übersetzung Wilhelms von Moerbeke nachgewiesenen Verhältnissen:361 Auch die Abhandlung Mot. An. hat Wilhelm ja übersetzt, ohne eine damals bereits vorliegende ältere, uns nur durch die Paraphrase Alberts des Großen bekannte Übersetzung heranzuziehen,362 so dass sich die aus Wilhelms Übersetzung erschließbaren Lesungen ohne Rest auf die beiden von ihm nach De Leemans benutzten griechischen Vorlagen zurückführen lassen, von denen Peter Isépy die erste (Γ1) der zweiten Familie (γ) des ersten Hyparchetypus (α) zugewiesen hat und die zweite (Γ2) der Nachkommenschaft des zweiten Hyparchetypus (β).363 Prüfen wir also, ob von diesen Verhältnissen auch im Falle der mittellateinischen De sensu-Übersetzung oder jedenfalls der dort enthaltenen Gleichnisübersetzung ausgegangen werden kann!
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Zur Datierung des Kommentars vgl. Gauthier [Anm. 232], S. 128*. Vgl. oben unter Punkt 2.4.3.2. 360 Vgl. oben unter Punkt 2.4.3.8. 361 Vgl. oben unter Punkt 3.3. 362 Vgl. Pieter De Leemans (Hg.): De motu animalium, Fragmenta Translationis anonymae, Turnhout 2011 (Aristoteles Latinus XVII 1.iii). 363 Vgl. Isépy [Anm. 302], S. 83–125. 359
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Wilhelm Biehl hat im Apparat seiner Parva naturalia-Edition von 1898 erstmals auch die von Thomas v. Aquin benutzte mittellateinische Übersetzung zitiert. Sie war ihm, was PN1 betrifft, durch den 1866 erschienenen Nachdruck von Thomas’ Kommentar zugänglich,364 in dem freilich der in den Quaestiones des Johannes Versor (1489)365 bzw. im Wiegendruck von Thomas’ Kommentar (1493)366 abgedruckte Text der Übersetzung, wie schon in den Vorgängerausgaben seit 1551, durch mancherlei gut gemeinte Änderungen überformt ist.367 Da in dem Nachdruck von 1866 neben der (überarbeiteten) mittellateinischen Übersetzung aus dem 13. Jahrhundert auch die 1523 erschienene Parva naturalia-Übersetzung des Niccolò Leonico Tomeo abgedruckt ist,368 bezeichnet Biehl die von Thomas benutzte mittellateinische Übersetzung mit einem gewissen Recht als „vetus translatio latina (vet. tr.)“ – er konnte ja noch nicht wissen, dass diese Übersetzung innerhalb der mittelalterlichen Aristoteles-Rezeption schon ihrerseits als „Translatio nova“ zu gelten hat, wie wir sogleich sehen werden. Doch bezüglich des Verses 438a1, für dessen Herstellung die mittellateinische Übersetzung von größter Bedeutung ist, hat Biehl die aus dieser Übersetzung zu erschließende Sonderlesart δι᾽ ἐχεύατο leider übersehen.369 Was nun die überlieferungsgeschichtliche Stellung und den bzw. die Verfasser der von Thomas benutzten mittellateinischen De sensu-Übersetzung betrifft, so handelt es sich dabei nach den Forschungen des polnischen Wissenschaftshistorikers Aleksander Ludwik Birkenmajer (1890–1967) um eine von Wilhelm von Moerbeke nach 1260 hergestellte Revision (= „Translatio nova“) einer älteren, bereits vor bzw. um 1200 entstandenen anonymen Übersetzung (= „Translatio vetus“):370 364
Thomas v. Aquin [Anm. 192]. Johannes Versor [Anm. 174]. 366 Thomas v. Aquin [Anm. 194]. 367 Einen Überblick über alle Editionen bzw. Nachdrucke von Thomas’ Kommentar von der editio princeps des Jahres 1493 bis 1949 gibt Gauthier [Anm. 232], S. 13*–17*; zu ihrer Filiation ebd. S. 38*–42*. Zur Umarbeitung der mittellateinischen Übersetzung in den späteren Drucken von Thomas’ Kommentar vgl. Gauthier [Anm. 232], S. 15* (über die Giuntina von 1551): „A partir de ce moment, la traduction d’Aristote qui accompagne le commentaire de saint Thomas n’est plus la vraie traduction […], et nombre d’érudits s’y sont trompés!“ 368 Vgl. oben Anm. 274. 369 Biehl rechnet die mittellateinische Übersetzung hier unpräzise den Zeugen für die Alexander/LSU/P-Lesart ἐχεύατο zu, was klarerweise auch nicht damit entschuldigt werden kann, dass Biehl nicht den originalen Wortlaut der mittellateinischen Übersetzung (Johannes Versor [Anm. 174], fol. iii recto: diffunditur circulo per pupillam) kannte, sondern nur dessen im Nachdruck des Thomas-Kommentars von 1866 (Thomas v. Aquin [Anm. 192], S. 152 oben, linke Spalte) reproduzierte, nachträglich dem griechischen Wortlaut angepasste Fassung: diffunditur per circularem pupillam. 370 Briefliche Mitteilung von A. Birkenmajer, hier zitiert nach dem Referat von Bernhard Geyer (Hg.): Friedrich Ueberwegs Grundriss der Geschichte der Philosophie, Zweiter Teil. Die patristische und scholastische Philosophie, Berlin 111928, S. 348. Ebenso Lacombe [Anm. 193], S. 59–61. 365
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Noch vor 1200 sind demnach folgende naturphilosophische Schriften des Aristoteles aus dem Griechischen übersetzt worden: 1. Physica mit einem Prolog: 1 a. De intelligentia Aristotelis. 2. De generatione et corruptione. 3. Meteora liber IV (Henricus Aristippus). 4. De anima. 5. De sensu et sensato. 6. De memoria et reminiscentia. 7. De somno et vigilia. 8. De morte et vita (= De longitudine et brevitate vitae). Alle diese acht Übersetzungen wurden schon früh zu einem Corpus vereinigt, das außerdem folgende oben erwähnte arabisch-lateinische Übersetzungen enthielt: De caelo et mundo, Meteora libri I–III, De differentia spiritus et animae, De plantis. Wilhelm von Moerbeke hat nach 1260 und wahrscheinlich zum Teil erst nach 1270 alle jene acht Übersetzungen revidiert; neu übersetzt hat er die ersten drei Bücher der Meteora und den Schluß von De morte et vita. Bei dieser Revision verfuhr er genau so wie bei der Revision der Translatio media der Metaphysik. Jedoch sind auch die nicht revidierten Texte noch längere Zeit im Umlauf geblieben.
Speziell hinsichtlich der Parva naturalia wurde Birkenmajers Grundsatzthese zunächst durch den grundlegenden Aufsatz von George Lacombe untermauert,371 sodann, insbesondere hinsichtlich der Autorschaft Wilhelms von Moerbeke an der Translatio nova, von Hendrik Joan Drossaart Lulofs;372 heute darf die These als communis opinio gelten.373 Vor allem hat Drossaart Lulofs das große Verdienst, im Rahmen seiner Ausgaben von De somno und De insomniis/De divinatione neben dem griechischen Aristotelestext erstmals auch beide mittellateinischen Übersetzungen – die Translatio vetus (Γ1) und Wilhelms Translatio nova (Γ2) – vollständig ediert zu haben.374 Im Fall von De sensu hingegen liegt zwar eine kritische Edition von Wilhelms Revision vor,375 doch die Publikation der im Rahmen des Aristoteles Latinus als Band XIII 1 angekündigten Edition der anonymen Translatio vetus steht noch aus.376 Angesichts der damit skizzierten Sachlage ist klar, dass sich die Peter Isépy zu verdankende überlieferungsgeschichtliche Einordnung der Mot. An.-Übersetzung Wilhelms von Moerbeke im Allgemeinen gerade nicht unbesehen auf 371 George Lacombe: Mediaeval Latin Versions of the Parva Naturalia, in: The New Scholasticism, Volume V, Number 4, October 1931, S. 289–311. 372 Drossaart Lulofs, De somno [Anm. 322], S. XI–XXII. 373 Jozef Brams: La riscoperta di Aristotele in Occidente, Mailand 2003, S. 63–67, hier: S. 66–67 (über die Translatio vetus), S. 69–79 (über die Formierung des Corpus vetustius von lat. Übersetzungen Aristotelischer Schriften) und S. 105–130, hier: S. 110 (über Wilhelms Translatio nova). 374 Drossaart Lulofs, De somno [Anm. 322] und Drossaart Lulofs, De insomniis et De divinatione [Anm. 323]. 375 Gauthier [Anm. 232] im Rahmen seiner kritischen Neuedition von Thomas’ Kommentar zu De sensu und De memoria. 376 Ein vorläufiger Lesetext der Translatio vetus von De sensu (L. Peeters) ist seit 2003 in der ersten Lieferung der Aristoteles Latinus Database (ALD1, ed. J. Brams, P. Tombeur, Turnhout [Brepols] 2003) zugänglich; seit 2017 auch bei Silvia Donati (Hg.): Alberti Magni ordinis fratrum praedicatorum de nutrimento et nutrito, De sensu et sensato cuius secundus liber est De memoria et reminiscentia, Münster i. W. (Alberti Magni opera omnia VII/1a).
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Wilhelms Translatio nova von De sensu übertragen lässt. Zwar ist es angesichts der Überlieferungsgemeinschaft von PN1 und Mot. An. durchaus wahrscheinlich, dass Wilhelm in beiden Fällen die gleichen griechischen Handschriften konsultiert hat. Aber anders als im Fall von Mot. An. hat Wilhelm im Fall von De sensu eine bereits vorliegende ältere Übersetzung lediglich revidiert, so dass seine Translatio nova Rückschlüsse auf seine eigenen griechischen Vorlagen überhaupt nur dort gestattet, wo er von der Translatio vetus abweicht.377 Speziell in dem uns interessierenden Fall von Wilhelms Wiedergabe des Laternengleichnisses ist diese Einschränkung indessen gegenstandslos. Bei einer Überprüfung der Translatio vetus von De sensu haben wir nämlich festgestellt, dass dort das Zitat des Laternengleichnisses einfach übersprungen wird: Empedoclea sunt, non vertuntur.378 Mithin handelt es sich speziell bei dem in Wilhelms Translatio nova enthaltenen lateinischen Text des Laternengleichnisses um eine veritable Erstübersetzung: Die in dieser Übersetzung vorliegende Verbindung von Lesarten aus zwei verschiedenen Zweigen der griechischen Überlieferung – der Familie LSU etc. und dem für uns von den Sonderlesungen des Vaticanus P repräsentierten Zweig – hat nichts mit der Differenz zwischen Translatio vetus einerseits und ihrer Revision durch Wilhelm andererseits zu tun, sie ist vielmehr – im Blick auf den Parallelfall der Mot. An.-Überlieferung – auf die Differenz zwischen zwei von Wilhelm selbst benutzten griechischen Vorlagen zurückzuführen. Da nun Wilhelms Übersetzung der zweiten Vershälfte von 438a1 (diffunditur … per pupillam) das von P/LSU dort gebotene ἐχεύατο … κούρην in einer Weise präzisiert, die inhaltlich nur zur P-Sonderlesung χοάνησιν stimmt, nicht aber zu ὀθόνησιν (LSU), beruht sie offenbar nicht auf Wilhelms mit LSU verwandter Hauptvorlage Γ1, sondern auf der als Zweitvorlage anzusprechenden Textform Γ2. Damit aber dürfte sie auf eine im zweiten Hyparchetypus der De sensu-Überlieferung beigeschriebene, authentische Variante zurückgehen, sei es die Wortfolge ΔΙΕΧΕΥΑΤΟ, sei es nur die fehlende Präposition ΔΙ. Umso mehr wird man in der Rückschau bedauern, dass Wilhelms Übersetzung der zweiten Hälfte von Vers 438a1 bisher von keinem Parva naturalia-Editor mit hinreichender Ausführlichkeit verzeichnet wurde: Nachdem Biehl die mittellateinische Übersetzung hier ohne Nachweisung der lateinischen Lesart einfach den Zeugen für die Alexander/LSU/P-Lesart ἐχεύατο zugerechnet hatte, vermerkten Mugnier, Förster und Ross in ihren Apparaten zu De sensu über377 Den wichtigen Unterschied zwischen Wilhelms Neuübersetzungen und seinen Revisionen dokumentiert Brams [Anm. 373], S. 109–110 in seinem Verzeichnis von Wilhelms Aristotelica: „L’elenco riportato qui di seguito […] fa una distinzione tipografica fra traduzioni e revisioni.“ Dieser Unterschied und seine stemmatischen Implikationen kommen bei Isépy/Prapa [Anm. 297], S. 41–42 mit Anm. 144 zu kurz. 378 Auf diesen Befund wurden wir zunächst bei der Prüfung des Codex Vaticanus Urbinas lat. 206, fol. 319v (letzte Zeile) aufmerksam, um ihn dann in der Aristoteles Latinus Database [Anm. 376] und bei Donati [Anm. 376], S. 46 und 48 bestätigt zu finden.
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haupt keine mittellateinischen Lesarten; Siwek verzeichnet zwar gelegentlich Lesarten der Translatio nova (auch wenn er sie fälschlich als Lesarten der „Antiqua translatio“ deklariert),379 aber nicht an unserer Stelle; Bloch schließlich schreibt der Translatio nova korrekt die Lesart diffunditur zu, doch den für Wilhelms Verständnis seiner griechischen Vorlage an dieser Stelle entscheidenden Zusatz der Präposition per lässt Bloch unter den Tisch fallen. 3.4.3 Die späte Entdeckung des Berolinensis Be Damit kommen wir abschließend zum dritten und letzten unserer Zeugen für den von uns angenommenen zweiten Hyparchetypus der Gleichnis-Überlieferung, dem Aristotelescodex Berolinensis Phillippicus 1507 (1. Teil) aus dem Besitz der Staatsbibliothek zu Berlin / Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Den von dieser Handschrift überlieferten Text der psychophysischen Großschrift PN1 + Mot. An. (d.h. Sens. / Mem. / Somn. Vig. / Insomn. / Div. Somn. / Mot. An.)380 haben wir im Jahre 2011 jedenfalls für Mot. An., wie erwähnt, auf einen zuvor von Martha Nussbaum lediglich postulierten zweiten Hyparchetypus zurückgeführt.381 Immanuel Bekker hatte von der Handschrift keine Kenntnis; sie befand sich nämlich seit 1824 in der englischen Privatsammlung von Sir Thomas Phillipps und gelangte erst im Jahre 1887, also 16 Jahre nach Bekkers Tod, in die Kgl. Bibliothek zu Berlin.382 Obwohl der Inhalt der Handschrift bereits 1890 in einem Berliner Handschriftenkatalog383 und dann wieder von André 379 Vgl. H. J. Drossaart Lulofs: Rezension von Siwek, Edition [Anm. 93], in: Mnemosyne, Fourth Series, Vol. 18, Fasc. 4, 1965, S. 425–427, hier: S. 425: „Mais ce qu’il cite comme Antiqua translatio dans De sensu et De memoria n’a rien à faire avec la translatio vetus. Au contraire, il s’agit de la version imprimée dans les commentaires de St. Thomas, c. à. d. de la translation Moerbékienne, considérablement remaniée par les éditeurs. En conséquence les citations de l’Antiqua translatio dans les deux premiers traités sont fausses.“ 380 Zur Überlieferungsgemeinschaft dieser Schriftengruppe vgl. oben Punkt 3.2. 381 Hierzu ausführlich oben Punkt 3.3. 382 Vgl. Valentin Rose: Verzeichniss der lateinischen Handschriften der Königlichen Bibliothek zu Berlin, Erster Band. Die Meerman-Handschriften des Sir Thomas Phillipps, Berlin 1893, Vorwort: „da erfolgte (im Sommer 1887) aus Sir Thomas Phillipps Schätzen (ursprünglich in Middlehill, jetzt in Cheltenham) die Erwerbung des einzigen gleichmässig wertvollen ihrer geschlossenen grösseren Teile, der Bibliotheca Meermanniana, für Berlin — 621 Hss. Zunächst vorläufig in der Kgl. Bibliothek aufbewahrt, wurde sie der Handschriften-Sammlung endgiltig einverleibt Ostern 1889.“ Zu Theodor Mommsens Schlüsselrolle bei der Erwerbung der Meerman-Handschriften vgl. Stefan Rebenich, Gisa Franke (Hg.): Theodor Mommsen und Friedrich Althoff. Briefwechsel 1882–1903, München 2012 (Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts 67), S. 252, Anm. 663 zu Brief Nr. 146 und ebd. S. 258, Brief Nr. 152 mit Anm. 689. 383 Wilhelm Studemund, Leopold Cohn: Verzeichniss der griechischen Handschriften der Königlichen Bibliothek zu Berlin I. Codices ex bibliotheca Meermanniana Phillippici Graeci nunc Berolinenses, Berlin 1890 (Die Handschriften-Verzeichnisse der Königlichen Bibliothek zu Berlin, Elfter Band). Der Codex Phillippicus 1507 ist auf S. 44 unter No. 103 verzeichnet.
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Wartelle in seinem sogleich näher vorzustellenden Inventaire von 1963 dokumentiert wurde,384 hat erst Ángel Escobar den Berolinensis im Jahre 1990 (!) in die Forschung zur psychophysischen Großschrift PN1 + Mot. An. eingeführt385 und erst im Jahre 2011 hat Pieter De Leemans umrisshaft seine Bedeutung erkannt,386 während David Bloch in seinen 2004 und 2008 veröffentlichten Arbeiten zur Überlieferung von De sensu und De memoria an dieser Handschrift erneut vorbeiging.387 Dieser Befund ist angesichts des Aufwandes, der seit 1937 bei der Erforschung der Überlieferungeschichte der Parva naturalia betrieben wurde, entschieden erklärungsbedürftig: Als Summe zufälliger, individueller Fehlleistungen lässt sich dies schwerlich abtun. Vielmehr gewinnt man den Eindruck, dass in der bisherigen Parva naturalia-Forschung ein grundsätzliches Methodenproblem hinsichtlich der Heuristik und Evaluation von Handschriften vorliegt, und dieses Methodenproblem wollen wir zunächst klären. 3.4.3.1 Handschriftenheuristik: Das Inventaire von Wartelle Die Geschichte der seit der grundlegenden Aristoteles-Edition von Immanuel Bekker (1831) unternommenen Forschungen zur Aristoteles-Überlieferung zerfällt hinsichtlich der Handschriftenheuristik in zwei Phasen: vor 1963 und nach 1963. Im Jahre 1963 veröffentlichte André Wartelle (1930–2001) nämlich sein handliches Inventaire von 2.271 auf über 160 Bibliotheken verteilten Aristoteles- bzw. Kommentatoren-Handschriften, das auf der Durcharbeitung hunderter von Handschriftensammlungs-Katalogen beruht.388 Während der Hauptteil des Inventaire einen nach Aufbewahrungsorten bzw. Bibliotheken geordneten Katalog der Handschriften bietet, findet sich im Anhang ein Index Aristotelis operum,389 der für jedes Aristotelische Werk auf diejenigen der im Hauptteil aufgelisteten Handschriften verweist, die das betreffende Werk enthalten. Vor dem Erscheinen von Wartelles Inventaire (1963) erstellte Handschriftenlisten zu einem Aristotelischen Werk bleiben von der erreichbaren Vollständigkeit in aller Regel weit entfernt: Bei ihrer Zusammenstellung berücksichtigte man primär die großen Bibliotheken (Florenz, Mailand, Oxford, Paris, Rom/Vatikan, 384 André Wartelle: Inventaire des manuscrits grecs d’Aristote et de ses commentateurs. Contribution à l’histoire du texte d’Aristote, Paris 1963, S. 19–20, Nr. 306. 385 Zum Berolinensis Phillippicus 1507 (1. Teil) als De insomniis-Handschrift vgl. Escobar [Anm. 346], S. 46 und S. 171–179. 386 Zum Berolinensis Phillippicus 1507 (1. Teil) als De motu animalium-Handschrift vgl. De Leemans [Anm. 295], S. CLXXXII und S. CCIV. 387 Vgl. Bloch, Manuscripts [Anm. 173], S. 7–11; Bloch, Text [Anm. 287], S. 1–3; Bloch, Memory [Anm. 349], S. 4–5. Bloch, Text [Anm. 287], S. 53, Anm. 164 zitiert immerhin eine Bemerkung Escobars über den Mosquensis Mo und den Schlussteil des Berolinensis 1507 (Be), doch nur zu dem Zweck, neben dem Vaticanus P selbst auch den ganzen Überlieferungszweig, dem er angehört, als korrupt abzutun. 388 Wartelle [Anm. 384]. 389 Wartelle ebd., S. 173–182.
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Venedig), deren Bestände Immanuel Bekker und Christian August Brandis zur Vorbereitung von Bekkers Textausgabe (1831) und Brandis’ Scholienausgabe (1834) gesichtet hatten, und erweiterte diesen Kreis gegebenenfalls um weitere als bedeutend bekannte Sammlungen wie die von Wien oder Madrid. Seit 1963 hingegen hat Wartelles Inventaire es den Aristotelesherausgebern ermöglicht – und damit zugleich zur wissenschaftlichen Pflicht gemacht –, mit vertretbarem Aufwand eine (nach menschlichem Ermessen) vollständige Handschriftenliste eines Aristotelischen Werkes zu erstellen. Nur ist dabei natürlich zu beachten, dass Wartelle die Angaben der Kataloge nur in wenigen Bibliotheken (Paris, Salamanca) in situ kontrollieren konnte, wie er selbst ausdrücklich hervorhebt.390 Deshalb sind seine Angaben zu Inhalt und Datierung der Handschriften grundsätzlich zu überprüfen: zunächst im Lichte der zum Inventaire seither publizierten Ergänzungen und Korrekturen,391 sodann am Original oder am Mikrofilm bzw. Digitalisat der Handschriften selbst. Hat man auf der Grundlage von Wartelle und der erwähnten Korrekturen und Ergänzungen eine Liste der Handschriften erstellt, die das zu edierende Aristotelische Werk enthalten, dann muss man entscheiden, welche der darin erfassten Handschriften man der Edition zugrunde legen und welche man ausschalten („eliminieren“) wird, wobei sich ein methodisches und ein unmethodisches Verfahren unterscheiden lässt. Das nach seiner Meinung einzig methodische Kriterium für die Elimination hat Paul Maas von den traditionellen, aber unmethodischen Kriterien wie folgt abgegrenzt:392 Es gibt überhaupt nicht ‚gute‘ und ‚schlechte‘ Zeugen, sondern nur abhängige und unabhängige, d.h. Zeugen, die von erhaltenen […] abhängig oder unabhängig sind. Das Alter eines Zeugen kommt nur insofern in Betracht, als der ältere nicht von dem jüngeren abhängen kann. 390
Wartelle ebd., S. II–III. Was den Inhalt der Handschriften betrifft, finden sich wichtige Korrekturen und Ergänzungen schon bei Dieter Harlfinger, Jürgen Wiesner: Die griechischen Handschriften des Aristoteles und seiner Kommentatoren. Ergänzungen und Berichtigungen zum Inventaire von A. Wartelle, in: Scriptorium XVIII, 1964, S. 238–257, sodann bei Harlfinger [Anm. 183], passim, ferner, für die Bibliotheken von Alexandria–London, in: Aristoteles Graecus. Die griechischen Manuskripte des Aristoteles untersucht und beschrieben von Paul Moraux, Leiter des Aristoteles-Archivs, Dieter Harlfinger, Diether Reinsch und Jürgen Wiesner, Band 1. Alexandrien – London, Berlin, New York 1976, und schließlich bei Roxane D. Argyropoulos, Iannis Caras: Inventaire des manuscrits grecs d’Aristote et des ses commentateurs. Supplément, Paris 1980. Diese Arbeiten bieten auch schon einige Korrekturen zur Datierung der Handschriften, die im Übrigen der Gegenstand einer regen, ständig verfeinerten paläographischen Forschung war und ist. 392 Paul Maas: Rückblick 1956, in: Ders.: Textkritik, Vierte Auflage, Leipzig 1960, S. 30–32, hier: S. 31. Einen differenzierten Überblick über die Wege und die Grenzen der Elimination bietet Michael D. Reeve: Eliminatio codicum descriptorum: A methodological problem, in: Editing Greek and Latin texts, hg. v. J.N. Grant, New York 1989, S. 1–35 (wiederabgedruckt in: M. D. Reeve: Manuscripts and Methods. Essays on Editing and Transmission, Edizioni di Storia e Letteratura, Roma 2011 [Storia e Letteratura 270], S. 145–174). 391
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Etwas pragmatischer gesprochen besteht das methodische Eliminationsverfahren darin, alle erhaltenen Handschriften zu prüfen und eine Handschrift nur dann von der editorischen Berücksichtigung auszuschließen, wenn sie aufgrund von hieb- und stichfesten Indizien als von einer erhaltenen Handschrift abhängig erwiesen wurde oder wenn sie von einer älteren erhaltenen Handschrift nur in textkritisch unbrauchbaren Lesarten abweicht. Das unmethodische Verfahren hingegen besteht darin, Handschriften ohne Prüfung ihres Verhältnisses zu älteren erhaltenen Handschriften aus irgendwelchen anderen Gründen zu eliminieren, z.B. aufgrund ihres zu jugendlichen Alters, oder weil sie einen ‚schlechten‘ Text bieten – oder schlicht und einfach deshalb, weil sie in der Vorgängeredition auch schon nicht berücksichtigt wurden. 3.4.3.2 Zur Erforschung der Parva naturalia-Handschriften von Mugnier bis Isépy/Prapa Im Jahre 1937 legte René Mugnier eine 50 Parva naturalia-Handschriften umfassende Liste vor;393 diese gründet sich auf die Bestände einer relativ kleinen Zahl bedeutender Bibliotheksorte, die neben den schon von Bekker und Brandis bereisten (Florenz, Mailand, Oxford, Paris, Rom/Vatikan, Venedig) nur zwei weitere umfasst, nämlich Madrid und Wien394 – aber z.B. nicht Alexandria, Berlin oder Erlangen. Von seinen 50 Handschriften395 hat Mugnier nach eigenem Bekunden 46 so weit kollationiert,396 dass er sie stemmatisch einordnen konnte; dabei ordnete er drei der 46 Handschriften wegen Vorlagenwechsels bewusst zweimal zu,397 woraus sich 49 Fälle ergaben: nämlich 13 Zuordnungen zur ersten Familie (EMY etc.), 27 Zuordnungen zur zweiten (LSU etc.), 7 Zuordnungen zu einer Mischklasse, die Lesarten beider Familien aufweist; und schließlich die Identifikation von 2 Handschriften, die er in keiner der beiden Familien unterbringen kann, nämlich des nur PN2 enthaltenden und deshalb für unsere Fragestellung irrelevanten Oxoniensis Corp. Christi 108 (Z) – und des Vaticanus P. Der geringen Zahl der von ihm berücksichtigten Handschriftensammlungen zum Trotz erhebt Mugnier den ebenso unberechtigten
393
Mugnier, manuscrits [Anm. 326]. Mugnier ebd., S. 327: „Nous trouvons ces divers traités dans cinquante manuscrits à Paris, à Oxford, à Rome, à Florence, à Milan, à Venise, à Vienne et à Madrid“. 395 Mugnier ebd., S. 330 muss unter Nr. 35 die Angabe ‚Ambrosianus A-164 sup.‘ zu ‚Ambrosianus A-174 sup.‘ korrigiert werden, und unter Nr. 41 die Angabe ‚Laurentianus LXXXII-4‘ zu ‚Laurentianus LXXXVII-4‘. 396 Unkollationiert blieben nach Mugnier ebd., S. 333 der Matritensis gr. XXII, der Ottobonianus gr. 76, der Ambrosianus gr. 435 (= H-50-sup., d.h. Nr. 39 von Mugniers Liste) und der Vaticanus gr. 1026. 397 Der Marcianus gr. 212 folgt nach Mugnier ebd., S. 332, Anm. 1–2 für PN1 der ersten Familie, doch für PN2 der zweiten; die Parisini suppl. gr. 332 und suppl. gr. 333 bieten nach Mugnier ebd., S. 332, Anm. 5–6 nur für Sens.—Mem.—Somn. Vig. den Text der ersten Familie, im übrigen aber (abgesehen vom gar nicht enthaltenen Insomn.) einen Mischtext. 394
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wie irreführenden Anspruch auf das Verdienst, die Geschichte aller (!) Parva naturalia-Handschriften erforscht zu haben:398 nous avons le mérite d’avoir fait l’histoire de tous les manuscrits des Parva naturalia.
Aurél Förster listet in seiner 1942 veröffentlichten Ausgabe von De sensu und De memoria einige von Mugnier nicht erwähnte Parva naturalia-Handschriften auf, darunter solche aus vier Bibliotheken, die weder bei Bekker noch bei Mugnier genannt werden: Bern, Bologna, München und Neapel399 – aber z.B. nicht die Parva naturalia-Handschriften der Patriarchatsbibliothek zu Alexandria, der Preußischen Staatsbibliothek zu Berlin oder des Staatlichen Historischen Museums zu Moskau. Paweł Siwek SJ nennt in seiner Abhandlung über die Parva naturalia-Handschriften (1961)400 die Sammlungen von Bern, [Escorial], Florenz, Istanbul, Madrid, Mailand, Modena, [München], Neapel, Oxford, Paris, Rom/Vatikan, Venedig und Wien;401 gegenüber Mugnier und Förster ist also einerseits die von Förster genannte Bibliothek von Bologna wieder weggefallen, andererseits sind die Bibliotheken des Escorial und von Istanbul und Modena hinzugekommen – aber z.B. die von Alexandria, Berlin, Brüssel, Erlangen, Moskau und New Haven (Yale University) fehlen immer noch.402 Zudem erklärt sich die auffällige Tatsache, dass Siwek, wie Mugnier, nicht mehr als 50 Handschriften auflistet, daraus, dass er von vornherein nur solche Handschriften in Augenschein genommen hat, die nach damaligem Kenntnisstand vor 1500 geschrieben wurden. Demnach ist sein denkwürdiger Satz403 Quant à nous, nous avons décidé, de soumettre à un examen minutieux tous les manuscrits grecs des Parva naturalia qui existent dans nos bibliothèques
gleich doppelt irreführend. Zum einen verdeckt nämlich die Angabe „dans nos bibliothèques“ die Tatsache, dass er durchaus nicht alle einschlägigen Hand-
398
Mugnier, édition [Anm. 325], S. 16. Förster [Anm. 201], S. XI–XII. 400 Siwek, Manuscrits [Anm. 342], S. 23–24. Diese Liste hat Siwek, Edition [Anm. 93], S. XVII–XVIII wiederholt. 401 Siwek, Manuscrits, S. 16: „Les manuscrits que nous avons étudiés se trouvent dans les villes suivantes: Rome, Florence, Venise, Milan, Naples, Modène, Paris, Oxford, Madrid, l’Escorial, Munich, Vienne (en Autriche), Berne (en Suisse), Constantinople“. Oben im Text haben wir diese Bibliotheksstandorte in alphabetische Reihenfolge gebracht und diejenigen unter ihnen, deren Handschrift bzw. Handschriften Siwek zwar gesichtet, aber nicht in seine Liste aufgenommen hat, in eckige Klammern gesetzt. 402 Die bei Wartelle [Anm. 384] dokumentierten Parva naturalia-Handschriften von Alexandria (Wartelle Nr. 2), Berlin (W. Nr. 326), Brüssel (W. Nr. 350), Erlangen (W. Nr. 426), Moskau (W. Nr. 1089) und New Haven / Yale (W. Nr. 1208) finden bei Siwek keinerlei Erwähnung. 403 Siwek, Manuscrits [Anm. 342], S. 16. 399
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schriftensammlungen erfasst hatte, wobei ihm zwar nicht diese Tatsache selbst anzukreiden ist (da er seine Abhandlung immer noch vor dem Erscheinen von Wartelles Inventaire 1963 veröffentlichte), wohl aber der Umstand, dass er über die Schwierigkeit vollständiger Erfassung der Handschriftensammlungen einfach mit einer aus der Luft gegriffenen Vollständigkeitsbehauptung hinweggegangen ist. Zum andern wird der von ihm durch Kursivierung hervorgehobene Allquantor in „tous les manuscrits grecs des Parva naturalia“ durch sein Eingeständnis der von ihm für die Auswahl zu sichtender Handschriften eingeführten zeitlichen Obergrenze gleich wieder dementiert.404 Das hier von ihm nach eigenem Bekunden gewählte Verfahren, im 16. Jahrhundert oder später entstandene Handschriften von jeglichem Studium von vornherein auszuschließen,405 war schon im Jahre 1961 und damit mehr als ein Vierteljahrhundert nach Erscheinen von Giorgio Pasqualis einschlägigem Standardwerk zu „Überlieferungsgeschichte und Textkritik“406 methodisch nicht mehr vertretbar: Worum es bei der Selektion von Handschriften gehen muss, ist nicht ihr Alter, sondern ihre Unabhängigkeit bzw. Abhängigkeit.407 Hinzu kommt natürlich die extreme Unzuverlässigkeit der traditionellen Datierung griechischer Handschriften, die hier nur an den von Siwek ohnehin übersehenen Parva naturalia-Handschriften aus Alexandria,408 Berlin409 und Moskau410 illustriert sei: Alle drei werden heute ins XV. Jahrhundert datiert,411 doch der uns interessierende Codex Phillippicus 1507 aus Berlin wurde früher ebenso wie der Codex 87 aus der Patriarchatsbibliothek zu Alexandria ins XVI. Jahr-
404 Siwek ebd., S. 16: „Ils [scil. les manuscrits] étaient au nombre de 50, et provenaient des différentes époques à partir du Xe siècle jusqu’au XVe inclusivement.“ 405 Siwek ebd., S. 16 Anm. 35: „Nous n’avons pas cru utile d’étudier les manuscrits plus récents.“ 406 Giorgio Pasquali: Storia della tradizione e critica del testo, Florenz 1934; wir benutzen den erweiterten Nachdruck Florenz 1952. 407 Vgl. Pasquali ebd., Kapitel IV (S. 41–108: „Recentiores, non deteriores“) und insbesondere seine Bemerkungen auf S. 45–49 über den möglichen Überlieferungswert von Handschriften des XVI. Jahrhunderts. Vgl. dazu auch Maas [Anm. 392]. 408 Alexandria, Patriarchatsbibliothek, Cod. 87, enthält u.a. sowohl PN1―Mot. An. als auch PN2. 409 Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Cod. Phillippicus 1507. Teil I der Handschrift enthält u.a. sowohl PN1―Mot. An. als auch PN2; Teil II bringt dann aus PN1 nochmals die Bücher Somn. Vig.—Insomn.—Div. Somn.—Mot. An. 410 Moskau, Staatl. Historisches Museum, Sinod 240 (= Vladimir 453), enthält PN1―Mot. An. und anschließend PN2. 411 Der Alexandriner Codex 87 wird heute auf 1484–85 datiert, der Teil I des Berliner Codex Phillippicus 1507 bereits auf ca. 1440–1453, sein Teil II auf ca. 1455, und der Moskauer Codex Sinod. 240 auf die Mitte des 15. Jahrhunderts oder kurz danach. Vgl. die Datierungen unserer Handschriftenliste in: Primavesi/Corcilius [Anm. 275], S. XXIII Nr. 1, Nr. 2 und Nr. 3, sowie S. XXV Nr. 17, jeweils mit weiterer Literatur.
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hundert gesetzt,412 die Handschrift Sinod. 240 des Moskauer Historischen Museums sogar ins XVII. Jahrhundert!413 Siwek hat also zum einen, entgegen seiner Vollständigkeitsbehauptung, keineswegs alle Handschriften überhaupt erfasst, und er hat diejenigen, die er erfasst hat, anhand eines methodisch haltlosen Alterskriteriums auch noch weiter dezimiert. Damit nicht genug: Die so zustande gekommene Liste hat er für seine Edition noch einer dritten Selektion unterzogen, indem er zur Erwähnung im kritischen Apparat diejenigen Handschriften auswählte, die ihm in seinen sieben „familles“ (α, β, γ, δ, ε, ζ, η) jeweils „eine wichtigere Rolle zu spielen scheinen“;414 dabei handelt es sich aufs Ganze gesehen um 18 Handschriften, denen er dann noch die drei nach seiner Meinung keiner „famille“ zuzuordnenden hinzufügt, was auf insgesamt 21 Handschriften führt. Die „wichtigere Rolle“ aber besteht nur in einem Fall in der Abhängigkeit aller verbleibenden Mitglieder der betreffenden „famille“; ansonsten bleibt dieses Kriterium zunächst vage. Sobald man indessen auf seine – bezeichnenderweise chronologisch geordnete – Handschriftenliste zurückblickt, wird klar, dass die nach seiner Meinung wichtigeren Familienmitglieder stets exakt diejenigen sind, die er früher als 1400 datiert. Im Ergebnis hat Siwek also unter den von ihm erfassten Handschriften alle diejenigen eliminiert, die nach seiner Meinung später als 1400 geschrieben wurden: Die vermeintlich später als 1500 geschriebenen hat er schon vorab und ohne jede Prüfung ausgesondert, hingegen hat er die vermeintlich zwischen 1400 und 1500 geschriebenen erst ausgeschlossen, nachdem er an ihnen eine gewisse Familienähnlichkeit mit einer seiner sieben „familles“ festgestellt hatte. Mit einer methodischen Eliminatio von als abhängig erwiesenen Handschriften415 hat Siweks Verfahren gleichwohl wenig zu tun. Die Erwartung, dass dieses unmethodische Vorgehen mit dem Erscheinen von Wartelles Inventaire im Jahre 1963 der Vergangenheit angehören würde, hat sich leider nur teilweise erfüllt. Für die Abhandlungen der psychophysischen Großschrift PN1―Mot. An. liegt ein Handschriftenverzeichnis, das aufgrund einer kritischen Benutzung von Wartelles Inventaire erstellt wurde und deshalb 412 Zum Alexandriner Codex 87 referiert Wartelle [Anm. 384], S. 1, Nr. 2 die Datierung „XVI. siècle“. Zum Berliner Codex Phillippicus 1507 referiert Wartelle ebd., S. 19, Nr. 306 die Datierung „XVI. siècle“. 413 Zum Moskauer Codex Sinod. 240 referiert Wartelle ebd., S. 79, Nr. 1089 die Datierung „XVII. siècle“. 414 Siwek, Edition [Anm. 93], S. XXI: potiores videntur habere partes. Diese 18 Handschriften sind in dem Siglenverzeichnis ebd., S. XXI durch Fettdruck hervorgehoben. 415 Vgl. Maas [Anm. 7], S. 6: „Zeigt ein Zeuge, J, alle Fehler eines andern erhaltenen, F, und noch mindestens einen eigenen, so muß J von F abstammen.“ Dazu Giorgio Pasquali: Rez. von P. Maas, Textkritik, in: Gnomon, 5. Bd., H. 8 (Aug., 1929) S. 417–435 und H. 9 (Sep., 1929), S. 498–521, hier: S. 419: „Das m u ß ist augenscheinlich falsch: dieser einzige Plusfehler kann zufällig sein. J k a n n von F abstammen; es ist aber mitnichten ausgeschlossen, daß sie von einer gemeinsamen Vorlage abstammen, die F getreu, J mit einem Fehler mehr kopiert hat.“
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Zitatfragment und Textkritik
naturgemäß u.a. auch den Berolinensis Phillippicus 1507 (I. Teil = Be) enthält, abgesehen von der insoweit bereits diskutierten 6. Abhandlung (Mot. An.)416 nur zur 4. Abhandlung (Insomn.) vor: Es ist das große Verdienst Ángel Escobars, in seiner Berliner Dissertation von 1990 den Berolinensis Be in die Parva naturalia-Forschung eingeführt und dabei auf die Nahbeziehung des Berolinensis zum Vaticanus P bereits ebenso hingewiesen zu haben wie auf die Schwierigkeit, den Berolinensis ins traditionelle, auf Freudenthal zurückgehende Parva naturalia-Stemma einzuordnen.417 David Blochs Studien zur Überlieferung der beiden ersten Abhandlungen (De sensu und De memoria) hingegen bezeichnen hinsichtlich der Handschriftenheuristik gegenüber der – von ihm zitierten – Arbeit von Escobar einen Rückschritt. Bloch hat nämlich weder auf der Grundlage von Wartelles Inventaire eine eigene Handschriftenliste erarbeitet noch auch nur Escobars Handschriftenliste ausgewertet, sondern sich vielmehr einfach damit begnügt, die Vollständigkeitsphantasmen Mugniers und Siweks für bare Münze zu nehmen:418 the whole tradition was examined twice by R. Mugnier and P. Siwek […]. Mugnier conducted comprehensive examinations of the entire manuscript tradition […]. Siwek has collated all extant manuscripts of the Parva naturalia but reasonably uses only the older ones in his edition.
Auf der Grundlage dieser, gelinde gesagt, realitätsfernen Charakterisierung des Forschungsstandes tut Bloch dann hinsichtlich der Handschriftenauswahl weiter nichts, als sich zu dem unmethodischen, bei Siwek noch teilweise verhüllten chronologischen Auswahlkriterium offen zu bekennen. Bei später als 1400 geschriebenen Handschriften habe die Annahme ihrer Unergiebigkeit immer schon nahegelegen, und diese Einschätzung sei durch Siweks „investigations“ bestätigt worden:419 The mss. written later than the 14th century were never likely to provide interesting material, and although I often disagree with Siwek’s stemmatic conclusions, his investigations seem to justify ignoring them.
416 Vgl. dazu oben Punkt 3.3 und insbesondere die forschungsgeschichtlich geordneten Zusammenstellungen von Mot. An.-Handschriften bei De Leemans [Anm. 295], S. CLXXIX– CLXXX und S. CLXXXIII–CLXXXIV sowie unsere gegenüber De Leemans’ Gesamtbestand noch um zwei Handschriften ergänzte und mit präziseren Datierungen versehene Handschriftenliste in: Primavesi/Corcilius [Anm. 275], S. XXIII–XXVIII bzw. in: Rapp/ Primavesi [Anm. 300], S. 136–140. 417 Escobar [Anm. 346], S. 43–80. Eine Grenze von Escobars Arbeit liegt darin, dass er es seinen eigenen, treffenden Beobachtungen zum Trotz nicht gewagt hat, sich bei der stemmatischen Einordnung des Vaticanus P und des Berolinensis Be von der Bindung an das Schema Freudenthals grundsätzlich freizumachen; vgl. hierzu unsere Kritik in Rapp/ Primavesi [Anm. 300], S. 100–103 und S. 146–156. 418 Bloch, Memory [Anm. 349], S. 1–3. 419 Bloch, Text [Anm. 287], S. 2.
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Es nimmt also nicht wunder, dass die von Siwek schließlich für seinen Apparat ausgewählten 21 Handschriften mit den 21 von Bloch seinen Editionen zugrunde gelegten Handschriften nahezu vollkommen identisch sind – lediglich den Parisinus Coislinianus 166 (o), der Sens. und Mem. gar nicht enthält, ersetzt Bloch für Mem. durch den – von Siwek der „famille“ η zugezählten, aber nicht als „wichtiger“ markierten – Parisinus gr. 1859 (b). Infolge dieses unselbständigen Vorgehens hat Bloch insbesondere den Berolinensis Phillippicus 1507 (I. Teil = Be) übersehen, der ja durch Siweks „investigations“ allein schon deshalb nicht als irrelevant erwiesen worden sein konnte, weil bereits Siwek selbst von dieser Handschrift keinerlei Kenntnis hatte. Bloch selbst aber hat sich damit, ohne es zu ahnen, der Möglichkeit beraubt, seine Beobachtungen zur teilweise unabhängigen Stellung der von ihm angenommenen Vorlage η (bei uns: *) des Vaticanus P durch eine Auswertung des Berolinensis Be und durch eine Auseinandersetzung mit den einschlägigen Beobachtungen Escobars teils zu stützen, teils zu präzisieren und zu modifizieren. Für die Forschung zur Überlieferung von De sensu und De memoria ist der Berolinensis Phillippicus 1507 vielmehr erst durch Peter Isépy und Christina Prapa in ihrem bereits erwähnten Aufsatz von 2018 erschlossen worden. In diesem Aufsatz zeigen die Autoren zunächst, dass die Berliner Handschrift aus vier kodikologisch selbständigen, durch Leerfolien voneinander getrennten Teilen besteht, die erst sekundär zu einer Handschrift vereinigt wurden: Der 1. Teil420 wurde, abgesehen von zwei verloren gegangenen und später aus anderer Vorlage ersetzten Lagen,421 bereits zwischen ca. 1440 und dem Fall von Konstantinopel im Jahre 1453 n. Chr. geschrieben, und zwar von Johannes Arnes. Hingegen sind die drei verbleibenden Teile422 erst nach dem Fall von Konstantinopel, nämlich ca. 1455 entstanden.423 Der erste Teil enthält nun u.a. die Großschrift PN1 + Mot. An. (d.h. Sens. / Mem. / Somn. Vig. / Insomn. / Div. Somn. / Mot. An.). Indessen ist der Text von De sensu in der Berliner Handschrift infolge des erwähnten Lagenausfalls nur vom Anfang des 1. Kapitels424 bis zur Mitte des 4. Kapitels425 – also immerhin einschließlich des im 2. Kapitel zitierten Laterngleichnisses! – in der ursprünglichen, von Johannes Arnes geschriebenen Gestalt (Sigle Be) erhalten, und der Text von De memoria nur von der Mitte des 1. Kapitels426 bis zum Ende des 2. (= letzten) Kapitels.427 420 421 422 423 424 425 426 427
Folien 1–204. 6. Lage: Folien 51–58 und 9. Lage: Folien 79–86. Folien 205–227 / 228–346 / 347–353. Isépy/Prapa [Anm. 297], S. 16–28. 436a1 auf Folium 72v. 441b12 ἐν τοῖς περὶ στοιχείων am Ende von Folium 78v. 450a15 διὸ καὶ ἑτέροις τισὶν am Anfang von Folium 87r. 453b11 auf Folium 91r.
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Zitatfragment und Textkritik
Des weiteren hat die Untersuchung von Isépy/Prapa insbesondere für den De sensu-Text der Berliner Handschrift gezeigt,428 dass dieser Text im ersten Teil von De sensu,429 soweit er dort in der von Arnes geschriebenen ursprünglichen Gestalt vorliegt (Sigle Be), so gut wie durchweg die Lesungen des Vaticanus P bestätigt, nicht selten auch gegen die gesamte übrige Überlieferung.430 Überdies haben Isépy/Prapa einige aussagekräftige Belege für die Annahme vorgelegt, dass Be hier zusammen mit dem Vaticanus P einen zweiten Hyparchetypus (= β) repräsentiert, welcher der übrigen griechischen Überlieferung (= α), d.h. beiden Familien Freudenthals, gleichrangig gegenübertritt: Es kommt nämlich sowohl vor, dass PBe gegen Alexander und Freudenthals zweite Familie (LSU etc. = γ) eine korrekte Lesart von Freudenthals erster Familie bzw. ihres wichtigsten Vertreters Parisinus E teilen,431 als auch, dass PBe gegen den Parisinus E eine korrekte Lesart von Alexander und Freudenthals zweiter Familie (LSU etc. = γ) teilen;432 vor allem aber treten PBe auch gegen beide Familien Freudenthals, d.h. gegen den Parisinus E und γ (LSU etc.), als einzige Überlieferungsträger einer korrekten Lesart sowie auch einiger Bindefehler auf.433 Aus diesen Befunden folgern Isépy/Prapa, „dass P nicht nur sekundär von β beeinflusst wurde (Mot. An.), sondern in er ster Li ni e zur β-Familie gehört“.434 Dieses Ergebnis entspricht hinsichtlich der stemmatischen Position des Vaticanus P exakt unserem allein aus der Textkritik des Laternengleichnisses (437b26– 438a3) gewonnenen Stemma der De sensu-Überlieferung, soweit sie bereits bei Erscheinen der Miszelle von Blass (1883) bekannt war.435 Indessen kann diese Entsprechung natürlich nur dann als eine valide externe Bestätigung unserer Behandlung des Gleichnistextes gelten, wenn auch im Gleichnis die Textform des Vaticanus P durch den Berolinensis Be im Wesentlichen bestätigt wird. Zudem wenden sich Isépy/Prapa mit ihrer These gegen die entgegengesetzte, von 428
Isépy/Prapa [Anm. 297], S. 30–34. 436a1–441b12 ἐν τοῖς περὶ στοιχείων. 430 Hingegen geht der Berliner De sensu-Text im zweiten Teil (441b12 ἧι μὲν οὖν πῦρ– 449b4), welcher von der später als Ersatz eingefügten 9. Lage geboten wird (Sigle: Bp), durchaus nicht mit dem Vaticanus P zusammen; vielmehr gehört er dort eindeutig in Freudenthals 2. Familie (LSU etc. = γ), insofern er dort mit dem Mosquensis Sinod. 240 (Mo) auf einen gemeinsamen Vorfahren zurückgeht, der seinerseits der Bruder des Stammvaters von vier Handschriften ist – Vat. gr. 253 (L), Marc. gr. Z 214 (Ha), Ambr. 435, H 50 Sup. (X) und Par. gr. 2034 (y) –, bei denen es sich um die von Siwek für seinen Apparat ausgewählten älteren Mitglieder seiner „famille α“ handelt (vgl. Siwek, Manuscrits [Anm. 342], S. 29–26 und Siwek, Edition [Anm. 93], S. XXI) und denen Bloch, Manuscripts [Anm. 173], S. 10 die Familien-Sigle ρ zugewiesen hat. 431 Isépy/Prapa [Anm. 297], S. 43–46 zu Sens. 2, 438a15. 432 Isépy/Prapa ebd., S. 46–47 zu Sens. 2, 437b7. 433 Isépy/Prapa ebd., S. 36, Anm. 121 (Bindefehler von PBe), sowie S. 47–51 zur korrekten PBe-Lesart in Sens. 3, 439a30. 434 Isépy/Prapa ebd., S. 40–41. 435 Vgl. oben Punkt 2.4.3.8. 429
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uns bereits diskutierte Vermutung Blochs, der zufolge die Vorlage von P primär der zweiten Familie Freudenthals zuzurechnen ist, und nur in einigen Fällen mit Lesungen eines weiteren Hyparchetypus kontaminiert war:436 Deshalb scheint eine Überprüfung der These von Isépy/Prapa an dem texkritisch so aussagekräftigen Gleichnistext sehr erwünscht. Aus diesen beiden Gründen bleibt nun abschließend zu klären, wie sich die vom Berolinensis Be gebotene Textform des Laternengleichnisses zu derjenigen des Vaticanus P verhält. 3.4.3.3 Die Probe aufs Exempel: Der Gleichnistext des Berolinensis Be Wir legen noch einmal den von uns konstituierten Text des Gleichnisses vor, aber mit einem neugestalteten kritischen Apparat. In diesem Apparat verzeichnen wir jetzt zusätzlich die Lesungen des Berolinensis Be und modifizieren überdies die Dokumentation von Freudenthals erster Familie, indem wir den Vaticanus gr. 261 (Y) als Nachfahren des (korrigierten) Parisinus E von der Liste der Zeugen streichen,437 und anstelle der Lesungen des Urbinas gr. 37 (M) diejenigen des mit ihm eng verwandten, aber nach Meinung von Siwek und Bloch stemmatisch höherstehenden Parisinus supp. gr. 314 (Cc) anführen;438 hingegen dokumentieren wir die Lesungen von Freudenthals zweiter Familie nach wie vor anhand von Vaticanus gr. 253 (L), Laurentianus Plut. 81.1 (S) und Vaticanus gr. 260 (U): 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
ὡς δ᾽ ὅτε τις πρόοδον νοέων ὡπλίσσατο λύχνον χειμερίην διὰ νύκτα πυρὸς σέλας αἰθομένοιο ἅψας παντοίων ἀνέμων λαμπτῆρας ἀρωγάς, αἵ τ’ ἀνέμων μὲν πνεῦμα διασκιδνᾶσιν ἀέντων, πῦρ δ᾽ ἔξω διαθρῶισκον ὅσον ταναώτερον ἦεν, δι᾽ ἄντα τετρήατο θεσπεσίηισιν, λάμπεσκεν κατὰ βηλὸν ἀτειρέσιν ἀκτίνεσσιν·― ὣς δὲ τότ᾽ ἐν μήνιγξιν ἐεργμένον ὠγύγιον πῦρ λεπτῆισιν χοάναις δι᾽ ἐχεύατο κύκλοπα κούρην· αἳ δ᾽ ὕδατος μὲν βένθος ἀπέστεγον ἀμφὶ ναέντος, πῦρ δ᾽ ἔξω διίεσκον, ὅσον ταναώτερον ἦεν.
436
437b26 437b27 437b28 437b29 437b30 437b30A 437b31 437b32 438a1 438a2 438a3
Bloch, Text [Anm. 287], S. 51–56 sowie das Stemma ebd., S. 58. Vgl. Förster, Edition [Anm. 201], S. XIII–XV; Bloch, Text [Anm. 287], S. 5–6; Isépy [Anm. 302], S. 57–59 (zu De motu). 438 Siwek, Edition [Anm. 93], S. XVIII, zu seiner „famille ζ“, die unter anderem Bekkers Codex M (Urbinas 37) enthält: „In familia ζ archetypus non extat. Maxime ad eum Cc accedere videtur“. Bloch, Text [Anm. 287], S. 15: „it is obvious that M stems from Cc“. In der weitergehenden Frage hingegen, ob Bloch auch den Parisinus Cc seinerseits zu Recht als Abschrift des Parisinus E charakterisiert hat, wollen wir der dringend gebotenen textkritischen Neubearbeitung der Parva naturalia nicht vorgreifen. Allerdings bietet Cc im Laternengleichnis nur einen Sonderfehler (438a2 ἀμφὶ καέντος), aber keine vom Parisinus E abweichende richtige Lesung. 437
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Zitatfragment und Textkritik 3 ἀρωγάς dedi : ἀμοργούς ECc vel ἀμολγούς Be : ἀμουργούς Al.c LSU P || 4 αἵ τ’ PBe ECc : οἵ τ’ LSU || 5 πῦρ PBe ECc, cf. Al.p : φῶς LSU Γ1 | post ἔξω verba διάνταται τρείατο θεσπεσίησιν ὀθόνησιν inseruit P, i. e. δι᾽ ἄντα τετρήατο θεσπεσίηισιν || 6 hic restitui verba δι᾽ ἄντα τετρήατο θεσπεσίηισιν in P solo post 5 ἔξω servata, quibus anteposui || 8 ἐεργμένον PBe LSU, cf. Al.p : ἐελμένον ECc || 9 λεπτῆισιν χοάναις metri causa dedi : λεπτῆσι χοανῆσιν P vel λεπτῆσιν χοανήσιν Be : λεπτῆ(ι)σιν χθονίη(ι)σι ECc : λεπτῆσιν ὀθόνησιν Al.c LSU Γ1, unde P ὀθόνησιν inseruit in 5 | δι᾽ ἐχεύατο κύκλοπα κούρην Γ2 (diffunditur circulo per pupillam Guillelmus) : ἐχεύατο κύκλοπα κούρην PBe Al.c LSU : λοχάζετο κύκλοπα κούρην ECc || 10 ἀμφὶ ναέντος dedi : ἀμφὶ νάεντος E vel ἀμφινάεντος PBe SU : ἀμφὶ καέντος Cc : ἀμφινάοντος L || 11 διίεσκον PBe : διαθρῶσκον cett. ex 5, sed Alexander in huius participii vicem δίεισιν scripsit quod vertens Guillelmus in commentario penetrat, in Aristotelis autem loco pervenit dedit.
Wie man sieht, ist Be gerade von denjenigen beiden P-Lesarten frei, in denen wir Kontaminationen aus der zweiten Familie (LSU etc.) erkannt haben: Zum einen gibt es in Be keine Spur der in der Vorlage von P als Variante zu 438a1 beigeschriebenen LSU-Lesart ὀθόνησιν, die in P selbst zur Vervollständigung des Einschubs in 437b30 verwendet wurde. Zum andern hatte der Vaticanus P in Vers 3 (437b28), wie wir sahen, die sinnlose Lesart ἀμουργούς (Al.c/LSU) aus einem der zweiten Familie angehörenden Korrektivexemplar übernommen, wohingegen Be diese Lesart nicht teilt: Be überliefert vielmehr ἀμολγούς, das geradezu als Nebenform des von ECc bezeugten ἀμοργούς gelten kann. Zwar kommt ἀμολγός von ἀμέλγω (‚melken‘) und ἀμοργός von ἀμέργω (‚abpflücken‘, ‚ernten‘, ‚auspressen‘), aber wegen der semantischen Nähe von ‚melken‘ zu ‚auspressen‘ und der lautlichen von ἀμέλγω zu ἀμέργω konnten beide Verben miteinander vertauscht werden;439 demgemäß konnte dem Substantiv ἀμοργοί sowohl die Bedeutung ἀμέλγοντες zugeschrieben als auch das Substantiv ἀμολγοί als bedeutungsgleiche Variante zur Seite gestellt werden, wie das von Kassel/Austin zu Kratinos Σερίφιοι fr. 221 aus antiken bzw. byzantinischen Lexika und Kommentaren zusammengestellte Erklärungsmaterial lehrt.440 Die Tatsache, dass die beiden in diesem Sinne äquivalenten Lesungen ἀμοργούς bzw. ἀμολγούς an unserer Stelle vom Parisinus E als dem wichtigsten Vertreter des ersten Hyparchetypus einerseits und vom Berolinensis Be als dem einzigen unkontaminierten Vertreter des zweiten Hyparchetypus andererseits überliefert werden, spricht unseres Erachtens für die relative Priorität von ἀμοργούς/ἀμολγούς und für den sekundären Charakter der von Alexander und der zweiten Familie bezeugten Form ἀμουργούς. Demnach dürfte die Verlesung des von uns hier als feminine Apposition zum maskulinen λαμπτῆρας (‚Laternenwände‘) konjizierten ἀρωγάς
439 Vgl. Passow’s Wörterbuch der griechischen Sprache völlig neu bearbeitet von Dr. Wilhelm Crönert, Göttingen 1913–1914, Spalte 358–359, s.v. ἀμέλγω. 440 Cratinus fr. 221 Kassel/Austin (Poetae Comici Graeci IV 235): ἀμοργοί, πόλεως ὄλεθροι (‚Auspresser, Vernichter der Stadt‘).
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(‚Abhilfen‘)441 zunächst die Lesung ἀμοργούς/ἀμολγούς nach sich gezogen haben.442 Abgesehen von den zwei LSU-Kontaminationen in P entspricht die Textform des Gleichnisses in Be weitgehend der von P. Be und P stimmen in Vers 11 (438a3) im korrekten Indikativ διίεσκον gegen das Partizip διαθρῶσκον der übrigen Handschriften überein,443 und in Vers 4 (437b29) im korrekten Femininum αἵ τ’ mit ECc gegen das sekundäre, durch den korrupten Schluss von Vers 3 motivierte Maskulinum οἵ τ’ (LSU).444 Ebenso teilen Be und P in Vers 5 (437b30) die korrekte Lesung πῦρ mit ECc gegen das von LSU und Wilhelms Erstvorlage gelesene φῶς.445 Mit Alexanders Vorlage und LSU teilen Be und P in Vers 8 (437b32) das korrekte ἐεργμένον gegen das ἐελμένον von ECc und in Vers 9 (438a1) das korrekte ἐχεύατο gegen das sinnlose λοχάζετο von ECc,446 ohne dass bei Be eine Kontamination mit LSU-Lesungen anzunehmen wäre. Zudem haben Be und P in Vers 9 (438a1) die gegenüber der übrigen griechischen Überlieferung primäre, aber bereits fehlerhafte Lesung χοάνηισιν (< χοάναις δι᾽) des Archetypus bewahrt447 (während sie den dort vermerkten und von Wilhelms Zweitvorlage Γ2 aufgenommenen Nachtrag des verdrängten δι᾽ übergehen). Angesichts der angeführten sechs Übereinstimmungen und des Forschungsstandes zur Überlieferung von De sensu im Allgemeinen (Isépy/Prapa) ist der Gleichnistext von P und die inhaltlich zugehörige Korrektur in Γ2 in der Tat auf denselben Hyparchetypus (β) zurückzuführen wie Be, auch wenn sich speziell im Gleichnistext kein Bindefehler von P und Be findet. Dazu steht nicht im Widerspruch, dass die drei uns vorliegenden bzw. erschließbaren Nachfahren des zweiten Hyparchetypus – Wilhelms griechische Zweitvorlage Γ2, Vaticanus P, Berolinensis Be – sich darin voneinander unterscheiden, wie sie mit den Randvermerken und Zusätzen dieses Hyparchetypus umgegangen sind. Einerseits führte nur Γ2, wie wir sahen, in 438a1 die vom β-Text inhaltlich geforderte und in β als Korrektur vermerkte Wiedereinsetzung des δι᾽ vor ἐχεύατο aus. Andererseits hat nur P in 437b30 den im Archetypus durch Zeilensprung ausgefallenen und am Rand nachgetragenen Schlussteil dieses Verses448 nicht anstelle des fälschlich vorgezogenen Schlussteils des folgenden 441
Vgl. oben Punkt 2.4.3.7. Wir nehmen an, dass in ἀρωγάς zunächst -ΑΡω- zu -ΑΜΟ- verlesen wurde und dass dann bei dem Versuch, der hieraus resultierenden Buchstabenfolge *ΑΜΟΓΑΣ ein sinnvolles Wort abzugewinnen, im Hinblick auf das maskuline Beziehungswort λαμπτῆρας die maskuline Form ἀμοργούς/ἀμολγούς hergestellt wurde. 443 Zur Authentizität der Lesart διίεσκον vgl. oben Punkt 2.4.3.3. 444 Zum textkritischen Zusammenhang zwischen dem Relativum am Anfang von 437b29 und dem korrupten Versschluss von 437b28 vgl. oben Punkt 2.4.3.7. 445 Zur Authentizität der Lesart πῦρ vgl. oben Punkt 2.4.3.5. 446 Zur Authentizität der Lesart ἐχεύατο vgl. oben Punkt 2.4.3.2. 447 Zur textkritischen Behandlung der Lesart χοάνηισιν vgl. oben Punkt 2.4.3.2. 448 διαθρῶισκον ὅσον ταναώτερον ἦεν. 442
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Zitatfragment und Textkritik
Verses 437b30A449 wieder eingesetzt, sondern im Anschluss daran, und damit als einzige Handschrift wenigstens den Schlussteil von 437b30A bewahrt: Ansonsten wurde die im Archetypus vorgenommene und jedenfalls in den zweiten Hyparchetypus telle quelle übernommene Randkorrektur des Archetypus in beiden Zweigen der Überlieferung einfach als Ersetzungsauftrag aufgefasst und demgemäß der Schlussteil von 437b30A getilgt.450 Nach alldem darf die Annahme externer Kontamination des Gleichnistextes von P als überflüssig und unser hypothetisches Stemma – unter Hinzufügung des β-Nachfahren Be – als bestätigt gelten:
3.5 Schluss Die Analyse der sprachlich schwierigen, durch eine besondere Dichte an Textund Deutungsproblemen gekennzeichneten Zitate aus den verlorenen Werken frühgriechischer Dichterphilosophen vermag zur Aufhellung der Überlieferung der zitierenden Texte unter gewissen Umständen einen herausragenden Beitrag zu leisten. Dies wurde im vorliegenden Fall daran deutlich, dass die besondere Bedeutung der Lesarten des Vaticanus P für die Textkonstitution der Aristotelischen Schrift De sensu im Falle des in dieser Schrift enthaltenen Empedokleszitats intuitiv bereits im Jahre 1883 von Friedrich Blass erfasst wurde, während erst Sir David Ross über siebzig Jahre später, im Jahre 1955, ihren Wert für den zitierenden Aristotelestext als ganzen erkannte. Um jedoch die durch die besonderen Schwierigkeiten solcher Zitatfragmente gegebenen Impulse wirklich aufzunehmen, bedarf es einer Vorgehensweise, die der Vielschichtigkeit des Gegenstandes gerecht wird. So ist die Textkritik des Empedokleischen Laternengleichnisses lange Zeit schon daran gescheitert, dass die doxographische Überlieferung der im Gleichnis veranschaulichten Theorie durch Platon und Theophrast nicht vollständig zur Kenntnis genommen und deshalb auch nicht hinreichend bedacht wurde.
449 450
δι᾽ ἄντα τετρήατο θεσπεσίηισιν. Vgl. hierzu oben Punkt 2.4.3.1.
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Als ein mindestens ebenso großes Hindernis hat sich die lückenhafte Kenntnis der direkten und indirekten Überlieferung des zitierenden Aristotelestextes erwiesen, d.h. der Abhandlung De sensu. Von dieser Abhandlung gibt es bis zum heutigen Tage keine Edition, die a) auf einer nach gegenwärtigem Forschungsstand vollständigen Handschriftenliste und b) auf einer Handschriftenauswahl beruht, die den Ergebnissen der im 20. Jahrhundert – von Paul Maas (1927) bis zu Michael D. Reeve (1989) – über die eliminatio codicum geführten Methodendiskussion gerecht wird. Dass es hier keinswegs um Vollständigkeit als Selbstzweck geht, wird daran deutlich, dass diejenige Berliner Handschrift, die erstmals einen externen Anhaltspunkt für die stemmatische Einordnung des wichtigen und umstrittenen Vaticanus P brachte, überhaupt erst im Jahre 2018 durch Isépy/Prapa in die Forschung zu De sensu eingeführt wurde. Ähnliches gilt für die indirekte Überlieferung des Aristotelestextes durch die mittellateinischen Übersetzungen. Hier gibt es zwar eine gute kritische Edition der Translatio Nova Wilhelms von Moerbeke, aber bei letzterer handelt es sich um eine bloße Revision der anonymen Translatio Vetus, und diese selbst ist immer noch nicht kritisch ediert. Hierin liegt ein besonders dringendes Desiderat: Da sich herausgestellt hat, dass eine der beiden von Wilhelm zur Revision herangezogenen griechischen Vorlagen ein selbständiger Nachfahr des zweiten Hyparchetypus der Aristotelesüberlieferung war, hängt für die Rekonstruktion dieses Hyparchetypus viel von der Möglichkeit ab, Wilhelms Eigenanteil präzise von dem scheiden zu können, was er bereits in seiner Vorlage fand. Die wenigstens punktuelle Erfüllung der genannten Desiderate ist im vorliegenden Fall nicht nur der weiteren Klärung der De sensu-Überlieferung zugute gekommen, sondern auch dem Zitat aus dem alten Naturgedicht, dessen Schwierigkeiten den Anstoß dazu gaben. Einerseits wurde die These von Isépy/Prapa zu den Überlieferungsverhältnissen von De sensu durch die Übereinstimmungen wie durch die Divergenzen zwischen Vaticanus P und Berolinensis Be im Text des Laternengleichnisses (soweit letztere auf γ-Kontamination von P beruhen) eindrucksvoll bestätigt, andererseits hat uns erst die Sicherung von Wilhelms alleiniger Urheberschaft an der mittellateinischen Gleichnisübersetzung und die Heranziehung der Berliner Handschrift die Möglichkeit eröffnet, unseren zuvor immanent erarbeiteten Vorschlag zur Neukonstitution des Gleichnistextes und zum Stemma seiner Überlieferung einer externen Kontrolle zu unterziehen: Der korrekte Wortlaut des Gleichnisses darf auch für den zitierenden Aristoteles im Wesentlichen als überliefert gelten.
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8 Digitalität und Methode
8.1 JENSEITS DER TEXTKRITIK Überlegungen zu einer Theorie der digitalen Edition von Florian K r a g l , Erlangen/Nürnberg Abstract: Nach einer längeren Phase der Retrodigitalisierung sind die Philologien dabei, zum nativ-digitalen Edieren überzugehen. So unterschiedlich die Projekte in den verschiedenen philologischen Disziplinen im Einzelnen ausfallen, unterliegen sie doch sämtlich bestimmten Gesetzmäßigkeiten. Diese gründen darin, dass mit dem Wechsel vom gedruckten Buch in die digitale ‚Welt‘ die Edition ihre feste Struktur, die primär die Struktur eines in fortlaufenden Seiten und Zeilen gedruckten Buches ist, verliert. Der vorliegende Beitrag gilt deshalb dem Versuch, die Bedingungen, Möglichkeiten und Konsequenzen der digitalen Edition im Modus einer medienpragmatischen Reflexion zu bedenken. After a lengthy phase of retro-digitisation, the philologies are in the process of moving to native-digital editing. In spite of the differences between the individual projects in the various philological disciplines, they are all subject to certain principles. These are based on the fact that with the change from the printed book to the digital ‘world’, the edition loses its fixed structure, which is primarily the structure of a book printed on pages and lines in a fixed order. The present article is an attempt to consider the conditions, possibilities and consequences of digital editions in the form of a media-pragmatic reflection.
Der aktuell stattfindende Übergang von der Buchedition – teils über die Zwischenstufe digitaler Beigaben zu Bucheditionen – hin zur genuin digitalen Edition lässt sich als ein Teilphänomen jenes Medienwandels begreifen, der aktuell so gut wie alle Bereiche des menschlichen Lebens erfasst. Für die Betroffenen, und das heißt für die Ersteller und für die Benutzer wissenschaftlicher Editionen, ist dieser Übergang primär als eine – medial bedingte – Weiterentwicklung, Infragestellung und/oder Ersetzung tradierter editionsphilologischer Prinzipien und Praktiken manifest. Dabei scheint es charakteristisch für diesen – wie mutmaßlich jeden – Medienwechsel zu sein, dass sich die von ihm bedingten Änderungen häufig stillschweigend, ohne expliziten theoretischen Vorlauf, gleichsam wie automatisch einstellen bzw. einschleichen. Die digitalen Editionen nutzen die neuen Technologien, um Bedürfnissen zu entsprechen, denen die Buchedition nicht genügen konnte (etwa die Erstellung komplexer Fassungs- oder mehrschichtiger Editionen, raffinierte Techniken der Visualisierung oder die Varianzanalyse); sie tun dies allerdings meist, ohne sich auf fachliche und medientheoretische Diskus-
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sionen darüber einzulassen, was wir tun, wenn wir digital edieren, und was es ist, das eine oder gar die digitale Edition ausmacht.1
I. Einige Beobachtungen zu aktuellen digitalen Editionen2 Die traditionelle Editionsphilologie zielt auf die Herstellung eines autorisierten Textes, der die Überlieferung entweder in ihrer ganzen Komplexität ‚kritisch‘ oder ‚genetisch‘ abbildet oder sie auf einen handlichen, aber repräsentativen ‚Lesetext‘ – etwa in Form einer Studien- oder einer Leithandschriftenausgabe – reduziert. Agent dieser Tätigkeiten ist ein ‚starker‘ Herausgeber, der zu entscheiden hat über die Wahl der textkritischen Strategie, über die praktischen Konsequenzen der gewählten Methodik (z.B. Stemmabildung, Wahl der Leithandschrift) sowie über alle editorischen Probleme im Detail (moderne Interpunktion, Konjekturen/Emendationen). Ergebnis der Arbeit ist ein stabiler Editionstext, der den Anspruch erhebt, den ‚alten‘ Text oder die ‚alte‘ Textfamilie sinnvoll zu repräsentieren. Die digitale Edition bricht mit diesen Prinzipien der ,klassischen‘ Textkritik. Theoretisch wird dies – vor allem bei jenen (in der Regel: mittelalterlichen) Texttraditionen, die am Limes zwischen mündlicher und schriftlicher Überlieferung siedeln – mit Überlegungen aus dem Umkreis der ‚New Philology‘ begründet, die massive Zweifel gegenüber den Prämissen der ‚klassischen‘ Textkritik – speziell an der Möglichkeit der Reduktion der Überlieferung auf einen repräsentativen Herausgebertext – formuliert hat; in praktischer Hinsicht unterliegt sie nicht den Zwängen der Papieredition, die aufgrund ihres Mediums gar keine andere Wahl hat, als komplexe Überlieferungen auf einen oder wenige (z.B. synoptische) Herausgebertexte zu reduzieren. In der Konsequenz zielen 1
Der Beitrag repräsentiert die Vorfassung einer Publikation, die aus dem Projekt ›Lyrik des deutschen Mittelalters (LDM)‹ (http://www.ldm-digital.de) hervorgegangen ist: Manuel Braun, Sonja Glauch und Florian Kragl: Unterwegs zum Text ohne Herausgeber und ohne Leser. Eine medienpragmatische und medientheoretische Standortbestimmung der digitalen Edition, in: Akten des DFG-Symposions Digitale Literaturwissenschaft, hg. v. Fotis Jannidis u.a. [Druck in Vorbereitung]. Im Vergleich zu diesem gemeinsam verantworteten Aufsatz ist die hier gegebene Vorfassung wesentlich thesen- und skizzenhafter, sie ist darüber hinaus rein auf editionsphilologische Fragen konzentriert, während der gemeinsame Beitrag auch und erheblich auf technische Aspekte der Digitalen Edition eingeht. Für sämtliche Nachweise sowie für die Positionierung der Überlegungen im Forschungsdiskurs sei auf die Langversion verwiesen. Die Ausformulierung der hier wiedergegebenen Vorfassung lag fast ausschließlich in den Händen des Verfassers, einige Sätze stammen aus der Feder von Sonja Glauch. 2 Gesichtet wurde Patrick Sahles Liste (> 400 Projekte): http://www.digitale-edition.de/. Einige wichtige Beispiele sind: die Frankfurter Faust-Edition (http://beta.faustedition.net/); Jane Austen’s Fiction Manuscripts (http://www.janeausten.ac.uk/index.html); Madame Bovary (http://www.bovary.fr/); Lyrik des deutschen Mittelalters (http://www.ldm-digital. de); Welscher Gast (http://digi.ub.uni-heidelberg.de/wgd/); Electronic Beowulf (http:// ebeowulf.uky.edu/).
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digitale Editionen nicht auf einen autorisierten Text, sondern bemühen sich stattdessen, die Verhältnisse der Überlieferung – kein Text im konventionellen Sinne, sondern eine textuelle Informationssammlung – so breit und übersichtlich wie möglich abzubilden. An die Stelle des Herausgebertextes tritt die Gesamtheit der Überlieferung. An die Stelle klassischer philologischer Maximen wie Vollständigkeit, Verlässlichkeit und Dauer treten die digitalen Grundsätze des allmählichen Wachsens, der augenblicklichen Aktualität, der Möglichkeit steten Verbesserns und Erweiterns sowie eine gewisse Ungewissheit hinsichtlich der langfristigen Verfügbarkeit. Der Herausgeber verliert im Zuge dieser geänderten Zielsetzung seine textkritische ‚Stärke‘. Er wählt nicht aus und er rekonstruiert nicht, sondern er stellt zusammen. Dem entspricht ein auch im Detail weitreichender Verzicht auf textkritische Operationen. Die Textzeugen werden möglichst so präsentiert, wie sie sind, oft in einer mehrdimensionalen Aufbereitung (Digitalisat, Transkription, Edition etc.). Im Gegenzug gewinnt der Benutzer der Edition an ‚Stärke‘, indem er im individuellen Umgang mit der zur Verfügung gestellten Textmenge latent in die alte Herausgeberrolle schlüpft. Er hat aus der gebotenen Vielfalt an Möglichkeiten auszuwählen, was seinen Interessen am nächsten kommt. Diese ‚Macht‘ ist zugleich eine Bürde, weil gerade bei älteren Texten die Entscheidung darüber, welche Fassung etwa man in welcher Gestalt sehen möchte, erhebliches Vorwissen um Fragen der ‚alten‘ Textualität im Allgemeinen und über die Textfamilie im Besonderen voraussetzt. Der Benutzer muss in wesentlich dynamischerer Weise als bisher in eine Edition eingreifen, die ihm weniger als ein Text vorliegt, als dass er sich selbst aus einer Vielzahl an Wahlmöglichkeiten einen Text vorlegt. Um die abundante Vielfalt der Textsammlung auch für Nicht-Spezialisten zumindest grob vorzusortieren, orientieren sich digitale Editionen nicht selten an älteren oder parallel publizierten Buchausgaben. Auch bestimmte textanalytische Tools, z.B. eine automatisierte Varianzanalyse, Lemmatisierung und Wörterbuchanbindung oder begleitende Kommentartexte werden verwendet, um dem Benutzer gleichsam Halt zu geben. Solche Analyseverfahren gab es immer schon, auch auf Papier; neu ist allerdings, dass sie nun zusehends integraler Bestandteil der digitalen Edition werden. All diese Beobachtungen zeugen von einem gravierenden medialen Umbruch im Bereich des wissenschaftlichen Edierens. Die digitale Edition zeichnet sich gegenüber der Buchedition durch eine mehrfache Alinearität sowohl des Arbeits- als auch des Lektüreprozesses aus – Verzicht auf Stemmabildung und ‚(re)konstruierende‘ Herausgebertexte, Verlust der Seitenordnung, Aufheben der linearen Lektürerichtung durch vielfältige ‚Einstiegsmöglichkeiten‘ und durch Verlinkungen –, und wenn sie dies nicht tut und sich enger an das Vorbild des Buches anlehnt, wird man sie nur bedingt als eine generisch digitale Edition begreifen. Damit definiert die digitale Edition völlig neue Maßstäbe des Edierens und des Benutzens von Editionen, die noch nicht annähernd verstan577
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den sind und, da wir uns alle mitten in einem fortschreitenden Medienwechsel befinden, Beobachter- und Beobachtetenstandpunkt also zusammenzufallen drohen, auch noch nicht verstanden sein können. In welche Richtung der eingeschlagene Weg weisen könnte, lässt sich allerdings über eine Kontrastierung des ‚alten‘, buchgebundenen Modells mit den bereits vorhandenen digitalen Versuchen durchaus absehen.
II. Traditionelles Edieren – traditionelles Lesen Die ‚alte‘ Edition mit ihren ‚starken‘ Herausgebern und ‚stabilen‘ Texten ist dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht nur vollkommen auf die medialen Möglichkeiten des Buches vertraut, sondern dass sie auch jenen Texttyp, der diesem Leitmedium gemäß ist, mit einer latent überzeitlichen Geltung versieht. Unter der Ägide der traditionellen Philologie – das heißt, historisch betrachtet: der philologischen Erschließung der kanonischen Schriften des Christentums und des ‚klassischen‘ Altertums seit Humanismus und Renaissance sowie seit ca. 1800 auch der ‚nationalsprachlichen‘ Literaturen vor allem des Mittelalters – wurden auch ‚alte‘ Texte in jenes Literatursystems eingemeindet, das medientechnisch noch ein vergleichsweise ‚junges‘ ist: das des gedruckten Buches. Überspitzt gesagt: Das gedruckte Buch ist es erst, das Autoren und/oder Herausgeber zu jenen ‚mächtigen‘ Instanzen der Textverantwortung macht, als die sie eine vorgutenbergsche ‚Galaxis‘ nicht in dieser Form kannte. Erst das gedruckte Buch degradiert den ‚Leser‘, weil es ihm eine Situation der unmittelbaren Kommunikation verweigert, zu einer latent passiven Instanz, und das gedruckte Buch verleiht den Texten Stabilität und archivalische Dauer. Spätestens seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert haben sich diese Attitüden verfestigt, und nicht von ungefähr sprechen wir heute nicht von Poesie oder Dichtung, sondern von ‚Belletristik‘ und ‚Literatur‘. Natürlich hat man erkannt, dass vor allem die mittelalterliche Überlieferung weit absteht von dem, was man sich von einem gedruckten ‚Werk‘ erwartet. Konsequenz dieser Beobachtung war aber im ‚langen‘ 19. Jahrhundert nicht, die historische Differenz als solche gelten zu lassen, sondern vielmehr, sie über editorische Techniken zu minimieren. Was sich dann als editionsphilologische Techniken etabliert hat – Kollation, Rezension, Stemmabildung, Emendation, Konjektur –, dient keinem anderen Zweck als diesem einen, nämlich eine Überlieferung, die zu den medialen Gegebenheiten und Gepflogenheiten des gedruckten Buches quer steht, mehr oder weniger forciert diesen Gegebenheiten und Gepflogenheiten zu unterwerfen. Gewiss hat man diesem Vorhaben seit jeher den Mantel wissenschaftlicher Rekonstruktion umgehängt, und gewiss ist dieser Mantel nicht immer unpassend, nämlich immer dann, wenn Gegenstand der Editionen Texte sind, die schon im Moment ihrer Entstehung auf genau dieses ‚klassische‘ editionsphilologische System (bzw. eine Vorstufe davon) gerichtet sind; Beispiele wären das antike Editionswesen oder die Pflege antiker 578
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und theologischer Literatur zur Blütezeit der Karolinger, ohne die ein Gutteil der antiken Texte nicht oder sehr viel schlechter erhalten wäre. Diese Beispiele demonstrieren eindrücklich, dass das Konzept der Buchedition im Prinzip ein sehr altes ist. Dennoch gilt, dass die traditionelle Editionsphilologie, indem sie ihren Begriff von Buch, Text, Werk, Literatur – teils in Übereinstimmung mit dem überlieferten Material, teils dieses konterkarierend – zur Grundlage ihrer historischen Betrachtung gemacht hat, in erster Linie auch Texte produziert hat, die den Leseraugen ihrer jeweiligen Zeit vertraut sein durften. Es genügt zur Verdeutlichung die Erinnerung an einige Glanzleistungen dieser traditionellen Editionsphilologie. Zu nennen wären etwa Unternehmungen, denen es gelungen ist, vielfältig und komplex überlieferten Textfamilien eine Gestalt zu geben, die sie überhaupt erst überschaubar macht. Das griechische Neue Testament ist darunter sicher der bekannteste Fall, aber auch bei Wolframs „Parzival“, dem am reichsten überlieferten literarischen Text der mittelhochdeutschen ‚Blütezeit‘, blieb die methodisch vielleicht unbefriedigende, aber souverän selegierende Edition Lachmanns bis heute unersetzt. Neben solchen Beispielen, die für die editorische Bewältigung und Bündelung von Überlieferungsquantität stehen mögen, gibt es andere, in denen deutliche Defizite der Überlieferung wo nicht geheilt, so doch soweit behoben wurden, dass man die Texte einigermaßen lesen kann. Ein berühmtes Beispiel dafür ist Petrons „Satyricon“. Wie sehr das, was wir heute lesen, noch Petron ist, welche Partien an den Roman der Nerozeit heranreichen, welche durch Überarbeitung und Überlieferungsfehler weit davon entfernt sind, ist nicht mit letzter Sicherheit zu sagen. Gewiss aber ist, dass wir ohne die vergleichenden und rekonstruierenden Bemühungen der Petron-Herausgeber seit dem Humanismus vor einem Trümmerhaufen aus verderbten Fragmenten stünden, der sich unmöglich – oder nur nach Jahren der intensiven Beschäftigung – gedanklich fassen, schon gar nicht aber in die Hand nehmen und lesen ließe. Wissenschaftliches Edieren verfolgt seit jeher das doppelte Anliegen historischer Gerechtigkeit und zeitgemäßer Aktualisierung. Insofern es immer schon eine starke Tendenz dahin gegeben hat, das Zeitgemäße seinerseits in die historische Vergangenheit zu projizieren, bestehen dabei Ähnlichkeiten mit der ‚klassischen‘ Literaturgeschichte, die ebenfalls immer schon eingespannt ist zwischen dem Versuch, den Texten und ihrer Geschichte historisch gerecht zu werden, und sie für die Gegenwart zu aktualisieren.
III. Digitales Edieren zwischen Progression und Reaktion Wenn nun – alle Fragen historischer Gerechtigkeit beiseitegelassen – die traditionelle Editionsphilologie in dieser Weise ein echtes Kind ihrer Zeit ist und immer war dergestalt, dass sie fremde Texte für gegenwärtige Leser her- und eingerichtet hat, inwiefern ändert sich dann diese glückliche Symbiose, wenn mit der digitalen Edition genau jene Charakteristika der traditionellen Papier579
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edition über Bord gehen, die diese Synchronisierung und Aktualisierung geleistet haben? Der ‚schwache‘ Herausgeber, der ‚starke‘ Leser und die flexible Textgestalt der digitalen Edition sind mit klassischen textkritischen Maximen schlechterdings unvereinbar. (Nicht zufällig sind Theologie und Klassische Philologie, selbst was das handschriftliche Material betrifft, wesentlich zurückhaltender mit Digitalisierungsinitiativen umgegangen als andere philologische Disziplinen, von ‚echten‘ digitalen Editionen nicht zu reden, ganz als würden sich – nicht ohne Konsequenz – jene Disziplinen, aus denen heraus die traditionelle Editionsphilologie erwachsen ist, den aktuellen Entwicklungen am vehementesten widersetzen. Dass das Gros der Texte, mit denen diese beiden Disziplinen zu tun haben, mit dem Konzept des gedruckten Buches durchaus angemessen erfasst werden kann, wird diese Zurückhaltung zusätzlich stärken, kann sie aber nicht alleine erklären: Jene Philologien, die mit den Texten des ‚bürgerlichen‘ Zeitalters arbeiten, experimentieren teils intensiv mit den neuen digitalen Möglichkeiten.3) Wie gravierend die Folgen für die Gestalt und Funktion des Editionstextes sein können, wenn grundlegende Prinzipien der Editionspraxis in der oben beschriebenen Weise zur Disposition stehen, ist leicht zu sehen. Es genügt, die drei eben genannten Beispiele nochmals zu streifen: Das Neue Testament als digitale Edition wäre – alle Handschriften, sämtlich digitalisiert, transkribiert, ediert – eine riesige Textmasse ohne kritische Bündelung, lesend nicht mehr zu bewältigen, benutzbar nur noch für Spezialisten.4 Bei Wolfram wäre es im Grunde aber nicht anders. Bei Petron wiederum würde eine digitale Edition des Erhaltenen dazu führen, dass der Leser sich mit Hilfe von Kommentaren oder Visualisierungstools mühsam die Folge der Fragmente aneignen müsste, diese dann aber größtenteils wiederum nur mit hohem Kommentaraufwand lesen könnte, weil das elegante und extravagante Latein Petrons in der unglücklich späten Überlieferung auch im Detail auf krudeste Weise verballhornt ist. Solch eine Lektüre bedeutet Knochenarbeit, eben jene Knochenarbeit der Insverhältnissetzung des gesamten Materials, die bei der traditionellen Edition dem Herausgeber aufgebürdet war; sie ist mit der Lektüre, wie wir sie gewohnt sind, nicht zu vergleichen. Dass die für das traditionelle Edieren (über Jahrhunderte hinweg) typische Parallelität von Editionstheorie und Aktualisierung verschoben ist, zeigen nicht nur diese ausgewählten extremen Beispiele, sondern auch ‚reaktionäre‘ Abwehrmechanismen gegen die beschriebenen Trends der digitalen Edition. Sie 3
Siehe Anm. 2 und die dortigen Verweise. Diese Erfahrung lässt sich anhand der eindrucksvollen Projekte http://ntvmr.unimuenster.de/ und http://www.csntm.org/ machen, die freilich keine digitalen Editionen, sondern Datenbanken sein wollen, (soweit ich sehe) zumindest ursprünglich angelegt zu dem Zweck, die traditionelle kritische Editionsarbeit zu fundieren, nicht aber sie zu ersetzen.
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treten – wenn man von einer Totalverweigerung gegen alles Digitale absieht (auch die gibt es) – zutage als herausgeber- oder benutzerseitige Schwierigkeiten in der Handhabung von digitalen Editionen, die sich immer dann einstellen, wenn Herausgeber oder Benutzer einer digitalen Edition jene traditionellen Vorstellungen, die von der digitalen Edition überholt werden, nicht zur Gänze aufgeben wollen. Herausgeberseitig ist zu erinnern an das Festhalten an der Maxime der Makellosigkeit und Fehlerfreiheit des Textes, also etwa die zeitraubende Autopsie von OCR-Ergebnissen, das Einfügen einer modernen Interpunktion, Normierungen der Graphie oder die klassische Emendation von Fehlern; an den Versuch, auch den digital gesteuerten Editionsprozess bis in die Details unter menschlicher Kontrolle zu halten (die manchmal verblüffend kleinen Korpora digitaler Editionen zeugen von diesem Bestreben), sich also nicht ganz in die Abgründe eines Big-Data-Systems stürzen zu wollen, dessen Funktionalität gerade darauf baut, dass auch das Ungefähre auf das Wesentliche deutet; oder an den Anspruch auf Vollständigkeit, der hin und wieder die kuriose Situation zeitigt, dass viele digitale Editionen ihre Ergebnisse nicht herzeigen wollen, ehe ihre Herausgeber sie für fertig in der Weise halten, wie man eine Buchedition für fertig hält, während der Digitalität das Konzept eines Weiterbauens und Verbesserns im Wiki-Modus besser anstehen möchte. Benutzerseitig äußert sich das Festhalten an traditionellen Gewohnheiten in Strategien, die Textmengen digitaler Editionen irgendwie auf ein erträgliches Maß zu reduzieren (oder zumindest diesen Wunsch zu äußern); an einer starken Tendenz, digitale Editionen nicht direkt, also am Bildschirm, zu benutzen, sondern sie als Datenmine für PDF- und Papierausdrucke zu verwenden; an Orientierungsproblemen, die wohl jeder kennt, der sich einmal die Zeit genommen hat, sich durch einige aktuelle digitale Editionen zu klicken, weil mit der Linearität des Buches das gewohnte Ordnungsraster abhandengekommen ist; wiederum editionsseitig an diversen Strategien, die diesen leserseitigen Enttäuschungen entgegenwirken, wie Suchmöglichkeiten, Register und Indices, vor allem aber das Angebot von ‚Lesefassungen‘, die die Komplexität der digitalen Edition zugunsten einer konventionellen Lesbarkeit brechen. Ein solch partielles Festhalten an alten Gewohnheiten ist in seiner paradoxen Natur typisch für jeden Medienwandel, und es ist charakteristisch, dass aktuelle digitale Editionen, die man vielleicht eine ‚erste Generation‘ ihrer Art nennen könnte, in ihrer Anlage besonders stark auf diese Paradoxien ansprechen.5 Heutige digitale Editionen wollen zugleich Optimierung der ‚klassischen‘ Buchedition wie auch deren Transformation in ein ganz neues mediales System sein.
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Es sei an dieser Stelle erwähnt, dass sich das von Manuel Braun, Sonja Glauch und mir betriebene Projekt (siehe Anm. 1) ganz dieser schwierigen Spannung verpflichtet weiß.
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IV. Digitales Edieren – digitales Lesen Wie könnte ein System aussehen, das die alte Bindung von historischem Anspruch und zeitgenössischer Praktikabilität, wie sie die traditionelle wissenschaftliche Edition ausmacht, in ein neues Gleichgewicht brächte? Es sticht ins Auge, dass der aktuelle Medienwechsel vom Buch zur Digitalität mit Theoriedebatten im Umkreis der Editionsphilologie einhergeht. Dabei handelt es sich wohl kaum um einen Zufall, dass man seit ca. 1990 verstärkt eine Faszination für die Unfestigkeit, Variabilität und Unzuverlässigkeit gerade der mittelalterlichen, teils auch der antiken Überlieferung entwickelt hat. Damit sei nicht gesagt, dass das Diktum von der variance und mouvance der alten Textualität eine reine Rückprojektion postmoderner Befindlichkeiten oder Sehnsüchte darstellte; gerade was das Feld mittelalterlicher semioraler Dichtung angeht, ist die Sachlage schlagend. Bezeichnend aber ist dreierlei: Erstens nobilitiert diese neue Faszination ein Phänomen, das aus traditioneller Perspektive als problematisch gegolten hätte und auch hat, sodass die textkritische und damit auch die editionsphilologische Axiologie zumindest in den Mittelalterphilologien seit gut drei Jahrzehnten geradezu auf den Kopf (oder auf die Füße, je nach Perspektive) gestellt erscheint. Zweitens kommt die Pauschalisierung dieser neuen Perspektive auf die alte Überlieferung nicht minder einer Simplifizierung der historischen Verhältnisse gleich als die Perspektive der klassischen Textkritik lachmannscher Façon. Wieder könnte man im Bereich des deutschen Mittelalters auf textkritische Bemühungen der Karolingerzeit hinweisen, deren Agenten sich eine ‚neuphilologische‘ Selbstbeschreibung nicht gerne hätten gefallen lassen, von der antiken Editionspraxis ganz zu schweigen. Drittens ist es in den vergangenen 25 Jahren sehr rasch zu einem auffälligen Kurzschluss zwischen avancierter textkritischer Theoriebildung und herkömmlicher editionsphilologischer Praxis gekommen. Die Reinterpretation der ‚New Philology‘ durch die (meist mediävistischen) Editionsphilologen hat nämlich nicht oder nur in Einzelfällen bewirkt, dass die einzelnen Überlieferungsträger das Interesse bekommen haben, das sie theorice verdient hätten. Vielmehr hat man sich eifrig bemüht, alles zu sammeln, und das heißt zunächst: zu digitalisieren, was sich greifen ließ, sodass das theoretische Nachdenken über den Wert und den Status alter Textualität schnurstracks in einen neuen Überlieferungspositivismus gemündet ist. Das Diktum vom literar- und kulturhistorischen Eigenwert einer varianten- und bewegungsreichen Transmission wurde dabei schnell zum Freibrief für die Anhäufung großer Datenmengen, die in ihrer schieren Breite nicht mehr (leicht) zu überblicken sind. Ähnlich also wie bei der traditionellen Editionsphilologie des 19. Jahrhunderts scheint sich seit dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts eine neue Harmonie einzustellen zwischen der Vorstellung, die man sich von der Natur alter Textualität theoretisch macht, und der praktischen Herangehensweise, mit der man 582
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sie in digitalen Materialsammlungen und digitalen Editionen wissenschaftlich aufzubereiten sucht. Was wäre die Lektürepraxis, auf die dieses neue Zurichten der Überlieferung samt ihrer theoretischen Unterfütterung hinführen würde? Offensichtlich ist, dass das Lesen, das solche Editionen einfordern, nicht länger ein Lesen jener Art ist, wie es sich für und rund um das gedruckte Buch stabilisiert hat. Der „Faust II“ der „Weimarer Ausgabe“ – ein postumer Herausgebertext – samt seinem Apparat ist dazu gedacht, von vorne bis hinten gelesen zu werden, wenn dies auch bei einem Apparat dieser Fülle eine verschärfte Anforderung an Konzentration und Muße des (sicher nur wissenschaftlichen) Lesers bedeutet. Die „Faust II“-Sammlung der Frankfurter Online-Ausgabe hingegen kann niemand in toto wahrnehmen, oder würde man es versuchen, kostete es Monate oder Jahre eines Menschenlebens. Die digitale Edition erstellt nicht primär einen (mehr oder weniger kritischen) Lesetext, sondern sie begünstigt und fordert – wenn man sie nicht ‚reaktionär‘ als Steinbruch für Lesefassungen heranzieht – andere, neue Formen der Benutzung, die sich unschwer aus den Prämissen der digitalen Edition herleiten lassen. An die Stelle der vollständigen tritt eine selektive Lektüre, an die Stelle der Konzentration auf einen ‚autorisierten‘ Text das Interesse an der Partikularität des einzelnen Textzeugen, an die Stelle der Linearität des Lektüreprozesses ein von Textsuchen und Hypertextstrukturen geleitetes Springen von Textstelle zu Textstelle, an die Stelle des Wort-für-Wort-Lesens eine häufig statistische Auswertung des Textmaterials, ohne die der Blick aufs Ganze nicht zu haben ist. Browsen statt Lesen, könnte man diese Tendenzen auf Begriffe bringen. Der Editionstext ist nicht länger das Ziel, auf das hingearbeitet wird und dem die Edition als Medium dient. Die Textsammlung wird vielmehr selbst zum Medium weiterreichender dynamischer Analysen bzw. Transformationen mittels elektronischer Tools (automatische Varianzanalyse, Lemmatisierung, narratologische Annotationen etc.), sodass das editorische Produkt eher ein Bündel von Visualisierungsdiagrammen ist als ein Text, die Edition selbst aber zugleich Textdatenbank als auch Werkzeugkasten der Textanalyse. Man darf sich ernsthaft fragen, ob es sinnvoll ist, überhaupt von ‚digitaler Edition‘ zu reden, und ob nicht der schlichte Begriff der ‚(komplexen) Textdatenbank‘ die Sache präziser träfe. Diese Zukunftsvision zeigt eine völlig neue Dimension wissenschaftlicher Textverarbeitung, der eine völlig neue Dimension literaturwissenschaftlichen Lesens entspricht. Im selben Maße, wie eine Editionspraxis denkbar scheint, die – leistungsfähige Modelle der Texterkennung und der Künstlichen Intelligenz vorausgesetzt – weitgehend automatisiert abläuft, wenden sich digitale Editionen nicht mehr an menschliche Leser, sondern an ‚lesende Maschinen‘, die vom Menschen in ihrer Textverarbeitung beobachtet werden (distant reading). Gegenwärtig ist eine solche neue Dimension im Bereich des wissenschaftlichen 583
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Edierens und des literaturwissenschaftlichen Lesens – auch aus technischen Gründen – noch ziemlich phantastisch. Man wird sehen müssen, wie weit sich die Disziplinen in diese Richtung vorwagen, ob sie den Weg bis ans Ende beschreiten oder irgendwo auf halber Strecke stehen bleiben. Abermals wäre eine solche neue wissenschaftliche Lektürepraxis, wie sie von der digitalen Edition befördert und bedient wird, eine zeitgebundene. Die Lesepraktiken sind gesamtgesellschaftlich im Begriff, sich unter dem Druck der digitalen Medien rasant und radikal zu wandeln. Das alte Buch stirbt deshalb nicht aus, es bleibt als ein Leseangebot unter mehreren genauso präsent wie die gleichsam konservative Lesehaltung, die es einfordert. Wer aber digital liest, liest anders, und zwar sowohl im alltäglichen wie im wissenschaftlichen Rahmen. Insofern die Literaturwissenschaft nicht nur eine Wissenschaft vom Lesen, sondern auch eine lesende Wissenschaft ist, der das ‚konservative‘ Lesen Mittel und Zweck zugleich sein muss, mag es sein, dass sie, wenn sie auf digitale Editionen setzt, auf ein disziplinäres Dilemma zusteuert. Im Umkehrschluss lässt sich mutmaßen, dass sich das ‚neue‘ Lesen auf dem Feld der Literaturwissenschaft nicht flächendeckend behaupten wird. Vieles spricht also dafür, dass wir zumindest für die nähere Zukunft von einer Koexistenz der Buchedition und der digitalen Edition auszugehen haben, die einander nicht konterkarieren, sondern komplementieren. Dass einige literaturwissenschaftliche Fragestellungen in methodisch-theoretischer Hinsicht stärker auf diese, andere stärker auf jene Editionsform hinführen, zeigen die vorstehenden Zeilen. Dass es darüber hinaus durchaus auch Überlieferungszusammenhänge gibt, die sich insgesamt besser für diese als für jene Editionsform (und umgekehrt) eignen, sei (bei allem Relativismus) zuletzt ausdrücklich betont: Je geringer das Textmaterial und je größer seine Varianz, desto eher wird auch eine digitale Edition gewinnbringend von menschlichen Augen gelesen werden. Je größer aber und je unübersichtlicher das Material wird, desto dringender bedarf es – wenn nicht Maschinen, sondern Menschen lesen – jener regulierten Komplexitätsreduktion, wie sie die traditionelle Editionsphilologie leistet; je geringer aber die Varianz, desto leichter lässt sie sich auch mit traditionellen Methoden abbilden. Wenn diese Mutmaßungen zuträfen, müsste man die digitale Edition nicht als einen Ersatz oder eine – wie man gemeinhin anzunehmen scheint – Perfektion der analogen Buchedition begreifen, die endlich möglich macht, was man sich lange gewünscht hatte. Die digitale Edition wäre vielmehr ein weiteres, zusätzliches, in seine Natur gänzlich eigengesetzliches Angebot, das manchen literaturwissenschaftlichen Anliegen besser dienen wird als ihr traditionelles Gegenstück, anderen nicht.
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8.2 DER ‚LEBENDE‘ TEXT Mutationen in der „Parzival“-Überlieferung am Beispiel von Vorlage und Kopie (Handschriften V und V’) von Michael S t o l z , Bern Abstract: Der vorliegende Beitrag geht vom Begriff des ‚lebenden‘ Textes aus, den der Germanist Karl Stackmann in Auseinandersetzung mit der von Karl Lachmann geprägten Textkritik für die volkssprachige Überlieferung verwendet hat. Er spielt bis in jüngste textkritische Diskussionen eine Rolle. Im Kontext des Begriffs wird deutlich, inwiefern die bereits von Lachmann (am Beispiel von Wolframs „Parzival“) gemachte Beobachtung, dass Überlieferungsvarianten „von gleichem werth“ sein können, sich mit Stackmanns Terminus der „Präsum(p)tivvarianten“ und mit Joachim Bumkes Konzept gleichwertiger Parallelfassungen, wie sie in der mittelhochdeutschen Epenüberlieferung begegnen, fortsetzt. Potentiale und Grenzen des Begriffs eines ‚lebenden‘ Textes werden am Beispiel der „Parzival“-Überlieferung und des darin begegnenden Sonderfalls zweier als Vorlage und Kopie identifizierbarer Handschriften (V und V’) erläutert – dies in Bezug auf die Digitaledition des Berner „Parzival“Projekts. The present article is based on the concept of the ‘living’ text, which the German scholar Karl Stackmann used for texts in the vernacular, arguing against Karl Lachmann’s model of textual criticism. This concept plays a role up right up to the present day in discussions on textual criticsm. In the context of the term it becomes clear to what extent Lachmann’s observation (taking the example of Wolfram’s “Parzival”) that traditional variants can be “of equal value” finds continuity in Stackmann’s term “presumptive variants” and in Joachim Bumke’s concept of equivalent parallel versions, which we encounter in the Middle High German epic tradition. The article explains the potential and limits of the concept of a ‘living’ text, using the example of the “Parzival” tradition and of the special case of two manuscripts (V and V’) which can be identified as a template and copy – with reference to the digital edition of the Bern “Parzival” Project.
I. „Wir werden zu überlegen haben, auf welche Weise wir das Erbe Lachmanns, und das heißt nicht nur seine Methode, sondern auch die in seinem Werk vorgezeichnete Methodengemeinschaft mit der Altertumswissenschaft, für unsere künftigen Aufgaben fruchtbar machen können“. In diese Worte fasste Karl Stackmann im Jahr 1964 das Programm einer altgermanistischen Revision der Lachmannschen Textkritik, welches er unter das Motto „Mittelalterliche Texte als Aufgabe“ stellte.1 Angesichts der spezifischen Bedingungen einer „zeitge1
Karl Stackmann: Mittelalterliche Texte als Aufgabe, in: Festschrift Jost Trier zum 70. Geburtstag, hg. v. William Foerste u. Karl Heinz Borck, Köln, Graz 1964, S. 240–267; Nachdruck in: ders.: Mittelalterliche Texte als Aufgabe. Kleine Schriften I, hg. v. Jens Haustein, Göttingen 1997, S. 1–25, Zitat: S. 3.
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nössischen und lebendig sich verändernden Überlieferung“, mit der sich die Altgermanistik konfrontiert sieht, erhob Stackmann die Forderung, „eigene methodische Lösungen [zu] suchen“.2 Gegenüber dem Typus der Lachmannschen Edition und deren Suggestion textlicher Stabilität forderte er, die „Aufmerksamkeit […] wach[zu]halten“ für „die Wirklichkeit eines lebenden Textes“.3 – Dieser Ansatz lässt sich, mit Modifikationen, bis in jüngste textkritische Diskussionen verfolgen, was einleitend an zwei Aspekten aufgezeigt werden soll: einerseits an dem von Stackmann benutzten Begriff des ‚lebenden‘ Textes und andererseits anhand einer methodischen Schlussfolgerung, die Stackmann aus der Problematik einer „lebendig sich verändernden Überlieferung“, wie sie bei volkssprachigen Texten des Mittelalters in der Regel vorliegt, zieht (II). Auf dieser Basis werden die Anlage der an der Universität Bern erarbeiteten Edition des „Parzival“-Romans Wolframs von Eschenbach und einige der darin dokumentierten Varianztypen vorgestellt (III). Im Anschluss daran kommt ein besonderes in der Textgeschichte des „Parzival“ greifbares Überlieferungsverhältnis in den Blick: dasjenige von Vorlage und Kopie in den beiden Handschriften V und V’ (IV). Die dabei greifbare Varianz ist in besonderem Maße symptomatisch für das Phänomen eines ‚lebenden‘ Textes. Ein kurzes Fazit beschließt den Beitrag (V).
II. Die Metapher vom ‚lebenden‘ Text ist in der Editorik des 20. Jahrhunderts weit verbreitet. Sie findet meist bei der Charakterisierung volkssprachiger Überlieferung des Mittelalters Anwendung.4 Hier wird davon ausgegangen, dass die Schreiber – anders als bei der Abschrift lateinischsprachiger Vorlagen aus der fernen Kultur der Antike – die von ihnen kopierten Texte nicht nur sprachlich verstehen, sondern sie auch in einen näherliegenden zeitgenössischen Kontext einordnen können. Daraus resultiert, dass gegenüber dem in der Lachmannschen Textkritik pointierten ‚Fehler‘-Begriff5 die Varianz der Texte aufgewertet wird. So konstatiert etwa Jean Andrieu: „C’est que cette notion de variante, distincte de la faute, apparaît particulièrement dans les textes vivants. En effet, le copiste de la Bible ou celui de manuscrits d’ancien français comprend son texte. D’où l’introduction d’une foule de leçons d’un caractère défendable, ou même vraisemblable, qui rendra plus délicate la recherche de la version authen-
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Ebd., S. 12. Ebd., S. 25. 4 Vgl. ebd., S. 10 f., Anm. 35, mit Verweisen u.a. auf die unten erwähnten Arbeiten von Andrieu, Bédier und Kane. 5 Vgl. Paul Maas, Textkritik, 4. Aufl., Leipzig 1960, S. 6–9. 3
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tique“.6 Und George Kane, der Herausgeber der A-Fassung von William Langlands „Piers Plowman“, hält fest: „,Piers Plowman‘ was especially subject to variation as a living text with a content of direct concern to its scribes. Its relevance to contemporary circumstances would not merely distract them from the passive state of mind ideal for exact copying, but actually induce them, whether consciously or subconsciously, to make substitutions“.7 Die Metapher vom ‚lebenden‘ Text begegnet aber auch in der neutestamentlichen Textkritik, etwa bei dem Herausgeber Kurt Aland, der im Jahr 1979 betont hat, dass „der ‚lebende‘ Text des Neuen Testaments, welcher der ständigen Beeinflussung durch verschiedenste Kräfte unterliegt, […] anderen Gesetzen [folgt] als der von Gelehrten und Schulmeistern tradierte ‚tote‘ Standard-Text eines klassischen Schriftstellers“.8 Zitate wie jene von Andrieu und Aland markieren eine Opposition zwischen der Textkritik antiker Autoren einerseits und der Textkritik des Neuen Testaments sowie volkssprachiger Literaturen andererseits, die sicherlich im Einzelnen zu prüfen und wohl auch zu hinterfragen wäre.9 Auffällig ist jedoch, dass die Metapher vom ‚lebenden‘ Text eine gleichsam vitalistische Dynamik textlicher Varianz unterstellt, die gerade in jüngerer Zeit Konjunktur zu haben und dabei andere Metaphern wie etwa jene der ‚mouvance‘, der textlichen Bewegung, zu verdrängen scheint. So hat der Neutestamentler David Parker im Jahr 1997 eine Publikation vorgelegt, die den ‚Living Text of the Gospels‘ geradezu emphatisch im Titel propagiert.10 An biologische Terminologie schließt die 2016 publizierte Dissertation der Theologin Yii-Jan Lin an, die den Text des Neuen Testaments mit einem ‚lebenden Organismus‘ („a living organism“) vergleicht.11 Der von Lin angestellte Vergleich be-
6
J[ean] Andrieu: Principes et recherches en critique textuelle, in: Mémorial des études latines […] offert à J. Marouzeau, Paris 1943, S. 458–474, hier S. 465 f. – Andrieu beruft sich wiederholt auf Joseph Bédier, der den Sachverhalt beschreibt, ohne den Begriff des,lebenden Textes‘ zu verwenden: „Les textes littéraires du moyen âge français, romans d’amour et de chevalerie, fables, contes à rire, chansons, chroniques, etc., n’ont pas été copiés, collationnés, amalgamés, remaniés dans les mêmes conditions que les textes littéraires de l’Antiquité, à plus forte raison que les textes juridiques ou sacrés du moyen âge ou de l’Antiquité: il serait imprudent de conclure des uns aux autres“ (Joseph Bédier: La tradition manuscrite du „Lai de l’Ombre“. Reflexions sur l’art d’editer les anciens textes, in: Romania 54, 1928, S. 161–196 und 321–356, hier: S. 355). 7 Piers Plowman: The A-Version. Will’s Visions of Piers Plowman and Do-Well, hg. v. George Kane, London 1960, S. 115; ebd., S. 136–147, eine Aufstellung der von Kane „substitutions“ genannten Varianztypen. 8 K[urt] Aland: The Twentieth-Century Interlude in New Testament Textual Criticism, in: Text and Interpretation. Studies in the New Testament presented to Matthew Black, hg. v. Ernest Best, R[obert] McL[achlan] Wilson, Cambridge u.a. 1979, S. 1–14, hier: S. 10. 9 Vgl. dazu auch den Beitrag von Marcus Deufert im vorliegenden Band. 10 Vgl. David C. Parker: The Living Text of the Gospels, Cambridge u.a. 1997. 11 Vgl. Yii-Jan Lin: The Erotic Life of Manuscripts. New Testament Textual Criticism and the Biological Sciences, Oxford 2016, S. 149 u.ö.
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wegt sich dabei vor einem diskursanalytischen Horizont, da er den in der Textkritik allenthalben begegnenden Metapherngebrauch (man denke an Beispiele wie ‚Verderbnis‘ oder ‚Kontamination‘) kritisch hinterfragt. Zugleich stellt sich die Verfasserin unter dem etwas reißerischen Buchtitel „The Erotic Life of Manuscripts“ der Herausforderung einer Konfrontation mit naturwissenschaftlichen Forschungsmethoden, die in der Textkritik mit der Darstellungsform von Stammbäumen oder dem Verweis auf genealogische Prozesse durchaus Tradition hat12. Aber auch in der modernen Literaturwissenschaft rücken textliche Unfestigkeit und Varianz in die Nähe des biologischen Begriffs der ‚Mutation‘, so etwa bei Jerome McGann mit dem Begriffspaar von „textual development and mutation“.13 Diese terminologische, teilweise auch methodische Berührung mit den Naturwissenschaften lässt zugleich eine spezifisch geisteswissenschaftliche Komponente der Textkritik umso deutlicher hervortreten: Sie ist kaum in der Lage, das den Naturwissenschaften üblicherweise zugesprochene Qualitätskriterium der Objektivität konsequent einzuhalten. Karl Lachmann ging in der Einleitung seiner Edition des Neuen Testaments von 1842 davon aus, dass die Recensio, die Sichtung und Wertung des Materials, ohne interpretatorische Einflussnahme möglich sei: „recensere […] sine interpretatione et possumus et debemus“, lautet der betreffende viel zitierte Satz.14 Bereits Stackmann und spätere andere Forscher meldeten gegenüber einem solchen Postulat angesichts der häufig anzutreffenden Subjektivität editorischer Entscheidungen Zweifel an.15 Sie verwiesen dabei auf die Spannung, die zwischen einer vermeintlich ‚objektiven‘ und einer
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Vgl. z.B. Dom J. Froger: La Critique des textes et son automatisation, Paris 1968, S. 271: „Puisque la génétique prend la transmission des textes et leur altération comme ‚modèle‘ pour clarifier les notions, pourquoi le philologue, inversement, ne se servirait-il pas de la génétique comme de ‚modèle‘ pour représenter, à l‘image des mutations, les déformations héréditaires que subissent les textes au cours des copies successives?“ 13 Vgl. Jerome McGann: The Textual Condition, Princeton 1991, S. 9: „The law of change declares that these histories [i. e.: the life histories of different texts, M. St.] will exhibit a ceaseless process of textual development and mutation […]. To study texts and textualities, then, we have to study these complex (and open-ended) histories of textual change and variance“. 14 Karl Lachmann: Praefatio zu: Novum Testamentum Graece et Latine, hg. v. Karl Lachmann, Bd. 1, Berlin 1842, S. V–XLIV, hier: S. V. 15 Vgl. Stackmann [Anm. 1], S. 5; mit anderen Akzentuierungen Joachim Bumke: Der unfeste Text. Überlegungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert, in: ‚Aufführung‘ und ‚Schrift‘ in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. v. Jan-Dirk Müller, Stuttgart, Weimar 1996, S. 118–129, hier: S. 118 f., und Peter Strohschneider: Rezension zu Joachim Bumke: Die vier Fassungen der „Nibelungenklage“. Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert, Berlin, New York 1996, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 127, 1998, S. 102–117, hier: S. 117.
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‚hermeneutischen‘, also deutenden Textkritik besteht16. Jüngere Ansätze, wie sie etwa die erwähnte Theologin Lin vertritt, berufen sich angesichts dieses Spannungsverhältnisses auf das Konzept einer ‚narrativen Textkritik‘ („narrative textual criticism“17). Es besagt, dass die Dynamik textueller Entwicklungen sowie die dabei zutage tretende sprachliche und semantische Vielfalt oft nur im Gestus einer ‚Erzählung‘ bewältigt werden kann, die in ihrer narrativen Performanz der Eigenart eines ‚lebenden‘ Textes besser gerecht zu werden vermag. – Auf die Berührungspunkte mit den Naturwissenschaften einerseits und auf die Potentiale einer ‚narrativen Textkritik‘ andererseits wird im Folgenden im Zusammenhang mit einschlägigen Textbeispielen noch zurückzukommen sein. Vorab ist jedoch ein Blick auf die editorischen Konsequenzen angezeigt, die Karl Stackmann zieht, wenn er Lachmanns Methode für den Gegenstandsbereich volkssprachiger Texte adaptiert. Gegenüber dem „alte[n], aristokratische[n] Typus der Lachmannschen Edition“ und dessen Fokus auf dem Original bzw. dem Archetypus betont Stackmann die Funktion sogenannter „Präsumtivvariante[n]“.18 In der Tradition Lachmannscher Textkritik wird der Begriff der „Präsumptivvarianten“ (dort konsequent mit „p“ geschrieben) „in streng stemmabezogener Argumentation verwende(t)“ und bezeichnet „konkurrierende Varianten, die nach erfolgter Recensio als präsumptive Lesungen des Archetypus übrigbleiben und der Examinatio zu unterziehen sind“.19 Stackmann hingegen definiert die „Präsum(p)tivvarianten“ weicher als „(v)ollkommen gleichwertige Lesarten“ und orientiert sich dabei wohl an Karl Lachmanns Ausführungen zu den ‚gleichwertigen Klassen‘ in der Überlieferung des „Parzival“-Romans (dazu unten, Anm. 29).20 An Beispielen aus Wolframs von Eschenbach bald nach 1200 entstandener Dichtung zeigt er, dass es in der handschriftlichen Tradierung (die
16
Vgl. besonders Bumke [Anm. 15], S. 118, mit dem Anliegen, dass „diejenigen, die sich hauptsächlich mit Textfragen beschäftigen, und diejenigen, die sich mehr den Fragen der Kategorienbildung und den Problemen des Verstehens widmen, im fachlichen Gespräch miteinander bleiben“ mögen. 17 Vgl. Lin [Anm. 11], S. 12–15, Zitat S. 14. 18 Vgl. das Fazit bei Stackmann [Anm. 1], S. 25. 19 So die treffende Wiedergabe bei Joachim Heinzle: Mittelhochdeutsche Dietrichepik. Untersuchungen zur Tradierungsweise, Überlieferungskritik und Gattungsgeschichte später Heldendichtung, Zürich, München 1978, S. 64, Anm. 24, in Anlehnung an die verfahrensorientierten Ausführungen bei Maas [Anm. 5], S. 8 f. 20 Stackmann [Anm. 1], S. 21; ähnlich ders.: Neue Philologie?, in: Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche, hg. v. Joachim Heinzle, Frankfurt am Main, Leipzig 1994, S. 398–427; Nachdruck in: ders.: Philologie und Lexikographie. Kleine Schriften II, hg. v. Jens Haustein, Göttingen 1998, S. 20–41, hier: S. 35: „Präsumtivvarianten, d.h. […] Varianten von gleichem Wert mit der Lesung des kritischen Textes“. Die Auslassung des „p“ dürfte der Duden-Schreibweise folgen: „präsumtiv (mutmaßlich; wahrscheinlich)“; vgl. für den Aufsatz von 1964: Duden. Rechtschreibung der deutschen Sprache und der Fremdwörter, völlig neu bearbeitet von der Dudenredaktion unter Leitung von Paul Grebe, Mannheim 1961, S. 536.
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sich vom 13. bis zum 15. Jahrhundert erstreckt) solche „Präsum(p)tivvarianten“ gibt, so etwa in dem folgenden Syntagma (Vers 483,16): dar an der wunden smerze lac des küneges
Hss. DmnoGILOQZ Hss. TVWR
(‚davon [von einer bestimmten Planetenkonstellation] hing der Wundschmerz bzw. der Schmerz des Königs ab‘)21
In diesem Fall ist unentscheidbar, welcher der beiden Varianten (der wunden / des küneges) im Hinblick auf den Archetypus der Vorzug zu geben wäre. Stackmann mutmaßt, dass „Doppellesungen des Archetypus dahinter stecken“ könnten, und berührt die Frage, ob „womöglich eine Überschneidung mehrerer vom Autor selbst herrührender Fassungen zum Auftreten der Präsumtivvarianten [ge]führt“ haben könnte.22 Diese Auffassung ist gut dreißig Jahre später mit letzter Konsequenz in einem Editionsvorhaben umgesetzt worden, das in der Altgermanistik als „wissenschaftliches Ereignis“ gilt: 1996 hat Joachim Bumke das Modell einer Ausgabe der sogenannten „Nibelungenklage“ (ebenfalls aus der Zeit um 1200) in vier Fassungen vorgelegt.23 In diesem Zusammenhang gilt es in aller Kürze daran zu erinnern, dass Bumke Fassungen in Anlehnung an Stackmann als „gleichwertige 21
Nach Stackmann [Anm. 1], S. 21. Marcus Deufert führt in seinem Beitrag aus, dass die beobachtete Gleichwertigkeit auch in der lateinischen Lukrez-Überlieferung begegnet. – Vgl. zur Einteilung der Dichtung in Dreißigerabschnitte (hier: Dreißiger 483, Vers 16) unten, S. 593. Die Variante des küneges ist in Lachmanns Edition von 1833 und ihren Nachfolgeausgaben nicht verzeichnet. Vgl. Wolfram von Eschenbach, hg. v. Karl Lachmann, Berlin 1833, S. 232a, und zuletzt Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. Mit Einführungen zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der „Parzival“-Interpretation von Bernd Schirok, 2. Aufl., Berlin, New York 2003, S. 487. Zur Varianz in Vers 483,16 sei auf die unten ausführlicher vorzustellende Digitaledition des „Parzival“-Projekts Bern verwiesen: https://www.parzival.unibe.ch/parzdb/; der Dreißiger 483 ist ediert unter: https://www.parzival.unibe.ch/parzdb/parzival.php? page=fassungen&dreissiger=483; eine Synopse zum Wortlaut des Verses 483,16 in den verschiedenen Handschriften findet sich unter: https://www.parzival.unibe.ch/parzdb/ parzival.php?page=verssyn&dreissiger=483&suffix=16&zusatz=. Die erwähnten Siglen der „Parzival“-Handschriften sind bezüglich Stackmanns Beitrag von der dort benutzten älteren Systematik in das aktuelle Siglensystem ‚übersetzt‘; vgl. zu letzterem Klaus Klein: Beschreibendes Verzeichnis der Handschriften (Wolfram und Wolfram-Fortsetzer), in: Wolfram von Eschenbach. Ein Handbuch – Studienausgabe, hg. v. Joachim Heinzle, Berlin, Boston 2014, S. 941–1002, hier: S. 943–959; sowie die Website des „Parzival“-Projekts unter: http://www.parzival.unibe.ch/hsverz.html (alle Zugriffe auf Webseiten hier und im Folgenden am 12. 9. 2020). 22 Stackmann [Anm. 1], S. 22. 23 Joachim Bumke: Die vier Fassungen der „Nibelungenklage“. Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert, Berlin, New York 1996. Die Charakterisierung als „wissenschaftliches Ereignis“ stammt von Strohschneider [Anm. 15], S. 117.
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Parallelversionen“ ansieht, in denen „ein unterschiedlicher Formulierungs- und Gestaltungswille sichtbar wird“.24 Dieses Kriterium des ‚Gestaltungswillens‘ blieb dabei nicht unwidersprochen, da es keine klare Abgrenzung zwischen den Begriffen der ,Autorschaft‘, der ‚Fassung‘ und der gegenüber Fassungen sekundären ‚redaktionellen Bearbeitung‘ gewährleistet.25 Bumke bindet das Fassungskonzept ferner an die Tatsache, dass Unterschiede zwischen den Fassungen nicht auf eine textgenealogische (stemmatologische) Bestimmung rückführbar sind, dass also gerade „kein Abhängigkeitsverhältnis im Sinne der klassischen Textkritik vorliegt“.26 Auch hieran hat die Kritik angesetzt, denn Bumke verschiebt mit seinem Postulat der weitgehend unabhängig nebeneinander existierenden Fassungen den umstrittenen Begriff des ‚Originals‘ auf die Fassungen.27 Bumke selbst räumt ein: „In gewissem Sinn nehmen die Fassungen […] den Platz ein, den in der alten Textkritik das Original innehatte“.28 Als pragmatisches Konzept, das dazu dient, eine unfeste Überlieferung editorisch zu ordnen, eignet sich Bumkes Fassungsbegriff aber allemal. Bemerkenswert ist, dass bereits Karl Lachmann im Hinblick auf epische Texte wie Wolframs „Parzival“ von zwei Überlieferungsklassen ausging, die dem, was Bumke unter Fassungen versteht, recht nahe kommen. Lachmann erkannte, dass „in den allermeisten fällen die lesart der einen klasse mit der andern von gleichem werth ist“.29 Diese gleichwertigen Lesarten entsprechen Stackmanns „Präsum(p)tivvarianten“; Bumke hat sie – lesartenübergreifend – zu seinem Konzept der „Fassungen“ ausgebaut.
III. In der digitalen „Parzival“-Edition, die an der Universität Bern in Zusammenarbeit mit Kooperationspartnern wie der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften erarbeitet wird, dient Bumkes Fassungsbegriff als Ordnungskategorie, die es ermöglicht, eine breite und komplexe Überlieferung zu
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Bumke [Anm. 23], S. 32, mit Bezug auf den Begriff der „gleichwertigen Parallelversionen“ bei Stackmann [Anm. 1], S. 22. 25 Vgl. z.B. Strohschneider [Anm. 15], S. 114 f. 26 Bumke [Anm. 23], S. 32. 27 Vgl. besonders Werner Schröder: Bumke contra Lachmann oder: wie die ‚Neue Philologie‘ die mittelhochdeutschen Dichter enteignet, in: Mittellateinisches Jahrbuch 33, 1998, S. 171–183, pointiert S. 172: „Was hier gelehrt und gefordert wird und praktiziert werden soll, ist die Enteignung der mittelhochdeutschen Dichter zugunsten von Schreibern, Redaktoren, Herstellern von handschriftlichen Versionen, die sich zwischen die Autoren und uns drängen“. Vgl. auch die weitaus zurückhaltenderen Folgerungen bei Strohschneider [Anm. 15], S. 117. 28 Bumke [Anm. 23], S. 48. 29 Karl Lachmann: Vorrede zu: Wolfram von Eschenbach [Anm. 21], S. V–XLIV, hier: S. XVIII; vgl. auch den Abdruck der Vorrede in der Ausgabe von Schirok [Anm. 21], S. XI–XXVI, hier: S. XIX.
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gliedern:30 Von Wolframs nahezu 25.000 Verse umfassendem „Parzival“-Roman sind 16 nahezu vollständige Handschriften, ein Frühdruck und 72 Fragmente aus der Zeit zwischen dem 13. und dem 15. Jahrhundert erhalten.31 Philologische Untersuchungen, die Robert Schöller und Gabriel Viehhauser-Mery im Rahmen der Projektarbeit angefertigt und im Jahr 2009 vorgelegt haben, führten zu dem Ergebnis, dass neben die beiden von Karl Lachmann ermittelten Überlieferungsklassen zwei weitere treten, so dass insgesamt vier Textversionen vorliegen, die editionspragmatisch unter dem Fassungsbegriff subsumiert werden können.32
Abb. 1: Digitale Fassungsedition von Wolframs „Parzival“, 795,1–14, mit Binnenvarianten, Ansicht 1. 30
Vgl. die Website www.parzival.unibe.ch; zu den Editionsprinzipien zuletzt Michael Stolz: Chrétiens „Roman de Perceval ou le Conte du Graal“ und Wolframs „Parzival“. Ihre Überlieferung und textkritische Erschließung, in: Wolframs „Parzival“-Roman im europäischen Kontext. Tübinger Kolloquium 2012, in Verbindung mit Susanne Köbele u. Eckart Conrad Lutz hg. v. Klaus Ridder, Berlin 2014 (Wolfram-Studien 23), S. 431–478, bes. S. 465–469; ders.: New Philology and the Biogenetics of Texts. Wolfram von Eschenbach’s „Parzival“ in a New Electronic Edition (The Parzival Project), in: Rethinking Philology. Twenty-Five Years after the New Philology, hg. v. Markus Stock (Florilegium 32, 2015 [recte 2017]), Toronto 2017, S. 99–130, bes. S. 106–109; Elke Brüggen, Michael Stolz: Fassungen, Übersetzung und Kommentar. Profile einer neuen Ausgabe von Wolframs „Parzival“, in: Walther von der Vogelweide. Düsseldorfer Kolloquium 2018, hg. v. Ricarda Bauschke u.a., Berlin 2020, S. 469–491, hier S. 471–478. 31 Vgl. zur handschriftlichen Überlieferung Bernd Schirok: „Parzival“. Die Handschriften und die Entwicklung des Textes, in: Wolfram von Eschenbach. Ein Handbuch, hg. v. Heinzle [Anm. 21], S. 308–334; Klein [Anm. 21], und die erwähnte die Website des „Parzival“-Projekts unter: http://www.parzival.unibe.ch/hsverz.html. 32 Vgl. Robert Schöller: Die Fassung *T des „Parzival“ Wolframs von Eschenbach. Untersuchungen zur Überlieferung und zum Textprofil, Berlin, New York 2009; Gabriel Viehhauser-Mery: Die „Parzival“-Überlieferung am Ausgang des Manuskriptzeitalters. Handschriften der Lauberwerkstatt und der Straßburger Druck, Berlin, New York 2009.
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In einer synoptischen Darstellungsform stehen diese Fassungen als gleichwertige Texte nebeneinander. Der in Abb. 1 vorliegende Abschnitt beinhaltet den Anfang eines sogenannten Dreißigers, d.h. einer Einheit von dreißig (paargereimten) Versen, nach der bereits Lachmann den Text des „Parzival“ im Hinblick auf die Initialsetzung früher Handschriften strukturiert hat. Es handelt sich um den Dreißiger 795 (aus dem letzten der insgesamt 16 Bücher), in dessen Verlauf (in Vers 29) Parzival nach langen Irrfahrten schließlich die von ihm erwartete, den Gralkönig Anfortas erlösende Mitleidsfrage stellt.33 Die vier Fassungen *D, *m, *G und *T enthalten einen normalisierten Text, der in der Regel aus den entsprechenden Leithandschriften D, m, G und T gewonnen wird.34 Textzeugen, die in diesem Abschnitt den einzelnen Fassungen unter philologischen Gesichtspunkten zugeordnet werden können, sind in der dunkelgrau unterlegten Leiste oberhalb des ersten Verses von Dreißiger 795 aufgeführt: Fassung *D beruht demgemäß auf dem singulären Textzeugen D, zu Fassung *m gehören die Textzeugen m, n, o, V, V’ und W, zu Fassung *G die Textzeugen G, I, L, M und Z, zu Fassung *T die Textzeugen U, T, Q und R. Im zuletzt genannten Fall dient die Handschrift U als Leithandschrift der Fassung *T, da der Textzeuge T gegen Ende der Dichtung wegen Textverlusts (ab Vers 573,1) als Leithandschrift ausfällt.35 Die Leithandschriften entstammen meist einer frühen Überlieferungsphase, nämlich dem mittleren bzw. späteren 13. Jahrhundert (so D, G und T). Eine Ausnahme stellt die Fassung *m dar, deren Leithandschrift in der Zeit der Spätüberlieferung, dem 15. Jahrhundert, angefertigt worden ist. Der Text dieser Fassung lässt sich jedoch punktuell, etwa mit Fragmenten oder den streckenweise zu Fassung *m gehörenden Textzeugen V und V’, mindestens bis ins 14. Jahrhundert zurückverfolgen.36 Ob bei 33
Vgl. den Handlungsüberblick in folgenden Darstellungen: Joachim Bumke: Wolfram von Eschenbach, 8., völlig neu bearbeitete Aufl., Stuttgart, Weimar 2004, S. 40–124; Joachim Heinzle: „Parzival“. Abriss der Handlung, in: Wolfram von Eschenbach. Ein Handbuch, hg. v. Heinzle [Anm. 21], S. 223–263; Michael Stolz: Wolfram von Eschenbach’s „Parzival“: Searching for the Grail, in: Handbook of Arthurian Romance. King Arthur’s Court in Medieval European Literature, hg. v. Leah Tether, Johnny McFadyen, Berlin, Boston 2017, S. 443–459; Joachim Heinzle: Wolfram von Eschenbach. Dichter der ritterlichen Welt. Leben, Werke, Nachruhm, Basel 2019, S. 81–92. Zur Figur des Anfortas Elke Brüggen, Joachim Bumke: Figurenlexikon, in: Wolfram von Eschenbach. Ein Handbuch, hg. v. Heinzle [Anm. 21], S. 835–938, hier S. 847–849. 34 D: St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 857 (2. Drittel des 13. Jhs., südostalemannischsüdwestbairisch); m: Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2914 (um 1440–1445, elsässisch); G: München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 19 (Mitte des 13. Jhs., ostalemannisch-bairisch); T: Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2708 (4. Viertel des 13. Jhs., alemannisch). 35 U: Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2775 (1. Viertel des 14. Jhs., rheinfränkisch, wohl aus alemannischer Vorlage). 36 Erwähnenswert ist hier besonders das umfangreiche Fragment 69: Solothurn, Staatsarchiv, Handschriftenfragmente R 1.4.234 (2) (1. Hälfte des 14. Jhs., alemannisch mit bairischem Einfluss). Dazu ausführlich Viehhauser-Mery [Anm. 32], S. 159 f., 182–194, 240 f.
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*m statt von einer Fassung besser von einer sekundären Redaktion zu sprechen wäre, ist eine offene Frage. Der Text weist jedenfalls an etlichen Stellen einen eigenen ‚Gestaltungswillen‘ auf und er lässt sich auch nur schwer in ein genealogisches Verhältnis zu den übrigen Fassungen bringen (am ehesten noch zu *D).37 Insofern ist es angemessen, *m als eine eigene Fassung zu führen, selbst wenn dies mit einem gewissen editorischen Unbehagen geschieht. *m zeigt gegenüber der sonstigen Überlieferung jedenfalls Abweichungen, die es gerechtfertigt erscheinen lassen, von einem ‚lebenden‘ Text zu sprechen. Darauf wird im Zusammenhang mit Beobachtungen zur Varianz noch zurückzukommen sein.
Abb. 2: Neighbournet-Phylogramm zu Wolframs „Parzival“, Dreißiger 793–798.
Vorab gilt es jedoch darauf hinzuweisen, dass die erwähnten philologischen Untersuchungen zur Fassungsbestimmung von statistischen Erhebungen begleitet worden sind, die im Bereich der Molekularbiologie Anwendung finden.38 37
Vgl. ebd., S. 105–110, 147–172. Vgl. zur Methode Christopher J. Howe u.a.: Manuscript Evolution, in: Trends in Genetics 17, 2001, S. 147–152, Nachdruck in: Endeavour 25/3, 2001, S. 121–126; Christopher J. Howe u.a.: Parallels between Stemmatology and Phylogenetics, in: Studies in Stemmatology II, hg. v. Pieter van Reenen, August den Hollander, Margot van Mulken, Amsterdam, Philadelphia 2004, S. 3–11; Heather F. Windram, Christopher J. Howe: An Introduction to the Phylogenetic Analysis of Non-Biological Data, in: Internationalität und Interdisziplinarität der Editionswissenschaft, hg. v. Michael Stolz, Yen-Chun Chen, Berlin, Boston 2014, S. 43–55. – Zur Anwendung auf die Überlieferung von Wolframs „Parzival“ Michael Stolz: Chrétiens „Roman de Perceval ou le Conte du Graal“ und Wolframs „Parzival“ [Anm. 30], S. 459–465; ders., New Philology and the Biogenetics of Texts [Anm. 30], S. 102–106. 38
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Die Verwandtschaft von Organismen wird dort in sogenannten Phylogrammen veranschaulicht. Es handelt sich um wurzellose Baumdiagramme (‚unrooted trees‘), denen das statistische Gerüst einer Distanzmatrix zugrunde liegt. In dieser Matrix werden die Abstände verzeichnet, welche die Angehörigen einer Gruppe von Organismen aufgrund ihrer spezifischen Eigenschaften zueinander aufweisen. Eine solche Matrix lässt sich auch im Hinblick auf den Wortlaut der verschiedenen handschriftlichen Textzeugen erstellen. Zu diesem Zweck bleiben rein graphische Varianten, etwa die Verwendung der Grapheme u bzw. v für den Laut u, unberücksichtigt, so dass sich die Abweichungen der einzelnen Textzeugen auf aussagerelevante Varianten beschränken. Das abgebildete Phylogramm ist für die Dreißiger 793 bis 798 erstellt worden, zu denen auch der in der Fassungssynopse edierte Dreißiger 795 gehört. Es lassen sich mit den zwischen den einzelnen Textzeugen sichtbar werdenden Abständen handschriftliche Gruppierungen erkennen, die den unter philologischen Gesichtspunkten aus der Überlieferung ermittelten Textfassungen recht genau entsprechen: In der rechten unteren Bildhälfte befindet sich – rot eingefärbt – der Fassung *D repräsentierende Textzeuge D. Unterhalb davon stehen – lila eingefärbt – die Fassung *m zugeordneten Textzeugen m, n, o sowie der Druck W (von 1477), allesamt aus dem 15. Jahrhundert stammend, ferner links etwas abseitig die Textzeugen V und V’ aus dem 14. Jahrhundert. In der oberen Bildhälfte finden sich – linksseitig türkis eingefärbt – die zu Fassung *T gehörigen Textzeugen R, U, Q sowie – rechtsseitig grün eingefärbt – die zu Fassung *G gehörigen Textzeugen G, I, M, Z und L.39 Das unter Zuhilfenahme statistischer Mittel generierte Phylogramm suggeriert in seiner Übereinstimmung mit den Befunden philologischer Analyse, dass eine Recensio im Sinne Lachmanns, eine Sichtung und Wertung des Materials ‚sine interpretatione‘, möglich zu sein scheint. Gleichwohl sind einzelne Auffälligkeiten des Diagramms, etwa die Entfernung der Äste der beiden Handschriften V und V’ von der Kerngruppe *m, in hohem Maße deutungsbedürftig. Darauf wird noch zurückzukommen sein, wenn es im Zusammenhang mit der Fassung *m und dabei besonders mit den beiden Textzeugen V und V’ um die Beurteilung eines ‚lebenden‘ Textes geht. Zunächst aber bedarf die Darstellung von Varianz in der Fassungsedition (Abb. 1, S. 592) der Erläuterung: Varianten, durch die sich die einzelnen Fassungen unterscheiden, werden in der Synopse der vier Texte durch Fettdruck markiert. Auf diese Weise zeigt sich etwa, dass in Vers 795,5 in Fassung *D das 39
Die Einfärbungen wurden dem aus der Distanzmatrix erstellten Phylogramm nachträglich hinzugefügt, damit die den Fassungen *D, *m, *G, *T entsprechenden handschriftlichen Gruppierungen optisch deutlich werden. Der Darstellungstyp ‚Neighbournet‘ veranschaulicht mit den netzartigen Verzweigungen differenzierte Zuordnungsformen. So zeigen etwa die vom ‚Knoten‘ der Gruppe m, n, o, W ausgehenden trapezartigen Linien an, dass diese Gruppe Lesarten sowohl mit den links davon stehenden Textzeugen V und V’ als auch mit dem rechts davon befindlichen Textzeugen D teilt.
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Syntagma herzenlîcher triwe (‚Ergebenheit‘ bzw. ‚Liebe, die von Herzen kommt‘) steht, während die übrigen Fassungen an dieser Stelle das Syntagma helflîcher triuwe (‚Ergebenheit‘ bzw. ‚Liebe, die zu helfen vermag‘) aufweisen. Binnenvarianten in den einzelnen Fassungen werden mittels zweier Apparateinträge dokumentiert, die per Mausklick auf die hinter der Dreißigerangabe stehenden Versziffern einblendbar sind: Apparat 1 verzeichnet materielle Eigenheiten wie Gliederungsmittel, etwa in Gestalt von Initialen, Überschriften oder Illustrationen. Wie das Beispiel zu Vers 795,1 zeigt, wird der Dreißiger 795 in den *G-Handschriften G, I, L, Z durch eine Initiale eröffnet. Apparat 2 erfasst die aussagerelevanten Varianten, hier etwa den Ausfall der einen semantischen Gegensatz markierenden Partikel doch in Handschrift L.40
Abb. 3: Transkription und Digitalfaksimile von Hs. L (Wolframs „Parzival“, 794,30–795,11).
Per Mausklick auf die entsprechende Fassungssigle im Apparat öffnet sich ein Fenster, das den betreffenden Vers im handschriftlichen Kontext zeigt: Eine Transkription mit zugehörigem Digitalfaksimile gewährt Einblick in den Wortlaut und das Erscheinungsbild des jeweiligen Manuskripts. In den Links einer hellblau unterlegten Siglenleiste oberhalb der Fassungsedition sind die einzelnen Textzeugen auch unabhängig von den Apparateinträgen im Verskontext der jeweiligen Dreißiger abrufbar (vgl. Abb. 1, S. 592). Auf diese Weise ist die
40
Vgl. zur Textgestalt dieser Handschrift (datiert auf 1451; rheinfränkisch) Mirjam Geissbühler: Die „Parzival“-Handschrift L (Hamburg, Staats- und Universitätsbibliothek, Cod. germ. 6). Entstehungsprozess, Sammelkonzept und textgeschichtliche Stellung, Berlin 2022 (Kultur, Wissenschaft, Literatur. Beiträge zur Mittelalterforschung 37).
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Der ‚lebende‘ Text
Fassungsedition für in den Textzeugen begegnende Einzelbefunde offen. In Handschrift L findet sich beispielsweise singulär der Ausfall zweier Verspaare (795,7–10), der in der sonstigen Überlieferung nicht bezeugt ist.41 Die digitale Fassungsedition ermöglicht damit einen integralen Blick auf die Textgeschichte des „Parzival“-Romans in der Zeit zwischen dem 13. und dem 15. Jahrhundert. Sie gewährt Zugang zu den konstituierten Fassungstexten, erschließt Binnenvarianten und dokumentiert die Überlieferungsgestalt einzelner Textzeugen. Es fragt sich jedoch, ob diese Informationsfülle einer intensiven Lektüre, etwa im Bereich literaturwissenschaftlicher Forschung oder des akademischen Unterrichts, zuträglich ist. Im „Parzival“-Projekt wird deshalb auch das Modell einer Eintextedition erarbeitet, die es den Benutzerinnen und Benutzern ermöglichen soll, die wichtigsten Überlieferungsbefunde rasch zu erfassen, ohne dass sie dabei permanent mit vier Paralleltexten konfrontiert sind.42 Ein Muster zu Dreißiger 795 findet sich im Anhang, S. 614. Der konstituierte Text folgt hier der Fassung *D, die als Editionsgrundlage nach wie vor am geeignetsten erscheint (auch Karl Lachmann stützte sich bei seiner Ausgabe von 1833 auf Handschrift D und damit auf die von ihm so genannte ‚Klasse‘ D): Die Fassung *G (welche der von Lachmann als gleichwertig angesehenen ‚Klasse‘ G entspricht) basiert auf der Leithandschrift G (dem Cgm 19), die zahlreiche Kürzungen aufweist und damit einen gegenüber *D defizitären Text böte; Füllungen oder gar der Ersatz durch eine andere *G-Handschrift wären ebenfalls nur mit editorischen Kompromissen möglich. Bei *T dürfte es sich um eine frühe, gemessen an der Textgestalt von *D und *G ebenfalls unvollständige Fassung handeln.43 Die Fassung *m ist vollständig nur in Handschriften des 15. Jahrhunderts erhalten und scheidet deshalb als Textgrundlage der Eintextedition aus.44 Trotz der identischen Textgrundlage *D bietet die Eintextedition gegenüber Lachmanns Ausgabe ein Mehr an Informationen: Lachmann berücksichtigte nur einen Bruchteil der heute bekannten Textzeugen (8 von 16 nahezu vollständigen Überlieferungsträgern, 11 von aktuell 72 bekannten Fragmenten); im Variantenapparat unterschied er nur die beiden Haupthandschriften D bzw. G und ordnete diesen die übrigen Textzeugen ohne weitere Spezifizierung mittels der Siglen d bzw. g zu; seine binäre Einteilung der Über-
41
Vgl. dazu ebd., S. 287. Dazu Michael Stolz: Von den Fassungen zur Eintextedition. Eine neue Leseausgabe von Wolframs „Parzival“, in: Überlieferungsgeschichte transdisziplinär. Neue Perspektiven auf ein germanistisches Forschungsparadigma, in Verbindung mit Horst Brunner und Freimut Löser hg. v. Dorothea Klein, Wiesbaden 2016, S. 353–388. 43 Vgl. dazu auch unten, S. 605–606. 44 Vgl. zur Wahl von Fassung *D als Grundlage der Eintextedition ausführlicher Stolz [Anm. 42], S. 360 f. 42
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Michael Stolz
lieferung in die beiden ‚Klassen‘ D und G entsprach nicht der differenzierten Unterscheidung von mehreren Fassungen.45 Gemäß dieser heute bekannten Überlieferungslage sind in der Eintextedition rechts neben dem auf Fassung *D basierenden Text mit etwas verkleinerter Schrifttype die Varianten der Fassungen *G und *T aufgeführt (*m bleibt an dieser Stelle beim aktuellen Stand des Projekts aus Gründen der Übersichtlichkeit ausgespart, wird jedoch in einem der Apparate berücksichtigt; vgl. unten). Eine weitere Spalte ist einer neuhochdeutschen Übersetzung vorbehalten, die von einem Partnerprojekt bezogen wird, das Elke Brüggen an der Universität Bonn leitet.46 Unterhalb dieser Texte befinden sich drei textkritische Apparatetagen. Die erste beinhaltet Angaben darüber, welche Textzeugen für die aufgenommenen Fassungsvarianten berücksichtigt werden. Es handelt sich dabei um eine Auswahl der nach Einschätzung im „Parzival“-Projekt wichtigsten Handschriften der „Parzival“-Überlieferung. Analog zum ersten Apparat der digitalen Edition bietet die zweite Apparatetage Angaben zu materiellen Eigenheiten wie Gliederungsmitteln. Die dritte Apparatetage schließlich verzeichnet Abweichungen vom konstituierten Text in der diesem Text zugrunde liegenden Leithandschrift D sowie gegebenenfalls Abweichungen der *D nahe stehenden, aus Darstellungsgründen aber nicht wie die Fassungen *G und *T neben dem edierten Text mitgeführten Version *m. Unterhalb davon befindet sich ein in dem erwähnten Übersetzungsprojekt erarbeiteter Kommentar, der den mittelhochdeutschen Text lexikalisch und inhaltlich erläutert (bei Übersetzung und Kommentar handelt es sich um eine vorläufige Arbeitsversion). Etwas abgesetzt davon schließen sich Übersetzungshilfen zu den neben dem konstituierten Text stehenden Varianten der Fassungen *G und *T an. Im Folgenden sollen nun einige Varianztypen der „Parzival“-Überlieferung beschrieben werden, die in ähnlicher Form zweifellos auch in anderen mittelhochdeutschen Texten anzutreffen sind. Die Ausführungen lassen sich anhand der Eintextedition im Anhang verfolgen; zur Illustration werden wiederholt Abbildungen aus der Digitaledition beigezogen.47
45
Lachmann integrierte den nach heutiger Einschätzung zu Fassung *m gehörigen Textzeugen n (Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. germ. 339, elsässische Lauberwerkstatt um 1445) in die ‚Klasse‘ D, den nach heutiger Einschätzung mehrheitlich zu Fassung *T gehörigen Textzeugen W (Druck Johann Mentelin, Straßburg 1477) in die ‚Klasse‘ G. Vgl. zu einer Gegenüberstellung von Lachmanns Ausgabe und der Eintextedition ausführlicher ebd., S. 369–372, 384 f. 46 Vgl. zum Konzept Elke Brüggen, Dorothee Lindemann: Eine neue Übersetzung des „Parzival“. Ein Werkstattbericht, in: Wolfram von Eschenbach – Bilanzen und Perspektiven. Eichstätter Kolloquium 2000, hg. v. Wolfgang Haubrichs, Eckart C. Lutz, Klaus Ridder, Berlin 2002, S. 377–386; Brüggen, Stolz [Anm. 30], S. 478–486. 47 Vgl. https://www.parzival.unibe.ch/parzdb/.
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Der ‚lebende‘ Text
Fassungsvarianten, die mutmaßlich auf die Frühzeit der Textgeschichte zurückgehen, wurden bereits anhand des Syntagmas herzenlîcher triwe (*D) vs. helflîcher triwe (*G, *T) in Vers 795,5 erläutert. Abweichungen dieser Art sind möglicherweise noch in Autornähe entstanden, dies unter den Bedingungen einer von oralen Kommunikationsweisen geprägten Gesellschaft, in der schriftlich fixierte Texte einem illiteraten oder semi-literaten Publikum vorgelesen wurden und dabei in ihrer Textgestalt verändert werden konnten.48 Es handelt sich um die oben als „Präsum(p)tivvarianten“ bezeichneten Abweichungen. In Dreißiger 795 begegnet ein weiteres Beispiel etwa in Vers 12, wo der immer noch leidende Gralkönig Anfortas seinen Neffen Parzival bittet, ihm den Anblick des Grals für eine gewisse Zeit zu verwehren, damit die lebenserhaltende Kraft dieses kugelartigen Edelsteins unwirksam und Anfortas auf diese Weise durch den Tod erlöst würde: sô wert mîn sehen an den Grâl, lautet der Vers in den Fassungen *D, *m und *G. Fassung *T bietet demgegenüber die Verbform wendet, also ‚wendet‘ bzw. ‚haltet mich ab‘ (den Gral zu sehen).
Abb. 4: Digitale Fassungsedition von Wolframs „Parzival“, 795,1–14, mit Binnenvarianten, Ansicht 2.
Ein Blick in die Digitaledition zeigt hier mit dem Apparat der Binnenvarianten Inkonsistenzen innerhalb einzelner Fassungen an: So bietet die Fassung *m zugeordnete Handschrift V als Resultat nach einer Korrektur, die durch Asteriskus in eckigen Klammern angezeigt wird, die der Fassung *T entsprechende Lesart wendent (eine alemannische Form des Imperativs wendet), worin ihr Handschrift V’ lexematisch folgt (letztere ist in der Auswahl der in der Eintextedition berücksichtigten Handschriften nicht enthalten).49 Auch die Fassung *G zuge48
Vgl. dazu Bumke [Anm. 15], bes. S. 126; ders. [Anm. 23], S. 55–58, 63–66. Vgl. zu den beiden Handschriften V (Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Donaueschingen 97; 1331–1336, elsässisch) und V’ (Rom, Biblioteca Casanatense, Ms. 1409; wohl Mitte des 14. Jhs., fränkisch) ausführlicher unten, S. 603 ff.
49
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ordnete Handschrift Z bietet mit der synkopierten Form went eine *T-Lesart.50 Hier zeichnen sich Textmischungen ab, die in der Textkritik unter dem Terminus der ‚Kontamination‘ gefasst werden.51 In der Eintextedition des Dreißigers 795 wird dieses Phänomen mit der Dokumentation der Fassungsvarianten von Vers 12 in der rechts neben dem edierten Text befindlichen Spalte berücksichtigt. Ein weiteres Beispiel für eine Präsum(p)tiv- bzw. Fassungsvariante findet sich in Vers 21. Kurz bevor Parzival die Mitleidsfrage (in Vers 29) stellt, fordert er die Gralgesellschaft auf, ihm den Gral zu zeigen. Gemäß den Fassungen *D und *m ersucht Parzival dabei um eine verbale Kommunikation: saget mir, wâ der Grâl hie lige. In den Fassungen *G und *T regt er eine gestische Kommunikation an, die nicht zwingend in sprachlicher Artikulation erfolgen muss: nu zeiget mir, wâ der Grâl hie lige. Varianten der Fassung *D wie die herzenlîche triwe (Vers 795,5), der ‚verwehrte’ Anblick des Grals (in Vers 795,12) oder die (in Vers 795,21) angebotene sprachliche Kommunikation könnten darauf hindeuten, dass Fassung *D den etwas elaborierteren Text enthält. Aber solche Rückschlüsse sind nicht frei von Vor- oder Geschmacksurteilen. Auffällig ist eine Variante der Fassung *m im unmittelbar vorausgehenden Vers 795,20. Dort schickt sich Parzival an, die Mitleidsfrage zu stellen. Die Tatsache, dass er dies unter Tränen tut, ist in *m eliminiert. Anstelle des Adverbs Al weinende der übrigen Fassungen wird der Vers hier durch eine auf Anfortas bezogene Adressatenangabe gefüllt: Parcifal zuo im dô sprach. In der Eintextedition ist in der Spalte der Fassungsvarianten an dieser Stelle ausnahmsweise ein auf *m verweisender Pfeil eingefügt, der den entsprechenden Eintrag in der dritten Apparatetage anzeigt. Der spezielle Verweis auf diese Variante erscheint angemessen, weil letztere wohl einen substantiellen ‚redaktionellen Eingriff‘ darstellt und damit für das oben erläuterte Prinzip eines ‚lebenden‘ Textes stehen dürfte. Wie der Historiker Gerd Althoff in einem Aufsatz gezeigt hat, war die Tatsache, dass ‚der König weint‘ im Hochmittelalter als eine politische Praxis akzeptiert.52 In späterer Zeit hingegen dürfte diese Geste nicht mehr als Ausdruck herrscherlichen Handelns begriffen worden sein. Die Überlieferung 50
Vgl. zu Handschrift Z (Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. germ. 364; zweites Viertel des 14. Jhs., fränkisch) auch unten, S. 612. 51 Vgl. dazu den Überblick bei Bumke [Anm. 23], S. 11–30, wo allerdings das Phänomen der Kontamination etwas einseitig zugunsten des im Folgenden entwickelten Konzepts der Parallelfassungen in Frage gestellt wird. – Eine ausführliche Erläuterung der Kontaminationen in den Handschriften V und Z muss hier aus Platzgründen unterbleiben. Für Handschrift V sei auf die Ergebisse der Studie von Viehhauser-Mery [Anm. 32], S. 123–144, verwiesen (vereinfacht ausgedrückt: Nachkorrektur eines *T-Textes durch eine *m-Vorlage); für Handschrift Z steht eine entsprechende Untersuchung noch aus. Beide Handschriften entstammen professionellen Schreibwerkstätten aus dem Elsass (V) bzw. dem nördlichen Franken (Z). 52 Vgl. Gerd Althoff: Der König weint. Rituelle Tränen in öffentlicher Kommunikation, in: ‚Aufführung‘ und ‚Schrift‘ in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. v. Jan-Dirk Müller, Stuttgart, Weimar 1996, S. 239–252.
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Der ‚lebende‘ Text
der Fassung *m lässt sich mit ihren in Vers 795,20 beteiligten Textzeugen im deutschsprachigen Südwesten, vermutlich im näheren oder weiteren Umkreis der Stadt Straßburg nachweisen.53 Es mag sein, dass in der städtischen Kultur des 14. und 15. Jahrhunderts der Gestus des ‚weinenden Königs‘ keine politisch anerkannte Geltung mehr hatte und dass der Vers aus diesem Grunde angepasst wurde. Sicherheit wird bei einem solchen Urteil nicht zu gewinnen sein. Aber wir bewegen uns hier auf einer Bahn, wo sich Textkritik und Probleme des historischen Verstehens berühren.54 Methodisch wird ein Weg im Spannungsfeld von ‚Befund‘ und ‚Deutung‘ beschritten,55 der sich einer ‚narrativen Textkritik‘ mit den ihr inhärenten Fährnissen und Perspektiven annähert.56 In Anlehnung an biologische Terminologie könnte man bei einem solchen Textbefund auch von einer vermutlich durch kontextuelle Einwirkung erzeugten ‚Mutation‘ sprechen.57
Abb. 5: Digitale Fassungsedition von Wolframs „Parzival“, 795,1–8, 20–27, mit Binnenvarianten. 53
Die Entstehungskontexte der Handschrift V legen Straßburg zumindest nahe; ihre Abschrift V’ dürfte in einer nordfränkischen Epenwerkstatt entstanden sein; dazu ausführlicher unten. Die Handschriften m (Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2914), n (Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. germ. 339) und o (Dresden, Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek, Mscr. Dresd. M. 66) wurden in den 1440er-Jahren in der elsässischen Werkstadt Diebold Laubers in Hagenau angefertigt. Der Druck W von 1477 stammt aus der Straßburger Offizin des Johann Mentelin. 54 Vgl. zu Bumke oben [Anm. 16]. 55 Vgl. Hans Zeller: Befund und Deutung. Interpretation und Dokumentation als Ziel und Methode der Edition, in: Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation, hg. v. Gunter Martens, Hans Zeller, München 1971, S. 45–89. 56 Vgl. zu Lin oben [Anm. 17]. 57 Vgl. zu Froger und McGann oben [Anm. 12 f.].
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Michael Stolz
Neben solchen ‚redaktionellen Eingriffen‘ oder ‚Mutationen‘, die sich auf der Ebene von handschriftlichen Gruppen abspielen, bietet die „Parzival“-Überlieferung aber auch eine Fülle von singulären Varianten, die man in der Terminologie der an der Rekonstruktion des Archetypus orientierten Lachmannschen Schule als ‚Fehler‘ bezeichnen würde, während sie unter den Prämissen eines ‚lebenden Textes‘ als „variantes“ oder „substitutions“ geltend gemacht werden.58 Beispiele enthält etwa die zu Fassung *G gehörige Handschrift M, die aufgrund ihres sekundären überlieferungsgeschichtlichen Stellenwerts in der Eintextedition unberücksichtigt bleibt.59 Wie die Apparateinträge der digitalen Fassungsedition in Abb. 5 zeigen, weist diese Handschrift etwa in Vers 795,5 anstelle der Adjektive herzenlîcher bzw. helflîcher die Lesart hofelicher auf; in Vers 795,21 ist das Lokaladverb hie durch ynne (‚darin‘) ersetzt – der Gral scheint hier ‚in‘ einer Art Gefäß zu liegen. In Handschrift Z begegnet die verwandte Form hinne (‚hier drin‘). Varianten dieser Art zeugen ihrerseits von einem ‚lebenden‘, sich dynamisch entwickelnden Text.
IV. Diese Dynamik und die sich dabei anbietende ‚narrative Textkritik‘ sollen abschließend an einem Sonderfall der „Parzival“-Überlieferung aufgezeigt werden: an den beiden Textzeugen V und V’, die im vorliegenden Dreißiger 795 zu Fassung *m gehören.60 Sie stehen mit hoher Wahrscheinlichkeit in einem Verhältnis von Vorlage (Hs. V: Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Donaueschingen 97, datiert auf 1331–1336) und Kopie (Hs. V’: Rom, Biblioteca Casanatense, Ms. 1409, früher A I 19, davor Cod. Pal. germ. 317, wohl Mitte des 14. Jahrhunderts).61 Es handelt sich um zwei Pergamenthandschriften aus dem zweiten 58
Vgl. oben, S. 586 f. Die späte Handschrift M (Schwerin, Landesbibliothek Mecklenburg-Vorpommern Günther Uecker, ohne Signatur; um 1435–1440, mitteldeutsch) enthält zahlreiche Einzellesarten, die ihr gegenüber anderen Vertretern der Fassung *G einen sekundären Status zuweisen. 60 In Buch XV und XVI (Verse 734,1–827,30) des „Parzival“ lassen sich die Handschriften V und V’ eindeutig der Fassung *m zuordnen. Während Handschrift V’ nur diesen Teil der Dichtung überliefert, schließt sich Handschrift V davor überwiegend der Fassung *T an; vgl. auch unten, S. 604–605. 61 Vgl. zuletzt ausführlich Richard F. Fasching: Original und Kopie des „Rappoltsteiner Parzifal“. Handschriftliche Überlieferung und Textgenese im 14. Jahrhundert, in: Michael Stolz: Parzival im Manuskript. Profile der „Parzival“-Überlieferung am Beispiel von fünf Handschriften des 13. bis 15. Jahrhunderts. Mit einem Beitrag von Richard F. Fasching, Basel 2020, S. 145–271 (mit Einarbeitung der abundanten Forschungsliteratur, u.a. auch zur Besitzgeschichte der beiden Handschriften), sowie die Digitaledition: http://www. parzival.unibe.ch/rapp/index.html#/. Hinzuweisen ist auch in diesem Bereich auf einen wegweisenden Aufsatz von Joachim Bumke: Autor und Werk. Beobachtungen zur höfischen Epik (ausgehend von der Donaueschinger Parzivalhandschrift Gδ), in: Philologie als Textwissenschaft. Alte und neue Horizonte, hg. v. Helmut Tervooren, Horst Wenzel, Berlin 1997 (Zeitschrift für deutsche Philologie 116, Sonderheft), S. 87–114 (im Titel des Beitrags wird für Hs. V noch die ehemals übliche Sigle Gδ verwendet). 59
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Der ‚lebende‘ Text
Viertel des 14. Jahrhunderts, die Wolframs „Parzival“ bzw. Teile davon zusammen mit interpolierten Übersetzungen altfranzösischer Gralerzählungen überliefern. Nach dem im Epilog genannten Auftraggeber Ulrich von Rappoltstein wird dieses Textkonglomerat in der Forschung als „Rappoltsteiner Parzifal“ bezeichnet.62 Der aus dem Altfranzösischen übersetzte, über 36.000 Verse umfassende Hauptblock ist zwischen den Büchern 14 und 15 von Wolframs Dichtung eingefügt und trägt gemäß einer handschriftlichen Notiz in Handschrift V (Bl. 115v) den in der Forschung gängigen Titel „Der Nuwe Parzifal“; daneben finden sich kleinere Einschübe auch innerhalb weiterer Abschnitte von Wolframs „Parzival“.63 Handschrift V bietet den umfangreichen Text in vollständiger Gestalt. Die mutmaßliche Abschrift V’ enthält dagegen nur den „Nuwen Parzifal“ zusammen mit den letzten beiden Büchern 15 und 16 aus Wolframs Dichtung und weist zudem gegenüber der Vorlage V zahlreiche sorgsam verfugte Textkürzungen auf. In dem oben abgebildeten Phylogramm (Abb. 2, S. 594), das auf der Basis eines Abschnitts aus dem letzten Buch von Wolframs „Parzival“ erstellt ist, wird der besondere Status der beiden Handschriften V und V’ visualisiert: Die in beiden Textzeugen vorliegende Einfügung kürzerer Verszusätze in den Dreißigern 793 und 796 bedingt den Abstand der beiden Textzeugen von der Kerngruppe *m; die erwähnten Textkürzungen in Handschrift V’ resultieren ihrerseits in dem langen Ast, mit dem sich V’ von Handschrift V entfernt. Wie bereits an der Variante wendent in Vers 795,12 deutlich geworden ist, enthält Handschrift V Textkorrekturen. Es handelt sich um ein mehrfach überarbeitetes Manuskript, das unterschiedliche Formen der Textmischung aufweist und dabei auch in der Zuordnung zu den ermittelten Textfassungen wechselt.64 In Dreißiger 496 gehört Handschrift V zu Fassung *T, die hier im Übrigen, anders als in Dreißiger 795, von der dort ausgefallenen Leithandschrift T gestützt wird. Auch die übrigen Fassungen lassen hier veränderte Handschriftenkonstellationen erkennen: So beruht etwa Fassung *D neben dem Text der Leithandschrift D auf den beiden diesen Abschnitt überliefernden Fragmenten 11 und 31. Der Dreißiger 496 steht am Ende des 9. Buches in einem Abschnitt, in dem der 62
Vgl. zum Text Volker Mertens: Der deutsche Artusroman, Stuttgart 1998, S. 288–300 („Der ‚Rappoltsteiner Parzifal‘: die Arthurisierung des Grals“); ders.: Alles über den Gral: „Der niuwe Parzifal“, in: Wolfram von Eschenbach. Ein Handbuch, hg. v. Heinzle [Anm. 21], S. 297–305; sowie die jüngeren Arbeiten von Yen-Chun Chen: Ritter, Minne und der Gral. Komplementarität und Kohärenzprobleme im „Rappoltsteiner Parzifal“, Heidelberg 2015; Fabian Sietz: Erzählstrategien im „Rappoltsteiner Parzifal“. Zyklizität als Kohärenzprinzip, Heidelberg 2017. 63 Vgl. die Druckedition: Parzifal von Claus Wisse und Philipp Colin (1331–1336). Eine Ergänzung der Dichtung Wolframs von Eschenbach, zum ersten Male hg. v. Karl Schorbach, Straßburg, London 1888 (Nachdrucke Berlin, New York 1974 und Berlin, Boston 2010). 64 Dazu Schöller [Anm. 32], S. 111, und Viehhauser-Mery [Anm. 32], S. 134–144.
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Abb. 6: Digitale Fassungsedition von Wolframs „Parzival“, 496,1–12.
Einsiedler Trevrizent (der Bruder des Anfortas und damit wie dieser Parzivals Oheim) von den Ritterfahrten seiner Jugendzeit und den dabei für eine adelige Dame ausgefochtenen Kämpfen erzählt.65 Einleitend nennt er – gemäß Fassung *D (Vers 3 f.) – die durchstreiften Erdteile Europa, Asien und Afrika. In Fassung *T steht anstelle des Namens Europa jener von Arabien (in *m: Erupie, in *G: Aropie). Auffällig ist im vorliegenden Textabschnitt der unruhige Versbestand. Gegenüber der als Norm angesetzten Fassung *D finden sich in *m nach Vers 496,4 zwei zusätzliche Verse (deren Bezifferung in der Edition durch Bindestrich-1/2 ergänzt wird). In Fassung *T fehlt hingegen das Verspaar 496,7/8. In beiden Fällen finden sich die Plus- bzw. Minusverse in sämtlichen der den Fassungen zugeordneten Textzeugen. In den Versen 496,5 bis 496,10 zählt Trevrizent Orte auf, an denen die Zweikämpfe stattgefunden haben: In Vers 496,6 erwähnt er Gauriuon (*m: Gauriun, *G: Gaurian, *T: Covriuon), eine bislang unidentifizierte Stadt oder Region.66 In Vers 496,8 nennt Trevrizent den Berg oder das Land Famorgan (s.u.); in Vers 496,10 Agremontin (in *m: Agromontin), einen Vulkan, vielleicht nach dem Hügel Acremonte in der Nähe des Ätna auf Sizilien.67 Die ausgeübten Zweikämpfe werden in Wendungen wie tjoste
65
Vgl. zur Figur des Trevrizent Brüggen, Bumke [Anm. 33], S. 928–931. Zum Abschnitt auch Stolz, New Philology and the Biogenetics of Texts [Anm. 30], S. 115–118. 66 Möglicherweise handelt es sich um einen Verweis auf das zyprische Kourion oder auf eine arabische Stadt mit dem bestimmten Artikel al (etwa al-Q%hirah – Kairo), worauf die Variante die Covriuon in Fassung *T hindeuten könnte. Eberhard Nellmann mutmaßt hingegen, dass „vielleicht der Taurus gemeint“ sein könnte; vgl. Wolfram von Eschenbach: Parzival, nach der Ausgabe Karl Lachmanns revidiert und kommentiert von Eberhard Nellmann, übertragen von Dieter Kühn, 2 Bde., Frankfurt/Main 1994 (Bibliothek des Mittelalters 8,1/2; Bibliothek deutscher Klassiker 110), Bd. 2, S. 698. 67 So Nellmann, ebd.
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Der ‚lebende‘ Text
tuon, tjost getân (Verse 496,5/7) oder mit dem Syntagma ich tet vil rîcher tjoste schîn (Vers 496,9, ‚ich vollbrachte viele treffliche Tjoste‘) versprachlicht. In dieser paradigmatischen Reihung kämpferischer Bewährungen bleiben die Gegner jeweils ungenannt. Das in Fassung *T fehlende Verspaar 496,7/8 bezieht sich auf den Namen Famorgan, der im Text des „Parzival“ mehrfach begegnet und dabei wohl fälschlich von einem Personennamen (jenem der keltischen Fee Morgane) auf einen geographischen Namen übertragen wird.68 Diese Verwechslung erfolgt bereits im ersten Buch der Dichtung (Verse 56,18 f.), in dem von den Ritterfahrten des Gahmuret, Parzivals Vater, erzählt wird. Vermutlich wurde diese Vorgeschichte dem Haupttext erst nachträglich hinzugefügt.69 Eine Ergänzung dieser Art könnte auch bei den Versen 496,7/8 vorliegen. Generell mehren sich nach den wegweisenden Untersuchungen von Robert Schöller zu Fassung *T die Anzeichen dafür, dass *T eine ältere Textfassung darstellt.70 Sollte sich diese Vermutung im Rahmen der Projektarbeit weiter bestätigen, würde sich damit auch der von Bumke für die Editionspraxis übernommene Fassungsbegriff modifizieren, denn die ‚Gleichwertigkeit‘ einer als Vorstufe anzusetzenden Fassung *T wäre dann nochmals zu überdenken. Das in den Fassungen *D, *m und *G enthaltene Verspaar 496,7/8 erwiese sich unter dieser Voraussetzung als Teil einer Textbearbeitung. – Zweifellos als redaktionelle Maßnahme dürfen die in Fassung *m enthaltenen Plusverse 496,4-1/2 gelten, in denen Trevrizent betont, dass er sein Ritterdasein ‚freud- und rastlos‘, sunder vröude und âne suon, ausgeübt habe. Auffällig ist, dass im Text von Handschrift V, welche im vorliegenden Abschnitt wie erwähnt der Fassung *T zuzuordnen ist, die beiden Verspaare 496,4-1/2 und 496,7/8 fehlen, aber von einem Korrektor am rechten Seitenrand rechtwinklig versetzt nachgetragen worden sind. Im Zuge einer Überarbeitung wurden die am Rand ergänzten Verse dann aber wieder ausradiert (Reste lassen sich bei der Autopsie sowie in der Reproduktion von Abb. 7 ansatzweise erkennen). In der Transkription wird dieser Vorgang durch eine Einfärbung in Türkis (Nachtrag durch den Korrektor) und Durchstreichung (nachträgliche Tilgung) angezeigt. In Vers 496,6 ist der dort begegnende Ortsname mittels einer Rasur zu ganrivn korrigiert (in der Transkription durch Türkisfärbung auf grauem Untergrund markiert; für die nicht mehr rekonstruierbare ursprüngliche Version steht ein Asteriskus).71 Insgesamt weist die Handschrift Spuren einer sorgfälti68
Belegstellen: 56,18; 400,8; 496,8; 585,14. Vgl. Nellmann [Anm. 66], S. 485 f., 698. Vgl. die bei Bumke [Anm. 33], S. 248, verzeichnete Forschungsliteratur. 70 Vgl. Michael Stolz: Von der Überlieferungsgeschichte zur Textgenese. Spuren des Entstehungsprozesses von Wolframs „Parzival“ in den Handschriften, in: Grundlagen. Forschungen, Editionen und Materialien zur deutschen Literatur und Sprache des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, hg. v. Rudolf Bentzinger, Ulrich-Dieter Oppitz, Jürgen Wolf, Stuttgart 2013, S. 37–61, bes. S. 46. 71 Davor steht – wie übrigens auch in den Handschriften Q, R, W – der bestimmte Artikel den im Maskulinum, was die Vermutung, dass es sich um die deutsche Übersetzung eines arabischen Ortsnamens handelt (vgl. Anm. 66), weiter stützen könnte. 69
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Michael Stolz
Abb. 7: Transkription und Digitalfaksimile von Hs. V (Wolframs „Parzival“, 495,30–496,12).
gen Textrevision auf. Unter quantitativen Gesichtspunkten gilt sie in der modernen Textkritik als die „‚vollständigste‘ ‚Parzival‘-Handschrift überhaupt“.72 Aufgrund des durch die Interpolation der Gralerzählungen erweiterten Textbestands und aufgrund ihrer sorgfältigen Herstellung wird sie in der Forschung als „Originalhandschrift“ angesehen.73 In Handschrift V’ sind Korrekturen und Randnotate, wie sie in der Vorlage V etwa mit der Variante wendent in Vers 795,12 begegnen (vgl. oben, Abb. 4, S. 599), in den Text integriert. Der ausführliche Nachweis eines Abhängigkeitsverhältnisses von Vorlage und Kopie muss hier aus Platzgründen unterbleiben.74 Hinzuweisen ist jedoch auf eine Entdeckung, die dem Projektmitarbeiter
72
Viehhauser-Mery [Anm. 32], S. 128. Vgl. Karl Schorbach: Einleitung, in: Parzifal von Claus Wisse und Philipp Colin [Anm. 63], S. VII–XLIV, hier S. XI; Bumke [Anm. 61], S. 87; ders. [Anm. 23], S. 23: Handschrift V „gilt als ‚die Originalhandschrift‘ des ‚Nüwen Parzifal‘, die ‚unter der Aufsicht der Dichter‘ von dem Schreiber Henselin und einem Kollegen in fünfjähriger Arbeit fertiggestellt worden ist“ (mit Verweisen auf Schorbach a.a.O.). 74 Vgl. dazu Michael Stolz: Die Abschrift als Schreibszene. Der „Nuwe Parzifal“ in der Handschrift Rom, Biblioteca Casanatense, Mss. 1409, in: Finden – Gestalten – Vermitteln. Schreibprozesse und ihre Brechungen in der mittelalterlichen Überlieferung. Freiburger Colloquium 2010, in Verbindung mit Susanne Köbele und Klaus Ridder hg. v. Eckart Conrad Lutz, Berlin 2012 (Wolfram-Studien 22), S. 331–356, bes. S. 341–344, und Fasching [Anm. 61], S. 202 f. 73
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Der ‚lebende‘ Text
Richard Fasching gelungen ist: Aufgrund der Beobachtung einer (partiellen) Schreiberidentität konnte er diesen ehemals zum Bestand der Heidelberger Biblioteca Palatina gehörenden Textzeugen V’ einer vermutlich nordfränkischen Schreibwerkstatt des 14. Jahrhunderts zuordnen, in der Wolframs Epen „Parzival“ und „Willehalm“ zusammen mit Fortsetzungen wie dem „Jüngeren Titurel“ und dem „Lohengrin“, der „Arabel“ und dem „Rennewart“ angefertigt worden sind.75 Die in den beiden Handschriften V und V’ erkennbaren Kopierprozesse und die daraus resultierende Varianz ermöglichen Rückschlüsse auf Abschreibevorgänge in mittelalterlichen Skriptorien. Dass sich wie mit den Handschriften V und V’ Vorlage und Kopie erhalten haben, ist ein seltener Ausnahmefall, der Einblicke in die Genese handschriftlicher Varianz ermöglicht.76 Zu den im Verhältnis der Textzeugen V und V‘ beobachtbaren Kopiervorgängen seien abschließend einige aussagekräftige Beispiele aus dem Textbereich des „Nuwen Parzifal“ (NP) vorgestellt.77
Abb. 8: Fehllesung in Hs. V’ („Der Nuwe Parzifal“, Vers 11.077).
Wie die abgebildete Synopse der beiden Handschriften V und V’ zeigt, hatte der Kopist von V’ Schwierigkeiten mit Vers 11.077 (Do hies er bringen fier roſ gros), den er aus der in elsässischer Schreibsprache abgefassten Vorlage V in die erste Zeile einer Recto-Seite seiner Handschrift übertrug.78 Der Schreiber re75
Vgl. Richard F. Fasching: Neue Erkenntnisse zum „Nuwen Parzifal“ und zu einer ,Epenwerkstatt‘ des 14. Jahrhunderts, in: ZfdA 147, 2018, S. 491–509. 76 Dazu ausführlich Fasching [Anm. 61], S. 227–271. 77 Die angeführten Beispiele sind der Digitaledition http://www.parzival.unibe.ch/rapp/ index.html#/ entnommen. 78 Vgl. dazu auch Stolz [Anm. 74], S. 342 f. – Die Transkription enthält hier nur die durch Unterstrichelung markierten Korrekturresultate, während aus dem Digitalfaksimile der im Folgenden beschriebene Korrekturvorgang ersichtlich ist.
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produzierte das elsässisch geprägte Zahlwort fier mit dem anlautenden Buchstaben f, änderte dann aber zum Wortlaut fivr, möglicherweise weil er das Numerale als Substantiv im Sinne von ‚Feuer‘ missverstand. Anschließend korrigierte er das Zahlwort zu der ihm offenbar geläufigen Schreibweise mit anlautendem v. In dieser Form begegnet das Numerale auch in den Versen 11.081 und 11.083, während die Vorlage demgegenüber die entsprechende Form mit anlautender f-Schreibweise bietet. Die Korrektur führte offenbar ferner dazu, dass der Schreiber das folgende Substantiv ros zunächst überlas und stattdessen mit dem Adjektiv gros das nahezu gleichlautende übernächste Wort eintragen wollte. Er bemerkte den Fehler, strich das ansatzweise geschriebene Wort durch und ließ stattdessen das Syntagma ros gros gemäß der Vorlage folgen. An diesem Beispiel zeigt sich, wie Fehler in den Überlieferungsprozess geraten können, wenn sie nicht – wie im vorliegenden Fall – im Kopiervorgang von einem Schreiber korrigiert werden.
Abb. 9: Kürzungen in Handschrift V’ („Der Nuwe Parzifal“, Verse 36.202–09).
Das zweite Beispiel dokumentiert eine der zahlreichen Kürzungsmaßnahmen, die der zweite der beiden Schreiber der Handschrift V’ gegenüber der Vorlage vorgenommen hat.79 Der Vorlagentext von Handschrift V ist dabei seinerseits stark durchkorrigiert; Teile stehen auf Rasur (in der Transkription durch graue Unterlegung – zur Kennzeichnung der Rasur – und durch Unterstrichelung –
79
Vgl. zu den beiden Schreibern von Handschrift V’ Fasching [Anm. 61], S. 216 f.; zur Textstelle ausführlicher Michael Stolz, Richard F. Fasching: Original und Kopie des „Rappoltsteiner Parzifal“. Kürzungsverfahren in der Abschrift Roma, Biblioteca Casanatense, Ms. 1409, in: abbreviatio. Historische Perspektiven auf ein rhetorisch-poetisches Prinzip. Zürcher Tagung 2019, hg. v. Julia Frick, Oliver Grütter, Basel 2021 (im Druck).
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zur Kennzeichnung der Korrektur – angezeigt). Der Schreiber von Handschrift V’ hat den entsprechenden Abschnitt drastisch gekürzt, wie sich an den Fehlversen und den geänderten Versen in der Transkription erkennen lässt. Vers 36.202 enthält in beiden Handschriften die in indirekter Rede wiedergegebene Aussage des Gralkönigs (bei Wolfram: Anfortas, also Parzivals Oheim), Daz parzefal ſinre ſwest(er) ſvn were (hier zitiert nach Hs. V; Klammern stehen für aufgelöste Abkürzungen). In Vers 36.203 von Handschrift V’ zeigt sich an dem durchgestrichenen Possessivpronomen Siner, dass der Kopist zunächst den e Wortlaut seiner Vorlage (Sinre Oheime tochter) übernehmen wollte, sich dann aber anders besann und zu Sie hatte freude und wunne zart änderte.80 Von Vers 36.203 der Vorlage V ist damit nur das Reimwort zart erhalten; die Verse 36.204 bis 36.206 entfallen ersatzlos. Danach wird in Handschrift V’ die in der mittelalterlichen Kultur und Literatur unverfängliche Szene, dass der König mit seinem Neffen das Schlafgemach teilt, in zwei anstelle von drei Versen zusammengefasst (NP 36.207/9 statt NP 36.207 bis 36.209 in Hs. V);81 in Vers 36.207 kreiert der Kopist von V’ das mit Vers NP 36.203 korrespondierende Reimwort wart (das sich in Hs. V in Vers NP 36.204 findet) und unterschlägt die in der
Abb. 10: Übernahme eines Verseinschubs von Hs. V in Hs. V’ („Der Nuwe Parzifal“, Vers 28.547). 80
Die Aussage bezieht sich entweder auf die Schwester des Gralkönigs, also Parzivals Mutter (bei Wolfram: Herzeloyde) oder – wahrscheinlicher –, die Szene zusammenfassend, auf den Gralkönig und Parzival (wobei in diesem Fall die Singularform hatte zum Plural hatten verbessert werden müsste). 81 Vgl. zur Funktion des Avunkulats, d.h. einer engen Bindung des Neffen an seinen Oheim (Mutterbruder), die keineswegs zwingend homoerotische Züge trägt, Theodor Nolte: Das Avunkulat in der deutschen Literatur des Mittelalters, in: Poetica 27, 1995, S. 225–253.
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Vorlage in Vers 36.208 enthaltene Aussage, dass der König seinem Neffen zugee e tan war (ſin Oheim liep hete; der Ausdruck Oheim bezeichnet an dieser Stelle den ‚Neffen‘ Parzival).82 Den Kontext der Szene bildet hier die durch einen Racheakt ausgelöste Heilung des Gralkönigs; im Textkonglomerat des „Rappoltsteiner Parzifal“ geht sie mit dem Einschub der altfranzösischen Gralerzählungen zwischen dem 14. und 15. Buch von Wolframs „Parzival“ der durch die Mitleidsfrage bewirkten Erlösung des Anfortas in Wolframs 16. Buch voran. Auffällig ist, dass der Schreiber von Handschrift V’ in Vers NP 36.208 entgegen seiner Vorlage V den aus Wolframs Dichtung bekannten Namen „Anfortas“ einsetzt (in den altfranzösischen Gralerzählungen und entsprechend im „Nuwen Parzifal“ ist der Gralkönig namenlos). Das dritte Beispiel betrifft vorab Vers NP 28.547, der in Handschrift V am Zeilenrand (auf Bl. 261rb) nachgetragen ist: Vnde antwúrte ir zv´hteklich (in der Transkription werden vom Schreiber stammende Nachträge grün eingefärbt). Wie aus Abb. 10 ersichtlich ist, hat der Kopist diesen Vers (ergänzt durch die Gradpartikel gar) in die Spalte (auf Bl. 141ra) integriert. Im Umfeld dieser Passage nimmt er jedoch komplexe Änderungen vor. Der Abschnitt handelt davon, dass der Ritter Sagremors durch den Ritter Talides herausgefordert wird.
Abb. 11: Abänderung von Versen in Hs. V’ („Der Nuwe Parzifal“, Verse 28.515/16).
82
Vgl. zur Bedeutung von œheim als ‚Schwestersohn‘, ‚Neffe‘ Matthias Lexer: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Zugleich als Supplement und alphabetischer Index zum Mittelhochdeutschen Wörterbuche von Benecke-Müller-Zarncke, 3 Bde., Bd. 2, Leipzig 1876 (Nachdruck Stuttgart 1979), Sp. 148.
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Vor dem Kampf sendet Sagremors ein Hoffräulein seiner Dame zu Unterhandlungen aus und teilt ihr mit, was sie Talides sagen soll – so der Wortlaut der Handschrift V in den Versen NP 28.514 bis 28.535. Die Kürzungsmaßnahmen des Kopisten von Handschrift V’ führen hingegen dazu, dass das Hoffräulein die Unterhandlungen mit Talides, eingeleitet durch die inquit-Formel Si sprach, gleich selbst beginnt (so in Vers NP 28.515).
Abb. 12: Neuformulierung eines Versabschnitts in Hs. V’ („Der Nuwe Parzifal“, Verse 28.631–28.638).
Ebenfalls im Bereich der Herausforderung des Talides findet sich am Ende einer rechten Textspalte von Handschrift V’ (Bl. 141rb) das Phänomen, dass ein längerer Abschnitt von insgesamt acht Versen gegenüber der Vorlage V komplett neu formuliert ist (NP 28.631–28.638). Dabei wird eine kohärente Rede des Sagremors auf die beiden Widersacher Sagremors und Talides verteilt, wenn letzterer ab Vers 28.638 selbst das Wort ergreift und Sagremors androht: ir muſzent ſterben wiſze(n)t daz. Die Maßnahme einer kompletten Textänderung in V’ findet sich an mehreren gleichartigen Stellen der Handschrift, jeweils am Ende einer Recto-Seite, gelegentlich nahe dem Lagenende.83 Da der Eintrag jeweils in anderer Tinte erfolgt, liegt der Schluss nahe, dass der Schreiber an diesen Stellen zunächst Platz frei ließ und diesen füllte, nachdem ihm die Vorlage V bereits nicht mehr zur Verfügung stand. Eine genauere Erklärung für diese Maßnahme bedarf weiterer Forschungen.84 83
Nahe dem Lagenende auf Bl. 95rb, 134rb, 141rb, ferner auf Bl. 132rb. Vgl. dazu ausführlicher Fasching [Anm. 61], S. 251–255. 84 Die beiden letzten Wörter in Vers 28.638 dürfte der Schreiber bereits beim Ersteintrag eingefügt haben. Sie sind deshalb in der Transkription nicht wie die übrigen Verse als Nachtrag in grüner Farbe gekennzeichnet.
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V. Die Beispielreihe sei an dieser Stelle zugunsten eines kurzen Fazits abgebrochen: Die in der Handschrift V’ dokumentierten Kopiervorgänge bezeugen einen ‚lebenden‘ Text, der sich begrifflich mit Kategorien wie „Präsum(p)tivvarianten“ oder „Fassungen“ nicht mehr hinreichend beschreiben lässt. Es sind redaktionelle Maßnahmen erkennbar, die nicht durch mündliche Textvermittlung angeregt scheinen, sondern offensichtlich in den Bahnen der Schriftlichkeit erfolgen. Die beobachtbaren Varianztypen beinhalten Wortersetzungen und Wortergänzungen, erstrecken sich aber vor allem auf größere Einheiten wie syntagmatische Strukturen und ganze Versabschnitte. Wo gekürzt wird, lässt sich ein stilistisches Bewusstsein erkennen. Möglicherweise hängen die Kürzungen mit ökonomischen Bedingungen wie der Knappheit des wertvollen Beschreibstoffs Pergament zusammen. Auffällig ist, dass jener Schreiber, der bei den weiteren Handschriften des erwähnten nordfränkischen Skriptoriums nachweisbar ist, nur etwas mehr als das erste Viertel der Kopie angefertigt hat und der Vorlage dabei recht getreu gefolgt ist (Hs. V’, Bl. 1r–48v). Erst danach hat ein anderer Schreiber auf einer neuen Lage übernommen und im Zuge der Abschrift mehr und mehr gekürzt (Bl. 49r–181v).85 Gleichwohl sollte Handschrift V’ im Kontext der Schreibwerkstatt betrachtet werden, in der sie hergestellt worden ist. Im Vergleich mit der Vorlage V, der ‚Originalhandschrift‘ des „Rappoltsteiner Parzifal“, fällt wie erwähnt auf, dass deren erster Teil, die Bücher 1 bis 14 von Wolframs „Parzival“, in der Kopie V’ fehlen. Möglicherweise wurde dieser erste Teil gar nie abgeschrieben, weil er in dem nordfränkischen Skriptorium bereits mit einem Exemplar vertreten war. Es handelt sich um die in dieser Schreibwerkstatt angefertigte, bereits erwähnte „Parzival“-Handschrift Z: Universitätsbibliothek Heidelberg, Cod. Pal. germ. 364 (zweites Viertel des 14. Jahrhunderts, mit Wolframs „Parzival“ und einer anonymen „Lohengrin“-Dichtung).86 Diese am bloßen Textvolumen der Abschrift angestellte Beobachtung mag, wenn sie denn zutrifft, eines lehren: Es gilt den Kontext zu berücksichtigen, wenn wir Aufschluss über handschriftliche Kopiervorgänge gewinnen wollen. In der Molekularbiologie sind Modelle entwickelt worden, in denen, wie es der Stanforder Pathologe Michael Hendrickson formuliert hat, der „Beziehung zwischen dem Phänotyp, dem Genotyp und der Umwelt“ Rechnung getragen wird: Zu dieser Mischung aus Genotyp und Umwelt muss ‚developmental noise‘, müssen Zufallsfaktoren im Lauf der Entwicklung, hinzugefügt werden. […] Umwelt und Organismus konstruieren einander gegenseitig. […] Der Ansatz ist ganzheitlich in dem Sinne, dass es keine primäre oder privilegierte Kausalität 85
Dazu ausführlicher Fasching [Anm. 61], S. 216 f., 255–267; und Stolz, Fasching [Anm. 79]. Eine statistische Aufstellung der Kürzungsfrequenzen bietet Sietz [Anm. 62], S. 133. 86 Vgl. oben, S. 600.
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gibt. Ursächlichkeit verteilt sich sowohl über genetische (DNA, RNA) als auch über nichtgenetische Elemente (Proteine, Zellmembranmatrizes usw.).87
Möglicherweise liegt die Herausforderung für Lachmanns Erben darin, sich analogen Prinzipien bei den Mutationen textlicher Art zu stellen. Die Berücksichtigung nichtgenetischer Faktoren scheint bereits Lachmanns Editionspraxis mit ihrer Offenheit für gleichwertige Varianzphänomene inhärent zu sein.
87
Michael R. Hendrickson: Schrödingers Geist. Überlegungen zur erstaunlichen Relevanz von „Was ist Leben?“ für die Krebs-Biologie, in: Hans Ulrich Gumbrecht u.a.: Geist und Materie – Was ist Leben? Zur Aktualität von Erwin Schrödinger, aus dem Englischen von Sabine Baumann, Frankfurt/Main 2008, S. 57–112, hier S. 101.
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Anhang: Eintextedition des Dreißigers 795 mit Übersetzung und Kommentar (Projekt Elke Brüggen). 795
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Vrœlıˆche unt doch mit jaˆmers siten. er sprach: »ich haˆn unsanfte erbiten, wirde ich immer von iu vroˆ. ir schiedet nuˆ jungest von mir alsoˆ, soˆ *G *T pflegt ir herzenlıˆcher triwe, helflıˆcher *G *T man siht iuch drumbe in riwe. Würde ie prıˆs von iu gesagt, hie sıˆ rıˆter oder magt, werbet mir daˆ zin den toˆt soˆ w. *G soˆ erwerbet *T · hin zin *T und laˆt sich enden mıˆne noˆt. sıˆt ir genant Parzival, soˆ wert mıˆn sehen an den Graˆl wendet *T ([*]: wendent V went Z) siben naht und aht tage. daˆ mite ist wendec al mıˆn klage. vürbaz w. n. *G *T ine getar iuch anders warnen niht. wol iu, ob man iu helfe giht! Iwer geselle ist hie ein vremder man. sıˆnes steˆns ich im vor mir niht gan. wan laˆt irn varn an sıˆn gemach?« nuˆ laˆt in v. *G *T Al weinende Parzival doˆ sprach: *m »saget mir, waˆ der Graˆl hie lige. nuˆ (om. I) zeiget mir *G *T ob diu gotes güete an mir gesige, des wirt wol innen disiu schar.« sıˆne venje viel er des endes dar er viel *G (o. L) *T drıˆstunt ze eˆren der trinitaˆt. er warp, daz müese werden raˆt des truˆrigen mannes herzeseˆr. er rihte sich uˆf und sprach doˆ meˆr: doˆ stuont er uˆf und sp. meˆr *G *T »Œheim, waz wirret dir?« der durch sande Silvestern einen stier
freudig und doch leidgeprüft. Er sagte: »Ich habe in Qualen warten müssen, ob ich je durch Euch froh werde. Ihr seid nun beim letzten Mal auf eine Weise von mir geschieden, dass – wenn Ihr einer triuwe fähig seid, die von Herzen kommt – man Euch nur in Reue und Schmerz zu sehen erwartet. Falls Euer Ruhm jedoch zu Recht verbreitet wird, erwirkt von ihnen, sei es hier Ritter oder Jungfrau, meinen Tod, und lasst meine Not ein Ende haben. Werdet Ihr ›Parzival‹ genannt, so verwehrt, dass ich den Gral sehe, sieben Nächte und acht Tage: damit ist dann all mein Jammer gewendet. Ich wage nicht, Euch anders aufzurütteln. Seid gepriesen, wenn man Euch Hilfe nachsagen kann! Euer Gefährte ist hier ein Fremder; dass er vor mir zu stehen hat, gestatte ich nicht. Warum lasst Ihr ihn nicht zum Ausruhen kommen?« Parzival weinte, als er darauf sagte: »Sagt mir, wo hier der Gral ist. Falls Gottes Güte mit mir obsiegt, wird dessen diese Schar wohl inne werden.« Er fiel in diese Richtung auf seine Knie, dreimal, zu Ehren der Trinität. Er bat darum, dass Hilfe werde für des traurigen Mannes tiefen Schmerz. Er richtete sich auf und sprach darauf weiter: »œheim, waz wirret dir?« Der durch den heiligen Silvester einen Stier
*D: D *m: m V *G: G I L (795.1–6,11–30) Z *T: U 1 Initiale D G I L Z
7 Majuskel D
17 Majuskel D 19 Initiale I 20 Majuskel D 29 Initiale D o
4 alsoˆ] soˆ *m 5 pflegt] pfligt D · herzenlıˆcher] helflıˆcher *m 19 an] in *m (nur m) 20 Parcifal zuo im doˆ sprach *m 26 müese] mvse D 27 herzeseˆr] herzen seˆre *m (nur m) 28 Œheim] ÷heim D
2–3 Vom HS in 795.2 ist in 795.3 ein Objektsatz abhängig (wörtl.: „Ich habe unsanft erwartet, dass ich jemals froh werde“; vgl. PAUL § S 180.1). Der NS in 795.3 ohne satzeinleitende Konj. mit Spitzenstellung des Verbs im Ind. Präs. (wirde) steht zugleich in einem konditionalen („wenn überhaupt“ B/M, MARTIN; „ob“ SCHMITZ) Verhältnis (PAUL § S 157.1, 192.3) zum HS mit dessen verbalem Ausdruck „des Zweifelns, Ungewiss-Seins“ (PAUL § S 181). 4–6 Auf den HS folgt ein Konditionalsatz, darauf ein weiterer HS in der Funktion eines modal-konsekutiven NS („Koordination statt Subordination“ B/M), PAUL § S 150ff. 5 pflegen] phlegen stv., mit Gen., „haben“, „besitzen“ u.a. – herzenlıˆch] Adj., „was im herzen ist, vom herzen kommt“ (LEXER 1, 1271). 7 Wörtl.: „wurde je Ruhm von Euch gesagt“. 9 werben ze] „auf eine kluge Weise [verfahren], um etwas zustande zu bringen“ (BMZ 3, 722a z.St.). – zin] = ze in. 12–13 Die Aussage ist genau abgestimmt auf 469.16 sowie 483.24–26 (B/M). 14 wendec] Adj., „rückgängig“; wendec sıˆn, „vorbei sein“ (LEXER 3, 758 z. St.). 15 warnen] swv. mit Akk. „aufmerksam machen“ (BMZ 3, 526a z.St.). 18 gan] 1. Sg. Ind. Präs. von gunnen, an.v., mit Dat. oder Gen., „erlauben, gewähren“ (LEXER 1, 1119). 19 wan] wanne, Konjunktion, „warum nicht?“ (vgl. PAUL § S 20a). – irn] = ir in. – gemach] stmn., „ruhe, wolbehagen, bequemlichkeit, annehmlichkeit, pflege“ (LEXER 1, 832). 20 al weinde] Wörtl. „ganz und gar weinend“. 22 an] Präp., hier mit Dat., „mit“ (vgl. LEXER 1, 57 [2c]). 24 venje] stswf., „Kniefall“, „kniefälliges Gebet“. – des endes] „dahin“, „in diese Richtung“ (LEXER 1, 549; B/M). 26 müese] 3. Sg. Konj. Prät. zu müezen, Prät.-Präs., „müsste“. 27 herzeseˆr] stn., Gen. Sg., hier mit erspartem Gen.-s nach vorhergehendem Gen. (des truˆrigen mannes). 29 Andere Formulierung der Frage: 484.27. Wörtl.: „Mutterbruder, was fehlt Dir?“; auch STAPEL belässt es beim mhd. Wortlaut. – werren] stv., intrans., mit unpersönlichem Subj., „im wege sein, hemmen, verdruß/ schaden/ noth bringen“ (BMZ 3, 743a, Z. 45f.; u. Dativ, z. St. 743b, Z. 10). 5 *G*T: „sofern es Euch eine Pflicht ist zu helfen“. 12 *T: wendet] „wendet ab“, „verwehrt“.
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^ Die Frage, welchen Beitrag Karl Lachmann (1793–1851) zu
Methodik und Theorie der Edition vormoderner, handschriftlich überlieferter Texte geleistet hat, ist schwerer zu beantworten, als es die geläufige Rede von der „Lachmannschen Methode“ vermuten lässt. Im vorliegenden Band erfolgt eine umfassende Auseinandersetzung mit dieser Frage, wobei die internationale, vor allem von italienischen Philologen vorangetriebene Lachmann-Forschung ebenso einbezogen wird wie Lachmanns Gesetze zur Tragweite und zu den Grenzen der mechanischen Recensio.
Davon ausgehend stellt der vorliegende Band die Aktualität von Lachmanns Programm einer strenghistorischen Kritik zur Diskussion: Repräsentative Positionen aus der an Lachmann anschließenden Methodendiskussion – darunter auch Extrempositionen, wie sie z.B. Bernard Cerquiglini vertreten hat – werden mit einem weiten Spektrum überlieferungsgeschichtlicher und editionspraktischer Befunde konfrontiert.
www.ESV.info