Kunst im Kreuzfeuer: documenta, Weimarer Republik, Pariser Salons: Moderne Kunst im Visier von Extremisten und Populisten 3515127534, 9783515127530

In Krisenzeiten werden regelmäßig Sündenböcke gesucht und Verschwörungstheorien bemüht, um komplexe Transformationsproze

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German Pages 241 [246] Year 2020

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Kapitel I Salonfähig und Skandalös
Das System der Salons und der moderne Kunstmarkt
Ein städtisches Massenpublikum entdeckt die Kunst
Exponierte Künstler
Auffallen um jeden Preis: Dandys und Bohemiens
Der Skandal als Erfolgsmethode
Glanz und Elend der Salonkunst
Kulturpessimistische Kunstkritik: Der Markt als Feind
Französische und deutsche Kunstrezeption im Fahrwasser des Nationalismus
Kampfbegriff „Deutsche Kunst“
Antisemitismus und Kulturkritik
Kapitel II Feinde der Kunst versus „Feinde des Volkes“
Kritik von links: Moderne Kunst als „Dekadenzerscheinung eines bankrotten Systems“
Die ausgebootete Avantgarde
Kunst als Luxus: Museen unter Rechtfertigungsdruck in der sozialen Krise
Die Verdammung des Kunstmarktes in den 1920er Jahren
Rechtsextremistische Diffamierungen moderner Kunst
Kampagnen gegen Museumsdirektoren
Die internationale Dimension der Diffamierung moderner Kunst
Moderne Kunst im Kreuzfeuer des Kalten Krieges
Kapitel III Die documenta: „Staatsaufgabe“ oder „Zirkus der Scharlatane“?
documenta – langfristige Erfolgsfaktoren eines Ausstellungsformates
Die provozierende Macht des Kurators – documenta-Leiter als Reizfiguren
Die ersten drei documenta-Ausstellungen
Die documenta im Unruhejahr 1968
Die modernisierte documenta 1972
Blick in die Besucherbücher der documenta 5
Die documenta 6 im Kontext der politisierten 1970er Jahre
Ein etabliertes westdeutsches Kulturereignis: documenta 7 bis 9
Kapitel IV Treffpunkt der globalen Bourgeoisie
Der Diskurs als Spektakel: documenta 10 bis 14
Die documenta GmbH am Rande der Insolvenz
Die documenta 14 hinterlässt ein „Merkel-Monument“
Kapitel V Linke Akademiker, „expeditive Performer“ & reiche Sammler
documenta, Biennale, Blockbusterausstellungen: Ein Massenpublikum für die Gegenwartskunst?
Die häufigsten Ressentiments gegenüber zeitgenössischer Kunst
Vandalismus – stummer Protest der Ausgeschlossenen?
Vandalismus als Methode von Terroristen und Avantgardisten
Manifestiert sich in Bejahung und Ablehnung der Gegenwartskunst eine gesellschaftliche Spaltung?
Kapitel VI Die Freiheit der Kunst und ihre Feinde
Kulturkampf von Rechts
Rechte Kunst = schlechte Kunst?
Religiös motivierte Attacken auf Kunst und Künstler
Linke Kunst und rechte Empörung – Zutaten für allseits gewinnbringende Skandale
Die alte Linke und die neue Kunst
Identitätslinke Aktivisten gegen die Freiheit der Kunst
Welche Rolle spielt die Kunst in der „identitätslinken Läuterungsagenda“?
Ausblick: Die Feinde der Kunst im 21. Jahrhundert. Das Zusammenwirken von identitätslinker Läuterungsagenda und legalistischem Islamismus
Verzeichnisse
Quellen und Archivbestände
Literatur bis 1945
Literatur ab 1945
Publikationsverzeichnis des Autors
Abbildungsverzeichnis
Künstlerregister
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Kunst im Kreuzfeuer: documenta, Weimarer Republik, Pariser Salons: Moderne Kunst im Visier von Extremisten und Populisten
 3515127534, 9783515127530

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Christian Saehrendt

Kunst im Kreuzfeuer documenta, Weimarer Republik, Pariser Salons: Moderne Kunst im Visier von Extremisten und Populisten

Franz Steiner Verlag

Christian Saehrendt

KUNST IM KREUZFEUER documenta, Weimarer Republik, Pariser Salons: Moderne Kunst im Visier von Extremisten und Populisten

Franz Steiner Verlag

Umschlagabbildung: Skulptur „Hockende Negerin“ des Berliner Bildhauers Arminius Hasemann, Mitte 1920er Jahre. Im Sommer 2020 im Zuge der Antirassimusproteste von Unbekannten geköpft. Foto: Saehrendt 2020. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2020 Layout und Herstellung durch den Verlag Druck: Beltz Grafische Betriebe, Bad Langensalza Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-12753-0 (Print) ISBN 978-3-515-12758-5 (E-Book)

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Kapitel I Salonfähig und Skandalös

Die Entstehung des modernen Kunstmarktes und die Radikalisierung der Kunstkritik im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das System der Salons und der moderne Kunstmarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein städtisches Massenpublikum entdeckt die Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exponierte Künstler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auffallen um jeden Preis: Dandys und Bohemiens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Skandal als Erfolgsmethode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Glanz und Elend der Salonkunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kulturpessimistische Kunstkritik: Der Markt als Feind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13 15 18 19 21 23 27 30

Französische und deutsche Kunstrezeption im Fahrwasser

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 35 Antisemitismus und Kulturkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 des Nationalismus

Kampfbegriff „Deutsche Kunst“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Kapitel II Feinde der Kunst versus „Feinde des Volkes“

Gegenwartskunst im Visier politischer Agitation 1919–1955 . . . . . . . . . . . . . . . 40 Kritik von links: Moderne Kunst als „Dekadenzerscheinung eines bankrotten Systems“

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44

Die ausgebootete Avantgarde

Kunst als Luxus: Museen unter Rechtfertigungsdruck in der sozialen Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

46 . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Rechtsextremistische Diffamierungen moderner Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Kampagnen gegen Museumsdirektoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 Die Verdammung des Kunstmarktes in den 1920er Jahren

6

Inhaltsverzeichnis

. . . . . . . . . . 65 Moderne Kunst im Kreuzfeuer des Kalten Krieges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Die internationale Dimension der Diffamierung moderner Kunst

Kapitel III Die documenta: „Staatsaufgabe“ oder „Zirkus der Scharlatane“?

Großausstellung mit politischem Bildungsauftrag im Systemwettstreit des Kalten Krieges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 documenta – langfristige Erfolgsfaktoren eines Ausstellungsformates . . . . . . 78 Die provozierende Macht des Kurators – documenta-Leiter

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 Die documenta im Unruhejahr 1968 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 Die modernisierte documenta 1972 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Blick in die Besucherbücher der documenta 5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Die documenta 6 im Kontext der politisierten 1970er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . 116 Ein etabliertes westdeutsches Kulturereignis: documenta 7 bis 9 . . . . . . . . . . 121 als Reizfiguren

Die ersten drei documenta-Ausstellungen

Kapitel IV Treffpunkt der globalen Bourgeoisie

Die documenta nach dem Ende des „Zeitalters der Extreme“ . . . . . . . . . . . . . . . 134 Der Diskurs als Spektakel: documenta 10 bis 14 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Die documenta GmbH am Rande der Insolvenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Die documenta 14 hinterlässt ein „Merkel-Monument“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Kapitel V Linke Akademiker, „expeditive Performer“ & reiche Sammler

Gegenwartskunst als Elitenprojekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 documenta, Biennale, Blockbusterausstellungen: Ein Massenpublikum für die Gegenwartskunst? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Die häufigsten Ressentiments gegenüber zeitgenössischer Kunst . . . . . . . . . 167 Vandalismus – stummer Protest der Ausgeschlossenen? . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 Vandalismus als Methode von Terroristen und Avantgardisten . . . . . . . . . . . . 176 Die Mehrheit der Bevölkerung steht abseits

Manifestiert sich in Bejahung und Ablehnung der Gegenwartskunst eine gesellschaftliche Spaltung?

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178

Kapitel VI Die Freiheit der Kunst und ihre Feinde

Gegenwartskunst im Visier von Populisten und Extremisten . . . . . . . . . . . . . . . . 182 Kulturkampf von Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 Rechte Kunst = schlechte Kunst? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194

Inhaltsverzeichnis

Religiös motivierte Attacken auf Kunst und Künstler

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197

Linke Kunst und rechte Empörung – Zutaten für allseits

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 Identitätslinke Aktivisten gegen die Freiheit der Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Welche Rolle spielt die Kunst in der „identitätslinken Läuterungsagenda“? . . 218 gewinnbringende Skandale

Die alte Linke und die neue Kunst

Ausblick: Die Feinde der Kunst im 21. Jahrhundert. Das Zusammenwirken von identitätslinker Läuterungsagenda und legalistischem Islamismus

. . . . . 223

Verzeichnisse Quellen und Archivbestände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Literatur bis 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Literatur ab 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 Publikationsverzeichnis des Autors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 Künstlerregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239

7

Einleitung

Mit dem System der Pariser Salonausstellungen entstand im 19 . Jahrhundert der moderne Kunstmarkt . Eine seiner konstanten Begleiterscheinung war der Kunstskandal . Vom ihm profitierten im Sinne einer ‚Ökonomie der Aufmerksamkeit‘1 Künstler und Händler, Kunstpublikum, Journalisten und Verleger gleichermaßen . Das auf diese Weise erweckte Masseninteresse und die damit verbundene emotionale Rezeption von Kunst riefen aber zugleich kunstfeindliche Ressentiments und Aggressionen hervor, die bis heute wirksam sind . Die wichtigsten Ressentiments bestanden in der Verdammung des Kunstmarktes als „Entweihung der Kunst“ und in der Pathologisierung der Künstler . Darüber hinaus wurde die Gegenwartskunst für Reaktionäre und Romantiker zum Symbol einer unerwünschten gesellschaftlichen Modernisierung . In den 1920er und 1930er Jahren steigerten und radikalisierten sich die Ressentiments gegen moderne Kunst im Kontext eines grassierenden Antisemitismus . In jener Zeit politischer Krisen und ökonomischer Transformationen fiel es den Zeitgenossen schwer, klare kausale Zusammenhänge und verantwortliche Akteure zu benennen . Stattdessen wurden dafür Sündenböcke, Verschwörungstheorien und Projektionen gesucht . Neben Minderheiten und Eliten zählten auch Kunst und Künstler zu Blitzableitern eines „Volkszorns“, der von links und rechts bewusst geschürt wurde . Nicht nur das Spekulative des Kunstmarktes, der zum Symbol eines irrealen und heißlaufenden Kapitalismus schlechthin wurde, stand im Mittelpunkt der Kulturkritik jener Zeit, sondern auch die Isolation der Künstler vom „Volk“ . Kritik am zeitgenössischen Kunstgeschehen kam von den Kommunisten, gelegentlich aus der bildungsbürgerlich-konservativen Mitte, in besonders aggressiver und diffamierender Weise aber von Rechts und kulminierte 1937 in der berüchtigten Kampagne „Entartete Kunst“ . Die Diffamierung moderner Kunst als „entartet“ bzw . „degeneriert“ war 1945 keineswegs beendet, sondern nahm zu Beginn der Blockkonfrontation erneut an Fahrt auf . Spiegelbildlich übernahmen im Kalten Krieg die documenta und die Deutsche Kunstausstellung / Kunstausstellung der DDR den Auftrag, mit Hilfe der Kunst die Bevölkerung

1

Begriffsprägung durch Georg Franck, Ökonomie der Aufmerksamkeit . Ein Entwurf, München 1998 .

10

Einleitung

zu indoktrinieren . Die documenta wurde als Gegenmodell zur Ausstellung „Entartete Kunst“ und als Alternative zu den sozialistischen Leistungsschauen organisiert und avancierte im Laufe der Nachkriegszeit zu einer der wichtigsten Kunstausstellungen weltweit . Mit ihrer starken Medienpräsenz und dem großen Publikumszuspruch übernahm die documenta in gewisser Hinsicht die Rolle, die die Pariser Salonausstellungen im 19 .  Jahrhundert innehatten . Die Rezeption der documenta durch Publikum, Politiker, Bevölkerung und Medien darf als Seismograph für kunstfeindliche und antimoderne Ressentiments gelten . Die hier vorgelegte Studie geht von der These aus, dass Vorbehalte gegen Gegenwartskunst in sogenannten kulturellen Anerkennungskrisen bestimmter Schichten und Milieus massiv verstärkt werden können . Die Kulturkämpfe der 1920er Jahre, in denen der Expressionismus museale Weihen erhielt, wie auch die der 1950er, als die abstrakte Kunst im Westen hegemonial wurde, hatten gezeigt, dass sich bestimmte Milieus mit Gegenwartskunst identifizierten und andere diese Kunst als Ausdruck unerwünschter gesellschaftlicher Veränderungen vehement ablehnten . Im Rahmen dieser Studie soll erörtert werden, ob sich dieses Muster auch auf die Gegenwart übertragen lässt . Es spricht einiges dafür, die heutige Gegenwartskunst als Signet und Projekt einer neuen „Creative Class“2 zu interpretieren . Die Masse der Bevölkerung scheint der Gegenwartskunst hingegen teilnahmslos oder latent ablehnend gegenüberzustehen . Manifestiert sich in der Haltung zur Gegenwartskunst eine gesellschaftliche Spaltung, und könnte das Thema Kunst somit für Extremisten und Populisten interessant werden, deren Geschäftsmodell ja gerade auf der Forcierung von gesellschaftlichen Spaltungen beruht? Welche Rolle spielt Gegenwartskunst in der Agenda heutiger extremistischer und populistischer Bewegungen, in Deutschland und in Europa? Der Begriff Populismus steht mittlerweile in der Kritik, inhaltsleer und beliebig zu sein . Der Wiener Soziologe Oliver Marchart sieht darin eine reine Machterhaltungstechnik der neoliberalen Eliten: „Die pauschale Kritik am Populismus bleibt leer, weil vom liberalen Antipopulismus schlechthin alles denunziert wird, was als politische Alternative zu jenem liberalen Dogma auftritt, dem die Parteien des gesamten traditionellen Spektrums mit nur geringen Varianten anhängen: ungehinderte Herrschaft der Märkte in allen Lebensbereichen .“3 Es gibt also gute Gründe ‚Populismus‘ zu vermeiden, dennoch wird er in dieser Studie noch als Arbeitsbegriff verwendet, definiert im Sinne von: eine relative neue Partei oder Bewegung mit opportunistischer, emotionalisierender, anti-elitärer Rhetorik, mit verkürzender Argumentationsweise und dem Anspruch, die Mehrheit der Bevölkerung bzw . „des Volkes“ zu vertreten . Gefahr für die Freiheit der Kunst geht aber nicht nur von kunstfernen Rechtspopulisten und religiösen Fundamentalisten aus, sondern kommt auch aus dem Inneren des Begriffsprägung durch Richard Florida, The Rise of the Creative Class, New York 2002 . Oliver Marchart, „Liberaler Antipopulismus . Ein Ausdruck von Postpolitik“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 44/45 30 .10 .2017, S . 11–16, hier: S . 7 . 2 3

Einleitung

Kunst- und Universitätsbetriebes, aus den Kunstakademien, und aus den Geistes- und Kulturwissenschaften . Antirassistische, queere und postkoloniale Diskurse und Positionen sind hier mittlerweile fast schon dominant geworden, sichtbar beispielsweise in der Popularität der „Critical Whiteness Studies“ . Deren Anhänger, die sogenannten akademischen und kulturrelativistischen „Identitätslinken“4, lehnen universalistische Werte wie künstlerische Autonomie, Menschenrechte oder Meinungsfreiheit weithin ab, die Freiheit der Kunst wird von ihnen als überholtes „weisses“, „männliches“ Privileg problematisiert, als „rechter“ Kampfbegriff und „Eurozentrismus“ denunziert . Die vorliegende Studie geht von anderen Prämissen aus, u . a . von der Annahme, dass eine weitreichende Autonomie der Kunst nicht nur den direkt Beteiligten nutzt, sondern der Gesellschaft insgesamt . Analog zur Freiheit der Wissenschaft und zur Meinungsfreiheit sollte auch die bildende Kunst als Experimentiergelände für Ideen und Problemlösungen erhalten werden, als gesellschaftliches Forum, wo Streit, Widerspruch, Vielfalt von Meinungen und somit auch Toleranz erprobt werden können . Kunst sollte der Entfaltung freier Individuen dienen können, als Ausdrucksmöglichkeit von Persönlichkeit und Individualität . Kunst ohne Freiheit ist keine Kunst, sondern Dekoration . Nicht nur religiöse Fundamentalisten, auch Anhänger extremer rechter und linker Ideologien erkennen die Autonomie der Kunst nicht an und bekämpfen sie . Sie sind die Feinde der Kunst . Worin genau bestehen Aggressivität und Feindschaft gegenüber der modernen Kunst? Welche philosophischen, religiösen oder ideologischen Wurzeln hat diese Haltung? Der Psychoanalytiker Kai Hammermeister definierte in seinem Buch Kleine Systematik der Kunstfeindschaft Kunstfeindlichkeit als grundsätzliche Weigerung, die Autonomie der Kunst anzuerkennen . Diese werde „mit dem Argument bestritten, dass es Werte gibt, die der Kunst übergeordnet sind, die der Kunst Grenzen ziehen und deren Verletzung durch die Kunst nicht geduldet werden kann .“5 Seit der Antike haben sich kunstfeindliche Positionen in Theologie und Philosophie herausgebildet . Deren Kerngedanken fanden sich auch im 19 . und 20 . Jahrhundert wieder – sie wurden zu kulturellen Begleiterscheinungen der Moderne und sind sogar bis heute wirksam . Etwa die Vorstellung, Bildliche Darstellungen lenkten von Gott ab . Für den spätmittelalterlichen Theologen Meister Eckhart verhinderten Bilder die vollkommene Präsenz Gottes im Menschen . Der Platz, den die Bilder einnehmen, bleibe für Gott versperrt .

4 Aktuell lässt sich die politische Linke idealtypisch in drei Richtungen unterteilen: eine Identitätslinke, eine Ökolinke und eine Soziallinke . Die Identitätslinke definiert sich über das Engagement für Minderheiten, die einer Diskriminierung in der Gesellschaft ausgesetzt seien . Es geht ihnen primär nicht mehr um soziale Gerechtigkeit, sondern um Identitätsgerechtigkeit . Definition laut Armin Pfahl-Traughber, Professor an der Fachhochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in Brühl und Herausgeber des Jahrbuchs für Extremismus- und Terrorismusforschung . https://hpd .de/artikel/antiindividualismus-identitaetslinkenmigrationsdebatte-17588 (20 .02 .20) . 5 Kai Hammermeister, Kleine Systematik der Kunstfeindschaft . Zur Geschichte und Theorie der Ästhetik, Darmstadt 2007, S . 15 .

11

12

Einleitung

Eine ebenfalls bedeutsame kunstfeindliche Position war die Vorstellung, Kunst sei als Ressourcenverschwendung, als indirekte Beraubung der Armen zu betrachten . Seit der Antike kursierte zudem die Idee, die Beschäftigung mit Kunst führe zu einer Verweichlichung der Gesellschaft . Plutarch bemängelte seinerzeit, Künstler seien ungeeignet für Kriegsdienste . Von Bedeutung war auch die Vorstellung „Kunst als Ursache innerer Verwirrung des Menschen“ zu betrachten .6 Laut dieser psychohygienischen Kunstfeindschaft sind in der Kunst untergeordnete Elemente der Psyche am Werk, das Kunstschaffen erscheint in dieser Perspektive als Ausdruck einer Störung des harmonischen Seelenlebens . Die epistemologische Kunstfeindschaft wirft die These auf, Kunst verzerre die Wahrheit, sie erschwere oder verhindere gar die Erkenntnis der Wahrheit, indem sie Emotionen weckte, welche von rationaler Erkenntnis ablenkten . Für Rousseau hingegen hatte die Kunst keine aktive zersetzende soziale Wirkung, sondern war Resultat und Symptom eines gesellschaftlichen und sittlichen Verfalls, der bereits eingesetzt hatte: Wenn Kunst und Kultur blühten, zeigten sie bereits den Niedergang des menschlichen Gemeinwesens an .7 Kunstfeindschaft geht paradoxerweise von einer großen Wirksamkeit der Kunst aus, sie schreibt ihr erhebliche Macht und großen Einfluss zu . Sie betrachtet die Bildwerke quasi als toxische Objekte mit infektiöser Wirkung . Demnach müssten sie verboten, verborgen oder sogar zerstört werden .

Ebenda S . 139 . Zusammenfassung kunstfeindlicher Positionen bei: http://www .information-philosophie .de/?a=1&t= 7191&n=2&y=1&c=50 (25 .9 .2019) .

6 7

Kapitel I Salonfähig und Skandalös Die Entstehung des modernen Kunstmarktes und die Radikalisierung der Kunstkritik im 19. Jahrhundert

Die so genannte Salonkunst oder Salonmalerei des 19 .  Jahrhunderts hat heute eine zweifelhafte Reputation . Viele dieser damals hochangesehenen und hochdotierten Künstler gehören heute zu den Fußnoten einer Kunstgeschichte, die auf die Avantgardisten und die stetige Erweiterung des Kunstbegriffs fixiert war . Und doch entstand mit dem System der Salons eigentlich schon jener moderne Kunstbetrieb, der uns heute wohlbekannt ist . Eine seiner konstanten Begleiterscheinung ist der Skandal, der wie ein Transmissionsriemen Medienwelt und Kunstmarkt verbindet . Vom Skandal profitierten im Sinne einer Ökonomie der Aufmerksamkeit Künstler und Händler, Kunstpublikum, Journalisten und Verleger gleichermaßen . Das Mitte des 19 . Jahrhundert in Paris erweckte Masseninteresse an Kunst und die damit verbundene emotionale Rezeption von Kunst rief aber zugleich auch kunstfeindliche Ressentiments und Aggressionen hervor . Im Unterhaltungsbetrieb der Salonkunst erwachten auch die Vorurteile gegen Kunst, die bis heute wirksam sind . Die wichtigsten Ressentiments bestanden in der Verdammung des Kunstmarktes als „Entweihung der Kunst“ und in der Pathologisierung der Künstler als „Verrückte“ . Moderne Kunst wurde seitdem weithin als Symbol für unerwünschte gesellschaftliche Entwicklung angesehen, und in der Gegenwartskunst schienen sich all die negativen Folgen und Risiken der Moderne konzentriert abzubilden . Die Kunst wurde zum Feindbild und Blitzableiter antimoderner Haltungen und Ideologien . Das Unglück der modernen Welt: Ein großes Messpublicum, eine übertriebene Concurrenz, frivole Geldmenschen und reiche Weltleute, spitzfindige Archäologen, haarspaltende Kritiker und Stubengelehrte […] . Bei der Kunst selbst jene Marktausstellungen und Effectübertreibungen, jenes Dominiren ärmlicher Convenienzen und antiquarischer

14

Kapitel I Salonfähig und Skandalös

Skrupeln, jene manierirten, verkümmerten Stile, jene gesuchten Naivetäten und lächerlichen Eigenheiten für die delicaten, soi-disant Kunstkenner .1

Diesen Kommentar aus der zweiten Hälfte des 19 . Jahrhunderts könnte man mit variierter Wortwahl auch in den 1920er und 1950er Jahren oder in der Gegenwart lesen . Der Kunstmarkt erscheint bereits damals als Übel, die lebhafte Nachfrage der Sammler wird von den etablierten Kunstkennern nicht nur als Nachteil für die künstlerische Qualität, sondern als Gefahr für die Kunst überhaupt gesehen: Wozu führt es, wenn im Salon die guten, stilvollen Werke unberücksichtigt bleiben, weil sie nicht schreiende Effekte enthalten, wenn sie von dem wuchernden Unkraute des prunkenden Dilettantismus und von plagiatisierenden Sarah-Bernardiaden erstickt werden, welche ihrerseits von irgendeinem Onkel aus Amerika, von einem Eisenbahnkönige des Nordens oder einem Sklavenhändler des Südens mit Gold aufgewogen und zu Dutzenden bestellt werden . Wozu führt es endlich, wenn in den nur zu oft sich wiederholenden Kunstausstellungen, statt einiger Hundert, einige Tausend Ausstellungsgegenstände figurieren, von denen nur die bemerkt werden, welche einen großen Namen tragen, sowie die, welche in irgendeiner extravaganten Manier sich breit zu machen verstehen . In ersterem Fall ist die Kunst das bezahlte Werkzeug des Goldes, im letzteren der Spielball von falschen Ehrgeiz und Capricen, in beiden die ästhetische Idee ein Fantom .2

Die Gleichung, dass die Kunst gut und heilig, der Markt aber schlecht und banal sei, wird in den folgenden Jahrzehnten ein Allgemeinplatz einer Kunstkritik, die über das Ziel hinausschießt und oftmals kulturpessimistische Züge annimmt: „Es ist heute der Kunsthandel nichts weiter als oft verwegene Börsenspekulation . Es handelt sich darum, sich zu sichern, was in Bälde viel Geld kosten soll, wenn erst die Masse der Käufer planmäßig darauf losgelassen ist . Und diese kauft heute ja ausschließlich Namen .“3 Wenn man einige aus der Mode gekommene Ausdrücke austauscht, erhält man eine treffende Beschreibung der gegenwärtigen Kunstbetriebs . Auch im heutigen Kunstbetrieb gibt der Lebensstil reicher Sammler den Ton an . Es ist offenbar ein immer wiederkehrendes Problem, dass der distinguierte Kenner von einer neuen Käuferschar an den Rand gedrängt wird, für die in erster Linie schnelle Wertsteigerungsoptionen und angesagte Künstlernamen zählen: Old Money versus New Money . Die heutigen neuen Sammler sind oft Männer mittleren Alters, die auf den Finanzmärkten viel Geld verdient haben . Mit großen Summen, manchmal mit Hunderten von Millionen Dollar, treiben sie die Preise für zeitgenössische Kunst in die Höhe, indem sie massiv in einige wenige Künstler investieren . Seit fast 150 Jahren ist dieses Phänomen zu beobachten . Henry Taine, Paris Guide Nr . 1, S . 852 ff ., zitiert nach: Paul Salvisberg, Kunsthistorische Studien, Heft 1, Stuttgart 1884, S . 45 . 2 Paul Salvisberg, Kunsthistorische Studien, Heft 1, Stuttgart 1884, S . 44 . 3 Albrecht Haupt, Die kranke deutsche Kunst . Von einem Deutschen, Leipzig 1911, S . 6 . 1

Das System der Salons und der moderne Kunstmarkt

Waren es damals die Industriekapitäne und Ölbarone, die den Kunstmarkt in Unruhe versetzten, sind es heute die Entrepreneure der Finanzwirtschaft und der Digitalkonzerne . Der Auftritt neuer Kunstmarkt-Player hat sich als Begleiterscheinung der Moderne etabliert – und immer wieder zu kulturpessimistischen Kritiken und Dekadenzszenarien geführt . Das System der Salons und der moderne Kunstmarkt

Die königlichen Kunstakademien hatten in der Zeit des Absolutismus das Berufsmonopol der Zünfte übernommen und drängten diese an den Rand des Kunstgeschehens . Über die Akademien steuerte der höfische Geschmack auf zentrale Weise die Kunstproduktion . 1648 wurde auf Initiative des Malers Charles Le Brun die Académie Royale de Peinture et Sculpture in Paris gegründet . Vorbilder waren die Kunstakademien in Florenz und Rom gewesen . Einige Jahre darauf gelang es Jean-Baptiste Colbert durch eine Neustrukturierung die Akademie zur landesweit höchsten Instanz für alle Fragen der künstlerischen Gestaltung und Erziehung, der Kunsttheorie und Kunstkritik, der künstlerischen Repräsentation des Königshofes und des Staates insgesamt zu machen . Im Gegensatz zu den italienischen Vorbildern war die französische Akademie mit zentralen Kompetenzen und einer strengen Rangordnung ihrer Mitglieder ausgestattet . Die Kunst wurde auf diese Weise in den Staatsapparat integriert und der Machtpolitik nutzbar gemacht . Ab 1663 wurden mit Hilfe königlicher Statuten Ausstellungen in der Akademie angeordnet, bei denen zunächst nur Akademiemitglieder und Adlige anwesend waren . Diese Ausstellungen waren mit einem Staatsakt verbunden und meistens auf den königlichen Namenstag gelegt . Daraus entwickelte sich die Idee einer öffentlichen Ausstellung, die ab 1737 regelmäßig in der Grand Galerie des Louvre und im benachbarten Salon Carré stattfand, der für die Veranstaltung Namengebend wurde . Ab 1855 zog der Salon in den geräumigeren Industriepalast . Das Pariser Bürgertum strömte in die Ausstellungen und nahm nunmehr Anteil an den Diskussionen über Kunst, die bisher nur von wenigen Fachleuten geführt worden waren . Die Kunstbetrachtung wurde zu einem beliebten Konversationsthema, der Ausstellungsbesuch zum gesellschaftlichen Ereignis . Für die Künstler ergab sich aus dem neuen Interesse der bürgerlichen Öffentlichkeit die Gelegenheit, sich von den mächtigen adligen oder kirchlichen Auftraggebern zu lösen . Die Hauptstadt bot den Künstlern nun regelmäßig eine zentrale Bühne, die viel Publikum anzog . Neugierige, Kritiker, Käufer: Im Salon hatte die Kunst nun ein Forum, unabhängig von kirchlichen und fürstlichen Auftraggebern und Schauplätzen . So war es jetzt erstmals möglich, über den Kunstmarkt das Monopol der königlichen Kunstakademien auszuhebeln . Die alte Elite des Adel konnte nicht mehr allein über die von ihnen gesteuerten Akademien das Kunstgeschehen bestimmen . Der frühe bürgerliche Kunstmarkt schuf ein Gegengewicht, sorgte für mehr Vielfalt und für mehr Freiheit in der Kunst . Über 100 Jahre lang

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hatte die jährliche offizielle Salon-Ausstellung in den Räumlichkeiten der Grand Galerie und speziell des namensgebenden Salon Carré residiert, wobei die Zahl der Teilnehmer immer weiter wuchs . Die hohen Wände waren zu zwei Dritteln mit Bildern bedeckt . Je nach Format waren manchmal fünf bis sieben Reihen von Bildern übereinander und dicht an dicht gehängt, sogar manche Fensteröffnungen wurden überdeckt, um mehr Fläche zu haben . Die Großformate hingen ganz oben . Im Revolutionsjahr 1789 nahmen 88 Künstler mit 423 Werken am Salon teil, im Laufe der Revolution steigerte sich die Zahl der Teilnehmer auf 257, sie zeigten 881 Werke . 1831 waren bereits 2 .957 Kunstwerke zu sehen und zum Salon von 1863 (nunmehr in den Hallen des weit größeren Industriepalastes) bewarben sich rund 3 .000 Künstler mit ca . 5 .000 Gemälden . Immerhin 988 Maler wurden mit insgesamt 2 .820 Bildern zugelassen – so viele Gemälde hatten in den Ausstellungsräumen Platz .4 1876 wurden von rund 4 .000 Gemälden 2 .900 zugelassen – ebenfalls eine durchaus günstige Quote für die Bewerber . Die Bilderfülle wurde zum Problem: Dicht an dicht gehängt, wirkten die Gemälde wie eine riesige Kollage, wie ein gewaltiger Wandteppich . Das Einzelwerk konnte so kaum Wirkung entfalten, allenfalls hochberühmte Künstler bekamen Ehrensäle oder Pavillons für sich allein . Der Salon war die zentrale Vermarktungsplattform, und die einzige Bühne, auf der unbekannte Künstler reüssieren konnten . Nur hier konnte ein Künstler in den Genuss staatlicher Ankäufe und Auszeichnungen kommen, die weitere staatliche oder private Aufträge nach sich zogen . Im Salon abgelehnte Bilder waren in der Regel unverkäuflich geworden . Nach der Zurückweisung seiner Bilder durch die Salonjury 1847 schrieb Gustave Courbet seinen Eltern: „Um bekannt zu werden, muß man ausstellen und unglücklicherweise bietet diese Ausstellung die einzige Möglichkeit“ . Daraufhin plante Courbet die Durchführung eines eigenen Salons, was allerdings durch die Revolution von 1848 verhindert wurde . Damit nahm Courbet die Idee eine Salon de Refusés vorweg, die erst 16 Jahre später verwirklicht werden sollte .5 Über die Zulassung entschied eine Jury d’admission, während die Jury des récompenses für Auszeichnungen zuständig war . Emile Zola nannte die Jury d’admission beißend die „Urheberin jener langen, fahlen Säle, in denen sich schüchternes Mittelmaß und bestohlene Berühmtheiten im grellen Licht zur Schau stellen .“6 Die Einrichtung einer Jury war bereits Mitte des 18 . Jahrhunderts notwendig geworden, als die Salonausstellungen von 1747 und 1748 katastrophale Kritiken hervorriefen . In der Regel stammten die Jurymitglieder von der Académie des Beaux Arts . Diese war aus der alten königlichen Akademie hervorgegangen und nach mehrfacher Reform unter dem Dach des „Institut de France“ zu einer Aufsichtsbehörde für die Kunst geworden . Ein neues Mitglied konnte nur nach dem Tode eines alten ernannt werden und erklomm damit den Gipfel seiner 4 Beat Wyss, Vom Bild zum Kunstsystem, Köln 2006, S . 272 . Allgemein zur Statistik der Salons: Andrée Sfeir-Semler, Die Maler im Pariser Salon 1791–1880, Frankfurt 1992 . 5 Zitiert nach Fabrice Masanès, Gustav Courbet . Der letzte Romantiker, Köln 2006, S . 29 . 6 Emile Zola, Die Salons von 1866–96 . Schriften zur Kunst, Weinheim 1994, S . 4 .

Das System der Salons und der moderne Kunstmarkt

Künstlerkarriere . Während sich die Akademie noch gegenüber den Klassizisten geöffnet hatte, sperrte sie sich gegen spätere progressive Richtungen und wurde zu einer Bastion des Konservatismus . Keiner der bedeutenden Realisten und Impressionisten konnte Membre de l’Institut werden; und Eugene Delacroix wurde erst nach sechs vergeblichen Bewerbungen kurz vor seinem Tode aufgenommen . Nach der Februarrevolution von 1848 wurde die Jury kurzzeitig als undemokratische Einrichtung abgeschafft und der Salon verzeichnete eine Rekordbeteiligung von über 5 .000 Gemälden . Im Publikum und unter den Künstlern selbst stieß diese Maßnahme jedoch auf Kritik – es war nun keine Auszeichnung mehr, im Salon ausgestellt zu haben . Unter der Herrschaft Napoleons des III . wurde die Salonjury erneut zum Instrument des Staates . Wie sein Onkel Bonaparte erkannte Napoleon III . die Bedeutung der Kunst für die Legitimierung seiner Herrschaft .7 Der Streit um die Jury und die Ablehnung durch die Jury führten immer wieder zu Spaltungen der Künstlerschaft, zu alternativen Ausstellungen und temporären Zusammenschlüssen . Der Salon des Refusés sorgte 1863 sogar für mehr Aufsehen als der offizielle Salon . 1880 verzichtete die Republik auf das staatliche Recht, die Jury zu bestimmen und legte diese Aufgabe in die Hände einer Künstlerkörperschaft, der Société des Artistes Francais, deren Mitglieder von allen Künstlern gewählt werden konnten, die mindestens einmal im Salon zugelassen worden waren . Allerdings war diese Jury derart konservativ, dass sich wenige Jahre später die Société nationale des Beaux-Arts (u . a . mit Auguste Rodin, Ernest Meissonier, Pierre Puvis de Chavannes) mit einem eigenen Salon abspaltete . 1884 hatten sich einige jüngere Künstler, die immer wieder vom offiziellen Salon abgewiesen worden waren, zur Société des Indépendants zusammengeschlossen – unter ihnen Georges-Pierre Seurat, Paul Signac und Vincent van Gogh . Nun fand jährlich unter dem Motto „Ni jury, ni récompense“ der Salon des Indépendants statt . Die zentralen Institutionen des offiziellen Salons, der Akademie und der Ecole verloren ihre Monopolstellungen und ihre prägende Kraft im letzten Drittel des 19 .  Jahrhunderts . Durch Abspaltungen und Neugründungen entstanden Satelliten-Salons . Eine ähnliche Entwicklung vollzog sich in Gestalt der Sezessionen im deutschsprachigen Raum: 1892 bildete sich die Münchner, 1897 die Wiener, 1898 die Berliner Sezession . Auch in anderen Städten waren die Künstlervereinigungen bald in mehrere Fraktionen gespalten . Stets ging es darum, vormaligen Außenseitern und Neulingen, denen bislang der Zugang zu Ausstellungsmöglichkeiten verwehrt blieb, eigene Institutionen zur Verfügung zu stellen . Der Kunstbetrieb wurde jetzt vielfältiger und unübersichtlicher . Mehr und mehr private Galerien eröffneten in Paris . Hier kamen auch Ausländer und weniger etablierte Kunstrichtungen zum Zuge . Private Sammler und Connaisseurs durchstreiften die Galerienlandschaft, aus der die KunstSo vermerkten zeitgenössischen Chroniken, von den 762 zwischen 1862 bis 1866 vom Staat bestellten Kunstwerken seien 354 Arbeiten Portraits der kaiserlichen Familie gewesen, während der Durchschnittspreis für ein vom Staat in Auftrag gegebenes Gemälde im gleichen Zeitraum um fast die Hälfte gesunken sei . Zeitschrift für bildende Kunst, Bd . 5, 1870, S . 268–272 .

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händler Vollard, Durand-Ruel, Kahnweiler und Berthe Weill als Pioniere herausragten . Dieses Muster der Professionalisierung bei gleichzeitiger Differenzierung des Kunstmarktes verbreitete sich von Paris aus in Europa . Ein städtisches Massenpublikum entdeckt die Kunst

Die großen Salonausstellungen in Paris zogen ein Massenpublikum an . Allein zwischen 1867 und 1876 verdreifachte sich die Besucherzahl auf rund 180 .000  – bei jeweils nur sechs Wochen Öffnungszeit .8 1884 wurden 238 .000 Besucher in der Salonausstellung gezählt, 1887 sogar 562 .000 .9 Damit war bereits in absoluten Zahlen eine Marke erreicht, die die Biennale von Venedig oder die documenta erst hundert Jahre später erreichen sollten . An Sonntagen und Donnerstagen lockte freier Eintritt nicht nur massenhaft Kunstfreunde und Touristen an, sondern auch gelangweilte Passanten und Clochards . Die deutsche Malerin Paula Modersohn-Becker, die den Louvre im Februar 1900 besuchte, zählte verwundert zehn betrunkene Obdachlose, die sich im Antikensaal aufwärmten . Die Kunst fand ein Massenpublikum, und die Teilung in Eintrittsfreie und Eintrittspflichtige Tage machte auch das Kunsterlebnis zu einer Klassenfrage . Der wohlhabende Genießer und Kenner zahlte und wandelte durch mäßig gefüllte Räume, während sich die drängelnden Massen an den Gratis-Tagen ein Bild von der Kunst machen mussten . Bereits im 18 . Jahrhunderts hatte man die kommunikative Seite des Ausstellungsbesuchs entdeckt – es ließ sich wunderbar über Kunst streiten . Kunstausstellungen wurden zum Konversationsthema, an dem sich alle beteiligen konnten, die sie gesehen oder zumindest darüber etwas gelesen hatten . Der Fachjargon der wenigen Kenner und Kunsthändler, der Connaisseurs, kam an die Öffentlichkeit, die Laien, die Amateurs, mischten sich ein . Jeder bemühte sich, zu den Connaisseurs zu zählen, diese wiederum entflohen dem Massengeschmack, indem sie sich stets auf der Suche nach neuen und ungewöhnlichen Erscheinungen begaben – ein ungewöhnlicher Kunstgeschmack diente ihnen als Distinktionsmittel . Reden und Schreiben über Kunst bedeutete einerseits, sich zur gebildeten Gesellschaft zu zählen, teilzuhaben an einer Gemeinschaft der Kunstkenner, andererseits aber, sich von dieser Gemeinschaft abzugrenzen, sobald sie zu groß oder zu „gewöhnlich“ wurde . Die gesellige Konversation über das Schöne, die schon im Zeitalter der Aufklärung in Mode gekommen war, etablierte sich im beginnenden Medienzeitalter der Industriegesellschaft auf breiterer Basis . Nun ging es nicht mehr allein um die akademische „anonyme Lehrbarkeit der Kunst im Dienste des Staates“ . Kunstkennerschaft wurde zu Emile Zola, Die Salons 1866–96, Weinheim 1994, S . 222 . Isabelle Collet, „Die Kunst der Pompiers wiederentdecken“, in: Tayfun Belgin (Hg .), Triumph der Schönheit, Wien 2006, S . 15 . Götz Adriani nennt ebenfalls sechsstellige Besucherzahlen im Bereich 400–500 .000 . Götz Adriani, Bordell und Baudoir . Schauplätze der Moderne, Ostfildern-Ruit 2005, S . 36 .

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einer genuin bürgerlichen Errungenschaft, da sie erlernbar war und auf persönlicher, empirischer Anschauung beruhte: „Der bürgerliche Kenner beurteilt die Kunst als Arbeitsprodukt eines Individuums und prüft seinerseits in einem professionellen Arbeitsprozess, ob dieses den Regeln der Kunst entspricht .“10 Nahezu alle Zeitungen berichteten über die Salons . Nach umfangreichen Ankündigungen erschienen sie meist in Serienform, oftmals illustriert von Salonkarikaturen – diejenigen Honoré Daumiers wurden am bekanntesten .11 Nicht nur führende Künstler, auch Schriftsteller und Dichter wie Charles Baudelaire, Emile Zola, Gottfried August Bürger oder Heinrich Heine nahmen als prominente Kritiker am Salongeschehen teil . Professionelle Kunstkritiker, aber auch Journalisten und Dichter urteilten über die Gemälde . Dabei wurde der Ton bisweilen polemisch, viel lauter und unverschämter als es heute üblich ist . Zeitgenössische Besucher beobachteten erstaunt, wie sich gerade die „bessere Pariser Gesellschaft“ in Kunstausstellungen lautstark echauffierte: Die Herrschaften des Grand Monde betrachten die Ausstellung als eine Art Lachkabinett und verulken Künste, die sie nicht verstehen . Leute, die sich in ihren Salons über ein lautes Wort entrüsten würden, vergessen im Salon der künstlerischen Jugend ihre Vornehmthuerei durchaus und enthüllen sich als greulichen Kunstpöbel . Die modernen Maler wissen davon ein Lied zu singen: Von Manet bis Matisse ist’s immer die gleiche skurrile Geschichte . Im Ausland blickt man so gern mit Augenverdrehung zu Frankreichs höherer Kultur auf . Das ist die schönste Fabel der Welt: Nirgendwo hatte der Fortschritt härtere Arbeit, sich gegen die Rückständigkeit durchzusetzen, als in Frankreich . In Paris wird auf systematische Art das Neue totgeschwiegen oder verunglimpft . Gäbe es in Frankreich nicht eine verhältnismäßig hohe Zahl unbefangener Sammler und Kunsthändler – viele junge und begabte Künstler könnten sich einfach aufhängen .12

Wie viel angenehmer war es dagegen, ein ehrfürchtig beflissenes Touristenpublikum wie in der Dresdner Gemäldegalerie zu beobachten: „Es ist eine Freude, die Batallione eleganter Damen und Herren mit ihren Baedekers zu sehen, morgens um neun vor den Pforten der Kunst .“13 Exponierte Künstler

In Paris ließ sich geradezu von einem Künstlerproletariat sprechen: 1863 lebten dort bereits über 3 .500 Berufsmaler . Hinzukamen noch etwa 1 .200 in den französischen

Regine Prange, Die Geburt der Kunstgeschichte . Philosophische Ästhetik und empirische Wissenschaft, Köln 2004, S . 29 . 11 Annette Wohlgemuth, Honoré Daumier – Kunst im Spiegel der Karikatur von 1830–70, Frankfurt 1996 . 12 Julius Elias, „Herbstsalon“, Kunst und Künstler Jg . VII 1908/09, S . 139 f . 13 Die Kunst für Alle, II . Jg . Heft 9, 1 .2 .1887, S . 146 . 10

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Provinzen . Bis zum Jahr 1906 sollte die Zahl der Künstler in Frankreich sogar auf ca . 35 .000 steigen .14 Wie früher Rom, wurde nun Paris das Ziel von Künstlern aus ganz Europa und aus den USA, wie eine zeitgenössische Quelle sarkastisch bemerkte: Paris ist das Eldorado unsrer jungen Generation, nach welchen sie in einem Schlafcoupee des Blitzzuges hinsaust, nicht um dort zu studieren, sondern um sich dort die ‚Mache‘ der Franzosen abzusehen . Heute muß man a tout prix originell und individuell sein, da das schlechterdings nicht jedem gegeben ist, so verheimlicht der Durchschnittskünstler entweder vorsorglich die Quellen seiner Anregung und Anlehnung: Er hat alles aus sich! Oder er versucht sich durch die absurde Übertrumpfung der Absonderlichkeiten eines großen Zeitgenossen .15

Jährlich produzierten die Künstler in Paris zehntausende Gemälde, von denen die meisten niemals ein Publikum fanden .16 Wer im Salon ausstellte, konnte sich glücklich schätzen, wenngleich diese Ausstellungen Massenveranstaltungen glichen: 1909 gab es im alten Salon 5 .562 Werke, in der Sociéte nationale 2 .641, im Salon des Independents 5 .669 Arbeiten, zählte ein deutscher Journalist und fuhr fort: Mitleid habe ich mit dem furchtbaren Künstlerproletariat, von dessen Blösse hier die verdeckende Hülle gezogen wird – Kunstprostitution, hätte ich beinahe gesagt . Alle Länder der Welt haben nicht so viele Käufer zu entsenden, wie Jahr für Jahr notwendig wären, um den ungezählten Opfern foppender Künstlerträume soziale Gerechtigkeit zu schaffen . Die staatlichen und freien Akademien, die wild herumlaufenden ‚Meister‘, die Schule halten, nehmen die moralische Seite ihrer Aufgabe viel zu leicht […] . Ich bin beobachtender Stammgast auf Montmartre und Montparnasse und thue manch schmerzhaften Blick in die Wirtschaft darbender Künstler . Es muss jemand kommen, der die gewaltigen Massen der Unberufenen, Unbegabten gründlich desillusionirt, damit der gescheiterte Künstler, so lange es noch Zeit ist, sich einem ehrlichen Gewerbe zuwende .17

Von den Tausenden von Gemälden im Pariser Salon konnten oft nur wenige erwähnt oder gar ausführlicher besprochen werden . Und manche Bilder wurden von der Presse konsequent totgeschwiegen – obwohl sie Stadtgespräch waren . Diese Missachtung war die härteste Form negativer Kritik . Der Einfluss der Kritiker auf das Publikum war nicht zu unterschätzen, weil die meisten Besucher nicht die Zeit und Erfahrung hatten, sich selbst ein Urteil zu bilden und auf vorgefertigte Meinungen angewiesen waren . Mit der Ermächtigung einer größeren Öffentlichkeit zum ästhetischen Urteil entstand zwischen Künstler, Publikum und Kritik eine dreiseitige Beziehung, die von Anfang

14 Klaus von Beyme, Das Zeitalter der Avantgarden . Kunst und Gesellschaft 1905–1955, München 2005, S . 205 . 15 H . M ., „Der junge Künstler von ehedem und heut“, in: Die Kunst für Alle, 6 . Jg ., Heft 17, 1 .6 .1891, S . 265 f . 16 Jürgen Gerhardts (Hg .), Soziologie der Kunst, Opladen 1997, S . 198 . 17 Julius Elias, „Die Pariser Salons“, Kunst und Künstler Jg . VIII 1909/10, S . 521 ff .

Auffallen um jeden Preis: Dandys und Bohemiens

an von einer latenten Aggressivität belastet war . Auf der einen Seite stand das lautstarke, aber banausenhafte Publikum, auf der anderen standen die arroganten Kritiker, auf der dritten Seite die Künstler, die sich unverstanden und verleumdet fühlten von Menschen, die meistens selbst gar nicht malen oder zeichnen konnten . „Nicht jeder Mensch ist ein Künstler, aber jeder Mensch darf Kritik üben: Im Kunstsystem liegt demokratisches Potential“, resümierte der Kunstwissenschaftler Beat Wyss heute diese Entwicklung .18 Die drei geschilderten Kräfte arbeiteten nicht immer gegeneinander, sondern bildeten wechselnde Allianzen . Manchmal litten unkonventionelle Künstler unter dem informellen Bündnis von konservativen Akademieprofessoren und Kritikern, sowie einem Massenpublikum, das diesen Meinungsführern folgte . Vor diesem Hintergrund erkannten Künstler, dass es aber auch durchaus erfolgversprechend sein konnte, sich als gesellschaftliche Außenseiter zu stilisieren oder mit ihren Werken die Öffentlichkeit zu provozieren . Auffallen um jeden Preis: Dandys und Bohemiens

Neben den schmutzigen, antibürgerlichen Bohemien, der stets an der Grenze zum Clochard-Dasein wandelte, trat der snobistisch-aristokratische Dandy, der den Sozialneid der Bürger weckte . Beide Typen entstehen zu einer Zeit, in der die gesellschaftsprägende Kraft des Adels nachließ, und im aufstrebenden (fallweise auch puritanisch geprägten) Bürgertum noch wenig Spielraum und Verständnis für das kreative Künstlerdasein anzutreffen ist . Theodore Gericault verkörperte den Typus des Dandys, der das Publikum durch extreme Lebensweise und extreme Ansichten provozierte . Mit seinem Monumentalgemälde Das Floß der Medusa ist er in die Kunstgeschichte eingegangen . Die Schiffskatastrophe der Medusa im Jahr 1816 war ein beherrschendes Thema jener Zeit gewesen und wurde als symptomatisch für die Verkommenheit des restaurierten Bourbonenregimes von Ludwig XVIII . angesehen . Das Gemälde hatte eine große politische Sprengkraft, als es 1819 im Salon ausgestellt wurde .19 Gericault war ein leidenschaftlicher und draufgängerischer Reiter, pflegte seine morbiden Fantasien und provokanten politischen Ansichten . Ein weiterer umstrittener Künstlerdandy der romantischen Epoche war Eugene Delacroix . Er hatte 1827 mit seinem riesigen Gemälde Tod des Sardanapal einen Skandal provoziert . Der Maler inszenierte den assyrischen Herrscher als genusssüchtigen Übermenschen, der auf dem prunkvollen Totenbett eine letzte Orgie feiert . Der Betrachter wird zum Voyeur einer morbiden Szene, die in einem orientalischen Ambiente stattfindet . Delacroix als Vertreter der Schwarzen

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Beat Wyss, Vom Bild zum Kunstsystem, Köln 2006, Bd . 1, S . 246 . Albert Alhadeff, The raft of the Medusa . Gericault, Art and race, New York 2006 .

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Romantik wurde häufig selbst mit einer Aura des Unheimlichen und Dämonischen versehen . So berichtete ein Zeitgenosse über eine Begegnung mit ihm: Er war einfach gekleidet, ärmlich und ohne Sorgfalt . Das Gesicht grünlich-bleich, abgemagert, verwüstet . Eine gerade feine Nase . Lebhafte, harte, hochmütige Augen . Von Zeit zu Zeit richtete er seine fürchterlichen Augen auf mich, und ich erschrak . Er sah aus wie ein Kranker . Sein Gesichtsausdruck sprach von Geringschätzung, Anmaßung, Unverträglichkeit . Noch heute kann ich mir dieses Gesicht vorstellen . Eine Mumie, die ich später in Medinet Habu ausgraben sah, glich ihm merkwürdig, mit ihrer Pergamenthaut, unter der sich die Knochen abzeichneten und den schwarzen, über die Schläfen gestrichenen Haaren .20

Der neue Künstlertyp des Dandy stellt sich selbst in den Mittelpunkt seines ästhetischen Universums . Ein zeitgenössischer Beobachter schilderte sarkastisch das Aufkommen dieses neuen Künstlertypus auch im benachbarten Deutschland: Der Künstler von heute wetteifert mit dem ersten Dandy an Eleganz der Toilette . Der flotte Gang des einstigen Künstlers, der mit einem gewissen Aplomb den Kopf in den Nacken warf, ist dem bummeligen Wanken des schlecht imitierten Boulevardiers gewichen . In Damengesellschaft gehört chevalereske Höflichkeit zu den ausrangierten Requisiten . Man steht blasiert da, die Hände in den Hosentaschen oder sitzt mit übereinandergeschlagenen Beinen und – läßt die Damen stehen! Früher mußte der Künstler forsch sein, um zu gefallen, heut muß er vor allem etwas haute gout sein! Statt in ein Atelier glaubt man in das Empfangszimmer des Schahs von Persien oder in eine Kunstauktion getreten zu sein . Beim Eintritt versinkt man in persischen Teppichen, stolpert über antike Truhen, hat man endlich mühselig in einem Stuhle aus dem 17 . Jahrhundert Platz gefunden, so kitzeln einem Makartzweige in der Nase, höhnisch grinsen japanische Masken von oben herab . Ist es einem schließlich gelungen, sich durch römische Bronzen und holländische Krüge einen Weg zu bahnen, so entdeckt man mitunter durch Zufall in einem dunklen Winkel – ein Bild des Eigentümers!21

Der Dandy kokettiert mit Reichtum und Exzentrik, setzt sich „von oben“ vom Bürgertum ab . Hingegen provoziert der Bohemien, Vorläufer des Punk, die bürgerliche Gesellschaft vom unteren Rand her . Beide wenden sich instinktiv gegen die kulturellen Nivellierungstendenzen einer sich schrittweise egalisierenden bürgerlichen Gesellschaft, beide verachten den Massengeschmack, gehen prinzipiell in ästhetischen und politischen Fragen auf Distanz zum Bürgertum, wollen auffallen und sich abgrenzen . Dabei war aber langfristig eine ungünstige Nebenwirkung dieser Strategie zu vergegenwärtigen: Die soziale Außenseiterrolle des Künstlers wurde zwar einerseits vom Bürgertum romantisiert, konnte anderseits aber auch zur Isolierung und Stigmatisie-

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Andre Baunier, Ingres und Delacroix, in Kunst und Künstler Jg . VII 1908/09, S . 488 . H . M ., „Der junge Künstler von ehedem und heut“, in: Die Kunst für Alle, 6 . Jg ., Heft 17, 1 .6 .1891, S . 265 f .

Der Skandal als Erfolgsmethode

rung der Künstler führen, vor allem im Rahmen utilaristischer und totalitärer Ideologien: Künstler wurden als „arbeitsscheu“, „parasitär“ oder egoistisch dargestellt, sie wurden als „verrückt“ pathologisiert – zahlreiche Beispiele dafür wird vor allem die erste Hälfte des 20 . Jahrhunderts liefern . Der Skandal als Erfolgsmethode

Zum Wesen des Skandals gehört es, dass ein Vorgang oder Handel zwischen zwei Parteien von dritter Seite bekannt gemacht und damit skandalisiert wird . Es folgt eine mehr oder weniger starke Welle öffentlicher Erregung . Vom Skandal profitiert in der Regel derjenige am meisten, der ihn publik gemacht hat, er kann sich als moralisch überlegene Instanz darstellen . Weiterhin profitiert von der öffentlichen Aufmerksamkeit oftmals diejenige Partei stärker, die bislang unbedeutender und unbekannter war, während etablierte Institutionen und Persönlichkeiten mehr verlieren können: Sie gehen das Risiko einer Rufschädigung ein . Ein Pionier des Skandal-Marketings war Filippo Tomaso Marinetti, vom Dichter Andre Gide wie folgt beschrieben: „Er ist ein Dummkopf, sehr reich und sehr eingebildet, der sich nie hat zum Schweigen bringen können .“22 Marinetti war ein Talent in Sachen Publikumsmanipulation . Einen Prozess, der 1910 in Mailand gegen ihn wegen seiner „Verstöße gegen Sitte und Anstand“ eröffnet wurde, funktionierte er zu einer Werbeveranstaltung um, indem er seine Anhänger in den Gerichtsaal dirigierte und dort spektakuläre Reden hielt . In einem Vortrag in Venedig beschimpfte er seine Gastgeber als Hoteldiener, Zuhälter, Antiquare und Betrüger, die sich lieber an der heroischen Geschichte der Stadt ein Beispiel nehmen sollten . Der anschließende Tumult brachte ihn in alle Zeitungen . Auftritte der von ihm protegierten Künstler im In- und Ausland bereitete er mustergültig vor, lautsprecherische Deklamationen heizten die Situation schon im Vorfeld an . So wurde die Ausstellungseröffnung in der Pariser Galerie Bernheim Jeune am 5 . Februar 1912 sehr gut besucht, die Kritiken waren z . T . erbost . Der Dichter Apollinaire sprach von Wettbewerbsverzerrung unter jungen Künstlern, weil die Futuristen „aus fetten Pfründen“ in Mailand unterstützt würden . Marinetti hatte die gesamte Pariser Presse mobilisiert, jedes Werk war fotographisch reproduziert worden und konnte überall nachgedruckt werden, Porträtaufnahmen der einzelnen Künstler und der Gruppe verbreiteten sich auch auf diesem Wege . Vor der Galerie machte nächtliche Lichtreklame auf die Ausstellung aufmerksam . Ähnlich erfolgreich lief die Ausstellungstournee in London, nur in Berlin war das Echo zunächst schwach . Daraufhin reiste Marinetti mit Tausenden von Flugblättern im Gepäck aus Italien an . Die Futuristen fahren mit Pferdedroschken

Andre Gide, Gesammelte Werke II, Autobiographisches Bd . II, Tagebuch 1903–1922, Frankfurt 1990, S . 47 .

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in der Stadt umher und verteilen die Flugblätter . Marinetti hielt Vorträge in Berlin und endlich erwachte das Interesse für die Ausstellung in der Galerie Herwarth Walden .23 Der Skandal nutzt radikalen, polarisierenden Kräften mehr als den auf Ausgleich bedachten, er wird zum Kampfmittel von Systemgegnern und Aufstiegswilligen, die um Teilhabe an Macht und Ressourcen ringen . Skandale haben also eine asymmetrische Wirkung auf die Beteiligten . Folgerichtig wurde der Kunstskandal ein probates Mittel für unbekannte und ausgegrenzte Künstler in ihrem Kampf um Anerkennung und materielle Sicherheit . Doch auch die etablierten Gegner der modernen Avantgarden konnten sich den Skandal zu nutze machen, um ihre Anhängerschaft zu festigen und in  ihren Ansichten zu bestätigen . Der Mechanismus des Kunstskandals entwickelte sich im Zusammenwirken mit dem Aufschwung des Pressewesens . Journale und Tageszeitungen, von denen manche, etwa der Berliner Lokalanzeiger, zweimal am Tag erschienen (die Neue Zürcher Zeitung sogar zeitweilig dreimal), konkurrierten in den europäischen und amerikanischen Großstädten um Leser . Sie griffen bereitwillig Sensationen, Kriminalfälle und Skandale auf oder erzeugten letztere selbst durch aufgebauschte Berichterstattung . In ihrem Bestreben, gegenüber der Konkurrenz aufzufallen, trafen sie sich mit den Künstlern – denn auch diese litten unter viel großstädtischer Konkurrenz . Kunstskandale sorgten für Aufsehen und oftmals auch für neue Freunde und Förderer . Denn inzwischen war der Kreis der Kunstinteressierten so groß geworden, dass sich fast immer jemand fand, der sich demonstrativ vom Geschmack der etablierten Meinungsführer und Milieus absetzen wollte und umstrittene Künstler durch Ankäufe unterstützte . Der Kunstskandal bot verschiedene Wege, die Öffentlichkeit zu erregen: man konnte durch neue, vormals „unkünstlerische“ Techniken auffallen, durch allzu freizügige erotische Motive, durch blasphemische Darstellungen oder durch politische Anspielungen . Schockierend konnten auch ein exzentrisches Auftreten oder eine skandalöse Lebensführung wirken . Rührige Galeristen wie die Brüder Josse und Gaston Bernheim-Jeune erkannten, dass beispielsweise mit inkriminierten Gemälden Eduard Manets durchaus gute Geschäfte zu machen waren . Doch nicht nur Kunsthändler und die jungen Avantgardisten nutzten den Skandal, um sich im Gespräch zu bringen, selbst die etablierten Meister der Salonmalerei griffen danach . Je reißerischer eine Nachricht über einen Kunstskandal war, desto mehr Besucher kamen in die Ausstellungen . Spottende, pöbelnde, manchmal sogar gewalttätige Ausstellungsbesucher waren damals keine Seltenheit . Doch der Ärger und die Gegenwehr des Publikums war weniger eine Störung des avantgardistischen Kunstbetriebs, sondern wurde zum Bestandteil des Kunstereignisses selbst . Wenige Jahrzehnte später trieb der Dadaismus die gezielte Publikumsverärgerung auf die Spitze . Seit Marcel Duchamp besteht die ideale „Geschäftsgrundlage“ für moderne Kunst darin, dass Künstler und

Nach Karin Wieland, Die Geliebte des Duce . Das Leben der Margherita Sarfatti und die Erfindung des Faschismus, München 2004, S . 76 .

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Der Skandal als Erfolgsmethode

Publikum gemeinsam oder auch gegeneinander im Rahmen einer Ausstellung über das Wesen der Kunst, über ihre eigene Rolle und die dazugehörigen Normen nachdenken . Streit und Tumult sind dabei unvermeidlich, weil Kritiker oder große Teile des Publikums an einem älteren, werkzentrierten Kunstbegriff festhalten . Dieses Modell einer vielstimmigen und konfliktreichen Kunstrezeption funktioniert am besten in einer demokratischen, pluralistischen Gesellschaft . In totalitären Systemen hingegen kann der Kunstskandal eine gefährliche politische Wirkung haben und gar zum Instrument der Diktatur werden . Sowohl in Politik und Kunstbetrieb lassen sich ähnliche Kategorien aufstellen wie „Kriminelle Skandale“ (Fälschungen), „Korruptionsskandale“ oder „Steuerverschwendungsskandale“ (Museumsankäufe), doch im Kunstbetrieb dominieren darüber hinaus ästhetische Fragestellungen, die häufig mit moralischen Überzeugungen vermischt oder verwechselt werden . Hinter vielen Skandalen stehen gravierende gesellschaftliche Wertkonflikte wie „Ökonomie versus Bildungsauftrag/ideeller Wert der Kunst“, „Staatsräson versus Individualrechte“ oder „kollektive Repräsentativität versus individuelle Identität“ . Im 19 .  Jahrhundert werden diese Konflikte intensiv auf dem Feld der Kunst ausgetragen . Zunächst dominierte noch das antike-klassizistische Schönheitsempfinden, nach dem beispielsweise nur die idealisierte Darstellung menschlicher Körper künstlerisch wertvoll und erbaulich sei . Die meisten Kritiker und der überwältigende Teil des Publikums hingen dieser Ansicht nach und waren enttäuscht, wenn dieser Erwartungshaltung nicht entsprochen wurde . So betitelte die Kritik Arnold Böcklins Susanna im Bade als „verfettetes Riesenmastschwein“ und beklagte die „Geschmacklosigkeit vieler Künstler, dass sie auf die schönen nackten Körper die vulgären Köpfe ihrer Straßenmodelle setzten . Ihre Danae, Psyche, Diana, Hebe haben unseren hauptstädtischen Marktweibern und bejahrten Köchinnen nichts voraus .“24 Böcklins Susanna wurde geradezu zur Lachnummer, beobachtete die Zeitschrift Kunst für Alle in einer Ausstellung im Jahre 1891: „Vor einem seiner Bilder drängt und schiebt unaufhörlich eine fröhliche, lachende Menge . Diese Susanna im Bade ist ein antisemitischer Ulk und mit einer köstlichen Nonchalance gemalt .“25 Jede Art von Realismus in der Kunst war aus dieser Sicht schon skandalös . Bewusst und mit Lust provozierten auch manche Künstler die bigotte Öffentlichkeit, indem sie die klassischen mythologischen, antiken oder biblischen Rollen auf ihren Bildbühnen mit moralisch zweifelhaften Personen und Charaktertypen der Gegenwart besetzten . So empfanden Betrachter etwa Lovis Corinths (ein deutscher Schüler des Salon-Stars Adolphe William Bouguereau) Salome II von 1900 als skandalöses Bild, weil ihnen seine biblische Salome allzu grell geschminkt und allzu zeitgenössisch-sexy erschien . In München wurde Corinth wegen des Bildes geschnitten, in Berlin öffnete es ihm alle Türen . Die Doppelmoral jener Zeit führte dazu, dass man immer

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Friedrich Adolf Ackermann, Der Kunsthandel . Plaudereien, Leipzig 1896, S . 65 . Kunst für Alle Jg . 6 Nr . 17, 1 . Juni 1891, S . 257 f .

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Kapitel I Salonfähig und Skandalös

einen gelehrten (oder belehrenden) Vorwand brauchte, um nackte Frauen abbilden zu können – eine altbekannte antike Mythologie oder eine biblische Geschichte . Innerhalb dieses „Bildungsprozesses“ war Voyeurismus erlaubt und galt als Ausübung einer unbedenklichen Kunstkennerschaft . Sowohl die altgedienten Akademieprofessoren, als auch das Publikum waren geschockt, wenn sich Künstler wie Edgar Degas oder Eduard Manet die Freiheit herausnahmen, diese Maskerade fallen zu lassen und die Aktmalerei um ihrer selbst willen zu betreiben . Eine Direktheit wie bei Manets Olympia, die dem Betrachter auch noch kalt in die Augen schaute, war absolut Skandalwürdig . „Die Menge drängte sich wie im Leichenschauhaus, angelockt durch den Verwesungsgeruch der Olympia Manets“, fabulierte der enthemmte Kritiker Paul de Saint-Victoire in der Presse, während der Kritiker von Les Tablettes de Pierrot in Olympia gar „eine Frau, besser gesagt: Etwas Unförmiges, aufgeblasen wie eine groteske Gummipuppe, eine Art Affe“ erkannte .26 Besonders hohe Wellen schlug die Empörung, wenn sich jemand in seinen religiösen Gefühlen beleidigt wähnte . Bereits Caravaggio hatte seinerzeit Auftraggeber und Bildbetrachter mit seinen Straßenmodellen verprellt und irritiert, die er als Heilige posieren ließ . Auch im 19 . Jahrhundert wurde die „unwürdige“ Darstellung von Maria, von Jesus oder anderen biblischen Gestalten zum Gegenstand von Protesten . Der nackte Gekreuzigte von Max Klinger durfte 1892 nur mit einem Vorhang verdeckt präsentiert werden und Max Liebermanns Knabe Jesus im Tempel hatte einige Jahre zuvor eine Protestwelle verursacht, die selbst den Bayrischen Landtag beschäftigte . Der Jude Liebermann verhöhne die Christen mit diesem Bilde, gifteten fromme Katholiken damals .27 Neben dem Dauerstreit um „unschöne“ oder „unwürdige“ proletarische Modelle oder Bildthemen war die Technik, die Frage nach der „guten“ Malerei und Bildhauerei ein stark frequentiertes Konfliktfeld . Solange die Akademien den Kunstbetrieb beherrschten, gab es hier noch klare Regeln, die die Künstler befolgen oder skandalträchtig missachten konnten . Themenwahl, Farbwahl, Duktus, Komposition und Illusionismus folgten noch lange den bewährten akademischen Regeln . Doch auch später noch, als die Macht der Medaillengeschmückten Akademieprofessoren im Schwinden war, hielt das Massenpublikum hartnäckig an den akademischen Regeln von gestern und an den einmal erworbenen Sehgewohnheiten fest: Ihm galt eine idealisierte Bildwelt, die mit naturalistischen Mitteln in Szene gesetzt worden war, als einzig wahre Kunst . Um so heftiger reagierte das bürgerliche Publikum und seine bildungsbürgerlichen Interpreten auf die Avantgarden, wie in diese Stilblüten aus dem Jahr 1896 veranschaulichen:

Art Magazin 5/1983, S . 37 . Ludwig Leiss, Kunst im Konflikt . Kunst und Künstler im Widerstreit mit der Obrigkeit, Berlin 1971, S . 96 . 26 27

Glanz und Elend der Salonkunst

Die ganze hypermoderne Kunst ist in ihren Auswüchsen und krampfartigen Windungen nichts anderes als die verrückt gewordene und durchgegangene Hetäre, genannt Muse, welche statt den Pegasus zu reiten, auf einem Doppelwesen, Schwein und Esel, daherkommt und statt vom kastalischen Quell zu trinken, aus der Kloake säuft, bis sie sich erbricht .28

Gustave Courbet galt als Prototyp eines Skandalkünstlers, der offen Sympathien für die unteren Gesellschaftsschichten demonstrierte, die konservative Öffentlichkeit provozierte – und in seinen späten Lebensjahren ins Exil flüchten musste . Seine grobe Malweise, die soziale Thematik, sein Engagement in der Pariser Kommune und späteres Exil in der Schweiz ließen ihn zur umstrittenen Gestalt des öffentlichen Lebens werden . Julius Meier-Graefes Charakterisierung von Courbet wirkt noch heute treffend: Er war der Revolutionär, ein neuer Mensch, der bis zur Erbitterung inbrünstige Prolet, der mit seinen Pinsel wie mit einer gewaltigen Schaufel die Erde umgrub, um neue Frucht zu gewinnen . Die Nymphen zerstoben in alle Winde […] . Er beschränkte sich nicht auf die Kunst, sondern dehnte sein System auf alle erreichbaren Gebiete aus, war Politiker und wurde der erste Künstlerkosmopolit . Sein Raffinement war brutales Bauerntum . Er formulierte eine soziale Theorie, die allen Bilderkäufern ins Gesicht schlug […] . Es hat nie einen weniger französischen Künstler gegeben und nie ist ein weniger Pariserischer Meister in Paris zum Ruhm gelangt .29

Glanz und Elend der Salonkunst

Die Meister der Salonkunst sind heute weitgehend vergessen – wie auch ihr vergeblicher Kampf gegen die Avantgardisten des Realismus und Impressionismus . In der zweiten Hälfte des 19 . Jahrhunderts dominierten sie das Pariser Kunstgeschehen und verdienten große Summen . Ihr Aufstieg war verbunden mit der Expansion des Kunstmarktes, mit einer regelrechten Hausse, die nach 1871 einsetzte . Damals gab es noch keine Filmindustrie, und eine Massenproduktion pornografischer Bilder (in Gestalt von Aktfotografien) stand erst in den Anfängen . Allein die Malerei gab der historischen Imagination, der erotischen Fantasie, dem Voyeurismus Futter . Angelockt und erregt von populistischen Presseberichten, begab man sich in den Salon, um unterhalten zu werden, um sich von den Sinneseindrücken überwältigen zu lassen . Zugleich hatte die Malerei noch immer einen Bildungsauftrag, der an den Akademien weiter-

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Friedrich Adolf Ackermann, Der Kunsthandel . Plaudereien, Leipzig 1896, S . 62 . Julius Meier-Graefe, Courbet, München 1921, S . 17 (Ersterscheinung 1904) .

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Kapitel I Salonfähig und Skandalös

hin ernst genommen wurde . Die Kunst sollte das Publikum moralisch und didaktisch bilden und erziehen . Daher wurden häufig geschichtliche Ereignisse aus der Antike oder der Neuzeit dargestellt – wohlgemerkt durch die Brille des 19 . Jahrhunderts – die als Analogie oder Handlungsanweisung für die Gegenwart dienen konnten . Besonders beliebt waren Szenen aus dem Orient, Geschichtsbilder aus der römischen Antike oder der europäischen Vergangenheit . In den Akademien waren Figurenstudium, sorgfältige Vorzeichnung und Komposition gefordert – jenes rationale Prozedere der traditionsreichen Grande Peinture . Die erfolgreichen Salonmaler beherrschten ihr Handwerk en detail, bekleideten ihre Figuren wie aus dem Kostümfundus des Theaters und verliehen den historischen Gestalten nicht selten die Physiognomie allgemein bekannter Zeitgenossen . Regelmäßig wurden dabei Gesichter von Damen aus der besseren Gesellschaft oder gar von stadtbekannten Prostituierten in die Bilder eingebaut . Jean-Leon Gérome gehörte zu den Stars der Salonmalerei . Großen Erfolg hatte er mit seinen Antikenbildern in den 1850er und 1860er Jahren: Die Ermordung Caesars, römische Gladiatoren (Pollice Verso), vor allem aber die nackte Phryne vor den Richtern . Letztere sorgte für die Salonsensation des Jahres 1861 . Seine Gegner warfen ihm vor, seine Kunst sei steril und gänzlich auf Effekte aus: „Gerome arbeitet für jeden Geschmack“, urteilte Emile Zola: „Er hat sich auf antiken Plunder spezialisiert . Das gibt ihm das Ansehen eines gelehrten, seriösen Mannes .“30 Gerome wiederum bekämpfte den Realismus, den er als „grauen Dreck“ bezeichnete, wie auch später den Impressionismus . Als der französische Staatspräsident während der Pariser Weltausstellung 1900 einen Saal mit impressionistischer Kunst betreten wollte, versuchte ihn Gerome mit ausgebreiteten Armen und dem Ausruf daran zu hindern: „Halt Monsieur President, hinter dieser Tür befindet sich die Schande der französischen Malerei!“ Der Präsident beherzigte seinen Rat aber nicht und schob ihn beiseite .31 1903 stellte Gerome zum letzten Mal im Salon aus . Im Folgejahr starb er und hinterließ Immobilien, Geldvermögen in Höhe von einer Million Francs und 173 historische Kostüme in seinem Atelierfundus . Fast noch populärer und wohlhabender als Gerome war Ernest Meissonier, auch dank bester Verbindungen zu Napoleon III . Der Kaiser lud ihn 1859 auf seinen Italienfeldzug ein, so dass Meissonier vor Ort Skizzen für seine populären Schlachtengemälde anfertigen konnte . Eine Bilderserie zur Verherrlichung der napoleonischen Schlachten folgte und passte in das ikonografische Programm, mit dem sich Napoleon als würdiger Nachfolger seines großen Onkels inszenieren wollte . Meissoniers Bilder mussten im Salon stets von einem Polizisten bewacht werden, um die Zuschauermenge zu bändigen .32 Die Bilder waren leicht verständlich, die Darstellung entsprach der

30 Emile Zola, Die Salons von 1866–96 . Schriften zur Kunst, Weinheim 1994, S . 86 ff . Ähnlich negativ wurden Meissonier und Gerome auch von Theophile Thoré unter dem Pseudonym „W . Bürger“ betrachtet . ND in: W . Bürger, Französische Kunst im 19 . Jahrhundert, Leipzig 1911, S . 275–311 . 31 Zitiert in: Art 2/1989, S . 81 . 32 Ross King, The Judgement of Paris . Manet, Meissonier and the artistic revolution, London 2006, S . 2 .

Glanz und Elend der Salonkunst

Erfahrungshorizont des Betrachters und stellte dennoch eine Idealisierung dar . Der Detailreichtum und die Anekdotenhaftigkeit hatten großen Unterhaltungswert . Zola hatte auch für diesen Maler-Star nur Spott übrig: Meissonier ist der Abgott der Bourgeoisie, die die von wahren Kunstwerken ausgelöste Bewunderung nicht versteht . Seine Technik ist die Unangenehmste, die ein Maler haben kann . Er malt nur in hellen Farbtönen, was nicht schlimm wäre, doch diese haben die Durchsichtigkeit des Achats, das Spröde und Eckige von Glasgegenständen: Es wirkt wie Porzellanmalerei . Das hat nichts mit dem verheerenden Lack eines Gerome zu tun, doch ist es nichtsdestoweniger dürftig, verwässert, ungefällig .33

Die Motive erfolgreicher Salonmaler orientierten sich an den Publikumsinteresse . Dazu zählten Orientalismus und Exotismus, blutrünstige Ereignisse (Genre féroce) oder das vermenschlichte Tier . Die antiken Stoffe wichen im Laufe des 19 . Jahrhunderts langsam zurück, an ihre Stellen traten vermehrt aktuelle und vor allem spektakuläre Ereignisse, Katastrophen, technische Leistungen und Unglücksfälle . Die Darstellung von nackten Frauen war stets ein Erfolgversprechendes Mittel, auf sich aufmerksam zu machen, z . b . farbenprächtige und großformatige Harems- und Badeszenen wie Géromes La terasse du sérail . Künstler, die konsequent und systematisch die Nachfrage nach derartigen Sujets bedienten, konnten zu großem Wohlstand kommen . Neben Gerome und Meissonier ist vor allem Bouguereau als Großverdiener zu nennen . Den zeitgenössischen Künstlern galt er als Inbegriff kommerziellen Erfolgs . So klagte Vincent van Gogh 1888 in einem Brief an seinen Bruder: „Traurige Wahrheit . Nur wenn man so malt wie Bouguereau, kann man sich Reichtümer erhoffen; denn der Geschmack des Publikums wird sich nicht ändern, die Leute lieben immer nur die glatten, die süßlichen Bilder .“34 In der modernen Kunstgeschichtsschreibung wurden Avantgardekünstler wie Courbet zu Helden, die akademischen Salonmaler, die den damaligen Mainstreamgeschmack bedienten, zu historischen Nebenfiguren . Beide Typen waren untrennbar mit dem System der Salons verbunden, das den modernen Kunstbetrieb bis heute prägte . Dennoch wird bis heute der „Salon“ gleichgesetzt mit Sentiment und Kommerz, während sich der Fortschritt der modernen Kunst im Geistigen abspielte, und über eine Kaskade von Skandalen zum Durchbruch einer abstrakten und konzeptuellen Kunst im 20 . Jahrhundert führte .

Emile Zola, Die Salons von 1866–96 . Schriften zur Kunst, Weinheim 1994, S . 214 ff . Art Magazin 6/1984, S . 51 . Als 1984 wieder eine große Bouguereau-Ausstellung in Paris organisiert wurde, waren zahlreiche Besucherkommentare zu lesen, die die Salonkunst des 19 . Jahrhunderts als Wohltat und Gegenmodell zur Moderne belobigten, so z . B .: „Die abstrakte Kunst ist etwas für Computerköpfe!“ oder „Mit diesem Genie zeigt das Petit Palais wieder einmal, daß das Centre Pompidou ein Schrottplatz ist!“ 33 34

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Kapitel I Salonfähig und Skandalös

Kulturpessimistische Kunstkritik: Der Markt als Feind

Niemand bezeichnete sich damals als „Salonkünstler“, alle setzten sich von diesem Etikett ab, obwohl letztlich alle von diesem Geschäftsmodell profitierten: Die Akademieprofessoren, die Realisten, die Avantgardisten . Auch Gericault, Delacroix und Courbet waren eng mit dem System der Salonausstellungen verbunden und arbeiteten mit populären Themen und Effekten . Die Salonmalerei wurde auf dem Höhepunkt ihres Erfolges verachtet – von manchen Kritiker, aber auch von manchen beteiligten Künstlern selbst . Durch scharfe Kunstmarkt- und Sittenkritik mussten sich die erfolgreichen Salonkünstler bisweilen vom Verdacht befreien, ihr Aufstieg sei mit einem allgemeinen Kulturverfall und einer flachen Kommerzialisierung verknüpft . So klagte Jean Auguste Ingres, selbst ein erfolgreicher Salonkünstler: Der Salon verdirbt und erstickt das Gefühl für das Große und Schöne . Was die Künstler zum Ausstellen veranlaßt, ist vor allem die Aussicht auf Geldgewinn, der Wunsch, um jeden Preis Aufsehen zu erregen und vielleicht das Glück zu haben, durch ein excentrisches Thema eine Wirkung zu erzielen, die einen vorteilhaften Verkauf sichert . Der Salon ist eigentlich nichts mehr als ein Bilderladen, ein mit unzähligen Dingen bis zum Überdruß vollgestopfter Basar, wo das Geschäft die Kunst verdrängt .35

Die populäre Kunst wurde als Symbol einer durch und durch materialistischen Welt gesehen, als Symbol eines entfesselten Kapitalismus, der alle alten gesellschaftlichen Bindungen und Werte missachtet . Der Kunstbetrieb erschien als eine vollkommen kommerzialisierte Welt, aus der jeder Geist und jede Moral vertrieben werde . Es wurde eine künstliche Trennung zwischen dem profanen Markt und einer heiligen Kunst vollzogen, der Handel sei schmutzig, die Kunst aber sauber und unschuldig . Ein florierender Kunstmarkt wurde für all diejenigen zum Ärgernis, wenn nicht gar zur „Entweihung“ der Kunst, die aus einer idealistischen Perspektive Kunst mit Erhabenheitsgefühlen, Bildungserlebnissen und spiritueller Tiefe assoziierten . Die daraus resultierende kulturpessimistische „antikapitalistische“ Kunstkritik wurde zur konstanten Begleiterscheinung des Kunstgeschehens – bis heute . Sie zielte und zielt u . a . auf die Abwehr neuer Kunstmarktplayer durch die etablierten Kenner und das Bildungsbürgertum . Dahinter steht der Aufstieg neuer Eliten im Zuge des technologischen und ökonomischen Wandels . Ende des 19 . Jahrhunderts reagierten die Connaisseure und Vertreter des Old Money mit dieser Kritik auf den wachsenden Einfluss neureicher Sammler . Die scharfe Kritik sollte die eigene Expertenposition gegen die Welle des Geldes sichern, die den Kunstbetrieb zu überspülen drohte . Zahlreiche Sammler aus Großbritannien, vor allem aber aus den USA, befeuerten den Kunstmarkt mit ihrer Nachfrage . Geschäftstüchtige Pariser Händler kamen ihren Kunden entgegen und

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Zitiert nach Paul Vogt, was sie liebten . Salonmalerei im 19 . Jahrhundert, Köln 1969, S . 3 .

Kulturpessimistische Kunstkritik: Der Markt als Feind

gründeten Filialen in New York, so Geromes Schwiegervater Adolphe Goupil 1846 . Einige Jahre später folgte Ernest Gambart mit seiner French Gallery .36 Von diesen Verbindungen profitierten vor allem Gerome, Bouguereau und Meissonier . Andererseits reisten die amerikanischen Sammler auch gerne nach Paris, um im großen Stil einzukaufen . So kam 1880 beispielsweise ein Mitglied des Vanderbilt-Clans nach Paris, um bei Bouguereau ein halbes Dutzend großer Gemälde zu ordern .37 Gerade die neureichen Tycoons der amerikanischen Wirtschaft legten Wert auf eine gediegene alteuropäische Malerei mit historischen oder erotischen Themen und zahlten hohe Preise, auch für Alte Meister, was Fachleute wie Wilhelm Bode, Generaldirektor der staatlichen Kunstsammlungen Berlin, alarmierte . Er sprach 1906 von einer regelrechten „amerikanischen Gefahr im Kunsthandel“ . Die Zahl der Sammler habe sich dort in den letzten Jahren stark erhöht, ausgestattet durch hohe private Zuwendungen, könnten es sich die amerikanischen Museen leisten, für einzelne Gemälde Alter Meister durchaus eine Million Francs auszugeben .38 John Piermont Morgan scheuchte mit seinen Agenten den ganzen damaligen Kunstbetrieb auf . Seine Einkäufer waren bei jeder größeren Auktion präsent und schienen über ein unerschöpfliches Budget zu verfügen . Der Bankier soll damals 60 Mio . $ für Kunstwerke ausgegeben haben, kein Meisterwerk war vor ihm sicher .39 Neben Morgan figurierten Sammler wie der Kaufhausbesitzer Alexander Stewart aus Philadelphia als Feindbild alteuropäischer Kunstkenner . Er hatte in seinem düsteren Marmorpalast an der New Yorker Fifth Avenue eine umfangreiche Kunstsammlung zusammengetragen, die nach seinem Tode zwecks Versteigerung vom Publikum besichtigt werden durfte, berichtete die Zeitschrift Kunst für Alle, die Stewart posthum noch einmal seine Inkompetenz bescheinigte: Das Zusammenwürfeln von wahrhaft unvergleichlichen Meisterwerken mit vollkommen wertlosen Klecksereien, von Karikaturen in Marmor mit reizenden Perlen der Bildhauerei, wie sie einem auf Schritt und Tritt in der Stewart-Sammlung aufstoßen, ist heute ganz unmöglich . Der Mann, der mit den Dollars in der Tasche klappernd, auf den europäischen Kunstmärkten erschien, um Alles was gut und teuer (hauptsächlich Letzteres) war, ohne eine Spur von Verständnis einzukaufen, ist ausgestorben wie das Mammut .40

Abgesehen von einer idealistischen, marktfeindlichen Kulturkritik wurde die populäre Kunst auch auf formaler Ebene zum Gegenstand erbitterten Streits . Der kommerzielle Erfolg verderbe die Kunst, hieß es, und treibe sie in den Kitsch . Neben dem Begriff der Dekadenz war häufig von süßlichen Motiven, kalter Technik oder Effekthascherei die Isabelle Collet, „Die Kunst der Pompiers wiederentdecken“, in: Tayfun Belgin (Hg .), Triumph der Schönheit, Wien 2006, S . 18 . 37 Art 6/1984, S . 50 . 38 Kunst und Künstler Jg . V, 1906/07, S . 3 . 39 Winfried Löschburg, Leere Bilderrahmen, geköpfte Tempelgötter . Kunstdiebstähle der letzten Jahrzehnte, Berlin 2000, S . 23–47, hier S . 33 . 40 Kunst für Alle, Jg . II, Heft 15, 1 .5 .1887, S . 233 . 36

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Rede . Auch diese Begriffe haben eine lange Lebensdauer und sind bis heute immer noch in Kunstdebatten zu finden . Der Topos der „kalten“ Technik, den bereits Zola im Blick auf Gerome und Meissonier ins Spiel gebracht hatte, verband sich mit dem Vorwurf, ihre Kunst sei unlebendig und nicht authentisch: Bei Gerome geht alles in der schärfsten, härtesten und nacktesten Deutlichkeit vor sich . Alle Poesie der Auffassung, alle Phantasie wird erstickt […] . Wo er in den Orient hineingreift, ist er seines Erfolges sicher . Aber überwiegend sind es Scenen der Grausamkeit oder Wollust, die er mit Vorliebe vorführt, wenn er uns einen Markt von Sklavinnen oder orientalische Tänzerinnen oder gar frisch abgeschlagene Verbrecherköpfe vor dem Eingang einer türkischen Moschee malt . Delacroix u . a . haben auch entsetzliche Greuelscenen gemalt, aber man fühlt die Erregtheit des Künstlers, er bleibt dem Gegenstand gegenüber nicht so eisig kalt . Hier aber, wo solche Scheußlichkeiten uns mit dem glättesten Pinsel, in völlig elfenbeinerner Darstellung gleichsam auf der kleinsten Schüssel serviert werden, muss jedes ästhetische Gefühl sich abwenden .41

Gerade deutsche Kritiker sahen die Salonkunst als Zeichen des angeblichen Niedergangs Frankreichs . Alexandre Cabanel, Thomas Couture, Meissonier u . a . wurden als „Hofmaler der französischen Decadence“ rezipiert,42 ihr Erfolg als Symptom einer tiefen Kulturkrise Frankreichs empfunden: Nur so begreife man „die Lust an solchen Dingen, denn eine blasierte, abgestumpfte Gesellschaft, die sich durch das Jagen nach materiellen Gewinnen und Genüssen erschöpft hat, will die pikanten Reize .“43 Selbst in die Farbgebung ließ sich damals eine politische Positionierung der Künstler hinein interpretieren: Während jene eigentlichen Maler des Kaiserreichs, die Cabanel, Meissonier, Gerome allesamt keine Coloristen sind, eine gewisse süßlich helle und schwache, oder doch kühle, eher zum Bunten als Tonigen und Harmonischen neigende Färbung zeigen […] so sind die spezifischen republikanischen Maler durchwegs Coloristen, haben etwas Kühnes, Decidiertes, leidenschaftliches, eine starke Subjectivität in ihrem Ton, zeigen absolut nichts von der höfischen Glätte jener .44

Der Umriss betonende, zeichnerisch korrekte Stil wird hier einer Malweise gegenübergestellt, die über die Farbgebung Emotionen wecken und Effekte erzielen will . Die Form gilt demnach als konservativ, die Farbe als Zeichen einer beweglichen, revolutionären Gesinnung . Die glatte, effektvolle und eklektische Salonmalerei fand ihren Widerpart in Courbets Realismus . Während die Realisten die auf Hochglanz polierte Künstlichkeit der Salonmalerei als verlogen ablehnten, wandten sich führende Akade41 42 43 44

Wilhelm Lübke, Die moderne französische Kunst, Stuttgart 1872, S . 28 . Paul Salvisberg, Kunsthistorische Studien, Heft 1, Stuttgart 1884, S . 43 ff . Wilhelm Lübke, Die moderne französische Kunst, Stuttgart 1872, S . 28 . Friedrich Pecht, Kunst und Kunstindustrie auf der Wiener Weltausstellung 1873, Stuttgart 1873, S . 39 .

Französische und deutsche Kunstrezeption im Fahrwasser des Nationalismus

mieprofessoren und erfolgreiche Kunstmarktstars wie Gerome gegen den Realismus und später gegen den Impressionismus, die ihnen ohne geistigen Gehalt und ohne Pathos erschienen: Der kalte klare Luftzug der Prosa geht durch die Werke Courbets und läßt keinen Hauch von Poesie, keine warme gemütliche Stimmung herein: Jeder Schleier wird abgerissen und ein elendes Leben steht in heller Nacktheit vor den Augen . Nicht darauf kommt es Courbet an, den Charakter bestimmter Lebenskreise zu veranschaulichen, sondern dieses niedere und gewöhnliche Dasein, diese lebensgroßen Bauern, Proletarierfamilien, Leichenbegängnisse zeigen sich in der ganzen Plattheit ihrer trostlosen Realität .45

Interessant ist, dass der Topos der „Kälte“ von beiden Seiten als Vorwurf verwendet wurde . Den Salonstars warf man „technische, kalte Routine vor“, den Realisten einen groben Materialismus, der Steine in der gleichen Art behandle wie Menschen . Fasst man die zeitgenössischen Debatten um die Salonmalerei zusammen, findet man Punkte, die bis heute immer wieder in der Kritik populärer Kunst auftauchen: Die Erstarrung in technischer Perfektion und damit verbunden der Mangel an Authentizität; der „billige“ Appell an Emotionen und niedere Instinkte (sexuelle Erregung, Schrecken, Häme); Effekthascherei als Trick, um künstlerische Schwächen und Ideenlosigkeit zu überdecken; Kitsch – auf Rührseligkeit berechnende Kunst . Diese Kritikpunkte, die vor allem auf die massenhafte Vermarktung und Produktion gefälliger Kunstmarktware zielen, sind bis heute aktuell . Französische und deutsche Kunstrezeption im Fahrwasser des Nationalismus

Paris war im 19 . Jahrhundert und bis in die 1920er Jahre hinein die weltweit überragende Kulturmetropole . Folgerichtig verbreiteten sich französische Trends in ganz Europa, in den afrikanischen Kolonien, im Nahen Osten, aber auch in den USA . Hingegen blieb die Kunst der europäischen Nachbarländer (oder der kolonialisierten indigenen Völker) in Frankreich selbst lange Zeit ohne nennenswerte Resonanz . Französische Kunst war bei deutschen Museen und Sammlern sehr gefragt, Kenntnisse der neuesten Pariser Trends waren deshalb auch in Deutschland vonnöten . So war es hochwillkommen, wenn französische Kunstkenner gelegentlich für deutsche Zeitungen über französische Kunst schrieben, wie beispielsweise Louis Vauxcelles in der Berliner Nationalzeitung über den Pariser Herbstsalon 1906 .46 Der deutsche Kunstkritiker, GaleZitiert nach Paul Vogt, was sie liebten . Salonmalerei im 19 . Jahrhundert, Köln 1969, S . 7 . Peter Kropmanns, „Jenseits der Trikolore Grenzpfähle . Aspekte der Präsenz und Rezeption französischer Kunstkritik in Deutschland“, in: Thomas Gaethgens und Uwe Fleckner (Hg), Prenez garde a la peinture . Kunstkritik in Frankreich . 1900–1945, Berlin 1998, S . 271 ff .

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Kapitel I Salonfähig und Skandalös

rist und Sammler Julius Meier-Graefe hatte in den 1890er Jahren einige Zeit in Paris gelebt . Besonders bei der Popularisierung Van Goghs spielten seine Schriften und Romane über den Künstler, von denen einige Bestseller wurden, eine herausragende Rolle . Auch Kunstzeitschriften wie Pan und Cicerone bezogen sich häufig auf französische Quellen . Dabei orientierte sich die deutsche Kunstkritik bei der Bewertung moderner Kunstströmungen weitgehend an Pariser Meinungsführern wie Vauxcelles, von dem auch der Begriff „Fauves“ stammte . Deren Premiere beim Pariser Herbstsalon 1905 wurde von der französischen Presse überwiegend mit Spott bedacht . Die Zeitschrift L’llustration ging soweit, wohlmeinende Kritiker der Fauves und die Künstler gleichermaßen lächerlich zu machen, indem „skandalöse“ Werke mit gediegen-wohlgesetzten Kritikertexten kombiniert wurden . Martin Schieder hat darauf hingewiesen, dass dieses Beispiel diffamierender Bild-Text-Kombinationen als Vorstufe der Verunglimpfung moderner Kunst durch die NS-Publikationen der 1920er und 1930 gelten könne .47 Offenbar sahen die hart konkurrierenden Zeitungen in den Fauves geeignete Zielobjekte unterhaltsamer Polemiken . Durch möglichst lautstarke Verrisse versuchte man Leser zu gewinnen . Ein wichtiges Motiv, stets gebannt nach Paris zu blicken, war die Angst deutscher Kunstkenner, sich durch die Wertschätzung von Kunstströmungen zu blamieren, die in Paris abgelehnt wurden oder bereits aus der Mode gekommen waren . Die Kunstrezeption fand in einem nationalistisch aufgeheizten Klima statt . Ästhetische Wertungen und nationalistische Bekenntnisse, Überlegenheitsgefühle und Minderwertigkeitskomplexe vermischten sich in einer Situation, in der das europäische Kunstgeschehen im Kontext imperialer Konkurrenz gesehen wurde, wie die folgenden Beispiele zeigen . So führte die zunehmende Wertschätzung, die Matisse, Derain, Vlaminck und andere französische Künstler in Deutschland genossen, bald dazu, dass diese Künstler von nationalistischen Kritikern in Frankreich als „unfranzösisch“ ausgegrenzt wurden . Dies ging soweit, Matisse die „Physiognomie eines deutschen Militärattachées“ anzudichten .48 Im französischen Abgeordnetenhaus beklagten Parlamentarier den hohen Anteil ausländischer Künstler am Pariser Herbstsalon 1912 . In einer Debatte vom 3 . Dezember forderte ein Sozialist, dem Pariser Salon müsse die Benutzung öffentlicher Gebäude verweigert werden, solange ausländische Künstler bewusst oder unbewusst den Salon benutzten, „um Frankreichs Kunst zu diskreditieren“ .49 Das Engagement der Galeristen Kahnweiler in Paris, Walden in Berlin und Thannhäuser in München für die kubistische Kunst ließ das Schlagwort der „peinture Gemeint war hier eine Doppelseite der Zeitschrift L’Illustration vom 4 .11 .1905 . Martin Schieder, „Aucun rapport avec la peinture . Die Fauves im Salon d’automne von 1905 und die Kunstkritik“, in: Uwe Fleckner, Thomas W . Gaehtgens (Hg .) Prenez garde a la peinture! Kunstkritik in Frankreich 1900–1945, Berlin 1999, S . 405–423, hier: S . 410 . 48 „Matisse a un visage grave d’Herr Professor (…) est un attachè militaire Allemand .“ Roland Dorgeles, „Prince de Fauves“, in: Fantasio 5/1910, S . 56 . 49 Zitiert nach Martina Wehlte-Höschele, Der Deutsche Künstlerbund im Spektrum von Kunst und Kulturpolitik des Wilhelminischen Kaiserreichs, Heidelberg 1993, S . 17 . 47

Kampfbegriff „Deutsche Kunst“

boche“, einer, so der renommierte Kritiker Camille Mauclair, vollkommen barbarischen und unfranzösischen Kunst . Bisweilen hämisch wurde in Frankreich das Interesse deutscher Museen an den Fauves als „Revanche“ für den verlorenen Krieg 1870/71 interpretiert .50 Diese satirische Aussage nahmen wiederum deutsche Gegnern moderner Kunst dankbar auf . In Frankreich nahmen die aggressiven nationalistischen und antisemitischen Tendenzen in der Kulturkritik am Ende des 19 .  Jahrhunderts deutlich zu, als Beispiele seien hier Schriften der Autoren Jacques-Emile Blanche, Joseph Péladan, Emile Bernard und Alphonse Germain genannt .51 Antisemitische Literatur wie Edouard Drumonts La France juive wurde sogar in der intellektuellen Elite und anspruchsvollen Presse rezipiert .52 Konservativer Katholizismus ging mit Antisozialismus und der Gegnerschaft zur modernen Kunst eine Verbindung ein, überlagert von der Spaltung der Intellektuellen in der Dreyfus-Affäre .53 Auch die Künstlergruppe „Nabis“ war Ausdruck jenes gesellschaftlichen Klimas . Dort hatten sich Maler und Schriftsteller zu einer Geheimgesellschaft esoterischer Intellektueller zusammengefunden, als deren Exponent der Maler Maurice Denis gelten kann . Er versuchte im Rahmen eines programmatischen Neukatholizismus mit symbolistischen Stilmitteln neue religiöse Ausdruckskraft zu entwickeln . Kampfbegriff „Deutsche Kunst“

Der norddeutsche Künstler Carl Vinnen hatte 1911 eine von zahlreichen Künstlern und Kritikern unterzeichnete Broschüre mit dem Titel Ein Protest deutscher Künstler herausgegeben, in der eine Überbewertung moderner französischer Kunst in Deutschland beklagt wurde . Als Anlass hatte der Ankauf von Van Goghs Gemälde Mohnfeld durch die Bremer Kunsthalle gedient . Tenor der Broschüre war die Behauptung, die Überfremdung mit französischer bzw . impressionistischer Kunst verhindere die Entwicklung einer eigenständigen deutschen Kunst . Als Hauptschuldige für die „große Invasion französischer Kunst, die sich seit einigen Jahren in den sogenannten fortgeschrittenen deutschen Kreisen vollzieht“, identifizierte Vinnen die „Kunstliteraten“ . Diese Schriftsteller und Kritiker „dekretieren die Richtungen, bannen und sprechen heilig und wirken, bei bester Überzeugung, ganz ungemein gefährlich auf die heranwachsende

Leonard de Vincennes, „Fauves Etrangers“, in: Fantasio 5/ 1910, S . 67 . Roland Scotti, Kunstkritik in Frankreich zwischen 1886 und 1905, Mannheim 1994, S . 50 . Siehe dazu Shulamit Volkov, Jüdisches Leben und Antisemitismus im 19 . und 20 . Jahrhundert, München 1990, S . 65 ff . 53 Der manipulierte Hochverratsprozess gegen den Offizier jüdischer Abstammung, dem man Spionage für Deutschland vorwarf, löste Spannungen und antijüdische Ausschreitungen aus, schließlich wurde das Urteil 1906 kassiert . Siehe dazu Andreas Nachama und Gereon Sieverich (Hg), Jüdische Lebenswelten (Katalog), Berlin 1991 . 50 51 52

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Kapitel I Salonfähig und Skandalös

Künstlerjugend .“54 Dieser Anpassungsdruck an die französische Kultur führe zum Verlust „deutscher Tiefe“ und zum Abfall des kulturellen Niveaus, warnte der Vinnen-Unterstützer Fritz von Ostini: „Es ist eben verdammt leichter, van Goghsche Farbwirbel, Signacsche Tüpfeleien, Cézannes gelbe Äpfel auf blauem Grunde oder Picassosche Prismen nachzumachen, als mit Böcklinscher Tiefe in die Natur zu sehen, zu malen wie Leibl, Feuerbachsche Formengröße sich anzueignen .“55 Die Unterzeichner der Broschüre repräsentierten ein politisch und künstlerisch überwiegend konservatives Spektrum . Bald meldete sich eine Gegenpartei mit der Publikation Im Kampf um die Kunst zu Wort . Zu ihnen zählten u . a . Max Beckmann, Henry van de Velde, Wassily Kandinsky .56 Beide Streitparteien einte die Motivation, eine genuin deutsche Kunst fördern zu wollen, die einen durch einen „Kunstprotektionismus“, die anderen glaubten, nur ein ungehinderter internationaler Wettbewerb könne die deutsche Kunst stärken . Doch war die Forderung nach einem Kunstprotektionismus schon längst von der Realität überholt worden . Die Ausstellungen des Sonderbundes westdeutscher Künstler 1910 und 1912, an denen zahlreiche moderne französische Künstler teilnahmen, darunter Bonnard, Matisse, Braque, Picasso, Derain und Vlaminck, hatten eine starke künstlerische Signalwirkung . Ernst Ludwig Kirchner und seine Brücke-Kollegen waren 1912 ebenfalls vertreten und kamen so erneut mit den französischen Modernen in Berührung, denn auch Cézanne, Munch und van Gogh waren mit zahlreichen Arbeiten präsent .57 Die Kunstgeschichtsschreibung wandelte sich ab dem späten 19 .  Jahrhundert zu einer Stilgeschichtsschreibung, die nicht mehr das autonome „Genie“ in Bezug zu einer vorbildhaften Antike setzte, sondern die generellen Eigenschaften von Kunstwerken eines geografischen Raumes, einer sozialen oder ethnischen Gruppe hervorhob . Künstlerische Leistungen wurden nun als Erbe und Ausdruck eines zeitkonstanten Nationalcharakters betrachtet . Der in München lehrende Schweizer Heinrich Wölfflin suchte in der Kunstgeschichte nach zeitlosen, nationalen Konstanten und versuchte Formphänomene durch „rassisch“ bedingte, psychische Grundkonstanten zu erklären . Dabei erschien die vergleichende Formanalyse geeignet, die unterschied-

Carl Vinnen, Ein Protest deutscher Künstler, Jena 1911, S . 2 f . Zu den Unterzeichnern gehörten u . a . die Künstler Fritz Erler, Käthe Kollwitz – die ihre Unterschrift später bedauerte, Hans Olde, Otto Modersohn, Franz von Stuck, Wilhelm Trübner, der Architekt Paul Schulze-Naumburg, und der Kritiker Franz Servaes . 55 Zitiert nach Werner Hofmann, Wie deutsch ist die deutsche Kunst? Leipzig 1999, S . 45 . 56 Gustav Pauli u . a . (Hg), Im Kampf um die Kunst . Die Antwort auf den ‚Protest deutscher Künstler‘ . Mit Beiträgen deutscher Künstler, Galerieleiter, Sammler und Schriftsteller, Broschüre, München 1911 . Weitere prominente Unterzeichner: Lovis Corinth, Gustav Klimt, Max Liebermann, Max Pechstein, August Macke, Carl Hofer, Waldemar Rösler, Franz Marc, Georg Kolbe, Max Slevogt, Cuno Amiet und die Museumsdirektoren Gustav Pauli, Georg Swarzenski, Alfred Lichtwark, die Kunsthändler Paul Cassirer und Alfred Flechtheim sowie Harry Graf Kessler, Arthur Moeller van den Bruck, Wilhelm Hausenstein und Wilhelm Worringer . 57 Internationale Kunstausstellung des Sonderbundes Westdeutscher Kunstfreunde und Künstler zu Cöln (Katalog), Köln 1912 . 54

Kampfbegriff „Deutsche Kunst“

lichen Dispositionen romanischer und germanischer Kunst zu beweisen .58 Wilhelm Worringer operierte mit einem neuen stilpsychologischen Begriff der Gotik . Er versuchte die künstlerische Formfindung auf einen seelischen Zustand des Künstlers bzw . des gesamten Volkes, aus dem dieser Künstler stammte, zurückzuführen .59 Die Zusammenführung von Stilgeschichte und Psychologie verdichtete sich Anfang des 20 . Jahrhunderts zur Überzeugung, jede Nation, jede Ethnie habe ein historisch gewachsenes, künstlerisches Ausdruckspotential, das durch die genetisch bedingte, psychische Verfassung ihrer Mitglieder definiert werde . Gerade wenn es darum ging, neue Nationalstaaten zu legitimieren, war der Zugriff auf eine kollektive Erinnerung unabdingbar, und dort, wo sie nicht vorhanden war, musste mit Fiktionen nachgeholfen werden . Dabei war die Konstruktion einer gemeinsamen Kunstgeschichte ein wichtiger Baustein . Aufgrund der langen Phase territorialer Zersplitterung und der kulturellen Vielfalt war es in Deutschland verlockend, bestimmte Phasen und Stile in der Kunstgeschichte zu „okkupieren“ . Auch viele Künstler, darunter Avantgardisten wie Franz Marc oder Ernst Ludwig Kirchner, schlossen sich den neuen Lehren an . In jener historistischen Zeit versuchten sie auf diese Weise, der bisweilen vernichtenden Kritik zu begegnen . So hatte beispielsweise die deutschnationale Zeitschrift Der Kunstwart Erich Heckel und Kirchner „unheilbare Talentlosigkeit“ bescheinigt .60 Der Dresdner Anzeiger hatte anlässlich einer Brücke-Ausstellung geschrieben, „daß die hier ausgestellten liederlichen Mißbildungen eine neudeutsche Kunst darstellen sollen, kann man nur als grotesken Scherz oder als eine krasse Selbsttäuschung der übelberatenen Künstler betrachten .“61 Mit der Berufung auf die Alten Meister entfaltete sich schon vor dem Ersten Weltkrieg ein Paradigma, das bis in die späten 1930er Jahre hinein zur Verteidigung expressionistischer Kunst gegen konservative und völkische Angriffe Anwendung finden wird . Den Beginn dieser Entwicklung, die auch eine Interpretation des Expressionismus aus völkischer Perspektive ermöglichte, bildete der Versuch der Organisatoren der Kölner Sonderbund-Ausstellung von 1912, eine „germanische Verwandtschaft“ der modernen Künstler mit den Alten Meistern des Mittelalters herzuleiten .62 Diese Interpretation wurde von der konservativen Kritik günstig aufgenommen und in zahlreichen Publikationen positiv rezipiert und wiederholt, weil das Mittelalter nach der deutschen Reichsgründung zu einer nationalromantischen Rückblicksutopie gemacht wurde . In der deutschen Kunstgeschichtsschreibung verbreiteten sich Tendenzen, das Mittelalter aufzuwerten sowie bestimmte Phasen der Renaissance zu mediävalisieren und zu germanisieren, um von einer genuin „deutschen Renaissance“ und „deutschen Spät-

Siehe z . B . Heinrich Wölfflin, Deutsches und italienisches Formempfinden, München 1931 . Wilhelm Worringer, Formprobleme der Gotik, München 1911, 2 . Auflage 1918 . Erich Vogeler, Die neue Secession, in: Der Kunstwart Heft 23, 1910, S . 314 . Dresdner Anzeiger, 9 .9 .1910 . Magdalena Bushart, Der Geist der Gotik und der Expressionismus . Kunstgeschichte und Kunsttheorie 1911–1925, München und Berlin 1990, S . 103 . 58 59 60 61 62

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Kapitel I Salonfähig und Skandalös

gotik“ sprechen zu können . Dürer galt demnach als spezifisch deutscher Renaissancemensch, als „höchste Offenbarung des Deutschtums in der bildenden Kunst“, wie ihn der Heidelberger Kunsthistoriker Henry Thode pries .63 Auf diese Weise rückten die deutschen Künstler und die Kunstrezeption zunehmend in ein nationalistisches Diskursfeld . Die antimoderne, populistische Kunstkritik hatte bereits vor 1914 maßgeblich dazu beigetragen . Antisemitismus und Kulturkritik

In dem Maße, wie der Nationalismus in Deutschland und Frankreich die Kunstkritik erfasste, wuchs auch der Antisemitismus, dem jüdische Künstler und Kunsthändler ausgesetzt waren . Das Klischee vom „unkünstlerischen“ Juden verbreitete sich zunehmend im Bildungsbürgertum und in der Publizistik . Grundlage dafür war die fixe Idee einer prinzipiellen jüdischen Andersartigkeit, die durch neue biologistische und rassistische Theorien befeuert wurde . Eine weitere Ursache für den fehlenden Widerstand breiter bürgerlicher Schichten gegen den militanten Antisemitismus lag in der Popularität der Charakterologie, eine Kunstlehre von der Unterscheidung von Menschentypen als Pseudowissenschaft, in der sich Elemente einer Völkerpsychologie, Spekulationen über das Geschlechterverhältnis und kulturkritische Denkansätze vereinigten . Den Juden wurde in diesem Gedankengebäude der „Charakter der Charakterlosigkeit“ zugeschrieben, wobei in diesem Kontext nicht biologistisch argumentiert wurde, also keine Koppelung von körperlichen und geistigen Merkmalen und Eigenschaften postuliert wurde . Stattdessen wurde das jüdische Wesen als körperlos, als schauspielerhaft, als Haltung beschrieben . Diesem fatalen „Willen zu Wesen“ wurde ein diffuses Jüdischsein zur allgegenwärtigen Erscheinung und Gefahr .64 Folglich glaubten viele Akademiker und Künstler, jüdisches Wirken in der Kunst unbedingt „entlarven“ zu müssen . Emil Nolde lieferte in seinen Memoiren dazu ein treffendes Beispiel, wenn er rückblickend schrieb: „Auch quälte es mich, nicht zu wissen, ob Kubismus oder Konstruktivismus jüdische Urheber haben oder jüdisch-geistigen Ursprungs seien . Es wäre herrlich klärend, denn bisher malten die Juden – ihre selbsteigenen, rassischen Eigenschaften wie verleugnend  – entweder französisch oder deutsch .“65 Auch Ernst Ludwig Kirchner konstruierte ganz im Sinne der populären Wagner-Rezeption einen unüberbrückbaren Gegensatz zwischen dem „schöpferischen, germanischen Menschen“ und dem jüdischen „Ausbeuter“ und Vermittler . Nach Wagners Schrift Das Judenthum in der Musik aus dem Jahr 1850 konnte ein Jude nur „nachkünsteln“, sein Henry Thode, Die deutsche bildende Kunst, Heidelberg o . J . (vermutlich um 1905), S . 120 ff . Per Leo, Der Wille zum Wesen . Weltanschauungskultur, charakterologisches Denken und Judenfeindschaft in Deutschland 1890–1940, Berlin 2013 . 65 Emil Nolde, Jahre der Kämpfe, Berlin 1934, S . 214 . 63 64

Antisemitismus und Kulturkritik

Verhältnis zur Kunst sei prinzipiell kalt und berechnend . Dieses Zentraldokument des deutschen Antisemitismus löste in den folgenden Jahrzehnten eine Flut von zustimmenden Schriften aus .66 Ein Beispiel für die anhaltende und diffuse Wirkung von Wagners Schrift lieferte auch Paul Klee, der Herwarth Walden bei der Hängung einer Ausstellung in der Galerie Thannhauser beobachtete: „Lebt von Zigaretten, rennt und befiehlt wie ein Stratege . Er ist wer, aber irgendetwas fehlt . Er liebt die Bilder aber auch gar nicht . Er riecht nur was dran, mit seinem guten Riechorgan .“67 Mit dem Erfolg einzelner jüdischer Künstler und dem Aufschwung moderner Kunstformen wuchs der Antisemitismus gegenüber Kunstkritikern und Kunsthändlern, denen die Vereinnahmung und „Deformation“ der „nichtjüdischen Kunst“ vorgeworfen wurde . Spannungen zwischen Künstlern und Kunsthändlern wurden in Frankreich und Deutschland von antisemitischen Äußerungen begleitet, etwa bei Konflikten zwischen Franz Marc, August Macke und Alfred Flechtheim, sowie zwischen den Brücke-Künstlern und Paul Cassirer . Letzteren betrachte Nolde gar als „gefährlichen Feind junger Künstler“ .68 Im Frankreich der 1880er und 1890er Jahre war der Antisemitismus bereits zu einem Code geworden, der die Gegner von Republik und kultureller Moderne vereinte . Nun vollzog sich diese Entwicklung auch in Deutschland . Dort sollte sie ihre volle fatale Wirkung in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg erzielen . Die moderne Kunst wurde zum Hassobjekt der extremen Rechten .

Jens Malte Fischer, Richard Wagners ‚Das Judentum in der Musik‘, Frankfurt 2000 . Paul Klee, Tagebucheintrag Nr . 914, 1912, in: Felix Klee (Hg .), Paul Klee, Tagebücher 1898–1918, Köln 1957 . 68 Zitiert nach Klaus von Beyme, Das Zeitalter der Avantgarden . Kunst und Gesellschaft 1905–1955, München 2005, S . 210 . 66 67

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Kapitel II Feinde der Kunst versus „Feinde des Volkes“ Gegenwartskunst im Visier politischer Agitation 1919–1955

Der Erste Weltkrieg erschütterte Europa . Alte Staaten verschwanden, neue entstanden . Revolutionen und Reformen formten die politischen Systeme, Inflation und Reparationen deformierten die Finanzwirtschaft . Verarmung und Arbeitslosigkeit griffen um sich . Zudem gerieten vor allem die Verliererstaaten in schwere Identitätskrisen . In der Krise wurden auch Kultur und Kunst beeinträchtigt . Einerseits galt moderne Kunst, galten Kunstmuseen als Angelegenheit der Eliten und somit als Luxus, auf den in der Not verzichtet werden könnte . Andererseits wurde an die Künstler der Anspruch gestellt, durch patriotische und erbauliche Werke zur Einheit der Nation beizutragen . Gerade die modernen Kunstrichtungen gerieten unter Generalverdacht . Gaben sie doch mit ihren schwer zu verifizierenden Qualitätsstandards dem breiten Publikum Rätsel auf und wurden verdächtigt, von Betrügern und Scharlatanen initiiert worden zu sein . Aber nicht nur das Spekulative des Kunstmarktes, der zum Symbol eines irrealen und heißlaufenden Kapitalismus schlechthin wurde, stand im Mittelpunkt der Kulturkritik der 1920er und 1930er Jahre, sondern auch die wachsende Isolation der Künstler vom „Volk“, Künstler erschienen als Protagonisten eines schädlichen übersteigerten Individualismus . Während die Kommunisten den Künstlern vorwarfen, sich vom Proletariat abzuwenden, konnte man in der rechten Presse lesen, die vereinzelt lebenden und „psychologisch zerrissenen“ Künstler befänden sich heute „abseits von der großen Gemeinschaft des Volkes, bestenfalls umstehen sie einige mitempfindende Freunde und Kunstspekulanten!“1 Es dominiere der Künstlertyp des „arroganten Egoisten .“2

1 Fritz Meyer, „Die Kunst als Schacher und die Kunst als Gemeinschaftserlebnis“, in: Stahlhelm-Jahrbuch, Magdeburg 1927, S . 89–97, hier S . 96 . 2 So der Bildhauer Hermann Hosaeus in seiner autobiografischen Schrift „Ein Bildhauer wandert durch die Zeit . Erlebtes und Erkanntes in Wort und Bild“ (ohne Datum), S . 6 . Nachlass Hosaeus, Universitätsarchiv der TU Berlin NL 417 Ho 30 .

Kritik von links: Moderne Kunst als „Dekadenzerscheinung eines bankrotten Systems“

Die Auseinandersetzungen um die moderne Kunst waren in Italien, in der Sowjetunion und in Deutschland besonders heftig . Alle drei Staaten zählten (aus verschiedenen Gründen) zu den Verlierern des Ersten Weltkriegs . In Deutschland kam Kritik an moderner Kunst von den Extremen des politischen Spektrums, gelegentlich aus der bildungsbürgerlich-konservativen Mitte, in besonders aggressiver und diffamierender Weise aber von Rechts . Ein wesentlicher Grund für die Aggressivität der Kulturkämpfe in der Weimarer Republik liegt in der Brutalisierung der damaligen Gesellschaft infolge des Krieges: „Aus der Niederlage ergab sich ein Extremnationalismus, der an Radikalität, Exklusivität, Mordlust und Vernichtungsphantasien alles in den Schatten stellte .“3 Die unverstandene Niederlage ließ die Deutschen in eine Scheinwelt von Mythen und Verschwörungstheorien flüchten, nicht wenige litten unter den Symptomen einer „Verbitterungsstörung“4, die sich auch auf zivile, alltägliche und kulturelle Angelegenheiten beziehen konnte . Selbst ehemals kultiviert-bildungsbürgerliche Themen wie bildende Kunst oder Theater wurden nun unversöhnlich, hasserfüllt und militant diskutiert . Nach der nationalen und wirtschaftlichen Enteignung durch den Versailler Vertrag und die Hyperinflation wurde die Kultur zur letzten Bastion deutscher Identität hochstilisiert . Eine Bastion, die gleichwohl durch viele Feinde bedroht wurde und erbittert verteidigt werden musste: „Die anschwellende Beschwörung alter Wert- und Identitätsbegriffe wie ‚deutscher Geist‘ oder ‚deutsche Kunst‘ lebte nicht aus dem Erfolg, sondern sie drückte den Mißerfolg aus, den Verlust an Referenzen durch die Internationalität der Moderne .“5 Kritik von links: Moderne Kunst als „Dekadenzerscheinung eines bankrotten Systems“

Im April 1920 entbrannte eine heftige Debatte über die kommunistische Wertschätzung von Kunst, nachdem John Heartfield und George Grosz eine Polemik gegen den Maler Oskar Kokoschka publiziert hatten . Dieser beklagte die Beschädigung eines Rubens-Gemäldes während revolutionärer Kämpfe in Dresden . Im Zwinger hatte ein Querschläger das Fenster durchschlagen und Bathseba am Springbrunnen getroffen . Der Akademieprofessor Kokoschka ließ Plakate drucken und Zeitungsinserate schalten mit dem sarkastischen Aufruf an alle Links- und Rechtsradikalen, Schießereien in Zukunft auf der Dresdner Heide abzuhalten, wo keine Kunstwerke in Gefahr geraten könnten . Heartfield und Grosz behaupteten daraufhin, sie sähen mit Freude, wenn Kugeln nicht die Häuser der Armen in den Arbeitervierteln, sondern die Paläste der Reichen oder

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Gerd Krumeich, Die unbewältigte Niederlage, Freiburg 2018, S . 212 . Ebenda S . 222 . Georg Bollenbeck, Tradition . Avantgarde . Reaktion, Frankfurt 1999, S . 263 .

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Kapitel II Feinde der Kunst versus „Feinde des Volkes“

Kunstwerke, selbst Meisterbilder, treffen würden .6 Der Künstler Franz W .  Seiwert sekundierte und spottete über die Ehrfurcht vor dem „Rubensschinken“: „Fort mit der Achtung vor dieser ganzen bürgerlichen Kultur! Schmeisst die alten Götzenbilder um!“7 Nun standen die Kommunisten als militante Bilderstürmer und Kunstfeinde da . Die Feuilletonchefin der kommunistischen Parteizeitung Die Rote Fahne, Gertrud Alexander, widersprach und betonte, das Proletariat müsse das Erbe der Gesamtkultur antreten und habe Sorge zu tragen, dass es unangetastet bleibe .8 Zugleich wies sie den Anspruch moderner Kunstrichtungen zurück, revolutionär zu sein .9 Vielmehr betrachtete die Journalistin, die in jungen Jahren an der Berliner Akademie der Künste studiert hatte und in den 1920er Jahren als die bedeutendste Kunst- und Kulturkritikerin der KPD galt, Expressionismus, Kubismus, Futurismus, Dadaismus als kulturelle Verfallserscheinungen und Ausdruck bürgerlicher Wirklichkeitsflucht .10 Grosz und Heartfield neigten in jenen Jahren immer stärker zu einer politisch-aggressiven Agitprop-Kunst . Sie waren zur Überzeugung gekommen, dass man sich im Rahmen des bürgerlichen Kunstbetriebs als Kommunist nur noch satirisch betätigen könne .11 Die KPD setzte im Lauf der 1920er Jahre darauf, eine eigenständige Kulturbewegung mit den Sparten Film, Theater, Bildende Kunst und Medien aufzubauen . Krisenzeiten erforderten laut Roter Fahne „die schärfste Abgrenzung der Klassenfronten auch auf dem Gebiet der Kunst .“12 Alles, was sich jenseits dieses proletarisch-revolutionären Lagers befand, wurde pauschal als „Kulturreaktion“ oder „bürgerliche Dekadenz“ abgelehnt . Die Kunst, schrieb der Dichter Friedrich Wolf 1928, „ist weder ein Erbauungsmittel in der Hand von Pädagogen, Studienräten und Rauschebärten, die auf den ‚bildungshungrigen‘ Handarbeiter losgelassen werden, noch ist sie Luxus, Kaviar und Opium, das uns die Häßlichkeiten des grauen Alltags vergessen macht . Die Kunst heute ist Scheinwerfer und Waffe!13

Ins gleiche Horn stießen Künstler aus dem kommunistischen Spektrum mit ihrem Manifest: „Kunst ist eine Waffe der Künstler und Kämpfer im Befreiungskampf des Volkes gegen ein bankrottes System .“14 Auch Bertold Brecht forderte eine politisch engagier-

„Der Kunstlump“, in: Der Gegner Jg . 1, April 1920, S . 55 . Franz W . Seiwert, „Das Loch im Rubensschinken“, in: Die Aktion Heft 35/36, 4 .9 .1920, S . 418 ff . Siehe zur sogenannten „Kunstlump-Debatte“: Dieter Schiller, Heran an die Massen! oder: Lesen ist Parteipflicht . Kritische Betrachtungen zum Feuilleton der „Roten Fahne“ – Berlin 1920–1932, Schriftenreihe Helle Panke Nr . 192, Berlin 2014, S . 7 f . 9 Gertrud Alexander, „Juli-Ausstellung Der Sturm“, in: Die Rote Fahne 12 .6 .1923 . 10 Gertrud Alexander, „Kunst, Vandalismus und Proletariat“, in: Die Rote Fahne 23 ./24 .6 .1920 . 11 Jost Hermand u . a ., Die Kultur der Weimarer Republik, München 1978, S . 366 . 12 Alfred Durus, „Zwischen Neuer und revolutionärer Sachlichkeit“, Rote Fahne 1 .1 .1929 . 13 Friedrich Wolf: Kunst ist Waffe! Eine Feststellung . Hg . v . Arbeiter-Theater-Bund Deutschlands e . V . Berlin 1928 . 14 Manifest der ARBKD 1931 . Mathias Wagner: Kunst als Waffe . Die „Asso“ in Dresden, 1930 bis 1933, in: Die Neue Sachlichkeit in Dresden . Malerei der Zwanziger Jahre von Dix bis Querner, Katalog Dresden, 2011, S . 130–135 . 6 7 8

Kritik von links: Moderne Kunst als „Dekadenzerscheinung eines bankrotten Systems“

te Kunst . Für Kunstsammler hatte er nicht viel übrig: „Denn Geld für Bilder haben in unseren Zeiten nur Wölfe .“15 Das politische Engagement von Künstlern war in der Zwischenkriegszeit ein internationales Phänomen, die Avantgarde politisierte sich . In Metropolen und traditionell kunstsinnigen Städten wie beispielsweise Dresden entstanden Künstlerverbände mit unterschiedlicher politischer Ausrichtung: Während sich der Deutsche Künstlerverband 1926 rechts gegen den „Kulturbolschewismus“ positionierte, waren die neuen Dresdner Sezessionen von 1931 und 1932 auf der linken Seite zu verorten . Durch Straßenaktionen, die Beteiligung an Demonstrationen oder die Bemalung von Agitprop-Wagen versuchten linke Künstler den Kontakt mit den Volksmassen herzustellen und der kommunistischen Bewegung damit zu dienen .16 So führten Mitglieder der Dresdner Ortsgruppe der ASSO 1929 eine Demonstration unter dem Banner „Wir revolutionären Künstler kämpfen gegen jede Kulturreaktion“ durch . Im Jahr zuvor hatten sie sich mit einer künstlerischen Installation an der De-

Abb. 1 Eine Gruppe des kommunistischen Rotfrontkämpferbundes marschiert über die Berliner Museumsinsel. Foto aus der Mitte der 1920er Jahre.

Berthold Brecht, Über gegenstandslose Malerei . Zitiert nach: Jost Hermand u . a ., Die Kultur der Weimarer Republik, München 1978, S . 431 . 16 Zu den revolutionären Aktionen Dresdner Künstler siehe: Petra Jacoby, Kollektivierung der Phantasie? Künstlergruppen in der DDR zwischen Vereinnahmung und Erfindungsgabe, Bielefeld 2007, S . 68–98 . 15

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Kapitel II Feinde der Kunst versus „Feinde des Volkes“

monstration des „Internationalen Bundes der Opfer des Krieges und der Arbeit“ beteiligt: Von Eugen Hoffmann stammte die realistische Plastik eines toten Soldaten, der, im Stacheldrahtverhau hängend, beim Demo-Zug mitgeführt wurde .17 Die ausgebootete Avantgarde

Revolutionäre Bewegungen und Diktaturen zogen Künstler aus unterschiedlichen Gründen an: Manche verachteten aus der Tradition des Dandys heraus alles Bürgerliche und wollten politisch so extrem wie möglich sein . Der Typus des exzentrischen Bürgerschrecks, den man aus dem Pariser Kunstgeschehen des 19 . Jahrhunderts kannte, war nun auf der Bühne zurück . Als Beispiele wären Salvador Dalí, Gabriele D’Annunzio, Filippo Tommaso Marinetti zu nennen, aber auch linke Künstler wie George Grosz konnten Züge eines Dandy an sich haben . Manche Künstler hofften auf Posten und Karrieren, wenn sie sich einer revolutionären Bewegung anschlossen . Und schließlich konnte es eine Kombination beider Motivationen geben: Dandys, die von der Macht träumen . So träumte Marinetti davon, im Faschismus zu einem „Kunstdiktator“ ernannt zu werden, sein unpolitischer spanischer Künstlerkollege Dalí hingegen bewunderte den wirklichen Diktator Franco . Linke und rechte Artekraten hofften, Mithilfe einer Diktatur die alten Träume der Avantgarde zu verwirklichen: Leben und Kunst als Einheit, Freiheit vom Kunstmarkt, parallele Revolution in Gesellschaft und Kunst . Ein spektakulärer Modellversuch war in dieser Hinsicht die Besetzung der ehemaligen österreichischen Hafenstadt Fiume durch Gabriele D’Annunzio und ihm ergebene italienische Freischärler im September 1919 . Zeitweilig existierte dort ein veritabler Operettenstaat, ein quasi Wagnerianisches Gesamtkunstwerk mit Militärparaden, Aktionstheater, Gewaltausbrüchen und Drogenparties . Marinetti zählte ebenso zu den Bewunderern dieses Experiments wie die italienischen Kommunisten .18 Artekraten drifteten zwischen Kunst und Politik hin und her, ästhetische Versionen vermengten sie mit politischen Machtphantasien . In Italien tendierte die Avantgarde überwiegend nach rechts . Der wohlhabende Mailänder Mäzen und notorische Querulant Marinetti hatte schon vor dem Krieg eine Gruppe junger Maler um sich versammelt und 1909 das provokante Manifest der Futuristen publiziert . Die Museen wurden darin mit Friedhöfen verglichen, an die Bibliotheken sollte Feuer gelegt, die Kunstakademien unter Wasser gesetzt werden . Zusammen mit einem radikalen Bildersturm forderten die Futuristen, mit den Mitteln der Kunst das neue Lebensgefühl und die Sinneseindrücke des technischen Zeitalters darzustellen: Die Wiedergabe der vielen gleichzeitig auf den Menschen einwirkenden Sinneseindrücke, der Geschwindigkeit und Bewegungen, der

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Fotos von beiden Demonstrationen im Dresdner Stadtmuseum (ausgestellt im Sommer 2019) . Die Welt 12 .9 .2019 . Vgl . a . Kersten Knipp, Die Kommune der Faschisten, Darmstadt 2019 .

Die ausgebootete Avantgarde

Geräusche und Lichteffekte . Dies führte sie zu einer regelrechten Technikanbetung, aber auch zur Verherrlichung von Krieg und Waffen . Wie erwähnt verstand es Marinetti meisterhaft, durch moderne Werbemethoden Aufmerksamkeit zu erzeugen, er erkannte die Werbewirksamkeit nationalistischer Bekenntnisse19 und entdeckte den Haß als Antriebsmittel für die Kunst: „Wir wollen den Krieg verherrlichen – diese einzige Hygiene der Welt“, hieß es im Manifest des Futurismus. Künstlerische Vorkriegsavantgarde und militanter Nationalismus bildeten eine Einheit, die bald Möglichkeiten zur Bewährung fand: Erst in der italienischen Kolonialpolitik, danach im Ersten Weltkrieg, in den das Land in gieriger Erwartung von Kriegsbeute eintrat . Einige Futuristen nahmen persönlich am Krieg teil, der für Italien enttäuschend endete: Mit vielen Hunderttausend Toten und weniger Beute als erhofft . Vor allem war das Land durch die Kriegsteilnahme immer noch keine Großmacht geworden, wie es sich Marinetti u . a . erträumt hatten . Daher fanden einige Futuristen nach dem Krieg in die revanchistische Bewegung des Faschismus . Das Ziel, zur Staatskunst des neuen Faschismus zu werden, verfehlten die Futuristen  – obwohl sie Mussolinis Machtergreifung euphorisch begrüßt und den Faschismus großmäulig als „Minimalprogramm des Futurismus“ bezeichnet hatten .20 Die Republik von Fiume blieb ein kurzlebiges Experiment von fünfzehn Monaten – das Mussolini gleichwohl als wichtige Inspirationsquelle für seine Propagandainszenierungen diente . Anstatt Marinetti zum Kunstdiktator zu machen, zog Mussolini eine gemäßigtere Mischung zwischen moderner und traditioneller Kunst vor, die Bewegung des Novecento . Der Maler, Kunstkritiker und Illustrator für Mussolinis Zeitung Popolo d’Italia, Mario Sironi, wurde ihr Hauptvertreter . Nicht wenige Künstler wünschten sich nach dem Ersten Weltkrieg, zu einer neuen Gesellschaftsordnung beitragen zu können, in der Kunst und Leben, Macht und Menschlichkeit vereint wären . Diese schlossen sich in der Regel linken Bewegungen an . So etwa in Mexiko, wo der Muralismo die offizielle Kunstrichtung in der populistischen mexikanischen Republik wurde . Vor allem Diego Rivera verkörperte den Stil einer expressiv-figürlichen Wandmalerei mit Elementen der Volkskunst und des Comics . Große Hoffnungen setzten russische avantgardistische Künstler auf die neue Gesellschaftsordnung in der Sowjetunion . Nicht wenige russische Künstler wie Alexander Rodschenko oder Tatlin hatten sich sogar vor 1917 für die Bolschewiki engagiert . Nach deren Machtergreifung wurde die Kunst allerdings sehr bald unter staatliche Aufsicht gestellt . Der Spielraum für die russischen Futuristen, Suprematisten, Abstrakten und Kubisten wurde immer geringer, statt dessen waren Dienstleister gefragt, die widerspruchslos die politischen Kampagnen von Staat und Partei illustrieren sollten . So teilten die linken Künstler aus der russische Avantgarde das Schicksal ihrer rechten italienischen Kollegen . Ihre Karin Wieland, Die Geliebte des Duce . Das Leben der Margherita Sarfatti und die Erfindung des Faschismus, München 2004, S . 76 ff . 20 Klaus von Beyme, Das Zeitalter der Avantgarden . Kunst und Gesellschaft 1905–1955, München 2005, S . 688 . 19

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Kapitel II Feinde der Kunst versus „Feinde des Volkes“

Bereitschaft, sich Bolschewismus und Faschismus anzudienen, wurde nicht belohnt . Avantgardisten, neue Kunstformen und freie Geister störten sowohl in der faschistischen als auch in der bolschewistischen Diktatur, die beide gleichermaßen nach leicht verständlicher Propagandakunst und loyalen Kulturfunktionären verlangten . Kunst als Luxus: Museen unter Rechtfertigungsdruck in der sozialen Krise

Besonders in Deutschland, wo bereits vor 1914 eine weitläufige Museumslandschaft entstanden war, kamen die Kunsthäuser in den Jahren der sozialen Krise unter Rechtfertigungszwang . Auch auf die Kunstakademien traf dies zu .21 Kunst, insbesondere moderne Kunst, galt weithin, nicht nur auf der linken Seite des politischen Spektrums, als Luxus, auf den in Zeiten der Not verzichtet werden könne . Aus der Künstlerschaft kamen Forderungen, einheimische Künstler durch Ausstellungen und Ankäufe zu unterstützen, während der Erwerb ausländischer und historischer Werke Kritik hervorrief .22 Der Deutsche Museumsbund (DMB) verabschiedete demonstrativ eine Entschließung zur „Unterstützung der notleidenden lebenden Künstler durch Ankäufe für die öffentlichen Sammlungen“ . Man wolle sich „einmütig zur lebenden Kunst bekennen, um Staat, Wirtschaft und Kirche zur Förderung der Kunst zu bewegen .“23 Für umfangreiche Künstler-Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen wie sie im Rahmen des New Deals in den USA durchgeführt wurden, nicht zuletzt um eine politische Radikalisierung der Künstler zu verhindern,24 gab es in der Weimarer Republik allerdings keine 21 Ein Tiefschlag für die moderne Kunst war die Schließung der renommierten Breslauer Kunstakademie im April 1932 . Preußen sah sich nicht mehr in der Lage, die Schule zu finanzieren . Angesichts der Weltwirtschaftskrise hatte die preußische Regierung im Dezember 1931 zudem die Schließung der Kunstakademien in Kassel und Königsberg angeordnet – im Rahmen der Notverordnungen des Reichskanzlers Brüning . Besonders die erst 1919 gegründete Breslauer Kunsthochschule galt als vitales Zentrum der modernen Kunstrichtungen . Expressionistische, abstrakte und neusachliche Positionen waren dort stark präsent gewesen . 22 Die Kuratorin der Badischen Kunsthalle in Karlsruhe, Lilly Fischel, stand wegen ihrer Sammlungsstrategie im Streit mit der ultrakonservativen Künstlerschaft und völkisch gesinnten Presseorganen der Stadt . Aus der Künstlerschaft kamen Forderungen, die Versicherungssumme für ein Gemäldes Moritz von Schwinds, das beim Brand des Münchner Glaspalasts 1931 zerstört worden war, zum Ankauf zeitgenössischer Werke zu verwenden . Brief Fischels an Werner Noack, 19 .2 .1931 . Zentralarchiv der Staatlichen Museen Berlin . SMB ZA III DMB 242 . 23 Tagung des DMB in Essen 14 ./15 .9 .1930, in: Museumskunde, Heft 1, 1931, S . 43 . Vgl . auch die Rede Sauerlandts auf der Tagung des DMB in Danzig, 9 .–13 .10 .1929 über „Die deutschen Museen und die deutsche Gegenwartskunst“ in: Museumskunde, Heft 1, 1930, S . 28 ff . 24 Das amerikanische Programm Federal Art Project (FAP) unterstützte mit Steuergeldern gut 5 .000 Künstler, die Tausende von Werken für öffentliche Gebäude und Räume schufen . Das Programm sollte den Effekt haben, den gesellschaftlichen Zusammenhalt durch eine Ästhetisierung des öffentlichen Raumes zu stärken und zugleich die Isolation und politische Radikalisierung der Künstler zu verhindern . Trotzdem breiteten sich im FAP bis zu seiner Einstellung im Jahre 1938 radikale linke künstlerische Positionen aus, die in der konservativen Presse wie der Chicago Tribune mitunter als „Wasteful, ugly and communistic“ betitelt

Kunst als Luxus: Museen unter Rechtfertigungsdruck in der sozialen Krise

Mittel . Zumindest versuchten die Museen, zeitgenössische Künstler durch Ankäufe zu unterstützen . Der Gründungsdirektor des New Yorker Museum of Modern Art, Alfred Hamilton Barr, zeigte sich nach einem Deutschland-Besuch von den Versuchen der Museen, die Not der Künstler zu lindern, tief beeindruckt: Most surprising for the student of modern art ist the alert attitude of German museums towards modern art – even in small towns . They have become, especially in these times of depression, a very important economic factor in supporting German artist through purchase of their works .25

Doch die Mittel der Museen, die Mittel des Staates waren begrenzt . Beispielsweise schilderte der Leiter des Flensburger Kunstgewerbemuseums 1931 seine trostlose Lage, nachdem Aufseher entlassen, Sonderausstellungen, Vorträge und Erwerbungsetat gestrichen worden waren: „Man lässt mir nicht einmal so viel, dass ich im Winter mein Licht im Büro entzünden kann, wenn es dunkel wird .“26 Die Erwerbungsetats waren limitiert, die Zuschüsse für den Museumsbetrieb wurden knapper . In dieser Situation wurde über den Verkauf von Werken aus den Sammlungen nachgedacht . Die Erlöse sollten dem Unterhalt der Museen und Neuerwerbungen dienen . Die größten Wellen schlug in dieser Debatte der geplante Verkauf des Vermeer-Gemäldes Das Mädchen mit dem Weinglas . Der DMB vertrat die Position, „daß öffentlicher Kunstbesitz in keiner Weise zur Finanzierung von persönlichen und Verwaltungsaufgaben verwendet werden darf .“27 Auch nachdem der Verkauf des Werks aus der Sammlung des Braunschweiger Herzog-Anton Ulrich-Museums durch einen Tausch modifiziert werden sollte – ein Kuppelreliquiar aus dem Welfenschatz stand zur Debatte – verstummte der Protest aus der Fachwelt nicht . Julius Meier-Graefe verwies in der Frankfurter Zeitung auf den „konsequenten Bolschewismus“ der Russen, die Kunstwerke aus der überwundenen feudalistischen Epoche gegen Devisen oder dringend benötigte Wirtschaftsgüter tauschten, doch der Fall in Braunschweig liege anders . Das Argument, der Verkauf müsse die Betriebskosten des Museums sichern, liess Meier-Gräfe nicht gelten: Wenn das Geld für das Gehalt des Direktors fehlt, soll man ihn entlassen und nicht Vermeer . Im Notfall lässt sich die Zugänglichkeit der Sammlung auch mit ein paar Aufsehern gewährleisten . Fehlt das Geld für die Aufseher, sollten die Bürger der Stadt eine Ehrenwache bilden . Das gäbe manchen von ihnen die Gelegenheit, das Museum kennen zu lernen und die Vertrautheit mit einem Besitz zu gewinnen, der unter bürgerlichen Voraussetzungen nicht veräußert werden darf .28

wurde . Zitiert nach Klaus von Beyme, Das Zeitalter der Avantgarden . Kunst und Gesellschaft 1905–1955, München 2005, S . 819 f . 25 Museum of Modern Art, German painting and sculpture (Katalog), New York 1931, S . 15 . 26 Fritz Fuglsang an Werner Noack, Brief vom 30 .9 .1931 . SMB ZA III DMB 309/1 . 27 Rundschreiben DMB Abteilung A Kunstmuseen 25 .1 .1932 . SMPK ZA III DMB 368 . 28 Frankfurter Zeitung 7 .8 .1931 .

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Der DMB-Vorsitzende Werner Noack appellierte an den Reichskunstwart und den Reichsminister des Inneren, ihren Einfluss gegen eine derartige Praxis geltend zu machen, denn grundsätzlich seien „Tauschgeschäfte mit kostbarem Museumsbesitz außerordentlich gefährlich und zu verurteilen .“29 Insgesamt scheinen jedoch in den Krisenjahren der Weimarer Republik nur wenige Werke aus Museumsbesitz verkauft worden zu sein – von Doubletten abgesehen . Bis zum Ende der Weimarer Republik gerieten immer wieder Museumsdirektoren in die Schusslinie rechter Medien, die Werke französischer und anderer ausländischer Künstler angekauft hatten . Diese Konfliktlinie hatte sich schon vor 1914 in den Skandalen um Hugo von Tschudis und Gustav Paulis Ankaufspolitik herausgebildet . Nun wurde beispielsweise der Essener Museumsdirektor Ernst Gosebruch angegriffen, weil er für das Folkwang Manets Gemälde Faure als Hamlet für 200 .000 RM erworben hatte . Er sah sich einer Kampagne des Verlegers der Rheinisch-Westfälischen Zeitung ausgesetzt, die letztlich in Gosebruchs Entlassung 1933 mündete .30 Ludwig Justi musste sich als Direktor der Berliner Nationalgalerie noch jahrelang für den Erwerb einer Variante des Van Gogh-Gemäldes Der Garten von Daubigny rechtfertigen, das er 1929 für 240 000 Mark angekauft hatte – immerhin eine Summe, die das doppelte eines Jahresetats für Erwerbungen darstellte .31 1932 richtete der Reichsverband bildender Künstler eine Eingabe an die Reichsregierung, „während der gegenwärtigen Notzeit den Ankauf ausländischer Kunstwerke zu verhindern .“32 Justi hatte unmittelbar nach dem Kriegsende damit begonnen, lebende Künstler durch sein neues „Jahresernten“-Ausstellungsformat zu unterstützen: Ausgewählte zeitgenössische Künstler konnten ihre Jahresproduktion in der modernen Abteilung der Nationalgalerie präsentieren . Die hohen Besucherzahlen und die vielschichtige Besucherstruktur schienen Justi recht zu geben . In manchen Jahren, etwa 1925, kamen mehr Besucher ins experimentelle Kronprinzenpalais als in die Nationalgalerie selbst (25 .000) .33 Justis Erfolge riefen allerdings auch Kritiker auf den Plan . Für den Publizisten Fritz Stahl zeigte sich in seinen Ausstellungen nur eine flache „Schnellproduktion“, Resultat der „übereilten Lobhudelei“ für die Künstler . Letztlich manifestiere sich hier ein heißlaufender und substanzloser Kunstbetrieb . Man werde Zeuge der „Demaskierung eines Betriebes, über den sich viele Menschen durch großartige

Brief Noacks an den Reichsminister des Inneren 3 .6 .1931 . SMPK ZA III DMB 309/1 . Nach Hans Delfs, Neue Erkenntnisse zu dem Wandbildprojekt im Museum Folkwang Essen, in: Roland Scotti (Hg), Magazin . Periodikum des Kirchner Museums Davos III, Davos 2001, S . 75–88 . 31 Zum Vergleich die Jahresetats für Erwerbungen 1927/28: Nationalgalerie 116 .000 RM, Kunsthalle Hamburg 90 .000, Städel 90 .000, Kunsthalle Mannheim 66 .000, Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg 50 .000, Kunstsammlungen Chemnitz 35 .000, Gemäldegalerie Dresden 30 .000, Staatliche Sammlungen Kassel 12 .800 . Ergebnisse einer Umfrage des DMB . SMB ZA III DMB 246 . 32 Reichsverband bildender Künstler (Hg .), Kunst und Wirtschaft Jg . 13, Heft 7/1932, S . 1 . 33 Jana Baumann, Museum als Avantgarde . Museen und Kunst in Deutschland 1918–1933, München 2016, S . 67 . 29 30

Kunst als Luxus: Museen unter Rechtfertigungsdruck in der sozialen Krise

Redensarten täuschen ließen,“ urteilte Stahl im Berliner Tageblatt .34 Karl Scheffler kommentierte die zahlreichen Besucher des Kronprinzenpalais giftig als „Sensationspublikum“ und „willenlose Menge“ .35 Scheffler beklagte sich implizit über die Qualität der Besucherführungen, geißelte einen „frevelhaften Volksaufklärungsbetrieb“ in den Museen der Gegenwartskunst: Dort wird er in vielen Fällen zum Schwindel, weil nur mit subjektiven Werturteilen und mit daraus fließenden künstlichen Theorien operiert wird . Es wird nie gesagt, daß es sich um höchst persönliche Meinungen handelt, die die Zeit allein bestätigen oder ad absurdum führen kann; vielmehr verleiht die Atmosphäre des Museums den Urteilen Gewichtigkeit, die Flagge deckt die Ladung . Der größte Blödsinn wird als Doktorenweisheit gläubig aufgenommen .36

Die Nationalgalerie, so ein anderer konservativer Kritiker, begebe sich mit Ankäufen zeitgenössischer Kunst auf das Feld der reinen Spekulation und sei auf dem Weg, zum „Panoptikum mit ganz besonderen Schreckenskammern“ zu werden .37 Während die Kritiker Stahl und Scheffler das Bild einer oberflächlichen Kunst an die Wand malten, die Teil des großstädtischen Amüsierbetriebes geworden sei, war Justi überzeugt, das Kunstinteresse des breiten Publikums sei am besten mit Hilfe der zeitgenössischen Kunst zu wecken . Die Gegenwart bilde die Brücke zum Publikum, auf diesem Wege könne das Museum am ehesten eine „Volksbildungsstätte“ werden .38 Unter Museumsleitern war diese Strategie allerdings nicht unumstritten .39 Hildebrand Gurlitt versuchte im Zwickauer König-Albert-Museum durch populäre Themenausstellungen wie „Wohnung und Hausrat“ oder „Kitsch und Kunst“ die Besucherzahlen zu erhöhen und damit im Nebeneffekt die Gegenwartskunst bekannter zu machen .40 Inwieweit er dabei die lokale Akzeptanz für moderne Kunst zu erhöhen vermochte, bleibt fraglich – Zuspruch hatte er vor allem von außerhalb erhalten, wie das Presseecho zeigte .41 Auch Berliner Tageblatt 12 .12 .1921 . Jana Baumann, Museum als Avantgarde . Museen und Kunst in Deutschland 1918–1933, München 2016, S . 75 . 36 Kunst und Künstler Nr . 19, 1920/21, S . 163 f . 37 Der Berliner Westen 14 .4 .1930 . 38 Protokoll der Tagung des DMB am 20 .2 .1930 in Hamburg . SMB ZA III DMB 249/1 . 39 Justis Hamburger Kollege Max Sauerlandt glaubte ebenfalls, die gesellschaftliche Akzeptanz Alter Kunst führe über die Popularisierung von Gegenwartskunst, nicht ohne scharfen Widerspruch von Gustav Pauli zu ernten, der in letzterer vor allem eine „Krise in der Entwicklung von Malerei und Plastik“ erblickte: „Die größten Irrtümer von Museumsleitern in der letzten Zeit bestanden darin, dass sie, geleitet von persönlicher Vorliebe, einzelne jüngere Zeitgenossen besonders begünstigt hatten .“ Protokoll der Tagung des DMB Gruppe Kunstmuseen am 10 .10 .1929 in Danzig . SMB ZA III DMB 286 . 40 Meike Hoffmann und Nicola Kuhn, Hitlers Kunsthändler . Hildebrand Gurlitt 1895–1956, München 2016, S . 125 . 41 Bewerbungsschreiben Gurlitts vom 20 .3 .1932 für die Stelle des Museumsdirektors in Krefeld . Dem Schreiben waren zahlreiche Pressestimmen und Referenzen beigefügt, u . a . vom Oberbürgermeister, dem Museumsdezernenten und dem Stadtverordnetenvorsteher Zwickaus . SMB ZA III DMB 242 . 34 35

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Gustav Hartlaub machte sich als Leiter der Kunsthalle Mannheim Gedanken darüber, wie die Kunstmuseen in der Wirtschaftskrise mehr gesellschaftliche Relevanz erhalten könnten . Sammlungen moderner Kunst hätten es dabei besonders schwer: Sie haben mit jenem charakteristischen Unbehagen zu kämpfen, das die noch umstrittenen, noch uneingebürgerten Werke zeitgenössischer Kunst überall dort erwecken, wo nicht ein engerer Kreis eingeweihter Kunstfreunde besteht . Was die moderne Kunsthalle an bequemen Vertrauen der Öffentlichkeit missen muss, hat sie durch um so stärkere Reizwirkung auszugleichen .“ Die Kunstsammlungen müssten in die Offensive gehen, forderte Hartlaub . Einerseits sollten sie statistisches Material liefern, wie Besucherzahlen und Pressespiegel, um ihre Bedeutung als kulturelle Werbung „für das Stadtganze“ herauszustellen42, andererseits sollten sie durch „energische Tätigkeit ihre Existenznotwendigkeit beweisen“, d . h . es sollten mehr Ausstellungen stattfinden, vor allem Wanderausstellungen in Kooperation mit anderen Museen, um Kosten zu dämpfen .43

Er argumentierte, in der derzeitigen Wirtschaftskrise erschienen „die Museen mit ihren Beamtenstab und aufgewandten Mitteln vielen Menschen um so weniger gerechtfertigt“, je elitärer und konservativer die Ausstellungshäuser aufgestellt seien . Durch attraktive Ausstellungsprogramme, ästhetische Bildung, Kunstvermittlung und Kunstberatung für möglichst breite Schichten könne die Legitimationskrise der modernen Museen gemeistert werden .44 Neben der Sachberatung und Schätzung von Kunstwerken, die Bürger veräußern wollten, könne auch Berufsberatung von Kunstmuseen angeboten werden . Offenbar blühte auch (oder erst recht) in der wirtschaftlichen Krise der Traum von einer Künstlerlaufbahn: „Fast täglich finden sich in der Post eines Museums Anfragen von Eltern und von Jugendlichen selbst, die um ein Urteil über das Talent bitten . In äußerst zahlreichen Fällen ist von jeglicher beruflicher Auswertung der vorliegenden Anlage abzuraten .“ Schwächere künstlerische Talente könnte man „aufs Handwerk ablenken“, und damit verhindern, dass sie als brotlose Künstler ins Elend stürzten .45 Während sich Museumsdirektoren Gedanken darüber machten, wie man die Volksmassen ins Museum locken könnten, ging der kommunistische Maler Otto Nagel in Berlin einen anderen Weg: Er liess die Kunst zu den Volksmassen kommen . 1924 nahm Nagel an der ersten Reichskonferenz der Internationalen Arbeiterhilfe in Berlin teil und organisierte im Kaufhaus Wertheim parallel dazu für die Künstlerhilfe eine Ausstellung . 1926 folgten Ausstellungen in den Kaufhäusern Joseph, Lindemann, Stein und Tietz . Nagel behauptete, damit seien ca . 160 .000 Besucher erreicht worden . Bei der Werkauswahl legte er Wert auf eine verständliche Bildsprache und soziale

42 Gustav Hartlaub, „Das Kraftfeld der Mannheimer Kunsthalle“, in: Museum der Gegenwart Jg . 2 Heft 3/ 1931, S . 112–123, hier S . 112 . 43 Protokoll der Tagung des DMB Gruppe Kunstmuseen am 28 .8 .1931 in Ulm . SMB ZA III DMB 286, S . 6 . 44 Gustav Hartlaub, „Museen als Berater“, in: Museum der Gegenwart Jg . 2 Heft 3/1931, S . 143–154, hier S . 154 . 45 Ebenda . S . 148 ff .

Die Verdammung des Kunstmarktes in den 1920er Jahren

Themen, um die Massen zu erreichen . Dieser Ansatz wurde in den Ausstellungsbesprechungen linker Medien kontrovers diskutiert .46 Im gleichen Jahr stellte Nagel im Sängerheim aus, einem bekannten Weddinger Bierlokal . Die Weltbühne beobachtete das Publikum in diesem „ungewöhnlichen Milieu für Kunst“: Männer und Frauen vom Wedding, ernst, schweigsam, langsam die Bilder betrachtend . Sie sehen sich selbst an den Wänden, von einem der ihren gemalt: den Briefträger, die alte Frau im Spital, die Nutte vom Karree Nettelbeckplatz, den Idioten ‚Vater‘ von der Wachund Schließgesellschaft, den Budiker von der Ecke .47

Die Verdammung des Kunstmarktes in den 1920er Jahren

Bereits im 19 . Jahrhundert hatte sich eine kritische Haltung gegenüber der Salonkunst herausgebildet, die die fortschreitende Kommerzialisierung und das forcierte Gewinnstreben im Kunsthandel als Sakrileg und Kulturverfall interpretierte . Aus einer romantischen Perspektive heraus wurde sogar jeglicher Handel mit ideellen Gütern als Entweihung selbiger abgelehnt . In den 1920er Jahren kam diese Verdammung des Kunstmarkt wieder in Mode – nunmehr mit antiamerikanischen oder antisemitischen Konnotationen . So liest man 1927 im Jahrbuch der paramilitärischen Organisation Stahlhelm, im Mittelalter habe noch eine gottesfürchtige Kunst existiert, die allen gehörte, während heute Händler davon Besitz ergriffen hätten: „Diesen Herren ist es höchst gleichgültig, ob sie in Wolle, Gefrierfleisch, Eisenbahnobligationen oder Kunst machen .“48 Die Kunst befinde sich heute in einem „merkantilen und intellektuellen Morast“49, und die Kunstkritik sei längst Teil eines amerikanisierten Geschäftsmodells: „St . Mammons Söldner, der bebrillte Katalogschreiber und Kritiker, normiert heute wie ein Manager im Sport die Kunstwerke .“50 Die Kommerzialisierung und die

Petra Jacoby, Kollektivierung der Phantasie? Künstlergruppen in der DDR zwischen Vereinnahmung und Erfindungsgabe, Bielefeld 2007, S . 97 . 47 Zitiert in: Carl-Peter Steinmann: Sonntagsspaziergänge 2 . Transit-Buchverlag, Berlin 2013, S . 28–29 . 48 „Gierig umkrampfen die griffigen Hände des taxierenden Händlers die schmalgliedrige, blondlockige Madonnenfigur, die mit der Auktionsnummer beklebt, der Diener unten im Saale dem Steigernden nochmals zur Prüfung vor dem endgültigen Zuschlage übergeben hat . Ein Kreis von tabakqualmenden Fratzen und Fettnacken – halb Börse, halb Parlament – umlauert kopfwiegend diese Dreiheit und betastet ebenfalls, soweit ihre Ärmchen reichen, die in Gold und Blau erstrahlende Gewandung dieser zur käuflichen Ware degradierten Muttergottes .“ Fritz Meyer, „Die Kunst als Schacher und die Kunst als Gemeinschaftserlebnis“, in: Stahlhelm-Jahrbuch, Magdeburg 1927, S . 89–97, hier S . 90 . 49 So der Bildhauer Hermann Hosaeus in seiner autobiografischen Schrift „Ein Bildhauer wandert durch die Zeit . Erlebtes und Erkanntes in Wort und Bild“ (ohne Datum), S . 6 . Im Nachlass Hosaeus, Universitätsarchiv der TU Berlin NL 417 Ho 30 . 50 Fritz Meyer, „Die Kunst als Schacher und die Kunst als Gemeinschaftserlebnis“, in: Stahlhelm-Jahrbuch, Magdeburg 1927, S . 89–97, hier S . 94 . 46

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neue Übermacht des Marketings führe zu einer Deformation der Kunst, und letztlich zu einem Kulturverfall, behaupteten konservative Kritiker . Dies werde auch in der Machart der Gemälde sichtbar: „Man findet fast nur ausgesprochene Ausstellungsbilder, die durch lautes Schreien ihrer Farbmassen zum flüchtigen Hinsehen zwingen .“ Es gebe ein „krankhaftes Streben nach Skizzenhaftem“, ein „Zurschaustellen handwerklicher Ungeschicklichkeit“ und ein modisches Streben nach historisierenden „antiquarischen Wirkungen“, bei dem Künstler Alterungsspuren und patinaähnliche Effekte zu erzeugen versuchten . Die zeitgenössischen Künstler hätten sich mit derartigen Tricks und „mit dem Mörtel blutleerer Kunsttheorien und Phrasen“ einen hohen Turm erbaut, „von dessen Zinnen aus ihre Stimmen das Ohr des deutschen Volkes niemals mehr erreichen können .“51 Der unbestrittene deutsche Großmeister einer kulturpessimistischen und antimodernen Weltanschauung war der Bestsellerautor Oswald Spengler . In seinem Epos Der Untergang des Abendlandes beklagte er den „hoffnungslosen Widerstand der Seele gegen den Intellekt, der Kultur gegen die Zivilisation, der symbolisch notwendigen Kunst gegen das weltstädtische Kunstgewerbe .“52 Die moderne Kunst sah er als Verfallsprodukt eines „Materialismus der westeuropäischen Weltstädte“ – womit nur London und Paris gemeint sein konnten: Der neue Künstler ist Arbeiter, nicht Schöpfer . Er stellt ungebrochene Spektralfarben nebeneinander . Die feine Handschrift, der Tanz der Pinselstriche macht groben Gewohnheiten Platz: Punkte, Quadrate, breite anorganische Massen werden aufgetragen, vermengt, verbreitet . Neben dem breiten, flachen Pinsel erscheint der Spachtel als Werkzeug . Der Ölgrund der Leinwand wird in die Wirkung miteinbezogen und bleibt stellenweise frei . Eine gefährliche Kunst, peinlich, kalt, krank, für überfeinerte Nerven .53

Neben dem Unbehagen am „Materialismus“, also an jenen Marktmechanismen, die wichtige Kunstströmungen entstehen lassen und Künstler aufbauen, nahm in den 1920er Jahren ein weiterer Topos der Kulturkritik Fahrt auf, der schon aus der Vorkriegszeit bekannt war: Die Ansicht, moderne Kunst sei an sich wertlos, ihr Erfolg sei auf einem Schwindel aufgebaut . Auch diese Position wies eine offene Flanke zum Chauvinismus und Antisemitismus auf . Die Rolle der Schwindler und Betrüger wurde nur allzu gern mit Ausländern oder Juden besetzt . Die wirtschaftliche Krise der unmittelbaren Nachkriegszeit hatte diese Haltung scheinbar plausibel werden lassen: Der Kunstmarkt blühte paradoxerweise inmitten von Krise und Inflation . Im Gegensatz zu anderen, knappen Wertgegenständen waren die Werke von jungen und unbekannteren Künstlern in großer Zahl vorhanden . Galeristen und Sammler mussten ihr rasch an Wert verlierendes Geld anlegen und investierten nun in der Hoffnung, Werke Paul Thol, „Malerei aus der Froschperspektive“, Deutsche Kulturwacht, Berlin Heft 3, 1932, S . 16 . Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes . Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte . Band 1 Gestalt und Wirklichkeit, München 1923, S . 328 . 53 Ebenda S . 373 . 51 52

Die Verdammung des Kunstmarktes in den 1920er Jahren

zukünftiger Erfolgskünstler zu besitzen . In Frankreich bildete sich 1919/20 eine Blase von 200 Händlern und mehreren Tausend Maklern und Spekulanten .54 Erst nach dem Ende der Inflation und der wirtschaftlichen Konsolidierung Mitte der 1920er Jahre war diese Hausse vorbei . Es blieb jedoch bei vielen Menschen die Assoziation von moderner Kunst mit Krise und Spekulation zurück, der Kunstmarkt erschien als wenig Vertrauen erweckende Branche . Fälscheraffären schienen diese Lesart zu bestätigen . Vor allem war hier die Causa Otto Wacker zu nennen . Dieser ebenso distinguierte wie wandlungsfähige Herr, der zuvor als Tänzer tätig gewesen war, schien das windige Berufsbild des Kunsthändlers par excellance zu verkörpern . Spezialisiert war der junge Quereinsteiger auf Werke des bereits damals hoch gehandelten Van Gogh . Er löste den größten Kunstskandal der Weimarer Republik aus . „Ende 1926 richtet W . eine stattliche Belétage in einem der elegantesten Vorkriegshäuser der Viktoriastraße ein“, rekonstruierte die Zeitschrift Kunst & Künstler den Einstieg Wackers in den Kunsthandel .55 Mit Interessenten traf sich dieser bisweilen auch in einer Suite des Berliner Nobelhotels Esplanade, um ihnen dort Van-Gogh-Gemälde zu zeigen . Wacker hatte im Herbst 1927 in seiner eigenen Galerie eine Ausstellung mit 120 Papierarbeiten Van Goghs veranstaltet, die z . T . mit Leihgaben bekannter privater und öffentlicher Sammlungen bestückt war .56 Zudem besaß er auch Originale und mischte diese mit Fälschungen .57 Parallel versuchte er eine Van-Gogh-Ausstellung in der renommierten Galerie Cassirer (die nach Paul Cassirers Tod von Walter Feilchenfeldt und Grete Ring weitergeführt wurde) mit einigen Gemälden zu beliefern, diese fielen jedoch bei der Hängung als Fälschungen auf .58 Am 4 . September 1931 wurde ein Verfahren gegen Wacker eröffnet . Die Anklageschrift warf ihm vor, zwischen 1925 und 1928 wissentlich dreissig Gemälde als vorgebliche Van-Gogh-Originale zum Durchschnittspreis von 10 .000 RM verkauft zu haben . Beim Prozess traten auch Größen der deutschen Kunstkritik und des Museumswesens auf: Julius Meier-Graefe und Ludwig Justi .59 Die langwierigen und wendungsreichen Verhandlungen warfen ein Schlaglicht auf die Grauzonen des Sachverständigenwe-

Klaus von Beyme, Das Zeitalter der Avantgarden . Kunst und Gesellschaft 1905–1955, München 2005, S . 211 ff . 55 Grete Ring, „Der Fall Wacker“, in: Kunst & Künstler 31 . Mai 1932, S . 153–65 . 56 Otto Wacker, Van Gogh – erste große Ausstellung seiner Zeichnungen und Aquarelle . Victoriastrasse 12, Berlin W10, Dezember 1927 (Katalog) . 57 Das Van-Gogh-Gemälde Restaurant de la Sirene in Asmieres verkaufte er 1927 an die Berliner Galerie Matthiesen . 58 Stefan Koldehoff, Van Gogh . Mythos und Wirklichkeit, Köln 2003, S . 83 . 59 Der Kunstschriftsteller Meier-Graefe agierte in einer Doppelrolle als Autor und Sammler . Mit seinen Publikationen hatte er maßgeblich zum Van-Gogh-Kult in Deutschland beigetragen, z . B .: Vincent van Gogh, München 1910; Vincent (Zwei Bände), München 1921; Vincent . Roman eines Gottsuchenden, Wien/Leipzig 1932 . 54

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Abb. 2 Otto Wacker 1931 vor dem Berliner Landgericht.

sens .60 Nicht ohne Häme wurde der Auftritt von ausgewiesenen Van-Gogh-Kennern vor Gericht kommentiert, auch Justi bekam den Spott zu spüren . Die Weltbühne parodierte ihn als „Kunstsachverständigen Prof . Dr . Kaspar Hauser“ und schloss: „Denn Kritik und Expertise, Sachverständigentum und wahre Sammelleidenschaft – sie alle hören nur auf eines: auf die Stimme des Herzens, den Kunsthändler und das Gemurmel einer Museumskantine .“61 Vor allem der Ruf des niederländischen Van-Gogh-Experten Jacob Baart-De la Faille litt erheblich, da er vor Gericht eine legendäre Rolle rückwärts hingelegt hatte: Erst nahm er alle Wacker-Fälschungen als echt in sein Werkverzeichnis von 1928 auf, zwei Jahre später erklärte er alle diese Arbeiten für falsch, im Prozess wiederum erklärte er fünf dieser Gemälde wieder für echt – offenbar war er vor dem Prozess von Geschäftspartnern unter Druck gesetzt worden .62 Ebenfalls dubios, aber auch typisch für das Selbstverständnis eines Connoisseurs war der Auftritt eines weiteren niederländischen Van-Gogh-Spezialisten, Henk Bremmer, der vor 60 Paul Westheim, „Expertisenaberglaube . Die Lehre aus dem Wackerprozeß“, in: Das Kunstblatt 5/1932, S .  34–38 . Vgl . auch Werner Müller, „Achtung  – Falschkunst! Hodler unter der Lupe“, in: Das Kunstblatt 10/1928, S . 297–304 . 61 „Expertise von Kunstsachverständigen Geheimrat Prof . Dr . Kaspar Hauser“, in: Die Weltbühne Nr . 17, 26 .4 .1932, Nachdruck Königstein 1978, Jg . 1932/I, S . 633 f . 62 Dies mögen Sammler und Kunsthändler gewesen sein, die auf der Basis von de Failles Expertisen hohe Summen für Bilder ausgegeben hatten, auf denen sie jetzt sitzen blieben . Stefan Koldehoff, Van Gogh . Mythos und Wirklichkeit, Köln 2003, S . 119 .

Rechtsextremistische Diffamierungen moderner Kunst

Abb. 3 Leonard Wacker, Der Sämann, 1928. Die Fälschung traf nicht die Farbgebung des Originals, weil Wacker lediglich eine Schwarz-Weiß-Reproduktion als Vorlage nutzen konnte.

Gericht von seinem „inneren Weg“ berichtete, Originale zu erkennen . Die Weltbühne kommentierte: „Über das Kriminelle hinaus ist dieser Prozess der Prozess über Experten .“63 Während des Prozesses, am 1 . Mai 1932, waren Wacker und sein Partner der NSDAP beigetreten – vielleicht wollten sie sich für die Zukunft absichern?64 Otto Wacker wurde verurteilt und verbüßte bis Dezember 1935 eine Haftstrafe . Rechtsextremistische Diffamierungen moderner Kunst

Derartige Prozesse schienen alle denkbaren Vorurteile gegen den zeitgenössischen Kunstmarkt zu bestätigen – sogar bei Künstlern, die selbst für die modernen Kunstrichtungen standen . „Ich habe den Bericht über den Bilderfälscherprozess mit höchstem Interesse gelesen . Die kleinen Diebe hängt man, die grossen läßt man laufen“, schrieb Ernst Ludwig Kirchner 1928 an einen Sammler und argwöhnte: „Der Prozess ist übrigens typisch, man hat alle Juden aus dem Spiel gelassen, trotzdem sicher welche

63 Gabriele Tergit, „Expertendämmerung“, in: Die Weltbühne Nr . 16, 19 .4 .1932, Nachdruck Königstein 1978, Jg . 1932/I, S . 596 ff . Vgl . auch: Cornelius Veth, Falsche Expertisen? Falsche Experten! Ein Beitrag zur posthumen Tragödie Van Goghs, Berlin 1932 . 64 Die mutmaßlichen Fälscher Hans und Leonard Wacker, sein Vater und sein Bruder, blieben unbehelligt . Auch sie wurden am 1 . Mai bzw . am 1 . April 1933 NSDAP-Mitglieder . Nora und Stefan Koldehoff, Der van Gogh-Coup . Otto Wackers Aufstieg und Fall, Wädenswil 2019, S . 169 .

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dabei beteiligt waren .“65 Kirchner gilt heute weithin als sensible, innerlich zerrissene Künstlerpersönlichkeit, als Bohemien und Aussteiger . Irritierend wirkt allerdings bei der Lektüre seiner Briefe und Tagebücher, wie er sich selbst zum großen Erneuerer der deutschen Kunst, zum „Dürer der Gegenwart“ stilisierte, ebenso befremden seine judenfeindlichen Äußerungen . So unterschied Kirchner zwischen „Menschen, die wirklich Interesse für Kunst haben“ und „Exporteuren und jüdischen Schiebern,“66 und gelobte, er halte es für seine Pflicht, „gegen die ordinär jüdische Geldmacherei in Kunstdingen zu kämpfen .“67 Zugleich war ihm völlig bewusst, dass die moderne Kunst, speziell der Expressionismus, vom liberalen jüdischen Bürgertum massiv unterstützt wurde . Gerade seine eigene Karriere war ein Paradebeispiel dafür . Hier zeigte sich, dass selbst gebildete und moderne Künstler nicht vor einer antisemitischen Indoktrination sicher waren . Eine antisemitisch grundierte Kulturkritik war auf breiter Front ins Bürgertum eingesickert . In diesem Diskurs vermischte sich Stilkritik mit ideologischen Wertungen, kulturpessimistische Visionen verknüpften sich mit Antisemitismus, mit einem Amerika-feindlichen Antikapitalismus und einem russophoben Antikommunismus . Die Pathologisierung unkonventioneller Künstler, die sich schon im 19 . Jahrhundert andeutete, wurde in der deutschen Publizistik der Zwischenkriegszeit wieder aufgenommen . Hatte noch Hans Prinzhorn das positive kreative Potential von psychischen Erkrankungen gewürdigt68, wurde nun die Gegenposition stärker . So verurteilte der Psychiater und Neurologe Wilhelm Weygandt moderne Künstler wie Van Gogh in einer Reihe von Presseartikeln als „pathologisch .“69 Diese Haltung sollte maßgebend für die spätere Kampagne „Entartete Kunst“ werden, wo stilistische Abweichungen als „Beweise“ für eine psychische Abnormität der betreffenden Künstler genommen wurden .70 Die Kritik aus dem rechten politischen Spektrum kam häufig auch als Anti-Korruptions-Attitüde daher, als scheinbar „aufklärerisch“ in Bezug auf verdeckte Netzwerke und Insidergeschäfte . Verbindendes Element dieser „Entlarvungen“ und Behauptungen war stets die Denkfigur einer „jüdischen Verschwörung“: jüdische Künstler, Kunsthändler und Experten würden sich auf Kosten der nichtjüdischen Mehrheit bereichern . Hier zeigte sich bereits die enge Verbindung zwischen Populismus und Konspirationalismus, die bis heute wirksam ist, jener kurze Weg von populistischer Elitenkritik zur Verschwörungstheorie . Im Mittelpunkt dieser Denkfigur steht eine phantasierte Verbindung der Landeseliten, bzw . Kultureliten, mit äußeren Feinden 65 Brief an Carl Hagemann, 25 .12 .1928 . Kopie im Kirchner Museum Davos . Vgl . auch Kirchners Brief an Hagemann vom 21 .4 .1932 . 66 Brief an Will Grohmann, 1 .6 .1927, Kopie im Kirchner Museum Davos . 67 Brief an Wilhelm Barth, 29 .8 .1931, Staatsarchiv Kanton Basel-Stadt . 68 Hans Prinzhorn, Bildnerei der Geisteskranken, Berlin 1922 . 69 Wilhelm Weygandt, „Pathologische Erscheinungen in der modernen Kunst“, in: Der Deutsche 8 .12 .1921 . 70 Carl Schneider, „Entartete Kunst und Irrenkunst“, in: Archiv für Psychiatrie Nr . 110, 1939, S . 135–164, hier S . 155 .

Rechtsextremistische Diffamierungen moderner Kunst

und Mächten zum Nachteil der einheimischen Bevölkerung .71 In den Kulturkämpfen der Weimarer Republik behaupteten die Rechtsextremen unentwegt: Deutsche Museumsdirektoren und Politiker würden ausländischen, vor allem jüdischen Künstlern und Kunsthändlern zuarbeiten, die einheimischen Künstler ignorieren und die deutschen Steuerzahler ausbeuten . „Wir hatten alle drei Jahre einen neuen ‚Ismus‘, etwas noch Nie-Da-gewesenes  – und die jüdischen Kunsthändler taten in ihren Gazetten und Zeitschriften das Unmögliche, um die Nerven zu reizen und um mit Hilfe der neuen Kunststars Geschäfte zu machen“, echauffierte sich NS-Chefideologe Alfred Rosenberg, auf die verhasste „Systemzeit“ zurückblickend .72 Zum Dreh- und Angelpunkt rechtsextremistischer Kulturkritik wurde aber ein pseudowissenschaftlich begründeter Rassenantisemitismus, der sich auf den modernen Kunstbetrieb fokussierte . Ältere Ressentiments gegen moderne Kunst und gegen den Kunstmarkt, die im 19 . Jahrhundert herangereift waren, wurden dabei integriert . Möglicherweise wäre ohne die antisemitische Grundierung der Kulturkritik die Stimmungsmache gegen die moderne Kunst kaum so erfolgreich gewesen . Zum erfolgreichsten Kampfbegriff der rechten Kulturkrieger wurde das Schlagwort „Kulturbolschewismus“ . Das Schlagwort hat keine klare Sachdimension, aber es entwickelt in den letzten Krisenjahren der Republik eine enorme politische Dimension, indem es emotionalisiert, polarisiert, appelliert und integriert . Mit ihm gerät die Kunstreligion des Bildungsbürgertums zu einer Art Manichäismus, zur Vorstellung vom apokalyptischen letzten Kampf, zur Hoffnung auf den rettenden Führer .73

Der Begriff „Kulturbolschewismus“, fasst Georg Bollenbeck zusammen, bildete „die semantische Brücke, auf der das Bildungsbürgertum ins ‚Dritte Reich‘ gelangt .“74 Zum Wortführer der rechtsextremen Kampagne gegen die moderne Kunst schwang sich der Architekt, Kunsttheoretiker und Künstler Paul Schultze-Naumburg auf, der im Kaiserreich noch zur anerkannten Kulturprominenz mit besten Verbindungen zu den Hohenzollern zählte . Er radikalisierte sich nach dem Ersten Weltkrieg, wurde zu einem Apologeten des Rassismus . Er versprach, zu beweisen, „dass jedes Kunsturteil rassegebunden ist“ und somit alle bislang „quälenden Widersprüche“ der Kulturgeschichte schlüssig erklärt werden könnten .75 Leider fielen derartige Versprechungen,

Michael Butter, Nichts ist, wie es scheint . Über Verschwörungstheorien, Berlin 2018, S . 176 . Alfred Rosenberg, Revolution in der bildenden Kunst, München 1934 . Georg Bollenbeck, Tradition . Avantgarde . Reaktion, Frankfurt 1999, S . 285 . Ebenda S . 275 . Paul Schultze-Naumburg, Kunst und Rasse . München 1928, hier verwendet: 2 . Auflage 1935, S . 9 . Ein infames Werk, das mit primitiven Tricks arbeitete . Während Schulze-Naumburg bei den Alten Meistern deren Gemälde mit eigenhändigen Selbstporträts kombiniert, platziert er bei modernen Künstlern an die Stelle von Selbstporträts Fotografien geistig und körperlich Behinderter und suggerierte, diese hätten die modernen Kunstwerke geschaffen oder würden in einer ähnlichen Weise malen . S . 106–115 . 71 72 73 74 75

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alle Widersprüche der modernen Kunstgeschichte auf diese Weise aufzulösen, im Bildungsbürgertum und auch bei Künstlern auf fruchtbaren Boden . So stimmte Kirchner Schultze-Naumburgs These „Kunst kommt aus der Rasse“ enthusiastisch zu .76 SchulzeNaumburg wurde Führungsfigur des 1929 gegründeten „Kampfbundes für deutsche Kultur“, einer bürgerlich frisierten NSDAP-Vorfeldorganisation . Diese sollte gezielt Akademiker rekrutieren . Die Mitgliederzahl lag Ende 1929 bei ca . 600, stieg Ende 1930 auf ca . 1 .000, verdoppelte sich 1931, erreichte Ende 1932 ca . 6 .000 und explodierte bis November 1933 auf knapp 40 .000 .77 Hierbei diente das Ressentiment gegen moderne Kunst erfolgreich einer rechtsextremen Massenmobilisierung . Zugleich verstanden sich die reaktionären Kulturkämpfer als intellektuelle Elite . „Wir brauchen einen möglichst kleinen Generalstab auf dem Kulturgebiet“, schrieb der renommierte Bildhauer Hermann Hosaeus an Schultze-Naumburg: „Der Führergedanke auf unserem Arbeitsgebiet wird durch den ideologisch schwafelnden kleinen Spießer bedroht .“78 Die meisten Förderer des Kampfbundes waren Hochschullehrer, unter ihnen der berühmte Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin . Die Thüringer Landtagswahlen vom 8 . Dezember 1929 brachten der NSDAP die erste regionale Regierungsbeteiligung ein, und SchultzeNaumburg wurde als Direktor des Staatlichen Bauhauses in Weimar eingesetzt .79 Der prominente Kunstsammler und Diplomat Harry Graf Kessler wandte sich an die Presse, um gegen die Machenschaften des Kampfbund-Leiters zu protestieren, „der in Weimar aufgrund einer engstirnigen und krausen Ideologie die Museen leert und die ehemals blühende Kunstschule veröden lässt .“ Doch „dieses kleinstädtische Gespenst“ bedrohe mittlerweile die ganze deutsche Kultur, weil es auch in München und Berlin Resonanz finde .80 Von seinem künstlerischen Fachberater Schultze-Naumburg angeregt, ließ Bildungsminister Innen- und Bildungsminister Wilhelm Frick 70 moderne Werke aus dem Weimarer Schlossmuseum entfernen, während der neue Bauhausdirektor anordnete, die Wandgemälde Oskar Schlemmers zu überstreichen . Der DMB publizierte eine Protestresolution „Gegen Parteipolitik in der Kunstwertung .“81 Wegen eines Misstrauensvotums scheiterte die thüringische Regierung kurz darauf und der Landtag missbilligte die Ausräumung der modernen Werke . Bald darauf wurde die Brief an Hans-Georg Knoblauch vom 29 .12 .1930 . Ernst Ludwig Kirchner: Briefwechsel mit einem jungen Ehepaar 1927–1937 . Elfriede Dümmler und Hans-Georg Knoblauch . Kopie im Kirchner Museum Davos . 77 Mitgliederbewegung KfdK, in Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde NS 8 208, Bl . 88 ff . 78 Hermann Hosaeus an Schultze-Naumburg 3 .8 .1932 . Nachlass Hosaeus, Universitätsarchiv der TU Berlin NL 417 Ho 107 Bl . 1 . 79 Schon in den Jahren zuvor war das Bauhaus keineswegs eine durchweg linke oder demokratisch geprägte Institution gewesen, stattdessen gab es eine große Bandbreite von politischen Positionen, wobei der 1930 entlassene Direktor Hanns Meyer weit links stand . Philipp Oswalt (Hg .) Hanns Meyers neue Bauhauslehre . Von Dessau nach Mexiko, Basel 2019 . 80 Pressemitteilung Kesslers vom 17 . Dezember 1930 . Nachgedruckt in der Publikation Zehn Jahre „Forschungsstelle Entartete Kunst“ am Kunsthistorischen Institut der Freien Universität, Berlin 2013, Einband . 81 Resolution „gegen jede voreingenommene und unsachliche Einstellung der Behörden zur Kunst der Gegenwart und zu ihrer Pflege in den öffentlichen Museen“ in: Deutsche Museumsnachrichten Nr . 9, 1931 . 76

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politische Situation allerdings endgültig zugunsten der Nazis entschieden . Das Dessauer Bauhaus musste schließen, obwohl sich sogar Marinetti, aus dem faschistischen Italien zu Hilfe gerufen von Kandinsky, dafür eingesetzt hatte .82 Schultze-Naumburg reiste 1931 als Wanderredner gegen die modernen Kunstströmungen durch Deutschland, „Kampf um die Kunst“ hieß seine Tournee . U . a . behauptete er, dass derzeit in Deutschland ein diktatorischer „bolschewistischer Kunstbetrieb“ herrsche: Einer echt deutschen Kunstäußerung ist heute beinahe jede Möglichkeit genommen, überhaupt an die Öffentlichkeit zu dringen . Nach berühmten Muster haben sich die Machthaber nicht allein des gesamten staatlichen und privaten Ausstellungswesens bemächtigt, sondern auch fast die gesamte Presse in ihren Dienst gestellt .83

Dabei kommt eine demagogische Realitätsverzerrung zum Ausdruck, die bis heute bei Rechtspopulisten- und Extremisten kultiviert wird: man lebe in einer Gesinnungsdiktatur, es gäbe Zensur und stark beschränkte „Meinungskorridore“ . Schulze-Naumburgs Vortrag in Berlin wurde auch von renommierten Künstlern wie Emil Nolde oder Museumsmitarbeitern wie Alfred Hentzen besucht, die geschockt feststellen mussten, dass der Referent „Die Brücke“ als „degeneriert“ einstufte .84 Wo Schultze-Naumburg auf Widerspruch traf, wie beispielsweise in Dresden, gingen seine Begleiter verbal und körperlich gegen Zwischenrufer vor . Der Dresdner Professor Karl Albiker und andere widersprechende Künstler wurden von SA-Männern bedroht .85 Die Zeitschrift Das Werk urteilte: „An Primitivität der Argumentierung sind diese Vorträge schwerlich zu unterbieten . Es werden beispielsweise im Lichtbild Gemälde moderner Maler gezeigt, die sich aus Gründen der Ausdrucksverstärkung nicht an unmittelbare Naturtreue halten; dann fragt der Vortragende sein Auditorium: ‚Möchten Sie etwa so aussehen?‘ Die Antwort: Wieherndes Gelächter .“86 Anfang März 1931 sprach Schultze-Naumburg vor 500 Zuhörern, darunter viele kritische Künstler, im Konzertsaal des katholischen Kasinos in München . Begleitet wurde er von SS-Männern in Zivil . Als der Maler Wolf Panizza den Zwischenruf wagte: „Wo bleibt die gute moderne Kultur?“, wurde er sofort umringt, mit Schlagringen, Fäusten und Fußtritten bearbeitet und schließlich schwerverletzt aus dem Saal geworfen . Das gleiche passierte dem Maler Günther Grassmann, der ebenfalls erhebliche Kopfver-

82 Brief Wassily Kandinskys an Filippo Tommaso Marinetti 23 .7 .1932, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2017, (13 .3 .2019) . 83 Paul Schultze-Naumburg, Der Kampf um die Kunst, München 1932, S . 45 . 84 Katalog Brücke-Museum Berlin „Flucht in die Bilder . Die Künstler der Brücke im Nationalsozialismus“ (hgg . von Meike Hoffmann u . a .), München 2019, S . 65 . Hentzen schrieb daraufhin unter einem Pseudonym einen Leserbrief in der nationalkonservativen Zeitschrift Der Ring, um gegen Schultze-Naumburgs Angriff auf die „Brücke“ Stellung zu nehmen . Der Ring Jg . 4 Heft 2/1931, S . 30 f . 85 Zeitgenössische Presseberichte im Zentralarchiv der Staatlichen Museen zu Berlin, Künstlerdokumentation Schultze-Naumburg . 86 Das Werk. Architektur und Kunst, Jg . 18, Heft 4/1931, S . 25 .

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letzungen davontrug . Ebenso wurde seine Ehefrau hinausgeworfen . Als zum Zeichen des Protests eine ganze Anzahl von Künstlern den Saal verlassen wollte, wurden sie mit Gewalt daran gehindert . Mit dem Eintreffen der Kriminalpolizei tauchte der SS-Saalschutz unter und floh .87 „Was sich die Kulturhüter um Schultze-Naumburg unter geistigem Kampf vorstellen, das weiss man jetzt also“, kommentierte Das Werk .88 Als Reaktion auf den Nazi-„Reiseprediger“ Schultze-Naumburg verfasste der bekannte Designer Paul Renner 1932 eine Broschüre mit dem Titel Kulturbolschewismus, die die „antisemitische Hetze gegen die moderne Kunst“ und die „politische Hetze gegen das Neue Bauen“ thematisierte . Das Unternehmen verpuffte, weil sich kein deutscher Verlag fand und die in der Schweiz gedruckte Auflage nicht importiert werden durfte .89 Kampagnen gegen Museumsdirektoren

Schon vor 1933 gelang es dem Kampfbund und rechtsextremen Kommunalpolitikern, Museumsdirektoren aus den Ämtern zu treiben, die für moderne Gegenwartskunst einstanden . Das erste Opfer war Paul Ferdinand Schmidt . Der Leiter der Sammlung des Dresdner Stadtmuseums wurde 1924 vorzeitig in den Ruhestand versetzt . 1925 klagte der Direktor der Städtischen Kunstsammlungen Chemnitz, Friedrich Schreiber-Weigand, man werfe ihm „Bolschewismus in der Kunst“ vor . „Dazu gehört natürlich auch der Expressionismus, in Sonderheit hier meine Ankäufe von Bildern von Schmidt-Rottluff, Kirchner und Heckel .“90 1930 plante er sogar, eine Denkschrift für NSDAP-Funktionäre zu verfassen, in der der prononciert deutsche Charakter der Expressionisten durch Statements namhafter Kunsthistoriker und Künstler erläutert werden sollte . Schreiber-Weigand bat die Kollegen Werner Noack und Max Sauerlandt um Beiträge, doch Noack lehnte die Idee als taktisch unklug ab . Man gäbe den Nazis somit eine Handreichung für Kunstfragen, doch statt praktischer Unterstützung solle man sie „energisch bekämpfen“ .91 Sauerlandt riet ebenfalls davon ab, weil er fürchtete, dies könnte modernen Künstlern ausländischer Herkunft wie Klee oder

Sozialdemokratischer Pressedienst 6 . März 1931 . Das Werk. Architektur und Kunst, Jg . 18, Heft 4/1931, S . 25 . Paul Renner, Kulturbolschewismus? Zürich 1932 (ND Frankfurt 2003), S . 5 und S . 20 . Brief Schreiber-Weigands an G . F . Hartlaub vom 2 .11 .1925, in: Christoph Zuschlag, Entartete Kunst . Ausstellungsstrategien in Nazi-Deutschland, Worms 1995, S . 93 . 91 Brief Schreiber-Weigand an Sauerlandt, 20 .11 .1930, Briefe Noacks an Schreiber-Weigand am 26 .11 .1930, Sauerlandts an Schreiber-Weigand am 27 .11 .1930, Archiv des Hamburger Kunstgewerbemuseums, zitiert nach Andreas Hüneke, „Entartete Kunst“ in Weimar, in: Rolf Bothe und Thomas Föhl (Hg), Aufstieg und Fall der Moderne, Weimar 1999, S . 394 ff . 87 88 89 90

Kampagnen gegen Museumsdirektoren

László Moholy-Nagy zum Nachteil gereichen .92 Ludwig Justi hingegen versuchte einer ähnlichen Situation, der NSDAP-Führung über Eberhard Hanfstaengl, dem Direktor der Städtischen Kunstsammlungen München (und einem Bekannten Hitlers), eine Schrift zukommen zu lassen, in der er sich gegen Angriffe eines nationalsozialistischen Preußischen Landtagsabgeordneten verteidigte . Im Zentrum dieses Angriffs stand Justis Ankauf des Van Gogh-Gemäldes Der Garten von Daubigny von einem jüdischen französischen Händler, welche schon einige Jahre zurücklag . Der Berliner Studienrat und NSDAP-Landtagsabgeordnete Martin Löpelmann hatte u . a . geschrieben: Man muss sich den Ankauf einmal plastisch vorstellen . Herr Justi zeigt das Gemälde seiner Ankaufskommission . Das sind sechs jüdische Gestalten, darunter der üble Bursche Hugo Simons von der Bankfirma Simon & Co . ‚De Kommission is natierlich entzickt‘ . Der Pariser Händler schmunzelt . Das Bild wird gekauft .93

Justi reagierte sachlich auf den Hetzartikel, etwas problematisch erscheint allerdings heute seine nationalistische Argumentation: So betont Justi, sein „unbeirrtes Eintreten für gute deutsche Kunst“ werde leider von dem Autor des Artikels, „einem Mitglied der großen nationalen Bewegung“, verkannt . Schließlich habe selbst die NS-Zeitung Der Angriff kürzlich seine Konzeption der Porträtgalerie gewürdigt .94 Weiter führte Justi an, der Kauf des Van-Gogh-Gemäldes sei bereits vor dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise beschlossen und größtenteils mit Mitteln des Fördervereins „Freunde der Nationalgalerie“ finanziert worden . Zu den antisemitischen Angriffen des Abgeordneten schrieb er: Tatsache ist, daß in Berlin Juden seit Jahrzehnten das meiste Geld für Kunst ausgegeben haben […] . Hervorragende Mitglieder der NSDAP, die zur Kunst in Beziehung stehen, sind mit jüdischen Sammlern begreifliche und berechtigte Verbindungen und Freundschaften eingegangen und es ist doch wohl nicht gerecht, wenn man mir ähnliche Beziehungen zum Vorwurf macht .95

Hanfstaengl hatte Justi zugesichert, er wolle die 15-seitige Schrift führenden Leuten der NSDAP nahebringen . Er sah den Angriff des Landtagsabgeordneten auf Justi als Problem auch für die NSDAP: „Es ist mir durchaus gelegen, auf solche schweren Entgleisungen von kulturell sich betätigenden Mitgliedern der Partei hinzuweisen . Das ist eines der schwierigsten und unglückseligsten Kapitel, was z . T . an der Spitze durchaus erkannt wird .“96 Damit versuchte sich Justi politisch abzusichern, doch es sollte ihm 92 Beatrice Baumann, Max Sauerlandt . Das kunstkritische Wirkungsfeld eines Hamburger Museumsdirektors 1919–1933, Hamburg 2002, S . 63 . 93 Martin Löpelmann, „Der Hexenschlaf der deutschen Kunst“, in: Nationalzeitung 14 .8 .1932 . 94 SMB ZA V 007 . 95 Niederschrift Justis zu den Vorwürfen in der Nationalzeitung (15 S .) . In: Zentralarchiv Staatliche Museen Berlin V Sammlung Entartete Kunst 007, Bl . 2–17 . 96 Brief Hanfstaengls an Justi 5 .9 .1932 . In: ZA SMB V Sammlung Entartete Kunst 007 .

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1933 nichts nutzen . Ein weiteres Opfer der Rechtsextremisten wurde Hildebrand Gurlitt, dessen Direktorenstelle im Zwickauer König-Albert-Museum bereits im Jahr 1930 nicht verlängert worden war . Offiziell mit kommunaler Finanznot begründet, musste Gurlitt aus kulturpolitischen Gründen sein Amt räumen, wie viele Museumsleute und Förderer moderner Kunst erkannten .97 Gurlitt selbst erklärte zwei Jahre später, „Zwickau war eben ein besonders schwieriger Boden . Dies zeigte sich wieder bei der letzten Wahl, bei der in Zwickau Hitler und die Kommunisten etwa doppelt so viele Stimmen hatten wie Hindenburg .“98 Auch staatliche und kommunale Repräsentanten, die die moderne Kunst förderten gerieten im Fokus rechtsextremer Angriffe, wie das Beispiel Mannheims zeigte . Mit Hermann Heimerich war 1928 erstmals ein SPD-Politiker Oberbürgermeister geworden . Von eher großbürgerlichem Habitus, mit bisweilen herrischen Auftreten und Hang zu Statussymbolen, blieb er dem Arbeitermilieu fremd und agierte eher wie ein Manager . Sein Lebensstil mit großer Villa und Mercedes-Dienstwagen diente der rechten Opposition als Zielscheibe . Früh erkannte er jedoch die Bedeutung des Städtemarketings für Tourismus und Industrieansiedlungen und bemühte sich, Mannheim als „Stadt der Arbeit und Kultur“ bekannt zu machen, wobei moderne Kunst eine bedeutende Rolle spielen sollte . Dabei setzte Heimerich auf die Kunsthalle .99 Die Ankäufe und Ausstellungen unter der Regie von Gustav Hartlaub sollten den Ruf Mannheims als moderne Kulturstadt verstärken . Nachdem 1931 vier NSDAP-Vertreter in den Stadtrat gewählt worden waren (darunter Otto Gebele von Waldstein, der zugleich Mitglied der städtischen Kunstkommission wurde), nahmen die Angriffe gegen Ausstellungen und Erwerbungen der Kunsthalle zu, vor allem im lokalen Nazi-Organ Das Hakenkreuzbanner .100 Die Hetze gegen moderne Kunst verschärfte sich zu Beginn der 1930er Jahre weiter . Eine umfangreiche Kokoschka-Ausstellung führte zu einer Serie von verleumderischen Hakenkreuzbanner-Artikeln gegen Hartlaub .101 Rechtsextremisten malten das Bild eines betrügerischen Dreieckshandels an die Wand: „Jüdischer Kunsthandel – Max Friedländer, Direktor der Gemäldegalerie im Kaiser-Friedrich-Museum – Kunstabteilung im Preußischen Volksbildungsministeri97 Meike Hoffmann/Nicola Kuhn, Hitlers Kunsthändler . Hildebrand Gurlitt 1895–1956, München 2016, S . 126 . In den Mitteilungen des Vereins der Museumsfreunde Zwickau (900 Mitglieder) wurden im März/April 1930 folgende, Gurlitt unterstützende Zuschriften abgedruckt: Max Sauerlandt, Werner Noack, Ludwig Justi, Karl Schmidt-Rottluff, Max Pechstein u . a . Archiv DMB, Akte Nr . 308 . 98 Zitat aus dem Bewerbungsschreiben vom 20 .3 .1932 Gurlitts für die Stelle des Museumsdirektors in Krefeld . Dem Schreiben waren zahlreiche Pressestimmen und Referenzen beigefügt, u . a . vom Oberbürgermeister, dem Museumsdezernenten und dem Stadtverordnetenvorsteher Zwickaus . SMB ZA III DMB 242 . 99 Angelika Tarokic, Hermann Heimerich . Ein Mannheimer OB im Spiegel seines Nachlasses, Mannheim 2006, S . 50 . 100 Friedrich Walter, Schicksal einer deutschen Stadt . Geschichte Mannheims 1907–45, Band II, Frankfurt 1950, S . 143 . 101 Jana Baumann, Museum als Avantgarde . Museen und Kunst in Deutschland 1918–1933, München 2016, S . 180 .

Kampagnen gegen Museumsdirektoren

um .“ Mithilfe von Gutachten Friedländers hätten Galeristen wie Hugo Perls oder Paul Cassirer jahrelang ihre Profite steigern können .102 Einige Besonderheiten des Kunstbetriebs konnten hier als Munition populistischer Agitation dienen: So war Friedländer u . a . als Gutachter der Firma Duveen Brothers tätig – die Firma war Marktführer im transatlantischen Handel mit Altmeisterwerken und hatte viele Kunden in der amerikanischen Upperclass . Duveen finanzierte Friedländer 1924 eine USA-Reise und honorierte seine Gutachten mit hohen Summen, die Friedländer zum Teil in den Ankaufsetat der Gemäldegalerie einfließen ließ .103 Die Unabhängigkeit der Museumsdirektoren und Kustoden von einflussreichen Playern des Kunstmarktes gilt heute als unerlässlich, um private von öffentlichen Interessen zu trennen . Auch in den Kulturdebatten der Weimarer Republik war dies bereits ein wichtiges Thema gewesen . Schon 1918 hatte der DMB „Grundsätze über das Verhalten der Mitglieder des DMB gegenüber dem Kunsthandel und dem Publikum“ veröffentlicht . Laut dieser freiwilligen Selbstverpflichtung sollten Museumsbeamte keinen Handel mit Kunstwerken treiben und Echtheitsgutachten ausschließlich unentgeltlich erstellen .104 Museumsdirektoren in Mehrfachrollen waren angreifbar . So warf Wilhelm von Bode, der renommierte Kunsthistoriker und Gründer des Kaiser-Friedrich-Museums, den Museumsdirektoren Gustav Hartlaub und Emil Waldmann vor, sie seien „heimliche Agenten“ Paul Cassirers und somit für staatliche Aufgaben wie die Organisation deutscher Kunstausstellungen im Ausland ungeeignet .105 Neben Museumsleuten waren auch Sammler oder Händler wie Alfred Flechtheim umstritten . Er war nicht nur Kunsthändler, Mäzen, und Sammler, sondern auch Verleger und Spekulant . „Die Personalunion von Sammler und Kunsthändler war seine Stärke, aber auch sein ständiges Problem .“106 Vor allem aber machte ihn seine jüdische Herkunft zum Feindbild der Antisemiten . Die rechtsextremistischen Kampagnen gegen Museumsleiter wurden ab Frühjahr 1933 Staatsräson . Bei der ersten Tagung des DMB nach der Machtübernahme der NSDAP sprach Sauerlandt noch beschwichtigend von „lauter lokalen Sonderaktionen“ gegen moderne Kunst, wobei sich „in vielen Fällen aufgestautes Ressentiment und berechtigte Minderwertigkeitsgefühle gewaltsam entladen haben .“107 Sein Vortrag „Die gegenwärtige Lage und die Aufgaben der Museen im neuen Staat“ bildete den

Martin Löpelmann, „Kunst, Amt und Geschäft“ in: Deutsche Kulturwacht, Berlin Heft 3, 1932, S . 6 f . Siehe die Vorträge von Catherine B . Scallen, „Friedländer and the Duveen Bros .“ und von Timo Saalmann, „Connoisseurship in doubt . Friedländer, the art Market and Antisemitism in the early 1930ties“, Internationale Tagung zum 150 . Geburtstag Friedländers am Rijksmuseum Amsterdam, 8 .6 .2017 . 104 „Grundsätze über das Verhalten der Mitglieder des DMB gegenüber dem Kunsthandel und dem Publikum“, beschlossen in der Versammlung des DMB am 29 .5 .1918 in Würzburg . SMB ZA III DMB 310 . 105 1919 befasste sich der Ehrenrat des DMB mit diesem Streit . Protokoll vom 25 .5 .1919 . SMB ZA III DMB 295 . 106 Hans-Ulrich Thamer, Kunstsammeln . Eine Geschichte von Leidenschaft und Macht, Darmstadt 2015, S . 189 . 107 Redemanuskript für die Tagung des DMB am 20 .8 .1933 in Mainz . Archiv DMB, Rundschreiben 1933 . 102 103

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Abb. 4 Der leere Originalrahmen ist das einzige, was dem Frankfurter Städel Museum von dem heute weltberühmten Van-Gogh-Gemälde Das Bildnis des Dr. Gachet blieb. 1937 wurde es im Zuge der nationalsozialistischen „Museumssäuberungen“ beschlagnahmt und zur Devisenbeschaffung ins Ausland verkauft. Der Rahmen war 2019/20 in der Sonderschau „Making Van Gogh“ zu sehen.

Höhepunkt der Tagung, in dem er sich als Anhänger des neuen Regimes zu erkennen gab, zugleich aber auf einer gewissen Autonomie des Museumswesens beharrte . Im September 1933 verschickte der DMB einen Fragenkatalog, dessen Beantwortung den Kunstmuseen Argumente gegen ideologische Angriffe liefern sollte . Man müsse dazu die eigenen bisherigen Verdienste um die „Volksbildung“ den nationalsozialistischen Politikern besser vermitteln . Daher wurden Fragen gestellt nach der Besucherstatistik, nach „Maßnahmen zur Pflege der deutschen Kunst“, über die Beziehung des jeweiligen Museums zur heimatlichen Kultur und „zum Leben überhaupt“ .108 Die Museen könnten auf diese Weise demonstrieren, dass sie schon lange vor 1933 keine bildungsbürgerlich-elitäre, sondern eine volksnahe Vermittlungsarbeit betrieben hätten . Der bereits entlassene Gustav Hartlaub bewies mehr Realitätssinn und bemerkte zu dieser Initiative:

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Rundschreiben DMB 9 .9 .1933, in: Archiv DMB, Rundschreiben 1933 .

Die internationale Dimension der Diffamierung moderner Kunst

Der NS-Kunstkritik ist nicht durch einen Hinweis auf den zunehmenden Museumsbesuch, Volksbildungsmaßnahmen, Sammeln von deutscher Kunst (in unserem historistisch-stilistischen Sinne), Beziehungen zum Leben und zur Kunst außerhalb des Museums beizukommen . Hatte man im rasseästhetischen und damit nationalpädagogischen Sinne falsch gesammelt, so waren alle Bemühungen und Erfolge in dem angedeuteten Sinne nur etwas, was die Sache noch schlimmer gemacht hat! Mir werden z . B . gerade alle derartigen Anstrengungen ganz besonders zum Vorwurf gemacht, weil die öffentliche Meinung dadurch irregeleitet worden sei .109

Im April 1933 wurde auch Sauerlandt von seinen Ämtern – er war zugleich Leiter der Landeskunstschule – beurlaubt . Obwohl seine Sympathien für die NSDAP bekannt waren, hatte er sich durch sein Engagement für die Expressionisten und für außereuropäische Kunst bei den neuen Machthabern unmöglich gemacht . Die internationale Dimension der Diffamierung moderner Kunst

Agitation gegen moderne Kunst fand auch in anderen europäischen Ländern und den USA statt, vor allem in Frankreich – wie bereits erwähnt . Es kam in denjenigen Ländern, die im Ersten Weltkrieg zu den Gegnern des Deutschen Reiches gehörten, sogar zu einer Konstellation, in der moderne Kunst mit Deutschland assoziiert wurde und deshalb nicht nur aus ästhetischen, sondern auch aus nationalistischen Gründen abgelehnt wurde . Antimodernismus und Antigermanismus fielen dabei in eins . Bis in die 1930er Jahre hinein dominierte der französische Kunstdiskurs, inklusive seiner nationalistischen Ressentiments auch international – vor allem in Osteuropa, aber auch in den USA . Das zeigte sich am Echo des Expressionismus in den USA . Alfred Hamilton Barr baute das MoMA hingegen nicht nach französischem Muster, sondern nach dem Vorbild des Kronprinzenpalais, der zeitgenössischen Abteilung der Berliner Nationalgalerie, auf . Über die Ausstellung „German painting and sculpture“ im MoMA in New York 1931 berichtete Barr: „Die Brückemaler hatten vergleichsweise geringen Erfolg . Viele fanden sie überholt und roh .“110 Hier zeigte sich weiterhin die Dominanz einer francophilen Kunstrezeption . Noch schärfer urteilte der Kunsthistoriker Lloyd Goodrich: „Werke von Nolde und Kirchner machen heute, ganz unabhängig von ihrem Wert als historische Dokumente, fast nur noch den Eindruck ungewöhnlich kindischer, ro-

109 Brief Hartlaubs an Sauerlandt 13 .9 .1933, abgedr . bei Beatrice Baumann, Max Sauerlandt . Das kunstkritische Wirkungsfeld eines Hamburger Museumsdirektors 1919–1933, Hamburg 2002, S . 124 . 110 Alfred H . Barr, „Die Wirkung der deutschen Ausstellung in New York“, in Museum der Gegenwart, Heft II/ 1931, S . 58–75, hier: S . 58 .

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her und schwächlicher Malereien .“111 Royal Cortissoz, der Kritiker der New York Herald Tribune sah in den Künstlern nur „lauter modernistische Typen, die an obskure Ideen glauben und lediglich imstande sind, recht grobe und gleichgültige Bilder zu malen .“112 Der Maler und Kritiker Henry Rankin Poore ereiferte sich: „Was gegenwärtig an den Wänden des MoMa hängt, ist die natürliche Frucht der Nietzscheanischen Philosophie […] . Das MoMa liefert sich einem Ultramodernismus aus und leiht seine Hilfe dem dreisten Versuch, uns ein fremdes Produkt anstelle einer nationalen Kunst vorzustellen .“113 Antimoderne Ressentiments überlagerten sich hier mit Nationalismus . Besondere Aggressivität zeigte die italienische Presse und die von ihr aufgehetzte Öffentlichkeit gegenüber moderner deutscher Kunst . Bei der Biennale von Venedig waren 1922 sogar vier deutsche Gemälde durch Messerstiche beschädigt worden .114 Dessen ungeachtet erstellte die Vertraute und Kunstberaterin Mussolinis, Margharita Sarfatti, einige Jahre später im Namen des Biennalebeirates eine Wunschliste von modernen Künstlern für den deutschen Beitrag zur Biennale 1930, darunter u . a . die Brücke-Künstler, Künstler des Blauen Reiters, Beckmann, Klee, Carl Hofer und Dix . Laut Sarfatti wolle „die Biennale die neuesten Entwicklungsphasen der modernen Kunst zeigen und an die Spitze aller internationalen Ausstellungen treten .“115 Der deutsche Beitrag stand dann allerdings erneut im Kreuzfeuer der italienischen Presse . Sogar der Papst warnte im Blick auf die Ausstellung im Deutschen Pavillon vor dem Besuch der Biennale .116 Johannes Sievers, Leiter der Kunstabteilung des Auswärtigen Amtes, klagte über eine regelrechte antisemitische Hetze gegen die deutsche Kunst und die Kulturabteilung des AA .117 Besonders fokussierten sich die Antisemiten auf die Rolle des Kunsthändlers Alfred Flechtheim . Die italienische Presse erging sich in Beschimpfungen und bezeichnete den Ausstellungsbeitrag als „pathologische und ansteckende

111 The arts, in Übersetzung nach Alfred H . Barr, „Die Wirkung der deutschen Ausstellung in New York“, in Museum der Gegenwart, Heft 2, 1931, S . 58–75, hier: S . 67 . 112 New York Herald Tribune 15 .3 .1931 . Zitiert nach Alfred H . Barr, „Die Wirkung der deutschen Ausstellung in New York“, in Museum der Gegenwart, Heft 2, 1931, S . 58 . 113 Zitiert nach Alfred H . Barr, „Die Wirkung der deutschen Ausstellung in New York“, in Museum der Gegenwart, Heft 2, 1931, S . 58–75, hier: S . 60 . 114 Carolin Schober, Das Auswärtige Amt und die Kunst in der Weimarer Republik . Kunst- und Kunstgewerbeausstellungen als Mittel deutscher auswärtiger Kulturpolitik in Frankreich, Italien und Großbritannien, Frankfurt 2004, S . 102 . 115 Bericht von Johannes Sievers, Leiter der Kunstabteilung des Auswärtigen Amtes, über die Biennale, Berlin 4 .10 .1930 . ZA SMPK I NG 768 Bl . 541–554 . Birgit Dalbajewa, „Hans Posse als Kommissar in Venedig 1922 und 1930“, Vortrag Konferenz „100 Jahre deutscher Pavillon (1912–2012): Nationale Repräsentation im Wandel der Zeit“, Centro Tedesco di Studi Veneziani, Venedig, 4 .6 .2012 . 116 Birgit Dalbajewa, „Hans Posse als Kommissar in Venedig 1922 und 1930“, Vortrag Konferenz „100 Jahre deutscher Pavillon (1912–2012): Nationale Repräsentation im Wandel der Zeit“, Centro Tedesco di Studi Veneziani, Venedig, 4 .6 .2012 . 117 Johannes Sievers, Aus meinem Leben, Berlin 1966, S . 312 .

Die internationale Dimension der Diffamierung moderner Kunst

Manifestation eines besiegten Volkes“, sprach von den „wilden Tieren des Nordens“ .118 Der deutsche Kommissar Hans Posse verteidigte sich hingegen mit dem Verweis auf eine explizit „nordische Ästhetik“, die in Italien nicht verstanden werde . Tatsächlich erwies sich der Bezug auf den Expressionismus als zweischneidiges Schwert für die deutsche Außenwerbung . Gerade in Ländern mit konservativ gestimmtem Kunstpublikum konnte er als Provokation aufgefasst werden, als typisch „deutsches“ Phänomen einer gefährlichen Überspanntheit und Normabweichung . In diesem Sinne war beispielsweise die erste große Ausstellung deutscher Kunst, die 1929 in Warschau stattfinden konnte, vorsichtig mit gemäßigt-modernen und neusachlichen Werken bestückt worden . Max Sauerlandt bedauerte diese Zurückhaltung: „Wenn bei Ausstellungen deutscher Kunst im Auslande, wie es leider geschehen ist und noch geschieht, absichtlich und wissentlich unterdrückt wird, was vielleicht dem Ausland noch fremd, unbequem und unverständlich ist“, werde die künstlerische Selbstdarstellung Deutschlands und der internationale Kulturdialog verfälscht, weil auch diese verdrängten Kunstwerke „Charakterausdruck unseres deutschen Wesens“ seien .119 Das Desaster bei der Biennale von 1930 ließ diese Zurückhaltung jedoch als ratsam erscheinen . Die Diffamierung der Gegenwartskunst durch die Nationalsozialisten gipfelte einige Jahre nach ihrer Machtübernahme in der Ausstellung „Entartete Kunst“ . Sie fand 1937 parallel zur offiziellen „Ersten Großen Deutschen Kunstausstellung“ in München statt und war als abschreckendes Gegenbeispiel konzipiert worden . Anschließend tourte sie durch das Reich . Durch die mit Kunstwerken und Menschen überfüllten Räume, die wirren und reißerischen Wandbeschriftungen, die Indizierung als „jugendgefährdend“ sollte eine Geisterbahnähnliche und klaustrophobische Atmosphäre erzeugt werden, die den Schluß nahelegte, die Künstler seien geisteskrank gewesen .120 Besonders die Künstler der „Brücke“ und andere Expressionisten wurden prominent als „Träger aller künstlerisch zersetzender Tendenzen“ inszeniert . „Wie ein Inferno ziehen die Negerfratzen, die Krüppelfiguren und der infantile Dämonenspuk dieser expressionistischen Periode an unserem Auge vorüber“, raunte die Nazi-Publizistik .121 Das Interesse war groß, Warteschlangen gehörten zum Erscheinungsbild der Schau . Tragischerweise erreichte die moderne Kunst durch diese diffamierende Ausstellung jenes Massenpublikum, das sie sich in der Weimarer Republik erhofft hatte . Nun war die Volksnähe gegeben, aber nicht in der erhofften wohlwollenden Weise:

Zitate aus Ordine fascista, Roma-Napoli, La Stampa im Bericht von Johannes Sievers über die Biennale, Berlin 4 .10 .1930 . SMB ZA NG 768 Bl . 541–554 . 119 Max Sauerlandt, „Die deutschen Museen und die Gegenwartskunst“, in: Das Museum der Gegenwart Heft 1/1930–31, S . 4–16, hier: S . 15 . 120 Die Kunstwissenschaftlerin Meike Hoffmann berichtet (leider ohne weitere Belege), 1937 seien für die Ausstellung „Entartete Kunst“ in München sogar Schauspieler engagiert worden, die beim Betrachten der Werke Wut- oder Lachanfälle mimten, um die Besucher ebenfalls dazu zu animieren . Meike Hoffmann und Nicola Kuhn, Hitlers Kunsthändler . Hildebrandt Gurlitt 1895–1956, München 2016, S . 180 f . 121 Robert Scholz, Lebensfragen der bildenden Kunst, München 1937, S . 27 . 118

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Das Publikum setzt sich zusammen aus neunzig Prozent Münchner Kleinbürgern, die niemals sonst in eine Bilderausstellung gegangen sind und die nun ehrlich entrüstet über das Dargebotene sich äußern . Die restlichen zehn Prozent setzen sich zusammen aus sog . Gebildeten und vielen Engländern . Darunter wohl die meisten, denen diese Richtung immer schrecklich war und die es nun genießen, daß man laut und ohne Gefahr zu laufen, für rückschrittlich und spießig zu gelten, darüber schimpfen kann

so schilderte Carola Roth, eine Bekannte Max Beckmanns, diese Mischung aus bildungsfernen Stadtbewohnern, Spießern und Touristen .122 Betrübt notierte Justis früherer Assistent Alfred Hentzen, dass die Münchner Schau mit ihren gut zwei Millionen Besuchern „rein statistisch die erfolgreichste Kunstausstellung war, die es in Europa je gegeben hat .“123

Abb. 5 Blick ins Berliner Atelier von Arno Breker, dem führenden Bildhauer des „Dritten Reiches“. Zu sehen sind Modelle von Monumentalskulpturen, die Gebäude und Plätze in der neu zu gestaltenden Hauptstadt schmücken sollten.

Im Umgang mit moderner Kunst zeigten sich Parallelen zwischen „Drittem Reich“ und der Sowjetunion . Wie im Nationalsozialismus wurde im Realsozialismus vor allem deshalb eine naturalistisch-gegenständliche Kunst gefordert – wenn auch mit gegensätzlichen Inhalten und Zielsetzungen – da nur diese unmittelbar propagandistisch nutzbar zu sein schien . Daher bezog man sich in beiden Systemen auf das neoklassiBericht von Carola Roth, Juli 1937 . SMB ZA V 025 . Manuskript SMB ZA V 025 . Vgl . auch: Alfred Hentzen, Die Nationalgalerie im Bildersturm, Berlin 1971, S . 30 . 122 123

Moderne Kunst im Kreuzfeuer des Kalten Krieges

zistische und naturalistische Erbe des 19 . Jahrhunderts, während moderne Kunstrichtungen eher als Störfaktoren einer totalen politischen Kontrolle durch Partei und Staat galten . In der Hochphase des Stalinismus wurde die Kunst völlig gleichgeschaltet, die diffamierenden Bezeichnungen „kosmopolitisch“ und „formalistisch“ zielten auf jegliche modernen und internationalen Kunstströmungen . Moderne Kunstrichtungen wie der Expressionismus wurden nun als „Verfallserscheinungen der bürgerlichen Klasse“ interpretiert .124 Abstrakte Kunst wurde quasi verboten, auch loyale kommunistische Künstler verschwanden in Lagern oder wurden ermordet . Die figurative Wende im Spätwerk Malewitsch’ wird vor diesem Hintergrund begreiflich . Bemerkenswert ist, dass in fast allen Diktaturen und autoritären Systemen der Zwischenkriegszeit die moderne Kunst im Laufe der 1920er und 1930er zurückgedrängt und durch einen naturalistischen volkstümelnden Stil ersetzt wurde . Beispielsweise setzte sich auch in Polen im Laufe der dreißiger Jahre dieser Zeitstil durch, der regionalen und nationalen künstlerischen Traditionen folgte und sich thematisch dem Land- oder Arbeitsleben widmete . Selbst in Demokratien wie den USA hatte eine Kunst Konjunktur, die sich auf naturalistische und realistische Weise der Lebenswelt von Bauern und Arbeitern zuwandte, wenngleich diese Strömungen dort nicht hegemonial werden konnten . Die Kunstgeschichtsschreibung flankierte die politische Indienstnahme der Kunst, indem sie sich zunehmend auf nationale Stildefinitionen fokussierte – ein Trend, der sich beispielsweise im Generalthema des 13 . Kunsthistorikerkongress’ 1933 in Stockholm manifestierte: „Die Entstehung nationaler Stile in der Kunst .“125 Das Schlagwort der „Blutund-Boden-Kunst“ hatte also eine internationale Dimension und wurde zum formal gleichartigen Behälter für unterschiedliche ideologische Inhalte: Nationalismus, Sozialismus, Faschismus . Moderne Kunst wurde hingegen weithin mit dem stereotypen Adjektiven „entartet“, „dekadent“ oder „degeneriert“ belegt . Diese Stigmatisierung sollte bis in die 1950er Jahre hinein in weiten Teilen Europas wirksam bleiben . Moderne Kunst im Kreuzfeuer des Kalten Krieges

Die Diffamierung moderner Kunst als „entartet“ oder „degeneriert“ war 1945 keineswegs beendet, sondern nahm zu Beginn der Blockkonfrontation erneut an Fahrt auf, nicht nur unterschwellig, sondern auch offen und sogar von offiziellen Stellen artikuliert – in den USA und in Westdeutschland, vor allem aber in der Sowjetunion und

So der deutsche Stalinist Alfred Kurella (unter dem Pseudonym Bernhard Ziegler) in seinem berüchtigten Essay zur Expressionismusdebatte, der im September 1937 in der deutschsprachigen Moskauer ExilZeitschrift Das Wort erschien . 125 Nach Lars Olof Larsson, Nationalstil und Nationalismus in der Kunstgeschichte der 20ger und 30ger Jahre, in: Lorenz Dittmann, Kategorien und Methoden der Kunstgeschichte 1900–1930, Stuttgart 1985, S . 169–184 . 124

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in der DDR . Dabei handelte es sich nicht nur um ein subkutanes Fortwirken dieses Ressentiments, sondern auch um eine ideologische Neuaufladung im Zuge der politischen Konfrontation zwischen Ost und West . Moderne Kunst wurde auf beiden Seiten als Gefahrenquelle für die Jugend, als Einfallstor feindlicher Infiltration angesehen, vor allem in der Mc-Carthy-Ära in den USA . Dort führte der konservative republikanische Kongressabgeordnete George A . Dondero einen privaten Feldzug gegen die moderne Kunst: „Cubism aims to destroy by designed disorder […] . Dadaism aims to destroy by ridicule […] . Abstractionism aims to destroy by the creation of brainstorms“ .126 1952 teilte Dondero dem Kongress seine These mit, dass moderne Kunst ein konspiratives Instrument Moskaus sei, um den Kommunismus in den USA zu verbreiten .127 Gegenüber der Kunstkritikerin Emily Genauer äußerte er Mitte der 1950er Jahre: Modern art is communistic because it is distorted and ugly, because it does not glorify our beautiful country, our cheerful and smiling people, our material progress . Art which does not glorify our beautiful country in plain simple terms that everyone can understand breeds dissatisfaction . It is therefore opposed to our government and those who promote it are our enemies .

Nachdem Emily Genauer Dondero darauf hingewiesen hatte, dass seine Haltung spiegelbildlich der stalinistischen Sicht auf die Kunst entspräche, erwirkte er wutentbrannt ihre Entlassung beim New York Herald Tribune .128 US-Präsident Harry Truman hatte im April 1947 erklärt: I don’t pretend to be an artist or a judge of art, but I am of the opinion that so-called modern art is merely the vaporings of half-baked lazy people . An artistic production is one which shows infinite ability for taking pains, and, if any of these so-called modern paintings show any such infinite ability, I am very much mistaken .129

Noch schärfer äußerte er sich beim Anblick einiger Gemälde, die das State Department für eine Wanderausstellung erworben hatte, welche international die Blüte der amerikanischen Kunst demonstrieren sollte: „If that’s art, I’m a Hottentot .“130 Donderos und Trumans antimoderne Haltung entsprach wohl einem guten Teil der Bevölkerung – nach einer Gallup-Umfrage von 1954 lehnten 54 % der Amerikaner jegliche moderne Kunst ab131 – war aber im politischen Establishment langfristig nicht mehrheitsfähig . Stattdessen nutzten die USA moderne Kunst intensiv im Rahmen ihrer globalen auswärtigen Kulturpolitik . Mit massiver staatlicher Unterstützung avancierte der Abstrak126 Rede am 16 . August 1949 (81 . Kongress erste Sitzung) im Repräsentantenhaus . https://www .loc .gov/ law/help/statutes-at-large/81st-congress .php (3 .11 .2019) . 127 Richard Hofstadter, Anti-Intellectualism in American Life, New York 1963, S . 14 f . 128 John Henry Merryman, Albert Edward Elsen, Law, ethics, and the visual arts, London 2002, S . 537 . 129 https://www .nytimes .com/1986/01/20/us/briefing-truman-the-art-critic .html (6 .1 .2020) . 130 https://www .thenation .com/article/whose-art-it-anyway/ (12 .10 .2006) . 131 Ebenda .

Moderne Kunst im Kreuzfeuer des Kalten Krieges

te Expressionismus zum Markenzeichen amerikanischer Kultur, wurde zum Eckstein eines aufwendigen, aber sehr erfolgreichen Nation Branding im Kalten Krieg . In den westlichen Besatzungszonen in Deutschland fand in der unmittelbaren Nachkriegszeit eine Reihe von Ausstellungen mit moderner und zeitgenössischer Kunst statt, zum z . T . unter provisorischen Bedingungen und auch mit negativen Publikumsreaktionen . Die amerikanischen Besatzungsbehörden waren von Anfang an kulturpolitisch besonders aktiv und unterstützten oder initiierten derartige Vorhaben . Bereits am 9 . August 1945 eröffnete die Galerie Rosen am Berliner Kurfürstendamm die Ausstellung „Nach zwölf Jahren“, und im Augsburger Schaezlerpalais wurden unter amerikanischer Regie ab Winter 1945 mehrere Ausstellungen zeitgenössischer Kunst veranstaltet, darunter „Maler der Gegenwart“ (vierzehn abstrakt arbeitende Gegenwartskünstler, 1945/46) und „Extreme Kunst“ (1947) . Letztere spielte provokant auf den Begriff „Entartete Kunst“ an . Diese Augsburger Ausstellungen können als in gewisser Weise Vorläufer der ersten documenta interpretiert werden, die zehn Jahre später stattfand .132 Bis dahin waren noch einige Widerstände und Vorurteile zu überwinden . Erich Kästner zeigte sich entsetzt über die Besucherreaktionen auf die erste Augsburger Ausstellung . Bei der Schau waren schriftliche Kommentare von Besuchern ausdrücklich erwünscht gewesen . Kästner meinte, „dass die intolerantesten, die dümmsten und niederträchtigsten Bemerkungen fast ohne Ausnahme von Schülern, Studenten oder anderen jungen Leuten“ gemacht wurden .133 Ein weiteres Beispiel für die polarisierende Wirkung von moderner Kunst lieferte die erste Nachkriegsausstellung der Stuttgarter Staatsgalerie . Sie fand im Winter 1945/46 unter dem Motto „Kunst gegen den Krieg“ statt . Viele Künstler waren dabei, die schon in der Weimarer Republik einen großen Namen hatten . „Die Ausstellung brachte heftige Reaktionen, wärmste Zustimmung und Ergriffenheit neben Ablehnung und gehässigen Angriffen . Das Echo war lebhaft, die Meinungen geteilt . Die Radierung Abgekämpfte Truppe von Otto Dix und die Zeichnung Fallschirmspringer von Erich Weinhold wurden schwer beschädigt,“ berichtete die Stuttgarter Zeitung .134 Weitere Ausstellungen folgten in den nächsten Jahren, wobei eine große Überblicksausstellung mit fast 500 modernen und zeitgenössischen Werken im Kölner Kunstverein 1949 herausragte . Die konservativ oder religiös grundierte Feindschaft gegen die modernen Kunstströmungen, die in der Weimarer Republik aufgeblüht war, zeigte im Bürgertum der Nachkriegszeit noch immer Präsenz . Ein Ausdruck davon war die Rezeptionsgeschichte von Hans Sedlmayrs Buch Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit, das er in den 1930er Jahren begonnen hatte . Doch erst die Nachkriegsausgabe von 1948

132 Steffen Dengler, „Kulturpolitische Rahmenbedingungen und Kunstpolitik in der amerikanischen Besatzungszone“, in: Julia Friedrich u . a . (Hg .), „So fing man einfach an, ohne viele Worte .“ Ausstellungswesen und Sammlungspolitik in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, Berlin 2013, S . 122–130, hier S . 130 . 133 Erich Kästner, „Die Augsburger Diagnose . Kunst und deutsche Jugend“, in: Neue Zeitung 7 .1 .1946 . 134 Stuttgarter Zeitung 5 .1 .1946 .

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erzielte eine enorme Breitenwirkung . Innerhalb von zwanzig Jahren gab es eine Gesamtauflage von 150 .000 Exemplaren . „Der moderne Maler ist der gefährdetste aller Künstler, abgeschnitten von der Realität, oft eine verzweifelte Existenz […] . Nirgends bricht das Dämonische so stark durch, nirgends ist die Verlassenheit so groß, nirgends größer die Gefahr der Charlatanerie .“135 Der österreichische Kunsthistoriker Sedlmayr, der bereits 1930 in die illegale österreichische NSDAP eintrat, war von der konservativen Kulturkritik der Zwischenkriegszeit geprägt worden, seine Wortwahl erinnerte auch nach 1945 noch daran . Er sah in den modernen Kunstströmungen eine nihilistische Abwendung vom Menschen und vom Menschenbild, „wobei im Kubismus die Vertotung, im Expressionismus das heiße Chaos, im Surrealismus die kalte Dämonie der untersten Eishölle dominiert .“ Die grundsätzliche „Verneinung des Menschlichen“ durch die moderne Kunst erkläre laut Sedlmayr „auf direkteste Weise den instinktiven Widerwillen des ‚natürlichen‘ Menschen gegen diese Bilder .“136 Nicht nur das Publikum, darunter viele jüngere und gebildete Menschen, reagierte immer noch ablehnend auf moderne Kunst, sondern auch wiederbelebte Traditionsinstitutionen wie etwa die Bayrische Akademie der Schönen Künste . Diese war zum Sammelbecken mehr oder minder schwer NS-belasteter Künstler und Kulturschaffender geworden und versuchte, durch Preisvergaben, Tagungen und Gutachten das Kulturleben der Nachkriegszeit zu beeinflussen . Noch jahrelang galt sie als „Hort der Reaktion“, sperrte sich gegen neue Kunstrichtungen und gegen die Aufnahme von Künstlerinnen, Juden, Emigranten .137 Während die moderne Kunst in den westlichen Besatzungszonen von Behörden und Alliierten zwar gefördert wurde, aber mit Widerständen im deutschen Publikum zu kämpfen hatte, bot sich in der siegreichen Sowjetunion ein anderes Bild . Unter kommunistischen Parteifunktionären konservierte und verengte sich nach 1945 die reaktionäre stalinistische Kunstauffassung der späten 1930er Jahre und zwang selbst berühmte Avantgardisten wie Alexander Samochwalow, Kasimir Malewitsch oder Alexander Dejneka zu einem biederen Realismus . Diese antimodernistische Kunstdoktrin wurde auch den besetzten Gebieten und Satellitenstaaten verpflichtend anempfohlen . Das dabei verwendete Vokabular erinnerte stark an die NS-Propaganda, vor allem der häufig verwendete Begriff „Entartung/Degeneration“ . Er hatte im realsozialistischen Diskurs aber keine eugenisch-rassistische Bedeutung, sondern eine soziale, er stand für den Verfall einer Gesellschaftsform oder Klasse . In der unmittelbaren Hans Sedlmayr, Verlust der Mitte . Die bildende Kunst des 19 . und 20 . Jahrhunderts, Berlin 1969, S . 88 . Ebenda S . 104 . Vgl . auch Sedlmayrs Vortrag „Über die Gefahren der modernen Kunst“ bei dem prominent besetzten „Ersten Darmstädter Gespräch“ 15 ./17 .7 .1950, publiziert im Tagungsband Hans Gerhard Evers (Hg .), Darmstädter Gespräch . Das Menschenbild unserer Zeit, Darmstadt 1951, S . 48–62 . 137 Edith Raim, „Verweigerte Demokratisierung am Beispiel der Bayrische Akademie der Schönen Künste“ Vortrag bei der Tagung „Demokratisierung des Kunstbetriebs? Transformationsprozesse zwischen Ostund West“ Staatliche Kunstsammlungen Dresden 11 . Oktober 2019 . 135 136

Moderne Kunst im Kreuzfeuer des Kalten Krieges

Nachkriegszeit verfolgte die sowjetische Militäradministration (SMAD) noch eine tolerante Kulturpolitik, um die Intellektuellen und Künstler in Ostdeutschland für das neue System zu gewinnen .138 Auf kulturellem und künstlerischem Gebiet verfügte die SMAD über eine beachtliche Zahl von eigenen, hochqualifizierten Experten . Auch die traditionelle Hochachtung vor der deutschen Kultur mag eine Rolle bei der Überlegung gespielt haben, die deutsche Kultur nicht pauschal zu verdammen, sondern zu reinigen und wieder aufzurichten: „Man konnte nicht alles verloren geben, was die Faschisten für sich in Anspruch genommen haben“, erklärte der Chef der Propagandaund Informations-Abteilung der SMAD, Sergej Tjulpanow .139 Bald darauf änderte sich die politische Linie . Der führende deutschsprachige SMAD-Kulturoffizier Alexander L . Dymschitz, gab den Ton vor, indem er den deutschen Künstlern Arroganz gegenüber dem volkstümlichen Kunstgeschmack vorwarf . Letzterer sei nämlich mitnichten spießig, kitschig oder vom Faschismus verbildet: „Im Grunde genommen hat das Volk gesunde Ansichten über die Kunst, die Kunst der Formalisten aber ist krank und unlebendig .“140 Der sowjetische Diplomat (und spätere Botschafter der SU in Ostberlin) Wladimir S . Semjonow bekräftigte: Eine Kunst, die sich Entartung und Zersetzung zum Vorbild nimmt, ist pathologisch und unästhetisch . […] Entartung und Zersetzung sind charakteristisch für eine ins Grab steigende Gesellschaft […] man darf sich nicht darauf verlassen, daß die Arbeiter und Bauern alles schlucken, daß für sie alles gut genug ist, zumal doch die entartete ‚Kunst‘ von den ‚Autoritäten‘ der zerfallenden bürgerlichen Gesellschaft sanktioniert ist . Weit richtiger ist die Annahme, daß die Werktätigen der DDR vor keinen ‚Autoritäten‘ haltmachen und in sich selbst genug Kraft finden werden, um derart volksfeindliche ‚Kunst‘ aus dem Wege zu räumen .141

„Der Künstler sei dem Volk Diener und Führer zugleich“, formulierte Tjulpanow bei einem Kunstkongress im Herbst 1946 in Dresden, und folgerte: „Wenn die Sowjetunion Nichtskönner und untalentierte Menschen ausschaltet, so bedeutet das keine Einmischung in das Gebiet der Kunst, sondern den Schutz des wirklichen Künstlers .142 Die ersten „Allgemeinen Deutschen Kunstausstellungen“ in Dresden waren noch als gesamtdeutsche Veranstaltungen geplant gewesen . Vergleichbare repräsentative Großausstellungen hatte es in den westlichen Besatzungszonen bzw . in der frühen Bundesrepublik nicht gegeben – insofern war dies ein Prestigeerfolg für den Osten . Zu den prominenten Jurymitgliedern gehörte der Kunsthistoriker und Will Grohmann (KulMaik Weichert, Kunst und Verfassung in der DDR, Tübingen 2018, S . 26 . Ebenda S . 24 . Alexander L . Dymschitz, „Über die formalistische Richtung in der deutschen Malerei“, in: Tägliche Rundschau (Organ der SMAD) 24 .11 .1948 . Bereits im November 1947 hatte Dymschitz einen entsprechenden Vortrag in der Humboldt-Universität gehalten . 141 Pseudonym „N . Orlow“, „Wege und Irrwege der modernen Kunst“, in: Tägliche Rundschau 21 .1 .1951 . 142 Zitiert im ND 1 .11 .1946 . 138 139 140

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Kapitel II Feinde der Kunst versus „Feinde des Volkes“

turabteilung im Magistrat Dresden, Rektor der Staatlichen Hochschule für Werkkunst Dresden), der allerdings bald darauf aus politischen Gründen die Seiten wechselte, in den Westen zog und u . a . für die ersten drei documenta-Ausstellungen tätig werden sollte . Die Reden zur Eröffnung der ersten Allgemeinen Deutschen Kunstausstellung sendeten widersprüchliche Signale . Dymschitz forderte: „Schafft eine Kunst, die tief im Volke wurzelt, die das Volk begeistert und die es mit allen Völkern verbindet!“143 Hingegen wies der Bildhauer Herbert Volwahsen darauf hin, dass Kunstbetrachtung auch mit einer individuellen geistigen Anstrengung verbunden sei: „Hier wird dem Betrachter nichts leicht gemacht . Er wird nicht narkotisiert durch eine glatte, süßliche und parfümierte Pseudokunst . Hier muß er denken, prüfen und entscheiden . Er wird sich beteiligen müssen am geistigen Prozess der Zeit .“144 Dieser aktive, persönliche Zugang zur Kunst stand im Widerspruch zu Dymschitz’ Konzept leicht verständlicher Volkskunst . Politisch durchgesetzt wurde in den folgenden Jahren eine Kunst im naturalistischen Stil mit moralisierenden und pathetisch inszenierten Bildmotiven . Sie bildete im ersten Nachkriegsjahrzehnt den gemeinsamen Nenner von SED und Laienpublikum, fasst der Leipziger Kunstwissenschaftler Bernd Lindner zusammen: Durch ein eher biederes Realismusverständnis, das auch unter den Nazis den bestimmenden Kunsttenor in Deutschland bildete, und ferngehalten von den wesentlichen Strömungen der Moderne des 20 . Jahrhunderts, wurde der kleinbürgerliche Kunstgeschmack breiter Bevölkerungskreise zum entscheidenden Argument der Kulturpolitik gegen eine progressivere Entwicklung der bildenden Künste .145

Das Volk wurde als Kronzeuge gegen die künstlerische Vielfalt und Freiheit aufgerufen, und das angebliche Volksempfinden schien der Partei keine andere Wahl zu lassen als Säuberungen in der Kunstwelt durchzuführen . Hans Mansfeld, Direktor des Staatlichen Museums Schwerin, erörterte im Blick auf die III . Deutsche Kunstausstellung in Dresden: Noch immer befindet sich eine recht große Zahl formalistischer Werke in der Ausstellung, die sich glücklicherweise in der Nachbarschaft realistischer Kunstwerke selbst entlarven . Der Ablauf der Ausstellung hat zudem in hervorragendem Maße gezeigt, daß unsere werktätigen Menschen durchaus in der Lage sind, auch die versteckten formalistischen Züge einiger Bilder zu erkennen und sich kritisch mit ihnen auseinanderzusetzen .146

Katalog Allgemeine deutsche Kunstausstellung, Dresden 1946, S . 3 . Ebenda S . 2 . Bernd Lindner, Verstellter, offener Blick . Eine Rezeptionsgeschichte bildender Kunst im Osten Deutschlands 1945–95, Köln 1998, S . 296 . 146 Protokoll des Künstlerkongresses in Dresden-Loschwitz anlässlich der III . Deutschen Kunstausstellung am 29 ./30 . April 1953, in: Kunstwissenschaftlerverband e . V . (Hg .), Archivjahrbuch 4, Berlin 2002, S . 29 . 143 144 145

Moderne Kunst im Kreuzfeuer des Kalten Krieges

Die Kampagne gegen moderne Kunst hielt auch in den folgenden Jahren an . Der Stellvertretende DDR-Minister für Kultur, Alexander Abusch, erklärte 1958: „Fremd ist unserer neuen sozialistischen Kunst die Jagd nach abstrakten Sensationen der Form, der ideenlose Formalismus, wie er in der spätbürgerlichen Kunst der niedergehenden kapitalistischen Gesellschaft geübt wird und bei dem oft die Grenzen zwischen krankhafter Phantasterei und snobistischer Hochstapelei verschwimmen .“147

Abb. 6 Die Ostberliner Bildhauerin Ruthild Hahne bei der Arbeit an den Großskulpturen Arbeiter und Bäuerin in den frühen 1950er Jahren. Hahne war während ihres Studiums an der Hochschule der Bildenden Künste auch von Arno Breker im Fach Monumentalplastik unterrichtet worden.

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VBK (Hg .) Katalog IV . Deutsche Kunstausstellung, Dresden 1958, S . X .

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Kapitel III Die documenta: „Staatsaufgabe“ oder „Zirkus der Scharlatane“? Großausstellung mit politischem Bildungsauftrag im Systemwettstreit des Kalten Krieges

Die Allgemeine Deutsche Kunstausstellung in Dresden war der früheste Versuch, eine repräsentative gesamtdeutsche Kunstausstellung auf die Beine zu stellen . Eine vergleichbare Antwort konnten die westlichen Besatzungszonen bzw . die Bundesrepublik jahrelang nicht geben – bis zur ersten documenta . Vor der ersten documenta hatten bereits drei große Ausstellungen in Dresden stattgefunden . „Eine derartige Übersicht über die Kunst des 20 . Jahrhunderts hat es in Deutschland noch nicht gegeben . Sie ist aber dringend nötig, schrieben der documenta-Gründer Arnold Bode und seine Mitstreiter in einem frühen Konzeptpapier, „weil der Gedanke einer gemeinsamen europäischen Kunst im Zeichen der Europabewegung einende Kraft beweisen kann .“ Kassel sei wegen seiner geografischen Nähe zur DDR dafür prädestiniert, „den Europagedanken in der Kunst dreißig Kilometer von der Zonengrenze entfernt der Welt ins Bewußtsein zu rufen .“1 Laut Werner Haftmann hatte die documenta den Charakter einer „Staatsaufgabe im eigentlichen Sinne .“2 Während die international ausgerichtete documenta ab 1955 zur regelmäßigen repräsentativen „Leistungsschau“ der Gegenwartskunst in Westdeutschland wurde, fand ihr Gegenstück alle fünf Jahre in Dresden statt und beschränkte sich auf Deutschland bzw . später allein auf die DDR: Die Allgemeine Deutsche Kunstausstellung (ab 1972: Kunstausstellung der DDR) . Die Dresdner Ausstellungen hatten längere Laufzeiten als die documenta (ca . sechs statt

1 Arnold Bode u . a ., Plan einer Europäischen Kunstausstellung des 20 . Jahrhunderts 1955, o . D . documenta Archiv D 1 M 8 . 2 Harald Kimpel, „Standortbestimmung und Vergangenheitsbewältigung . Die documenta 1955 als „Staatsaufgabe“, in: Julia Friedrich u . a . (Hg .), „So fing man einfach an, ohne viele Worte .“ Ausstellungswesen und Sammlungspolitik in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, Berlin 2013, S . 26–35, hier S . 27 .

Die documenta: „Staatsaufgabe“ oder „Zirkus der Scharlatane“?

drei Monate) und zogen ebenfalls ein Massenpublikum an – in den 1980er Jahren jeweils über eine Million Besucher . Das politische Ziel einer Beeinflussung der Massen durch sozialistisch engagierte Kunst, bzw . der Verbreitung eines sozialistischen Kultur- und Kunstbegriffs standen dabei im Vordergrund . Die documenta und die Deutsche Kunstausstellung / Kunstausstellung der DDR hatten jeweils auf ihre Weise einen klaren Auftrag zur Indoktrination der eigenen Bevölkerung . Davon abgesehen konnten sie nicht als direkte Konkurrentinnen im Systemwettstreit antreten, weil weder das Westpublikum (bis auf wenige Fachleute) in großer Zahl nach Dresden reiste, noch das Ostpublikum nach Kassel gelangen konnte, vor allem nachdem die Grenze ab 1961 geschlossen worden war . Beiderseits des Eisernen Vorhangs ging es zunächst darum, das deutsche Publikum von der Nazi-Lesart der modernen Kunst abzubringen . Diese wirkte noch nach, wie die Ausstellungen in Augsburg oder Stuttgart 1945/46 gezeigt hatten . Die Rezeption der ersten Dresdner Allgemeinen Deutschen Kunstausstellung verlief nach ähnlichem Muster . 20 % der Besucher antworteten im Rahmen einer Studie auf die Frage, warum sie bestimmte Werke abgelehnten, „weil sie keine Kunst seien“, 15 %, „weil sie von Geisteskranken stammten“ und 8 %, „weil sie entartet seien .“3 Der Dresdner Maler Hans Grundig klagte im Herbst 1946: „Die heutige Jugend, auch die Kunststudenten, stehen völlig ratlos vor allem, was nicht plattester Naturalismus ist .“4 In Westdeutschland waren – wie erwähnt – ganz ähnliche Reaktionen und Einstellungen zu verzeichnen gewesen . Während die antimoderne Kunstauffassung im Osten durch die neue totalitäre Sowjetherrschaft sozialistisch überschrieben und letztlich verstärkt wurde, galt es im Westen, die Klassische Moderne und die neue Gegenwartskunst bei der Bevölkerung populärer zu machen . Bei den anti-modernistischen bzw . anti-documenta-Wortmeldungen vor allem der Jahre 1972 und 1977 sieht Lindner deutliche „Parallelen zur Rezeptionsgeschichte in der DDR .“5 Das documentaPublikum zeichnete sich gegenüber den Besuchern der Dresdner Kunstausstellungen durch einen deutlich höheren Fachbesucher- und Akademikeranteil aus .6 Die Dresdner Ausstellungen hatten einen größeren Arbeiteranteil unter den Besuchern zu verzeichnen und waren in diesem Sinne wohl breitenwirksamer als die documenta . In den Betrieben bzw . Arbeitskollektiven der DDR waren einzelne Kunstbegeisterte als Kulturbeauftragte damit beschäftigt, die Kollegen zur Auseinandersetzung mit Kunst zu animieren . In der Regel schlugen sie gemeinsame Ausstellungsbesuche vor oder waren in kreativen Zirkeln aktiv, wo diverse künstlerische Techniken erprobt wurden . 3 Auf der Basis von 84 ausgewerteten Besucher-Fragebögen, die im Auftrag der Ausstellungsleitung erstellt worden waren . Bernd Lindner, Verstellter, offener Blick . Eine Rezeptionsgeschichte bildender Kunst im Osten Deutschlands 1945–95, Köln 1998, S . 81 . 4 Bernhard Wächter (Hg .), Hans Grundig – Künstlerbriefe aus den Jahren 1926 bis 1957, Rudolstadt 1966, S . 108 . 5 Bernd Lindner, Verstellter, offener Blick . Eine Rezeptionsgeschichte bildender Kunst im Osten Deutschlands 1945–95, Köln 1998, S . 279 . 6 Ebenda S . 287 .

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Zu den Kulturbeauftragten und Zirkelleiter zählten keineswegs nur Akademiker und Künstler, sondern auch kunstbegeisterte Arbeiter, deren Enthusiasmus von den Kollegen mitunter belächelt wurde .7 Die ersten Ausstellungen in Dresden waren noch als gesamtdeutsche Veranstaltungen angelegt gewesen, wenngleich die ideologische und zahlenmäßige Dominanz des Sozialistischen Realismus immer stärker wurde und die Beteiligung westdeutscher Künstler an der II . und III . Ausstellung selektiver erfolgte und zunehmend propagandistisch motiviert war .8 Die Hauptjury der III . Ausstellung zählte unter den 27 Juroren immerhin noch zehn Westler, während 120 Künstler aus dem Westen zugelassen wurden .9 In Broschüren bemühte sich das Bonner Ministerium für Gesamtdeutsche Fragen, westdeutsche Künstler und potentielle Besucher der Dresdner Ausstellungen über die „Methoden der Kunstdiktatur“ aufzuklären, und darzustellen, „was sich unter der Herrschaft der deutschen Bolschewisten vollzogen hat und vollzieht: Ein Mißbrauch und ein Verfall der Kunst, weit über das hinausgehend, was bisher in europäischen Ländern gesehen wurde .“10 Während in Dresden kaum noch westdeutsche Künstler vertreten waren, fehlten ostdeutsche Künstler weitgehend auf der documenta – nur wenige Ausnahmen wie Gerhard Altenbourg (1959), Josef Hegenbarth (posthum 1964) oder Penck (1972) waren zu verzeichnen, auch der eigene Ausstellungsraum ostdeutscher Künstler bei der documenta 6 blieb eine einmalige Episode . documenta – langfristige Erfolgsfaktoren eines Ausstellungsformates

Die documenta wurde als Gegenmodell zur Ausstellung „Entartete Kunst“ und Alternative zu den sozialistischen Leistungsschauen organisiert . Ein umfassender Bildungsauftrag lag ihr von Anfang an zugrunde . Dieser war zugleich das Hauptunterscheidungsmerkmal zu anderen Großausstellungen wie der Biennale von Venedig oder den rein kommerziellen Kunstmessen . Die documenta schafft bis heute Öffentlichkeit für Künstler, mehr aber noch für Ideen und Themen . Sie wird in den Medien stark beachtet und erreicht ein großes Publikum . Vielen Fachleuten gilt sie als die wichtigste oder zumindest als eine der wichtigsten Gegenwartskunstausstellungen weltweit . Damit übernimmt die documenta in gewisser Hinsicht die Rolle, die die Pariser Sa-

Qualitative Interviews von Bernd Lindner mit Ausstellungsbesuchern in Dresden . Die in zweiten Etappen durchgeführten Gespräche mit Angehörigen unterschiedlicher Berufsgruppen fanden in den 1980er Jahren vor dem Hintergrund der X . Deutschen Kunstausstellung statt . Niederschrift der Gespräche SAdK VBK ZV 1477, S . 80 . 8 Eckhart Gillen, Kunstkombinat DDR . Zäsuren einer gescheiterten Kunstpolitik, Köln 2005, S . 32 . 9 Protokoll des Künstlerkongresses in Dresden-Loschwitz anlässlich der III . Deutschen Kunstausstellung am 29 ./30 . April 1953, in: Kunstwissenschaftlerverband e . V . (Hg .), Archivjahrbuch 4, Berlin 2002, S . 11 . 10 Ministerium für Gesamtdeutsche Fragen (Hg .), Polit-Kunst in der sowjetischen Besatzungszone, Bonn 1953, S . 7 . 7

documenta – langfristige Erfolgsfaktoren eines Ausstellungsformates

lonausstellungen im 19 . Jahrhundert innehatten . Die Rezeption der documenta durch Publikum und Medien darf als Seismograph für kunstfeindliche und antimoderne Ressentiments gelten . Die Kernaufgabe der documenta bestand von Beginn an in einer volkspädagogischen Mission . Einerseits wurde die Kunstbetrachtung als Umerziehungsmassnahme für die vormaligen Bewohner des „Dritten Reiches“ eingesetzt, andererseits zur Bekräftigung der Westbindung der Bundesrepublik . Heute spielt die documenta eine wichtige Rolle bei der gesellschaftlichen Durchsetzung eines postkolonialistischen und antirassistischen Diskurses, und hat sich zum Forum jener akademisch-identitätslinken Geistesströmung entwickelt, die im Kultur- und Universitätsbetrieb weithin dominiert . Zudem spielte bei der Idee der documenta auch der Gegensatz zwischen einem ambitionierten Weltkunst-Projekt und dem provinziellen Umfeld eine wichtige Rolle: Die Gegenwartskunst kann am besten glänzen, wenn sie sich nicht gegen große historische Kunst und Architektur, gegen die Aura einer Metropole behaupten muss . Kassel hingegen gilt weithin als ästhetischer Nichtort: „One of the ugliest cities west of Sibiria“, urteilte der amerikanische Kunstkritiker Benjamin H . D . Buchloh anlässlich der siebten documenta: „The blandness of the architecture is only exceeded by the blandness of the inhabitants .“11 Die Kasseler Architektur versinnbildlicht eine schäbig alternde Moderne, sie steht für die unmenschliche Planung einer autogerechten Stadt und bildet eine ideale Kulisse für ein provinzielles Prekariat . Doch Kassels „Hässlichkeit“ ist mittlerweile ein wertvolles Kapital . Gegenwartskünstler und -kuratoren lieben heruntergekommene Gebäude und Stadtviertel, sie mögen es, „Projekte“ in sozialen Brennpunkten zu initiieren und die Bewohner mit „partizipativen“ Kunstvermittlungsprogrammen zu beschulen . Außerdem brauchen sie, um sich in die heroische Tradition der Avantgarden stellen zu können, den Widerstand des „Spießers“, des Kleingeistigen und Banausenhaften . Sukzessive etablierte sich die documenta als eine der wichtigsten Kunstausstellungen der Welt . Internationale Experten wie Glenn D . Lowry, Direktor des New Yorker MoMA, oder Christine Macel, Kuratorin am Pariser Centre Pompidou, bestätigen dies: „Die documenta hat sich in den letzten 60 Jahren als die anspruchsvollste Ausstellung internationaler Kunst durchgesetzt .“12 „Die Attraktion“, so die Schweizer Kuratorin Bice Curiger, „liegt in der Tatsache, dass hier ein Massenpublikum angesprochen wird, ohne dass dafür populistische Zugeständnisse gemacht werden müssen .“13 Der globale Vorbildcharakter der Kasseler Ausstellung ist unbestritten . Beispielsweise verwies der chinesische Künstler Lu Lie auf die Inspiration seines Long March Projects (1999–2002) durch die 10 . documenta, es handelte sich um ein interdisziplinäres Kunstprojekt, das die Geschichte des Langen Marsches reflektierte .14 Hoor Al-Quasimi, Tochter des Emirs von 11 12 13 14

october 22/1982, S . 114 . Art 6/2012, S . 71 . Ebenda S . 70 . Vortrag beim Symposium documenta 1997–2017: erweiterte Denkkollektive, Kassel 17 ./18 .7 .2015 .

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Abb. 7 Anlässlich der Verabschiedung des langjährigen Geschäftsführers der documenta GmbH trafen sich 2015 vier documenta-Kuratoren in Kassel. V. l. n. r.: Okwui Enwezor (d 11), Rogel Buergel (d 12), Carolyn Christov-Bakargiev (d 13), Adam Szymczyk und Jubilar Bernd Leifeld.

Sharjah, besuchte als Kunststudentin die documenta 11 . Sie war so begeistert, dass sich sich eine ähnliche Veranstaltung in ihrer Heimat wünschte . Daraus wurde ab 2003 die Sharjah-Biennale, die sie heute leitet .15 „Die documenta hat ihre Führungsrolle, trotz ungezählter internationaler Biennalen und Triennalen, immer behaupten können,“ erklärte Annette Kulenkampff, zwischen 2014 und 2018 Geschäftsführerin der documenta GmbH, vor ihrem Amtsantritt: „Wichtig ist, dass die documenta auch zukünftig unabhängig vom Markt agiert und der jeweiligen künstlerischen Leitung alle erdenklichen Freiheiten zur Umsetzung ihres Konzeptes gewährt .“16 Politikferne, Freiheit und Flexibilität waren bisher entscheidend für die Langlebigkeit der documenta . Personal- und Chefkuratorenposten werden jedesmal neu besetzt .17 Wie ein lernfähiger Organismus wandelte sich das Ausstellungsformat „documenta“ im Laufe der Zeiten, oftmals reagierte eine documenta auf ihre Vorgängerveranstaltung, korrigierte ihre Gerhard Hauptmann u . a ., „Kunst und Publikum – ein heikles Verhältnis“, in: Ronald Grätz (Hg .), Zwischenräume . Was können die Künste in Konfliktsituationen leisten? Göttingen, 2012, S . 85–91 . 16 Annette Kulenkampff per Mail an den Autor 11 .11 .2013 . 17 Eine Kommission hält Ausschau nach geeigneten Kandidaten . Sie besteht aus internationalen Experten, die einen guten Überblick über das weltweite Kunstgeschehen haben und in der Lage sind, kompetente Kuratoren zu finden . Der Aufsichtsrat und der Geschäftsführung der documenta GmbH bestätigen in der Regel den Wunschkandidaten der Findungskommission . 15

Die provozierende Macht des Kurators – documenta-Leiter als Reizfiguren

Übertreibungen oder ergänzte sie . Okwui Enwezor, Leiter der 11 . documenta, unterschied im Rückblick drei historische Phasen: Die erste währte von 1955 bis 1968 und war der Vergangenheitsbewältigung gewidmet; die Phase zwischen 1972 und 1992 war vom erwachenden Selbstbewußtsein der Kuratoren geprägt, und seit 1997 findet eine Intellektualisierung und Deterritorialisierung statt, die noch nicht abgeschlossen ist .18 Letztere Tendenz stellt mittlerweile eine gewisse Gefahr dar, wie 2015 der damalige hessische Minister für Wissenschaft und Kultur feststellte . Es könne zu einem schleichenden und nachhaltigen Bedeutungsverlust der documenta kommen, „wenn man die Idee der documenta und die damit verbundene Arbeit nicht auch am Ort der documenta verstetigt .“19 Die provozierende Macht des Kurators – documenta-Leiter als Reizfiguren

Mit Harald Szeemanns documenta 5 etablierte sich 1972 das zukunftsweisende Format der „Thesenausstellung“: Kuratoren wählen Kunstwerke aus, um eine bestimmte Ideologie zu untermauern, um eine zeitdiagnostische These aufzustellen . Szeemann etablierte den Typus des freien Kurators, der aufgrund seiner Persönlichkeit, Bildung und seinem ästhetischen Gespür die Kunstwerke in einer Art auswählt, die nicht hinterfragbar ist: „Für mich ist es weitgehend eine spontane Entscheidung, aufgrund einer Intensität, die ich in den Werken spüre . Und da wir heute die Künstler meistens alle selber kennen, ist die Begegnung meist noch eine Bestätigung meines Empfindens“, beschrieb Szeemann seine Auswahlkriterien .20 In der Regel gibt es keine öffentlichen Ausschreibungen, vielmehr werden documenta- oder Biennalekünstler nach Headhunter-Art aktiv und exklusiv ausgewählt und zur Teilnahme aufgefordert . Dieses bis heute wirksame Prinzip etablierte sich gerade zu einem Zeitpunkt, als der „erweiterte Kunstbegriff “ und partizipative Kunstkonzepte wie bspw . Josef Beuys’ „Soziale Plastik“ auf eine Ausdehnung und Demokratisierung des Kunstbetriebs hindeuteten . Es sind gegenläufige Entwicklungen gewesen, die die Gegenwartskunst bis heute prägen: Einerseits gesteigerte Teilhabebedürfnisse aufsteigender sozialer Milieus in der Nachkriegszeit und damit verbunden eine gesellschaftliche Öffnung des Kunstbetriebs . Andererseits eine Professionalisierung des Ausstellungswesens mit neuen Hierarchien, Netzwerken und Ausschlußmechanismen . Ein Paradox von gleichzeitiger Öffnung und Abriegelung . Doch die gesellschaftliche Öffnung des Kunstbetriebs war eine Täuschung . Die kulturelle Revolution der 1960er und 1970er Jahre, die die engen Fesseln Vortrag beim Symposium documenta 1997–2017: erweiterte Denkkollektive, Kassel 17 ./18 .7 .2015 . Debatte im Hessischen Landtag am 24 .6 .2015, nachgedruckt in: Birgit Jooss u . a . (Hg .), Bauhaus/documenta . Vision und Marke, Leipzig 2018, S . 263 . 20 Zitiert nach Alfred Nemeczek, documenta, Hamburg 2002, S . 44 . 18 19

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der Kunstwelt sprengen wollte, und die sich Offenheit, Demokratie einschließlich der Parole, jeder könne ein Künstler sein, auf die Fahnen geschrieben hatte, wirke heute unendlich weit entfernt, beklagt der italienische Kunstwissenschaftler Diego Mantoan, vielmehr lägen „die Denk- und Handlungsweisen in der heutigen Kunstwelt jenen des Aktienmarktes näher .“21 Der kurze Frühling einer Demokratisierung der Kunst sei schon von der Marktdominanz und Fixierung auf die Finanzwirtschaft der 1980er beendet worden . Und so haben sich alte und neue Kunstmarktplayer und Professionals erneut in exklusiven Zirkeln und Netzwerken organisiert . Das Partizipationsversprechen an Publikum und Künstler wurde hingegen zum Dogma, zur Monstranz eines Gegenwartskunstbetriebs, den man als strukturell verlogen bezeichnen kann, wobei der freie Kurator als hochvolatiler Player besonders schwer zu greifen ist . Die Berufsbezeichnung ist nicht geschützt – ob mit Hochschuldiplom oder ohne – jeder darf sich Kurator nennen . Entscheidend für seinen Erfolg ist der Vernetzungsgrad, sind die persönlichen Kontakte . Erfolgreiche Kuratoren bewegen sich in einem selbstgeschaffenen und selbstreferentiellen Netzwerk, ohne sich je auf eine verantwortliche Position festlegen zu müssen . Sie können ihre Rolle nach Belieben wechseln . Der international tätige Kurator Tirdad Zolghadr sieht sein Berufsbild selbstkritisch als der Figur des „Tricksters“ vergleichbar: „Man ist weder Akademiker noch Künstler, man sitzt irgendwo zwischendrin und zieht seine Vorteile aus dieser Offenheit und Flexibilität . Man beruft sich auf diese Zwischenstellung aber auch, wenn man Verantwortung aus dem Wege gehen will . Oder wenn man das Opfer spielen will, sich von der Macht einer Institution distanzieren will .“22 Andererseits hat die flexible Freiberuflichkeit auch negative Folgen: Wer Kurator, Künstler oder Wissenschaftler ist, muß sich heute permanent bei Geldgebern aus Politik und Wirtschaft neu bewerben . Materiell bedeutet das einen geringeren Grad an Autonomie bei gleichzeitiger Aufforderung, Unabhängigkeit zu demonstrieren, indem Konvention gebrochen (Kunst) oder darüber hinausgedacht wird .23

Letztlich haben sich mit dem „Erfolgsmodell Kurator“ marktwirtschaftliche Muster (Drittmittel- und Sponsorenakquise, Werben um Kunden, Suche nach einer möglichst breiten Zielgruppe) auf die Kunst (und zudem auf die Kunstwissenschaft) übertragen, die eigentlich vor kommerziellen Nachfrage-Angebot-Verhältnissen geschützt werden sollte, um unabhängig zu bleiben . Besonders in den politisierten 1970er Jahren stieß das neue Role Model des Chefkurators auf Widerstand . documenta-Kuratoren wurden seitdem nicht müde zu betonen, dass sie die „gleichberechtigte“ Mitarbeit der Künstler wünschten und auch bislang kunstferne Milieus mit ihren AusstellunDiego Mantoan, Autoritär, elitär & unzugänglich . Kunst, Macht und Markt in der Gegenwart . Reihe Relationen – Essays zur Gegenwart Band 8, Berlin 2018, S . 13 . 22 Monopol 1/2018, S . 52 . 23 Thomas Thiel in der FAZ 27 .2 .2019 . 21

Die provozierende Macht des Kurators – documenta-Leiter als Reizfiguren

gen anzusprechen gedenken . documenta-Kuratoren wurden von mehreren Seiten aus kritisiert . Da waren einerseits Akteure des Kunsthandels, und zwar diejenigen, die keinen persönlichen Zugang zum jeweiligen Chefkurator hatten . Zum anderen gab es documenta-Künstler, die sich gegängelt und schlecht repräsentiert fühlen (einige wenige von ihnen zogen sich von der documenta zurück), vor allem aber verärgerte nichtausgewählte Künstler, die sehr gerne dabei gewesen wären . Vielen Künstlern erschien die neue Macht der Großkuratoren als Unterdrückung der künstlerischen Vielfalt, letztlich als ungerechte und ungerechtfertigte Autorität, wenngleich nur wenige so weit gingen wie der Wiener Künstler Ernst Fuchs . Fuchs, der sich als Freund von Dalí und Arno Breker eigentlich in einem traditionalistischen, rechten Diskursfeld verortete, sagte 1977 bei einer Podiumsdiskussion in München über die documenta-Leitung: „Hier ist eine Reichskunstkammer am Werk, die die Entwicklung des kreatürlich Normalen ausschließt .“24 Welche Möglichkeiten hatten Künstler, den Ausschlussmechanismen der Kuratoren zu entgehen? Neben verbalem Protest in der Öffentlichkeit, neben Projekten einer Gegen- oder Anti-documenta sahen viele in der Selbstbewerbung eine Möglichkeit . Bei jeder documenta schrieben Hunderte, später Tausende die Kuratoren an und bewarben sich unaufgefordert . Im documenta-Archiv lagern Tausende dieser erfolglosen Künstlerbewerbungen .25 Nur eine Handvoll von ihnen hatte damit Erfolg . Der Anspruch, den Kunstmarkt auf Distanz zu halten, ist für eine Ausstellung absolut notwendig, die intellektuell wirken und sich von den Kunstmessen unterscheiden will . Bei den ersten documenta-Ausstellungen wurden Werke direkt aus der Ausstellung heraus verkauft,26 und in den Leitungsgremien der dritten und vierten documenta saß mit Heinrich Stünke ein wichtiger Kunsthändler – heute undenkbare Konstellationen, zumindest in dieser entlarvenden Offenheit . Die Trennung von intellektuell-politischer Kunst und gängiger Kunstmarktware war dem linken Zeitgeist der 1968er geschuldet und wird bis heute propagiert . Seit der vierten documenta hat die Leitung der documenta offiziell stets versucht, Sammler und Händler möglichst aus dem Geschehen herauszuhalten und keine Verkäufe direkt aus der Ausstellung zu ermöglichen, um die Distanz zum Marktgeschehen zu wahren . Doch die Trennung zwischen kommerzieller „Marktkunst“ und intellektueller „Diskurskunst“

Zitiert in: Rheinische Post 22 .11 .1977 . So bewarben sich 1972 mindestens 276 Künstler unaufgefordert und erfolglos um eine documenta-Teilnahme bewarben, waren es zur documenta 7 schon 869, zur documenta 8 1445 . Zur documenta 9 lagen ca . 1500 schriftliche Bewerbungen vor . Für die d10 sind 2 .540 Bewerbungen archiviert worden, für elfte documenta 1 .170 Bewerbungen . Zur documenta 12 haben sich mindestens 950 Künstler beworben, zur documenta 13 ergibt eine Schätzung ca . 250 schriftliche Bewerbungen (die Online-Bewerbungen sind hier nicht berücksichtigt) . Schätzungen von Saskia Mattern, documenta-Archiv, per Mail an den Autor 6 .9 .2019 . Vgl . a .: https://www .faz .net/aktuell/feuilleton/hoch-schule/ohne-allen-apparat-aus-dem-documenta-archiv-16 308730 .html (1 .8 .2019) . 26 Der Bilderverkauf bei der zweiten documenta sei bislang „zufriedenstellend“ verlaufen, berichteten die Hessischen Nachrichten am 29 .7 .1959 . 15 % des Preises gingen an die documenta . 24 25

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hatte immer etwas sehr Idealistisches und war in der Realität nicht aufrechtzuerhalten, wie die Geschichte der folgenden documenta-Ausstellungen zeigte . Die Kunsthändler und Sammler sind sehr wohl weiter mit von der Partie gewesen, nur nicht sichtbar an der Oberfläche . Verkäufe wurden und werden nun nach Ablauf der Ausstellung mit einer Art Anstandsfrist getätigt . Und trotz der von den Kuratoren stets proklamierten Marktferne der Schau wirkte sich eine documenta-Teilnahme für die meisten Künstler finanziell positiv aus . Seit ihren Anfängen diente die documenta als Beschleunigerin kommerzieller Trends . Ob Minimal Art, Arte Povera, Fluxus, Konzeptkunst, Performance, Videokunst  – was in Kassel noch im Rahmen intellektueller Konzepte und Diskurse gezeigt wurde, war bald darauf in den Messekojen zu haben und wurde zum Markttrend . So griffen für viele Künstler der Markterfolg und die intellektuelle Wertschätzung ineinander . Die documenta-Teilnahme war de facto ein preissteigerndes, intellektuell beglaubigtes Qualitätssiegel . Blickt man auf die Teilnehmerlisten der documenta, findet man Hunderte von Künstlern, die einmal dabei waren, und eine stattliche Zahl von Künstlern, die an zwei oder drei documenta-Ausstellungen beteiligt waren – Künstler, die vielleicht ein Jahrzehnt lang en vogue waren, im Handel oder Ausstellungsbetrieb dominierten, bis ihr Stern wieder verblasste . Wer aber hatte einen längeren Atem, wer schaffte es über Jahrzehnte hinweg auf die Künstlerlisten der documenta? Die Rangliste der am häufigsten bei der documenta vertretenen Künstler zeigt, dass die documenta lange Zeit eine überwiegend transatlantische Veranstaltung mit den beiden „Kunst-Supermächten“ USA und Deutschland war . Die deutschen Stars Gerhard Richter, Josef Beuys und Hans Haacke führen die Liste mit acht, sieben und fünf Teilnahmen an . Auch Jahrhundertkünstler Picasso war fünfmal dabei, ebenso die amerikanischen Künstlern Richard Artschwager, Bruce Nauman, James Lee Byars, Dan Graham und Joan Jonas . Hinter der Spitze findet sich ein ganze Reihe von Künstlern, die jeweils viermal an einer documenta teilnahmen . Auch in diesem Mittelfeld bestätigt sich statistisch die amerikanische und deutsche Dominanz . Die ersten drei documenta-Ausstellungen

Die erste documenta27 präsentierte eine moderne Kunst, die nach Jahren der Verfolgung und Missachtung in Deutschland nun wieder frei war . 1955 sollte die Vergabe einer Bundesgartenschau an Kassel den Wiederaufbau in Nordhessen beschleunigen . 27 Träger: Stadt Kassel, Veranstalter: Abendländische Kunst des XX . Jahrhunderts e . V ., Sekretariat: Herbert Freiherr von Buttlar, Arbeitsausschuss: Arnold Bode, Werner Haftmann, Alfred Hentzen, Kurt Martin, Hans Mettel . Bode hatte den Begriff documenta statt „Dokument“ bzw . „Dokumentation“ gewählt, er schrieb das Wort mit c und klein, was ein modernes und leichtes Flair mitbrachte, und sowohl Intellektualität als auch den Anschluß an die zeitgenössische Werbegrafik (und damit die Konsumwelt) demonstrierte, hiess damals doch beispielsweise eine Baumesse „constructa“, ein Unternehmen „Korrecta“ oder eine Dekorserie von Bodes Göppinger plastics „abstracta“ . Dauer: 16 .7 . bis 18 .9 .1955 . 148 Künstler . 130 .000 Besucher .

Die ersten drei documenta-Ausstellungen

Als der Kasseler Designer und Kunstprofessor Arnold Bode von der Möglichkeit erfuhr, die Gartenschau durch eine begleitende Kunstausstellung zu veredeln, wurde er aktiv . Schon als Student und junger Maler hatte er in den 1920er-Jahren an Ausstellungen moderner Kunst in Kassel mitgewirkt . Sein neues Vorhaben, dem deutschen Publikum einen Überblick über die Kunst des 20 . Jahrhunderts zu ermöglichen, schloss auch Werke ein, die die Nationalsozialisten als „entartet“ verfemt hatten . Etwa die Hälfte der auf der ersten documenta gezeigten 670 Werke war vor 1945 entstanden . Bode hatte mit Werner Haftmann und Alfred Hentzen zwei Kunsthistoriker an seiner Seite, die schon in der Weimarer Republik und im „Dritten Reich“ tätig gewesen waren . Die Unterbrechung der künstlerischen Entwicklungsgeschichte der Moderne durch das „Dritte Reich“ sollte durch die erste documenta überbrückt, das deutsche Publikum wieder an die moderne Kunst gewöhnt werden, wobei der Rückgriff auf die Vorkriegsmoderne die Akzeptanz für die Gegenwartskunst erleichtern sollte . Die Malerei bildete das Rückgrat der Ausstellung . Skulpturen, Architekturzeichnungen sowie Theater- und Filmaufführungen ergänzten das Programm . Bode erhielt dafür Gelder von der Stadt Kassel, vom Bund (je 50 .000 Mark) und vom Land Hessen (100 .000 Mark) . Haftmann war während der ersten drei documenta-Ausstellungen der Cheftheoretiker an Bodes Seite gewesen . Sein 1954 erschienenes Buch Malerei im 20. Jahrhundert wurde bis zum Jahr 2000 neunmal aufgelegt . Diese Publikation veranlasste vermutlich Arnold Bode, Haftmann die künstlerische und wissenschaftliche Leitung der documenta 1955 und der zwei folgenden Ausstellungen 1959 und 1964 anzutragen, vermutete der Kunsthistoriker Eckhart Gillen und stellte fest, dass „es Haftmann mit seinem ‚harmonikalen‘ Kunstkonzept gelungen ist, eine elegante Brücke zu schlagen über den Zivilisationsbruch der NS-Zeit und gleichzeitig die Weltsprache Abstraktion zum Idiom der freien westlichen Welt zu erklären .“28 Auf diese Weise konnte er sowohl die Kontinuität einer deutschen Moderne postulieren, als auch – ganz in Übereinstimmung mit der Auswärtigen Kulturpolitik der USA – moderne Kunst als Ausdruck einer individuellen und unpolitischen Kreativität propagieren . Mit Bodes und Haftmanns Bekenntnis zur abstrakten Kunst wurde ein deutliches kulturpolitisches Signal gen Osten gesendet, wo sich inzwischen das Dogma des Sozialistischen Realismus verfestigt hatte – jener figürlich-naturalistischen Propagandakunst im Stil des Stalinismus . Laut Gillen hat Haftmann „die Tiefendimension der Aktion ‚Entartete Kunst‘ als Höhepunkt einer noch vor den Ersten Weltkrieg zurückreichenden Entwicklung nicht erkennen können oder wollen . Er verkürzte das Phänomen der Ablehnung der moder-

Etat: 379 .000 DM . Die Eckdaten zu den einzelnen documenta-Ausstellungen sind der Website der documenta GmbH entnommen: https://www .documenta .de/de/retrospective/ (8 .11 .2019) . 28 Eckhart Gillen „Werner Haftmanns Konzept einer ‚harmonikalen‘ Kunst auf der documenta 1955 als Versöhnung mit der NS-Vergangenheit und Idiom einer freien Welt .“ Vortrag Symposium documenta . Geschichte/Kunst/Politik . DHM Berlin 15 .10 .2019 .

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nen Kunst auf einen Betriebsunfall, den man schnell wieder vergessen sollte .“29 So beschreibt Haftmann in der Einleitung des ersten documenta-Katalogs die Nazi-Kampagne „Entartete Kunst“ als einen „sehr seltsam anmutenden Anfall von Bilderstürmerei“ . Diesen hätten die Künstler dank ihrer Widerständigkeit besser überstanden als die Gesellschaft . Das Hauptopfer der Kampagne sei die Kulturnation Deutschland gewesen: „Der Schaden wurde vielmehr der Nation angetan, ihrem Bewußtsein von zeitgenössischer Kultur, ihrem passiven Kunstwollen .“30 Er wünschte sich, dass die documenta „für die geistige Wohlfahrt der Nation von hohem Belang“ sein würde .31 Ohne Zweifel: Sein Wunsch hat sich erfüllt . Ihren Erfolg hatte die erste documenta aber auch Bodes Inszenierungen zu verdanken, er machte die Kunstbetrachtung zum emotionalen Erlebnis . Schließlich war Bode auch Künstler und Designer gewesen, er hatte das Gespür für eine Raumgestaltung, die den Zeitgeschmack traf . Das im Krieg stark beschädigte Fridericianum spielte dabei eine Hauptrolle . Ruinen und Ruinenlandschaften waren in der unmittelbaren Nachkriegszeit ein beliebtes Motiv für Malerei und Fotografie geworden, einschließlich der Modefotografie: Die Modelle posierten in dramatischen Trümmerlandschaften . Nach dem gleichen Muster präsentierte Bode die Kunstwerke vor den unverputzten, schlicht geweißten Backsteinwänden des Museums und konnte auf diese Weise den ästhetischen Eigenwert der Werke hervorheben . Milchige Kunststofffolien vor den Fenstern filterten das Tageslicht, Scheinwerfer im Boden beleuchteten die Arbeiten theatralisch . Wenn ein Lufthauch die Plastikvorhänge bewegte, knisterten sie über den kahlen Steinböden – ein gespenstischer Effekt . Ein Besucher beschrieb das Geräusch, es erinnere ihn an das Krabbeln und Summen von Insekten . Bode traf mit seinen Gestaltungstricks das Lebensgefühl der 1950er – mit einer scheinbar nüchtern-unpathetischen, tatsächlich aber höchst theatralischen Präsentationsform . Bei der Schau waren insgesamt 670 Exponate von 148 Künstlern präsentiert worden . Die meisten Künstler stammten aus Deutschland (58) und aus Frankreich (42), danach folgte Italien (28) . „Triumph der Moderne“ oder „Genius der Kunst“: Mit euphorischen Schlagzeilen wartete die westdeutsche Presse auf . Die zustimmende Kritik und der gute Besucherzuspruch – waren doch statt der erwarteten 50 .000 Gäste 130 .000 eigens zur Kunstausstellung gekommen – überraschten die Veranstalter . Zu den Besuchern zählten auch der Bundespräsident, zahlreiche Mitglieder des diplomatischen Korps, Künstler, Musiker und Schriftsteller, viele Studenten und sogar einige geschlossene Belegschaften von regionalen Fabriken und Baufirmen, die auf Kosten kunstbegeisterter Chefs die Schau unter fachkundiger Anleitung besuchten – eine Sitte, die stark an die Praxis des Ostblocks erinnerte, Kollektive und Pioniergruppen in propagandistisch „wertvolle“ Ausstellungen zu schicken . Auch eine nennenswerte Zahl von ostdeutschen Besuchern, darunter ganze Schulklassen, reisten zur 29 Ebenda . 30 Katalog documenta, Kassel 1955, S . 16 f . 31 Ebenda S . 18 .

Die ersten drei documenta-Ausstellungen

documenta an, die Ausstellung „wirkte auch nach drüben“, resümierte die Geschäftsführung der Kasseler Jugendherberge .32 Der US-Botschafter James B . Conant ließ es sich nicht nehmen, mit einem Sonderzug anzureisen – schließlich war im Kalten Krieg auch die documenta Teil der Propagandaschlacht zwischen West und Ost . In Begleitung seiner Frau, einer Kunsthistorikerin, besichtigte er in drei Stunden die komplette Ausstellung .33 Rührend bescheiden waren damals noch die Sicherheitsmaßnahmen beim Besuch des Botschafters . Sein Gefolge bestand aus gerade mal sieben Personen . Die Stadt Kassel wurde gebeten, drei Mercedes 180 zu stellen . Straßensperrungen seien nicht notwendig, „es würde genügen, wenn für die Dauer des Aufenthaltes von der Kasseler Polizei zwei Kriminalbeamte zur Verfügung gestellt würden“, hieß es in einem Vermerk aus dem Bürgermeisterbüro .34 In zwei kontroversen öffentlichen Streitgesprächen wurde die documenta unter dem Motto „Ist moderne Kunst zu verstehen?“ im Kasseler Haus der Jugend nachbereitet . Der Werkakademieprofessor Ernst Röttger trat an gegen den Vorsitzenden des Jugendrings, Werner Baumann, der „die moderne Kunst als eine Modeerscheinung und die Begeisterung ihrer Anhänger zum größten Prozentsatz als Heuchelei“ attackierte . Viele hundert Besucher hätten die documenta überhaupt nicht verstanden . Die documenta habe ihre eigentliche Aufgabe, die Ordnung im Chaos zu zeigen, nicht erfüllt . Abschließend bot Werner Baumann die polemische Wette an, mit einem selbstgemalten modernen Bild die Urteilsfähigkeit seines Diskussionspartners zu widerlegen  – ganz nach dem Motto „Das kann ich auch!“ Die Haltung des Jugendfunktionärs traf offenbar auf starken Widerstand bei den anwesenden Jugendlichen selbst, die Lokalzeitung registrierte den Widerspruch „erfreulich temperamentvoller Jugendlicher und besonnener und kundiger Erwachsener“, und staunte im Blick auf den Jugendringvorsitzenden, „dass ausgerechnet in der Stadt Kassel, die durch die vielbewunderte Leistung der documenta wohl zum ersten Male in ein europäisches Blickfeld gerückt wurde, sich ein so nachteiliges, negatives Echo an die Öffentlichkeit wagt“ .35 Auch bei der zweiten Diskussion war das Haus der Jugend bis auf den letzten Platz gefüllt . Vielen jugendlichen Teilnehmern war gemeinsam: „Das ehrliche Interesse für die moderne Kunst . Einer meinte, man wolle Propaganda machen für die moderne Kunst .“36 Ab der zweiten documenta37 lag der Schwerpunkt eindeutig auf zeitgenössischer Kunst . Es schien geradezu der pädagogische Anspruch dieser Ausstellung zu sein, allein die abstrakte Kunst als „gut“ und „modern“ zu propagieren . Diese Lesart der Hessische Allgemeine 4 .11 .1955 . HA 10 .9 .1955 . Stadtarchiv Kassel 1 .10 . Nr . 194, Vermerk Bürgermeisterbüro 24 .8 .1955 . HA 17 .11 .1955 . HA 14 .12 .1955 . Geschäftsführer: Herbert Redl, Robert Völker, Sekretariat: Rudolf Zwirner, Ausschuss Malerei und Skulptur: Arnold Bode, Herbert Freiherr von Buttlar, Ernest Goldschmidt, Will Grohmann, Werner Haftmann, Ernst Holzinger, Kurt Martin, Werner Schmalenbach, Eduard Trier, Heinrich Stünke . Für die ame-

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Kapitel III Die documenta: „Staatsaufgabe“ oder „Zirkus der Scharlatane“?

Kunstgeschichte ging maßgeblich auf Haftmann zurück . Zur Eröffnung der zweiten documenta reisten zahlreiche Journalisten, Diplomaten, Künstler und Politiker nach Kassel . Das Eröffnungsfest fand sorgfältig inszeniert vor den Ruinen der historischen Orangerie in der Karlsaue statt . Einige Teilnehmer wie der Kunsthistoriker Carl-Georg Heise schwärmten noch jahrelang von diesem Fest: Auf dem breiten Promenadenweg am Rand der großen Rasenfläche, die die bizarren Silhouetten weiterer Bildwerke von Calder, Lardara u . a . lebendig zur Wirkung bringt, ergeht sich ein internationales Publikum, seltsam gemischt aus Künstlern, Sammlern, Händlern, Kunstbeamten und Rezensenten, die das Gras wachsen hören . […] Neben schlichten Bohèmegewändern die elegantesten Modelle aus Paris und New York .38

Die documenta war auf dem Weg, ein eigenständiges kulturelles Spitzenereignis zu werden . Die Malerei stand erneut im Zentrum, und zahlenmäßig gaben die deutschen und französischen Künstler den Ton an . Erstmals kam es zu politischen Störgeräuschen, die durch den Auftritt amerikanischer Künstler ausgelöst wurden . Haftmann und Bode hatten 1958 übereilt auf die enormen Wellen der abstrakten Expressionisten reagiert, die sie mit ihren Ausstellungen in New York und in Europa geschlagen hatten . Die beiden Kuratoren wollten den neuen Trend keineswegs verpassen, hatten aber keine ausreichende Fachkenntnis . Das erklärt die weitgehende Passivität der deutschen documenta-Leitung, die den Amerikanern in Kassel freie Hand ließ .39 Die hohen Räume des Fridericianums waren ursprünglich für französische Kunst vorgesehen gewesen, nun wurden sie jedoch für die Großformate amerikanischer Maler genutzt . Die Franzosen mussten auf das niedrigere Dachgeschoss ausweichen . Ein sinnbildliches Ereignis: New York machte nun auch auf der documenta deutlich, dass es das Erbe von Paris als Kunstmetropole übergenommen hatte . Französische Künstler wie Jean Fautrier und Besucher wie der Galerist René Drouin warfen Bode und Haftmann vor, sie würden sich den Amerikanern anbiedern: „Ich verstehe diese Leute nicht“, sagte Drouin damals, „oder ist es etwa so, dass sich die Leute vom documenta-Rat nicht gegen die Pressionen des amerikanischen Kunsthandels durchsetzen konnten? Ich werde nie wieder eine documenta besuchen .“40 Auch die französische Presse reagierte verschnupft: „Die französische Auswahl spiegelt keineswegs die ganze Lebendigkeit und Originalität unseres Kunstlebens wieder“ und vermutet dahinter die Unkenntnis der deutschen Kuratoren  – oder gar böse Absicht .41 Auch die Präsentation in zu engen

rikanischen Künstler: Porter A . McCray, New York . Die Ausstellung fand vom 11 . Juli bis 11 . Oktober 1959 statt . 339 Künstler . Besucher 134 .000 . Etat 991 .000 DM . 38 Zitiert nach Dieter Westecker, Documenta-Dokumente 1955–68, Kassel 1972, S . 73 . 39 Sigrid Ruby, American Art – Präsentation und Rezeption amerikanischer Malerei in Westeuropa in der Nachkriegszeit, Weimar 1999, S . 220 . 40 Zitiert in: K . O . Götz, Erinnerungen und Werk, Bd . 1, Düsseldorf 1983, S . 832 f . 41 Carrefour (Paris) 19 .8 .1959 .

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Räumen wurde bemängelt .42 Der starke Auftritt amerikanischer Malerei in Kassel ging auf eine globale kulturpolitische Offensive zurück, die der 1950 in Westberlin gegründete und mit Geldern der CIA finanzierte „Congress for Cultural Freedom“ (CCF) koordinierte . In mehreren Dutzend Ländern unterstützte der CCF Kunstprojekte, Ausstellungen, Zeitschriften und Symposien, um einem kommunistisch geprägten „parteiischen“ Kunstbegriff entgegen zu wirken . Stattdessen wurde ein unpolitischer Künstlerindividualismus propagiert . Der Abstrakte Expressionismus mit seinem dynamischen „Action Painting“ und den Riesenformaten schien geeignet, es mit der sozialistischen Monumentalmalerei und dem linkskonnotierten Muralismo aufnehmen zu können – ein Wettrüsten der Großformate . Der Biennale- und documenta-Teilnehmer Jackson Pollock wurde zur Zentralfigur dieser Kampagne aufgebaut, und wichtige US-Kulturinstitutionen wie das Museum of Modern Art wurden dafür eingespannt .43 Das MoMA schickte in den 1950er-Jahren Werke zeitgenössischer amerikanischer Kunst zu Ausstellungszwecken nach Europa, vor allem Gemälde des Abstrakten Expressionismus . Porter McCray, Leiter des International Programme des MoMA, wurde von Bode als Kenner der US-Kunstszene angefragt und erhielt bei der Auswahl der Werke freie Hand . Er berücksichtigte Kasseler Wünsche kaum, kam allerdings bei den Transportkosten entgegen . Die Amerikaner nutzten die Chance zur Selbstdarstellung massiv und polarisierten damit die westdeutsche Kunstkritik, wie sich der langjährige FAZ-Kunstkritiker Eduard Beaucamp erinnerte: „Die Leihgabe stellte eine gezielte kulturpolitische Maßnahme dar, ein Implantat, das der Jury entzogen war .“44 Zum Bilderpaket aus New York zählten neben den Riesenformaten der Abstrakten Expressionisten auch Objekte des Pop-Art-Künstlers Robert Rauschenberg . Eines seiner Werke bestand aus einem Art Bett aus Holzrahmen, Kopfkissen und Bettdecke, die schmierig bemalt waren . Spuren einer Untat, konnte man vermuten . Derartige Assoziationen wollte Bode dem Publikum nicht zumuten – Bed wurde nicht auf der documenta gezeigt . Eine andere Arbeit Rauschenbergs, Kick back, die aus einem Brett mit aufgenagelter Krawatte und Hose bestand, wurde beinahe täglich von Besuchern ergänzt, die Münzen und Taschentücher in die Taschen der Jeans steckten .45 Weitere Fälle von Vandalismus wurden aktenkundig . So beschädigten Unbekannte das Werk Concetto Spaziale von Lucio Fontana, und auf einem Gemälde Jan Lebenszteins wurde die Farbe per Hand verrieben .46 In einem kubistischen Gemälde Picassos fanden die Aufsichten ein Messer, was durch die Leinwand gestoßen worden war .47 An der Orangerie stürzObservateur 23 .7 .1959 . Ausführlich thematisiert in der Ausstellung „Parapolitik: Kulturelle Freiheit und Kalter Krieg“ Haus der Kulturen der Welt, Berlin 2017/18 . 44 Harald Kimpel (Hg .) documenta emotional . Erinnerungen an die Weltausstellungen, Marburg 2012, S . 42 . 45 Rudolf Zwirner, Ich wollte immer Gegenwart, Köln 2019, S . 68 . 46 HA 29 .7 .1959 . 47 Rudolf Zwirner, Ich wollte immer Gegenwart, Köln 2019, S . 69 . 42 43

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ten Unbekannte mehrere Plastiken von ihren Sockeln, darunter Boy and Girl von Reg Butler . Bode erklärte der Presse, der Vorfall sei keinesfalls als Protest gegen die ausgestellte Kunst zu werten, sondern bloß „ein übler Streich Jugendlicher .“48 Die Zahl der Besucher wurde offiziell mit 137 .500 angegeben und war nahezu konstant geblieben .49 „Wir sind erstaunt, mit welchem Ernst und Eifer die Ausstellung besucht wird, nur selten hört man laute Kritik“, notierte dokumenta-Sekretär Rudolf Zwirner .50 Zu den enthusiasmierten Besuchern zählte auch Theodor W . Adorno, der vom Pollock-Saal derart begeistert war, dass er seinen Vortrag aus dem Kunstverein ins Fridericianum verlegen ließ .51 Die überzeugten Kunstfreunde stellten allerdings nur eine Minderheit dar . Die Mehrheit stehe der documenta-Kunst „uninteressiert, wenn nicht gar ablehnend gegenüber“, glaubte Leserbriefschreiber Max Jürgensen: „Vorläufig wird die moderne Kunst nur bejaht und verstanden von einer eng begrenzten Interessengruppe .“ Daher falle es der Bevölkerung schwer, die enormen Kosten nachzuvollziehen, „die nicht nur der Ausstellung selbst, sondern auch der Prominentenempfang und die Gartenparty verursacht haben .“52 Diesmal war die Kunstkritik differenzierter, teilweise aber auch schärfer als zur documenta-Premiere ausgefallen . Der Anspruch der Schau, das aktuelle Kunstgeschehen objektiv wiedergeben zu wollen, wurde bisweilen in Frage gestellt, andere Stimmen bemängelten den Umfang der Schau, wo nur ein oberflächlicher Rundgang möglich sei, und eine Inflation des Kunsterlebnisses die Folge sein müsse . Zeitungen wie die englische Sunday Times beklagten den Konformismus bei der Künstlerauswahl . Haftmann hatte es offenbar mit seiner Vorliebe für Informel und Tachismus übertrieben .53 Der deutsche Autor Kurt Fassmann kritisierte die „Diktatur der Abstrakten“ und sah das ruinenhafte Ambiente der Orangerie als Omen: „Eine defekte Gesinnung ergeht sich in einem defekten Gemäuer .“54 Die Zeitung Die Welt argwöhnte: „Ist der Sieg der Abstrakten der Erfolg einer Verschwörung?“55 und die Badischen Neuesten Nachrichten schäumten: „Das ist mehr als Dirigismus, das ist Diktatur insofern, als Künstler internationaler Qualität den internationalen Blicken entzogen werden sollen . Der Schlag richtet sich nicht nur gegen die betroffenen Künstler, als vielmehr gegen das deutsche Ansehen im Ausland .“56 Interessant war die Beobachtung der niederländischen Zeitung Het Parool, die einerseits auf den Kalten Krieg, andererseits auf das „Dritte Reich“ anspielte: „Drüben Hammer und Sichel, hier die

HA 24 .8 .1959 . Laut Bericht der documenta GmbH vom 20 .1 .1960 . documenta-Archiv D 2 M 50 . Rudolf Zwirner an Herbert von Buttlar 30 .7 .1959 . documenta-Archiv D 2 M 50 . Hans-Peter Schwerfel, Rudolf Zwirner, Köln 2004, 24 ff . HA 17 .8 .1959 . Alfred Nemeczek, documenta, Hamburg 2002, S . 58 . Das Schönste 9/1959 . Dokumentiert in der Broschüre „Im Spiegel der Weltpresse“ . documenta-Archiv Lesesaal d II . G 1959 . 55 Die Welt 25 .7 .1959 . 56 Badische Neueste Nachrichten 16 .7 .1959 . 48 49 50 51 52 53 54

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documenta-Fahnen“ – und verwies auf die zahlreichen Fahnenmasten vor dem Fridericianum . Die Gestaltung der roten Fahnen mit weißem Innenfeld, in dem sich der schwarze Buchstabe „d“ befand, konnte durchaus Assoziationen mit der Hakenkreuzflagge wecken . „Mit der gleichen Rücksichtslosigkeit, womit man damals die Blut-undBoden-Kunst einführte, stellte man sich nun um – aber dann auch radikal – und feierte die Apotheose der allermodernsten Kunst“, schlussfolgerte die Zeitung .57 Der Schriftsteller Kurt Leonard hingegen verteidigte die zweite documenta als notwendiges Gegenprojekt zur Ausstellung „Entartete Kunst“, als „Wiederherstellung eines Gleichgewichts .“58 Mit der zunehmenden Etablierung und Dominanz abstrakter Kunst Ende der 1950er Jahre verlagerte sich der Fokus der Kritik vom Werk auf den Kunstbetrieb und seine Manager . Weit verbreitet war die konservative (und teilweise kulturpessimistische) Vorstellung, die neuen Kunstformen müssten geradezu manipulativ und mit großem Werbeaufwand gegen das „natürliche“, harmonische Schönheitsempfinden der großen Bevölkerungsmehrheit durchgesetzt werden .59 Der Logik des Kalten Krieges entsprechend, wurde die documenta von ostdeutschen Kritikern heftig attackiert . Der Kunsthistoriker und Journalist Heinz Lüdecke, der in 1920er Jahren Kulturkritiker bei der Roten Fahne gewesen war, schilderte seinen Besuch der documenta in Worten, die geradezu dem Nazi-Vokabular ähnelten . Ihm passte vor allem nicht, dass sich auch junge Menschen mit der abstrakten Kunst beschäftigten: Der Gesamteindruck der Abteilung Malerei ist der einer grauenvollen Öde und Ideenlosigkeit […] . Um so drolliger wirken die in Andacht versunkenen Jünglinge mit Frisuren á la Berthold Brecht und Vollbärten nebst den dazugehörigen Mädchen mit wippenden Glockenröcken oder in Niethosen, die den Spuk tierisch ernst betrachten . Im Parterre gibt es einige Räume, in denen man die Ahnen und Altmeister der heutigen Entartungen bewundern kann: Klee, Kandinsky, Baumeister, Miró, Picasso, Kirchner, Kokoschka, Beckmann usw .60

„Gefälschte Dokumente . Über den Untergang der abendländischen Kunst in Kassel“ – derart pessimistisch betitelte der ostdeutsche Autor Richard Süden in der DDR-Fachzeitschrift Bildende Kunst seine documenta-Rezension und klagte, „die informelle

Het Parool 15 .8 .1959 . „Kritik der Kritik zur documenta“ . In: Das Kunstwerk. Kopie o . weitere Zeitangaben . documenta-Archiv D 2 M 50 . 59 Bis heute kursiert immer wieder die Vorstellung, abstrakte Kunst und Architektur, atonale Musik oder dekonstruktivistische Philosophie seien Symptome eines westlichen Selbsthasses, einer „Oikophobie“, wie es der niederländische Historiker und populistische Politiker Tierry Baudet zuletzt postulierte, sich dabei auf den britischen Philosophen Roger Scruton stützend . Tierry Baudet, Oikophobie . Der Hass auf das Eigene und seine zerstörerischen Folgen, Graz 2017 . 60 Bericht von Heinz Lüdecke über seinen Besuch der documenta 31 .7 .1959 . SAdK Heinrich-Drake-Archiv 306 . 57 58

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Kunst kleckst, tropft, schmiert und trieft, statt wenigstens noch zu konstruieren .“ Im Bereich der Plastik sähe es ebenfalls finster aus: Die Zerstörung ist das sichtbarste Zeichen dieser Kunst, der Geist der Ruinierung ist hier zu Hause und in Ruinen hat man diese Kunst ausgestellt, in den ausgebombten Komplexen der Kasseler Orangerie und des Fridericianums . In dieser Ausstellung wird die Inquisition sichtbar, die seit Jahren besonders in der Bundesrepublik eine gegenstandslose Diktatur zu errichten sucht . Mit Billigung höchster staatlicher Stellen ist hier zum ersten Male die gesamte moderne Kunst zu Gunsten einer extrem nihilistischen Moderichtung abgewürgt worden .

In der zweiten documenta komme „die allgemeine Krise des bürgerlichen Weltbildes“ zum Ausdruck, sie sei Zeichen „von Pessimismus und Kulturabbau .“ Haftmanns Verweis auf die internationale Verbreitung der Abstraktion sei nichts als ein „naiver Trick“, um „die bisherige Isolierung der abstrakten Extremisten aufzuheben und über freundliche Gesten abwartende und reservierte Kreise, besonders aber die Jugend an den Nihilismus heranführen .61 Der Autor sah also in der Verbreitung der abstrakten Kunst keinen ästhetischen Selbstzweck, sondern einen diabolischen Plan, um die Jugend zu verderben . Verdorben wurde in seinem Sinne sicher auch der junge Dresdner Kunststudent Gerhard Richter, der den Besuch der documenta 1959 rückblickend als künstlerisches Schlüsselerlebnis bezeichnete . Er sollte im Laufe seines Lebens acht Mal offiziell an einer documenta teilnehmen – kein Künstler war häufiger nominiert worden . „Das Interesse ostdeutscher Künstler an den ersten beiden documenta-Ausstellungen war, was ich aus persönlichen Berichten weiß, sehr hoch . Vor allem Vertreter der jüngeren Generation pilgerten nach Kassel, um Anschluß an die Moderne zu halten . Sie brachten von dort wichtige Anregungen für ihr eigenes Schaffen mit“, stellte Bernd Lindner fest .62 Die nunmehr häufige Bevorzugung abstrakter Künstler bei Preisvergaben, Förderpolitik oder Großereignissen wie der zweiten documenta schürte aber nicht nur in der DDR den Verdacht und Vorwurf des Dirigismus, von einer „Diktatur der Abstrakten“ war auch in Westdeutschland oftmals die Rede . Beim ersten „Baden-Badener Kunstgespräch“ wurde im Oktober 1959, nach dem Ende der documenta, kontrovers darüber diskutiert . Das Thema der hochkarätig besetzten Tagung hieß: „Wird die moderne Kunst gemanagt?“ Zu den prominenten Teilnehmern zählte der Kunsthändler und Förderer der Kubisten, Daniel-Henry Kahnweiler . Er bewertete die gesamte „nichtdarstellende Malerei unserer Zeit“ als weltweit verbreitetes „prätentiöses Kunstgewerbe“ und verglich sie mit der akademischen Salonmalerei des

Bildende Kunst 11/1959, S . 809 f . „So ist belegt, dass Harald Metzkes sein in der DDR-Kunstkritik z . T . hart umstrittenes Gemälde Abtransport der sechsarmigen Göttin unter direkter Anlehnung an die Antikenmetapher in Max Beckmanns Gemälde Abtransport der Sphinxe gemalt hat . Er hatte das Bild auf der d1 in Kassel gesehen .“ Bernd Lindner per Mail an den Autor 10 .2 .2020 . 61 62

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späten 19 . Jahrhunderts, die ebenfalls die Sammlungen ganz Europas und Amerikas beherrscht habe und sich der Förderung durch die Staatsspitze erfreute .63 Ein Teilnehmer der Diskussion formulierte die Überzeugung: „Die Nichtgegenständlichen werden gemanagt, die Gegenständlichen nicht – siehe documenta II – da sitzt das Unbehagen!“64 Auch wenn man nicht von einer neuen „Kunstdiktatur“ sprechen konnte, war doch unübersehbar, dass abstrakte Kunst zum Ausstattungsmerkmal der sozialen Marktwirtschaft und ihrer neuen Eliten geworden war: Es war die Bildsprache einer Minderheit, aber es war eine tonangebende – und in diesem Fall bildgebende – Schicht . Kein Chefzimmer war in der Presse zu sehen, an dessen Wänden nicht abstrakte Gemälde hingen . […] Willi Baumeister und seine Kollegen von der tachistischen Avantgarde wurden von den Zukunftsorientierten gekauft, von Industrieunternehmern, Elektroingenieuren, Betriebsdirektoren und Managern . Bedenkentragende Bankdirektoren, Professoren und Anwälte hingegen kauften die Moderne moderaten Typs, also Expressionismus und Impressionismus . Schon bald gehörte es zum Selbstverständnis der jungen Republik, dass die breite Bevölkerung und die Elite geschmacklich getrennte Wege gingen . Die Kunst emanzipierte sich von der Zustimmung des Volkes .65

Die modernistischen „Early Adopters“ demonstrierten selbstbewusst ihren devianten Geschmack . Damit erschien die abstrakte Kunst nicht nur dem rechten politischen Spektrum als Signatur einer amerikafreundlichen Elite, sondern auch der neuen Linken . Nicht mehr alte rechtskonservative, sondern junge linksintellektuelle Verfechter einer engagierten Kunst polemisierten gegen eine offiziös gewordene Abstraktion und ihre ‚Propagandisten‘ . Der Vorwurf des ästhetischen Eskapismus ging dabei Hand in Hand mit der Opposition gegen den ‚herrschenden Kunstbetrieb‘, repräsentiert durch tonangebende ‚Kunstpäpste‘ wie Werner Haftmann oder Will Grohmann .66

Die dritte documenta67 zeigte Anzeichen einer gewissen Erstarrung, sie war die dritte und letzte, die vom Duo Bode und Haftmann geleitet wurde . Bode erfand damals sein Motto vom „Museum der 100 Tage“, und Haftmann erstaunte mit seiner ebenso einfachen wie autoritären Definition, dass Kunst eben das sei, „was bedeutende Künstler

Wird die moderne Kunst ‚gemanagt‘? Baden-Baden und Krefeld 1959, S . 18 . Ebenda S . 93 . Harald Jähner, Wolfszeit . Deutschland und die Deutschen 1945–1955, Berlin 2019, S . 353 . Regina Wenninger, „Genauso abstrakt wie im verfaulten Westen . Wie die westdeutsche Kunstkritik einmal (beinahe) mit Klischees aufräumte“, in: Kunstchronik 7/2018, S . 362–372, hier: S . 364 . 67 Geschäftsführer: Theodor Ascher, Sekretariat: Alfred Nemeczek, Arbeitsausschuss Malerei und Skulptur: Arnold Bode, Gerhard Bott, Herbert Freiherr von Buttlar, Will Grohmann, Werner Haftmann, Alfred Hentzen, Erich Herzog, Kurt Martin, Werner Schmalenbach, Heinrich Stünke, Eduard Trier, Zoran Krzisnik, Giuseppe Marchiori, Jasia Reichardt, Peter Selz . 28 .6 . bis 6 .10 .1964 . 353 Künstler . 200 .000 Besucher . Etat: 1,86 Mio . DM . 63 64 65 66

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Abb. 8 Relikt der zweiten documenta. Abstrakte Plastik von Alberto Viani in der Mensa der Universität Kassel (Standort Ingenieurschule Wilhelmshöher Allee). Das Werk aus dem Jahr 1958 war für den stattlichen Preis von 20.400 DM erworben worden.

machen“ . Die Eröffnung wurde mit gut 2 .000 geladenen Gästen wieder ein internationales Großereignis . Nicht auszudenken, wenn die Gruppe „Subversive Aktion“ ihren Plan umgesetzt hätte, auf die Vernissage einen Anschlag zu verüben . Bei einem Brainstorming spielte die Gruppe 30 Ideen durch, wie man die documenta stören könnte, etwa, indem als Küchenpersonal eingeschlichene Gruppenmitglieder Abführmittel und Drogen in das Festessen mischten, oder indem die Eröffnung durch einen Massenandrang gesprengt würde . Dafür sollten an Kasseler Schulen große Mengen gefälschter Einladungskarten verteilt werden .68 Besonders motivierend war sicherlich, dass Abweichler der Gruppe, Heimrad Prem und Lothar Fischer, sich offiziell als Künstler an der documenta beteiligten . So konnte man sich an den Renegaten rächen . Die radikalen Situationisten der „Subversive Aktion“ hatten „für Kunstwerke nur Verachtung übrig . Gegen sie richten sich ihre terroristischen Gewaltphantasien genauso wie gegen die übermächtigen kapitalistischen ‚Begierdekonstrukteure‘ . Die hohe Kunst geht im

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Alexander Sedlmaier, Konsum und Gewalt . Radikaler Protest in der Bundesrepublik, Berlin 2018, S . 49 .

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Haß auf die Kulturindustrie unter . […] Anschläge gegen Reiseagenturen wie gegen moderne Gemälde feiern sie deshalb in einem Atemzug .“69 Die propagierte Überführung der Kunst ins Leben beschränkte sich allerdings meist auf das massenhafte und verbalradikale Produzieren von Stellungnahmen, Manifesten, Pamphleten und Flugblättern .70 Zum Glück für die documenta entschied sich die Gruppe 1964 stattdessen, die Jahrestagung des Bundes deutscher Werbeberater in Stuttgart zu stören . Dort wurden dann Flugblätter gegen die „totale Manipulation des Menschen“ verteilt, es gab Tumult und Festnahmen .71 Die Situationisten (oder von ihnen inspirierte Gruppen) sollten noch mehrfach bei documenta-Ausstellungen eine Rolle spielen . Es ging ihnen darum, mit künstlerischen Happenings die Machtstrukturen von Staat und Gesellschaft sichtbar zu machen . Die documenta nutzten sie als willkommene Bühne . 1964 blieben Bode und Haftmann allerdings noch ungestört . Mit seiner autoritären Definition, dass Kunst das sei, „was bedeutende Künstler machen“, versuchte Haftmann sein Konzept zu legitimieren, von der Ordnung nach Künstlergruppen, Schulen und Tendenzen abzusehen und stattdessen einzelne „Top-Künstler“ und deren Hauptwerke zu zeigen . So wurden im Fridericianum 26 Meisterkabinette eingerichtet, beginnend bei Lovis Corinth, Pablo Picasso und Paul Klee und endend bei Francis Bacon, Willem de Kooning und Fritz Winter . Die Freiheit und Autonomie der Kunst ließ sich laut Haftmann nicht mehr in Stilen und Schulen erfassen, sondern manifestierte sich im individuellen Schöpfungsakt . Gleichzeitig ging er weiterhin von der Gültigkeit der „Weltsprache Abstraktion“ aus, und vernachlässigte Tendenzen der aktuellen Kunst, die dieser Auffassung entgegenstanden . Drei Bilder des amerikanischen Malers Sam Francis, die für das Treppenhaus der Kunsthalle Basel gemalt worden waren, wurden in Kassel einem sechseckigen Oberlichtsaal präsentiert, zu ihnen musste man aufblicken . Durch die Transformation des Tafelbildes in ein Raumbild sollte die Kunstwahrnehmung dynamisiert werden, zugleich wurde der Ausstellungsbesuch zum quasi sakralen Erlebnis – Bode knüpfte hier gleichermaßen Verbindungen zum kultischen Gebrauch prähistorischer Höhlenmalerei wie auch zu barocken Deckengemälden . Seine Rauminszenierung sollte das Verständnis moderner Kunst fördern, jedoch nicht durch Kommentare, die den Intellekt ansprechen, sondern mithilfe eines spirituellen, intuitiven Zugangs . Auch die von Haftmann organisierte Ausstellungssektion der Handzeichnungen setzte auf eine kultische Bildbetrachtung . Die in beleuchteten Kästen in dunklen Galeriegewölben spektakulär inszenierten Arbeiten stammten u . a . von Cézanne und van Gogh, Picasso und Paul Klee, bis hin zu den Werken junger europäischer Zeichner . Lokalisiert in der wiederaufgebauten Galerie an der Schönen Aussicht (der heutigen Neuen Galerie), sollte die Schau Einblicke in den persönlichen Thomas Hecken, Gegenkultur und Avantgarde 1950–1970 . Situationisten, Beatniks, 68er, Tübingen 2006, S . 15 . 70 Ebenda S . 17 . 71 Katalog NGBK, Legal/Illegal . Wenn Kunst Gesetze bricht, Berlin 2004, S . 171 f . 69

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Schaffensprozess der Künstler gewähren und wurde zur eigentlichen Sensation der dritten documenta . Ein Rückschlag für die Bemühungen, mit Hilfe der documenta ein freundlicheres Deutschlandbild zu erzeugen, war die Absage Mark Rothkos, der sich aus politisch-historischen Gründen weigerte, an einer Ausstellung teilzunehmen, die im Nachfolgestaat des „Dritten Reiches“ stattfand .72 Dabei war die documenta doch gerade angetreten, auf kulturellem Gebiet gegen das Fortwirken des Nationalsozialismus anzukämpfen . Haftmann äußerte Verständnis für Rothkos Entscheidung: „Die Wunde, die unser Land der Menschlichkeit schlug, ist nicht vernarbt .“73 Immerhin war John Heartfield, Ikone des Antifaschismus, der Einladung gefolgt und hatte Plakate zur Grafikabteilung aus Ostberlin beigesteuert .74 Die dritte documenta zählte am Ende rund 200 .000 Besucher, darunter auch Bundeskanzler Ludwig Erhard, Bundespräsident Heinrich Lübke, der britische und der amerikanische Botschafter .75 Um die Akzeptanz der documenta über die bildungsbürgerlichen Kreise hinaus weiter voranzutreiben, wurden große PR-Anstrengungen unternommen: Dia-Werbung im Kino, Plakate an der Autobahn, die kostenlose Vermittlung von documenta-Referenten an Volkshochschulen, Vereine und Parteien . Den teuren documenta-Katalog bekamen über 300 Journalisten gratis zugeschickt . Gut behauptete sich die Kasseler Schau im Kunstsommer 1964 in der Konkurrenz mit der gleichzeitig stattfindenden Biennale von Venedig . Die Kunstwelt reiste von Venedig nach Kassel und umgekehrt . Das amerikanische Time Magazine sah in der dritten documenta „das vielleicht größte Kunstereignis des Jahrzehnts in Europa“ .76 Erstaunt beobachteten Journalisten die Vielfalt der Besucher: Nun reisen sie wieder nach Kassel: die alte Dame mit den falschen Zähnen und dem echten Silber am Stockgriff, der US-Collegestudent mit Brille und Bürstenhaar, die kurvige Laszive mit langen violetten Hosen samt Boyfriend, der dickbäuchige Tourist im offenen Sporthemd, die junge Ehefrau, die sich wochenlang dieselben Argumente für und gegen Kunst und documenta III von ihrem redseligen Lehrergatten anhören musste, die Journalisten mit viel und wenig Sachverstand, und, nicht zu vergessen: die privaten Leihgeber und Kunsthändler .77

Ein vielfältiges Besucherspektrum stellte sich ein, darunter auch Querköpfe wie jener aus Süddeutschland angereiste Pazifist, der sich an der Bundeswehrpräsenz in Kassel störte und anregte, die documenta solle um ein internationales Jugendtreffen erwei72 Im Widerspruch dazu steht die Tatsache, dass Werke Rothkos bei der zweiten documenta gezeigt worden waren . Doch möglicherweise hatte Rothko keinen Einfluss darauf gehabt, weil die Arbeiten im Konvolut des MoMA nach Kassel kamen bzw . weil sie in Museumsbesitz waren . 73 Katalog d III, S . XVI . 74 Einladungsschreiben der documenta vom 14 .7 .1964 . SAdK John-Heartfield-Archiv 376 . 75 Goldenes Besucherbuch Stadt Kassel . 76 Alfred Nemeczek zitiert in Art 6/1987, S . 75 . 77 Zitiert nach Dieter Westecker, Documenta-Dokumente 1955–68, Kassel 1972, S . 131 .

Die ersten drei documenta-Ausstellungen

tert werden .78 Obwohl sich die documenta nunmehr etabliert hatte, schienen sich bei einem Teil des Publikums noch immer Ressentiments gegen moderne Kunst gehalten zu haben: „So liefen in der documenta vorwiegend fassungslose, verbissene, trotzige, empörte Leute herum, die ihr Urteil in nichts lieber zusammenfassten als in dem Begriff ‚Entartete Kunst‘ . Aber sie trauten sich nicht . ‚Das kann ich auch‘ ist die harmloseste ihrer Unmutsäußerungen“, will die Süddeutsche Zeitung beobachtet haben .79 Allerdings ist es schwer vorstellbar, dass die Kunsthasser die Mehrheit der Besucher stellten . Auf humoristische Weise setzte sich die Bevölkerung mit der documenta auseinander . So wurde sie zum Thema des „Lehrlingskabaretts Ernte 64“, das Auszubildende der Kasseler Spinnfaser AG im Juli aufführten .80 Die Kunstkritik zur dritten documenta war nicht durchgängig positiv, so waren auch Sätze zu lesen, die documenta werde von einer „müde gewordenen und abgenutzten Abstraktion“ beherrscht .81 Erstmals wurden die Finanzen zum politischen Thema . Wieder war ein erhebliches Defizit entstanden . Rolf Lucas, documenta-Aufsichtsratsvorsitzender und Chef der Kasseler CDU-Stadtratsfraktion klagte, bei der documenta seien „Kräfte am Werk, die offensichtlich nicht bereit sind, sich an den finanziellen Rahmen zu halten, der ihnen von der öffentlichen Hand zur Verfügung gestellt wird […] . Es muss auch in Zukunft derjenige persönlich in Regress genommen werden, der die künstlerische Freiheit verwechselt mit einer absoluten Freizügigkeit hinsichtlich der Verpflichtung des Steuerzahlers .“82 Der „Bund der Steuerzahler Hessen“ bezweifelte angesichts des zu teuren Katalogs, der mangelnden Erläuterung der übermäßig zahlreichen Exponate und anderer organisatorischer Mängel den Nutzen der documenta für die Allgemeinheit .83 Nach dem Ende der documenta wurde ein Defizit von rund 600 .000 DM festgestellt, was die grundsätzliche Kritik an der Schau befeuerte .84 Der in Bensheim beheimatete rechtsextreme „Schillerbund e . V .“ protestierte gegen eine zukünftige Finanzierung der Ausstellung durch den Staat: Wieviele der angeblichen 200 .000 Besucher konnte man mit der Ausstellung von primitivstem Klimbim, Basteleien, Tünchereien, Pop Art-Montagen, Kontergan-Plastiken, Beton- und Blechmachwerken – nicht zu vergessen die Klosettschale und den Klavierausschnitt – überzeugen, dass es sich dabei um Kunst gehandelt hat? (…) Wir protestieren

78 Der Autor Wolfram von Zastrow will während seines Besuches in Kassel eine Bundeswehrübung in der Nähe des documenta-Geländes beobachtet haben und nahm dies zum Anlass eines offenen Briefes, in dem er u . a . den Vorschlag machte, die documenta könnte parallel in Kassel „ein pazifistisches Zeltlager mit ostdeutscher Beteiligung für die Jugend“ organisieren . Er schließt „mit sozialistischem Gruß .“ Offener Brief „Ist die documenta ein Truppenübungsplatz?“, Regensburg, den 14 .7 .1964 . documenta-Archiv D 3 M 59 . 79 Süddeutsche Zeitung 8 ./9 .8 .1964 . 80 HA 23 .7 .1964 . 81 HA 9 .7 .1964 . 82 Alfred Nemeczek 1963–67 documenta-Mitarbeiter, in Art 6/1987, S . 73 . 83 Zitiert in den Stuttgarter Nachrichten 30 .7 .1964 . documenta-Archiv D 3 M 30 . 84 Fuldaer Volkszeitung 10 .12 .1964 .

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dagegen, dass für eine Ausstellung solcher Albernheiten weiter Steuergelder ausgegeben werden und weiter der Begriff ‚Kunst‘ mißbraucht wird – auf Kosten einer überragenden Mehrheit, die höhere Ansprüche an die Kunst stellt .85

Die documenta im Unruhejahr 1968

Die vierte documenta86 bemühte sich im Unruhejahr 1968 um Anpassung an den Zeitgeist . Den beiden Chefkuratoren Bode und Haftmann wurde ein vielköpfiges Gremium zur Seite gestellt . Zeitweise gehörten ihm zwei Dutzend Mitglieder an, es war die erste und letzte documenta mit einer Art Rätemodell an der Spitze . Zusammen mit dem niederländischen Kurator Jean Leering inszenierte Bode eine Ausstellung, die erneut von den Amerikanern mit ihrer marktgängigen Kunst dominiert wurde . Neben den bunten und eingängigen Arbeiten der Pop- und Op-Art waren auch viele Werke der Minimal-Art zu sehen . 1968 war das Jahr des politischen und intellektuellen Aufruhrs, und auch der Kunstbetrieb geriet ins Visier linksradikaler Studenten . Kunst wurde von ihnen als Instrument bürgerlicher Herrschaft kritisiert, und sie behaupteten, Kunst habe allenfalls eine Daseinsberechtigung, wenn sie sich in den Dienst einer sozialen Bewegung oder linken Partei stelle . Gerüchteweise wollten sich Tausende von Demonstranten auf den Weg machen, um die Biennale von Venedig und die documenta zu besetzen . Einige kulturelle Großveranstaltungen waren bereits gestört worden, das Filmfestival in Cannes musste sogar abgebrochen werden . Bode beteuerte: „Zum Establishment gehört auch diese documenta nicht!“87 Bereits bei einer Pressekonferenz im Vorfeld der Ausstellung hatte sich Bode in einer Weise geäußert, die Künstler zu Aktionen während der documenta ermutigte: „Wir meinen, dass jede Aktion be-

85 Offener Brief des Schillerbundes e . V . Bensheim vom 6 .12 .1966, unterzeichnet von Heinrich Schwab und Anton Jatsch (bis 1958 Landtagsabgeordneter Bund der Heimatvertriebenen, später: NPD) . documentaArchiv D 4 M 22 . 86 Geschäftsführer: Karl Reuther, Willi Becker (Prokurist), Sekretariat: Jürgen Harten, documenta Rat: Arnold Bode, Heinz Lemke, Theodor Ascher, Hermann Ulrich Asemissen, Gerhard Bott, Karl Branner, Herbert Freiherr von Buttlar, Werner Düttmann, Klaus Gallwitz, Günther Gercken, Eugen Gomringer, Günther Grzimek, Dietrich Helms, Karl Hemfler, Erich Herzog, Bernhard Hoffmann, Max Imdahl, Jean Leering, Kurt Martin, Herbert Pée, Arnold Rüdlinger, Alfred Schneider, Albert Schulze Vellinghausen, Ernst Schütte, Hein Stünke, Eduard Trier, Arbeitsausschuss „Ambiente“: Herbert Freiherr von Buttlar, Werner Düttmann, Max Imdahl, Jean Leering, Eduard Trier, Arbeitsauschuss Malerei: Albert Schulze Vellinghausen, Arnold Rüdlinger, Jean Leering, Eugen Gomringen, Erich Herzog, Max Imdahl, Arbeitsausschuss Plastik: Eduard Trier, Gerhard Bott, Klaus Gallwitz, Dietrich Helms, Hein Stünke, Arbeitsausschuss Grafik/Objekt: Günther Gercken, Herbert Freiherr von Buttlar, Dietrich Helms, Herbert Pée, Hein Stünke, Informationsausschuss: Albert Schulze Vellinghausen, Herbert Freiherr von Buttlar, Willi Bongard, Jürgen Harten, Dietrich Helms, Werner Spies, Organisationsausschuss: Heinz Lemke, Theodor Ascher, Heinrich Freiherr von Buttlar, Karl Hemfler, Alfred Schneider, Hein Stünke . 150 Künstler . 207 .000 Besucher . Etat: 2,85 Mio . DM . 87 Im Vorwort des documenta-Katalogs .

Die documenta im Unruhejahr 1968

rechtigt ist . Wenn man revolutionär genug ist, braucht es auch keine finanziellen Probleme zu geben“, Bode verwies auf die Möglichkeiten, notfalls im Freien oder in „notdürftigen Buden“ auszustellen . „In dieser Epoche allgemeiner Passivität muß jemand das Phänomen der neuen Kunst lebendig präsentieren .“88 Auf der gleichen Pressekonferenz hatte sich der Frankfurter Künstler-Aktivist Werner Schreib zu Wort gemeldet . Die documenta-Leitung publizierte sein Pamphlet ungekürzt unter dem Titel „Die 4 .  documenta sollte nicht stattfinden“ . Die documenta, so Schreib, sei mittlerweile ein perfekt arbeitender und autoritärer „kunstfeindlicher Apparat“ geworden, in dem „Lakaien des amerikanischen Kunsthandels“ das Sagen hätten . An Mark Rothko gewandt, führte Schreib aus: „Er lehnte die Teilnahme an der dritten documenta mit der verständlichen Begründung ab, die Nazis haben seine Familie ausgerottet, er schickt nichts zu diesen Henkern . […] Ich möchte Mark Rothko fragen, was unternimmt er gegen die Ausrottung des kleinen, tapferen Volkes von Vietnam durch die mächtigen USA?“89 Im Vorfeld der documenta versuchte der Berliner Künstler Dieter Ruckhaberle (der später zu den Gründern des Neuen Berliner Kunstvereins und der IG Medien zählen sollte) eine politische „Gegen-documenta“ in Kassel zu organisieren .90 Diese sollte von etwa einem Dutzend jüngerer Berliner Künstlern unter dem Motto „Konfrontation – Kunst und Gesellschaft“ in gemieteten Räumen der Stadthalle durchgeführt und maßgeblich durch Berliner Senatsgelder finanziert werden . Den Kasseler Verantwortlichen wurden ausdrücklich versichert, dass es sich nicht um Mitglieder des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes handele .91 Das Projekt scheiterte aber an Querelen im Berliner Kunstbetrieb,92 während Ruckhaberle versuchte, der Presse die Absage der Anti-documenta als „Protestaktion“ gegen die Notstandsgesetzgebung zu verkaufen .93 Am Ende machte er eine kleine Solo-Ausstellung während der documenta,94 „eine dürftige Alternativ-Ausstellung politisch engagierter Kunst“ .95

88 Pressekonferenz am 1 .12 .1967 in Kassel . documenta-Informationen 1, Kassel 1968 . documenta-Archiv Lesesaal documenta-Archiv D 4 A 1968 . 89 documenta-Informationen 2, Kassel 1968 . documenta-Archiv Lesesaal D 4 A 1968 . 90 „Sie haben sich, sagt Ruckhaberle, nicht aus Ressentiment zusammengefunden, nicht aus Ärger, weil der documenta-Rat sie übersehen hat .“ Die Zeit 29 .3 .1968 . 91 Aktenvermerk vom 18 .1 .1968 nach einem Ortstermin mit Ruckhaberle für den Kasseler Stadtrat Michaelis . documenta-Archiv D 4 M 33 . 92 Süddeutsche Zeitung 26 .5 .1968 . Vgl . a . Dieter Ruckhaberle, Warum die „Anti-Documenta“ nicht stattfindet . Dokumentiert als Beispiel für Repression im kulturellen Bereich, Selbstverlag, Kassel 1968 . 93 HA 24 .5 .1968 . 94 Diese fand vom 26 .6 . bis 12 .9 .1968 in Räumen am Altmarkt in Kassel statt . Ruckhaberle produzierte dazu die Broschüre: Zur Ausstellung progressiver, nicht-affirmativer Kunst: Kassel, Weserstraße 1 26 . Juni bis 12 . September 1968 . Ordner d 4 . Lesesaal documenta Archiv . 95 Der Spiegel Nr . 27 1 .7 .1968 .

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Abb. 9 Dieter Ruckhaberle, Informationsblatt „Zur Ausstellung progressiver, nicht-affirmativer Kunst. Kassel 26.6. bis 12.9.1968“

Die documenta im Unruhejahr 1968

Mit Spannung wurde die Eröffnung der vierten documenta erwartet . Eine Woche zuvor musste die Vernissage der Biennale von Venedig von mehreren Tausend Polizisten und Soldaten gesichert werden . Es kam zum Einsatz von Schlagstöcken . Auf dem Markusplatz fand dennoch am 21 . Juni 1968 eine Demonstration unter dem Motto statt: „No alla cultura opportunista – No alla Biennale capitalista“ . Mehrere italienische Künstler zogen sich aus Protest gegen die massive Präsenz der Sicherheitskräfte zurück, einige französische und schwedische Exponate wurden aus Protest verhängt . Am deutschen Pavillon befestigten italienische Demonstranten eine Hakenkreuzflagge mit der Aufschrift: „Deutschland schließt nie .“96 Das ließ nichts Gutes für Kassel erwarten . Bereits die Pressekonferenz im Rathaus wurde zum Künstler-Happening . Wolf Vostell kippte Kupfermünzen auf die Tische, während Chris Reinecke Honig darüber goß, Stühle mit Zucker bestreute und versuchte, Bode und weitere Honoratioren zu küssen . Vostell fragte laut, warum Fluxus, Happening und Environment auf der documenta fehlten . Die Pressekonferenz wurde umgehend abgebrochen . Vostell und Reinecke setzten ihre Aktion im Staatstheater fort, bis dort der Intendant einschritt .97 Künstler wie Vostell forderten, dass neue und gesellschaftspolitische orientierte Kunstrichtungen, als deren Vertreter sie sich selbst fühlten, auf der documenta präsent sein sollten . Ebenfalls pro domo argumentierten die Maler Matthias Koeppel und Johannes Grützke, die erfolglos ihr Realismus-Konzept einzubringen versuchten und letztlich wie Ruckhaberle eine kleine Parallelausstellung in Kassel veranstalteten .98 Die sonst so feierliche Eröffnung, die diesmal unter freiem Himmel an der Neuen Galerie stattfand, wurde eine etwas peinliche Veranstaltung, weil Bode und der hessische Ministerpräsident vor einzelnen Zwischenrufen und rhythmischen Klatschsalven allzu rasch kapitulierten . Sie verzichteten kurzfristig auf ihre Reden . Allein der Oberbürgermeister hatte zu Beginn eine stark gekürzte Rede gehalten . Unter den 400 Ehrengästen befanden sich Polizisten in Zivil, aber auch eine Gruppe von Demonstranten, die meisten von Ihnen Künstler oder Kunststudenten . Nach nur acht Minuten wurde die Eröffnungsfeier hastig beendet .99 Im Rückblick erscheint es rätselhaft und mutlos, warum sowohl die Pressekonferenz als auch die Vernissage der documenta bei kleinsten Anzeichen von Protest abgebrochen wurden . Anschließend zogen Demonstranten und Künstler über das documenta-Gelände und verteilten Flugblätter, vereinzelt auch Stinkbomben . Begleitet von gelegentlichen Happenings und Flugblattaktionen, konnte die documenta letztlich aber ungehindert stattfinden und Bode erleichtert verlauten lassen: „Es gibt keine Krise der documenta!“100 Nicht jeder Kasseler sah das genauso:

96 Wolfgang Kraushaar, Die 68er Bewegung, Stuttgart 2018, Band 3, S . 335 . 97 HA 27 .6 .1968 . 98 HA 8 .8 .1968 . 99 HA 28 .6 .1968 . 100 documenta-Informationen 3, Kassel 1968 . documenta-Archiv Lesesaal D 4 A 1968 .

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Wenn man als unbefangener Bürger dieser Stadt die Bilder über die Eröffnung der documenta 4 sieht, glaubt man, Zuschauer einer neuartigen Zirkusveranstaltung mit Ulkprogramm zu sein . […] Daneben stehen Presse und würdige Vertreter des Staates und der Gesellschaft und lächeln zu allem . […] Werden hier nicht Wertvorstellungen über Kunst, aber auch Steuergelder verschleudert? Wollen wir, die unfreiwilligen Zuschauer, wirklich die Eintrittskosten für diesen Pop-Zirkus bezahlen?101

Linke Studenten der Hamburger Hochschule für bildende Künste reisten nach Kassel, um Flugblätter zu verteilen . Hinter „der professoralen Reputation“ der Kasseler Schau würden sich schnell „die Händler und Krämer“ einstellen, hieß es in ihrem Flugblatt . Galeristen wie Hein Stünke würden durch ihre Position im documenta-Rat glänzende Geschäfte machen . Doch es sei Zeit, der Machtkonzentration und Monopolisierung im Kunstmarkt entgegenzutreten: „Am Muster Stünke zeigt sich, wie junge Künstler ausgebeutet werden . Enteignet Stünke! Entflechtet das Syndikat!“102 Ein anonymes Flugblatt rief zum Boykott der documenta auf: „documenta-Besucher! Bedenken Sie beim Betrachten dieser Ausstellung, dass sie über soziales Elend und gesellschaftliche Mißstände hinwegzutäuschen hilft  – darin liegt der Wahnsinn und das Unmenschliche einer solchen Ausstellung .“103 Ein weiteres anonymes Flugblatt griff den Kunstbetrieb pauschal an und beschimpfte das documenta-Publikum: „Ihr Kulturfatzken, kommt ihr also wieder mal zusammen und schwätzt und lügt und redet Scheiße um eurer Vorteile willen . Jeder hält sich und seinen Kram für bestechend, ohne zu merken, wie bestochen er ist […] . Die documenta vertritt alles das, was vom System gebraucht wird, um Progressivität vorzutäuschen .“104 Bode und Leering hatten sich auf die Kunst von 1964 bis 1968 konzentriert und zugleich ein Gegenmodell zur dritten documenta geschaffen . Statt von „Meisterwerken“ und „individueller Handschrift“ war nun auch von „Serienherstellung“ oder dem „Vorrang des Materials“ die Rede . Die Pop-Art-Skulpturen, viele in Übergröße und Signalfarben, eroberten die Freifläche der Aue, begehbare Kunsträume boten sich als „Environments“ dem Publikum an . Die großformatige und raumgreifende Pop Art und Minimal Art beherrschte die Szenerie, amerikanische Künstler wie Bridget Riley, Ellsworth Kelly, Frank Stella und Barnett Newman setzten starke Akzente . Die breite Öffentlichkeit erreichte indes der aus Bulgarien stammende und in den USA lebende Künstler Christo mit seinem gigantischen 5600-Kubikmeter-Paket. Christo, der in Kassel das Hotel wechseln musste, nachdem sich dort Gäste über seine Langhaarfrisur beschwert hatten,105 konnte sein senkrecht Leserbrief von L . Knispel HA 1 .7 .1968 . Flugblatt einer Künstlergruppe der HfbK Hamburg vom 25 .6 .1968 von Bernd Freter, Bruno Bruni, Dieter Glasmacher, Tomislav Laux, Werner Nöfer, Konrad Schulz und Peter Würtz . documenta-Archiv D 4 M 22 . 103 Anonym, undatiert . documenta-Archiv d 4 M 22 . 104 Anonym, undatiert . documenta-Archiv d 4 M 22 . 105 HA 9 .5 .1968 . 101 102

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stehendes luftgefülltes Gebilde erst nach mehreren Versuchen in der Karlsaue aufrichten . Ein Leserbriefschreiber kommentierte sarkastisch: „Die permanent platzende Wurst-Plastik wird mir geradezu sympathisch . Scheint sich hier doch einmal die Materie erfolgreich gegen den Nonsens zu wehren, den man mit ihr anstellt . Ein sinnvolleres Wahrzeichen für den Kunstbetrieb unserer Tage ist wirklich kaum denkbar .“106 Die langwierige Aufstellungsaktion war somit zum ungeplanten „performativen“ Bestandteil der künstlerischen Arbeit geworden, und sie hatte sich erheblich auf insgesamt 70 .000 $ verteuert, was zu empörten Reaktionen führte – obwohl der Künstler sein Vorhaben zu 90 % selbst finanzierte .107 Aber selbst die Tatsache, dass er sein eigenes Geld verwendete, vor allem aber seine in der Presse kolportierte Aussage, es mache ihm eben Spaß, einige Hunderttausende auszugeben, brachte linksorientierten Zeitgenossen auf die Palme . Linke Studenten warfen ihm vor, er sei „Kapitalist“,108 und zahlreiche Leserbriefschreiber empfahlen ihm in der Hessischen Allgemeinen, lieber „für die Hungernden in Biafra zu spenden“, statt sich durch sein Kasseler Kunstprojekt weiter „lächerlich“ zu machen .109 In zahlreichen Leserbriefen wurde die Verbindung zwischen Christos „Geldverschwendung“ und der Hungerkatastrophe in Nigeria hergestellt, weil einige Tage zuvor auf der Titelseite der Zeitung sowohl Biafra wie auch Christos documenta-Projekt thematisiert und bebildert worden waren  – eigentlich ein Zufall, der sich den Lesern aber als sinnhafter und empörender Zusammenhang darstellte . Eine ganze Reihe von Kunstwerken wurde auf der vierten documenta beschädigt oder „unsachgemäß“ ergänzt . Anfang Juli überklebten Unbekannte den großen documenta-Werbeaufsteller vor dem Fridericianum und andere Hinweisschilder mit Plakaten, die den Vietnamkrieg anprangerten .110 Mehrere Kunstwerke wurden von Besuchern verändert oder beschriftet . So räumten Besucher beispielsweise in Beuys’ Rauminstallation um . Sie meinten, es seien dort Tische, Stangen, Kisten und andere Objekte ohne Sinn abgestellt worden . Cesars großer Gipsdaumen wurde mit einem Lippenabdruck verziert, in die Spiegelfässer von Pistoletto wurde hinein gespuckt, die Wände von Fontanas Labyrinth mussten neu gestrichen werden, weil sich allerhand obszöne Ausdrücke auf ihnen fanden . Es gibt keine Hinweise darauf, dass diese Taten aus einer spezifischen Kunstfeindlichkeit heraus begangen wurden, eher resultierten sie aus einer allgemeinen Lockerung der Sitten im Gefolge des 1968er-Zeitgeistes, hingen zusammen mit dem freieren Ausleben von Emotionen, persönlichen Bedürfnissen und Meinungen in der Öffentlichkeit . Darauf deuteten die Ergebnisse einer Befragung von 400 documenta-Besuchern durch Hamburger Soziologiestudenten hin . 80 %

Leserbrief von W . Ständeke HA 1 .7 .1968 . Kulturamt der Stadt Kassel (Hg .), Aversion/Akzeptanz . Öffentliche Kunst und öffentliche Meinung: Außeninstallationen aus documenta-Vergangenheit, Marburg 1992, S . 63 . 108 HA 9 .7 .1968 . 109 Leserbrief von Käthe Knepper in den HA 19 .7 .1968 . 110 HA 2 .7 .1968 . 106 107

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von Ihnen verneinten die Frage, ob es unangemessen sei, sich in den Ausstellungsräumen laut zu unterhalten . Bei einem weiteren Experiment betraten Studenten mit eingeschaltetem Kofferradio die Ausstellung . Die meisten Besucher ignorierten, bzw . duldeten die Lärmquelle, manche waren sogar amüsiert, nur eine Person rief die Aufsicht . Dies deutete darauf hin, dass der documenta-Besuch mittlerweile weniger als bildungsbürgerliche Andachtsübung und vielmehr als legere Freizeitbeschäftigung betrachtet wurde .111 Ganz in der Tradition der Aneignung des bürgerlichen Erbes durch die Arbeiterbewegung agierte hingegen die Kasseler SPD: „Die documenta dürfe keine Veranstaltung für Snobs werden . Auch beim einfachen Bürger müsse Verständnis für die fortschrittliche, moderne Kunst geweckt werden .“ Der frisch gegründete „Arbeitskreis Gesellschaftspolitik“, sollte durch Vorträge und Führungen dazu beitragen, „den nicht vorgebildeten Besuchern der Ausstellung die manchmal grotesk und schockierend anmutenden Kunstwerke als Protesthaltungen gegenüber der Gesellschaft zu erklären .“112 Bei der 4 . documenta waren insgesamt 51 US-Künstler dabei gewesen, und die Pop Art wurde auf diesem Wege und mit tatkräftiger Mithilfe namhafter US-Galerien in Westdeutschland populär . Das Schlagwort von der „americana“ machte die Runde, der Kunsthistoriker Gottfried Sello klagte, die documenta werde nun zum verlängerten Arm des Kunsthandels .113 Kritik an der documenta kam nicht nur von westdeutschen Kunsthändlern, linken Studenten und Aktivisten, sondern erwartungsgemäß auch aus dem Osten . Eine scharfe Abrechnung mit der Ausstellung lieferte der ostdeutsche Kunsthistoriker Lothar Lang, der über Jahrzehnte immer wieder die documenta-Ausstellungen besuchte und für DDR-Fachmedien kommentierte . Er sah in der vierten documenta ein „Gruselkabinett“ mit „nichtssagenden Lackmalereien“, „leblosen Gipsfiguren“ und Rauminstallationen, die „Abstellkammern“ ähnelten . Die Präsenz der Pop Art nahm Lang zum Anlass, die amerikanischen Künstler zu attackieren: „Ich fand, daß diese Amerikaner ihre Gesellschaft bejahen, Kritik wurde von ihnen nicht geübt . […] Diese Maler geruhen, die Verbrechen ihrer Herrschenden nicht zur Kenntnis zu nehmen“ – hier spielt Lang offenbar auf den Vietnamkrieg an . Er fasste zusammen: „Ich wurde an die Geister- und Gruselbahnen aus meiner Kindheit erinnert, in Kassel hieß das nun vornehm Lichtplantage oder Ambiente-Raum . Gesamteindruck: Eine Ausstellung ohne Kunst, eine Ansammlung harmloser Basteleien, raffinierter lichtkinetischer Apparate und Produkte frechster Anmaßung .“114 In einem weiteren Beitrag greift Lang 111 Erstaunliche 75 % der Befragten waren unter 30 Jahre alt . Dies erklärt wohl auch die Ergebnisse der Studie . HA 1 .10 .1968 . Tatsächlich wurden über 50 .000 Schüler- und Studententickets auf der documenta 4 verkauft, was auf einen hohen Anteil junger Jahrgänge hindeutete . HA 6 .9 .1968 . 112 HA 22 .6 .1968 . 113 Sediment. Mitteilungen zur Geschichte des Kunsthandels Nr . 25/26 2015, S . 149–157 . 114 Lothar Lang, „Im Gruselkabinett der 4 . documenta“, in: Die Weltbühne Jg . 23, Nr . 29, 16 .7 .1968, S . 908 ff . Lang hatte in der Weltbühne 36/1959 über die d II und in der Weltbühne 31 und 32/1964 über die d III berichtet .

Die modernisierte documenta 1972

„diesen Herrn Bode“ und die documenta als „staatliche geförderte und händlerisch ausgemünzte Moderne“ an: „Die 4 . documenta ist der sichtbare Beweis für die Ausweglosigkeit und Ohnmacht, in die die Kunst im späten Kapitalismus geraten ist, sie dokumentiert die Kunstfeindlichkeit einer überlebten Ordnung .“ Die documenta sei nichts weiter als „eine Farce der Demagogen, Händler und Scharlatane .“115 In der realsozialistischen documenta-Kritik wurde einerseits den Eindruck erweckt, die documenta sei eine todgeweihte Kulturinstitution, die den absterbenden Spätkapitalismus verkörpere, andererseits wurde das gefährlich Manipulative und Propagandistische der Ausstellung betont . Ein gewisser Widerspruch: Wenn die documenta tatsächlich eine letzte, schwache Scheinblüte spätbürgerlichen Verfalls war, warum musste man sie dann so vehement bekämpfen? Langs Landsmann und Kunsthistorikerkollege Peter H . Feist stellte die Behauptung auf, die documenta 4 sei eine grundsätzliche „Absage an die Kunst .“ Man sollte nicht dem „Getöse aus Reklame und Skandälchen“ erliegen, mit dem sich die „finanziell schwankende, an wissenschaftlicher Rückendeckung und westlich-internationaler Repräsentanz und Reputation verarmende Super-Show der Allermodernsten“ selbst umgebe . Was setzte man an die Leerstelle, die früher die Kunst war? „Aufgesammelte Objekte der täglichen Umwelt von mißmutig und kontaktarm in Großstädten dahinlebenden Menschen, absurde Zusammenstellungen, ironische Verfremdungen und künstliche Wiederholung solcher Objekte . Mit Penetranz wird Nicht-Kunst als neu Kunst, Anti-Kunst oder Kunstersatz angeboten .“116 Damit nicht genug: Feist beschwor zudem die Chimäre eines heraufziehenden Neofaschismus in der Bundesrepublik: „Noch gibt es nur einige Spielarten von Technikbejahung und großflächige Coca-Cola-Fröhlichkeit . Die Brekers stehen noch vor der Tür […] . Aber wie wird die documenta 5 aussehen?“117 Die tatsächlichen Neofaschisten, die sich in der NPD sammelten, schalteten am Ende der documenta Zeitungsinserate, in denen sie die hohen Kosten beklagten für eine Kunstausstellung, die nur „den Vorstellungen einer winzigen Minderheit entspricht . Wir sagen ja zur freien Entfaltung der Künste, aber nein zur offenkundigen Cliquenauswahl .“118 Die modernisierte documenta 1972

Bis heute gilt die fünfte documenta119 vor allem unter Intellektuellen, als legendäre und zukunftsweisende Ausstellung . Eine Nazi-documenta, wie von ostdeutschen Kritikern Die Weltbühne Jg . 23, Nr . 30, 23 .7 .1968, S . 975 f . Bildende Kunst 1/1969, S . 3–5, hier S . 3 . Ebenda S . 5 . Inserat der NPD in der HA 12 .10 .1968 . Geschäftsführer: Karl Fritz Heise, Walter Olbrich (Verwaltungsdirektor) . Arbeitsgruppe: Jean-Christoph Ammann, Arnold Bode, Harald Szeemann . Freie Mitarbeit: u . a . Ingolf Bauer (Bildwelten und Frömmigkeit), Karl-Oskar Blase (Videothek), Bazon Brock (Audiovisuelles Vorwort), François Burkhardt (Uto-

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befürchtet, ist sie nicht geworden . Unter dem weit gefassten Motto „Befragung der Realität – Bildwelten heute“ wurde visuelles Material aller Art gezeigt – von Werbung und politischer Propaganda bis zur zeitgenössischen Kunst . Letztere präsentierte der zum Leiter berufene Schweizer Kurator Harald Szeemann unter dem paradoxen Titel „Individuelle Mythologien“ . Ursprünglich hatte er ein „antiautoritäres“ Konzept für die fünfte documenta vorgesehen, bei der die Selbstorganisation durch die Künstler im Gespräch war . Letztlich konnte sich Szeemann seiner Führungsrolle aber nicht entziehen, im Gegenteil, und er etablierte mit der documenta 5 den Typus des professionellen freien Kurators, der seine Subjektivität ungehindert ausleben konnte, und dies fast schon in extremerer Weise als sein Vorgänger Bode . Szeemann hatte ursprünglich noch vorgehabt, ein rein aktionistisch-performatives „Hundert-Tage-Ereignis“ anstelle des bisherigen „Museums der 100 Tage“ zu initiieren . Doch unter dem Eindruck der Ausstellung „happening & fluxus“, die er im November 1970 im Kölnischen Kunstverein kuratierte, änderte er sein Konzept . Die Kölner Ausstellung hatte die Öffentlichkeit polarisiert . Es gab anonyme Drohungen, die Schau „werde brennen .“ 270 Mitglieder des Kunstvereins traten aus . Der Kölner Tierschutzverein protestierte gegen die Ausstellung einer hochschwangeren Kuh (ein „Werk“ von Wolf Vostell) . Schließlich entfernten die Behörden die Kuh sowie andere Happening-Requisiten aus dem Gebäude: einen Hasen, ein Schwein sowie einen von Hermann Nitsch in Verwesung zurückgelassenen Schafskadaver .120 Die Zeit interpretierte das „Kölner Debakel“ als Testlauf Szeemanns für die kommende documenta: „Möglicherweise war es sogar ein kluger Schachzug, der documenta 1972 durch die Kölner Probe aufs Exempel zumindest diese Art von Desaster zu ersparen .“121 Obwohl die documenta weit weniger politisch und aktionistisch wurde, als erhofft bzw . befürchtet, sorgte sie für viel Unruhe . Aufsehen erregte z . B . die öffentliche „Erklärung gegen die documenta“ von Carl Andre, Hans Haacke und weiteren acht Künstlern122, sowie der Brief von Robert Morris an Szeemann, in dem er dem Kurator untersagte, seine Arbeiten zu zeigen .123 Sie wollten ihre Werke nicht ungefragt zur Illustration eines bestimmten intellektuellen Konzeptes oder einer These „missbraucht“ wissen . So umstritten die 5 . documenta dapie), Linde Burkhardtz (Spiel und Wirklichkeit), Johannes Cladders (Die Realität von Kunst als Form der Kunst), Reiner Diederich (Politische Propaganda), Konrad Fischer (Idee und Idee/Licht), Richard Grübling (Politische Propaganda), Sigurd Hermes (Filmschau), Hans Heinz Holz (Katalogvorwort), Klaus Honnef (Idee und Idee/Licht), Karl Heinz Krings (Audiovisuelles Vorwort/Technik), Eberhard Roters (Trivialrealismus  – Trivialemblematik), Theodor Spoerring (Bildnerei der Geisteskranken), Pierre Versins (Science Fiction), Charles Wilp (Werbung), Kasper König (Maus Museum) . Exponate 1 .056 . 30 .6 . bis 8 .10 .1972 . 222 Künstler . 229 .000 Besucher . Etat: 3,48 Mio . DM . 120 Stadtrevue Köln 6/2007 . http://www .stadtrevue .de/archiv/artikelarchiv/1320-happening-fluxus-koel nischer-kunstverein-1970/ (11 .11 .2019) . 121 Die Zeit 13 .11 .1970 . https://www .zeit .de/1970/46/im-kalb-liegt-die-kunst-der-kuh (11 .11 .2019) . 122 Offener Brief in der FAZ 12 .5 .1972 . 123 Brief an Szeemann vom 6 .5 .1972, abgedruckt in: Karin Stengel (Hg .), Archive in motion . 50 Jahre documenta, Göttingen 2005, S . 258 .

Die modernisierte documenta 1972

mals war, so verklärt wurde sie im Nachhinein . Viele Ausstellungsmacher, darunter auch spätere documenta-Kuratoren, bezogen sich auf Szeemann . Er selbst wurde zum Superkurator, zum lebenden Denkmal, leitete u . a . noch zweimal die Biennale von Venedig . Szeemann präsentierte in Kassel eine junge Künstler-Generation, die für die nächsten zwei Jahrzehnte bestimmend bleiben sollte . So manche Aktionskünstler, die vier Jahre zuvor noch gegen die „Establishment“-documenta protestiert hatten, wurden nun integriert . Unter den prägenden Arbeiten war Joseph Beuys’ 100-Tage-Büro seiner „Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung“ . An jedem der 100 documenta-Tage war Beuys präsent, um mit den Besuchern über Kunst, Gott und die Welt zu diskutieren . Sein Einsatz ließ sich schon fast als „Martyrium für die Kunst“ interpretieren, Beuys fungierte als duldsamer „Schmerzensmann“ . Man fragte ihn beispielsweise, ob er etwa Anarchist sei, ob er die Verstaatlichung der Wirtschaft wolle; man mochte von ihm wissen, welche politischen Veränderungsmöglichkeiten die Kunst habe . Beuys wiegelte ab: „Kunst ist nicht dazu da, den Staat umzustürzen .“ Ein Lehrer fragte: „Wen vertreten Sie denn? Volksherrschaft, was heißt das? Welche Vorbilder haben Sie?“ Beuys: „Ich habe keine geschichtlichen Vorbilder . Ich gehe von den Gegebenheiten aus und will diese zum Wohl der Menschen verbessern .“ Eine jüngere Frau fragte: „Sie sind ein Großverdiener auf dem deutschen Kunstmarkt . Was machen Sie mit dem Geld?“ Beuys: „Das Geld geht in diese Organisation .“124 Unzufriedene documenta-Besucher und Feinde moderner Kunst schossen sich auf ihn ein, er diente als Blitzableiter für Aggressionen, die im Zusammenhang mit zeitgenössischer Kunst auftraten, erinnerte sich Klaus Staeck, der Beuys damals begleitete .125 Mit 228 .621 Besuchern wurde die letzte documenta erneut übertroffen, wenn auch nur geringfügig . Eine Umfrage ergab, dass die Ausstellung diesmal ein auffallend junges und gut informiertes Publikum anzulocken vermochte .126 Die fünfte documenta opferte den traditionellen Kunstbegriff, gab sich zeitgeistgemäß demokratisch und offen, und unternahm den Versuch einer umfassenden Kultur- und Alltagsanalyse . Tatsächlich aber etablierte sie die neue Autorität des Kurators und bekräftigte indirekt die alte, normative Autorität des Museums . Interessant war auch die Überlegung, den klassischen Kunsthandel aus der documenta herauszuhalten, indem der Kurator nicht mehr nach traditionellen Qualitätskriterien die Werke auswählte, sondern danach, ob sie zu seiner Theorie oder zu seinem Konzept passten . Dies funktionierte aber nur kurze Zeit . Heute hält der Kunstmarkt Illustrationsmaterial vorrätig für jede nur erdenkliche These, jede Philosophie, jede Ideologie . Das Budget war weit überschritten worden . Zeitweilig sah sich Szeemann mit der Drohung konfrontiert, als Generalsekretär persönlich für das Defizit von rund 800 .000 DM haftbar gemacht zu werden . Der documenta-GeschäftsfühHNA 26 . Juli 1972 . Klaus Staeck in einem Vortrag in der Caricatura Kassel, 19 .7 .2015 . Dieses Bild ergab sich aus dem documenta-Besucherprofil, das der deutsch-amerikanische Künstler Hans Haacke erstellt hatte, 13 .000 Besucher-Fragebogen wurden dazu ausgewertet . HNA 24 .8 .1972 . 124 125 126

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Kapitel III Die documenta: „Staatsaufgabe“ oder „Zirkus der Scharlatane“?

rer Walter Olbrich, Verwaltungsdirektor des Kasseler Staatstheaters, warf Szeemann vor, kostspielige Bauaufträge und Raumausstattungen für Künstler-Environments eigenmächtig vergeben zu haben . Bereits während der Laufzeit der documenta hatte Olbrich den Aufsichtsrat der documenta aufgefordert, Szeemann fristlos zu entlassen . Schuldhaftes Verhalten konnte Szeemann aber nicht nachgewiesen werden . Stattdessen wurde das Defizit stillschweigend mit Steuergeldern beglichen – wie sonst auch: Die Finanzpannen der documenta haben Tradition: Schon die erste war 1955 mit 23 .000 Mark in die roten Zahlen geraten . Vier Jahre später war es bereits viel mehr: 294 .000 Mark . Und 1964 mußten 402 .000 Mark nachgeblättert werden . Einzig die documenta 4 machte mit 41 .000 Mark einen kleinen Überschuß . Doch wann immer die Geschäftsführer Flaute in der Kasse meldeten, kamen documenta-Aufsichtsrat und öffentliche Hand zu einem Konsens – Stadt Kassel und Land Hessen teilten sich, ohne viel Aufhebens, das MehrGeld . Sie hatten erkannt, daß die bis heute stetig gewachsene internationale Bedeutung dieser Kunst-Schau die beste und sogar billigste Werbung für die betuliche Beamtenstadt Kassel ist .127

Seit 1972 hat jede documenta-Leitung quasi eine Carte Blanche, sowohl in künstlerischer wie auch in finanzieller Hinsicht . Kuratoren und Geschäftsführer sind de facto nicht haftbar zu machen, jegliches Defizit wird aus Steuergeldern beglichen . Blick in die Besucherbücher der documenta 5

Obwohl Szeemann sein ursprüngliches Konzept deutlich gemäßigt hatte, empfanden noch immer viele Besucher die documenta 5 als skandalös, vor allem die Gleichsetzung von Kunst und Nichtkunst (Kitsch, Werbung, Bildnerei der Geisteskranken) und die Performance- und Aktionskunst provozierten . Zahlreiche Protestschreiben und negative Bemerkungen in den Besucherbüchern sind überliefert – positive Zuschriften fielen weit seltener aus, beispielsweise Bekenntnisse wie von Alois Bischoff, der schrieb: „Mir hat die documenta viel gegeben!“ und als Dank einen 25-seitigen Brief mit Impressionen seines Kassel-Besuchs beilegte .128 Die Masse der Einträge in drei überlieferten Besucherbüchern ist hingegen negativ gestimmt . Man hat den Eindruck, dass sich in den ganz überwiegend anonymen Bemerkungen allerhand aufgestaute Wut und Ressentiments Bahn brachen . Die Kritik an der documenta ist nicht nur polemisch-sarkastisch, sondern geht oftmals in eine Diffamierung der Künstler und documenta-Organisatoren über . Dabei lassen sich mehrere, immer wiederkehrende Topoi feststellen . Nicht wenige Besucher nutzten Worte wie „krank“, „verrückt“ oder

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Der Spiegel 9 .10 .1972 . Brief vom 30 .9 .1972 . documenta Archiv D 5 M 148 .

Blick in die Besucherbücher der documenta 5

„degeneriert“ und bewegten sich somit semantisch in der Nähe des NS-Kampfbegriffs „Entartete Kunst“: „Als Kunst bezeichnet man auf dieser documenta das, was ein normaler Mensch als Idiotie abstempeln würde,“129 stellte jemand fest, und ein anderer Besucher empfahl: „Beuys als Objekt für ‚Kunst der Geisteskranken‘“130 – letztere Kategorie war tatsächlich eine offizielle Abteilung dieser documenta gewesen . Jemand schrieb „Nur Idioten sehen sich das an“131 – ohne zu bedenken, dass er sich damit zugleich selbst beleidigte . Die Vorstellung, moderne Kunst sei wertlos und beruhe letztlich auf Betrug, kam auch in den Kommentaren zur documenta immer wieder zum Ausdruck . Ein Besucher fasste seinen Eindruck in Gedichtform zusammen: „Es war einmal ein kleiner Mann / der schaute sich die documenta an / Er fragte sich: Ist das denn Kunst? / Wenn das meiste ist verhunzt? / Auf den Standpunkt kommt es an / Sprach der Künstlerscharlatan!“132 Ein weiterer häufig genannter Kritikpunkt zielt auf den elitären Status der documenta und auf den „Egoismus der Künstler“ . Eine „Claudia“ empfand die documenta als „Volksverarschung zwecks Befriedigung der Künstler und Erniedrigung der Kunst“,133 ein „Kalle aus Nürnberg“ pöbelte: „Diese individualistische egozentrische Kunst ist bürgerliche inhumane Scheiße“ .134 Andere Einträge beklagten: „Kunst ist Glück für Künstler – allein für die egozentrischen Scheißer“135 oder: „documenta = Kasperletheater elitärer Scheißer“ .136 Das Thema der Ressourcenverschwendung durch Kunst bewegte viele Besucher . Soziale Probleme wurden hier gegen die Kunst in Stellung gebracht . Eine „Inge“ war empört: „Die documenta ist eine kostspielige Unverschämtheit!“137 und ein anderer Besucher schrieb fassungslos:„Noch nie in der Geschichte der Menschen ist es jemand gelungen, so viele Menschen und soviel Geld zusammenzubringen für soviel Wahnsinn . Wahnsinn!“138 Jemand forderte: „Das Geld für die documenta sollte zur Erweiterung der Irrenhäuser verwendet werden!“139 – und legte nahe, dass die Künstler in diese erweiterten Anstalten eingewiesen werden sollen . Zerstörungs- und Bestrafungsfantasien wurden bisweilen auch offen geäußert . „Hoffentlich kommen bald die Chinesen und beenden den Wahnsinn dieser Selbstbefleckung, die sich documenta nennt,“140 hofft ein Besucher . „Geht erstmal arbeiten, ihr Dreckskerle!“ ruft ein Besucher aus Münden den Künstlern zu .141 „Ist 129 Besucherbücher documenta 5 . documenta-Archiv D 5 M 146a . 130 Ebenda . 131 Ebenda . 132 Ebenda . 133 Besucherbücher documenta 5 . documenta-Archiv D 5 M 146c . 134 Besucherbücher documenta 5 . documenta-Archiv D 5 M 146a . 135 Ebenda . 136 Ebenda . 137 Ebenda . 138 Ebenda . 139 Besucherbücher documenta 5 . documenta-Archiv D 5 M 146b . 140 Besucherbücher documenta 5 . documenta-Archiv D 5 M 146c . 141 Besucherbücher documenta 5 . documenta-Archiv D 5 M 146a .

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Kapitel III Die documenta: „Staatsaufgabe“ oder „Zirkus der Scharlatane“?

das für die Arbeiter gedacht?“142 schreibt jemand ins Besucherbuch . Überhaupt wird auffällig viel Sorge „den Arbeitern“ zuteil, die angeblich durch die documenta missachtet würden . „Elitär“, „unverständlich“ befindet eine Gruppe aus dem hessischen Ort Niederwald und fragt: „Schon mal was vom Arbeiter gehört?“143 Sympathien für rechtsextreme Positionen sind gelegentlich anzutreffen . So fragt sich ein Besucher: „Muss man sich als anständiger Deutscher so etwas gefallen lassen?“144 Ein anderer empfiehlt: „Man sollte sich nicht mehr scheuen, in die falsche Gesellschaft zu geraten (NPD), wenn man gegen diese documenta ist .“145 Noch häufiger sind aber linksextreme kunstfeindliche Statements zu lesen . Sie tauchen so massiv auf, als ob sie Teil einer regelrechten Kampagne gewesen seien . Zumindest scheinen Mitglieder linksradikaler K-Gruppen systematisch und planvoll die Besucherbücher beschriftet zu haben . Auch die Parole „Mao lebt!“146 ist im Besucherbuch zu lesen . Im August 1966 war das berüchtigte 16-Punkte-Programm der KP China zur Verwirklichung der „Großen Proletarischen Kulturrevolution“ verabschiedet worden . In der Folge einer chaotischen Kampagne gegen die urbanen Eliten kam es zum Sturm junger Aktivisten auf Museen, religiöse Stätten und Bildungseinrichtungen, in dessen Verlauf zahllose Kunstwerke, Bibliotheken und Denkmäler vernichtet wurden . Studentische Gruppen in Westeuropa waren von der Bewegung und dem Mao-Personenkult fasziniert und wollten ihr nacheifern – möglicherweise aus Unkenntnis über den tatsächlichen Umfang der Gewalttaten in China, oder weil sie ein „abstraktes, zumal romantisch aufgeladenes Idealbild“ dieser Jugendrevolte hatten – einer „Revolte“, die von oben initiiert worden war, um die diktatorische Machtfülle Maos zu sichern .147 Manchem Linksradikalen war die Kasseler Ausstellung politisch zu zahm, und er schmähte sie als „SPD-documenta .“148 Aus einer revolutionären Klassenkampf-Perspektive betrachtet war die documenta nicht nur zu zahm, sondern wurde gar als gefährlich, als konterrevolutionär begriffen: „Kunst ist systemstabilisierend“149 hieß es da, oder die Künstler wurden als Agenten des Kapitals dargestellt: „Gebraucht endlich eure Macht, die ihr habt durch das Recht auf Selbstbestimmung des Volkes . Lasst euch nicht verführen von Beuys, Stüttgen & Co .“150 Sogar zum Bildersturm wird aufgefordert: „Macht Alles kaputt! Betätigt euch! Zeigt diesen Idioten, daß ihr keine Objekte seid!“151 Links- und rechtsextreme Positionen konvergierten in der idolisierten Figur

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Ebenda . Ebenda . Besucherbücher documenta 5 . documenta-Archiv D 5 M 146b . Besucherbücher documenta 5 . documenta-Archiv D 5 M 146c . Ebenda . Wolfgang Kraushaar, Die 68er Bewegung, Stuttgart 2018, Band 1, S . 444 f . Besucherbücher documenta 5 . documenta-Archiv D 5 M 146a . Besucherbücher documenta 5 . documenta-Archiv D 5 M 146b . Besucherbücher documenta 5 . documenta-Archiv D 5 M 146a . Ebenda .

Blick in die Besucherbücher der documenta 5

des Arbeiters, der gegen die „verrückten“ Künstler und gegen die „elitäre“ Kunst ins Feld geführt wurde . Der hier häufig benutzte Topos der „degenerierten“ oder „dekadenten“ Kunst bezog sich weniger auf den rassistisch-eugenischen Nazi-Begriff „Entartung“, sondern eher auf die in der DDR verbreitete sozialistische Lesart von der Gegenwartskunst als Ausdruck einer „spätbürgerlich-dekadenten“ Gesellschaft: „Die Beweisführung wird durch die documenta angetreten: Die Kunst ist bürgerlich degeneriert,“152 stellte beispielsweise ein Besucher fest . Nicht nur in den Besucherbüchern, sondern auch in Briefen und anonymen Zuschriften an Szeemann und die documenta wurde politische Kritik geäußert . So beklagte ein junger Besucher aus Göttingen die Abgehobenheit des Kunstbetriebs . Auch die documenta bestätige, „dass sich die Kunstmanager ihre eigenen Museen schaffen . Darüber, wie sie bei den Besuchern ankommen, macht man sich sehr wenig Gedanken . Das wäre aber doch beinahe das wichtigste für eine soziale, nichtelitäre Kulturpolitik .“153 Zur documenta 5 gingen, wie erwähnt, zahlreiche Zuschriften in Kassel ein, die vorwiegend negativ waren .154 Inwieweit dies auch Ergebnis einer rechtsextremen Kampagne war, ist nicht eindeutig festzustellen, die Wortwahl einiger Schreiben deutet darauf hin . Ein Fernmeldetechniker aus Amberg schimpfte über die documenta als „Schande der Nation“ und drohte mit rechtlichen Schritten . Das Volk habe „ein Recht darauf, sich gegen Praktiken, wie z . B . in Kassel geschehen, zu wehren .“155 Pfarrer Reinhart Ernst aus Tischenreuth bewunderte sarkastisch den „revolutionären Mut, dem Willen der Bevölkerung zum Trotz mit Steuergeldern diese Sauereien der Öffentlichkeit aufzuzwingen . Dies sind wahrhaft volksdemokratische Methoden .“156 Anonyme Zuschriften forderten: „Das Künstlergesindel in die Wüste schicken!“ oder bezeichneten die documenta als „Umweltverschmutzung“ . Ein Brief mit Trauerrand gab kund: „Schade um das verpulverte Geld, wo es doch so viel Armut gibt .“ Ein Besucher sandte Szeemann „zur Bereicherung Ihrer Kunstschätze“ die Zeichnung eines scheissenden Hundes, ein anderer bedauerte, „wäre ich doch nur für die 80 Mark Reisekosten lieber in den Puff gegangen!“157 Weitere Wutbriefe wurden mit vollem Absendernamen unterzeichnet . „Wenn die Russen kommen, werden die Ihnen Kultur beibringen“, hoffte ein erboster Frankfurter Bürger .158 Einen journalistischen Coup lancierte die Hessische Allgemeine, indem sie dem Journalisten Thilo Koch Raum für eine scharfe Abrechnung mit der documenta gab . Seine Wortwahl erinnerte gleichermaßen an das nationalsozialistische wie an das realsozialistische Vokabular . Der Beitrag polarisierte und löste eine Flut von Leserbriefen aus . Ebenda . Brief von Eugen Dick an Szeemann vom 6 .7 .1972 . documenta-Archiv D 5 M 148 . So der documenta-Sekretär Gerald Just im Dankschreiben vom 26 .10 .1972 an Rolf Kubach für sein positives Feedback . Dies sei um wichtiger, „da wir vorwiegend negative Zuschriften erhalten haben .“ Ebenda . 155 Brief von Gerhard Bösel vom 18 .7 .1972 . Ebenda . 156 Brief vom 26 .11 .1972 . Ebenda . 157 Zuschriften vom 3 .7 ., 22 .8 . und 7 .7 .1972 . Ebenda . 158 Brief von Matthias Plaench 3 .10 .1972 . Ebenda . 152 153 154

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Kapitel III Die documenta: „Staatsaufgabe“ oder „Zirkus der Scharlatane“?

„Humbug und schmutziger Bluff ist diese documenta . Man dürfte auf der ganzen Welt z . Zt . kaum irgendwo einen so großen Müllhaufen von fleißig gesammeltem, andächtig bewundertem Blödsinn finden,“ schäumte Koch, der sich beim Performanceprogramm an einen „Gauklertanz neurotischer Gespenster“ erinnert fühlte, und an „seltsame, gruselige Riten der Primitiven und Dekadenten“ .159

Während sich manche Leser von Kochs „faschistoidem Unsinn“ abgestoßen fühlten160, wollten andere Koch einen „Orden für Zivilcourage“ verleihen161: „Es wurde Zeit, daß einmal gegen diese Manager vorgegangen wurde, die unser heutiges Kulturleben beherrschen und die ganze Kultur: Theater, Musik, Malerei vermanscht haben .“162 Andere fühlten sich von Koch offiziell in ihrer Lesart der documenta bestätigt: „Da war ja die entartete Kunst noch Gold dagegen“ schrieb ein Leser163, während eine Leserin empfahl, den Besuchern „beim Ausgang des Fridericianums Mittel gegen Übelkeit auszuhändigen .“164 Der linke Zeitgeist in der Bundesrepublik kam in einer Kulturkritik zum Ausdruck, die den Ausschluss oder die Missachtung der Arbeiterklasse beklagte . Jusos, DKP oder K-Gruppen argumentierten hier in ähnlicher Weise . Kunst, Theater und E-Musik wurden als bürgerlich und elitär attackiert . Vor allem die documenta-Ausstellungen der Jahre 1968, 1972 und 1977 bekamen das zu spüren . Stellte die Kulturpolitik die DDR in dieser Hinsicht ein positives Gegenmodell dar? Tatsächlich bildete sich hinsichtlich des Kunstgeschmacks in der DDR keine Kluft zwischen Arbeiterschicht und der herrschender Elite . Besonders in der ersten Phase der DDR-Geschichte gab es eine weitgehende Übereinstimmung des Publikums mit den politisch sanktionierten Kunstvorstellungen der SED- und Staatsführung bzw . der sowjetischen Besatzungsmacht: „Stark geprägt durch ein eher biederes Realismusverständnis, das auch unter den Nazis den bestimmenden Kunsttenor in Deutschland bildete, und ferngehalten von den wesentlichen Strömungen der Moderne des 20 . Jahrhunderts .“165 In den frühen 1960er Jahren wurden in der DDR große Anstrengungen unternommen, Arbeiter für Kunst zu interessieren und zum künstlerischen Schaffen zu animieren . Der Dresdner Kunstwissenschaftler Paul Kaiser spricht von einer „historisch einzigartigen Begegnungsdichte und Allianzbildung zwischen bildenden Künstlern und Industriearbeitern“ . Die Arbeiterklasse wurde nunmehr zugleich „Auftraggeber, Thema und Adressat der Kunst .“ Das von der SED angeordnete Bündnis von Künstlern und Arbeitern fand im Gastbeitrag „Die Schwarze Messe von Kassel“ des NDR-Journalisten Thilo Koch in der HA vom 5 .8 .1972 . Hans-Jürgen Müller HA 11 .8 .1972 . Lothar Knispel . Ebenda . Arthur Aschenbrenner . Ebenda . J . H . Eiben HA 18 .8 .1972 . Grete Zimmermann HA 11 .8 .1972 . Bernd Lindner, Verstellter, offener Blick . Eine Rezeptionsgeschichte bildender Kunst im Osten Deutschlands 1945–95, Köln 1998, S . 296 . 159 160 161 162 163 164 165

Blick in die Besucherbücher der documenta 5

Rahmen eines Kulturhebungsprogramms für die Arbeiterschicht statt, vormals kunstferne Milieus sollten zum Museumsbesuch und zu künstlerischer Tätigkeit angeregt werden . Tatsächlich entstand eine breit angelegte Laienkunstbewegung in Betrieben und Behörden, in der kompetente Künstler und Dozenten bei der Betreuung der Kunstzirkel mitwirkten . Die Kunstvermittlung und technische Anleitung folgte dabei, im Sinne einer proletarischen Aneignung des bürgerlichen Kulturerbes, weitgehend traditionellen Werten und konventionellen ästhetischen Vorstellungen . Die Amateurkunstabteilungen, die bis 1973 bei den Deutschen Kunstausstellungen / Kunstausstellungen der DDR bestanden, zogen großes Publikumsinteresse an, teilweise sogar mehr als die professionellen Abteilungen . Arbeiter sollten aber nicht nur zum Malen angeregt, sondern auch zum Kunsturteil ermächtigt werden . So waren in den 1960er Jahren Laien und Arbeiter in den Ankaufs- und Auftragsvergabegremien der Kombinate stark präsent . Bei der V . Deutschen Kunstausstellung waren 14 von 28 Jurymitglieder Laien . Arbeiter besuchten als Jury-Mitglieder Ateliers und wählten Kunstwerke aus . Zeitweilig brauchten angehende Kunststudenten die Empfehlung eines VEB, um einen Studienplatz zu erhalten . Doch ab Mitte 1970er Jahre neigt sich der Schwerpunkt in der Allianz zwischen Künstlern und Arbeitern wieder auf die Seite der professionellen Künstler .166 Ob dies ein Eingeständnis des Scheiterns jenes Kulturhebungsprogramms für die Arbeiterschicht war oder ob das Programm als erfolgreich abgeschlossen resümiert wurde, wäre eine offene Frage für die Forschung . Zurück zur fünften documenta: Scharfe Kritik kam erneut von Lothar Lang . Er sah in der Schau einen „Zirkus der Scharlatane“ . Mit Kunst habe die documenta nichts mehr zu tun: Kretins des Schaustellergewerbes machen aus der documenta in Übereinstimmung mit den Regisseuren des Ganzen einen schäbigen Jahrmarkt ihrer Dreistigkeit . […] Die documenta-Schausteller genießen die Gunst eines reichen, versnobten Publikums, das sie aushält wie einstmals bei Hofe die Narren . Nur sind die Schausteller der documenta weder Narren noch Clowns, sondern raffinierte Lustbuben einer morbiden Gesellschaft .167

Allein Beuys fand Gnade bei Lang, er habe mit seinem Büro für direkte Demokratie „bemerkenswerte Einsichten“ und „eine große physische Leistung“ an den Tag gelegt, doch bleibe er letztlich nur ein unpolitischer Romantiker und Utopist .168 Unter der Überschrift „Wohin der Modernismus führt“ machte Lang deutlich, dass die documenta 5 als Beweis für die Richtigkeit von Kurt Hagers Position gelten durfte . Hager, Mitglied des Politbüros des ZK der SED und Leiter der Ideologischen

166 Paul Kaiser, „Folgenreiche Begegnung . Demokratisierungsmotive von Künstlern und Partizipationschancen von Arbeitern im DDR-Kunstbetrieb der 1960er/70er Jahre“, Vortrag bei der Tagung „Demokratisierung des Kunstbetriebs? Transformationsprozesse zwischen Ost- und West“ Staatliche Kunstsammlungen Dresden 11 . Oktober 2019 . 167 Lothar Lang, „documenta der Scharlatane“, in: Die Weltbühne Nr . 29, 18 .7 .1972, S . 910 ff . 168 Lothar Lang, „Wohin der Modernismus führt“, in: Die Weltbühne Nr . 30, 25 .7 .1972, S . 940 .

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Kapitel III Die documenta: „Staatsaufgabe“ oder „Zirkus der Scharlatane“?

Kommission des Politbüros, hatte vor dem 6 . Plenum des ZK der SED gefordert, dass sich die Kulturpolitik der DDR prinzipiell vom Modernismus und von bürgerlichen Kunstauffassungen abzugrenzen habe .169 Auch Langs Kollege Ulrich Kuhirt rechnete in der Bildenden Kunst scharf mit der documenta ab . Den Schriftzug „Kunst ist überflüssig“ auf dem Fridericianum könne jeder nachvollziehen „angesichts der Sinnlosigkeit, Pervertiertheit und Sterilität des Dargebotenen .“ Niemals in der Geschichte der documenta sei an Geld gespart worden, „um Alles, was in der kapitalistischen Welt von Presse und Kommerz in der Kunst hochmanipuliert wurde, nach Kassel zu bekommen .“ Staat und „Kapitalriesen“ wie Deutsche Bank und Daimler finanzierten die documenta großzügig als „Gegendemonstration gegen die ständig zunehmende Wirksamkeit der sozialistischen Kunst .“ Die „eigentliche Zielfunktion“ der documenta 5 liege aber „in der Diffamierung und Unbrauchbarmachung des Realismusbegriffs in der geistigen Klassenauseinandersetzung .“170 Hier zeigte sich, dass die DDR-Kritiker die Funktionalisierung der Künste, wie sie im Realsozialismus üblich war, auf die documenta projizierten . Aus ihrer Perspektive war eine derartig große Ausstellung ohne klar formulierten politischen Auftrag nicht denkbar . Die politische und pädagogische Wirkung der documenta war aber viel komplexer und diffuser . Auch zur documenta 5 meldeten sich wieder Rechtsextremisten zu Wort . Das „Deutsche Kulturwerk europäischen Geistes e . V .“, ein Sammelbecken von Künstlern, die dem Nationalsozialismus nahe standen, schaltete Zeitungsinserate mit der Botschaft, dass die documenta nichts weiter als den „Verfall der Kunst“ dokumentiere . Dieser sei von langer Hand vorbereitet und ein „Werk jener kulturfeindlicher Kräfte, deren destruktive Parolen bereits in den 1920er Jahren auftauchten und deren Verfechter von den heutigen Massenmedien unterstützt werden .“171 Damit wurde eine verschwörungstheoretische Verbindung von den Kulturkämpfen der Weimarer Republik bis zur Gegenwartskunst gezogen . Der zeitweilige Rechtsanwalt des in den Nürnberger Prozessen verurteilten Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß und spätere Terrorist Manfred Roeder hetzte auf Flugblättern gegen die „documenta-Exkremente“: „Was für erbärmliche Wichte sitzen in unseren Behörden, die diesen Kulturverfall unterstützen und finanzieren – mit unserem Geld!“ Roeder forderte die Bürger auf: „Erstatten Sie Strafanzeige gegen Veranstalter, Aussteller und vor allem gegen die Behörden: Verbreitung unzüchtiger Dinge, Jugendgefährdung, Verschleuderung öffentlicher Gelder . Protestiert gegen den Besuch von Schulen! Lasst eure Kinder nicht teilnehmen!“172 Die katholische Boulevard-Zeitschrift Bildpost sah in der documenta den „absoluten künstlerischen wie sittlichen Verfall“, warnte einerseits vor jugendgefährdender Pornografie und Blasphemie „einer Gruppe pervertierter sog . Künstler“, störte sich ande169 Ebenda, S . 942 . 170 Bildende Kunst 11/1972, S . 539 ff . 171 HA 2 .8 .1972 . 172 Flugblatt „Deutsche Bürgerinitiative“ Bensheim 1972 . documenta-Archiv D 5 M 142 .

Blick in die Besucherbücher der documenta 5

rerseits aber an den hohen Eintritts- und Katalogpreisen .173 Der „Agrarjournalist“ und Neonazi Thies Christoffersen kündigte auf Flugblättern ein „Protesthappening“ an, bei diesem kippte er am 22 . Juli 1972 eine Ladung Mist vor das Fridericianum und garnierte den Haufen mit Plakaten, auf denen u . a . zu lesen war: „Schlagt auf die documenta ein, denn es wird die letzte sein“ oder „Die documenta erklärt den Ekel zur Kunst .“174 Dirk Schwarze, der die documenta für die Hessische Allgemeine jahrzehntelang begleitete, hielt fest: „Die documenta 5 wurde zu einem Feld, auf dem die Schlachten um die Gegenwartskunst ausgetragen wurden . Es zeigte sich, dass die Beschimpfungen nicht zu halten waren, war der Damm erst einmal gebrochen . Die documenta 6 und die weiteren Ausstellungen wurden dadurch entlastet .“175 Eine harmlosere, fast ironische Form der Rezeption bzw . Aneignung der documenta durch die Bevölkerung demonstrierte hingegen das jährlich an der Fulda mit einer Bootsparade gefeierte Volksfest „Zissel“ . 1972 stand es unter dem Motto „documenta 5 = Sex“ .176 Das Problem des Vandalismus betraf auch diese documenta: Fünfzig Beschädigungen wurden allein in den ersten zehn Tagen registriert, im Laufe der Ausstellung sollten es gut 200 werden .177 Besonders exponiert war das Freiluft-Environment Kinetische Landschaft von HA Schult . Der Künstler zeigte sich entsetzt über die zahlreichen Beschädigungen . Zur Installation gehörte der junge amerikanische Vietnam-Veteran Tommy Thompson, der einen Wachsoldaten mimte . Auch er wurde zum Opfer von Publikumsaggressionen, wurde mehrfach angepöbelt und mit Erdklumpen beworfen .178 Der Restaurator Peter Berkes protokollierte in seinem Bericht zahlreiche Schäden . Eine Bodeninstallation von Barry Le Va war völlig zertrampelt worden und musste entsorgt werden . Agnes Martins Gemälde im Fridericianum wurden mit roter Tusche bespritzt und mit Kugelschreiber bekritzelt . Aus Sicherheitsgründen mussten sie zeitweise abgehängt werden . Auf ein Werk von Jannis Kounellis war ein Fragezeichen aufgemalt worden, Stahlplatten von Serra wurden beschriftet, in einem Raum der Neuen Galerie war eine komplette Wand beschrieben worden .179 Der Gipfel wurde jedoch mit einem Anschlag auf Ed Kienholz’ Environment Five car stud erreicht . Diese lebensgroße Installation zeigte in einem großen Zelt eine Lynchszene, die sich in den USA ereignet haben soll (oder ereignet haben könnte): Im Scheinwerferlicht kreisförmig geparkter Autos fallen weiße Männer über einen Afroamerikaner her . Unbekannte zündeten während der Öffnungszeit zwei Rauchbomben im Zelt, etwa fünfzehn Besucher hielten sich zu diesem Zeitpunkt dort

Bildpost 23 .7 .1972 . Textkollagen und Traktate der „Deutschen Bauernschaft“ (Thies Christoffersen) . documenta-Archiv D 5 M 142 . 175 Dirk Schwarze, die Expansion der documenta-Kritik, Nördlingen 2006, S . 35 . 176 Das Motto gefiel so gut, dass es 1977 erneut verwendet wurde („documenta Sex“) . HA 6 .6 .1972 . 177 HA 12 .7 .1972 . 178 HA 25 .7 .1972 . 179 Bericht des Restaurators Peter Berkes zum Zustand der Ausstellung am 26/27 . August 1972 . documentaArchiv D 5 M 138 . 173 174

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auf . In Panik stürzten alle ins Freie, mehrere Figuren der Installation wurden dabei umgeworfen, die Täter entkamen . Die Aufsicht konnte die Rauchentwicklung mit Feuerlöschern rasch eindämmen, der Schaden war gering . Ein Anrufer bekannte sich im Kasseler Büro der DPA zur Tat und drohte „Das war der Anfang“ . Der Anrufer bezog sich auf Christoffersens Parole „Schlagt auf die documenta ein, denn es wird die letzte sein“, distanzierte sich aber ausdrücklich von der im Kunstwerk dargestellten Lynchjustiz . Anscheinend empfand er das Werk als Diffamierung der weißen Amerikaner .180 Die documenta 6 im Kontext der politisierten 1970er Jahre

Szeemanns Nachfolger Manfred Schneckenburger kreierte das Motto der „Mediendocumenta“: „Das Konzept war zunächst als Distanzierung vom Theorieüberschuss der documenta 5 gedacht“, schrieb er im Rückblick .181 Schneckenburger und sein Mitstreiter Lothar Romain thematisierten die Stellung der Kunst in der sich rasant entwickelnden Mediengesellschaft . Die zeitgenössische Kunst sollte einerseits ihren Anspruch auf Eigenständigkeit festigen, gleichzeitig aber ihre Verankerung in der Gesellschaft demonstrieren . Die documenta 6182 schrieb sich „Grundlagenforschung und Selbstreflexion der künstlerischen Medien“ auf die Fahnen, eine „analytische Transparenz des Machens als Gegengewicht zur Vortäuschung dokumentarischer Wirklichkeit“, wie sie in Fotografie und Fernsehen dominiere .183 Das größte Aufsehen sollten allerdings plastische Installationen wie Beuys’ Honigpumpe oder Walter de Marias Projekt Vertikaler Erdkilometer erregen. Mitten auf dem bekanntesten Kasseler Stadtplatz ließ De Maria ein Loch bohren . Ein tausend Meter langer Messingstab wurde mithilfe eines hohen Bohrturms in langwieriger Arbeit in den Boden getrieben . Eigentlich handelte es sich nur um ein Ideenrecycling für die documenta, denn ursprünglich war das Projekt 1972 anlässlich der Olympischen Spielen in München geplant worden . Eine texanische Firma, die sich auf die Herstellung und den Verleih von Bohrgeräten spezialisiert hatte, brachte als Sponsor die Kosten von 750 .000 DM auf . Wochenlang verunstaltete die Baustelle den Platz und sorgte bei den Bürgern für Kopfschütteln . Am Ende wurden HA 25 .9 .1972 . Hans Eichel (Hg .), 60 Jahre documenta . Die lokale Geschichte einer Globalisierung, Berlin 2015, S . 85 ff . Geschäftsführer: Rolf Lucas; documenta-Komitee: Arnold Bode, Gerhard Bott, Edward Fry, Erich Herzog, Klaus Honnef, Jan van der Marck, Wieland Schmied, Evelyn Weiss; Konzeptausschuss: Lothar Romain, Manfred Schneckenburger; Arbeitsgruppen: Klaus Honnef, Evelyn Weiss (Malerei/Fotografie); Edward Fry, Jan van der Marck, Günter Metken, Manfred Schneckenburger (Plastik/Environment); Erich Herzog, Carl Albrecht Haenlein, Wieland Schmied (Handzeichnungen); Gerhard Bott, Michael MaekGérard (Utopisches Design); Ulrich Gregor, Peter W . Jansen (Kino der 70er Jahre); Birgit Hein (Experimentalfilm); Wulf Herzogenrath (Video); Rolf Dittmar, Peter Frank (Künstlerbücher); Joachim Diedrichs (Performance/Aktionen) . Die d 6 fand vom 26 . Juni bis 2 . Oktober 1977 statt . 623 Künstler und 355 .000 Besucher . Budget: 4,8 Mio . DM . 183 Katalog documenta 6, Bd . 1, Vorwort Schneckenburger, S . 17 . 180 181 182

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alle Gerätschaften und Bauzäune entfernt, und man sah (und sieht bis heute) nur noch das Ende der Stange – eine kleine Messingscheibe inmitten einer Sandsteinplatte im Boden . Das Ergebnis schien den riesigen Aufwand nicht zu rechtfertigen und sorgte erst Recht für Unmut . Während der sechsten documenta führte der Kunstwissenschaftler Hans D . Baumann seitens der Universität Kassel eine Studie durch, bei der 3 .200 Besucher umfangreiche Fragebögen ausfüllten . Frage Nr . 15 lautete: „Welches Kunstwerk hat sie meisten geärgert?“ Dabei zeigte sich, dass die Großplastiken im öffentlichen Raum besonders polarisierten .184 Häufig wurden Beuys’ Honigpumpe, De Marias Bohrloch oder Serras Stahlplastik Terminal genannt . Als Begründungen wurden meistens die Adjektive „zu teuer“, „sinnlos“ oder „unverständlich“ bemüht . Eine linke Broschüre benannte den Erdkilometer als Paradebeispiel einer kostspieligen und unsinnigen Kunst, „mit der das Publikum auf den Arm genommen“ werde . Die documenta stehe „für den Rückzug in die Vereinzelung .“ Die Publikation schließt mit den Worten, Künstler seien nichts weiter als „Hofnarren für die kapitalistische Gesellschaft . Wann spielen Künstler und Publikum endgültig nicht mehr mit?“185 Ein weiteres Kunstwerk auf dem Friedrichsplatz war ebenso umstritten, war aber nicht durch Bauzäune abgeschirmt . So stand Richard Serras monumentale Stahlskulptur Terminal in der vordersten Linie der Kritik . Die hochaufragende Konstruktion aus rostigen Stahlplatten galt vielen Bürgern als Verschandelung der Innenstadt, wurde häufig bekritzelt oder mit Parolen beschmiert . Zudem diente es zahlreichen „Wildpinklern“ als Toilette . Zu lesen war an den Wänden u . a .: „Für sone (sic!) Scheiße könnten Hunderte von Menschen gerettet werden“ oder: „Schade, dass so viel Geld für sowas Häßliches ausgegeben wird“ oder „Die KPD/ML fordert: Weg mit dem Schrott!“186 Im September 1977 wurden in Kassel Flugblätter verteilt, die die documenta-Besucher und Bürger aufforderten, in Form eines Happenings Kunstwerke „kreativ“ zu verändern oder zu zerstören . Der eigentliche Höhepunkt der documenta bestehe darin, „in einem allgemeinen Happening alle Werke zu zerstören, die unverständlich erscheinen, provozieren sollen oder Empörung hervorrufen .“ Die anonymen Verfasser schrieben, dass „Initiativen und Erfindungsgeist“ keine Grenzen gesetzt seien und empfahlen „zu dieser Aktion Werkzeuge, am besten Hammer jeder Art und Größe, mitzubringen .“187 Die Polizei nahm die Drohung ernst und patroullierte mit Zivilbeamten, Doppelstreifen und sogar berittenen Streifen auf dem Ausstellungsgelände .188 Indes blieb die Aufforderung der Flugblattverfasser ohne Folgen . Möglicherweise bestand ein Zusammenhang mit einer anderen Drohung, die im Juni ausgesprochen worden war . Eine Besucherbefragung documenta 6 . documenta Archiv . D 6 M 187 . Buchhandlung Wissen und Fortschritt (Hg .), documenta – Versuch einer politischen und ideologischen Analyse ihrer Geschichte, Kassel 1977, S . 33 f . und S . 40 . Lesesaal documenta Archiv . D 6 E 1977 . 186 Kulturamt der Stadt Kassel (Hg .), Aversion/Akzeptanz . Öffentliche Kunst und öffentliche Meinung: Außeninstallationen aus documenta-Vergangenheit, Marburg 1992, S . 47 . 187 Zitiert in Bremer Nachrichten 2 .9 .1977 . 188 Stuttgarter Zeitung 3 .9 .1977 . 184 185

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anonyme Gruppe kündigte an, „mehrere strategisch wichtige Eingänge“ der documenta-Ausstellungsgebäude mit Stacheldraht zu versperren . Die Aktion „Kunstterror“ sei „eine Weiterentwicklung der Situationskunst“, solle durch „permanentes Agieren eine allgemeine Bewußtmachung“ erreichen und die „herrschende Kunstidylle“ verunsichern . Es hatte sich allerdings auch hier um einen Fehlalarm gehandelt, die Besucher konnten die Ausstellung ungehindert betreten .189 Beide Drohungen könnten im Zusammenhang mit dem Auftreten einer internationalen Gruppe von Situationisten stehen, die während der documenta in Kassel aktiv war . Die sechste documenta war überraschend gut besucht, ein Anstieg der Besucherzahlen um 50 % war historisch einmalig . Der bundesweite Bekanntheitsgrad der documenta lag im Sommer 1977 bei 13 %, ermittelte eine repräsentative Umfrage .190 Zeitweilig witterte die CDU beim Unmut über das Bohrloch ein populäres Wahlkampfthema, konnte die Situation aber nicht nutzen, weil der CDU-Stadtverordneten-Fraktionsvorsitzende als documentaGeschäftsführer selbst die Genehmigung der Bauarbeiten mitzuverantworten hatte – in weiser Voraussicht hatte der damalige SPD-Oberbürgermeister die Opposition in die documenta-Struktur eingebunden .191 Damit nicht genug: Rolf Lucas, der scharf gegen die Etatüberschreitungen bei den vorangegangenen documenta-Ausstellungen protestiert und eine Regresspflicht des leitenden Kurators verlangt hatte, musste nun qua seines Amtes Schneckenburger eine Etatüberschreitung um eine volle Million genehmigen – was allerdings ohne negative Folgen blieb, weil sich die Besucherzahlen sprunghaft erhöht hatten .192 Vereinzelt regte sich auch konservative Kritik,193 doch im Vergleich zur documenta 5 blieb ein Entrüstungssturm in den Medien und Leserbriefspalten der Zeitungen diesmal aus . Neben einigen Diebstählen von Kassetten, Büchern, Außenlautsprechern und weiteren Elektrogeräten aus künstlerischen Installationen waren 27 Beschädigungen von Kunstwerken durch Besucher zu verzeichnen, darunter ein Totalschaden (eine Arbeit von Gerd Baukhage) .194 Schäden an Besuchern, vor allem an ihrer Kleidung, gab es aber auch zu verzeichnen . In einem Raum befand sich eine Bodenarbeit von Vostell zu der wasser- und ölgefüllten Bassins gehörten . Mindestens 21 Besucher stürzten und fielen hinein .195 Von einer volkstümlichen Aneignung der documenta zeugten einige Vorfälle mit „falschen“ Kunstwerken in der Öffentlichkeit . So dekorierte ein Bürger im Ort Großenritte im Kasseler Umland seinen abholbereiten Sperrmüllhaufen mit dem Schild „Zweigstelle dukomenta 6“ . Ob

HNA 25 .6 .1977 . Das Hamburger Sample Institut befragte 1000 Personen . Wiesbadener Kurier 7 .10 .1977 . Barbara Orth, Begegnungen mit der documenta, Kassel 2007, S . 115 . Alfred Nemeczek in Art 6/1987, S . 73 . Vgl . a . Alfred Nemeczek, documenta, Hamburg 2002 . Reinhard Müller-Mehlis „Wie das Gerümpel zur Kunst erklärt wird“ Münchner Merkur 30 .6 .1977 . documenta-Archiv D 6 M 175 . Darunter waren 10 mittlere und schwerere Fälle mit Schadenssummen zwischen 2 .000 und 27 .000 DM Liste Schadensfälle d 6 vom 20 .2 .1978 . documenta-Archiv D 6 M 174 . 195 Schadensbericht 15 .8 .1977 documenta-Archiv D 6 M 168 . 189 190 191 192 193 194

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die fehlerhafte Aufschrift künstlerische Absicht war, blieb offen .196 Ein makaberer Scherz sorgte am Herkules für Aufregung . Passanten glaubten zunächst, eine Leiche entdeckten zu haben, die an einem zehn Meter langem Seil über dem Oktogon, der Eingangshalle des Gebäudes, baumelte . Doch handelte es sich zum Glück nur um eine menschengroße Puppe . Ein Sprecher des Polizeipräsidiums erklärte: „Wir ermitteln wegen groben Unfugs . Nicht auszuschließen, daß Witzbolde damit die documenta bereichern wollten .“197 Neben dem Erdkilometer sorgte auch die erstmalige Beteiligung von Künstlern aus der DDR für Kontroversen . Zuvor war die Teilnahme des ostdeutschen Dissidenten Penck storniert worden – offenbar eine Bedingung für die Kooperation mit dem VBK der DDR . Im Nachhinein verklärten der Galerist Michael Werner und die Maler Georg Baselitz und Markus Lüpertz ihren Rückzug von der documenta als politischen Protest . Evelyn Weiss und Klaus Honnef verließen unmittelbar nach der Eröffnung das Leitungsteam, weil Werner und Baselitz eigenmächtig ihre Bilder wieder abgehängt hatten . Ein einmaliger Vorgang, der die Autorität der documentaLeitung beschädigte . „Hier hatten – so meine Überzeugung – Kunsthändler die Regie übernommen“, erinnerte sich Lothar Lang, der Kassel erstmals richtig zu schätzen lernte: „In Kassel haben wir uns wohl gefühlt . Es gab viele Gespräche . Man traf sich in den Cafés rund um das Fridericianum und abends bei ‚Da Bruno‘, wo bis spät in die Nacht dem Weine zugesprochen wurde . Einmal setzte sich der Oberbürgermeister der Stadt zu uns an den Tisch .“198 Erstaunlich differenziert berichteten ostdeutsche Medien diesmal über die documenta . Lang, der die vergangenen documenta-Ausstellungen in schärfsten Tönen kritisiert hatte, setzte sich in mehreren Artikeln mit der sechsten documenta auseinander und bescheinigte ihr vielversprechende Ansätze  – vor allem durch die Tatsache, dass nunmehr Künstler aus der DDR dabei waren . Folglich konnte er die Ausstellung nicht mehr wie gewohnt in Grund und Boden verdammen .199 Die Gemälde von Willi Sitte, Bernhard Heisig, Werner Tübke und Wolfgang Mattheuer bildeten eine exotische Insel . Während ein Teil des Publikums von ihren malerischen Leistung fasziniert war, empfand ein anderer Teil diese Art von Kunst als altbacken . Bisher war die documenta immer auch als ein pluralistisches Gegenmodell zum Sozialistischen Realismus verstanden worden . In den 1970er-Jahren zeigten sich Auflösungserscheinungen dieses Dogmas, und eine größere stilistische Vielfalt in der bildenden Kunst wurde seitens der DDR-Führung zugelassen . Die documenta wollte dies deutlich machen, und so wurden erstmals Künstler, die dem offiziellen „Verband Bildender Künstler der DDR“ angehörten, nach Kassel eingeladen . Im Vorfeld der documenta reiste eine Delegation des VBK nach Kassel, „zur Kontrolle der zugesagten

HNA 3 .6 .1977 . HNA 30 .7 .1977 . Lothar Lang, Ein Leben für die Kunst, Leipzig 2009, S . 304 . Lothar Lang, „die documenta und wir“, in: Die Weltbühne Nr . 31, 9 .8 .1977, vgl . a . Weltbühne 29/1977 und 30/1977 .

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Vorraussetzungen für die Teilnahme .“ Der Reisebericht verzeichnete eine „sachliche Gesprächsatmosphäre“, nur einmal kam es zum Konflikt, weil Schneckenburger die Hauptstadt der DDR schnöde als „Ostberlin“ betitelt hatte .200 Die documenta stellte zudem Freikarten für alle DDR-Bürger zur Verfügung – sofern diese ein Visum erhalten konnten . In der Zeitschrift des Kulturbundes der DDR schrieb Gerhard Müller, über die documenta würden üblicherweise „ebenso heftige wie nutzlose Kontroversen ausgefochten .“ Es sei erstaunlich, mit welcher naiven, fast blinden Unbefangenheit sich die Leute in dieser Kunstwelt bewegen, die die industrielle Zivilisation als zerstört und die bürgerliche Existenz als sinnlos zeigt . […] Ich halte diese Künstler für gewaltige Satiriker und talentierte Unternehmer ihrer selbst, die mit großem Geschick reiche Geldgeber bewegen können, die Verspottung ihrer Existenzbedingungen zu finanzieren .201

Eine sozialkritische Kunst, über die sich Müller hier wundert, war allerdings zeitgleich auch in der DDR aufgekommen und hatte zu einem starken Zuwachs des Publikums bei der VII . Kunstausstellung der DDR geführt (bei der VIII ., im documenta-Jahr beginnenden Kunstausstellung der DDR sollte sogar ein Millionenpublikum gezählt werden) . Die Dresdner und Kasseler Großausstellungen folgten letztlich dem gleichen Trend . Lindner konstatierte eine „wachsende Übereinstimmung eines zahlenmäßig größer werdenden Publikums mit einer bewusst in gesellschaftliche Zustände kritisch eingreifen wollende Kunst .“ Grundlage war die auf beiden Seiten sich verstärkende Unzufriedenheit mit der gesellschaftlichen Realität in der DDR . Diese Unzufriedenheit fand allein in der bildenden Kunst ein Ventil . „Damit begann ein anfangs stark inhaltlich motivierter Dialog zwischen Künstlern und Betrachtern, der zugleich als Initialzündung für die Herausbildung eines echten Kunstpublikums in der DDR gewertet werden kann .“202 Während Müller positiv einen Wandel der documenta betonte und feststellte: „Die Alleinherrschaft elitärer Konzeptionen ist gebrochen,“203 kritisierte die Zeitschrift Bildende Kunst das allgemein niedrige Niveau der Kasseler Ausstellung und fand Beispiele eines „erschreckenden Tiefstandes künstlerischen Handwerks“ . Manche Environments erschienen ihr als ein „Stammeln der Künstler vor der ihnen subjektiv undurchschaubar gewordenen Realität .“204 Der Auftritt der VBK-Künstler in 1977 sollte das einzige Gastspiel der DDR bei der documenta bleiben – obwohl seitens

Information über die Reise nach Kassel (24 .–27 .4 .1977) 23 .5 .1977 . SAdK VBK ZV 174/2 . Der Sonntag Nr . 32, 7 .8 .1977 . Bernd Lindner, Verstellter, offener Blick . Eine Rezeptionsgeschichte bildender Kunst im Osten Deutschlands 1945–95, Köln 1998, S . 296 . 203 Der Sonntag Nr . 32, 7 .8 .1977 . 204 Wolfgang Hütt, „Das 100-Tage-Ereignis in Kassel . Anmerkungen zur d 6“, in: Bildende Kunst 11/1977, S . 547 ff . 200 201 202

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der Kasseler Sozialdemokraten ein engerer Kulturaustausch mit der DDR durchaus erwünscht war .205

Abb. 10 Das poetische Traumschiff Tante Olga von Anatol Herzfeld schwamm zur documenta 6 tatsächlich auf der Fulda. Heute ziert es eine Grünfläche vor der Kasseler Heinrich-Schütz-Schule.

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Zur documenta 7206 war erstmals eine Findungskommission von den politischen Repräsentanten Kassels und Hessens beauftragt worden, den nächsten documenta-Leiter

205 Schreiben von OB Hans Eichel an Willi Sitte, Kassel 19 .11 .1987 (Archiv SAdK), in dem er bedauert, Sitte während dessen zweitägigen Besuchs der d 8 verpasst zu haben: „Mit dem zwischen beiden Staaten abgeschlossenen Kulturabkommen ergeben sich viele positive Möglichkeiten für einen Kulturaustausch“, um dies auszuloten, wolle Eichel mit dem Leiter der Kunsthalle Fridericianum, Veit Lörs, im nächsten Jahr zur Dresdner Kunstausstellung in die DDR reisen . Zudem sähe er die Möglichkeit, in der Kasseler Brüderkirche ein Ausstellung Sittes zu organisieren . Sitte war mit einer DDR-Künstlerdelegation vom 3 . bis zum 5 .9 .1987 in Kassel gewesen . 206 Geschäftsführer: Wolfgang Ziegler, Horst Bachmann (Prokurist); Künstlerischer Beirat: Coosje van Bruggen, Germano Celant, Johannes Gachnang, Gerhard Storck . Die d 7 fand vom 19 . Juni bis 28 . September 1982 statt . Während die erste documenta die Bundesgartenschau als Rahmen gebraucht hatte, war die

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zu bestimmen . Gefunden wurde der Museumsdirektor Rudi Fuchs aus Eindhoven . Wie Schneckenburger brachte er die Kunst als qualifizierten Widerpart zur Bilderflut der Medien in Stellung: „Unsere Kultur leidet unter einer Illusion der Medien – wir sehen mehr Reproduktionen als Bilder . Das Gefühl für das Eigentliche geht verloren .“ Die Künstler seien die Leidtragenden dieser Entwicklung, sie leisteten sehr viel, doch werde ihr Angebot von der Gesellschaft oft nicht wahrgenommen . Die Künstler seien zwar frei, „aber isoliert, wie Indianer im Reservat .“207 Fuchs knüpfte an die großen Malerei-Abteilungen der ersten beiden documenta-Ausstellungen an, und gliederte die Ausstellung im Museum Fridericianum hierarchisch, ähnlich wie es seinerzeit Haftmann getan hatte . Es dominierten die von Fuchs hoch geschätzten Meister wie Jannis Kounellis, Mario Merz, Georg Baselitz, A . R . Penck, Jörg Immendorff, Anselm Kiefer oder Ulrich Rückriem . Zweifellos wurde bei der 7 . documenta auch wieder die deutsche Position gestärkt – sowohl numerisch, aber auch thematisch durch Schlüsselwerke wie Immendorffs Café Deutschland VII oder Kiefers Märkischem Sand . Im Rückblick beschrieb Fuchs seine documenta als eine „handwerkliche Ausstellung“, bei der praktische Fragen, wie man die Kunstwerke am besten in Szene setzen könnte, im Vordergrund gestanden hätten . Er wollte die Überfrachtung der Kunst mit einem gesellschaftspolitischen Auftrag, wie sie sich bei den vergangenen beiden documentaAusstellungen manifestiert hatte, vermeiden . Und so dominierte bei der siebten documenta die poetische Weltsicht eines Museumsmannes, theoriefern und ohne didaktischen Überbau . Wieder einmal setzte Josef Beuys starke Akzente und vermochte es, die Öffentlichkeit zu polarisieren . Er knüpfte wirkungsvoll an die Topoi „Deutscher Wald“ und „Waldsterben“ an . Seine Baumpflanzaktion 7.000 Eichen unter dem romantischen Motto „Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung“ wurde von vielen Bürgern zunächst abgelehnt, man fürchtete den Verlust von Parkplätzen in der bislang so autogerechten Stadt Kassel . Jeder Baum sollte durch eine Basaltstele gestützt werden . Beuys hatte die Lieferung der Basaltsäulen selbst vorfinanziert und sie auf dem Friedrichsplatz aufschütten lassen – zum allgemeinen Ärger . Der Steinhaufen wurde sogar aus Protest gegen „zu viele Baumanpflanzungen in der Stadt“ von einer obskuren Gruppe junger Männer mit rosa Farbe besprüht . Diese warfen Beuys u . a . vor, „Profit durch unser Umweltproblem zu erwirtschaften . Beuys versucht wohl, sein Fett-Honig-FilzImage durch das Angehen von Öko-Problemen aufzuwerten .“208 Beuys ließ am gleichen Tag die rosa Farbe durch eine Reinigungsfirma wieder abwaschen und drohte, die Kosten für die rund siebenstündige Säuberung den Tätern aufzubürden .209 Mit der

documenta 7 mit Rücksicht auf die Bundesgartenschau 1981 in Kassel bewusst um ein Jahr nach hinten verschoben worden . Erst von da an wurde der Fünf-Jahres-Rhythmus zur Regel . 182 Künstler und 387 .000 Besucher . Etat 6,9 Mio . DM . 207 Katalog documenta 7, Band 2, Vorwort Fuchs S . XII . 208 Zitiert in HNA 19 .6 .1982 . 209 HNA 19 .6 .1982 .

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Versteigerung eines Friedenshasen, den er bei einer öffentlichen documenta-Performance aus einer Kopie der Zarenkrone Iwans des Schrecklichen herstellen wollte, sollte die Pflanzaktion 7.000 Eichen weitgehend finanziert werden . Beuys hatte angeblich Rocker als Ordner für die öffentliche Einschmelzung der Zarenkrone auf dem Friedrichsplatz engagiert . Begleitet wurde die Performance von Pfiffen und Pöbeleien u . a . jener Männer, die zuvor die Basaltsteine bemalt hatten . Die ersten sieben Beuys-Bäume, die am Pferdemarkt gepflanzt worden waren, vertrockneten, weil sie niemand in der Sommerhitze gießen wollte .210 Der Widerstand gegen sein Projekt erscheint im Rückblick etwas peinlich und provinziell . Es brauchte sieben Jahre, bis der letzte der 7 .000 Bäume gepflanzt war . Langfristig wurde die Lebensqualität für die Kasselaner damit signifikant erhöht . Über die Auswirkung von Beuys’ Aktionen auf die Popularität der documenta war man sich damals uneins . Er habe laut documenta-Pressesprecher Klaus Becker „mehr Leute davon abgehalten, zur documenta zu kommen als angelockt . Und wenn sie seinetwegen gekommen sind, dann oft einzig und allein, um gegen ihn zu protestieren . Sonst hatten sie mit der documenta nichts weiter im Sinn .“211 Das Medienecho der sechsten documenta war geteilt . Neben vielen positiven Besprechungen gab es auch Kritik an der unzureichenden Vermittlung .212 Kritiker bemängelten zudem den großen Einfluss des Kunstmarktes, ein Galerist soll das Kunststück fertiggebracht haben, mit 47 Werken seiner Künstler vertreten zu sein .213 Im ostdeutschen Fachmagazin Bildende Kunst hieß es, es fehle der Rote Faden, viele Objekte wirkten deplaciert wie in einer „Requisitenschau“, es dominierten die bekannten Kunstmarktgrößen . Auch die „dilettantische Ruppigkeit“ der Neuen Wilden fiel dem Magazin unangenehm auf, ebenso „unsinnige Künstlerstatements“ im Katalog . Da es keine objektiven Kriterien für Qualität mehr gäbe, werde „alle Verantwortung für den Erlebniserfolg auf den Betrachter verlagert“ . Über das Ergebnis, so die Kritiker aus der DDR, müsse man sich nicht wundern: „Noch auf keiner documenta hat es so viele Beschädigungen durch das Publikum gegeben“ .214 Eine Emnid-Umfrage im documentaJahr 1982 unter 1 .000 Bundesbürgern ermittelte auf die Frage „Wie stehen Sie zur modernen Kunst“ eine Quote „völliger Ablehnung“ von 40 % bei Arbeitern/Facharbeitern (vgl . Leitende Angestellte: 8 %), von 34 % bei den über 60jährigen (vgl . 14 % bei den unter 30jährigen) .215 Ein Beispiel volkstümlicher documenta-Aneignung bot dagegen der „Tanz Palast Odeon“, die erste und modernste Großraumdisko der Region . Sie

HNA 23 .7 .1982 . Hamburger Abendblatt 21 .9 .1982 . Klaus Staeck führte Diskussionen mit Besuchern über Kunst und Politik . Seine Angebote zum Diskutieren wurden zu Rettungsinseln für viele Besucher, die in der Ausstellung keine Antwort auf ihre Fragen fanden und sich damit allein gelassen fühlten . HNA 25 .9 .1982 . 213 Der Tagesspiegel, 21 .6 .1982 . 214 Bildende Kunst 11/1982, S . 558–561, hier: S . 561 . 215 Bernd Lindner, Verstellter, offener Blick . Eine Rezeptionsgeschichte bildender Kunst im Osten Deutschlands 1945–95, Köln 1998, S . 275 . 210 211 212

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schaltete während der Ausstellung Inserate: „Unser Beitrag zur documenta: Heute malen wir eine Frau -oben ohne- und einen Mann an! Ein bißchen sexy, ein bißchen irre, Leute macht mit, legt euch ins Geschirre! Gage in Bikini: DM  150,– Oben ohne: DM 300,– Wir suchen noch Frauen, die mitmachen!“216 Weniger gut kam die documenta in einem Flugblatt weg, das die Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr an 70 .000 Kasseler Haushalte verteilte . Darin wurden die ungünstige Haushaltslage und soziale Sparmaßnahmen der Stadt Kassel mit den Kosten für documenta in Verbindung gebracht: „Durch ehrgeizige Renommierobjekte (wie zum Beispiel Bundesgartenschau und documenta 7) ist Kassel in einer Zeit abnehmender Einwohnerzahlen (und damit weniger Steuereinnahmen) bei gleichzeitig steigenden Zinsen an den Rand des Ruins geführt worden .“ Der documenta-Pressesprecher erklärte, „über die kunst- und kulturfeindliche Haltung der ÖTV unter Mißachtung der Fakten müsse man um so bestürzter sein, als zahlreiche Beschäftigte aus dem Bereich der Kunst und Kultur in der ÖTV organisiert seien .“217 Der Hessische Rundfunk stellte einige Wochen lang einen „Meinungscontainer“ in Sichtweite der documentaStätten auf . In diesem mobilen Rundfunkstudio konnten Passanten selbst Redebeiträge aufzeichnen, die dann später ungeschnitten gesendet wurden . Bei der Themenwahl und Ausdrucksweise waren sie völlig frei – eine Art Speakers Corner für Kassel . Neben Banalitäten und Obszönitäten aller Art kamen die Nutzer auch immer wieder auf die documenta zu sprechen . Vor allem in den ersten Tagen dominierten rechtslastige Statements und Hassreden gegen Beuys . So war zu hören, wenn Beuys von einem Hochhaus spränge, wäre auch der Blutfleck, der auf der Straße zurückbliebe, Kunst! Ein anderer Nutzer forderte, man solle Beuys in der Fulda ertränken, eine Basaltsäule an seinen Hals gebunden . Während dieser Aufzeichnungen lauschten die Passanten, darunter viele documenta-Besucher live . Niemand griff ein . Erst nach einigen Tagen kam die Reaktion, nunmehr organisierten sich Menschen, um den Trollen etwas entgegenzusetzen und die documenta-Kunst zu verteidigen .218 Das Thema Vandalismus spielte bei der siebten documenta eine erhebliche Rolle, vielleicht auch, weil es von der Presse ausdrücklich thematisiert wurde und dadurch weitere Nachahmungstäter auf den Plan gerufen wurden . So finden sich in den Unterlagen der siebten documenta 76 Schadensprotokolle, davon 50 Minimalschäden, elf mittlere Schäden (bis 5 .000 DM) durch Besuchervandalismus oder Unachtsamkeit, sowie fünf schwere Schäden, darunter ein Diebstahl und zwei Vandalismusfälle . Einer davon betraf ein Werk von Giovanni Anselmo, das mit Senf bespritzt worden war . Weil die Soße in die Bildoberfläche eingedrungen war, galt das Werk als „nicht mehr restaurierbar“ .219 Im Fridericianum wurde eine ganze Reihe von Kunstwerken beschädigt . Unbekannte richteten z . B . in 216 217 218 219

HNA 11 .8 .1982 . HNA 21 .9 .1982 . Frankfurter Rundschau 30 .9 .1982 . Annette Allwardt, Zusammenfassung der d-7-Schadensfälle 24 .3 .1983 . documenta-Archiv D 7 M 144 .

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dem von Schülern und Studenten gestalteten Filmraum unter dem Dach erhebliche Zerstörungen an . Stühle und Wände wurden beschmiert, die Leinwand zerschnitten . Die zuständige Restauratorin Christa Mihm stellte Vermutungen an, warum gerade im Fridericianum so viele Schadensfälle zu verzeichnen waren: der eher provisorisch anmutende Charakter des Museums, die Enge der Ausstellungsfläche, aber auch eine Überforderung des Publikums hätten dazu geführt: „In den vergangenen Jahren wurde die Kunst auf der Straße, die Kunst zum Anfassen propagiert . Jetzt kommt der Rückzug ins Museum . Kunst zum Anschauen, die eben nicht mehr angefaßt werden soll .“ In vielen Fällen wurde dieses Verbot ignoriert . Vor allem auf Kounellis’ Goldwand waren überall Finger- und Handabdrucke zu sehen, in sein Rußspur-Bild wurden Namen gekritzelt, in Pistolettos Skulptur Der Kopf Löcher gebohrt, Bilder van der Heydens eingedrückt, Sol LeWitts Bleistiftzeichnung Wall Drawing durch ein hineingezeichnetes Friedenssymbol verziert . Durch Berührungen beschädigt wurden Werke von Horst Schuler und Bertrand Lavier . Unbehelligt blieben dagegen Tony Craggs Ansammlungen von Müllfundstücken, gelegentlich wurde ihnen sogar etwas hinzugefügt, zum Beispiel ein Lippenstift . Doch von offener Aggression der Besucher gegen die Ausstellung oder gegen moderne Kunst allgemein wollte die Restauratorin nichts wissen . Sie sprach lieber von „Unachtsamkeit, Neugier . Und auch von Dumme-Jungen-Streichen .“220 Die documenta ließ verlauten, einerseits gebe es „großes Interesse an moderner Kunst, auf der anderen Seite schlägt Unverständnis in Aggression um .“221 Dies wurde vor allem bei den Kunstwerken im Außenraum deutlich, die nachts ungeschützt blieben . Eine Glasfaser-Skulptur von Pistoletto wurde zerstört, die Einzelteile über das Gelände verteilt . Bei Maria Nordmanns Plastik Untitelt wurden zwanzig Basaltsteine herausgerissen . Zu Vito Acconcis Umbrella House stellte der Schadensbericht fest: „Das Objekt ist nur noch ein Trümmerhaufen, die Bruchstellen der Stahlund Eisenteile stellen eine Gefahr für die Besucher dar . Vorschlag: Objekt entfernen .“ Oldenbourgs Spitzhacke forderte Besucher zu diversen sportlichen Aktivitäten auf: „Am oberen Teil hängen große Schlammbrocken, die Besucher dort hingeschleudert haben“, Donald Judds Untitelt war „von oben bis unten, innen und außen besprüht und beschriftet .“222 Manchmal wurde nicht einmal die Dunkelheit abgewartet, um der Kunst zuzusetzen . So besprühten Schulkinder aus Wiesbaden mitten am Tag vor dem Fridericianum die Brandenburger-Tor-Plastik von Immendorff .223 Ebenfalls am Tag zerstörte ein junger Mann die Spiegelglaskuben Dan Grahams in der Aue . Mit dem Ruf „Ist das noch Kunst?“ zertrümmerte er mehrere Glasscheiben mit einem Knüppel und flüchtete . Wegen der hohen Reparaturkosten wurde das Kunstwerk nicht wieder

HNA 29 .7 .1982 . HNA 19 .7 .1982 . Annette Allwardt, Schadensmeldungen in der Orangerie und an den Außenobjekten 20 .8 .1982 . documenta-Archiv D 7 M 144 . 223 Darmstädter Echo 21 .8 .1982 . 220 221 222

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Abb. 11 Claes Oldenbourgs Spitzhacke am Kasseler Fuldaufer.

hergestellt .224 Eine Podiumsdiskussion u . a . mit Klaus Staeck, die nach den Gründen für den Vandalismus fragte und auch als „Ventil“ für etwaige Aggressionen gegen Kunst gedacht war, war schwach besucht und ging ins Leere .225 Über die Ursache für den Vandalismus ist viel spekuliert worden . Möglicherweise sind es einfach nur Übermut, Langeweile und allgemeine Enthemmung des Publikums, der Passanten und nächtlich feiernder Jugendlicher gewesen . Die hohe Arbeitslosigkeit in der Region und die stark präsente städtische Drogenszene führte im Sommer 1982 dazu, dass sich Trinker und Obdachlose in größerer Zahl in der Innenstadt und den Parkanlagen aufhielten . Auf dem Friedrichsplatz kam es auch wiederholt zu Belästigungen der documenta-Besucher . Ein seit Jahren notorischer Störer trat im documenta-Sommer mit einer neuen Masche auf, er mutierte zum Performance-Künstler: Zum Leidwesen der Passanten zog er sich aus, malte sich an oder verzierte sein Geschlechtsteil mit einem Luftballon . documenta-Sprecher Becker faßte seine Eindrücke unwirsch zusammen: „Eine Handvoll Penner terrorisiert tausende Besucher!“226

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HNA 1 .7 .1982 . HNA 18 .8 .1982 . HNA 6 .7 .1982 .

Ein etabliertes westdeutsches Kulturereignis: documenta 7 bis 9

Die documenta 8227 wurde erneut von Manfred Schneckenburger geleitet . Bei seinem zweiten documenta-Gastspiel zeigte er sich ideologisch weitgehend desillusioniert: „Vorbei der Glauben an thematische Enzyklopädien, in denen eine Theorie alle Welträtsel auf einmal löst, an Systeme, mit denen eine Ausstellung die ganze Breite der Kunst in den Griff eines einzigen Schlagwortes nimmt, an poetische Erzählungen oder wunderbare Teppiche, die aus Kunst gewoben sind .“228 Dennoch fragte Schneckenburger nach der gesellschaftlichen Relevanz der Kunst, indem die 8 . documenta die wechselseitigen Beziehungen zwischen Design, Kunst und Architektur untersuchen sollte . Für ihn war dies auch „eine Absetzbewegung von der ästhetischen Kirche, zu der Rudi Fuchs die vorausgehende documenta deklariert hatte“ .229 Im Kern sollte das politische und ästhetische Veränderungspotential der Kunst thematisiert werden, ohne die Grenzen dieser Veränderungskraft zu ignorieren . Mit Werken verschiedener Künstler zu den Stichworten Krieg, Unterdrückung und Gewalt verdeutlichte Schneckenburger den Utopieverlust der Gegenwart . Die in der Aue platzierten Guillotinen von Ian Hamilton Finley, durch die in der Ferne ein klassizistischer Tempel zu sehen war, erinnerten an den Doppelcharakter aufklärerischer Revolutionen, in denen sich Humanismus und Terror gleichermaßen manifestierten . Anschaulich wurde die Ambivalenz der Ideologien auch in Marie-Jo Lafontaines monumentaler Video-Installation Les Larmes d’Acier, die zu den getragenen Klängen einer Callas-Arie einen jungen athletischen Mann beim Bodybuilding zeigte . Die Kombination verschiedener Pathosformeln, die monumentale Überhöhung des Körperkultes und die unheimliche Verbindung von Mensch und Maschine im Dienst der Ästhetik wurde von einigen Besuchern mit Unbehagen, von anderen mit Begeisterung aufgenommen . Von einer wachsenden volkstümlichen Verbundenheit der Bevölkerung mit der Ausstellung zeugte das Motto eines Themenabends zum Zissel-Auftakt im Polizeisportverein: „Kasseläner un ähre doggemenda .“230 Neben einigen Fällen von Vandalismus und Diebstahl konnte die documenta auch eine Hinzufügung von Kunstobjekten verzeichnen . Bereit zur Eröffnung wurde die Ausstellung von zusätzlichen Kunstobjekten bereichert . Mit Blasinstrumenten und Masken protestierte eine Gruppe von Frauen unter dem Motto „Kunststörung“ bei der documenta-Eröffnung . Sie wollten darauf aufmerksam machen, dass Frauen im Kunstbetrieb noch immer unterrepräsentiert seien . Zu selbstkomponierter Musik zo-

227 Geschäftsführer: Klaus Angermann, Frank Petri (Prokurist); Künstlerischer Beirat:Vittorio Fagon, Edward F . Fry, Wulf Herzogenrath, Lothar Romain, Armin Zweite; Assistenten der künstlerischen Leitung: Jürgen Schweinebraden Freiherr von Wichmann-Eichhorn, Wenzel Jacob; Arbeitsgruppen: Heinrich Klotz, Vladimir Lalo Nicolic (Ideales Museum); Michael Erlhoff (Design); Elisabeth Jappe (Performance); Wolfgang Preikschat (Videothek), Klaus Schöning (Audiothek) . Die d 8 fand vom 12 . Juni bis 20 . September 1987 statt . 317 Künstler, die Besucherzahl lag bei 486 .000, Etat 8 .9 Mio . DM . 228 Schneckenburger im Vorwort des D 8-Katalogs, Bd . 1, S . 15 . 229 Zitiert in: Hans Eichel (Hg .), 60 Jahre documenta . Die lokale Geschichte einer Globalisierung, Berlin 2015, S . 85 ff . 230 HNA 17 .7 .1987 .

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Kapitel III Die documenta: „Staatsaufgabe“ oder „Zirkus der Scharlatane“?

gen sie durch die Massen der Eröffnungsgäste, Gipsabgüsse von Torsi vor sich haltend . Die Kasseler Kunststudentin Theodora von der Decken hatte Körperabdrücke von Frauen hergestellt, die bei der Performance zwischen den documenta-Kunstwerken verteilt wurden . Die Aufsichten entfernten die Gipsformen sofort, Besucher nahmen einige als Souvenir mit .231 Einige Zeit später fand ein „Kunstanschlag“ statt . So nannte sich eine Aktion auf dem Friedrichsplatz: Unbekannte fügten dem documenta-Areal nachts „vier unbekannte Kunstobjekte“ aus schwarzem Stoff und roten Seilen hinzu . In einem großspurigen Flugblatt erklärten sie, dies sei „ein Beweis, daß auf dem fetten Boden nicht nur die Hyänen des Kommerzes prächtig gedeihen, sondern auch die Pilze des künstlerischen Untergrundes eine Existenz gefunden haben .“ Weiter erklärten „Le Fil Rouge (CH)“ über ihre documenta-Ergänzung, „daß es sich dabei keineswegs um den Fußpilz der etablierten Gegenwartskunst handelt – auch wenn diese manchmal derart zum Himmel stinkt, daß sich solche Assoziationen geradezu aufdrängen .“ Tatsächlich hielten documenta-Besucher die Objekte für Bestandteile der offiziellen Ausstellung .232 Ein politischer Protest war mit dem „Kunstanschlag“ wohl nicht intendiert worden . In der Presse überwogen die verhaltenen Kritiken und Berichte über dieses „hohe Fest der Beliebigkeit“ .233 Die DDR-Kunstzeitschrift Bildende Kunst sah in Kassel eine „Verbeugung vor dem Zeitgeist der Postmoderne“, die vor allem in der Hinzuziehung von Architektur und Design zum Ausdruck komme . „Der Anspruch, die gesellschaftliche Dimension von Kunst wieder freizulegen, wurde nicht eingelöst, das ästhetische Konzept, auf Heterogenität und Beliebigkeit zu setzen, verpuffte .“234 „Von Ost nach Kassel reist man nicht als Insider . Widerstand und/oder Anpassung – das war hier die Frage“, berichtete der nonkonformistische Kunsthistoriker Klaus Werner über seinen Besuch der documenta: „Eigensinnig, temperamentvoll und fordernd erscheint für den Fremdling jene ‚Show‘ in der Schau gegenüber Dresdner Hausmannskost“ .235 Werner spielte hier darauf an, dass die Kunst in Kassel aufwendig in Szene gesetzt werde, während die Kunstausstellungen der DDR traditionellen Präsentationen glichen . Ost-West-Wanderer wie Werner konnten im documenta-Jahr beide Ausstellungen mit einander vergleichen . 1987/88 fand die Dresdner Großausstellung zum letzten Mal statt – mit einem Besucherrekord von 1,1 Millionen . Die documenta IX236 wurde von dem belgischen Kurator Jan Hoet geleitet . Er machte die Schau zu einer großen urbanen Open-Air-Unterhaltungsmaschine . Ähnlich wie

HNA 13 .6 .1987 . Ebenda . Petra Kipphoff, „Das hohe Fest der Beliebigkeit“; in: Die Zeit, Nr . 26, 19 . Juni 1987 . Bernd Rosner, „documenta 8 – die zeitgenössischen Bereiche im Wechselspiel von Utopie und Realität“, in: Bildende Kunst 12/1987, S . 550 f . 235 Vortragsmanuskript o . D . SAdK Klaus-Werner-Archiv 381 . 236 Geschäftsführer: Alexander Farenholtz, Frank Petri (Prokurist); Team: Pier Luigi Tazzi, Denys Zacharopoulos, Bart de Baere . Die DIX fand vom 13 . Juni bis 20 . September 1992 statt . 195 Künstler und 615 .000 Besucher wurden gezählt . Etat: 18,6 Mio . DM . 231 232 233 234

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seinerzeit Szeemann schwebte ihm vor, die Ausstellung gemeinsam mit Künstlern zu entwickeln . Doch die Vorbereitungstreffen zeigten, dass es nicht möglich war, mit den ersten neun nominierten Künstlern auf der Basis des Schneeballsystems eine reine Künstler-documenta zu organisieren .237 Hoets Ansatz war eher emotional als intellektuell, die Ausstellung sollte erlebnisorientiert sein und die Vielfalt der Kunst präsentieren, ohne sie systematisch zu strukturieren . Ins Rahmenprogramm der neunten documenta wurden auch Jazz sowie die sportlichen Disziplinen Boxen und Baseball aufgenommen . Diese documenta wurde nahezu eine reine West-documenta, was vor dem Hintergrund des gerade beendeten Kalten Krieges erstaunte . Das Gebiet jenseits der Elbe blieb für Hoet Terra Incognita . Einer der wenigen beteiligten osteuropäischen Künstler war Ilya Kabakov . Seine Installation Die Toilette führte die sozialistische Wirklichkeit vor, vor allem den Mangel an Privatsphäre . Kabakov wunderte sich damals über seine westlichen Kollegen: „Es war ein Riesenschock zu sehen, in welchem Zustand sich die Kunstausbildung befindet . Es ist einfach scheußlich . Es wird gelehrt, wie man sich in eine Galerie mogelt, wie man mit dem Markt umgeht .“ Frustriert fuhr er fort: „Man kann keinen Kontakt mit diesen Menschen aufbauen, weil sie sich für nichts interessieren, was außerhalb von Galeriekontakten und Verkäufen liegt .“238 Zu den bekanntesten documenta-Arbeiten zählte Mo Edogas Signalturm der Hoffnung . Der Mannheimer Künstler band Abfallholz zu einer hochaufragenden Konstruktion zusammen . Bald konnte sich Edoga vor Materialspendern nicht mehr retten . Sein Turmbau beschäftigte Polizei und Ordnungsamt, weil Bürger hier eine Gelegenheit sahen, ihren Sperrmüll loszuwerden .239 Zudem hatten Unbekannte die im Aufbau befindliche Holzskulptur anzuzünden versucht, aber keinen nennenswerten Schaden angerichtet .240 Später wurde der Turm verbotener Weise immer wieder nachts von Jugendlichen erklettert . Stärker beschädigt wurde der Pavillon des Galeristen Hans-Jürgen Müller auf dem Friedrichsplatz, der einige Tage vor der Eröffnung der documenta angezündet worden war . Trotzdem konnte Müller in der angerußten Hütte 100 Tage lang über sein auf Teneriffa geplantes Künstlerkommunenprojekt Atlantis Mariposa informieren .241 Nach den Erfahrungen der letzten documenta-Ausstellungen wurden die Aufsichten mit Trillerpfeifen ausgerüstet und durch die technische Leitung ausdrücklich aufgefordert, Vandalismus aktiv zu unterbinden: Die Aufsichten sind verpflichtet, Besucher, die mutwillig oder fahrlässig Schäden an Kunstwerken verursachen, notfalls mit Gewalt festzuhalten . […] Die Aufsichten haben unbedingt präventiv zu handeln . Falls sie das Gefühl haben, dass sich jemand einem

Barbara Heinrich, die dIX . Eine Unterhaltungsmaschine?, in: Michael Glasmeier u . a . (Hg .), Archive in Motion . documenta-Handbuch, Göttingen 2005, S . 335 ff . 238 Interview Sleek Herbst 2006, S . 216 . 239 HNA 7 .8 .1992 . 240 Informationsdienst Kunst Nr . 29 10 .6 .1992 . 241 Westfälische Rundschau 6 .6 .1992 . 237

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Kapitel III Die documenta: „Staatsaufgabe“ oder „Zirkus der Scharlatane“?

Kunstwerk zu sehr nähert, ist von der Pfeife Gebrauch zu machen . […] Lesen ist ein Kündigungsgrund . Sitzend können die Kunstwerke nicht überwacht werden .242

Einige Fälle von Vandalismus waren dennoch auch im Innenbereich zu beklagen: Mindestens zehn Wachshände aus der Installation von Jan Fabre in der Neuen Galerie wurden gestohlen oder zerstört .243 Zwei Mixed-Media-Skulpturen („Transitory Objects“) von Marina Abramovic wurden beschädigt: Ein Gegenstand traf die Spitze eines Amethysten, in der sich Risse zeigten, eine weitere Spitze wurde abmontiert und gestohlen .244 Viele Beschädigungen waren auf Unachtsamkeit zurückzuführen, aber auch auf den Wunsch, das Kunstwerk zu berühren – letztlich handelte es sich nicht um Aggressionen gegen Kunst, sondern um eine Art von Zuneigung .245 Die Aufsicht Johanna Alheit, eine Kasseler Kunststudentin, berichtete aus dem Fridericianum, dass sich kaum jemand Gedanken darüber mache, dass Berührungen den Kunstwerken schaden können: „Da gibt’s welche, die kratzen sogar an Ölbildern! Wenn wir sie ansprechen, kriegen wir oft die ganze Unzufriedenheit der Besucher ab, manchen verlangen sogar ihr Geld zurück .“246 Die Ölgemälde von Jürgen Meyer animierten Besucher offenbar, selbst künstlerisch tätig zu werden und quasi eine Ko-Autorschaft anzustreben: „Jemand entnahm einem anderen Bild Meyers eine pastose Farbpartie und drückte sie in die weiche Farbschicht des Gemäldes Warmgrau . Ähnliche „Nachbearbeitungen“ ereigneten sich noch zwei Mal .247 Die neunte war diejenige documenta, die die bislang höchste Yellow-Press-Relevanz aufweisen konnte: Günter Grass, Prinz Filip von Belgien, Königin Beatrix und Prinz Claus aus den Niederlanden und Königin Sonja von Norwegen besuchten die Schau .248 Die hohe Besucherzahl und das starke Medieninteresse waren inzwischen auch zu einem unübersehbaren ökonomischen Faktor geworden: Die Effekte der neunten documenta auf die Kasseler Wirtschaft wurden mit gut 40 Mio . DM beziffert .249 Selbst wenn es jetzt noch lokale Gegner der documenta geben sollte, waren diese nun leicht mit einer finanziell-ökonomischen Argumentation ruhig zu stellen . Die documenta wurde seitdem zum vielbeachteten Beispiel kultureller „LeuchtturmPolitik“ (bekannt auch als „Bilbao-Effekt“): regionale Wachstumsförderung und städ-

242 Anweisung der technischen Leitung an die Aufsichten, Zusammenfassung einer Besprechung mit den Versichern vom 25 .6 .1992 . documenta-Archiv D 9 M 126 . 243 Schadensbericht vom 30 .7 .1992 . Schadensberichte documenta-Archiv D 9 M 126 . 244 Schadensbericht vom 1 .7 .1992 . Schadensberichte documenta-Archiv D 9 M 126 . 245 HNA 19 .6 .1992 . 246 HNA 16 .7 .1992 . 247 Schadensbericht vom 20 .6 .1992 . Schadensberichte documenta-Archiv D 9 M 126 . 248 Goldenes Besucherbuch der Stadt Kassel . 249 Angaben nach: Regionalökonomische Effekte von Kulturausgaben am Beispiel der documenta von Achim Kördel, Diplomarbeit am Lehrstuhl für Verwaltungsökonomie und -Management Universität Kassel 1992 .

Ein etabliertes westdeutsches Kulturereignis: documenta 7 bis 9

Abb. 12 Populär war Jonathan Borofskys Man walking to the Sky, eine Plastik aus Stahl und Fiberglas. Auf einem 25 m langen und im Winkel von 60 Grad montierten Stahlrohr marschiert ein Mann nach oben. Eine Bürgerinitiative erwarb das Werk für Kassel. Heute steht es auf dem weiten Platz vor dem früheren Kasseler Hauptbahnhof und wird intensiv als Motiv im Kasseler Stadtmarketing eingesetzt.

tebauliche Aufwertung durch Großausstellungen und Museumsneubauten . Jan Hoet war dafür der richtige Botschafter, er war ein großes Kommunikationstalent . Marianne Heinz, damals Leiterin der Kasseler Neuen Galerie, erinnerte sich: „Er hat ja mit der Putzfrau genauso geredet wie mit der Königin von Norwegen – was ich zufällig hintereinander erlebt habe .“250 Andererseits erschien Hoets überbordende Schau nicht wenigen Kritikern als unstrukturiertes Gesamtkunstwerk . Die Zeit ätzte: „Am Tage, als Jan Hoet sich in einen Zirkusdirektor verwandelte, da entdeckte er auch alle Facetten dieses ungewöhnlichen Berufs, der ja den Conferencier ebenso einschließt wie den Prediger, PR-Mann, Schmierendirektor und Herrscher im Olymp .“ Die amerikanische Starkritikerin Roberta Smith schrieb: „The show is big and unfocused . Almost every artist working today could have been in it .“251 Auch auf politischer Ebene gab es Kritik . Im Juni 1992 fand eine feministische Protestkundgebung statt, zu der u . a . das Bonner Frauenmuseum und Mitglieder der Gewerkschaft IG Medien aufgerufen hatten . Es ging gegen angebliche sexistische Äußerungen Hoets . Nicht nur der geringe Frauenanteil an den documenta-Künstlern wurde bemängelt, sondern auch die geringe Zahl

250 251

Harald Kimpel (Hg .), documenta emotional, Marburg 2012, S . 116 . New York Times 22 .6 .1992 .

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Kapitel III Die documenta: „Staatsaufgabe“ oder „Zirkus der Scharlatane“?

von Teilnehmern aus Osteuropa und dem globalen Süden: „Die Weltausstellung, die gar keine Weltausstellung ist und auch nicht sein will, repräsentiert mit überwiegend amerikanischen und westeuropäischen Künstlern diese unsere eine Welt .“252 Die Demonstrantinnen zogen vor die documenta-Halle, um dort Steinattrappen abzulegen, als Material für „Grundmauern für eine documenta der Frauen .“ Gefordert wurde eine Frauenquote für die nächste documenta . Bei der Kundgebung warf die Leiterin des Bonner Frauenmuseums, Marianne Pitzen, dem anwesenden documenta-Kurator „männliche Arroganz“ und „frauenfeindliches Verhalten“ vor . Hoet wies dies als „Polemik“ zurück . Er sei auf der „Suche nach Kunst und nicht nach einer Quote“, fügte er hinzu .253 Trotz aller Kritik war die neunte documenta ein populäres Ereignis gewesen . Eine Besucherbefragung ergab, dass sich 41 % ausdrücklich als „Fan moderner Kunst“ bezeichneten .254 Eine weitere Befragung von über 6 .000 documenta-Besuchern ermittelte folgende Anteile: ausgebildete Akademiker: 34 %, Studenten 24 %, Beamte 12 %, Hausfrauen 2,5 %, Arbeiter 2 %, selbstständige Handwerker 2,3 %, Auszubildende 1,6 % .255 Ein typisches Phänomen dieser documenta waren die Warteschlangen . Ursprünglich hatte Hoet auf deren abschreckende Wirkung vor den Hauptgebäuden der documenta gesetzt, auf diese Weise sollten die Besucher zu den alternativen, neuen, weniger bekannten Orten seiner Ausstellungstopografie gelenkt werden . Doch die Warteschlangen hatten einen gegenteiligen Effekt: Das Einreihen in die Warteschlange signalisiert, dass man sich an einem gesellschaftlichen Bildungsritual beteiligt . In der Warteschlange kann sich das Publikum selbst in Szene setzen, es stellt sein Kunstinteresse öffentlich aus . Außerdem ändert sich die Rezeption: Je länger das Warten, desto sicherer ist die Akzeptanz des Ausgestellten, schließlich will man sich nicht selbst um die Früchte des mühsamen Wartens bringen, indem man die Kunstwerke dann allzu kritisch betrachtet oder die Schau enttäuscht wieder verlässt . Das Warten führt also zu einer positiveren Sicht auf die Kunstwerke, die Ausstellung bleibt als ungewöhnliches Ereignis in besserer Erinnerung . Somit war die neunte documenta ein Vorläufer jener „Eventisierung“ des Ausstellungsbetriebs, die sich einige Jahre später weit verbreiten sollte . In den 1990er Jahren hat sich die documenta vollständig etabliert . Seitdem gibt es keinen nennenswerten Widerstand oder Protest mehr gegen diese Großausstellung . Das Medienecho ist kontinuierlich stärker geworden, parallel dazu sind die Besucherzahlen angestiegen . Medienecho und Besucherzahlen korrespondieren einer252 Flugblatt des Vereins zur Förderung feministischer Kunst und Kultur e . V . zur Kundgebung Aktion Steinschnuppe, Kassel 20 .6 .1992 . documenta-Archiv D 9 M 112 . 253 HNA 21 .6 .1992 . 254 Eine Befragung von 400 Tagesbesucher durch die Firma „Sport und Markt“ am 29 .8 .1992 ergab: 33 % Angestellte, 21 % Studenten, 16 % Selbständige, 11 % Beamte, 2 % Arbeiter, 2 % Hausfrauen, 2 % Rentner . Akademikeranteil: 41 % . Hauptschulabschluss: 1 % . Künstleranteil 13 % . Lesesaal documenta-Archiv . D 9 F 1992 . 255 Eingangsbefragung von über 6 .000 documenta-Besuchern durch den Lehrstuhl Verwaltungsökonomie Professor Gerd Hellstern von der Universität Kassel . Lesesaal documenta-Archiv . D 9 F 1992 .

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seits miteinander, sind andererseits entkoppelt: Verrisse in Leitmedien führen nicht zum Rückgang der Besucherzahlen, der Einfluss bildungsbürgerlicher Opinionleader schwindet, die Kunstkritik verliert an Wirkung . Die documenta wird zum nationalen und regionalen Aushängeschild und zum Wirtschaftsfaktor . Alle maßgeblichen politischen Parteien und Entscheider bis hinauf zur Landes- und Bundesebene unterstützen die Ausstellung . Das Publikum ist mittlerweile ein Massenpublikum, keinesfalls aber ein sozial durchmischtes . Es dominiert eine bildungsorientierte Mittelschicht, die infolge der goldenen Nachkriegsjahrzehnte zahlenmäßig stark angewachsen ist: Lehrer, Hochschullehrer, höhere Angestellte, Studenten, Künstler, Kunststudenten, wohlhabende Pensionäre . Es fehlen Arbeiter, Hausfrauen, Auszubildende, Soldaten .

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Kapitel IV Treffpunkt der globalen Bourgeoisie Die documenta nach dem Ende des „Zeitalters der Extreme“

Die documenta-Ausstellungen 10 bis 14 zeigten, dass sich die Schau auch unabhängig von ihrer Schaufenster-Funktion im Kalten Krieg als eigenständiges Kulturereignis etablieren konnte . Die documenta trat in eine Phase, in der sie weithin gesellschaftlich akzeptiert wurde . Weder gab es kulturkritische, finanzielle oder politische Bedenken, noch wurde die Machtfülle der Kuratoren problematisiert . Auf regionaler Ebene schätzte man den Boost-Effekt der documenta auf die Wirtschaft, auf nationaler Ebene den Prestigegewinn für die Bundesrepublik . Diese allgemeine gesellschaftliche Akzeptanz erstaunt um so mehr, weil sich die documenta seit 1997 stark polarisiert hatte und sich eindeutig in ein linkes Diskursfeld hineinmanövrierte . Dazu kam der Trend einer fortschreitenden Deterritorialisierung, der mit der 11 . documenta begann und in dessen Kontext immer größere Teile des documenta-Etats außerhalb von Kassel verbraucht wurden . Während Kurator Okwui Enwezor der documenta 11 mehrere Konferenzen außerhalb Europas vorschaltete, erklärte die documenta 12 ein spanisches Restaurant zur offiziellen Außenstelle . Zeitgleich zur documenta 13 wurde eine mehrwöchige Satellitenausstellung in Kabul durchgeführt, und die 14 . documenta verdoppelte sich gar auf zwei gleichberechtigte Standorte in Kassel und Athen . Inwieweit sich dieser Prozess bei der documenta 15 fortsetzt, ist bislang noch unklar, Statements der aus Djakarta stammenden Kuratoren deuten darauf hin, dass auch Indonesien als documenta-Schauplatz eine Rolle spielen wird . Die Intellektualisierung und Politisierung der documenta wurde maßgeblich von Catherine David angeregt . Dabei bot die designierte Leiterin der documenta 101 durchaus Angriffsflächen, trat sie doch wie eine überhebliche linke Intellektuelle auf . Die Direktorin des Pariser Museums Jeu de Pau1 Geschäftsführer Bernd Leifeld, Frank Petri (Prokurist); Generalassistentin: Hortensia Völckers; Team: Jean-Françoise Chevrier, Véronique Dabin, Thomas Mulcaire, Isabelle Merly . Dauer: 21 . Juni bis 28 . September 1997 . 138 Künstler . 628 .776 Besucher . Etat: 21,7 Mio . DM .

Der Diskurs als Spektakel: documenta 10 bis 14

me hatte sich im FAZ-Magazin über Kassel mokiert: „Diese Stadt hat keine Eigenart und keine intellektuelle Tradition . Abgesehen von einer Clique alter Dummköpfe aus der Zeit von Arnold Bode, die glauben, dass man dessen documenta-Schauen unendlich wiederholen kann .“ Bei der Pressekonferenz zur documenta-Eröffnung verlas sie stur ein vorbereitetes Comuniqué und fertigte die Journalisten barsch ab .2 Entsprechend unwirsch wurde die documenta-Berichterstattung einiger Medien, einschließlich persönlicher Angriffe auf die Leiterin . Der Diskurs als Spektakel: documenta 10 bis 14

Davids Konzept sah eine radikale Abkehr von dem unterhaltsamen Ausstellungsbetrieb á la Hoet vor . Bei der 10 . documenta sollte es vor allem um gesellschaftlich relevante Ideen und Impulse gehen . Unter diesem Blickwinkel wurden besonders jene kritischen künstlerischen Positionen wieder ausgestellt, die sich Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre formiert hatten . Die Schau ist weithin als theoretisierend und unsinnlich empfunden worden . Für Intellektuelle und linke Kuratoren wirkte sie hingegen vorbildhaft, und kann wie die 5 . documenta als historische Wegmarke angesehen werden . Konservative Kunstexperten und Laien vermissten die großformatige Malerei und die oft umstrittenen, häufig aber auch beliebten und spektakulären Außenskulpturen . Angetreten war David, dem „Spektakel“ Hoets eine seriösen intellektuellen Diskurs entgegenzusetzen . Doch trug sie zugleich zu einer fragwürdigen Innovation bei: „Der Diskurs gehört auch zum Spektakel“, wie es Sarat Maharaj, Ko-Kurator der documenta 11, ausdrückte .3 Alles in allem leitete die 10 . documenta einen Trend ein, der bis heute dominant ist . Sie markierte die Abkehr von musealen, unterhaltsamen und eher unpolitischen Ausstellungen wie der siebten, achten und neunten documenta, und die entschiedene Hinwendung zu linker Theorie, poststrukturalistischer Philosophie, Antikolonialismus und Kapitalismuskritik, die die Kasseler Ausstellungen seit 1997 substanziell prägen und den intellektuellen Mainstream in der Kunstwelt bilden . Diese nachhaltige Politisierung der documenta wurde von der Politik und der Bevölkerung nahezu widerspruchslos hingenommen – sei es aus Resignation oder Desinteresse, sei es aus mangelnder Fachkenntnis . Seit der zehnten documenta findet sich alle vier Jahre ein ganz überwiegend wohlwollendes, linksliberales und kultiviertes Publikum in Kassel ein . Die „wilden“ Auseinandersetzungen, Proteste und Skandale, die die vierte, fünfte und sechste documenta begleiteten, und der Vandalismus bei der siebten, achten und neunten documenta erscheinen wie aus einer unendlich fernen Zeit . Allein der umtriebige Film- und Theaterregisseur Christoph Schlingensief schaffte es,

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HNA 20 .6 .1997 . Symposium documenta 1997–2017: erweiterte Denkkollektive, Kassel 17 ./18 .7 .2015 .

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Kapitel IV Treffpunkt der globalen Bourgeoisie

mit seiner Methode der Brachial-Provokation der 10 . documenta doch noch einen Eklat zu bescheren: Tumult, Polizei, empörte Bürger – das volle Programm . Mit einem Megaphon war er durch Kassel gelaufen, um die kurz zuvor verunglückte Lady Diana zu schmähen, Servicekräfte von Kasseler Cafés als „aidskrank“ zu bezeichnen und zur Tötung des Bundeskanzlers aufzurufen . Ein gleich lautendes Plakat war auch im Eingangsbereich des „Hybrid Work Space“, einem Veranstaltungsort der documenta, gehangen und hatte die Polizei auf den Plan gerufen . Zwei Polizeibeamte wollten das Plakat abhängen, wurden aber von Schlingensief und einem seiner Mitstreiter daran gehindert . Nach dem Gerangel kam es zu Festnahmen der beiden, ein weiteres Mitglied des Schlingensief-Ensembles wurde von einem Polizeihund gebissen . Die documenta-Leitung stellte sich uneingeschränkt hinter Schlingensief . „Die Freiheit der Kunst“ gelte auch für dessen Aktionen, und „das überzogene Eingreifen der Polizei wird von der documenta mißbilligt“, so Pressesprecherin Maribel Königer .4 Es war ein Kunstskandal wie aus dem Lehrbuch: Grenzüberschreitung durch Mordaufruf an einem Politiker – selbsterzeugte Eskalation beim Eintreffen der Polizei – Märtyrerstatus durch Verhaftung – maximales Medienecho – flammende Appelle zur Verteidigung der Freiheit der Kunst – Solidarisierungswelle im Kulturbetrieb und in der Politik . Die Durchsichtigkeit dieser Masche brachte schon damals Bürger auf . Gegen die Mechanik des Kunstskandals, bei der die Zahnräder von Provokation, Repression und Solidarisierung reibungslos ineinandergriffen, war allerdings nichts auszurichten . Zurück blieb aufgestauter Ärger, der sich in Leserbriefen an die Lokalzeitung Luft zu machen versuchte: „Meine Wut steigerte sich ins Unermeßliche, als ich lesen durfte, daß die documenta-Leitung voll hinter der Aktion dieses Hampelmannes steht .“5 Während der documenta 10 hatte das Allensbach-Institut unter gut 2 .000 Befragten den Bekanntheitsgrad der documenta ermittelt, dieser lag bei beachtlichen 59 %, zugleich gaben aber 64 % an, sie hätten kein Interesse an einem Besuch der Ausstellung .6 Laut einer repräsentativen Besucherumfrage beurteilten 44 % die Ausstellung als hervorragend und gut; 33 % fanden sie befriedigend und nur 23 % gaben ihr die Noten vier und fünf . Die Umfrage machte deutlich: Die documenta hat mittlerweile ein Stammpublikum (52 %); und die meisten (77 %) wollten zur nächsten documenta wiederkommen .7 Mit Okwui Enwezor kam bei der nächsten documenta8 erstmals ein aus Übersee stammender künstlerischer Leiter zum Zuge . Enwezor war Nigerianer und hatte in den

HNA 1 .9 .1997 . Jürgen Fichter Leserbrief HNA 16 .9 .1997 . HNA 26 .9 .1997 . Prof . Gerd-Michael Hellstern von der Uni Kassel hatte diese Ergebnis in einer repräsentativen Umfrage (4 .596 Besucher) ermittelt . HNA 7 .11 .1997 . 8 Geschäftsführer: Bernd Leifeld, Frank Petri (Prokurist); Assistentin der Künstlerischen Leitung : Christina Werner . Co-Kuratoren: Carlos Basualdo, Ute Meta Bauer, Susanne Ghez, Sarat Maharaj, Mark Nash und Octavio Zaya . Die documenta 11 fand vom 8 . Juni bis 15 . September 2002 statt . Der Etat lag bei 18 Millionen Euro . Gezeigt wurden 450 Exponate von 117 Künstlern . 650 .924 Besucher sahen die Schau . 4 5 6 7

Der Diskurs als Spektakel: documenta 10 bis 14

USA Karriere gemacht . Unmittelbar vor der documenta leitete er die Biennale von Johannesburg . In ihrem politisch-gesellschaftlichen Bezug setzte die 11 . documenta die Linie Davids fort, allerdings stärker aus einer globalen, postkolonialen Perspektive . Enwezor hatte sich dafür ein internationales Kuratorenteam an seine Seite geholt . Die Medienresonanz war überwiegend wohlwollend . Die New Yorker Kritikerin Kim Levin brachte das politisch-dokumentarische Konzept Enwezors mit ihrem Schlagwort von der „CNN-documenta“ auf den Punkt .9 Proteste und Vandalenakte waren im Vergleich zu früheren documenta-Ausstellungen selten geworden . Zu den wenigen Fällen gehörte eine Holzinstallation von John Bock in der Aue, die angekohlt und mit dem Schriftzug „Fuck the documenta!“ beschmiert worden war10 sowie das Architekturmodell New Buildings for Berlin von Isa Genzken, an dem der schwarze Schriftzug „SS“ angebracht worden war .11 Insgesamt war diese documenta wenig umstritten . Zur positiven Bilanz gehörten auch die guten Werte, die Besucherbefragungen ergaben . 7 % der Besucher zählten sich leitenden Berufspositionen zu, 33 % Akademikern, 17 % Studenten, 15 % Beamten/Angestellten .12 Die zwölfte documenta13 leitete der in Wien lebende deutsche Publizist und Kurator Roger Buergel . Er war ein Überraschungskandidat für den Leitungsposten gewesen und beschloss nach seiner Nominierung auch etwas überraschend, die Bürde des Amtes mit seiner Frau Ruth Noack zu teilen . Das Paar, das nach vergessenen Entwicklungslinien (Motto: „Ist die Moderne unsere Antike?“) und übersehenen globalen Beziehungsnetzen der neueren und neuesten Kunstgeschichte („Migration der Form“) suchte, knüpfte in seiner Subjektivität wieder an Fuchs und Hoet an, wenngleich die politische Ausrichtung der Ausstellung nicht infrage gestellt wurde . Ai Weiwei war der eigentliche Star der documenta 12 . Seit den 1990er-Jahren galt er ( Jahrgang 1957) als einer der führenden chinesischen Avantgarde-Künstler, die documenta machte ihn endgültig zum „chinesischen Beuys“, der im Westen, vor allem in Deutschland, wesentlich populärer wurde als in der Volksrepublik selbst, wo er – in den kommenden Jahren – kriminalisiert und festgehalten werden sollte . 1001 Landsleuten ermöglichte er den Besuch der documenta, ihre Präsenz und ihre Erlebnisse in der Stadt waren in bester Beuysscher Tradition als „Soziale Plastik“ interpretierbar . Dazu brachte er ebenso viele chinesische Stühle aus der Zeit der Qing-Dynastie mit . Ai hatte zudem in der Karlsaue die Monumentalskulptur Template errichtet, sie bestand aus hölzernen Fenstern und Türen, die der Künstler und seine Helfer in China aus Abrisshäusern geborgen 9 Kim Levin, „The CNN Documenta“, in: The Village Voice 7 .9 .2002 . 10 Schadensbericht vom 27 .5 .2002 . Schadensprotokolle documenta-Archiv D 11 M 434 . 11 Ebenda . 12 Besucherumfrage unter 6 .389 Personen . Christian Gösel, Gezeigte und geliebte Kunst .

Rezeptionsstrukturen zeitgenössischer Kunst, dargestellt am Bsp . der d 11, Magisterarbeit KH Kassel, 2004, S . 45 ff . In der Arbeit findet sich auch eine Übersicht aller documenta-Besucherbefragungen bis 2002 . 13 Geschäftsführer Bernd Leifeld, Frank Petri (Prokurist); Dauer: 16 . Juni bis 23 . September 2007 . 119 Künstler . Die Besucherzahl lag bei 754 .301, die entstandenen Kosten bei ca . 26 .230 .000 € .

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Kapitel IV Treffpunkt der globalen Bourgeoisie

hatten . Einige Tage nach der Eröffnung der documenta fiel Template einem Gewittersturm zum Opfer und sah nun – selbst nach Ansicht ihres Schöpfers – noch besser aus als zuvor . Im Publikum kam das nicht durchweg gut an . „Wütend und sprachlos war ich“, erinnert sich ein documenta-Besucher: „Wenn der Bundespräsident unter dem Schutthaufen gelegen hätte, was wäre es dann gewesen? Vermutlich eine neue Bestattungsart .“14 Die documenta 12 hatte ein eigenartiges Medienecho hervorgerufen . Keine documenta ist im Vorfeld so in den Himmel gelobt worden und danach derart abgestürzt – auch in der internationalen Presse . „documenta 12 is a disaster“ schrieb The Guardian.15 „The single worst art exhibition I have ever seen anywhere, ever“, urteilte der Kritiker des Daily Telegraph: „This is a show organised by two pseuds and intended for graduate students and people who don’t really like visual art at all .“16 Die New York Times konzedierte, auf den ersten Blick böte die Ausstellung zwar einige Überraschungsmomente, doch bei näherer Betrachtung sei der gute Eindruck nicht zu halten: „On a return visit the surprise has diminished, and the installation starts to look too porous; the curatorial ideas too obvious, pedantic and confining; the work too small, private, underdone, done-before .“17 Trotz der heftigen Verrisse wurde wieder ein neuer Besucherrekord aufgestellt – ein Zuwachs von 100 .000 . Zudem waren Journalisten aus 52 Ländern angereist . Eine Besucherbefragung ermittelte Anteile folgender Milieus: ausgebildete Akademiker 31 %, Studenten 15 %, Beamte 13 %, Hausfrauen 2 %, Arbeiter 1,3 %, Auszubildende 0,6 % .18 Die Leiterin der 13 . documenta19, die italienisch-amerikanische Kuratorin Carolyn Christov-Bakargiev, propagierte die heilende Wirkung der Kunst und bediente damit die Bedürfnisse eines Kunstpublikums, das von Überdruss und Burn-Out-Erscheinungen gebeutelt wurde . Diesmal waren in Kassel sämtliche populären Kunstgattungen, von Malerei bis Konzeptkunst, präsent, Theoriegeniesser kamen mit einem umfangreichen Katalog und weiteren, umfangreichen Textmengen auf ihre Kosten . Ein bemerkenswertes Experiment war die documenta-Satellitenausstellung, die während des Sommers 2012 sechs Wochen lang in einer historischen Parkanlage in Kabul stattfand . Sie wurde von ISAF-Truppen gesichert und erreichte ca . 30 .000 Besucher . Ihr waren Workshops mit einheimischen und internationalen Künstlern an verschiedenen Orten in Afghanistan vorausgegangen . Unter dem Aspekt „Heilung durch Kunst“ versuchte die documenta 13, eine Analogie zwischen dem zerstörten Nachkriegs-

Manfred Werner am 29 .11 .2013 per Mail an die HNA . The Guardian 19 .6 .2007 . The Daily Telegraph 19 .6 .2007 . New York Times 22 .6 .2007 . Gerd-Michael Hellstern, documenta-Erhebung 2007 . Lesesaal documenta-Archiv . D 12 F 2007 . Geschäftsführer: Bernd Leifeld . Leitende Mitarbeiter: Christine Litz (Geschäftsführende Projektleiterin), Chus Martínez (Leitung der Kuratorischen Abteilung) und Bettina Funcke (Leiterin der Publikationsabteilung) gehörten . Ausstellungsdauer Kassel: 9 .6 . bis 16 .9 .2012, Kabul: 20 .6 . bis 19 .7 .2012 . 187 Künstler/ Künstlergruppen . 904 .000 Besucher . Etat: 30,6 Mio . Euro . 14 15 16 17 18 19

Der Diskurs als Spektakel: documenta 10 bis 14

Abb. 13 Die umgestürzte Skulptur Template von Ai Weiwei

deutschland und dem Bürgerkriegsland Afghanistan herzustellen . Damit wurde die Legende weitergeschrieben, eine westlich geprägte Kunst könne Werkzeug des „Nation Buildings“ werden, könne Geburtshelferin der Zivilgesellschaft in einer archaischen, kriegsgeplagten Region sein . Fasst man die kontroverse Diskussion über den Effekt des documenta-Gastspiels in Afghanistan zusammen, lässt sich festhalten: Es ist zwar gelungen, in Kabul ein lokales Publikum zu erreichen, und es sind in Einzelfällen durchaus afghanische Künstler inspiriert, gefördert und gestärkt worden . Eine längerfristige Wirkung der documenta war aber nicht feststellbar gewesen . Allerdings hat die sich nach 2012 wieder verschlechternde Sicherheitslage der Kunst wenig Freiraum und Weiterentwicklungsmöglichkeiten gelassen  – die nachhaltigen Gestaltungsmöglichkeiten der von außen agierenden documenta, die sich auf weitere westliche Institutionen, Geldgeber und Sicherheitsorgane verlassen musste, waren begrenzt . Die Selbstdarstellung als Doppelausstellung Kassel-Kabul brachte der documenta allerdings mehr politische Relevanz ein . Ein weiterer politischer Impuls kam ungeplant von außen, wurde aber erfolgreich von der documenta absorbiert: Deutsche Aktivisten der internationalen Bankenkritischen Occupy-Bewegung schlugen ihre Zelte auf dem Friedrichsplatz auf und blieben während der gesamten Dauer der documenta dort . Carolyn Christov-Bakargiev begrüßte die Bewegung ausdrücklich . Der Politiker Gregor Gysi (Die Linke) nutzte die Gelegenheit für einen Solidaritätsbesuch im Camp . „‚Wir

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wollen Transparenz und Basisdemokratie zeigen‘, erklärte ihm Platzbewohner Chris und fand den Hinweis wichtig, dass ‚das hier aber nichts mit Kommunismus zu tun‘ habe . ‚Das vergessen Sie mal bitte gleich‘, wurde Gysi daraufhin recht nachdrücklich: ‚Ich bin demokratischer Sozialist .‘ “20 Der Sicherheitsbeauftragte der documenta 13, der ehemalige Polizist Karl Heinz Wolf, pflegte regelmäßigen Kontakt zu den Camp-Bewohnern, damit das positive Verhältnis zur documenta bis zum letzten Tag der Schau bestehen blieb . Probleme habe es hingegen andernorts gegeben . Besonders zwischen Besuchern und Aufsichten sei es gelegentlich zu Konflikten gekommen: Beleidigungen, Nötigungen und selbst Körperverletzungen, berichtete Wolf21, darunter eine tätliche Auseinandersetzung zwischen einer Besucherin und einer iranischen Künstlerin . Die Täterin sei ursprünglich ein Fan der Künstlerin gewesen, das Ausstellungsobjekt bei der Kasseler Kunstschau habe ihr aber nicht zugesagt, hieß es in der Zeitung .22 Vandalismusvorfälle gab es nur wenige .23 904 .000 zahlende Besucher waren zu verzeichnen, 5 .300 Vertreter aus Museen, Galerien und Kunstwissenschaft, 12 .500 akkreditierte Journalisten . Auffällig war bei der 13 . documenta der Auftritt von Prominenten in Kassel . Hollywoodstar Brad Pitt führte die Riege an, dahinter allerhand deutsche Berühmtheiten, Farin Urlaub (Sänger „Die Ärzte“), der Schauspieler Til Schweiger, die Unternehmerin Susanne Klatten sowie Joachim Gauck, Sigmar Gabriel, Wolfgang Thierse und Gregor Gysi . Die documenta war zu einem populären und vollkommen unstrittigen gesellschaftlichen Ereignis geworden, in dessen Glanz sich Politiker gerne sonnten . Hingegen schrieb der New Yorker Kunstkritiker Jerry Saltz: „Dreiviertel aller in Kassel gezeigten Kunstwerke verbreiten Langeweile oder Schlimmeres . Zweitrangige Installationen, Fundstücke, Textbausteine, Videos, Skulpturenfragmente, leere Räume, Performances und Klanginstallationen – diese Art von überholter Konzeptkunst, wie sie Großausstellungen unserer Zeit eben prägt .“24 Stimmen wie die von Saltz waren die Ausnahme, die Medienresonanz war insgesamt überwältigend positiv, ebenso wie das Besucherecho . Unter den Besuchern fanden sich 26 % Akademiker, 16 % Studenten, 15 % Angestellte/Beamte, 13 % Künstler, 11 % Rentner, 8 % Führungskräfte,

HNA 10 .7 .2012 . HNA 4 .9 .2012 . Die Polizisten nahmen die Anzeige der Künstlerin auf . Offenbar handelte es sich um Natascha Sadr Haghighian . HNA 15 .6 .2012 . 23 So wurde der rostige Metallwürfel von Guillermo Faivovich und Nicolas Goldberg auf dem Friedrichsplatz „kunstvoll“ mit den drei Grundfarben in Plastikbechern übergossen  – eher eine ergänzende Verschönerung als Zerstörung . Zuvor war die Jalousien-Installation von Haegue Yang im Kulturbahnhof mit einem Farbbecher beworfen, aber nicht getroffen worden . Während des Volksfests Zissel wurden die Bronzeskulpturen von Carol Bove an der Orangerie verbeult . Die Geisterfigur von Apichatpong Weerasethakul in der Aue büsste ein Stück Fuß ein . Trotzdem hat die Farb-Attacke für documenta-Pressesprecherin Henriette Gallus eine andere Qualität . „Einen Fall, bei dem jemand so deutlich mit Absicht ein Werk zerstört hat, hatten wir noch nicht“, sagt sie . HNA 9 .9 .2012 . 24 Jerry Saltz, „A glimpse of Art’s future at documenta“, in: Johannes Hedinger u . a . (Hg .), Whats next . Kunst nach der Krise, Berlin 2013, S . 490 ff . 20 21 22

Der Diskurs als Spektakel: documenta 10 bis 14

Abb. 14 Die Plastik Idee di Pietra von Giuseppe Penone in der Karlsaue, angekauft mit den Spenden Kasseler Bürger. Der Künstler wurde von Papst Franziskus 2019 zum Mitglied der Päpstlichen Akademie der schönen Künste und der Literatur berufen.

8 % Selbständige, 7 % Schüler, 2 % Arbeiter, 2 % Hausfrauen, 0,5 % Wehr/Zivildienst/ Azubis .25 Möglicherweise hatte das „Projekt documenta“ im Jahre 2012 seinen Zenit erreicht, was die gesellschaftliche Akzeptanz und allgemeine Beliebtheit betraf . Zum Leiter der documenta 1426 wurde Adam Szymczyk gekürt . Zuvor hatte er die Kunsthalle Basel geleitet – und dort für einen eindrucksvollen Rückgang der Besucherzahlen gesorgt .27 Dies nährte Hoffnungen, bzw . Befürchtungen, dass die nächste documenta eine intellektuell anspruchsvolle und keineswegs unterhaltsam-populäre Veranstaltung werden könnte . In einer Presseerklärung behauptete die neue documenta-Leitung, Kassels Gastgeberrolle sei „samt allen Privilegien, die diese mit sich Gerd-Michael Hellstern, Lehrstuhl für Verwaltungsökonomie und -Management Universität Kassel, documenta-Erhebung, Kassel 2013 . 26 Geschäftsführer: Annette Kulenkampff, Frank Petri (Prokurist) Assistentinnen des Künstlerischen Leiters: Andrea Linnenkohl, Katerina Tselou . Kuratoren und Kuratorinnen: Pierre Bal-Blanc, Hendrik Folkerts, Candice Hopkins, Hila Peleg, Paul B . Preciado, Dieter Roelstraete, Monika Szewczyk, Bonaventure Soh Bejeng Ndikung (Curator at Large) . Exponate 1177 . Gesamtzahl/Künstler/Künstlerinnen 163/106/57 . 103 „historische Positionen“ . Kassel: 8 .6 . bis 17 .9 .2017, Athen: 8 .6 . bis 16 .7 .2017 . 163 Künstler / 103 „historische Positionen“, Etat: 47 .300 .000 Euro, Besucher Kassel: 891 .000 . 27 In seiner Amtszeit als Leiter der Kunsthalle Basel rangierten die jährlichen Besucherzahlen zwischen 15 .000 und 30 .000 (wobei noch die Eintritte ins Architekturmuseum mitgezählt wurden) . Im letzten Amtsjahr seines Vorgängers, 2002, waren laut Statistisches Amt Basel-Stadt noch 50 .000 Besucher in die Kunsthalle gekommen . 25

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bringt – nicht länger haltbar .“ In der documenta 14 sollten nun „die greifbaren Spannung zwischen dem Norden und dem Süden“ in der zeitgenössischen kulturellen Produktion reflektiert, artikuliert und gedeutet werden . Deshalb werde die documenta als gleichgewichtete Doppelausstellung in Athen und Kassel stattfinden . Durch die beiden weit voneinander entfernten Ausstellungsorte solle die Annahme zerstört werden, „dass eine solche Ausstellung nur als eine Einheit von Handlung, Ort und Zeit bestehen kann .“28 Es brauchte nicht viel Fantasie, sich diese Worte als Inschrift für die Grabplatte der documenta vorzustellen . Der Brief einer HNA-Leserin aus dem März 2017, so unbeholfen er auch formuliert war, sollte sich in den wesentlichen Punkten als zutreffend erweisen: Da wir Bürger die documenta finanzieren, haben wir auch ein Recht mitzureden . Dieser junge unfrisierte Pole ist Sozialist und möchte seinen griechischen Parteigenossen helfen . Doch nach alldem, was ich dank Ihrer Zeitung über die documenta 14 sammeln konnte, benutzt er früher Gestaltetes . Herr Bode würde sich im Grab umdrehen . Die Leute, die sich aufmachen und von langen Spaziergängen müde die Restaurants besetzen werden, tun mir schon jetzt leid . Wahrscheinlich wird uns die Hitlerzeit wieder vorgehalten . Gespannt bin ich, wie die Kritik ausfallen wird . Jedenfalls ist dieses kulturelle Ereignis in Gefahr!29

Nun stand die Angst im Raum, dass die documenta ihren einzigartigen Charakter verlöre und im globalen Biennalenzirkus aufginge, der mal in dieser, mal in jener Metropole, mal in diesem oder jenem geopolitischen Brennpunkt gastiert . In Szymczyks Ankündigung steckte also ein erhebliches Provokationspotential . Die 14 . documenta wurde dann tatsächlich als gleichgewichtete Doppelausstellung angelegt – die nominierten Künstler schufen je ein Werk für Athen und für Kassel . Beide Staatspräsidenten erschienen zu den jeweiligen Eröffnungen . Wie schon die 13 . documenta mit ihrem Gastspiel in Kabul, war auch ihre Nachfolgerin vom Auswärtigen Amt und GoetheInstitut als Musterbeispiel deutscher Auswärtiger Kulturpolitik unterstützt worden . Offenbar hoffte Berlin auf diese Weise, der von Linkspopulisten, Altkommunisten und Faschisten aufgewiegelten griechischen Bevölkerung ein positiveres Deutschlandbild zu vermitteln und damit auch die Spannungen innerhalb der EU abzubauen . Die documenta diente als kulturelle Beschwichtigungsgeste Deutschlands im Kontext der Eurokrise . Wie zu erwarten, machte man sich in Athen damit nicht nur Freunde . Der linke Politiker Yanis Varoufakis hatte die documenta schon im Vorfeld abgelehnt: „It is like crisis tourism . It’s a gimmick by which to exploit the tragedy in Greece in order to massage the consciences of some people from documenta . It’s like rich Americans taking a tour in a poor African country, doing a safari, going on a humanitarian tourism

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Henriette Gallus, Leiterin der Abteilung Kommunikation documenta 14, Presseerklärung Kassel 7 .10 .2014 . Leserbrief von Eva Hagen, Kassel . HNA 24 .3 .2017 .

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Abb. 15 Aufbau von Marta Minujíns Parthenon der Bücher auf dem Friedrichsplatz.

crusade .“ Konsequent und besser wäre es, so Varoufakis, wenn Kassel die documenta komplett an Athen abtreten würde .30 Am Ende gelang es zwar, in Athen eine Ausstellung zu organisieren, diese fiel aber in der Millionenmetropole kaum auf . Es wurden an den 40 Standorten insgesamt 339 .000 Eintritte (es galt kostenfreier Zutritt) gezählt, die Besucherzahl liegt aber weit darunter, weil Mehrfacheintritte und der Besuch diverser Standorte pro Besucher nicht eruiert wurden . Es sollen 2 .200 Medienvertreter aus 40 Ländern und 5 .750 Fachbesucher nach Athen gereist sein, gab die Pressestelle der documenta bekannt .31 Nach einer Umfrage unter 3 .684 Besuchern in Athen stammten 38 % aus Griechenland, 24 % aus Deutschland (von diesen waren 73 % eigens zur documenta angereist) und 35 % aus dem Ausland . Der Anteil der Fachbesucher in Athen lag bei 46 % .32 Die documenta 14 schlug eine radikale politische Tonart an . Im Gegensatz zu den vorangegangenen documenta-Ausstellungen bemühte sie sich massiv darum, politisch zu provozieren und Skandale auszulösen: Es wurden Schrumpfkopf-Plastiken von lehttps://www .spikeartmagazine .com/en/articles/doing-documenta-athens-rich-americans-takingtour-poor-african-country (7 .10 .2015) . 31 HNA 18 .7 .2017 . 32 Umfrage von Gerd-Michael Hellstern (Universität Kassel) zitiert in HNA 21 .11 .2017 . 30

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benden Politikern gezeigt (A War Machine), ein japanischer Frauenmörder wurde als „Performer“ präsentiert (Commensal), Holocaust und Migrationskrise wurden gleichgesetzt (Performance Auschwitz on the Beach), im Fridericianum fand eine öffentliche Sex-Beratung durch Dominas und Sexworker statt (Free Sidewalk Sex Clinic), Josef Beuys wurde mit NS-Verbrechern gleichgesetzt (Real Nazis) . Rauch aus Disco-Nebelmaschinen wehte während der documenta vom Turm des Fridericianums (Expiration Movement) und löste anfänglich zahlreiche Anrufe von Bürgern bei der Feuerwehr aus . Der Künstler brachte aber noch eine weitere Assoziationen ins Spiel: Auch an die Krematorien in den Vernichtungslagern solle man denken .33 Zwar gab es vereinzelte Unmutsäußerungen, gleichwohl zündete keiner dieser Erregungsvorschläge . Das Publikum nahm die Provokationen gleichmütig hin, die politisch Verantwortlichen erstarrten in Ehrfurcht vor dem künstlerischen Leiter und schwiegen . Tatsächlich sollte die documenta am Ende doch noch einen großen Skandal auslösen, allerdings nicht aus künstlerischen sondern aus finanziellen Gründen . Wurde auch dieser „finale“ Skandal, der die Existenz der documenta bedrohen sollte, von Szymczyk geplant oder zumindest sehenden Auges in Kauf genommen? War der Kollaps Teil des Konzepts? Im Rückblick spricht Einiges für diese Interpretation . Bereits im documenta-Reader hatte der Chefkurator seine These vorgestellt, die Auflösung von Grenzen, traditionellen Identitäten und Autoritäten sei geboten, und ein „radikaler Subjektivismus“ solle an deren Stelle treten . Es gelte nun, diese „radikalen Subjektivitäten vollständig zu realisieren und zu multiplizieren .“34 Die linke Zeitschrift konkret war mit der praktischen Umsetzung nicht zufrieden: Die documenta trägt stets eine riesige politische Agenda vor sich her . Es kommt einem dabei so vor, als wäre politische Kunst die eigentliche politische Praxis . Etwas Machtloses wird als übermächtig inszeniert . Wahrscheinlich sogar, weil man diese Machtlosigkeit ahnt . Das Risiko bleibt überschaubar .

Und nähme man Szymczyks politische Rhetorik ernst, „müsste man ihn als weißen Mann von seinem Posten verweisen und in die Handlungsunfähigkeit verbannen .“ Letztlich sei die documenta 14 ein widersprüchliches und apolitisches Projekt, resümierte die Zeitschrift und monierte: „Die Ablehnung der Aufklärung zieht sich durch das ganze Spektakel .“35 Dazu passte das politisierende Kunstvermittlungskonzept der documenta, das auf größtmögliche Zurückhaltung der Guides und auf Aktivierung der Besucher setzte . Szymczyks Mitstreiter Paul B . Preciado hatte in Symposien in Athen und Kassel zur „Bildung einer antifaschistischen, transfeministischen und antirassistischen Koalition“ aufgerufen . Es gelte, den „sogenannten Ausstellungskomplex HNA 9 .6 .2017 . Adam Szymczyk, „Iterabilität und Andersheit: Von Athen aus lernen und agieren“, in: Quinn Latimer und Adam Szymczyk (Hg .), documenta-Reader, München 2017, S . 18–42, hier S . 33 und 41 . 35 konkret 6/2017, S . 52–54 . 33 34

Die documenta GmbH am Rande der Insolvenz

gegen sich selbst zu mobilisieren“ .36 Der Leiter der öffentlichen documenta-Programme begriff die Institution documenta als Herrschaftsinstrument eines unterdrückerischen Systems, als Waffe, die man aber nun gegen den Imperialismus selbst richten werde . „Eine kleine Veränderung“, so Preciado, „kann bereits der Beginn einer Revolution sein .“37 Welche genau das sein sollte, blieb offen . Und wo war das revolutionäre Subjekt? Anstelle der Arbeiterklasse schien das documenta-Team eine Regenbogenkoalition von unterdrückten Minderheiten aller Art zu propagieren . Tatsächlich schien es Preciado und Szymczyk am Ende fast zu gelingen, den imperialistischen „Ausstellungskomplex“ documenta zu zerstören: Die Verdoppelung der Ausstellung auf zwei Standorte in Kassel und Athen sowie eine kreative Buchführung mit viel Bargeldeinsatz brachte die documenta GmbH an den Rand des Zusammenbruchs . Die Insolvenz wurde im September 2017 knapp abgewendet . Die documenta GmbH am Rande der Insolvenz

Wie konnte es soweit kommen? Erste Warnzeichen wurden im Herbst 2016 sichtbar, als überraschend 60 Künstler nachnominiert wurden .38 Zugleich wurde der Etat der documenta um fünf Millionen erhöht . Der damalige Aufsichtsratsvorsitzende und Kasseler Oberbürgermeister Bertram Hilgen (SPD) erzählte der Lokalpresse, er habe in jenem Herbst Szymczyk gefragt: „War es das jetzt? Mehr gibt es nicht“, und der Chefkurator habe geantwortet: „Das wars .“39 Im Februar 2017 soll Szymczyk mit Rücktritt gedroht haben, falls seine den Kostenrahmen sprengende Einbeziehung bzw . Unterstützung des Athener Museums für zeitgenössische Kunst (EMST) nicht finanziert werde . Hilgen ließ den documenta-Leiter wissen, dass die dafür notwendige Budgeterhöhung nur durch Minderausgaben bei anderen Projekten möglich wäre – und genehmigte unter dieser Voraussetzung den Vertrag mit dem EMST . Den documentaAufsichtsrat informierte Hilgen aber nicht, aus Angst, die Presse könnte Wind von Szymczyks Demissionsdrohung bekommen und einen Skandal heraufbeschwören .40 Es ist offensichtlich, dass Hilgen sich die anvisierte Krönung seiner politischen Laufbahn durch eine spektakuläre Doppel-documenta nicht nehmen lassen wollte . Nun war allerdings klar, dass der ursprüngliche Kostenrahmen der documenta 14 unter keinen Umständen eingehalten werden konnte . Die Frage, ob er sich von Szymczyk erpresst fühlte, verneinte Hilgen im Rückblick .41 Im März 2017 beklagte sich documenta-

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Einladungsflyer zum Symposium „Wie fühlt es sich an, ein Problem zu sein?“ Kassel 27 . bis 29 .4 .2017 . Interview in der HNA 27 .4 .2017 . Laut Romuald Karmakar zitiert in der HNA 25 .8 .2017 . Extratip 20 .9 .2017 . Interview Hilgens in der HNA 28 .9 .2017 . Ebenda .

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Geschäftsführerin Annette Kulenkampff im Deutschlandfunk, die documenta sei prinzipiell unterfinanziert, versicherte aber, ihre Forderung habe nichts mit einem etwaigen aktuellen Defizit zu tun .42 „Ihr fehlte es womöglich an Durchsetzungsvermögen und Erfahrung, um Szymczyk zu bremsen“, vermutete die HNA, während „Szymczyk allein schon wegen seiner notorischen Abwesenheit kaum etwas tat, um mehr Geld für die Weltkunstausstellung einzutreiben .“43 Der documenta-Aufsichtsrat ließ auf Anfrage von Journalisten verlauten, die documenta werde nun 37 statt 30 Mio . Euro kosten, das Budget sei entsprechend aufgestockt worden . Zugleich sei die ursprünglich separate Budgetfestlegung für Athen aufgegeben worden, denn jene Praxis habe sich als „unrealistisch“ erwiesen, so Hilgen . Er versicherte am 24 . März, „zum gegenwärtigen Zeitpunkt gibt es keine Hinweise auf Überschreitung des Budgets .“44 Hatte Szymczyk ursprünglich den Zuschlag für sein Doppelausstellungskonzept unter der Voraussetzung erhalten, dass maximal zehn Prozent des Etats für Athen aufgewendet würden (so war es von Hilgen der Öffentlichkeit verkauft worden, und für Athen waren anfangs tatsächlich lediglich zwei Mio . Euro vorgesehen), war diese Vereinbarung jetzt hinfällig . Szymzcyk musste sich nicht mehr daran halten, er hatte freie Bahn für seine Projekte in Athen, da die Kosten nicht mehr nach Standorten aufgeschlüsselt wurden . Skeptiker glaubten nicht daran, dass eine Kostenaufschlüsselung so schwer sei: „Das kann jeder kaufmännische Lehrling im dritten Jahr . Also: Man will intransparente Kosten, um späteren Rechtfertigungsansprüchen zu entgehen . Wer für was wie viel gezahlt hat, wird verschleiert . Der dumme Bürger wird das schon schlucken .“45 Leider wurden Stimmen wie diese nicht erhört . Am 12 . Juni 2017 teilte Kulenkampff Hilgen mit, es bestehe ein Defizit von zwei Mio . Euro . Hilgen hielt dies nicht für dramatisch in Erwartung ausstehender hoher Einnahmen – und wähnte sich ohnehin aus dem Schneider, weil sein Mandat als Aufsichtsratsvorsitzer auslief . Am 13 . Juli erklärte Kulenkampff im Deutschlandfunk: „Es gibt keine finanziellen Ungereimtheiten, die wir nicht erläutert hätten, die wir nicht erläutern können . Und es gibt auch keine Intransparenz oder irgendwas .“46 Am 22 . Juli gab Hilgen seinen Posten als Aufsichtsratsvorsitzender regulär ab und lehnt deshalb bis heute jede Verantwortung für die weitere Entwicklung ab . Am 31 . Juli war das Liquiditätsdefizit plötzlich auf knapp sieben Mio . Euro angewachsen, und die documenta GmbH stand vor der Insolvenz . Darüber informierte Kulenkampff den neuen Aufsichtsratsvorsitzenden Christian Geselle (SPD) allerdings erst am 24 . mündlich bzw . am 28 . August schriftlich . Ans Licht kam all dies am 12 . September 2017 durch die HNA. Obwohl für den documenta-Aufsichtsrat eine 42 https://www .deutschlandfunkkultur .de/documenta-ist-unterfinanziert .265 .de .html?drn:news_ id=723609 (20 .3 .2017) . 43 HNA 24 .3 .2017 . 44 Zitiert in der HNA vom 12 .9 .2017 . 45 Leserbrief von Wolfgang Clausmeyer, Kassel . HNA 6 .4 .2017 . 46 https://www .deutschlandfunk .de/documenta-geschaeftsfuehrerin-annette-kulenkampff-keine .1769 . de .html?dram:article_id=390952 (13 .7 .2017) .

Die documenta GmbH am Rande der Insolvenz

Verschwiegenheitspflicht herrscht, hatte jemand den Whistleblower gegeben  – vielleicht wäre die Öffentlichkeit sonst noch länger hintergangen worden . Geselle erklärte am 21 . September, das Wirtschaftsprüfungsunternehmen PwC sei mit der Klärung von Detailfragen beauftragt, sicher sei bereits, dass das Defizit ausschließlich durch den Athener Standort verursacht wurde .47 Die bis dato erwähnten Gründe für das Defizit überzeugten angesichts der Höhe der Ausstände nicht: Unterschätzte Kosten für Strom und Kunsttransporte, Diebstähle von Werkzeug, zusätzliche Laptops und Flugtickets für die documenta-Mitarbeiter – dafür sollten Millionen Euro verbraucht worden sein? Das Kasseler Stadtparlament stimmte am 25 . September 2017 mit breiter Mehrheit einer acht Mio . schweren Bürgschaft zu, um die documenta GmbH zu retten, wobei auch demonstrative Dankbarkeitsbezeigungen gegenüber Szymczyk seitens der Linken und der SPD zu hören waren – schließlich thematisierte seine documenta viele Themen, die auch auf der linken Agenda standen . Dank der guten Steuerertragslage der Stadt könne das Geld – so Geselle – aufgebracht werden, ohne Kürzungen im Bildungs- und Sozialbereich durchführen zu müssen .48 Viele offene Fragen standen im Raum: Hatte der Aufsichtsrat seine Pflichten vernachlässigt und sich nicht aktiv informiert? Hat der damalige Aufsichtsratsvorsitzende Hilgen die restlichen Aufsichtsratsmitglieder und das Land Hessen über das auflaufende Defizit im Unklaren gelassen? Viele Werke der Athener EMST-Sammlung, die im Fridericianum gezeigt wurden, waren erst 2016/2017 erworben worden . Sind hier Mittel der documenta zum Ankauf von Werken verwendet worden, die nun dauerhaft im Besitz des EMST verbleiben? Die griechische Kuratorin Marina Fokidis hatte daraufhin hingewiesen, dass die Unterstützung des Athener Museums durch die documenta sehr kostspielig werde .49 Hat sich Szymczyk mit seiner Unterstützung des EMST in die griechische Kunstszene „eingekauft“? Hat er Verwandte und Freunde begünstigt?50 Stimmt es, dass er ein Haus auf der Insel Hydra erworben hatte?51 Viele documenta-Mitarbeiter, die zwischen Kassel und Athen unterwegs waren, dienten als Bargeldkuriere . Normaler Zahlungsverkehr sei in Griechenland nicht möglich, hatte Kulenkampff schon im Herbst 2016 erklärt, weil man in Athen lediglich 430,- € pro Woche an Bargeld vom Bankkonto abheben durfte . Deshalb würden Lieferanten und Honorarkräfte Barzahlung erwarten .52 Allerdings wurde dadurch eine ord-

Pressekonferenz des documenta-Aufsichtsrates am 21 .9 .2017 in Kassel . Stadtverordnetenversammlung am 25 .9 .2017 im Kasseler Rathaus . http://www .deutschlandfunk .de/documenta-14-so-etwas-gab-es-in-griechenland-noch-nie-zuvor . 1184 .de .html?dram:article_id=385389) (26 .6 .2017) . 50 Für alle sichtbar stand seine Frau Alexandra Bachzetsis auf der Künstlerliste . Ihr offizielles Honorar betrug zwar nur 1 .000 Euro – dennoch gilt die Beschäftigung von Familienmitgliedern als unprofessionell für einen documenta-Leiter . 51 Laut der Künstlerin Christina Dimitriadis, Interview in der taz 21 .8 .2017 . Bestätigt auf Nachfrage per Email an den Autor 23 .1 .2020 . 52 https://freiewaehler-und-piraten .de/2017/02/15/notizen-aus-dem-kulturausschuss/#more-550 (10 .10 .2016) . 47 48 49

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nungsgemäße Buchführung erschwert und möglicherweise der in Südosteuropa noch immer weit verbreiteten Steuerhinterziehungs- und Korruptionspraxis Tür und Tor geöffnet . Zollfahnder führten im September 2017 unter documenta-Beschäftigen Befragungen durch, wobei Schwarzarbeit im Fokus stand .53 Künstler und Kuratoren initiierten nun eine Solidaritätskampagne . So stellten sich 212 documenta-Künstler und Gesinnungsgenossen hinter die documenta-Leitung .54 Im Dezember 2017 folgte ein von 82 Künstlern und documenta-14-Teilnehmern unterzeichneter offener Brief zur „Verteidigung der radikalen Vision der documenta 14“ .55 Schließlich forderten 130 Unterzeichner im Januar 2018 in einer Resolution, die documenta-Geschäftsführerin Kulenkampff weiterzubeschäftigen sowie einen zusätzlichen „internationalen Expert_innenbeirat“ als Oberaufsicht für die documenta zu installieren, in welchem sich Unterzeichner wie Kasper König, Ruth Noack, Peter Weibel oder Chris Dercon bestimmt gerne selbst gesehen hätten .56 Tatsächlich hatte die Geschäftsführung der documenta GmbH versagt . Die Rheinische Post schrieb im Februar 2018, der Abschlussbericht von PwC enthalte „zahlreiche Belege für teilweise eklatante Versäumnisse der Geschäftsführung . Der Aufsichtsrat blieb somit offenbar lange Zeit im Unklaren über die tatsächliche wirtschaftliche Situation und wachsende Defizite .“ Trotz des unternehmerischen Erfolgs in Kassel – der PwC-Bericht weise ein Plus von etwa 2,1 Millionen Euro aus  – „wurde für das Athener Gastspiel eine Ausgleichsfinanzierung von 7,5 Millionen Euro nötig . Der PwC-Bericht deutet an, wie naiv und unkontrolliert man in dieses Finanzdesaster hineinschlitterte .“57 Im Februar 2018 hatte die Staatsanwaltschaft Kassel einen Anfangsverdacht wegen Untreue aufgrund der PwC-Berichte festgestellt . Die Af D-Fraktion im Kasseler Stadtparlament hatte zuvor Strafanzeige gegen Hilgen, Kulenkampff und Szymczyk gestellt .58 Der Bund deutscher Steuerzahler forderte „Aufklärung und Konsequenzen .“59 Diese blieben aus . Am Ende war es mit Kosten von über 47 Mio . Euro die bislang teuerste documenta geworden . Im August 2018 begründete die Staatsanwaltschaft die Einstellung des Verfahrens gegen Verantwortliche der documenta auf ebenso überraschende wie nichtssagende Weise: „Weder das

Kulenkampff zitiert in der HNA 16 ./17 .9 .2017 . „Offener Brief der Künstler_innen der documenta 14 über die emanzipatorischen Möglichkeiten dezentrierter Ausstellungen“ http://www .kassel-live .de/wp-content/uploads/2017/09/d14_Artists_Open_ Letter_GERMAN_Sep .17 .0500 .CET_ .pdf (18 .1 .2018) . 55 Der Brief ist von groben sachlichen Fehlern gekennzeichnet, der Aufsichtsrat wird als „Vorstand“ betitelt, die privaten Ausgaben der documenta-Besucher werden als Einnahmen des städtischen Haushalts betrachtet . „Brief von documenta 14 Künstler_innen: Verteidigung der Radikalen Vision der documenta 14, Dezember 2017, in: http://www .artmagazine .cc/content100851 .html (18 .1 .2018) . 56 Zitiert in: https://www .hna .de/kultur/documenta/offener-brief-an-documenta-aufsichtsrat-9529969 . html (16 .1 .2018) . 57 http://www .rp-online .de/kultur/documenta-die-tragoedie-der-kunstschau-aid-1 .7394924 (14 .2 .2018) . 58 https://www .hna .de/kultur/documenta/anzeige-gegen-documenta-spitze-kasseler-afd-fraktion-ver mutet-veruntreuung-8786483 .html (19 .10 .2017) . 59 https://rp-online .de/kultur/documenta-steuerzahlerbund-will-konsequenzen_aid-17995191 (14 .9 .2017) . 53 54

Die documenta 14 hinterlässt ein „Merkel-Monument“

Ergebnis der Wirtschaftsprüfung noch die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen haben ausreichende Anhaltspunkte dafür ergeben, dass Gelder zweckwidrig eingesetzt oder verwendet worden wären,“ hieß es in der Presseerklärung . Im Übrigen scheide ein hinreichender Tatverdacht wegen Untreue aus, weil kein Vorsatz beim Eintritt eines Vermögensnachteils hätte festgestellt werden können .60 Der Verbleib der in Athen vermissten 7,5 Mio . Euro wird nicht mehr aufgeklärt . Die Einstellung des Verfahrens entlastete vor allem Ex-documenta-Geschäftsführerin Annette Kulenkampff und Bertram Hilgen, Ex-Oberbürgermeister und ehemaliger Vorsitzender des documenta-Aufsichtsrats . Möglicherweise spielten bei dieser Entscheidung aber auch kulturpolitische Überlegungen und Einflüsse eine Rolle . Sie ist ein wichtiges Signal an künftige Kuratoren (und Geschäftsführer), dass sie in finanziellen Dingen freie Hand haben und nicht haftbar gemacht werden . Dass die Einstellung des Verfahrens in Kassel weithin begrüßt wurde, ist vor dem Hintergrund verständlich, dass in Teilen des Kunstbetriebs und in überregionalen Medien Stimmung gegen den documenta-Standort Kassel gemacht wurde . Kommunalpolitiker und Kasseler Kunstfreunde waren bemüht, dem Eindruck entgegenzutreten, die Stadt sei provinziell und biete einer Weltkunstausstellung kein angemessenes geistiges Klima . Die documenta 14 hinterlässt ein „Merkel-Monument“

Neben einem historischen Defizit hinterließ die documenta der Stadt Kassel auch ein dauerhaftes Kunstwerk, das heiß umstritten war und einen hohen Bekanntheitsgrad erreichte: Das Flüchtlinge-Fremdlinge-Monument des amerikanisch-nigerianischen Künstlers, Kurators und Dozenten Olu Oguibe, der zudem mit dem renommierten Arnold-Bode-Preis ausgezeichnet worden war . Die 16 Meter hohe Attrappe eines Obelisken wurde aus hohlen Segmenten von schwarzgefärbtem Ortbeton zusammengesetzt und war während der documenta auf dem zentralen Platz der Stadt, dem Königsplatz, aufgebaut worden . Eine veredelnde Oberflächenbehandlung unterblieb aus Kostengründen, so dass das Objekt Rohbau-Charme versprühte . Ein einzelner eingefräster Buchstabe gab zeitweise Rätsel auf, bis das ominöse „B“ unter Betonspachtelmasse verschwand – es war wohl keine Kunst, sondern ein Versehen . Auf die vier Seiten der Betonsäule ist jeweils das Jesus-Zitat eingefräst worden: „Ich war ein Fremdling und ihr habt mich beherbergt“ – auf Englisch, Arabisch, Türkisch und Deutsch . Interessant ist auch der politische Kontext, den der Künstler erläuterte: „Wir können ganze Generationen retten, ganze Nationen, wenn wir das Prinzip der Gastfreundschaft ausweiten auf all jene, die in Not sind .“61 Es lag nahe, sein Kunstwerk als christlich motihttps://www .hna .de/kassel/mitte-kassel-ort248256/documanta-14-verfahren-verantwortliche-einge stellt-10105581 .html (9 .8 .2018) . 61 HNA 20 .4 .2017 . 60

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vierte und in Beton gegossene Aufforderung an Deutschland zu interpretieren, weiterhin unbegrenzt Flüchtlinge aufzunehmen . Ein amerikanischer Professor belehrt und erzieht die Deutschen – das erinnerte ein wenig an die Reeducation-Programme der Nachkriegszeit und brachte zugleich den überheblich-moralischen Gestus dieser documenta auf den Punkt . Oguibe wählte mit dem Obelisken bewusst eine Form historischer Unterwerfungsarchitektur, um seine Ansichten monumental zu unterstreichen, wollte sie aber zugleich als „ironisch“ verstanden wissen  – wie das Künstler heute häufig tun, damit sie sich argumentativ nicht festlegen müssen . Aber auch die christliche Intention seines Kunstwerks blieb letztlich in der Schwebe . Oguibe, Sohn eines Predigers, erklärte etwas überraschend: „Ich bin gar nicht religiös, ich hätte auch einen Satz von Shakespeare oder Kant auswählen können .“62 Kulturdezernentin Susanne Völker versicherte dem gerührten Künstler bei der Bode-Preis-Verleihung am 10 . September 2017, viele Kasseler hätten sein Werk „ins Herz geschlossen“ und wünschten sich, dass der Obelisk bleibe: „Das wäre ein schönes Signal für eine weltoffene Stadt .“63 Der Af D-Stadtverordnete Thomas Materner hatte das Objekt zuvor in einer Kulturausschuss-Sitzung als „ideologisch-polarisierende, entstellte Kunst“ bezeichnet und somit bewusst Assoziationen zum Begriff „entartete Kunst“ geweckt .64 Dadurch war das Werk zusätzlich „geadelt“ und erst recht schutzbedürftig und bewahrenswert geworden . Szymczyk und Oguibe schienen sich mit den politischen Honoratioren der Stadt schon einig zu sein . Der Künstler deutete einen Preis von mindestens einer Million Euro an . Am 12 . September kam das Defizit der documenta an die Öffentlichkeit . Oguibe ging mit dem Preis auf 600 .000 Euro herunter, doch die politischen Entscheidungsträger hielten sich nun zurück, zudem regte sich leise Kritik an Oguibes Preisvorstellungen . Dieser entgegnete kühl, er müsse ja schließlich von seiner Kunst leben . Zu den Hobbies des Künstlers, der zeitweilig Professor in Connecticut war, zählten u . a . das Sammeln antiker Kaminuhren und klassischer englischer Sportwagen .65 Geschickt erhöhte Oguibe den Druck, indem er behauptete „andere Städte, auch Nachbarstädte in der Region“, hätten den Wunsch geäußert, den Obelisken zu erwerben, aber er habe „immer darauf bestanden, dass der Obelisk für die Kasseler und den Königsplatz gemacht wurde .“66 Die FAS schilderte Oguibe als jemanden, der „die Kunst der politischen Taktik als Aktivist in Nigeria und als Studentenvertreter in London gelernt“ habe .67 In Gestalt von Olu Oguibe zeigte sich, dass Geschäftstüchtigkeit und moralisierendes Kunstschaffen keine Gegensätze sein müssen . Nun sollte eine SpenEbenda . HNA 11 .9 .2017 . https://www .hna .de/kultur/documenta/documenta-kunstwerk-obelisk-afd-spricht-von-entstellterkunst-8601756 .html (17 .8 .2017) . 65 http://www .veralistcenter .org/engage/people/1842/olu-oguibe-/ (29 .10 .2019) . 66 https://www .hna .de/kassel/mitte-kassel-ort248256/obelisk-documenta-14-kuenstler-olu-oguibeerklaert-sein-kunstwerk-9550383 .html (23 .1 .2018) . 67 FAS 12 .8 .2018 . 62 63 64

Die documenta 14 hinterlässt ein „Merkel-Monument“

densammlung den Verbleib des Objektes in Kassel sichern . Bürger und Unternehmen wurden von der Stadtverwaltung aufgefordert, dafür bis Ende April 2018 die notwendigen 600 .000 Euro aufzubringen . Oguibe hielt dabei kategorisch am zentralen Stadtort Königsplatz fest . Es folgte eine lebhafte Debatte in der Stadtgesellschaft um den Ankauf, den Wert und den dauerhaften Standort des Betonobjektes . Nur wenige documenta-Kunstwerke haben ein derartiges Echo ausgelöst, und man fühlte sich an die 1970er oder 1980er Jahre erinnert, als Walter de Marias Erdkilometer oder Beuys’ 7000 Eichen Protest, Kontroversen und Unruhe hervorriefen . Zahlreiche Bürger meldeten sich in der HNA und in den sozialen Netzwerken zu Wort . Im Fokus stand einerseits die mangelnde ästhetische Qualität, andererseits die christlich-moralische Aussage des Objekts . Ein Leser gab zu Bedenken: „Alles zielt darauf, dieses Objekt wie das Produkt eines Baukastensatzes für Erwachsene aussehen zu lassen . Er ist – und will sein – eine Karikatur, eine Attrappe oder bestenfalls eine Anspielung auf einen Obelisken . Ist es wirklich überraschend, wenn viele ihn nicht haben wollen?“68 Es war augenscheinlich, dass die hochherzige religiös-moralische Botschaft das Werk gegen jede Kritik immunisierte . Selbst eine ästhetisch oder kunsthistorisch argumentierende Kritik konnte somit als „unmoralisch“, „unchristlich“ oder „fremdenfeindlich“ denunziert werden . Hinzu kam das weithin als überheblich-belehrend und zugleich geldgierig empfundene Auftreten des Künstlers, das viele Bürger abschreckte . „Eine zutreffende Bezeichnung ist ‚Betonsäule‘ . Und bloß weil auf dieser Säule ein Bibelspruch in vier Sprachen geschrieben steht, ist diese Betonsäule noch lange kein Kunstwerk“, schrieb der Diplomingenieur Friedrich-Karl Röder .69„Jeder Cent, der in einen Sprachkurs oder in eine Berufsintegrationsmaßnahme fließt, hilft weiter als die Spende oder öffentliche Gelder für den Obelisken,“ befand Wolfram Dawin,70 während ein OnlineKommentar darauf verwies: „Es geht nicht um das Bauwerk, es geht darum, sich ein ruhiges Gewissen zu kaufen . Spendet für Bedürftige und nicht für Beton .“71 Von den politischen Kräften im Stadtparlament trat nur die Af D offen gegen das Monument auf . Ayse Gülec, Mitarbeiterin im kuratorischen Team der documenta 14, bezeichnete den Obelisken treffend als „Performanz“ . „Er spricht zu uns . Die Af D sieht in ihm einen Flüchtlingskörper, den sie nicht da haben will, wo er ist, nämlich in der Mitte der Gesellschaft .“72 Eine überwältigende Mehrheit in der Kommunalpolitik und Kulturszene engagierte sich hingegen für den Ankauf, etwa das bürgerschaftliche „documentaForum“ oder eine Initiative „Christen für den Obelisken .“ Journalisten und Kleriker appellierten an die Bürgerschaft . Würde der Obelisk nicht angekauft, erklärte der langjährige Geo-Chefredakteur Peter-Matthias Gaede, „würde Kassel als ein Ort der Ge-

68 Leserbrief von Ino Turturo . HNA 7 .2 .2018 . 69 Leserbrief von Friedrich-Karl Röder . HNA 7 .2 .2018 . 70 Leserbrief von Wolfram Dawin . HNA 7 .2 .2018 . 71 HNA-Online-Kommentar . Nachgedruckt in der Printausgabe vom 25 .1 .2018 . 72 Zitiert in: FAS 12 .8 .2018 .

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sinnungsjäger und Geschmacks-Polizisten erscheinen, an dem es vielleicht tatsächlich keine documenta mehr geben sollte .“73 Eine HNA-Leserin macht den Zusammenhang deutlich, dass sich das liberale Kassel hier selbst ein Denkmal setzen könne: „Mein dringender Wunsch, den Obelisken auf dem Königsplatz zu behalten, beruht auf der Überzeugung, dass dieses Denkmal ein Ehrenmal für die Stadt Kassel ist,“ die im Laufe der Jahrhunderte immer wieder Flüchtlinge aufgenommen habe .74 Der höchste katholische Geistliche Nordhessens, Dechant Harald Fischer, mahnte: „Der Obelisk steht unserer Stadt gut an . Er ist ein ermutigendes Zeichen für das weltoffene Kassel […] Hoffentlich haben die Kasseler die Größe, dieses Jesuswort in der Mitte unserer Stadt zu belassen – als Erinnerung und Selbstverpflichtung .“75 Erstaunlich war, dass bei der lebhaften Debatte Vandalismusaktionen nahezu ausblieben . Einzig am 24 . Januar 2018 wurde ein alkoholisierter Mann festgenommen, der mit Farbe und Pinsel einen kleinen Schriftzug am Obelisken angebracht hatte, in dem er den hohen Kaufpreis in Frage stellte . Der Schriftzug konnte sofort entfernt werden .76 Das Ergebnis der Spendenkampagne für die Obelisken-Attrappe war blamabel: Es kamen trotz massiven publizistischen Einsatzes und zahlreicher prominenter Fürsprecher aus Politik, Kultur und Kirchen nur ca . 126 .000 Euro zusammen, darunter waren fünfstellige Spendensummen von Unternehmen . Im August 2018 reiste Oguibe erneut nach Kassel, um mit OB Geselle die Situation zu besprechen . Die Af D drohte zunächst mit einer Protestkundgebung, verzichtete aber darauf . Stattdessen versammelten sich mehrere Hundert Unterstützer Oguibes und feierten ihn bei einem „Picknick für die Kunstfreiheit“ in der Kasseler City .77 Die HNA führte im August 2018 eine Online-Abstimmung durch, an der sich 5 .000 Leser beteiligten . Dabei ergab sich eine deutliche Mehrheit für den Obelisken . 61 % stimmten für das Kunstwerk auf dem documenta-Standort Königsplatz, 33 % dagegen .78 Da jedoch die vertraglichen Leihfrist für das Kunstwerk am Standort Königsplatz abgelaufen war, entfernte die Stadt Kassel das Objekt am 3 . Oktober 2018 und lagerte es auf einem Bauhof ein . Die überregionale Presse unterstellte dem OB, er sei vor der Af D eingeknickt . Doch schon wenige Tage später konnte Geselle bekanntgeben, dass der Obelisk in der Treppenstraße wieder aufgebaut und dauerhaft verbleiben werde . Oguibe hatte sich überraschend mit den gespendeten 126 .000 Euro und dem alternativen Standort zufrieden gegeben, welcher sich ebenfalls an zentraler Stelle in der Kasseler Innenstadt befindet . Dort steht das FlüchtlingeFremdlinge-Monument seit April 2019 . Es erinnert nun dauerhaft an die documenta 14 und dient als Symbol und Signal für eine weiterhin offene Flüchtlingspolitik: die docuGastkommentar in der HNA 7 .2 .2018 . Leserbrief von Barbara Schirmer . HNA 8 .2 .2018 . Gastkommentar in der HNA 8 .2 .2018 . HNA 25 .1 .2018 . https://www .hna .de/kassel/mitte-kassel-ort248256/documenta-kuenstler-olu-oguibe-in-kassel-aufdemo-fuer-kunstfreiheit-10101396 .html (8 .8 .2018) . 78 Ergebnis in der HNA-Printausgabe vom 25 .1 .2018 . 73 74 75 76 77

Die documenta 14 hinterlässt ein „Merkel-Monument“

Abb. 16 Das Flüchtlinge-FremdlingeMonument von Olu Oguibe am heutigen Standort Treppenstrasse.

menta hinterlässt somit auch ein „Merkel-Monument .“79 In Kassel war eine fatale Situation entstanden: Während die Af D als einzige Kritikerin eines inkompetenten KunstEstablishments auftrat, schlossen sich linke und grüne Kommunalpolitiker, Bildungsbürger und Journalisten zu einer Wagenburg zusammen, um eine documenta-Leitung zu verteidigen, die eklatant versagt hatte, und um dieses „Weiter so“ pathetisch als „Verteidigung der künstlerischen Freiheit“ zu verkaufen . Diese unproduktive Frontstellung führte zu einer Blockade, und das Desaster der 14 . documenta blieb ohne wirkungsvolle Konsequenzen: Die documenta-Leitung ging straffrei aus und konnte ihre Karriere anderenorts fortsetzen . Die Steuerzahler haben im Nachhinein eine fragwürdige Ausstellung alimentieren müssen . Die linksliberalen städtischen Eliten setzten sich mit dem Flüchtlinge-Fremdlinge-Monument selbst ein künstlerisch fragwürdiges, dafür aber moralisch hochwertiges Denkmal . Der neue OB musste das Spiel aus mitspielen, um Kassels Ruf als Kulturstadt zu wahren . Um das Werke habe sich, so die damalige Geschäftsführerin der documenta GmbH, Sabine Schormann, „ein unglaublicher Bedeutungsraum gebildet . Ob dieser in ein paar Jahren noch da sein wird, ist durchaus fraglich .“80 Angesichts der künstlerischen Qualität des Objekts sind diese

79 80

https://www .nzz .ch/feuilleton/documenta-14-das-merkel-monument-ld .1314757 (7 .9 .2017) . Zitiert in: Birgit Jooss u . a . (Hg .), Bauhaus/documenta . Vision und Marke, Leipzig 2019, S . 260 .

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Zweifel berechtigt . Doch es ist wohl eher so, dass sich hier ein Diskurs und eine moralische Haltung ein Denkmal gesetzt haben, die auch die kommenden Jahre und Jahrzehnte politisch bestimmend sein werden . Summa summarum führte der Verlauf der 14 . documenta zu wichtigen Erkenntnissen . Die documenta war etwas langweilig geworden, weil sie dem gesellschaftlichen Konsens entsprach . Szymczyk hatte dieses Problem erkannt und im Vorfeld seiner documenta erklärt: „Die Ausstellung sollte eine Debatte eröffnen . Nur Zustimmung macht schläfrig .“81 Nun sollte die Skandalfähigkeit und Polarisierungskraft der Ausstellung wiederhergestellt werden . Dies gelang zwar nicht durch die Qualität und Wucht der Kunstwerke, aber durch Ressourcenverschwendung und Inkompetenz im Management . Ob Kunstskandal oder Finanzskandal – Hauptsache, das Ergebnis stimmt . Und das Ergebnis stimmte: Die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit wurde erneut geweckt, das Bekenntnis Kassels, des Landes Hessen, des Bundes und engagierter Bürger zur documenta wurde eindrucksvoll erneuert . Zukünftigen Kuratoren wurde signalisiert, dass sie weiterhin volle „künstlerische“ Freiheit haben, mit maximaler finanzieller Unterstützung rechnen können und keinerlei Haftung unterliegen: die documenta ist priceless, lautet die Botschaft für die documenta 15 . Die Vorbereitungen dafür sind getroffen: Geschäftsführerin Annette Kulenkampff wurde durch die Kulturmanagerin Sabine Schormann ersetzt, der Aufsichtsratsvorsitzende Bertram Hilgen (SPD) wich seinem Parteifreund Christian Geselle, der zugleich Oberbürgermeister Kassels ist . Die Bereiche Controlling, Buchhaltung und Öffentlichkeitsarbeit sollen optimiert, die Freiheit der künstlerischen Leiter zugleich garantiert werden .82 Vorsorglich wurde der Etat für die Schau massiv aufgestockt . Die Bekanntgabe der künstlerischen Leitung der 15 . documenta im Februar 2019 durfte als mittlere Sensation gelten: Erstmals übernimmt ein Kollektiv von Künstlern, Kuratoren und Journalisten das Kommando in Kassel . Dass diesmal ein Kurator bzw . eine Kuratorin mit muslimischem oder afrikanischem Hintergrund gewählt würde, war fast schon zu erwarten  – aber die Entscheidung für eine zehnköpfige Gruppe war dann doch eine Überraschung . Farid Rakun und Ade Darmawan stellten sich als Sprecher der indonesischen Gruppe „Ruangrupa“ in Kassel den Fragen der Medienvertreter . Sie kündigten an, eine „global ausgerichtete, kooperative und interdisziplinäre Kulturplattform“ zu schaffen, wobei Kassel als Schwerpunktstandort mit zahlreichen soziokulturellen Projekten (z . B . Kooperationen mit Krankenhäusern) dienen soll . Im Mittelpunkt ihres Ansatzes stehen Bildung, internationale Vernetzung, kommunales Engagement . Thematisch dominieren soll die Auseinandersetzung mit „Kolonialismus, Kapitalismus und patriarchalischen Strukturen“ – was die politische Ausrichtung der vergangenen documenta-Ausstellungen fortschreiben würde . In diesem Sinne wäre die nächste documenta fast 81 http://www .hna .de/nachrichten/kultur/d14-leiter-szymczyk-dann-waere-documenta-tot-3330518 . html (24 .1 .2014) . 82 https://www .nzz .ch/feuilleton/aufraeumarbeiten-in-kassel-ld .1382064 (3 .5 .2018) .

Die documenta 14 hinterlässt ein „Merkel-Monument“

schon eine konventionelle, berechenbare Veranstaltung . Außergewöhnlich war, dass die Findungskommission83 angekündigte, erstmalig den Kuratoren als „Beirat“ zur Seite zu stehen .84 Dies nährte den Verdacht, dass sie Ruangrupa doch nicht ganz zutraut, die documenta zu leiten .85 Zur Findungskommission, die die Leitung der documenta 15 bestimmte, gehörten u . a . Charles Esche, Direktor des Van-Abbe-Museums Eindhoven und Philippe Pirotte, Rektor der Frankfurter Städelschule . Der von ihnen gefundene Ade Darmawan ist Geschäftsführer der Djakarta Kunstbiennale . So wäscht eine Hand die andere: Pirotte gehörte zum Kuratorenteam der Jakarta-Biennale 201786 und Esche kuratierte die Jakarta-Biennale 2015 .87 Bei der Vorstellung der neuen Kuratoren gab die hessische Wissenschaftsministerin Angela Dorn (Grüne) unter dem Beifall von Journalisten kund, vor dem Hintergrund „starker rechter Kräfte im Land“ müsse die documenta weiterhin „provozieren“ .88 Spannend könnte der Umgang der Kuratorengruppe mit den Islamisierungstendenzen in ihrer Heimat werden . Werden sie diese thematisieren? Wird ihr muslimischer kultureller Background in irgendeiner Weise ihre Kuratorentätigkeit beeinflussen? Schließlich ist Indonesien das größte muslimische Land der Welt mit einer schnell wachsenden, jungen Bevölkerung . Erhält die Kasseler Weltausstellung somit einen wichtigen Impuls aus dem globalen Süden? Auch andere wichtige Fragen stehen im Raum: Wird Ruangrupa in Kassel eine starke Kunstausstellung zeigen, oder verliert sich ihre documenta in einer Vielzahl soziokultureller Projekte zwischen Java und Nordhessen? Wird eine zehnköpfige Gruppe überhaupt effektive künstlerische und kuratorische Entscheidungen treffen können?

Zur Findungskommission gehörten Ute Meta Bauer, Gründungsdirektorin des Centre for Contemporary Art Singapur, Charles Esche, Direktor des Van Abbemuseum, Eindhoven, Amar Kanwar, indischer Dokumentarfilmer und Künstler, Frances Morris, Direktorin der Tate Modern, Gabi Ngcobo, Kuratorin der 10 . Berlin Biennale 2018, Elvira Dyangani Ose, Kuratorin Creative Time in New York, Jochen Volz, Direktor der Pinacoteca do Estado in Sao Paulo und Philippe Pirotte, Rektor der Frankfurter Städelschule und langjähriger Direktor der Berner Kunsthalle . 84 „Der Beirat ist nicht gemeint als Controlling, was möglicherweise irgendwo irrtümlich gesagt würde . Der Beirat ist da zuzuhören, falls es größere Fragen oder Missverständnisse gibt und falls nötig diplomatisch zu vermitteln zwischen Künstlerischer Leitung und Aufsichtsrat, Presse und public opinion . Der Beirat ist auch da, falls es von der Administration aus gewünscht ist, mitzudenken in bestimmten Situationen . Der Beirat macht in Prinzip nichts, ist aber ein sounding Board .“ Philippe Pirotte per mail an den Autor 6 .3 .2019 . 85 Pirotte dementierte einige Wochen später, dass er in die Vorbereitung der documenta 15 im Jahre 2022 in Kassel involviert sei . Frankfurter Rundschau 16 .9 .2019 . 86 https://jakartabiennale .net/en/the-artistic-team/ (25 .3 .2019) . 87 Ebenda . 88 Anlässlich der Vorstellung des indonesischen Kuratorenteams für die documenta 15 am 22 .2 .2019 in Kassel . 83

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Kapitel V Linke Akademiker, „expeditive Performer“ & reiche Sammler Gegenwartskunst als Elitenprojekt

In 1960er Jahren hatte eine Intellektualisierung und Politisierung des Kunstbetriebs eingesetzt, die sich nach dem Ende des Kalten Krieges weiter verstärkte . „Der Mainstream in der Kunstwelt ist mit der Kritischen Theorie aufgewachsen und sein ganzes Selbstverständnis basiert auf Kapitalismuskritik“, stellte der Philosoph Armen Avanessian fest .1 Und bereits in der Blütezeit der Avantgarden, in der frühen Ära Marcel Duchamps, hatte eine Entwicklung begonnen, die der Philosoph Konrad Liessmann als „Entmachtung der Kunst zugunsten ihrer Theorieabhängigkeit“ skizzierte .2 Weil der herkömmliche Werkbegriff zunehmend von Objekten und Installationen infrage gestellt wurde, die u . U . kaum mehr von Alltagsgegenständen oder Müll unterscheidbar waren, und weil der Kunstbegriff ständig um neue Materialien, Objekte und Handlungen erweitert wurde, bekam die Theorie eine neue Schlüsselrolle in der Kunstrezeption: Erst ein theoretischer Diskurs konnte einen beliebigen Gegenstand zum Kunstwerk küren . So braucht die zeitgenössische Kunst eine regelmäßige Theoriezufuhr, um überhaupt als Kunst erkennbar zu werden . Dies gelingt um so besser, je elaborierter, komplexer und eindrucksvoller die entsprechenden Begründungstexte werden . Mittlerweile seit Jahrzehnten bedient sich diese Textgattung bei den Geistesgrößen des Poststrukturalismus . In Katalogen, Tagungsbeiträgen und Künstlerstatements werden die immer gleichen Namen aufgeboten: Michel Foucault, Jacques Derrida, Gilles Deleuze, Jean-François Lyotard, Roland Barthes, Jacques Lacan, Louis Althusser, Jean Baudrillard, Slavoj Žižek, Julia Kristeva oder Judith Butler . Letztlich war und ist es eine naheliegende Wahl, weil die Poststrukturalisten die Macht der Sprache gegenüber der Wirklichkeit zum Ausdruck brachten . In dieser Perspektive dominiert die

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Interview in der taz 26 ./27 .9 .2015 . Konrad Paul Liessmann, Das Universum der Dinge . Zur Ästhetik des Alltäglichen, Wien 2010, S . 77 .

Linke Akademiker, „expeditive Performer“ & reiche Sammler

Sprache die visuellen Künste und formt das Denken und Verhalten der Menschen . Über sprachliche Regeln versucht eine akademische Linke seither, das vorpolitische Feld zu besetzen und letztlich die Gesellschaft zu verändern . Neben den geisteswissenschaftlichen Fakultäten der Universitäten ist die zeitgenössische Kunst seit nunmehr 50 Jahren ihre wichtigste Operationsbasis . Hier hat die akademische Linke ein neues künstlerisches Genre etabliert, dessen Genuss die Kenntnis hochelaborierter Texte und hochabstrakter geistes- und sozialwissenschaftlicher Denkmodelle voraussetzt . Das Genre einer konzeptuellen, diskursiven und politisierenden Kunst floriert parallel zur Ausweitung des gesamten Kunstbetriebs in kommerzieller (Kunstmarkt) und alltagsnaher Hinsicht (Freizeit, Hobby) . Es dominiert heute all jene Ausstellungsformate und Institutionen, die einen intellektuellen Anspruch und Distanz zum Marktgeschehen verkörpern, und die darüberhinaus der Gegenwartskunst eine politische Aufgabe und politische Relevanz zubilligen . Soziale Themen sind dabei in letzten beiden Jahrzehnten zunehmend von Fragestellungen und Ideologemen aus den Kategorien Gender, Rassismus und Kolonialismus überlagert worden – deutlich ablesbar auch an der Agenda der letzten vier documenta-Ausstellungen . Von Künstlern und Studenten wird erwartet, dass sie sich auf diesen Diskursfeldern engagieren . Hiwa K ., Träger des Arnold-Bode-Preises und Teilnehmer der letzten documenta, bekannte: Inzwischen beschleicht mich immer öfter die Angst, dass meine Arbeiten rein dekorative Zwecke erfüllen . Dieser Eindruck hat sich noch verstärkt, als ich während meines Röhrenprojektes mit dreizehn Kasseler Design- und Architekturstudenten zusammenarbeitete: Die hatten gar kein Interesse an Gesprächen über brennende politische Themen .3

Die Kunsthistorikerin und frühe Bundespolitikerin der Grünen, Verena Krieger, hat beobachtet: In der zeitgenössischen Kunst spielen gesellschaftspolitische Themen wie Globalisierung, Ökologie, Migration und Rassismus eine bemerkenswert prominente Rolle, man könnte von einem regelrechten Boom engagierter Kunst sprechen – wobei jedoch auffällt, dass systematisch Strategien zur Vermeidung von Eindeutigkeit eingesetzt werden . […] An die Stelle mühelos erschließbarer politischer Botschaften sind komplexe, ambivalente, überkodierte oder vollends unbestimmbare Zeichenkonglomerate getreten, die den Rezipienten ein Höchstmaß an Auseinandersetzungsbereitschaft und -fähigkeit abverlangen und auch nach längerer Deutungsaktivität nicht auf eine bestimmte Aussage hin entschlüsselbar sind .4

Hiwa K . zitiert in: 15 Jahre Schering Stiftung . Gespräche mit Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Kunst, Berlin 2017, S . 17 . 4 Verena Krieger, „Strategische Uneindeutigkeit . Ambiguierungstendenzen engagierter Kunst im 20 . und 21 .  Jahrhundert“, in: Rachel Mader (Hg .), Radikal-Ambivalent . Engagement und Verantwortung in den Künsten heute, Zürich 2014, S . 29–56 hier S . 29 . 3

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Kapitel V Linke Akademiker, „expeditive Performer“ & reiche Sammler

So gibt die Gegenwartskunst ein widersprüchliches Bild ab: Einerseits will sie politisch wirken, andererseits ist sie oftmals schwer verständlich . Krieger begründet dies wie folgt: „Kunst mit eindeutiger politischer Aussage setzt sich dem Verdacht aus, Propaganda zu sein und geht damit potenziell ihres Kunstcharakters verlustig .“5 Ähnliches wäre auch im Blick auf die Kunstvermittlung und die ausstellungsbegleitende Textproduktion zu sagen . Sie gibt sich gerne „entschieden und aktivistisch“ und will mehrdeutig agitieren: „Radikale Kunstvermittlung ist keine Dienstleistung . Sie fordert vielmehr Autonomie und Handlungsmacht gegenüber künstlerischen und institutionellen Settings ein .“6 Bei einer Diskussion „Vermittlung vermitteln“ der Kunsthochschule Kassel diskutierten Kunstvermittlerinnen der documenta 14 und Theoretikerinnen über ihre Erfahrungen . Im Raum standen programmatische Schlagworte der Kunstvermittlung der documenta 14 wie „affirmative Sabotage“, „Strategien des Verlernens“ und „künstlerischer Aktivismus“ . Die documenta-Professorin Nora Sternfeld empfahl, die Kunstvermittlung solle zwischen den Zeilen jede Möglichkeit zum politischen Widerspruch und zum kritischen Hinterfragen nutzen . Die Strategie des aktives Verlernens solle „das bestehende Wissen brüchig machen“, um bei den Besuchern Wege für neues Wissen zu öffnen . Schließlich ließen sich in der Kunstperformance und Kunstvermittlung Techniken einüben, die später in politischen Konflikten eingesetzt werden könnten, die Kunstpraxis werde damit zum „Pre-enactment“, zur Vorübung für den politischen Aktivismus .7 In der Praxis kann dies zum regelrechten „Ende des Vermittlungsanspruchs“ führen, wie der Kasseler documenta-Experte Harald Kimpel anlässlich der documenta 14 treffend konstatierte . Kunstvermittlung ist dort zur substanzbefreiten Erfahrung mutiert, die sich von den konkreten Zumutungen der Kunstgegenstände wie denen des um Hilfe schreienden Kunstpublikums drückt, um im Inner Circle einer eingeschworenen Kommunikationsgemeinschaft mit exklusiver Jargonproduktion selbstzweckhaft um sich selbst zu zirkulieren .8

Das intellektuelle Kunstfeld legitimiert sich mithilfe eines eigenen Theoriekanons aus Kulturwissenschaft, Sozialwissenschaft, Psychologie und Philosophie und wahrt die Distanz zum breiten Publikum, bzw . zu jenem neuen Publikum, das im Zuge der Eventisierung des Kunstbetriebs und neuer Vermittlungsangebote in die Museen und Ausstellungsorte gelockt werden sollte, zum Beispiel durch Veranstaltungen wie der „Langen Nacht der Museen .“ Im Gegensatz zum breiten Publikum, das vor allem bekannte, kommerziell erfolgreiche Künstler schätzt, verfügt das intellektuelle Publikum über Ebenda S . 30 . Bernadett Settele, „Entschieden unentschieden . Radikale Kunstvermittlung als eigenwillige Fortsetzung von Kunst“, in: Rachel Mader (Hg .), Radikal-Ambivalent . Engagement und Verantwortung in den Künsten heute, Zürich 2014, S . 57–71, hier S . 57 . 7 Notiert bei einer Diskussion am 4 .2 .2019 im Rahmen Veranstaltungsreihe „Vermittlung vermitteln“ der Kunsthochschule Kassel . 8 documenta/Bauhaus . Vision und Marke, Leipzig 2019, S . 202 . 5 6

Linke Akademiker, „expeditive Performer“ & reiche Sammler

Abb. 17 Ohne Theoriezufuhr als Kunstwerk nicht erkennbar: Die Schrottskulptur Momentary Monument IV von Lara Favaretto auf der documenta 13.

einen eigenen Kanon von Künstlern, bei dem Medienpräsenz (in den Mainstreammedien) und Marktpräsenz eine geringere Rolle spielen . Entsprechend wenig beliebt sind dort Kunstmarktstars und Celebrities wie Jeff Koons, Damian Hirst, Julian Schnabel, Hundertwasser, Dalí u . a .9 Benjamin H . Buchloh unterschied zwischen einem Experten- und einem Spektakelpublikum, letzteres sei nur mit geringer Kunstkompetenz ausgestattet und bei der Kunstbetrachtung auf die Verwendung von Dekodierungen und Begriffen aus der Alltagswelt angewiesen10, während Adorno vor der Entkunstung der Kunst warnte, die drohe, wenn dem Spektakelpublikum das Feld überlassen werde: „Was die verdinglichten Kunstwerke nicht mehr sagen, ersetzt der Betrachter durch das standardisierte Echo seiner selbst, das er aus ihnen vernimmt .“11

9 Ulf Wuggenig  / Heike Munder (Hg .), Das Kunstfeld . Eine Studie über Akteure der zeitgenössischen Kunst, Ennetbaden 2012, S . 279–358, S . 338 . 10 Benjamin H . Buchloh, „Das politische Potential der Kunst“, in: Politics-Poetics . Das Buch zur documenta X, Ostfildern 1997, S . 642 . 11 Theodor W . Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt 1970, S . 33 .

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Kapitel V Linke Akademiker, „expeditive Performer“ & reiche Sammler

documenta, Biennale, Blockbusterausstellungen: Ein Massenpublikum für die Gegenwartskunst?

Ulf Wuggenigs Studie Das Kunstfeld stützte sich auf eine Befragungen von 2 .300 Besuchern zeitgenössischer Kunstausstellungen in Wien, Hamburg, Paris und Zürich . Die Erhebungen in Zürich wurden in den Jahren 2009 und 2010 durchgeführt – die in den übrigen Städten in den Jahren 1993 bis 1995 .12 Der Anteil von Besuchern mit Universitätsanschluss in den untersuchten Ausstellungen lag in den Deichtorhallen (Hamburg) bei 45 %, in der Kunsthalle Wien bei 60 %, und in einer von Hans Ulrich Obrist kuratierten Ausstellung im Musee d’art moderne de la ville de Paris bei 78 % . Hinzu kamen z . T . bis zu 20 % Besucher mit Fachhochschulabschluss und weitere zehn  % mit Abitur . Für die untersuchten Ausstellungen im Zürcher Migrosmuseum konnte von einem nichtakademischen Besucheranteil von unter zehn % gesprochen werden .13 Die zahlreichen Studien, die das Bildungsniveau der documenta-Besucher eruierten, bestätigen diese Zahlen . So hatten 49 % der Besucher der zehnten documenta einen Hochschulabschluss .14 Vom Publikum der documenta 11 zählten sich sieben % leitenden Berufspositionen zu, 33 % Akademikern, 17 % Studenten .15 Die 12 . documenta wurde zu 31 % von ausgebildeten Akademiker und zu 15 % von Studenten besucht . 13 % bezeichneten sich als Künstler .16 Bei der documenta 13 lauteten die Zahlen: Akademiker 26 %, Studenten 16 %, Angestellte/Beamte 15 %, Künstler 13 % .17 Einen Hochschulabschluss besassen 70 % der Besucher der 14 . documenta .18 Despina Antonatou, tätig am Zentrum für Evaluation und Besucherforschung am Badischen Landesmuseum in Karlsruhe, führt im Auftrag von Museen Besucherstudien durch, die in der Regel unveröffentlicht bleiben – vermutlich, weil die Ergebnisse für die Auftraggeber nicht werbewirksam wären . Aus ihrer über 20jährigen Berufserfahrung schätzt auch sie das typische Publikum für Gegenwartskunst als ausgesprochen akademisch ein, wenngleich 12 Die Besucherstudie wurde in Kooperation mit einem Team von Wissenschaftlern der Leuphana Universität Lüneburg, der Hochschule der Bundeswehr München und der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) unter der Gesamtleitung von Ulf Wuggenig realisiert . Statt des Gegensatzes von „Laien“ und Fachbesuchern wurde hier mit den Begriffen Zentrum, Semiperipherie und Peripherie gearbeitet – letzterer Begriff umfasste Kunstliebhaber ohne VIP-Status und Gelegenheitsbesucher, ersterer bezog sich auf Menschen, die professionell mit Kunst zu tun hatten . 13 Wuggenig, „Die Liebe zur Kunst“, in: Munder, Wuggenig (Hg .), Das Kunstfeld, 2012, S . 231–278, hier S . 234 . 14 Prof . Gerd Michael Hellstern von der Uni Kassel hat diese Ergebnis in einer repräsentativen Umfrage (4 .596 Besucher) ermittelt . HNA 7 .11 .1997 . 15 Christian Gösel, Gezeigte und geliebte Kunst . Rezeptionsstrukturen zeitgenössischer Kunst, dargestellt am Bsp . der d 11, Magisterarbeit KH Kassel, 2004, S . 45 ff . In der Arbeit findet sich auch eine Übersicht aller documenta-Besucherbefragungen bis 2002 . 16 Hellstern, documenta-Erhebung 2007 . Lesesaal documenta-Archiv . D 12 F 2007 . 17 Hellstern, documenta-Erhebung 2012, Kassel 2013 . 18 Gerd-Michael Hellstern und Joanna Ożga, Lehrstuhl für Verwaltungsökonomie und -Management Universität Kassel, Erste Ergebnisse der repräsentativen Erhebung vom 18 . September 2017, Kassel 2017 .

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nur eine Minderheit Kunstbetriebsinsider seien . Universitätsausbildung, hoher Grad von Allgemeinbildung und Offenheit charakterisierten das Stamm-Milieu von zeitgenössischen Kunstereignissen . Den Versuch, bildungsferne Gruppen durch spezielle Vermittlungsangebote zu erreichen, betrachtet sie als sehr aufwendig und personalintensiv – die mageren Ergebnisse rechtfertigten oftmals nicht die eingesetzten Mittel .19 Wuggenig stellte fest, mit den eingespielten Formen von Kunstpolitik und Kunstvermittlung sei man den von politischer Seite formulierten Inklusions- und Partizipationszielen bislang kaum näher gekommen . Im Gegenteil: „Im Blick auf die historische Entwicklung der Besucherstruktur in den vergangenen Jahrzehnten sprechen die vorliegenden Studien sogar eher für eine zunehmende Elitisierung des Publikums .“20 Sichtbar war dies sogar bei der 2004 mit großem Aufwand beworbenen BlockbusterAusstellung „MoMA in Berlin“, von der doch zu erwarten war, dass sie breite Besucherschichten anspricht . Der Anteil der Hauptschulabsolventen unter den Besuchern lag dort bei 3,8 %, der der Akademiker bei 51,9 % .21 Auch die documenta verzeichnet trotz aufwendiger Kunstvermittlungsprogramme seit Jahrzehnten konstant niedrige Publikumsanteile von Hauptschulabsolventen, Arbeitern, Hausfrauen, Auszubildenden . So hatten 2,7 Prozent der Besucher der neunten documenta einen Hauptschulabschluss, 2 % waren Arbeiter, 2,5 % Hausfrauen und 1,6 % waren Auszubildende .22 Bei der elften documenta waren 2 % Hausfrauen, 1 % Arbeiter, 1 % Azubis unter den Besuchern .23 Die documenta 12 zählte unter ihren Besuchern 2 % Hausfrauen, 1,3 % Arbeiter, 0,6 % Auszubildende24, die documenta 13 besuchten 2 % Arbeiter, 2 % Hausfrauen und 0,5 % Azubis .25 Bei der documenta 14 lauteten die Zahlen: 5,4 %  Besucher mit Hauptschulabschluss, 1,5 % Arbeiter, 1 % Hausfrauen .26 Die Stagnation dieser Anteile muss allerdings vor dem Hintergrund insgesamt gestiegener Besucherzahlen betrachtet werden . In absoluten Zahlen wurden also deutlich mehr Arbeiter und Auszubildende erreicht als in früheren documenta-Ausstellungen . Die Kunstproduktion des intellektuellen Subfeldes der professionellen Kunstwelt ist eigentlich nicht für ein externes Publikum gedacht, trotzdem werden entsprechende Werke bei Großausstellungen wie der documenta auch einer breiteren Öffentlichkeit (u . a . dem von Buchloh so definierten „SpekDespina Antonatou, Zentrum für Evaluation und Besucherforschung am Badischen Landesmuseum in Karlsruhe . Telefonat mit dem Autor am 27 .11 .2015 . 20 Wuggenig, „Die Liebe zur Kunst“, in: Munder, Wuggenig (Hg .), Das Kunstfeld, 2012, S . 231–278, hier S . 248 f . 21 Jörg Rössel, „Der Kunstmarkt . Die Perspektive der Kunstsoziologie“, in: Andrea Hausmann (Hg .), Handbuch Kunstmarkt, Bielefeld 2014, S . 57–74, S . 63 f . 22 Eingangsbefragung von über 6 .000 documenta-Besuchern durch Gerd Hellstern, Universität Kassel . D 9 F 1992 . Lesesaal documenta-Archiv . 23 Gösel, Gezeigte und geliebte Kunst, 2004, S . 45 ff . 24 Hellstern, documenta-Erhebung 2007 . 25 Hellstern, documenta-Erhebung 2012 . 26 Hellstern und Ożga, Erste Ergebnisse der repräsentativen Erhebung vom 18 . September 2017, Kassel 2017 . 19

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takelpublikum“) präsentiert, welche der Kunst noch mit traditionellen, vom romantischen Denken geprägten Erwartungen begegnet . Die Enttäuschung und Brüskierung jener breiteren Öffentlichkeit wurde zur Quelle von Konflikten, Skandalen und Debatten, die besonders in den ersten Nachkriegsjahrzehnten noch sprudelte, nun aber weitgehend versiegt ist . Bei der documenta wagen kunstferne Milieus und Individuen mittlerweile kaum noch Widerspruch . Einerseits werden sie in Kunstvermittlungsprogramme integriert, verbal eingeschüchtert und sind somit der sozialen Kontrolle der Kunstexperten und enthusiastischen Kunstfreunde ausgesetzt, andererseits verstehen sie den intellektuellen Kontext der Werke nicht und schweigen daher lieber . Die Grenzen zwischen Hochkultur und Populärkultur wurden zwar durch Ausstellungen wie die documenta formal und motivisch durchlässiger, doch die Differenzen haben sich „auf der Ebene von Vokabular, Syntax und Codes eher noch vergrößert .“27 Obwohl das allgemeine Bildungsniveau anstieg und moderne Kunst durch die Massenmedien bekannter gemacht wurde (Pop Art, Kunstskandale, Skandalkünstler, Eventausstellungen), hat die Kunst zugleich ihre Funktion als Distinktionsmittel von Oberschicht und Bildungseliten bewahrt . Das ist das Paradox der documenta, die zugleich Fachwelt und Spektakelpublikum anzieht . So sind teilweise 40 % des Publikums beruflich mit Kunst befasst,28 und es bezeichnen sich teilweise 13 % der Besucher als hauptberufliche Künstler .29 Gut 50 % zählen sich zu regelmäßigen Besuchern von Kunstausstellungen30, bzw . 40 % betrachten sich als regelrechte „Fans moderner Kunst .“31 Andererseits zieht die documenta auch Menschen, an, die sonst kaum in ein Museum gehen würden, so stuften sich 7 % der Besucher der 13 . documenta als „sporadische Museumsgänger“ ein (maximal ein Besuch pro Jahr)32, 5 % der Besucher der documenta 11 hielten sich für regelrechte „Museumsmuffel .“33 In absoluten Zahlen ausgedrückt sind das beachtliche Erfolge einer Strategie, weitere Bevölkerungskreise mit Gegenwartskunst zu erreichen . Alles in allem bleibt der documenta-Besuch aber eine Angelegenheit der Wohlhabenden und Gebildeten, und hat z . T . geradezu den Charakter einer Fachmesse . Die Höhe der Besucherzahlen täuscht darüber hinweg, dass es sich keineswegs um eine „volkstümliche“ Veranstaltung handelt . Bildungsbürger, Künstler, Kunststudenten, Kulturwissenschaftler und Angehörige kreativer Berufe bilden zusammengenommen schon allein ein Millionenpublikum . Dies ist Ergebnis eines historischen Trends: Das formale Bildungsniveau, der Gymnasiasten- und Akademikeranteil an der EU-Bevölkerung,

27 Wuggenig, „Die Liebe zur Kunst“, in: Munder, Wuggenig (Hg .), Das Kunstfeld, 2012, S . 231–278, hier S . 232 . 28 Hellstern, documenta-Erhebung 2007 . 29 Ebenda . 30 Gösel, Gezeigte und geliebte Kunst, 2004, S . 45 ff . 31 Befragung von 400 Tagesbesucher durch die Firma „Sport und Markt“ am 29 .8 .1992 . Lesesaal documentaArchiv 9 F 1992 . 32 Hellstern, documenta-Erhebung 2012 . 33 Gösel, Gezeigte und geliebte Kunst, 2004, S . 45 ff .

Die Mehrheit der Bevölkerung steht abseits

Abb. 18 Volkstümlicher Spott: Da viele Kunstwerke ohne Theoriezufuhr nicht mehr erkennbar sind, und sich von Müll oder Alltagsgegenständen nicht mehr unterscheiden lassen, scheint die Frage „Kunst oder Sperrmüll?“ immer häufiger angebracht.

ist in den letzten Jahrzehnten sehr stark gestiegen, ebenso die Zahl der Studenten in den Geisteswissenschaften wie auch die Zahl der Kunststudenten und der freiberuflicher Künstler . Doch lässt sich keineswegs von bedeutenden Teilhabemöglichkeiten weiterer Bevölkerungskreise am Kunstgeschehen sprechen, von einer substanziellen Integration bildungsferner Milieus in den Kunstbetrieb und in das Kunstpublikum kann weiterhin keine Rede sein . Insofern wird hier die klassische Bourdieu’sche These des Elitenerhalts durch Kultureinrichtungen bestätigt – trotz des Massenzuspruchs für die documenta und trotz der Tatsache, dass Geisteswissenschaftler und Künstler kaum zu den wichtigsten gesellschaftlichen Eliten zählen, von einem hohen Einkommen ganz zu schweigen . Die Mehrheit der Bevölkerung steht abseits

Lange Zeit stiegen die Besucherzahlen von Museen und Großausstellungen, doch nun scheint eine Stagnation eingetreten zu sein . Schmerzlich mussten Museumsleitungen 2019 Studien zur Kenntnis nehmen, nach denen der Museumsbesuch jüngerer Menschen in den USA und in Europa in letzter Zeit deutlich nachgelassen hat .34 „In einem

34 Marion Ackermann bei der Podiumsdiskussion „Wer schreibt wessen Kunstgeschichte? Wie sieht das demokratische Museum von morgen aus?“ Dresden 10 .10 .2019 .

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Medienumfeld, das von Teilnahme und Mitmachen geprägt ist, wirkt Kunst zusehends elitär und entrückt . Die Moderne hat uns eine Kunstwelt hinterlassen, in der die Ansichten der Betrachter nichts zählen,“ beklagte 2019 der Deutschlandfunk .35 Hinzu kommt der demografische Wandel, der seine volle Fahrt noch gar nicht aufgenommen hat – exemplarisch auch in der documenta-Gastgeberstadt sichtbar . Kassel steht einerseits sinnbildlich für mittelgroße, westdeutsche Durchschnittsstädte, hat aber andererseits ein überdurchschnittliches Kulturangebot . Neben der periodisch stattfindenden documenta bildet die „Museumslandschaft Hessen Kassel“ (MHK) nach Berlin, Dresden und München den größten deutschen Museumskomplex mit historischer Kunst, Parks und Architektur . Einerseits ist Kassel also Provinz mit all den dazugehörigen ökonomischen und sozialen Problemen, andererseits eine Kulturmetropole mit überregionaler Ausstrahlung . In den letzten beiden Jahrzehnten ist Kassels Bevölkerungsanteil mit Migrationshintergrund auf knapp 40 % gewachsen, in der Altersgruppe bis achtzehn Jahre liegt er bei knapp 60 %, wobei in einzelnen Stadtteilen bereits Werte von 80 bis 85 % erreicht werden . In den Kasseler Museen überwiegt hingegen ein älteres, deutschstämmiges und gebildetes Publikum . Auch die Mitgliederstruktur von bürgerschaftlichen Kulturinstitutionen wie dem Kasseler Kunstverein oder dem „documenta-Forum“ ist von Überalterung und Stagnation gekennzeichnet . Die Altersgruppe der 50 bis 80-jährigen dominiert auch hier . Noch brechen die Besucher- und Mitgliederzahlen nicht völlig ein, doch wird die bislang verlässliche Basis aus pensionierten Baby-Boomern und Bildungsbürgern in absehbarer Zeit dahinschmelzen . Wer wird dann die Museen und Kunstvereine bevölkern? Die jüngeren Alterskohorten sind schmal geworden, und sie werden von Menschen mit ausländischen Wurzeln geprägt . Diese stammen oftmals aus Ländern oder sozialen Schichten, in denen Kunstbetrachtung und Museumsbesuch als Freizeitbeschäftigung unüblich sind, oder in denen Bildnisse menschlicher Körper aus religiösen Gründen als anrüchig gelten . Der im Sommer 2019 von den MHK eingestellte tunesischstämmige „Agent für die Kulturen der neuen Stadtgesellschaft“, Aymen Hamdouni, erklärte: „Museen werden in Nordafrika als Luxus angesehen, viele fühlen sich dort nicht wohl .“ Hinzu komme das im Islam verbreitete Bilderverbot – demnach soll die Darstellung menschlicher Wesen möglichst gemieden werden .36 Kunstvermittlerinnen in der Altmeistergalerie Wilhelmshöhe konnten feststellen, dass die Nacktheit allegorischer Figuren auf Schüler, vor allem auf diejenigen mit muslimischem Hintergrund, „einschüchternd und beschämend“ wirken kann .37 Gläubige Muslime könnten sich die

35 https://www .deutschlandfunk .de/bildende-kunst-die-kunst-demokratisieren .1184 .de .html?dram: article_id=445968 (2 .6 .2019) . 36 HNA 6 .11 .2019 . 37 Umfrage des Autors unter Kunstvermittlerinnen im Schloß Wilhelmshöhe zum unterschiedlichen Verhalten von Schülern und erwachsenen Besuchern bei Führungen . Antworten per Mail an den Autor, 25 .9 .2014 .

Die Mehrheit der Bevölkerung steht abseits

Frage stellen, ob sie überhaupt Kunstausstellungen besuchen dürfen, die Bilder nackter Menschen zeigen oder die Bilder präsentieren, die als Kritik oder als Herabsetzung des Islams interpretiert werden könnten . Und was sollten sie tun, wenn sie in einer Gruppe derartige Ausstellungen besuchen müssen, im Rahmen einer Pflichtveranstaltung der Schule oder wenn sie im Rahmen ihrer Arbeit mit derartigen Kunstwerken zu tun haben, etwa als Aufsicht oder Transporteur? Zahlreiche Websites und Institutionen bieten Rat . So empfiehlt der türkisch-sunnitisch geprägte „Verband islamischer Kulturzentren“: Kunstausstellungen aus eigenem Willen zu besuchen, die nackte Menschen zeigen, ist islamisch nicht vertretbar . Wenn Sie jedoch im Rahmen ihrer Tätigkeit diese transportieren müssen oder Aufsicht in einer Einrichtung üben müssen, so können Sie Ihre Arbeit im Rahmen der Möglichkeiten erledigen, in dem Sie möglichst direkten Blickkontakt zu den Kunstwerken vermeiden . Bei Kunstwerken, die den Islam und Muslime verunglimpfen, sollte man Abstand nehmen . Diese anzusehen und sich kritisch damit auseinanderzusetzen ist jedoch unproblematisch . Bei Pflichtveranstaltungen könnte darüber diskutiert werden, ob so eine nur auf körperfreie Kunst ausgerichtete Ausstellung überhaupt sinnvoll ist . Es gibt sicherlich andere Möglichkeiten, Schüler für Kunst zu interessieren . Neben Pflichtveranstaltung ist auch das Erziehungsrecht der Eltern von Bedeutung . Es ist ratsam, einer anderen Tätigkeit nachzugehen, sofern Sie ständig mit genannten Kunstwerken zu tun haben und wenn Sie eine andere Tätigkeit finden .38

Yavuz Özoguz, wissenschaftlicher Leiter der „Enzyklopädie des Islam“, dem eine Nähe zu schiitischen Islamisten nachgesagt wird, gibt den Rat: Das Betrachten eine Bildes ist zudem nicht so zu bewerten wie das Betrachten des tatsächlichen Körpers . Ein Muslim darf nicht hinsehen, wenn damit Gefühle oder Triebe angesprochen werden, die in dem Rahmen unpassend sind . Aber bei einer Ausstellung ist man ja nicht verpflichtet überall hinzusehen . Bilder, die den Islam kritisieren oder verhöhnen kann man sich z . B . mit der Absicht ansehen um zu verstehen, welche Art von Feindschaft es gibt oder um zu verstehen, was andere falsch am Islam verstehen, um es aufzuklären .39

Vor dem Hintergrund des sich beschleunigenden demografischen Wandels müssen sich Kulturinstitutionen und Museen mit derartigen Fragen auseinandersetzen, wenn sie sich neue Zielgruppen erschließen wollen . Das Interesse an Besucherforschung hatte sich erstmals in den späten 1990er Jahren geregt, damals vor dem Hintergrund, dass sich steuerfinanzierte Museen und Kultureinrichtungen nunmehr stärker legitimieren mussten . Besuchsbarrieren sollen erforscht und gesenkt, das Publikum unter dem Motto „Kultur für alle“ erweitert werden . Es wurde deutlich, dass eine relative

38 39

Das Sekretariat des VIKZ e . V . per Mail an den Autor 20 .1 .2020 . Yavuz Özoguz per Mail an den Autor 19 .1 .2020 .

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bzw . absolute Mehrheit der Bevölkerung nie oder nur äußerst selten Kunstausstellungen und Museen besucht . 1996 hatte eine Studie auf der Basis von knapp 17 .000 Befragten ergeben, dass nur 26 % Kunstmuseen besuchen .40 Auf der Basis von gut 23 .000 Interviews ermittelte die AG Verbrauchs- und Medienanalyse im Jahr 2015, dass nur 12 % mindestens einmal im Monat Museen und Kulturveranstaltungen besuchten, 52 % selten und 36 % nie .41 Martin Tröndle (Zeppelin-Universität Friedrichshafen) leitete 2018 eine Befragung unter 1 .264 Studenten in Potsdam und Berlin . Dabei gaben 56 % an, im vergangenen Jahr keine Kunstausstellung gesehen zu haben, knapp vier % zeigten sich als regelmäßige Kunstkonsumenten, die mindestens einmal im Monat ins Museum gingen .42 Nach einer zusammenfassenden Einschätzung zahlreicher Studien und Umfragen lässt sich annehmen, dass heute gut die Hälfte der Bevölkerung grundsätzlich keine Kulturveranstaltungen besucht .43 Der Kulturwissenschaftler Thomas Renz sieht auch die Bildungs- und Sozialpolitik in der Pflicht, um Kultureinrichtungen einen stärkeren Publikumszuspruch zu ermöglichen . Darüberhinaus bestehe in der Mitte der Gesellschaft das bislang größte umgenutzte Potential . Dort gebe es viele Menschen mit großen „Teilnahmechancen“ aufgrund ihres Bildungsstandes und einer Kulturinteresse förderlichen Sozialisierung, doch es sei weiter unklar, warum „diese Menschen im Laufe ihres Lebens kein Interesse an entsprechenden Aktivitäten entwickelt haben .“44 Anregungen durch Verwandte und Freunde sind offenbar entscheidend für die Häufigkeit des Besuchs von Kunstausstellungen . Geisteswissenschaftler und Künstler beeinflussen das Besuchsverhalten ihrer Kinder am stärksten, reproduzieren das Kunstinteresse quasi innerhalb der Familie . Auch die persönliche Bekanntschaft mit Künstlern kann das Interesse für Kunst wecken oder zu Ausstellungsbesuchen animieren . Daraus schliesst Wuggenig, man müsse die Präsenz von Künstlern in Schulen und in bislang Kunstfernen Räumen stärken .45 Susanne Hesse-Badibanga, Leiterin der documenta-„Stabsstelle Vermittlung“, vermutet: M . E . ist die Abwehr gegen die zeitgenössische Kunst mit der traumatischen Erfahrung des ausgeschlossen seins zu begründen, welche sich historisch im kollektiven Körper internalisiert hat . Die bürgerliche Klasse hat seit jeher das Museum zum Parkett der Repräsenta-

40 Volker Kirchberg, „Besucher und Nichtbesucher von Museen in Deutschland“, in: Museumskunde 61/ 1996, S . 151–161 . 41 Berichtsband VUMA, Was konsumierst du? Basisinformationen für fundierte Mediaentscheidungen, 2015 (online) S . 18 . 42 Martin Tröndle (Hg .) Nicht-Besucherforschung . Audience Development für Kultureinrichtungen, Wiesbaden 2019, S . 61 . 43 Thomas Renz, Nicht-Besucherforschung, Die Förderung kultureller Teilhabe durch Audience Development, Bielefeld 2016, S . 131 . 44 Ebenda S . 182 . 45 Wuggenig, „Die Liebe zur Kunst“, in: Munder, Wuggenig (Hg .), Das Kunstfeld, 2012, S . 231–278, hier S . 248 f .

Die häufigsten Ressentiments gegenüber zeitgenössischer Kunst

tionen erklärt . Distinktion ist konstitutiver Teil dieser Strukturen, welche aufrechterhalten und mehr oder weniger subtil reproduziert werden .46

Museen sollten vor allem lebensweltliche Nähe aufbauen, empfiehlt Tröndle: Das Paradigma ‚Kultur für Alle‘ ist empirisch nicht zu halten . Kultur für alle, die wollen, ist die realistischere Forderung . Manche mögen durch ihre milieuspezifischen Wirklichkeitskonstruktion zu weit weg sein, um Nähe zu ihnen aufbauen zu können . Auch auf den Geschmack, den Freundeskreis oder die Freizeitpräferenzen der potentiellen Besucher haben Kultureinrichtungen nur bedingt Einfluss .47

Die häufigsten Ressentiments gegenüber zeitgenössischer Kunst

Nichtbesucher und sporadische Museumsgäste empfinden häufig Ressentiments gegenüber zeitgenössischer Kunst . Aversionen gegen zeitgenössische Kunst können sich aus religiösen oder politischen Weltanschauungen speisen, und sie können auf kunstfeindliche Vorstellungen zurückgehen, die seit Jahrhunderten tradiert werden . Die im folgenden aufgeführten Kategorien sind auf der Basis ausgewerteter Leserbriefe, Onlinekommentare, Besucherbücher und persönlicher Gespräche erstellt worden . Viele Kommentare deuten darauf hin, dass sich hier ein Zusammenstoss unterschiedlicher Lebensstile und Milieus abzeichnet, der zum Teil von traditionellen Klassengegensätzen überlagert ist . 1)

Die Enttäuschung des erwarteten Kunsterlebnisses

Enttäuscht wird die Erwartung, als „Kunst“ etwas Wertvolles und Schönes präsentiert zu bekommen . Aber nicht Wärme, Harmonie und Rührung gehen von den meisten Gegenwartskunstwerken aus, stattdessen lösen sie oftmals widersprüchliche Empfindungen und Gedanken aus . Zudem spielen viele Kunstwerke mit dem Betrachter, wollen ihn verwirren, täuschen, provozieren, aktivieren, wollen demonstrativ seine Sehgewohnheiten und Ansichten auf den Kopf stellen . Dies spüren viele Kunstbetrachter, und wenden sich ab, weil sie Unterhaltung und Entspannung statt Anstrengung und Verwirrspiel erwartet haben . Viele Kunstwerke tragen die Mehrdeutigkeit, die Möglichkeiten der Täuschung und Dechiffrierung in sich . Vielen Laien hingegen fehlt das Susanne Hesse-Badibanga, Leiterin Stabstelle Vermittlung der documenta GmbH, per Mail an den Autor 15 .8 .2019 . 47 Martin Tröndle (Hg .) Nicht-Besucherforschung . Audience Development für Kultureinrichtungen, Wiesbaden 2019, S . 113 . 46

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Selbstvertrauen oder die Lust, eine experimentelle Rezeptionshaltung einzunehmen, die Offenheit zeitgenössischer Kunstwerke führt bei ihnen zu Überforderung und Verdruss . Die Enttäuschung des erwarteten Kunsterlebnisses betrifft linke und rechte Weltanschauungen gleichermaßen, schließlich galt in der Arbeiterbewegung traditionell die Aneignung des bürgerlichen kulturellen Erbes als vorbildlich, folglich existierte der bürgerliche Kulturbegriff auch dort weiter . Hinzu kommt, dass das Laienpublikum nicht a priori von einer Sinnhaftigkeit der avantgardistischen Kunstentwicklung ausgeht, es fehlt ihm u . U . der Glaube an die Wertigkeit und Bedeutsamkeit zeitgenössischer Werke und der Kunst im Allgemeinen . Für die Sozialpsychologie zeigte sich in der aggressiven Ablehnung des Kunstanspruchs ein „Zusammenhang zwischen autoritärer Charakterstruktur und Feindschaft gegen moderne Kunst .“48 2)

Die irritierende Preisbildung auf dem Kunstmarkt

Auktionsrekorde und Höchstpreise für dilettantisch oder abstoßend wirkende Kunstwerke, über die die Medien in sensationeller Aufmachung berichten, schüren latente Wut über den zur Schau gestellten Reichtum und die „Verschwendungssucht“ der Kunstsammler . Auch Bildungsbürger zeigen sich von den Exzessen des Kunstmarktes angewidert, wobei hier das Ressentiment gegenüber neureichen oder jungen Kunstsammlern aus der Finanzbranche oder außereuropäischen Rohstoffökonomien auch eine gewisse Rolle spielt . Eine soziologische Studie ergab, dass Bildungsbürger, welche das Gros der fast 100 .000 Besucher der Art Basel stellen, um so enttäuschter von der dort herausgestellten Warenhaftigkeit der Kunst sind, je weniger sie mit dem Kunstmarkt beruflich verbunden sind .49 Im Bürgertum ist immer noch die romantisch-idealistische Ablehnung des Kunstmarktes weit verbreitet: Die Kunst wird verehrt, der Handel mit Kunst gilt als despektierlich . 3)

Das Gefühl des ausgegrenzt seins durch mangelnde Bildung

Kunstbetrachtung ist intellektuell anspruchsvoll geworden: Der Kunstkonsument muss sich Vorwissen aneignen und selbst Kriterien erarbeiten, was für ihn gute Kunst ist . Weit verbreitet ist die latente Wut darüber, den Sinn der ausgestellten Werke nicht zu verstehen; aufkommende Selbstzweifel beim Museumsbesuch sorgen für Verdruss . Verbreitet ist auch der Unwille, sich bei Führungen „wie ein Kind“ belehren lassen zu Christian Rittelmeyer, „Dogmatismus, Intoleranz und Beurteilung moderner Kunstwerke“, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 1/1969, S . 93–105 . 49 Franz Schultheis u . a ., Kunst und Kapital . Begegnungen auf der Art Basel, Köln 2015 . Vgl . a . http://www . zeit .de/2015/26/art-basel-kunstmarkt-preise-franz-schultheis (21 .11 .2019) . 48

Die häufigsten Ressentiments gegenüber zeitgenössischer Kunst

müssen (gerade wenn junge Guides ältere Besucher anleiten) . Die Dominanz des Englischen bei Diskussionen, Kuratorenvorträgen und in Texten verstärkt bisweilen den Eindruck der eigenen Inkompetenz und des ausgeschlossen seins . Nicht nur im Kunstbereich, sondern auch bei Tagungen an deutschen Universitäten ist immer häufiger zu erleben, dass deutsche Referenten vor einem deutschen Publikum auf Englisch vortragen . Für den österreichischen Philosophen Konrad Paul Liessmann dient die „Weltoffenheit symbolisierende Bevorzugung des Englischen der Selbstüberhöhung einer sich kommunikativ abschließenden Elite .“50 4)

Die Angst vor der Blamage

Beim Ausstellungsbesuch oder öffentlichen Gespräch über Kunst sorgt die latente Angst vor einer Bloßstellung für Anspannung und Unlust . Manche Menschen spüren, dass ihr Geschmack und ihr Schönheitsempfinden in diesem Kontext deplatziert sind und wollen dies verheimlichen . Wer heute über Kunst urteilt, muss selbst auswählen, er ähnelt darin dem Künstler, der bei seiner Arbeit aus dem Fundus von Alltagsbildern, -gegenständen und kunsthistorischen Archiven schöpft . Wer über Kunst urteilt, wird heute quasi selbst zum Künstler – und kann dabei ebenso scheitern, als ungeschickter Repräsentant eines bestimmten Lebensstils, Geschmacks oder intellektuellen Anspruchs . Ein fehlender, oberflächlicher oder altmodischer Kunstgeschmack kann also auf Betroffene und Mitmenschen immer noch peinlich wirken – trotz der scheinbaren Offenheit neuerer Kunstvermittlungsprogramme, trotz der Aufforderung zur Partizipation und zum Dialog, die den Besuchern im Museum allerorten entgegenschallt . 5)

Das Gefühl der Machtlosigkeit

Der Kunstbetrieb ist politischen Mehrheitsentscheidungen nicht unterworfen – die Mehrheit der Bevölkerung, der Wähler und Steuerbürger haben keinen Einfluß auf Ausstellung und Ankauf von Kunstwerken durch öffentliche, vom Staat finanzierte Institutionen . Ausstellungsbesucher werden allenfalls gezählt, ihre Meinungen zählen nicht . Bei vielen Menschen regt sich in diesem Kontext ein Unwillen gegen die Akademiker des Kunstbetriebs, gegen die reichen Sammler, gegen den Snobismus jener Kreise, die sich herausnehmen, irgendetwas Banales oder Abstossendes als besonders wertvoll herauszustellen und riesige Summen dafür zu bezahlen . Ein Leserbriefschreiber kommentierte beispielsweise in der Zeitschrift Art einen Beitrag über Damian Hirst: „Es ist ein Jammer, wie irgendwelche Neureiche den Begriff Kunst verhöhnen,

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FAZ 31 .10 .2018 .

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indem sie für eingelegte Tierkadaver Millionen hinblättern .“51 Der demonstrativ sektiererische Kunstgeschmack von Opinionleadern und Kunstmarktgrößen wird als aufreizendes Symptom von Macht verstanden – die Macht moderner Alchimisten, die – Dank ihrer Geldmittel und Vernetzung im Kunstbetrieb – aus Mist Gold zu machen imstande sind und in einer Geheimsprache – dem intellektuellen Kunstjargon – darüber kommunizieren . Zu einem Beitrag in der Zeit im Juni 2019 über die Exklusivität des Kunstmarktes gingen Hunderte von Kommentaren ein . Ein Leser schrieb: Tatsächlich ist es doch so: der geldträchtige, staatsgepamperte Kunstmarkt ist ein inzestiöser closed shop . […] Eines der grössten Probleme sind die stetig ‚wichtiger‘ werdenden Kuratoren, teils auch Galeristen, die sich mittlerweile selbst zu Künstlern machen, um uns das richtige Sehen/Verständnis zu verordnen . […] Ich würde sagen ‚diese‘ Kunst ist tot .52

Ob Art Basel, Herbstauktion bei Christie’s in New York oder documenta in Kassel: Manifestiert sich hier ein Klassenkampf von oben, geführt mit den Mitteln der ästhetischen Distinktion? „Es ist sicher nicht mehr zeitgemäß, über die Existenz einer Klassengesellschaft zu reden“, schreibt die leitende documenta-Kunstvermittlerin Susanne Hesse-Badibanga: Wahrscheinlich sind jedoch jene Strukturen, welche Ausschlüsse produzieren, die gleichen geblieben, vielleicht sind diese auch nur viel komplexer geworden und wir verstehen die Besetzung der Rollen nicht mehr . […] Dennoch würde ich dabei bleiben, dass die Wut auf Herrschaftsverhältnisse ein Affekt ist .53

Auffällig ist, dass das Bekenntnis von Politikern und Managern zur modernen und zeitgenössischen Kunst seit geraumer Zeit zur Herrschaftsstrategie gehört . Politiker demonstrieren psychische Stabilität und Coolness im Angesicht einer schwer verständlichen, abstrakten oder chaotisch erscheinenden Kunst . Gerhard Schröder ließ sich beispielsweise gerne lachend vor Kunstwerken abbilden, zeigte sich somit keineswegs eingeschüchtert, sondern unbekümmert vor schwieriger, sogar vor dilettantisch wirkender Kunst im Kanzleramt oder in Ausstellungen . „Leadership bedeutet, Regeln zu brechen“  – so zitierte der Luxusautomobilhersteller Maybach Georg Baselitz in einer Werbekampagne . Dieses Motto wirkte wie ein Kommentar zu Schröders Kunstauffassung .54 Der Leader schert sich nicht um den Massengeschmack und die Konventionen, er folgt seiner eigenen Agenda, seinen eigenen Schönheitsidealen . Angehörigen der Mittel- und Unterschichten mag es vorkommen, als finanzierten sie mit ihren Steuergeldern den abseitigen Kunstgeschmack der Eliten und würden dafür noch verhöhnt . Populisten versuchen bisweilen, dies auszunutzen, indem sie gegen die 51 52 53 54

Leserbrief von Jörg Brauer in: Art 6/2012, S . 10 . Von Nick „Sid Bertel“ . https://www .zeit .de/2019/45/kunst-kunstszene-kunstwelt-exklusivitaet (3 .11 .2019) . Susanne Hesse-Badibanga per Mail an den Autor 7 .10 .2019 . Wolfgang Ulrich (Hg .), Macht zeigen . Kunst als Herrschaftsstrategie, Berlin 2010, S . 11 ff .

Die häufigsten Ressentiments gegenüber zeitgenössischer Kunst

„Steuermittelverschwendung“ für unverständliche und abseitige Kunst protestieren . „‚Zeitgenössische Kunst ist zu abstrakt, wir verstehen das nicht‘ – so wird in der Regel die Ablehnungshaltung begründet . Das ist meines Erachtens nur ein Symptom für ein politisches Problem,“ schreibt Hesse-Badibanga . Viele Laien würden sich für zu dumm halten, sich nicht an Kunstdiskussionen beteiligen oder in ein Museum gehen . „Somit bleiben die Herrschaftsverhältnisse bestehen, das erzeugt Wut und das landläufige Argument ist dann, die da oben geben unsere Steuergelder aus, für die wir hart gearbeitet haben und wir fühlen uns ‚verarscht‘ (O-Ton) .“55 Die Macht im gegenwärtigen Kunstbetrieb scheint unsichtbar zu sein . Deshalb wirkt sie ebenso faszinierend wie frustrierend . Scheinbar gibt es keine Grenzen und Vorschriften, keine Hierarchien und Unterwerfungsrituale mehr, alles scheint frei, alles scheint möglich zu sein . Außenstehenden mag es erscheinen, als sei jeder mit jedem per Du . Trotzdem gibt es informelle, auch für das Kunstpublikum unsichtbare Hierarchien, es gibt ein regelrechtes System von Inklusionen und Exklusionen, die ganz plötzlich spürbar und schmerzhaft werden können: Etwa für den Künstler, der nicht zu einer Ausstellung zugelassen wird oder der keinen Galeristen findet; für den Galeristen, der nicht zur Messe zugelassen wird, für den Sammler, dem der Galerist nichts verkaufen will, für den Kurator, der die gewünschten Leihgaben von anderen Museen nicht erhält . Im Gegensatz zu den Machtstrukturen vieler Parteien, Unternehmen oder Behörden sind hier die Netzwerke der Meinungsführer viel schwerer zu greifen: Der Kunstmarkt befindet sich in ständiger Bewegung, Bewertungen von Werken entstehen auf der Basis von Insiderinformationen, informellen Absprachen und persönlichen Beziehungen, einander widersprechende Trends existieren parallel, was „in“, „out“, „retro“ oder „ironisch“ ist, erscheint Außenstehenden ein Rätsel zu sein . Jeder Player scheint nur auf neue Trends und Impulse zu reagieren, tatsächlich aber werden Trends und Künstler bewusst gefördert: Eingespielte Seilschaften oder volatile Allianzen von Großsammlern, Spitzengaleristen und Museumsdirektoren bauen neue Stars auf, die dann einem erstaunten Publikum als „Entdeckungen“ und „Naturtalente“ präsentiert werden . Es ist kein Wunder, dass hier Verschwörungstheorien aufblühen . Die Komplexität des Marktes, der Neid auf den aus unerfindlichen Gründen erfolgreicheren Kollegen sorgt gerade unter den vielen namenlosen Akteuren des Kunstbetriebs für Bitterkeit . Tragisch: Die Wut der Ausgeschlossenen findet keinen Adressaten mehr: da ist keine königliche Kunstakademie mehr, gegen die man rebellieren könnte, keine Sezession, von der man sich abspalten könnte, kein veralteter Zeitstil, der von einer Avantgarde überwunden werden müsste . Dieser Frust führt gelegentlich auch zur Autoaggression im Kunstbetrieb . Künstler und andere Kunstbetriebsinsider üben sich im Hass und der Verachtung ihresgleichen oder des Kunstmarktes, tragisch wirkt dies beim gescheiterten Künstler, zynisch bei der Gewinnern, wenn etwa Da-

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Susanne Hesse-Badibanga per mail an den Autor 15 .8 .2019 .

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Abb. 19 In diesem Cartoon wird die Spannung zwischen Publikumserwartung und Gegenwartskunst meisterhaft auf den Punkt gebracht. Die einfache technische Machart entlockt dem Betrachter den sarkastischen Ausruf „Das kann ich auch“, während der einzige Inhalt des Werks in der Aussage „Kannst du nicht“ besteht – ein Verweis darauf, wie unzugänglich, verschlossen und geheimnisvoll der Kunstbetrieb für Laien tatsächlich ist.

mien Hirst das Kunstmarktgeschehen auf seine Weise definiert: „How cunts sell shit to fools“ .56 Gegenwartskunst wird von vielen Laien als Elitenprojekt erkannt, als Angelegenheit von Akademikern und reichen Sammlern . Für weite und wichtige Bereiche des Kunstgeschehens trifft dies zu . Ebenso auf die häufig vermuteten Seilschaften und Netzwerke im Kunstbetrieb – es gibt sie tatsächlich . Der Kunstmarkt ist intransparent und beruht geradezu auf den Bereicherungsmöglichkeiten für bestimmte Kreise und Personen durch Insiderwissen . Da keine verbindlichen und nachvollziehbaren Qualitätskriterien für Kunst mehr vorliegen, vermuten viele Menschen, die Wertschöpfung auf dem Kunstmarkt beruhe maßgeblich auf Absprachen, Bluffs und Täuschungen . Es ist also eine schwierige und anspruchsvolle Aufgabe, den Ressentiments gegen den Kunstbetrieb der Gegenwart argumentativ entgegen zu treten – gerade weil hier reale Probleme und Missstände benannt werden . Vandalismus – stummer Protest der Ausgeschlossenen?

In der Geschichte der documenta taucht immer wieder das Phänomen des Vandalismus auf . Auch bei anderen vergleichbaren Großausstellungen, vor allem aber bei Kunstwerken im öffentlichen Raum, sind gelegentlich Beschädigungen festzustellen . Ein Teil des Publikums (bei Kunst im öffentlichen Raum zählt auch ein unfreiwilliges Publikum dazu – die Nachbarn, Anwohner und Passanten) ist nicht in der Lage oder willens, sich geistig oder verbal mit Kunst auseinanderzusetzen . Könnte es es, dass der 56 Der gleichnamige Essay Hirsts war zuerst im Idler magazine erschienen, später in der Tate-Publikation: Gregor Muir and Damien Hirst, Angus Fairhurst, Sarah Lucas, ‚In-A-Gadda-Da-Vida‘, London 2004 . http:// www .damienhirst .com/texts/2004/jan--damien-hirst (21 .11 .2019) .

Vandalismus – stummer Protest der Ausgeschlossenen?

Vandalismus als nonverbale Reaktion auf Kunst zu werten ist, als unbeholfener Kommunikationsversuch, vielleicht sogar als Akt des sozialen Protests? Als 1972 massive Zerstörungen an documenta-Kunstwerken festgestellt wurden, schrieb eine Bürgerin der documenta-Leitung und interpretierte die Vandalismuswelle als legitimen Widerstand des Publikums gegen schlechte, beleidigende und provozierende Kunst: „Ist es nicht tröstlich, dass sich da ein Teil unserer Jugend, vielleicht auch mit unfairen Mitteln, wehrt“?57 Die Zerstörung von Kunstwerken entspringt unterschiedlichen Motivationen, dazu zählen nicht nur Wut und Aggression, sondern auch positive Gefühle . So haben Souvenirjäger eigentlich ein positives Verhältnis zum beschädigten Werk, sie wollen an dessen Aura partizipieren, indem sie einen Teil davon behalten, sich auf diese Weise einen Fetisch verschaffen . Deutlich wird dies bei beliebten Kunstwerken in Sammlungen . Würden sie nicht bewacht oder durch Glas und Absperrungen geschützt, wäre es bald um sie geschehen . Allein durch wohlwollende, „verehrende“ Berührungen im Alltag des Massenbetriebs von Museen und Großausstellungen entstehen große Schäden . Holzplastiken bekommen einen fettigen Glanz, Leinwände werden durchgedrückt, Farbe platzt ab . Die Alarmanlagen großer Museen registrieren manchmal Dutzende von Berührungen pro Tag im Gedränge oder durch Neugier .58 Kunstwerke, vor allem Skulpturen wecken die Sehnsucht nach haptischen Erlebnissen . Gerne würde man Plastiken buchstäblich begreifen, um ihren Charakter zu erfassen . Doch Berührungen sind im Museen und bei Großausstellungen nicht erlaubt – eigentlich ein Paradox . Vandalismus resultiert hier aus Attraktivität des Kunstwerks . Sehr häufig stößt man aber auch auf einen beiläufigen Vandalismus: Kunstwerke werden aus Langeweile, Frustration oder orientierungsloser Aggressivität beschädigt . Kunstwerke, die unbewacht auf Plätzen und in öffentlichen Parks stehen, können besonders leicht demoliert werden . In der Regel handelt es sich bei den Tätern um alkoholisierte junge Männer . Die Verschmutzung des öffentlichen Raumes, das Trinken und der Drogenkonsum in der Öffentlichkeit, der Wunsch nach Ausleben von Emotionen und allgemeine Rücksichtslosigkeit sind Begleiterscheinungen eines hedonistischen und individuellen Lebensstils in einer permissiven Gesellschaft . Gebäude, Denkmäler und andere Objekte werden weithin beschriftet und beklebt, Scheiben zerkratzt oder eingeschlagen, Pflanzen zerstört und Grünflächen vermüllt . Kunstobjekte sind dabei besonders gefährdet, weil sie auffallen . Als Form einer passiven Aggression kann die schleichenden Zerstörung durch mangelnde Pflege und Verwahrlosung gelten . Beschädigungen durch Materialdiebe bilden eine weitere, materiell motivierte Kategorie . Wertstoffdiebe sind nur am wiederverwendbaren Material interessiert . Eigentlich empfinden sie keine spezifische Aggression gegen das Werk, sie ignorieren den Kunstcharakter des Objekts geradezu . In anderen Fällen wird das Kunstwerk stellvertretend

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Brief von Hilde Wrede aus Oldenburg vom 26 .8 .1972 . documenta-Archiv D 5 M 148 . Art 8/1988, S . 12 f .

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für die Macht oder die Gesellschaftsordnung angegriffen . Das beschädigte Kunstwerk gilt den Aggressoren als Symbol für eine Herrschaftsform, eine Ideologie oder ein politisches System . Besonders klar war dieser Zusammenhang in Monarchien und Diktaturen . Dort dienten Reiterdenkmäler, herrschaftliche Standbilder oder vom Fürsten gestiftete Kunstwerke als Machtsymbole – solange sie unangetastet blieben . Es lässt sich sogar die These aufstellen, je absolutistischer und totalitärer politische Systeme waren, um so sicherer waren ihre Denkmäler und Kunstwerke vor Spott und Vandalismus  – ihre Unversehrtheit liess sich als Gradmesser der Loyalität der Beherrschten begreifen, denn eine Verschmutzung oder Beschädigung wurde in diesen Systemen schwer bestraft . Ein Denkmalssturz war demgemäß als symbolische Tötung des Herrschers zu verstehen und konnte nur im Kontext einer Revolution stattfinden . In innerstaatlichen Bürgerkriegen und revolutionären Situationen kann von gezielten Angriffen auf Kunstwerke, Personendenkmäler, Museen und Baudenkmale sogar eine mobilisierende Wirkung ausgehen – vor allem spektakuläre Denkmalsstürze wirken als Beschleuniger revolutionärer Prozesse, sie werden durch die Erosion sozialer und politischer Ordnungen ermöglicht und beschleunigen zugleich deren Zerfall . In Demokratien ist die Lage etwas komplexer . Vor allem in wohlhabenden Ländern sind Kunstobjekte im öffentlichen Raum weit verbreitet . Sie dienen Kommunen, Staaten und Unternehmen als Ausweis ihrer Kunstsinnigkeit und Modernität, sind Zeichen des Wohlstands und des Bürgerstolzes . In gewisser Weise sind auch sie Nachfolger der Herrscher- und Personendenkmäler vergangener Epochen . Kunst im öffentlichen Raum kommt – ob sie es will oder nicht – in der Tradition und im Gestus des Herrscherbildes daher, ohne diese Macht tatsächlich zu repräsentieren . Aus diesem Hybridcharakter ergibt sich ein folgenreiches Missverständnis . Kunst im öffentlichen Raum ist in vielen Fällen das Ergebnis eines kommunalpolitischen Kompromisses, einer oftmals dünnen Mehrheit, manchmal auch nur ein Anliegen einer engagierten Minderheit . Für manche Bürger materialisiert sich in diesen Kunstwerken dann eine sonst schwer greifbare gesellschaftliche Macht, die Kunst dient ihnen als Symbol für Kapitalismus, Liberalismus, Elitenarroganz, kommunale Mißwirtschaft, Korruption, verfehlte Stadtplanung oder andere Mißstände und Ärgernisse . Kunstwerke haben in diesem Sinne eine Blitzableiterfunktion . Bürger, die in wesentlichen Fragen der Politik und Wirtschaft kein nennenswertes Mitspracherecht mehr haben, stürzen sich auf den Ersatzschauplatz „Kunst“ . Das Spektrum an Unmutsäußerungen reicht vom Leserbrief in der Lokalzeitung über die Gründung einer Bürgerinitiative bis hin zum Vandalismus .59 Nicht immer kommen dabei die üblichen Verdächtigen – alkoholisierte Jugendliche  – ins Spiel . Gelegentlich sind es auch brave Bürger und 59 Regelmäßig provoziert beispielsweise der Düsseldorfer Bildhauer Markus Lüpertz mit seinen grobschlächtigen Plastiken Proteste: 2001 in Augsburg gegen die Aufstellung der Aphrodite vor der Kirche St . Ulrich und Afra, 2005 wurde in Salzburg seine Statue Hommage an Mozart lackiert und gefedert . Die schwere Metallplastik Kopf Chillida stürzten Unbekannte im Juni 2006 in Bamberg um .

Vandalismus – stummer Protest der Ausgeschlossenen?

ältere Semester, die bei Kunst rot sehen . So beispielsweise der zur Tatzeit 79jährige Bäckermeister Friedebert Gleichauf aus Donaueschingen . Er zündete im Jahr 2012 eine Holzskulptur des Künstlers Paul Schwer an, die an der Schützenbrücke über das Flüsschen Brigach angebracht worden war . Gleichauf wurde erwischt und zu einer Geldstrafe von 2 .700  Euro verurteilt, woraufhin sich eine Bürgerinitiative bildete, die durch Spenden für einen Großteil der Strafe aufkam .60 Später wurde der Vorfall beim Donaueschinger Karneval humoristisch bewältigt . Der Täter hatte sich u . a . mit dem Hinweis gerechtfertigt, statt Geld für zeitgenössische Kunst auszugeben, sei es viel wichtiger, die nahegelegene historische Gnadentalkapelle zu sanieren . Nun bildete sich tatsächlich eine Spendeninitiative für den Erhalt der Kapelle . Das spontan erwachte bürgerschaftliche Engagement neigte hier letzterer zu . Alles in allem keine schlechte Sache – ein Kunstwerk mobilisierte und aktivierte die Bürgerschaft, wenngleich anders als geplant . Kunst im öffentlichen Raum polarisiert, sie ruft ambivalente Emotionen wach . Dies kann in einer pluralistischen Gesellschaft durchaus als legitime Reaktion aufgefasst werden . Der Kunsthistoriker Walter Grasskamp interpretierte etwa Kunst-Vandalismus als „archaischen Reflex der Revierverteidiger, mit dem sie sich gegen die kulturelle Kolonialisierung ihres Lebensraumes zur Wehr setzen .“61 Die Kuratorin Sophie Goltz ging noch darüber hinaus . Goltz, die zeitweilig in Hamburg als die bundesweit erste „Stadtkuratorin für Kunst im öffentlichen Raum“ amtierte, antwortete auf die Frage, ob generell Aggressionen gegen Kunstwerke, besonders gegen Kunstobjekte im öffentlichen Raum zugenommen haben: Nein, im Gegenteil, leider . In den 1980er Jahren konnte die Kunst im öffentlichen Raum noch im Volkszorn baden . Autoritäre Charaktere wurden noch ernst genommen, in der Politik, in den Medien, am Stammtisch . In den 1990er Jahren hat die ästhetische Re-education gesiegt: Lichterketten, Documenta, Loveparade . Das scheint paradox, denn im Neoliberalismus haben die gesellschaftlichen Spannungen drastisch zugenommen . Doch es gibt keine klaren Parteien mehr, und auch die Kunst ist keine Partei mehr . Sie ist für alle da, sie singt allen ein Lied .

Die Gegenwartskunst, vor allem die Kunst im öffentlichen Raum böte also keinen Widerstand mehr, und um diesen Verlust an produktivem Streitpotential auszugleichen, könnte durchaus darüber nachgedacht werden, Kunst bewußt zum Vandalismus freizugeben – einschließlich Zerstörung, Übermalung, Überbauung . Denn: Vandalismus ist eine herrschaftliche Kategorie . Vandalismus ist alles, was der Regierung, dem Privateigentum und dem Grünflächenamt nicht gefällt . Vandalismus ist, was die Ei-

http://www .suedkurier .de/region/schwarzwald-baar-heuberg/donaueschingen/Weihnachtsgeschenkins-Gnadental;art372512,6491223 (30 .7 .2014) . 61 Walter Grasskamp (Hg .), Unerwünschte Monumente . Moderne Kunst im Stadtraum, München 1989, S . 143 . 60

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gentumsverhältnisse nicht achtet . Die Kunst ist diesen Eigentumsverhältnissen nicht verpflichtet . Im besten Fall ist sie ihr Feind .62

Vandalismus als Methode von Terroristen und Avantgardisten

Sophie Goltz steht mit ihrer Meinung über einen „produktiven Vandalismus“ allerdings allein auf weiter Flur . Kunst absichtlich zu zerstören, gilt heute weithin als barbarisch – zumindest in gefestigten Demokratien und pluralistischen Gesellschaften . Nach wie vor existieren dort wirksame Hemmschwellen und eine Achtung vor der Kunst – dies kommt nicht zuletzt in der Tatsache zum Ausdruck, dass Kunstwerke sogar gezielt eingesetzt werden, um öffentliche Räume zu befrieden . Tatsächlich hat sich erwiesen, dass sich Vandalismus und Verschmutzung durch derartige Verschönerungsaktionen etwas eindämmen ließen . Während Kunstzerstörung in friedlichen Gesellschaften weitgehend tabuisiert ist, wurde und wird sie in kriegerischen Auseinandersetzungen praktiziert63 und von Terroristen bewusst geplant . Auch in den pluralistischen Zivilgesellschaften gab und gibt es immer wieder Gruppierungen oder einzelne politische Extremisten, die Kunstwerke gezielt angreifen, um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen . So kam es 1993 in Italien zu rätselhaften Bombenanschlägen auf Kunstwerke und Kulturdenkmäler, u . a . auf die Uffizien, auf San Giovanni in Laterano und auf San Giorgio in Velabro . Der Kunstkritiker Vittorio Sgarbi sagte damals dazu: „Töten macht keine Schlagzeile mehr, ein Michelangelo im Visier erzielt eine viel größere Wirkung .“64 Die Anschläge wurden von der Mafia verübt, die damit ihre traditionelle Methode der Hinrichtung von prominenten oder staatsnahen Zielpersonen durch Anschläge auf prominente Kunstwerke variierte . Damit sollte die Gesellschaft als Ganzes getroffen, und der Staat von einer konsequenteren Antimafiapolitik abgehalten werden, denn im Jahr zuvor war der Chef der Cosa Nostra, Totó Riina, verhaftet Sophie Goltz per Email an den Autor 22 .8 .2014 . Kunstraub und Kunstzerstörung zielen auf die kulturelle Identität des Gegners . Im 20 . Jahrhundert versuchten die Kriegführenden europäischen Großmächte den Eindruck zu erwecken, sie würden auf wertvolle Kunst im Feindesland Rücksicht nehmen . Kollateralschäden durch Beschuß oder Plünderungen durch undisziplinierte Truppen galt es nun sorgsam zu vermeiden, zumal der Gegner dies in seiner Propaganda thematisieren konnte, wie es im Ersten Weltkrieg vor allem zum Nachteil des Deutschen Reiches geschah . Dieser Anspruch des Kunstschutzes wurde allerdings in den Kolonialkriegen oder gegenüber den slawischen Nationen im Zweiten Weltkrieg weithin nicht beachtet . Die Taliban, später auch andere islamistische Milizen sowie der „Islamische Staat“, kündigten zu Beginn des 21 . Jahrhunderts den Konsens der „kunstschonenden Kriegsführung“, der sich seit 1945 international verbreitet hatte und kehrten zur vormodernen barbarischen Haltung zurück, die nicht zwischen Religion, Historizität und ästhetischer Autonomie unterscheidet . Auch Trump schockte die Öffentlichkeit im Januar 2020, indem er im Konflikt mit Iran diesen vor weiteren Angriffen auf US-Truppen warnte und Kulturstätten als Vergeltungsziele ins Auge fasste . In diesem Fall würden 52 Stätten beschossen, „von denen einige sehr bedeutend und wichtig für Iran und die iranische Kultur“ seien . FAZ 7 .1 .2020 . 64 Art 8/1993, S . 3 und 123 . 62 63

Vandalismus als Methode von Terroristen und Avantgardisten

worden . Die historische Kunst Italiens sollte zur Geisel der Mafia werden . Die Autobombenanschläge mit insgesamt zehn Toten, 80 Verletzten und hohem Sachschaden an Gebäuden und Kunstwerken waren der verzweifelte Versuch der Cosa Nostra, das Rad der Geschichte zurückzudrehen .65 Im 21 . Jahrhundert haben die Taliban und islamistische Terrorgruppen in Afrika und Asien erkannt, dass sie mit Bilderstürmen und Kunstzerstörung vor allem im Westen viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen und auf diese Weise ihre Bekanntheit und Mobilisierungsmacht stärken können . Terror gegen Kunst zahlt sich in der globalen „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ immer aus . Den Auftakt des Terrorismus gegen Kunst, speziell gegen vorislamische historische Werke und Bauten, bildete die Zerstörung der antiken Buddha-Statuen in Bamyan – welche übrigens auch von der documenta 13 thematisiert wurde .66 In den folgenden Jahren gingen Islamisten in Mali, Libyen und im Irak in ähnlicher Weise gegen historische Baukunst, Grabmäler, Museen und Statuen vor .67 Im syrischen Bürgerkrieg wüteten Islamisten jahrelang in Homs, Aleppo und andernorts gegen Kirchen, antike Bauten und historische muslimische Heiligtümer . Zwischen 2015 und 2017 zerstörte der Islamische Staat die antike Ruinenstadt Palmyra, die zum UNESCO-Weltkulturerbe zählte . Der Wissenschaftler Khaled al-Assaad, der rund 40 Jahre lang die archäologischen Stätten Palmyras geleitet hatte, wurde dabei ermordet . Das Bemühen, um jeden Preis gesellschaftliche Aufmerksamkeit zu gewinnen, eint terroristische und avantgardistische Strategien . Manche Künstler und Terroristen arbeiten dabei mit den gleichen Methoden: Provokation, (Schein-)Radikalität, Medienkompatibilität . Das Manifest der Futuristen hatte 1909 auch deshalb eine so eine provokative Wirkung gehabt, weil es forderte, an die Bibliotheken solle Feuer gelegt, die Kunstakademien unter Wasser gesetzt werden . Seitdem gehört die Kunstzerstörung oder eine entsprechende Androhung zum Arsenal der Avantgarden und ihrer Epigonen . Umgekehrt gehört der Vorwurf, die Avantgarden würden die Kunst systematisch zerstören, seitdem zum Standardargument rechtsextremer, stalinistischer oder populistischer Agitation gegen moderne Kunst .

Reinhard C . Meier-Walser u . a . (Hg .), Organisierte Kriminalität, München 1999, S . 126 ff . Der Verantwortliche Taliban-Führer Mullah Mohammed Omars ließ gegenüber den Medien die „Argumentation“ verbreiten: Wenn die Buddhastatuen eine spirituelle Bedeutung und Wirkung hätten, geböte der Koran die Zerstörung dieser Götzenbilder . Wenn nicht, handelte es sich nur um wertlose alte Steine, über deren Zerstörung man sich nicht aufregen müsse . 67 Das aus dem 15 . Jahrhundert stammende Heiligtum des Sidi Abd as-Salam al-Asmar in Zliten war erst vor wenigen Jahren restauriert worden, bevor es im Sommer 2012 von Fanatikern zerstört wurde, in Tripolis wurde die Grabmoschee des Abdallah Al-Shaab al-Dahman vernichtet, in Misrata das Mausoleum von Scheich Ahmed al-Zarruq . FAZ 5 .10 .2012 . Extremisten zerstörten im Sommer 2012 in Timbuktu die zum Weltkulturerbe zählenden historischen Mausoleen der Djingareyber-Moschee . FAZ 11 .7 .2012 . Im Sommer 2015 gingen die Banden des „Islamischen Staates“ gegen historischen Bauten und Grabmäler im Nordirak vor, etwa gegen Kirchen in Mossul und jesidische Heiligtümer in der Region Sindschar, Zerstörung von Heiligtümern in Sheikh Khidir, Til Azer, Zorava und Hirdan, Angriff auf Scherfedin, die wichtigste jezidische religiöse Stätte der Region Sindschar . FAZ 9 .8 .2014 . 65 66

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Kapitel V Linke Akademiker, „expeditive Performer“ & reiche Sammler

Manifestiert sich in Bejahung und Ablehnung der Gegenwartskunst eine gesellschaftliche Spaltung?

Welche Rolle spielt moderne bzw . zeitgenössische Kunst in der Agenda heutiger extremistischer und populistischer Bewegungen? Populisten und Extremisten versuchen grundsätzlich, bereits bestehende Ängste, Emotionen und Ressentiments aufzugreifen, zu verstärken und für sich zu nutzen . Ihr politisches Geschäftsmodell beruht auf der Polarisierung der Meinungen und letztlich auf gesellschaftlicher Spaltung . Ist die Gegenwartskunst dafür ein geeignetes Terrain? Ein Terrain für jene neuen Kämpfe um kulturelle Identität, die die alten Klassengegensätze und sozialen Konflikte überlagern? Schließlich sind, wie dargelegt, Ressentiments, bezogen auf zeitgenössische Kunst, durchaus vorhanden und teilweise auch berechtigt . Vorbehalte gegen Gegenwartskunst können in kulturellen Anerkennungskrisen verstärkt werden – Anerkennungskrisen, die in Umbruchzeiten wie den 1920er, der Nachkriegszeit wie auch in der Gegenwart bestimmte Schichten und Milieus betreffen . Die Kulturkämpfe der 1920er Jahre, in denen der Expressionismus museale Weihen erhielt, wie auch der 1950er, als die abstrakte Kunst im Westen hegemonial wurde, hatten gezeigt, dass sich bestimmte Milieus mit moderner Kunst identifizierten und andere diese Kunst als Ausdruck unerwünschter gesellschaftlicher Veränderungen ablehnten oder gar dämonisierten . Der derzeitige gesellschaftlich-ökonomische Wandel hat neue Milieus und Schichten entstehen lassen, die sich durch einen kosmopolitanen, hochindividualisierten Lebensstil auszeichnen . Das Sinus-Institut für Sozial- und Marktforschung hat in diesem Kontext bestimmte Milieus der Ober- und Mittelschicht als federführend identifiziert, speziell die „Liberal-Intellektuellen“, „Sozial-Ökologischen“, die „Performer“ und „Expeditiven“ .68 Der Soziologe Andreas Reckwitz fasste diese Milieus in eine neue „Creative Class“ zusammen . Diese definiere sich durch Ideale wie Selbstverwirklichung, Mobilität, verfeinerten, „authentischen“ Konsum, globale Vernetzung und ästhetische Selbstinszenierung, wobei Internet und neue Medien eine große Rolle spielten . Laut Reckwitz werden wir gerade Zeugen, wie jene Creative Class eine neue „Gesellschaft der Singularitäten“ vorlebt .69 Diese hat mittlerweile auch ein internationales Wirkungs- und Begegnungsfeld: Messen, Konferenzen, Kulturfestivals oder auch Kunstausstellungen . Der ehemalige documenta-Chefkurator Roger Buergel betrachtet die großen internationalen Kunstausstellungen als „Treffpunkte einer sich entwickelnden globalen Bourgoisie“ .70 Hier mischen sich Künstler, Kunsthändler und Vermittler mit Entrepreneuren und Investoren aller Art, die das Kunstsammeln als gehobenes Hobby und geschmackvolle Anlagemöglichkeit entdeckt haben . „The Art world’s nomadic tribe“ beschreibt The Art Newspaper diesen Tross aus Kunstmarktinsidern, 68 69 70

https://www .sinus-institut .de/sinus-loesungen/sinus-milieus-deutschland/ (30 .8 .2018) . Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten . Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017 . Buergel beim UBS Arts Forum Wolfsberg, Ermatingen 29 .3 .2011 .

Manifestiert sich in Bejahung und Ablehnung der Gegenwartskunst eine gesellschaftliche Spaltung?

Sammlern und wohlhabenden Kulturtouristen, der regelmäßig auch in Kassel halt macht . Sie verkörpern den Lebensstil der Creative Class par excellance . Als gutausgebildete und teilweise gut verdienende Globalisierungsgewinner vertreten die meisten Künstler und Kuratoren in ihren Ausstellungen, Werken und Projekten das Ideal einer kosmopolitischen, liberalen und urbanen Lebensweise, sie leben das Ideal einer offenen, deregulierten und postnationalen Gesellschaft . Das Kunstgeschehen der Gegenwart läßt sich idealtypisch in drei Bereiche aufteilen . Die Hobby- oder Volkskunst einschließlich der Subkulturen, die sogenannte Kunstmarktkunst, die teuer und spekulativ gehandelt wird, und die sogenannte Biennalenkunst, wo ein intellektueller Anspruch an die Kunst gestellt wird . Letzterer Bereich gilt als besonders „innovativ“ und „gesellschaftlich relevant“ und wird von Medien stark beachtet . Vor allem in der sogenannten Biennalenkunst bildet sich zu annähernd 100 % die Diskurshoheit der linksliberalen Akademiker und anderer kulturaffiner Wohlstandsmilieus ab . Letztere sind laut der Soziologin Cornelia Koppetsch „zwar nicht die effektiv herrschenden – dies sind die ökonomischen Eliten – doch ihre Werte wie Kreativität, Weltläufigkeit oder Diversität sind zunehmend in den kapitalistischen Mainstream eingewandert und verleihen diesem nun eine kulturell-progressive Note . Es ist ein neues Rechtfertigungssystem .“71 Der französische Geograph Christophe Guilluy, der sich intensiv mit den vernachlässigten ländlichen Regionen beschäftigt hat,72 stellte fest, dass der Arbeiter, nachdem er in wirtschaftlicher Hinsicht überflüssig geworden sei, nun auch aus den städtischen Zentren und aus der Kultur verdrängt wurde . Die in den Medien und von Intellektuellen gegen rechte Populisten eingesetzten Argumentationsfiguren sieht er kritisch: Der Faschismus- und Rassismusvorwurf ist eine ideologische Waffe der herrschenden Klasse, mit der die Vertreibung der Mittelschichten gerechtfertigt und kaschiert wird . Die soziale Frage wird ausgeblendet […] Die Eliten  – Bourgeoisie, Medien, Akademiker  – schwärmen von der open society . Sie selber schotten sich ab in ihren Metropolen, die für die Mehrheit unerreichbar bleiben .73

Künstler verkörperten die abgeschotteten urbanen Eliten in besonders sichtbarer Weise, und würden deshalb angegriffen, behauptet die von der Bundesregierung und der Berliner Senatsverwaltung geförderte „Mobile Beratungsstelle gegen Rechtsextremismus“: Vor allem die Kunst- und Kulturszene steht idealtypisch für all das, wogegen sich rechtsextreme und rechtspopulistische Propaganda richtet: Sie steht für den kosmopolitischen Le-

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Interview von Cornelia Koppetsch in der NZZ 20 .5 .2019 . Christophe Guilluy, La fin de la classe moyenne occidentale, Paris 2018 . Interview in Weltwoche Nr . 40/2018, S . 61 .

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bensstil der Metropolen, ist experimentierfreudig und aufgeschlossen und betont ihre Offenheit und Toleranz – all das gilt als Lebensstil eines elitär-abgehobenen Liberalismus .74

Der Af D-Politiker Alexander Gauland sprach in diesem Zusammenhang von einer „neuen urbanen Elite“, die großen gesellschaftlichen Einfluss errungen habe: Zu ihr gehören Menschen aus der Wirtschaft, der Politik, dem Unterhaltungs- und Kulturbetrieb  – und vor allem die neue Spezies der digitalen Informationsarbeiter . Diese globalisierte Klasse gibt politisch und vor allem kulturell den Takt vor, weil sie die Informationskanäle beherrsche . In einer abgehobenen Parallelgesellschaft fühlen sie sich als Weltbürger . Der Regen, der in ihren Heimatländern fällt, macht sie nicht nass .75

Auf der anderen Seite sehen sich diejenigen Milieus, die durch die Lebensrealität und die Wertvorstellungen des Industriezeitalters geprägt wurden und aus verschiedenen Gründen ortsgebunden und sozial immobil sind, an den Rand gedrängt . In Worten von Gauland sind das der Mittelstand und die sogenannten einfachen Menschen, „für die Heimat noch immer ein Wert an sich ist und die als Erste ihre Heimat verlieren, weil es ihr Milieu ist, in das die Einwanderer strömen .“76 Die Sinus-Milieus der Mittelund Unterschichten, etwa die „Traditionellen“, „Prekären“ und Teile der bürgerlichen Mitte, wären dazu zu zählen .77 Die von ihnen noch erlernten Tugenden: Konstanz, Disziplin, Pflichtbewusstsein, Anpassungsfähigkeit, scheinen in der heutigen Zeit und vor allem in den innovativen Branchen nicht mehr gefragt zu sein . Ihr Lebensmodell befindet sich heute in einer Anerkennungskrise . In den Kunstwerken und Ausstellungen der Gegenwart finden sie sich nicht wieder, die auf einer documenta oder Biennale verhandelten Fragestellungen und Themen verstehen sie nicht oder interessieren sie nicht . „Es ist diese Kulturalisierung der Ungleichheit, die den Mitgliedern der neuen Unterklasse die Entwertungserfahrung von Biographie, Leistung und Lebensstil beschert, die sie für die rechtspopulistische Propaganda von sozialer und kultureller Homogenität empfänglich macht“, so der Politikwissenschaftler und Gewerkschafter Hans-Jürgen Urban .78 Es spricht also einiges dafür, die Gegenwartskunst als Signet und Projekt der neuen Creative Class zu interpretieren . Im Gegensatz zu den 1920er oder 1950er Jahren handelt es sich heute aber nicht um einen klar erkennbaren formalen Kunststil wie damals Dadaismus, Expressionismus oder Abstraktion, der gesellschaftlich polarisiert, sondern um einen generellen Kunstbegriff, der diskursiv-konzeptuell orientiert ist und mit dem klassischen Werkbegriff kaum noch etwas zu tun hat . Der Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin (Hg .), Alles nur Theater? Zum Umgang mi dem Kulturkampf von Rechts, Berlin 2019, S . 2 . 75 Gastbeitrag in der FAZ 6 .10 .2018 . 76 Ebenda . 77 https://www .sinus-institut .de/sinus-loesungen/sinus-milieus-deutschland/ (30 .8 .2018) . 78 Hans-Jürgen Urban, „Kampf um die Hegemonie: Gewerkschaften und die Neue Rechte“, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2018, S . 103–112, hier: S . 106 . 74

Manifestiert sich in Bejahung und Ablehnung der Gegenwartskunst eine gesellschaftliche Spaltung?

erweiterte, diskursiv-konzeptuelle Kunstbegriff dominiert Großausstellungen wie die Biennalen und die documenta und sorgt dort für eine ausgesprochen politische Agenda, während der traditionelle Werkbegriff noch in weiten Teilen des Kunstmarktes von Bedeutung ist (Malerei, Plastik, Klassische Moderne und Alte Meister) sowie im Bereich der Hobbykunst . Doch nicht nur eine politisierte „Biennalen-Kunst“ kann polarisieren, sondern auch eine hochpreisige „Kunstmarkt-Kunst“, wenn sie durch ihre Machart den klassischen Werkbegriff ad absurdum führt . Im wohlwollenden Interesse bzw . im ablehnenden Desinteresse an der Gegenwartskunst könnte sich also wie in den 1920er Jahren eine tiefgreifende gesellschaftlichen Spaltung manifestieren . Ist dies nicht ein vielversprechendes Setting für Extremisten und Populisten? Deren politisches Geschäftsmodell bestand und besteht ja gerade darin, Spaltungen zu vertiefen .79

79 Jan-Werner Müller, „Das wahre Volk gegen alle anderen . Rechtspopulismus als Identitätspolitik“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 25 .2 .2019, S . 18–24, hier: S . 19 .

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Kapitel VI Die Freiheit der Kunst und ihre Feinde Gegenwartskunst im Visier von Populisten und Extremisten

Viele Petitionen, Offene Briefe, Diskussionsveranstaltungen und Ausstellungen erweckten in den letzten Jahren den Eindruck, die Gegenwartskunst sei einem massiven Roll-Back rechtspopulistischer Politik ausgesetzt . In der im Sommer 2018 von den kulturpolitischen Sprechern der Grünen-Bundestagsfraktion Erhard Grundl und Claudia Roth lancierten „Brüsseler Erklärung für die Freiheit der Kunst“ heisst es: Die rechtsnationalen Regierungen in Österreich, Ungarn und Polen versuchen, mit einer Politik der nationalen Abschottung die Kreativszene für ihre Zwecke einzuspannen . Diese Länder werden so zu warnenden Beispielen für eine nationalistische Kulturpolitik, die auch in Deutschland für Restriktion und Rollback steht . Der ideologische Kampf gegen die Freiheit der Kunst bedroht unsere Kulturlandschaft – und damit eine Grundfeste unserer Gesellschaft .1

Am 31 . Oktober 2018 folgte die bundesweit lancierte „Erklärung der Vielen“: Kulturinstitutionen in Berlin, Hamburg und anderen Städten wollten damit ein Signal gegen rechtspopulistische und völkisch-nationale Strömungen setzen . „Wir  – die unterzeichnenden Institutionen und Verbände aus Kunst und Kultur – zeigen gemeinsam, berlin- und bundesweit, Haltung für Toleranz, Vielfalt und Respekt und verpflichten uns, aktiv und nachhaltig dafür zu arbeiten .“2 Ebenfalls 2018 gründete die Amadeu-Antonio-Stiftung das „Forum demokratische Kultur und zeitgenössische Kunst“, um das

https://www .change .org/p/brüsseler-erklärung-für-die-freiheit-der-kunst (Ende 2018 ca . 50 .000 Unterzeichner) . 2 https://www .tagesspiegel .de/kultur/erklaerung-der-vielen-berliner-kulturinstitutionen-setzen-sich-fuerzusammenhalt-ein/23251862 .html (31 .10 .2018) . 1

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Eindringen „neurechter Ideologien in die Kunstwelt“ zu dokumentieren und zu verhindern .3 Die Berliner „Mobile Beratungsstelle gegen Rechtsextremismus“4 warnte: Der Kulturkampf von rechts findet nicht erst irgendwann in ferner Zukunft statt, sondern jetzt, und das nicht nur in Deutschland . […] Die MBR beobachtet seit langem, dass Rechtsextreme und Rechtspopulist_innen auf verschiedenen Wegen versuchen, missliebiges Engagement zu diffamieren und zu verhindern . Diese Versuche sind Ausdruck einer politischen Strategie . Sie zielt darauf ab, Menschen, die sich für Demokratie engagieren, etwa im Kunst- und Kulturbetrieb, als politische Feinde zu markieren und zu bekämpfen . Teil dieser Strategie ist, eine Drohkulisse aufzubauen, um Projekte und Einrichtungen aus Kunst und Kultur ständig unter Druck zu setzen, und zwar online wie offline . Systematisch werden Informationen aus Quellen wie u . a . Vereins- und Handelsregistern und von privaten Seiten aus den sozialen Netzwerken gesammelt und in tendenziöser Weise in der Öffentlichkeit verwertet . Die ständigen diffamierenden Zuschreibungen bestätigen und bestärken bei einer rechtsoffenen Klientel bereits bestehende Feindbilder .5

Am 19 . Mai 2019 beteiligten sich „Die Vielen“ an Demonstrationen u . a . in Hamburg und Berlin, um die „Kunstfreiheit zu verteidigen .“6 All diese Petitionen, Aufrufe, Diskussionsveranstaltungen und Demonstrationen, die vor allem von deutschen Kunstinstitutionen und Kulturpolitikern in den letzten Jahren lanciert wurden, erweckten den Eindruck, die Gegenwartskunst leide unter einem massiven Angriff rechtsextremer Kräfte; die Freiheit der Kunst sei deshalb aufs höchste gefährdet . Handelte es sich hier um Polemik, um Politik in eigener Sache oder um einen berechtigten Warnruf? Ein Blick auf die Verhältnisse in den Nachbarländern Deutschlands könnte hilfreich sein, um diese Frage zu beantworten, bevor die Situation in Deutschland selbst im Fokus stehen soll . Bereits eine erste Sichtung der Agenden von rechtsorientierten Parteien wie Schweizerische Volkspartei (SVP), Rassemblement National (RN, früher: Front National, FN), Recht und Gerechtigkeit (PiS) oder Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) macht deutlich, dass das Thema Gegenwartskunst hier höchstens eine Nebenrolle spielt . Allenfalls werden gelegentlich unpopuläre Kunstwerke im öffentlichen Raum skandalisiert, oder es wird auf politischer Ebene gegen dezidiert linke Inhalte in Kunstausstellungen protestiert . Eine grundsätzliche Kunstfeindschaft lässt sich Rechtspopulisten aber kaum unterstellen – das zeigt sich beispielhaft in Frankreich .

https://www .forum-dcca .eu/category/ueber-uns/ (14 .11 .2018) . Gefördert im Rahmen des Landesprogramms „Demokratie . Vielfalt . Respekt . – Gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus“ der Senatsverwaltung für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung sowie dem Bundesprogramm „Demokratie leben!“ des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend . 5 Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin (Hg .), Alles nur Theater? Zum Umgang mi dem Kulturkampf von Rechts, Berlin 2019, S . 2 und S . 15 . 6 https://www .stadtkultur-hh .de/2019/04/glaenzende-demo-der-vielen-in-hamburg-am-19-mai-2019/ (30 .4 .2019) . 3 4

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Abb. 20 Am 19. Mai 2019 beteiligten sich „Die Vielen“ an Demonstrationen u. a. in Hamburg und Berlin, um die Freiheit der Kunst zu verteidigen.

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Auch in Frankreich offenbart sich immer wieder, wie unbeholfen rechte Politiker in Kunstfragen und in der Kulturpolitik sind . Über Gegenwartskunst sind nur selten Äußerungen zu hören . Die zeitweilige Front-National-Nachwuchspolitikerin Marion Maréchal-Le Pen rekurrierte auf die bekannte elitäre Abgehobenheit der Gegenwartskunstszene, die sie polemisch skizzierte als „eine Handvoll Bobos, die sich vor zwei roten Punkten auf der Leinwand ergötzen, weil der spekulative Kunstmarkt befunden hat, dass sie von Wert sind .“7 Darüberhinaus kam vom FN wenig Substanzielles zum Kunstgeschehen . Recht unüberlegt war 2014 die Entscheidung des damaligen FN-Bürgermeisters von Hayange (Lothringen), Fabien Engelmann, einen eiförmigen Granitstein, Teil einer Brunnenskulptur, blau anstreichen zu lassen – ohne Absprache mit dem Künstler Alain Mila . Offenbar wollte der Bürgermeister das Werk auf diese Weise verbessern . Diese Missachtung der künstlerischen Autonomie rief sogar die Kulturministerin Aurélie Filippetti in Paris auf den Plan und schlug landesweit Wel-

https://www .welt .de/kultur/article162461643/Die-Kulturpolitik-des-Front-National-Diskriminierend . html (28 .2 .2018) .

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len . Engelmann versprach, die Farbe wieder abzutragen, die Skulptur dafür aber an den Stadtrand zu versetzen .8 Ob die ganze Affäre dem FN genutzt hat, bleibt fraglich . Doch auch ohne Zutun des FN bzw . RN kommt es Frankreich von Zeit zu Zeit zu Attacken auf Gegenwartskunstwerke . 2011 sorgte die Ausstellung von Andres Serranos umstrittenen Werken Piss Christ9 und The Church – Soeur Jeanne Myriam in Avignon für Proteste . Nachdem zunächst hunderte von Konservativen und katholischen Integristen gegen die ihrer Ansicht nach blasphemischen Darstellungen demonstriert hatten, zerstörten zwei Täter die Fotografien und bedrohten das Aufsichtspersonal . Das Kunstzentrum Lambert musste zeitweilig geschlossen werden, der französische Kultusminister verurteilte die Tat .10 Im Oktober 2014 wurde der renommierte amerikanische Künstler-Provokateur Paul McCarthy während des Aufbaus seiner Plastik Tree auf der Pariser Place Vendome von einem unbekannten Täter attackiert . Dieser schrie, das Werk sei dem historischen Platz nicht angemessen und ohrfeigte McCarthy mehrmals . Zusätzlich empörte ihn offenbar die Tatsache, dass McCarthy ein ausländischer Künstler war .11 Die grüne, 24 Meter hohe luftgefüllte Skulptur hatte erst recht nach ihrer Aufrichtung Entsetzen und Proteste ausgelöst, denn ihre Form glich einem gigantischen Analplug . Kurz darauf zerstörten Unbekannte die Halteseile, so dass der Plastik die Luft ausging .12 Während die Turbulenzen um Tree nicht der Komik entbehrten (und sicher auch im Sinne des Künstlers waren), ereignete sich im September 2015 in Versailles ein Kunstskandal mit ernsterem Hintergrund . Gegenstand dessen war die Monumentalskulptur Dirty Corner des britischen Künstlers Anish Kapoor im Garten des Schlosses Versailles . Die Metallplastik konnte mit etwas gutem (oder bösem) Willen als eine gigantische stählerne Vagina interpretiert werden, Kapoor soll sie in einem Interview selbst als „le vagin de la reine“ bezeichnet haben . Insofern war es nicht abwegig, das Objekt als posthume Beleidigung französischer Königinnen zu sehen, wenn nicht gar als an sich frauenfeindliches Kunstwerk . Die Metallskulptur und die sie umgebenden Felsbrocken wurde innerhalb von drei Monaten dreimal bemalt, einmal mit gelber Farbe, dann mit der Aufschrift „Respect art as u trust god“, schließlich mit einer Vielzahl von Parolen wie „Die geopferte Königin, der zweifach Gewalt angetan wurde“, eine Anspielung an die hingerichtete Marie Antoinette, die durch die Skulptur ein zweites Mal verhöhnt würde . Zudem war zu lesen: „Sacrifice Santglant“ mit als „SS“ hervorgehobenen Anfangsbuchstaben . Ein weiteres Graffito beklagte „die

https://www .saarbruecker-zeitung .de/politik/themen/front-national-buergermeister-eckt-mit-politikin-frankreich-an_aid-1357901 (24 .10 .2014) . 9 Serrano füllte eigenen Urin in einem Glasbehälter und steckte ein Plastikkruzifix hinein . Das Foto des Objektes wurde ausgestellt und sorgte mehrfach für Proteste und Skandale, 1997 attackierten Jugendliche in Australien das Werk mit einem Hammer, 2007 wurde eine Kopie in Schweden zerstört . 10 Der Bund 19 .4 .2011 . 11 https://news .artnet .com/market/paul-mccarthy-beaten-up-over-butt-plug-sculpture-136129 (17 .10 .2014) . 12 https://www .sueddeutsche .de/panorama/sexspielzeug-kunstwerk-in-paris-der-tanne-geht-die-luftaus-1 .2180090 (18 .10 .2014) . 8

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zweite Vergewaltigung der Nation durch den abartigen jüdischen Aktivismus,“ eine Anspielung auf die jüdische Abstammung des Künstlers . Und an Juden allgemein richtete sich der Hinweis: „Dieser erblich Belastete [gemeint ist der Künstler, Anm . d . V .] bringt euch in Gefahr .“ Hier zeigte sich eine in heutigen Zeiten selten gewordene Kombination von Antisemitismus und antimodernem Kunstvandalismus  – welche, wie dargelegt, in den 1920er und 1930er Jahren überaus gängig war . Möglicherweise stammten die Täter aus dem Milieu katholisch-royalistischer Integristen, das in Versailles traditionell stark präsent ist .13 Auch die sich volksnah und antielitär gebende Graswurzelbewegung der Gelbwesten machte mit einem Bildersturm von sich reden . Ihre Aktivisten attackierten Anfang Dezember 2018 das nationale Kulturdenkmal des Arc de Triomphe und drangen in die Ausstellungsräume im Inneren vor . Dabei wurden historische Kunstwerke und Statuen der Marianne und Napoleons demoliert . Zugleich wurden Luxusgeschäfte geplündert .14 Vor weiteren Protesten wurden im gleichen Monat vorsorglich zahlreiche Pariser Museen, darunter der Louvre und das Musée d’Orsay, geschlossen . „Wir müssen unsere Kulturstätten in Paris und überall in Frankreich schützen“, erklärte Kulturminister Franck Riester dazu .15 Doch offenbar handelte es sich nicht um eine spezifische Kunstfeindschaft der Gilets Jaunes, eher subsummierten sie Kunst pauschal unter „Luxus“ und „Establishment“, vergleichbar mit einer Haltung, die im Kontext der sozialen und politischen Proteste im Oktober 2019 im Libanon zum Ausdruck kam . Dort tauchte an einer Mauer am Märtyrerplatz, dem zentralen Ort der Demonstranten in Beirut, der Schriftzug auf „Nieder mit der Kunst!“ Die Parole war offenbar auf die elitäre Position der Kunstszene und ihre Verflechtung mit der korrupten Oberschicht in arabischen Gesellschaften gemünzt .16 Zeitweilig bildeten die Gilets Jaunes ein Sammelbecken aller radikalen, unzufriedenen Kräfte in Frankreich . Von der Protestbewegung angezogene Linksradikale, Rechtsextremisten und Salafisten einte der Hass auf das „internationale Finanzkapital“, „die globalistische Elite“, und die USA mit ihrem „Kulturimperialismus“ . In Frankreich lassen sich, noch viel stärker und sichtbarer als in Deutschland, „Übereinstimmungen zwischen Rechtsextremen und einer populistischen Linken erkennen, […] u . a . in der Frontstellung gegenüber der Globalisierung und der polemischen Gegenüberstellung von Volk und Eliten . Ein nationalistisch gefärbter Antikapitalismus ist die gemeinsame Klammer .“17 Neuere Forschungen gehen davon aus, dass Menschen, die an eine bestimmte Verschwörungstheorie glauben, oftmals auch für weitere empfänglich sind . NZZ 19 .9 .2015 . https://www .deutschlandfunk .de/schauplatz-wichtiger-zeremonien-pariser-triumphbogen-von .691 . de .html?dram:article_id=434865 (5 .12 .2018) . 15 https://www .faz .net/aktuell/politik/ausland/eiffelturm-und-mehrere-museen-schliessen-vor-gelb westen-protest-15929131 .html (7 .12 .2018) . 16 FAZ 25 .10 .2019 . 17 Zentrum Liberale Moderne (Hg .), Das alte Denken der neuen Rechten . Die langen Linien der antiliberalen Revolte, Berlin 2019, S . 6 . 13 14

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Demnach handelt es sich um eine generelle Neigung zu konspirativen Weltbildern . Menschen mit einer derartig ausgeprägten „Verschwörungsmentalität“ kombinierten etwa Antiamerikanismus, Antikapitalismus und Antisemitismus . „Einige Befunde deuten darauf hin, dass ein stärkerer Glaube an Verschwörungstheorien mit mehr intuitivem Denken, weniger analytischem Denkvermögen, weniger Aufgeschlossenheit sowie geringerer allgemeiner Intelligenz verbunden ist .“18 Auf manche Anhänger der Gilets Jaunes mochte dies zutreffen . Die moderne Kunst stand aber nicht im Zentrum von linken oder rechten Weltverschwörungsszenarien . Weitere gezielte Attacken aus dieser Bewegung auf Kunst und Künstler haben jedenfalls nicht stattgefunden . Während sich in Frankreich die Extreme ideologisch annäherten, so dass es außenstehenden Beobachtern immer schwerer fiel zu erkennen, „wo eigentlich die substanziellen Unterschiede liegen zwischen der Sozialdemagogie des Front National (RN) und der sozialnationalistischen Bewegung von Jean-Luc Melenchon“19, kam es im Nachbarland Italien 2018/2019 zeitweilig zur Regierungsbildung rechter und linker Populisten . Im Koalitionsvertrag zwischen Cinque Stelle und Lega blieb der Passus zur Kulturpolitik vage . Kultur wurde als „Wachstumsmotor von unschätzbarem Wert“ betrachtet . Museen und archäologischen Einrichtungen müssten wieder attraktiver und Publikumsfreundlicher werden, das System der öffentlichen Subventionen für Oper, Theater oder Museen sei undurchsichtig und daher „reformbedürftig“ . Und es müsse sich in Zukunft vermehrt nach der „Qualität der künstlerischen Projekte“ ausrichten .20 In Italien wurde die Position einer lautstarken populistischen Kulturkritik, die sich vor allem gegen die zeitgenössische Kunst richtet, seit Jahren weniger von einer Partei oder Bewegung, sondern von einer agilen Einzelperson vertreten . Hierbei handelt es sich um den fernsehbekannten Politiker und Kunstexperten Vittorio Sgarbi, den deutsche Journalisten einmal als „Treibmine der italienischen Kultur“ bezeichneten .21 Dabei genoss er zeitweise die Unterstützung Berlusconis, unter dem er einige Zeit Kulturstaatssekretär war . Sgarbis Kampf gilt einem System, das er Kunstmafia nennt und in dem stets dieselben Kuratoren die immer gleichen Künstler auswählten . 2011 konnte er sein alternatives Kunstverständnis als Kurator des italienischen Pavillons auf der Biennale von Venedig demonstrieren . Dieser polarisierte das Publikum und Markus Appel und Sarah Mehretab, „Verschwörungstheorien“, in: Markus Appel (Hg .), Die Psychologie des Postfaktischen, Heidelberg 2019, S . 117–126, hier S . 123 . 19 Die Welt kompakt 21 .2 .2019 . 20 https://www .nzz .ch/feuilleton/der-neue-italienische-kulturminister-alberto-bonisoli-steht-demmanagement-naeher-als-der-kunst-ld .1392683 (13 .6 .2018) . 21 Neben seinen rasch wechselnden Engagements im Kulturbereich amtierte er als Bürgermeister der sizilianischen Kleinstadt Salemi, die sich mit einem Museo della Mafia schmückt . Dort ernannte er den ehemaligen Benetton-Fotografen Oliviero Toscani zum Kulturdezernenten, versprach, die Altstadt vor dem Verfall zu retten, indem finanzstarke Prominente für einen Euro Häuser in Salemi kaufen durften und renovieren sollten, und ließ die fünf Buchstaben MAFIA als Marke eintragen . Sgarbi musste zurücktreten, als sein Name im Zusammenhang mit Ermittlungen gegen die reale Mafia auftauchte . http://www .zeit . de/2011/22/Sizilien (28 .3 .2018) . 18

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fiel bei der Kunstkritik glatt durch, allerdings aus fragwürdigen Gründen: Das „wirre Arrangement“ aus Kunstwerken, „Postershop-Trash“ und Kitsch unterscheide sich nämlich nicht grundsätzlich von der Arbeitsweise anerkannter Biennale-Künstler und -kuratoren . Die Verrisse resultierten allein aus der Tatsache, dass hier kein linksliberaler Ausstellungsmacher den Pavillon kuratierte, sondern ein Talkshow-Polemiker mit Verbindungen zum rechten Lager . Daher sei der italienische Pavillon „eine geglückte Provokation, im Grunde die einzige dieser Biennale .“ Allerdings liessen „Sgarbis populistische Absichten mit völkischem Einschlag und sein offenkundiger Hass auf die Moderne alle Sympathien für den Pavillon rasch verblassen .“22 In den letzten Jahren ist es etwas ruhiger um Sgarbi geworden . In Polen sind Rechtspopulisten bereits seit einigen Jahren stabil an der Macht . Adam Mazur, Mitbegründer des Online-Magazins BLOK, resümierte im Frühjahr 2019 die Lage der polnischen Kunstszene seit der Machtübernahme der Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) im Herbst 2015 . Wider Erwarten habe diese nicht zu einem Kahlschlag in der Kulturlandschaft geführt . Weder wurden die Direktionen wichtiger Museen und Kunstakademien abgesetzt, noch kam die Kunstförderung unter direkte staatliche Kontrolle . Zudem hatte die PiS lediglich Zugriff auf nationale Kunstinstitutionen – auf lokaler und regionaler Ebene ist ihr Einfluss auf das Kunstgeschehen begrenzt .23 Der Fokus der Partei liegt offensichtlich mehr auf der nationalen Geschichtspolitik und Außendarstellung Polens .24 Nur zwei kleinere Skandale sorgten 2016 in der polnischen Kunstwelt für Aufregung . Einmal ging es darum, den musealen Ankaufsetat für zeitgenössische Kunst einzufrieren, zum anderen um die Aufnahme von Rechtsextremisten in staatliche Förderkommissionen . Beide Entscheidungen wurden rückgängig gemacht . Mazur fragte sich: „Warum haben die Rechtspopulisten nicht in die Hierarchie oder Normen der Kunstwelt eingegriffen? Die Antwort basiert auf der Annahme, dass zeitgenössische Kunst für die Politik keine Gefahr darstellt und auch gesellschaftlich keinerlei Bedeutsamkeit hat, da sie nur eine kleine Nische innerhalb des Kulturbetriebes darstellt . Laut Statistik interessieren sich ca . ein bis zwei Prozent der Bevölkerung für zeitgenössische Kunst .“25 Mazurs Einschätzung wird von der Tatsache gestützt, dass noch im Herbst 2019 im Zentrum für zeitgenössische Kunst im http://www .zeit .de/2011/24/Biennale-Venedig (9 .6 .2011) . http://www .erstestiftung .org/de/polnische-kunst-in-zeiten-des-populismus/ (10 .1 .2019) . Mit der Absetzung des Gründungsdirektors des Museums des Zweiten Weltkriegs in Danzig im Frühjahr 2018 verfolgte die Regierung das Ziel, ein heroischeres Bild Polens zu zeichnen als im bisherigen Konzept . Auch bei anderen Projekten scheint dies gewollt zu sein: Mit der Ausstellung „Der Freiwillige . Witold Pilecki und die Unterwanderung von Auschwitz“ eröffnete das in Warschau ansässige Pilecki-Institut im Sommer eine Dependance in Berlin am Pariser Platz . 25 „Die wichtigsten nationalen Institutionen hatten schon vor den Wahlen die Vision von zeitgenössischer Kunst als einer der Demokratie verschriebenen Kunst aufgegeben . (…) Der Niedergang der zentralen, von der Regierung kontrollierten Institutionen gibt daher den kleineren Galerien Auftrieb, die von kommunalen Budgets und lokalen Regierungen finanziert werden, wodurch sie nicht vom Ministerium abhängig sind .“ http://www .erstestiftung .org/de/polnische-kunst-in-zeiten-des-populismus/ (10 .1 .2019) . 22 23 24

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Warschauer Ujazdowski-Schloss unbehelligt eine Ausstellung über queere Identitäten in Ostmitteleuropa eröffnet werden konnte . Erst danach reagierte das Kulturministerium (dem das Kunstzentrum untersteht) und kündigte an, die Stelle der Direktorin werde nach Ende ihrer Amtszeit mit dem Kurator Piotr Bernatowicz neu besetzt . Der stellvertretende Kultusminister erklärte dazu, man solle nicht glauben, dass in Polen „linke Milieus oder Medien das Monopol haben, zu empfehlen, wer Leiter einer bestimmten Kultureinrichtung wird .“26 Die Schweizerische Volkspartei ist die größte, älteste und erfolgreichste rechtspopulistische Partei im deutschsprachigen Raum, Nachahmer und Bewunderer findet sie auch zahlreich in Österreich und Deutschland . Das Thema Gegenwartskunst ist für die SVP nicht von vordringlicher Bedeutung, wenngleich ihr Verhältnis zur Schweizer Kunstszene angespannt war und bleibt . Immer wieder kommt es zu wechselseitigen Provokationen . Bis heute legendär ist die künstlerische Attacke Thomas Hirschhorns auf den langjährigen Parteiführer Christoph Blocher . 2004 sorgte Hirschhorns Installation Swiss-Swiss Democracy in Paris für einen Skandal . Während einer Performance wurde andeutungsweise auf ein Foto von Blocher uriniert . Auf Druck von verschiedenen Politikern wurde anschließend das Budget der Stiftung Pro Helvetia, die Hirschhorn unterstützt hatte, um eine Million Franken gekürzt . 2008 provozierten Kuratorin Fanni Fetzer und Künstler Gianni Motti in Langenthal mit einem Kunstminarett auf dem Dach des örtlichen Kunsthauses die SVP, die just zu jener Zeit eine landesweite Kampagne gegen Minarette lanciert hatte . 2014 polarisierte der Aufbau eines ausrangierten Rostocker Hafenkrans in Zürich die Öffentlichkeit . Die Gegner, zu denen neben dem SVP-Gemeinde- und Kantonsrat Roland Scheck auch Mitglieder der Jungen SVP, der FDP und des Jungfreisinns gehörten, hatten bereits im Dezember 2012 Unterschriften gegen das Projekt zürich transit maritim eingereicht, das von den Künstlern Jan Morgenthaler und Martin Senn, der Bildhauerin Barbara Roth und der Designerin und Architektin Fariba Sepehrnia ins Leben gerufen worden war . Im Fokus der Beschwerdeführer stand das Herzstück der Kunstinstallation: ein riesiger Hafenkran, der am Ufer der Limmat aufgestellt werden sollte . Kritisiert wurde vor allem die Beeinträchtigung des Zürcher Stadtbildes durch das rostige Objekt und die hohen Kosten: „Das Stimmvolk, das die Kosten übernehmen muss, wurde nicht befragt“, klagte der SVP-Politiker Mauro Tuena .27 Die 2016 folgende Großausstellung Manifesta, eine Art Wander-documenta, die alle zwei Jahre an einem anderen Ort in Europa stattfindet, brachte die Zürcher SVP erneut in Rage . Im Fokus stand die abstrakte Großplastik The Zurich Load von Mike Bouchet . Aus 80 Tonnen Klärschlamm hatte Bouchet in Kooperation mit dem Klärwerk Werdhölzli „das spektakulärste Werk der 11 . Manifesta

Jaroslaw Sellin zitiert in: FAZ 17 .2 .2020 . https://www .limmattalerzeitung .ch/limmattal/zuerich/zuercher-svp-politiker-wird-zum-kunstwerkwider-willen-128735673 (14 .1 .2015) . 26 27

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geschaffen – und das technisch aufwendigste“, lobte eine deutsche Kunstzeitschrift .28 Die SVP-Fraktion reichte ein Postulat ein, das vom Stadtrat die Entfernung des Werks aus dem Museum Löwenbräu verlangte . Der damalige Gemeinderat Daniel Regli klagte bei dieser Gelegenheit über „subventionierte Pseudokünstler“ und „fäkalisierende 68er an den Schlüsselstellen der Zürcher und der Schweizer Kultur .“29 Im Parteiprogramm der SVP wird behauptet: das unaufhörliche Wachstum der „Staatskultur“ zerstöre die „gelebte Volkskultur“ . Die Volkskultur sei der unterstützenswerte Gegenentwurf zu internationalen und bürgerfernen Prestigekulturprojekten, „zum Zeitgeist und den persönlichen Präferenzen der Kulturbürokraten .“ In ihrem Weltbild stellen die SVP-Strategen der kalten Bürokratenkunst die Herzenswärme der heimischen Folklore entgegen: Laientheater, Laienorchester, Gesangsvereine, Musikverbände, Jodelclubs, Trachtengruppen bis hin zu Guggenmusiken und Rockbands: Sie alle streben weniger nach dem Lob der Kunstkritiker als vielmehr nach dem, was Kultur im Wesen ausmacht, nämlich dem Bedürfnis, etwas gemeinsam mit Herzblut zu schaffen, das einem selber und dem Publikum Freude macht . Diese Form der Kultur braucht auch keine Subventionen, dafür umso mehr Anerkennung und eine faire Ausgangslage .30

Guggenmusik und Manifesta, Trachtengruppentanz und Diskurs-Kunst: Die SVP und die zeitgenössische Kunst befinden sich offensichtlich auf verschiedenen Planeten, reden aneinander vorbei . Der Kunstbetrieb der Gegenwart, ob Kunstmarktorientiert oder politisch-diskursiv, ist den Zielgruppen und Anhängern populistischer Bewegungen vollkommen fremd . Im Parteiprogramm der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) heißt es: „Kunst und Kultur in allen ihren Ausprägungsformen sind wesentliche Identitätsstifter unserer Gesellschaft .“ Es folgt ein klares Bekenntnis zur künstlerischen Freiheit: „Kunst kennt in unserer Gesellschaft ihre Beschränkung nur durch die Rechtsordnung und durch das unserer Verfassung zugrunde liegende humanistische Menschen- und Gesellschaftsbild .“ Ähnlich wie die SVP fordert auch die FPÖ, dass sich der Staat aus der Kunst heraushalte, er solle nur die Rahmenbedingungen für deren „Freiheit und Vielfalt“ sichern: „Kunst darf nicht staatlich instrumentalisiert werden, sie ist Selbstzweck .“ Interessant ist, dass die FPÖ ausdrücklich darauf Wert legt, dass neben der Kunstfreiheit auch „die Freiheit des Bürgers zur Kritik an und zur kritischen Auseinandersetzung mit der Kunst“ gewährleistet sein müsse .31 Proteste gegen moderne Kunst werden somit a priori legitimiert . 2018 gab Nicolaus Schafhausen, der deutsche Kurator der Kunsthalle Wien, seinen Posten überraschend auf, frustriert von der „nationa28 https://www .monopol-magazin .de/mike-bouchet-interview-the-zurich-load (6 .7 .2016) . 29 Daniel Regli, Gemeinderat SVP Zürich 11 . https://www .svp-stadt-zuerich .ch/aktuell/918 .html (28 .3 .2018) . 30 https://www .svp .ch/wp-content/uploads/Kulturpolitik-d .pdf (28 .3 .2018) . 31 https://www .fpoe .at/themen/parteiprogramm/bildung-wissenschaft-kunst-und-kultur/ (2 .12 .2019) .

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listischen Politik in Österreich“ . Schafhausen, der noch 2015 eine Ausstellung mit dem Titel „Politischer Populismus“ gemacht hatte, begründete seine Entscheidung vage mit der allgemeinen gesellschaftlichen Atmosphäre in Österreich . Zwar habe er „keine inhaltlichen Einschränkungen erfahren, was das Ausstellungsprogramm angeht . Doch wir leben mit einer besonderen Stimmung in der Stadt, im Land .“32 Regelmäßig unterstützt oder initiiert die FPÖ Bürgerproteste gegen Kunstwerke im öffentlichen Raum oder umstrittene Ausstellungen, z . B . 2010 gegen Christoph Büchels pornografisch empfundene Installation Element 6 in der Wiener Secession .33 „Weg mit dem Krempel“, lautete der Titel einer Unterschriftenliste der Salzburger Freiheitlichen, die 2011 gegen Skulpturen der Salzburg-Foundation lanciert wurde .34 Im Folgejahr sorgte in der Salzburger Altstadt Jörg Immendorffs Skulptur Affentor 1 für Aufregung . Eine „Verschandelung“ sei „dieses Monster“, klagte FPÖ-Mann Andreas Schöppl, während FPÖ-Gemeinderätin Gertraud Schimak mit Schokobananen auf der Straße protestierte . Schon seit Juli 2018 agitierten die FPÖ35 und das Bündnis Zukunft Österreich (BZÖ) gegen die temporäre Installation For Forest in Klagenfurt . Der Hain aus 300 lebenden Bäumen im Wörtherseestadion wurde im September 2019 fertiggestellt . BZÖ-Aktivisten führten dazu satirische Performances im Holzfälleroutfit und mit kreischenden Motorsägen auf .36 Der Schweizer Kurator Klaus Littmann hatte auf der Basis der Zeichnung Die ungebrochene Anziehungskraft der Natur von Max Peintner diesen Wald im Fussballstadion pflanzen lassen – bis dato Österreichs größtes Kunstprojekt im öffentlichen Raum . Finanziert wurde die aufwendige und ökologisch fragwürdige Aktion von anonymen privaten Mäzenen aus der Schweiz, Sponsoren und über ein Crowdfunding . Kein Steuergeld fließe in sein Projekt, betonte Littmann . Dennoch zogen wochenlang Demonstranten mit Traktoren vor der Villa auf, in der Littmann untergebracht war . Während die Großinstallation von offizieller Seite stets unterstützt wurde, wurde der Künstler im Netz bedroht, im Juli 2019 sogar auf der Straße körperlich angegriffen, ein Mann beschimpfte ihn und stieß ihn zu Boden .37 Die älteste und erfolgreichste rechtspopulistische Partei Europas, die SVP, war lange Vorbild für zahlreiche Bewunderer und Nachahmer gewesen . Mittlerweile scheint sie ihren Zenit überschritten zu haben, wie die Schweizer Nationalratswahlen im Ok-

Der Spiegel Nr . 22/26 .5 .2018 . Büchel hatte in den Ausstellungsräumen einen Swingerclub nachbauen lassen . Die FPÖ prangerte den Missbrauch von Steuergeldern an mit Reizworten wie „Gruppensex“ an . Kulturplattform Österreich https://kupf .at/blog/das-kann-ich-auch-kunst-verstaendnis/ (2 .3 .2010) . 34 Der Standard 27 .1 .2011 . 35 https://www .kleinezeitung .at/kaernten/klagenfurt/5457147/Umstrittenes-Kunstprojekt_FPOe-star tet-Petition-gegen-Wald-im-Stadion (2 .7 .2018) . 36 https://www .bzoe-kaernten .at/motorsaegen-versus-stadionwald-eine-kunstaktion-mit-hirn-gegeneine-kunstprojekt-ohne/ (17 .7 .2019) . 37 https://www .zeit .de/2019/36/klagenfurt-woerthersee-stadion-kunstprojekt-klaus-littmann-reaktionen (2 .9 .2019) . 32 33

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tober 2019 zeigten . Über eine Schwelle von 30 % ist sie niemals gekommen, eine absolute Mehrheit war nie in Reichweite . „Ein rundum erneuerter Liberalismus kann den Populismus besiegen“, glaubt Andreas Reckwitz und verweist auf das Dilemma, dass das populistische Lager in Migrationsgesellschaften grundsätzlich nicht mehrheitsfähig ist, denn es pflege „eine reaktionäre Nostalgie, die mit den Fakten der Globalisierung, der Postindustrialisierung und der kulturellen Diversität auf dem Kriegsfuß steht .“38 Die SVP diente der Alternative für Deutschland als Vorbild . Das Af D-Programm kann sogar weitgehend als Kopie des SVP-Programms bezeichnet werden, wie Alice Weidel bestätigte .39 Die Af D ist auf dem Feld der Kulturpolitik, speziell im Bereich der Gegenwartskunst, bislang farblos geblieben .40 Im Grundsatzprogramm der Partei steht nichts über bildende Kunst, nur allgemein etwas zu „Leitkultur“ und parteipolitischer Einflussnahme auf die Kultur und Kunst, die es zu beseitigen gelte .41 Von der langjährigen Af D-Führungsfigur Alexander Gauland ist ein positiver Bezug auf den in der Nachkriegszeit sehr populären Kunsthistoriker Hans Sedlmayr überliefert . Dieses Statement stammte allerdings aus dem Jahr 2008, als Gauland hauptberuflicher Publizist und noch kein Parteipolitiker war . Gauland verteidigte Sedlmayr gegen Vorwürfe, ein reaktionärer und faschistischer Denker zu sein: „Sedlmayr kritisiert das gestörte Verhältnis der Menschen zu Gott wie zu sich selbst, er beklagt Materialismus, Mechanisierung, Maschinisierung, Totalitarismus, Bürokratismus und Rationalismus, also gerade jene Phänomene, die Teil des Nationalsozialismus waren und aller rechten wie linken Diktaturen bis heute sind .“42 Die Af D befasste sich bislang selten mit bildender Kunst . Süffisant fragte Alice Weidel „Kunst oder Schrott?“ bezogen auf das Mahnmal des deutsch-syrischen Bildhauers Manaf Halbouni, eines Absolventen der HfbK Dresden, welches er 2017 mit drei ausrangierten Bussen vor der Dresdner Frauenkirche und anschließend vor dem Brandenburger Tor errichtet hatte .43 Ausgewiesene Kunstexperten hat die Af D bislang noch nicht hervorgebracht – bis auf Marc Jongen, der in diesem Gebiet einsam seine Kreise zieht . Er gilt als kulturpolitische Größe der Af D, wenn nicht als „Parteiphilosoph“ . Von 2003 bis 2017 war Jongen wissenschaftlicher Mitarbeiter für Philosophie und Ästhetik an der HfG Karlsruhe und Interview im Freitag 19 .12 .2019 . „Ich war ja eine zeitlang Programmchefin . Vor dem Verfassen unseres neuen Parteiprogramms habe ich allen unseren Mitgliedern das SVP-Programm geschickt und gesagt: So muss unser Programm auch aussehen: Kurz, prägnant, verständlich . Auch inhaltlich war ich überzeugt, dass wir wie die SVP eine wirtschaftsfreundliche, liberale Partei sein müssen .“ Weltwoche Nr . 37/2019, S . 20 . 40 „Die Forderungen und Vorstellungen der Af D im Bereich der kulturpolitischen Praxis sind ungeordnete und widersprüchliche Ansätze, die in der parlamentarischen Arbeit nur wenig bis gar keinen Niederschlag finden .“ Manuela Luck, Die Kulturpolitik der Af D, Heinrich Böll Stiftung Sachsen (Hg .) ePaper 2017, S . 20 . 41 S . Punkte zu „Leitkultur“ (7 .1 .) und zur parteipolitischen Einflussnahme auf die Kultur und Kunst (7 .4 .) . https://www .afd .de/grundsatzprogramm/ (11 .12 .2018) . 42 https://www .welt .de/welt_print/article1820147/Als-die-Moderne-Gott-vertrieb .html (20 . März 2008) . 43 https://www .youtube .com/watch?v=bpIqi29j5Zo (Alice Weidel 25 .11 .2017) . 38 39

Kulturkampf von Rechts

konnte auf diese Weise den akademischen Kunstbetrieb gut kennenlernen . Bis 2015, dem Ende der Amtszeit Peter Sloterdijks als Rektor, war Jongen dessen Assistent gewesen . Sloterdijk hat sich mittlerweile von ihm öffentlich distanziert und nannte ihn einen „kompletten Hochstapler“ . Jongen sei nichts weiter als ein gescheiterter Akademiker, der sich in die Politik gerettet habe .44 Trotzdem halten ihn manche Linke intellektuell für so gefährlich, dass sie ihm jede Auftrittsmöglichkeit verweigern wollen . So musste eine im März 2017 am Theater Gessnerallee in Zürich geplante Diskussion des Kunstwissenschaftlers Jörg Scheller mit Jongen abgesagt werden – radikale Linke hatten Teilnehmer und Veranstalter bedroht .45 Regelrechte Kampagnen gegen bestimmte Kunstwerke und Ausstellungen, wie sie die FPÖ gelegentlich initiiert, sind seitens der Af D bislang nicht gestartet worden . Unabhängig davon kommt es immer wieder zu Bedrohungen von Künstlern und Zerstörungen von Kunstwerken im öffentlichen Raum durch mutmaßlich rechtsextreme Täter . Im Fokus stehen dabei Kunstwerke und Künstler, die die Geschichte des Nationalsozialismus, rechtsextremistische Gewalt und andere politische Inhalte thematisieren . So hat es in Dresden einige Angriffe auf Kunstwerke im öffentlichen Raum gegeben, die z . T . explizit als Provokation der politischen Rechten konzipiert waren, polarisieren sollten und ihren Zweck in diesem Sinne auch erfüllten: Etwa, wie bereits erwähnt, das Monument auf dem Neumarkt, bei dessen Einweihung der Dresdner Oberbürgermeister von ca . 100 PEGIDA-Anhängern massiv gestört wurde . In den folgenden Wochen wurde das Werk von rechten Aktivisten mit einem Protest-Transparent behängt . Es war zudem umstritten gewesen, weil eine Straßensperre der terroristischen Ahrar-ash-Sham in Aleppo als Vorlage gedient hatte . Das anschließend bis zum Frühjahr 2019 auf dem gleichen Platz installierte Denkmal für den permanenten Neuanfang des Hamburger Künstlerduos Ulrich Genth und Heike Mutter wurde ebenfalls von Protesten begleitet . In den Jahren zuvor waren Kunstwerke demoliert worden, die an den Mord an der Ägypterin Marwa El-Sherbini erinnerten, so 2010 die Skulpturengruppe 18 Stiche und 2015 die Teppich-Installation Post It von Nezaket Ekici vor dem Landgericht . Im Sommer 2019 sorgte ein Fall in Ostfriesland für Aufsehen . Der aus Duisburg stammende Künstler Cyrus Overbeck war jahrelang kunstpädagogisch in der Kleinstadt Esens tätig gewesen . Mit verschiedenen, z . T . provokanten Interventionen thematisierte er immer wieder die lokale Bewältigung (oder Nicht-Bewältigung) der NS-Vergangenheit . Immer wieder kam es zu Sachbeschädigungen an seinem Atelier und Auto, schließlich wurde er in einer Kneipe auch körperlich als „Jude“ attackiert . Daraufhin beschloss er, die Stadt zu verlassen .46 Auch hier handelt es sich um eine Dynamik von Provokation und Gegenprovokation, die für den beteiligten Künstler ambivalente Folgen hat: Einerseits sieht er sich bedroht 44 https://www .newyorker .com/magazine/2018/02/26/a-celebrity-philosopher-explains-the-populistinsurgency (26 .2 .2018) . 45 https://www .gessnerallee .ch/mehr-lesen/2017/absage_neueavantgarde/ (18 .9 .2018) . 46 Der Spiegel 34/17 .8 .2019, S . 30 ff .

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Abb. 21 Demonstranten vor Manaf Halbounis Monument auf dem Dresdner Neumarkt.

und gekränkt, andererseits steigt sein Bekanntheitsgrad . Mit dem Angriff von Rechts wächst die Glaubwürdigkeit, Dringlichkeit und Relevanz seines Werks und ihm fallen Sympathie und Solidarität aus dem gesamten nicht-rechten politischen Spektrum zu . Davon abgesehen gibt es auch Kunstwerke und Künstler, die zufällig rechter Gewalt zum Opfer fallen – wie etwa der Überfall von betrunkenen Rechtsextremisten auf eine Vernissagengesellschaft des Kunsthauses Erfurt, bei dem der Kurator, die Galeristin und Besucher verletzt wurden . „Der brutale Überfall vom 13 . Juli 2012 auf die Besucher der Ausstellung ‚Miss Painting‘“, schrieb die Leiterin die Kunsthauses, „war kein geplanter Angriff auf die ausgestellten Werke der Künstlerinnen oder die Gäste der Galerie . Die tätlichen Übergriffe der zum Teil bekannten und mehrfach vorbestraften rechten Gewalttäter haben sich eher zufällig am Kunsthaus ereignet .“47 Rechte Kunst = schlechte Kunst?

Wenig innovativ zeigen sich Rechtspopulisten und -extremisten, wenn es darum geht, einen eigenen, positiven Kunstbegriff zu formulieren und vorbildhafte Beispiele für Gegenwartskunst zu benennen oder zu erschaffen . Symptomatisch dafür ist der Ansatz des betagten Kunstsammlers und langjährigen SVP-Doyens Christoph Blocher, politische Kundgebungen und Vorträge mit der Präsentation von Kunstwerken aus seinem Besitz zu flankieren, vor allem mit Bildern seiner Lieblingsmaler Albert Anker (gest . 1910) und Ferdinand Hodler (gest . 1918) .48 Offenbar soll den Parteianhängern und der ÖfMonique Förster per Email an den Autor 27 .8 .2014 . 2015 gab das Museum Oskar Reinhart in Winterthur Blocher die Gelegenheit, seine Kunstsammlung zu präsentieren . Dies sorgte für Besucherrekorde im Museum und rief ein starkes Medienecho hervor .

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Rechte Kunst = schlechte Kunst?

fentlichkeit damit eine vorbildhafte Kunst präsentiert werden . Dies wäre augenscheinlich ein im 19 .  Jahrhundert verorteter naturalistischer Gegenentwurf zur zeitgenössischen Kunst .49 Die von Blocher geliebte Kombination von politischer Kundgebung und Kunstpräsentation, dieser Mix von verbalen und visuellen Signalen, erinnert fast an die Agitprop-Konzepte kommunistischer Parteien in den 1920er Jahren . Der Sammler bekannte: „Lange Zeit konnte ich mir die faszinierende Wirkung von Ankers Bildern auf mich nicht recht erklären . Ich bin in der Bauchgegend getroffen, gerührt, dankbar .“ Er fand den Grund 1985, als er mit Leihgaben eine Anker-Ausstellung unterstützte: Ich habe mir während eines ganzes Tages die Mühe gemacht, die Besucher beim Betrachten der Bilder zu beobachten . Wie bei einer Prozession zogen sie pausenlos an den ausgestellten Werken vorbei und waren von Ankers Darstellungen völlig ergriffen . Ihm gelang es, die Gnade Gottes bildlich darzustellen .50

Obwohl Blocher evangelisch-reformiert ist, zeigt sich in seinem Kunstbegriff eine Synthese von Religiosität und Ästhetik: ein wahrhaftiges, tiefes Kunsterleben und Kunstschaffen wäre demnach nur gläubigen Menschen vergönnt . In FPÖ-Kreisen ist der naturalistisch arbeitende Maler und Grafiker Manfred „Odin“ Wiesinger populär . Er ist u . a . mit dem Parteichef Norbert Hofer befreundet . Wiesinger widmet sich in seinen Werken u . a . dem Zweiten Weltkrieg und dem Studentenleben traditioneller Burschenschaften .51 Bekannte Künstler mit Af D-Parteibuch oder -sympathien sucht man bislang vergebens . Die inhaltliche Vagheit der Af D-Kulturpolitik ist offensichtlich, der Mangel an ästhetischen Visionen, das Fehlen eines bevorzugten oder aktiv propagierten künstlerischen Gegenwartsstils fallen auf . Dies spiegelt die Leere und den Eklektizismus der Af D-Ideologie, die die taz treffend charakterisierte als „Mixtur aus Kulturpessimismus und Nationalismus, Globalisierungsskepsis, konservativen Werten, völkischen Reinheitsideen und viel Nostalgie .“52 In der mit der Af D vernetzten sogenannten identitären Bewegung53 ist bislang auch kein positives Konzept von Gegenwartskunst formuliert worden, vielmehr war dort

Blocher signierte zahlreiche Ausstellungskataloge vor Ort . Kritiker sahen das Museum zur Bühne für den SVP-Wahlkampf missbraucht . https://www .woz .ch/-6778 (28 .1 .2016) . Die ehemals renommierte Schweizer Kulturzeitschrift Du widmete der Blocher-Sammlung eine komplette Ausgabe (Nr . 860 Oktober 2015: Meisterwerke der Sammlung Christoph Blocher) . 49 So z . B . bei den jährlichen Kundgebungen Blochers am Bertholdstag (2 . Januar) oder im Februar 2018 in der Kirche Herrliberg . Zürichsee-Zeitung Meilen 5 .2 .2018 . 50 Matthias Ackeret, Das Blocherprinzip . Ein Führungsbuch, Schaffhausen 2007, S . 187 f . 51 https://www .kleinezeitung .at/service/newsticker/5628129/Wiesinger-antwortet-auf-rotgruene-Men schenjagd-auf-mich (14 .5 .2019) . 52 taz 24 ./25 .8 .2019 . 53 Es handelt sich um ein Netzwerk rechter Gruppierungen, das u . a . mit klassischen linken Agitationsmethoden Aufmerksamkeit zu erringen sucht . Die Identitäre Bewegung entstand zunächst in Frankreich und fand in Italien (Casa-Pound-Bewegung), in Österreich und Deutschland Nachahmer . Vermutlich hatte sie zeitweilig mehrere Hundert Mitglieder, ist aber in den letzten Jahren nur sporadisch in Aktion getreten .

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die Praxis zu beobachten, „Versatzstücke von Musik und Styles anderer Kulturen in den Dienst der eigenen Profilierung zu stellen“ .54 Dabei standen Hiphop, Mode, Graffiti und Videoclips im Vordergrund, nicht aber die bildende Kunst . Möglicherweise ist die Bewegung auch zu klein gewesen, um eigene Kunstexperten oder Künstlergruppen hervorzubringen . Das Vorhaben einer Gruppe namens „Die Kunst ist Frei“, im April 2018 einige Tage lang die Plastik eines Trojanischen Pferdes vor dem Dresdner Kulturpalast aufzustellen, war ästhetisch wenig überzeugend . Die schwarze Styroporskulptur wirkte künstlerisch uninspiriert und ästhetisch allzu schlicht . Mit der Aktion, an der auch der einstige PEGIDA-Mitbegründer René Jahn beteiligt war und die von der Dresdner Af D begrüßt wurde, sollte auf die Gefahren der unkontrollierten Einwanderung hingewiesen werden .55 Ein anderes Beispiel für eine politische Intervention ins Kunstgeschehen sorgte kurz darauf in Leipzig für Aufsehen . Nachdem sich die Galerie Kleindienst 2018 von dem Maler Axel Krause, der öffentlich Sympathien für die Af D geäußert hatte, trennte, wurde er im Juni 2019 auch von der Jahresausstellung auf dem Areal der Baumwollspinnerei ausgeschlossen .56 Viel Solidarität wurde Krause, der kein Parteiaktivist, sondern allenfalls Sympathisant ist, danach von Seiten der Af D zuteil, und in gewisser Weise wurde seine Kunst nun als repräsentativ für den in der Af D herrschenden Geschmack rezipiert . Journalisten wie Kolja Reichert (FAZ) attackierten Krause daraufhin wegen der mangelnden künstlerischen Qualität, monierten „die teils ungeschickt proportionierten Gliedmaßen der Figuren, gerade ob der illustrativen Pedanterie .“57 Die Kunsthistorikerin Julia Voss (ehemals FAZ) verkündete gar apodiktisch: „Ein guter rechter Künstler ist ein Widerspruch in sich .“58 So bleibt die Diskursposition dezidiert rechtsorientierter Künstler weiterhin schwach besetzt . Umso stärker bemühen sich Journalisten und linke Aktivisten, „rechtes Denken“ und „rechte“ Bildmotive bei unpolitischen Künstlern aufzuspüren und anzuprangern . Zu diesem Zweck gründete die Amadeu-Antonio-Stiftung 2018 das „Forum demokratische Kultur und zeitgenössische Kunst“, das von den Künstlern Fabian Bechtle und Leon Kahane initiiert wurde: Wir beobachten einen zunehmenden Kulturpessimismus innerhalb unserer Disziplinen . Es gilt, keine Lücken entstehen zu lassen, die durch neurechte Ideologien gefüllt werden . Eine ablehnende Haltung gegenüber der Moderne hat in weiten Teilen der Kunstwelt dem Kulturpessimismus den Weg bereitet . Beispielsweise wird die eigene kosmopolitische Le-

54 „Die Kultur der IB ist, bei aller Propaganda ihrer Aktivisten, die Zukunft zu sein, der Vergangenheit zugewandt .“ David Begrich u . a ., „Tanz die Reconquista . Kultur und Musik in der IB“, in: Andreas Speit (Hg .), Das Netzwerk der Identitären, Berlin 2018, S . hier: S . 187 . 55 https://afd-dd .de/afd-stadtraete-begruessen-kunstobjekt-trojanisches-pferd/ (April 2018) . 56 FAZ 5 .6 .2019 . 57 https://www .faz .net/aktuell/feuilleton/was-malt-der-afd-nahe-kuenstler-axel-krause-eigentlich16227968 .html (9 .6 .2019) . 58 FAS 26 .5 .2019 .

Religiös motivierte Attacken auf Kunst und Künstler

bensrealität als Privileg gelebt und gleichzeitig verachtet . Regressiver Antikapitalismus wird über die Kritik am Kunstmarkt formuliert, antimoderne Tendenzen äußern sich u . a . in der Identifikation mit Traditionalismen .59

Bechtle und Kahane sind offensichtlich von Fritz Sterns Klassiker Kulturpessimismus als politische Gefahr aus dem Jahr 1961 inspiriert worden – ein Buch, das sich jedoch auf das Wirken Intellektueller in der mittlerweile mehr als 100 Jahre zurückliegenden Kaiserzeit bezog . Auch der bekannte Kunsthistoriker Wolfgang Ulrich beteiligte sich an der Fahndung und fand heraus: „Motive rechten Denkens finden sich selbst bei berühmteren Künstlern, allen voran bei Neo Rauch .“ Zwar liege Rauch Antisemitismus fern, „doch trägt er aufgrund seiner Prominenz mehr als andere zur Verschiebung des politischen Klimas bei .“60 Rauch fühlte sich denunziert und antwortete mit einem eigens dafür gemalten Bild Der Anbräuner, welches die Wochenzeitung Die Zeit anstelle eines Leserbriefs bzw . Gegenartikels publizierte .61 Später erwarb der umstrittene Leipziger Immobilienunternehmer Christoph Gröner das Bild bei einer Benefizauktion für 750 .000 Euro, um es im Domizil eines noch zu gründenden „Vereins für gesunden Menschenverstand“ zu präsentieren .62 Religiös motivierte Attacken auf Kunst und Künstler

Bislang wurden die meisten religiös motivierten Attacken auf Kunst von als beleidigend empfundenen Darstellungen Gläubiger, Heiliger, Propheten, heiliger Schriften oder Symbolen ausgelöst . Die Verwendung entsprechender Bildmotive in einem befremdlichen oder sexualisierten Kontext, aber auch die Darstellung religiöser Inhalte mit „unwürdigen“, oder „schmutzigen“ Materialien kann die Gemüter erhitzen . In den meisten Fällen handelt es sich nicht um eine grundsätzliche Kunstfeindschaft, sondern um eine spezifische Reaktion auf bestimmte, als blasphemisch empfundene Werke . Andererseits gibt es auch religiöse Überzeugungen und Glaubensrichtungen, die figürlich-naturalistische Darstellungen von Menschen prinzipiell ablehnen und figürliche Kunstwerke als „Götzenbilder“ verdammen . Im Koran gibt es Formulierungen, die sich als kunstfeindlich interpretieren lassen . So werden „der Wein, das Spiel, Bilder und Loswerfen“ in einem Atemzug als „verabscheuungswürdig und als Werk des Satans“ gebrandmarkt und es wird den Gläubigen dringend davon abgeraten .63 Zudem 59 „Unser Netzwerk beobachtet und dokumentiert die politischen Diskurse der neuen Rechten im Internet und öffentlichen Räumen wie Bildungseinrichtungen .“ https://www .forum-dcca .eu/category/ueberuns/ (14 .11 .2018) . 60 Die Zeit 16 .5 .2019 . 61 Die Zeit 27 .6 .2019 . 62 Zitiert in FAZ 5 .8 .2019 . 63 Fünfte Sure Vers 91 . Der Koran (Übersetzung: Ludwig Ullmann), München 1959, 13 . Auflage 1982, S . 101 .

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wird im Bezug auf Abraham von der irrtümlichen Anbetung von Bildwerken als Götzen gesprochen .64 Einige führende islamische Gelehrte wie der Ägypter Yusuf-al-Quaradawi nehmen eine radikal bild- und kunstfeindliche Haltung ein . Zwar gestatten sie den Gläubigen den Gebrauch von Foto und Film, bezeichnen Malerei und Bildhauerei aber als Luxus . Sie raten davon ab, derartige Kunstwerke zu schaffen . Strikt sind sie gegen Denkmäler und Kunstwerke eingestellt, die „Tyrannen, Atheisten und unmoralische Menschen“ darstellen, weil es bedeuten würde, diese Menschen zu verehren .65 AlQaradāwī ist ein islamischer Rechtsgelehrter, Multifunktionär, Fernsehprediger und Autor mit hohem Bekanntheitsgrad . Der greise Vordenker der islamistischen Muslimbruderschaft geht in seinen Predigten oftmals über den engeren religiösen Bereich hinaus und behandelt auch politische und gesellschaftliche Fragen . Durch seine regelmäßige Sendung Die Scharia und das Leben im katarischen Fernsehsender Al Jazeera erreicht er ein großes Publikum in der arabisch-islamischen Welt . Zahlreiche Kritiker, darunter anerkannte muslimische Intellektuelle, werfen ihm vor, seine mediale Präsenz – durch die er gleichsam als globaler Mufti wirke – zu missbrauchen und durch seine Predigten Islamismus und islamischen Terrorismus zu fördern . Al-Quaradawi ist zudem Präsident der Europäischen Fatwa-Kommission, einer Einrichtung, die praktische Glaubensfragen von Muslimen beantwortet, welche in einer nichtmuslimischen Rechtsordnung leben . Islamistische Kunstfeindschaft ist also schon längst ein europäisches Problem, und keinesfalls etwas, was etwa nur am Hindukusch oder in der Sahara Bedeutung hätte . Die Taliban setzten in diesem Zusammenhang eine Wegmarke . Sie zerstörten im Jahr 2001 in Afghanistan die weltgrößten historischen Buddha-Statuen: „Wenn es Götzenstatuen waren, gebietet der Islam ihre Zerstörung“, argumentierte der damalige Talibanführer und Staatsoberhaupt des „Islamischen Emirats Afghanistan“, Mullah Mohammed Omar, „und wenn es nur Steine waren – macht es doch erst recht nichts aus!“ Aber wichtig waren die antiken Statuen für die Fundamentalisten offenbar doch – sonst hätten sie sie nicht durch tagelangen Beschuss zerstört . Wahrscheinlich ging es ihnen um die Symbolwirkung einer radikalen Bilderfeindschaft .66 Sie verboten in ihrem Machtbereich zeitweilig sogar den Gebrauch von Videokassetten und Kameras . Die Taliban folgten der wahabitischen Glaubensrichtung, die in Saudi-Arabien herrscht – von dort erhielten sie Waffen und Geld, und von dort kam Usama Bin Laden . In letzten Jahren schien die Macht der Kleriker in Saudi-Arabien zu schwinden . Im Land wurde und wird seit Jahren darüber diskutiert, ob und welche Bilder und Figuren im Alltag zulässig sind . Eine Kunstszene mit Galerien und Privatsammlungen ist im Entstehen, überwiegend noch im privaten Rahmen . Von einer Freiheit der Kunst kann unter diesen Umständen noch nicht gesprochen werden, wenngleich zeitweilig Sechste Sure Vers 75 . Ebenda S . 112 . Silvia Naef, Bilder und Bilderverbot im Islam, München 2007, S . 118 . Michael Falser: Die Buddhas von Bamiyan, performativer Ikonoklasmus und das „Image“ von Kulturerbe . In: Kultur und Terror: Zeitschrift für Kulturwissenschaft . Band 1/2010, S . 82–93 . 64 65 66

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gewisse Liberalisierungstendenzen unter Kronprinz Mohammed bin Salman al-Saud festzustellen waren . Weiterhin besteht in Saudi-Arabien, wie auch in anderen islamisch geprägten Staaten, ein starker gesellschaftlicher Druck strenggläubiger Sunniten und eine latente terroristische Bedrohung, so in Ägypten, Indonesien, Pakistan, Palästina oder im Irak . In den meisten muslimischen Ländern, einschließlich der Türkei, sind Geistlichkeit und Staatsapparat miteinander verwoben . Der Islam ist Staatsreligion, das Prinzip der Trennung von Staat und Religion wird abgelehnt bzw . dort, wo es einst eingeführt wurde, schleichend außer Kraft gesetzt, etwa seit der Machtübernahme der AKP in der Türkei oder in Indonesien . Religiöse Eiferer, die gegen Kunst zu Felde ziehen, sehen sich daher zugleich auch als Vertreter des Staates und der Nation . Der Schulterschluss von Nationalismus und Staatsreligion manifestierte sich bereits 2011 beispielhaft in der Türkei . Auf Anweisung des türkischen Regierungschefs wurde das Mahnmal Denkmal der Menschlichkeit abgerissen . Der Bildhauer Mehmet Aksoy hatte die Doppelskulptur in Kars erst 2008 geschaffen, sie sollte der armenisch-türkischen Aussöhnung dienen . Ministerpräsident Erdogan bezeichnete die Plastik als „monströs“ und „abartig“, zudem stehe sie auf dem heiligen Grund einer Sufi-Grabstätte . Hier wurde aus der Gewalt gegen Kunst auch schnell Gewalt gegen Menschen: Bei einer Protestkundgebung gegen den Abriss wurden der Maler Bedri Baykam und seine Galeristin durch Messerstiche verletzt .67 Das größte muslimische Land der Welt, Indonesien, bietet ein differenziertes Bild . In manchen Regionen und Inseln, vor allem auf Bali und in der Hauptstadt Djakarta, ist ein säkularer Kulturbetrieb möglich, wenngleich pornografische und blasphemische Reizthemen besser ausgespart bleiben . Auf dem Lande sind hingegen besorgniserregende Tendenzen zu beobachten . Fatwas radikaler Kleriker sind zwar nicht bindend, dienen aber politischen Akteuren als Anregung und Legitimation . Auf Bezirks- und Provinzebene sind zahlreiche Gesetze auf der Basis der Scharia erlassen worden . Auch kommt es immer wieder zu Überfällen muslimischer Extremisten auf unverschleierte Frauen und Tanzlokale, selbst auf Kunstausstellungen soll es schon Angriffe gegeben haben, berichtete die Ethnologin Susanne Schröter, Leiterin des Frankfurter Forschungszentrums Globaler Islam .68 Zu größeren Kampagnen oder militanten Aktionen gegen Kunst und Künstler sei es seines Wissens noch nicht gekommen, erklärte hingegen Iswanto Hartono, Mitglied der indonesischen Künstlergruppe Ruangrupa und Kurator der documenta 15 .69 Möglicherweise erklärt sich die Diskrepanz damit, dass Hartono sich vor allem in der säkularen Kunstszene der Hauptstadt Djakarta oder im westlichen Ausland bewegt – im provinziellen Indonesien stellt sich die Situation völlig anders dar . Auch und gerade in Europa können Kunstwerke mittlerweile in den Fokus von Islamisten geraten, weil sich in einigen Ländern und Großstädten einflußreiche islamistische Communities 67 68 69

FAZ 20 .4 .2011 . Susanne Schröter, Politischer Islam . Stresstest für Deutschland, Gütersloh 2019, S . 60 . Gespräch mit dem Autor, Kassel 20 .9 .2019 .

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gebildet haben, die z . T . durch Dschihad-Rückkehrer aus Syrien und dem Irak radikalisiert werden oder bereits eine Phase der Binnenradikalisierung hinter sich haben . Für Islam-kritische Künstler und Schriftsteller kann mittlerweile das Leben in Europa, speziell in Frankreich, möglicherweise auch bald in Deutschland, gefährlicher werden als in ihren Heimatländern . 2014 protestierten drei junge Männer lautstark gegen die Installation God is great des britischen Konzeptkünstlers John Latham im Frankfurter Ausstellungshaus Portikus . Die Installation bestand aus einer Lage von Glasscherben auf dem Boden . Darauf lagen eine Bibel, ein Talmud und ein Koran . Einer der Männer entnahm den Koran und flüchtete nach einem Gerangel mit der Aufsicht .70 Auch führende Katholiken stellen die Frage, die in den konservativen und fundamentalistischen Richtungen des Islam schon weithin beantwortet ist: „Sind Kunst und Kultur ohne Gottesverehrung wertlos?“ Vor einigen Jahren wurde der Neubau des Museums Kolumba in Köln eingeweiht, dabei handelt es sich um das Kunstmuseum des Erzbistums Köln . Der damalige Kölner Kardinal Meisner (gest . 2017), selbst ein passionierter Sammler christlicher Kunst, löste mit einer Predigt am 14 . September 2007 im Rahmen der Museumseröffnung einen Skandal aus . Er hatte gesagt: Vergessen wir nicht, dass es einen unaufgebbaren Zusammenhang zwischen Kultur und Kult gibt . Dort, wo die Kultur vom Kultus, von der Gottesverehrung abgekoppelt wird, erstarrt der Kult im Ritualismus und die Kultur entartet . Sie verliert ihre Mitte .

Die nun einsetzende massive Kritik an Meisners Wortwahl wies das Erzbistum entschieden zurück . Dem Kardinal lägen die Ideologie und das Kunstverständnis der Nationalsozialisten völlig fern . Zugleich zeigte sich Meisner darüber bestürzt, „dass sein gesellschaftlicher Appell, den Bezug zu Gott zu bewahren, durch reflexhafte Unterstellungen in der Öffentlichkeit völlig verzerrt worden sei“, meldete der WDR .71 2009 lud Papst Benedikt 260 Künstler in den Vatikan ein, „um die Freundschaft zwischen Kunst und Kirche zu erneuern“ . Die Schönheit der Kunst interpretierte Benedikt als einen der möglichen Wege, „die uns zu Gott führen können .“ Kunstwerke seien „Teil jener ‚via pulchritudinis‘ – des ‚Weges der Schönheit‘ –, über den ich mehrmals gesprochen habe und den der heutige Mensch in seiner tiefsten Bedeutung wiederentdecken sollte .“72 „Wie oft spornen uns doch Bilder oder Fresken des Künstlers durch ihre Formen, ihre Farben, ihr Licht an, sich dem Gedanken an Gott zuzuwenden“, sagte Benedikt in einer Generalaudienz am 31 . August 2011 .73 „Hüter der Schönheit“ nannte Benedikt die Künstler, und warnte zugleich vor einer „verführerischen, aber heuchlerischen“ Schön-

FAZ 2 .6 .2014 . https://web .archive .org/web/20070918155606/http://www .wdr .de/themen/kultur/3/kolumba_ kunstmuseum_koeln/070915 .jhtml (5 .12 .2019) . 72 https://w2 .v atican .v a/content/benedict-xvi/de/audiences/2011/documents/hf_ben-xvi_aud_ 20110831 .html (5 .12 .2019) . 73 Ebenda . 70 71

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heit, der Obszönität und Provokation Selbstzweck seien .74 Zudem hatte der Papst in seinem Buch Der Geist der Liturgie von einer Krise der weltlichen Kunst gesprochen: Kunst verkomme zum „Experimentieren mit selbst geschaffenen Werten“, zur „leeren Kreativität“ .75 Parallel zum Aufschwung des Islamismus, der die Kunst im Namen des Glaubens reglementiert, gibt es auch konservative und fundamentalistische Strömungen anderer Religionen, die die Autonomie der Kunst nicht anerkennen und deren Anhänger gelegentlich empört auf Kunstwerke reagieren, die sie als blasphemisch empfinden . Neben den bereits erwähnten katholischen Integristen in Frankreich sind hier konservative und evangelikale Kirchen in den USA und Brasilien zu erwähnen, aber auch die orthodoxe Kirche Russlands . In all den genannten Ländern ist das Muster des Kunstskandals ähnlich: Führende Kleriker oder konservative Politiker wenden sich wegen „skandalöser“ Kunstwerke an die Öffentlichkeit, es kommt zu Protestaktionen und gelegentlich zu Attacken auf Künstler und Kunstwerke, die dann von einzelnen, fallweise auch psychisch instabilen Tätern ausgeführt werden . Beispielsweise beschädigte 1999 der pensionierte Lehrer Dennis Heiner das umstrittene Werk The Holy Virgin Mary des britischen Malers Chris Ofili, die damals im New Yorker Metropolitan Museum ausgestellt worden war . Ofili hatte eine Brust der Madonna mit Elefantenkot bestrichen und für die Collage Ausrisse aus Porno-Magazinen verwendet . Heiner täuschte einen Schwächeanfall vor, lehnte sich scheinbar erschöpft an die Wand und bemalte Ofilis Bild dann blitzartig mit weißer Ölfarbe .76 Am Morgen der Tat hatte er seiner Frau gesagt: „Das soll das Bild der Mutter Jesu sein, ich werde hingehen und es reinigen .“77 Bereits vor der Ausstellungseröffnung hatte New Yorks Bürgermeister Rudolph Giuliani das Bild als „sick stuff “, als „Beleidigung aller Katholiken“ bezeichnet und seine Entfernung gefordert .78 Im Jahr darauf sorgte Maurizio Cattelans Plastik La Nona Ora in Polen für Unruhe . Sie zeigte Papst Johannes Paul II . in Lebensgröße, als er von einem Meteoriten erschlagen wurde . Konservative Politiker versuchten in einer dramatischen Aktion im Museum, die liegende Figur aufzurichten, dabei brachen die Beine ab .79 Einige Jahre später protestierten nationalkatholische Jugendliche, die sich auf den im 16 . Jahrhundert tätigen Gegenreformator und Jesuiten Pjotr Skarga beriefen, gegen eine Ausstellung von Katarzyna Kozyra in Krakau . Kozyra, die in ihren Arbeiten u . a . Nacktheit und religiöse Symbolik kombiniert, geriet in den Fokus der Aktivisten, die unter der Parole „Das Volk will keine Sudelkunst“ vor dem Museum ein Happening veranstaltete, bei dem den Museumsmitarbeitern ein Abwasserrohr über-

Zitiert in der FAZ 23 .11 .2009 . Welt am Sonntag 16 .9 .2007 . https://www .theguardian .com/world/1999/dec/18/1 (5 .12 .2019) . https://www .spiegel .de/kultur/gesellschaft/brooklyn-museum-of-modern-art-anschlag-auf-marien bild-a-56828 .html (17 .12 .1999) . 78 https://www .theguardian .com/world/1999/dec/18/1 (5 .12 .2019) . 79 Elea Baucheron und Diane Routex, Skandal Kunst . Zensiert . Verboten . Geächtet, München 2013, S . 40 . 74 75 76 77

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reicht wurde, sowie ein Besen, auf dem die somit zur Hexe erklärte Künstlerin zurück nach Berlin, ihrem Wohnort, fliegen könne .80 In Russland agieren fromme Orthodoxe mittlerweile in einem eingespielten Bündnis mit nationalistischen Extremisten gegen zeitgenössische Kunst . Seit der Jahrtausendwende gehen Militante in dieser Melange von Klerikern, „Kosaken“ und „Offizieren Russlands“ verstärkt juristisch oder gewaltsam gegen Kunst und Künstler vor und können dabei auf wohlwollende Polizisten und Richter setzen .81 In den Fokus geriet u . a . der Moskauer Fotokünstler Danila Tkachenko mit seiner Arbeit Rodina . Er zündete verlassene Dörfer an, um die nächtlichen Brände zu fotografieren . Mit den spektakulären Bildern wird zugleich an die Vernachlässigung der Landbevölkerung durch die Regierung erinnert – ein Faktum, das orthodoxe Eiferer und Heimatschützer gerne verdrängen . Lieber bemühten sie sich, den Künstler mundtot zu machen, indem sie ihn wegen Brandstiftung verklagten .82 Im Frühjahr 2018 geriet erstmals ein historisches Gemälde ins Visier militanter russischer Bilderstürmer . Ein alkoholisierter Obdachloser attackierte das berühmte Gemälde Iwan der Schreckliche und sein Sohn Iwan am 16. November 1581 in der Tretjakow-Galerie . Als Motiv gab der Täter an, das Bild Ilja Repins verfälsche die historischen Fakten . Im Rahmen der aktuellen Glorifizierung Iwans des Schrecklichen durch russische Nationalisten wird der eigenhändige Totschlag an seinem Sohn als „unpatriotische Legende“ dargestellt . Bereits 2013 forderte eine Gruppe namens „Heilige Rus“, das Gemälde aus der Galerie zu entfernen, da es die Gefühle patriotischer Russen verletze . In führenden Kreisen der orthodoxen Kirche wird der Filizid bezweifelt . Der Obdachlose wähnte sich also im Einklang mit wichtigen Autoritäten des Landes .83 Auch in Indien haben sich Allianzen zwischen religiösen und nationalistischen Extremisten gebildet, die die Freiheit der Kunst bedrohen . Der Maler und Grafiker Maqbul Fida Husain (gest . 2011) gehörte zu den renommiertesten indischen Künstlern des 20 . Jahrhunderts . In den späten 1990er Jahren gerieten einige seiner Werke in den Fokus von Hindu-Nationalisten, weil er Hindu-Göttinnen nackt dargestellt hatte . Möglicherweise steigerte seine Abstammung aus einer muslimischen Familie das Empörungspotential in dieser Angelegenheit . Bei den beanstandeten Werken handelte es sich

NZZ 9 .1 .2012 . Einige Fälle werden geschildert in dem Band von Sandra Frimmel und Mara Traumane (Hg .), Kunst vor Gericht . Ästhetische Debatten im Gerichtssaal, Berlin 2018 . Sandra Frimmel, „Verbotene Kunst als Peepshow . Der Prozess gegen die Organisatoren der Ausstellung ‚Verbotene Kunst‘“ (2006), S . 465 ff . Thomas Skowronek, „Kunst, die Leiden schafft . Der Fall Dorota Nieznalska“ (2003), S . 429 ff . Erdem Kosova, „I know people like this . Die Künstlerin Hale Tenger unter Verdacht wegen der Beleidigung der türkischen Flagge“ (1993), S . 383 ff . 82 https://www .theartnewspaper .com/news/arson-or-art-russian-photographer-in-trouble-for-torchingdilapidated-houses (11 .12 .2017) . 83 Bereits 1913 war das Gemälde von einem altgläubigen Ikonenmaler mit einem Messer beschädigt worden . Repin selbst hatte es noch restaurieren können . FAZ 28 .5 .2018 . 80 81

Linke Kunst und rechte Empörung – Zutaten für allseits gewinnbringende Skandale

nur um wenige Zeichnungen aus seinem umfangreichen Oeuvre von 20 .000 Werken . Trotzdem wurde er Opfer einer Jahrzehntelang währenden Kampagne von religiösen Extremisten, der die indische Regierung – damals war noch die säkulare Kongresspartei an der Macht – aus Angst vor weiteren Ausschreitungen nicht Einhalt gebot . Mitglieder der nationalistischen Partei Shiv Sena stürmten Husains Haus und demolierten Kunstwerke . Hunderte von Klagen wurden gegen ihn eingereicht . In einigen Städten wurden einstweilige Verfügungen gegen seine Ausstellungen erwirkt, selbst in London führten Proteste gegen ihn zur Schließung einer seiner Ausstellungen . 2007 ging er ins Exil nach Dubai, weil er sich durch die indische Regierung nicht geschützt fühlte . Richter lehnten es ab, ein Verfahren zu eröffnen, weil es in der hinduistischen Ikonografie ohnehin üblich sei, Gottheiten nackt darzustellen und Husain deshalb keinesfalls Blasphemie vorzuwerfen sei . Dennoch blieb er de facto ein Geächteter . Galerien und Museen stellten aus Angst vor Anschlägen keine Werke mehr von ihm aus, selbst beim renommierten „Indian Art Summit“ wurde der bekannteste Künstler des Landes nicht eingeladen .84 Kritiker klagten, es sei eine Schande für das Land, dass die säkulare Regierung nicht in der Lage sei, einen der prominentesten Bürger der Nation zu schützen . Husain blieb bis zu seinem Lebensende im Exil . Wenn selbst ein prominenter Künstler dem Druck der Straße weichen muss, wie ergeht es dann unbekannteren Künstlern? Künstler auf dem indischen Subkontinent, die eher individualistisch arbeiten und sich nicht durch Kasten, durch religiöse und ethnische Zugehörigkeit definieren, geraten oft zwangsweise in den Gegensatz zu einer der vielen Religionsgemeinschaften oder Volksgruppen . Angestachelt von Extremisten, empfinden vor allem die ärmeren, weniger gebildeten Bevölkerungsschichten Kunst als Provokation und u . U . als Infragestellung ihrer eigenen Identität . Kunst kann schnell Anstoß erregen und zu gewalttätigen Reaktionen führen, während die individualistischen Künstler keine starke Lobby haben . In Südasien trifft moderne Kunst häufig ungefiltert auf eine vormoderne Geisteshaltung weiter Bevölkerungsschichten .85 Linke Kunst und rechte Empörung – Zutaten für allseits gewinnbringende Skandale

Im gesellschaftlichen Skandal zeigt sich, so der Hamburger Medienwissenschaftler Steffen Burkardt, ein historisch gewachsenes Konzept zur öffentlichen Aushandlung von Moral, das, ausgehend von den „Chroniques Scandaleuses“ des revolutionären Frankreichs, seinen Siegeszug in die Moderne antrat .86 Skandale verlaufen nach einem NZZ 27 .2 .2010 . Art India 12 . Jg . Heft 3/2007, S . 15 f . Steffen Burkhardt, Medienskandale . Zur moralischen Sprengkraft öffentlicher Diskurse, Köln 2006, S . 386 . 84 85 86

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stets ähnlichen Muster: Zunächst formiert sich eine Gruppe von Menschen zu einer Gesinnungsgemeinschaft, stellt Forderungen auf und verlangt die Beseitigung eines bestimmten Missstandes . Die Beteiligten und Kontrahenten stehen dabei für unterschiedliche Moralvorstellungen, die um die gesellschaftliche Hegemonie streiten . Komplexe Vorgänge und Strukturen werden mithilfe der Medien vereinfacht und personalisiert: Es gibt Helden und Antihelden . Weitere Kreise werden nun von Skandal erfasst, nehmen Partei . Mächtige und Prominente schalten sich ein und beziehen Position . Am Ende steht meistens die öffentliche Entschuldigung und Resozialisierung eines Übeltäters, der seine Verfehlungen eingesehen hat . Ein guter Skandal ist für den Entdecker bzw . für das aufdeckende Medium ein hochprofitables Ereignis, mit dem man einerseits politische und moralische Integrität beweisen und andererseits finanzielle Gewinne machen kann – durch die Ausschaltung von Konkurrenten, durch Auflagensteigerungen, erhöhte Klickzahlen oder Einschaltquoten . Etwas zu finden, das als Material für Skandale dienen kann, ist allerdings eine Kunst für sich . Also wird von interessierter Seite alles Mögliche zur Anstoßnahme empfohlen, doch die meisten Versuche, das Publikum zu erregen, scheitern . Der Philosoph Peter Sloterdijk schätzte einmal, dass in jeder modernen Nation täglich 20 bis 30 „Erregungsvorschläge“ lanciert würden . Wenn der Anlass zu unbedeutend war oder keine entscheidenden Multiplikatoren erreicht wurden, bleibt der Skandal aus . Zudem führt das ständige Angebot von Skandalen auch zu einer Abstumpfung . Hat sich der Skandal aber erst einmal entwickelt, ist er hochgradig ansteckend . Paradoxerweise haben große Skandale oftmals erstaunlich geringfügige Folgen . Diese Aufmerksamkeits- oder Beachtungsexzesse sind zum großen Teil Selbstzweck und verpuffen deshalb häufig wirkungslos, sobald das öffentliche Interesse abgeflaut ist . Der Skandal ist aber, trotz eines negativen Beigeschmacks, letztlich eine Errungenschaft der freien, pluralistischen Gesellschaft mit Gewaltenteilung und unabhängigen Medien . Vor allem im Aufdecken von Blamagen der Mächtigen und Berühmten werden die herrschenden Normen und Tabus sichtbar gemacht . Auf diese Weise reagiert eine freie Gesellschaft auf die Fehlentwicklung von Organisationen und Autoritäten . Gesetze, Organisationsstrukturen oder Machtverhältnisse, politische Mehrheiten und Meinungsführer können damit in Frage gestellt werden und einem Prozess der Anpassung unterzogen werden . Insofern haben Skandale auch eine positive Funktion: Sie tragen zu notwendigen Selbstreinigungsprozessen der Gesellschaft bei . Und paradoxerweise ist der politische Skandal in den westlichen Demokratien letztlich auch ein Instrument, um das Vertrauen in die Politik und in die Institutionen immer wieder zu erneuern . In autoritären Systemen gibt es in diesem Sinne keine Skandale, weil keine unabhängige Medienlandschaft und kein politischer Pluralismus existiert . Skandale können sich hier nicht „organisch“ und antagonistisch entwickeln, sondern müssen künstlich, von oben herab, inszeniert werden . Sie dienen dem Ziel, Dissidenten und potentielle Gegner zu stigmatisieren oder um Rivalitäten unter den führenden Gruppen und Personen des Regimes auszufechten, wie bei den berüchtigten Schauprozessen des Stalinismus . Wie erwähnt sind Künstler

Linke Kunst und rechte Empörung – Zutaten für allseits gewinnbringende Skandale

heute in weiten Teilen der Welt Fundamentalisten und Nationalisten ausgeliefert . Sie gelten in deren Augen als „sündig“ oder „unpatriotisch“ und ihre Werke provozieren, auch wenn sie völlig ohne provozierende Absicht geschaffen wurden . In gefestigten pluralistischen Demokratien bietet sich ein völlig anderes Bild . Zwar sind auch hier die Adressaten des Kunstskandals in der Regel religiöse oder rechtsorientierte Milieus und Persönlichkeiten, sowie Vertreter des Staates . Doch können diese Kräfte die künstlerische Freiheit und eine öffentliche Debatte nicht unterdrücken . Stattdessen bilden sie den notwendigen Kontrapart einer Kunst, die z . T . systematisch den Skandal einkalkuliert . Ohne die reflexhaften Reaktionen der Rechten und Religiösen, ob Proteste in den Medien, Beschimpfungen der Künstler, Attacken auf die Kunstwerke, Polizeieinsätze oder Strafanzeigen würden die künstlerischen „Interventionen“, Performances u . ä . verpuffen . Der Skandal wird zur „Masche“, zum Marketinginstrument für Kunst und Künstler . Wie beschrieben, reifte diese Technik bereits in den Pariser Salons des 19 . Jahrhunderts heran . Bis in die Gegenwart hinein werden Kunstskandale inszeniert und auf diese Weise gesellschaftliche Erregungsvorschläge gemacht . In der Tradition der Avantgarden setzen auch heute noch Künstler und Kuratoren auf die Provokation bestimmter politischer oder religiöser Milieus . Sie erwarten das Einsetzen jener immer gleichen Mechanik des öffentlichen Skandals, der ihnen Aufmerksamkeit zu kommen lässt und das Prädikat einer „mutigen“, „umstrittenen“, einer „gesellschaftlich relevanten Kunst“ verleiht . Zu den beliebtesten und zuverlässigsten Skandalauslösern zählen seit Jahrzehnten: Pornografische (insbesondere homosexuelle) Bildmotive, blasphemische (insbesondere antikatholische) Bildmotive, Verharmlosung des Holocaust, Verwendung von Leichenteilen und Fäkalien . Auch dezidiert linke Aktivisten entfachen und nutzen Kunstskandale, um ihre politische Botschaft zu verbreiten . Manche Künstler und Kuratoren arbeiten mit empörenden und kontroversen Themen . Im Gegensatz zur Wissenschaft oder zum seriösen Journalismus wird bei ihnen aber nicht nach gesicherten Fakten, Gegenrecherche, Objektivität und Ausgewogenheit gefragt . In diesem Sinne können Künstler Fakten und Fiktionen mischen, sie können auf eine Weise ästhetisieren, Stimmungen erzeugen und emotionalisieren, die als geradezu klassische Techniken der Demagogie gelten dürfen . Auf dem Gebiet der Kunst lassen sich somit Insinuationen, Denunziationen, Beleidigungen und Drohungen gegen missliebige Personen artikulieren . In vielen europäischen Staaten ist die Freiheit der Kunst wie auch die Meinungsfreiheit verfassungsrechtlich geschützt . Die Meinungsfreiheit wird beispielsweise im deutschen Grundgesetz eingeschränkt durch gesetzliche Bestimmungen zum „Schutz der Jugend“ und dem „Recht der persönlichen Ehre .“87 Vergleichbare Einschränkungen fehlen aber beim Recht auf Kunstfreiheit . Die Deklarierung von Beleidigungen, Bedrohungen oder politischer Agitation als „Kunst“ schafft a priori mehr gesellschaftliche Akzeptanz

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Dagmar Fenner, Was kann und was darf Kunst? Frankfurt 2013, S . 150 .

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und bietet anschließend Schutz vor Strafverfolgung . Diese Möglichkeiten sind auch für dezidiert linke Aktivisten attraktiv, die aus taktischen Gründen den Künstlerstatus einnehmen . Sie entfachen und nutzen Kunstskandale, um ihre politische Botschaft zu verbreiten . Bei massiver Kritik, Widerspruch oder angedrohten juristischen Konsequenzen können sie sich jederzeit auf ihren autonomen Kunststatus berufen und die laute Klage ausstoßen: „Die Freiheit der Kunst ist in Gefahr“ . Es handelt sich um einen eingespielten Mechanismus, hat die Schweizer Philosophin Dagmar Fenner festgestellt: „Wenn ethisch fragwürdige Kunstwerke, wie z . B . gewaltpornographische Bilder, öffentlich diskutiert werden, ist der Vorwurf eines Angriffs auf die Kunstfreiheit oder der Kunstzensur immer schnell zur Hand“88 – ungeachtet der Tatsache, dass beispielsweise in der Bundesrepublik eine Zensur von Kunst- und Meinungsfreiheit im Grundgesetz verboten wird . So kann aus Agitation „verletzliche“ und „bewahrenswerte“ Kunst werden . Zur wahren Meisterschaft in dieser Technik brachte es die Gruppierung „Zentrum für Politische Schönheit“ (ZPS) . Die politische Ausrichtung, Zielsetzung und Finanzierung der Gruppe ist dubios . Als Leiter und Frontmann tritt der Philosoph und Aktionskünstler Philipp Ruch auf . Die Gruppe engagiert sich mit Hilfe von künstlerischen Interventionen, Fake News und Installationen im öffentlichen Raum gegen rechtsgerichtete politische Kräfte und für eine unbegrenzte Zuwanderung nach Europa . Dafür setzten die Aktivisten systematisch auf die Skandalwirkung makaberer „Kunst“-Objekte und künstlerischer Interventionen in einer Grauzone der Legalität . Fehler und Tabubrüche werden nachträglich eingeräumt, nachdem das Ziel erreicht wurde, eine große Medienwirkung zu entfalten . Im Herbst 2019 sorgte die Gruppe mit der Parodie einer Gedenkstätte namens Sucht nach uns im Umfeld des Reichstagsgebäudes für Aufsehen . Sie behauptete, in der Stele befinde sich Asche von Holocaust-Opfern, die man an authentischen Orten geborgen habe . Unter dem Druck von Protesten, die Künstlern würden die Holocaustopfer instrumentalisieren, dekorierte das ZPS die Stele um und deklarierte sie nun zum Mahnmal gegen den Verrat an der Demokratie .89 In seinem Bestseller Schluss mit der Geduld legte Ruch seine Motivation und Methodik offen dar: Während Wissenschaft und Journalismus der Non-Fiction verpflichtet sind, ist die Kunst befreit von einer solchen Bindung . […] Wir kommen der Wahrheit nicht nur mittels NonFiction näher . Wir kommen ihr mit Fiction mitunter viel näher . […] Manchmal enthüllt eine Lüge erst die Wahrheit .

Ebenda S . 154 . Berliner Zeitung 9 .12 .2019 . Im Januar 2019 versuchte eine Gruppe von Bürgern das Objekt abzubauen, wurde jedoch von der Polizei daran gehindert . Mitglieder des ZPS erstatteten Anzeige wegen Sachbeschädigung . Zu der Gruppe gehörte auch der Autor Eliyah Havemann . „Mit Asche von Opfern des Holocaust sollte man keine Kunst und Politik machen“, sagte er der Deutschen Presse-Agentur zur Begründung . https://www .berliner-zeitung .de/mensch-metropole/aktivisten-am-abriss-umstrittener-saeule-vorreichstag-gehindert-li .4325 (5 .1 .2020) . 88 89

Linke Kunst und rechte Empörung – Zutaten für allseits gewinnbringende Skandale

Es gehe darum, „die Wirklichkeit mit Fiktion zu unterlaufen .“90 Somit entsteht eine neue, manipulierte Wirklichkeit, die Aktivisten wie das ZPS öffentlichkeitswirksam propagieren, sie setzen somit bestimmte Themen, Bilder und gedankliche Zusammenhänge auf die Agenda der Medien . „Das Wesen von Aktionskunst ist die radikale Nähe zur Wirklichkeit“ schreibt Ruch91, und man kann ergänzen: es ist eine Wirklichkeit, die die Aktionskünstler selbst geschaffen haben . „Kunst kann Gegenwirklichkeit herstellen“92 – für Ruch ist die Kunst eine ideale Methode, die Wirklichkeit mit Fiktion zu unterlaufen, denn Kunst sei heute überaus beliebt und gesellschaftlich akzeptiert: „Ich habe nicht den Eindruck, dass wir in einer kunstfeindlichen Zeit leben, die Ideen, Visionen und Fiktionen weniger achtet . Unsere Zeit ist fast übertrieben freundlich und aufgeschlossen gegenüber der Macht der Phantasie .“93 Damit eignet sich der Kunstbetrieb bzw . der Kunststatus als ideale strategische Basis für Gruppen und Kräfte, die eine politische und ideologische Agenda verfolgen . Mittlerweile ist die ehemals avantgardistische Technik des Skandals zur Masche geworden, zur eingespielten Marketingtechnik für Kunst und Künstler . Zudem ist die Skandaltechnik auch nicht mehr ein Monopol einer linken, progressiven Künstleravantgarde . Sie wird mittlerweile auch von populistischen Bewegungen und rechtsgerichteten Politikern übernommen: Grenzüberschreitungen, Beleidigungen, Täuschungen und nachgereichte „Entschuldigungen“ prägten die politische Arena der letzten Jahre . Gegenüber den Exaltationen von Trump & Konsorten wirkt das Provokationspotential der Kunst fast schon bieder . Boris Groys sieht den Kunstskandal deshalb schon als Auslaufmodell . Weil wir in einer „Zeit der wachsenden Unempfindlichkeit“ lebten, könne „die Kunst kaum noch einen Angriff durchführen . Ihr bleibt nur noch das Dekorative, bestenfalls ist sie ein unterhaltendes Korrektiv .“94 Groys irrt sich . Sicher gibt es seit einigen Jahren vermehrt Verstöße gegen Anstand und Etikette in der Politik und in den Sozialen Medien, zugleich aber wächst auch die Empfindlichkeit . Schnell ist jemand zur Stelle, der sich in seiner Identität durch bestimmte Äußerungen, Bilder, Witze und Kunstwerke beleidigt fühlt . Die Kunst hat in diesem Sinne weiterhin ein starkes Provokationspotential . Auffällig ist allerdings, dass das Thema Islam selbst von radikalsten Künstler-Aktivisten weithin gemieden wird, obwohl hier ideale Bedingungen für einen Skandal vorliegen: Es ist eine erhebliche Erregungs- und Empörungsbereitschaft zu erwarten, ebenso ein gewisser Partizipationswunsch des angesprochenen Publikums, vielleicht auch eine „Interaktivität“, die die Kunst überfordert: Seit dem Mohammed-Karikaturenstreit, der 2005 von der dänischen Zeitung Jyllands-

90 Philipp Ruch, Schluss mit der Geduld! Jeder kann etwas bewirken . Eine Anleitung für kompromisslose Demokraten, München 2019, S . 152 . 91 Ebenda S . 153 . 92 Ebenda S . 175 . 93 Ebenda S . 153 f . 94 Interview in Lettre International Winter 2015, S . 40 .

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Abb. 22 Das Objekt Sucht nach uns des Zentrums für Politische Schönheit vor dem Berliner Reichstagsgebäude. Die Gruppe behauptete zunächst (und dementierte später), in der Stele befinde sich Asche von HolocaustOpfern.

Posten ausgelöst wurden, und erst recht nach dem Anschlag auf die Redaktion Charlie Hebdo 2015 ist die Angst vor physischer Vergeltung zu groß geworden . Die alte Linke und die neue Kunst

Der globale Kunstmarkt, vor allem das Hochpreissegment der Gegenwartskunst oder das Geschehen auf den Kunstmessen wie der Art Basel Miami Beach, wo sich die Reichen und Prominenten treffen, bieten sich der Linken eigentlich als ideale Feindbilder an . So würde es nicht überraschen, in den letzten Jahren vermehrt Beispiele zu finden für einen spezifisch „linken Populismus95“ oder linksradikale Ressentiments, die sich gegen zeitgenössische Kunst richten, angesiedelt auf der Basis des traditionellen Marxismus oder eines sozialrevolutionären Anarchismus . Die Yachtenparade der 95 Während in wirtschaftlich starken, exportorientierten und sozialstaatlich gut ausgebauten Ländern ein rechter Populismus floriert, der sich vor allem gegen Armutszuwanderung richtet (Niederlande, Deutschland, Schweden), gibt es wirtschaftlich schwächeren Ländern mit Handelsbilanzdefizit und hoher Arbeitslosigkeit eher einen linken Populismus, der sich gegen Freihandel und internationale Finanz- bzw . Austeritätspolitik richtet (Griechenland, Spanien, Frankreich) . In Italien sorgt die unterschiedliche wirtschaftliche Stärke des Nordens und Südens für ein paralleles Florieren beider Populismen (Cinque Stelle im Süden, Lega im Norden) . Auch Trump vereint in seiner Politik Elemente des Rechts- und Linkspopulismus .

Die alte Linke und die neue Kunst

Abb. 23 Eine milde Form des Vandalismus stellt die Technik des „adbust“ dar: Werbebotschaften im öffentlichen Raum werden temporär verfremdet und damit inhaltlich neu bestimmt. Hier handelt es sich um das Denkmal für die Gefallenen des Kaiser-Franz-Garde-Grenadier-Regiments, das 1924 vom Bildhauer Eberhard Encke geschaffen worden war. Es wurde bereits mehrmals von linken Aktivisten mit Farbe übergossen und mit Parolen beschriftet.

Oligarchen-Kunstsammler bei der Biennale von Venedig, die völlig überrissenen Auktionsrekorde bei Sotheby’s und Christie’s, die Armada der Privatjets, die zur Art Basel Miami in Florida einfliegen – eigentlich handelt es sich ideale Versatzstücke für Klassenkampf-Propaganda und Steilvorlagen für die Agitation . Das traditionelle Lamento von der Kunst als „Raub an den Armen“ findet in der Luxuswelt der VIP-Vernissagen reichlich neue Nahrung . Obwohl die Exzesse des Kunstmarktes vermuten lassen, dass sie Linke besonders provozieren könnten, Kunst als Luxusgut und Luxusproblem zu sehen, findet man erstaunlich wenig Material dazu . Das Thema Gegenwartskunst scheint nicht auf der linksradikalen Agenda zu stehen . Auch physische Attacken militanter Linker auf Kunstwerke im öffentlichen Raum, Galerien und Künstler sind kaum bekannt, was verwunderlich ist, da Künstler als treibende Kräfte urbaner Aufwertungsprozesse gelten und stets zu den Vorboten der berüchtigten Gentrifizierung der Innenstädte zählen . Die Recherche auf der linksradikalen Online-Plattform indymedia, wo regelmäßig Bekennerschreiben für militante Anschläge aller Art veröffentlicht werden, ergibt zwar Hinweise auf Vandalismus an historischen Kunstwerken, vor allem an Kriegerdenkmälern, und auf zahlreiche Attacken gegen Objekte (gelegentlich auch auf Personen) der Immobilienbranche – von gezielten Aktionen gegen Kunst, Galerien und Künstler ist jedoch nichts berichtet .96

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https://de .indymedia .org/Kultur (7 .1 .2020) .

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Ansatzweise bekam die documenta den linksradikalen Unwillen bei ihrem Gastspiel in Athen zu spüren, vereinzelt war der Schriftzug „crapomenta“ auf Mauern gesprüht worden, größere Proteste und Sabotageakte der Autonomen blieben jedoch aus . Die linken Autoren Markus Metz und Georg Seeßlen schrieben 2014 in ihrem Buch Geld frisst Kunst, Kunst frisst Geld, Kunst bringe der Mehrheit nichts mehr: „Es gibt keine Alternative zu dem oligarchischen Sammlermarkt und dem Provokationshunger der medialen Spaßgesellschaft . Wie in den Banken der Zins, so geht bei der Kunstproduktion der Gewinn für die kleinen Leute gen null .“97 In ihrem „Manifest zur Rettung der Kunst für die Gesellschaft“ fordern sie: „Der Kunstdiskurs darf nicht länger Handlanger, auch nicht nützlicher Idiot des Kunstmarktes und der Ökonomie sein .“ Daher gelte es, „Freunde und Feinde zu benennen . Dazu gehöre es, Linien zu ziehen, zu jenen Institutionen, Personen und Medien, die man für den Kunstdiskurs verlorengeben und als Agenten der finanzkapitalistischen Inneren Landnahme begreifen muss .“ Und nicht zuletzt sei es nötig, „die Diktatur der Experten zu brechen .“98 Das Buch erreichte nur eine vergleichsweise kleine Öffentlichkeit . Größere Wellen schlug hingegen vor einigen Jahren der Konflikt um die Intendantur der Berliner Volksbühne . Die Berufung Chris Dercons, der als Kunstkurator international bekannt geworden war, erschien vielen Theaterfreunden, Regisseuren und Schauspielern der Volksbühne befremdlich . Als Vertreter der globalen Kunstmarktelite und als Mann der „Eventkultur“, wie es der ehemalige Berliner-Ensemble-Chef Claus Peymann formulierte, schien Dercon an der Volksbühne deplatziert zu sein . Der von Dercon umworbene Regisseur Rene Pollesch hielt seinen neuen Chef gar für einen „Hochstapler“ und verweigerte die Zusammenarbeit . In einer Personalversammlung versuchte Dercon die Volksbühnenbelegschaft für seine Pläne zu gewinnen, ohne deutlich zu machen, dass das bisherige feste Ensemble aufgelöst werde und somit in Zukunft kein konventioneller Theaterbetrieb mehr stattfinden werde . Dercon verbarg sich hinter Floskeln und staunte über die Atmosphäre: „Die Personalversammlung war wie ein Boxkampf, sehr laut, sehr aggressiv, es war meine erste Konfrontation mit einer solchen Aggressivität in dieser Stadt . Doch ich hatte hinterher ein gutes Gefühl .“99 Am 20 . Juni 2016 nahmen in einem Offenen Brief 180 Mitarbeiter der Volksbühne Stellung und wandten sich damit an die im Berliner Abgeordnetenhaus vertretenen Parteien . Es war darin die Rede von einer Abwertung des Sprechtheaters zugunsten von Tanz, Musik und Film, vor allem aber zugunsten der Performance als neuer „polyglotter Bühnensprache“ . Letztere sehen traditionelle Linke als Ausdruck einer Entpolitisierung des Theaters . Das Performative werte das gesprochene Wort, also den Inhalt ab – so erklärt es beispielsweise der Kunstwissenschaftler Boris Groys: „Die Performance schaut man sich an, aber es hat so gut wie keine Konsequenzen . Das passt zu einer 97 98 99

Markus Metz und Georg Seeßlen, Geld frisst Kunst, Kunst frisst Geld . Ein Pamphlet, Berlin 2014, S . 72 . Ebenda S . 471 ff . Zitate von Pollesch und Dercon in der Süddeutschen Zeitung 20 .4 .2018 .

Die alte Linke und die neue Kunst

Gesellschaft, die nicht mehr im Medium der Kunst agiert . Kunst agiert im Medium Bild und Sprache .“100 Weiter war im Offenen Brief der Volksbühnenmitarbeiter die Rede von der Kappung der historischen und lokalen Wurzeln der Volksbühne, von der drohenden Umwandlung in ein reines Festspielhaus . Befürchtet wurde ein erheblicher Stellenabbau und die Zerstörung von Originalität und Eigensinn: „Der Wechsel steht für historische Nivellierung und Schleifung von Identität . Die künstlerische Verarbeitung gesellschaftlicher Konflikte wird zugunsten einer global verbreiteten Konsenskultur mit einheitlichen Darstellungs- und Verkaufsmustern verdrängt .“101 Dercons Unterstützer antworteten mit einem Offenen Brief an den Regierenden Bürgermeister Berlins, bezeichnenderweise auf Englisch .102 Die Unterzeichnerliste war gespickt mit Exponenten der neuen globalen „Creative Class“ . Den Protest der Volksbühnenmitarbeiter taten sie ab als „narrow-minded and self-interested coup d’etat“, der überdies den Ruf Berlins als Kulturmetropole schädige . Unterzeichnet hatten u . a . die drei ehemaligen documenta-Leiter Okwui Enwezor, Carolyn Christov Bakargiev, Adam Szymczyk . Ihr Offener Brief lief ins Leere . Beide Seiten standen sich verständnislos gegenüber, die Schweizer WOZ schrieb treffend von einer starren „Front zwischen Altmarxisten im Subventionsbetrieb und den neoliberalen Kreativnomadinnen .“103 Fabian Bechtle sah in der Anti-Dercon-Kampagne Feindbilder am Werk, die man von links geführten kulturpolitischen Debatten bislang nicht kannte: „Wir weisen darauf hin, dass es eine identitäre Kampagne war, die mit ähnlichen Feindbildern argumentierte wie wir sie aus dem Rassismus, Antisemitismus, etc kennen .“104  Bechtle scheint hier den legitimen Arbeitnehmer-Widerstand der Theaterbelegschaft gegen einen fachfremden Kulturmanager überzuinterpretieren . Es ist sicher überzogen, ihn als Beleg für eine zunehmende ideologische Konvergenz von Links und Rechts zu werten: „Kulturpessimismus, regressiver Antikapitalismus und antimoderne Traditionalismen“ seien mittlerweile auch unter Künstlern auf dem Vormarsch,105 erklärte Bechtle, und es gebe sogar „im Spektrum linker Künstler etablierte Weltbilder, die eindeutige Schnittmengen mit neurechten Ideologieelementen aufweisen .“106 In der politischen Linken

Interview in Lettre International Winter 2015, S . 40 . https://medien-kunst-industrie-bb .verdi .de/themen/aktuelles/++co++928ea82c-388f-11e6-b31d-525 40077a3af (22 .6 .2016) . 102 „Open Letter from Concerned Cultural Actors about Recent Discussions Surrounding the Directorship of Volksbühne in Berlin .“ https://www .nachtkritik .de/images/stories/pdf/Chris_Dercon_Letter_of_Sup port .pdf (2 .1 .2019) vgl . auch: https://news .artnet .com/art-world/obrist-enwezor-koolhaas-support-chrisdercon-540428 (6 .7 .2016) . 103 https://www .woz .ch/-84c5 (5 .1 .2018) . 104 Fabian Bechtle per Mail an den Autor 27 .11 .2018 . 105 https://www .forum-dcca .eu/category/ueber-uns/ (14 .11 .2018) . 106 Und wenn jemand wie Baselitz über „die angepassten Medien“ schimpft, oder die hiesige Demokratie „undemokratisch“ nennt, dann ist das genau diese Art von kalkulierter Provokation, die man von Af D und Co kennt . Zentral ist aber, dass diese antiliberalen Akteure eine unnötig hohe Aufmerksamkeit bekommen – auch im Kunstbetrieb .“ art 11/2018, S . 132 ff . 100 101

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wurde in den letzten Jahren gestritten, wie man auf rechtspopulistische Bewegungen reagieren soll . Es wurden Forderungen nach einem „linken Populismus“ laut . Es fehle an Instrumenten, um linke Ideale populär und um emanzipative Politik verständlich und attraktiv zu machen . Dabei sollte nicht nur die Verstandesebene angesprochen werden, sondern auch „starke Gefühle, griffige Metaphern und die gekonnte Reduktion von Komplexität“, wie es im Aufruf zu einer Diskussionsveranstaltung in Berlin hiess .107 Die Kasseler Die-Linke-Politikerin Violetta Bock schlug vor, die Linke müsse „populistisch verdichten, ohne zu manipulieren“ .108 Das klingt nach der Quadratur des Kreises . Bock versuchte sich an einer positiven Definition des linken Populismus und des Volksbegriffs, der Klassenkampf und Minderheitenschutz vereine: Das ‚Volk der Rechten‘ ist ausschließend, das ‚Volk der Linken‘ bezieht alle mit ein, die in einem Land ausgebeutet, unterdrückt sowie marginalisiert sind und sich wehren . Linkspopulistische Strategien richten sich an die vielen, die noch nicht entschieden sind oder sich neu positionieren müssen, weil sich im neoliberalen Kapitalismus ihr Leben drastisch verändert hat . Sie knüpfen das widersprüchliche Alltagsbewusstsein an, um Brücken nach links zu schlagen . Links- und Rechtspopulismus sind wie Feuer und Wasser . […] Wenn wir Klassenpolitik mit Antirassismus und Feminismus verbinden, erst dann ist Populismus links .109

Abb. 24 Tschüss Chris: Anti-Dercon-Protest-Performance vor der Berliner Volksbühne am 27. März 2018.

ACUD Studio, Veteranenstraße 21, Berlin Oktober 2016 . „Ein unanständiges Angebot? Mit linkem Populismus gegen Eliten und Rechte“  / Buchvorstellung Buch-Oase Kassel, 26 .10 .2017 . 109 https://www .neues-deutschland .de/artikel/1107526 .linkspopulismus-durchkreuzen-der-scheinfront . html (8 .12 .2018) . 107 108

Identitätslinke Aktivisten gegen die Freiheit der Kunst

Identitätslinke Aktivisten gegen die Freiheit der Kunst

Aktuell lässt sich die politische Linke idealtypisch in drei Richtungen unterteilen: eine Identitätslinke, eine Ökolinke und eine Soziallinke . Die Differenzierung behauptet nicht, dass es absolute Gegensätze geben muss, sie ignoriert auch nicht, dass sehr wohl Übergänge bestehen . Die Letztgenannten interessieren sich insbesondere für Verteilungsfragen, die Mittelgenannten blicken demgegenüber mehr auf die Umweltprobleme . Und was macht die Identitätslinke? Sie definiert sich über das Engagement für Minderheiten, die einer Diskriminierung in der Gesellschaft ausgesetzt seien . Es geht ihnen primär nicht mehr um soziale Gerechtigkeit, sondern um Identitätsgerechtigkeit .110

Während sich traditionelle „Sozial“-Linke mit dem Thema Gegenwartskunst nur am Rande beschäftigen, hat die „Identitätslinke“ Kunst und Kultur als wichtiges politisches Terrain für sich entdeckt . In den späten 1970er Jahren wurden in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften postmoderne und postkoloniale Theorien populär, teilweise noch beeinflusst von marxistischem und antiimperialistischem Gedankengut . Seit den 1990er Jahren haben diese Theorien im Universitätsmilieu und in weiten Teilen des politischen Spektrums weiter an Boden gewonnen . Die in jenem neuen Theorie-Kanon sozialisierten Hochschulabsolventen halten heute zahlreiche Schlüsselpositionen in der Politik, den Medien, vor allem aber in den Universitäten, Kunstakademien, Kulturinstitutionen, Berufungskommissionen und Fachjuries . Für Identitätslinke ist nicht mehr die soziale Frage (der Klassenstandpunkt) ausschlaggebend, sondern die Machtasymmetrie zwischen einer Mehrheitsgesellschaft und historisch benachteiligten Minderheiten wie z . B . indigene Völker, Migranten, Nichtweiße/People of Colour (PoC), die LGBTQIA-Community . Unter Gerechtigkeit verstehen sie nicht soziale Gerechtigkeit, sondern Identitätsgerechtigkeit . Der Kulturbereich ist ihnen besonders wichtig, weil hier symbolisches Kapital und gesellschaftliche Anerkennung die Hauptwährungen bilden . Identitätslinke haben keine eigene Partei oder zentrale Interessenvertretung, sondern sind als diffuse Strömung zu betrachten, die in verschiedenen Institutionen, Milieus und Parteien wirksam ist . Gefahr für die Freiheit der Kunst geht nicht nur von kunstfernen Rechtspopulisten und religiösen Fundamentalisten aus, sie kommt auch aus dem Inneren des Kunstund Universitätsbetriebes, aus den Kunstakademien, und aus den Geistes- und Kulturwissenschaften, die in den letzten Jahrzehnten stark ideologisiert und politisiert wurden . Antirassistische, queere und postkoloniale Diskurse und Positionen sind hier mittlerweile dominant geworden, sichtbar in der Popularität der „Critical Whiteness Studies“ . Deren Anhänger erklären alle Personen, die sich auf irgendeine Weise als 110 Definition laut Armin Pfahl-Traughber, Professor an der Fachhochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in Brühl und Herausgeber des Jahrbuchs für Extremismus- und Terrorismusforschung . https:// hpd .de/artikel/antiindividualismus-identitaetslinken-migrationsdebatte-17588 (20 .02 .20) .

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Kapitel VI Die Freiheit der Kunst und ihre Feinde

Opfer von Rassismus oder sozialen Zugehörigkeitszweifeln sehen, pauschal zu Nichtweißen . „Dergestalt werden beispielsweise europäische Konvertiten zum Islam als von der ‚hegemonialen Dominanzgesellschaft‘ unterdrückte Nichtweiße klassifiziert .“111 Mit der Rassifizierung von sozialen und politischen Konflikten, durch die Einführung von Kampfbegriffen wie „antimuslimischer Rassismus“ versprechen sich die akademischen Identitätslinken eine höhere moralische Legitimation . Universalistische Werte wie künstlerische Autonomie, Menschenrechte oder Meinungsfreiheit werden von ihnen weithin abgelehnt, die „Freiheit der Kunst“ wird als überholtes „weißes“, „männliches“ Privileg problematisiert und als „rechter“ Kampfbegriff denunziert .112 Linke Intellektuelle und Kuratoren stellen freie Künstler als eine Art privilegierte Elite dar, die abgehoben und unsensibel sei für die Lebenswelt und die Interessen unterdrückter Minderheiten . Die Autonomie der Kunst lehnen sie deshalb ab, und sie fordern (wie früher die Kommunisten) eine engagierte, eine parteiische Kunst, die sich den Belangen von Nichtweißen, Immigranten oder Muslimen unterwirft . An amerikanischen und französischen Universitäten ist diese Haltung bislang am stärksten verbreitet . In den letzten Jahren agitierten Aktionsgruppen und selbsternannte Repräsentanten von Minderheiten immer wieder gegen Kunstwerke, die ihrer Ansicht nach Symbole von Unterdrückung, Ausbeutung und historischem Unrecht sind . In einer naiven oder fundamentalistischen Weltsicht, die nicht nur in bildungsfernen Milieus, sondern auch bei „gebildeten“, aber radikalisierten politischen oder religiösen Aktivisten anzutreffen ist, wird nicht zwischen Kunstwerk und Inhalt differenziert, und dass man etwas zur Debatte stellen will, ohne es gleich gutzuheißen, erscheint undenkbar . Ebenso fehlt die Einsicht, dass es sich bei vielen Kunstwerken um historische Objekte handelt, die aus Epochen oder Gesellschaftssystemen stammen, in denen andere Wertvorstellungen und soziale Ordnungen herrschten als heute . Ein Beispiel lieferte die Debatte um die geschichtskritischen Fresken in der George-Washington High School in San Francisco . 1936 vom linken Künstler Victor Arnautoff gemalt, waren sie im Rahmen der New-Deal-Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für Künstler entstanden und machte die Opfer der amerikanischen Erfolgsgeschichte sichtbar: eines zeigte George Washington als Sklavenbesitzer, ein anderes Siedler, die buchstäblich über Leichen gingen . Trotzdem wurden die Fresken von einer Elterninitiative als traumatisierend und beleidigend bezeichnet . Die Schulbehörde beschloss zunächst die Zerstörung, dann die Überdeckung der Gemälde, nachdem sich viele Kulturschaffende für den Schutz der historischen Werke ausgesprochen hatten .113 Ein anderes historisches Kunstwerk

111 Sandra Kostner, Identitätslinke Läuterungsagenda . Welche Folgen hat sie für die Migrationsgesellschaften? In: dies . (Hg .), Identitätslinke Läuterungsagenda . Eine Debatte zu ihren Folgen für Migrationsgesellschaften, Stuttgart, 2019, S . 17–74, hier S . 24 . 112 S . z . B . http://wessenfreiheit .de/dokumentation-zum-aktionstag-wessenfreiheit-an-der-hgb-leipzig/ (18 .5 .2018) . 113 FAZ 15 .8 .2019 .

Identitätslinke Aktivisten gegen die Freiheit der Kunst

wurde im Juli 2019 in der Schweiz attackiert: Im Zusammenhang mit einer Gay-PrideDemonstration war ein Farbanschlag auf das Genfer Reformationsdenkmal verübt worden . Dies war 2019 bereits die vierte Beschädigung des Denkmals, das anlässlich Calvins 400 . Geburtstag mit Geldern schottischer, deutscher und ungarischer Protestanten errichtet worden war .114 Ein weiterer Kurzschluss identitätslinker Aktivisten besteht in der Gleichsetzung von Werk und Autor . Unabhängig von der Qualität eines Kunstwerks wird erwartet, dass die Biographie des Schöpfers nicht zu beanstanden ist . Zudem – und das ist Folge der grassierenden Identitätspolitik wie auch des blühenden Authentizitäts-Kultes – wird die Identität des Künstlers mit dem Sujet gleichgesetzt . Nach dieser Logik darf sich beispielsweise nur ein „schwarzer“ Künstler mit der Geschichte der Afroamerikaner befassen, nur ein Künstler „indianischer“ Abstammung dürfte sich mit dem kulturellen Erbe der amerikanischen Ureinwohner auseinandersetzen . So wurde Dana Schutz für ihr Gemälde Open Casket angegriffen, welches einen historischen Fall rassistischer Lynchjustiz behandelte . Als es 2017 im Rahmen der Whitney-Biennale in New York gezeigt wurde, kursierte die Forderung, Schutz möge ihr Bild selbst zerstören, da es die Gefühle von Afroamerikanern verletze . Der amerikanische Künstler Jimmie Durham wurde im gleichen Jahr von Künstlern aus dem Volk der Cherokee als Hochstapler bezeichnet, weil er entgegen eigenen Angaben gar kein Cherokee sei und somit überhaupt kein Recht habe, das Kulturerbe der Ureinwohner künstlerisch zu bearbeiten . Kernpunkt der Argumentation war, dass Durham keine genealogische Bindung zum Stamm nachweisen könne . Eine unglückliche Figur machte 2017 der Künstler Sam Durant, der den Forderungen von Dakota-Aktivisten nachkam, ihnen seine Skulptur Scaffold auszuliefern, damit sie das Werk verbrennen können . Sie behaupteten, durch diese künstlerische Arbeit ihrer Geschichte beraubt worden zu sein . Bereits zuvor hatte sich Durant inhaltlich mit der Geschichte der First Nations befasst, wie Durham aus einer empathischen Position heraus . Dieses Engagement wurde ihm übelgenommen . Durant gab sich anschließend seltsam geläutert, wie ein Verurteilter im stalinistischen Schauprozess: „Es war eine schmerzvolle Lektion, aber ich bin froh darüber, wie die Sache gelaufen ist,“ berichtete er Journalisten . Scaffold war noch 2012 auf der documenta ohne Beanstandungen einem großen Publikum gezeigt worden . Im Interview mit der FAZ erläuterte Durant, vor allem weiße Künstler müssten sich des historischen Kontextes ihrer Arbeit bewusster werden . Er fühle sich jedenfalls „nicht zensiert . Mir wurde klar, dass ich viel freier würde, wenn ich die Eigentumsrechte an die Dakota übertrage .“ Die geplante Verbrennung seiner Skulptur sei ein spiritueller, „heiliger Akt“ der Dakota und keineswegs mit den Bücherverbrennungen des Faschismus oder anderer Ikonoklasmen vergleichbar .115 Die Zerstörung des eigenen Werkes als moralischer Exorzismus, als antikoloniales Ritual – was Durant

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Die Weltwoche Nr . 32/2019, S . 8 . Interview in der FAZ 21 .6 .2017 .

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gezwungenermaßen tat, exerzierte der spanische Künstler Daniel G . Andujar auf der documenta 14 freiwillig . Er fabrizierte eine Installation namens Das trojanische Pferd aus Holzlatten und Pappmaché, um sie im Rahmen eines Rituals in Kassel zu verbrennen . Dargestellt war mittels weißer, z . t . klassizistisch anmutender Statuen „die Dominanz einer weißen, männlichen, kolonialen Kultur .“116 Wenn weiße männliche Künstler wie Andujar ihre eigenen Worte ernst nehmen würden, müssten sie sofort aufhören, sich in der Öffentlichkeit zu profilieren . Stattdessen versuchen sie durch derartige Argumentationen moralisches Kapital zu akkumulieren und ihre Marktchancen zu verbessern . Kleinen Gruppen und Einzelpersonen von Identitätslinken und Minderheitenaktivisten gelingt es immer wieder, den Eindruck zu erwecken, für eine große Zahl von Menschen zu sprechen . Social-Media-Mechanismen verstärken oftmals diesen Effekt . Im Fall des Gemäldes Open Casket war es eine Einzelperson, die britische Künstlerin und Kunstjournalistin Hannah Black, die die Debatte ins Rollen brachte, ihr offener Brief wurde von gerade einmal 34 Unterzeichnern unterstützt . Weil viele Amtsträger, Unternehmen und Institutionen einen Shitstorm fürchten, wächst die Gefahr eines intellektuellen Konformismus in der Kunst und in der akademischen Welt . Die österreichische Schriftstellerin Eva Menasse sprach von einem „permanent Verdächtig-Sein und Verdächtigt-Werden als Hauptmerkmal“ unserer Zeit: Verdiente Wissenschaftler, die als Nazis, Lyriker, die als Sexisten, Sprachforscher, die wegen ihrer Untersuchungen als Vorurteilsverbreiter diffamiert werden – in den meisten Fällen von Studenten, also jungen Menschen, die intelligent, gut ausgebildet, vernetzt und kreativ in ihren Protestformen sind, aber offenbar unfähig, ihre eigene militante Intoleranz zu erkennen .117

Im übrigen kann das gleiche Muster ebensogut in einem totalitären Kontext funktionieren: Die neuen Despotien Asiens und Osteuropas nutzen gerne die „verletzten Gefühle“ von religiösen oder patriotischen „Minderheiten .“ Deren Aktivisten werden de facto ermutigt, um gegen Künstler und Ausstellungsmacher vorzugehen . Anschließend „muss“ der Staat dann eingreifen, um fromme Menschen oder Patrioten zu schützen, die von „böser“ Kunst beleidigt und traumatisiert wurden . Gelegentlich gehen Militante in diesem gesellschaftlichen Klima auch direkt und gewaltsam gegen Kunst und Künstler vor im Wissen, von einer parteiischen Justiz geschont zu werden . Die von der Kunst beleidigte, empörte Minderheit ist dann nichts weiter als das Trojanische Pferd totalitärer Macht . Geht die Entwicklung so weiter, kann in den westlichen Demokratien eine „kulturelle Apartheid“ (eine Begriffsprägung des amerikanischen Philosophen Jason Hill) heraufziehen . Auch Francis Fukuyama sieht in diesem neuen „Tribalismus“ eine politische Gefahr: „Demokratische Gesellschaften zersplittern in

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HNA 23 .6 .2017 . Rede zur Eröffnung des 18 . Internationalen Literaturfestivals Berlin, nachgedruckt in: FAS 9 .9 .2018 .

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Segmente mit immer enger gefassten Identitäten, was die Möglichkeiten gesamtgesellschaftlicher Erwägungen und kollektiven Handelns zunehmend bedroht . Eine solche Entwicklung führt unweigerlich zum Kollaps und zum Scheitern des Staates .“118 Boris Groys sagte im Blick auf die USA, wo diese Entwicklung bereits weit vorangeschritten ist: Es herrscht eine solche Sprachlosigkeit, daß die verschiedenen Akteure nicht mehr miteinander kommunizieren können . Die einzige Möglichkeit, mit anderen zu kommunizieren, besteht darin, sie zu parodieren . Das Ende der Kultur, die Tatsache, daß der Gesprächsraum zerfallen ist, läßt eine Unversöhnlichkeit zutage treten .

Schon jetzt würde die amerikanische Gesellschaft nur noch „vom Marktgeschehen zusammengehalten .“119 Der österreichische Philosoph Robert Pfaller sieht in der heute parallel stattfindenden „ökonomischen Brutalisierung und kulturellen Sensibilisierung“ einen systematischen Zusammenhang120, auch andere Autoren erblicken in der Identitätspolitik ein neoliberales Ablenkungsmanöver, eine „kostenneutrale Symbolpolitik“, die die verschärfte kapitalistische Ausbeutung und Umverteilung nach oben kaschiere .121 Auffällig ist die Unausgewogenheit und Ungerechtigkeit linker Identitätspolitik, die sich als implizit rassistisch bezeichnen lässt . Mit den Worten Fukuyamas: „Linke Identitätspolitik neigte dazu, nur gewisse Identitäten anzuerkennen, andere hingegen zu ignorieren oder gar herabzusetzen, etwa die europäische (das heißt weiße) Ethnizität, das Christentum, die Landbevölkerung, traditionelle Familienwerte u . ä .“122 Offenbar misst sie mit zweierlei Maß: Während bestimmte Identitäten als „progressiv“ bewertet werden und durch einen historischen Opferstatus moralisch immunisiert werden, gelten andere Identitäten per se als reaktionär und verwerflich . Das wirft die grundsätzliche Frage auf: „Wie will man einer Mehrheitsgesellschaft die offensive Formulierung eines positiven Eigenbildes als rassistisch oder nationalistisch verwehren, die man jeder Minderheit als progressiven Akt zugesteht?“123 Unter dem Banner postkolonialer „Befreiung“ und „historischen Genugtuung“ von unterdrückten Gruppen findet eine zutiefst reaktionäre Entwicklung statt: Für die Identitätslinken zählt wieder die Abstammung des Menschen, die Hautfarbe . So berühren sich die rechten und

NZZ 15 .10 .2018 . Interview in Lettre International Winter 2015, S . 40 . Robert Pfaller, „Sprecht wie Mimosen, handelt wie Bestien! Identitätspolitik als Kulturprogramm der neoliberalen Erzeugung von Ungleichheit“, in: Johannes Richardt (Hg .), Die sortierte Gesellschaft . Zur Kritik der Identitätspolitik, Frankfurt 2018, S . 123–137, hier: S . 125 . 121 Nancy Fraser, „Für eine neue Linke oder: Das Ende des progressiven Neoliberalismus“, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 2/2017, S . 71–76 . 122 Francis Fukuyama, „Unvergleichlich ungerecht . Kampfplatz Kultur“, in: Cicero 2/2019, S . 103–110, hier: S . 109 . 123 Philip Manow, „Politischer Populismus als Ausdruck von Identitätspolitik? Über einen ökonomischen Ursachenkomplex“, in APuZ 25 .2 .2019, S . 33–40, hier: S . 37 . 118 119 120

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akademisch-linken Extreme in dem Punkt, dass sie eine unveränderliche Identität des Menschen voraussetzen und zu schützen vorgeben . Links und Rechts gibt es in diesem Sinne gar nicht mehr, im Geiste des neuen Kulturrassismus sind alle Rechts . Welche Rolle spielt die Kunst in der „identitätslinken Läuterungsagenda“?

Auf dem Gebiet der zeitgenössischen bildenden Kunst finden die gleichen ideologischen Auseinandersetzungen und Machtkämpfe statt, die das Klima in den geisteswissenschaftlichen Fächern der Universitäten seit Jahren prägen . Die Tübinger Migrationsforscherin Sandra Kostner hat 2019 in ihren Schriften und Medienbeträgen dafür die Begriffe „identitätslinke Läuterungsagenda“ und „Agendawissenschaftler“ eingeführt . Es hat sich gezeigt, dass die zeitgenössische Kunst, dass Großausstellungen wie die documenta, ein ideales Terrain für die Politik einer „identitätslinken Läuterungsagenda“ bilden . Kostner spricht von einer schädlichen gesellschaftlichen Wirkung linker Identitätspolitik . In den vergangenen Jahrzehnten habe sich eine schlagkräftige Symbiose von „Schuld- und Opferidentitäten“ gebildet . Letztere wäre ohne eine von „Schuld- und Opferentrepreneuren“ vorangetriebene „Läuterungsagenda“ nicht möglich gewesen . Während sich die Schuld-„Unternehmer“ für historische Diskriminierungen und Verbrechen verantwortlich erklären und durch Läuterungsdemonstrationen moralische Gewinne und damit einen Machtzuwachs erzielen wollten, ginge es den Agenten historisch benachteiligter Opfergruppen um Kompensationsansprüche (Quoten in Unternehmen und Institutionen) und damit letztlich ebenfalls um Machtzuwachs . Beide Seiten spielen sich die Bälle zu und gewinnen spiegelbildlich an gesellschaftlicher Bedeutung: Die Schuldentrepreneure suchen ständig nach Ungerechtigkeiten, die sie im Rahmen performativer Läuterungsdemonstrationen zu beseitigen trachten, die Opferentrepreneure erhalten ständig neue Gelegenheiten, diese Demonstrationen anzumahnen oder ihr Ausbleiben zu skandalisieren .124 Wer sich also als Opfer darstellt, hat es auf Macht abgesehen . Und wer sich schuldig bekennt, will moralische Läuterung und letztlich auch Macht in Rahmen dieser neuen gesellschaftlichen Dynamik . Eine wichtige Rolle bei diesen Vorgängen spielen die von Kostner so bezeichneten „Agendawissenschaftler“ – ein Begriff der in hohem Maße auch auf viele Kunstwissenschaftler, Kunstvermittler, Kuratoren und Künstler-Kuratoren zutrifft . Agendawissenschafter sehen sich als politische Wissenschaftler . Es geht ihnen weniger um empirische Forschung, sondern darum, mithilfe deduktiver Verfahren und Diskursprägungen in Forschung und Lehre bestimmte gesellschaftspolitische Vorstellungen zu verbreiten . Das erinnert an die damalige Strategie der K-Gruppen (und heutige

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Sandra Kostner, „Wie linke Identitätspolitik der Gesellschaft schadet“, in: FAZ 6 .5 .2019 .

Welche Rolle spielt die Kunst in der „identitätslinken Läuterungsagenda“?

Strategie der Muslimbrüder), statt einer offenen Revolution die Institutionen zu unterwandern und langfristig umzufunktionieren . Im Gegensatz zum kommunistischen Klassenkampf stehen heute diverse Gruppen und Minderheiten im Fokus der akademischen Linken, die die Moral als wirkungsvollste Waffe für sich entdeckt hat: Agendawissenschafter sehen sich als Werkzeug, um eine Gesellschaft zu schaffen, in der sich diese Identitätsgruppen ermächtigt fühlen, in der sie keine realen oder subjektiv empfundenen Nachteile erleben und in der ihre Gefühle vor jeglicher Verletzung geschützt sind . Das zur Ziehung roter Diskurslinien herangezogene Vokabular wurde über die Jahre immer moralgesättigter und wurde bewusst so konstruiert, dass es Anklänge an strafrechtsrelevantes Handeln hat .125

Mittlerweile sind es auch Studenten, die das agendawissenschaftliche Programm der etablierten Lehrkräfte radikalisieren und als Machtinstrument entdeckt haben . Manche spüren an ihren Universitäten Dozenten auf, deren Lehrinhalte oder Sprachgebrauch aus identitätslinker Sicht zu beanstanden sind und fordern Disziplinarmaßnahmen . Andere haben sich auf unliebsame Kunstwerke und historische Denkmäler auf dem Campus oder in Museen spezialisiert . „Die Anklage lautet stets“, so Kostner: „rassistisch, sexistisch, anschlussfähig an rechte Diskurse, femo-/homonationalistisch oder islamophob . Vorgebracht werden die Anschuldigungen über Social-Media-Accounts oder über Beschwerdebriefe an Leitungsebenen .“126 Wirksam ist hier das Denkmuster linker Identitätspolitik, die Menschheit in Träger von Opfer- und in Träger von Schuldidentitäten aufzuspalten . Die „Opfergruppen“ sollen gestärkt werden, die „Schuldgruppen“ moralisch geläutert werden, in dem sie ihre Schuld bekennen und büssen . So haben aus identitätslinker Sicht Männer ihre Läuterung gegenüber Frauen zu beweisen, Heterosexuelle gegenüber allen Anderssexuellen, Nichtmigranten gegenüber Migranten, Weiße gegenüber Nichtweißen und Christen gegenüber Muslimen . Um als geläutert zu gelten, reicht es für Träger von Schuldidentitäten nicht, individuell nachweisen zu können, dass sie nicht sexistisch, homophob, nationalistisch, rassistisch oder islamophob denken und handeln . Erst wenn alle Träger von Schuldidentitäten in keiner Weise mehr ein solches Denken und Handeln erkennen lassen, wird auch jeder Einzelne aus dem Schuldstatus entlassen . Dieses Abhängigkeitsverhältnis ist der Grund dafür, dass diejenigen, die nach Läuterung streben, versuchen, Druck auf diejenigen auszuüben, die sie als Angehörige ihrer Schuldgruppe sehen .127

Sandra Kostner, „Wenn Wissenschaftler eine Agenda verfolgen . Wie Macht und Moral an den Hochschulen die Erkenntnis zersetzen“, in: NZZ 13 .1 .2020 . 126 Ebenda . 127 Kostner, FAZ 6 .5 .2019 . 125

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In den letzten Jahren hat sich ein Mechanismus eingespielt, der sich wie ein Perpetuum mobile aus eigener Kraft immer weiter antreibt . Solange ein gesellschaftliches Bedürfnis nach Schuldeingeständnissen und Vergebung besteht, wird es für die selbsternannten Repräsentanten der „Opferseite“ lukrativ, immer neue Benachteiligungsindikatoren oder historische Altlasten zu eruieren und anzuprangern . Die so erlangten materiellen und moralischen Kompensationsleistungen stärken schließlich auch ihre Machtposition . Besonders wirkungsvoll ist dabei der von belegbaren Fakten abgelöste Begriff der „Gefühlsverletzungen“ oder möglicher Traumata bei „Opfern“, bei denen durch bestimmte Texte, Kunstwerke oder Begriffe emotionales Unbehagen oder Erinnerungen an Diskriminierungserfahrungen ausgelöst werden könnten . Die Folgen für die Debattenkultur liegen auf der Hand: Indem Gefühle zu Benachteiligungsindikatoren erhoben werden, wird die Palette der aus Läuterungsgründen dem ‚normalen‘ kritischen Diskurs entzogenen Themen ins nahezu Unendliche ausgedehnt . Dabei gilt: Die Behauptung eines ‚Opfers‘, dass jemand oder etwas, seine Gefühle verletzt habe, darf nicht hinterfragt werden, da dies zu einer weiteren Gefühlsverletzung führen könnte und so die Läuterung der Schuldseite in Zweifel zöge .128

Die Suche nach Benachteiligungen von Minderheiten wird auch in einer gleichberechtigten und sensiblen Gesellschaft paradoxerweise niemals enden – weil das gesteigerte Bewusstsein immer neue und feinere Nuancen von Diskriminierungen aufspürt . Zudem ist das häufige Problematisieren von Ungerechtigkeiten auch eine Folge von gesteigerten Teilhabemöglichkeiten vormals marginalisierter Minderheiten, die nun mitreden und mitbestimmen . So kommt es, dass in den – historisch betrachtet – egalitärsten und sensibelsten Gesellschaften eine „skandalös“ hohe oder steigende Zahl von Diskriminierungen gemeldet wird . Aladin El-Mafaalani hat dies als „Integrationsparadoxon“ beschrieben .129 Zudem kann das Fortbestehen oder erneute Auftauchen rechtsextremer Kräfte als Legitimierung und zugleich als Bedrohung der identitätslinken Läuterungsagenda gelten . Der „Kampf gegen Rechts“ wird zum Disziplinierungsinstrument für Kunst und Wissenschaft . Neben aktuellen Diskriminierungen und dem Auftauchen rechtsextremer Bedrohungen bildet die Geschichte die dritte Hauptressource der identitätslinken Läuterungsagenda . Hier steht vor allem die Geschichte des Nationalsozialismus und der Kolonialismus im Vordergrund . Historische Schuld, mangelnde Aufarbeitung und mangelnde heutige Wertschätzung der Opfer (und ihrer Nachkommen) sind dabei die Grundbausteine für zahllose Publikationen, Demonstrationen, Konferenzen, Gedenk- und Kunstobjekte . Die Beschreibung, die Kostner für die Geisteswissenschaften vorgenommen hat, passt in gleicher Weise zu den Kunstakademien und dem Ausstellungsbetrieb der Ebenda . Aladin El-Mafaalani, Das Integrationsparadoxon . Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt, Köln 2018 . 128 129

Welche Rolle spielt die Kunst in der „identitätslinken Läuterungsagenda“?

Gegenwartskunst . Auch hier wird das Denkmuster linker Identitätspolitik weitgehend geteilt, die Menschheit in Träger von Opfer- und in Träger von Schuldidentitäten aufzuspalten . Die „Opfergruppen“ sollen gestärkt werden, die „Schuldgruppen“ moralisch geläutert werden, in dem sie ihre Schuld bekennen und büßen . Die letzten documenta-Ausstellungen haben diese Zusammenhänge beispielhaft verdeutlicht . So sollte das Thema des Nationalsozialismus zum zentralen Element der Läuterungsagenda der 13 . documenta werden . „Die documenta 13“, so die Chefkuratorin Christov-Bakargiev (CCB), „betrachtet traumatische Momente, Wendepunkte, Unfälle, Katastrophen und Krisen“ im Weltgeschehen .130 Kassel ist relativ arm an repräsentativen NS-Gedenkstätten, es gab kein großes KZ oder andere bedeutende authentische Orte des NS-Regimes in der Nähe . Einzig im ehemaligen Benediktinerkloster Breitenau in Guxhagen, das schon im 19 .  Jahrhundert zum Gefängnis umfunktioniert wurde, saßen 1933/34 einige Hundert politische Häftlinge ein, im Krieg wurde ein Arbeitslager daraus, in dem Zwangsarbeiter für jeweils einige Wochen inhaftiert waren . Nach dem Krieg wurde es eine Erziehungsanstalt . CCB verpflichtete alle documenta-Künstler vorab, die Gedenkstätte Breitenau für „grundlegende Recherchen“ zu besichtigen . Breitenau sei „ein Geisterraum, der für die gesamte Erzählung und den Denkprozess der Ausstellung von Anfang an entscheidend war . Breitenau“, fabulierte CCB, „ist das andere Kassel, das Unbewußte der documenta 13, wo auf der grauenhaften Schattenseite der Gesellschaft über Generationen hinweg Unterdrückung und Maßregelung praktiziert wurde .“131 Trotz der Vorgaben der Chefkuratorin wurde das Thema der historischen Schuld bei der 13 . documenta nicht dominant, was daran lag, dass sich relativ wenig Künstler darauf einließen, und dass sich die Gedenkstätte außerhalb Kassels befand . Dafür würde die nächste documenta zum beispielhaften Bildprogramm einer identitätslinken Läuterungsagenda . Zahlreiche Kunstwerke der documenta 14 befassten sich mit historischer Schuld, appellierten an Schuldgefühle der Betrachter, stellten Persönlichkeiten und Institutionen in historisch belastete Zusammenhänge . Hier war beispielhaft Antonio Vega Macotelas Blutmühle zu nennen . Sie bestand aus dem funktionsfähigen Nachbau einer kolonialspanischen Münzprägemaschine aus dem 16 . Jahrhundert, die in Peru von Sklaven bedient worden war . An einem anderen Ausstellungsort wurden historische Medaillen präsentiert, die 1906 in den USA zum Andenken bestimmter Lynchmordaktionen geprägt worden waren . Artur Zmijewski drehte einen Schwarz-Weiß-Film über das französische Flüchtlingslager Calais mit Anklängen an historische Fotografien aus der Warschauer Ghetto . Daniel Knorrs Disco-Nebelgeneratoren auf dem Turm des Fridericianums, die Nebelfluid in weißen Rauch verwandelten, sollten laut seiner Aussage u . a . Assoziationen an Bücherverbrennungen und KZ-Krematorien wecken . Ein eigenhändiges Aquarell Arnold Bodes 130 Carolyn Christov-Bakargiev, Essay „Der Tanz war sehr frenetisch, rege, rasselnd, rollend, verdreht und dauerte eine lange Zeit“ Pressematerialien documenta (13), Kassel 2012, S . 3 . 131 Ebenda S . 8 .

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mit dem Titel Verdun aus dem Jahr 1940 stellte den documenta-Gründer in den Kontext des Eroberungskrieges gegen Frankreich, während Pjotr Uklanski ein Soldatenfoto von Beuys in seine Galerie von Real Nazis einordnete, und den Künstler auf diese Weise mit Himmler und Hitler gleichstellte . Grimmsche Märchenmotive bekamen einen neuen Kontext in Gestalt von Wandmalereien des jüdischen Künstlers Bruno Schulz, die dieser im Auftrag eines SS-Offiziers für dessen Kinderzimmer anfertigen musste . Der weniger bekannte dritte Grimm-Bruder, der Zeichner Ludwig Emil, wurde durch die Auswahl von Arbeiten mit den Titeln Mulatten, Zigeunerleben oder Mohrentaufe in ein belastendes semantisches Umfeld gerückt . Ein restituiertes Gemälde von Max Liebermann Zwei Reiter am Strand wurde gezeigt, Maria Eichhorn präsentierte Bücherregale voller Bände aus jüdischem Besitz, die die Berliner Stadtbibliothek widerrechtlich erworben hatte und gründete anlässlich der documenta ein fiktives Institut Rose Valland, das „unrechtmäßige Besitzverhältnisse in Deutschland“ erforschen solle . Die Langsamkeit und Unvollständigkeit des Restitutionsprozesses wurde damit expressis verbis beklagt . Und summa summarum könnte die Verlagerung der documenta nach Athen auch als Reparation für deutsche Verbrechen im Zweiten Weltkrieg oder als Bestrafung für die intransigente Haltung Deutschlands in der griechischen Schuldenkrise konzipiert worden sein . Mehrere Fakten deuteten darauf hin: Während der Pressekonferenz zur documenta-Eröffnung in Kassel wurden die deutschen documenta-Repräsentanten demonstrativ in den Zuschauersaal verbannt, während die griechische Kulturministerin in der Mitte des Podiums einen Ehrenplatz erhielt . Neben dieser Herabwürdigung war die komplette Räumung des zentralen Ausstellungsgebäudes, des Fridericianums, ein demonstrativer Akt . Im Gebäude wurde die Sammlung des EMST gezeigt . Und als verdeckte Reparationszahlung darf schließlich die Tatsache gelten, dass ein überraschend großer Teil des Etats in Athen ausgegeben wurde (und bis heute nicht nachvollziehbar verbucht worden ist) . Auch die nächste documenta scheint wesentliche Elemente der identitätslinken Läuterungsagenda aufzunehmen . Im Kurzkonzept der documenta 15 kündigte das Kuratorenteam Ruangrupa an: „Wenn die documenta in der edlen Absicht gegründet wurde, europäische Wunden der Nachkriegszeit zu heilen, sollten wir dann nicht die Absicht darauf erweitern, Gebiete zu heilen, die an anderen Wunden leiden, die im Kolonialismus, im Kapitalismus, der Abgeschiedenheit und im Patriarchalismus ihre Wurzeln haben?“ Am Ausstellungsstandort Kassel wollen sie sich konzentrieren auf Themen wie „alternative Bildung, regenerative Ökonomiemodelle und die Bedeutung von Kunst in der sozialen Praxis“, wobei „Schulen, Universitäten, Banken, Krankenhäusern u . a .“ einbezogen werden sollen .132 Als documenta-Zentrale wurde die seit Jahren leerstehende Filiale der „Sport-Arena“ in der Innenstadt auserkoren . Parallel zur Vorbereitung der 15 . documenta avancierte die Frühgeschichte der documenta zur his-

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Kurzkonzept documenta 15 . Pressematerial PK documenta-Halle Kassel 22 .2 .2019 .

Ausblick: Die Feinde der Kunst im 21. Jahrhundert

torisch belasteten und dringlichst aufarbeitungspflichtigen Ressource für Kunstwissenschaftler und Künstler . Einige Kunstwissenschaftler, darunter Julia Friedrichs und Bernhard Fulda, hatten 2019 bei einer Tagung in Deutschen Historischen Museum in Berlin im Blick auf die Biographie und das Ausstellungskonzept Haftmanns behauptet, dass die erste documenta keineswegs eine radikale Gegenausstellung zur Schau „Entartete Kunst“ gewesen sei . Werke wichtiger Exilkünstler und Holocaustopfer wären 1955 in Kassel ausgesperrt geblieben . Vielmehr wäre die Schau als nationale Heilung angelegt worden, mit Blick auf die Versöhnung der Deutschen mit sich selbst . „Die documenta als Medium der Rollenverschiebung vom Täter zum Opfer“ sei letztlich ein Instrument skandalöser Verdrängungspolitik gewesen . Zudem wurde problematisiert, dass Haftmann und andere führende documenta-Beteiligte NSDAP-Mitglieder gewesen seien .133 Nun ist die Geschichte der documenta selbst in den Fokus der Schuldentrepreneure geraten: „Die documenta muss auf die folgenreiche Neubewertung ihrer Anfangsjahre reagieren“, forderte der Kunstjournalist Ingo Arend, „das neu geschaffene documenta-Institut wird sich dieser Frage genauso annehmen müssen wie die 15 . documenta . Nur dann kann die Weltkunstschau glaubwürdig bleiben“ .134 So wird die identitätslinke Läuterungsagenda auch in der Aufarbeitung der documentaGeschichte reichlich Nahrung finden . Ohne Zweifel werden hier zahllose historische „Belastungen“ und empörende „Diskriminierungen“ zu finden sein . Ausblick: Die Feinde der Kunst im 21. Jahrhundert. Das Zusammenwirken von identitätslinker Läuterungsagenda und legalistischem Islamismus

Während die Gegenwartskunst in Russland, in der Türkei und in etlichen arabischen und asiatischen Ländern höchst realer staatlicher Repression, nationalistischer und religiöser Reaktion ausgesetzt ist, kann man keineswegs von einer massiven Gefährdung der deutschsprachigen und westeuropäischen Kunstszene durch Rechtspopulisten und Rechtsextremisten sprechen . Tatsächlich sind der Kunstbetrieb, die Hochschullandschaft, die Kulturpolitik und die Feuilletonredaktionen in allen westeuropäischen Ländern weiterhin zu annähernd Einhundert Prozent Domänen linker, liberaler und kosmopolitischer Diskurse und Positionen . Dezidiert rechte Künstler, Kulturzentren, Galerien oder Kunststiftungen sind bis auf wenige Ausnahmen wie etwa die italienische Casa Pound kaum vorhanden und erreichen allenfalls ein Nischenpublikum . Rechtspopulisten und Rechtsextremisten wirken in der Regel kulturpolitisch und argumentativ wenig versiert . Die bildende Kunst erscheint ihnen offensichtlich 133 Haftmann wurde erst 1937 NSDAP-Mitglied, Hentzen 1941 . Kunstforum international Bd . 265 Januar 2020, S . 328 . 134 Ebenda .

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Kapitel VI Die Freiheit der Kunst und ihre Feinde

als politischer Nebenschauplatz, wo wenig zu holen ist . Auch Linke und Linksextremisten setzen sich kaum mit dem Geschehen auf dem zeitgenössischen Kunstmarkt auseinander . So bleibt der Kunstbetrieb in politischer und sozialer Hinsicht bis auf weiteres eine Monokultur mit Tendenz zu einer weitergehenden Intellektualisierung und Elitisierung . Seine führenden Vertreter – Kuratoren, Künstler, Museumsdirektoren – gehören einer global ausgerichteten Bourgeoisie an, stellen sich, wie beschrieben, aber gerne als Interessenvertreter von unterprivilegierten Minderheiten dar (Stichworte: identitätslinke Läuterungsagenda, Inklusionsprogramme, Ansprechen eines bildungsfernen Publikums) . Weitere Legitimation, Solidarität und gesellschaftliche Relevanz kann das linksliberale Kunst-Establishment dadurch erlangen, indem es das Bedrohungsszenario durch Rechtsextremismus oder Rechtspopulismus überbetont und Kunst & Kultur als Opfer jener Umtriebe in den Vordergrund stellt . „Eine neue Debatte über den Wert von Kunst und den Wert von Kunstwerken muss sich über das Tabu hinwegsetzen, Kunst zu gefährden“, hatten die linken Kritiker Metz und Seeßlen gefordert: „So wie wir es uns angewöhnt haben, die Praxis von Demokratie und Postdemokratie nicht zu heftig zu kritisieren, so haben wir es uns angewöhnt, den Kunstbetrieb und seine Kunst nicht zu heftig zu kritisieren, weil sonst die Banausen kommen .“135 Mit dem Warnruf, die Freiheit der Kunst werde von Rechts bedroht, kann jede Kritik am Kunst-Establishment diskreditiert werden, und zugleich können bestehende Privilegien, Etats, Fördermittel und Planstellen um so besser gesichert werden . Möglicherweise aber geht mittel- und langfristig die größte Bedrohung von freier Kunst und freier Wissenschaft von einer neuartigen, bislang wenig beachteten politischen Allianz aus . Diese könnte in Zukunft weit gefährlicher werden als traditionelle rechtsextreme, katholische oder linksextreme Ansätze, Kunst und Kultur zu reglementieren . Es ist die Synthese von identitätslinker Läuterungsagenda und legalistischem Islamismus, die die Kultur- und Bildungspolitik der Zukunft auf ihre Weise prägen könnte . Die Schweizer Politikwissenschaftlerin und Menschenrechtsaktivistin Elham Manea beklagt das in westlichen Gesellschaften verbreitete „essentialistische Prisma“, das kulturell bedingte Sonderrechte für bestimmte Gruppen einfordert und Islamisten zu authentischen Sprechern aller Muslime mache: Es gibt vier essentialistischen Typen, die durch ihre teilweise ideologische, teilweise opportunistische Motivation und teilweise auch aus reiner Naivität dem Islamismus Vorschub leisten . Diese finden sich insbesondere in akademischen Kreisen, unter traditionsverhafteten Gläubigen, unter Antikapitalisten/Globalisierungsgegnern und unter Politikern . Den essentialistischen Intellektuellen begegnen wir in akademischen Kreisen .

135 Markus Metz und Georg Seeßlen, Geld frisst Kunst, Kunst frisst Geld“ . Ein Pamphlet, Berlin 2014, S . 471 ff .

Ausblick: Die Feinde der Kunst im 21. Jahrhundert

Als Produkte von postkolonialen und postmodernen Paradigmen können sie links oder liberal sein .“136

Essentialistische Intellektuelle legitimieren nicht selten islamistische Forderungen wie die Einführung der Scharia in westlichen Gesellschaften . Traditionsverhaftete essentialistische Gläubige hingegen unterstützen den Vormarsch des Islam aus anderen Gründen . Sie erhoffen sich davon positive Nebeneffekte für ihre Glaubensrichtung, wenn die Gesellschaft ihren säkularen Charakter allmählich einbüßt . Essentialistische Antikapitalisten hingegen sehen die Islamisten als Verbündete gegen „Kapitalismus“ und „Imperialismus“, die Muslime gelten ihnen als unterdrückte „Klasse“, vielleicht sogar als neues „revolutionäres Subjekt“ . Opportunistische Politiker schließlich – vor allem auf kommunaler Ebene – schätzen Zweckbündnisse mit Islamisten, weil diese zuverlässig Wählerstimmen liefern können . Sie sind gut organisiert und können ihre Klientel mobilisieren . Im Gegenzug bekommen die Islamisten Posten und Einflußmöglichkeiten in den Gemeinden .137 Durch Bündnisse von salafistischen Vereinen mit kommunistischen Politikern und Stadtverwaltungen sind bereits rund 150 französische Kommunen in die Hände von Islamisten gefallen, stellte ein Bericht des Inlandsgeheimdienstes fest .138 In Frankreich ist das Ineinandergreifen von identitätslinker Läuterungsagenda und legalistischem Islamismus am weitesten gediehen . Im Herbst 2018 ertönte ein Weckruf von 80 Intellektuellen im Magazin Le Point, die vor der kulturellen Hegemonie eines „Dekolonialismus“ warnten, der ursprünglich aus aus akademischen Postcolonial Studies hervorgegangen sei, nun aber von mehreren Dutzend Organisationen139 verbreitet werde, die auch an Universitäten, Theatern und Museen vertreten seien .140 Dort verbreiteten sie neue Dogmen, die im Kern totalitär und rassistisch seien, etwa der Kampf gegen die „Blanchité“ und Islamophobie – je-

Elham Manea„Wie das Schuldbewußtsein ‚der Weißen‘ dem Islamismus Vorschub leistet“, in: Sandra Kostner (Hg .), Identitätslinke Läuterungsagenda . Eine Debatte zu ihren Folgen für Migrationsgesellschaften, Stuttgart, 2019, S . 221–253, hier S . 227 . 137 https://www .lepoint .fr/societe/bernard-rougier-l-islamisme-est-un-projet-hegemonique-02-012020-2355726_23 .php (3 .1 .2020) . Vgl . a . Bernard Rougier, Les territoires conquis de l’islamisme, Paris 2020 . 138 https://actu17 .fr/islamisme-la-dgsi-a-repertorie-150-quartiers-sous-lemprise-de-lislam-radical/ (20 .1 .2020) . 139 Parti des Indigènes de la République, Collectif contre l’islamophobie en France, Marche des femmes pour la dignité, Marches de la dignité, Camp décolonial, Conseil représentatif des associations noires, Conseil représentatif des Français d’outre-mer, Brigade antinégrophobie, Décoloniser les arts, Les Indivisibles (Rokhaya Diallo), Front de mères, collectif MWASI, collectif Non MiXte .s racisé .e .s, Boycott désinvestissement sanctions, Coordination contre le racisme et l’islamophobie, Mamans toutes égales, Cercle des enseignant .e .s laïques, Les Irrécupérables, Réseau classe/genre/race . 140 Collège de France, Institut d’études politiques, Ecole normale supérieure, CNRS, EHESS, université Paris-VIII Vincennes-Saint-Denis, université Paris-VII Diderot, université Panthéon-Sorbonne Paris-I, université Lumière-Lyon-II, université Toulouse-Jean-Jaurès . Philharmonie de Paris, Musée du Louvre, Centre dramatique national de Rouen, Mémorial de l’abolition de l’esclavage, Philharmonie de Paris, musée du Louvre, musée national Eugène-Delacroix, scène nationale de l’Aquarium . 136

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Kapitel VI Die Freiheit der Kunst und ihre Feinde

ner neuen Formel, die jegliche Kritik am Islam als „rassistisch“ und potentiell strafbar brandmarkt . „La situation est alarmante“ kommentierte die Zeitschrift, „Le pluralisme intellectuel que les chantres du decolonialisme cherchent а neutraliser est une condition essentielle au bon fonctionnement de notre democratie .“141 Bereits jetzt bekommen in West- und Mitteleuropa Wissenschaftler den Machtwillen dieser neuen ideologischen Querfront zwischen akademischen Linken und religiösen Rechten zu spüren . „Wer den politischen Islam bekämpft und Identitätspolitik für einen Irrweg hält, gilt in sogenannten progressiven Kreisen per se als rassistisch“, schreibt der in der Schweiz lebende Schriftsteller Kacem El Ghazzali über die fatale Allianz von reaktionären Islamisten und linken Europäern . Letztere würden inzwischen den „Hijab als das repräsentative Symbol des muslimischen Kollektivs“ akzeptieren . Liberale Muslime seien hingegen „ein Rotes Tuch für westliche Progressive, weil sie nicht in ihr Bild des hyperreligiösen homo islamicus passen .“142 Es leuchtet ein, dass Salafisten und dschihadistische Bilderstürmer weithin als Bedrohung für die Freiheit der Kunst gelten . Doch es ist schwer vorstellbar, dass sie in Zukunft breite Mehrheiten überzeugen . Für die zukünftige gesellschaftliche Akzeptanz und Rezeption von Kunst ist die Kunstauffassung des legalistischen Islamismus von viel größerer Bedeutung . Dieser gewaltfreie Weg zur Errichtung einer islamischen Ordnung in Europa wurde in den 1980er Jahren in den Muslimbruderschaften konzipiert und hat bis heute schon eine gute Strecke zurückgelegt . Mittlerweile gibt es in Europa ein dichtes Netzwerk von Organisationen, Vereinen, Moscheen, Sozial- und Bildungseinrichtungen, die Einfluss auf Gesellschaft und Politik ausüben . „Im Unterschied zum Salafismus präsentiert sich der legalistische Islamismus nach außen modern . Seine Vertreter und Vertreterinnen sind gebildet, eloquent und rhetorisch geschult“, haben die Politikwissenschaftler Heiko Heinisch und Nina Scholz beobachtet: „Man umgibt sich mit einer demokratischen Fassade, geschmückt mit Diversitätsappellen und Gendersternchen, neuerdings auch Umweltbewußtsein, während nach innen oft genug fundamentalistisch und demokratiefeindlich kommuniziert wird .“143 Dass diese Entwicklung in Frankreich schon viel weiter vorangeschritten ist, bestätigt der algerische Schriftsteller Boualem Sansal: Viele Islamisten sind im Bürgerkrieg nach Frankreich geflohen . Sie haben die Banlieues und einzelne Quartiere großer Städte unter ihre Kontrolle gebracht . Aber auch Institutionen, Fakultäten . Sie sind im Fernsehen, sie verhandeln mit den Regierungen, geben sich gesittet und gemäßigt . Mit dem primitiven Islamismus haben ihre neuen Methoden der Einflußnahme nichts mehr zu tun .

141 https://www .lepoint .fr/politique/le-decolonialisme-une-strategie-hegemonique-l-appel-de-80-intel lectuels-28-11-2018-2275104_20 .php (8 .1 .2020) . 142 NZZ 21 .9 .2019 . 143 FAZ 12 .9 .2019 . S . a . Heiko Heinisch und Nina Scholz, Alles für Allah . Wie der politische Islam unsere Gesellschaft verändert, Wien 2019 .

Ausblick: Die Feinde der Kunst im 21. Jahrhundert

Selbst im Bürgerkriegsland Algerien sei diese Taktik zu beobachten: „Die Islamisten haben den Bürgerkrieg verloren, aber den Kulturkampf gewonnen . Die Attentate auf Intellektuelle und Künstler gehören nicht mehr zu ihren bevorzugten Methoden . […] Der Islamismus ist intelligenter und gefährlicher geworden . Er erobert die Köpfe . Er spielt in der Politik mit, er kümmert sich um die Kultur .144 Hier handelt es sich offensichtlich um ein international verbreitetes taktisches Verhalten, das auf größere gesellschaftliche Akzeptanz und auf mögliche Bündnisse mit Liberalen, Grünen und Identitätslinken zielt . Verbindendes Element ist dabei das von den islamistischen Bewegungen gepflegte Opfernarrativ, nach dem Muslime zu allen Zeiten und verstärkt in der Gegenwart eine verfolgte und unterdrückte Gemeinschaft gewesen seien . Einen aufsehenerregenden „Erfolg“ konnte diese Taktik kürzlich in Berlin verbuchen, als es gelang, dem Jüdischen Museum und dem Zentrum für Antisemitismusforschung Kooperationspartner aus dem Spektrum der Muslimbruderschaft zu vermitteln .145 Unverändert gilt der Ägypter Sayyud Qutb (gest . 1966) bis heute als Chefideologie und Inspirator der Muslimbruderschaft . In seinem programmatischen Buch Wegzeichen definierte er den Anspruch auf die umfassende Kontrolle von Staat und Gesellschaft durch den Islam als eines der Hauptziele der politischen Bewegung der Muslimbruderschaft .146 Selbstverständlich sind hier Medien und Kunst miteingeschlossen, folglich wird auch die Kontrolle über Museen und Kunstakademien angestrebt . Aufgrund erfolgreicher Missionierung, Zuwanderung und der demografischen Entwicklung wird in den nächsten Jahrzehnten in fast allen europäischen Ländern der muslimische Bevölkerungsanteil wachsen . Das Selbstbewusstsein muslimischer Communities und ihrer Repräsentanten wird sich auch in Forderungen nach kultureller Teilhabe und Mitbestimmung in staatlichen und kommunalen Kulturinstitutionen ausdrücken . In diesem Kontext kann sich auch der Einfluss des legalistischen Islamismus auf Politik, Kultur und Kunst weiter ausdehnen . Wenn ihm nicht entschlossen auf politischer und gesellschaftlicher Ebene begegnet wird, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass es im Bereich der bildenden Kunst zu politischen Kampagnen, Konflikten und Fällen von vorsorglicher Selbstzensur kommen wird – Zeichen für einen schleichenden Verlust der künstlerischen Freiheit sind bereits jetzt in Sicht .

144 145 146

FAZ 11 .3 .2019 . FAZ 20 .2 .2020 . Sayyud Qutb, Ma’alim fi al-tariq, Kairo 1964 .

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Quellen und Archivbestände

documenta-Archiv Kassel Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde Archiv Hessische Allgemeine / Hessisch-Niedersächsische Allgemeine (online) Zentralarchiv der Staatlichen Museen Berlin Stiftung Archiv der Akademie der Künste Berlin documenta-Kataloge 1–14 Kataloge der Allgemeinen Deutschen Kunstausstellung / Kunstausstellung der DDR I–X Goldenes Besucherbuch Stadt Kassel

Literatur bis 1945

Friedrich Adolf Ackermann, Der Kunsthandel . Plaudereien, Leipzig 1896 . Albrecht Haupt, Die kranke deutsche Kunst . Von einem Deutschen, Leipzig 1911 . Wilhelm Lübke, Die moderne französische Kunst, Stuttgart 1872 . Julius Meier-Graefe, Courbet, München 1921 . Museum of Modern Art, German painting and sculpture (Katalog), New York 1931 . Emil Nolde, Jahre der Kämpfe, Berlin 1934 . Friedrich Pecht, Kunst und Kunstindustrie auf der Wiener Weltausstellung 1873, Stuttgart 1873 . Hans Prinzhorn, Bildnerei der Geisteskranken, Berlin 1922 . Paul Renner, Kulturbolschewismus? Zürich 1932 (ND Frankfurt 2003) . Alfred Rosenberg, Revolution in der bildenden Kunst, München 1934 . Paul Schultze-Naumburg, Der Kampf um die Kunst, München 1932 . Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes . Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte . Band 1 Gestalt und Wirklichkeit, München 1923 . Henry Thode, Die deutsche bildende Kunst, Heidelberg o . J . (vermutlich um 1905) . Heinrich Wölfflin, Deutsches und italienisches Formempfinden, München 1931 . Wilhelm Worringer, Formprobleme der Gotik, München 1911 .

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Verzeichnisse

Literatur ab 1945

Theodor W . Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt 1970 . Götz Adriani, Bordell und Baudoir . Schauplätze der Moderne, Ostfildern-Ruit 2005 . Albert Alhadeff, The raft of the Medusa . Gericault, Art and race, New York 2006 . Markus Appel (Hg .), Die Psychologie des Postfaktischen, Heidelberg 2019 . Elea Baucheron und Diane Routex, Skandal Kunst . Zensiert . Verboten . Geächtet, München 2013 . Tierry Baudet, Oikophobie . Der Hass auf das Eigene und seine zerstörerischen Folgen, Graz 2017 . Beatrice Baumann, Max Sauerlandt . Das kunstkritische Wirkungsfeld eines Hamburger Museumsdirektors 1919–1933, Hamburg 2002 . Jana Baumann, Museum als Avantgarde . Museen und Kunst in Deutschland 1918–1933, München 2016 . Tayfun Belgin (Hg .), Triumph der Schönheit, Wien 2006 . Georg Bollenbeck, Tradition . Avantgarde . Reaktion, Frankfurt 1999 . Rolf Bothe und Thomas Föhl (Hg), Aufstieg und Fall der Moderne, Weimar 1999 . Steffen Burkhardt, Medienskandale . Zur moralischen Sprengkraft öffentlicher Diskurse, Köln 2006 . Michael Butter, Nichts ist, wie es scheint . Über Verschwörungstheorien, Berlin 2018 . Katalog Brücke-Museum Berlin „Flucht in die Bilder . Die Künstler der Brücke im Nationalsozialismus“, München 2019 . Magdalena Bushart, Der Geist der Gotik und der Expressionismus . Kunstgeschichte und Kunsttheorie 1911–1925, München und Berlin 1990 . Lorenz Dittmann, Kategorien und Methoden der Kunstgeschichte 1900–1930, Stuttgart 1985 . Aladin El-Mafaalani, Das Integrationsparadoxon . Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt, Köln 2018 . Hans Eichel (Hg .), 60 Jahre documenta . Lokale Geschichte einer Globalisierung, Berlin 2015 . Dagmar Fenner, Was kann und was darf Kunst? Frankfurt 2013 . Jens Malte Fischer, Richard Wagners ‚Das Judentum in der Musik‘, Frankfurt 2000 . Richard Florida, The Rise of the Creative Class, New York 2002 . Georg Franck, Ökonomie der Aufmerksamkeit . Ein Entwurf, München 1998 . Julia Friedrich u . a . (Hg .), „So fing man einfach an, ohne viele Worte .“ Ausstellungswesen und Sammlungspolitik in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, Berlin 2013 . Thomas Gaethgens und Uwe Fleckner (Hg), Prenez garde a la peinture . Kunstkritik in Frankreich . 1900–1945, Berlin 1998 . Jürgen Gerhardts (Hg .), Soziologie der Kunst, Opladen 1997 . Andre Gide, Gesammelte Werke II, Frankfurt 1990 . Eckhart Gillen, Kunstkombinat DDR . Zäsuren einer gescheiterten Kunstpolitik, Köln 2005 . K . O . Götz, Erinnerungen und Werk, Bd . 1, Düsseldorf 1983 . Ronald Grätz (Hg .), Zwischenräume . Was können die Künste in Konfliktsituationen leisten? Göttingen, 2012 . Walter Grasskamp (Hg .), Unerwünschte Monumente . Moderne Kunst im Stadtraum, München 1989 . Christophe Guilluy, La fin de la classe moyenne occidentale, Paris 2018 . Andrea Hausmann (Hg .), Handbuch Kunstmarkt, Bielefeld 2014 . Thomas Hecken, Gegenkultur und Avantgarde 1950–1970 . Situationisten, Beatniks, 68er, Tübingen 2006 .

Literatur ab 1945

Heiko Heinisch und Nina Scholz, Alles für Allah . Wie der politische Islam unsere Gesellschaft verändert, Wien 2019 . Alfred Hentzen, Die Nationalgalerie im Bildersturm, Berlin 1971 . Jost Hermand u . a ., Die Kultur der Weimarer Republik, München 1978 . Werner Hofmann, Wie deutsch ist die deutsche Kunst? Leipzig 1999 . Meike Hoffmann und Nicola Kuhn, Hitlers Kunsthändler . Hildebrand Gurlitt 1895–1956, München 2016 . Richard Hofstadter, Anti-Intellectualism in American Life, New York 1963 . Harald Jähner, Wolfszeit . Deutschland und die Deutschen 1945–1955, Berlin 2019 . Petra Jacoby, Kollektivierung der Phantasie? Künstlergruppen in der DDR zwischen Vereinnahmung und Erfindungsgabe, Bielefeld 2007 . Birgit Jooss u . a . (Hg .), Bauhaus/documenta . Vision und Marke, Leipzig 2018 . Harald Kimpel (Hg .) documenta emotional . Erinnerungen an die Weltausstellungen, Marburg 2012 . Ross King, The Judgement of Paris . Manet, Meissonier and the artistic revolution, London 2006 . Felix Klee (Hg .), Paul Klee, Tagebücher 1898–1918, Köln 1957 . Stefan Koldehoff, Van Gogh . Mythos und Wirklichkeit, Köln 2003 . Der Koran (Übersetzung: Ludwig Ullmann), München 1959, 13 . Auflage 1982 . Sandra Kostner (Hg .), Identitätslinke Läuterungsagenda . Eine Debatte zu ihren Folgen für Migrationsgesellschaften, Stuttgart, 2019 . Wolfgang Kraushaar, Die 68er Bewegung, Stuttgart 2018 . Gerd Krumeich, Die unbewältigte Niederlage, Freiburg 2018 . Kulturamt der Stadt Kassel (Hg .), Aversion/Akzeptanz . Öffentliche Kunst und öffentliche Meinung: Außeninstallationen aus documenta-Vergangenheit, Marburg 1992 . Lothar Lang, Ein Leben für die Kunst, Leipzig 2009 . Ludwig Leiss, Kunst im Konflikt . Kunst und Künstler im Widerstreit mit der Obrigkeit, Berlin 1971 . Per Leo, Der Wille zum Wesen . Weltanschauungskultur, charakterologisches Denken und Judenfeindschaft in Deutschland 1890–1940, Berlin 2013 . Winfried Löschburg, Leere Bilderrahmen, geköpfte Tempelgötter . Kunstdiebstähle der letzten Jahrzehnte, Berlin 2000 . Konrad Paul Liessmann, Das Universum der Dinge . Zur Ästhetik des Alltäglichen, Wien 2010 . Bernd Lindner, Verstellter, offener Blick . Eine Rezeptionsgeschichte bildender Kunst im Osten Deutschlands 1945–95, Köln 1998 . Rachel Mader (Hg .), Radikal-Ambivalent . Engagement und Verantwortung in den Künsten heute, Zürich 2014 . Fabrice Masanès, Gustav Courbet . Der letzte Romantiker, Köln 2006 . Reinhard C . Meier-Walser u . a . (Hg .), Organisierte Kriminalität, München 1999 . John Henry Merryman, Albert Edward Elsen, Law, ethics, and the visual arts, London 2002 . Markus Metz und Georg Seeßlen, Geld frisst Kunst, Kunst frisst Geld . Ein Pamphlet, Berlin 2014 . Ministerium für Gesamtdeutsche Fragen (Hg .), Polit-Kunst in der sowjetischen Besatzungszone, Bonn 1953 . Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin (Hg .), Alles nur Theater? Zum Umgang mit dem Kulturkampf von Rechts, Berlin 2019 . Andreas Nachama und Gereon Sieverich (Hg), Jüdische Lebenswelten (Katalog), Berlin 1991 . Silvia Naef, Bilder und Bilderverbot im Islam, München 2007 . Alfred Nemeczek, documenta, Hamburg 2002 .

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Verzeichnisse

Katalog NGBK, Legal/Illegal . Wenn Kunst Gesetze bricht, Berlin 2004 . Barbara Orth, Begegnungen mit der documenta, Kassel 2007 . Philipp Oswalt (Hg .) Hanns Meyers neue Bauhauslehre . Von Dessau nach Mexiko, Basel 2019 . Sayyud Qutb, Ma’alim fi al-tariq, Kairo 1964 . Regine Prange, Die Geburt der Kunstgeschichte . Philosophische Ästhetik und empirische Wissenschaft, Köln 2004 . Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten . Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017 . Thomas Renz, Nicht-Besucherforschung, Die Förderung kultureller Teilhabe durch Audience Development, Bielefeld 2016 . Johannes Richardt (Hg .), Die sortierte Gesellschaft . Zur Kritik der Identitätspolitik, Frankfurt 2018 . Bernard Rougier, Les territoires conquis de l’islamisme, Paris 2020 . Philipp Ruch, Schluss mit der Geduld! Jeder kann etwas bewirken . Eine Anleitung für kompromisslose Demokraten, München 2019 . Sigrid Ruby, American Art – Präsentation und Rezeption amerikanischer Malerei in Westeuropa in der Nachkriegszeit, Weimar 1999 . Carolin Schober, Das Auswärtige Amt und die Kunst in der Weimarer Republik . Kunst- und Kunstgewerbeausstellungen als Mittel deutscher auswärtiger Kulturpolitik, Frankfurt 2004 . Susanne Schröter, Politischer Islam . Stresstest für Deutschland, Gütersloh 2019 . Franz Schultheis u . a ., Kunst und Kapital . Begegnungen auf der Art Basel, Köln 2015 . Hans-Peter Schwerfel, Rudolf Zwirner, Köln 2004 . Roland Scotti, Kunstkritik in Frankreich zwischen 1886 und 1905, Mannheim 1994 . Hans Sedlmayr, Verlust der Mitte . Die bildende Kunst des 19 . und 20 . Jahrhunderts, Berlin 1969 . Johannes Sievers, Aus meinem Leben, Berlin 1966 . Andrée Sfeir-Semler, Die Maler im Pariser Salon 1791–1880, Frankfurt 1992 . Karin Stengel (Hg .), Archive in motion . 50 Jahre documenta, Göttingen 2005 . Angelika Tarokic, Hermann Heimerich . Ein Mannheimer OB im Spiegel seines Nachlasses, Mannheim 2006 . Hans-Ulrich Thamer, Kunstsammeln . Eine Geschichte von Leidenschaft und Macht, Darmstadt 2015 . Martin Tröndle (Hg .) Nicht-Besucherforschung . Audience Development für Kultureinrichtungen, Wiesbaden 2019 . Wolfgang Ulrich (Hg .), Macht zeigen . Kunst als Herrschaftsstrategie, Berlin 2010 . VBK (Hg .) Katalog IV . Deutsche Kunstausstellung, Dresden 1958 . Paul Vogt, was sie liebten . Salonmalerei im 19 . Jahrhundert, Köln 1969 . Shulamit Volkov, Jüdisches Leben und Antisemitismus im 19 . und 20 .  Jahrhundert, München 1990 . Klaus von Beyme, Das Zeitalter der Avantgarden . Kunst und Gesellschaft 1905–1955, München 2005 . Friedrich Walter, Schicksal einer deutschen Stadt . Geschichte Mannheims 1907–45, Band II, Frankfurt 1950 . Bernhard Wächter (Hg .), Hans Grundig – Künstlerbriefe aus den Jahren 1926 bis 1957, Rudolstadt 1966 . Martina Wehlte-Höschele, Der Deutsche Künstlerbund im Spektrum von Kunst und Kulturpolitik des Wilhelminischen Kaiserreichs, Heidelberg 1993 . Maik Weichert, Kunst und Verfassung in der DDR, Tübingen 2018 .

Publikationsverzeichnis des Autors

Dieter Westecker, Documenta-Dokumente 1955–68, Kassel 1972 . Karin Wieland, Die Geliebte des Duce . Das Leben der Margherita Sarfatti und die Erfindung des Faschismus, München 2004 . Annette Wohlgemuth, Honoré Daumier – Kunst im Spiegel der Karikatur von 1830–70, Frankfurt 1996 . Ulf Wuggenig / Heike Munder (Hg .), Das Kunstfeld . Eine Studie über Akteure der zeitgenössischen Kunst, Ennetbaden 2012 . Beat Wyss, Vom Bild zum Kunstsystem, Köln 2006 . Emil Zola, Die Salons von 1866–96 . Schriften zur Kunst, Weinheim 1994 . Christoph Zuschlag, Entartete Kunst . Ausstellungsstrategien in Nazi-Deutschland, Worms 1995 .

Publikationsverzeichnis des Autors 1)

Forschungs- und Publikationsschwerpunkt „documenta“

Monographien Schneewittchen und der Kopflose Kurator . Der Reiseführer für documenta-Besucher, Romantiker und Horrorfans, Köln 2017 . „Kassel . Documenta-Geschichten, Mythen und Märchen“, Köln 2012 .

Beiträge in Sammelbänden, Zeitschriften und Zeitungen (Auswahl) „60 Jahre documenta: Die Weltkunst glänzt nur auf der Provinzbühne“ In: NZZ 15 . Juli 2015 . „Die Präsenz der italienischen Kunstszene Künstler auf der documenta – Arte Povera im nüchternen Nachkriegsambiente“, in: Schaufler Foundation (Hg .), Incontri . Zeitgenössische italienische Kunst (Katalog Schauwerk Sindelfingen), Ostfildern 2013 . 2)

Forschungs- und Publikationsschwerpunkt „Kunstausstellungen als Mittel auswärtiger Kulturpolitik von Demokratien und Diktaturen“

Monographien Kunst im Kampf für das Sozialistische Weltsystem . Die Auswärtige Kulturpolitik der DDR in Afrika und Nahost, Stuttgart 2017 . „Kunst als Botschafter einer künstlichen Nation . Studien zur Rolle der Bildenden Kunst in der Auswärtigen Kulturpolitik der DDR“, Stuttgart 2009 .

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Verzeichnisse

Beiträge in Sammelbänden, Zeitschriften und Zeitungen (Auswahl) „Eine stolze und kritische Bilanz . Die deutschen Beiträge zur Biennale von Venedig 1895–2007“ In: Neue Zürcher Zeitung 25 . September 2007 . „Arno Breker hebt die Stimmung . Bündnis gegen die Bolschewiken: Die guten Kulturbeziehungen des ‚Dritten Reiches‘ zu Polen“ In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 17 . November 2005 . „Kunstausstellungen in der Schweiz als Mittel auswärtiger Kulturpolitik in der Weimarer Republik und im ‚Dritten Reich‘“ In: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Heft 4/2004 . 3)

Forschungs- und Publikationsschwerpunkt „Politische Denkmäler im „Zeitalter der Extreme“

Monographie Der Stellungskrieg der Denkmäler . Kriegerdenkmäler im Berlin der Zwischenkriegszeit, Bonn 2004 .

Beiträge in Sammelbänden, Zeitschriften und Zeitungen (Auswahl) „Lässt sich mit militärischer Tradition republikanischer Staat machen? Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold und das Mannheimer Ludwig-Frank-Denkmal“ . In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 5 . November 2018 . „Wer Angst vor Nietzsche hat, macht ihn einfach zur Witzfigur . Warum gibt es kein ernstzunehmendes Nietzsche-Denkmal?“ In: NZZ 12 . Oktober 2018 . „Rätselhafte Meteoriten aus einer fremden Welt . Wie sich China mit der Marx-Statue in Trier selbst beschenkt“ . In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 22 . August 2018 . „Gedenkstätten als Lernorte? Geschichtsstudenten der Humboldt-Universität befragen Besucher von zeithistorischen Gedenkstätten in Berlin“ . In: Geschichte für heute. Zeitschrift für historischpolitische Bildung 4/2009 . „Beton mit einer Prise Emotion . Das Denkmal für die homosexuellen NS-Opfer in Berlin“ . In: Neue Zürcher Zeitung 14 . Juni 2008 . „Der Stellungskrieg der Denkmäler . Kriegerdenkmäler als Medium politischer Konflikte in Berlin“ . In: Barbara Korte u . a . (Hg .), Der Erste Weltkrieg in der populären Erinnerungskultur, Essen 2008 . „Kriegserinnerung und Tourismus im Berlin der Zwischenkriegszeit“ . In: Thomas Biskup und Marc Schalenberg (Hg .) Selling Berlin . Imagebildung und Stadtmarketing von der preußischen Residenz bis zur Bundeshauptstadt, Stuttgart 2008 . „Umfrage unter Schülern zum Besuch des Denkmals für die ermordeten europäischen Juden“ . In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht Heft 12/ 2007 . „Information beeindruckt mehr als Kunst . Eine Umfrage unter Schülern nach deren Besuch des Berliner Holocaust-Mahnmals“ . In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 23 . Januar 2007 . „Von der Siegesallee zur Allee der Opfer . Kriegerdenkmäler in der Hauptstadt Berlin“ . In: Bundeswehrjournal November 2007 . „The Holocaust Memorial in Berlin“ . In: The Burlington Magazine, Dezember 2005 .

Publikationsverzeichnis des Autors

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Forschungs- und Publikationsschwerpunkt „Expressionismus als Politikum: Ernst Ludwig Kirchner und die Kunst der Brücke“

Monographien Die Kunst der „Brücke“ zwischen Staatskunst und Verfemung . Expressionistische Kunst als Politikum in der Weimarer Republik, im „Dritten Reich“ und im Kalten Krieg, Stuttgart 2005 . E . L . Kirchner: Bohème-Identität und nationale Sendung, Frankfurt 2003 .

Beiträge in Sammelbänden, Zeitschriften und Zeitungen (Auswahl) „Mich friert . Kirchner und die Juden“ . In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 12 . Juni 2013 . „The art of Brücke as a political issue“ . In: Christian Weikop (Hg .), New perspectives on Brücke expressionism: bridging history, Farnham (Ashgate) 2011 . „Emil Nolde heute“ . In: Manfred Reuther (Hg .), Nolde, Köln 2010, S . 8–17 . „Vom Enfant Terrible zum Säulenheiligen der Moderne . Legenden und Skandale um Ernst Ludwig Kirchner“ . In: Neue Zürcher Zeitung 24 . April 2010 . „Auf einer deutschen Straße . Das Brücke Museum zeigt Kirchners Berliner Jahre“ . In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 18 . Dezember 2008 . „Der Kult lebt weiter . Emil Nolde in zwei Ausstellungen in Berlin und Bielefeld“ . In: Neue Zürcher Zeitung 28 . Februar 2008 . „Was im Kanzleramt hing . Emil Nolde und das Nordische seiner Kunst“ . In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 14 . Februar 2008 . „Von der ‚Kunst der Freiheit‘ zur Freiheit des Kunstmarktes . Brücke-Rezeption im Kalten Krieg und in der Gegenwart“ . In: Jahrbuch der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden . Bd . 53: Sonderband „Gruppe und Individuum in der Künstlergemeinschaft Brücke . 100 Jahre Brücke – Neueste Forschung“ (2005), Dresden 2008, S . 149–154 . „Review: E . L . Kirchner’s late works in Chemnitz, Basel and Frankfurt“ . In: The Burlington Magazine, No . CXLIX August 2007, p . 572–573 . Weitere Publikationen im Bereich Kunstsoziologie, Kulturgeschichte und Gegenwartskunst (Auswahl)

Monographien Ist das Kunst oder kann das weg? Vom wahren Wert der Kunst, Köln 2016 . Zusammen mit Steen T . Kittl verfasst . „Gefühlige Zeiten . Die zwanghafte Sehnsucht nach dem Echten“, Köln 2015 . „Blamage! Geschichte der Peinlichkeit“, Berlin 2012 . „Alles Bluff . Wie wir zu Hochstaplern werden, ohne es zu wollen . Oder vielleicht doch?“ München 2011 . Zusammen mit Steen T . Kittl verfasst . Koreanische Ausgabe 2012 erschienen . „Geier am Grabe van Goghs  … und andere häßliche Geschichten aus der Welt der Schönen Künste“, Köln 2010 . Zusammen mit Steen T . Kittl verfasst .

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Verzeichnisse

„Was will Kunst?“ Frankfurt 2009 . Zusammen mit Steen T . Kittl verfasst . Auch auf koreanisch (Südkorea) und chinesisch (Taiwan) erschienen . „Das sagt mir was! Sprachführer Deutsch-Kunst / Kunst-Deutsch“, Köln 2008 . Zusammen mit Steen T . Kittl verfasst . „Das kann ich auch!“ Die Gebrauchsanweisung für moderne Kunst, Köln 2007 . Zusammen mit Steen T . Kittl verfasst . Auch auf türkisch, koreanisch, chinesisch (Taiwan und Volksrepublik) und auf spanisch (Spanien) erschienen, aktualisierte deutsche Auflagen 2009 und 2013 (Taschenbuch) .

Weitere Beiträge in Sammelbänden, Zeitschriften und Zeitungen (Auswahl): „Wann kommt der Kunstbestatter und beseitigt die vielen trostlos in Depots liegenden Kunstwerke?“ In: Neue Zürcher Zeitung 9 . Oktober 2018 . „Aufbruch 1931 . Eine Weimarer Querfront“ . In: FAZ 19 . September 2018 . „Soviel schlechte Kunst! Aber woran soll man sie erkennen?“ In: Neue Zürcher Zeitung 10 . Juni 2018 . „Die Kunstsammlung als Persönlichkeitsprothese . Was treibt die grossen Privatsammler an? Sie suchen in der Kunst einen Ersatz für Leben und Liebe .“ In: Neue Zürcher Zeitung 9 . September 2017 . „Ein Weg zu sich selbst . Dieter Meier in Conversation – eine Ausstellung im Aargauer Kunsthaus Aarau“ . In: Neue Zürcher Zeitung 4 . Oktober 2013 . „Die Sammlung ist der Star . Ein Plädoyer für die Plastik in der Kunsthalle Mannheim“ . In: Neue Zürcher Zeitung 21 . September 2013. „Ein Alchimist des Kunstmarktes . Piero Manzoni im Frankfurter Städel“ . In: Neue Zürcher Zeitung 4 . September 2013 . „Der Künstler ist abwesend . Die Absenz des Selbstdesigns als höchste Steigerungsform des Selbstdesigns“ . In: Schweizer Monat Nr . 1006 Mai 2013 . „Das Leben ist schon hart genug . Schöne Kunst von Albert Anker in Schaffhausen“ . In: Neue Zürcher Zeitung 8 . Mai 2013 . „Der Glaube an die Magie der Kunst . Die Prinzhornsammlung sucht den Dialog mit der Gegenwartskunst“ . In: Neue Zürcher Zeitung 21 . Januar 2013 . „Ruinen und Wälder, Revoluzzer und edle Wilde – wie romantisch ist die Gegenwartskunst?“ In: Inken Formann u . a . (Hg .) RheinMainRomantik-Gartenkunst (Tagungsband), Regensburg 2013 . „Kunst kommt von Kritisieren . Ambulante Kunstkritik als documenta-Spektakel“ . In: Kunstforum international Mai 2013 . „Wie wird man ein Künstlerstar?“ In: DU Nr . 823, Februar 2012 . „Kunstwerke als Surrogate des Vertrauens . Können die Banken ihre Glaubwürdigkeitskrise mit schöner Kunst bekämpfen?“ In: Neue Zürcher Zeitung 6 . November 2010 . „Hört auf zu jammern! Gescheiterte Künstler: Helden oder Dummköpfe?“ In: Neue Zürcher Zeitung 27 . Februar 2010 . „Wer rückt nach? Deutschland altert und leert sich“ . In: Thomas Kunze u . a . (Hg .), Einundzwanzig . Jahrhundertgefahren, Jahrhundertchancen, Berlin 2010 . „Was bleibt von der Kunst der DDR?“ In: Thomas Kunze u . a . (Hg .), Ostalgie international, Berlin 2010 .

Publikationsverzeichnis des Autors

„Dresscode Kunst . Was man zur Vernissage trägt oder wenn der Sammler zum Frühstück lädt“ . In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 16 . November 2008 . „Die Ausweitung der Konsumzone . Museumsmarketing heute“ . In: Neue Zürcher Zeitung 8 . November 2008 . „Die Kunst der Selbstinszenierung: Kunstsammeln als Imagegewinn für Prominente“ . In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 2 . Dezember 2007 . „Der Horror vacui der Demographie: 100 Jahre Abwanderung aus dem deutschen Osten“ . In: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 2007 . „Antisemitismus und politische Gewalt an der Berliner Universität 1919–1933“ . In: Jahrbuch für Antisemitismusforschung Berlin 2004 .

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Abbildungsverzeichnis

Abb . 1: Eine Gruppe des kommunistischen Rotfrontkämpferbundes marschiert über die Berliner Museumsinsel . © Landesarchiv Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb . 2: Otto Wacker vor dem Berliner Landgericht . © Landesarchiv Berlin . . . . . . . . . . . . . . Abb . 3: Leonard Wacker, Der Sämann, 1928 . © Saehrendt 2020 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb . 4: Originalrahmen des Van-Gogh-Gemäldes Das Bildnis des Dr. Gachet, Städel Museum Frankfurt . © Saehrendt 2020 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb . 5: Atelier von Arno Breker . © Illustrierter Beobachter Nr . 13/1940, S . 309 . . . . . . . . . . . Abb . 6: Ruthild Hahne bei der Arbeit, ca . 1950 . © Archiv Hahne, Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb . 7: Vier documenta-Kuratoren in Kassel 2015 . © Gert Hausmann, Kassel . . . . . . . . . . . . Abb . 8: Alberto Viani, Plastik in der Mensa der Universität Kassel © Saehrendt 2020 . . . . . Abb . 9: Dieter Ruckhaberle, Informationsblatt „Zur Ausstellung progressiver, nichtaffirmativer Kunst . Kassel 26 .6 . bis 12 .9 .1968“ . Archiv der Avantgarden . Staatliche Kunstsammlungen Dresden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb . 10: Traumschiff Tante Olga von Anatol Herzfeld . Kassel, Heinrich-Schütz-Schule . © Saehrendt 2019 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb . 11: Claes Oldenbourgs Spitzhacke, Kassel. © Saehrendt 2016 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb . 12: Jonathan Borofskys Man walking to the Sky, Kassel . © Saehrendt 2018 . . . . . . . . . . . . Abb . 13: Template von Ai Weiwei . © Gert Hausmann, Kassel 2007 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb . 14: Die Plastik Idee di Pietra von Giuseppe Penone, Kassel . © Saehrendt 2013 . . . . . . . . Abb . 15: Aufbau von Marta Minujíns Parthenon der Bücher, Kassel . © Saehrendt 2017 . . . . . . Abb . 16: Das Flüchtlinge-Fremdlinge-Monument von Olu Oguibe, Kassel . © Saehrendt 2019 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb . 17: Momentary Monument IV von Lara Favaretto auf der documenta 13 . © Saehrendt 2012 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb . 18: Ist das Kunst oder kann das weg? © Ausschnitt Buchcover DuMont Buchverlag 2016 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb . 19: Cartoon Das kann ich auch . © Martin Perscheid (Buchcover DuMont Verlag 2013) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb . 20: Am 19 . Mai 2019 beteiligten sich „Die Vielen“ an Demonstrationen u . a . in Hamburg und Berlin, um die „Kunstfreiheit zu verteidigen . © Oliver Feldhaus 2019 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb . 21: Demonstranten vor Manaf Halbounis Monument. © indymedia .org 2017 . . . . . . . . . Abb . 22: Sucht nach uns, Zentrum für Politische Schönheit . © Saehrendt 2019 . . . . . . . . . . . . . Abb . 23: Denkmal für die Gefallenen des Kaiser-Franz-Garde-Grenadier-Regiments, Eberhard Encke . © indymedia .org 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb . 24: Anti-Dercon-Protest-Performance . Bildschirmfoto Youtube-Kanal von Martin Kasper . 8 .4 .2018 . (20 .2 .2020 .) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43 54 55 64 68 75 80 94 100 121 126 131 139 141 143 153 159 163 172 184 194 208 209 212

Künstlerregister

Künstlerregister

A Abramovic, Marina 130 Acconci, Vito 125 Aksoy, Mehmet 199 Albiker, Karl 59 Andre, Carl 106 Andujar, Daniel 216 Anker, Albert 194 Anselmo, Giovanni 124 Altenbourg, Gerhard 78 Arnautoff, Victor 214 Artschwager, Richard 84 B Bacon, Francis 95 Baselitz, Georg 119, 122, 170 Baukhage, Gerd 118 Baumeister, Willi 91, 93 Baykam, Bedri 199 Bechtle, Fabian 196 Beckmann, Max 36, 66 f ., 91 Beuys, Josef Beuys 81, 84, 103, 107, 109 f ., 116 f ., 122–124, 151 Black, Hannah 216 Bode, Arnold 76, 85 f ., 88 f ., 93, 95, 98 f ., 102, 135, 142, 221 Bock, John 137 Böcklin, Arnold 25 Bonnard, Pierre 36 Borofsky, Jonathan 131 Bouchet, Mike 189 Bouguereau, William 25, 29, 31 Braque, Georges 36 Breker, Arno 68, 75, 83, 105 Büchel, Christoph 191 Butler, Reg 90 Byars, James Lee 84 C Cabanel, Alexandre 32 Calder, Alexander 88

Caravaggio 26 Cattelan, Maurizio 201 Cesar 103 Cezanne, Paul 36, 95 Christo 102 f . Corinth, Lovis 25, 95 Courbet, Gustave 27, 29 f ., 32 f . Couture, Thomas 32 Cragg, Tony 125 D Dalí, Salvador 44, 83, 159 Darmawan, Ade 154 f . Daumier, Honoré 19 Decken, Theodora von der 128 Degas, Edgar 26 Delacroix, Eugene 17, 21, 30 Derain, André 34, 36 Denis, Maurice 35 Dix, Otto 66, 71 Dejneka, Alexander 72 Duchamp, Marcel 24 Dürer, Albrecht 56 Durant, Sam 215 Durham, Jimmy 215 E Edoga, Mo 129 Eichhorn, Maria 222 Encke, Eberhard 209 Ekici, Nezaket 193 F Fabre, Jan 130 Fautrier, Jean 88 Favaretto, Lara 159 Feuerbach, Anselm 36 Fischer, Lothar 94 Finley, Ian Hamilton 127 Fontana, Lucio 103 Fuchs, Ernst 83

G Genth, Ulrich 193 Genzken, Isa 137 Gericault, Theodore 21, 30 Gerome, Jean-Leon 28, 31 ff . Graham, Dan 84, 125 Grassmann, Günther 59 Grimm, Ludwig Emil 222 Grosz, George 41 f ., 44 Grützke, Johannes 101 Grundig, Hans 77 H Haacke, Hans 84, 106 Hahne, Ruthild 75 Halbouni, Manaf 192, 194 Hartono, Iswanto 199 Heartfield, John 41 f ., 96 Heckel, Erich 37, 60 Hegenbarth, Josef 78 Heisig, Bernhard 119 Herzfeld, Anatol 121 Heyden, Jacobus van der 125 Hirschhorn, Thomas 189 Hirst, Damian 159, 162, 172 Hiwa K . 157 Hodler, Ferdinand 194 Hofer, Carl 66 Hoffmann, Eugen 44 Hosaeus, Hermann 58 Hundertwasser, Friedensreich 159 Husain, Maqbul Fida 202 f . I Immendorff, Jörg 122, 125, 191 Ingres, Jean-Auguste 30 J Jonas, Joan 84 Judd, Donald 125 Kabakov, Ilya 129 Kahane, Leon 196 Kandinsky, Wassily 36, 91

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K Kapoor, Anish 185 Kelly, Ellsworth 102 Kiefer, Anselm 122 Kienholz, Ed 115 Kirchner, Ernst Ludwig 36 ff ., 55 ff ., 60, 65, 91 Klee, Paul 39, 60, 66, 91, 95 Klinger, Max 26 Knorr, Daniel 221 Koeppel, Matthias 101 Kokoschka, Oskar 41, 62, 91 Kooning, Willem de 95 Koons, Jeff 159 Kounellis, Jannis 115, 122, 125 Kozyra, Katarzyna 201 Krause, Axel 196 L Lafontaine, Marie-Jo 127 Lavier, Bertrand 125 Latham, John 200 Lebensztein, Jan 89 Leibl, Wilhelm 36 Le Va, Barry 115 Le Witt, Sol 125 Lie, Lu 79 Liebermann, Max 26, 222 Littmann, Klaus 191 Lüpertz, Markus 119 M Macke, August 39 Malewitsch, Kasimir 68, 72 Macotela, Antonio Vega 221 Manet, Eduard 19, 26, 48 Marc, Franz 39 Maria, Walter de 116 f ., 151 Martin, Agnes 115 Matisse, Henry 19, 34 Mattheuer, Wolfgang 119 McCarthy, Paul 185 Meissonier, Ernest 17, 28 f ., 31 f . Merz, Mario 122 Meyer, Jürgen 130

Mila, Alain 184 Minujín, Marta 143 Miró, Joan 91 Modersohn-Becker, Paula 18 Moholy-Nagy, László 60 Morgenthaler, Jan 189 Morris, Robert 106 Motti, Giani 189 Munch, Edvard 36 Mutter, Heike 193 N Nagel, Otto 50 Nauman, Bruce 84 Newman, Barnett 102 Nolde, Emil 39, 59, 65 Nordmann, Maria 125 Nitsch, Hermann 106 O Ofili, Chris 201 Oguibe, Olu 149–153 Oldenbourg, Claes 125 f . Overbeck, Cyrus 193 P Panizza, Wolf 59 Peintner, Max 191 Penck, A . R . 78, 122 Penone, Giuseppe 141 Picasso, Pablo 36, 84, 89, 91, 95 Pistoletto, Michelangelo 103, 125 Pollock, Jackson 89 f . Prem, Heimrad 94 Puvis de Chavannes, Pierre 17 R Rakun, Farid 154 Rauch, Neo 197 Rauschenberg, Robert 89 Reinecke, Chris 101 Repin, Ilya 202 Richter, Gerhard 84

Riley, Bridget 102 Rivera, Diego 45 Rodin, Auguste 17 Rodschenko, Alexander 45 Roth, Barbara 189 Rothko, Mark 96, 99 Ruangrupa (Kollektiv) 154, 199, 222 Rubens, Peter Paul 41 Ruch, Philipp 206 f . Ruckhaberle, Dieter 99 f . Rückriem, Ulrich 122 S Samochwalow, Alexander 72 Schlemmer, Oskar 58 Schlingensief, Christoph 135 f . Schmidt-Rottluff, Karl 60 Schnabel, Julian 159 Schreib, Werner 99 Schuler, Horst 125 Schult, HA 115 Schulz, Bruno 222 Schutz, Dana 215 Schwer, Paul 175 Seiwert, Franz 42 Senn, Martin 189 Serra, Richard 117 Serrano, Andres 185 Seurat, Georges-Pierre 17 Signac, Paul 17, 36 Sironi, Mario 45 Sitte, Willi 119 Staeck, Klaus 107, 126 Stella, Frank 102 Stüttgen, Johannes 110 T Tatlin, Wladimir 45 Tkachenko, Danila 202 Tübke, Werner 119 U Uklanski, Pjotr 222

Künstlerregister

V Van Gogh, Vincent 17, 29, 35 f ., 48, 53 ff ., 61, 64, 95 Vermeer, Jan 47 Viani, Alberto 94 Vinnen, Carl 35 f . Vlaminck, Maurice 34, 36 Volwahsen, Herbert 73 Vostell, Wolf 101, 106, 118

W Wacker, Leonard 55 Weiwei, Ai 137, 139 Weinhold, Erich 71 Wiesinger, Manfred 195 Winter, Fritz 95

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Christian Saehrendt

Kunst im Kampf für das „Sozialistische Weltsystem“ Auswärtige Kulturpolitik der DDR in Afrika und Nahost 164 Seiten mit 31 s/w-Fotos 978-3-515-11722-7 gebunden 978-3-515-11723-4 e-book

Viele afrikanische und arabische Nationen erlangten ihre Unabhängigkeit erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Zwischen 1955 und 1975 ergab sich in diesem Kontext für den Realsozialismus eine historische Chance zur globalen Expansion. Als Juniorpartner der UdSSR engagierte sich auch die DDR in Afrika und Nahost. Ihr Ziel: die Integration afrikanischer und arabischer Staaten in ein „Sozialistisches Weltsystem“. Zu ihrem außenpolitischen Instrumentarium gehörten dabei nicht zuletzt auch Kunst und Bildung. Ausstellungsaustausch, Stipendienprogramme und Hilfe beim Aufbau neuer Kunstakademien sollten bei der inneren Formierung der jungen Nationen des Globalen Südens eine wichtige Rolle spielen. Im Zentrum der Studie stehen die kulturpolitischen Beziehungen der DDR zu Syrien, dem Irak, Palästina, Äthiopien, Angola und Mosambik. Auf welche Weise leistete Kunst aus der DDR einen Beitrag zum sozialisti-

schen Nation Building in diesen Ländern? Gab es einen nennenswerten Transfer von Künstlern, Wissenschaftlern und Artefakten? Und wie erfolgreich war diese Kooperation tatsächlich? Aus dem InhAlt Kunst im diplomatischen Einsatz – im Kalten Krieg und heute | Nation Branding für eine umstrittene Nation: Die Auswärtige Kulturpolitik der DDR | Schauplatz Afrika | Schauplatz Nahost | Schlussfolgerungen und offene Fragen | Quellen- und Literaturverzeichnis der Autor Christian Saehrendt, Promotion 2002 an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Seitdem als freiberuflicher Historiker und Kunsthistoriker tätig. Zahlreiche populärwissenschaftliche Publikationen im Bereich Moderne und zeitgenössische Kunst.

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Thomas Höpel / Hannes Siegrist (Hg.)

Kunst, Politik und Gesellschaft in Europa seit dem 19. Jahrhundert europäische geschichte in Quellen und essays – Band 3 270 Seiten mit 10 Farb- und 5 s/w-Abbildungen 978-3-515-11933-7 kartoniert 978-3-515-11935-1 e-Book

Die Entwicklung der Künste war in den letzten zwei Jahrhunderten von Prozessen der Nationalisierung, Internationalisierung und Transnationalisierung und den daraus entstandenen Spannungen geprägt. Diese Wechselwirkungen von Kunst, Politik und Gesellschaft in der Moderne untersuchen die Autorinnen und Autoren in diesem Band. Anhand ausgewählter Quellen setzen sie dabei die Geschichte der Herstellung, Vermittlung, Rezeption und Nutzung künstlerischer Werke in Bezug zur Geschichte der europäischen Gesellschaften sowie der politischen und wirtschaftlichen Systeme. Ihr Fokus liegt auf grenzüberschreitenden Austauschprozessen und Beziehungen. Der als Studien- und Lehrbuch konzipierte Band gliedert sich in drei Teile. Teil eins befasst sich mit der Rolle der Kunst in der bürgerlichen Öffentlichkeit und mit der Entwicklung des Kunstmarktes. Teil zwei analysiert die Funktionen von Kultur, Kunst und Künstlern in verschiedenen politischen Systemen und im Spannungsfeld zwischen der

Nationalisierung und Internationalisierung kultureller Beziehungen. Teil drei thematisiert das Verhältnis von Kunst, Architektur und Stadtentwicklung in Europa. Mit Beiträgen von Jürgen Osterhammel, Joachim Eibach, Sven Oliver Müller, Tobias Becker, Gabriele B. Clemens, Axel Körner, Bertrand Tillier, Rüdiger vom Bruch, Thomas Höpel, Falk-Thoralf Günther, Helmut Peitsch, Hannes Siegrist, Isabella Löhr, Eckhart Gillen, Jeannine Harder, Anne-Marie Pailhès, Martin Schieder, Eli Rubin, Daniel Habit die herausgeBer Thomas Höpel ist Historiker und außerplanmäßiger Professor am Institut für Kulturwissenschaft der Universität Leipzig. Hannes Siegrist ist Historiker und Sozialwissenschaftler und lehrte bis zu seiner Emeritierung am Institut für Kulturwissenschaften der Universität Leipzig.

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Daniela Mondini / Carola Jäggi / Peter Cornelius Claussen (Hg.)

Die Kirchen der Stadt Rom im Mittelalter 1050–1300 Band 4 . M–O Corpus Cosmatorum II,4 Forschungen zur Kunstgeschichte und christlichen archäologie – Band 23 2020. 21 x 29,7 cm. 744 Seiten mit 492 s/wAbbildungen und 53 Farbabbildungen auf 31 Tafeln 978-3-515-12111-8 geBunden 978-3-515-12128-6 e-BooK

Die Autorinnen und Autoren rekonstruieren die Bau- und Ausstattungsgeschichte der Kirchen der Stadt Rom vom 11. Jahrhundert bis an die Wende zum 14. Jahrhundert anhand von Schrift- und Bildquellen sowie Grabungsund Baubefunden. Im vierten Band der Reihe werden insgesamt 37 Kirchen untersucht, darunter zahlreiche bekannte mittelalterliche Marienkirchen wie S. Maria Rotonda (Pantheon) oder S. Maria sopra Minerva, aber auch unbekanntere Bauten wie S. Maria in Cappella. Im Fokus der monografischen Einzelstudien steht die Geschichte der kirchlichen Institutionen, ihrer Architektur sowie ihrer liturgischen Ausstattung. Eine hervorgehobene Stellung nimmt die Kirche S. Maria in Cosmedin ein: Die Analyse der komplizierten Bau- und Restaurierungsgeschichte wirft in vielen Punkten ein neues Licht auf den vermeintlich wohlbekannten Bau. Bereichert wird der Band durch einen farbigen Tafelteil zu aussagekräftigen Zeugnissen römischer Kirchenarchitektur des Mittelalters.

Mit Beiträgen von Peter Cornelius Claussen, Darko Senekovic, Michael Schmitz, Carola Jäggi, Angela Yorck von Wartenburg, Almuth Klein, Giorgia Pollio, Alexander Racz die herausgeBer Daniela Mondini ist Professorin für Kunstund Architekturgeschichte an der Università della Svizzera italiana in Lugano und Mendrisio. Carola Jäggi ist Lehrstuhlinhaberin für Kunstgeschichte des Mittelalters, Archäologie der frühchristlichen, hoch- und spätmittelalterlichen Zeit an der Universität Zürich. Peter Cornelius Claussen ist emeritierter Professor für Kunstgeschichte des Mittelalters an der Universität Zürich und Gründer des Corpus Cosmatorum.

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In Krisenzeiten werden regelmäßig Sündenböcke gesucht und Verschwörungstheorien bemüht, um komplexe Transformationsprozesse und unerwartete Ereignisse zu verstehen. Neben Minderheiten, Migranten und Eliten zählten auch immer wieder Kunst und Künstler zu Blitzableitern eines mitunter bewusst geschürten „Volkszorns“. In den 1920er und 1930er Jahren wurden die Ressentiments gegen moderne Kunst besonders giftig, wobei Antisemitismus eine Schlüsselrolle spielte. Nicht nur das Spekulative des Kunstmarktes, der zum Symbol eines irrealen und heißlaufenden Kapitalismus schlechthin wurde, stand im Mittelpunkt der Kulturkritik jener Zeit, sondern auch die Isolation

ISBN 978-3-515-12753-0

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7835 1 5 1 2 7530

der Künstler vom „Volk“. Künstler wurden von Links- und Rechtsextremisten als Egoisten und abgehobene Individualisten, sogar als „Feinde des Volkes“ geschmäht. Christian Saehrendt untersucht die Rolle von Gegenwartskunst in der Agenda populistischer, fundamentalistischer und extremistischer Bewegungen. Diese versuchen stets Ängste, Emotionen und Ressentiments in der Bevölkerung aufzugreifen, zu verstärken und für sich zu nutzen. Ihr Geschäftsmodell ist die gesellschaftliche Spaltung. Funktioniert diese Taktik auch auf dem Gebiet der Gegenwartskunst? Wer sind die heutigen „Feinde der Kunst“?

www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag