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German Pages 56 Year 1914
kurzer Abriß der
Logik und Lrkenntnislehce auf naturwissenschaftlicher Grundlage
Sür den Unterricht an höheren Schulen, an Lehrer- und Lehrerinnen-vtldungsanstalten sowie zum Selbstunterricht von
kl.5chulte-Tigges Direktor des Realgymnasiums ;u Cassel
Berlin 1914 Druck und Verlag von Georg Reimer
Alle Rechte, Insbesondere das der Über setzung in fremde Sprachen, vorbehalten
Vorwort. ehrfach geäußerte Wünsche von Amtsgenossen und die
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Erfahrungen, die der Verfasser beim Unterricht in der philo sophischen Propädeutik wiederholt sammeln konnte, ließen seit längerer Zeit in ihm den Plan reifen, eine gekürzte, für die Hand des Schülers besonders geeignete Ausgabe seiner im gleichen Verlag früher erschienenen „Philosophischen Propädeutik auf naturwissenschaftlicher Grundlage"1) ins Leben zu rufen. Der vorliegende kurze Abriß der Logik und Erkenntnislehre ist eine Umarbeitung des ersten Teils jenes größeren Werkes. Für diese mußte der Gesichtspunkt maßgebend sein, mit so viel zu bieten, wie in der verfitgbaren Zeit auch wirklich bewältigt werden kann, und dazu in einer Darstellung, die dem Anfänger in der Philosophie nicht unüberwindliche Schwierigkeiten bereitet. Es ist daher aus dem Inhalt des größeren Buches namentlich an stofflichen Belegen alles Entbehrliche ausgeschieden worden, und der Verfasser hofft, daß die Darlegungen selbst an Klarheit und Durchsichtigkeit gewonnen haben möchten. Den mathematisch-naturwissenschaftlichen Charakter hat das Büchlein nicht abgestreift und auch nicht abstreifen sollen, da eine bessere Anknüpfung wohl kaum gefunden werden dürfte; doch sind die Schwierigkeiten, die sich bisher einer Benutzung durch Vertreter anderer Fächer entgegenstellten, nach Möglichkeit l) A. Schulte-Tigges, Philosophische Propädeutik auf natur wissenschaftlicher Grundlage. 2. Ausl. Berlin, Georg Reimer, 1904. Preis geb. 3.80 Mk.
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Vorwort.
vermindert worden. Eine Erweiterung hat dagegen nach der Richtung der formalen Logik stattgefunden, insofern auf die Lehre vom Begriff, Urteil und Schluß mehr als bisher eingegangen worden ist. Ein noch näheres Eingehen auf diese älteren Teile der Logik ist damit ja nicht ausgeschlossen, liegt aber nicht in dem diesem Büchlein gesteckten Ziel. Dagegen ist aus dem zweiten Teil des größeren Werkes der — gleichfalls teilweise umgearbeitete — Abschnitt über die Subjektivität unserer Erkenntnis übernommen worden, da sich die Logik von der Erkenntnislehre heute kaum noch trennen läßt. Somit stellt der vorliegende Abriß ein in sich abgeschlossenes Ganzes dar, so daß er auch ohne den für später in Aussicht ge nommenen zweiten Teil gebraucht werden kann. Ein ebenso knapper Abriß der Psychologie') ist in demselben Verlag, von Herm Dr. Artur Buchenau verfaßt, vor kmzem erschienen. Cassel, int Juni 1914.
A. Schulte-Tigges. l) vr. A. Buchenau, Kurzer Abriß der Psychologie. Berlin,Georg Reimer, 1914. Preis geb. 1.— Mk.
Inhalt. Seite
Vorwort...................................................................................................... I. Gewinnung und Ordnung von Begriffen.....................................
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II. Die Erforschung der Naturgesetze durch Naturbeobachtung und Versuche............................................................................................. 12 III. Charakter und Wert der Induktion.................................................19 IV. Kausalgesetz und Hypothese................................................................. 27 V. Deduktion................................................................................................. 36 VI. Die Subjektivität unserer Erkenntnis.............................................48
I Gewinnung un- Ordnung von Gegriffen. 1. Wenn wir ein System des Pflanzenreichs oder des Tierreichs, wie wir es ausschnittweise in der am Schlüsse beige fügten Tabelle vor uns haben, mit seinem festen Gefüge von Abteilungen der verschiedensten Art überblicken, so können wir wohl ahnen, welcher ungeheuren geistigen Arbeit es bedmste, um zu dieser Ordnung zu gelangen. Werfen wir einmal einen Blick in die geistige Werkstatt, aus der sie hervorgegangen ist. Da unterliegt es denn keinem Zweifel, daß das ganze Ge bäude von unten aus aufgebaut werden mußte, denn dem beob achtenden Sinn des Naturmenschen boten sich zunächst ja nur die Einzelwesen selbst dar. So entstanden durch vergleichende Beobachtung der einander ähnlichsten Einzelwesen die untersten Begriffe, die Arten. Selbst auf den untersten Stufen der menschlichen Kultur ist diese Erkenntnis vorhanden. „In den Erzählungen der wildesten Volksstämme, in ihren ältesten Liedem und Sagen sieht man Eichen und Fichten, Rosen und Veilchen, den Oliven« bäum und den Weinstock und tausend andere Erzeugnisse der Erde aus eine Weise erwähnt, daß für solche Gegenstände der Natur dauernde Unterschiede bemerkt und bestimmte Bezeichnungen bereits allgemein anerkannt gewesen sein müssen." (Whewell).
2. Die Merkmale einer Art ergeben sich offenbar dadurch, daß man von den Kennzeichen, in denen sich die zu ihr gehörenden Einzelwesen unterscheiden, absieht (abstrahiert) und nur die allen gemeinsamen Merkmale zusammenfaßt.
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L Gewinnung und Ordnung von Begriffen. Um z. B. die Merkmale der Art zu finden, die wir mit Mus musculus bezeichnen, müssen wir von den geringen Ver schiedenheiten der einzelnen Hausmäuse in bezug auf Größe und Schwere, Farbe, Behaamng, Wuchs usw. abstrahieren. Die Merkmale eines mathematischen Begriffs ergeben sich leichter. So braucht man bei einem Vergleich aller möglichen Quadrate nur von ihrer verschiedenen Größe zu abstrahieren und behält eine ganze Reihe von Merkmalen übrig, die sämtlichen Quadraten zu kommen, also den Begriff „Quadrat" ausmachen. Ähnlich ver hält es sich mit den Begriffen auf allen andern Gebieten. Ein deutlicher Unterschied zwischen den Einzeldingen und den untersten Begriffen besteht schon darin, daß man nur die ersteren sinnlich wahrnehmen, die letzteren aber im besten Falle sich nur mehr oder weniger verschwommen vorstellen kann. Es gilt also auch von den sogenannten konkreten Begriffen, daß sie zwar aus sinnlich wahrnehmbaren Dingen abstrahiert werden, aber nicht selbst sinnlich wahrnehmbar sind. Die Wörter der Sprache bezeichnen, von den Eigennamen abgesehen, im allgemeinen nicht Einzeldinge, sondem Begriffe und bedürfen zur Bezeichnung der ersteren eines Zusatzes durch Fürwörter u. dgl.
3. Durch ebendieselbe Denktätigkeit der Abstraktion gelangen wir bei Vergleichung ähnlicher Arten zu dem übergeordneten Begriff der Gattung, von den Gattungen zu den Familien, Ordnungen und Klassen. Diese Unterordnung unter höhere Begriffe heißt Subsumtion; durch sie steigt man von den niedersten zu den höchsten Begriffen auf. Die den Arten Mus decumanus, rattus, musculus usw. gemeinsamen Merkmale machen den Begriff der GatMng Mus aus. Bereinigt man Quadrat und Rechteck zu der Gattung der rechtwinkligen Parallelogramme, so muß man von der Gleichheit aller Seiten und den damit zusammenhängenden Merkmalen abstrahieren. Ganz deutlich läßt sich die ständige Abstraktion bei der Subsumtion in dem nachstehenden Begriffs system verfolgen.
I. Gewinnung und Ordnung von Begriffen.
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Figur 1. geradlinige F., 2. krummlinige F., 3. gemifchtlinige F. IHreieck, 2. Viereck, 3. Fünfeck, . . . . . 1. Parallelogramm, 2. Trapez, 3. Gew. Viereck. 1. rechtwinkliges P-, 2. schiefwinkliges P. 1. Quadrat, 2. Rechteck.
4. Nennt man die Summe der Merkmale, die einem Begriff zukommen, den Inhalt, die Summe aber der Unterbegriffe und Einzeldinge, die er umfaßt, seinen Umfang, so erhellt ohne weiteres, daß beim Aufsteigen zu immer höheren Begriffen des Systems ihr Inhalt immer ärmer, ihr Umfang dagegen immer größer wird. Das zeigt sich besonders deutlich bei dem in 3. aufgezeichneten Begriffssystem, aber auch bei den großen Systemen des Tierund Pflanzenreichs, und es hängt mit der zunehmenden Leere des Inhalts die Tatsache zusammen, daß die Vorstellung eines Begriffs um so weniger möglich ist, je höher er im System steht. 5. Zerlegt man einen Begriff in seine Merkmale (Par tition), so erkennt man, namentlich bei den mathematischen Begriffen, daß nicht alle Merkmale von gleicher Bedeutung für ihn sind. Oft genügen schon einige Merkmale, um ihn hin reichend zu kennzeichnen, die anbetn treten nur ergänzend hinzu. Man unterscheidet daher grundlegende und abgeleitete Merkmale. Für die Kennzeichnung eines Parallelogramms genügt vollständig die Begrenzung durch vier Seiten, die paarweise parallel sind. Wgeleitete Merkmale sind z. B. die Gleichheit der Gegenseiten, der gegenüberliegenden Winkel und die gegen seitige Halbierung der Diagonalen. 6. Die Beschreibung eines Begriffs kann sich auf sämtliche Merkmale erstrecken, die Definition hebt nur diejenigen hervor, die zu einer klaren und deutlichen Auffassung des Begriffs not wendig sind, also die grundlegenden Merkmale. Von diesen gehören aber mehrere dem nächst übergeordneten Begriff an, so daß sich die Definition auf die Angabe des nächst übergeordneten
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I. Gewinnung und Ordnung von Begriffen.
Begriffs (genug proximum) und des Artunterschieds (differentia specifica) beschränken kann. Zu einer Beschreibung des Dreiecks gehört eigentlich die ganze Dreiecksgeometrie, soweit sie sich nicht auf besondere Arten des Dreiecks bezieht. Für die Definition genügt die Angabe, daß es eine geradlinige Figur mit 3 Seiten ist. In derwifferschaftlichen Bezeichnung der Tiere und Pflanzen findet man Gattung und Artunterschied angedeutet. Fehlerhaft wird eine Definition, wenn Oberbegriff oder Artunterschied zu eng oder zu weit gefaßt sind, wie in den folgenden Beispielen: Ein schiefwinkliges Dreieck ist ein Dreieck mit lauter spitzen Winkeln, oder eine Figur mit lauter schiefen Winkeln. Ein Garten ist ein umzäuntes Stück Land, das zur Aufzucht von Blumen dient. Fehlerhaft ist die Definition auch dann, wenn der Artunterschied im Widerspruch zu den (gmndlegenden oder abgeleiteten) Merkmalen des Oberbegriffs steht, wie z. B.: Ein rechtwinkliges Dreieck ist ein Dreieck mit lauter rechten Winkeln. Eine besondere Art der Definition ist die genetische Definition, die angibt, wie das durch den Begriff Ausgedrückte entsteht; vgl. die genetische Definition des Kreises: Ein Kreis wird durch den einen Endpunkt einer Strecke beschrieben, die sich um den anderen Endpunkt dreht. 7. Aus der Tatsache, daß es bisher noch kein System des Tierund Pflanzenreichs zu unbeschränkter Anerkennung und Herrschaft gebracht hat, läßt sich unschwer erkennen, daß bei ihrem Aufbau doch noch besondere Schwierigkeiten zu überwinden find. Bor noch nicht langer Zeit wurden z. B. die Reptilien und Amphibien noch nicht als getrennte Klaffen unterschieden, ebensowenig die Raubtiere und die Insektenfresser als getrennte Ordnungen. Die Huftiere werden bald in Ein-, Zwei- und Vielhufer, bald in Paarhufer und Unpaarhufer unterschieden. Die außerdeutschen Füchse wie der ruffische Kreuzfuchs, der schwarzbäuchige Fuchs Italiens, der Nilfuchs Ägyptens und Arabiens, der Rotfuchs Nordamerikas werden vielfach der Art canis vulpes nicht zugerechnet, sondern als besondere Arten unterschieden.
I. Gewinnung und Ordnung von Begriffen.
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8. Die Schwierigkeit bei der Bildung der Arten, Gattungen usw. besteht nicht in der vorzunehmenden Abstraktion selbst, sondem in der Auswahl und Begrenzung des Kreises von Einzel« wesen (Arten usw.), der für die Aufstellung der Art (Gattung usw.) in Betracht gezogen werden soll. Hier bleibt für die will kürliche Auffassung der Forscher ein ziemlich weiter Spielraum. Die abweichenden Merkmale der oben genannten außer deutschen Füchse, die sich neben der Farbe besonders auf Ohren und Schnauze beziehen, werden eben von den einen für wesenllich erachtet, von andern nicht. Die Regel, man soll zu einer Art diejenigen Einzelwesen rechnen, die sich untereinander nicht mehr unterscheiden als die Nachkommen desselben Elternpaares, versagt insbesondere den Haustieren und den Kulturpflanzen gegenüber. 9. Den Gegensatz zu der aufsteigenden bildet die absteigende Klassifikation, die Division oder Einteilung. Während dort immer mehr Merkmale ausgeschaltet werden, wird es hier notwendig, zu den Merkmalen des Oberbegriffs besondere hinzuzufügen, um den oder die Unterbegriffe zu erhalten. Der Oberbegriff wird also näher bestimmt (determiniert). Dieser Gegensatz zwischen der Subsumtion durch Mstraktion und der Division durch Determination ist in dem Begriffssystem in 3. am deutlichsten erkennbar und kann dort in allen Einzel heiten leicht ausgeführt werden. Ohne weiteres klar ist, daß bei der Division der Inhalt der Begriffe immer reicher, ihr Umfang dagegen immer enger wird. 10. Das Merkmal, auf Grund dessen die Einteilung vor genommen wird, heißt Einteilungsgrund (principium divisionis). Die Einteilung wird fehlerhaft, wenn der Gnteilungsgrund nicht einheitlich, sie wird unzweckmäßig, wenn er nicht wesentlich ist. Jedenfalls müssen die Unterbegriffe sich gegenseitig aus schließen und zugleich den Oberbegriff erschöpfen. Weshalb die Einteilung der Dreiecke in rechtwinllige und gleichseitige oder die der Parallelogramme in rechtwinllige und gleichseitige falsch ist, ist leicht einzusehen, ebenso die Un-
12 II. Erforschung der Naturgesetze durch Naturbeobachtung u. Versuche. zweckmäßigkeit der Einteilung der Dreiecke in solche, bei denen der größte Winkel größer, ebenso groß oder kleiner als 100® ist. Das Limbische System des Pflanzenreichs wird deshalb ein künstliches, d. h. der Natur nicht genügend angepaßtes genannt, weil bei der Einteilung die Staubgefäße und Stempel — an sich gewiß wichtige Organe — einseitig bevorzugt werden. Dies zeigt sich denn auch darin, daß manche Pflanzen, die Linnä selbst ihres übereinstimmenden Baues wegen zu derselben Familie rechnen muß, zu verschiedenen Klassen gehören (z. B. die Salbei unter den Labiaten, Königskerze und Ehrenpreis unter den Scrophulariaceen). Dagegen erkennt man den Vorzug der späteren natürlichen Systeme, abgesehen von der klareren Einteilung der Kryptogamen, besonders in der scharfen Scheidung der Monokotylen und Dikotylen, die durch die Verschiedenheit der ganzen Organisation (Keimblätter, Verzweigung der Wurzeln, Anordnung und Beschaffenheit der Gefäßbündel, Blattaderung, Bau der Blüten) gerechtfertigt ist.
IL Die Erforschung der Naturgesetze durch Natur beobachtung und Versuche. 1. In den betrachteten Systemen treten uns die Lebewesen mehr oder weniger als in der äußeren Form vollendet und un veränderlich entgegen; es ist aber nicht zu übersehen, daß sich an ihnen und in ihnen ständig Veränderungen vollziehen, die den Gegenstand der Entwicklungslehre und der Physiologie ausmachen. Gleiches gilt von der Welt der Gesteine und Mineralien wie von der sonstigen unbelebten Natur überhaupt. Diesen Naturvor gängen und ihrer wissenschaftlichen Erforschung sei jetzt unsere Aufmerksamkeit gewidmet. Ein Fortschritt auf den genannten Gebieten übt natürlich auch eine Rückwirkung auf die Systembildung aus, da erst die Untersuchung der Lebensvorgänge Licht darüber verbreitet, ob Merkmale als wesentlich oder unwesentlich anzusehen sind. 2. Die Untersuchung einer Naturerscheinung muß offenbar zunächst eine Antwort auf die Frage geben: Me verläuft die Er-
II. Erforschung der Naturgesetze durch Naturbeokachtung u. versuche. 13 scheinung? Erforderlich ist also eine genaue Beobachtung des Vorgangs. Hierbei aber zeigt sich sofort, daß die Erscheinung nicht isoliert dasteht, sondern sich inmitten einer fast unüber sehbaren Menge von anderen Erscheinungen ereignet. Es ist auch nicht möglich, sie gänzlich zu isolieren oder auch nur isoliert zu betrachten. Die Beobachtung muß daher, wenigstens zum Teil, auch auf die begleitenden Umstände ausgedehnt werden. Von diesen sind zunächst diejenigen festzustellen, die die Erscheinung stets begleitet haben oder ihr vorangegangen sind. Dazu ist natürlich eine möglichst oft wiederholte Beobachtung der Erschei nung notwendig. Auf diese Weise läßt sich z. B. ermitteln, daß Tau und Reif sich in Katen und windstillen Nächten bei hinreichenderFeuchtigkeit der Luft an Gegenständen bilden, die kein schützendes Dach über sich haben; oder daß ein Regenbogen sich nur bei nicht zu hohem Stande der Sonne bildet und in der Richtung gesehen werden kann, die der Sonne selbst gerade entgegengesetzt ist. Es scheiden also für die weiteren Beobachwngen von vornherein alle Umstände aus, die die Erscheinung nicht immer begleitet haben. (Auf eine Ausnahme wird noch hingewiesen werden.) Andererseits ist damit aber noch nicht gesagt, daß nun die übrig bleibenden Umstände in einem wesentlichen Zusammenhang mit der Erscheinung stehen, da ja ein solcher Umstand bei einer späteren Beobachtung auch fehlen könnte und die Achsendrehung der Erde z. B. alle irdischen Vorgänge begleitet, ohne doch offenbar auf alle von Einfluß zu sein. 3. Es muß sich mithin darum handeln, aus den Umständen, die die Erscheinung in allen Fällen begleitet haben, diejenigen auszulesen, die für ihr Eintreten und ihren Verlauf wesentlich sind, d. h. bei deren Wegfall die Erscheinung nicht eintritt und mit deren Änderung sich auch die letztere ändert. Nennt man diese Umstände und Vorgänge die Bedingungen der Erscheinung, so kann nun auch die obige Frage bestimmter lauten: Unter welchen Bedingungen tritt die Erscheinung ein? Bei einer wiederholten Beobachtung der Taubildung
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II. Erforschung der Naturgesetze durch Naturbeobachtung u. Versuche.
tarnt man erkennen, daß sowohl die Beschaffenheit der be schlagenen Gegenstände in bezug auf Gestalt und Wärmeleitungs» fähigkeit als auch ihre Lage (Zusammenhang mit dem Erdboden) als Bedingungen anzusehen sind. Beim Regenbogen läßt sich verhältnismäßig leicht ermitteln, daß seine Höhe je nach dem Stande der Sonne verschieden ist. Die Stellung von Sonne und Mond ist eine Bedingung für die Erscheinung von Ebbe und Flut. (Im Mittelalter galt den Astrologen die Stellung der Gestime im Augenblick der Geburt als eine Bedingung für die Schicksale des Neugeborenen.) 4. Es genügt aber nicht, bloß die Bedingungen festzustellen, sondem es muß auch untersucht werden, in welcher Weise die Bedingungen einzeln zu dem Zustandekommen der Erscheinung beitragen, in welchem Maße diese von jenen abhängig ist. Die Erscheinung ändert sich ja mit ihren Bedingungen, und dieser Zusammenhang ist soweit als möglich mit Hülfe von Messungen festzustellen. Bei der Untersuchung der Taubildung haben Messungen gezeigt, daß die beschlagenen Gegenstände unter den Taupunkt der umgebenden Luft erkaltet waren, so daß sich der darin ent» haltene Wasserdampf an ihnen teilweise verdichtete, während nach früheren Ansichten von der Erde aufsteigender Dampf oder ein feiner Regen den Tau hervorbringen sollte. Zweckmäßige Messungen ergeben, daß der Mittelpunkt des Regenbogens in der durch die Sonnenmitte und das Auge des Beobachters gezogenen Geraden liegt, daß der mittlere Halbmesser des Bogens stets 41° beträgt, der höchste Punkt des Bogens also in der Höhe 41°—« erscheint, wenn a die Sonnenhöhe bezeichnet, der Bogen daher nur dann sichtbar ist, wenn die Sonnenhöhe für den Beobachter weniger als 41° beträgt. Der Zusammenhang zwischen den Gezeiten (Ebbe und Flut) und ihren Bedingungen ist gegenwärtig so fiat erkannt, daß man im voraus für die einzelnen Hafenorte Gezeitentafeln entwerfen kann. 5. Immerhin ist häufig die Ermittelung der Bedingungen
II. Erforschung der Naturgesetze durch Naturbeobachtung u. Versuche.
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selbst bei oft wiederholten Beobachtungen schwierig, noch schwieriger aber festzustellen, welchen Anteil die einzelnen Bedingungen an dem Erfolg haben. Diese Schwierigkeiten werden aber wesentlich gehoben, wenn es möglich ist, selbst in den Lauf der Erscheinung einzugreifen und willkürlich Verändemngen hervorzumfen. Das Experiment ist eine Frage an die Natur, auf welche diese eine deutliche Antwort erteilt. Das Experiment lehrt mit Sicherheit die Bedingungen von den Nebenumständen unterscheiden, wenn man willkürlich die eine Erscheinung begleitenden Umstände hervorrufen, aus schalten und verändern und dabei in ihrem Einfluß auf die Er scheinung selbst verfolgen kann. Die unedlen Metalle verändern sich namentlich beim Erhitzen mehr oder weniger schnell an der Oberfläche. Um zu erkennen, ob die atmosphärische Luft an dieser Veränderung beteiligt ist, schaltet man die zweifelhafte Bedingung aus, d. h. man erhitzt die Metalle unter Abschluß der Luft in Wasserstoff und schließt aus der nun ausbleibenden Veränderung, daß die Luft oder wenigstens ein Bestandteil derselben für jenen Vorgang unentbehrlich ist. Weiterhin leitet man Luft über erhitztes Kupfer, sammelt und prüft den Rest wie auch das veränderte Metall, wobei sich zeigt, daß der Rest noch etwa */s der zu geführten Luftmenge ausmacht und andere Eigenschaften besitzt, so daß also für die Veränderung nur ein Bestandteil der Luft in Betracht kommt, der nun wiederum durch Erhitzen von Queck silberoxyd geprüft werden kann. Unsere Kenntnisse vom Sieden der Mssigkeiten würden sicherlich ganz unvollkommen sein, wenn wir diese nicht künstlich auf beliebige Temperaturen erhitzen und unter dem verschiedensten Druck untersuchen könnten. Um festzustellen, ob der in der Luft schwebende Staub an der Verdichtung des Wasserdampfes beteiligt sei, ließ Aitken in zwei Glasgefäße, von denen das eine mit gewöhnlicher, staubhaltiger, das andere mit staubfreier Luft gefüllt war, Wasserdampf einströmen und beobachtete, daß nur in dem ersteren sich ein Nebel bildete. Die Beobachtung des freien Falles im luftleeren Raum
II. Erforschung der Naturgesetze durch Naturbeobachtung u. Versuche. 17
allein darin, daß uns für die unmittelbare Aufnahme gewisser Erscheinungen, wie der magnetischen und elektrischen, die Sinne fehlen; die Wahmehmungsfähigkeit ist auch sonst auf bestimmte endliche Maße beschränkt, innerhalb dieser Grenzen überdies noch fehlerhaft und ungenau und reicht zur Messung von Inten sitäten nicht aus. Diese Mängel können teilweise gehoben werden durch geeignete Hülfsmittel wie Jnstmmente und Apparate; ganz jedoch nicht, da die Beobachtung in letzter Linie ja doch durch die Sinnesorgane selbst geschehen muß. Unser Gesichtssinn gibt uns keine Kunde von den im Spektmm vorhandenen ultraroten und ultravioletten Strahlen, obwohl wir Grund zu der Vermutung haben, daß diese sich von den Lichtstrahlen nur quantitativ, aber nicht dem Wesen nach unter scheiden. Unser Ohr empfindet Schwingungen unter 30 und über 20—30000 in der Sekunde nicht als Töne, während die Grenze der Hörbarkeit überhaupt zwischen 30000 und 60000 liegt. Auch an gewisse räumliche Grenzen ist die Gesichtswahr nehmung gebunden, insofern, der Größe der Netzhautzapfen entsprechend, im allgemeinen nur Gegenstände deutlich ver nehmbar sind, deren Gesichtswinkel mindestens 30" beträgt. Das Auge vermag ferner in Farbengemischen die einzelnen Bestand teile nicht zu unterscheiden, während das Ohr bei einiger Übung in dem Klang die Teiltöne erkennt. Beide Organe aber geben uns nur ungenaue Vorstellungen von der Stärke (Intensität) der Erscheinungen, indem man auf Gmnd unmittelbarer Beobachtung niemals mit Sicherheit sagen kann, dieses Licht oder dieser Schall sei doppelt so stark als ein anderes Licht oder ein anderer Schall. Die Hülfsmittel der Beobachtung dienen teils dazu, die Grenzen unsrer Wahrnehmung zu erweitern, wie Fernrohr und Mkroflop, Telegraph, Telephon, Mkrophon, Funkentelegraphie, teils zur Zerlegung der Erscheinungen, wie Spektroskop, Polari sationsapparat, Resonawren. Andere wandeln Naturerscheinun gen verschiedener Art in Eindrücke des Gesichtssinnes um, wie Wage, Barometer, Thermometer, alle Galvanometer; noch andere dienen zur Ausführung genauer Messungen, wie Nonius, Tchult«»rtgg«s, Logik u. drtennbiUtefite.
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II. Erforschung der Naturgesetze durch Naturbeobachtung u. Versuche.
Mikrometerschraube, Spiegelsextant, Theodolit, Wagen, Baro meter, Photometer, Pendel. 8. Das Ergebnis aller Versuche und Beobachtungen, die bezüglich einer Erscheinung angestellt werden, ist ein Naturgesetz, d. h. die Angabe, unter welchen Bedingungen die Erscheinung eintritt und wie sie verläuft. Da es aus der Erfahrung gewonnen wird unb deren Inhalt widerspiegelt, so kann es auch empirisches oder Erfahrungsgesetz genannt werden. Das Naturgesetz hat also trotz seines Namens einen ganz anderen Charakter als die Sittengesetze und die Gesetze des Rechts und der Religion. Denn diese schildem nicht das tat sächliche Verhalten der Menschen, sondern geben Befehle und Verbote. Daher das „Du sollst" und „Du sollst nicht" der mo saischen Gesetzestafeln. Das Nawrgesetz hingegen zwingt die Naturkörper nicht, sich so zu verhalten, wie sie sich verhalten, es schreibt ihnen nicht ihre Bewegungen vor, es ist nicht eine über der Natur stehende Macht, sondern es sagt nur aus, daß sie sich so und nicht anders verhalten. Näher stehen dagegen den Natur gesetzen die Gesetze (Sätze) der Mathematik und int geistig geschichtlichen Leben z. B. die Gesetze der Entwickelung der Sprache, nicht aber die des Sprachgebrauchs, sofern sie als Vorschriften gelten sollen. 9. Hinsichtlich ihres Inhaltes lassen die Naturgesetze drei Erkenntnisstufen unterscheiden. In den Fällen, wo eine genaue Messung der bei der Erschei nung und ihren Bedingungen in Betracht kommenden Größen noch nicht möglich war, begnügt sich das Naturgesetz mit der Fest stellung, daß überhaupt ein Zusammenhang zwischen beiden besteht. In andern Fällen sind Messungen, oft in großer Anzahl, vorgenommen worden, ohne daß es gelungen wäre, einen durch eine mathematische Formel darstellbaren Zusammenhang zu erkennen. Sehr nützlich sind dann graphische Darstellungen. Mit der Darstellung des Zusammenhanges zwischen der Erscheinung und ihren Bedingungen dmch eine mathematische Formel ist dagegen die höchste Stufe erreicht.
UI. Charakter und Wert der Induktion.
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Auf der untersten Stufe stehen zur Zeit noch viele Gesetze der Biologie und Physiologie infolge des verwickelten Zusammen hangs der Erscheinungen in der Welt der Lebewesen. Einen Übergang zu der folgenden Stufe bilden die Gesetze in der Form, wie sie im physikalischen Anfangsunterricht oft ausgesprochen werden, z. B>: „Eine Taste gibt einen um so höheren Ton, je kürzer, dünner, leichter und straffer gespannt sie ist." In dem Zustand der zweiten Stufe befinden sich noch heute die Gesetze, die die Abhängigkeit der Spannkraft des gesättigten Wasserdampfes oder der Löslichkeit eines Salzes von der Temperatur angeben, und viele andere. Auch an die Abhängigkeit der meteorologischen Elemente von Ort und Zeit ist hier zu erinnern, wie sie in Klima- und Wetterkarten zur Darstellung gelangt. Für die oberste Stufe lassen sich zahlreiche Beispiele leicht finden. Hervorgehoben seien hier nur das Boyle-Mariottesche und das Gay-Lussacsche Gesetz, weil sich bei ihrer Bereinigung zu der Formel v b = v0 b0 (1 + et t) zugleich ein deutlicher Unterschied im Umfang der Gesetze bemerkbar macht.
M. Charakter und Wert der Induktion. 1. Nachdem die vorstehenden Ausfühmngen dargelegt haben, durch welche wissenschaftliche Arbeit ein Naturgesetz gewonnen werden kann, scheint die Frage fast überflüssig zu sein, ob und in wie weit nun das gewonnene Naturgesetz als unumstößlich richtig zu gelten hat. Und doch ist sie berechtigt; denn der Aus gangspunkt war ja die Beobachtung und Untersuchung einzelner Naturerscheinungen. Würde man die Gülttgkeit des Gesetzes ausdrücklich auf die untersuchten Fälle beschränken, so wäre es ganz und gar der Erfahrung entnommen, vorausgesetzt natürlich, daß die Bedingungen vollständig und genau ermittelt sind. Über diesen Kreis geht aber das Naturgesetz nach zwei Richtungen hinaus: Me Zeitform der Gegenwart, in der es ausgesprochen wird, legt ihm dauemde Gülttgkeit für alle Zeiten (und alle Orte) bei, und außerdem erblicken wir dann nicht nur die Regel 2*
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III. Charakter und Wert der Induktion.
für die untersuchten Vorgänge, sondern für alle Erscheinungen derselben Art. Wir wenden also hierbei ein eigentümliches Ver fahren, die Induktion, an, indem wir die an einzelnen Tatsachen gemachten Beobachtungen verallgemeinern und zu allgemein gültigen Gesetzen erheben. Die Beobachtung (und die Untersuchung der Bedingungen) kann nur zu Ditzen führen, wie: Unter den Bedingungen £4, bv ulte»ttgg«6, Segtl u. »lehr«.
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IV. Kausalgesetz und Hypothese.
Methode der Epizykeln zu. Wenn ein Punkt sich auf der Peripherie eines Kreises gleichförmig fortbewegt, während der Mittelpunkt dieses Kreises auf einer andern Kreislinie ebenfalls gleichmäßig fortschreitet, so nennt man den ersten Kreis einen Epizykel. Durch Jneinanderschaltung mehrerer Epizykeln läßt sich nun in der Tat jede Bewegung von beliebiger Form und beliebigen Und so gelang es Geschwindigkeitsänderungen darstellen. Ptolemäus, die sämtlichen damals bekannten Ungleichheiten in den Bewegungen des Mondes und der Planeten dadurch zu erklären, daß er diese Gestime in Epizykeln um die Erde kreisen ließ. Dabei scheute er keineswegs Epizykel auf Epizykel zu häufen, und auch den exzentrischen Kreis verschmähte er nicht anzuwenden, so daß die ganze Theorie zwar ein bewunderungs würdiges Denkmal menschlichen Scharfsinns darstellt — was ihre anderthalbtausendjährige, unbestrittene Geltung erklärt —, aber schließlich dem inneren Widerspruch zwischen ihrem künst lichen Aufbau und der immer wieder hervordrängenden Über zeugung von der tatsächlichen Einfachheit der Naturvorgänge erliegen mußte. Denn gerade die Verwickelcheit des geozentrischen und die klare Einfachheit des heliozentrischen Systems war es vor allem, die Kopemikus veranlaßte, sich der einst von Aristarch zum Teil schon aufgestellten Lehre zuzuwenden, nach der die Sonne und die Fixsterne unbeweglich int Weltenraum verharren, während Erde und Planeten um die erstere kreisen. Aber selbst Kopemikus konnte sich von der alten Aristotelischen Grundanschauung, daß die Bewegungen in Kreisen erfolgen müßten, noch nicht frei machen, und die astronomischen Un richtigkeiten seiner Theorie hinderten Tycho de Brahe, sich ihr anzuschließen, und drängten ihn zur Aufstellung eines eigenen Systems, bis es Kepler nach vielen mühsamen Versuchen gelang, die Erklämng des ganzen Planetensystems auf eine sichere, einwandfreie Gmndlage zu stellen. — 8. Wenn wir danach also überzeugt sein können, daß auch die heute geltenden Hypothesen in der Zukunft einmal durch bessere ersetzt werden, so wirst sich von selbst die Frage auf: Welchen Wert haben denn die Hypothesen für unsere Erkenntnis? Es ist zunächst das dem menschlichen Geiste tief eingewurzelte Be-
IV. Kausalgesetz und Hypothese.
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dürfnis nach einer einheitlichen Auffassung der Welt, dem die Hypothesen Genüge leisten. Daher ist uns eine Hypothese um so wertvoller, je mehr sie einer solchen Auffassung die Wege ebnet. Die Versuche, die Vielheit der chemischen Elemente auf einen Urstoff zurückzuführen, haben nie aufgehört und haben heute mehr als je zuvor Aussicht auf Erfolg. Die Ampöresche Theorie schlägt eine Brücke zwischen den magnetischen und elektrischen Erscheinungen, und die elektromagnetische Lichttheorie fügt noch das ganze Gebiet der Optik hinzu. Über die zentrale «Stellung der Newtonschen Gravitationshypothese vgl. S. 29. Die mechanische Wärmetheorie verbindet die Wärmelehre mit der Lehre von der Mechanik insbesondere der luftförmigen Körper. Der Begriff der Energie, dem bei der potentiellen Energie etwas Hypothetisches anhaftet, durchdringt das ganze Gebiet der Naturwissenschaft. 9. In manchen Fällen sind auch die Hypothesen Vorstufen sicherer Erkenntnis gewesen und durch Erfahrungsgesetze abgelöst worden. Immer aber haben sie auf die Forschung selbst anregend und befmchtend eingewirkt und hierdurch zu deren tatsächlichem Fortschritt beigetragen. Das gilt besonders für die Perioden, wo der Kampf zwischen zwei verschiedenen Hypothesen die Gegner zum Aufsuchen immer neuerTatsachen drängt, die geeignet sein könnten, zwischen ihren Meinungen zu entscheiden. Die Ptolemäische und Kopernikanische Hypothese ist durch die Keplerschen Gesetze abgelöst worden, die Phlogistontheorie durch die Oxydationslehre Lavoisiers. Zu seinen Luftpumpenversuchen wurde Guericke durch den Streit über die Existenz eines leeren Raumes angeregt. — Zu keiner Zeit waren die Fortschritte in der Optik so groß wie damals, als die Emissions- und die Wellentheorie um den Sieg stritten. Voltas Fundamentalversuche über die Entstehung des elektrischen Stromes entsprangen dem Widerspmch gegen die Galvanische Hypothese von dem tierischen Ursprung dieser Elektrizitätsart. — Die Frage, ob es überhaupt eine von dem Zwischenmittel und von der Zeit unabhängige Fernwirkung 3*
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v. Deduktion.
gibt, ob insbesondere die elektrische Wirkung sich ähnlich, wie man von der Gravitation annimmt, augenblicklich durch den Raum verbreitet, hat die Hertzschen Versuche gezeitigt. Andere Vorzüge der Hypothesen können erst in dem folgenden Abschnitt erörtert werden.
V. Deduktion. 1. Während die Induktion aus den einzelnen Fällen das allgemeingültige Gesetz finden läßt, schreitet die Deduktion um gekehrt vom Allgemeinen zum Besondern fort; sie ist daher ein Verfahren, aus Sätzen von allgemeinerer Geltung solche von engerem Umfang abzuleiten. Die Deduktion führt also vom Naturgesetz zur Einzel erscheinung und von der Hypothese und dem Kausalgesetz zum einzelnen Naturgesetz. 2. Als Mittel benutzt die Deduktion logische Schlüsse, die sich wiederum aus einzelnen Urteilen zusammensetzen. Jedes Urteil ist aber grammatisch genommen ein Satz, in dem zwei Begriffe als Subjekt (S) und Prädikat (?) verknüpft sind. Von besonderer Wichtigkeit ist die Art dieser Verknüpfung. Sind die beiden verknüpften Begriffe genau gleich (oder sieht man wenigstens von etwaigen Verschiedenheiten ab), so entsteht das Jdentitätsurteil, wie es in jeder guten Definition (z. B. des Kreises, des Parallelogramms) vorliegt. Ist dagegen der eine Begriff (gewöhnlich 8) dem andem (?) untergeordnet, so erhält man das Subsumtionsurteil, das z. B. aus einer Definition hervorgeht, wenn man den Artunterschied weg läßt (das Quadrat ist ein Parallelogramm, das Pferd ist ein Einhufer). In anbetn zahlreichen Fällen besteht ein Verhältnis der Abhängigkeit, das gewöhnlich durch einen zusammengesetzten Satz unter Verwendung einer Konjunktion ausgedrückt wird, wie z. B. in den Sätzen: Wo feuchte Winde auf ein Gebirge treffen, entstehen Mederschläge; sobald die Temperatur des Wassers den Siedepunkt erreicht hat, entwickeln sich Dampfblasen in der ganzen Flüssigkeit; wenn zwei Parallelogramme gleiche
V. Deduktion.
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Grundlinien und gleiche Höhen besitzen, sind sie inhaltsgleich; weil der zusammengepreßte Dampf eine große Spannkraft besitzt, vermag er den Kolben vorwärts zu treiben. Besonders häufig sind die Bedingungsurteile (mit der Konjunktion wenn), da die mathematischen und physikalischen Sätze gewöhnlich diese Form haben oder auf sie gebracht werden können. Um die Art der Verknüpfung zu durchschauen, ist es in vielen Fällen nötig, ein Urteil auf eine andere Form zu bringen, z. B. das Urteil: Die Metalle sind schmelzbar, umzuwandeln in: Die Metalle sind schmelzbare Körper. 3. Der logische Schluß setzt sich nun aus drei Urteilen zu sammen, von denen die beiden ersten die Vordersätze (Ober und Untersatz, Prämissen), der letzte der Schlußsatz (Conclusio) heißen. Ein Schluß ist nur möglich, wenn die beiden Vordersätze einen gemeinschaftlichen Begriff, den Mittelbegriff (M, Terminus mcdius) enthalten. Wir ziehen vielfach Schlüsse, ohne sie vollständig aus zusprechen, z. B. wenn wir sagen: Das Rechteck hat gleiche Gegenseiten, weil es ein Parallelogramm ist. Der vollständige Schluß würde lauten: Das Parallelogramm hat gleiche Gegenseiten. I Obersatz M P Das Rechteck ist ein Parallelogramm. | Untersatz S M Das Rechteck hat folglich gleiche Gegenseiten. | Schlußsatz 8 P Der vorstehende Schluß ist ein Subsumtionsschluß, da er sich auf zwei Subsumtionsurteile gründet. Eine andere Schluß form von geringerer Wichtigkeit ist z. B. die folgende, bei der auf den Umfang des Subjekts im Schlußsatz zu achten ist: M 8 Das Rechteck ist ein Parallelogramm. M P Das Rechteck hat gleich lange Diagonalen. Einige Parallelogramme haben gleich lange Diagonalen [S]P Eine sehr häufig vorkommende Form des Schlusses ist dagegen der Bedingungsschluß, der sich auf ein Bedingungs urteil gründet, z. B.: Wenn zwei Größen derselben britten gleich sind, so sind sie untereinander gleich. Nun sind die Größen A und B gleich C; folglich ist auch A = B.
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4. Eine Deduktion setzt sich aus einer Reihe von Schlüssen derart zusammen, daß jeder Schlußsatz wieder den einen Vordersatz eines neuen Schlusses bildet. Am besten ausgeprägt erscheint das deduktive Verfahren in der Mathematik und der Physik. Die gewöhnliche Form des mathemattschen Beweises läßt allerdings diese Schlußketten nicht deutlich erkennen, weil man stets Schlußglieder zu überspringen pflegt (s. o.), wie z. B. beim Beweise des Satzes, daß im gleichschenkligen Dreieck die Basiswinkel gleich sind. Man zerlegt dann ja das ganze Dreieck durch die Halbierungslinie des Winkels an der Spitze in zwei Teildreiecke, stellt fest, in welchen Stücken diese übereinstimmen und würde dann etwa schließen: Die beiden Teildreiecke stimmen in zwei Seiten und dem eingeschlossenen Winkel überein; folglich sind sie kongruent nach dem ersten Kongmenzsatz, und mithin sind die Basiswinkel als gleichliegende Stücke gleich. Die ganze logische Schlußkette hätte hingegen folgende Gestalt: 1. Die Teildreiecke sind Dreiecke, die in zwei Seiten und dem eingeschlossenen Winkel übereinstimmen. 8M 2. Dreiecke, die in zwei Seiten und dem eingeschlossenen Winkel übereinstimmen, sind kongmente Dreiecke. M P 3. Die Teildreiecke sind kongmente Dreiecke. 8 P 4. Wenn Dreiecke kongment sind, so sind die gleichliegenden Stücke gleich. 6. Die gleichliegenden Stücke der Teildreiecke sind gleich. M P 6. Die Basiswinkel sind gleichliegende Stücke der Teil dreiecke. 8M 7. Die Basiswinkel sind gleich.
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Hier schiebt sich zwischen zwei Subsumtionsschlüsse (mit verschiedener Anordnung der Vordersätze) ein Bedingungs schluß ein. Zugleich zeigt sich, daß eine Deduktion mehr ist als eine einfache Kette von Schlüssen. Die Bedeutung der Konstmktton als eines die Deduktion vorbereitenden oder be gleitenden Hülfsverfahrens zeigt sich bei Satz 1, wo die zu unter suchenden Teildreiecke erst durch die Halbiemngslinie entstehen. Dazu erfordert dieser Satz noch einen besonderen Nachweis,
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der sich teils auf den Begriff des gleichschenkligen Dreiecks, teils auf die Konstruktion und die unmittelbare Anschauung stützt; auch Satz 6 ist nicht ohne weiteres einleuchtend, sondern muß erst der Anschauung entnommen werden. 5. Meist jedoch ist das logische Gerüst der Deduktion weit verwickelter und läßt sich nicht in eine einfache Kette von Schlüssen auflösen. Am einfachsten ist noch der Fall, wo parallel verlaufende Schlußreihen die Prämissen zu einem Urteil liefern, an das sich wiederum ein Schluß oder eine Schlußkette hängt. Der Satz: Wechselwinkel an Parallelen sind gleich, soll bewiesen werden. Die Wechselwinkel seien a und ß; y fei Gegen winkel zu a und Scheitelwinkel zu ß. 1 a) Gegenwinkel an Paral- 1b) Scheitelwinkel sind einleien sind einander gleich. ander gleich. 2 a) a und y sind Gegenwinkel 2 b) ß und y sind Scheitelan Parallelen.Winkel. 3 a) a und y sind folglich gleich.
3 b) ß und y sind folglich gleich.
4. Die Winkel a und ß sind gleich y. 5. Wenn zwei Winkel einem britten gleich sind, so sind sie unter sich gleich. 6. Folglich sind a und ß gleich. 6. Von der eben beschriebenen synthetischen Deduktion, die durch ständige Hinzufügung anderer Sätze ihre Ergebnisse erhält, unterscheidet sich die analytische Deduktion dadurch, daß der an die Spitze gestellte Satz bereits die sämtlichen Einzelsätze als Folgerungen enthält, die nun aus ihm durch Zergliederung gewonnen werden können. Eine analytische Deduktion liegt vor in den meisten Deter minationen der geometrischen Konstruktionsaufgaben, in den Diskussionen, die sich an die Kurvengleichungen der analyüschen Geometrie anschließen, besonders an die allgemeine Gleichung zweiten Grades Ax2 + 2 Bxy + Cy2 + 2Dx + 2Ey + F = 0. Diese Gleichung stellt ja die sämtlichen ebenen Gebilde dieses Grades dar und führt, wenn AG > B2, auf eine Ellipse (Kreis), einen einzelnen Punkt oder kein geometrisches Gebilde, wenn
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AC < B*, auf zwei sich schneidende Linien oder eine Hyperbel, und wenn AC =Ba, auf zwei parallele Linien oder eine Parabel. 7. Die Richtigkeit der durch Deduktion gewonnenen Er gebnisse ist offenbar abhängig von der logischen Richtigkeit der Schlußfolgerungen und von der Sicherheit der benutzten Prämissen. Gegen falsche Schlußfolgerungen schützt uns im allgemeinen unser gesunder Menschenverstand oder in schwierigeren Fällen das Urteil aller Urteilsfähigen. Dies scheint im Mderspmch zu stehen mit der Beobachtung, daß man im täglichen Leben so oft auf falsche Urteile stößt. Indessen liegt der Fehler selten in den deduktiven Schlußsolgerungen an sich, sondem entweder ist die übereilte Induktion, d. h. der Schluß von einem oder wenigen Fällen auf alle ähnlichen Fälle, die Quelle des Irrtums, oder es sind die Prämissen falsch, die zu jenem Urteil geführt haben. 8. Unser Hauptaugenmerk ist also auf die Prämissen zu richten. Sind diese durch Induktion gewonnen, so nehmen sie an deren Unsicherheit teil (s. o.). Hier soll nur der Fall betrachtet werden, daß die Prämissen ihrerseits auch wieder die Ergebnisse vorausgegangener Deduktionen darstellen. Wenn wir so immer weiter zurückgehen, so stoßen wir zuletzt auf die obersten Prämissen der betreffenden Wissenschaft, die als Definitionen und Grundsätze (Axiome) auftreten. In der Mathematik handelt es sich um die Definitionen von Körper, Fläche, Linie, Punkt, denen sich in den einzelnen Abschnitten die Definitionen der darin behandelten Raum gebilde anschließen. Die mathematischen Grundsätze beziehen sich teils auf allgemeine Größenverhältnisse, teils auf unsere Raumanschauung im besondern. Zu der ersten Klasse gehören z. B.: Wenn zwei Größen einer dritten gleich sind, so sind sie unter sich gleich, und Gleiches zu Gleichem addiert gibt Gleiches usw. Zu der zweiten Klasse gehören u. a. folgende Axiome: Zwei gerade Linien können sich nur in einem Punkte schneiden, und: Wenn eine gerade Linie zwei andere so schneidet, daß die Summe der inneren Winkel, die an derselben Seite der Schneidenden liegen, Keiner als 2 B ist, so treffen jene beiden
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Linien, hinreichend verlängert, an dieser Seite zusammen (Parallelenaxiom des Euklid). In der Physik gehören zu den obersten Prämissen die Definitionen der verschiedenen Bewegungen, der Begriffe Kraft, Energie, Molekül, Atom, Weltäther u. dgl. und Sätze wie das sogenannte Trägheitsgesetz, der Satz von der Gleichheit der Wirkung und Gegenwirkung, das Gesetz von der Erhaltung der Energie. 9. In der Mathematik sind die obersten Prämissen (von dem Parallelenaxiom abgesehen) unmittelbar einleuchtend und gewiß; daher denn auch die gleichmäßige, von Anfechtungen und Rückschlägen freie Entwickelung dieser Lehre, die man des ausnahmslosen Charakters ihrer Ergebnisse und der logischen Strenge ihrer Beweisführung wegen mit Recht als das Ideal einer Mssenschaft bezeichnet. Den Erfahrungswissenschaften gegenüber nimmt die Mathe matik in der Tat eine Sonderstellung ein, ja sie ist überhaupt keine Erfahrungswissenschaft in demselben Sinne wie die Natur wissenschaft, denn die Dinge, die sie betrachtet und die als die einfachsten Raumgebilde in den Definitionen beschrieben werden, kommen als solche in der Wirklichkeit gar nicht vor; es gibt keine gerade Linie in der Natur. Allerdings würde der Begriff der Geraden nicht ohne die Wahrnehmung von tatsächlich vorhan denen annähernd geraden Linien zustande gekommen sein. Aber der Übergang von diesen zu jener ist kein einfacher Abstraktionsvorgang, wie wir ihn bei der Bildung der Art- und Gattungs begriffe kennen gelernt haben; denn die Eigenschaft, gerade zu sein, die bei der Abstraktion als gemeinsam zurückbleiben müßte, fehlt ja eben all den Linien, aus denen sie abstrahiert werden sollte. Eher schon könnte man die grundlegenden mathema tischen Begriffe als „Idealisierungen unserer Raumanschauungen" bezeichnen. Und ebensowenig der Erfahrung entnommen, ja überhaupt vorstellbar ist der mit dem Begriff der geraden Linie verbundene Begriff der unendlichen Länge. Die Raumgebilde der Mathematik sind also in der Tat Schöpfungen unseres Geistes und als solche an und für sich der Kontrolle durch die Erfahrung entrückt. Da aber die Mathematik andererseits
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V. Deduktion. kein Gebäude von Hirngespinsten, sondern vielseitiger praktischer Anwendung sähig sein soll, so kann man erwarten, daß die Er gebnisse der mathematischen Deduktionen sich der Mrllichkeii in gleichem Maße nahem, wie ihre Ausgangspunkte, und ist in dieser Erwartung nicht getäuscht worden. So sicher wie die mathematischen Gmndbegriffe aus der Erfahrung hervorgegangen sind, so zweifellos verdanken auch viele mathematische Sätze, insbesondere die Axiome, der Verallgemeinemng der an einzelnen Beispielen gewonnenen Er kenntnisse ihren Ursprung. Dem deduktiven Zeitalter der Mathe matik geht eine Zeit induktiven Auffindens der Gesetze voraus. „Daß die mathematischen Wahrheiten in irgend einer Art von Erfahrung ihre Quelle haben, wird niemand mehr leugnen. In diesem Sinne wird auch von vomherein zugestanden werden, daß die mathematische Erkenntnis schließlich auf Induktionen zurückführt. Aber daß nun diese Induktionen in ihrem Wesen völlig mit denjenigen übereinstimmen sollen, aus denen wir allgemeine Naturgesetze gewinnen, dies ist eine Annahme, die in der tatsächlichen Verschiedenheit physikalischer und mathe matischer Sätze ihre Widerlegung findet. Wohl stellt auch der Physiker abstrakte Gesetze auf, die in der Erfahrung immer nur annähernd verwirllicht sind. Wer alle Wweichungen beobachtet er auf das genaueste und sucht sie auf ihre Ursachen zurückzuführen. Den Geometer dagegen stören die Ungenauig keiten seiner Figuren ebensowenig wie die Erkenntnis, daß es keine Objekte gibt, die seinen Begriffen vollkommen adäquat sind. Hierin liegt eben der Beweis, daß sich seine Induktionen nicht auf äußere Objekte beziehen, sondem auf seine eigenen Vorstellungen und daß hier die Objekte bloß die Rolle von Hülfsmitteln spielen, welche die Vorstellungen erwecken sollen." (Wundt). Unter den geometrischen Axiomen Eullids hat das Paral lelenaxiom, das übrigens mit dem Satz von der Winkelsumme im Dreieck steht und fällt, von jeher Anstoß erregt und zu der Frage Anlaß gegeben, ob es auf die übrigen Axiome zurückführbar sei. Diese Versuche konnten indessen nach Gauß nicht gelingen, da wir über die Verhältnisse des Raumes im Unendlichen nichts wissen. So ist seit Gauß eine „nichteuklidische" Geometrie
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auf den Plan getreten, die mit der Möglichkeit rechnet, die Winkelsumme im Dreieck könnte in der Tat von 2 R verschieden sein, obwohl auch sie keine Tatsachen anzugeben vermag, die das Mißtrauen gegen die Richtigkeit des Parallelenaxioms gerecht fertigt erscheinen lassen. 10. Die Geschichte der Physik weist hingegen eine beständige Umformung des deduktiven Lehrgebäudes auf, wie auch ohne weiteres verständlich ist, wenn man bedenkt, welche Rolle die Hypothesen unter ihren obersten Prämissen spielen. Die Statik des Archimedes hat allerdings auch heute nicht an Wert verloren; hier spielen eben die schwierigen Begriffe der Zeit, Geschwindigkeit, Bewegung überhaupt noch keine Rolle; und da als wirkende Kraft nur die Schwerkraft in Bewacht kommt, die sich in dem leicht zu messenden Gewicht der Körper äußert, so genügen rein mathematische Erwägungen. Auch der phoronomische Teil der Mechanik, der sich mit der Betrachtung der Bewegungen ohne jede Rücksicht auf Kraft und Masse befaßt, ist rein mathematischer Statut. Dagegen ist die ganze Dynamik des Aristoteles der Ver gessenheit anheimgefallen, und erst mit dem Trägheitsgesetz Galileis beginnt die Epoche der heutigen Dynamik. Die Prin zipien der Mechanik sind eben nicht so unmittelbar einleuchtend und gewiß wie die der Mathematik, ja derselbe Satz tritt in den verschiedenen Systemen bald als Grundsatz, bald als abgeleiteter Satz auf, und noch mehr gilt dies von den obersten Prämissen in der übrigen Physik. 11. Sind aber die Ausgangspunkte der Deduktion nicht dem Streit der Meinungen gänzlich entrückt, so ist es um so not wendiger, die Ergebnisse der Deduktion mit den Tatsachen der Erfahrung zu vergleichen, sie zu verifizieren. Nur die genaue Übereinstimmung der theoretischen Folgemngen mit der Er fahrung läßt die Prämissen als zulässig erscheinen. Ein Widerspruch zwischen beiden muß, falls die Schlußfolgerungen selbst logisch unanfechtbar sind, zur Verwerfung jener Prämissen führen. Stimmen aber auch die Folgerungen mit den Tatsachen überein, so müssen wir uns doch hüten, deswegen allein die Prämissen
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für unbedingt gewiß zu halten, denn man kann wohl vom Gmnde auf die Folge, nicht aber von der Richtigkeit der Folgerung auf die des Grundes schließen (vgl. oben S. 23). Auch bei dem indirekten Beweis der Mathematik schließt man nur von dem Mderspmch zwischen den aus einer Annahme gezogenen Folgemngen und den Tatsachen auf die Unrichttgkeit jener Annahme. Die Verifikation ist aber um so überzeugender, je mehr Folgemngen an den Tatsachen geprüft werden können, demnach der Ausgangspunkt (z. B. die Hypothese) um so wert voller, je mehr Folgemngen er zu ziehen erlaubt, je mehr Gebiete er umfaßt (vgl. oben S. 35). 12. Erst die Deduktion macht die Naturgesetze praktisch verwertbar, macht die Mssenschaft zur Beherrscherin der Natur, insofern sie gestattet, bei bestimmten gegebenen Bedingungen auf die Folge zu schließen, das Zukünftige oder Gewollte also vorauszusehen. Man denke an die praktische Verwertung der Gesetze über die Bewegung der Gestime zur Vorausberechnung von (Sonnen* und Mondfinsternissen, zur Aufstellung von Sonnen- und Mondtafeln. — In der Technik liegen z. B. dem Bau von Brücken genaue Berechnungen der Gestalt und Tragfähigkeit der einzelnen Teile zugrunde. — Das Ziel der Meteorologie wäre erreicht, wenn sie eine streng deduktive Darstellung zuließe, so daß man aus den gegebenen Bedingungen mit Sicherheit auf die kommende Mttemng schließen könnte, gerade wie Newwn zeigte, daß man aus drei Punkten der Bahn eines Kometen die ganze Bahn bestimmen kann. 13. Ein wesentlicher Vorzug der Deduktion gegenüber der Induktion besteht darin, daß sie die einfachsten Bedingungen für die zu untersuchende Erscheinung annehmen, also abstrahieren kann von den in der Natur vorkommenden verwickelten Verhält nissen, die das Experiment ja auch nur zum Teil zu vereinfachen vermag (S. 15 ff.). Die durch solche Deduktion gewonnenen Gesetze sind allerdings nur ideale Grenzfälle, von denen die Wirllichkeit mehr oder weniger abweicht. Sache des experimen-
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teilen Verfahrens ist nun wieder, diese Abweichungen festzustellen, um für praktische Bedürfnisse brauchbare Regeln zu erhalten. Die Swßgesetze werden für absolut elastische und absolut unelastische Körper entwickelt. — Die Formel für die Dauer der
Natur nicht verwirklicht sind. — Die Gesetze des schiefen Wurfes bedürfen für die Praxis einer Umformung; der Artillerist hat nicht mit der Wurfparabel, sondern mit der ballisttschen Kurve zu rechnen. — Die Gesetze über die Schwingung der Luft in Orgelpfeifen, wonach z. B. bei einer offenen Pfeife der Knoten in deren Mitte liegen soll und die Schwingungszahl nach der Formel n — ^ zu berechnen ist, entsprechen gleichfalls nicht der Wirklichkeit, und ihre Befolgung würde dem Orgelbauer keinen Ruhm eintragen. 14. Der Induktion gegenüber bietet die Deduktion ferner den großen Vorteil, daß sie alle Folgerungen aus dem an die Spitze gestellten Satze zu ziehen erlaubt, während sich bei der Induktion aus den beobachteten Fällen nur das allgemeine Gesetz ergibt, nicht aber andere Erscheinungen, die etwa gleichfalls von dem Gesetz mit umfaßt werden. Mithin liegt auch die Möglichkeit vor, daß auf deduktivem Wege Erscheinungen und Gesetze entdeckt werden können, die bis dahin noch gänzlich un bekannt sind. Mendelejeff ordnete die chemischen Elemente nach ihrem Atomgewicht in Familien und Reihen und gewann die Über zeugung, daß die Eigenschaften eines Elements von seinem Awmgewicht abhängig sind. Gestützt auf dieses „periodische Gesetz", wie er es nannte, wagte er es, dort, wo seine Reihen Lücken aufwiesen, auf die Existenz noch unbekannter Elemente zu schließen und deren Eigenschaften, sowie ihr chemisches Ver halten und das einiger ihrer Verbindungen vorauszusagen. Die im Jahre 1871 unternommene Vorausberechnung der
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V. Deduktion. Eigenschaften dreier hypothetischen Elemente, denen er vor läufig nach ihrer Stellung im System die Namen Ekabor, Ekaaluminium und Ekasilicium beilegte, wurde auf das über zeugendste bestätigt durch die Entdeckung des Galliums, das mit dem hypothetischen Ekaaluminium im spezifischen Gewicht (5,9), der spezifischen Wärme (0,08) und dem Atomgewicht (69,8) sowie in den allgemeinen Reaktionen übereinstimmte; ja sogar der Teil der Voraussage wurde erfüllt, daß das neue Element seiner Flüchtigkeit wegen wohl durch die Spektralanalyse entdeckt werden würde. Später erfolgten die Entdeckungen des Skandiums (Ekabor) und Germaniums (Ekasilicium). — In der Physik hatten solche Vorausberechnungen schon früher stattgefunden, da die Physik weit früher als die Chemie zu selbständigen Theorien vorgeschritten war, die erst die Mög lichkeit einer Deduktion gewähren. Das bekannteste Beispiel ist die Entdeckung des Neptun durch Leverrier. Auf Grund der Gravitationstheorie schloß Leverrier aus den Stömngen, die der Uranus in seiner Bahn zeigte, auf das Vorhandensein eines jenseits des letzteren sich bewegenden Planeten und be rechnete für einen bestimmten Zeitpunkt dessen Ort am Himmels gewölbe; und in der Tat fand Galle dort einen noch unbekannten Planeten, der den Namen Neptun erhielt.—Auch die mechanische Wärmetheorie hat zu solchen Voraussagungen einen geeigneten Ausgangspunkt geboten. Clausius folgerte aus ihr, daß der Schmelzpunkt eines Körpers von dem äußeren Druck abhängig sei, und zwar durch Zunahme des Dmckes bei den Körpern, die sich beim Schmelzen ausdehnen, erhöht, bei den anbetn erniedrigt würde, eine Folgerung, die durch genaue Unter suchungen bestätigt werden konnte.
15. Aber selbst diese so überaus wunderbaren Voraussagungen, so beweiskräftig sie auch zu sein scheinen, dürfen uns nicht dazu verführen, den Ausgangspunkt dieser Folgerungen, soweit er Hypothese ist, für objektiv wahr zu halten. Die Hypothesen sind ja nicht reine Phantasiegebilde, sondem einem bestimmten Kreise von Tatsachen mehr oder minder gut angepaßt. Es ist daher an und für sich nicht verwunderlich, daß nun auch Tatsachen,
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die vermöge ihrer Gleichartigkeit jenem Kreise angehören, die aber ams irgend welchen Gründen bisher noch nicht bekannt geworden sind, in der Hypothese gewissermaßen eingeschlossen erscheinen. Allerdings erhöht die Übereinstimmung zwischen den vorausgesagten Erscheinungen und den entdeckten Tatsachen unsere Überzeugung von dem Wert und der Brauchbarkeit der be treffenden Hypothese. So flößen uns, um nur ein Beispiel herauszugreifen, die Umstände, unter denen die Entdeckung des Neptun gelang, ohne Zweifel ein volles Vertrauen zu der Gravitationsmechanik ein, aber auch nur zu dieser. Wir sind jetzt sicher überzeugt, daß die Himmelskörper sich so bewegen, als ob sie sich nach dem Newtonschen Gesetz gegenseitig anzögen; aber das wirkliche Vorhandensein einer solchen anziehenden Kraft ist damit nicht erwiesen, ebensowenig, ob das Newwnsche Gesetz nicht etwa für sehr kleine oder sehr große Entfernungen Abänderungen erleidet, ob die Kraft unvermittelt, d. h. ohne daß die zwischen liegenden Stoffteilchen daran teilnehmen, in die Ferne wirkt, ob sie momentan sich ausbreitet oder hierzu Zeit gebraucht. 16. Unübertrefflich ist schließlich die Deduktion für die syste matische Darstellung eines Wissensgebietes, während die eigentliche Forschung meist auf induktivem Wege vorgeht. Die Deduktion ermöglicht dabei eine übersichtliche Anordnung und eine einheitliche Darstellung des ganzen Gebietes, wie jedes systematisch angelegte Lehrbuch zeigt. Welche Dienste dabei die Hypothese als Aus gangspunkt und einigendes Band leistet, ist bereits oben (vgl. S. 35) hervorgehoben worden. Damit gewinnen wir nun abschließend eine feste Stellung zu den Hypothesen. Sie sind weder als objektiv wahr noch als nutzlose Spielereien des Geistes zu betrachten; sie sind zu werten als Werkzeuge wissenschaftlicher Forschung, und ihre Bedeutung ist einzig und allein abhängig von ihrer Brauchbarkeit und Zu verlässigkeit. Je mehr Erscheinungen eine Hypothese zusammen fassend erllären, je mehr Erscheinungen sie voraussagen kann, je leichter sich neu entdeckte Erscheinungen in ihren Rahmen
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einfügen lassen, je mehr sie zu neuen Forschungen anregt, desto brauchbarer und zuverlässiger ist sie.
VI. Wie Subjektivität unserer Erkenntnis. 1. Die bisherigen Darlegungen haben gezeigt, wie der menschliche Geist durch eigenartige Denkprozesse den Inhalt der sinnlichen Wahmehmung verarbeitet und so Erkenntnis gewinnt. Dabei galt die „Erfahrung" selbst als das sicherste und un trüglichste Wissen, und gerade, weil die Hypothesen deren Kreis überschreiten, erschienen sie als ungewiß und dem Zweifel aus gesetzt. Wir können aber nicht umhin, auch die Erfahrung, d. h. den Inbegriff dessen, was uns die Sinne über die Beschaffenheit der Außenwelt offenbaren, einer sorgfältigen Untersuchung zu unterziehen, indem wir unser Augenmerk darauf richten, wie die Erfahrung überhaupt zustande kommt und ob sie uns in der Tat jenes ungetrübte Bild der Außenwelt liefert, wie es der naive Sinn ohne weiteres annimmt. Dem naiven Menschen dünkt eine solche Untersuchung zum mindesten überflüssig; ihm liegt die Außenwelt so offen und klar, so „handgreiflich" vor Augen, daß irgend ein Zweifel an ihr ihm nicht in den Sinn kommt. Er sieht sich in die Außen welt hineingestellt gewissermaßen als eine photographische Kammer von der höchsten Vollkommenheit, die die Eindrücke mit größter Treue aufnimmt.. Auch die Kenntnis von Täuschungen, denen die sinnliche Wahrnehmung unterworfen ist, daß uns z. B. unter Umständen parallele Linien als geneigt oder gar als krumm erscheinen, vermag daran nichts zu ändern, sie bestärkt ihn im Gegenteil nur in seiner Überzeugung, da es in diesen Fällen ja möglich ist, das Richtige von dem Falschen zu unter scheiden. (Standpunkt des naiven Realismus.)
2. Die Elemente, aus denen sich jede sinnliche Wahmehmung zusammensetzt, sind die Empfindungen, wie sie in unserm Be wußtsein durch die verschiedenen Sinneswerkzeuge vermittelt werden, die Farben, die Töne und Geräusche, die Gerüche, die
VI. Die Subjektivität unserer Erkenutnis.
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Geschmacks-, Wärme- und Tastempfindungen. Verfolgen wir ihre Entstehung, so können wir deutlich einen physiologischen und einen psychologischen Vorgang unterscheiden, die in inniger Verkettung auftreten, ohne daß es aber gelungen wäre, über die Art der Verkettung irgendwie näheres zu erfahren. Ein Reiz trifft die zumeist an der Außenseite unseres Körpers ausgebreiteten Enden des betreffenden Sinnesnerven und überträgt darauf seine Energie, die nun bis zum Gehirn geleitet dort eine bestimmte mehr oder weniger andauemde Verändemng hervorruft. Diesen physiologischen Vorgang können wir mit abnehmender Klarheit und Deutlichkeit bis zum Gehim verfolgen. Eine Erklärung dafür, wie und weshalb nun die dem Reiz entsprechende Empfindung in unserm Be wußtsein auftaucht, wissen wir nicht. 3. Sind nun die Empfindungen den Vorgängen der Außen welt, um einen mathematischen Ausdruck zu gebrauchen, kongruent? Schon die Naturwissenschaft selbst verneint diese Frage, indem sie die Töne auf Schwingungen der Körperteilchen und die Farben auf solche des Ächers zurückführt; sie erklärt also die in unserm Bewußtsein vorhandenen Empfindungen für subjektiven Schein. Die Forschungen der Sinnesphysiologie haben deutlich gelehrt, daß nicht nur jedes Sinnesorgan auf verschiedene Reize in derselben Weise reagiert, sondern daß auch ein und derselbe Retz, auf verschiedene Organe einwirkend, verschiedene, der Empfindungsweise der Organe entsprechende Erregungen unseres Bewußtseins zustande bringt. „Der Sehnerv empfindet alles, was er überhaupt empfindet, in der Form von Lichterscheinungen im Sehfelde. Es braucht nicht äußeres Licht zu sein, was ihn erregt. Auch ein Stoß oder Druck aufs Auge, eine Zermng der Netzhaut bei schneller Bewegung des Auges, Elektrizität, die den Kopf durchfließt, veränderter Blutdruck erregen in ihm Empfindungen; aber in allen diesen Fällen ist die erregte Empfindung immer nur Lichtempfindung und macht im Gesichtsfeld ganz denselben Eindruck, als rühre sie von einem äußeren Licht her. Stoß, Druck, Zermng, elektrische Strömung können aber auch die Haut erregen, wir fühlen sie als TastSchul Le-Tigges, Logik u. Grkenntnislehre.
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VI. Die Subjektivität unserer Erkenntnis.
empfindung; ja dieselben Sonnenstrahlen, welche betn Auge als Licht erscheinen, erregen in der Haut die Empfindung von Wärmestrahlung. Durch elektrische Ströme erregen wir aber auch Geschmack- oder Gehörempfindung, je nachdem sie die Zunge oder das Ohr treffen. Daraus also folgt der in neuerer Zeit viel besprochene Satz, daß gerade die einschneidendsten Unterschiede unserer Empfindungen gar nicht von dem Erregungs mittel, sondern nur von dem Sinnesorgan, welches erregt worden ist, abhängen. Wir erkennen die tief einschneidende Natur der bezeichneten Unterschiede an, indem wir von fünf verschiedenen Sinnen des Menschen reden. Zwischen Empfin dungen verschiedener Sinne ist nicht einmal eine Vergleichung möglich, nicht einmal ein Verhältnis der Ähnlichkeit und Un ähnlichkeit. Daß wir ein Objekt als farbiges Gesichtsbild sehen, hängt nur vom Auge ab; in welcher Farbe wir es aber sehen, allerdings auch von der Art des Lichts, das es uns zusendet. Dieses Gesetz ist von Johannes Müller, dem Physiologen, nachgewiesen worden und als das Gesetz der spezifischen Sinnes energien bezeichnet. Aber auch die int einzelnen weiter geführten Vergleiche der Qualitäten der Empfindungen je eines Sinnes mit den Qualitäten der einwirkenden Reizmittel lassen erkennen, daß Gleichheit des Farbeneindrucks bei den verschiedensten Lichtmischungen vorkommen kann und gar nicht mit der Gleichheit irgend welcher anderen physikalischen Wirkungen des Lichts zusammenfällt." (Helmholtz.) Dieses Gesetz der spezifischen Sinnesenergien hat NUN zwar in neuerer Zeit vielfachen Widerspruch erfahren, wenigstens was seine Deutung anbetrifft. So vertritt Wundt den Stand punkt, daß der Sehnerv, weil er durchgehends durch Atherwellen erregt werde, sich der Leitung dieser Reize allmählich derart anpasse, daß er schließlich auch bei einem ganz andersartigen Anstoß in der gewohnten Weise leite. Und Riehl weist daraus hin, daß z. B. ein Schlag aufs Auge, der als mechanischer Stoß von der Haut, als Licht vom Auge und als Schall durch das Ohr empfunden werde, sich ja in Äther- und Schallwellen umsetzen könne, bevor er für Auge und Ohr aufnahmefähig würde. Wie dem auch sei, jedenfalls steht das eine fest, daß
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die Sinnesorgane aus den an sie herantretenden zusammenge setzten Reizen nur die herausgreifen, denen sie angepaßt sind, und nur diese in bestimmter Weise weiter leiten. Sollte man also, aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz, doch annehmen, daß die Sinne uns die Außendinge so darstellen, wie sie wirllich sind, so müßte man wenigstens zugestehen, daß sie uns kein lückenloses Bild der Außenwelt liefern. Die Empfin dungsfähigkeit des Sehnerven erstreckt sich auf Ätherwellen, deren Schwingungszahlen die Grenzen von 400 und 800 Billionen nicht überschreiten. Für die ultraroten und ultravioletten Strahlen, die sich unseres Mssens von den Lichtstrahlen nur quantitativ, nicht ihrem Wesen nach unterscheiden, ist das Auge blind. Die hohen Töne, die gewisse Insekten hervorzubringen verstehen, hören wir nicht, obgleich wir Gmnd genug zu der Annahme haben, daß sie von den Insekten selbst als solche wahrgenommen werden. Für die unmittelbare Wahrnehmung elektrischer und magnetischer Vorgänge fehlt uns überhaupt das empfindende Organ; wir vermögen sie nur auf Umwegen zu erkennen. Einem Wesen, dessen Auge für alle möglichen Strahlengattungen empfänglich wäre, würde die Außenwelt mindestens viel reicher und mannigfaltiger gegliedert erscheinen. 4. Eine eingehende Untersuchung macht es im höchsten Grade wahrscheinlich, daß die durch unsere Sinne vermittelten Empfindungen, die wir als Farbe, Ton, Wärme, Geruch, Geschmack bezeichnen, nicht als Abbilder, sondern nur als Zeichen der wirklichen Dinge zu werten sind. Den Unterschied zwischen Bild und Zeichen legt Helmholtz llar in den Worten dar: „Vom Bild verlangt man irgend eine Art der Gleichheit mit dem abgebildeten Gegenstand, von der Statue Gleichheit- der Form, von einer Zeichnung Gleichheit der perspektivischen Projektton im Gesichtsfeld, von einem Gemälde auch noch Gleichheit der Farben. Ein Zeichen aber braucht gar keine Ähnlichkeit mit dem zu haben, dessen Zeichen es ist. Die Beziehung zwischen beiden beschränkt sich darauf, daß das gleiche Objekt, unter gleichen Umständen zur Einwirkung kommend, das gleiche Zeichen hervorruft, und daß also ungleiche Zeichen immer ungleicher Einwirkung entsprechen."
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VI. S5ie Subjektivität unserer Erkenntnis. Wer den Farben selbst ein reales Sein außer unserem Bewußtsein zuschreibt, der verkennt nicht nur die Rolle des vorstellenden Subjekts, fonbent vergißt auch, daß die Farbe von der Beleuchtung abhängig ist. In einem stockfinsteren Raume kommt keine Farbenempfindung zustande, ebensowenig auch dann, wenn kein farbenempfindliches Auge zugegen ist. Der Satz: Die Blätter der Buche erscheinen uns grün, müßte eigentlich heißen: Die Blätter der Buche erscheinen uns grün, wenn sie hinreichend beleuchtet sind unb unser Auge gesund ist (Farbenblindheit I). Ein Strauß leuchtend rötet Stofen, der unser Auge entzückt, erscheint tiesschwarz, falls er nur durch die gelbe Natriumflamme beleuchtet wird. Damit erledigt sich auch die Frage: Sind die Buchenblätter noch grün, die Rosen noch rot, wenn stockdunkele Nacht eingetreten oder kein Auge darauf gerichtet ist? Denn ersetzt man in dieser Frage das Wort „sind" durch „erscheinen", so ergibt sich die Antwort von selbst. „Wir nennen eine Nahrung gesund, eine Fmcht wohl schmeckend. Was heißt das? Ist die Gesundheit in der Nahrung oder der Wohlgeschmack im Apfel? Offenbar nicht, das sieht auch der gesunde Menschenverstand, sondem in dem, der ihn ißt, in dem Apfel ist nur etwa eine Kraft, den Geschmackssinn so zu affizieren. Wir nennen den Zucker süß; liegt die Sache hier anders? Vielleicht wird die gemeine Vorstellung hier bedenllich: der Zucker ist doch wirllich selber süß. — Freilich ist er; aber was bedeutet das? Wenn ihr genauer zuseht, doch nichts anderes als: wenn er auf die Zunge kommt, schmeckt er süß. Das Schmecken ist aber doch wieder nicht in dem Zucker, sondem in euch; in ihm mag eine Kraft, eine Beschaffenheit sein, welche macht, daß ihr diesen Geschmack habt. Gäbe es überhaupt keine Zunge, so gäbe es Süßigkeit und Bitterkeit überhaupt nicht auf der Welt. Und dasselbe wird nun auch von den Qualitäten gelten, welche Auge und Ohr wahmehmen. Gäbe es kein Ohr, so gäbe es keine Töne, wäre kein Auge, so wären Licht und Farben nicht. Den Dingen kann man nur eine Beschaffenheit oder eine Kraft zuschreiben, die Sinnesorgane so zu erregen, daß in dem Bewußtsein diese Empfindungen entstehen." (Paulsen.)
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5. Aus bett Empfindungen allein setzt sich aber die sinnliche Wahrnehmung noch nicht zusammen. Wir unterscheiden vielmehr in der Fülle von Empfindungen, die in unserm Bewußtsein gleichzeitig bestehen, Empfindungsgruppen, die wir zu einer inneren Einheit verknüpfen, indem wir sie auf Gegenstände (Dinge) außer uns beziehen, die im Raume ausgedehnt und in der Zeit veränderlich sind. Mr können unsere Empfindungen gar nicht anders ordnen als im Raume (nebeneinander) und in der Zeit (nacheinander). Raum und Zeit erscheinen daher als Bedingungen, die die Erfahrung erst möglich machen, womit aber noch nicht entschieden ist, ob sie außer uns objektive Realität haben oder ttut als notwendige Anschauungsformen zu werten sind. Schon das einfachste Urteil, in das wir eine sinnliche Wahr nehmung lleiden, geht über diese selbst hinaus. Wenn wir sagen: Diese Rose ist rot, so bedienen wir uns bereits der Begriffe „Rose" und „rot", die erst durch eigenartige Denkvorgänge (s. o.) gewonnen werden können. Aber auch in dem Umstande, daß wir zwischen den verschiedenen Empfindungen, die die Rose in unserm Bewußtsein hervormft, einen Zusammenhang Herstellen und sie eben auf diesen einen Gegenstand beziehen, liegt eine Über schreitung der unmittelbaren Wahrnehmung. Was spricht denn den Sinnesempfindungen gegenüber dafür, daß die Raumvorstellung eine Ausnahme von der Regel macht, daß sie ein Wbild, nicht nur ein Zeichen des Mrllichen ist? Etwa der Umstand, daß sie durch Vermittlung zweier Sinne, des Gesichts- und des Tastsinns, zustande kommt? Wer wenn ein Zeuge lügen kann, so brauchen dämm zwei noch nicht die Wahrheit zu sagen. Und außerdem wäre ihr Zeugnis doch höchstens dann beweiskräftig, wenn es in der Tat übereinsttmmend ausfiele. Das kann man aber nicht behaupten, denn die Raumvorstellung, wie sie der Tastsinn allein auszubilden vermag, scheint nicht identisch zu sein mit der Raumvorstellung, die wir dem Gesichtssinn allein verdanken würden. Es ist doch mindestens bedenllich, daß ein Blindgeborener, der durch Tasten quadratische und mnde Scheiben unterscheiden gelemt hatte,
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nach der Operation, die ihn sehend machte, die Form dieser Scheiben mit dem Auge nicht erkennen konnte und erst durch Betasten dazu imstande war; ja, daß er nicht einmal zwei Linien, von denen die eine doppelt so lang als die andere war, als un gleich erkannte und durch Hinüberfahren mit dem Finger sich von ihrer verschiedenen Länge überzeugen mußte. Freilich sind das Tatsachen, die auch anders gedeutet werden könnten, aber gerade der Umstand, daß die Raumvorstellung eben auch nur durch Vermittlung der Sinne zustande kommt, die doch sonst anerkanntermaßen ihre eigene Empfindungsweise haben, — wie der Besitz zweier Augen erst die Gesichtsvorstellung des Raumes ermöglicht, lehrt die Sinnesphysiologie — macht sie uns verdächtig und läßt es mindestens sehr zweifelhaft er scheinen, daß die Wirllichkeit der räumlichen Vorstellung kongment sei. Das gleiche gilt von der Kausalität, die bereits bei der Bildung des Begriffs eines Gegenstandes (Dinges) eine Rolle spielt und uns wiederholt beschäftigt hat (f. o. S. 21 ff.). Derselbe Beweggmnd, der uns überhaupt antreibt, Kausalität anzuneh men, leitet uns auch dann, wenn wir voraussetzen, daß es reale Dinge außer uns gibt, die als Ursachen die Vorstellungen unseres Bewußtseins hervormfen. Wir nehmen einzig und allein deshalb solche Realität an, um unsere Vorstellungen und deren Wechsel und Folge begreiflich zu finden. Worauf aber gründet sich diese Berechtigung? Doch nur darauf, daß wir in uns diesen Trieb nach Erkenntnis finden, also in letzter Linie auf unfern Willen, die Natur zu begreifen. 6. Die letzten Darlegungen haben den Standpunkt des naiven Realismus gerade in sein Gegenteil verkehrt, und in der Tat, je mehr wir darüber nachdenken, desto klarer wird es uns werden, daß nicht die Dinge der Außenwelt, sondem die Erscheinungen unseres Bewußtseins das sind, was als der sicherste Besitz unseres Wissens zu gelten hat. Da sich aber gezeigt hat, daß wir aus chnen nicht mit unbedingter Sicherheit auf die ab solute Wirklichkeit schließen können, so wäre schließlich noch der Zweifel möglich, ob überhaupt eine reale Außenwelt existiert,
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ob wir es also etwa nur mit subjektiven Erscheinungen zu tun haben. Die Tatsache aber, daß die Bewußtseinserscheinungen allen Menschen eigen sind und daß eine Verständigung unter ihnen darüber möglich ist, läßt es nicht allein als möglich sondern nahezu als gewiß erscheinen, daß eine reale Außenwelt vorhanden ist, wenn wir auch über ihre wirkliche Beschaffenheit nichts Sicheres aussagen können. 7. Es hat den Anschein, als ob mit der Einsicht, daß unser Wissen, sofern es eben wirkliches Wissen und kein hypothetisches Fürwahrhalten ist, sich nicht über die Vorstellungen unseres eigenen Inneren erheben kann, daß uns eine Erkenntnis der absoluten Wirklichkeit versagt ist, das Wissen überhaupt keinen Wert mehr habe, als ob alle Mühe und Arbeit, die seit Beginn der menschlichen Kultur auf die Erforschung der Wahrheit ver wandt ist, ein unnützes Spiel der Gedanken gewesen sei. Das wäre gewiß trostlos, ein grimmer Hohn auf das Ringen und Streben des Geistes. Mer glücklicherweise ist dem nicht so; die Mssenschaft ist und bleibt, was sie war: eine geordnete Summe wirklichen Wissens. Für praktische Fragen und auch bis zu den letzten Grenzen der Theorie bleibt ihre Bedeutung völlig unberührt, nur den Anspruch muß sie aufgeben, die Wissenschaft des absolut Wirklichen zu sein.
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