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German Pages 393 [394] Year 2021
Julius Erdmann Kultursemiotik digitaler Bildzeichen der tunesischen Revolution
Communicatio Kultur – Text – Medium
Herausgegeben von Jürgen Fohrmann und Brigitte Weingart
Band 51
Julius Erdmann
Kultursemiotik digitaler Bildzeichen der tunesischen Revolution Visuelle Protestkultur zwischen 2010 und 2013
Die vorliegende Studie wurde als Dissertation mit dem Titel „Formen visuellen Protests im Internet. Kultursemiotische Dimensionen digitaler Bildzeichen der tunesischen Revolution (2010–2013)“ unter der Betreuung von Frau Prof. Dr. Eva Kimminich und Herrn Prof. Dr. Patrick Vauday an der Philosophischen Fakultät der Universität Potsdam sowie am Department für Philosophie der Universität Paris 8, Vincennes–Saint-Denis verfasst und am 28.09.2018 im Rahmen einer mündlichen Prüfung verteidigt. Sie wurde durch eine Mobilitätsbeihilfe der Deutsch-Französischen Hochschule im Rahmen einer Cotutelle de Thèse unterstützt.
ISBN 978-3-11-063845-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-064398-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-064443-2 ISSN 0941-1704 Library of Congress Control Number: 2021933278 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Timm Rautert, New York, 1969 Satz: grafikbuero.berlin Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Inhalt Vorwort und Dank
XI
Teil I: Bildliche Zeichenpraktiken im Internet zwischen Selbst und Kultur: eine Problemeröffnung 1 Bilder als Spiegel und Mittel der tunesischen Revolution
3
6 2 Forschungsgegenstand und Forschungsfeld 2.1 Zur Analyse von Zeichenhandeln in Social Network Sites 6 2.2 Zur Rolle von Bildzeichen in Social Network Sites 10 2.3 Digitale Bildzeichen im Kontext der Tunesischen Revolution 14 3
Fragen und Ablauf der Studie
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Teil II: Die kulturelle Praxis digitaler Bilder in Social Networks 1 Semiotik digitaler Bildzeichen in Social Network Sites 23 1.1 Zu einer generellen Semiotik von Bildzeichen 23 1.2 Das Werden von Bedeutung und das Werden der Bilder – Bildsemiose und die materiellen Grenzen der Bildsemiotik 30 1.3 Online-Bilder als binäre Zeichen in technisch-medialen Umgebungen 37 1.4 Multimodalität und digitale Semiose in Social Network Sites 44 1.5 Konklusion: Versuch einer Kultursemiotik technisch vermittelter Bilder in Social Network Sites 48 50 2 Medien- und Bildkulturen als Kulturprogramme 2.1 Kultur als Programm und Medienkultur 50 2.2 Die Kultur des Internets und das Internet als Mediasphäre 2.3 Visual Cultures im Internet 63 2.4 Konklusion: Medienkultur digitaler Bilder in Social Network Sites 68
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VI Inhalt 3 Medienkultursemiotik des Protests 69 3.1 Protest und Protestkultur 69 3.2 Semiosphäre und Mediasphäre des Protests – Protest als Kampf an kulturellen Grenzen 74 3.3 Visueller Protest und die Konstitution von politischen Subprogrammen 79 3.4 Visueller Protest zwischen Blickverschiebungen und der Kritik hegemonialer Repräsentationscodes 81 3.5 Konklusion: Bildprotestkultur 85 4 Bildkulturelle, medienkulturelle und protest-kulturelle Aspekte digitaler Bilder – Arbeitshypothesen 86 88 5 Zur Methodik der Untersuchung 5.1 Medienkulturwissenschaft und Medienkultursemiotik 88 5.2 Zur medienkultursemiotischen Interpretation von Bildzeichen auf Facebook 89 5.3 Erhebung des Forschungsmaterials 91 5.4 Zur Auswertung und Interpretation der Daten 92 5.5 Forschungsethik 95
Teil III: Einblicke und Anlässe des Protests – Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution 1 Historische Eckpunkte des politischen Protests in Tunesien 101 1.1 Die Anfänge des Internetaktivismus während des Regimes Ben Ali: 1998–2005 101 1.2 Die Entstehung einer Infrastruktur des Protests: 2005–2010 106 1.3 Der tunesische Protest in der Revolutionsphase: 2010–2011 112 1.4 Die Postrevolution 1: Rekonstruktionsphase 14. Januar 2011 – 23. Oktober 2011 119 1.5 Die Postrevolution 2: Stabilisierungsphase Oktober 2011 – Ende 2013 123 1.6 Konklusion: Medienkultur und Politik Tunesiens 129
Inhalt VII
2 Flaggenproteste: Die Nationalflagge und die Verhandlung des Nationalen 130 2.1 Die Nationalflagge als komplexes Zeichen 131 2.2 Geschichte und Ikonologie der tunesischen Flagge 133 2.3 Materielle Aneignungen der Nationalflagge im Rahmen der Proteste von Dezember 2010 bis März 2011 136 2.4 Virale Flaggengrafiken und kollektive Aneignungen 139 2.5 Bricolagen des Flaggenmotivs 145 2.6 Kontextualisierung und Verhandlungen der Flaggenmotive 157 2.7 Verhandlungsebenen des Nationalismus im Flaggenbild 161 2.8 Ideologische Flaggenkämpfe 170 2.9 Symbolischer Nationalismus zwischen Individuum und Kollektiv – eine Zusammenführung 177 181 3 Materialitätseinbrüche: Fotografien von Protest und als Protest 3.1 Fotografien als Einbruch der Materialität im Digitalen 181 3.2 Ikonische Fotografien des Protests 182 3.3 Amateurfotografien als Authentifizierungsstrategie der Demonstrationen 194 3.4 Fotografien als Aufzeichnung und Archiv von Protestsymbolen – Slogans, Graffitis, Collagen 202 3.5 Körper, Identität, Widerstand – Der Einfall der Materialität durch Selbstbilder des Protests 214 3.6 Flaggenfotografien zwischen körperlicher Authentizität und Fiktion 226 3.7 Körper jenseits des Gesichts – Anonymisierung und Zeugenschaft 234 3.8 Exkurs: Grenzen der körperlichen Darstellung – der politisierte Frauenkörper im Bild 241 3.9 Fotografischer Realitätseffekt und Protest – medientechnische und soziokommunikative Semiosen innerhalb des Kulturprogramms 250
VIII Inhalt 4 Bilderkörper – Märtyrer, Helden und Feinde im Bild 252 4.1 Bilder als (Re-)Materialisierungen absenter Personen 252 4.2 Heldenproduktionen und -reproduktionen 256 4.3 Märtyrer – Konstruktion und (Re-)Inkarnation der Proteste 270 4.4 Visualisierungen politischer Mordopfer und die Schaffung von Nationalmythen 282 4.5 Bilderstürme – Visuelle Vernichtung von Feinden des Protests 297 4.6 Bildliche Materialisierung und Bildmythen 305 5 Konstruktionen und Dekonstruktionen an den Grenzen von Kulturprogrammen 307 5.1 Politische Karikaturen und die Grenzen der Darstellbarkeit 5.2 Ästhetische Innovation und die Malerei 323 5.3 Ästhetische Praktiken und die Erfahrung neuer Sichtweisen
307 331
Teil IV: Schlussfolgerungen: Visueller Protest auf Facebook 1 Bilder als Mittler und Ursprünge der tunesischen Protestkultur 2 Die Schwelle der Sichtbarkeit und die Aktivierung protestierender Bürger 338 3
Bilder als Mittel politischen Framings
339
4 Die semiotische Wirkung des medialen Interface
341
5 Protest-Bilder zwischen öffentlichem und medialem Raum
342
6 Bildliche Protestkultur zwischen Konventionalisierung und Differenzierung 343 7 Bildzeichen als Spiegel und als Motor der Rekonfiguration des kulturellen Zentrums 345 8 Bildliche Protestkultur und die Schaffung einer politischen Identität 346
337
Inhalt IX
9 Die Politisierung der Bilder zwischen Nähe und Distanz 10
Diskussion und Ausblick
351 Bibliographie Literaturverzeichnis 351 Weitere Internetquellen 369 Abbildungsverzeichnis 371 Index
379
347
346
Vorwort und Dank Die tunesische Revolution feiert im Erscheinungsjahr dieses Buches ihren zehnten Jahrestag. Seither durchlief das Land zahlreiche Prozesse der Demokratisierung von Politik und Gesellschaft, allerdings auch mehrere politische und soziale Krisenzustände. In der Wahrnehmung der einstigen Protestierenden ist das Ziel der Revolution – die Beseitigung von Korruption, die Anhebung der Lebensqualität und insbesondere die Verbesserung der Zukunftsperspektiven junger Menschen – noch nicht erreicht. Dennoch waren die tunesischen Massenproteste nicht nur Auslöser nachhaltig wirkender Veränderungsprozesse in der MENA-Region, sie dienten auch hinsichtlich der Nutzung von Symbolen und Bildern in der Kommunikation mit digitalen Medien als Vorbild für aktuelle Proteste – in Hongkong, in den USA, in Argentinien und Belarus. Diese Bedeutsamkeit visuellen Protests war Anlass und Motivation für die Erstellung der vorliegenden Studie. Und es ist davon auszugehen, dass die symbolischen Ebenen sozialer Bewegungen weiterhin eine wichtige Rolle in der Konstitution und Innovation von Protestkulturen spielen. Deshalb ist die Studie auch als Anlass zu verstehen, sich vermehrt in empirischer sowie auch medien- und demokratiedidaktischer Weise mit der Rolle von Bildern im Rahmen von Protestbewegungen auseinanderzusetzen. Für die Forschungsarbeit begleitete und analysierte ich die tunesischen Proteste während sieben Jahren intensiv. Dieser lange Weg wurde von vielen Menschen möglich gemacht. Ein erster Dank gebührt meiner Betreuerin Eva Kimminich sowie meinem Betreuer Patrick Vauday für die fachliche Beratung. Zudem hatte Frau Irene Krebs (†) einen entscheidenden Anteil am Entstehen dieser Arbeit, indem sie mich motivierte und meine Arbeit stets strukturierend begleitete. Ohne die Mitarbeit zahlreicher tunesischer Unterstützer wären mir neue Perspektiven auf die Protestbewegung verwehrt geblieben. Der größte Dank gebührt meiner Frau, meinem Sohn und meiner Familie für ihr Verständnis und die stete Ermutigung, andere Wege des Denkens und des Lebens einzuschlagen. Hinweis: Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird bei Personenbezeichnungen und personenbezogenen Hauptwörtern die männliche Form verwendet. Entsprechende Begriffe gelten im Sinne der Gleichbehandlung grundsätzlich für alle Geschlechter. Die verkürzte Sprachform hat nur redaktionelle Gründe und beinhaltet keine Wertung.
https://doi.org/10.1515/9783110643985-203
Teil I: Bildliche Zeichenpraktiken im Internet zwischen Selbst und Kultur: eine Problemeröffnung
1 Bilder als Spiegel und Mittel der tunesischen Revolution Am 29. Januar 2011 veröffentlichte der tunesische Künstler Nidhal Chamekh auf seinem Facebook-Profil eine Fotomontage, die den damaligen Premierminister Tunesiens, Mohammed Ghannouchi, in Großaufnahme beim Spiel mit einem Zauberwürfel zeigt (vgl. Abb. 1). Ghannouchi richtet den Blick frontal auf den Betrachter des Bildes, sein Zauberwürfel besteht im Gegensatz zu den üblichen Versionen nur aus Feldern in verschiedenen Violetttönen. Die Besonderheit der Montage ist, dass der Politiker als Protagonist eines Films mit dem Titel Der violette Zauberwürfel. Die tausend Gesichter der Diktatur inszeniert wird, indem der Produzent des Bildes die Ästhetik eines Filmplakats imitierte. Laut der inkludierten Unterschrift zeichnet der ehemalige Präsident Ben Ali („Zaba“) zusammen mit der machthabenden Partei („RCD Production“) für die Produktion des Films verantwortlich, Regie führt der neue tunesische Innenminister Ahmed Friaa, weitere Politiker der Übergangsregierung treten als Statisten auf,
Abb. 1: Facebook-Profil Nidhal Chamekh, Chronikbild, veröffentlicht am 29.01.2011 https://doi.org/10.1515/9783110643985-001
4 Bildliche Zeichenpraktiken im Internet zwischen Selbst und Kultur und Bild- sowie Tonarbeiten wurden von den staatlichen Fernsehstationen („TV 7–7“) durchgeführt. Das Bild wurde zu einem signifikanten Zeitpunkt der tunesischen Geschichte publiziert. Nach einer kurzen und intensiven Phase von Protesten gegen das Regime des Präsidenten Zine El Abidine Ben Ali und z. T. gewalttätig unterbundenen Demonstrationen zwischen dem 18. Dezember 2010 und dem 14. Januar 2011, dankte der Präsident am 14. Januar ab und floh mitsamt seiner Familie aus dem Land. Begleitet wurden diese wenigen Tage politischen Widerstands, die missverständlich mit dem Namen Jasminrevolution1 bezeichnet wurden, von einer Welle visueller Aktivität auf Facebook. Die tunesische Flagge wurde als Profilbild gesetzt, fotografische Abbilder der bei Demonstrationen umgekommenen Menschen wurden veröffentlicht, Selfies, die die Profilnutzer beim Demons trieren zeigen, wurden kommentiert. Auch nach der Flucht des Präsidenten am 14. Januar dauerten die Proteste gegen die herrschende Regierungspartei und restriktive Politik an. Es überrascht somit nicht, dass die visuelle Geschichte der tunesischen Revolution auch nicht Mitte Januar 2011 endete. Die anhaltenden Proteste spiegeln sich auch im genannten Bild. So wird Mohammed Ghannouchis Verantwortung als Premierminister für die zahlreichen Toten und Verletzten der Revolution nicht zuletzt durch sein Wissen über die wahren Mörder („Le nom de l’assassin se cache dans sa mémoire“ ) angedeutet. Sein Spiel mit dem Zauberwürfel spiegelt die verschiedenen Facetten der Diktatur in Tunesien. Die Farbe Violett ist hierbei eine Referenz auf die Lieblingsfarbe Ben Alis. Der durch das Bild angepriesene Film ist folglich als Metapher zu verstehen für die Fortführung der Diktatur unter der Leitung der Regierungspartei RCD: Es ändern sich lediglich Facetten der Machtausübung durch die teilnehmenden Oppositionspolitiker und die mediale Inszenierung. Ein Fokus liegt dabei aufgrund der kontextuellen Verankerung auf der Neuerzählung staatlicher Repression. Doch diese Fotomontage als Beitrag im Social Network2 Facebook steht nicht für sich allein, sondern sie wird durch mehrere Kommentare ergänzt, welche einerseits die Aussagekraft loben oder gar die Systemkritik über die Filmme-
1 So wurde bereits der Putsch Ben Alis gegen die Regierung Habib Bourguibas als Jasminrevolution gefeiert, weshalb die Bezeichnung für die Revolutionsbewegung 2011 insbesondere von Aktivisten als umstritten eingeschätzt wird. 2 Im Folgenden soll von Social Networks oder Social Network Sites (SNS) gesprochen werden, um einerseits der auch im Deutschen dominanten Terminologie gerecht zu werden, andererseits aber durch die fehlende Übersetzung den Bedeutungsgehalt infrage zu stellen. Letztendlich handelt es sich es sich um einen Euphemismus, der zu Recht von Soziologen (vgl. Boyd 2011) kritisiert wurde.
Bilder als Spiegel und Mittel der tunesischen Revolution 5
tapher weitererzählen, andererseits eine Polemik hinsichtlich des kritischen Gehaltes entstehen lassen. So wird dem Künstler unterstellt, die postrevolutionären Konflikte zu simplifizieren, indem er sie in einer plakativen Weise darstelle. Darauf antwortete Chamekh, dass die Grafik nicht zum Ziel hätte, die Machtverhältnisse zu kritisieren, sondern vielmehr den Zustand der andauernden Diktatur wiederzugeben. Ben Ali und Ghannouchi seien „Ikone, Symbole“ der Diktatur, „durch sie wird die Diktatur zum Bild“. Dieses Beispiel verdeutlicht, inwiefern während und nach der tunesischen Revolution auf Facebook veröffentlichte Bilder genutzt wurden, um Kritik an vorhandenen Missständen zu äußern, diese auf eine historische Situation zurückzuführen und zukünftige Entwicklungen zu antizipieren. Ihnen wurde eine politische Macht zugesprochen, welche insbesondere an ihrem symbolischen, ästhetischen und reflexiven Gehalt gemessen wurde. Dabei spielten der Gebrauch von Symbolen, deren Verarbeitung in verschiedenen Bildästhetiken und deren Anbindung an einen soziokulturellen bzw. soziopolitischen Kontext sowie die Ausprägung einer Bildrhetorik eine Rolle. Bildern wurde damit jenseits einer reinen mimetischen Wiedergabe dessen, was im Land passiert, ein produktives Potential zugesprochen. Dies Überlegungen bilden die Hintergrundfolie zu der vorliegenden Arbeit. Die folgende Untersuchung hat zum Zweck, Bildzeichen in Facebook, die während der tunesischen Revolution veröffentlicht und verbreitet wurden, einer medienkulturspezifischen Betrachtung zu unterziehen. Dabei steht die Frage im Vordergrund, welche Rolle die digitalen Bildzeichen auf Facebook für die Konstitution einer oder mehrerer tunesischer Gegenkulturen gespielt haben. Dieser Fokus impliziert eine Blickerweiterung. In der vorliegenden Arbeit werden die veröffentlichten Bildzeichen aus einer kultur- und soziosemiotischen Perspektive betrachtet, wodurch weder die Bilder als für sich stehende Entitäten zu begreifen sind, noch die Gegenkultur als Ergebnis einer geschlossen kollektiven Aktivität erfasst werden kann. Vielmehr werden die Bildzeichen als Spuren individuellen Zeichenhandelns begriffen, welches auf Situationen und Dynamiken der eigenen Kultur reagiert, diese allerdings auch reflektiert und entscheidend mitprägt. Das Bildzeichen und seine konkrete signifikante Umgebung werden damit zu einem medialen Verknüpfungspunkt zwischen dem individuellen Handeln einerseits und kultureller Abgrenzung, Identitätsprägung und Hegemonie andererseits. Das Individuum greift über das Bildzeichen auf Kultur zu, affirmiert sie, eignet sie an oder verändert sie. Die Entstehung von mediatisierten Gegenkulturen in Tunesien zwischen 2010 und 2013 soll folglich in der Trias zwischen Medium, kollektiven Zeichen und individueller Zeichennutzung betrachtet werden.
6 Bildliche Zeichenpraktiken im Internet zwischen Selbst und Kultur
2 Forschungsgegenstand und Forschungsfeld 2.1 Zur Analyse von Zeichenhandeln in Social Network Sites Die Frage nach den Spezifika vom Umgang mit Zeichen im untersuchten Medium ist nicht leicht zu beantworten. Bei der Veröffentlichung digitale Bildzeichen auf dem Social Network Facebook im Internet kommen drei verschiedene Ebenen des Medialen zum Tragen. So ist das technische Dispositiv (einerseits ein interfähiger PC, ein mobiles Endgerät oder ein Mobiltelefon, andererseits die technische Infrastruktur) von der Dateninfrastruktur (den Protokoll- und Codeschichten des Internets) und zuletzt der grafischen Benutzeroberfläche der jeweiligen Internet anwendungen (das benutzerorientierte Backend auf Anwenderebene) zu unterscheiden.3 Setzt man sich mit den Social Networks als Medium der veröffentlichten Bildzeichen auseinander, so befindet man sich insbesondere zwischen beiden letztgenannten Medialitäten, wobei konkret für User und Wissenschaftler nur das Backend, also die Benutzeroberfläche des Social Networks erkennbar wird.4 Eine absolut trennscharfe Definition von Social Networks kann nicht gegeben werden, da sich in vielen Fällen ihre Funktionalitäten mit anderen webbasierten Anwendungen überschneiden. So definieren Boyd und Ellison (2007) Social Network Sites als Plattformen, auf denen Nutzer a) ein öffentliches oder semi‑öffentliches Profil erstellen können, b) die Gruppe von weiteren Nutzern, mit denen sie in Verbindung stehen (individuelle Netzwerke), darstellen können, und c) die Plattform durch dieses Verbindungssystem wahrnehmen, explorieren und nutzen können (vgl. Boyd und Ellison 2007: 211). Zugleich weisen die Autorinnen darauf hin, dass die Gewichtung dieser Funktionselemente zwischen den verschiedenen Anwendungen unterschiedlich ausfallen kann und zudem Teilbereiche ebenso auch in anderen Online-Anwendungen, die nicht als Social Network bezeichnet würden, angelegt sind. Ein Schwerpunkt der Social Networks liegt jedoch nicht auf dem Kennenlernen anderer Menschen, sondern vielmehr auf dem Bearbeiten und Präsentieren der entstandenen, individuellen Verbindungen zu anderen (vgl. ebd.). Die Sichtbarkeit der Profile und individuellen Netzwerke ist jeweils von dem konkreten Social Network und seiner Funktionalität abhängig.
3 Diese Unterscheidung dient insbesondere dem Zweck der späteren empirischen Betrachtung. De facto lassen sich diese medialen Ebenen ontologisch nicht trennen. 4 Eine kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der zweiten Ebene, der Dateninfrastruktur des Internets, erfolgt in der jungen Disziplin der Critical Code Studies (vgl. Berry 2011).
Forschungsgegenstand und Forschungsfeld 7
Das Social Network Facebook wurde 2004 als lokales internetbasiertes Netzwerk für Studierende der Universität Harvard gegründet. Da Nutzer sich zunächst mit der Emailadresse der Universität, später auch mit Adressen weiterer eingebundener Universitäten anmelden mussten, entstand der Eindruck einer geschlossenen Gemeinschaft (vgl. Boyd und Ellison 2007: 218). Erst Ende 2006 wurde das Netzwerk völlig geöffnet. Während es zuvor regelrecht auf den US-amerikanischen und anglophonen Bereich beschränkt war, öffnete sich Facebook ab Anfang 2008 durch die Entwicklung neuer Sprachversionen für einen weltweiten Gebrauch. Die nunmehr globale Plattform Facebook hat schnell eine eigene Oberfläche geschaffen, die insbesondere einen Schwerpunkt auf das Darstellen der Verbindungen zu anderen Nutzern und dem Veröffentlichen von Inhalten legt. Die beidseitig affirmierten (Kommunikations-)Beziehungen zu anderen Nutzern in Facebook werden als Freunde 5 bezeichnet. Diese Verbindungen werden auf dem Profil des Nutzers in einer Freundesliste mit einem Hyperlink zu den jeweiligen anderen Nutzern dargestellt. Zumeist innerhalb dieses Bezugsnetzwerks, seltener auf öffentlichen Seiten, finden einzelne Kommunikationsakte statt und werden kommunikative Inhalte veröffentlicht. So ist es in Facebook möglich, Textstatus, digitale Bilder, Videos zu veröffentlichen sowie ebensolche Inhalte anderer Nutzer weiterzuverbreiten. Insbesondere die Produktion individueller Inhalte wird unter dem Begriff user generated content subsummiert. Weiterhin kann durch die Like-Funktion6 und die Kommentarfunktion unterhalb der Inhalte auf Beiträge von Nutzern reagiert werden. Dieses Zeichenhandeln in Social Networks wird in den Vordergrund der Untersuchung gestellt. Es wird im Folgenden thematisiert als ein sinnstiftender, praktischer Umgang mit Zeichen in digital-medialen Umgebungen. In dieser Hinsicht ist es insbesondere als die Erstellung, Bearbeitung, Veröffentlichung und Weiterverbreitung multimodaler, zeichenbasierter Inhalte zu begreifen. Fraas, Meier und Pentzold weisen darauf hin, dass Zeichenhandeln insbesondere als eine zweckbestimmte, mediale Praxis, als „eine auf Innovationen und Konventionen basierende, intentionale Verwendung von digitalen Zeichen“ (2012: 49) zu begreifen ist. Dabei umfasst mediales Zeichenhandeln zwei Aspekte: Die semiotischen Inhalte und die damit verbundenen, spezifischen Verwendungspraktiken.
5 Danah Boyd weist darauf hin, dass diese Bezeichnung ebenfalls euphemistisch ist. Es handelt sich keinesfalls um freundschaftliche Beziehungen im alltäglichen Sinn (vgl. Boyd 2006), sondern eher um die digitale Erstellung einer kommunikativen Bezugsgruppe. 6 Bis 2016 war es lediglich möglich, mit einem Like auf Inhalte zu reagieren. Andere Reaktionen waren noch nicht angelegt.
8 Bildliche Zeichenpraktiken im Internet zwischen Selbst und Kultur Die Arbeit geht davon aus, dass sich innerhalb einer medialen Anwendung – in diesem Fall die Social Network Sites – distinkte Praktiken und Inhalte des Zeichenhandelns herausbilden. Somit kann von einem genuin Facebook-typischen Zeichenhandeln gesprochen werden, welches durch spezifische Innovationen, also Zeichen- und Bedeutungsveränderungen, sowie Konventionen im Sinne medienkulturgeprägter Zeichenverwendungsweisen von anderen Formen medialen Zeichenhandelns abgegrenzt werden kann (vgl. Fraas, Meier und Pentzold 2012: 49). Die Spezifika des Zeichenhandelns in Social Network Sites liegen insbesondere in der o. g. Definition von Boyd und Ellison, folgt das Zeichenhandeln doch der Zielsetzung, ein individuelles Netzwerk (loser) Verbindungen durch die Erstellung und Veröffentlichung, Weiterverbreitung sowie Ergänzung und Bewertung von Inhalten aufzubauen, aufrechtzuerhalten sowie (halb-) öffentlich auszustellen. Gemäß Schmidt, Paus-Hasebrink und Hasebrink (2009) gehören die kommunikativen Potentiale von Social Web-Anwendungen7 vor allem den Bereichen des Identitätsmanagements, Beziehungsmanagements und Informationsmanagements (vgl. Schmidt, Paus-Hasebrink und Hasebrink 2009: 3) an, wobei die pragmatische Nutzung von Social Network Sites die ersten beiden Bereiche in den Vordergrund der Nutzeraktivitäten stellt. In der Forschung zum Zeichenhandeln in Social Network Sites stehen hauptsächlich o. g. Nutzungsebenen, also die Erstellung und Verwaltung von Identität und Beziehungen im Vordergrund. So liegt ein Schwerpunkt soziologischer Untersuchungen der Nutzung von Social Network Sites auf der individuellen Online-Identität und der Dynamik sowie Kommunikation von virtuellen Gemeinschaften. Boyd und Ellison (2007) stellen bereits in einem frühen Stadium der soziologischen und mediensoziologischen Forschung zu Social Network Sites fest, dass die Untersuchungsbereiche insbesondere das individuelle Ausdrucksmanagement und die Identitätskonstruktion, die Struktur der individuellen Netzwerke, die Interaktion zwischen Online- und Offline-Gemeinschaften sowie die Frage der Privatheit in Social Networks betreffen. Diese Schwerpunkte werden in neueren Studien weiterverfolgt (vgl. die Beiträge von Parks und von Ellison, Lampe, Steinfield und Vitak in Papacharissi 2011; vgl. ebenso Zhao, Grassmuck und Martin 2008; vgl. die Beiträge von Adelmann, von Raunig und von Lovink in Leistert und Röhle 2011; vgl. Laux 2014). Auffällig ist hierbei, dass die Frage
7 Unter Social Web werden im folgenden die Internetanwendungen gefasst, welche durch nutzererstellte Inhalte und die Verschwimmung der klassischen Sender-Empfänger-Trennung geprägt sind (vgl. Schmidt, Paus-Hasebrink und Hasebrink 2009: 3). Die Social Network Sites sind eine Form der Social Web-Anwendungen.
Forschungsgegenstand und Forschungsfeld 9
der Spezifika der Zeichennutzung, die Verhandlung von Bedeutungen und die konkrete Produktion von Zeichen bei diesen Forschungen außer Acht gelassen werden. Eine Ausnahme stellt diesbezüglich die Arbeit von Meise (2015) dar, welche versucht, auch innerhalb der Zeichennutzungsweisen der Social Network-Kommunikation Spuren der Vergemeinschaftung und Identitätskonstruktion zu lesen. Damit wird der Rahmen technologischer Ermöglichung erweitert, um diesen hinsichtlich der eingesetzten semiotischen Verfahren zu prüfen. In anthropologischer und ethnologischer Forschung wiederum wird Zeichenhandeln in Social Network Sites aus individueller oder kulturvergleichender Perspektive beleuchtet. Einerseits stehen auch hier Bereiche der Identitätsarbeit und Selbstdarstellung sowie Beziehungsmanagement on- und offline im Vordergrund (vgl. Dalsgaard 2008, Senft 2008, Horst 2009, Miller 2011, Horst und Miller 2012). Andererseits wird in diesem Rahmen ebenso die identitäts- und gruppenbildende Funktion des Zeichengebrauchs thematisiert. In den medienwissenschaftlichen Forschungsdiskursen von Reichert (2008) und Lovink (2011) erfolgt eine kritische Auseinandersetzung mit Social Network Sites. Dabei werden Nutzungsweisen und Zeichenhandeln vor dem Hintergrund vorherrschender Zeichenregimes und hegemonialer (Selbst-)Inszenierungspraktiken reflektiert. Beide stellen heraus, dass die individuelle Nutzung von Social Networks und insbesondere der damit verbundene user generated content den dominanten Nutzungsweisen und Ästhetiken der Anwendungen folgen und somit eine kreative Zeichennutzung im Sinne der o. g. Innovation nicht möglich sei. Ähnlich den besprochenen Forschungsergebnissen setzt sich die vorliegende Untersuchung ebenso mit der Frage nach Identität und Sozialität in Social Networks auseinander. Sie verortet sich allerdings im Bereich der medienkulturwissenschaftlichen Erforschung von Internetanwendungen und bezieht damit zunächst die u. a. von Reichert (2008) bedachte Vermittlung zwischen (medien-) kulturellen Konventionen und individueller Zeichenaneignung mit ein. Damit wird individuelle Zeichennutzung hinsichtlich kollektiver Gebrauchsmuster, Lesarten und Dynamiken perspektiviert. Es wird erfragt, inwiefern Nutzer durch kommunikatives Handeln über Zeichen kulturelle Bedeutungsmuster affirmieren, Bedeutungen aushandeln und verändern oder subvertieren. Es wird im Folgenden davon ausgegangen, dass dann Identität und Sozialität durch user generated content insbesondere auf der pragmatischen Ebene der Kommunikation hergestellt werden: Der Nutzer gebraucht Zeichen, um zwischen sich und der Umgebung (online sowie offline) des individuellen Netzwerks zu vermitteln. Es werden deshalb in der Arbeit individuelle Akte des Zeichenhandelns immer kollektiven Bedeutungs- und Gebrauchskonventionen gegenübergestellt.
10 Bildliche Zeichenpraktiken im Internet zwischen Selbst und Kultur Diese Perspektive beinhaltet allerdings die Gefahr, entweder die Wirkmacht von zeichenhandelnden Subjekten oder durch ein Kollektiv, eine hegemoniale Gruppe oder durch weitere Machtprozesse determinierte Zeichenkonventionen als zu stark zu bewerten. So kann man demnach das individuelle Zeichenhandeln und den user generated content als treibende Kraft der Medialität von Social Networks ansehen, wodurch die Nutzung von Social Networks auf das Empowerment des Individuums reduziert würde (vgl. Zhao, Grassmuck und Martin 2008). Dieser Wahrnehmung liegt ein Technikdeterminismus zugrunde, da angenommen wird, die technologischen Strukturen der Anwendung beinhalteten per se ein Potential der Reflexion, Sozialität und damit des individuellen Empowerments. Der Gegenposition wiederum haftet ähnlicher Technikdeterminismus an, da hier ein medientechnologieinduziertes bzw. mediendispositivinduziertes Codegerüst angenommen wird, welches sich aufgrund des medienkulturellen Determinismus dominant gegenüber individueller Nutzungspraktiken auswirkt. In dieser Sichtweise werden beispielsweise Selbstoptimierung und Identitätsmanagement durch die ideologische und technologische Struktur der Web 2.0-Technologien bestimmt (vgl. hierzu Reichert 2008). Die Gefahr eines solch inhärenten Medientechnologiedeterminismus soll vermieden werden, indem Zeichenhandeln als ein produktives Austauschverhältnis und Wiederaufgreifen zwischen Individuum und dominanter Kultur thematisiert wird.8 Damit wird das Zeichen- und Medienhandeln, also der kollektive und individuelle Umgang mit Zeichen und Medien, zum zentralen Verknüpfungspunkt zwischen diesen in o. g. Perspektiven als konkurrierend besprochenen Dimensionen Individuum vs. Kollektiv. Hier wird das Verständnis von Douglas Kellner geteilt, wonach Medienkultur Individuen [veranlasst, JE], mit der etablierten Organisation von Gesellschaft konform zu gehen, sie stellt aber auch Ressourcen zur Verfügung, die Individuen gegen diese Gesellschaft ermächtigen können. (2003: 3).
2.2 Zur Rolle von Bildzeichen in Social Network Sites Ein zunehmend bedeutsamer Bestandteil dieser Medienkultur sind visuelle und audiovisuelle Zeichenressourcen. Dabei haben private Bildpraxen beson-
8 Eine solch dialektische Betrachtung wurde herausragend umgesetzt von Christoph Jacke (2004) in seiner Betrachtung der symbolischen Austauschverhältnisse zwischen Subkultur und Popkultur.
Forschungsgegenstand und Forschungsfeld 11
ders in Social Networks seit ihrer Entstehung stark an Prominenz zugenommen (vgl. Walser und Neumann-Braun 2013: 151). Dies liegt einerseits an der zunehmenden Fokussierung der Betreiber von Social Network Sites auf die Produktion und Verbreitung von visuellem user generated content, andererseits an der verbesserten Funktionsbreite mobiler und stationärer Endgeräte hinsichtlich der Erstellung und Bearbeitung von Bildzeichen.9 Es ist zunächst problematisch, eine eindeutige Definition von Bildzeichen und damit des Bildzeichenhandelns in Social Network Sites zu finden. Ein erster Grund dafür ist die Digitalität des Mediums. Dadurch werden Definitionen, die das Bild als Abbildung im Sinne einer Sichtbarmachung (vgl. Sachs-Hombach 2009: 12 f.) und unter dem Aspekt ihrer Materialität verhandeln, obsolet. Vielmehr basieren alle Zeichentypen in Internetanwendungen auf diskreten Codes, welche über ein grafisches Interface visualisiert werden. Weiterhin ist auch eine Definition des Bildes als ikonisches und/oder als plastisches Zeichen (vgl. Nöth 2000: 473) im Internet schwer haltbar. In Social Network Sites findet sich eine heterogene Ansammlung verschiedenster visueller Zeichen: Es gibt digitale und digitalisierte Fotografien, Digitalisierungen von Gemälden und Zeichnungen, am Computer erstellte Zeichnungen, Grafiken, in Farbflächen eingefügten Text, kurze Videos, animierte Bilder,10 Diagrammgrafiken, etc. Folglich sind die Bildzeichen nicht nur als reine Abbilder und Ähnlichkeitsverweise auf eine Realität zu kennzeichnen. Sie changieren zwischen bildlich-ikonischen und textuell-symbolischen Bezugnahmen auf eine externe Referenz und selbstreferentielle Zeichen und sind in dieser Heterogenität demnach nicht unter dem Mimesis-Aspekt von Bildern zu fassen. Zudem stellt sich die Frage, wie sich genau Referenz bei hypertextuell geprägten und multimodal eingebetteten Bildzeichen in Social Network Sites fassen lässt. Die Social Network-Bilder werden von Überschriften und Untertiteln begleitet. In die dazugehörige Kommentarspalte werden schriftliche aber auch weitere bildliche und bewegtbildlich-audiovisuelle Inhalte eingestellt. Die Bildzeichen insbesondere in Facebook sind als hypertextuelle Komplexe zu begreifen. Ein Bild steht dort nie für sich, es birgt Funktionen der Navigation, die sich dadurch äußern, dass bei einem Cursorklick auf das Bild eine Weiterleitung auf den Ursprungsort des Bildes (z. B. das Bildalbum) oder auf ein weiteres Bild,
9 Allen voran stehen hierbei die Entwicklungen der mobilen Kameratechnik in Smartphones und Tablet-PCs (vgl. Eisewicht und Grenz 2017: 119 f.) sowie die Verbreitung vereinfachter Bildbearbeitungsprogramme in Form von Applikationen für diese Geräte (vgl. Eisewicht und Grenz 2017: 121 f.). 10 Damit sind animierte Gif-Bilddateien gemeint.
12 Bildliche Zeichenpraktiken im Internet zwischen Selbst und Kultur auf einen verlinkten anderen Nutzer oder auf eine Bildbeschreibung erfolgt. In diesem Kontext spricht Sandbothe von der „Verschriftlichung des Bildes“. Dieses „erscheint nicht länger als Referenz und Schlusspunkt eines Menüs, sondern wird selbst zu einem Zeichen, das auf andere Zeichen verweist“. (1996: 427) Diese semantische und funktionale Erweiterung des Bildzeichens in Social Network Sites eröffnet demnach einerseits die Frage, worauf sich das Bild genau bezieht, was die eigentliche Referenz des Zeichens ist. Andererseits stellt sich die Frage nach der Grenze des Bildes – wo beginnt die Bildlichkeit von Social Network-Bildern, wo lässt sie sich klar von einer anderen Modalität abgrenzen? Neue Medialitäten führen demnach ebenso zu Brüchen und Verschiebungen in den Charakteristika dessen, was ein Bild ist. Eine Definition von Bildzeichen in Social Network Sites ist dadurch zunächst nicht in anderer Weise als einer techno-pragmatischen Dimension anzugeben: Um einen klaren Bezug auf von Nutzern produzierte, aufgegriffene, veränderte und veröffentlichte Bildzeichen herzustellen, wird hier die Notion des Rahmens genutzt. Der Rahmen ist jedoch nicht als materielle Begrenzung, als klare Abscheidung von anderen modalen Inhalten zu sehen (vgl. Bruhn 2009: 27–29), sondern als durch das Interface selbst vorgegebene Struktur zu verstehen. In Facebook werden Bildzeichen durch einen klaren Rahmen von anderen Inhalten abgegrenzt. Diese Bildzeichen lassen sich zudem im Quellcode der Anwendung als Bilddateien identifizieren und können in dieser Form gespeichert werden. Neben dieser interface-orientierten Definition bietet Facebook eine weitere, kategorische Definitionsebene an. Das Interface enthält in dem Profil von Nutzern eine Untersektion, die mit dem Titel „Fotos“ benannt ist. Dort finden sich alle Bildzeichen, die vom Nutzer als Profil-, Album-, Titelbild oder Bild innerhalb der Chronik veröffentlicht worden sind. So werden nachfolgend exklusiv Bildzeichen untersucht, die dieser Kategorie zuzuordnen sind. Demnach werden in der Untersuchung weder Bildzeichen berücksichtigt, die statische Elemente der grafischen Nutzeroberfläche der Anwendung sind, wie Logos, Schriftzüge, etc., noch Bildzeichen, die im Rahmen anderer Kommunikationsaktivitäten (z. B. geschaltete Werbeanzeigen) veröffentlicht wurden. Bezieht man sich auf die von Facebook-Nutzern veröffentlichten Bildzeichen, so wird relativ schnell von einer „Bilderflut“ (Walser und Neumann-Braun 2013: 151) gesprochen. So wurden allein auf Facebook im Jahr 2012 monatlich im Durchschnitt 6 Milliarden Bilder veröffentlicht (vgl. Walser und Neumann-Braun 2013: 151). Trotz dieser neuen Dimension visuellen Zeichenhandelns, ist bisher wenig Forschung zum Thema erschienen. Insbesondere anthropologische und medienkulturwissenschaftliche Zugänge fokussieren auf die visuellen Kommunikationspraktiken in Social Networks. Dort werden vor allem fotografische Zeichen und vor allem Portraits bzw. Selbstportraits sowie fotografische Abbilder der individuellen Lebenswelt des Nutzers ins
Forschungsgegenstand und Forschungsfeld 13
Auge gefasst. Ganz ähnlich den Studien zum Zeichenhandeln in Social Networks generell wird auch hier ein Schwerpunkt auf die identitätsbildende und gemeinschaftsbildende Funktion der fotografischen Zeichen gelegt (Strano 2008; Mota 2013; Mota 2016; Mendelson und Papacharissi 2011; Richter und Schadler 2009). Hervorgehoben werden sollen an dieser Stelle vier Forschungsprojekte, welche den Rahmen der Repräsentation des Selbst durch veröffentlichte private Fotografien überschreiten. Die medienwissenschaftlichen Forschungsergebnisse des Schweizer Forschungsbereiches Jugendbilder im Netz um Ulla Autenrieth und Klaus Neumann-Braun stechen durch eine methodische Kombination von qualitativen Interviews und bildwissenschaftlichen Analysen der zumeist fotografischen Bilder hervor. Dabei wird einerseits ein Fokus auf die fotografische Selbstdarstellung in verschiedenen Kategorien von Posentypen (Astheimer et al 2011; Walser und Neumann-Braun 2013), andererseits auf die Darstellung von Freundschaftsbeziehungen und der alltäglichen Lebenswelt (Autenrieth 2011) gelegt. Die Bildzeichen werden hier allerdings in doppelter Hinsicht gelesen – als Zeichen innerhalb einer Kommunikation und damit als Möglichkeitsbedingungen von Identitätsarbeit und Gemeinschaft sowie als visuelle Zeichen, in deren Inhalt Gemeinschaftszugehörigkeit und der eigene Identitätsentwurf wiedergegeben wird. Deshalb sind Selfie bspw. keine einfachen Dokumente narzisstischen Handelns (Autenrieth 2014). Brooke Wendt (2014) untersucht die Selfie-Kultur in Instagram und stellt heraus, dass sich Darstellungsweisen in neuen fotografischen Selbstportraits an der Veröffentlichungslogik zwischen Produktion und Verbreitung der entworfenen Identität ausrichten. So werden bestimmte auf die Online-Identität zugewiesene Eigenschaften im Bild des Gesichts und Körpers inszeniert. Wendt stellt darüber hinaus aber auch fest, dass Annotationen zu dem Bild, beispielsweise Hashtags und Bildunterschriften, dieses in seiner Bedeutung erweitern und der Bildkommunikation zuträglich sind. Wendts Publikation zeichnet sich dadurch aus, dass sie Sichtbarkeitsordnungen in Social Networks (in diesem Fall Instagram) analysiert und diese mit visuellen Praktiken in den Netzwerken vergleicht. Dabei betrachtet sie nicht nur die Bildzeichen, sondern auch multimodale Kontexte. Einen Schwerpunkt auf Vergemeinschaftung durch in Social Network Sites veröffentlichte Bildzeichen legt Reißmann (2014). Vergemeinschaftung ist hier nicht nur Produkt der direkten Kommunikation mit dem individuellen Netzwerk über Bildzeichen, sondern wird auch durch die visuelle Markierung sozialer Zugehörigkeit über die Nutzung gruppenspezifischer Codes angezeigt. In ganz ähnlicher Weise nutzen jugendliche Subkulturen nach Richard (2010) Online-Bilder. In der Art, wie die Jugendlichen Bilder produzieren und veröffentlichen, zeigen sie sich als Medienprofis: Inszenierung bedeutet hier die Herstellung von Authentizi-
14 Bildliche Zeichenpraktiken im Internet zwischen Selbst und Kultur tät durch faktuale und fiktionale Bilderzählungen, bei denen mediale Posen und Starimages kopiert und aufgeführt werden. Die vorliegende Arbeit will die Topoi der bisher besprochenen Analysen vertiefen und einen von Richard (2010) bereits angedeuteten Schwerpunkt fortführen: Das Online-Bildzeichen wird im Rahmen seiner ikonischen Differenz (Boehm 2010) thematisiert, also in seiner Fähigkeit, einerseits Identität, Gemeinschaft, Lebenswelt und Lebensstil abzubilden, andererseits sich selbst als Bild sichtbar zu machen. Insbesondere durch letzten Punkt werden kulturelle Codes und dominante Repräsentationsmuster sichtbar gemacht, wird Zugehörigkeit zu einer Kultur visuell greifbar, aber auch verhandelbar gemacht. Durch das Bild kann visuell zwischen Zeichenkonventionen und individueller Bedeutungszuschreibung vermittelt werden. Das Individuum hat Anteil an der mediatisierten visuellen Kultur, indem es produktiv in Social Network Sites zum Zeichenproduzenten und Sender wird.
2.3 Digitale Bildzeichen im Kontext der Tunesischen Revolution Die vorliegende Untersuchung widmet sich individuellem Bildhandeln aus kultursemiotischer Sicht. Anhand des Beispiels der tunesischen Revolution und dem damit verbundenen Bildzeichenhandeln zwischen 2010 und 2013 soll geprüft werden, wie Facebook-Nutzer mit vorhandenen Bildzeichenressourcen umgehen und inwiefern sie dem Arsenal von Bildern neue Zeichen hinzufügen. Der Kontext der tunesischen Revolution bietet hier – aus kultursemiotischer Sicht betrachtet – eine interessante Konstellation. Wie zuvor beschrieben, wurden mit dem Eintreten der ersten Proteste Ende 2010 Bildzeichen massenhaft in Facebook als Ausdrucksmittel für politischen Widerstand genutzt. Es ist deshalb die Grund these der vorliegenden Arbeit, dass Bildzeichen in Zeiten solch soziokulturell signifikanter Zustände deutlich aus dem o. g. Schwerpunkt der individualistischen Identitätsarbeit ausbrechen. Diese Hypothese lässt sich anhand der Forschung zur Rolle der Online-Bildzeichen während der tunesischen Revolution nachvollziehen. So beschreibt Bouzouita (2011) das Zeichenhandeln tunesischer Social Network-Nutzer während der Revolution als eine „Fabrication d’un soi révolutionnaire“ (Bouzouita 2011: 153). Diese revolutionäre Identität sei nicht Ergebnis einer narzisstischen Selbstinszenierung, sondern ergäbe sich durch eine Interaktion zwischen individueller Mediennutzung und kollektiven Bewegungen sowie Zeichenpolitiken. Am Beispiel der Bildzeichennutzung in 2011 charakterisiert Bouzouita diese Zeichenpo-
Forschungsgegenstand und Forschungsfeld 15
litiken als „Cyber-Guerre sémiotique“ (Bouzouita 2011: 155). Durch kollektive und kritische Aneignung von Bildzeichen, durch deren Veränderung und Verbreitung würde semiotisch einer widerständigen Haltung Ausdruck verliehen. Eine ähnliche Richtung schlagen Ferjani und Mekki (2011) in einem kurzen Bericht über den Protest in Social Networks und die repressiven Reaktionen des Regimes ein. Sie bezeichnen das Bildzeichenhandeln als Taktik einer digital-semiotischen Guerilla. Die Autoren reflektieren hierbei das Online-Zeichenhandeln während der Revolution als virtuelle Spiegelung konkret-materieller Ereignisse. Eine weitere Dimension entwickelt Yacoub (2017) in einer ikonographischen Analyse der verschiedenen Flaggenmotive während und nach der tunesischen Revolution. Der Autor untersucht nicht nur die Entstehung neuer Bildlichkeiten durch die Aneignung der Nationalflagge, nicht nur die politische Mobilisierungskraft, sondern ebenso auch das Entstehen neuer Subjektivitäten in den visuellen Diskursen. Yacoub hält fest, dass durch die Bildzeichen die subjektive Wahrnehmung der Nation und des Nationalstolzes neu geschaffen wird. Durch bildliche Umwandlungen und Bildaneignungen würden neue Vorstellungswelten und Re-Imaginationen (vgl. Yakoub 2017: 38) geschaffen. Während o. g. Autoren insbesondere auf die Bildzeichensorte der tunesischen Nationalflagge verweisen, zeichnet sich Mihoubs (2011) Betrachtung des Cyberaktivismus in Tunesien durch den Einbezug von fotografischen Zeichen, massenmedialen Bildern und Karikaturen aus. Sie thematisiert die Funktion von Online-Bildern im Rahmen der Revolution einerseits als Mittel der Informationsweitergabe, der politischen Mobilisierung und des semiotischen Widerstands. Andererseits seien die Social Networks zu einem „support significatif d’écriture et de stockage de la mémoire collective tunisienne“ (Mihoub 2011: 27) geworden. Insbesondere durch Bildzeichen würden kollektive Traumata durch die Diktatur Ben Alis verhandelt und bewältigt, indem sie das kollektive Gedächtnis der politischen Erfahrung vor und während der Revolution visualisieren. Hawkins (2014) erfasst in seiner Untersuchung der ästhetischen und kommunikativen Ebenen von Demonstrationsfotografien, der tunesischen Flagge als digitale Grafik und des Harlem Shake-Videos in Tunesien ebenso die multiplen Funktionen von Bildkommunikationen während der Revolution. Er hält fest, dass Bilder in diesem Kontext nicht auf ihre Abbildfunktion reduziert werden können: Images shifted from attempts to capture the power of populist protests on the streets to examples and embodiments of the protest. Rather than recording the protests, the images became the protests, and the audience became all those who had access to digital transmission. (Hawkins 2014: 40)
16 Bildliche Zeichenpraktiken im Internet zwischen Selbst und Kultur Allein die visuelle Teilhabe der Nutzer, die Erstellung eigener Bilder und die Veröffentlichung auf deren Profil berge demnach die Möglichkeit eines visuellen Protests. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass alle Positionen eine rein narzisstisch ausgerichtete Sozialfunktion der Bildzeichen in Social Network Sites während der tunesischen Revolution revidieren. So stehen die Funktionen des politischen Protests, der Gemeinschaftsbildung, der Verhandlung vergangener kollektiver Erfahrungen und der Entwurf von Zukunftsvisionen und neuen Vorstellungswelten in dieser konkreten historischen Situation im Vordergrund. Die vorliegende Studie untersucht den Austausch zwischen individuellen Nutzungsweisen und gesellschaftlich zugeschriebenem Wert sowie die Auswirkung dieser Interaktion auf die soziokulturelle Lebenswelt und auf die Art der Darstellung und Verbreitung der Bildzeichen. Dabei nimmt sie einen kultursemiotischen Fokus ein, d. h. es werden die Zusammenhänge zwischen Darstellungs- und Bedeutungsebene des Bildzeichens in Abhängigkeit von individuellen Nutzungsweisen innerhalb des Mediums und von kollektiven Zuschreibungen sowie mental dominanten Sichtweisen thematisiert. Damit eröffnet sich einerseits eine konkrete Blickweise auf die kulturellen Dimensionen von Zeichenhandeln des Protests, andererseits wird Bildprotest auch als alltägliche Dimension individuellen Zeichenhandelns greifbar. In dieser Hinsicht vertieft und expliziert die Arbeit die Reflexionslinien der o. g. Artikel zum Thema. Dem Vorbild von Mihoub (2011) folgend, werden dabei alle in die o. g. Definition passenden Bildzeichen berücksichtigt. Es werden nicht nur Bildtypen wie fotografische Zeichen oder – wie bei o. g. Forschungsansätzen oft fokussierten – Bildgattungen wie die tunesische Flagge als Grafik analysiert. Vielmehr werden ebenso Karikaturen, Selfies sowie Collagen in die Analyse einbezogen. Dadurch wird die Kommunikation über Facebook-Bilder zu einem historischen Zeitpunkt und in größtmöglicher Breite erfasst. Zudem werden multimodale Inhalte als Kontext bzw. korrespondierende Zeichen des untersuchten Bildzeichens beachtet, wodurch eine Beschränkung auf das rein Bildliche vermieden und der Multimodalität der Internetkommunikation Rechnung getragen wird. Letztendlich sollen umfassende Bilddiskurse eines Individuums sowie entstehende gemeinschaftlich verwendete Gattungen von Bildzeichendiskursen und Bildzeichensemiosen betrachtet werden. Dazu ist es auch entscheidend, die verschiedenen Bildtypen in Interaktion zueinander zu analysieren.
Fragen und Ablauf der Studie 17
3 Fragen und Ablauf der Studie Ausgehend von der o. g., vorläufigen Definition individueller Bildzeichen in Social Network Sites wird eine Analyse der im Zeitraum von 2010 bis 2013 stattgefundenen Bilddiskurse und -veröffentlichungen von tunesischen Facebook-Nutzern vorgenommen. Es wird hierbei davon ausgegangen, dass sich Nutzer der Bildzeichen bedient haben, um die Zugehörigkeit zu einem kulturellen Programm des Protests zu markieren und sich damit in die widerständigen Bewegungen ab 2010 einzuschreiben. Zugleich soll dieser Prozess auch als individuelle, symbolische Aneignung von Protest verstanden werden. Demnach wird individuelles Zeichenhandeln als aktive Mitwirkung verstanden und der einzelne Nutzer als aktiver Part in der Stabilisierung, Verhandlung und Innovation der Protestkultur angesehen. Aus kultursemiotischer Sicht führt diese Hypothese zu einer Reihe von Fragen: So steht generell im Vordergrund, welche Bildzeichen bzw. Bildzeichenverhandlungen und -diskurse typisch für das politisch widerständige Programm in Tunesien zwischen 2010 und 2013 waren. Ausgehend von dieser Betrachtung soll erfragt werden, welcher Umgang und welche Interaktion zwischen individuellen Social Network-Nutzern und den Bildzeichen feststellbar ist. Dabei werden Bilder in ihrer Doppelseitigkeit zwischen Vorstellung (mentalem Bild) und Darstellung (visuelles resp. materielles Bild) beachtet (vgl. Nöth 2000: 472). So ist ein Gegenstand der Analyse, wie bestimmte Vorstellungen der Revolution oder des kollektiven Widerstands in individuellen visuellen Bildern realisiert werden und welche Ausprägung sie dabei erfahren. Die unternommenen qualitativen Interviews, die bildkontextualisierenden Zeichen bzw. die entstehende Anschlusskommunikation in Social Networks ermöglichen hierbei einen Einblick in die Deutung dieser visuellen Realisationen und damit auf verschiedene individuelle Lesarten des Bildes. Zugleich wird geprüft, inwiefern bereits visualisierte Bilder individuell angeeignet werden, also neu visualisiert, umgeschrieben, erweitert und durch flankierende Zeichen ästhetisiert werden. Diese Betrachtungen erlauben einen Rückschluss auf die individuellen bildlichen Zugehörigkeitsbekundungen zum kollektiven Widerstand. Es soll deshalb anschließend an zuvor genannte Reflexionen auch um die Frage des Ausdrucks politischer Subjektivität und die Inszenierung eines widerständigen Ichs gehen. Da die individuell geprägten Bildzeichen wiederum Eingang finden in die Bildsphäre der widerständigen Kultur innerhalb Facebooks, wird ebenso der Blick auf das Kollektive der widerständigen Kultur gelenkt: Über die Betrachtung kollektiver Bildpraktiken, die sich insbesondere an einzelnen Bildzeichenkategorien nachvollziehen lässt, wird erfragt, inwiefern kollektive Deutungsmuster und Denkweisen durch die Bildkommunikation entstehen. An dieser Stelle
18 Bildliche Zeichenpraktiken im Internet zwischen Selbst und Kultur werden auch das semiotische Werden und Verhandeltwerden der Bilder, also deren Semiose, analysiert. Dabei wird untersucht, ob es spezifische Muster der Bildzeichennutzung und -verhandlung innerhalb des widerständigen Kollektivs in Tunesien gibt. Der Heterogenität und Komplexität dieser Fragestellungen werden durch eine interdisziplinäre Erarbeitung Rechnung getragen, welche bildtheoretische, bildwissenschaftliche, bildsemiotische und zudem kultur- und mediensemiotische Ansätze zu vereinen sucht. Die dadurch entstehende Theorie von Bildzeichen in Social Networking Sites im Grenzbereich zwischen individueller und kollektiv-kultureller Zeichennutzung dient als Grundlage für eine analytische Betrachtung der Bildzeichen in o. g. Zeitraum. Die soziosemiotisch-medienkulturwissenschaftliche Analyse konkreter Bilddaten aus Facebook wendet einerseits Methoden der Bild- und multimodalen Semiotik an, andererseits bezieht sie Daten aus qualitativen explorativen Experteninterviews mit ein. Demnach gliedert sich die Studie in zwei Bestandteile. Der theoretische Teil beginnt mit einer Betrachtung der semiotischen Spezifizität von Bildzeichen in Social Network-Umgebungen. Hierbei werden neben der generellen Semiotik des Bildes und der Bildsemiose insbesondere die digitale Natur der Bildzeichen, deren Einbettung in die technisch-medialen Umgebungen der Social Network-Interfaces und damit in multimodale Kontexte berücksichtigt. Zudem werden die Grenzen der Semiotik für die Betrachtung solcher Bilder reflektiert. In einem zweiten Schritt wird die Medienkultur dieser Bildzeichen innerhalb von Social Networking Sites erarbeitet, wobei mediales Alltagshandeln, Medienaneignungsprozesse und insbesondere die spezifische Kultur des Internets sowie die digitale Medienkultur aus Sicht des soziokulturellen Konstruktivismus nach S. J. Schmidt beleuchtet werden. An dritter Stelle werden Überlegungen zu soziopolitischen Dimensionen der Bilder angeführt. Hier werden soziosemiotische Theorien an der Schnittstelle zwischen Individuum und Kollektiv mit Sichtweisen der Cultural Studies auf widerständiges und hegemoniekritisches Zeichenhandeln und bildanthropologische Positionen zur Kultur und Politik der Bilder vermittelt, um eine Perspektive auf die Dimensionen soziokulturellen Bildhandelns entwickeln zu können. Einen Abschluss findet der theoretische Teil mit der Entwicklung einer semiotisch-medienkulturwissenschaftlichen Methodik sowie der Beschreibung des untersuchten Korpus. Der analytische Teil wird eingeleitet von einer medienkulturellen Betrachtung der soziopolitischen und medienpolitischen Ereignisse und Dynamiken in Tunesien zwischen 2010 und 2013. In der darauffolgenden Analyse werden anhand verschiedener Bildgenres Aspekte des bildlichen Protests auf Facebook genauer eruiert. Zunächst wird ein Schwerpunkt auf die ab Ende 2010 vermehrt auftauchenden Grafiken der tunesischen Nationalflagge gelegt. Anhand dieser Bildzei-
Fragen und Ablauf der Studie 19
chen wird die Kollektivierung des Protests einerseits sowie die daran anschließende Individualisierung bzw. Ausdifferenzierung in politische Teilprogramme andererseits nachvollzogen. Im nächsten Kapitel werden fotografische Repräsentationen der Demonstrationen sowie die Fotografien von protestierenden Individuen näher betrachtet. In Anbetracht der spezifischen Repräsentationsform der Fotografien gerät hierbei die Wechselwirkung von bildlicher Inszenierung und Authentifizierung in den Blick. Weiterhin bieten die Fotografien von verstorbenen oder abwesenden Personen sowie deren visueller Veränderung einen Zugang zu einem quasi-magischen Bildhandeln innerhalb der Protestkultur. Dadurch kann die Konstruktion sowie Dekonstruktion von Mythen und Helden des Protests untersucht werden. Die Analysen werden durch ein Kapitel zu randständigen Bildzeichen innerhalb der Protestkultur abgeschlossen. Diese Karikaturen und Gemälde zeichnen sich durch ein reflexives Gehalt aus, welches sich nicht nur gegen die semiotischen Strukturen der hegemonialen Politik richtet, sondern zugleich die innerhalb der Proteste etablierten Sinnstrukturen in Frage stellt. Die behandelten Bildzeichen stellen selbstverständlich nur einen Ausschnitt aus der Vielfalt der auf Facebook verbreiteten Bilder dar. Im Zentrum der Analyse steht eine Annäherung an die kulturimmanenten Sinnbildungsprozesse und damit verbundenen soziokulturellen Dynamiken. Ihren Ausgang findet diese Betrachtung in der grundlegenden Theorie der Bildsemiotik, welche an die spezifische Medialität der digitalen Bildzeichen in Social Networks angepasst wird.
Teil II: Die kulturelle Praxis digitaler Bilder in Social Networks
1 Semiotik digitaler Bildzeichen in Social Network Sites Im Folgenden werden die Medialität und spezifische Medienkultur von digitalen Bildzeichen in Social Network Sites (SNS) theoretisch erarbeitet. Zunächst steht die spezifische Semiotik digitaler Bildzeichen in Social Networks im Vordergrund. Dabei stellt sich insbesondere die Frage, inwiefern bei digitalen Bildern in der Umgebung von Social Network Sites von einer distinkten Zeichenkategorie mit charakteristischen Eigenheiten gesprochen werden kann. Dazu werden die Zeichenhaftigkeit von diesen Bildern und die damit verbundenen Prozesse von Bedeutungsentwicklung und -zuweisung problematisiert. Einer besonderen Betrachtung bedürfen die Technizität und Digitalität der Bildzeichen sowie deren Einbettung in multimodale Zeichenkontexte.
1.1 Zu einer generellen Semiotik von Bildzeichen In der vorliegenden Arbeit werden Bilder aus semiotischer Sicht betrachtet, um einen Fokus auf die Spielarten visueller Bedeutung zu legen. Damit treten Fragen nach der Ästhetik von Bildern, nach den Techniken der Bildproduktion oder nach der visuellen Wahrnehmung zunächst in den Hintergrund. Im folgenden Kapi tel wird die Zeichenhaftigkeit von Bildern anfangs problematisiert und anhand der Theorien von Charles Sanders Peirce, Roland Barthes und Umberto Eco konkretisiert. Diese Autoren thematisieren Bilder als Mittel des Bedeutens, mit deren Hilfe Sinn ausgedrückt und übermittelt werden kann. Zugleich bergen Bilder eine repräsentative Funktion. Sie bilden etwas ab und verweisen in dieser Hinsicht als Zeichen auf etwas. Diese Bezeichnung läuft in einem kommunikativen Akt ab. Bilder sind demnach Zeichen und „kommunikative Medien“ (Sachs-Hombach 2014). Während die Zeichenhaftigkeit von Bildern aus dieser Perspektive heraus betrachtet zunächst klar zu sein scheint, ist die Charakterisierung von Bildern als Zeichen oft umstritten. Im Zentrum dieser Kritik steht der Abbildcharakter des Bildzeichens. Die Zeichenhaftigkeit des Bildes wird demnach an seinem Charakter als „Abbild […] von Ausschnitten der Welt“ (Nöth 2000: 473) bemessen. In dieser Perspektive erscheinen nun Bilder problematisch, die abstrakt sind oder fiktive Dinge abbilden. Ein Sonderfall entsteht zudem, wenn, wie Wiesing im Falle eines computeranimierten Schachbretts andenkt, Computerbilder gar nicht mehr auf eine außerbildliche Realität verweisen, sondern die Bildlichkeit selbst zum funktionalen Zweck des Bildes werden lassen – das Schachbrett wird innerhalb des Computers bespielt und damit sichtbar gemacht (vgl. Wiesing 2000: 97). https://doi.org/10.1515/9783110643985-002
24 Die kulturelle Praxis digitaler Bilder in Social Networks In allen drei Fällen neigen Kritiker der Zeichenhaftigkeit von Bildern dazu, ihnen den Status des Zeichens abzusprechen oder ihre Eigenheit als eine über das rein Semiotische hinausgehend zu thematisieren. Nach Nöth (2005: 54 f.) liegt diesen Kritiken ein grundlegend falsches Verständnis des Bildes als Zeichen zugrunde: Bildliche Abbildung wird hier thematisiert als ein Verweis auf ein faktisch existierendes, partikuläres Etwas. Weiterhin müsse die repräsentierte Sache als greifbares Objekt im Bild abwesend sein. Was bleibt, sei lediglich die Abbildung als bildliche Darstellung. Nöth hebt hierbei hervor, dass diese Sicht die Vielfalt bildlicher Zeichenhaftigkeit unterschätze: Bilder als Zeichen sind tatsächlich mentale Zeichen und zugleich abbildende, materialisierte und konkretisierte Zeichen. Diese doppelte Zeichenhaftigkeit des Bildes ist bereits in den Begriffen des Bildes enthalten: Das lateinische imago und das französische image beinhalten beide Dimensionen der Bildlichkeit (vgl. Nöth 2000: 472). Im Englischen wird das picture vom image unterschieden. Während picture eine einzelne, materialisierte Realisation eines Bildes bezeichnet, sind images kollektive und damit mentale Gruppen von Bildern (vgl. Bruhn 2009: 15). Diese Bedeutungselemente sind ein Kennzeichen der semiotischen Stärke des Bildes: materiell-visuelle Bilder sind als Realisationen mentaler Bilder zu verstehen. In dieser Hinsicht werden Bilder in der Semiotik als Zeichen verstanden. Sie verweisen, vermittelt durch ein mentales Bild, auf ein Referenzobjekt. Es bietet sich insbesondere Charles Sanders Peirces semiotische Theorie an, um Bilder als Zeichen zu erfassen. So werden Zeichen nach Peirce als eine trianguläre Referenzbeziehung betrachtet: Ein Zeichen ist irgendein Ding, das auf ein zweites Ding, sein Objekt, in Hinsicht auf eine Qualität in der Weise bezogen ist, dass es ein drittes Ding, seinen Interpretanten, in eine Relation zu demselben Objekt bringt, und zwar in der Weise, dass dieses dritte ein viertes Ding in derselben Form auf das Objekt bezieht, ad infinitum. (Peirce 2000 [1902]: 390)
Das Zeichen wird als Prozess triangulärer Verbindung eines Repräsentamens mit einem Referenzobjekt über die Vermittlung durch einen Interpretanten entworfen. Die jeweiligen Instanzen des Zeichens werden innerhalb einer prozessualen Bedeutungsbildung (Semiose, siehe das folgende Kapitel) bestimmt und eingesetzt. In dieser Konstellation spielt der Interpretant eine herausragende Rolle: Er vermittelt zwischen dem Repräsentamen als Signifikans und dem Referenzobjekt als Signifikat und stellt erst durch diese Vermittlungsfunktion eine zeichenhafte Relation im Sinne einer Repräsentation her (vgl. Eco 2002: 29). Peirce unterteilt ausgehend von dieser triadischen Zeichenkonzeption unterschiedliche Kategorien von Zeichen hinsichtlich des Objektbezugs von Reprä-
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sentamen. Er unterscheidet Ikone, Indizes und Symbole. Ikone sind geprägt von einer Ähnlichkeitsbeziehung („Likeness“, Peirce 1998 [1894]: 5) zwischen dem Repräsentamen und dem Objekt. Indexikalische Zeichen sind dem frühen Peirce entsprechend Anzeichen, sie weisen eine Kausalitätsbeziehung als Objektbezug auf. Symbole, oder „general signs“ (Peirce 1998 [1894]: 5) wiederum stellen eine Referentialität aufgrund einer konventionellen Nutzung her. Peirce verortet die Bilder neben den Diagrammen (die eine Ähnlichkeit zum Objekt in der Relation ihrer einzelnen Elemente, z.b. Lagebeziehungen in einer Karte, herstellen) und den Metaphern (die eine qualitative Parallelität als impliziten Vergleich mit dem Objekt herstellen), in der Kategorie der ikonischen Zeichen. Er charakterisiert sie als „pure likenesses“ (Peirce 1998 [1894]: 7) – eine reine Ähnlichkeitsbeziehung, die sich durch die qualitative Mimesis einiger bestimmender Eigenschaften des Referenzobjektes ergibt. Gemäß dieser Logik stellen Bilder in Hinsicht auf die Ähnlichkeit zu einem Objekt visuell einen zeichenhaften Bezug her. Dieser zeichenhafte Bezug drückt sich insbesondere durch die Passung der Eigenschaften des bildlich-visuellen Repräsentamens mit einem mentalen Bild des abwesenden Referenzobjekts (Interpretant) aus. Das repräsentierte Objekt muss hinsichtlich der Bildzeichen laut Peirce kein tatsächlich existierendes Objekt sein. Peirce stellt am Beispiel der ägyptischen Hieroglyphen dar, dass diese Bildzeichen einerseits selbstverständlich für konkrete Objekte, Töne, Silben stehen, andererseits aber auch Ideen, „pictorial ideas“ (Peirce 1998 [1894]: 7), repräsentieren können. Die referentielle und essentielle („ein Ding“) Offenheit des Bildzeichens in der Peirceschen Semiotik ermöglicht es, die Rolle von Bildzeichen in menschlicher Kommunikation breit zu untersuchen. In solcher Hinsicht können Grafiken, Fotografien, künstlerische Zeichnungen, technische Zeichnungen, Graffitis und Bildteppiche als Zeichen verstanden werden (vgl. Joly 2011: 34). Peirce erstellt eine funktionale Definition des Bildzeichens, welche die konkrete Essenz der verschiedenen Bilder hinter deren Funktion im Rahmen von Kommunikationen treten lässt. Bilder sind in semiotischer Perspektive ein distinktes Zeichensystem im Rahmen weiterer zeichenhafter Systeme. Dabei lassen sie sich insbesondere von schriftlichen Zeichen abgrenzen. Nach Martine Joly ist die hervorstechendste Differenz zwischen Schrift und Bild „celle de la ‚continuité‘ d’un ‚code‘ analogique (l’image) opposée à la discontinuité d’un ‚code‘ digital ou discret (la langue)“ (Joly 2011: 45). Während ein diskreter Code die Einordnung in klar definierte und abgestufte Einheiten wie z.B. Buchstaben erfordert, erfolgt die Zuordnung von visuellen Einheiten innerhalb eines kontinuierlich analogen Codes, welcher sich durch eine grundsätzliche Offenheit der Darstellungsebene äußert.
26 Die kulturelle Praxis digitaler Bilder in Social Networks Es ist demnach zu erfragen, wie sich die typisch bildliche Darstellung kategorisieren lässt: Die Theorie von Peirce kann dahingehend gelesen werden, dass die bildliche Darstellungsebene durch eine „semantische Beziehung“ (Sachs-Hombach 2014: 25) der Ähnlichkeit charakterisiert ist. Da eine pragmatische Nutzung in dieser Perspektive charakteristisch für die semiotische Bestimmung von Bildern ist, bleiben insbesondere zwei Fragen offen: Inwiefern wirken sich die konkrete Art und der Hintergrund der Nutzung auf die Bedeutungsebenen des Bildes aus? Welche Rolle spielen Konventionen bei der Verwendung von Bildern? Das Bild verfügt durch seine spezifische Ästhetik über zwei Bedeutungsdimensionen. Roland Barthes definierte in seiner bekannten Analyse der Werbung des Unternehmens Panzani (Barthes 2010)1 als semantische Dimensionen die bildliche Denotation und die bildliche Konnotation. Dabei beinhaltet die denotative Ebene des Bildes eine nicht kodierte Dimension des Ikonischen. Diese unterliegt gemäß Barthes – was auf die ursprüngliche Abbildtheorie verweist – einer fixierten semantischen Verweisqualität. Jedoch ergibt sich diese Fixierung nicht aus der Zeichenhaftigkeit des Bildes (als eine klassische aliquid-stat-pro-aliquo-Äquivalenz), sondern vielmehr aus der „Quasi-Identität“ (im Sinne von strikter Ikonizität, Barthes 2010: 83) des Bildes mit dem Denotat. Kodiert ist diese Ebene nicht, da eine Zuweisung von Bedeutungsregeln zwischen Signifikans und Signifikat nicht vonnöten ist – laut Barthes ist diese Ebene rein sinnlich wahrnehmbar. Während diese erste Dimension folglich aufgrund ihrer ‚Natürlichkeit‘ der Wahrnehmung ohne die Schaffung eines Verweissystems zwischen Signifikant (materielles Bildzeichen) und Signifikat (denotiertes Objekt) auskommt, führt Barthes mit der konnotativen Dimension des Bildes eine kulturell geprägte Stufe der Bildlichkeit ein: Die konnotative Ebene des Bildes stehe dem „natürlichen NichtCode“ der Denotation als „kultureller Code“ (Barthes 2010.: 87) gegenüber. Demgemäß greift Barthes den semiotischen Begriff des Codes (vgl. Nöth 2000: 220) als System von Zuordnungsvorschriften zwischen der Ausdrucks- und der Inhaltsebene von Zeichen auf. Es handele sich folglich um ein konventionelles System der Bedeutungszuweisung, welches sich insbesondere in ästhetischen Kategorien ausdrückt, bspw. in Bildkomposition, Farbgebung, etc. Barthes verhandelt diese Konnotation ebenso als die symbolische Ebene des Bildes. Auch wenn er
1 Es soll an dieser Stelle nicht der analytische Wert des Artikels bestätigt oder kritisiert werden, es wird einzig das theoretische Konstrukt Barthes rekonstruiert, um daraus Implikationen für eine Theorie der Zeichenhaftigkeit des Bildes abzuleiten. Zu einer Zusammenfassung existierender Kritiken der bartheschen Analyse sowie einer kritischen Revision und Kontextualisierung, vgl. Sonesson (2008).
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eindeutig als Saussurianer bekannt ist, schlägt er damit doch die Denkrichtung des Symbols nach Peirce ein, demgemäß symbolische Zeichen, im Gegensatz zum Ikon, durch eine konventionalisierte Zuordnung von Repräsentamen und Objekt charakterisiert werden. Barthes führt an, dass die jeweils veranschlagten Systeme der Bedeutungszuweisungen unterschiedlichen „Leseweise[n]“ (Barthes 2010: 89) des Bildes entsprächen. So ließe sich bspw. das Reklamebild aus einer touristischen Perspektive, der Leseweise des Haushaltes oder der Kunstgeschichte heraus verstehen. Das Bild wird folglich – zumindest in seiner konnotierten Nachricht – durch kulturell determinierte Konventionen geprägt wahrgenommen. Leseweisen oder Idiolekte seien kollektiv geprägte und in das Bild eingeschriebene Codes: In seiner Konnotation würde das Bild sich also aus einer Architektur von Zeichen zusammensetzen, die einer variierenden Tiefe von Leseweisen (bzw. von idiolectes) entnommen sind. Jede Leseweise, so ‚tief‘ sie auch ist, bleibt codiert, wenn, wie man heute annimmt, die Psyche selbst wie eine Sprache aufgebaut ist. (Barthes 2010: 90)
Die konnotative Ebene des Bildes setze sich zusammen aus connotateurs (Konnotatoren). Diese bilden gemäß Barthes die Ideologie, „die nur für eine bestimmte gegebene Gesellschaft und Geschichte einmalig sein kann.“ (Barthes 2010: 92) Zusammen genommen machten die connotateurs die Rhetorik eines Bildes aus, welche im Gegensatz zu den Rhetoriken anderer (sprachlicher, musikalischer, etc.) Texte ausschließlich über den visuellen Sinn wahrgenommen wird. Was ist nun das Zusammenspiel zwischen denotativer und konnotativer Bildebene? Barthes schließt seine Analyse mit dem Gedanken, dass die denotative Ebene des Bildes das syntagmatische, rhetorische Gerüst des Bildes ausmache. Die Bildkonnotation hingegen ist geprägt von der „paradigmatische[n] Verdichtung“ (Barthes 2010: 94) der stark symbolischen connotateurs. Die Denotation übernimmt folglich die Rolle der Einbettung des symbolischen Bilddiskurses in eine konkret historische Situation: „Das denotierte Bild naturalisiert die symbolische Nachricht, sie macht die Künstlichkeit der semantischen Konnotationen unschuldig, die in Reklamen besonders aufdringlich wäre.“ (Barthes 2010: 88) Zudem bereite die denotierte Ebene des Bildes die konnotierte Nachricht vor, da das Bild auf dieser ersten Ebene unzusammenhängend erscheine. Es fehle folglich ein tiefer Sinn, der dem Bild zugeschrieben werden muss. Allerdings wirft Barthes ein, dass die Unterscheidung beider Nachrichtendimensionen des Bildes nicht „substanzieller, nur relativer Natur sein“ (Barthes 2010: 84) könne. Es sei grundsätzlich nicht möglich, die Bildwahrnehmung auf eine rein „anthropologische Reaktion“ (Barthes 2010: 85) zu verkürzen. Auch erscheint das denotierte, nicht code-vermittelte Bild als Utopie, welche sich
28 Die kulturelle Praxis digitaler Bilder in Social Networks nur – und hier ist Barthes wenig exakt – bei dem fotografischen Bild als klare Reproduktion des dargestellten Gegenstandes halten ließe: [D]ie Fotografie [kann, JE] trotz der Wahl des Gegenstandes, des Blickpunktes und Blickwinkels nicht in das Objekt eingreifen […]. Mit anderen Worten ist die Denotation der Zeichnung weniger rein als die der Fotografie, denn es gibt keine Zeichnung ohne Stil. (Barthes 2010: 86)
Folglich sind die denotierte und die konnotierte Nachricht eines Bildes nicht phänomenal trennbar. Gemäß Martine Joly könne man diese Bereiche in eine triadische Zeichenkonzeption nach Peirce einfügen. Joly (2011: 39) schlägt vor, Bilder nach Peirce zu lesen und somit die denotative Ebene des Bildes im Bereich des Referenzobjekts zu verorten, die konnotative Ebene des Bildes hingegen verweise auf das Interpretans nach Peirce. Diese Klassifikation trifft tatsächlich die ‚trialektische‘ Beziehung zwischen dem Bildzeichen als Repräsentamen, seiner denotativ-natürlich-ikonischen Botschaft und seiner symbolisch-konnotativen Ebene.2 So betont Peirce mehrfach, dass die einzelnen Elemente des semiotischen Dreiecks nicht unabhängig voneinander denkbar sind, sondern – und dies wird im folgenden Kapitel verdeutlicht – in einer funktionalen Beziehung zueinanderstehen. Barthes hinterfragt in seiner Konzeption die Ikonizität des Bildzeichens, indem er eine symbolische und damit konventionelle Ebene des Bildes über die bildliche Konnotation einbringt. Faktisch entwickelt dies nur bedingt die Peircesche Konzeption der ikonischen Zeichen weiter, da Peirce selbst ikonische Zeichen einerseits in pure Ikone (diese seien letztendlich nur als gedankliche Bilder möglich) und andererseits in Hypo-Ikone (zu denen die o.g. Bilder, Metaphern und Diagramme gehören) unterscheidet. Letztere zeichnen sich dadurch aus, dass sie neben der ikonischen Ebene ebenso auch indexikalische und symbolische Momente in sich tragen (vgl. Sonneson 2010: 752). Die von Peirce und Barthes unternommene Trennung in Ikon vs. Index und Symbol wird von Eco hinsichtlich der Bilder komplett abgelehnt. Eco (2002: 199) stellt zunächst heraus, dass die von Peirce auf die indexikalischen Zeichen bezogene Kausalverbindung zwischen Repräsentamen und Objekt letztendlich nur als eine konventionell gesetzte ausgemacht werden kann. Dies bezieht sich insbesondere auch auf visuelle Indizes, wie bspw. den Pfeil, der eine Richtung weist,
2 Gemäß Sonesson (2008: 32) kann man dieser Konzeption entgegenhalten, dass sie eine lediglich logische Perspektive auf den Begriff der Konnotation entwickelt, demgemäß die Denotation die extensionale Ebene und die Konnotation die intensionale Ebene des Zeichens betreffen.
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oder den Rauch, der auf ein Feuer hinweist. Die Kausalität stellt sich bei Eco als eine erlernte und damit durch Konventionen geprägte Kausalität heraus. Ebenso stellt Eco die Ähnlichkeitsbeziehung im Falle der ikonisch-bildlichen Zeichen in Frage (vgl. Eco 2002: 200–214). Die ikonische Darstellung wähle bestimmte Eigenschaften des denotierten Objekts aus und mache dies über eine bildliche Darstellung wahrnehmbar. Diese Form der Wahrnehmung entspräche der selektiven Wahrnehmung eines realen Gegenstandes. Demnach reproduziere das Zeichen diejenigen Stimuli, die es erlauben, denselben Wahrnehmungsvorgang zu erleben. Diese Reproduktion allerdings beruhe auf „Erkennungscodes“ (sprich eindeutigen Anordnungen zur selektiven Wahrnehmung relevanter Aspekte des Bildes) und auf „graphischen Konventionen.“ (Eco 2002: 205) Die graphischen Konventionen bezeichnen hierbei die piktorale Vorstellung von Objekten, wie sie sich beispielsweise in bildlichen Darstellungen verzerrter Autoreifen als Anzeige von Bewegung äußert. Diese konventionellen Codes der Wahrnehmung und Produktion bildlicher Zeichen weist Eco insbesondere anhand der kindlichen Wahrnehmungsentwicklung, anhand von historischen Entwicklungen der Darstellung sowie anhand interkultureller Unterschiede in der Bildwahr nehmung nach. Somit ist es Eco folgend erheblich erschwert, eine klare Charakterisierung der bildlichen Zeichenhaftigkeit zu liefern, da ein Rekurs auf die Idee einer quasi natürlichen Ähnlichkeit schlechthin nicht möglich ist. Die Polysemie des Bildes führt zu einer syntaktischen und semantischen Unterbestimmtheit der Bildzeichen: Die Zeichen der Zeichnung sind also keine Gliederungselemente, die den Sprachphänomenen entsprechen, weil sie keinen Oppositions- und Stellenwert haben, weil sie nicht durch die Tatsache, dass sie erscheinen oder nicht erscheinen, bedeuten; sie können Kontextbedeutungen annehmen […] und haben keine Bedeutung für sich selbst, sie bilden aber kein System von starren Differenzen, wodurch ein Punkt zu einer geraden Linie oder zu einem Kreis in Bedeutungsopposition stünde. Ihr Stellenwert variiert je nach Konvention, die der Typ der Zeichnung aufstellt und die sich unter der Hand eines Zeichners […] verändern kann. (Eco 2002: 217)
Mit dieser radikalen Sichtweise entwickelt Eco die barthesche Idee der Idiolekte weiter: Diese bestimmen hier nicht nur das Verständnis der Konnotationsebene des Bildes, sondern bereits die Wahrnehmung des Bildes auf Denotationsebene. Die Idiolekte, die kollektiv geprägt, aber auch äußerst individuell sein können, vermitteln zwischen der Auswahl relevanter Bildeigenschaften und der paradigmatischen Ebene der Konnotation: In ihnen werden „die fakultativen Varianten zu relevanten Zügen […] oder umgekehrt, je nach dem Code, den der Zeichner angenommen hat.“ (Eco 2002: 217)
30 Die kulturelle Praxis digitaler Bilder in Social Networks Die Semiotik des Bildes wurde bisher anhand der Frage nach einer spezifischen Ikonizität entwickelt. Während Peirce diese vordergründig als eigene Zeichenhaftigkeit basierend auf Ähnlichkeitsverhältnissen konzipiert, erweitert Barthes diese Sichtweise durch die Einführung einer symbolisch-konnotativen Ebene. Eco vereint diese Ansätze mit formalistischen Theorien der inneren Organisiertheit des Bildes (vgl. z.B. Goodman 1968), indem er abschließend Elemente des pikturalen Codes andeutet (vgl. Eco 2002: 236–249), zugleich aber die Konventionen der Bildnutzung betont. Es kann hier festgehalten werden, dass Bilder als Zeichen mehr oder weniger strukturierte Zeichensysteme bilden (vgl. Schade und Wenk 2011: 91). Der Grad der konventionellen Strukturierung des Systems ist hierbei abhängig von kontextuellen und lebensweltlichen Faktoren (vgl. Sonesson 2010), von der Art des Mediums bzw. der konkreten Bildsorte, die untersucht wird (vgl. Eco 2002: 267–292) und zuletzt von der Wahrnehmung des Lesers/Betrachters der Bildzeichen. So verdeutlicht Bal (2002), dass die Ikonizität schlussendlich als eine negative Ähnlichkeitsbeziehung gedacht werden muss, indem das Bild durch den Betrachter einerseits deutlich als Zeichen verstanden (vgl. Sonesson 2010: 753), andererseits eine Fiktion geschaffen wird: Das Wichtigste an der Definition des Ikons ist vor allem ihre Negativität, welche die Ontologie des Objekts in der Schwebe lässt. Das Ikon wird vom Leser konstruiert oder ersonnen, von jenem Entzifferer der Zeichen, der jeder von uns in seiner Eigenschaft als homo semioticus ist. Mit anderen Worten, wichtig wird der Begriff der Ikonizität für das Lesen nicht dadurch, dass das Ikon zu einem vorgegebenen, ‚wirklichen‘ Urbild hinführt, sondern dadurch, dass es eine Fiktion hervorbringt. (Bal 2002: 22 f.)
Insbesondere Bal (2002) und Sonesson (2008; 2010) verweisen demnach auf eine Metaebene des Zeichenhaften, welche Bedingung für die Wahrnehmung von Bildern ist: Das Bewusstsein ihrer Zeichenhaftigkeit. Dieses lebensweltliche Bewusstsein erscheint als Grundlage des Ikonischen. Im Folgenden soll argumentiert werden, dass die bildliche Semiose einen entscheidenden Anteil an dieser Bewusstseinsbildung hat.
1.2 Das Werden von Bedeutung und das Werden der Bilder – Bildsemiose und die materiellen Grenzen der Bildsemiotik Als Semiose wird generell der Wirkprozess des Zeichens verstanden. So bespricht bereits Peirce die Semiose als den prozessualen Charakter des Zeichens, als „eine Handlung oder einen Einfluss, welcher die Zusammenwirkung dreier Subjekte
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beinhaltet oder involviert, nämlich einem Zeichen, seinem Objekt und seinem Interpretanten“ (CP 5.484, zitiert in: Nöth 2000: 227). Demnach, und dies wurde in o.g. Definition des Zeichens nach Peirce bereits besprochen, stellt sich der Zeichenprozess als Fluktuation zwischen Repräsentamen, Referenz und Interpretationshinsicht dar. Erstens betrifft die Fluktuation allerdings diese Instanzen selbst (es handelt sich nicht um eine Bewegung eines Vierten zwischen diesen Elementen des Zeichens), zweitens beschreibt sie keine ontische, sondern eine funktionale Dynamik: Die von Peirce als „Ding“ bezeichneten Instanzen können aus der Funktion als Interpretant, also der Hinsicht der Vorstellung einer Bedeutung, in die Funktion als neues Zeichen wechseln. Dieser funktionale Wechsel zwischen Ding-als-Interpretant und Ding-als-Zeichen ist ein indefiniter Prozess. Der „Prozess des Verweises von Zeichen auf andere Zeichen“ (Nöth 2000: 227) findet insbesondere in der Kommunikation sowie über die Wahrnehmung und Interpretation von Zeichen statt. So bilden sich semiotische Ketten, die sich durch einen dialogischen Austausch weiter fortführen. Der Dialog ist allerdings nicht nur als Kommunikation zwischen Sender und Empfänger zu begreifen, sondern auch als Interaktion zwischen ‚Ding‘ und individueller Kognition (vgl. Nöth 2000: 227).3 Der funktionale Prozess des Zeichens ist demnach nur bedingt dem analytischen Zugriff geöffnet. Einerseits findet die Semiose bereits auf Ebene der Kognition statt, andererseits sind ihre extensionalen Realisationen sehr heterogen. So lässt sich die Semiose – weiterhin Peirce folgend – zwischen den Peirceschen Ebenen der Erstheit, der Zweitheit und der Drittheit (vgl. Halawa 2009) und damit innerhalb einer nicht auflösbaren Trialektik verorten. Da in der zirkulären Verkettung nur erschwert ein Anfangs- und Endpunkt gesetzt werden kann, ist die Semiose als Prozess analytisch schwer zu erfassen. Ein Endpunkt sei gemäß Peirce nicht gegeben, da Semiose als unendlicher Prozess der Bedeutungsprägung zu sehen ist. Der Anfangspunkt der Semiose hingegen ist zwar theoretisch gesetzt (vgl. Halawa 2009), allerdings aufgrund der kognitiven Vermittlung bei der Entstehung der Semiose analytisch schlecht greifbar. So führt Bal hinsichtlich der derridaschen Weiterentwicklung der Semiose aus, dass meaning arose exactly from the movement from one sign or signifier to the next, in a perpetuum mobile where there could be found neither a starting point for semiosis, nor a concluding moment in which semiosis terminated. (Bal 2002: 177)
3 Peirce geht sogar so weit, dass Semiose auch in der natürlichen Welt, also zwischen nicht menschlichen Organismen oder sogar unbelebten Dingen stattfinden kann (vgl. Nöth 2000: 227).
32 Die kulturelle Praxis digitaler Bilder in Social Networks Aufgrund dieser Zirkularität der Semiose erscheint die semiotische Betrachtung von kulturellen Artefakten (vgl. Posner 2008) oft auf rein kognitive oder kulturelle Strukturen beschränkt. Es verwundert demnach nicht, dass insbesondere Vertreter einer anthropologischen und phänomenologischen Annäherung an das Bild auf die Grenzen der Bildsemiotik hinweisen.4 So stellt Hans Belting in seiner „Bild-Anthropologie“ fest, dass die Semiotik als eine der „Abstraktionsleistungen der Moderne“ (Belting 2001: 14) die Körperlichkeit und Sinnlichkeit menschlicher Weltwahrnehmung zugunsten einer funktionalistischen Einschränkung der Bilder als Zeichen aufgegeben habe. Demgegenüber betont er, dass die Medialität des Bildträgers und damit auch die Körperlichkeit der Bildwahrnehmung berücksichtigt werden müsse. Dies nähert sich der phänomenologischen Konzeption (u. a. nach Edmund Husserl) des Bildzeichens an, wonach die Sichtbarmachung von abwesenden Objekten im Bild betont wird. Damit wird etwas zu einem Bild, wenn es etwas anderes „sichtbar werden lässt, was sich den physikalischen Gesetzen entzieht.“ (Wiesing 2005: 147) Hier wird die Materialität des Bildes in den Vordergrund gerückt, da es „Bildobjekte“ sichtbar und damit auch sinnlich erlebbar mache. Problematisch an diesen Positionen ist, dass sie die Semiose auf eine rein kognitive Ebene der Bedeutungsschaffung reduzieren. So unterschätzen sie die Offenheit der Peirceschen Konzeption von Semiose und insbesondere die Rolle des Interpretanten als Vermittler von Bedeutung. Peirce selbst hat, James Liszka folgend, einen ganzheitlichen Ansatz der Bedeutungsgenese geschaffen, „in which the meaning of a sign, linguistic and non-linguistic, is filtered through the structural relations among the set of sign translations.“ (Liszka 1990: 18) Semiose ist demnach der gesamte, in kommunikative und kollektive Strukturen eingebettete Prozess der Bedeutungsschaffung und -veränderung eines Zeichens. Das Prozesshafte hierbei kann als ein der Verlauf einer Übersetzung von Zeichen über die Instanz des Interpretanten verstanden werden (vgl. Eco 2002: 80). Diese Übersetzung ist nicht nur in kognitiver Ebene, also hinsichtlich der Bildwahrnehmung, zu verstehen. Der Prozess der Semiose beinhaltet neben Stufen der kognitiven Bedeutungswahrnehmung auch Momente, in denen Zeichenveränderung durch Kommunikation, Kollektivierung und Materialisierung stattfindet und sichtbar gemacht wird. Demnach lässt sich von vielfältigen Erscheinungsformen der Semiose sprechen.5 In kognitiver Hinsicht dann wird
4 Im Vergleich zu anderen Kritikern der Bildsemiotik, welche den Begriff der Repräsentation und Abbildung infrage stellen (vgl. Nöth 2005, Belting 2005), wird hier die besondere Bedeutung der Materialität des Bildes hervorgehoben. 5 Es genügt ein Blick in den Sammelband „Origins of Semiosis“ von Nöth (1994) um die Vielfalt
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das ‚Übersetzen‘ eines Zeichens als eine Überführung in eigene kognitive Schemata konzipiert, wie dies bspw. beim Erlernen von Zeichensystemen geschieht.6 Semiose findet auch in kommunikativen Zusammenhängen statt, wenn beispielsweise zwischen Sprachen übersetzt oder intendierte Bedeutungen geklärt werden müssen. Hier ist Semiose eng an das Verständnis von Zeichen zwischen Kommunikationspartnern geknüpft. In kultureller und insbesondere diachroner Hinsicht lässt sich Semiose aus der Perspektive des Zeichens selbst als eine Semiogenese (vgl. Nöth 1994: 2) verstehen. Diese rückt das Entstehen und den Wandel von Bildzeichen sowie deren historisch gebildete, visuelle Verweisstrukturen in den Vordergrund und stellt damit ein klassisches Untersuchungsfeld der Bildsemiotik dar.7 Semiose ist folglich zu verstehen als der ganzheitliche Prozess der Zeichenwerdung und Bedeutungsschaffung im Rahmen von kommunikativen und interpretatorischen Handlungsketten. Somit werden Bildzeichen innerhalb dieser Handlungsketten zu kommunikativen Einheiten, welche der Bedeutungsübermittlung zwischen Personen dienen. In dieser pragmatischen Perspektive nach Peirce werden insbesondere die (sinnlichen, kontextuellen und medialen) Strukturen des Kommunikationsaktes in die Betrachtung mit einbezogen. Das Bildzeichen weist damit über seine Veränderungen, über den Gebrauch in kommunikativen Handlungen und insbesondere über die damit einhergehende Verhandlung von Bedeutung auf die Anwesenheit und Körperlichkeit der Kommunizierenden. Zudem gerät die Zeichenhaftigkeit des Bildträgers und damit des konkreten Mediums in den Blick: Innerhalb eines sichtbaren Bildes ist Semiose in zwei Dimensionen auszumachen: 1. Betrachtet man die visuellen Einzelzeichen, mit deren Hilfe ein Bild kombiniert wird, als für sich bereits autonome Bildzeichen, also als Einzelikone, welche anschließend zu einem neuen Bildkomplex gefügt werden, so zeigt sich Semiose auf Ebene der Ikonizität des Bildes: Hartmut Stöckl folgend ist es in
der unter Semiose fungierenden Phänomene zu erkennen. 6 So nutzen insbesondere Eco (2002) und Krampen (1991) u.a. diese kognitive Dimension von Semiose, um den Erwerb ikonischen Denkens und ikonischen Entwerfens zu illustrieren. 7 Es stehen bereits in dem klassisch kunstwissenschaftlichen Ansatz Erwin Panofskys (1980) die verschiedenen Bedeutungsebenen des (künstlerischen) Bildes im Vordergrund. Sein Konzept einer Ikonologie verfolgt hierbei die hermeneutische Untersuchung von Bildelementen hinsichtlich ihrer Abhängigkeit von den Sichtweisen einer historischen Epoche. Diese ikonologische Betrachtung der Bildbedeutung hinsichtlich ihres historischen Gehalts kann ebenso auf die epochenabhängige Veränderung visueller Darstellungsweisen bezogen werden (vgl. Wildgen 2013: Kapitel 3).
34 Die kulturelle Praxis digitaler Bilder in Social Networks der Zeichenhaftigkeit von Bildern angedacht, dass einzelne ikonische Zeichen Bilder als komplexe Zeichenobjekte formieren, indem sie innerhalb des räumlichen Rahmens des Bildes angeordnet, kombiniert und „syntaktisiert“ werden (vgl. Stöckl 2004: 380 f.). Entsprechend kann durch diese Anordnung und (Re-) Kombination visuell-semiotischer Einheiten ein neues Bild als Bedeutungseinheit geschaffen werden. Es entstehen neue bildliche Zusammenhänge durch Rekombination einzelner ikonischer Zeichen, wenn bspw. das Ikon eines christlichen Kreuzes auf dem Frontbild eines Popmusikalbums erscheint. 2. Die Semiose von Bildzeichen ist besonders durch eine materielle Dimension gekennzeichnet: Dies ist bereits der Fall, wenn man unter den bildlichen Einzelzeichen ebenso auch Dimensionen des Farbauftrags, der Textur oder der Formgebung fasst (vgl. Edeline et al. 1992: 226 f.) und demnach auch die plastischen Eigenschaften des komplexen Gesamtbildes als Zeichen versteht. Dadurch wird bspw. eine Umschreibung des plastischen Stils eines zugrundeliegenden Bildes bereits als signifikante und deshalb bedeutsame Veränderung verstanden. Würde die Giaconda von Leonardo Da Vinci mit Sprühdosen als ein Graffiti auf steinernem Untergrund reproduziert, könnte sie in diesem Sinne bereits als neues Zeichen verstanden werden. Die semiotische Innovation im Bereich der Bildzeichen erfolgt demnach – und dies ist ein entscheidender Unterschied zu den sprachlichen Zeichen – nicht nur auf der Ebene der syntagmatischen Kombination einzelner semantischer Einheiten, sondern insbesondere auch auf der materiellen Ebene des Bildzeichens. Der Bildsemiotik der Groupe µ folgend, erweitert Martine Joly (2008) den Gegenstandsbereich der bildlichen Materialität. Für Joly erstreckt sich diese Dimension des Bildes auf Aspekte des Trägermediums (hinsichtlich des Aufbaus, der Sichtbarkeit, des Materials des Trägers), der konkreten Rahmung des Bildes (als ein Begrenzung, die den Blick auf das Bildliche selbst richtet), der Perspektive, Bildkomposition und des Layouts (als Hierarchie des Blickes), sowie auf die Dominanz von bestimmten Formen, Farben, Lichtverhältnissen und der Textur (vgl. Joly 2008: 81–96). Diese materielle Dimension des Bildes bildet eine unabhängige Zeichenhaftigkeit aus, sie ist nicht mehr der breite Rahmen des Kontextes für die ikonische Symbolizität des Bildes, sondern vielmehr eine weitere Dimension. Die Materialität des Bildes interagiert mit der Ikonizität, einer eventuell vorhandenen linguistischen Ebene sowie – auf Ebene des Kontextes – der Institutionalität des konkreten Bildes, um damit die globale Bedeutung des Bildes zu beeinflussen (vgl. Joly 2011: 125). Daraus lassen sich zwei Schlüsse hinsichtlich der Semiose von Bildern ziehen: 1. Während die denotativ-ikonische Ebene und eine eventuell vorhandene linguistische sowie kontextuelle Ebene entscheidend für die Bedeutungspro-
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duktion aller Zeichen sind, ist die Herstellung von Bedeutung bildlicher Zeichen ebenso abhängig von ihrer materiellen Dimension. Nur so lassen sich minimale Veränderungen in Darstellungsweisen als eine symbolische Innovation erkennen, wie dies bspw. bei den verzerrten Darstellungen in Karikaturen der Fall ist. Dadurch werden Darstellungsoptionen auf materieller Bildebene erweitert und individuell angepasst. Hervorzuheben ist hierbei jedoch, dass diese materielle Ebene nicht mit der reinen Ausdrucksebene des Zeichens zu verwechseln ist. Die materielle Ebene birgt eine eigene symbolische Funktion, sie ist für sich signifikant. Eine Veränderung ihrer Darstellungsweise lässt sich damit nicht etwa als Option individuellen Ausdrucks verstehen, sondern kann nur im Rahmen einer Semiose des Bildzeichens verstanden werden. 2. Dies wird klarer, wenn Bildzeichen als eine einmalige Realisation mentaler Bilder verstanden werden. Damit wird bei jeder Produktion eines Bildzeichens besonders aufgrund seiner materiellen Dimension ein eigenständiges und neuwertiges Zeichen geschaffen. Diese Kreation darf nicht im Sinne einer sprachlichen Realisation8 verstanden werden: Es wird nicht eine Darstellungsoption innerhalb der Regelwerke des Zeichensystems realisiert, sondern vielmehr wird in der konkreten Materialität stets eine neue Option geschaffen. In solchen bildsemiotischen Konzeptionen wird deutlich, dass die phänomenologische Kritik der semiotischen Vergessenheit der Bildaisthesis (vgl. Finke und Halawa 2012) überkommen ist. Die in der Debatte aufscheinende Trennung in Form und Materie (vgl. Mersch 2012: 24–27) wird durch den konkreten Akt der Bedeutungsschaffung aufgelöst. Bildmaterialität und die Zeichenhaftigkeit des Bildes geraten in eine Wechselwirkung. Die konkrete Medialität des Bildes, welche insbesondere auch in dessen aisthetischen Eigenschaften besteht, wird in der von Klaus Sachs-Hombach vorgeschlagenen Notion der „wahrnehmungsnahen Zeichen“ beachtet (Sachs-Hombach 2014: 86–98). So sind gemäß Sachs-Hombach Zeichen wahrnehmungsnah, wenn „wir [ihnen] einen Inhalt auf Grundlage unserer Wahrnehmungskompetenzen zuweisen“ (Sachs-Hombach 2014: 87). Entscheidend sei hierbei, dass, für die Interpretation bildhafter Zeichen, mit der ihnen ein Inhalt zugewiesen wird, der Rekurs auf Wahrnehmungskompetenzen konstitutiv ist und die Struktur der Bildträger damit – im Unterschied zu arbiträren Zeichen – zumindest Hinweise auf die Bildbedeutung enthält. (Sachs-Hombach 2014: 88).
8 Folglich im Sinne der parole, die von Ferdinand de Saussure als konkreter Zeichenakt vom abstrakten Regelsystem der langue abgegrenzt wurde (vgl. Saussure 2001).
36 Die kulturelle Praxis digitaler Bilder in Social Networks Die Wahrnehmung bildlicher Zeichen basiert damit erheblich auf der Rezeption des Materiellen, welche insbesondere auf visuelle Wahrnehmungsmuster rekurriert. Diese Konstellation des Bildes zwischen Wahrnehmung und Ikonizität, zwischen symbolischem Verweischarakter und visueller Wahrnehmung, findet sich ebenso in dem französischen Ausdruck ,se donner à voir‘ wieder. Bilder stellen sich der visuellen Wahrnehmung, sie liefern ihren Ausdruck dem Blick des Betrachters aus.9 Wahrnehmung und damit auch Bedeutungsherstellung werden folglich vermittelt durch diese Form der materiellen Ausstellung. Durch die Wahrnehmungsnähe ist das Bildzeichen im Prozess der Semiose wesentlich auf seine Materialität angewiesen. Dabei kann die Bildmaterialität in Abhängigkeit des jeweiligen Bildgenres und vor allem des konkreten Bildträgers (als Medium) verschiedene semantische Funktionen übernehmen (vgl. Sachs-Hombach und Winter 2012: 65). Jedoch muss hervorgehoben werden, dass der Bildträger nie vollständig die Perzeption des Bildzeichens determiniert, denn Bilder sind als nicht arbiträre Zeichen in ihrer Wahrnehmungsnähe paradoxal angelegt: Während sie sich einerseits vorzüglich dazu eignen, als natürlich aufgefasst zu werden […], sichert ihnen die bedeutungsunterscheidende Wirkung der Bildmaterialität zugleich einen ästhetischen Bedeutungsüberschuss gegenüber arbiträren Zeichen, der Bildverwendern einen unabschließbaren Freiraum der Interpretation, auch der widerständigen Aneignung, eröffnet. (Sachs-Hombach und Winter 2012: 65)
Entsprechend unterliegt auch die Materialität des Bildes einer kommunikativ-pragmatischen Bewertung. Die materielle Dimension, seine aisthetischen Eigenschaften, werden in kommunikativen Handlungen unterschiedlich gewichtet, können bei einigen Genres nahezu komplett ausgeblendet werden,10 während sie bspw. in Bildzeichen der Kunst betont werden. Bildliche Semiose, die Wahrnehmung, Interpretation und Bedeutungsfindung von Bildern, ist in neueren Theorien der Bildsemiotik (Edeline et al. 1992; Joly 2011; Sachs-Hombach 2014) demnach stets auch als Funktion materieller Eigenschaften des Bildzeichens angelegt. Sie ist geprägt von der visuellen Gestaltung des Bildes, von der Verbindung einzelner ikonischer Bestandteile, von den medialen Eigenschaften des bildlichen Trägermediums und dessen Darstellungsweisen. Im
9 Hierzu sei auf die umfassende bildphilosophische Erarbeitung zur „pikturalen Geste“ durch Patrick Vauday (2001: 52–65) verwiesen. 10 Sachs-Hombach nennt hier das Beispiel der Piktogramme (vgl. Sachs-Hombach und Winter 2012: 66).
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folgenden Kapitel werden diese Aspekte bildlicher Zeichenhaftigkeit insbesondere hinsichtlich der Zeichenhaftigkeit digitaler Bildzeichen thematisiert.
1.3 Online-Bilder als binäre Zeichen in technisch-medialen Umgebungen Ausgehend von der Frage nach der Materialität und der medialen Eigenständigkeit der Bilder muss gemäß den oben genannten Aspekten bildlicher Zeichenhaftigkeit besonders auch die Charakteristik des konkret bildlichen Zeichenträgers geklärt werden. Dabei nehmen Bildzeichen, die auf computerbasierten Trägermedien erscheinen und so verbreitet als digitale Bilder bezeichnet werden, eine besondere Stellung ein. So brachte die Digitalisierung der Bilder eine nicht enden wollende Debatte um die Materialität oder Plastizität dieser Zeichen mit sich. Nach Reißmann (2014) lassen sich dabei zwei Positionen ausmachen. Einerseits werde die Kontinuität bildlicher Materialität als „Verlängerung oder Reintegration analoger Bildpraxis“ (Reißmann 2014: 94) betont. Demgemäß rückt insbesondere individuelles Bildhandeln aus pragmatischer Hinsicht in den Vordergrund. Es sind demnach die Bildpraktiken, die die Materialität von Bildern determinieren und damit beispielsweise in der Verwendung von Fotografien keinen Unterschied zwischen analogen und digitalen Fotografien erscheinen lassen. Andererseits wird ein technik- oder mediendeterministischer Pol eröffnet, welcher in der veränderten Materialität des Bildträgers ebenso eine Veränderung der damit verbundenen Bildkultur ausmacht. Dafür ließe sich laut Reißmann insbesondere die frühe Fotografietheorie von W.J.T Mitchell heranziehen. Dieser sieht in den digitalen Bildern das Aufkommen einer postmodernen Bildkultur: Die Funktion der Abbildung, die Mimesis des fotografischen Bildes rücke damit in den Hintergrund, um einem Moment der Gestaltung, welche der Malerei näher stünde als der technisch-mimetischen Quasi-Neutralität des analogen Fotos, Raum zu bieten (vgl. Reißmann 2014: 94). Diese Position zum Digitalen im Bilde soll hier weiter verfolgt werden. Bei einer näheren Betrachtung der Literatur zur digitalen Bildlichkeit (Bisanz 2014; Bruhn 2009: 27–36; Barats 2013: 125–146; Mitchell 2007; Frank und Lange 2010: 30–35; Nake 2005; Schelske 2005) wird deutlich, dass die dort herausgearbeitete Innovation des Bildlichen, welches die Funktion der klassisch-bildlichen Repräsentation als ikonische Referenz nicht mehr übernehmen kann, insbesondere hinsichtlich zweier Dimensionen bildlicher Materialität zu verstehen ist:
38 Die kulturelle Praxis digitaler Bilder in Social Networks Eine Dimension begreift bildliche Materialität als die konkrete Plastizität des Zeichenträgers. Demgemäß werden Bilder von digitalen Medien sichtbar gemacht. Sie selbst verfügen nicht über einen stabilen Bildträger, wie dies beispielsweise bei Zeichnungen, analoger Fotografie oder Plastiken der Fall ist. Damit einher kommen neue Eigenschaften der Bildlichkeit, wie z.B. die vollständige Reproduzierbarkeit, Übertragbarkeit, Speicherbarkeit und Prozessierbarkeit (vgl. Bruder 2010: 1). Insbesondere die Prozessierbarkeit ist ein wichtiges Element des Digitalen: Digitale Bilder sind diskrete Zeichen, basierend auf digitalem Code, welche nur durch Komputation in wahrnehm- und sichtbare Bilder als „wahrnehmungsnahe Zeichen“ prozessiert werden. Deshalb ist Mitchells späterer Bildtheorie folgend genau genommen das digitale Bild kein Bildzeichen: So the phrase ‘digital image’ is in a very precise sense a kind of oxymoron insofar as an image is perceived as digital, it is not an image at all but an array of arbitrary symbolic elements, alphanumeric signs that belong to a finite set of rigorously differentiated characters. At the simplest level, the digital is merely a string of ones and zeros that forms a statement or operation in a machine language; this is not an image, but a string of ones and zeros that can be translated into an image. (Mitchell 2008a: 14)
Der deshalb für das Bild auf computergestützten Medien so entscheidende Schritt der Wandlung durch Prozessieren führt allerdings dazu, dass das Bild jegliche Dimension des Ikonischen verliere, es würde zu einer Simulation oder zu einem „pure[n] Simulakrum ohne spezifischen Bezug zu irgendeiner Wirklichkeit“ (Bisanz 2014: 151). Die Bezugslosigkeit der digitalen Bilder ergibt sich aus der mathematischen Konstruktion des Bildlichen. Mithilfe von Algorithmen werden aus Zahlenfolgen wahrnehmbare Bildzeichen konstruiert, welche bestenfalls einen Realitätsbezug simulieren. Die andere Dimension des Materiellen fasst nicht den Bildträger in den Blick, sondern betrachtet vor allem die Herstellungsbedingungen des Bildlichen. Die Frage der Bildherstellung zeigt sich insbesondere in den Betrachtungen zur Fotografie vs. digitaler Fotografie bzw. „Post-Fotografie“ (vgl. van Dijck 2008; Yoder 2008; van House 2011; Sonesson 1999). Hierbei wird erfragt, ob die veränderten Produktionsbedingungen von digitalen Bildern, in diesem Fall digitaler Fotografien, sich ebenso auch auf die Bildlichkeit selbst auswirken. Da das analoge fotografische Bild zumeist als ein prägnantes Beispiel für indexikalische Zeichen angeführt wird (vgl. Peirce 1998), wird aus technikdeterministischer Position heraus argumentiert, die digitale Fotografie habe keine indexikalischen Qualitäten mehr. Während zuvor also ein fotografisches Bild aufgrund eines physikalischen Prozesses, bei dem Silberplättchen auf der Filmschicht durch den Kontakt mit Licht automatisch ausfallen, quasi kausal auf das dargestellte Objekt verweist, werden bei digitalen Fotografien zwar die Lichtstrahlen des fokussierten Objekts
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optisch eingefangen, jedoch durch einen Sensor in digitale Einheiten gerechnet.11 Der damit einhergehende Verlust der Zeugenschaft führe gemäß Yoder (2008) zu einer neuen, postfotografischen Bildkultur, wonach Fotografien eher der kommunikativen, ständigen Vergegenwärtigung des dargestellten Moments dienten. Als prozessiertes Bild scheint das digitale Bild demnach die Ikonizität und ggf. Indexikalität analoger Bilder infrage zu stellen. Jedoch steht dieser Nichtbildlichkeit der digitalen Bilder der konkrete Gebrauch dieser Bildzeichen gegenüber. So betont Mitchell, dass it is important to keep in mind one equally important way in which images have not changed under the digital regime: they are still images for us, for embodied human beings with standard sensory and perceptual equipement. It doesn’t matter whether they are representational or abstract, artistic or popular, technoscientific displays or childen’s drawings. At the end of the day, they are still dense, iconic signs that acquire their meaning within the framework of an analogical, not a digital code. […] No matter how many computational transformations it goes though inside a computer, the digital image is, at the beginning and end of the day, an image, an analog representation. (Mitchell 2008a: 14)
Die Ikonizität der digitalen Bilder entsteht folglich aus der Anschauungsqualität derselben und wird im Rahmen einer pragmatischen Wahrnehmung konstruiert. Allerdings muss beachtet werden, dass selbst in einer pragmatischen Perspektive die Materialität des Bildträgers nicht gänzlich ausgeblendet werden kann. Das digitale Bild ist genau genommen in mehreren Ebenen zu betrachten. Manovich (2001) hebt hervor, dass die Bilder in der heutigen elektronischen Bildkultur hinsichtlich ihrer Erscheinungsebene, Materialitätsebene und ihrer Vermittlungsebene eingeschätzt werden können: „To summarize, the visual culture of a computer age is cinematographic in its appearance, digital on the level of its material, and computational (i.e. software driven) in its logic.” (Manovich 2001: 180) Demnach werden digitale Bilder nach wie vor als klassisch analoge Darstellungen wahrgenommen. Die Materialität der Bildzeichen ist allerdings digital, sie bestehen aus Bildpunkten, die durch Software und Algorithmen vermittelt werden. Dementsprechend können andere Operationen mit digitalen Bildern durchgeführt werden: Sie sind kopierbar, vervielfältigbar, können komprimiert, durchsucht und gefiltert werden (vgl. Manovich 2001: 180). Demnach haben digitale Bilder eine ambivalente Materialität. Einerseits – auf Ebene ihrer Dar-
11 Jedoch weist Bruder darauf hin, dass es legitim erscheint, der digitalen Fotografie immerhin mehr Wirklichkeitsnähe als anderen digitalen Bildern zuzusprechen, da wie bei der analogen Fotografie weiterhin Lichtstrahlen optisch registriert und aufgezeichnet werden – in diesem Fall nur per Chip (vgl. Bruder 2010: 1).
40 Die kulturelle Praxis digitaler Bilder in Social Networks stellung – werden ihnen die Eigenschaften klassischer analoger Bildlichkeit, die ikonische Referenzfunktion und darüber hinaus ebenso eine pragmatisch-kommunikative Funktion zugesprochen, andererseits – auf der Vermittlungsebene – erfüllen sie die Anforderungen von „computer-based practices of production and distribution.” (Manovich 2001: 181) Manovich schließt daraus, dass der Realitätseffekt von diesen digitalen Bildern eben nicht mehr lediglich aus ihren visuellen Eigenschaften resultiert. Realität im Bild ist Produkt mehrerer miteinander interagierender Dimensionen, von denen die Ikonizität oder auch die Indexikalität des Bildes nur einen Ausschnitt darstellen. Hinzu kommen die menschlich-kommunikative Interaktion mit dem digitalen Endgerät (die Mensch-Maschine-Interaktion) und damit auch die Einbeziehung anderer Sinne als des visuellen, sowie die akkurate Simulation der kontextuellen Zeichen (vgl. Manovich 2001: 182). In dieser Hinsicht versteht Manovich digitale Bilder nicht mehr nur als visuelle Zeichen, sondern auch als „Image-Interfaces“, welche durch die Interaktion mit einem aktiven User ihre Funktionalität entfalten und selbst als Schnittstelle mit dem Computer fungieren: As a result, an illusionistic image is no longer something a subject simply looks at, comparing it with memories of represented reality to judge its reality effect. The new media image is something the user actively goes into, zooming in or clicking on individual parts with the assumption that they contain hyperlinks. (Manovich 2001: 183, Hervorhebungen im Original)
Der semiotische Verweischarakter als ikonisches Zeichen folgt einer neuen Medialität des digitalen Bildes: Ikonische Qualität ergibt sich durch die technische Erweiterung des digitalen Bildes, durch seine Einbettung in eine kommunikative Interaktion zwischen Nutzer und digitalem Endgerät. Markus Rautzenberg (2012) schlägt eine ähnliche Denkrichtung ein, wenn er bildliche Materialität bezogen auf digitale Bildzeichen nicht in den Eigenschaften des Bildobjekts als solchem, sondern vielmehr in dem „Verhältnis von Bildobjekt und Bildträger“ (Rautzenberg 2012: 118) verortet. Digitale Bildzeichen verweisen demnach auch auf eine neue Form von Materialität, welche statt einer einfachen Physikalität vielmehr eine „digitale Wirklichkeit“ (Rautzenberg 2012: 121) sei. Eine andere Perspektive eröffnet Johannes Bruder, wenn er nach der Indexikalität der digitalen Bilder fragt. Der Autor lehnt die Möglichkeit einer rein bildlichen Indexikalität ab, da digitale Bilder als Komposita genau genommen über zwei Zeichenebenen verfügten: Die Ebene der bildlichen Ausgabe oder Darstellung und die Ebene des digitalen Codes. Beide Ebenen sind zeichenhaft und können demnach indexikalisch sein. Durch die stete Wechselwirkung zwischen Code und Ausgabe hingegen würde eine rein bildliche Indexikalität nicht möglich sein. Der Code breche vielmehr in das Bildliche und die visuelle Ausgabe in das Digitale ein (vgl. Bruder 2010: 7). Eine Indexikalität des digitalen Zeichens könne nur in
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der algorithmischen Vermittlung zwischen den Ebenen entstehen. Als kulturell geprägte Vermittlungsregeln verweisen Algorithmen „retrospektiv auf vorhergehende Interpretationen und die gesellschaftlich beeinflusste Zeichenhaftigkeit“ (Bruder 2010: 9), weshalb sie letztendlich die konkrete Zeichenhaftigkeit des digitalen Bildes konstituieren. Die spezifische Bildhaftigkeit digitaler Bilder ergibt sich allen zuvor dargestellten Positionen entsprechend nicht aus bildinternen oder -essentiellen Charakteristika, sondern insbesondere durch ihre Abhängigkeit von der medialen Sichtbarmachung. So lässt sich Rautzenbergs Gedanke, dass digitale Bildzeichen durch eine größtmögliche Distanz zwischen Bildträger und Bildobjekt gekennzeichnet sind (vgl. Rautzenberg 2012: 120), ebenso umgekehrt lesen. Bezüglich seiner materiellen Ermöglichung sei das digitale Bild unabhängig von seinem Träger zu sehen, da es zur Produktion nicht derselben Technikenbedarf wie bei seiner Sichtbarmachung. Sie [die digitalen Bilder, JE] fallen deshalb aus der Bildwahrnehmung heraus, weil die letztendlich verwendeten Ausgabemedien (meistens Monitor, Projektor oder Drucker) technisch für das digitale Bild nicht entscheidend sind. Während es keine Wahrnehmung eines Tafelbildes ohne Rahmung und Farbe gibt, es keine analoge Fotografie ohne eine lichtempfindliche Fläche geben kann, stehen die medialen Ermöglichungsbedingungen digitaler Bilder (Prozessoren und Elektrizität, Programmcode) in keinem dinglichen Kausalzusammenhang mit der Bildwahrnehmung. (Rautzenberg 2012: 120)
Dementsprechend schreibe sich die Materialität der Produktionstechnik nicht in das Bildobjekt ein – das Bild sei losgelöst von seinem Bildträger zu betrachten. Im Umkehrschluss bedeutet dies allerdings auch, dass das digitale Bild in besonderer Form von der Medialität der Sichtbarmachung abhängig ist: Es muss prozessiert und dargestellt werden, um als quasi-analoges Bild wahrgenommen werden zu können. Das Prozessieren und die Darstellung auf Ebene der Benutzeroberfläche sind Bedingung und Ort der Entstehung des Bildlichen. Beides, also algorithmische Verarbeitung und die Interaktion zwischen Nutzer und Computer über das Bildzeichen auf Ebene des Interface, bestimmen die Bildlichkeit und damit Medialität des digitalen Bildes. So wirft Andreas Schelske in seinen Leitideen zur gesellschaftlichen Pragmatik multimedialer (und damit u.a. auch digitaler) Bilder die Idee auf, dass diese Bildzeichen einerseits einer algorithmischen Bedeutungsergänzung unterliegen, die sich auf Ebene des Interface ausdrückt, und andererseits in ihrer Funktionalität durch einen aktiven Prosumenten12 determiniert
12 Das Konzept des Prosumenten erfasst (zunächst aus wirtschaftswissenschaftlicher Perspektive) Konsumenten, die aktiv an der Produktion eines Produktes beteiligt sind (vgl. Toffler 1980).
42 Die kulturelle Praxis digitaler Bilder in Social Networks werden (vgl. Schelske 2005: 519–523). Er führt aus, dass die Wechselwirkung zwischen Algorithmus und konkreter Nutzungspraxis die Bildlichkeit entscheidend prägen: „Zweifelsohne hat der Produzent die Algorithmen programmiert, die das mögliche Spektrum des Bildraums erzeugen, trotzdem generiert das Computersystem vielfältigere Bilder, als der Produzent es je absehen konnte.“ (Schelske 2005: 522) Es kann daraus gefolgert werden, dass die Wahrnehmung digitaler Bildzeichen in dreifacher Hinsicht einem kulturellen Code unterliegt. Umberto Eco entwickelt im Anschluss u.a. an Peirce eine Theorie der Semiose, welche bezüglich der pragmatischen Zeichenrezeption die kulturelle Dimension von Lesarten hervorhebt: [J]e ‚offener‘ die Botschaft gegenüber verschiedenen Decodierungen ist, [wird] die Auswahl der Codes und Subcodes umso mehr außer vom Kommunikationsumstand auch von den ideologischen Voraussetzungen des Empfängers beeinflusst […]. In dieser Hinsicht stellt sich die Ideologie als außersemiotisches Residuum dar[…], das die semiotischen Geschehnisse determiniert. Auf dieselbe Art präsentiert sich uns immer als außersemiotisches Residuum jenes vorhergehende Wissen, jener Wissensschatz des Empfängers, den wir oft als semantischen Katalysator haben wirken sehen. Aber wenn unsere Definition des globalen semantischen Systems […] für zutreffend gehalten werden soll, dann gibt es kein vorhergehendes Wissen, das nicht schon in semantische Felder, in Systeme von kulturellen Einheiten und folglich in Wertsysteme strukturiert wäre. (Eco 2002: 168)
Eco stellt folglich die Weltanschauung eines individuellen Zeichenrezipienten, die auf vorhergehenden Rezeptions- und Deutungserfahrungen fußt, als „semantisches System“ vor, welches eine „partielle Interpretation der Welt“ ist (Eco 2002: 168). Dabei betont er mithilfe des Systemcharakters dieser Weltanschauung, dass diese rezeptionshistorische Art von Interpretationscodes bereits in einer semiotischen, kommunikativen und daher kulturellen Dimension bestehe: Dieses kulturelle Erbe stellt ein außersemiotisches Residuum dar, solange es okkasionell und idiosynkratisch bleibt und keinem anderen mitgeteilt wird. Aber wenn die Erfahrung gesellschaftlich geworden ist, wird die kulturelle Größe Element eines semantischen Systems. (Eco 2002: 171)
Das digitale Bild unterliegt somit einerseits generell als Zeichen diesen semantischen Deutungssystemen, die kulturell-kollektiv als Code zur Interpretation von Zeichen gesetzt werden. Andererseits, und dies scheint das digitale Bild mit anderen Bildzeichen gemeinsam zu haben, wird die Funktionalität des digitalen
Das Konzept wird inzwischen ebenso als Ausdruck für Rezipienten neuer Medien und insbesondere digitaler Medien genutzt, welche aktiv an der Produktion von Medieninhalten mitwirken (vgl. Baringhorst 2014, Dolata und Schrape 2014, van Dijck 2009).
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Bildes hinsichtlich seiner Funktion als Ikon oder sogar indexikalisches Zeichen von pragmatischen Zeichennutzungen durch die Rezipienten geprägt. Diese funktional pragmatische Ebene der Bildfunktion basiert demnach auf vorhergehenden Nutzungsweisen, die in das kollektive Erbe einer Kultur eingegangen sind. Besonders deutlich wird dies am fotografischen Zeichen als Index: Das Wissen über die Produktionsschritte des Fotos verlieh dem entstandenen Bild eine Wahrheits- und Authentifizierungsfunktion, die bei anderen Bildwerken nicht gesucht wurde (vgl. Benjamin 2010 [1931]: 251 f.). Diese kulturelle Wahrnehmung der Fotografie führt dazu, dass bereits in der Frühzeit des analogen Verfahrens die Möglichkeit der Manipulation von Fotografien weitgehend ausgeblendet wurde. Dabei ist die kulturelle Wahrnehmung der Fotografie derart stabil, dass selbst in heutigen Zeiten erhöhter Manipulation bzw. kompletter Bildsimulation im digitalen Bild Fotografien in Online-Umgebungen nach wie vor mit einem vorherrschend indexikalischen Gebrauchswert versehen werden (vgl. Meier 2012). Im Gegensatz dazu wird die Funktion digitaler Bilder insbesondere in der Interaktion mit dem Nutzer determiniert. Er konstruiert selbst den bildlichen Raum der digitalen Zeichen – nicht nur durch seine individuelle Lesart, sondern indem er die Bildzeichen selbst prozessiert bzw. deren Prozessieren auslöst. So erstellt erst der aktive und performative Umgang mit digitalen Bildern als Manovichsche „Image-Interfaces“ deren tatsächliche Bildhaftigkeit. Der Nutzer ist hierbei nicht nur Rezipient, sondern auch Produzent der Bilder. Dieser interaktive Umgang mit technischen Bildern, das Klicken auf bestimmte Bilder zwecks Navigation über Hyperlinkverbindungen bspw., folgt ebenso kulturellen Nutzungsmustern, die auf symbolischer Ebene mit dem kulturellen Code Ecos vergleichbar sind. Eine letzte kulturelle Dimension der digitalen Bildhaftigkeit findet sich weder in der kognitiven Ebene der Bildwahrnehmung, noch in der performativen Ebene des Bildhandelns, sondern in der technischen Ebene des Bildträgers. Die logarithmische Wahrnehmbarmachung von Bildzeichen erfolgt innerhalb eines Interface oder einer Benutzeroberfläche. Diese zeichnet sich, Andersen und Pold (2014) folgend, dadurch aus, dass sie die Funktionalität technischer Codestrukturen mit der Zeichenhaftigkeit symbolischer Codes verbinden. Interfaces sind demnach selbst Produkt einer Kultur und Algorithmen, die digitale Bilder in Interfaces sichtbar machen, greifen auf diese kulturellen Visualisierungsmuster zurück. Mit dieser dreifachen Kulturalität der Zeichenhaftigkeit digitaler Bilder lässt sich Lambert Wiesings (2000) Kritik der Semiotizität von Bildzeichen entgegenhalten, dass sie zwar innerhalb digitaler Umgebungen hauptsächlich einer Kommunikations- und Interaktionsfunktion dienen. Diese neuen – insbesondere technisch bedingten – Funktionalitäten des digitalen Bildes fußen allerdings auf der grundsätzlichen Zuschreibung einer Zeichenhaftigkeit. Insbesondere in den
44 Die kulturelle Praxis digitaler Bilder in Social Networks Sphären des Internets wird Bildzeichen eine hohe repräsentative Funktion zugesprochen, die insbesondere auf dem kulturellen Codesystem der Algorithmen, der Interaktion mit Bildern und der Wahrnehmung von Bildern beruht. Im folgenden Kapitel soll deshalb die Benutzeroberfläche von Social Network Sites wie Facebook unter semiotischen Gesichtspunkten untersucht werden, um den technischen Aspekt der Semiose digitaler Bildzeichen zu klären. Da die Rekonstruktion einer Medienkultur von Online-Bildzeichen insbesondere mit dem Konzept der Medienkultur allgemein und konkret mit der Internetkultur verbunden ist, wird diese in einem gesonderten, übergreifenden Kapitel besprochen.
1.4 Multimodalität und digitale Semiose in Social Network Sites Durch die Benutzeroberfläche des Social Networks Facebook werden Bildzeichen ausschließlich auf einer grafischen Oberfläche sichtbar gemacht. Der Nutzer hat keinen Zugriff auf die logarithmische Dimension des Bildes, sondern interagiert einzig mit semiotischen Inhalten. Über die Benutzeroberfläche von Facebook werden genau genommen zwei Netzwerke miteinander verbunden (vgl. Boyd 2011): Technisch gesehen wird über das Interface ein Netzwerk miteinander verknüpfter, digitaler Endgeräte hergestellt, aufrechterhalten und verwaltet. Auf semantischer Ebene wiederum wird ein individualisiertes, imaginäres Kollektiv ‚befreundeter‘ Nutzer erstellt, welches insbesondere auf der Beziehungsfunktion und der Kontaktfunktion des Interface basiert. Digitale Bildzeichen sind in dieser doppelten Semiotizität als Menge diskreter Zeichen einerseits und visueller Einheit andererseits im Schnittbereich beider Netzwerke angesiedelt. So soll im Folgenden genauer betrachtet werden, wie Bildzeichen in das Interface eingebettet werden, wie sie mit dem multisemiotischen Kontext der grafischen Oberfläche interagieren und wie sie darüber hinaus in den Netzwerkschichten verbreitet werden. Die Einbindung von Bildzeichen in Facebook wird durch einen aktiven Nutzer vorgenommen. Quellen dafür sind lokal auf einem Speichermedium vorhandene digitale oder digitalisierte Bilder sowie im Internet über Hyperlink lokalisierbare Bilder. Der Upload ist bereits von verschiedenen Prozessierungsvorgängen begleitet. So wird durch die Anwendungen beispielsweise die Qualität des Bildes automatisch optimiert, also in Helligkeit, Belichtung, Kontrast etc., angepasst. Weiterhin gibt das Interface relativ restriktive technische Grenzen für den Upload
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vor. Bilddateien müssen gewisse Vorgaben hinsichtlich Größe und Format erfüllen, um eingebunden werden zu können.13 Das Hochladen ist innerhalb von Facebook mit vorgegebenen Veröffentlichungsoptionen verbunden. Demnach entscheidet der Nutzer lediglich, wie er das Bild innerhalb seiner Profilseiten positioniert. Die Veröffentlichungspositionen sind hierbei höchst standardisiert, Bilder können als statisches14 Profilbild in der oberen linken Hälfte des Nutzerprofils, als statisches Titelbild, welches als Header den oberen Bereich des Profils einnimmt,15 als dynamische Bildzeichen im Rahmen von Statusaktualisierungen im persönlichen Nutzerprofil und zuletzt als Element des individuellen Fotoalbums veröffentlicht werden. Da alle inhaltlichen Veränderungen innerhalb des Aktivitätenstreams anderer User zumindest vorübergehend automatisch aufgezeigt werden, tauchen die zuvor genannten Bildzeichen auch als dynamisches Element innerhalb der Startseiten von Usern auf. Weiterhin werden Bildzeichen, in denen andere Nutzer markiert werden, nach einer Prüfung durch diese Nutzer auf ihren Profilseiten angezeigt. Die Position des Bildzeichens bestimmt nicht nur dessen Wahrnehmung und kontextuelle Einbettung, sondern auch dessen technisch-hypertextuelle Funktion. So wird das Profilbild eines Nutzers automatisch als Miniaturbild neben seinen Beiträgen eingeblendet. Das Miniaturbild wiederum verweist automatisch auf das Profil des Nutzers. Weiterhin wird durch einen Klick auf ein anderes Bildzeichen (Titelbild, geteiltes Bild, selbst eingestelltes Bild) innerhalb eines Profils oder des Aktivitätenprotokolls dieses in dessen originärer Quelle innerhalb Facebooks angezeigt. In dieser Ansicht dann werden Like-Reaktionen und Kommentare sowie Bildunterschriften gezeigt und es kann durch weitere Klicks zwischen den umgebenden Bildzeichen navigiert werden. Es wird daraus zunächst deutlich, dass Bildzeichen innerhalb Facebooks nicht einzeln auftreten, sondern in einen multimodalen Gesamtzusammenhang eingebettet sind. Volker Eisenlauer stellt fest, dass das „Publisher Template“ das umfassendste Werkzeug zur Veröffentlichung von Inhalten in Facebook ist:
13 So ist in Facebook der Upload von Bilddateien auf die Formate JPEG, BMP, PNG, GIF oder TIFF und eine Dateigröße von maximal 15 MB beschränkt (vgl. Facebook.com: Hilfeseite: „Ich kann keine Fotos hochladen.“, https://www.facebook.com/help/167931376599294, Stand: 28.08.2017). 14 Unter statischen Inhalten werden hier Zeichen verstanden, die – bis zur Veränderung durch den Nutzer selbst – stabil innerhalb der Profilseiten verortet sind. Dynamische Zeichen hingegen sind durch Algorithmen in dynamische, also stets aktualisierte und nahezu unendlich navigierbare Webseiten, wie dem Aktivitätsstream, eingebunden. 15 Die Funktion des Titelbildes wurde erst zu Ende des Jahres 2011 mit der Umstellung der grafischen Benutzeroberfläche eingeführt.
46 Die kulturelle Praxis digitaler Bilder in Social Networks Die Textschablone bietet zahlreiche funktionale Affordanzen, die bestimmte zeichenhafte Praktiken ermöglichen (z. B. die Einbindung von schriftsprachlichen Zeichen, Bildern oder Videos), während andere Zeichenpraktiken nicht unterstützt werden (z. B. die Aufnahme und Einbindung von gesprochener Sprache). (Eisenlauer 2016: 446)
Entsprechend werden Bilder vom veröffentlichenden Individuum meist in Verbindung mit Text und Hyperlinks zu anderen Nutzern oder externen Seiten publiziert. Ergänzt werden die Bildzeichen durch algorithmisch generierte, textuelle, hypertextuelle und bildliche Informationen, die auf den Urheber der Nachricht und zumeist die Uhrzeit der Veröffentlichung (ggf. auch den Ort) verweisen (vgl. Eisenlauer 2016: 448). Es lässt sich demnach von textuell und algorithmisch erweiterten Bildzeichen sprechen, die einen „multimodalen digitalen Gesamttext“ (Eisenlauer 2016: 448) formieren. Innerhalb dieses multimodalen Konstrukts werden vielfältige intra- und intermodale Bezüge eröffnet. Eisenlauer stellt in Rückgriff auf Stöckls Theorie intermodaler Bezüge (2010, zitiert in Eisenlauer 2016: 448) fest, dass sich diese Bezugnahmen hinsichtlich der Autorschaft des veröffentlichenden Nutzers hauptsächlich auf die semantische Ebene beschränken und die Wahrnehmung von Inhalten beeinflussen. Hinsichtlich der syntaktischen und informationsbezogenen Bezugsqualität hingegen werden die Möglichkeiten des Nutzers weitgehend durch das Interface der Anwendung vorgegeben bzw. werden Bezüge durch den internen Algorithmus selbst hergestellt (vgl. Eisenlauer 2016: 448). Ebenso wirkt sich die Interaktion von Nutzern auf die Wahrnehmung von Inhalten in Facebook aus. Dies erfolgt über die Kommentarfunktion, die Markierung von Zustimmung (die Like-Funktion) und das Teilen von Bildinhalten. Eine vereinfachte und automatisierte Funktion des Kommentars ist die Like-Funktion, die bezüglich des Bildeintrags direkt oder der Kommentare genutzt werden kann. Die kommunikative Funktion dieses algorithmisch ausgewerteten Kommentierens ist – im Rückgriff auf Jakobsons kommunikative Ebenen einer Mitteilung – zwischen der phatischen, emotiven und poetischen Funktion zu verorten: Erstens kann der Nutzer durch die Aktivierung der Schaltfläche anzeigen, dass er den Beitrag gesehen hat und darüber einen Kontakt mit dem Autor der Mitteilung herstellen oder aufrechterhalten. Weiterhin kann eine semantische Erweiterung des Bildzeichens entstehen, wenn beispielsweise ein Nutzer, der im Bild sichtbar ist, seine Zustimmung zu diesem Bild durch ein Like ausdrückt. Zuletzt – und dies ist die eigentlich intendierte Funktion der Schaltfläche, wird ein emotiver Selbstausdruck des Nutzers ermöglicht, indem er Gefallen oder Sympathie manifestiert.16 Die Like-Funktion ist zwischen einer quasi-automatischen Manifesta-
16 Die ursprüngliche Intention des Like-Schaltfläche wurde aktualisiert, als Facebook ab 2016
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tionstechnik und einem zugleich quasi-emotionalen Ausdrucks zu verorten. Die Erweiterung des Bildzeichens durch Likes, Kommentare und Weiterverbreitung führt dazu, dass kollektive Rezeptionsprozesse, semantische Aushandlungen sowie Affirmationen als Spur in das Bildzeichen eingeschrieben werden. Das Bild wird durch kollektive Selektion, Rezeption und insbesondere Weiterverbreitung Teil eines intersubjektiven Netzwerks. Dementsprechend können Bildzeichen in Facebook vom Profil des originären Autors 17 abgelöst werden und durch individuelle Nutzer, Gruppen oder weitere Seiten in Facebook verbreitet werden. Die durch Algorithmen des Netzwerks quasi-automatisierte oder durch die Eingabeoptionen des Interface vorgegebenen Veröffentlichungsweisen spielen bei dieser Verbreitung eine nicht unerhebliche Rolle. Die Semiose des Online-Bildzeichens auf Facebook ist entsprechend eng verbunden mit dem algorithmischen Verarbeiten des Bildes. Nöth (2003) schlägt vor, diese Form der Semiose als „machine semiosis“ zu diskutieren. Im Prozess der digitalen Verarbeitung von diskreten Codes würde die Peircesche Semiose von einer triadischen auf eine diadische Quasi-Semiose reduziert. Die Position des Objekts entfällt in dieser Relationalität, denn die Semiose in digitalen Umgebungen erfordert keinen Verweis auf ein externes Objekt (vgl. Nöth 2003: 84 f.). Im technischen Prozess der Zeichenverarbeitung wird deshalb die Funktionalität des Zeichens innerhalb eines Systems geprägt. Am Beispiel von Likes oder Hyperlinks lässt sich dies verdeutlichen, denn sie verweisen auf keine extrasystemische Realität, sondern nehmen lediglich eine Funktion innerhalb der inhärenten Strukturen des Social Networks ein. Das so erweiterte digitale Bildzeichen in Social Network Sites kann demnach nicht nur anhand der ikonischen Darstellung innerhalb des einfachen Bildrahmens betrachtet werden. Relevant für Bedeutung des Bildes sind alle Zeichen innerhalb des zweiten Rahmens, welcher den Gesamtbeitrag oder die kommunikative Einzelhandlung (vgl. Eisenlauer 2016: 446) (Bildzeichen, Autor mit Miniatur-Profilbild, textuelle Bildunterschrift, Likes und Shares, Kommentare anderer Nutzer) von der Oberfläche abhebt. Der erweiterte Bildrahmen enthält relevante Informationen zu den Bildern, die den kommunikativen Akt des Autors der Mitteilung, das technische Prozessieren durch den Algorithmus sowie intersubjek-
die emotionalen Ausdrucksdimensionen differenzierte und weitere emotionale Reaktionen wie Trauer, Freude, Liebe einführte. 17 Wie zuvor festgestellt, muss dieser nicht der Produzent des Bildes selbst sein. Als Autor soll ein Nutzer gemeint werden, der das Bild im Rahmen einer kommunikativen Handlung in sein Profil einpflegt.
48 Die kulturelle Praxis digitaler Bilder in Social Networks tive und kollektive Reaktionen betreffen. Die Wechselwirkungen dieser Bestandteile prägen die Semiose digitaler Bildzeichen in Facebook.
1.5 Konklusion: Versuch einer Kultursemiotik technisch vermittelter Bilder in Social Network Sites Die vorliegende Untersuchung beschäftigt sich mit Bildzeichen in Social Network Sites aus der Perspektive einer medienkulturellen Semiotik. Wie oben gezeigt, stellen insbesondere Bilder hierbei eine interessante Herausforderung dar. Aus semiotischer Perspektive verfügen sie über einen höchst umstrittenen Zeichenstatus. Durch ihre erweiterte Polysemie entziehen sich visuell-bildliche Zeichensysteme klassischen semiotischen Herangehensweisen. Während linguistische Modelle wie syntagmatische und paradigmatische Beziehungsgefüge in Zei chensystemen bei Bildzeichen nicht fruchtbar genutzt werden können, erscheint die – explizit für Bildzeichen eingeführte – Unterscheidung in die denotative und die konnotative Ebene des Bildes nach Barthes sinnvoll. Demnach ist einerseits zu erfragen, wie sich die bildliche Polysemie innerhalb des Kommunikationsaktes äußert, bzw. welche denotativen und konnotativen Ebenen einem Bildzeichen zugewiesen werden. Andererseits geraten Bilddenotation und Bildkonnotation – Barthes folgend – in eine Wechselbeziehung, wodurch die Semiose zwischen ikonischer und der erweiterten symbolischen Ebene des Bildes untersucht werden kann. Es konnte zudem gezeigt werden, dass die Ikonizität des Bildzeichens letztlich nicht als eine abbildhafte Repräsentation zu fassen ist. Vielmehr wird Ikonizität – insbesondere hinsichtlich eines konkret bildlichen Kommunikationsaktes zum Gegenstand wechselseitiger Konstruktionen. Der Verweischarakter des Bildlichen besteht demnach zwar in der denotativen Ebene des Bildes, die als natürliche Abbildung wahrgenommen wird. Jedoch basiert insbesondere diese Funktionsweise des Bildzeichens nach Umberto Eco auf Wahrnehmungsschemata und grafischen Erkennungscodes. Bildliche Ikonizität ist demzufolge eine kulturell geprägte Verweisstruktur und unterliegt kulturellen und insbesondere medienkulturellen Bedeutungsschwankungen. Die Unterscheidung in denotative und konnotative Bildebene birgt vor allem einen analytischen Gehalt. Es lassen sich deshalb unterschiedliche Zeichenschichten herausarbeiten, denen jeweils eine unterschiedliche Signifikanz – in diesem Fall hauptsächlich ikonischer und symbolischer Art – zugeschrieben wird. Daraus lässt sich schließen, dass Bildzeichen mehr oder weniger strukturierte Zeichensysteme sind, wobei die Strukturierung von ihrer direkten Wahrneh-
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mung, ihrem konkreten Gebrauch, ihrer medialen Einbettung und den kulturellen Signifikationszuschreibungen abhängig ist. Bildlichkeit als bildliche Zeichenhaftigkeit entsteht demnach im Dazwischen von Wahrnehmungsnähe, welche auf Wahrnehmungskompetenzen basiert, und einem ikonischen Bewusstsein, welches nicht zuletzt in der konkreten Kommunikationssituation geprägt wird und die Ikonizität des Bildes konstruiert. Ein letztes konstituierendes Element bildlicher Zeichenhaftigkeit ist die Materialität von Bildzeichen, die hauptsächlich in deren medialer Übertragung realisiert wird. So bezieht eine kultursemiotische Lektüre von Bildzeichen die mediale Materialität von Bildern mit ein. Bildliche Semiose erfolgt nicht nur auf Ebene der Übersetzung in Zeichen, sondern auch auf Ebene der Umsetzung in materielle Gestaltungen. Letztere Ebene umfasst sowohl die Gestaltungsoptionen innerhalb des Bildzeichens, als auch die Möglichkeitsbedingungen bildlicher Sichtbarmachung über einen medialen Bildträger. Der Bildträger ist Ort der Materialisierung des Bildes und deshalb auch prägend für die bildliche Erscheinungsform, die Wahrnehmung und Bedeutungszuweisung des Bildes. Zudem verfügen Medien wiederum über spezifische Nutzungsweisen und eine damit verbundene Kultur medialer Kommunikation, welche die Verwendungsweisen des Bildes als Zeichen innerhalb einer kommunikativen Handlung beeinflussen. Hier wird folglich die medienkulturelle Ausrichtung der kultursemiotischen Betrachtung sichtbar: Mediale Kultur schreibt sich in das Bild und dessen Verwendung ein und prägt damit seine Zeichenhaftigkeit. Zuletzt sind die Spezifika von digitalen Bildzeichen in Social Network Sites in einem Wechselspiel zwischen der technischen Medialität des den konkreten interaktiven und kommunikativen Nutzungsweisen durch Mitglieder des Netzwerks und der darüber stehenden Bildkultur in Facebook mit kollektiven Rezeptionshintergründen und -erfahrungen, Erwartungshaltungen und Bedeutungszuschreibungen auszumachen. Die Technizität dieser digitalen Bilder liegt in diesen zwei Bedeutungsschichten begründet Daraus ergeben sich zwei Anknüpfungspunkte: Auf Ebene des technischen Codes werden Bildzeichen mit weiteren, quasi-automatischen Informationen ergänzt und damit in eine Struktur digitaler Prozesse (Suchfunktionen, Positionierung und Einbettung, semantische Erweiterung durch Likes und Erweiterung durch Hyperlinks) eingefügt. Auf der Ebene des bildlich-symbolischen Codes wiederum werden Bildzeichen in ein intersubjektives Netzwerk verschiedener individueller Nutzer überführt und durch kollektive Rezeptions- und Kommunikationsvorgänge erweitert. Zwischen beiden Ebenen des digitalen Bildes vermittelt die grafische Benutzeroberfläche der webbasierten Anwendung Facebook. Das grafische Interface ist auch der Ort der kulturellen Prägung beider Bilddimensionen. Wenn der Einfluss historischer und kollektiver Rezeptionsweisen auf die pragmatisch-kommunikative Nutzung
50 Die kulturelle Praxis digitaler Bilder in Social Networks von Bildzeichen in intersubjektiven Netzwerken noch klar zu sein scheint, ist auf Ebene des digitalen Codes, also in der Dimension diskreter Einheiten, die kulturelle Prägung weitaus weniger nachvollziehbar. Diese ergibt sich in dem Moment, wo diskrete Codes in eine wahrnehmbare Schicht überführt werden, also durch kulturelle Gewohnheits- und Wahrnehmungsmuster übersetzt werden. Die medienkulturwissenschaftlich-semiotische Analyse von Bildzeichen in Facebook hat nun zum Ziel, aus kultureller Sicht die Wechselwirkung zwischen der Zeichenhaftigkeit des Bildes einerseits, und den kommunikativ-pragmatischen Prozessen der Bildzeichennutzung sowie der medienkulturell geprägten Technizität des digitalen Bildes andererseits zu ergründen. Während insbesondere das Feld der Semiotik des Bildzeichens bisher umfassend erarbeitet wurde, soll in den folgenden Kapiteln der Gedanke einer Medienkultur digitaler Bilder in Facebook sowie die soziokulturellen Implikationen eines kommunikativen Handelns mit Bildzeichen in diesen technisch-medialen Umgebungen entwickelt werden.
2 Medien- und Bildkulturen als Kulturprogramme Im Sinne einer theoretischen Annäherung an die Medienkultur digitaler Bildzeichen in Facebook wird zunächst eine genauere Fokussierung hinsichtlich des zugrundeliegenden Kulturkonzepts unternommen, um anschließend die Medienkultur des Internets in Verschränkung mit der visuellen Kultur digitaler Bildzeichen weiterzudenken.
2.1 Kultur als Programm und Medienkultur Kultur wird im Folgenden weder als ein essentialistisch oder objektiv fundiertes noch als ein normativ definiertes Konzept verstanden. Versuche dieser Art resultierten in determinierten Katalogen darüber, was Kultur in Abgrenzung zu dem Nichtkulturellen sei, wobei diese Unterscheidung in zweiter Hinsicht dann an normative Kategorien gebunden wird. Eine solche Konzeption erscheint insbesondere bei einer Beschäftigung mit visuellen Alltagspraktiken im Internet nicht sinnvoll. Vielmehr geht die Untersuchung von einem Verständnis aus, welches Kultur weniger als feste Formation, denn als prozesshafte Dynamik versteht. Damit folgt sie einem funktionalen Kulturkonzept, wie es in systemtheoretischer und konstruktivistischer Perspektive insbesondere von Siegfried J. Schmidt vorgeschlagen wurde (vgl. Bohnenkamp und Schneider 2005: 41).
Medien- und Bildkulturen als Kulturprogramme 51
Schmidt betrachtet Kultur aus einer funktionalen Perspektive heraus, indem er zunächst nach dem erkenntnistheoretischen und lebensweltlichen Zweck von Kultur fragt. Demnach sei der Grundprozess des Wirklichkeitsbegreifens im Vorgang des Beobachtens zu verorten. Dieser bezeichnet „eine Art von Handeln, von Unterscheiden- und Benennen-Können, das in Gemeinschaft mit anderen gelernt, schematisiert und bis zur Selbstverständlichkeit routiniert worden ist.“ (Schmidt 2000: 16). Daraus sei eine konstruktivistische Fundierung von Wirklichkeit abzuleiten: Wirklichkeit ist das systemrelativ durch Beobachtung Gemachte. Ein tatsächlicher Zugriff auf eine objektive Wirklichkeit kann demnach nicht erfolgen (vgl. Schmidt 2000: 17 f.). Hier gewinnt die Kultur an Bedeutung. Sie bietet nach Schmidt eine interindividuelle und interaktive Fundierung für die Konstruktion von Wirklichkeit: Im Wahrnehmen, Erkennen, Handeln und Benennen sind beobachtende Systeme eingebunden in bisher gemachte Erfahrungen, in Wissen, Kommunikation, Normen, Konsense und so weiter. Wir erfahren Wirklichkeit in Form sinnvoller Erfahrungen, also als Sinn; oder anders gewendet: Was wir – eingebunden in biologische und soziokulturelle Evolutionsprozesse – als Wirklichkeit erfahren, ist ökologisch valides (überlebenstaugliches) Wissen, das wir erfahrungsgemäß mit anderen teilen, eben weil seine Konstruktion von der Interaktion mit anderen, von Sprache und Kultur bestimmt und geprägt wird. (Schmidt 2000: 19)
Um der Systemrelativität der Beobachtung von Wirklichkeit zu begegnen, basiert menschliche Interaktion weitestgehend auf der Antizipation und Fiktion kollektiven Wissens und Einschätzens. Kollektive Interaktion begründet sich auf der Annahme eines geteilten Wissens, welches sich in „Erwartungs-Erwartungen“ (der Erwartung von A, dass B erwartet, dass…) (vgl. Schmidt 2000: 24) zeigt, und einer geteilten Motivation bzw. Emotion, die sich in „Unterstellungs-Unterstellungen“ („unterstellte[…] Intentionen, Bewertungen, Einstellungen“, Schmidt 2000: 26) niederschlagen. Dieses kollektive Wissen ist im Wirklichkeitsmodell einer Gesellschaft implementiert: Wirklichkeitsmodelle lassen sich als systematisiertes kollektives Wissen der Mitglieder einer Gemeinschaft bestimmen, das über Erwartungserwartungen deren Interaktion ko-ordiniert und damit kommunalisiert. Wirklichkeitsmodelle entstehen auf dem Wege der Konstruktion und Systematisierung von für essentiell gehaltenen Unterscheidungen. (Schmidt 2000: 34)
Schmidt schlägt damit ein systemabhängig vorstrukturiertes Modell als erste Strukturierung von Wirklichkeit vor. Die Strukturierung der Wirklichkeit basiert auf benennbaren Differenzen hinsichtlich der Umwelt, der Aktanten, der Normen und Werte sowie der Emotionen. Interaktion zwischen Mitgliedern einer Gesellschaft bezieht sich auf diese als kollektiv vorausgesetzte Wirklichkeitswahrnehmung. Die Interaktion bzw. der Bezug auf das Modell erfolgt dann vermittelt
52 Die kulturelle Praxis digitaler Bilder in Social Networks durch ein sozial verbindliches Programm, als das, nach Schmidt, Kultur konzipiert werden kann (vgl. Schmidt 2000: 35). Schmidts Theorie zeichnet aus, dass er damit eine Unterscheidung zwischen zwei integralen Seiten eines lebensweltlich und erkenntnistheoretisch relevanten Zusammenhangs einführt: Er trennt zwischen einer strukturellen, kognitiven Dimension von Welterkenntnis einerseits und einem dynamisch-prozessualen, kollektiv relevanten Zugriff darauf andererseits. Dies hat den Vorteil, dass Kultur als ein funktionales Konzept und als Anwendungsprogramm für individuelles (Über-)Leben innerhalb einer Gesellschaft bedeutsam wird. Kultur ist demnach ein pragmatisches, anwendungsorientiertes Konzept: Sie beinhaltet semi-rigide Strukturen von Prinzipien, Regeln und Codes darüber, wie Wirklichkeit im Hinblick auf lebensweltliche Wahrnehmung, Handeln und Affektion reduziert werden kann, und darüber, wie Interaktion und Kommunikation vonstattengehen (vgl. Schmidt 2000: 36 f.). Semi-rigide ist das Kulturprogramm, da es von einer Anwendung durch Akteure abhängig ist. Es stellt einerseits fixierte Strukturen für individuelles Handeln zu Verfügung, andererseits ist es durch die Anwendung (insbesondere durch eine kollektiv affirmierte Anwendung) langfristig wandlungsfähig. Kultur als Programm koordiniert also Kognition wie Kommunikation über das kollektive Wissen, das Anwender bei sachgerechter Programmanwendung in ihren kognitiven Bereichen erzeugen. Andererseits ist jede Programmanwendung systemabhängig und damit prinzipiell deviant, womit langfristig kultureller Wandel wahrscheinlich wird, ohne dass die normative Bindungskraft von Kultur beeinträchtigt wird. (Schmidt 2000: 37)
In handlungstheoretischer und erkenntnistheoretischer Hinsicht ist Schmidts Konzept folglich im Spannungsfeld zwischen individueller Handlung und determinierender Struktur, also zwischen einem strikten Individualismus vs. einem strikten Strukturalismus (vgl. Schluchter 2015: 594) zu verorten: Er bietet einen soziokulturellen Konstruktivismus an, bei dem der Einzelne durch den Zugriff auf das Kulturprogramm die Möglichkeit von individueller Wirklichkeitskonstruktion und Kognition sowie individuell determiniertem Handeln im Rahmen der strukturellen Vorgaben der entsprechenden Kultur nutzen kann. In kulturwissenschaftlicher Hinsicht bietet diese Theorie erstens den Vorteil, dass Kultur nicht als werthaltiger Begriff, sondern als funktional anwendbares Konzept greifbar wird. Durch individuelle Handlungszugriffe bleibt die Struktur des Programms dynamisch und entzieht sich damit zumindest in historischer und normativer Hinsicht einer Fixierung. Vielmehr wird Kultur als entwicklungsfähiges Konzept tragbar, welches im Laufe der Zeit ausdifferenziert, verdrängt, transformiert und funktionell an situative Kontexte angepasst werden kann. So besteht Kultur folglich aus einem Nebeneinander partikulärer, funktional differenzierter Teilprogramme, die miteinander interagieren, zueinander inkompati-
Medien- und Bildkulturen als Kulturprogramme 53
bel werden und in Konflikte geraten können (vgl. Schmidt 2000: 38). Zweitens manifestiert sich Kultur als Prozess an ihren Anwendungen im Sinne von Materialisierungen (Artefakten), semantischen Systemen, Ritualen, Diskursen und Institutionen. Diese Anwendungen sind als Ergebnisse und Realisationen im Verlauf des kulturellen Prozesses zu verstehen. Kultur zeichnet sich deshalb durch ihre Anwendungsoffenheit und durch die Möglichkeit der dynamischen Ausweitung, Veränderung und Neuorientierung solcher Anwendungen aus. Welche Rolle spielen nun Medien innerhalb dieses Kulturverständnisses? Medien stellen sich bei Schmidt gewissermaßen als Mittler und Instrumente für Wirklichkeitskonstruktion dar. Dies erfolgt in mehreren Hinsichten: Als Interaktionsmedien verbinden Medien (wie Sprache, visuelle Kommunikation aber auch audiovisuelle Massenmedien) individuelle, kognitiv autonome Systeme (vgl. Schmidt 1999: 230). In dieser Hinsicht „entfalten und regulieren“ Medien „alle Prozesse der Kommunikation wie der Kommunalisierung bis hin zur Entstehung virtueller Gemeinschaften“ (Schmidt 2000: 44). Als Medienangebot materialisieren sie das Wirklichkeitsmodell einer Gesellschaft in der Ausdrucksseite des vorhandenen Zeichenvorrats (verstanden als Signifikanten, vgl. Schmidt 2000: 27), wodurch eine Interaktion zwischen individuell kognitiven Systemen erst möglich wird. Schmidt bricht damit Kommunikation in die Elemente semiotischer Interaktion auf: Im Wirklichkeitsmodell einer Gesellschaft sind die signifikanten Unterscheidungen und Differenzen, also Strukturen der Wirklichkeitswahrnehmung, angelegt. Diese werden durch mediale Systeme in ihrer Materialität zur Verfügung gestellt: Materialitäten kann man aber nur koppeln und nicht hermeneutisch ineinander übersetzen. Folglich müssen die Materialitäten all das enthalten, was eine systemspezifisch bewertbare Anschlussfähigkeit von Medienangeboten eröffnet; denn wir gehen kognitiv wie kommunikativ mit der Materialität von Medienangeboten um, nicht mit Sinn und Bedeutungen. (Schmidt 2000: 28)
Damit sie kognitiv relevant wird, bedarf mediale Kommunikation demnach einer Rückübertragung in individuelle Systeme. Ebendiese kognitive Relevanz entsteht durch die kulturelle Vermittlung innerhalb der Kommunikation. Kommunikation stellt sich damit als ein doppelter Prozess dar: „Kommunikation kann nach diesen Überlegungen bestimmt werden als soziales Handeln von Aktanten mit Hilfe von Medien mit dem Ergebnis der Sinn-Kopplung von Systemen.“ (Schmidt 2000: 28) Diese Sinnkopplung kann nur durch die Verknüpfung medialer Materialität, der Signifikanten, mit durch Kulturprogramme zur Verfügung gestellten „Strategien zur Invariantenbildung“ („von Makro-Schemata für Diskurse […] bis hin zu Gattungen, Ausdruckstypen, Metaphoriken, Stilregistern und so weiter“, Schmidt 2000: 29) erfolgen. Damit zeichnen sich Medien auf funktionaler Ebene
54 Die kulturelle Praxis digitaler Bilder in Social Networks durch die Verbindung von Individuen und durch die Scharnierfunktion zwischen Wirklichkeitsmodell und Kulturprogramm aus. In diesen Funktionen wirken Medien strukturgebend und regulierend (vgl. Schmidt 2000: 43). Zweitens etablieren Medien (im schmidtschen Sinne vor allem die Massenmedien) seit dem 18. Jahrhundert „reflexive Beobachtungsstrukturen“, sie spiegeln die Wahrnehmungsbedingungen und Kommunikationsstrukturen einer Kultur und decken ins besondere durch die Konfrontation mit anderen Kulturprogrammen die Kontingenz der eigenen sowie der fremden Kultur auf. Als „Beobachtungsverhältnisse 2. Ordnung“ (Schmidt 2006: 30) haben Medien deshalb zur Ausdifferenzierung und Ausprägung partikularer Teilkulturen beigetragen. Dazu gehören ebenso spezifische Medienkulturen, die (meist auf den Massenmedien beruhend) medienspezifische Wirklichkeitszugriffe und demnach eigene Wirklichkeitskonstruktionen erlauben (vgl. Schmidt 2000: 38). Entscheidend für das Verständnis von Medienkultur ist es zu wissen, was genau unter einem Medium nach Siegfried J. Schmidt zu verstehen ist. Schmidt fasst unter dem „Kompaktbegriff ‚Medium‘“ (Schmidt 2000: 94) Verknüpfungen von: a) semiotischen Kommunikationsinstrumenten (semiotische Instrumente zur systemübergreifenden Kopplung von Sinnproduktion); b) Medientechnologien (als technisch-mediale Dispositive wie bspw. die technische Infrastruktur des Internets); c) sozialsystemischen Institutionen (wie z.B. Verlage, Fernsehsender, Filmproduktionsanstalten); d) konkreten Medienangeboten (bspw. Texte) (vgl. Schmidt 2000: 94 f.). Medien sind folglich offene Konzepte, die Zeichen, Texte, Institutionen und Technologien umspannen. Als Medium wird demnach bestimmbar, was Kommunikation als Kopplung autonomer sinnschaffender Systeme ermöglicht und über die genannten Aspekte verfügt. In besonderer Weise semiotisch anschlussfähig wird das Modell dadurch, dass anhand von Medien die Verbindung individueller Kognition und kollektiver Kommunikation untersucht werden kann. Laut Schmidt sind Medien ebenso als Systeme zu verstehen, die sich bzgl. der o.g. Aspekte voneinander unterscheiden lassen und sich hinsichtlich ihrer materiellen „Konstruktions- und Selektionsbedingungen“ (Schmidt 2014: 154) unterscheiden. In diesem Sinne tragen spezifische Medien nicht nur (als Mittel kultureller Selbstbeobachtung) zu kultureller Differenzierung, sondern auch zur Ausprägung spezifischer Kulturen bei. Laut Schmidt sind heutige Kulturen insofern sensu stricto immer Medienkulturen, als ihre Beobachtungsstrukturen und damit die Vermittlung mit einem gesellschaftlichen Wirklichkeitsmodell weitgehend durch Medien geprägt werden (vgl. Hepp 2013: 19). Medienkulturen lassen sich zwar hinsichtlich der Einflussnahme verschiedener Medien auf Wahrnehmungsordnungen unterscheiden, dennoch sind sie in einem allgemeinen Rahmen der Medienkulturgesellschaft zu betrachten, in der Medienangebote der primären Anwendung von Kultur-
Medien- und Bildkulturen als Kulturprogramme 55
programmen dienen (vgl. Schmidt 2006: 30) und damit lediglich ein Kulturprogramm prägen. Ein ähnliches Konzept verfolgt Andreas Hepp, wenn er Medienkultur als eine „Kultur mediatisierter Welten“ versteht. Auch hier geht es darum, den Einfluss von Medien auf kulturelle Wahrnehmungsformen in den Vordergrund zu rücken. So fasst Hepp unter Mediatisierung die nachhaltige und langanhaltende Durchwirkung der heutigen Lebenswelt mit medial gestützten Vermittlungs- und Kommunikationsformen und die zunehmende […] Verbreitung von verschiedenen Formen der wechselseitigen, produzierten und virtualisierten Medienkommunikation […]. Diese Verbreitung geht damit einher, dass sich verschiedene Prägkräfte von Medien in unterschiedlichen Feldern der Wirtschaft, der Religion, der Politik usw. auf je spezifische Weise entfalten. (Hepp 2013: 63)
Unter Medienkultur versteht Hepp im Anschluss daran die Kultur ebendieser neuen mediatisierten Welten. Er übernimmt mit seiner Konzeptualisierung die Grundidee von Schmidt, dass Medienkultur nicht als eine lediglich über technologische Medien vermittelte Kultur zu verstehen ist, sondern sich vielmehr in den lebensweltlichen und die technische Medienkommunikation übergreifenden Auswirkungen von Medien auf die Wirklichkeitswahrnehmung manifestiert. Zugleich grenzt sich Hepp von der funktionalistischen und konstruktivistischen Ausrichtung Schmidts ab, indem er Medienkulturen auch als Differenzprogramme und komplexe Gefüge jenseits rein funktionalistischer Konzeptionen versteht (vgl. Hepp 2013: 20). Im Sinne einer pragmatischen Medienkulturanalyse stellt sich allerdings die Frage, ob eine solche Ausrichtung vor allem aus semiotischer Sicht sinnvoll ist. So mag die Betrachtung genereller Auswirkungen von Medien auf kulturell bedingte Wahrnehmungsmuster zwar ein Interesse an gesamtgesellschaftlichen (kognitiven und kommunikativen) Strukturen der Wahrnehmung, Interaktion, des Handelns und deren Entwicklung befriedigen. Doch pragmatische Analysen innerhalb eines Teilbereichs des medialen Systems – Schmidt folgend wird hier fokussiert auf a) semiotische Kommunikationsinstrumente und d) Medienangebote (im weiteren Sinne kultureller Texte) – werden dadurch erschwert bzw. geraten in den Hintergrund der Untersuchung. Im Folgenden soll aber eine semiotisch orientierte Untersuchung der Medienkultur des Protests vorgestellt werden, welche symbolische Praktiken und Formen visuellen Zeichenhandelns als Antriebs- und Transformationskräfte für die Ausprägung und den Wandel eines Kulturprogramms (des Protests) betrachtet. Es wird deshalb ein Ausschnitt einer Gesamtkultur gewählt, welcher sich primär durch die Dominanz eines technischen Mediums und dadurch materialisierte und für eine wissenschaftliche Beobachtung (zweiter Ordnung) bereitge-
56 Die kulturelle Praxis digitaler Bilder in Social Networks haltene Zeichen auszeichnet. Medienkultur bleibt damit im weiteren Sinne die Kultur mediatisierter Welten. Im engeren Sinne bezeichnet Medienkultur allerdings ein kulturelles Teilprogramm, welches primär an konkrete Nutzungspraktiken eines spezifischen Mediums gebunden und damit auch primär innerhalb des damit eröffneten medialen Kommunikationsraums stattfindet. Ohne damit die gesamtgesellschaftliche Dominanz eines konkreten Mediums zu behaupten,18 sollen Zeichenpraktiken als Formen kulturprogrammrelevanter Praxis innerhalb eines konkreten Mediums in den Blick genommen werden. Damit nähert sich die der Studie zugrunde liegende Auffassung von Medienkultur dem Konzept des Cultural-Studies-Theoretikers Douglas Kellner an, der diese in konkreter Anbindung an die (medien-)technische Bedingtheit von semiotischer Kommunikation und damit verbundenen Nutzungs- und Kommunikationskonventionen betrachtet: Media culture consists of systems of radio and the reproduction of sound (albums, cassettes, CDs, and their instruments of dissemination such as radios, cassette recorders, and so on); of film and its modes of distribution (theatrical playing, video-cassette rental, TV showings); of print media ranging from newspapers to magazines; and to the system of television which stands at the center of media culture. Media culture is a culture of the image and often deploys sight and sound. The various media—radio, film, television, music, and print media such as magazines, newspapers, and comic books—privilege either sight or sound, or mix the two senses, playing as well on a broad range of emotions, feelings, and ideas. Media culture is industrial culture, organized on the model of mass production and is produced for a mass audience according to types (genres), following conventional formulas, codes, and rules. (Kellner 2003: 1)
Medienkultur kann damit als Teilkulturprogramm innerhalb einer mediatisierten Kultur verstanden werden. In Abgrenzung zu diesem überstehenden Kulturprogramm kann die Medienkultur im engeren Rahmen verstanden werden als eine Kultur der Medien. Dieses Konzept der Medienkultur lehnt sich an die medienwissenschaftliche Tradition der Cultural Studies an, die insbesondere von Stuart Hall entwickelt wurde. Diese betrachtet Kultur prinzipiell aus der Perspektive „geteilter Sinnbildungsprozesse“ (Hall 2013: xvii) und schließt aus diesen kommunikativen Zeichenpraktiken auf gesellschaftliche Strukturationsprozesse, soziale Hierarchien und dominante Wirklichkeitsmuster. Dabei benennt Hall als zentrale Aspekte dieser (Medien-)Kultur die Produktion von kulturell bedeutsamen Kommunikaten, die Regulierung dieser Kommunikationsprozesse durch kulturell-mediale Codes, die Konsumption (oder Rezeption) der Kommunikate, deren Signifika-
18 Vgl. die Kritik der Mediumtheorie durch Hepp (2013: 11–16).
Medien- und Bildkulturen als Kulturprogramme 57
tion (Bedeutung der kommunizierten Texte) sowie die Identität der involvierten Akteure (vgl. Hall 2013: xviii). Medienkultur wird folglich gedacht als ein Zusammenspiel aus der produktiven Erstellung von Medienangeboten sowie deren Rezeption, aus der signifikanten Ebene des Medienangebotes, dem individuellen Hintergrund der Produzenten und Rezipienten und zuletzt den regulativen Charakteristika des jeweiligen Mediums (vgl. Hepp 2010: 75–79). Es wird im Folgenden davon ausgegangen, dass, basierend auf den medialen Spezifika des Internets, eine besondere Konstellation der Aspekte von Medienkultur vorliegt, welche als Medienkultur des Internets bezeichnet werden kann.
2.2 Die Kultur des Internets und das Internet als Mediasphäre Das Internet hat sich seit seiner weitgehenden Verbreitung und Kommerzialisierung Mitte der 1990er Jahre als Metamedium ergänzend zur massenmedialen Landschaft etabliert und gegenüber dieser zunehmend durchgesetzt (vgl. Stalder 2016: 92–95). Als Metamedium ist es zu verstehen, da es bereits bestehende Medienfunktionen „alter“ Medien bündelt und in neue Wirkzusammenhänge bringt (vgl. Lehman-Wilzig und Cohen-Avigdor 2004: 708). Jedoch darf dieser Begriff nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Internet nicht nur neue technische und multimodale Infrastrukturen für mediale Kommunikation bietet, sondern davon ausgehend und wiederum darauf zurückwirkend neue Dimensionen semiotischer Praktiken eröffnet. Entscheidend ist für eine Betrachtung der Internetkultur der konkrete Umgang mit den infrastrukturell-technischen Möglichkeiten einerseits und den damit eng verbundenen semiotischen Ausdrucksmöglichkeiten andererseits. Beide Dimensionen medienpraktischen Handelns (vgl. Hobart 2010: 59–63) unterscheiden sich erheblich von anderen Medienkulturen, wie Udo Thiedeke betont: Wenn wir uns so der Internetkultur annähern, so meint das, kommunizierte Selbstbeschreibungen zu beobachten, die von denjenigen hervorgebracht wurden und werden, die das Internet gestalten und nutzen. Da das Internet die Besonderheit aufweist, dass es dezentral durch alle vernetzbaren Computer steuerbar und veränderbar ist, heißt das, eine Kultur zu beobachten, die durch individuelle Impulse vieler Kommunikationsteilnehmerinnen und -teilnehmer in ständigem Fluss gehalten wird. (Thiedeke 2010: 51).
Während Thiedeke bei einer Verortung der Internetkultur den Aspekt der kulturellen Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung als zentral darstellt, sollen im Folgenden die alltäglichen Zeichenpraktiken und Nutzerperformanzen vor-
58 Die kulturelle Praxis digitaler Bilder in Social Networks dergründig fokussiert werden. Diese sind erheblich durch die grundsätzlichen Charakteristika der Internetkultur beeinflusst. Darunter fasst Thiedeke insbesondere die Dezentralität (der Informationsinfrastruktur), die Individualität der erstellten Medienangebote (und die damit einhergehende inhaltliche Offenheit), eine weitgehende Bildung individueller Netzwerke, sowie die Technizität der Kommunikation (vgl. Thiedeke 2010: 52). Den damit einhergehenden, konstanten kulturellen Wandel beschreibt Thiedecke als eine Veränderung in der vorherrschenden Wahrnehmung des Internets als kulturelle Sphäre, welche sich von der ursprünglichen Fortschrittsutopie einer herrschaftsfreien Medientechnik zu einer Dominanz des Netzwerksdenkens und kollektiver Intelligenz wandelte (vgl. Thiedeke 2010: 52). Diese Nutzungsideologien können im Bereich der kulturellen Regulation nach Hall verortet werden und bilden demnach (neben den zuvor genannten technischen Charakteristika) kulturelle Rahmenbedingungen für die Nutzung der Medientechnologie des Internets. In der Wechselwirkung zwischen technologischen Strukturen und solch kulturell vorherrschenden Mustern der Medienwahrnehmung bewegen sich die Zeichenpraktiken einerseits innerhalb dieses vorgegebenen Rahmens.19 Diese Zeichenpraktiken wiederum wirken sich andererseits auf die kulturellen und technischen Rahmenbedingungen der Internetnutzung aus.20 Durch diese Wechselwirkung zwischen Zeichen, Nutzungspraktiken und technischen wie kulturellen Rahmenbedingungen für die Nutzung lässt sich das Internet als ein kollektiv bedeutsamer „Raum der kulturellen Kommunikation mittels Zeichen“ (Decker 2013: 403) verstehen. Jan-Oliver Decker beschreibt das Internet darauf basierend als eine Semiosphäre im Sinne Jurij Lotmans. Nach Lotman ist die Semiosphäre ein „semiotisches Kontinuum […], das mit semiotischen Gebilden unterschiedlichen Typs […] auf unterschiedlichem Organisationsniveau angefüllt ist“ (Lotman 1990: 288). Dieses Kontinuum zeichnet sich durch eine innere Strukturiertheit aus. Weiterhin herrscht innerhalb der Sphäre eine Homogenität, die der Semiosphäre Individualität verleiht und sie nach außen hin abgrenzbar macht. Die Notion der Grenze ist in Lotmans Werk entscheidend, da sie einerseits die Sphäre anderen semiotischen Einheiten abschirmt, andererseits aber eine Vermittlung mit dem Außen durch „Übersetzer-‚Filter‘“ (Lotman 1990: 290) möglich
19 Für eine – eher historische Übersicht internetspezifischer Zeichenpraktiken und ihrer jeweils sozialen Dimensionen, vgl. Porter 2013. In Kemper, Mentzer und Tillmanns (2012) wird ein Schwerpunkt auf soziale und semiotische Aspekte von Web 2.0-Anwendungen gelegt. 20 Für eine historische Rekonstruktion der Zusammenhänge zwischen soziotechnischen Nutzungspraktiken, ideologischen Medienkulturen und der Entwicklung des Internets vgl. Bunz (2008).
Medien- und Bildkulturen als Kulturprogramme 59
macht. Das Konzept der Semiosphäre wird entsprechend von Lotman als kulturelle Sphäre (vgl. Decker 2013: 404) verstanden, indem sie ein Code-bestimmtes Gewebe an Signifikant-Signifikat-Kopplungen bereitstellt. Der Semiosphären-Grenze kommt damit ebenso eine kulturkonstituierende Funktion zu: Auf der Ebene der Semiosphäre bedeutet sie das Trennen des Eigenen vom Fremden, die Filtration der äußeren Mitteilungen und ihre Übersetzung in die eigene Sprache, ebenso wie auch die Umwandlungen äußerer Nicht-Mitteilungen in Mitteilungen, d.h. die Semiotisierung des von außen Hereindringenden und dessen Verwandlung in Information. (Lotman 1990: 292)
Sie grenzt ein Kulturprogramm von anders codifizierten Kulturen ab, ermöglicht zugleich, qua Übersetzung, den Eingang dieser alternativen Wirklichkeitswahrnehmungen in die eigenen semiotischen Verbindungen. Dadurch werden die kulturellen Ränder, die Peripherie- und Kontaktzonen zu anderen Kulturprogrammen, zum „Beschleuniger semiotischer Prozesse“ (Lotman 1990: 293). Dort findet der Austausch mit anderen Kulturen statt. Der periphere Bereich einer Kultur ist deshalb heterogen strukturiert, verfügt über uneinheitliche Codestrukturen und zeitlich instabile, wechselhafte Signifikanzverhältnisse. Die Zentren des Kulturprogramms hingegen verfügen über eine „explizite[…] Organisation“ (Lotman 1990: 294) und relative Stabilität. Das Lotmansche Konzept der Semiosphäre zeichnet sich dadurch aus, dass Kultur als ein Gewebe von Texten, sprich in kommunikativen Handlungen und über den semiosphärenspezifischen Code realisierten Zeichenverknüpfungen, verstanden werden. Damit können sowohl Binnenbeziehungen und Dynamiken zwischen verschiedentlich strukturierten semiotischen Verbindungen innerhalb der Kultur, als auch die Übersetzungsdynamiken zwischen dem Kulturprogramm und Anrainerkulturen verstanden werden. Es eignet sich insbesondere, um interkulturelle Ungleichheitsverhältnisse und Beeinflussungsdynamiken zwischen Peripherie und Zentrum zu analysieren. Weiterhin werden dadurch die Abgrenzungen von Kulturprogrammen sowie – und dies kommt der schmidtschen Theorie der Teilprogramme entgegen – die Binnendifferenzierungen in Teilsemiosphären greifbar gemacht. Decker überträgt das Konzept als hauptsächlich heuristisches Element auf den medialen Raum des Internets. Damit begründet er den medialen Raum des Internets als „mediale Semiosphäre“, die es ihm ermöglicht, medienübergreifende Prozesse der Vernetzung von Medien, auch im Internet, ebenso zu beschreiben wie [sie] entgegengesetzt auch erlaubt, die Kanonbildung in Einzelmedien zu erklären. Aber auch die kulturelle Typisierung und medienspezifische Informationsspei-
60 Die kulturelle Praxis digitaler Bilder in Social Networks cherung im kulturellen Gedächtnis lassen sich mit Hilfe des Konzeptes der Semiosphäre erläutern. (Decker 2013: 406)
Während dies in heuristischer Absicht sinnvoll sein kann, um intra- und innermediale semiotisch-kulturelle Prozesse zu verstehen, entsteht durch die Gleichsetzung des symbolischen Raums (als Struktur zwischen semiotischen Einheiten) mit dem medialen Raum (als technisch-kulturelle, räumliche Infrastruktur für die Materialisierung und kommunikative Nutzung dieser Zeichen) eine perspektivische Verengung. Eine erweiterte Sicht auf das Internet hingegen bezieht beispielsweise die technische Infrastruktur als Entstehungs- und Innovationsbedingung medialer Kultur (als Internetkultur im engeren Sinne) und mediatisierter Kultur (als das Gesamtkulturprogramm einer mediatisierten Gesellschaft im weiteren Sinne) mit ein. In diesem Sinne werden in die Reflexion nicht nur semiotische Codestrukturen und deren Realisationen innerhalb medialer Texte einbezogen, sondern, wie von Schmidt beabsichtigt, ebenso auch Aspekte medialer Institutionen und technologischer Infrastrukturen. Das Internet wird als mediales Dispositiv verstanden (vgl. Decker 2013: 387), innerhalb dessen Nutzungsrahmen die Zeichen der Semiosphäre kommuniziert, aktualisiert und transformiert werden. Demnach wirken sich die Technologien des Internets, die damit verbundenen Institutionen (wie Provider aber auch Zensurorgane des Staates), sowie das spezifische kulturelle Wissen im Umgang mit der Technologie und den Institutionen wiederum auf die Zeichenpraktiken aus. Im Folgenden wird das Internet als medialer Raum vom semiotisch-orientierten Konzept der Semiosphäre abgegrenzt, indem der Begriff Mediasphäre (vgl. Hartley 2002) vorgeschlagen wird. The mediasphere is a smaller ‘sphere’ within the semiosphere, and includes all the output of the mass media, both fictional and factual. The mediasphere, in turn, encloses the public sphere, and the ‘public sphericules’ that seem to have proliferated within it. The idea is that the public sphere is not separate from but enclosed within a wider sphere of cultural meaning, which is itself mediated as it is communicated back and forth from the cultural to the public domain. (Hartley 2002: 142)
Ohne die Zentrierung auf Massenmedien übernehmen zu wollen, wird hier insbesondere die mediale Funktion der Mediasphäre, die Vermittlung zwischen einem kulturellen Zeichenvorrat einerseits und einer medialen Öffentlichkeit andererseits relevant. Ebendiese Vermittlungsfunktion erfolgt über die bereitgestellten technischen Infrastrukturen und wird von diesen auch reguliert.21 So beinhaltet die Mediasphäre die materialisierten und veröffentlichten Struk-
21 Die technische Dimension der (Massen-)Medien wird leider auch bei Hartley ausgeblendet.
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turen und Elemente der Semiosphäre, macht diese verfügbar und hält sie als medial-kulturelles Gedächtnis bereit. Nach Hartley ist die Mediasphäre als ein Aspekt der Semiosphäre zu verstehen. In ihr sind mehrere Semiosphären enthalten, die alternative, gegenkulturelle, oppositionelle oder minoritäre Öffentlichkeiten anbieten (vgl. Hartley 1999: 217–218). Die Mediasphäre umfasst demnach die gesamte Kommunikationsstruktur des Internets, innerhalb derer sich Kulturprogramme entfalten und verbreiten sowie genutzt werden. Dadurch kann die Mediensphäre des Internets von anderen Medien abgegrenzt werden: Sie lässt sich nicht auf den Einsatz von Telekommunikationstechnologien und den Austausch von Information reduzieren. Vielmehr strukturiert das Internet durch die Liberalisierung und Dezentralisierung der Kommunikation, besonders seit der vereinfachten Veröffentlichung multimodaler Inhalte, auch mediatisierte, kulturelle Räume. Es ist in dieser Hinsicht ein spezifisches „Milieu“ (Petsche 2009: 285) für kulturelle Praktiken, welche dort parallel und in Kontakt oder Abgrenzung zueinander vorkommen. Zugleich werden internetspezifische Zeichenstrukturen ausgeprägt, welche zu einer Internetkultur im engeren Sinne gehören. Diese zeichnen sich durch das Aufkommen einerseits neuer Signifikanten und andererseits neuer semiotischer Signifikant-Signifikat-Kopplungen aus, in Verbindung mit einem semi-statischen, nach außen hin abgrenzbaren, kulturellen Code. Es kann dabei von internet typischen Semiosphären oder vom Internet als Semiosphäre gesprochen werden, insofern die Codes durch digitale, computergestützte und netzwerkgebundene Interaktion entstanden sind bzw. hauptsächlich auf die Kommunikation innerhalb dieses Mediums angewiesen sind. Sie stehen demnach in enger Verbindung zu den Ermöglichungs- und Einschränkungsdimensionen der entsprechenden technologischen Apparate und Infrastrukturen. Darunter können internetspe zifische Signifikantenkategorien22 und insbesondere die Einführung internet spezifischer Codes 23 gezählt werden.
22 Dazu gehören bspw. die Emoticons der frühen Chatkommunikation (vgl. Wirth 2005) sowie die heutigen Emojis der Web 2.0-Plattformen (vgl. Danesi 2017), hypertextuelle Zeichen wie der Hyperlink (vgl. Wenz 1999) und auf dem ASCII-Schriftsatz basierende Symbole wie dem „@“ und deren Verfügung zu ikonischen Zeichen in der ASCII-Art. 23 Als semiotische Codes können einerseits Signifikanten-Signifikat-Kopplungen verstanden werden (z.B. die Entstehung internetspezifischer Sprachformen wie Leet-Speak und Akronyme des Netzjargons, vgl. Marx und Weidacher 2014: 91–93), andererseits spezifische Stile, Untertöne und Genres der Kommunikation, bspw. die Ironie innerhalb von Internetforen, die Figur des kommunikationsstörenden Trolls oder die ästhetische Ordnung der Meme-Kommunikation (vgl. Goriunova 2013).
62 Die kulturelle Praxis digitaler Bilder in Social Networks Das Internet als Medium bringt unterschiedlichste Semiosphären in Kontakt. Dies geschieht in und zwischen den Teilanwendungen des Internets, also privaten, staatlich oder zivilgesellschaftlich institutionellen und wirtschaftlichen Homepages, Foren, Chat- und interaktiven (Unterhaltungs-)Portalen, Newsgroups und selbstverständlich den Social-Media-Plattformen.24 Während diese Teilanwendungen u.a. zu einer hohen Segregation von Teilkulturprogrammen und Teilsemiosphären neigen,25 werden sie in einzelnen Medienangeboten durch die technosemiotischen Verknüpfungen des Hypertexts verbunden. Es kommt deshalb innerhalb und zwischen den Teilanwendungen des Internets zu Berührungen, Grenzkonflikten und -überschreitungen sowie Übersetzungen und Vermittlungen zwischen (Teil-)Semiosphären. Die Grenzen zwischen internetspezifischen und anderen Semiosphären sind hierbei fließend: Bei der Erstellung internetbasierter Texte greifen Kulturprogramme allgemein auf die programmspezifischen Zeichenstrukturen ihrer Semiosphäre zurück. Zudem werden semiotische Elemente und spezifische Genres der Internetkultur genutzt, um medial angepasste Kommunikate zu erstellen. Daran wird deutlich, dass Medienkulturen zumeist offene semiotische Angebote bereitstellen, die von anderen Kulturprogrammen mit unterschiedlichen kommunikativen Intentionen aufgenommen werden können. Besonders deutlich wird dies, wenn politische Programme die internetspezifische, ironisch-humoristische Meme-Kommunikation für politische Kampagnen nutzen (vgl. Rauscher 2018). Besonders Social-Media-Anwendungen wie Social Networking Sites, Videound Foto-Netzwerke, kollektiv erstellte Wikis und Geo-Tagging- sowie Empfehlungsplattformen sind Zonen des erhöhten Kontakts von Kulturprogrammen. Nach Stalder (2017) zeichnet sich die Kultur der Digitalität in Zeiten von Social Media insbesondere durch Referentialität, Gemeinschaft und Algorithmizität aus. Demnach sind diese seit ca. 2005 existierenden Anwendungen und damit die Mediasphäre des Internets durch multimodale und intermediale Referenzstrukturen, welche von durch Nutzer produzierten und verbreiteten Medienangeboten aufrechterhalten werden, gekennzeichnet. Die Struktur der Mediasphäre bzw. der darin enthaltenen Teilsemiosphären wird hauptsächlich durch dezentrale Zeichenpraktiken angelegt: „Im Kontext einer nicht zu überblickenden Masse von instabilen und bedeutungsoffenen Bezugspunkten werden Auswählen und Zusammenführen zu basalen Akten der Bedeutungsproduktion und Selbstkonstitution.“ (Stalder 2017: 13) Während diese individuellen Zeichenpraktiken
24 Zu medienkulturellen Aspekten der Social-Media-Plattformen, vgl. Reichert 2013. 25 So gibt es vor allem im Bereich politischer (Teil-)Kulturen Webseiten mit ideologiespezifischen Inhalten sowie Kommunikationsformen (vgl. Erdmann 2016).
Medien- und Bildkulturen als Kulturprogramme 63
Medienangebote modulieren, führen insbesondere die „kollektiv getragene[n] Referenzrahmen“ (Stalder 2017: 13) der neuen Gemeinschaftsformen ein. Weiterhin wird durch technisch formierte Algorithmen eine Struktur innerhalb dieses medialen Gemenges an Sinnangeboten ausgebildet. Daraus lässt sich einerseits schließen, dass im Bereich von Social-Media- Anwendungen beide Dimensionen der Steuerung von Wirklichkeitszugriffen vorliegen: Eine medial gestützte, durch Technologien und – im Fall der digitalen Mediasphäre – Algorithmen gesteuerte Struktur von Sinneinheiten und eine heterogene Menge von kulturellen Gemeinschaften als Semiosphären mit innerer Homogenität und klaren Abgrenzungen nach außen. Andererseits zeigt dies auch, dass die Grenzen zwischen diesen Semiosphären nunmehr auch durch mediale Sinnoptionen und Handlungsmuster bestimmt werden und somit durch algorithmisch gesteuerte Software Semiosphären zueinander in Kontakt gebracht werden können bzw. der Kontakt vermieden werden kann. Die Vermischungsprozesse zwischen diesen Semiosphären und der Mediasphäre des Internets werden folgend anhand der Bildkultur in onlinegestützter Kommunikation nachvollzogen.
2.3 Visual Cultures im Internet Die Rolle und die Charakteristika der Bildzeichen im Internet und konkret in SNS werden ebenso wie bei anderen Zeichen innerhalb der Mediasphäre des Internets determiniert von technisch-medialen Rahmenbedingungen der Kommunikation sowie kulturellen Mustern und Codes der Nutzungsweisen von Zeichen und medialen Anwendungen. In dieser Hinsicht werden sowohl deren kommunikative Funktion als auch deren semiotische Medialität, Repräsentations- und Referenzebenen kulturell konstruiert (vgl. Mitchell 2008: 238).26 Wie lässt sich diese bildliche Kultur des Internets genauer verstehen? Ein erster Schritt in Richtung der Untersuchung visueller Kultur ist es, die Bildzeichen „als Vehikel kulturellen Ausdrucks“ (Mitchell 2008: 241) zu verstehen und sie jenseits des Textuellen zu analysieren. Allerdings weist Mitchell darauf hin, dass visuelle Kultur dennoch nicht ohne die zusätzlichen multimodalen Kon-
26 Dies ist hier im weiteren Sinne als die Kulturalität der Zeichennutzungsweisen, der sozialen Kontexte sowie der Interpretationspersönlichkeit des Individuums einerseits, und als die kulturelle Vermitteltheit sowie Prägkraft der Technik (vgl. Banse und Hauser 2010) und insbesondere der Interfaces als Mensch-Maschine-Schnittstellen (vgl. Sommerer und Mignonneau 2011) andererseits zu verstehen.
64 Die kulturelle Praxis digitaler Bilder in Social Networks texte der Kommunikation erfasst werden kann. Das Konzept der visuellen Kultur eröffnet demnach ein komplexes und allgemeines Feld des Visuellen, welches ebenso Diagramme und Grafiken umfassen kann, wie es sich jenseits der klassischen kunsthistorischen Kategorie des Ästhetischen auch auf populäre und massenmediale Bilderwelten erstreckt (vgl. Mitchell 2008: 244). Insbesondere letzterer Aspekt macht die Untersuchung der visuellen Kultur in onlinebasierten SNS interessant: Es können mit dieser Notion sämtliche Bildzeichen innerhalb der Interfaces und der usergenerierten Seiten in Betracht gezogen werden, ohne eine Beschränkung durch normative Kriterien vorzunehmen. Es soll deshalb im Folgenden die Definition der visuellen Kultur Nicolas Mirzoeffs übernommen werden, welcher die Offenheit des Konzepts hinsichtlich der untersuchten Bildlichkeiten und Medialitäten hervorhebt: Visual culture is concerned with visual events in which information, meaning or pleasure is sought by the consumer in an interface with visual technology. By visual technology, I mean any form of apparatus designed either to be looked at or to enhance natural vision, from oil painting to television and the Internet. (Mirzoeff 1998: 3)
Dem ist weiterhin zu entnehmen, dass die Elemente der visuellen Kultur weder durch ästhetische Kriterien (im engeren Sinne) definiert werden, noch isoliert als Entitäten betrachtet werden. Vielmehr wird visuelle Kultur bei Mirzoeff zu einem Aspekt kommunikativen Handelns, bei dem Kommunikationsteilnehmer die pragmatische Befriedigung individueller Bedürfnisse nach Unterhaltung, Information und Bedeutung verfolgen. Bilder sind demnach Elemente der Alltagskultur. Sie sind gekennzeichnet von individuellen Aneignungspraktiken, der o.g. intermedialen Referentialität. Bilder sind Elemente der alltäglichen, postmodernen Medienkultur und in diesem Sinne nicht auf elitäre, intellektuelle oder avantgardistische Zeichenpraktiken zu beschränken (vgl. Mirzoeff 1998: 8). Die Untersuchungsbereiche visueller Kultur müssen deshalb auch auf die Produktions- und Rezeptionsbedingungen sowie medialen Charakteristika der jeweiligen Bilder ausgeweitet werden (vgl. Mirzoeff 1998: 3). Die Bildwissenschaft in der Tradition der Visual Cultural Studies hebt mehrere mediale und semiotische Charakteristika der Bilder hervor. Die o.g. Ambivalenz des Bildes zwischen einer quasi-phänomenologischen Präsentifizierung abwesender Objekte bei gleichzeitiger Betonung der Abwesenheit führt gemäß Mitchell dazu, dass Rezeptionsprozesse innerhalb visueller Kultur von einem Verlangen nach bildlicher Repräsentation geprägt seien: Bildern werde demnach die Funktion zugeschrieben, „unser Verlangen zu wecken und ein Gefühl von Mangel und Sehnsucht hervorzurufen, indem sie uns die sichtbare Präsenz von etwas geben und sie uns in derselben Geste wieder wegnehmen.“ (Mitchell 2008: 279 f.) Diese Sehnsucht drückt sich ebenso in der Dominanz der Bilder in heutigen Populär-
Medien- und Bildkulturen als Kulturprogramme 65
und Medienkulturen aus: Indem technische Apparate Bilder materialisieren und damit miterzeugen (vgl. Bruhn 2009: 37), befriedigen sie diese Präsenzlust der Rezipienten. Das Bedürfnis der Rezipienten nach Abbildung wird umso dringlicher, als Telemedien durch Signalübertragung Entfernungen jenseits der sinnlichen Wahrnehmungspotentiale überbrücken und weit entfernte Ereignisse sowie Objekte präsent machen.27 Die Wechselwirkung zwischen technischen (Massen-)Medien und der Bildkultur materialisiert sich in den „visuellen Ereignissen“ nach Mirzoeff (1998), welche im Rahmen des kommunikativen Akts der Präsentifizierung durch ein Bild innerhalb eines Mediums entstehen. Bei dieser Wahrnehmungsform durch bildliche Vermittlung stehe der kulturell bedingte Eindruck einer „sensual immediacy“ im Vordergrund. In dieser Hinsicht entziehen sich Bilder der semiotischen Repräsentativität, welche in vorherigen Textkulturen vorherrschte. Bilder erlaubten vielmehr einen sinnlich direkten Zugang zum Dargestellten bei gleichzeitiger Verschleierung semiotischer Mittelbarkeit28 (vgl. Mirzoeff 1998: 9). Die visuelle Kultur ist demnach geprägt von scheinbarer Präsentifizierung abwesender Objekte als visuelle Ereignisse einerseits und einer damit einhergehenden, erhöhten Visualität der Wirklichkeitswahrnehmung andererseits (vgl. Mirzoeff 1998: 4). Es lassen sich daraus folgende Schlüsse für eine kultursemiotische Perspektive auf visuelle Kultur ziehen: Zuerst ist visuelle Kultur eine Teilsemiosphäre, welche geprägt ist durch die konkrete Materialität der darin vorhandenen Signifikanten und den damit verbundenen gesellschaftlichen Zeichenpraktiken. Diese ist allerdings nicht als ein Subprogramm zu sehen, welches innerhalb einer konkreten medialen Semiosphäre oder einer sozial-spezifischen (National-, Berufs- oder Sub-)Kultur angesiedelt ist. Insbesondere in Zeiten der massenmedialen Televermittlung von Bildern bildet visuelle Kultur in vielen Fällen eine transkulturelle, globalisierte Semiosphäre aus (vgl. Mirzoeff 1998: 10; Schade und Wenk 2011: 36). Vielmehr stellt die visuelle Semiosphäre einen semiotischen Aspekt in den Vordergrund: Die in konkreten Kommunikationsakten vorherrschende Visualität der Kommunikation. In diesem Sinne taucht die visuelle Semiosphäre in vielen partikularen Semiosphären und Kulturprogrammen auf.
27 Zu der Parallelität von bildgebenden Apparaten und Praktiken medialer Bildproduktion einerseits und der Entwicklung der Presse andererseits vgl. Faulstich (2006). 28 Mirzoeff verweist hier auf die kantsche Kategorie des Erhabenen, weist allerdings im Gegensatz zu Kant darauf hin, dass dieses nicht aufgrund ästhetischer Aspekte des Einzelbildes entstünde, sondern vielmehr Ergebnis kultureller Zuweisung auf das Bildliche generell ist (vgl. Mirzoeff 1998: 9).
66 Die kulturelle Praxis digitaler Bilder in Social Networks Es werden entsprechend visuelle Teilsemiosphären gebildet, deren kulturelle Angebundenheit wiederum beeinflusst, wie einerseits bildlichen Signifikanten eine Bedeutung zugeschrieben (vgl. Schmidt 2014: 132) sowie andererseits bildlicher Kommunikation eine kulturelle sowie wahrnehmungsspezifische Funktion beigemessen wird. Die visuelle Semiosphäre ist geprägt von der Wechselwirkung zwischen Bildern als images, also immateriellen Bildern, und materialisierten Formen im Sinne von pictures (vgl. Mitchell 2008: 285). Die Produktion neuer Signifikanten, die Schaffung intersemiotischer Verbindungen innerhalb der bildlichen Semiosphäre und nicht zuletzt die Bildsemiose als eine prozessuale Dynamik des Wandels von Bedeutung verlaufen allesamt innerhalb von Materialisierungsund Dematerialisierungsprozessen zwischen images und pictures. Deshalb ist die bildliche Semiosphäre nicht an eine konkrete Mediasphäre gebunden. Sie bildet – da an Signifikanten gebunden, die in verschiedenen Medien darstellbar sind – eine weitere Schicht in und zwischen Mediasphären. Allerdings bedarf die visuelle Kultur der medialen Vermittlung, um immaterielle Bilder in materielle Bilder zu wandeln. Aus der Perspektive der Bildkultur werden Mediasphären miteinander verbunden, indem Bilder zwischen Medien „wandern“, „zirkulieren, sich entwickeln, erscheinen und wieder verschwinden“ (Mitchell 2008: 396). Da visuelle Kultur deshalb auch durch die Zirkulation, Konvergenz und Zunahme bildlicher Signifikanten charakterisiert ist, stellt sich die Frage, welche konkreten Ausprägungen diese innerhalb der Mediasphäre des Internets erfährt. Es kann an dieser Stelle lediglich von Ausprägung gesprochen werden, da visuelle Kultur keine Eigenheit des Internets darstellt (vgl. Schade und Wenk 2011: 36). Allerdings geraten die Charakteristika des Internets als Medium und die im Internet materialisierte, visuelle Semiosphäre in eine dialektische Beziehung zueinander, welche unter dem Aspekt der Medialität subsummiert werden kann. Darunter können die „mediensystemischen Bedingungen“ (Schmidt 2014: 132) visueller Kommunikation gefasst werden. Tatsächlich unterstützt das Internet einerseits tradierte Formen visueller Kommunikationsformen und Genres (vgl. Howells und Negreiros 2012: 263–268), führt allerdings über die medienspezifische Infrastruktur neue Dimensionen der Visualität ein. So kann die Webseite als neue, visuelle Bildgattung im Internet betrachtet werden (Howells und Negreiros 2012: 275), welche hinsichtlich der hypertextuellen Verweisstruktur, der individuellen Navigation des Nutzers sowie der Transformation und Instabilität der Inhalte von bis dato tradierter Kommunikation abweicht. Daraus lässt sich ableiten, dass die grundlegende Bildlichkeit des Internets auf Ebene des Interface
Medien- und Bildkulturen als Kulturprogramme 67
angesiedelt ist (vgl. Missomelius 2006: 75–98).29 Als Elemente des funktionellen Designs und der Wahrnehmungsorientierung sind visuelle Signifikate demnach eine basale Komponente der Mediasphäre des Internets. Zugleich bietet das Internet eine spezifische Medialität für die Materialisierung von Bildern an. Diese äußert sich weniger auf der ästhetischen oder Darstellungsebene des bildlichen Signifikanten, sondern vielmehr in der medialen Schärfung der darauf basierenden Kommunikationsakte. So werden Bilder durch Interface-Komponenten ergänzt und erweitert. Bildzeichen bekommen hypertextuellen Wert, wenn sie bspw. durch einen Mausklick als Hyperlinks aktiviert werden und damit auf andere Medienangebote innerhalb des Internets verweisen. Oder Bildzeichen werden von durch Nutzer generierte, multimodale Informationen ergänzt und dadurch in ihren Rezeptionsoptionen erweitert. Das Spezifikum der Bildkultur im Internet liegt folglich in einer technischen Erweiterung des Bildes, die durch Nutzer oder Nutzerkollektive ausgeführt wird. Diese äußert sich darin, dass Bildern hier auch weitere soziokulturelle Funktionen zukommen: Bilder werden durch aktive Nutzer zu einem Teil multimodaler Narrative gemacht und sie erhalten Referenzfunktionen nicht nur durch ihre ästhetischen Darstellungsqualitäten, sondern auch durch technosemiotische Einschreibungen. Zugleich sind Bilder Bestandteile genuiner Internetkulturen und dienen der Ausprägung internetspezifischer Diskurse und Erzählungen. Diese zeichnen sich – der Spezifik der Internetkultur folgend – insbesondere dadurch aus, dass sie global wirksam werden, durch individuelle Nutzer produziert und transformiert werden, potentiell zahlreich verbreitet werden können sowie in die Populär- und Alltagskultur einer Gesellschaft einwirken. Beispielhaft kann dafür die bildliche Gattung der Memes angeführt werden, welche sich nicht klar durch ästhetische Kategorien, sondern vielmehr durch die damit verbundenen Nutzungs- und Produktionspraktiken (im weiteren Sinne Bildpraktiken) auszeichnen: Im Internet entstanden, sind Meme digitale Bilder, oft mit überlagerndem Text (Image Macros genannt), selbstständigen Textstücken, die in Graswurzelart aus vernetzten Medien hervorgehen und viral werden; diese Bild-Text-Kombinationen gewinnen globale Popularität. (Goriunova 2013: 71)
So können zwar zu einem historischen Moment konkrete Darstellungsebenen als Definitionskriterium angeführt werden, wie dies von Goriunova hinsichtlich des Bild-Text-Designs von Memes erklärt wird. Allerdings unterliegen diese ästheti-
29 Diese bildliche Dominanz innerhalb von Interfaces der Internetanwendungen fand ihren Ausgangspunkt in der Entwicklung des ersten grafischen Webbrowsers Mosaic im Jahr 1993.
68 Die kulturelle Praxis digitaler Bilder in Social Networks schen Kategorien ständigen Transformationen.30 Entscheidend für die Charakterisierung eines viral im Internet verbreiteten Bildzeichens (vgl. Sampson 2012) als Meme sind vielmehr die semiotisch-produktiven Etappen der Formation, von der Entnahme aus populärkulturellen Quellen, über die Veröffentlichung in anonymen Image-Boards31 und die Verbreitung über Social Networks. Goriunova folgert daraus, dass [e]in Mem […] also nicht nur ‹Content› [ist], sondern ein Verhalten, oder vielmehr handelt es sich um ein System menschlich-technischer Performanzen. Ein Mem entsteht aus einer Vielzahl von Websites, Agenten und Ökologien, die dynamisch ineinandergreifen um Netzwerke zu bilden, die seine Entstehung vorantreiben. (Goriunova 2013: 72)
Entscheidend für die bildliche Internetkultur ist es, dass die Produzenten dieser Bilder auch über den Produktionsprozess des eigentlichen Bildes hinaus in einer interaktiven Beziehung zu medialen Technologien (bspw. durch die Veröffentlichung der Bilder, deren Rezeption und Kommentierung sowie durch deren Transformation) einerseits und Kollektiven sowie Netzwerken von Internetnutzern andererseits stehen.
2.4 Konklusion: Medienkultur digitaler Bilder in Social Network Sites Bisher wurde deutlich, dass sowohl die Internetkultur sowie die visuelle Kultur innerhalb der Mediasphäre des Internets als Anwendungsprogramme verstanden werden können, die einen spezifischen Wirklichkeitszugriff erlauben. Demnach sind sie anwendungsoffen, situationsabhängig einsetz- und transformierbar und bieten Zugänge für individuelle oder kollektive Sinnkonstruktionen an. Beide Kulturprogramme – die im Internet materialisierte, visuelle Kultur und die durch internetspezifische Zeichen- und Codestrukturen bereitgestellte Medienkultur – zeichnen sich durch die Technizität und die Kollektivität ihrer Anwendung aus. Durch individuelle Interaktionen mit im Internet gebildeten Kollektiven (vgl. Dolata und Schrape 2014) einerseits und medialen, digitalen Technologien andererseits werden neue bildliche Signifikate geschaffen, neue Signifikant-Signifikat-Ketten herausgebildet, sowie bestehende Bildzeichen aus anderen medi-
30 Die historische Veränderung der Darstellungsweisen und Narrative der Memes lässt sich auf der Datenbank http://knowyourmeme.com (Stand: 20.05.2018) nachvollziehen. 31 Dazu zählen insbesondere https://9gag.com/ und http://www.4chan.org/ (Stand: 20.05.2018).
Medienkultursemiotik des Protests 69
alen Quellen angeeignet und transformiert. Die Technizität der Bildkultur in SNS ist weitgehend geprägt von der konkreten Einbettung der Bildzeichen in User- Interfaces und damit verbundene Praktiken der Annotation sowie bildlichen und hypertextuellen Erweiterung. Diese semiotischen Praktiken wiederum wirken zurück auf internetspezifische Formen der Kollektivierung, individuelle Weisen des Technologieeinsatzes und deshalb auf technisch-kulturelle Spezifika der Mediasphäre des Internets. Gegenstand der vorliegenden Untersuchung ist es, visuell-semiotische Dynamiken anhand der internetbasierten Mediatisierung des Protests während und nach der tunesischen Revolution nachzuvollziehen. Im Folgenden werden durch eine nähere Betrachtung von Protest und Protestkultur die Spezifika dieser kulturell-kommunikativen Ausrichtung vorgestellt, um daran anschließend Hypothesen als Grundlage für die analytische Betrachtung der visuellen Protestkultur in Facebook zu formulieren.
3 Medienkultursemiotik des Protests Die vorliegende Untersuchung widmet sich den internetbasierten, visuellen Kommunikaten dieses Ausdrucks von Widerstand und stellt diese in den Rahmen kulturell widerständigen Handelns. Es wird demnach davon ausgegangen, dass der visuelle Ausdruck von Protest im Internet Teil der Mediatisierung einer tunesischen Protestkultur ist. Im Folgenden soll deshalb zunächst eine handhabbare Definition von Protest vorgestellt werden, um dann die Frage der Spezifika einer Protestkultur in den Vordergrund zu rücken. Anschließend wird eine kultursemiotische Dimension von Protesthandeln eröffnet, welche die kulturelle, semi-statische Dimension von Protest mit den Praxisformen von Protest verbindet. Abschließend sollen Zeichen und Semiose als entscheidendes Element von Protestkultur vorgestellt werden und das Feld der visuellen Kommunikation darin verortet werden.
3.1 Protest und Protestkultur Der Begriff Protest ist in westlichen Kulturen und ebenso den entsprechenden Wissenschaftskulturen ein omnipräsentes Konzept, welches keine klar abgesteckte Extension konkreter Handlungsformen aufweist. Er wird ausgehend von der lateinischen Bedeutung, „öffentliches Bezeugen oder Verkünden“ (Vetter und Remer-Bollow 2017: 152) mit einem nahezu endlosen Arsenal sozialen Handelns
70 Die kulturelle Praxis digitaler Bilder in Social Networks verbunden (vgl. Vetter und Remer-Bollow 2017: 152). Zudem wird Protest nach wie vor hauptsächlich im Rahmen politischer Handlungstheorien und darin als eine Form politischer Partizipation (vgl. Rucht 2015: 265 f.), jedoch im Gegensatz zu klassisch-institutionalisierten Formen bürgerlicher Beteiligung, wie bspw. Wahlen oder dem Engagement in Parteipolitik, thematisiert (vgl. Vetter und Remer-Bollow 2017). Ein zentrales Konzept bildet er demnach in der meist soziologisch bzw. im weiteren Sinne sozialwissenschaftlich ausgerichteten Bewegungsund Partizipationsforschung. Jedoch liegt der Fokus bei den damit verbundenen Studien auf Formen soziopolitischen Wandels sowie kollektiven Handlungsformen – die konkreten und kulturellen Dimensionen des Protests geraten damit an den Rand der Fragestellungen (vgl. Rucht 2015: 266). Demnach wird die Frage nach der Kultur im Protest bzw. nach dem Zusammenhang zwischen Protest und Kultur oft nur auf eine individuell-kognitive Perspektive beschränkt, die alltägliches Handeln und Wahrnehmen in dem Zusammenhang zwischen Ich und Kollektiv betrachtet (vgl. Baumgarten et al. 2014: 3 f.). Dies führt dazu, dass auch in akademischer Hinsicht kulturwissenschaftliche und kultursemiotische Zugänge zu dem Begriff Protest erschwert sind. Dabei eröffnen sich bei einer dezidiert weiten Definition von Protest zahlreiche Anknüpfungspunkte für kultursemiotische Reflexionen: Protest wird im Folgenden primär als eine kulturell verfügbare Handlungsoption betrachtet, welche sich im kollektiven und öffentlichen Ausdruck einer konfliktären sowie ablehnenden Haltung manifestiert. So ist Protest als eine gelebte Praxis und Manifestation des Widerstands und Widerspruchs zu verstehen, weshalb das Konzept nicht auf eine Ideologie (ohne eine praktische Realisierung) beschränkt werden kann. Als eine solche Markierung von Widerstand grenzen sich Protesthandlungen symbolisch von einer Struktur, einer Lebensrealität oder von etablierten Bedeutungsstrukturen ab. Ausgehend von der Wahrnehmung lebensweltlich relevanter Konflikte werden diese in konfliktäre kommunikative Positionen übersetzt, wodurch die Konflikte benannt und damit konstruiert werden (vgl. Nover 2009: 21). Protest ist also prinzipiell als eine kommunikative und symbolische Praxis zu verstehen, die in besonderer Weise einer deutlich werdenden Kommunikationsintention und einer dadurch konstituierten Öffentlichkeit bedarf: Protest ist damit ein klassifikatorisches Konzept, das Formen des gesamten Beteiligungsrepertoires vereint, solange sie sich unserem Verständnis nach offen und ausdrücklich gegen etwas stellen. […] Protest soll auf die Ablehnung einer Entscheidung oder auf einen Missstand aufmerksam machen. Daher muss Protest Aufmerksamkeit erzeugen – eine expressiv-symbolische Komponente wohnt allen Protestformen inne. Das reicht von ernsten Formen wie dem Unterzeichnen einer Petition, Demonstrationen oder zivilem Ungehorsam bis hin zu künstlerischen Ausdrucksformen wie Konzerten oder Protesttheater. (Vetter und Remer-Bollow 2017: 154).
Medienkultursemiotik des Protests 71
Daraus lassen sich zwei Aspekte ableiten: Einerseits ist Protest ein konstruktiver Vorgang, bei dem aus Sicht der Protestierenden konfliktäre Strukturen als Basis der Markierung von Widerstand geschaffen werden. Dazu wird zeichenhafte Kommunikation im weiteren Sinne genutzt, welche nicht auf etablierte Zeichensysteme beschränkt sein muss (bspw. Sprache, Bild, etc.), sondern sich ebenso auf Kaufentscheidungen, physische Blockaden und Raumaneignungen bspw. erstrecken kann. Zweitens ist Protest nur im Rahmen kollektiven und öffentlichen Handelns möglich. Die Protestkollektive erlauben es, neue Formen von Protestkommunikation zu etablieren und darüber hinaus, eine gemeinschaftsbildende, kollektive Identität als Basis des Protesthandelns zur Verfügung zu stellen (vgl. Nover 2009: 21 f.). In einer strukturellen Perspektive lassen sich dann laut Jasper (2008: 44) vier bestimmende Dimensionen von Protest ausmachen: Die (hauptsächlich materiellen) Ressourcen der handelnden Akteure, die jeweiligen intersubjektiven und kollektiven Strategien interaktiven und kommunikativen Handelns, sowie – und dies ist hier besonders hervorzuheben – zwei kulturelle Ebenen des Protests. Darunter sind einerseits die innerhalb eines kulturellen Programms geteilten und in kulturellen Texten materialisierten, emotionalen, moralischen und kognitiven Bedeutungen und Verständnisse zu fassen, andererseits der individuelle, biografische Hintergrund, welcher sich prägend auf die Aufnahme, Aneignung und Nutzung dieser Bedeutungsmuster und kulturellen Konventionen auswirkt. Diese kulturellen Dimensionen lassen sich unter dem Begriff der Protestkultur subsummieren, obwohl die Verständnismuster sowohl Inhalt einer spezifischen Semiosphäre der jeweiligen Bewegung, als auch Inhalt einer generellen, kulturellen Semiosphäre sein können (vgl. Jasper 2008: 44). Es stellt sich allerdings die Frage, ob die kollektiven „meanings, feelings and judgements“ (Jasper 2008: 45), welche in konkreten Texten und Bildern materialisiert werden, trennscharf den Gegenstandbereich der Protestkultur wiedergeben. Tatsächlich sind diese Strukturen verhältnismäßig vage, sie sprechen für eine konkrete Semiosphäre des Protests, welche sich allerdings nicht deutlich nach außen abgrenzen lässt und auch nicht klar im Inneren strukturiert ist. Dieter Rucht (2015) bietet eine deutlichere Definition von an: Diese sei Bestandteil einer politischen Kultur und stehe in wechselseitigen Austauschverhältnissen mit dieser (Rucht 2015: 265 f.). Letztere ist in verschiedene, miteinander konkurrierende, ideologische und demnach auch teleologische Teilprogramme zu differenzieren. Im Hinblick auf die durch ideologische Teilkulturen verfolgten Zielsetzungen des Protests stellt Rucht allerdings klar, dass sie explizit kein Bestandteil der Protestkultur seien: „Ausgeschlossen werden zudem die expliziten Anliegen und Forderungen, die man unter den
72 Die kulturelle Praxis digitaler Bilder in Social Networks Begriff der Protestinhalte fassen kann.“ (Rucht 2015: 267 f.) Protestkultur stelle sich vielmehr als eine funktionelle Kultur dar. Diese umfasst in erster Linie die ‚weichen‘, ‚sinnhaften‘ und kontextgebundenen Formelemente manifester Protesthandlungen und der damit verknüpften, aber eher im Hintergrund bleibenden Aktivitäten. Zentrale Elemente der Protestkultur sind (a) die Aktionsrepertoires und Stile der Konfliktaustragung, (b) die auf Proteste zielenden bzw. sie begleitenden Diskurse, Rhetoriken, Zeichen und Symbole sowie (c) die Weltbilder und normativen Grundlagen (z. B. Gerechtigkeitsverständnis, Legitimationserwartungen), auf die sich die Protestierenden berufen. (Rucht 2015: 267)
Die Verschränkung dieser drei Ebenen findet auf zwei Ausdrucksebenen statt: Einerseits werden basierend auf dem Ausdrucksrepertoire einer Protestbewegung und auf dem vorherrschenden Weltbild kulturelle Texte erstellt, welche öffentlich kommuniziert werden und sich an ein kulturelles Außen (ein unspezifisches Publikum potentieller Anhänger oder Gegner) richten. Andererseits wirken diese Inhalte (und weitere Formen der internen Kommunikation) konstituierend (im Sinne einer kollektiven Identität, ideologischen Vergewisserung und emotionalen Solidarität) auf das Kulturprogramm des Protests ein (vgl. Rucht 2015: 268). Die Trennlinien zwischen politisch-ideologischem Kulturprogramm und der Protestkultur sind auch bei Rucht fluide. So wirkten die Ideologie sowie die Ziele der konkreten Gruppe auf die Auswahl von Handlungsoptionen innerhalb der Aktionsrepertoires oder Proteststile und -genres ein. Bestimmte Ziele und die soziodemografischen Hintergründe der Anhänger schließen rhetorische Instrumente aus, während andere in den Fokus des politischen Handelns geraten (vgl. Rucht 2015: 270 f.). Weiterhin wird hier darauf hingewiesen, dass die Proteste hinsichtlich ihres kalkulierten Einsatzes von rhetorischen Formen für das Erreichen einer Außen- und Innenwirkung stets ideologisch geprägte Zielsetzungen verfolgen (vgl. Rucht 2015: 272). Im weiteren Sinne zielen Protestaktivitäten oder -bewegungen auf die Veränderung gesellschaftlicher Zustände ab, wobei die Richtung einerseits durch die Inhalte des protestierenden, politischen Teilprogramms, andererseits durch den Einsatz der gewählten Protestgenres und -texte vorgegeben wird: Protestkultur kann aber auch die Infragestellung etablierter Normen und Ordnungsvorstellungen beinhalten, wenn zunächst kleine Minderheiten solche Normen als unzeitgemäß kritisieren oder neue Rechte proaktiv geltend machen. Dieses Verhältnis der Bekräftigung oder Infragestellung bezieht sich nicht nur auf die Inhalte und Anliegen des Protests, sondern, oft damit verknüpft, auch auf die Anerkennung oder Zurückweisung bestimmter Formen und Taktiken des Protests. (Rucht 2015: 272)
Medienkultursemiotik des Protests 73 Protestkultur ist demnach in kultursemiotischer Sicht einerseits abzugrenzen von politischen Teilprogrammen, die die im Rahmen der Kultur zur Verfügung gestellten Mittel, Zeichenressourcen und semiosphärischen Bedeutungsverknüpfungen als ein Element politischer Kommunikation nutzen. Andererseits steht die Protestkultur in einem wechselseitigen konstitutiven Zusammenhang zu den politischen Kulturen innerhalb der Semiosphäre einer Gesellschaft: Protest wird durch diesen politisch relevanten Einsatz legitimiert und als politische Ausdrucksform etabliert. Politische Teilkulturen wiederum konstituieren sich (hinsichtlich der Anhänger, ihrer Ausbreitung und ihrer Außenwirkung) über den Rückgriff auf Kulturen des Protests.
Daraus wird ersichtlich, dass eine klare Trennung zwischen Protestkulturen einerseits und politischen (Teil-)Kulturen andererseits zwar analytisch sinnvoll ist, um bspw. den Rückgriff politischer Kulturen auf Zeichenvorräte und Semiosen der Protestkultur und damit die Etablierung von kommunikativen Genres des Protests innerhalb einer Semiosphäre zu erklären. Jedoch sind beide Kulturen eng miteinander verwoben, was sich insbesondere bei politischen Kulturen ausdrückt, die sich prinzipiell durch ihre konfliktäre Kommunikation und ihre Gegenpositionen zu einer etablierten oder hegemonialen Politik auszeichnen. So verdeutlicht Christina Flesher Fominaya am Beispiel des spanischen Global Justice Movement, dass die Anhänger sozialer Bewegungen in erheblichem Maße auf Protestkultur im Sinne „internalisierter Bedeutungssysteme“ (Flesher Fominaya 2014: 190) zurückgreifen, um eine kollektive Identität herauszubilden und dadurch die Bewegung im Sinne eines Kulturprogramms zuerst zu konstituieren: Conflict provides the basis for the consolidation of group identity and for solidarity (rather than shared interests). Collective identity establishes the limits of the actor in relation to the field: It regulates membership of individuals and defines requisites for joining the movement. (Flesher Fominaya 2014: 189)
Durch die Nutzung von etablierten Bedeutungssystemen und semiotischen Ressourcen der Protestkultur werden spezifische Zeichenpraktiken und -lesarten im Rahmen der kulturellen Selbstbeobachtung als konstitutiv für das (Teil-)Kulturprogramm erachtet. Flesher Fominaya entwickelt schließlich das Bourdieusche Konzept des Habitus weiter, um zu zeigen, dass diese semiotischen Aneignungen zu einer Herausbildung teilweise unbewusster Zeichenroutinen (vgl. FlesherFominaya 2014: 194–200) beitragen. Es entwickeln sich somit innerhalb politischer Kulturen kollektive semiotische Automatismen, die eine quasi-natürliche Verbindung von politischer Teilkultur und Protest etablieren. Zudem zeigt das Beispiel von politischen Gegenkulturen (Counter Cultures), dass Protest einerseits zu einem verfügbaren Mittel politischen Handelns wird, sich andererseits aber insbesondere durch die Verbindung mit anderen soziokulturellen Feldern als grundsätzliche Konstituente kulturellen Handelns durch-
74 Die kulturelle Praxis digitaler Bilder in Social Networks setzt: Mitunter sind hier die Grenzen von politischer Kultur nicht klar abgesteckt. So wird an den meist jugendlichen Gegenkulturen der 60er Jahre deutlich, dass sich politische Kritik an den gesellschaftlichen Zuständen vermischt mit einer auf Popkultur basierten und gegen den Mainstream ausgerichteten Jugendsubkultur (vgl. Roszak 1995). Insbesondere die politischen Gegenkulturen der Jugend definieren sich demnach einerseits durch die Anwendung von Protestressourcen, andererseits werden diese nicht nur für kollektiv relevante, soziopolitisch ausgerichtete Kommunikationen, sondern auch zur Markierung individueller Differenz gegenüber einer konstruierten Massenkultur genutzt (vgl. Weinzierl 2000; Weinzierl 2001; Jacke 2004). Protestkultur lässt sich in dieser Hinsicht als Teilsemiosphäre entwerfen, die – innerhalb einer umfassenden Semiosphäre – durch politisch-ideologische Teilkulturen angeeignet und genutzt wird. Die genauen Zeichenprozesse, die innerhalb dieser Teilsemiosphäre und an den Rändern von politischen Kulturprogrammen ablaufen, werden im Folgenden vorgestellt.
3.2 Semiosphäre und Mediasphäre des Protests – Protest als Kampf an kulturellen Grenzen Protest wurde bisher als eine Zeichenpraxis beschrieben, die von politisch-ideologischen Kulturen genutzt wird, um soziopolitische Missstände zu verändern. Da Kulturprogramme allerdings ausgehend von ihrem konkreten Wirklichkeitszugriff (und damit basierend auf den kulturellen Strukturen dieses Zugriffs) kommunizieren, argumentieren und handeln, sind die als Auslöser des Protests wirkenden gesellschaftlich-konfliktären Situationen Ergebnis ideologisch geprägter Wahrnehmungen. Protest kann damit in einem weiteren und kulturwissenschaftlichen Sinne gesprochen als Mittel der Aufrechterhaltung und sozialer Durchsetzung ideologischer Wahrnehmungen und damit verbundener Wirklichkeitsmodelle gesehen werden. Protest ist ein Instrument im Kampf um gesellschaftliche Hegemonie. Das Konzept der Hegemonie wird im Gramscianischen Sinne als Etablierung eines gesellschaftlichen Konsenses zu einer kulturellen Ideologie verstanden. Hegemonie ist damit einerseits ein basales Prinzip in der Aufrechterhaltung eines staatlichen Systems, Gramsci bringt dies in der Losung: „Staat = politische Gesellschaft + Zivilgesellschaft, das heißt Hegemonie, gepanzert mit Zwang“ (Gramsci 1992: 783) zum Ausdruck. Andererseits wird Hegemonie bei Gramsci aber auch als symbolischer Kampf zwischen konkurrierenden ideologischen Gruppen inner-
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halb der institutionalisierten Apparate zur Etablierung symbolischer Herrschaft der Zivilgesellschaft (vgl. Thomas 2015: 71) entworfen: In dieser Vielzahl besonderer Gesellschaften […] überwiegen eine oder mehrere relativ oder absolut, indem sie den hegemonialen Apparat einer gesellschaftlichen Gruppe über den Rest der Bevölkerung (oder Zivilgesellschaft) bilden, Basis des im engen Sinn als Regierungs- und Zwangsapparat verstandenen Staates. (Gramsci 1992: 815)
Das soziokulturelle Ringen um eine solche hegemoniale Stellung innerhalb einer Gesellschaft ist demnach ein kommunikativ und über Zeichen sowie deren Wahrnehmung ausgetragener Kampf zwischen Kulturprogrammen (vgl. Schmidt 2006: 29). Dabei geraten von der herrschenden (hegemonialen, politischen) Ideologie abweichende politische Teilprogramme in den Stand einer minoritären oder Subkultur, da sie a) sich von der herrschenden Ideologie abgrenzen und daraus ihre kulturelle Autonomie begründen (vgl. Schmidt 2006: 31) und b) meist nur über einen eingeschränkten Zugang zu den staatlich institutionalisierten Hegemonieapparaten einer Gesellschaft (Bildungsinstitutionen, Religion, offizielle [Massen-]Medien etc.) verfügen. Im Gegensatz zu der klassischen Konzeption von Subkulturen (vgl. Wimmer 2015) als „[d]ifferenzsetzende Alternativen“ (Schmidt 2006: 31) zielen solche politischen Teilprogramme allerdings auf die Übernahme gesellschaftlicher Hegemonie ab. Daraus leiten sich Subziele des Protests ab, die darin bestehen „to raise the level of visibility of those utilizing them, to gain recognition, and to achieve political change“ (Günther 2016: 49). Es ist nicht verwunderlich, dass technische Mediendispositive und die damit verbundenen Medienangebote sowie -institutionen eine erhebliche Rolle in der Kommunikation von Protest spielen. Diese gliedert sich auf in eine Binnenkommunikation und eine Außenkommunikation. Während Erstere insbesondere der Gemeinschaftsbildung und inneren Organisation dienen, steht im Fokus Letzterer das erfolgreiche Framing. Darunter ist laut Baringhorst grundsätzlich die „Durchsetzung eigener Deutungsmuster gegen dominante Wahrnehmungen“ zu verstehen, „um ein möglichst positives Bild über die Dringlichkeit und Legitimität des eigenen Handelns zu vermitteln.“ (Baringhorst 2014: 94) Framing zeichnet sich dadurch aus, dass es die für den Protest bedeutsamen Wirklichkeitsausschnitte und deren kulturprogrammspezifische Wahrnehmung in den Vordergrund rückt und diese entgegen hegemonialer Wahrnehmungsweisen innerhalb der medialen Öffentlichkeit als relevant behauptet. Diese Bedeutungskonstruktion im Sinne einer semiotischen Praxis (Benford und Snow 2000: 614) wird von den einzelnen Teilnehmern des Protests getragen und ausgeführt. Durch das Konzept wird betont, dass die semiotischen Strukturen des Protestprogramms einerseits
76 Die kulturelle Praxis digitaler Bilder in Social Networks durch die aktive (und kommunikative) Teilnahme der Protestierenden hervorgebracht und ausdifferenziert werden, andererseits diese semiotische Praxis der Selbstbehauptung und Verbreitung des Protests nach Außen dient: „[M]ovement actors are viewed as signifying agents actively engaged in the production and maintenance of meaning for constituents, antagonists, and bystanders or observers.“ (Benford und Snow 2000: 613) Die mediale Neurahmung gesellschaftlicher Diskurse und Wirklichkeitszugriffe erfolgt hierbei hinsichtlich der Neuerzählung der dem Protest zugrundeliegenden konfliktären und als ungerecht wahrgenommenen Situation, hinsichtlich angebotener Lösungsansätze für die problematische Lage und hinsichtlich des Aufrufs zu kollektivem Handeln in Richtung einer Lösung (vgl. Benford und Snow 2000: 615–618). Framing kann deshalb in einem engeren und einem weiteren Zusammenhang betrachtet werden. Im engeren Sinne geht es darum, konkret-alternative Erzählungen zu generieren, um dadurch Wahrnehmungsverhältnisse zu verändern. Im weiteren Sinne kann unter Framing die generelle semiotische Praxis des Protests verstanden werden, welche innerhalb von Medienangeboten einen Kampf um Deutungshoheit austrägt. Diese erweiterte Konzeption von Framing wird deutlich, wenn das Modell des kommunikativen Encodings und Decodings nach Stuart Hall hinzugezogen wird (vgl. Hall 2007). So führt Hall darin aus, dass innerhalb eines Kommunikationsprozesses auf Seite der Produktion von Medieninhalten und auf Seite der Rezeption Übersetzungsprozesse stattfinden, welche die Inhalte in lebensweltlich relevante Informationen und damit praktische Handlungsoptionen übertragen (vgl. Hall 2007: 509). Medienangebote sind demnach zugleich auch Sinnangebote, die Sichtweisen auf Wirklichkeit vorschlagen. Der Rezipient kann wiederum, ausgehend von der Polysemie der medialen Texte und basierend auf seinem soziokulturellen Hintergrund, diese Sinnangebote übernehmen, verhandeln oder in abweichender Form lesen (vgl. Hall 2007: 515 f.). In diesem Sinne kann das im Rahmen von Protestprogrammen durchgeführte Reframing verstanden werden als ein alternatives Sinnangebot und damit als antihegemoniale Lesart im Rahmen medialer Texte. Framing ist zu situieren innerhalb eines mediatisierten Kampfes um Deutungshoheit gegenüber dominanten Wirklichkeitszugängen (vgl. Krotz 2009: 216). Dieser erweiterte Zugang zu Framing erlaubt es auch, weniger gezielte oder zweckrationelle Kommunikationen als Formen des Protests (vgl. Proulx 2013: 144) zu verstehen. Die damit verbundenen Praktiken semiotischen Protests sind eingebettet in die Mediasphären zumeist technischer Medien. Allerdings unterscheiden sich die Mediasphären von Massenmedien erheblich von denen dezentraler, elektronischer Medien (z.B. das Internet): Während die Dominanz der elektronischen Massenmedien ab Mitte des 20. Jahrhunderts dazu führte, dass Protestbewegungen bei Demonstrationen und anderen Aktionen den medialen Institu-
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tionen hauptsächlich Frameangebote (zumeist in Form von schriftlichen Texten, Bildern und öffentlich-symbolischen Protestperformanzen, vgl. Fahlenbrach 2009) unterbreiteten, konnten sie mithilfe von neuen technischen Anwendungen des Internets eigene, alternative Öffentlichkeiten schaffen und in kontrollierter Weise Neurahmungen selbst etablieren (vgl. Wimmer 2015: 192; vgl. Mattoni und Teune 2014: 881). Entscheidend für die mediale Umsetzung von Protest war und ist der Zugang zu Ressourcen im Sinne von technischen Infrastrukturen und sozialmedialen Institutionen. Es erstaunt damit auch nicht, dass Protestbewegungen schnell eigene Mediasphären kreierten, indem sie bspw. alternative Radiound Fernsehsender, Videokollektive sowie internetbasierte Independent Media Center gründeten (vgl. Wimmer 2015: 193). Die Mediasphären strukturieren demgemäß ebenso die Möglichkeiten der Ausübung semiotischen Formen des Protests. Mediasphären werden für Protest bedeutsam, da sie semiotische Ressourcen und Strukturen materialisieren und verfügbar machen, die Protestbewegungen aneignen und im Sinne eines Reframings transformieren können: „The cultural material most relevant to movement framing processes include the extant stock of meanings, beliefs, ideologies, practices, values, myths, narratives, and the like“ (Benford und Snow 2000: 629). Die Transformation dieser Ressourcen lässt sich in kultursemiotischer Hinsicht deshalb nicht nur auf die damit erstellten neuen Bedeutungen reduzieren, sondern es gerät der semiotische Prozess der Herausbildung in den Vordergrund: Die semiotische Aneignung bestehender signifikanter Ressourcen, deren Verbindung mit neuen Bedeutungen und deren Einpassung in neue Bedeutungszusammenhänge sowie das kreative Spiel mit diesen Ressourcen gelangen in den Fokus der widerständigen Taktiken in Mediasphären. Dadurch wird die Kommunikation von Protest innerhalb der Medien zu einem performativen Medienereignis, das semiotische Handeln wird neben der rein denotativen Darstellungsebene des Medienangebots zu einer protestrelevanten, da symbolischen Handlung (vgl. Fahlenbrach 2009: 107). Durch diese semiotischen Akte werden mediale Räume politisiert, wodurch eine neue Form der Öffentlichkeit geschaffen wird. Serge Proulx versteht unter der Politisierung eines Raumes l’inscription d’une dimension politique dans un lieu, un objet, un dispositif, un événement spécifique, qui n’étaient pas définis jusque-là comme politiques. Ce geste d’inscription du politique contribue alors à une mise en débat dans la sphère publique des enjeux sociaux et politiques liés à cet objet. Il s’agit d’un processus de « montée en publicité » de l’objet choisi. (Proulx 2013: 145)
Protest wird als die mediale Praxis semiotischer Handlungen verstanden, welche innerhalb der Öffentlichkeit oder Teilöffentlichkeit der Mediasphäre (oder mehrerer Mediasphären) stattfindet und die zeichenbasierte bzw. symbolische Ausei-
78 Die kulturelle Praxis digitaler Bilder in Social Networks nandersetzung („mise en débat“) zwischen politischen Kulturprogrammen und entsprechenden Teilsemiosphären beinhaltet. Hier kommt der zweite Aspekt medialer Räume zum Tragen: Sie erlauben, je nach kultureller Dichte und Spezifik der jeweiligen Mediasphäre, die Konfrontation mehrerer Kulturprogramme und damit die direkte zeichenbasierte Auseinandersetzung im Kampf um Deutungshoheit. Im Rahmen der Konstitution einer Protestkultur strukturieren und ermöglichen Medien auf verschiedenen Ebenen den Zugang zu, sowie den Austausch und die semiotischen Dynamiken zwischen Kulturprogrammen. Dies kann am Beispiel des Internets gut nachvollzogen werden: So ist das politisch minoritäre Kulturprogramm an der Peripherie der Semiosphäre, deren Zentrum die hegemoniale Kultur ist, situiert. Der Zugang zu einer gesellschaftsrelevanten Öffentlichkeit und zum hegemonialen Medienapparat der Gesellschaft ist für die politisch minoritäre Kultur nur eingeschränkt vorhanden. Während diese beiden Bereiche der Semiosphäre in anderen Medien oder beispielsweise im öffentlichen Raum oftmals vergleichsweise distanziert vorkommen, die Peripherie durch die strukturierenden Kodifizierungen des Zentrums (als gesamtgesellschaftliche Metasprache) gleichsam hinsichtlich der dort vollzogenen semiotischen Dynamiken reguliert wird (vgl. Lotman 2010: 170 f.), werden im medialen Raum des Internets diese semiotischen Machtverhältnisse und Trennungen zwischen Peripherie und Zentrum teilweise verschoben: In dem dezentralen und durch individuelle Nutzerinhalte geprägten Medium geraten sie in enge Konfrontationsbeziehungen. Dort können Sub- und Protestkulturen teilhegemoniale Strukturen entwickeln und über die so vergrößerte Reichweite Inhalte über die gesamte Semiosphäre einer Gesellschaft und damit auch in deren Zentrum potentiell verbreiten (vgl. Baringhorst 2014: 99–103). Die medialen Verhältnisse des Internets begünstigen somit potentiell die semiotische Dynamik der Semiosphäre, welche zwar einerseits der kulturellen Peripherie die eher statischen Metasprachen des Zentrums auferlegt, andererseits die semiotische Innovation, welche durch Übersetzungsprozesse an der Grenze der Kulturen entsteht, in das Zentrum einer Kultur drängen lässt (vgl. Lotman 2010: 189; vgl. Illing 2017: 553 f.). Ähnlich künstlerischer Avantgarden führen die Protestprogramme eine ,Revolte an der Peripherie‘ (vgl. Lotman 2010: 178) einer Gesellschaft, um daran anschließend in deren (politisches) Zentrum vorzudringen und dort ihre semiotischen Bedeutungs- und Codestrukturen zu etablieren. Befördert werden diese Ausbreitungsdynamiken durch die viralen Kommunikationsdynamiken, die potentiell hohe Reichweite und die Etablierung alternativer Medienangebote innerhalb der Mediasphäre des Internets. Die Mediasphäre des Internets begünstigt nicht nur die Konfrontation zwischen Teilkulturen im Sinne von peripher situierten und im Zentrum liegenden Teilsemiosphären. Insbesondere die globale Dimension der technologischen
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Infrastruktur des Internets sowie die zunehmende Globalisierung der Medienangebote und der Anwendungen tragen zu Kontaktzonen zwischen Semiosphären bei, die sich hinsichtlich vorherrschender Ideologien aber auch Ressourcen und semiotischer Inventare von Protest gegenseitig beeinflussen.32 Durch diese Übertragungs- und Übersetzungsprozesse können ebenso transnationale und transkulturelle Protestbewegungen entstehen, welche zwar an den Rändern einzelner Semiosphären verortet, durch ihre globale Ausbreitung allerdings in das Zentrum kultureller Debatten und öffentlicher Aufmerksamkeit geraten. Protest lässt sich folglich als ein Vorgang an den Grenzen von Kulturprogrammen bestimmen: Einerseits resultiert er aus der kulturellen Inklusion von kulturexternen Idealen, Codes und politisch-normativen Übersetzungen, welche durch Übersetzung und Anpassung in die Peripherie einer Semiosphäre geraten, sowie aus der konstruierten Diskrepanz zwischen sozial-materiellen Zuständen und den politischen Idealen des minoritären Kulturprogramms. Andererseits wirkt sich Protest auf die semiotischen Prozesse innerhalb der Semiosphäre und an deren Rändern aus: Protesthandlungen aus einer peripheren politischen Kultur versuchen durch Framing (im engeren Sinne) am Rand zum kulturellen Zentrum die dort vorhandene kulturell-politische Ideologie, ihre Bedeutungs- und Codestrukturen zu verdrängen bzw. zu transformieren und dadurch eine Lösung des zugrundeliegenden Konflikts zu erzielen.
3.3 Visueller Protest und die Konstitution von politischen Subprogrammen Bildzeichen sind in besonderer Weise für die symbolischen Politiken des Protests von ideologischen Subprogrammen in den kulturellen und medialen Peripherien geeignet – sowohl hinsichtlich der Binnenkommunikation und Konstitution eines ideologischen Kulturprogramms, als auch hinsichtlich der externen Kommunikation. Aufgrund ihrer symbolischen Struktur bilden sie die Basis für die Abgrenzung des politischen Teilkulturprogramms und für die interne Festigung und Tradierung von kollektivierten Bedeutungsstrukturen. So ermöglichen Bilder nach Günther (2016) eine Darstellungsreduktion komplexer politischer Sachverhalte:
32 Beispielhaft dafür steht die Entwicklung einer globalen Protestdynamik im Jahr 2011, bei der sich die Auflehnungen gegen Diktaturen im nordafrikanischen und arabischen Raum mit Anti-Austeritätsprotesten im südlichen Europa und den in westlichen Staaten auftauchenden Occupy-Protesten gegen soziale Ungleichheiten paarten.
80 Die kulturelle Praxis digitaler Bilder in Social Networks In the field of medial attention, protest movements are especially dependent on a reduction to the visual. The symbolic politics of protest movements […] serve as a simplification and reduction of a political claim. Over the course of protest, they form and propagate the establishment of a collective identity through symbols, rituals, and other commonly understood schemas. (Günther 2016: 60 f.)
Politische Subprogramme greifen demnach auf diese Form der Simplifizierung politischer Kommunikation zurück, um ihrem Widerspruch und Protest Ausdruck zu verleihen. Der Ausdruck von Protesthaltungen durch symbolische Zeichen zielt weiterhin insbesondere auf die Konstitution gemeinschaftsbildender Diskurse und semiosphäre-interner Signifikant-Signifikat-Kopplungen ab. Nach Kathrin Fahlenbrach können die ideologischen Kulturprogramme des Protests als „habituell stabilisierte Konfliktsysteme“ (Fahlenbrach 2013: 88) verstanden werden, welche durch kollektive Zeichenpraktiken einen internen Habitus als gemeinsame semiotische Strukturen etablieren. So finden innerhalb kollektiver visueller Codes der expressiven Protestkommunikation „Prozesse der kollektiven Koorientierung“ (Fahlenbrach 2013: 110) statt, welche der Stabilisierung und gemeinschaftlichen Handlungsfähigkeit einer Protestbewegung zuträglich sind. Es entstünden dadurch programminterne visuelle Gestalttypologien bzw. visuelle Codes des Protests, welche im Rahmen der Protesthandlungen eines Kulturprogramms etabliert, revidiert und transformiert werden können. Über Bilder kann demnach eine eigene Sichtweise und darüber hinaus eine kohärente Gruppe von Aktivisten und Anhängern der Bewegung entwickelt werden. Aktivisten materialisieren durch mediatisierte Bilder die kulturell spezifische Wahrnehmung der Wirklichkeit und setzen diese als Basis kollektiven Handelns (vgl. Doerr, Mattoni und Teune 2013: xiii). Eine Grundlage hierfür spielt die medial-technische Vermittlung und Konservierung von Bildzeichen, beispielsweise im Internet und in internetbasierten Kommunikationsanwendungen. Mattoni und Teune heben hervor, dass es die internetspezifischen Verflechtungen zwischen Mediendispositiven und Zeichenpraktiken sind, die mediale Räume für Bewegungskulturen und ihren spezifischen Wirklichkeitszugriff bieten: In a sense, the combination of portable technologies and movement websites created a space where activists could not only find their own voice but also their own gaze on mobilizations, rendering it accessible to activists rooted in different political, cultural, and social contexts. (Mattoni und Teune 2014: 881)
Hieran wird die Interaktion von Mediasphären, der instrumentellen Semiosphäre des Protests und politischen Subprogrammen deutlich: Politische Teilkulturen greifen auf Protestrepertoires der Semiosphäre zurück, um eine innere Stabilität zu kreieren, die politische Ideologie zu manifestieren und zugleich zu mate-
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rialisieren. Die Materialisierung der Bildkommunikation erfolgt innerhalb des kommunikativen Raums oder der Mediasphäre eines spezifischen Mediums. Insbesondere in dem durch Nutzer aufrechterhaltenen Internetprotests werden so Bilder kollektiv geteilten und verbreitet. Es entsteht ein technisch gestütztes Archiv von visuellen Protestpraktiken, welches mit dem kollektiv-visuellen Gedächtnis einer Protestkultur gleichgesetzt werden kann: This leads to the long-lasting impact of computer-mediated protest images. These images help to create a memory from one generation of activists to another. Iconic images of protest also become meaningful for those who did not take part in past mobilizations. To some extent, they can live the experience from a temporal distance, imagining and reinterpreting them. But, also, visuals might revive activists’ memories of social movements in which they participated in the past. (Mattoni und Teune 2014: 883)
Die mediale Materialisierung von Bildpraktiken innerhalb des Internets führt zu einer räumlich und zeitlich stabilisierten und übergreifenden Etablierung von Protestkulturen. Diese semiotisch-mediale Verstärkung von Protest durch mediatisierte Bildzeichen lässt sich ebenso in der Außenwirkung der Protestprogramme nachvollziehen.
3.4 Visueller Protest zwischen Blickverschiebungen und der Kritik hegemonialer Repräsentationscodes Ebenso wie textuelle Formen des symbolischen Widerstands stützt sich visueller Protest hinsichtlich der Außenkommunikation auf eine Neuausrichtung existierender Frames: Visuals, like text, can operate as framing devices insofar as they make use of various rhetorical tools – metaphors, depictions, symbols – that purport to capture the essence of an issue or event graphically. (Rodriguez und Dimitrova 2011: 51)
Dadurch gewinnt visuelle Kommunikation trotz der darin vermittelten, komplexen politischen Sachverhalte an praktischer Relevanz, sie wird anschlussfähig an individuelle Lebenswelten bei gleichzeitiger Legitimation kulturprogrammspezifischer Sichtweisen und der Verschiebung der hegemonialen Rahmung von politischen Ereignissen. „In this sense, visuals channel discursive possibilities for making sense of social phenomena; they legitimize (and thus facilitate) the grounds upon which some interpretations can be favored and others impeded.“ (Rodriguez und Dimitrova 2011: 51) Allerdings sind Bilder im Vergleich zu schriftlichen und mündlichen Texten hinsichtlich ihres Framingpotentials eingeschränkt.
82 Die kulturelle Praxis digitaler Bilder in Social Networks Die Ikonizität der Bilder, z.T. auch ihre Indexikalität und die Veränderung der narrativen Dimension im Wechsel von Text- zu Bilddiskursen erschweren das Erstellen alternativer Rahmungen (Rodriguez und Dimitrova 2011: 52). Allerdings erstreckt sich visuelles Framing nicht nur auf die Ebene der bildlichen Denotation (also Repräsentation), sondern insbesondere auf die konnotative und damit ideologische Ebene, sprich auf die möglichen Lesarten des Bildes. Dadurch wird der hegemoniale Charakter visueller Kommunikation offengelegt (vgl. Rodriguez und Dimitrova 2011: 57 f.). Neben dem Framing im engeren Sinne als Vorschlag alternativer bzw. abweichender Wahrnehmungsrahmen ist visueller Protest in kultursemiotischer Hinsicht durch zwei weitere Aspekte gekennzeichnet. Zuerst basiert Protest darauf, konfliktäre Situationen zunächst zu benennen und Missstände als Kritik an der hegemonialen politischen Ideologie aufzudecken. Dies impliziert, neue Verknüpfungen zwischen bereits semiotisierten Elementen der Semiosphäre herzustellen oder neue Elemente in den semiotischen Raum durch eine Semiotisierung, also eine Bezeichnung, einzuführen. Auf visuelle Codes bezogen kann dies als Form der Sichtbarmachung zuvor unsichtbarer, da nicht abgebildeter Verhältnisse und Objekte thematisiert werden. Dadurch werden lebensweltliche Aspekte kulturell überhaupt kommunizierbar und damit verhandelbar gemacht und können somit Gegenstand politischer Auseinandersetzung bzw. Reformation werden. Die Sichtbarmachung als Strategie visuellen Protests ist wichtig, wenn es um die Steigerung der (medialen und kulturellen) Relevanz einer minoritären Gruppe geht. Bildern kommt damit die Rolle eines visuellen Stellvertreters für eine damit verbundene Situationen zu (vgl. Schade und Wenk 2011: 105). Jedoch kann eine Sichtbarmachung ohne die klare Ausrichtung eines entsprechenden visuellen Framings nicht geschehen. Gemäß den Autorinnen geht es ebenso „um das Wie des Sichtbar-Seins oder Werdens und der Darstellung, um den Wunsch nach ‚angemessenen‘ und ‚richtigen‘ Bildern von Menschen“ (Schade und Wenk 2011: 105). Neben der Semiotisierung und Sichtbarmachung einerseits und der Verschiebung von Deutungs- und Repräsentationsrahmen andererseits geraten Bilder zudem als Mittel der metakommunikativen Thematisierung von politischen Zeichenpraktiken in den Fokus. In pragmatischer Hinsicht erlauben sie es auch, einen Zugriff auf die vorherrschenden Codes der Sichtbarmachung, Repräsentation und politischen Rhetorik zu erhalten. So führt ein kreatives Spiel mit Sinnzusammenhängen und Bedeutungsstrukturen eines dominanten Kulturprogramms innerhalb des kommunikativen Raums der Mediasphäre zu einer Verunsicherung dieser etablierten Konventionen und der dadurch intendierten ‚Natürlichkeit‘ (vgl. Schade und Wenk 2011: 112 f.) der Darstellungen. Dieser spielerische Umgang zeigt sich darin, dass hegemoniale Bedeutungsmuster bzw. Codes im Sinne von Signifikant-Signifikat-Kopplungen verfremdet werden, umgebaut und
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transformiert werden, nicht mit dem primären Ziel, eine alternative Erzählung zu etablieren, sondern mit dem gewissermaßen wegbereitenden Ziel, die herrschenden Code-Strukturen zunächst aufzubrechen und in ihrer scheinbaren Natürlichkeit zu hinterfragen. Für eine solche Praxis führte Umberto Eco (1985) den Begriff der „semiologischen Guerilla“ ein (vgl. Schölzel 20 f.). Die semiologische Guerilla nach Eco fokussiert zunächst auf die hegemonialen Machtverhältnisse massenmedialer Angebote. Eco schlägt vor, Bedeutungsstrukturen auf Ebene der Rezeption anzugreifen, indem bspw. das Fernsehrezeptionserlebnis durch eine „ergänzende Kommunikation“ erweitert und dadurch eine „Konfrontation der Empfängercodes mit denen des Senders“ erreicht wird (Eco 1985: 154). Ein aktiveres Verständnis von einer semiotischen Arbeit an der „kulturellen Grammatik“ des Zentrums einer Semiosphäre entwickelte die autonome a.f.r.i.k.a. gruppe (sic!) mit dem Konzept der Kommunikationsguerilla, bei der durch eine kreative Zeichenproduktion „die Regeln der Kulturellen Grammatik durcheinander [geworfen]“ (autonome a.f.r.i.k.a. gruppe et al. 2001: 218, zitiert nach Schölzel 2013: 271) und dadurch angreifbar gemacht werden. Entscheidend ist hierbei, dass vorübergehende und räumlich beschränkte Aktionen im Sinne von konkreten Zeichenpraktiken die semiotischen Strukturen der hegemonialen Semiosphäre außer Kraft setzen und für individuelle Reflexion über deren Möglichkeitsbedingungen sowie die damit verbundenen Wirklichkeitsausschnitte und hegemonialen Prozesse eröffnen (vgl. Schölzel 2013: 274; Kleiner 2005: 334 f.). Als kommunikative Guerilla sind diese Kommunikationstaktiken zu verstehen, da sie die etablierten hegemonialen Bedeutungsstrukturen und semiotischen Codes aneignen, sie gewissermaßen kopieren, jedoch ein Störmoment innerhalb der Code-Strukturen hervorrufen (vgl. Kleiner 2005: 324f). Guerillakommunikation ist in zahlreichen Fällen eine Taktik visuellen Protests (vgl. Schölzel 2013: 277–287). Sie zeigt auf, dass eine visuelle Kritik auch jenseits der denotativen Ebene der Bilder und mit Bezug auf die Codestrukturen erfolgen kann. Die semiotische Guerilla rekurriert damit auf einen Bereich des (insbesondere visuellen) Protesthandelns, welcher als ästhetischer Widerstand als eine Praxis der metakommunikativen und metasemiotischen Kritik zu verstehen ist. Ästhetische Erfahrungen bieten in besonderer Weise einen Zugriff auf hegemoniale Ordnungen der Bedeutung, der Darstellung und der Sichtbarkeit und eröffnen diese für eine kritische Revision.33
33 Einen ersten Einblick in diese ästhetischen Praktiken des Protests und des Widerstandes bietet der Sammelband „Ästhetischer Widerstand gegen Zerstörung und Selbstzerstörung“ von Aida Bosch und Herrmann Pfütze (2018), sowie als Problematisierung der darin enthaltene Beitrag von Peter Foos (2018).
84 Die kulturelle Praxis digitaler Bilder in Social Networks Dieses metasemiotische, reflexive Potential künstlerischer Bilder entfaltet sich in o.g. Formen der Kommunikationsguerilla, in Collagen künstlerischer Avantgarden und in dem visuellen Handeln von Subkulturen einer Gesellschaft gleichermaßen und wird durch die Schaffung solcher Bildgenres ebenso als Instrument innerhalb der Semiosphäre von Protestkulturen verfügbar gemacht. Sie fügen sich in die ästhetischen Formen „des Spontanen, Kreativen, Unernsten, Spielerischen“ (Baringhorst 2014: 109) und fungieren im Grenzbereich zwischen technologisch gestütztem und ästhetisch fundierten Protest als visuelle Störung innerhalb der kulturell-visuellen Grammatik einer Gesellschaft. Entscheidend ist bei dieser Störung durch visuelle Zeichen, dass deren Wirkkraft ohne die entsprechende Bedeutungsintention eines Bildproduzenten bzw. die Nutzung durch ein politisches Programm entstehen kann. Eva Kimminich weist anhand der subkulturellen Praxis einer körperlichen Selbsteinschreibung von Tattoos nach, dass diese zunächst im Sinne von Aneignungspraktiken mit dem Ziel der Markierung von Differenz zu verstehen sind (vgl. Kimminich 2007: 56). Durch diese Bildmale wird gegenseitiges, kollektives Verständnis an der Peripherie einer Kultur geschaffen. Die individuellen Bildhandlungen markieren hierbei ebenso auch eine Abgrenzung zum kulturell Zentralen. Durch individuelle Abweichung würden Bedeutungskopplungen der Semiosphäre aufgebrochen und dadurch disponibel gemacht. „[D]urch ein sporadisches Management der Fragmentierung, Dislokation, des Unterbrochenen und Widersprüchlichen [entsteht] eine kurzfristige gemeinsame Balance als Grundlage einer neuen Form offener Lebensgemeinschaften.“ (Kimminich 2007: 70) Sie entziehen sich semiosphärisch gefestigten Modellen von Gegenkultur und eröffnen mit diesen nicht auf direkten Protest abzielenden, alltäglichen Praktiken ihr Potential als „[Kultur]programmstörungen“ (Kimminich 2007: 67). Soziale Bewegungen greifen damit einerseits auf die semiotischen Ressourcen der Semiosphäre, der mediatisierten Teilsemiosphären sowie der Protestkultur zurück, schaffen jedoch auch neue Bedeutungsstrukturen, die in o.g. Semiosphären übergehen können. Der widerständige Wert von zeichenbasierten Formen des Protests ergibt sich hierbei nicht aus der individuellen, klar ausgeprägten, politischen Intention der Kulturprogrammanwender, sondern vielmehr aus Aspekten kollektiven Handelns im Zusammenspiel mit medialen Handlungsformen und soziopolitisch kontextuellen Faktoren (vgl. Baringhorst 2014: 106). So können auch ludische Formen visuell-widerständiger Praktiken im Internet ihren ideologischen Wert im Rahmen einer Aneignung und Zuschreibung durch ideologische Teilprogramme erhalten, indem vermehrt Anhänger dieser Ideologien solche Praktiken aufgreifen und durch diese kollektive Nutzungsweisen in das Protestrepertoire einer politischen Teilkultur einschreiben (vgl. Baring horst 2014: 109).
Medienkultursemiotik des Protests 85
3.5 Konklusion: Bildprotestkultur In kultursemiotischer Perspektive wird Protestkultur als ein Kulturprogramm innerhalb einer gesellschaftlichen Semiosphäre verstanden, welches sich durch den instrumentellen Wert der darin vorhandenen Zeichenstrukturen charakterisieren lässt. Protestkultur ist demnach zu verstehen als eine Teilsemiosphäre, die sich durch die funktionelle und intendierte Anwendung ihrer Zeichenressourcen und damit verbundenen Codes von anderen Teilsemiosphären abgrenzt. Dies geschieht dadurch, dass sie Zeichenstrukturen bereithält, welche sich aufgrund vergangener, individueller Kommunikationsakte und im kollektiven Gedächtnis einer Gesellschaft als spezifische Ausdrucksmittel für Ablehnung und Widerspruch etabliert haben. Zudem wird den semiotischen Ressourcen und Strukturen der Protestkultur im Vollzug einer semiotischen Anwendung der Status des Protesthaften eingeschrieben und die Protestkultur damit weiterhin von anderen Teilbereichen einer gesellschaftlichen Semiosphäre abgegrenzt. Protest betont in dieser Hinsicht die instrumentelle Dimension von Kulturprogrammen: Indem dessen Anwendung weitestgehend einen intentionalen Rückgriff auf das Protestzeichenrepertoire einer Gesellschaft darstellt, wird er zu einem Mittel spezifischer Außen- und Binnenkommunikation von ideologischen Teilkulturprogrammen (aber auch von nicht politisch-ideologisch geprägten Subkulturen oder künstlerischen Avantgarden bspw.). Hinsichtlich der internen Organisation tragen visuelle Protestpraktiken zur Positionierung, ideologischen Ausschärfung, Mitgliederinklusion und Kohärenzbildung einer politischen Teilkultur bei. Durch visuelle Protestpraktiken wird die Ideologie eines politischen Kulturprogramms im Sinne einer internen Selbstvergewisserung symbolisch und reduziert greifbar gemacht und von anderen Ideologien abgegrenzt. Dies unterstützt die Anschlussfähigkeit bzw. Offenheit für neue Anhänger. Deren Inklusion erfolgt über die Öffnung der und den erleichterten Zugang zur Semiosphäre. Dadurch werden Zugänge zu einer politischen Kultur geschaffen, die zu deren Ausbreitung beiträgt. Letzteres ist auch das Ziel der visuellen Außenkommunikation einer politischen Protestbewegung. Diese nutzt medial gestützte Kommunikationsräume, um hegemoniale Deutungs- und Bedeutungsmuster innerhalb der Semiosphäre einer Gesellschaft infrage zu stellen und zu verändern. Sie zielt dabei auf eine zentrale Etablierung ihrer ideologisch geprägten Wirklichkeitswahrnehmung ab, verbunden mit einer hegemonialen Ausbreitung der entsprechenden kulturellen Muster und Codes als Vermittlungen dieses Wirklichkeitsausschnitts. Entsprechend stehen die Visualisierung von kulturprogrammspezifischen normativen, emotionalen und kognitiven Strukturen, die Sichtbarmachung primärer Konfliktbereiche der Gesellschaft, die visuelle (dekonstruierende) Arbeit an den dominanten Bedeutungsmustern der Gesellschaft sowie der rhetorisch-visuelle
86 Die kulturelle Praxis digitaler Bilder in Social Networks Kampf um neue Anhänger im Vordergrund der externen Kommunikation der Protestbewegung. Die semiotisch-visuellen Praktiken tragen nicht nur zu einer Ausbreitung von Protestbewegungen und zu deren interner Strukturierung und Stabilisierung bei. Sie wirken sich gleichzeitig auf die normativen und semiotischen Codes der Protestkultur einer Gesellschaft aus. Es werden neue Protestzeichen etabliert, andere verlieren ihre affektive und kognitive Wirkung als Zeichen des Widerspruchs. Es werden Interrelationen ausgeprägt zwischen medialen Infrastrukturen, Institutionen und Angeboten einerseits und Strukturelementen sowie semiotischen Ressourcen der Protestkultur andererseits. Dadurch entstehen medienspezifische Protestformen, werden mediale Institutionen als Akteure oder Gegner des Protests konstruiert und es kommt zu neuen medialen Kontakten zwischen Akteuren der Protestbewegung (auch in Form von kulturprogrammübergreifenden und transnationalen Protestnetzwerken). Diese kultursemiotischen Aspekte von visueller Protestkultur dienen als Grundlage der Betrachtung bildlicher Protestkommunikation auf Facebook während der tunesischen Revolution.
4 Bildkulturelle, medienkulturelle und protest kulturelle Aspekte digitaler Bilder – Arbeitshypothesen Untersucht werden im Folgenden die kultursemiotischen Aspekte und Dynamiken der widerständigen Bildkommunikation auf Facebook während der tunesischen Revolution. Basierend auf dem theoretischen Teil können folgende Hypothesen als Grundlage der Betrachtungen aufgestellt werden: 1. Zwischen 2010 und 2013 kam es in Tunesien zu zahlreichen Protesten, welche verbunden waren mit der Entstehung und Stabilisierung politischer Teilkulturen. Diese ideologisch ausgerichteten Teilkulturen waren jedoch keine statischen Einheiten, sie unterlagen wie alle Kulturprogramme steten Veränderungen, kamen einerseits in Koalition mit anderen soziopolitischen Bewegungen vor, wodurch eine kulturprogrammübergreifende Protestbewegung geschaffen wurde. Andererseits zerfielen sie in politische Subprogramme, deren Protestkommunikation zwar an medialer Reichweite und gesellschaftlicher Bedeutung verlor, jedoch die Diversität der Protestbewegungen erhöhte. 2. Im Rahmen dieser Protesthandlungen entwickelte sich eine spezifische Protestkultur im Social Network Facebook, welche in engen Austauschverhältnissen zu Protestformen auf anderen Internetplattformen (bspw. Twitter und Blogs),
Bildkulturelle, medienkulturelle und protestkulturelle Aspekte digitaler Bilder 87
massenmedialer Verbreitung der Proteste sowie Ausdrucksformen des Protests im physisch-öffentlichen Raum standen. 3. Die Protestkultur auf Facebook formierte sich durch die Aneignung und kreativen Umformung von visuellen Elementen anderer Semiosphären. Dabei handelte es sich um mediale Sinnangebote der Popkultur, semiotische Elemente der hegemonialen, politischen Kultur, generelle (historische) Elemente der tunesischen Semiosphäre, aber auch Zeichen der globalen Kultur des Protests sowie des Internets. Andererseits prägte die Kultur des Protests auf Facebook auch medienspezifische und kulturspezifische, neue bildliche Elemente aus. 4. Durch dieses Zeichenhandeln innerhalb der tunesischen Proteste konnten Bewegungskulturen a) sich nach Innen ihrer Einheitlichkeit versichern, gemeinsame Erzählungen schaffen, eine Geschichtlichkeit ihres Protests konstituieren, b) sich über das Internet und spezifisch über Facebook als Medium verbreiten, andere kulturelle Sphären einnehmen und deren Wirklichkeitswahrnehmungen transformieren; c) dadurch über symbolische Prozesse hinausgehend physisches (Protest-)Handeln beeinflussen und politische Hegemonie erlangen. 5. Die Revolution, welche zwischen Dezember 2010 und dem 14. Januar 2011 erfolgte, wird als die Bildung einer breiten, politische Teilkulturen und deren Proteste verbindende, Protestkultur innerhalb der tunesischen Semiosphäre angesehen, welche durch erfolgreiches Framing die Hegemonie der Politik und sozialen Strukturen des Regimes von Zine el-Abidine Ben Ali infrage stellte und eigene Ideologien als dominant etablieren konnte. U. a. infolge dessen waren der Herrscher sowie die Vertreter seines Regimes zum Rücktritt gezwungen. Auf Facebook verbreitete Bildzeichen trugen ihrerseits zur Ausprägung dieser gesellschaftliche Schichten und politische Ideologien übergreifenden Protestbewegung bei, indem sie – begünstigt durch die medialen Charakteristika des SNS Facebook – den Protest gegen das Regime als system- und damit kulturprogrammrelevante Dynamik darstellten. Sie waren damit ein maßgebliches Element der Konstruktion einer tunesischen Revolution. Weiterhin konnten durch die Bildzeichen abweichende Wirklichkeitsmodelle von einem semiotischen Außen über die Peripherie einer tunesischen Semiosphäre in deren Zentrum gebracht und dort als hegemoniale Lesart von Wirklichkeit etabliert werden. 6. Bildzeichen schufen im Rahmen der Protestbewegungen einerseits Verknüpfungspunkte mit dem physischen Raum, indem ihnen der Status als soziopolitisch relevante, indexikalische Zugriffs- und Repräsentationsweisen zugeschrieben wurde. Andererseits wurden sie im Rahmen von ideologischen Bewegungen als bedeutungsoffene Symbole verwendet, um abweichende Lesarten und neue Gesellschaftsutopien zu etablieren. 7. In dieser Wechselwirkung zwischen Index und Symbol wirkten Bildzeichen weiterhin auf den Verlauf der Proteste ein, wurden Anlass zu Demonstrationen
88 Die kulturelle Praxis digitaler Bilder in Social Networks und neuen Widerständen und ermöglichten in diesem Sinne auch die Differenzierung der Protestbewegung in ideologische Teilkulturprogramme.
5 Zur Methodik der Untersuchung 5.1 Medienkulturwissenschaft und Medienkultursemiotik Bei der Untersuchung von visueller Protestkultur wird die Semiotik als theoretische Annäherung und als analytische Methode gewählt. Indem aus semiotischer Sicht der Konnex zwischen Darstellung und Bedeutung fokussiert wird, eignen sich semiotische Methoden insbesondere für eine Betrachtung von Medienkultur (vgl. Krah 2013: 31). Semiotik wird damit als „angewandte Kulturwissenschaft“ (Krah 2013: 32) verstanden: Medien werden als Rahmen und Vermittlungsbedingung von Zeichen verstanden, die eine medienspezifische Form der kommunikativ-semiotischen Welterzeugung und deshalb kulturellen Konstitution ermöglichen (vgl. Krah 2013: 31 f.). Die Mediensemiotik wiederum trägt dann dazu bei, die generellen medialen Aspekte der Konstruktion, Transformation, Innovation und Destruktion kultureller Muster des Wirklichkeitsbezugs sowie ebenso die vorhandenen medienspezifischen Aspekte darin zu verstehen. Jedoch steht hier die mediale Vermittlung und Prägung im Vordergrund, während die Kultursemiotik die kulturellen Bedeutungsstrukturen und semiotischen Dynamiken fokussiert. Beide Herangehensweisen lassen durch ihre Schwerpunktsetzung außer Acht, dass zeichenhafte Kommunikation eine wechselseitige Beziehung mit dem jeweils kommunikationsermöglichenden Medium eingeht. Die Medialität des Kanals wirkt sich auf Erscheinungsform und semiotisch-kommunikative Funktion der Zeichen aus (Bonaccorsi 2013: 127), wobei zugleich die vorhandenen semiotischen Strukturen in Verbindung mit semiotischen Praktiken und Rezeptionsprozessen die Materialität, Funktionalität und besonders die kulturelle Wahrnehmung von Medien prägen (vgl. Bonaccorsi 2013: 136). Es wird deshalb vorgeschlagen, die folgenden Analysen als eine medienkultursemiotische Annäherung an die Online-Bildkultur des Protests in Tunesien zu verstehen. Dies ermöglicht es, eine doppelte Perspektive zu wahren: Erweitert man die Methoden der Mediensemiotik (vgl. Krah 2013) um die Dimension kultureller Codes, so ergibt sich eine Methode, mit der man einerseits über zeichenhafte Kommunikate in Medien einen Zugriff auf die Konfiguration kultureller Wirklichkeitskonstruktionen erhält. Andererseits eröffnen sich dadurch Wege, mediale Texte im Rahmen kultureller Spezifika zu verstehen und beispielsweise daran die Grenzen bzw. mediale Grenzüberschreitungen zwischen Kulturen analysieren zu können.
Zur Methodik der Untersuchung 89
Die Bildsemiotik wird im Folgenden als genuine Methode der Medienkultursemiotik vorgestellt. Die semiotische Analyse von Bildern ist spätestens seit der Einführung der ikonologischen Ebene der Bildanalyse durch Panofsky (1980) und der konnotativen Ebene in der Bildsemiotik Barthes (2010) durch eine kontextund kultursensible Vorgehensweise geprägt: Bilder werden nicht mehr verstanden als gegebene oder quasi-magische Re-Präsentationen, sondern als in ihrer Bedeutsamkeit kulturell beeinflusst (vgl. van Leeuwen 2010). Zudem werden Bilder in der Bildsemiotik auch als Realisationen auf einem bildlichen Trägermedium verstanden, ihnen wird durch das Medium eine spezifische Materialität verliehen, welche als „plastische Botschaft“ des Bildes (Joly 2008: 80) analysiert werden kann. Es wird vorgeschlagen, diese Verschränkung zwischen Medien- und Kultursemiotik anhand der Bildsemiotik aufrechtzuerhalten, um der Komplexität der bildlich-kommunikativen Akte in Facebook und insbesondere der darin enthaltenen Protestkultur gerecht zu werden. Dies eröffnet einen Zugang zur Bildkultur, welcher nicht nur deskriptiv oder quantitativ ist, sondern anhand der Bilder implizite Bedeutungsstrukturen einer Kultur aufdeckt: „Instead, semiology offers a very full box of analytical tools for taking an image apart and tracing how it works in relation to broader systems of meaning.“ (Rose 2016: 106) Ebendiese Herangehensweise erlaubt es, die Protestkultur in Tunesien im Rahmen einer Internetkultur und einer spezifischen Bildkultur zu untersuchen und darüber hinaus diese Verknüpfungen zwischen Protest (als kultureller Dynamik), Bildern (als bedeutungstragenden Einheiten) und dem Internet (als Träger und Ort der Materialisierung von zeichenhafter Kommunikation) in Relation zur dominanten (Bild-, Medien- oder politischen) Kultur Tunesiens zu verstehen.
5.2 Zur medienkultursemiotischen Interpretation von Bildzeichen auf Facebook Eine kultursemiotische Annäherung an Bildzeichen zeichnet sich dadurch aus, dass sie in erster Linie hermeneutisch-interpretativ verfährt.34 Damit einher geht eine Interpretationsfalle für Forschende, welche in einem anderen Kulturprogramm verankert sind und demnach die programminternen Zeichenkopplungen und die semiotischen Strukturen nicht kennen. Diese Problematik wird umso relevanter, da Bildzeichen hinsichtlich ihrer Relevanz als Kommunikat in einer
34 Zum Primat der Hermeneutik und Semantik in der Semiotik vgl. Mersch 2001.
90 Die kulturelle Praxis digitaler Bilder in Social Networks konkreten soziokulturellen Situation studiert werden. Damit verbunden sind zwei Dimensionen der interpretativen Verzerrung: Erstens führt die zeitliche Distanz dazu, dass der jeweilige Bedeutungskontext der Bildzeichen nur rekonstruiert werden kann, was die Gefahr der der Über- oder Unterbewertung mit sich bringt. Zweitens werden die Bildzeichen aus einer soziosemiotischen Perspektive analysiert, wonach sie in einem konkreten Kommunikationsakt konstituiert werden (vgl. Rose 2016: 137), welcher aus der bloßen Betrachtung der Zeichen nicht einfach abgeleitet werden kann. Diesem Umstand und insbesondere der kulturellen Distanz des Verfassers zu den untersuchten, visuellen Kommunikationsprozessen versucht die Untersuchung gerecht zu werden, indem vor allem durch die Analyse von multimodalen und medialen Bezügen das Bildzeichen in seinem Bedeutungsrahmen erweitert wird. So geraten neben dem in Facebook veröffentlichten Bild multimodale Begleitinformationen in den Vordergrund. Diese semiotischen Informationen werden in die Analyse der Bildzeichen einerseits als bedeutungsprägende Elemente miteinbezogen, andererseits bieten sie durch kollektive Bedeutungszuweisungen die Möglichkeit, die Bildinterpretationen an die kulturprogrammatischen Spezifika der tunesischen Protestkultur anzunähern. Neben dem Einbezug multimodaler Einflüsse wird kulturabhängigen Interpretationsfehlern und Fehlzuschreibungen vor allem durch eine Methodentriangulation (vgl. Treumann 2005: 211) entgegengewirkt, bei der zusätzlich zur kultursemiotischen Betrachtung der Bilder qualitative Interviews in die Untersuchung eingebracht werden und damit eine hermeneutisch-multimodale Methode mit ethnographischen Methoden (vgl. Spradley 2011) kombiniert wird. So wurden im Februar 2014 und im Januar 2015 mehrere qualitative Interviews durchgeführt, in denen insbesondere die Medienkultur während der und anschließend an die Revolution in Tunesien sowie die Bedeutungsebenen einzelner Bildgenres in Facebook reflektiert wurden. Die qualitative Befragung erfolgte als semidirektives Interview. Dieses an der Alltagskommunikation angelehnte Gespräch gab Gelegenheit, „den Relevanzsystemen der Befragten explikatorischen Freiraum zu gewähren“ (Keuneke 2005: 256). Entsprechend wurde ein Gesprächsleitfaden entwickelt, welcher ausgehend von einem breiten Blickwinkel konkrete Themenbereiche exploriert, um dann durch gezielte Nachfragen und Reflexionsanregungen die Ausführungen zu explizieren und die konkret anvisierten Bildbereiche vorzubereiten. Die Stärke dieser Herangehensweise zeigte sich darin, dass fast alle Interviews vertiefte Erkenntnisse und individuelle Ansichten zum Untersuchungsbereich ergaben. Dies wurde dadurch bestärkt, dass die Rolle der Befragten zwischen einem Mitglied des fokussierten Kulturprogramms einerseits und einem Experten mit einer kulturreflektorischen Kompetenz andererseits changierte. So
Zur Methodik der Untersuchung 91
waren die meisten als aktive Teilnehmer und Aktivisten innerhalb der Proteste sowie als Bildproduzenten und -replikatoren in Facebook tätig. Die Interviews sind somit hinsichtlich der Befragungstechnik als semidirektive, themenzentrierte Interviews und hinsichtlich der Rolle der Befragten als Experteninterviews (vgl. Hoffmann 2005) zu betrachten. Die qualitativen Interviews dienen damit als Korrektiv und Erweiterung der semiotischen Analysen.
5.3 Erhebung des Forschungsmaterials Die o.g. Methodentriangulation fußt deshalb auf zwei Datenressourcen, einem Korpus von 600 Bildzeichen sowie 18 qualitative Interviews, die mit 21 Personen durchgeführt wurden. Die Bildzeichen wurden in einem mehrschrittigen Verfahren identifiziert und selektiert. Zunächst wurden hervorstechende Bildkategorien in Vorgesprächen mit tunesischen Aktivisten ausgemacht. Dazu wurde erfragt, welche Bildkategorien aus der subjektiven Sicht der Gesprächspartner die Kommunikation individueller Nutzer (in Abgrenzung zu professionellen Medienangeboten auf Facebook wie den Seiten von politischen Parteien, Medienunternehmen etc.) auf Facebook zwischen 2010 und 2013 bestimmten und für die Breite der tunesischen Facebook-Nutzer relevant waren. Es wurden insgesamt sieben visuelle Thematiken angegeben: Abbildungen der Getöteten bei Demonstrationen, Repräsentationen von politischen Mordopfern, Abbildungen der tunesischen Flagge, bildliche Repräsentationen von Frauen, fotografische Wiedergabe und Selfies von Demonstrationen, politische Kampagnenmotive und -grafiken, politische Memes, Karikaturen und Comics. Die Recherche von für die Selektion der Bildzeichen passenden Nutzerprofilen und Gruppen basierte auf unterschiedlichen Kriterien. Neben dem Vorhandensein der o.g. Bildkategorien und einer zumindest vorübergehenden kommunikativen Reflexion des politischen Zeitgeschehens wurde zuerst versucht, die Heterogenität der Teilnehmer der Proteste hinsichtlich des sozialen Hintergrunds, der Altersgruppen und des Geschlechts in der Stichprobe wiederzugeben. Eine weitere Grundlage stellte das aktuelle Betätigungsfeld des Nutzers dar: Als Triebkräfte der tunesischen Proteste taten sich insbesondere Studierende, Blogger und Internetaktivisten, Journalisten, Oppositionspolitiker sowie Künstler hervor. So wurde ebenso gezielt nach Profilen dieser Berufsgruppen gesucht und darauf gründend ein Netzwerk aus Protestakteuren, mit Schwerpunkt auf der Hauptstadt Tunis, entwickelt. Während der Recherchen stellte sich heraus, dass es bzgl. der frühen Bildmotive, also der um Ende 2010 kommunizierten visuellen Zeichen, vonnöten war, auf Facebook-Seiten und Facebook-Gruppen und
92 Die kulturelle Praxis digitaler Bilder in Social Networks deren Bildkommunikation zurückzugreifen. Auf diese wurde der Untersuchungsrahmen ausgeweitet. Als Interviewpartner wiederum wurden primär Medienaktivisten, Blogger und Journalisten, Künstler (insbesondere Fotografen und Karikaturisten), Aktivisten von NGOs und soziopolitischen Vereinen sowie Angehörige oppositioneller Parteien und Bürgerbewegungen gewählt. Damit waren die Interviewten zumeist dem Mittelstand sowie der Altersgruppe von 20 bis 35 Jahren zugehörig und verfügten über einen akademischen Hintergrund. Den Interviewten wurden Fragen zur Rolle des Internets und konkret zur Rolle von Facebook während der tunesischen Revolution, zur Funktion der bildlichen Kommunikation auf Facebook zwischen 2010 und 2013 sowie zur Bedeutung einzelner Bildzeichenkategorien gestellt.
5.4 Zur Auswertung und Interpretation der Daten Zum Zweck der semiotischen Analyse der Bildzeichen wurde eine Matrix von Kategorisierungskriterien erstellt. Dazu gehören a) bildinhärente Kriterien; b) kontextuelle Kriterien der Bildproduktion; c) die Referentialität des Bildes; d) multimodale Elemente innerhalb des erweiterten Bildrahmens; sowie e) Interaktion mit weiteren multimodalen Elementen innerhalb der medialen Präsentation. Zu a): Die Bildzeichen lassen sich zunächst gemäß inhärenten Kriterien kategorisieren. Dazu gehören insbesondere die dominanten, dargestellten Bildinhalte (sofern identifizierbar) als semiotische Motive innerhalb des Bildes, die mediale Materialität des Bildes (Zeichnungen, computergenerierte Grafiken, Fotografien, aus Texten generierte Bilder und Verbundbilder wie Collagen), sowie der bildliche Stil (Perspektive, Bildkomposition, Farblichkeit, Textur, vgl. Joly 2008: 90). Zu b): Weiterhin sind vor allem in semiotischer Hinsicht kontextuelle Faktoren der Bildproduktion zu berücksichtigen. Diese umfassen primär den Zeitpunkt der Veröffentlichung (dieser ist nicht immer mit dem Zeitpunkt der Bildproduktion gleichzusetzen) sowie den im Bild erkennbaren bzw. durch (hyper-)textuelle Informationen konkretisierten Ort der Bilderstellung. Dadurch erlauben sie den Rückschluss auf den soziokulturellen Kontext des Bildes. Zu c): Unter der Referentialität des Bildes ist der durch das Bild hergestellte Bezug zur außerbildlichen Realität zu verstehen. Dieser umfasst zunächst einen zeitlichen und räumlichen Bezug. So kann das Bild eine Referenz zu einem vergangenen Ereignis, zu einem Ereignis der Gegenwart oder zu einem Ereignis der Zukunft (in Abgleich mit dem Veröffentlichungs- bzw. Produktionsmoment) aufweisen und einen lokalen Bezug (mit Abstufungen zwischen dem lokalen Akti-
Zur Methodik der Untersuchung 93
onsradius des Individuums, der erweiterten Region oder einem Nationalraum) oder einen globalen Bezug (andere Nationen, globale Dynamiken) beinhalten. Des Weiteren gerät die objektive Bezugnahme in den Fokus, wonach das Bild einerseits tatsächlich lebensweltliche Ereignisse abbilden, dazu einen aktiven Bezug unter visueller Erweiterung des lebensweltlichen Objekts vornehmen oder andererseits fiktionale Bildlichkeiten, die keine Referenz zu lebensweltlichen Ereignissen herstellen, aufweisen kann. Zu d): Basierend auf der Idee eines erweiterten Bildrahmens werden die multimodalen Bezüge zum Bild innerhalb des Rahmens relevant. Es treten multimodale Bezugnahmen auf das Bild auf, welche zur Bildlichkeit dazugehören können (die Verbreitung des Bildes durch Teilen, durch Gefällt-mir-Angaben, durch Verlinkungen anderer Netzwerknutzer, sowie Kommentare als extern semantische Bezugnahmen). Einen besonderen Aspekt stellen hierbei die textuellen Erweiterungen des Bildes bei dessen Veröffentlichung dar: Bildbeschreibungen sowie in das Bild eingeschriebene Titel tragen in erheblicher Weise zur Reduktion von visueller Polysemie und zur Herausschärfung einer spezifischen Lesart des Bildes bei. Neben dieser Konkretisierung der Bildinterpretation kann die textuelle Beschreibung allerdings auch im Widerspruch zum Bildinhalt stehen oder keinen direkten Bezug zum Bildinhalt herstellen. Zu e): Aufgrund seiner Verortung innerhalb des SNS interagiert das Bild weiterhin mit zusätzlichen, multimodalen Informationen, welche sich aus der der medialen Darstellungsform ergeben. Hierbei sind erstens die vier möglichen Verortungen des Bildes innerhalb Facebooks zu nennen (Profilbild, Titelbild, Chronikfoto sowie in Bildalben veröffentlichte Bilder), welche sich auf die Bildrezeption auswirken, indem sie die funktionale Dimension des Bildes innerhalb des Nutzerprofils bestimmen. Des Weiteren determinieren sie die mögliche Interaktion des Bildes mit anderen multimodalen Elementen. Beispielsweise kommt es im Fall des Titelbildes zu einer weitgehenden Fusion mit dem Profilbild des Nutzerprofils, da dieses in der linken oberen Profilseite über dem Titelbild liegt. Chronikbilder hingegen reihen sich ein in den Informationsfluss auf dem SNS und stehen demnach in einem Bedeutungszusammenhang mit anderen, multimodalen Informationseinheiten (geteilte Webseiten, selbstverfasste schriftliche Texte, weitere im Informationsfeed veröffentlichte Bilder). Diese Kriterien tragen zwar zur Bildung von Bildkategorien bei, die prinzipiell der Strukturierung des Bildkorpus und der differenzierten Betrachtung der Bildzeichen dienen. Tatsächlich können sie aber keine absolut trennscharfe Zuordnung von Bildkategorien bieten, da keine eindeutigen Subkategorien innerhalb der Kriterien gebildet werden können, ohne die Kommunikationsdynamiken zu ignorieren. Die hier Kriterien ermöglichen es, die voridentifizierten Bildkategorien genauer herauszuarbeiten und geben darüber hinaus Hinsichten
94 Die kulturelle Praxis digitaler Bilder in Social Networks für eine gründliche Analyse der Bildzeichen vor. Ziel dieser Ausschärfung ist es, die grundsätzliche Fragestellung nach den Formen bzw. dem Modus visuell- semiotischer Praktiken als Element der tunesischen Protestkultur in Facebook detaillierter und genauer beantworten zu können. In dieser Hinsicht stellen sich die Kriterien der Abgrenzung von Bildern insbesondere als Betrachtungshinsichten heraus. Darauf basierend werden Bildanalysen vorgenommen, in denen die kulturelle Relevanz des Bildzeichenhandelns hinsichtlich der Protestkultur konkretisiert wird. Es stehen dabei unterschiedliche Interaktionsebenen des Bildes im Vordergrund. Dazu gehören folgende Aspekte: a) Die Repräsentationsebene, also die narrative Struktur zwischen den Einzelmotiven des Bildes (vgl. Jewitt und Oyama 2010: 141–148); b) die multimodale Ebene (Inwiefern tragen umgebende multimodale Elemente des medialen Kontextes zur Ausbildung einer Medienkultur des Protests bei, und welche Spezifizität übernehmen sie hinsichtlich der soziokulturellen Funktion der Bildzeichen?); c) die intermediale Ebene (Inwiefern werden bestehende visuelle Elemente des Internets bzw. anderer Medien aufgegriffen und verändert?); d) die referentielle Ebene (Welche Rolle spielt die Anbindung des Bildinhaltes an die kulturelle Lebenswelt der Protestakteure? Welche Beziehungen entstehen aufgrund der bildlichen Referenz zwischen Online- und Offline-Protest?); e) die sozial-kommunikative Ebene (Welche sozialen Funktionen nehmen die Bildzeichen innerhalb der Facebook-Kommunikation von Protest ein und inwiefern wird dadurch die bildliche Protestkultur beeinflusst? Inwiefern werden durch die Bildzeichen eine Protesthaltung stimuliert sowie Kollektive des Protests angeregt?); f) die (protest-)kulturelle Ebene (Inwiefern wird durch die Bildzeichen die Protestkultur ausgerichtet, affirmiert, transformiert?); g) die Ebene des Kontakts mit anderen Kulturprogrammen (Inwiefern tragen die visuellen Zeichen zu einer Ausweitung der Protestkultur auf andere Kulturprogramme bei? Inwieweit werden bestehende Codestrukturen der tunesischen Gesellschaft hinterfragt und ästhetisch-semiotisch transformiert? Welche Rolle spielt Framing als gesamtgesellschaftliche Blickverschiebung durch visuelle Kommunikation? Wie tragen Bildzeichen zu einer klaren Be- und Abgrenzung des Protests von anderen kulturellen und soziopolitischen Ideologien bei? Und inwiefern kann Protestkultur über Bildzeichen durch andere Kulturprogramme erfolgen?).
Zur Methodik der Untersuchung 95
5.5 Forschungsethik Eine Untersuchung der alltäglichen Bildkultur des Protests in Facebook muss in besonderer Weise auf ethische Belange achten, da in diesem Medium auf bisher unbekannte Art eine potentiell hohe Reichweite und Persistenz der Daten (vgl. Boyd 2011: 47) mit einer Popularisierung individueller öffentlicher Kommunikation zusammentrifft. Infolgedessen sind in den letzten Jahren zahlreiche Bedenken, Skandale, Polemiken und juristische Neuerungen innerhalb des Spannungsfeldes zwischen Privatheit und Öffentlichkeit in Social Network Sites entstanden (vgl. Latzko-Toth und Proulx 2013: 41 f.). In ebendiesem Spannungsfeld bewegen sich die ethischen Bedenken einer kultursemiotischen Untersuchung individuellen Bildhandelns in Social Network Sites. Trotz der scheinbaren Öffentlichkeit individueller Kommunikation kann diese nicht uneingeschränkt für wissenschaftliche Analysen genutzt werden (vgl. Rose 2016: 363). Sowohl für die Untersuchung der online veröffentlichten Bilder, als auch für die Nutzung der Interview-Aussagen wurde deshalb eine schriftliche Einverständniserklärung der Nutzer eingeholt. In dem zugrundeliegenden Informationstext wurde über die wissenschaftlichen Ziele, das genaue Vorgehen der Datensammlung, -auswertung und -interpretation aufgeklärt. Ebenso wurde mit den Teilnehmern individuell geklärt, in welcher Form die von ihnen kommunizierten Bildzeichen publiziert werden können. Dadurch konnte vermieden werden, dass die Teilnehmer die Tragweite ihrer Zustimmung nicht erkennen (vgl. Clark 2012: 20). In einigen Fällen werden ebenso Bildzeichen aufgeführt, die in semi-privater Hinsicht, also auf das individuelle Kontaktnetzwerk des Nutzers beschränkt, kommuniziert wurden. Diese Bilder wurden von den Teilnehmern selbst zur Untersuchung vorgeschlagen, was in der jeweiligen Einverständniserklärung festgehalten wurde (vgl. Latzko-Toth und Proulx 2013: 43). Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass das Einverständnis explizit von den jeweiligen Kommunikatoren der Bilder (sowie von den Interviewteilnehmern) eingeholt wurde. Sie umfasst demnach nicht die in den Bildern dargestellten Personen. Aus diesem Grund wurde im Rahmen der Fragestellung auch weitestgehend auf die Wahrung der Persönlichkeitsrechte der dargestellten Personen geachtet. Die ethische Durchführung von Forschungen gebietet die Wahrung der Anonymität und Vertraulichkeit der Daten. Dies impliziert, dass Individuen im visuellen Untersuchungsmaterial nicht identifiziert werden können (vgl. Rose 2016: 358). Jedoch weist Clark darauf hin, dass die Erforschung visueller Kultur oft die explizite und nichtanonymisierte Darstellung von Individuen erfordert, da solche kulturellen Artefakte besonders auf die Repräsentation von Aspekten der Identität abzielen (vgl. Clark 2012: 21). Da ebendiese Praktiken expliziter Gegenstand der Untersuchung sind, ist es auch bei vorliegender Studie nicht zielführend, die
96 Die kulturelle Praxis digitaler Bilder in Social Networks repräsentierten Individuen unkenntlich zu machen. Entsprechend wurde die Wahrung der individuellen Sichtbarkeit in die Einverständniserklärung der Teilnehmer aufgenommen. Darin stimmten alle Teilnehmer einer Abbildung zu. Problematisch bleibt allerdings der Umgang mit eventuellen anderen im Bild gezeigten Personen. Hier muss im Einzelfall entschieden werden, ob die Erkennbarkeit des Gesichts und weiterer Identifikationsmerkmale mit dem Fokus der Untersuchung gerechtfertigt werden kann. Bei größeren Menschenmengen im Bild wird von dieser Reflexion abgesehen. Gegen eine Anonymisierung der Gesichter weiterer, nicht näher identifizierter Menschen spricht allerdings, dass vor allem bei solchen Gemeinschaftsbildern die Gesichtsausdrücke, individuellen Posen und die gezeigten Gesten relevant sind und die Analyse der veröffentlichten Bilder unterstützen. Statt also eine Anonymisierung im Bild durch Filter und Bildbearbeitung vorzunehmen und damit die Bildlichkeit zu beeinflussen, stellt die weitgehende Abtrennung des Bildes von anderen persönlichen Daten, wie Namen, Alter, Wohnort, politischer Zugehörigkeit etc. eine Alternative zwecks Wahrung der Persönlichkeitsrechte dar. Während die Teilnehmer, deren Fotografien und Bilder genutzt werden, fast alle einer expliziten Namensnennung zugestimmt haben (auch hinsichtlich der in Interviews gemachten Angaben), wurden in Einzelfällen und in Abstimmung mit den Teilnehmern nur Vornamen oder nur Berufsbezeichnungen genutzt, um die Bildautoren zwar zu benennen, ihre bildliche Repräsentation jedoch von weiteren Daten zu trennen. Ebenso werden die Daten anderer Nutzer, die im erweiterten Bildrahmen, also dem Bildfeld innerhalb des SNS-Interface beispielsweise durch Kommentare oder Verlinkungen auftauchen, durch visuelle Filter anonymisiert. Eine Ausnahme bilden dabei Verlinkungen prominenter Nutzer. Noch problematischer ist der Bereich des bildlichen Urheberrechts. Autorisiert wurde die Veröffentlichung der Bilder durch die Nutzer, auf deren Profilen die Bilder auftauchten. Jedoch sind diese nicht immer gleichzusetzen mit den Urhebern bzw. Produzenten des Bildes. Der Verfasser beruft sich hier einerseits auf das wissenschaftliche Interesse der Analysen und führt die Bilder als Zitate an. Es wurden zudem Anstrengungen unternommen, um die Urheber der Bilder zu identifizieren. Erschwert wird die Autorisierung allerdings im Fall von Bildzeichen, deren Urheber nicht mehr ausfindig zu machen sind. So ist bei digitalen Bildern die Definition von Autorenschaft, Original vs. Replik und Authentizität bereits unklar (vgl. Rose 2016: 368). Zudem werden in SNS Bilder häufig auf privaten Profilen und besonders in Facebook-Gruppen sowie -Seiten weiterverbreitet, wobei nach mehreren solcher Vorgänge unklar ist, wer der genaue Urheber und wo die originäre Quelle des Bildes zu verorten ist.
Zur Methodik der Untersuchung 97
Es ist Teil der wissenschaftlichen Redlichkeit der Untersuchung, dass lediglich Bilder veröffentlicht werden, die im engeren Sinne relevant sind für die Forschungsergebnisse. Dies schließt auch aus, Bilder zu zeigen, bei denen die Menschen in herabwürdigender, misslicher oder diskriminierender Weise gezeigt werden, es sei denn, diese Darstellungen sind für das Erkenntnisinteresse der Studie relevant.
Teil III: Einblicke und Anlässe des Protests – Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution
1 Historische Eckpunkte des politischen Protests in Tunesien In den folgenden Untersuchungen wird den widerständigen und politischen Bildzeichenpraktiken auf Facebook während der Revolution begegnet, um davon ausgehend Rückschlüsse auf das kultursemiotische Potential der visuellen Kommunikation auf Facebook generell und auf konkrete Realisationen während der tunesischen Revolution zu eröffnen. Die Untersuchungen konzentrieren sich auf kollektiven bildlichen Protest, Verhandlungen des Nationalen, auf bildliche Strategien der Authentifizierung und Inszenierung von Protest, auf die Ausbildung von mythischen Heldenfiguren sowie die Zerstörung von hegemonialen Mythen und, zuletzt, auf die bildliche Dekonstruktion und Innovationen der semiotischen Strukturen innerhalb der Protestkultur. Als Basis für diese Analyse dient eine Kurzdarstellung der Entstehung und Entwicklung einer tunesischen Protestkultur bis zum Jahr 2013. Die Entstehung einer tunesischen Protestkultur wird im Folgenden verstanden als Ergebnis der Wechselwirkungen politischer Entwicklungen, soziopolitisch relevanter Ereignisse sowie kollektiv-widerständiger Handlungen. In den daran anschließenden Kapiteln wird die bildsemiotische Dimension dieser Wechselwirkungen verdeutlicht werden. Zudem gibt diese historische Rekonstruktion Anhaltspunkte, um den Kontext der jeweils veröffentlichten Bildzeichen in eine pragmatisch-semiotische Betrachtung miteinbeziehen zu können.
1.1 Die Anfänge des Internetaktivismus während des Regimes Ben Ali: 1998–2005 Zine el-Abidine Ben Ali diente als Premierminister unter dem Gründungsvater des modernen Tunesiens Habib Bourguiba. Er konnte im Jahr 1987 die Regierungsfähigkeit des altersschwachen, autokratischen Präsidenten Bourguiba anzweifeln und sich als neuen Präsidenten einsetzen. Zunächst galt Ben Ali als Hoffnungsfigur und Erneuerer innerhalb der tunesischen Bevölkerung. Obwohl er insbesondere in der Anfangszeit seiner Präsidentschaft mehrere Projekte einer politischen Neuorientierung begann (vor allem in der Internationalisierung und Liberalisierung der hauptsächlich auf lokale Märkte ausgerichteten und sozialistisch strukturierten Wirtschaft und Industrie), entwickelte sich auch Ben Alis Herrschaft zu einem zunehmend autokratischen und vor allem repressiven System. https://doi.org/10.1515/9783110643985-003
102 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution Als autokratisches Regime lässt sich die Herrschaft Ben Alis insofern kennzeichnen, als die Person Zine el-Abidine Ben Alis im Fokus der öffentlich-politischen Kommunikation, an der Basis aller politischen Entscheidungen sowie als mythische Figur in den Narrativen um die Nation stand. Es entwickelte sich ein Herrscherkult, der hinsichtlich seiner symbolischen Ausgestaltung, seiner Omnipräsenz in öffentlichen Diskursen und seiner Unbedingtheit der kultischen Politik historischer Diktaturen ähnelte. Ein komplexes Symbolsystem prägte die hegemoniale Struktur der Ben-Ali-Herrschaft: Dieses fußte insbesondere auf dominanten Farben (Mauve), der Präsenz des Herrscherbildes im öffentlichen und medialen Raum, der kultischen Nutzung symbolischer Zahlen („7“ für den Gründungsmythos des neuen Regimes am 7. November 1987) und zahlreiche historische Referenzen bei Feiertagen (der 7. November als Nationalfeiertag). Die öffentliche Kommunikation des Regimes diente neben einer Verherrlichung der Person Ben Alis und seines politischen Programms insbesondere auch der Verschleierung problematischer Ausprägungen innerhalb der Realpolitik des Landes. Nach Honwana (2013) lassen sich u.a. drei kritische Bereiche feststellen, in denen das Regime von den Erwartungen der Bürger abwich:1 Die Herrschaft war zunächst gekennzeichnet von a) einer wachsenden ökonomischen Ungleichheit zwischen den Regionen und den gesellschaftlichen Schichten. Die Wirtschaftsreformen unter Ben Ali führten zwar das Land Ende der 80er Jahre aus der ökonomischen Krise heraus in einen wirtschaftlichen Aufschwung. Jedoch wurden aufgrund der Liberalisierung des Marktes nun Güter, Infrastrukturen, Unternehmensansiedlungen und damit verbundene Entwicklungspotentiale sehr ungleich zwischen den Regionen verteilt. Es kam zu einer Marginalisierung Zentral- und Westtunesiens sowie der Wüstenregionen, während sich Industrie- und Landwirtschaftsförderung sowie die Entwicklung der touristischen Infrastruktur im Norden und den östlichen Küstenregionen konzentrierten. Diese Ungleichheit drückte sich auch in der regionalen Zunahme von Armut aus. Auf diese Dynamik reagierte die Regierung u.a. mit einer Reform des Bildungssystems, welches mehr Jugendlichen den Zugang zu höherer Bildung in Universitäten ermöglichte. Diese Maßnahme produzierte eine gut ausgebildete Generation tunesischer Akademiker, welche jedoch aufgrund des geringen Angebots äquivalenter Stellen auf dem Arbeitsmarkt weitgehend arbeitslos blieb (vgl. Honwana 2013: 21–27).
1 Zwei weitere, hier nicht besprochene, kritische Entwicklungen innerhalb der Politik Ben Alis waren die mangelnde Fortführung und Weiterentwicklung der durch die Bourguiba-Regierung etablierten Frauenrechte und der dezidierte Antiislamismus sowie die Verdrängung von Fragen religiöser Identität in das Private.
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Die tunesische Mittelschicht war folglich geprägt von einer Kluft zwischen den Erwartungen der jungen, durch Globalisierung und Mediatisierung geprägten Generation und deren wirtschaftlicher Realität. Zu dieser Dissonanz kam b) die zunehmend sichtbare Korruption und Vetternwirtschaft innerhalb des tunesischen Systems. In den 90er Jahren bildete sich eine wirtschaftliche und politische Elite heraus, die sich um die Familie des Präsidenten und vor allem die Geschwister der Gattin Ben Alis konzentrierte. Die Stiefkinder und Schwäger des Präsidenten bekleideten Führungspositionen innerhalb semistaatlicher Unternehmen, der Medien- und Transportwirtschaft sowie staatlicher Institutionen. Die damit einhergehende Korruption war zudem in alltagsweltlichen Angelegenheiten der Mittelschicht präsent (vgl. Honwana 2013: 29–32). Die Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation der meisten Tunesier und die Zunahme von Korruption wurden c) begleitet von einem staatlichen Repressionsapparat und der massiven Beschränkung bürgerlicher Freiheiten. So stand die judikative Gewalt weitestgehend unter dem Einfluss des präsidialen Systems, Verhaftungen und juristische Sanktionen wurden willkürlich ausgeübt und Folter wurde in den Gefängnissen vor allem gegenüber politischen Gefangenen häufig eingesetzt (vgl. Honwana 2013: 32 f.). Zugleich verfolgte das Regime eine Linie der strikten Depolitisierung der Bevölkerung. Dazu gehörte das Verbot zahlreicher Parteien sowie die Unterbindung individueller und kollektiver Formen politischen Handelns, beispielsweise Demonstrationen, die Bildung politischer Vereine und Gemeinschaften, die öffentliche Äußerung von Dissens und politischer Kritik (vgl. Honwana 2013: 33). Die staatliche Repression (abweichender) politischer Aktivitäten beschränkte sich nicht auf physische Proteste, sondern erstreckte sich besonders auf die öffentliche Kommunikation der Massenmedien. So konnte zwar der Eindruck entstehen, dass die audiovisuellen Massenmedien – mit zwei privaten Fernsehsendern und vier privaten Radiosendern neben den öffentlich-rechtlichen Stationen – sowie die Presse mit 265 Zeitungen und Magazinen relativ vielfältig waren. Jedoch unterstanden auch die privaten Sender und Presseerzeugnisse zumeist der direkten Kontrolle des Regimes, da Sendefrequenzen zumeist an Mitglieder der Präsidentenfamilie oder des engeren Machtkreises vergeben und zudem die Vergabekriterien nicht klar benannt wurden. Weiterhin existierten lediglich drei oppositionelle Zeitungen (vgl. Barhoumi 2012: 173–177; Abid et al. 2011: 220–222). Daraus resultierte eine einheitliche Berichterstattung. Für eine breitere Medieninformation griffen die Tunesier ab Mitte der 1990er Jahre vor allem auf internationale Informationskanäle zurück. Eine prominente Rolle spielte hierbei der katarische Sender Al-Jazeera, welcher neben kritischen Berichten auch die tunesische (politische) Diaspora zu Wort kommen ließ und damit entscheidend zur politischen Meinungsbildung und Reflexion des tunesischen Volkes beitrug (vgl. Abid
104 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution et al. 2011: 223). Selten unternahmen Journalisten innerhalb der tunesischen Medienlandschaft eine kritische Berichterstattung. Solche alternativen Informationen und Stellungnahmen wurden durch Bedrohungen, Erpressung, Entlassung oder Inhaftierung sowie Folter schnell unterbunden (vgl. Honwana 2013: 34). Erstaunlicherweise förderte die Regierung entgegen dem Trend der Regulierung aller Massenmedien ab Ende der 1990er Jahre intensiv die Einführung des Internets, welches ein neues, durch seine Dezentralität, Kontrollfreiheit und seine globalen Strukturen von den Massenmedien abweichendes Medium darstellte. Mithilfe massiver Investitionen wurde eine entsprechende Infrastruktur aufgebaut und das Internet in Schulen, Administration sowie Unternehmen eingeführt (vgl. Pries 2015). Damit gehörte Tunesien zu den weltweit 20 ersten Nationen, die sich derart umfassend mit dem Internet verbanden (vgl. Barhoumi 2012: 175 f.). Mit den gravierenden Konsequenzen dieser medialen Öffnung hatte die Regierung offenbar nicht gerechnet. Indem das Internet innerhalb des Landes bereits Anfang 2000 stark verfügbar war, entwickelte es sich zu einem prominenten Zugang zu alternativen und kritischen Sichtweisen auf das autokratische System und seine Politik. Es entstanden früh Webseiten, Foren und Informationsportale, die von Tunesiern innerhalb des Landes und von Angehörigen der tunesischen Diaspora im Ausland unterhalten und mit Informationen gespeist wurden. Dabei taten sich insbesondere drei Akteure hervor. Als Pionier des tunesischen Internetaktivismus kann die Gruppe Takriz (arabisch für ‚Ärger‘ und ‚Überdruss‘) gelten. Im Jahr 1998 wurde zunächst eine Webseite von zwei tunesischen Studenten als – nach eigenen Aussagen – „apolitisches“ Projekt (Mihoub 2011: 19) gegründet, um dem politischen Ärger der jungen Generation Ausdruck zu verleihen. Ausgehend von einer Email-Liste entwickelte sich schnell eine anonyme Masse von Mitstreitern, die aktiv an dem dann produzierten Webzine 2 mitarbeiteten und sich in lokalen Gruppen organisierten. Das Projekt verstand sich als populäres Portal, die Mitglieder wurden unter gewaltbereiten Fußballfans, Gymnasiasten und Studierenden angeworben (vgl. Mihoub 2011: 19). Die Zugehörigkeit der Mitglieder zur unteren Mittelschicht wirkte sich ebenso auf den Stil der Kritik aus. Takriz war dafür bekannt, beleidigende, grobschlächtige und polemische Texte, Kommentare und einfache Karikaturen zu veröffentlichen. Dies drückte sich nicht zuletzt im Namen der Gruppe aus, der für Gewaltbereitschaft mit gehöriger Grobheit steht (vgl. Mihoub 2011: 19). Damit wurden insbesondere die populären Schichten der tunesischen Bevölke-
2 Eine Webseite mit regelmäßig aktualisierten Inhalten, an denen mehrere „Redakteure“ mitwirken können. Ein Archiv der Ausgaben des Jahres 2000 lässt sich online finden: www.takriz. org/index.html (Stand: 24.04.2018).
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rung adressiert, die durch die Ironie, Simplizität der Wortwahl und bilderreiche Sprache politisiert und radikalisiert werden sollten. Der Fokus der politischen Kritik verschob sich hierbei: Während zu Beginn des Netzwerks gesellschaftliche Missstände wie Korruption, Vetternwirtschaft, Opportunismus und vor allem soziale Tabus wie Sexualität und Religion im Vordergrund standen, richtete sich die Kritik zwischen 2000 und 2002 gegen das autoritäre und autokratische System Ben Alis, gegen die Inhaftierung, Beschneidung der Meinungsfreiheit und Folter (vgl. Mihoub 2011: 19; vgl. Kuebler 2011: 5). Anschließend an das Vorbild des aktivistischen Kollektivs Takriz gründete der Internetaktivist und Journalist Zouhair Yahyaoui das Internetforum TUNeZINE,3 auf dem er unter dem Pseudonym Ettounsi neben zahlreichen anderen Nutzern selbst systemkritische und satirische Beiträge veröffentlichte. Im Vordergrund seiner Kritik standen die Medienzensur sowie der mangelnde Schutz der Menschenrechte in Tunesien. Während die Veröffentlichungen von Takriz selten konkreten Akteuren zugewiesen werden konnten, war eine Identifikation von Yahyaoui, der die Webseite von einem Internetcafé in Ben Arous aus unterhielt, möglich, was zu einer späteren Verhaftung führte (vgl. Abid et al. 2011: 224). Eng verbunden mit dem internetaktivistischen Engagement von Yahyaoui gründete der in Paris lebende Tunesier Hasni 2002 die Seite Reveil Tunisien. Diese baute auf der Idee eines kritischen Webportals auf, erweiterte es allerdings zu einem Webmagazin, an dem mehrere, oft ausländische Medienaktivisten mitwirkten (Lecomte 2009: 203). Die Beispiele zeigen, dass sich in der Anfangszeit der Internetnutzung ein hauptsächlich im Ausland angesiedeltes Kollektiv kritischer Medienaktivisten herausbildete, welche systemkritische Informationen und Gegenpositionen über das neue Medium veröffentlichten. Zu diesem Zeitpunkt wurde lediglich die Basis einer kritischen Internetkultur geschaffen. Der Kreis der aktiven Kritiker beschränkte sich auf wenige Personen. Es ist davon auszugehen, dass auch die Rezipientengruppe relativ geschlossen war.4 Die Entwicklung des Internets zu einem prominenten Medium für kontraideologische Information und politischen Dissens blieb dem Regime Ben Alis selbstverständlich nicht verborgen. Um dieser Informationsfreiheit entgegenzuwirken wurde bereits im März 1997 ein Dekret verabschiedet, welches 1. die Zulassungsvergabe an Internetprovider regelt; diese 2. verpflichtet, monatlich
3 Das Forum ist nach wie vor online einsehbar unter www.tunezine.com (Stand: 24.04.2018). 4 So konnte die staatliche Zensur der Webseiten nur von Experten umgangen werden, die sich mit der Nutzung anderer Protokolle oder der IP-Verschlüsselung über die TOR-Technologie auskannten.
106 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution eine nominelle Liste der Nutzer einzureichen; und 3. die Provider zu einer konstanten Kontrolle der verknüpften Server verpflichtet, um „ne pas laisser perdurer des informations contraires à l’ordre et aux bonnes mœurs.“ (Artikel 9 des Décret du 14 mars 1997 relatif aux services de la valeur ajoutée (SVA) des télécommunications, zitiert in: Barhoumi 2012: 177). Die gesetzliche Verankerung ermöglichte eine weitgehende Überwachung der Internetaktivitäten des Volkes. Abgesichert wurde diese umfassende Überwachung durch die Agence Tunisienne de l’Internet (ATI). Der Passus über „Informationen, die gegen die Ordnung und Sitten verstoßen“ blieb so vage, dass dadurch insbesondere sämtliche Aktivitäten, die sich gegen das Regime richteten, juristisch verfolgt und durch Sanktionen unterbunden werden konnten. Neben der erzwungenen Kontrolle durch die Provider wurde ein komplexer Apparat von Technikern und Informatikern geschaffen, welcher mithilfe von Filtersoftware verdächtige URLs sowie Inhalte identifizieren konnte (vgl. Barhoumi 2012: 178). Dabei nutzten die Kontrolleure neben einfachen Filtern auch das elaborierte System der Deep Package Inspection, mit deren Hilfe Webinhalte nach kritischen Schlagworten und Inhalten durchsucht werden konnten (vgl. Mihoub 2011: 18). Die so identifizierten Webseiten wurden blockiert (und damit für tunesische Nutzer nicht mehr zugänglich gemacht) oder sogar gänzlich gelöscht. Zudem wurde das HTTPS-Protokoll, welches es ermöglichte, zensierte Webseiten dennoch aufzurufen, innerhalb Tunesiens gesperrt. Als Konsequenz der staatlichen Repression wurden die internetaktivistischen Webseiten und Kommunikationen der ersten Generation nahezu vollständig unterbunden. Das Portal von Takriz wurde nach mehreren Zensurmaßnahmen im Jahr 2002 endgültig gelöscht. Hasnis Reveiltunisien.com war ausgehend von tunesischen Internetprovidern kaum mehr zugänglich. Das wohl schwerste Schicksal traf den Aktivisten Zouahir Yahyaoui, welcher ca. ein Jahr nach seiner Verhaftung im Jahr 2002 entlassen wurde. Er starb am 13. März 2005 an einem Herzinfarkt, vermutlich infolge der widrigen Haftbedingungen und seines Hungerstreiks (vgl. Barhoumi 2012: 178).
1.2 Die Entstehung einer Infrastruktur des Protests: 2005–2010 Mit der ersten Generation von tunesischen Internetaktivisten wurde insbesondere das Bewusstsein darüber geschärft, dass das Internet über ein erhebliches dezentralisiertes Potential für Protest verfügt. Dieses äußert sich sowohl auf Ebene der politischen Außenkommunikation im Sinne von Kampagnenkommunikation als
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auch in der Binnenkommunikation zur Abstimmung, Information und Selbstvergewisserung der Gruppenmitglieder (vgl. Baringhorst 2014: 94 f.). Durch die Mitte der 2000er Jahre in der tunesischen Gesellschaft stetig zunehmende Internetnutzung wurde zudem die staatliche Regulierung des Mediums immer sichtbarer. So wurden gesperrte Internetseiten durch den Fehlercode 404 offensichtlich.5 Entsprechend etablierte sich ab ca. 2005 in den Alltagsgesprächen der Tunesier die humoristisch-ironische Figur des Ammar 404, welcher als Sinnbild des banalen, bürokratischen Zensors fungierte (vgl. Lecomte 2009: 223). Als Ergebnis dieser Bewusstseinssteigerung bei den tunesischen Internetnutzern und durch die allgemeine Verbreitung des Internets in vielen Bevölkerungsschichten entstanden mehrere neue Formate regimekritischer Webseiten. Insbesondere das 2004 unter Mitwirkung der Aktivisten von Reveil Tunisien und Takriz gegründete Medienportal Nawaat6 (‚der Knoten‘) kennzeichnet eine neue Dimension gegenpolitischer Internetnutzung. Hier stand nicht die Diffamation oder Kritik des Regimes im Vordergrund, sondern eine alternative Berichterstattung als Korrektiv zur Informationspolitik der staatlich regulierten Massenmedien. Ziel dessen war die ideologische Neurahmung politisch relevanter Ereignisse im Land, welche neu erzählt oder über Bilder und Videos erstmals sichtbar gemacht werden sollten. Damit verbindet Nawaat Bürgerjournalismus (vgl. Schönhagen und Kopp 2007) mit einer Perspektivverschiebung, wie sie alternativen Medienportalen eigen ist (vgl. Lievrouw 2011). Das Portal kann als frühes Beispiel des medienbasierten Empowerments gesellschaftlicher Gruppen in Nordafrika bewertet werden, da es, anderen aktivistischen Medien ähnlich, ein Ausdrucksmittel für „socially marginalised or dissenting groups, subcultures, ethnic minorities, and others who inhabit liminal spaces in mainstream cultures“ (Waltz 2005: 8) darstellt.7 Neben alternativer Berichterstattung unterstützte Nawaat erheblich die Etablierung von internetbasiertem Aktivismus als politische Ausdrucksform, indem sie über Möglichkeiten anonymisierter Zugänge zum Internet und des Einsatzes von Proxy-Servern zum Umgehen von IP-basierter Zensur informierten (vgl. Kuebler 2011: 6).
5 Allerdings weist Kuebler (2011: 3) darauf hin, dass der Fehlercode „404 NOT FOUND“, welcher bei einer Sperrung von Webseiten durch die tunesischen Kontrollbehörden angezeigt wurde, im Vergleich zu den Zensurmaßnahmen anderer Regimes (Saudi-Arabien und China), ein Hinweis auf die angestrebte Verschleierung der Zensurmaßnahmen ist. So wird der Code 404 auch angezeigt, wenn eine Webseite temporär nicht verfügbar ist. 6 Online unter: www.nawaat.org (Stand: 27.04.2018). 7 Aufgegriffen wurde diese konterpolitische Funktion anschließend in anderen alternativen Medienportalen, wie dem 2011 im Rahmen der ägyptischen Revolution gegründeten Portal Mosireen (online unter www.mosireen.org Stand: 27.04.2018).
108 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution Nawaat war auch einer der Ausgangspunkte der Aktion Yezzi Fock, welche wenige Wochen8 vor dem in Tunesien stattfindenden Weltgipfel der Informations gemeinschaft organisiert wurde. Der von den Vereinten Nationen finanzierte und veranstaltete Gipfel sollte zu einer Ausrichtung der Gesellschaft auf die zunehmende Digitalisierung und Globalisierung von Informationsströmen beitragen. Aufgrund des Widerspruchs zwischen diesem Ideal und der medienpolitischen Situation Tunesiens veranstalteten Internetaktivisten mit Yezzi Fock die erste kollektive, internetbasierte Demonstration in Tunesien. Unter dem Titel Es reicht, Ben Ali (Yezzi Fock, Ben Ali) wurde auf einer eigens kreierten Webseite 9 dazu aufgerufen, fotografische Selbstporträts mit dem Schriftzug Yezzi Fock an die Organisatoren zu senden, damit diese dann im Internet veröffentlicht werden können. Eine solche Form der Demonstration wurde begründet mit der staatlichen Repression von öffentlichem Protest. Das Internet hingegen stelle einen alternativen, virtuellen Raum zur Verfügung, um der Ablehnung des Regimes Ausdruck zu verleihen.10 Es handelt sich somit nicht nur um eine frühe Form der Verschiebung kollektiver, politischer Äußerung aus dem physischen Raum in den medialen Raum des Internets, sondern zudem auch um die erste Form der visuellen Markierung von Protest durch eine größere Gruppe von Tunesiern.11 In dieser Zeit fungierte das Internet also als Katalysator und Ort kollektiver Aktionen, dissidenter Meinungen sowie aus einer alternativen Perspektive vermittelter Informationen. Die Gruppe tunesischer Aktivisten wurde zudem erweitert durch Blogger, welche die technischen Vereinfachungen des Social Web sowie die internationalen Plattformen und Blogging-Dienste für ihre Veröffentlichungen nutzten. Erste Blogs entstanden bereits im Jahr 2004, allerdings waren diese von Selbstzensur und unverfänglichen Inhalten geprägt (vgl. Ben Gharbia 2006; Lecomte 2009). Ab 2008 hingegen wurden auch die Blogs der im Land lebenden Tunesier zunehmend politisch (vgl. Lecomte 2009: 223). Beispielhaft dafür steht
8 Die Aktion wurde ab dem 3. Oktober 2005 von verschiedenen Akteuren der Zivilgesellschaft, u.a. dem Verein „L’Association Tunisienne pour la Promotion et la Défense du Cyberespace“, unternommen. Der zweite Teil des Weltgipfels fand zwischen dem 16. und 18. November 2005 statt. 9 Die Webseite war unter www.yezzi.org erreichbar, wurde aber geschlossen. Es existiert eine Kopie in Form einer Facebook-Seite (www.facebook.com/yezzifock, Stand: 27.04.2018), die allerdings erst im Jahr 2010 geschaffen wurde. 10 Diese Kurzbeschreibung findet sich noch immer auf der Facebook-Seite, vgl. www.facebook. com/pg/yezzifock/about/ (Stand: 27.04.2018). 11 Damals wurden ca. 150 solcher Fotografien veröffentlicht. Bei den Teilnehmern handelt es sich zwar auch um ausländische Aktivisten (die auf den Fotografien ihre Identität preisgeben) und Tunesier der Diaspora, aber auch um zahlreiche (durch Maskierung oder Verdeckung des Gesichts) anonym bleibende Menschen. In diesen Fällen ist von Personen auszugehen, die in Tunesien lebten.
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die Studentin Lina Ben Mhenni, welche ihren Blog als individuelles Tagebuch im Jahr 2007 begann. Nach einem Auslandsaufenthalt in den USA verwandelte sie ihn in einen Raum subjektivpolitischer Meinungsäußerung. Unter dem Namen A Tunisian Girl wurde der Blog während der Revolution bekannt (vgl. Mhenni 2011). Diese zunehmende Nutzung des Internets als Basis für soziopolitischen Protest resultierte nicht nur aus dem Vorbild der ersten Generation von Medienaktivisten. Die Angst vor politischer Verfolgung, Erpressung oder Inhaftierung wurde von der rasant steigenden Anzahl von Internetnutzern nivelliert. So verfügte das Land 2008 über beinahe doppelt so viele Nutzer wie im Jahr 2006.12 Die verbreiteten Informationen wurden nun in ein unübersichtliches Netz aktiver Nutzer eingespeist. Unterstützt wurde diese Wirkung durch die Etablierung von Facebook und anderen Social-Media-Anwendungen (hauptsächlich Youtube und Twitter) ab dem Jahr 2007. Diese Entwicklung ging einher mit einem zunehmenden Selbstbewusstsein der Internetnutzer und einer gesteigerten politischen Meinungsäußerung im Netz. Die Online-Demonstrationen im Namen der Meinungsfreiheit und gegen Internetzensur vervielfältigten sich in den Jahren 2006–2007 (vgl. Lecomte 2009: 223). Allerdings ist die Entwicklung des Internets und die Verbreitung der Nutzung von Social Media-Anwendungen nicht gleichzusetzen mit einer zunehmenden Politisierung und Demokratisierung der Gesellschaft. Im Januar 2008 kam es im zentralen Gouvernement Gafsa, vor allem in den Minenstädten Redayef, Metlaoui und M’dhila, zu gewalttätigen Protestaktionen der arbeitslosen und benachteiligten Bevölkerung. Im Gegensatz zu den oben beschriebenen Protest aktionen richteten sich diese Widerstände gegen die Armut, soziale Ungleichheit und die korrupte Vergabe von Arbeitsplätzen, vor allem in den benachteiligten Regionen des Landes. Schnell wurden die Proteste von Aktivisten aus der Hauptstadt und – etwas zögerlicher – von der Generalarbeitergewerkschaft Tunesiens (UGTT) unterstützt. Dennoch eskalierte die Situation am 7. April und zwischen Mai und Juni starben mindestens drei junge Männer durch den Einsatz scharfer Waffen. Am 7. Juni besetzte die Armee Redayef und beendete damit die Bewegung (vgl. Allal 2010: 114 f.). Bemerkenswert an den Protesten in Redayef ist nun, dass sich die politische Bedeutung dieses ersten öffentlichen Widerstands gegen das Regime Ben Alis nicht mit der medialen Reflexion deckte. So wurden die Ereignisse kaum im überregionalen Bereich publik und es folgten wenige Solidaritätsbekundungen oder darauf aufbauende, andere Formen des Protests. Im massenmedialen Bereich lag
12 Laut Internet World Stats stieg die Anzahl der Internetnutzer von 953.000 im Jahr 2006 auf 1.765.430 Nutzer im Jahr 2008 (www.internetworldstats.com/af/tn.htm Stand: 24.04.2018).
110 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution dies an der staatlichen Regulierung sowohl der Medieninstitutionen als auch der Berichterstattung vor Ort.13 Die einzige Mediatisierung der Ereignisse erfolgte über Videomitschnitte, die durch die Internetaktivisten, Blogger sowie Facebook-Nutzer verbreitet wurden (vgl. Barhoumi 2012: 180). Deren Ziel war es, über die Demonstrationen und die staatliche Repression zu informieren. Es ging zu diesem Zeitpunkt noch nicht um eine Mobilisierung der Massen in den Städten oder um den Ausdruck von Solidarität mit den Demonstranten im Landeszentrum. Das Regime reagierte auf die zunehmende Informationsverbreitung über diese Kanäle, indem die Videoportale Youtube sowie Dailymotion ab September 2007 gesperrt wurden (vgl. Abid et al. 2011: 225). Videos konnten von Aktivisten nur durch technisch umständliche Verfahren veröffentlicht werden. Aber auch die nahezu unzensierte Informationsweitergabe in Facebook war nicht sehr effektiv. Während die undurchsichtigen Netzwerkstrukturen Facebooks einerseits dazu führten, dass die Form der Kommunikation für Regierungskreise kaum einsehbar war, beschränkten sie andererseits die mögliche Reichweite der Informationen: Noch waren die Nutzerzahlen von Facebook relativ niedrig 14 und vor allem der Kreis der politisch aktiven Nutzer sehr klein. Die Ereignisse von Redayef verbreiteten sich zwar effektiv unter den regimekritischen Aktivisten, in der politisch weniger aktiven Bevölkerung blieben sie allerdings weitgehend unbekannt. Die Ausdehnung internetbasierten Aktivismus erfolgte in den Jahren bis 2010. Zwei Ereignisse sind dabei bedeutsam und verdeutlichen die Wechselwirkung zwischen staatlicher Zensur sowie Repression einerseits und der Herausbildung einer Kultur des Protests andererseits. Motiviert durch die Erfahrungen der aktivistischen Nutzung von SNS im Rahmen der Redayef-Proteste unternahmen die Regulierungsbehörden im Sommer 2008 die Sperrung von Twitter und Facebook. Die Sperrung von Facebook am 24. August 2008 allerdings führte zu umfassenden Protesten,15 welche Anlass zur Öffnung des Dienstes am 8. September auf präsidentiellen Erlass hin gaben. Dass Ben Ali persönlich die Öffnung des Netzwerks anordnete, verstärkte erheblich die Bekanntheit von Facebook und wertete den
13 Allal (2010: 124) weist darauf hin, dass lediglich die unabhängigen Tageszeitungen, die Radiostation Kalima und der Fernsehsender El Hiwar Ettounsi über die Ereignisse berichteten. Die Journalisten und Medien erfuhren in der Folge harsche Repressionsmaßnahmen: Einzelne Ausgaben wurden beschlagnahmt, Ausstrahlungen unterbunden, es folgten Prozesse sowie Einschränkungen der Bewegungsfreiheit für die Journalisten. 14 Romain Lecomte spricht von lediglich 16.000 aktiven Facebook-Nutzern zu Beginn des Jahres 2008 (Lecomte 2013a: 61). 15 So führen Abid et al. (2011: 225) aus, dass sich innerhalb kurzer Zeit über 12.000 Personen – Tunesier und ausländische Unterstützer – über eine Online-Petition gegen die Zensur von Face book ausgesprochen haben.
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online-basierten Aktivismus in der öffentlichen Wahrnehmung auf. Laut Abid et al. (2011) wurde Tunesien daraufhin zu einem „véritable petit laboratoire de recherche autour du développement d’un mouvement démocratique grâce aux réseaux sociaux“ (Abid et al. 2011: 225). Der staatlich repressive Eingriff in eine liberale Internetnutzung zog folglich eine Verstärkung des Aktivismus nach sich. Ebenso wirkten auch die ab 2007 gehäuft auftretenden Attacken auf einzelne Facebook- und Twitterprofile sowie Emailkonten zurück auf den Protest der Bürger. Wurden durch Phishing-Angriffe16 Nutzerprofile der Aktivisten gehackt und verändert, wurde dies durch Sympathisanten im Netzwerk verbreitet. Die Zunahme staatlicher Repression, insbesondere in den Jahren 2009 und 2010, resultierte aus der Aktion Sayeb Salah (wortwörtlich ‚Lass Salah in Ruhe‘, figurativ: ‚Lass uns in Ruhe‘), die von einer Mehrzahl der tunesischen Blogger, Internet- und Medienaktivisten getragen wurde und hauptsächlich auf internetbasierte Formen des Protests gegen staatliche Zensur zurückgriff (vgl. Achour Kallel 2013: 239). Bei dieser breit angelegten Protestaktion wurde das Internet einmal mehr zum medialen Raum für politischen Ausdruck. Bemerkenswert ist, dass zwei Blogger, Yassine Ayari und Slim Amamou, für den 22. Mai 2010 einen ‚Tag gegen Ammar‘ (Nharala Ammar) planten, welcher als Demonstration vor dem Ministerium für Technologie und Kommunikation geplant war. Die Aktivisten haben entsprechend im Vorfeld versucht, regulär eine Demonstration im Innenministerium anzumelden. Auch wenn bei der Demonstration nur wenige Teilnehmer zu verzeichnen waren und sie mit der Verhaftung der Initiatoren aufgelöst wurde, markierte sie dennoch einen Wendepunkt innerhalb der tunesischen Protestkultur. Erstmals wirkte, wie Abid et al. betonen, eine im Internet initiierte Protestaktion in den öffentlichen Raum ein: [C]et avis officiel de manifestation publique mérite d’être souligné : le mouvement de révolte contre la censure sur Internet a franchi à ce moment-là, sans aucun doute, un palier. Car, cette fois, on est passé d’un engagement virtuel à un engagement sur le terrain politique, on ne s’est plus contenté d’exprimer son ras-le-bol ou de montrer sa solidarité sur son blog ou sur sa page de Facebook. (Abid et al. 2011: 226).
Diese Rückbewegung virtuellen Protests in den öffentlichen Raum kennzeichnet folglich einerseits die Herausbildung des physischen Raums als eines dezidiert politischen Raums. Andererseits wird dadurch der wichtige Schritt vom anony-
16 Mit Phishing wird der durch gefälschte Internetseiten, Emails und Nachrichten betriebene Diebstahl von Identität und Zugangsdaten einzelner Nutzer bezeichnet, wodurch meist ein Zugriff auf die einzelnen Nutzerprofile erlangt wird.
112 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution misierten und distanzierten Online-Protest hin zu einem physisch engagierten Protest im öffentlichen Raum markiert. Zuletzt stellte die angemeldete Demonstration auch ein Zeichen der Ermutigung und Ermächtigung gegen die vorherrschende Selbstzensur und Apolitizität der Tunesier dar (vgl. Mihoub 2011: 17). (Im Internet organisierter) Protest, auch im Zentrum der Hauptstadt, wurde nunmehr denk- und durchführbar, wodurch die Proteste der beginnenden Revolution erheblich erleichtert wurden.
1.3 Der tunesische Protest in der Revolutionsphase: 2010–2011 Circa ein halbes Jahr nach der Demonstration gegen Ammar 404 brach im Land eine politische Dynamik kollektiver Proteste aus, welche in dieser Form historisch einmalig waren. Sie führten in der Folge zu dem Ereignis, das vorwiegend als tunesische Revolution, tunesischer Frühling und Jasmin-Revolution 17 bezeichnet wurde. Der Begriff der Revolution ist hierbei ein unsicherer, vielfach wurde auch zurückhaltender von einer Revolte gesprochen (vgl. Dietrich 2011). Allerdings bemerkt Tiruneh (2014) in seinem Artikel zum Konzept der sozialen Revolution, dass vor allem die Protestaktionen der nordafrikanischen Widerstandsbewegungen im Jahr 2011 als Revolution zu kennzeichnen seien, da sie eine basale Veränderung der politischen, ökonomischen und sozialen Struktur anstrebten und in einer historischen Perspektive auch umsetzten (vgl. Tiruneh 2014: 4). Im Folgenden wird deshalb von der tunesischen Revolution gesprochen. Es stellt sich weiterhin die Frage, wo die zeitlichen Grenzen, also Anfang und Abschluss der Revolution zu verorten sind. In den folgenden analytischen Untersuchungen soll der zeitliche Rahmen der Revolution als eine strukturelle Entwicklung gedacht werden. Es wird demnach vorgeschlagen, die Revolution erstens nicht auf die Zeit vom 17. Dezember 2010 bis zum 14. Januar 2011 zu beschränken und zweitens, sie in mehrere Phasen zu unterteilen:18 Die Revolutionsphase bezeichnet die Zeit zwischen der Selbstverbrennung Bouazizis und der Landesflucht des autokratischen Präsidenten Ben Ali. In dieser
17 Alle verwendeten Begriffe sind allerdings umstritten. Während die Rede vom ‚Arabischen‘ und demnach auch ‚Tunesischen Frühling‘ impliziert, dass die Proteste in Tunesien, Ägypten, Lybien, Syrien etc. entgegen der unterschiedlichen sozialen und politischen Gefüge vergleichbar seien, wirkt die Bezeichnung Jasmin-Revolution zu euphemistisch für die blutigen Proteste. 18 Hierbei wird die Idee der Periodisierung von revolutionären Ereignissen, wie sie in der Revolutionsgeschichtsschreibung üblich ist, weitergeführt (vgl. beispielsweise Brinton 1965).
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Zeit vermehrten sich schlagartig die Proteste gegen das Regime, sie breiteten sich auf das gesamte Land und breite Bevölkerungsteile aus. Ihren Endpunkt fanden diese Proteste mit der Flucht Ben Alis und dem damit verbundenen Regime umbruch. Damit kann die Revolution allerdings nicht als abgeschlossen betrachtet werden. Ein Zeichen dafür sind die Proteste und Sit-Ins an der Kasbah im Februar und März 2011. An den 14. Januar 2011 schließen sich soziopolitische Transi tionsprozesse an, die in eine Rekonstruktionsphase (von der Flucht Ben Alis bis zu den Wahlen der verfassungsgebenden Versammlung im Oktober 2011) und eine Stabilisierungsphase (von den Wahlen 2011 bis zur Unternehmung eines nationalen Dialogs zur Erarbeitung der Verfassung und der Einsetzung des Technokraten Mehdi Jomaâ als Übergangspremierminister im Dezember 2013) unterteilt werden können. In jeder der drei vorgestellten Phasen durchläuft die tunesische Protestkultur umfassende Veränderungen.19 Die Revolutionsphase beginnt mit der Selbstverbrennung des Gemüsehändlers Mohammed Bouazizis als Reaktion auf die mehrfach wiederkehrende Beleidigung und Repression durch Polizeibeamte. Die Tat ereignete sich am Freitag, den 17. Dezember 2010 auf dem zentralen Platz vor dem Sitz der Gouvernementsverwaltung der Provinzstadt Sidi Bouzid. Bouazizi wurde noch lebend in das Krankenhaus Ben Arous eingeliefert. Seine Tat war nicht die erste Selbstverbrennung in Tunesien, als erste führte sie allerdings zu einer bisher beispiellosen Mobilisierung. Bereits am Abend desselben Tages wurde ein Sit-In in Gedenken an Bouazizi vor dem Gouverneurssitz veranstaltet. Über das Wochenende entstanden daraus gewalttätige Proteste, die sich auf andere Stadtteile ausbreiteten und von der Polizei mit Tränengas und Gewalt unterdrückt wurden. Mit Unterstützung lokaler Gewerkschaftsvertreter wurden politische Forderungen laut, welche sich aus den o. g. Inkohärenzen der Landespolitik Ben Alis ergaben. Im Vordergrund stand vor allem die Kritik an der vorherrschenden sozialen Ungleichheit sowie an der grassierenden Korruption und dem staatlichen Nepotismus (vgl. Dietrich 2011: 179). Dies ergab sich vor allem aus der spezifischen Situation der Demonstrierenden: Es handelte sich hier nicht um die meist mittelständischen Medienaktivisten aus der Hauptstadt oder der tunesischen Diaspora, welche vor allem in früheren Protestaktionen das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Rede einforderten, sondern um arbeitslose Jugendliche ohne greifbare Zukunftsperspektiven in der soziopolitischen Peripherie.
19 Die im Folgenden vorgestellten soziohistorischen Ereignisse stellen selbstverständlich nur eine Auswahl dar. Es soll anhand der Ereignisse nachvollzogen werden, welche Entwicklungen der tunesische Protest durchläuft.
114 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution Die Proteste breiteten sich bis zum 24. Dezember auf weitere Städte in der Umgebung aus und mehrere Tausend Personen nahmen daran teil. In der Stadt Menzel Bouzayene setzt die Polizei bei einer Demonstration von 2.000 Teilnehmern erstmals scharfe Munition ein und tötet einen Mann. Als Reaktion auf die zunehmenden Proteste, welche ab dem 25. Dezember auch (zunächst unter Beteiligung von Anwälten, studentischen Aktivisten und Gewerkschaftlern) in Tunis und am 26. Dezember in der Großstadt Sfax stattfanden, hielt Ben Ali am 28. Dezember eine erste Fernsehansprache. Er kritisierte die Proteste als die Tat einer Minderheit und rechtfertigte die harten Einsätze der Polizei. Zugleich zeigte er sich mit dem im Koma liegenden Mohammed Bouazizi bei einem Krankenbesuch und kündigte Sozialreformen wie beispielsweise eine Beschäftigungsinitiative an. In den letzten Tagen des Jahres 2010 verschärfte sich zunehmend die Vorgehensweise der Polizei. Demonstrierende Anwälte wie Chokri Belaid und freischaffende Journalisten, die über die Demonstrationen berichteten, wurden geschlagen, verhaftet und gefoltert. Einzelne Bevölkerungsgruppen wurden an einer Teilnahme bei den Demonstrationen gehindert. Zudem kam es zu weiteren Todesopfern unter den Demonstrierenden. Im Zuge der weiteren Verbreitung des Protests auf das gesamte Land bildeten sich zunehmend Allianzen zwischen politischen Aktivisten, Akteuren der Zivilgesellschaft (Gewerkschaftler, die Anwaltskammer, Journalisten) einerseits und den zumeist politisch nicht erfahrenen, benachteiligten und arbeitslosen demonstrierenden Jugendlichen andererseits. Neuigkeiten über Demonstrationen, Polizeigewalt und Gewaltopfer wurden über das Internet und konkret über Facebook (vgl. Henda 2011: 159) in Form von Handyfotografien, kurzen Videos sowie Kurznachrichten mitgeteilt. Es kam dadurch auch zu einer ideologischen Neuausrichtung der Proteste. Während sie zunächst für eine Verbesserung der Einkommenschancen und der Lebensqualität für benachteiligte Bevölkerungsgruppen einstanden, richteten sie sich nun zunehmend gegen die Einschränkung von Menschenrechten, gegen die Korruption und Bereicherung einer politischen Elite sowie gegen staatliche Willkür und Gewalt (vgl. Dietrich 2011: 185). Insbesondere die neuen Formen der Protestkommunikation und Solidaritätsbekundung, welche über das Internet erfolgten und Allianzen innerhalb der tunesischen Protestkultur schufen, gerieten nun in den Fokus der Regierung. Es folgten Sperrungen des Fotosharing-Dienstes Flickr und von Webseiten, die über die Proteste berichteten, sowie Angriffe auf einzelne Facebook- und Twitter- Accounts. Diese Einschränkungen erfuhren ihre physische Umsetzung mit der Verhaftung der Blogger Azyz Amami, Yassine Ayari, Hamadi Kaloutcha, sowie des Rappers El General am 6. Januar. Parallel dazu kam es allerdings auch zu neuen Formen des internetbasierten Widerstands: Während die Proteste die zentralen Orte der Macht in den Innenstädten besetzten und dadurch die Hegemonie des
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Regimes von Ben Ali physisch infrage stellten, fokussierte das anonyme Kollektiv Anonymous durch Hacking-Angriffe und DDoS-Attacken 20 auf Internetseiten von Regierungsinstitutionen die symbolische Präsenz des Regimes im Internet. Mit dem Tod von Mohammed Bouazizi am 4. Januar und seiner Bestattung am Folgetag radikalisierten sich auch die Proteste im öffentlichen Raum. Bei einer Demonstration am 5. Januar in Sidi Bouzid nahmen 5.000 Demonstranten teil und forderten Vergeltung für den Tod Bouazizis. Auf die Gewalt der eingesetzten Polizisten reagierten sie mit einem Brandanschlag auf das lokale Parteibüro der RCD (vgl. Dietrich 2011: 188). In anderen Städten wurden Straßen blockiert und weitere Parteizentralen zerstört. Im Zuge der landesweiten Demonstrationen wurde die internationale Presse auf die Situation in Tunesien aufmerksam. Die Städte Thala, Regueb und Kasserine wurden am Wochenende des 8. und 9. Januars durch die Polizei besetzt, sämtliche Kommunikationsmittel wurden lokal gesperrt, und Polizisten gingen mit scharfer Munition gegen Demonstranten vor. Es starben bei diesen Auseinandersetzungen zwischen 15 (offizielle Angaben des Innenministeriums) und 23 Menschen (vgl. Dietrich 2011: 190). Am 10. und 11. Januar wurden zudem bei Demonstrationen in Tunis und Kasserine Spezialeinheiten und Scharfschützen der Polizei eingesetzt, welche willkürlich auf Passanten und Teilnehmer von Trauermärschen schossen. In den Tagen zwischen dem 1. und dem 11. Januar spielten die sozialen Medien und Netzwerke des Internets eine entscheidende Rolle. Einerseits entwickelte sich Facebook in dieser Zeit zum dominanten Informationsmedium über den Verlauf der Proteste. Vor allem Bilder, Videos und Artikelausschnitte wurden von ausländischen Medien wie Al Jazeera übernommen und innerhalb des sozialen Netzwerks auf eigens angelegten, prorevolutionären Gruppen und Seiten verbreitet (vgl. Abid et al. 2011: 227 f.). Diese Gruppen dienten nicht nur der Informationsweitergabe, sondern auch der ideologischen Rahmung der Revolution, der Klärung ihrer Ziele sowie der ideologischen Vereinnahmung ihrer Anhänger (vgl. Fenniche 2013). Dabei entstand eine Wechselwirkung zwischen Facebook-Nutzung und aktivistischem Engagement bzw. der Verbreitung von Demonstrationen. Vor allem Ende Dezember 2010 bis Anfang Januar 2011 ist ein sprunghafter Anstieg der Facebook-Nutzerzahlen von stabilen 1,8 Millionen vor Dezember 2010 auf mehr als 2 Millionen Nutzer zu verzeichnen (vgl. Gupta und Brooks 2013: 5). Damit wurde Facebook auch zunehmend zum Motor der Protestmobilisierung. Wie Lecomte (2013a) feststellt, werden im Gegensatz zu den bisher für politische Kommunikation genutzten Blogs bei Facebook Informatio-
20 Bei einer Distributed-Denial-of-Service-Attacke wird die beschränkte Leistungsfähigkeit eines Webseiten-Servers durch einen gleichzeitigen Massenzugriff außer Kraft gesetzt.
116 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution nen durch das Netzwerk privater Verbindungen und Gruppen zufällig rezipiert. Informationen müssen nicht mehr aktiv gesucht werden, sondern verbreiten sich quasi viral (vgl. Lecomte 2013a: 62). Die Demonstrationen im physischen Raum, die Übertragung dieser Ereignisse in ausländischen Massenmedien und die Ausbildung eines Protestnetzwerks aktiver Nutzer und Seiten in Facebook trugen zur Entstehung einer breiten Protestkultur bei. Damit tauchten erste Massendemonstrationen in den urbanen Zentren des Landes auf, insbesondere ab dem 12. Januar 2011 in Tunis. Die Wut ob der zahlreichen getöteten und verletzten Demonstranten richtete sich nun direkt gegen den Präsidenten Ben Ali und die Regierungspartei RCD. Dadurch kam es auch zu einer Neuausrichtung innerhalb des Protests. Mit Parolen wie Ben Ali dégage (‚Ben Ali verschwinde‘) wurden das Regime und sein autokratischer Anführer zum Ziel der Attacken. Dadurch erhielten die Proteste eine revolutionäre Komponente. Eine Veränderung der Landespolitik erschien ab diesem Zeitpunkt nur möglich, wenn die politische Führung abgesetzt und die politischen Strukturen nachhaltig und unumkehrbar verändert werden (vgl. Dietrich 2011: 196 f.). Auf diese neue Qualität der Proteste reagierte die Regierung zunächst mit einer Intensivierung der Repression. Es wurde eine nächtliche Ausgangssperre verhängt, zahlreiche Aktivisten und Reporter wurden verhaftet bzw. öffentlich bei Demonstration geschlagen. Zudem wurde nun verstärkt das Militär als Ordnungskraft eingesetzt. Die zentralen Orte in Tunis und die primären Regierungsgebäude wurden mit Barrieren und militärischer Präsenz gesichert. Trotz dieser Maßnahmen entwickelte sich insbesondere die Avenue Habib Bourguiba ab dem 13. Januar zu einem Raum des öffentlichen Austauschs, der Politisierung und der körperlichen Präsenz (vgl. Fenniche 2013: 6). Ab diesem Zeitpunkt lässt sich von einer etablierten Protestkultur sprechen, welche sich nicht auf den Informationsaustausch, die interne Organisation der Aktionen und die Verständigung auf eine gemeinsame Ideologie beschränkte. Es bildete sich eine temporäre und solidarische Gruppe heraus, die gemeinsame Ziele verfolgte und kollektive Emotionen teilte. Dadurch entstand ein Diskurs, welcher zu keinerlei Kompromissen bereit war. Deutlich wurde dies am Abend des 13. Januar 2011, als der Präsident in seiner bekannten Rede Ana fahimtkoum21 (‚Ich habe Euch verstanden‘) neben der Zurücknahme des Schießbefehls weitgehende soziale Reformen versprach: Preissenkungen, Presse- und Internetfreiheit sowie sein Rücktritt im Jahr 2014 wurden garantiert. Als Konsequenz wurden alle zensierten Internetseiten entsperrt und waren ab diesem Moment frei zugäng-
21 In dieser Rede verwendete Ben Ali erstmals den tunesischen Dialekt, um zu den tunesischen Bürgern zu sprechen. Zuvor waren seine Reden in Hocharabisch verfasst.
Historische Eckpunkte des politischen Protests in Tunesien 117
lich. Die demonstrierende Bevölkerung reagierte darauf allerdings nicht wie gewünscht. Einerseits kam es trotz der Ausgangssperre zu nächtlichen Demonstrationen, andererseits erstellte sie humoristische Videoclips, die in einem Mashup der Präsidentenrede bestanden, und luden diese auf die gerade freigeschalteten Videoportale hoch (vgl. Dietrich 2011: 201). Zudem wurde für umfassende Demonstrationen am Folgetag, dem 14. Januar 2011, geworben. Am 14. Januar kam es vor allem in den Städten des Landes zu massiven Demonstrationen. In Tunis wurde der Generalstreik ausgerufen, und es versammelten sich am frühen Nachmittag mehrere hunderttausend Demonstranten in der Avenue Bourguiba im Zentrum von Tunis. Um 16 Uhr wurde von Premierminister Mohammed Ghannouchi verkündet, dass Ben Ali die Regierung aufgelöst habe und ihn mit der Bildung einer neuen Regierung beauftragt habe. In der Zwischenzeit verließ Ben Ali das Land und floh nach Saudi-Arabien. Um 18 Uhr verkündete Premier Ghannouchi die Flucht des autokratischen Herrschers und benannte sich zum Interimspräsidenten. Während der Revolutionsphase wurde die Medienkultur Facebooks verbunden mit der aufkeimenden Protestkultur, welche sich bis Mitte Januar unter breiten Bevölkerungsteilen etablierte. Facebook bot in dieser Zeit einen medialen Kompensations- und Dynamisierungsraum für die Proteste in der materiellen Lebenswelt. Einerseits konnte regionsübergreifend über die Proteste berichtet werden, Bilder und Videos belegten Polizeigewalt, die Routen und die Größe der Demonstrationen. Diese Praxis des aufkeimenden Bürgerjournalismus trug auch zur Politisierung der breiten Massen bei. Dem Medienaktivisten Jalel Tounsi von der tunesischen Piratenpartei folgend, wurde diese Informationsverbreitung zwar von Aktivisten begonnen, später allerdings von den zahlreichen FacebookNutzern unterstützt: Zu Anfang der Revolution verbreiteten nur Aktivisten die Informationen. Jeder rezipierte sie, verbreitete sie aber nicht weiter. Aber je mehr Zeit verstrich, je mehr der Januar nahte, desto mehr wurde das Regime von Ben Ali…, desto mehr wusste man, dass es scheitern würde. Und deshalb begannen die Leute, Informationen zu teilen.22
Die Bürger engagierten sich zunächst vermehrt auf Facebook, es herrschte nach wie vor Angst vor Verfolgung, Inhaftierung und Folter bei öffentlich-physischem Protest vor. Die sozialen Netzwerke ermöglichten es vor allem im Januar 2011,
22 „Au début de la révolution, il y’ avait que les activistes qui partageaient l’information. Donc, tout le monde regardait mais ne partageait pas. Mais plus le temps passait, plus janvier avançait, plus le règne de Ben Ali était... on sentait qu’il allait basculer... et donc les gens ont commencé à partager.“ Interview Jalel Tounsi.
118 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution der angestauten Wut Ausdruck zu verleihen, ohne das Risiko einer physischen Gefahr einzugehen. Der mediatisierte Raum in Facebook wurde deshalb in vielerlei Hinsicht zur Kompensation der kommunikativen, symbolischen und darüber hinaus gemeinschaftsbildenden Strukturen und Mittel des physischen öffentlichen Raumes genutzt. Von Sofiane Bel Haj, der unter dem Pseudonym Hamadi Kaloutcha während des Ben Ali Regimes kritische Texte auf seinem Blog verbreitete, wird Facebook demnach als „Agora“, „eine Art Ort, wo man diese und jene Dinge diskutiert, auch Dinge, die dem Regime nicht gefallen“23 bezeichnet,24 wodurch es in erheblichem Maße nicht nur zu einem Austausch, sondern zu einer individuellen Bewusstseinsbildung beitrug. Über diese Agora, die Facebook mit den temporären Auseinandersetzungen und Diskussionen war, sind sich die Tunesier, besonders die Jugendlichen, die die sozialen Netzwerke nutzten, bewusst geworden, dass das System nicht von einer Mehrheit unterstützt wurde. Es gab nur eine Minderheit, die aus dem System Profit schlagen konnte und die Kritik dessen wurde immer direkter geäußert.25
An dieser Funktion der gegenseitigen Vergewisserung, der Herausbildung und Konstitution eines kritischen Kollektivs wird deutlich, inwiefern besonders Facebook bei der Herausbildung einer Protestkultur beteiligt war. In den folgenden Phasen der Revolution, der Rekonstruktions- und der Stabilisierungsphase, blieben diese medialen Funktionen zwar erhalten, jedoch veränderte sich das Gesicht der tunesischen Protestkultur als Reaktion auf lebensweltlich-politische Veränderungen.
23 „Une espèce de place où on discutait de choses et d’autres, y compris des choses qui déplaisaient au régime“ Interview Sofiane Bel Haj und Hazar. 24 Eine Auffassung, die von Raja Fenniche (2013) geteilt wird. 25 „[V]ia cette agora qu’était Facebook, avec ses polémiques temporelles, les Tunisiens se sont rendu compte, surtout les jeunes qui utilisent les réseaux sociaux, que finalement le système ne plaisait pas à la majorité, c’était juste une minorité qui tirait profit de ce système-là et la critique commençait à se faire de plus en plus tranchante, de plus en plus directe.“ Interview Sofiane Bel Haj und Hazar.
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1.4 Die Postrevolution 1: Rekonstruktionsphase 14. Januar 2011 – 23. Oktober 2011 Mit der Flucht Ben Alis beginnt eine Periode der langjährigen politischen Transition in Tunesien. Dabei war die erste Phase dieser Transition gekennzeichnet durch die staatliche und gesellschaftliche Rekonstruktion, die nach dem entstandenen Machtvakuum vollzogen werden musste. Diese drückte sich vorerst aus in einer online und im urbanen Raum stattfindenden ‚Jagd‘ auf die Symbole, Vertreter und Machtstrukturen des ehemaligen Regimes (vgl. Mihoub 2011: 25). Damit wurde eine vollkommene Beseitigung der Reste des Ben Ali-Regimes angestrebt. Durch die Absetzung der Regierung entstand die Notwendigkeit, eine erste Übergangsregierung zu bilden. Am 15.01. wurde Fouad Mebazaa als Übergangspräsident benannt. Mohammed Ghannouchi – wieder in der Funktion als Premier – wurde mit der Neueinsetzung einer Regierung betraut, welche am 17. Januar verkündet wurde. Allerdings wies die neue Regierung noch zahlreiche Personalien aus dem ehemaligen Regime auf. Zwar sind der Präsident Mebazaa und Premier Ghannouchi aus der ehemaligen Regierungspartei ausgetreten, allerdings war die RCD nach wie vor in den Institutionen und Regionalregierungen an der Macht. Deshalb wandelte sich das Ben Ali dégage des revolutionären Protests nun in ein RCD dégage oder Ghannouchi dégage, der Fokus verschob sich auf die als illegitim empfundene Übergangsregierung. Die Regierung bemühte sich um eine Neuorientierung und kündigte im Rahmen der ersten Sitzung am 20. Januar an, die Internetzensur aufzuheben, Kontrollbehörden gegen Korruption und für politische Reformen zu schaffen, politische Gefangene zu entlassen und das Eigentum der RCD zu konfiszieren. Zudem traten weitere Minister der Übergangsregierung aus der RCD aus. Dies besänftigte jedoch nicht die Wut der Demonstranten. Insbesondere junge Tunesier sowie Arme, Arbeitslose und Protestierende aus den Provinzen zogen massenhaft nach Tunis und organisierten dort ab dem 20. Januar die spontane Besetzung des zentralen Kasbah-Platzes. Sie eigneten sich damit nach der Avenue Bourguiba einen weiteren Schauplatz der politischen Macht an: In der Kasbah befindet sich u. a. der Sitz der tunesischen Regierung (vgl. Fenniche 2013: 7 f.). Getrieben waren diese Proteste einerseits von der noch vorherrschenden Dominanz der RCD, andererseits davon, dass keinerlei soziale Reformen angekündigt wurden: Die soziale und regionale Ungleichheit schien fortzudauern. Diese Besetzung ging in die Protestgeschichte ein als Sit-In Kasbah I. Die anhaltenden Proteste hatten zwar seit Beginn einen starken Rückhalt unter der Bevölkerung der Hauptstadt und die jungen Aktivisten aus der Mittelschicht Tunis’ traten dem Widerstand bei, allerdings wurde vor allem die Medienöffentlichkeit kaum in die Ziele des Protests einbezogen. Einerseits verlief der Protest erfolgreich, da am
120 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution 27.01.2011 alle Minister der Übergangsregierung (bis auf Premier Ghannouchi) zurücktraten und eine neue Regierung gebildet wurde. Andererseits wurde, nachdem nur ein Teil der Forderungen erfüllt wurde, der Kasbah-Platz gewaltsam am 28.01. geräumt. Erst in diesem Moment erhielt der andauernde Protest eine mediale Aufmerksamkeit. Vor allem auf Facebook kursierten Fotografien, Videos und Texte zur gewalttätigen Räumung und die zahlreichen Verletzten (vgl. Mihoub 2011: 25). Anschließend an dieses mediale Interesse und das Festhalten Ghannouchis an der Macht formierte sich ab dem 20.02. erneut ein Sit-In Kasbah II. Ziel dieser Proteste war es, Ghannouchi zu einem Rücktritt zu bewegen und das schnellstmögliche Verbot der RCD26 zu erzwingen. Im Gegensatz zur Kasbah I waren die Proteste besser intern und hinsichtlich der Kommunikation organisiert. Es wurde ein großer Teil der Öffentlichkeit durch Medienberichte in unabhängigen Massenmedien aber auch durch die individuelle Verbreitung der Neuigkeit über Facebook-Profile und Gruppen mobilisiert. Dies führte dazu, dass ab dem 25.01. ein großer öffentlicher Druck auf die Übergangsregierung entstand – u. a. mithilfe von mehrere hunderttausend Teilnehmer zählenden Demonstrationen. Am 27.02. trat Mohammed Ghannouchi in Reaktion auf das Sit-In und die Proteste ab, sein Nachfolger wurde Beji Caid Essebsi. Im Rahmen der medialen Mobilisierung entfaltete sich eine neue Dimension des Protests: Protest wurde nun auch zum Mittel der individuellen Selbstdarstellung im Internet. Der Widerstand wurde damit für einen individuellen Zugriff verfügbar gemacht und jenseits seiner politischen Dimension für die Mediatisierung des Selbst genutzt. Dies führte auch zur zunehmenden Instrumentalisierung der Besetzungen. Deutlich wurde dies an dem Versuch, ein weiteres Sit-In an der Kasbah am 15. Juli zu veranstalten. Khalil (2014: 58) bemerkt, dass das Sit-In Kasbah III scheinbar von der im März 2011 legalisierten, gemäßigt islamistischen Ennahdha-Partei initiiert wurde. An dieser einseitigen Mobilisierung sei es auch gescheitert. So wurden beispielsweise erstmals auch populäre Facebook-Seiten geschaffen, die diese Form des Protests kritisierten und zu einer kollektiven Anstrengung für den konstruktiven Wiederaufbau Tunesiens aufriefen (vgl. Ben Abdallah 2013a: 127). Diese Instrumentalisierung der Proteste verdeutlicht zudem, dass die Legalisierung der Parteien auch zu einer Differenzierung und Division innerhalb der tunesischen Protestkultur führte. Vor allem die Legalisierung der Ennahdha-Partei am 1. März 2011 und die Rückkehr des exilierten politischen Anfüh-
26 Die Übergangsregierung kündigte bereits am 06.02. an, die RCD zu verbieten. Das Verbot wurde allerdings erst am 09.03. vom Verfassungsgericht bestätigt.
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rers Rached Ghannouchi Ende Januar 2011 leiteten die Herausbildung von Fronten in der zuvor vereinten, durch eine breite Öffentlichkeit und auf verschiedenen Niveaus des Engagements getragenen Kultur des Protests ein (vgl. Triki, M. 2013: 338). Mit dem Beschluss vom 3. März, eine verfassungsgebende Versammlung zu wählen und diese Wahl am 24. Juli abzuhalten, gerieten die gerade legalisierten Parteien und insbesondere die Fronten aus zuvor verbotenen kommunistischen und linken Kräften einerseits und der ebenfalls verbotenen islamistischen Partei Ennahdha andererseits, unter zusätzlichem Einfluss der neu gegründeten, zumeist liberalen Parteien (beispielsweise CPR von Moncef Marzouki), in einen direkten Wahlkampf. Dass die Wahlen anschließend auf den 23. Oktober verschoben wurden, gab zudem genug Zeit, um weitere Kleinstparteien27 zu gründen. Interessanterweise führte die Division des Protests auch zu einer erneuten Trennung zwischen den Bewohnern urbaner Zentren und der durch religiöse Identität, die soziale Benachteiligung und teilweise auch durch die Zugehörigkeit zu Stammesstrukturen geprägten Provinzbevölkerung. Im Gegensatz zu den säkularen Parteien, die die besondere Identität der ruralen Bevölkerung in Diskursen ausgrenzte, wussten einzig die Islamisten der Partei Ennahdha diesen Bedürfnissen zu begegnen und instrumentalisierten sie für den Wahlkampf (vgl. Khalil 2014: 63). Da Facebook seit dem 14. Januar das prominente Medium für politische Diskussionen war, wurde dort auch die mit dem Entstehen der Parteien und dem beginnenden Wahlkampf zunehmende Parteilichkeit ausgestellt. In entsprechenden Facebook-Interessensgruppen drückte sich die Sympathie zu einer konkreten Parteienpolitik aus, während andere Parteien diskreditiert wurden. Politisierte Facebook-Seiten, welche zuvor lagerübergreifenden Protest unterstützten und organisierten, konzentrierten sich nun auf ausdifferenzierte Zielpublika. Neben der Benennung boten die Gruppen insbesondere durch die Darstellungsweisen und Auswahl der veröffentlichten Videos und Texte politische Interpretationsweisen und Orientierungen an (vgl. Ben Abdallah 2013a: 131). Entsprechend entwickelten sich die Moderatoren der Seiten zu Distributoren parteipolitisch-ideologisch geprägter Diskurse (vgl. Ben Abdallah 2013a: 130–134). Die parteipolitische Kommunikation beschränkte sich nicht auf Facebook-Gruppen. Es entstanden komplexe politisierte Netzwerke aus parteipolitischen Seiten und Gruppen, lokalpolitischen Seiten und politischen Profilen. Diese Restrukturierung des internetbasierten Protests in parteipolitisch domi-
27 Insgesamt 97 Parteien haben Listen zur Wahl der verfassungsgebenden Versammlung eingereicht.
122 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution nierte Netzwerke28 äußerte sich auch in den individuellen Nutzungsweisen auf Facebook. Während bis Mitte Januar 2011 zunehmend ein im Protest und in semiotisch kohärenten Diskursen geeintes Kollektiv vorherrschte (vgl. Hached 2017: 165), wurden nun vermehrt die Differenzen, Zugehörigkeiten und Überzeugungen zwischen Individuen sichtbar. Gemäß dem Krankenpfleger und Aktivisten Nadhem Oueslati erfolgt diese Segregation zunächst auf Basis der parteipolitischen Ausrichtung. Aber dann schufen die Menschen Gräben zwischen sich und entwickelten parteiische Sichtweisen. Der eine wurde Mitglied in einer Partei, ein anderer veröffentlichte ideologische Inhalte, wieder ein anderer projizierte seine politischen Überzeugungen auf die von ihm favorisierte Partei. Die Menschen begannen unterschiedlich zu sein, sich politischen Lagern zuzuordnen, eine eigene Meinung und Ideologie zu finden und diese auf Facebook zu verbreiten. Das war also eine Mischung, eine Mischung aus Meinungsdarstellungen.29
Während die Entwicklung einer solchen Meinungsvielfalt ein wünschenswerter Effekt postrevolutionärer und transitioneller Demokratisierung ist, führte sie, wie Oueslati hervorhebt, innerhalb der medialen Sphäre des Internets zur Entfaltung ideologisch geprägter Sichtweisen und Kommunikate. Diese dienten einerseits der klaren Selbstverortung der Internetnutzer, andererseits trugen sie zur weiteren Ausbildung der ideologischen Fronten bei. An den Wahlen vom 23. Oktober beteiligten sich knapp 90 Prozent der regis trierten tunesischen Wähler. Das Ergebnis führte zu einer weiteren Machtverschiebung innerhalb der politischen Landschaft Tunesiens. So bildete die verfassungsgebende Versammlung im Anschluss an die Wahlen eine Übergangsregierung, die sich an den erlangten Mehrheitsverhältnissen orientierte. Die neue Koalition wurden als Troika (vgl. Ben Abdallah 2013b: 304) bezeichnet. Diese bestand aus dem linksliberalen FDTL (Ettakatol genannt), deren Kandidat Mustafa Ben Jaafar den Vorsitz der verfassungsgebenden Versammlung übernahm, dem liberalen,
28 Chirine Ben Abdellah bietet eine umfassende Typologie der politischen Facebook-Seiten in der post-revolutionären Zeit von Januar bis Juni 2011 an. Hieran werden die vielfachen Verknüpfungen zwischen offizieller Parteikommunikation, inoffiziellen Fanseiten und satirischen Seiten deutlich (vgl. Ben Abdallah 2013a: 138–140). 29 „Mais après, les gens commencent à faire des clivages et à avoir des connotations un peu partisanes. Celui qui va avec ce parti, l’autre il va publier des choses concernant son idéologie et l’autre qui va publier des choses concernant son appartenance politique et ses croyances par rapport à la politique qu’il veut par rapport à son partie. Les gens commencent […] à avoir des différences, à choisir un camp, à trouver son propre opinion et à trouver son propre idéologie et de la partager sur Facebook. Bien sûr, c’était un mélange, un mélange des expositions d’opinions“. Interview Nadhem Oueslati.
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panarabischen Congrès pour la République (CPR), welcher Moncef Marzouki als Übergangspräsident wählen ließ, und der islamistischen Ennahdha, die Hamadi Jebali als Premierminister einsetzte. Diese Wahl markierte einerseits das Ende der Rekonstruktionsphase, da hierdurch politische Strukturen eingeführt wurden30 und das politische Aufbegehren des Volkes durch freie Wahlen eine politische Entsprechung fand. Andererseits wird auch die politisch-widerständige Masse in Tunesien durch diese Wahl neu strukturiert. Bereits kurz vor den Wahlen zeigte sich während der Affäre um Nessma TV,31 dass islamistische Kräfte die Deutungshoheit innerhalb der tunesischen Kultur für sich beanspruchten. Dem gegenüber stehen die liberalen, jungen Aktivisten der Hauptstadt, welche nunmehr in den Protest gegen die islamistische Regierung unter der EnnahdhaPartei traten.
1.5 Die Postrevolution 2: Stabilisierungsphase Oktober 2011 – Ende 2013 Durch den Wahlausgang und die Amtsübernahme der Übergangsregierung durch Hamadi Jebali wurde die politisch aktive tunesische Bevölkerung erneut gespalten. Diese Spaltung zeigte sich nunmehr nicht mehr in der Zugehörigkeit zu einer konkreten Partei, sondern vielmehr in der Unterstützung der gebildeten Regierung. Laut Ben Abdallah entstanden zwei Tendenzen, die sich sowohl in Facebook und anderen Social-Media-Anwendungen als auch im physischen Raum beispielsweise bei der Besetzung des Bardo zeigten: Einerseits die Anhänger der Ennahdha, welche die Troika unterstützten, andererseits die Oppositionellen, die für freiheitliche Werte einstanden (vgl. Ben Abdallah 2013b: 304). In dieser Zeit wurde Facebook zu einem Spiegel und zugleich einem Motor der politisierten
30 So weist Mohsen-Finan anhand einer Analyse der Neubenennung der Haute Instance pour la Réalisation des buts de la Révolution, la Réforme politique et la Transition démocratique nach, inwiefern damit die Revolution eine Institutionalisierung und Legitimierung sowie eine Überführung in die Transition erfährt (vgl. Mohsen-Finan 2012: 17). 31 Diese Affäre folgte auf die Ausstrahlung des Comic-Films Persepolis von Marjane Satrapi, welche in einer kurzen Sequenz Gott abbildete, am 7. Oktober 2011 auf dem Sender Nessma TV. Insbesondere auf islamistischen Facebook-Gruppen wurde dieser Verstoß gegen das Abbildungsverbot des Islam verbreitet. Zwei Tage später griffen mehrere Salafisten den Sitz des Senders an und drangen in das Gebäude ein. Am 14. Oktober folgte eine Demonstration von ca. 1000 Salafisten vor dem Sender und ein Angriff auf das Wohnhaus des Geschäftsführers (vgl. Mihoub 2011: 26). Im Frühjahr 2012 wurde der Geschäftsführer aufgrund des sittlichen Verstoßes verurteilt.
124 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution tunesischen Öffentlichkeit, es repräsentierte, Ben Abdallah (2013b: 307) folgend, einen „microcosme de l’espace public tunisien“. So wurde beispielsweise der Streit der ANC um den Inhalt des ersten Artikels der tunesischen Verfassung in Facebook zwischen Regierungsanhängern und -gegnern fortgeführt. Es wurde dabei deutlich, dass die Front mehrheitlich entlang religiöser und ideologischer Überzeugungen verlief: Kernpunkt des Streits war die Frage, ob neben der Nationalsprache, Regierungsform und Staatsreligion auch das islamische Recht der Scharia als Pfeiler der Nation in den Artikel 1 aufgenommen werden sollte (vgl. Ben Abdallah 2013b: 307). Neben diesen Kämpfen um ideologische Hegemonie im Internet geriet der öffentliche Raum erneut zu einem prominenten Mittel des Protests. Ein Bündnis aus „leftists, intellectuals, the unions, and civil society activists, but also by supporters of the former regime“ (Boubekeur 2015: 2) nutzte Demonstrationen und Sit-Ins im materiellen Raum als Ausgleich für die Wahlniederlage und eine mangelnde Repräsentation innerhalb der politischen Debatten von ANC und Regierung. Erfolgreich führten sie insbesondere das Sit-In am Bardo32 im Dezember 2011 sowie den Protest für Frauenrechte am 13. August 2012 durch. In beiden Fällen konnten sie Einfluss auf die Ausrichtung der Verfassung nehmen, einerseits indem mehr Transparenz bei deren Ausarbeitung erstritten wurde, andererseits, indem entgegen der Pläne der Ennahdha-Partei die Gleichwertigkeit zwischen Frauen und Männer in die Verfassung aufgenommen wurde (vgl. Boubekeur 2015: 2). Allerdings übernahmen auch die Anhänger der Ennahdha-Regierung diese Form des Protests, indem sie ebenso beim Bardo-Sit-In anwesend waren und dort die Regierungspolitik verteidigten. Auf die zunehmende Kritik an der Ennahdha-Regierung sowie auf die Gründung der als säkulare Initiative gedachten Partei Nidaa Tounes (‚Der Ruf Tunesiens‘) durch den erfahrenen Politiker Beji Caid Essebsi antworteten die Islamisten33 mit dem stark besuchten Sit-In Ekbess (‚Bleibt stark‘) zwischen 31. August und 7. September am Platz der Kasbah. Durch diese Demonstrationen und Diskussionen auf Facebook entwickelte sich der Konflikt zwischen Wahlgewinnern und Wahlverlierern auch zu einem tiefgreifenden ideologischen Konflikt zwischen säkularen Modernisten und religiös-moralistischen Konservativen. Nach Mohsen-Finan wurden dadurch auch Fragen nach der Neuorientierung Tunesiens gegenüber westlichen (ehemals
32 Der Bardo befindet sich in der Nähe des ehemaligen Sitzes der verfassungsgebenden Versammlung. 33 Dazu gehörten die Mitglieder der Jugendbewegung von Ennahdha sowie benachteiligte und zumeist bildungsferne Jugendliche aus den Provinzen.
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kolonialen) Mächten, nach dem Erbe der Bourguiba-Regierung, nach religiöser Identität und dem zukünftigen politischen Handeln aufgeworfen: Les signes de fracture entre des projets de société différents complexifient la donne et la rupture entre le passé et le présent semble de plus en plus difficile à définir. Le contenu de cette rupture n’est clair pour personne. Que faut-il conserver du passé et à quoi correspondent ces fameuses «valeurs de la révolution» si souvent évoquées par tous? (Mohsen-Finan 2012: 18)
Diese offenen Fragen wurden bei Machtkämpfen zwischen den beiden Blöcken stets bearbeitet und diskutiert, wodurch sie bis in das Jahr 2013 ihre Relevanz für die tunesische Gesellschaft nicht verloren. Das Jahr 2012 war besonders geprägt von diesen Auseinandersetzungen: Islamistische Kollektive34 engagierten sich in der Folge der Wahlen insbesondere: a) gegen Ereignisse oder Praktiken, die ausgehend von einer muslimisch fundierten Moral als „provokativ“ gewertet wurden; b) gegen säkular dominierte Institutionen und deren Legitimität; c) gegen konkurrierende Politiker oder Vereine. Zu a): Bereits vor der Wahl fanden die Demonstrationen islamistischer Kräfte gegen aus einer muslimischen Perspektive anstößige Praktiken, Inhalte sowie Ereignisse einen Anfang mit den Übergriffen auf den Sender Nessma TV und seinen Geschäftsführer Nabil Karoui. Im Februar 2012 setzten sich solche Proteste wegen Sittenwidrigkeit mit den Aktionen gegen das Magazin Ettounsia fort, da dieses einen tunesischen Fußballspieler mit einem entblößten Model zeigte. Die Demonstrationen beschränkten sich jedoch nicht auf lokale massenmediale Inhalte. Das zeigt sich an der Reaktion auf die Ausstellung Le printemps des Arts im Palais Abdellia, bei der am 10. Juni mehrere Exponate zerstört wurden, und an den gewalttätigen Demonstrationen vor der Botschaft der USA am 14. September 2012 anlässlich des US-amerikanischen, islamkritischen Films Die Unschuld der Muslime (vgl. Hached 2017: 168). Einen Höhepunkt der moralischen Politik der Islamisten markierten die Übergriffe sowie Morddrohungen gegenüber der Bloggerin Amina Sboui (auch Amina Tyler), welche am 11. März 2013 ein fotografisches Selbstportrait mit ihrem nackten Körper und u.a. der Aufschrift Fuck your Morals auf Facebook35 veröffentlichte. All diesen Fällen gingen Mobilisierungs-
34 Diese waren teilweise dem gemäßigten Islamismus zuzurechnen, wie z. B. die Jugendorganisation der Ennahdha oder zahlreiche wert- und religionskonservative Bürger, andererseits bestanden sie aber auch aus radikalen Kräften, beispielsweise den Anhängern der radikal-islamistischen Ansar al-Scharia, welche dem Islamischen Staat und Al-Quaida nahe steht, und der selbst ernannten Ligue de protection de la révolution (LPR), die im Mai 2012 gegründet wurde und zunächst der Ennahdha nahe stand. 35 Hierzu genauer siehe Kapitel III.3.
126 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution kampagnen über Facebook voran, die über provokative Bilder, überspitzte Texte sowie gezielte Falschinformationen Hass als verbindendes Gefühl sowie Anlass einer kollektiven Mobilisierung schürten (vgl. Hached 2017: 170 f.). Zu b): Ebenso wurden Institutionen attackiert, welche als säkular dominiert oder als unterdrückend für die Ausübung des Islam wahrgenommen wurden. Hier sind besonders die zahlreichen und langwierigen Proteste in der Universität Manouba zu nennen, welche sich zwischen Ende November 2011 und dem 7. März 2012 gegen die Universitätsleitung richteten. Einen Auftakt fanden die Proteste mit der Verstärkung des Niqab-Verbots an der Universität Manouba, welcher besonders vom Dekan der philosophischen Fakultät am 28. November gegen muslimische Studentinnen durchgesetzt wurde. In der Folge entstanden Demonstrationen von Islamisten vor der Fakultät, welchen von der Studentengewerkschaft mit Gegenprotesten begegnet wurden. Im Januar wurde die Universität teilweise von Salafisten besetzt und die vom Niqab-Verbot betroffenen Studentinnen forcierten die Proteste mit einem Hungerstreik. Am 6. März schließlich fanden die Proteste ihren Höhepunkt, als Salafisten während einer Massendemonstration die Nationalflagge am Gebäude der Universität entfernten und sie durch das schwarze Banner der Ansar al Scharia ersetzten. Die Gegendemonstrantin Khaoula Rashidi bestieg anschließend das Dach und hisste erneut die Nationalflagge (vgl. Suleiman 2012; Le Pape 2014). Zu c): Während in den o. g. Fällen das Protesthandeln insbesondere auf die Aufrechterhaltung einer islamischen Deutungshoheit im Land fokussierte, wurden allerdings auch politisch handelnde Individuen sowie zivilgesellschaftliche Vereine zu Opfern islamistischer Übergriffe. Die LPR organisierten im Jahr 2012 mehrere Proteste gegen NGOs (vgl. Boubekeur 2015: 3) sowie gegen Feierlichkeiten zur Würdigung des UGTT-Gründers und Gewerkschaftlers Farhat Hached. An die gewalttätigen Übergriffe im letzten Fall schlossen sich Aufrufe der nationalen Gewerkschaft UGTT zum Generalstreik und zu kleineren lokalen Streiks im Dezember 2012 an, welche die Regierung zu einer klaren Position und einem Kampf gegen die Islamisten verpflichten sollten. In der Folge kam es zu weiteren Übergriffen und Demonstrationen der Ligue de protection de la Revolution in Zusammenarbeit mit salafistischen Imamen (vgl. Boubekeur 2015: 3; vgl. Chouikha und Gobe 2013). Den Höhepunkt fanden diese Übergriffe allerdings in den politischen Morden, welche ab Ende 2012 das Land ergriffen. So starb ein Lokalpolitiker der neu gegründeten, dezidiert anti-islamistischen und liberalen Partei Nidaa Tounes, Lotfi Naguedh, am 18. Oktober 2012, nachdem eine vor allem über Social Media organisierte Gruppe das Regionalbüro in der Provinz Tataouine angriff. Während dieser Mord noch zu verhältnismäßig wenigen Reaktionen der Zivilgesellschaft führte, kennzeichneten die Morde an den linken Poli-
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tikern Chokri Belaid am 6. Februar 2013 und Mohammed Brahmi 25. Juli 201336 durch das daran anschließende Entsetzen und die Proteste einen Umkehrpunkt in der öffentlichen Reaktion auf die islamistischen Übergriffe. An allen Morden waren nachweislich Mitglieder der LPR beteiligt. Bei diesen zumeist als Protest dargestellten Aktionen hielt sich die Regierung in einer Bewertung oft zurück. So wurden weder die Übergriffe auf Medienstationen und Aktivisten, noch die Proteste in der Manouba tatsächlich verurteilt. Einzig der Anschlag auf die US-Botschaft und die Morde an den Politikern zogen (z. T. verzögerte) exekutive und juristische Konsequenzen nach sich. Dies verstärkte allerdings die aktivistische Opposition in der Veranstaltung von Gegendemon strationen. Dabei wurden zeitgleich die konkreten Handlungen und die intransparenten Beziehungen zwischen islamistischen Gewalttaten und der Regierung (vor allem im Fall der Ennahdha-nahen Ligue de Protection de la Révolution) verurteilt. Später mehrte sich die Ablehnung auch gegen die innenpolitische Härte der Regierung. So führte der Innenminister Ali Larayedh (Ennahdha) ab 2012 mehrere innenpolitische Aktivitäten zur Unterdrückung von Regimekritikern durch. Es wurden gehäuft Dissidenten, Aktivisten, Künstler und Journalisten verhaftet, welche sich einerseits des Verstoßes gegen die sittliche Ordnung (bspw. im Fall von Jabeur Meijri, welcher blasphemische Karikaturen in Facebook veröffentlicht hat, im Fall der Nacktbloggerin und Femen-Aktivistin Amina Sboui, sowie bei den Gerichtsprozessen gegen die Geschäftsführer von Nessma TV und Ettounsi) oder andererseits, wie im Fall von den Rappern Weld El 15 oder Klay BBJ, der Beamtenbeleidigung (vgl. Allagui 2014: 998)37 oder des Verstoßes gegen die öffentliche Ordnung (beim Graffiti-Kollektiv Zwewla) schuldig gemacht haben sollen. Zudem intensivierte Larayedh die staatliche Repression bei Demonstrationen oppositioneller Aktivisten. Angeregt durch die unklaren Ausarbeitungsschritte zur Verfassung, die zunehmenden Übergriffe durch Islamisten und die darunter leidende künstlerische, journalistische und alltägliche Freiheit38 demonstrierten vor allem säkulare Kräfte vermehrt gegen das Regime unter der Ennahdha-Führung. Vor allem zweifelten sie verstärkt die Legitimität der gewählten Regierung an.39
36 Der 25. Juli war zudem ein symbolischer Moment, da hier die nationale Unabhängigkeit gefeiert wurde und der Tag zudem in diesem Jahr innerhalb des Fastenmonats Ramadan lag. 37 Zu soziokulturellen Imaginationen und lokalpolitischer Kritik im tunesischen Rap, vgl. Barone (2017). 38 Damit sind u.a. gemeint die Einengung der Frauenrechte, der Demonstrationsrechte sowie der geschlechtlichen und sexuellen Selbstbestimmung. 39 Eine genaue Untersuchung der Wahlbeteiligung zeigt, dass lediglich zwischen 40 und 50 Prozent der wahlberechtigten Tunesier an der Wahl zur ANC teilgenommen haben (vgl. Chouikha und Gobe 2013).
128 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution Die zahlreichen Proteste setzten sich u.a. für eine gleichberechtigte Rolle der Frau innerhalb der zukünftigen Gesellschaft, für die Meinungs- und Redefreiheit, für Solidarität mit den bei der Revolution getöteten und verletzten Menschen sowie mit aus politischen Gründen Inhaftierten ein. Der säkulare Aktivismus stellte folglich nicht die Rolle des Islam innerhalb der tunesischen Nation infrage, sondern fokussierte auf die politischen Dimensionen des Islamismus, welche o. g. Freiheiten zu beschneiden drohten. Zugleich entwickelte sich erneut eine gesellschaftliche Akzeptanz für diese Opposition. Dies war ein Resultat der steigenden politischen Instrumentalisierung islamistischer Aktionen und der damit verbundenen Grenzüberschreitungen, beispielsweise im Rahmen des Konflikts um die Nationalflagge an der Manouba-Universität. Fortgeführt wurde diese politische Grenzüberschreitung durch die Morde an den Oppositionspolitikern. Vor allem der Mord an Chokri Belaid markierte einen Wendepunkt, da er als Anwalt, Aktivist, aktiver Teilnehmer der Revolution und links-nationalistischer Politiker für viele Tunesier zu einer wichtigen Symbolfigur geworden ist. Die verzögerten Ermittlungen in seinem Mordfall führten zu zahlreichen Demonstrationen, mehrere zehntausend Menschen nahmen an seiner Beerdigung teil. Diese Mobilisierung richtete sich vor allem, wie Boubekeur betont, gegen die Ennahdha-Regierung: Since Ennahda had previously blamed Belaid for the regional and labor protests that were challenging the government, the party stood now accused of sharing political responsibility in the crime. Protests and general strikes called by the UGTT to demand the resignation of the Troika government brought between 40,000 (according to the interior ministry) and 100,000 (according to the demonstrators) people to the streets. (Boubekeur 2015: 4)
Die Proteste führten am 19. Februar 2013 zum Rücktritt des Premierministers Hamadi Jebali und zur Einsetzung von Ali Larayedh als Premier einer neuen Regierung. Jedoch verzögerten sich auch unter dieser Regierung erstens die Erarbeitung der Verfassung und zweitens die polizeilichen Ermittlungen im Mordfall Belaid. Auch die neu gebildete Partei Nidaa Tounes unterstützte nun die breite Kritik an der Ennahdha-Regierung, der Protest gewann damit eine breite Basis. Ein Großteil der Mobilisierung gegen die Ennahdha erfolgte über Facebook. Es mehrten sich die Kampagnen zur Befreiung politischer Gefangener40 und es wurden Neuigkeiten über die politischen Morde verbreitet. Der öffentliche Stimmungswandel, welcher vom Stolz auf die demokratischen Wahlen in eine Ableh-
40 Diese Kampagnen wurden durch den Hashtag „#Free“ markiert. So existierten Kampagnen für die Befreiung von Amina Sboui, von Weld El 15, von Psyco M sowie des Graffiti-Kollektivs Zwewla.
Historische Eckpunkte des politischen Protests in Tunesien 129
nung der regierenden Partei kippte, ist deshalb auch mit dem Spiel aus Protest und politischer Reaktion im materiellen Raum der Städte einerseits und im virtuellen Raum der Social Networks andererseits zu begründen. Es ist demnach auch nicht erstaunlich, dass der Mord an Mohammed Brahmi im Sommer 2012 eine weitere Station für die Erweiterung der politischen Opposition darstellte. Es folgte darauf das Sit-In Errahil (‚Abschied‘) welches im Ramadan am Bardo, vor dem Tagungsort der verfassungsgebenden Versammlung, veranstaltet wurde. Dieses forderte den Rücktritt der Regierung und eine neue Regierung ohne die Beteiligung der Ennahdha-Partei, die Auflösung der verfassungsgebenden Versammlung und die Einsetzung einer Expertenrunde, um die Arbeiten an der tunesischen Verfassung abzuschließen. Da sich die Proteste im Laufe des Monats August verstärkten, wurde im September auf Initiative des nationalen Gewerkschaftsverbands UGTT ein Quartett des nationalen Dialogs gebildet, welches aus UGTT, dem Handels- und Industrieverband (UTICA), der Menschenrechtsorganisation La Ligue Tunisienne pour la Défense des Droits de l’Homme und der nationalen Anwaltskammer bestand. Dadurch konnten Gespräche mit den Regierungsparteien der Troika sowie parlamentarischen Oppositionsparteien angestrengt werden, die in einem Stufenplan für die Erarbeitung der Verfassung und zur Absetzung der Regierung Larayedh sowie zur Bildung einer technokratischen, parteilosen Übergangsregierung im Januar 2014 resultierten. Damit wurden ebenso die ersten regulären Präsidentschaftswahlen im Oktober 2014 initiiert, womit die Stabilisierungsphase der Revolution als abgeschlossen betrachtet werden kann.
1.6 Konklusion: Medienkultur und Politik Tunesiens Aus den vorangegangenen Betrachtungen wird deutlich, dass die vor allem seit 2010 entstehende Medienkultur Facebooks in Tunesien eng verknüpft ist mit Entwicklung einer tunesischen Protestkultur. So wirkte sich der politische Protest konstitutiv auf die Nutzung von Facebook aus. Das SNS etablierte sich durch die Dialektik aus ansteigender Nutzung für die revolutionären Proteste und der hinsichtlich dieser Nutzungsweise affirmativen Veröffentlichungen protestrelevanter Informationen als dominantes Medium zivilgesellschaftlichen Widerstands in Zeiten der Revolution. Des Weiteren wirkte sich der Protest auch auf in Facebook vorhandene Zeichenpraktiken aus, produzierte und verbreitete Inhalte wurden zunehmend politischer, reflektierten lebensweltliche Ereignisse aus dem physischen und dem mediatisierten öffentlichen Raum und boten kollektiv relevante Lesarten für diese Ereignisse an.
130 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution Zugleich sind die in Facebook ausgetragenen Konflikte zwischen Revolution und Kontrarevolution, zwischen Protest und Gegenprotest nicht lediglich als „virtueller Spiegel des Realen“ (vgl. Ferjani und Mekki 2011) zu verstehen. Indem Facebook ab Ende 2010 zum medial prominenten Austragungsort von symbolischen Kriegen um Deutungshoheit, zunächst zwischen dem Regime Ben Alis und den demonstrierenden Bürgern, dann zwischen den Anhängern rivalisierender Parteien und zuletzt zwischen Befürwortern des islamistischen Kurses der Regierung und dessen Gegnern wurde, lässt es sich nicht mehr als nur repräsentatives Medium, ein Quasi-Abbild der Wirklichkeit verstehen. Vielmehr wurden diese Auseinandersetzungen zu einem Bestandteil des tunesischen Protests, sie konstituierten die Ideologie der widerständigen Gruppe, betonten historische Ereignisse und schufen neue Dynamiken, und nicht zuletzt trugen sie erheblich zur Mobilisierung neuer Mitglieder und demonstrierender Massen bei. Dies war die neue Dimension, die der tunesischen Revolution folgende, nationale und transnationale Protestbewegungen einbrachte: Die durch individuelle Nutzer gesteuerte Kommunikation auf Facebook wurde zu einem entscheidenden Bestandteil von politischem Protest generell. Nicht zuletzt wurden aufgrund der medialen Eigenschaften des Internets und aufgrund ihrer semiotischen Eigenschaften Bildzeichen zu einem tragenden Element der Protestkommunikation in Facebook. In den folgenden Analysen wird untersucht, welche besondere Dimension durch dieses visuell-semiotische Handeln in die konstruktive Wechselwirkung zwischen Medien- und Protestkultur eingebracht wird.
2 Flaggenproteste: Die Nationalflagge und die Verhandlung des Nationalen Die Nationalflagge Tunesiens war eines der prägendsten visuellen Motive auf den Facebook-Profilen tunesischer Nutzer nach dem 17. Dezember 2010. Im Folgenden sollen zwei Bildlichkeiten des Flaggenmotivs unterschieden werden. Dabei handelt es sich einerseits um fotografische Wiedergaben von Flaggenartefakten, die im materiellen Raum angeeignet und darüber hinaus in Fotografien ausgestellt wurden. Andererseits kamen vor allem in der Kernzeit der Demonstrationen von Dezember 2010 bis zum 4. März 2011, aber auch anschließend grafisch-abstrahierte Abbildungen der tunesischen Nationalflagge als Profilbilder zahlreicher Nutzer auf. Vor der Betrachtung der zeichenhaften Ebenen dieser Bildsorten werden zunächst die semiotischen Besonderheiten von Nationalflaggen grundlegend
Flaggenproteste: Die Nationalflagge und die Verhandlung des Nationalen 131
dargestellt. Anschließend stehen die dominanten Symbolizitäten der tunesischen Flagge im Vordergrund. Folgend sollen auf einer pragmatisch-konnotativen Ebene die Verweisqualitäten der vorgestellten Bildsorten analysiert werden. Dabei steht insbesondere die Aneignung des Flaggenmotivs im Vordergrund, welche einerseits im physisch-materiellen Rahmen von Demonstrationen erfolgte, andererseits in Form von ikonischen Aneignungen im SNS Facebook. Bezüglich der Bildzeichen in Facebook wird zuerst die Ausbildung von Protestkollektiven anhand des Flaggenbildes untersucht. Anschließend rücken Formen der bildlichen Bricolage und der semiotischen Erweiterung des ursprünglichen Motivs in den Vordergrund. Davon ausgehend werden abschließend anhand der Flaggenbilder die Verhandlungen des Nationalen sowie die symbolischen Aus einandersetzungen zwischen politischen Teilkulturen ausgewertet.
2.1 Die Nationalflagge als komplexes Zeichen Nationalflaggen sind Bildzeichen, die sich insbesondere durch ihre politische und konstitutive Funktion auszeichnen: Sie symbolisieren die Souveränität, Integrität und territoriale Geschlossenheit eines Staates und konstituieren ihn dadurch als Nation. Diese Konstitution erfolgt sowohl in Hinsicht auf institutionelle Strukturen als auch hinsichtlich individueller Wahrnehmung: Der Nationalstaat nutzt die Nationalflagge, um sich innerhalb seiner Institutionen zu konstituieren und sich zugleich von anderen institutionellen Konstrukten anderer Staaten abzugrenzen. Zudem sind Nationalflaggen Zeichen der Zugehörigkeit und staatlichen Kohärenz in der Wahrnehmung einzelner Individuen. Neben weiteren Nationalsymbolen wie Nationalhymne, Wappen(-tier) und Münzen ermöglicht die Nationalflagge erst die Materialisierung und darüber hinaus Konstruktion der sonst eher ideellen Entität des Nationalstaats. Nationalflaggen sind komplexe Zeichen, da sie – Nöth (2016: 199 f.) folgend – ikonische, indexikalische und symbolische Dimensionen verbinden.41 Versucht man eine generelle Kategorisierung, so wird man die Nationalflagge dennoch den symbolischen Zeichen zuordnen. So sind sie Verbundzeichen, die dann „auf Grund ihrer kulturellen und gesetzlichen Festlegung“ (Nöth 2016: 199) zu Symbolen werden. Die Nationalflagge birgt allerdings eine weitere Eigenart: Es handelt
41 Für eine komplexere Betrachtung verschiedener Nationalflaggen unter der Anwendung der Sebeokschen Zeichenkategorien und insbesondere eine Vertiefung von Ikonizität, Indexikalität und Symbolizität der Nationalflaggen vgl. Knowlton (2012).
132 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution sich bei ihr um ein Bildzeichen, dem unterschiedliche Materialitäten zukommen können. Wird die Flagge einerseits als Artefakt betrachtet, ist sie ein materialisiertes oder durch den textilen Flaggenstoff verkörpertes Bild. Mit dieser textilen Flagge sind bestimmte Handlungen verbunden wie das Hissen, das Schwenken oder sie in den Wind zu halten (vgl. Andersen et al. 2016: 141). Andererseits ist die Nationalflagge ein Bild, welches auch durch andere Trägermedien vermittelt wird: So wird sie in audiovisuellen Medien und oft in grafisch vereinfachter Version gezeigt, um beispielsweise symbolisch auf Nationalsprachen oder Nationalitäten zu verweisen. Daraus folgt eine ambivalente Materialität der Flagge. Sie bedarf stets eines materiellen Trägermediums, welches jedoch einmal greifbar und physisch im öffentlichen Raum vorhanden ist und damit ihre Territorialitätsfunktion als Hoheitszeichen betont, und ein anderes Mal ihre Bildlichkeit in medialer Hinsicht hervorhebt. Zugleich ist die Nationalflagge – und dies ist nicht nur auf allegorischer Ebene der Fall – die bildliche Mediatisierung eines Kollektivkörpers – der Nation und des Nationalvolkes (vgl. Brandt 2010: 20–27; Andersen et al. 2016: 137). Da es sich bei dem nationalen Kollektivkörper um ein imaginär- reales Konstrukt handelt (vgl. Liebsch 2017: 41), bedarf es in besonderer Weise der Repräsentation und zugleich Materialisierung in der Nationalflagge. Die Flaggen nähern sich deshalb in ihrer bildlichen und medialen Funktion den Wappenbildern an, welche, wie Hans Belting hervorhebt, „Medien des Körpers seien“ (Belting 2001: 116). Als Symbol für eine territoriale und sozialräumliche Hoheit bedarf die Flagge ebenso eines solchen Funktionskörpers. Diese doppelte Körperlichkeit der Flagge kann semiotisch insbesondere über die barthesche Unterscheidung von Denotation und Konnotation43 gefasst werden. Während die denotative Ebene der Flagge vor allem auf ihre Ikonizität verweist, kommt die Konnotation in der Wechselwirkung zwischen Flagge als Bild und Flagge als Objekt zum Tragen. Die erweiterte, soziokulturelle Dimension des Flaggenzeichens lässt sich eben nicht auf die reine Ikonizität beschränken – sie entsteht durch den Einbezug von Materialität, des sozialräumlichen Kontextes, der sozialen Nutzungsweise der Flagge beispielsweise in (national-)rituellen Zeichenpraktiken und des konkreten Zeitpunktes dieser Praktiken.
42 Zwar wurden diese Begriff lichkeiten bisher aus der bartheschen Bildsemiotik entnommen, jedoch hat Barthes selbst sie im Rahmen seiner Mythologies (vgl. Barthes 2014) ebenso auf physische Objekte übertragen (vgl. ebenso Eco und Pezzini 1982).
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2.2 Geschichte und Ikonologie der tunesischen Flagge Die tunesische Nationalflagge entstand in ihrer heutigen Form relativ früh43 aus den Seekriegsflaggen der tunesischen Flotte unter Al-Husayn II, Bey von Tunis zu Beginn des 19. Jahrhunderts. So wurde zu dieser Zeit die Ikonografie des osmanischen Reiches in veränderter Form übernommen, um die tunesische Flotte nach der Seeschlacht von Navarino 1827 deutlich von den anderen osmanischen Streitkräften abzuheben. In der Folge wurde die Flagge als Hoheitszeichen des osmanischen Statthalters – des Beys von Tunis eingeführt. Offiziell nutzte sie Ahmad I., Bey von Tunis ab 1837. 1959 wird die Flagge mit der Unabhängigkeit Tunesiens von Frankreich als Flagge der tunesischen Republik und Nation konstitutionell verankert. Aufgrund dieses historischen Hintergrunds und insbesondere fehlender Quellen ist die intendierte Symbolik der Nationalflagge ungeklärt. Sie zeichnet sich durch die prominenten Elemente der osmanischen Flaggen aus: sie besteht aus einem roten Hintergrund, auf dem sich ein Halbmond und ein Stern finden. Im Gegensatz zu anderen osmanischen Flaggen allerdings liegt unter einem roten Halbmond und dem roten, fünfzackigen Stern eine weiße Scheibe.44 Dadurch werden die klassischen Elemente der osmanischen Flaggen farblich umgekehrt. Aufgrund dieser Umkehrung wurden im historischen Nachhinein verschiedene Versuche der ikonologischen Deutung unternommen: In verschiedenen Interpretationen werden der fünfzackige Stern sowie der Halbmond als Zeichen des Islams betrachtet (vgl. Knowlton 2012: 71; Yakoub 2017: 32). Insbesondere die fünf Zacken des Sterns seien mit den 5 Pfeilern des Islams gleichzusetzen. Jedoch ist diese Deutung umstritten. So weist Smith (2001) darauf hin, dass Halbmond und Stern eher ihren Ursprung in der Kultur der Karthager haben, als eine klare Verankerung im Islam. Die religiöse Bedeutung sei im Zuge der Vereinheitlichung des Flaggenzeichens innerhalb des osmanischen Reiches und damit in weitestgehend islamischen Ländern zugewiesen worden. Zudem ist die Interpretation des roten Flaggenhintergrunds unklar: Eine offensichtliche Lesart ist selbstverständlich auch hier die Referenz auf die osmanische Flagge (vgl. Smith 2001). So hat sich das Rot im ehemals osmanischen Wirkungsbereich und insbesondere im Raum des Maghreb als Farbe säkularer Stärke
43 Verglichen zur Entstehung der Nationalflaggen im Nachfeld des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges und der Französischen Revolution. 44 Vgl. das erste Kapitel der tunesischen Verfassung von 2014, online unter: https://majles.marsad.tn/fr/constitution/5/chapitre/1 (Stand: 27.09.2017).
134 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution etabliert, weshalb es noch heute als Hintergrund der Nationalflaggen in diesem geographischen Raum dominiert (vgl. Bouhdiba 1980: 70). Demgegenüber steht jedoch eine Ikonologie der Hintergrundfarbe, welche in dem Rot den tunesischen Widerstand gegen die (osmanische) Okkupation sieht (vgl. Crampton et al. 1989; Marsh 2016). Dies nähert sich stark der populären Lesart an, wonach Rot das Blut der im Unabhängigkeitskampf verstorbenen Märtyrer symbolisiere (vgl. International Business Publications USA 2008: 15). Die Konnotation des Blutes und damit verbundenen Kampfes ist eine sehr verbreitete Deutung der roten Farbe in arabischen Kulturen. So weist Bouhdiba darauf hin, dass hierin zwar die Farbe des Blutes gesehen wird, dieses allerdings als „vitale“ Kraft (Bouhdiba 1980: 70) wahrgenommen wird. Der symbolische Gehalt der tunesischen Nationalflagge wird im Laufe der tunesischen Geschichte oft neu gedeutet bzw. werden die existierenden Deutungsansätze unterschiedlich betont. So gerät insbesondere die widerständige Konnotation in Verbindung mit dem Bild des Märtyrers in den Vordergrund der Deutung, wenn die Flagge mit einem gesteigerten Nationalbewusstsein gepaart wird: Das Rot der Flagge steht inzwischen nicht mehr nur für die Märtyrer der osmanischen Besatzung seit 1574, sondern auch für Widerstandskämpfer während des französischen Kolonialismus (vgl. Yakoub 2017: 36; vgl. International Business Publications USA 2008: 15). Obgleich die Nationalflagge während der französischen Besetzung zwar erlaubt war und hauptsächlich weiterhin als Nationalsymbol genutzt wurde, sahen die Tunesier in ihr dennoch ein Symbol mangelnder staatlicher Souveränität gegenüber der Kolonialmacht. Die Unabhängigkeit Tunesiens von Frankreich im Jahr 1956 brachte demnach auch eine Umwertung der Flagge mit sich. Sie wurde zu einem Zeichen souveräner Bürger als Triebkräfte einer einheitlichen Nation: „The Tunisian flag initially visualized the national process of subject formation, from an interiorized inferiority as colonial object, to the Tunisian people as subject of its own history.” (Yakoub 2017: 36) Nach dem Machtwechsel von Präsident Bourguiba zu Präsident Ben Ali im Jahr 1987 wurde die Symbolizität der tunesischen Flagge erneut verändert. In den Jahren seiner Herrschaft verstärkte Ben Ali nicht nur das autokratische Herrschaftssystem, sondern entwickelte auch einen umfassenden Personenkult, der mit zahlreichen Symbolen verbunden wurde. So wurden die 7, das Datum der Machtergreifung Ben Alis am 7. November, sowie die Farbe Mauve zu stets im öffentlichen Raum inszenierten Machtsymbolen des Regimes (vgl. Geisser & Gobe 2008; Fenniche 2013). Ebenso wurde die Nationalflagge eng an die Person Ben Alis gebunden. Bei öffentlichen Auf tritten des Präsidenten wurde sie gehisst, ebenso war sie auf den zahlreichen großflächigen Portraitplakaten des Präsidenten sichtbar.
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Hinsichtlich dieser symbolischen Politik Ben Alis spricht Raja Fenniche (2013) unter Bezug auf Pierre Bourdieu von einer symbolischen Gewalt im öffentlichen Raum: Les citoyens n’ont pas le choix entre accepter ou s’opposer à cette démonstration de force sémiotique, ils ne pouvaient que la subir. […] L’individu se sent exclu de la sphère publique, et non reconnu dans son existence d’être social. Interdit d’agir, de penser, de dire si ce n’est dans un langage conforme au discours officiel qui ne convainc plus personne. Pire, ses espaces visuel et auditif (sic !) sont largement envahis. (Fenniche 2013: 11)
So haben diese symbolischen Besetzungen zur Folge, dass das Individuum aus einer symbolischen Teilhabe im öffentlichen Raum ausgeschlossen wird. Sowohl Signifikate als auch die einzig zulässigen Lesarten dieser Zeichen wurden von der politischen Macht vorgegeben, Spielraum zur Verhandlung der symbolischen Politik gab es nicht. Dies führt auch dazu, dass vorhergehende Interpretationen von Zeichen ausgeblendet werden müssen. So wurde die Nationalflagge ihrer bürgerlichen Idee des nationalen Widerstandes beraubt, der Schaffung eines Nationalstaates durch kollektiven Widerstand gegenüber okkupierenden Kräften. Vielmehr geriet dadurch eine weitere Dimension der Nationalflagge in den Vordergrund: Die Nation steht nicht mehr für den Kollektivkörper ihrer sie konstituierenden Bürger, sondern sie verweist auf die Führungspersönlichkeit des Staatspräsidenten als dominante Konstituente nationaler Einheit (vgl. Yakoub 2017: 36). Symbolisch wird dafür die Flagge in allen relevanten Publikationen an den Körper des Autokraten gebunden. Eine solche Bedeutungsverschiebung wird relevant, wenn man den Status von Nationalf laggen als „systems of visibility“ betrachtet. Andersen et al. (2016: 141) heben hervor, dass Nationalflaggen als Systeme der Sichtbarkeit im Sinne Jacques Rancières verstanden werden müssen, die in einer Gesellschaft determinieren, „what is seen and said and also what is done and what can be done.“ (Andersen et al. 2016: 141) Sie haben somit lebensweltliche und handlungspraktische Relevanz. Diese Bedeutung für die alltägliche Wahrnehmung politischer Sag- und Darstellbarkeiten sowie der Wahrnehmung des politischen öffentlichen und kommunikativen Raumes basiert auf der kollektiven Setzung solcher Regimes. Es wird eine Interpretationsgemeinschaft gebildet, die auf demselben Wirklichkeitsmodell fußt: „The system of national flags forms a community of sensible data: shared visibility, modes of perception, and conferred meanings.“ (Andersen et al. 2016: 141) Jedoch ist im Fall der tunesischen Natio nalflagge hervorzuheben, dass sie – zumindest in innenpolitischer Hinsicht – im Gegensatz zum von Andersen et al. festgestellten Common Sense eher eine Form der symbolischen Etablierung und Rechtfertigung staatlicher Hegemonie darstellt.
136 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution In der bürgerlichen Wahrnehmung ist die Flagge des tunesischen Staates in der Zeit vor dem 17. Dezember 2010 hauptsächlich ein Zeichen der Autokratie Ben Alis und staatlicher Propaganda. So führt Samah Kirchah aus, dass zuvor die Menschen die tunesische Flagge und die Nationalhymne hassten, da sie an die Propaganda der Partei Ben Alis gebunden waren. […] Sah man die tunesische Flagge, so sah man auch die RCD und Ben Ali. Sie war eng mit dem Bild und dem System Ben Alis verbunden.45
Nach Henda Jennaoui, Journalistin des kritischen Mediennetzwerks Nawaat, war die Flagge „immer verbunden mit dem Bild des Regimes. Das Regime hat sich das Land und die Nation angeeignet. Es hat unsere Identität, unser Land etc. konfisziert.“46 Diese Konfiszierung der Flaggenbedeutung drückte sich dadurch aus, dass das Objekt der Nationalflagge bis Ende 2010 fast ausschließlich aus Gründen des Konformismus mit staatlichen Verordnungen und als Reaktion auf Einschüchterungen im öffentlichen Raum getragen wurde. Sofiane Bel Haj stellt klar, dass während dieses Regimes „derjenige, der die Flagge an seinem Fenster wehen ließ, direkt als Anhänger des Regimes Ben Ali wahrgenommen wurde.“47
2.3 Materielle Aneignungen der Nationalflagge im Rahmen der Proteste von Dezember 2010 bis März 2011 Anschließend an die ersten Demonstrationen im Nachfeld der Selbstverbrennung Bouazizis in Sidi Bouzid am 17. Dezember 2010 wird eine Bedeutungsverschiebung zunächst in der soziopragmatischen Symbolik der Nationalflagge Tunesiens sichtbar. Die Flaggen wurden im öffentlichen Raum getragen und geschwenkt, nun allerdings von tunesischen Protestierenden im Rahmen der oft spontan entstehenden Demonstrationen. Dabei wurde deren öffentlicher Einsatz nicht mehr von einer Autorität vorgegeben, die Bürger des Landes wählten selbständig die Nationalflagge und setzten sie damit als Zeichen des Protestes.
45 „Les gens pratiquement haïssaient le drapeau tunisien, et haïssaient l’hymne national, parce qu’ils étaient rattachés à la propagande du parti de Ben Ali. […] Voir le drapeau de la Tunisie, c’est voir le RCD, c’est voir Ben Ali. C’était très collé à l’image de Ben Ali, au système de Ben Ali.“ Interview Samah Krichah. 46 „Tout le temps lié à l’image du régime. Le régime s’est approprié le pays, la nation. Il a confisqué notre identité, notre pays etc.“ Interview Kerim Bouzouita und Henda Chennaoui. 47 „Celui qui mettait le drapeau à sa fenêtre était directement classé comme un […] lécheur des bottes régime de Ben Ali.“ Interview Sofiane Bel Haj und Hazar.
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Als symbolisches Objekt wird die tunesische Flagge hier nun in einer neuen Weise gebraucht: Sie taucht im öffentlichen Raum auf, in der Hand von selbstbestimmten, politisch handelnden Bürgern, die den öffentlichen Raum kollektiv und nach eigenen Maßgaben erfüllen und durchschreiten. Aus dieser Perspektive wird deutlich, dass die Nationalflagge neben der zeitweiligen Symbolik der autokratischen Herrschaft Ben Alis im Moment der Demonstrationen mehrere konnotative Ebenen in sich vereint. Zunächst sind Flaggen von jeher Symbole des Strebens um eine politische Hoheit und in diesem Rahmen ebenso unabdingbares, symbolisches Element von Protest im öffentlichen Raum. Jarman hebt hervor, dass Flaggen damit auch der sozialen Segregation und der Abgrenzung von anderen Kulturprogrammen dienen: Flags are thus used to assert control over place and space, to reinforce a sense of social segregation and difference, but also as a constant reminder of the other and therefore of the potential for hostility and violence. (Jarman 2007: 97)
Während Neil Jarman deshalb teilweise berechtigt darauf hinweist, dass Flaggen keineswegs mit einer konstanten Bedeutung ausgestattet sind, sondern insbesondere vorübergehend in historisch signifikanten Kontexten neue Bedeutungen erlangen oder eben auch Bedeutungen verlieren können (vgl. Jarman 2007: 94), soll hier doch davon ausgegangen werden, dass eine grundsätzliche Konnotation der Nationalflagge in ihrer nationskonstituierenden Funktion liegt. Zwar kann in Fällen der populären Nutzung und vor allem des Konsums von Flaggen der Anschein entstehen, dass sie vollkommen von dieser Bedeutungsebene befreit werden,48 jedoch bleiben Flaggen grundsätzlich „sign vehicles through which the nation-state communicates more or less specific message about itself to others.“ (Weitman 1973: 335) Betrachtet man nun den Kontext und die Gebrauchsweisen der Flaggen während der Proteste genauer, so zeigt sich, dass sie zwar im selben öffentlichen Raum, oftmals den Stadtzentren, ab dem 27. Dezember sogar dem Zentrum der Hauptstadt, getragen wurden. Jedoch wurden die Flaggen von widerständigen Bürgern gewählt, um ihrem Protest Ausdruck zu verleihen. Die Bewegungen des demonstrierenden Kollektivkörpers waren hierbei keine vorgegebenen und geordneten, wie im Fall der öffentlichen Auftritte des Präsidenten oder weiterer Machthaber, sondern eine deviante, da politisch aktivierte Präsenz. Nach Judith Butler kann hier von „alliierten Körpern“ gesprochen werden:
48 So sind Nationalflaggen prominente Motive der Populärkultur und des Designs, in denen sie offensichtlich kaum mehr Referenz auf den Nationsgedanken haben (vgl. Groom 2007).
138 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution Where the legitimacy of the state is brought into question precisely by that way of appearing in public, the body itself exercises a right that is no right; in other words, it exercises a right that is being actively contested and destroyed by military force, and which, in its resistance to force, articulates its persistence, and its right to persistence. (Butler 2011)
Indem die demonstrierenden Bürger mit ihrer körperlichen Präsenz den öffentlichen Raum der Städte nunmehr als Öffentlichkeit individuell-politischen Ausdrucks beanspruchen, wird die Bedeutung der Nationalflagge verändert: Einerseits wird die nationalkonstituierende Funktion wieder hervorgehoben, da die Bürger die Flagge als Legitimationszeichen ihres Protestes einsetzen. Sie beanspruchen damit das Recht auf bürgerliche Teilhabe und Meinungsäußerung im öffentlichen Raum. Das symbolische Artefakt wird somit im Sinne von John Clarke (1976 zitiert in Hebdige 2002: 104) relokalisiert und in einen neuen Kontext gestellt. Dadurch ergeben sich neue Diskurse, die über die Nationalflagge als Symbol kommuniziert werden, und die ursprüngliche hegemoniale Grammatik, welche u. a. auf der Flagge als Zeichen der Herrschaft fußte, wird verändert. Zugleich wird die hegemonial fixierte, politische Konnotation der Nationalflagge aufgelöst – die Konnotationsschicht der Flagge wird für andere Bedeutungen und damit verbundene Diskurse geöffnet. Während die Flagge zuvor ein deutliches Zeichen des autokratischen Systems Ben Alis war, hebt Samah Krichah vor, dass mit dem Aufkommen der Flaggen bei Protesten eine Bedeutungskorrektur entstand: „Ab dem 17. Dezember wurde die tunesische Flagge massenhaft gebraucht, um auszudrücken, dass man das Land liebt, nicht aber das System.“49 Der neue Einsatz von Nationalflaggen im öffentlichen Raum spaltet demnach die politisch gesetzte Bedeutungsverbindung zwischen Nation und Herrschaftssystem auf und grenzt die nationale Konnotation klar gegenüber der politischen Konnotation ab. Entscheidend ist, dass diese Bedeutungskorrektur durch die kontextuelle Kopplung mit der Protesthandlung erfolgt. Während die Nationalflagge in der tunesischen Geschichte selten ein Mittel für bürgerlichen Protest und politischen Widerstand nach Innen war, wird sie nun Symbol neben anderen Symbolen des Protests, die sich gegen den Machtinhaber richten. Insbesondere bei den Demonstrationen kommt es zu einem multimodalen Ausdruck des Protests, markiert durch Bildzeichen wie die Flagge, durch Schrift auf Plakaten, durch skandierte Slogans und gesungene Parolen (vgl. Leone 2017). Vor allem die politischen Slogans schaffen einen neuen Interpretationsrahmen für die Interpretation der Nationalflagge während der Demonstrationen:
49 „A partir du 17 décembre, c’est venu massivement, le drapeau tunisien, pour dire qu’on aime le pays mais pas le système.“ Interview Samah Krichah.
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Indem Slogans, die die Absetzung des Präsidenten oder der machthabenden Partei forderten,50 von Aufrufen zu generellen Werten – ‚Arbeit, Freiheit, nationale Würde‘51 – abgegrenzt werden, wird auch auf sprachlicher Ebene die Idee der Nation von politischer Systemlogik und Instrumentalisierung getrennt. Vielmehr gerät der Gedanke der nationalen Würde in den Vordergrund. Ebendiese Wertschätzung der Nation als abstrakte Idee wird durch die Nutzung der tunesischen Flagge im öffentlichen Raum von den protestierenden Bürgern wieder transportiert.
2.4 Virale Flaggengrafiken und kollektive Aneignungen Im Anschluss an die ersten Massendemonstrationen ab Ende Dezember 2010 ist die tunesische Flagge nicht nur ein hervorstechendes Symbol während der physischen Demonstrationen im öffentlichen Raum, sondern sie taucht zunächst als Profilbild, später auch in anderen Bildgenres im SNS Facebook auf. Bouzouita (2011: 156) schätzt die Anzahl der so ausgeschmückten Profile auf ca. 2 Millionen, was bei den verschiedenen Zahlen zur Facebook-Nutzung zu Beginn des Jahres 2011 die Totalität der Nutzer oder zumindest die deutliche Mehrheit der Nutzerprofile bedeuten würde.52 Auch wenn andere Quellen die Anzahl der mit einer tunesischen Flagge ausgestatteten Facebook-Profile geringer ansetzen,53 handelte es sich doch um einen bemerkenswerten visuell-kommunikativen Trend, wie Bouzouita (2011) anhand einer Übersicht der Profilbilder seiner Facebook-Kontakte aufzeigte. Die so gesetzten Flaggenbilder sind zunächst einfache grafische Repräsentationen der Grundelemente der Nationalflagge. Weder handelt es sich um fotografische Abbildungen eines Flaggenartefakts, noch um eine elaborierte digitale Umsetzung, bei der Kontraste, Schattenwurf und Elemente der Bildkomposition genutzt werden. Insbesondere wird bei diesen ersten Flaggendarstellungen nur die
50 Ben Ali Dégage! bzw. RCD Dégage! (auf Französisch proklamiert). Zu den Slogans der Revolution vgl. Azouzi (2013). Zu den Verwendungsweisen des Slogans Dégage! in Online-Netzwerken, vgl. Kapitel III.3. dieser Arbeit. 51 Chughl, Hurria, Karâma Watania (in tunesischem Dialekt). 52 So stellt Sarah Mersch 2,4 Millionen Facebook-Nutzern im März 2011 fest (vgl. Mersch 2017), Mourtada und Salem (2011: 3) hingegen geben im Mai 2011 1,82 Millionen Nutzer an. 53 Fenniche (2013: 16) spricht von mehreren Tausend bis Zehntausend Profilen. Ben Naceur (2011) betont, dass es sich am 11. Januar 2011 um eine Tendenz handele, das Profil mit der tunesischen Flagge auszustatten, es jedoch viele gäbe, die diesem Trend nicht folgten.
140 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution Oberfläche des Artefakts gezeigt – jegliche Hintergründe, die auf ein materielles Objekt verweisen können, wie Himmel, Fahnenstange oder ein anderer Fahnenträger entfallen. Die Flagge wird auf ihre Bildlichkeit reduziert (vgl. Abbildung 2).
Abb. 2: Facebook-Profil Ghassen Amami, Profilfoto, veröffentlicht am 31.12.2010.
Die grafisch vereinfachten Darstellungen der Nationalflagge rücken insbesondere ihre visuelle Dimension in den Vordergrund, wodurch die Flagge zu einem Zeichen ikonischer Repräsentation wird. Die ikonische Darstellung ist hierbei weitgehend vereinheitlicht. Während Flaggen im öffentlichen Raum in verschiedenen Größen getragen wurden, den Körper einhüllten oder auf Gesichter gemalt wurden und damit in heterogener Form und Medialität auftraten, waren die grafischen Darstellungen auf den Profilbildern reduziert und in dieser Form normiert. In der Revolutionsphase von Dezember 2010 bis März 2011 herrschten vier Typen des Flaggenmotivs vor. Tatsächlich tauchte das unveränderte oder nur mit einem Faltenwurf versehene digitalisierte Motiv der Flagge erst nach dem 14. Januar 2011 massenhaft in Facebook als Profilbild auf. Zwischen Dezember 2010 und bis zur Hälfte des Januars 2011 dominierten Bildtypen, die die Elemente der tunesischen Nationalflagge aufgriffen, diese jedoch in veränderter Form wiedergaben. Dabei wurden vor allem die Form bzw. Farbe des roten Hintergrundes geändert und weitere Elemente hinzugefügt. Während im folgenden Kapitel diese Darstellungsveränderungen und deren Bedeutung thematisiert werden, soll zunächst die grundsätzliche Prominenz des Flaggenmotivs als Profilbild im Vordergrund stehen.
Flaggenproteste: Die Nationalflagge und die Verhandlung des Nationalen 141
Im virtuellen Raum der Social Network Sites kommt es zu einer ähnlichen Form der symbolischen Aneignung des Flaggenbildes wie im materiellen Raum: Wie zuvor festgestellt, verläuft der Prozess symbolischer Aneignung in der Wechselwirkung zwischen denotativer Ebene (der Ikonizität als das Sichtbare) und konnotativer Bedeutungskonstruktion. So können als fixiert betrachtete Bedeutungskopplungen aufgebrochen und dominantes Zeichenhandeln zurückgewiesen werden. So wie im materiellen Raum physische Flaggenartefakte eine neue Dimension konnotativer Symbolik erlangt haben, indem sie durch protestierende Bürger in der Öffentlichkeit getragen wurden, wird im digitalen Raum die Bildlichkeit der Nationalflagge vermittelt durch das Profilbild an die individuell-virtuelle Präsenz gebunden. Dadurch erhält das Flaggenzeichen eine neue Sichtbarkeit im SNS, die von bisherigen Nutzungsweisen der Flagge im Rahmen der präsidentiellen Symbolpolitik abweicht. Durch das vermehrte Auftreten des Motivs wird die Flagge über den digitalen ‚Träger‘, das Profilbild, in das Bedeutungsgefüge nationaler Souveränität des Volkes eingefügt. Diese neue Konnotation entsteht bereits vor einer konkreten symbolischen Aufladung, wie sie insbesondere durch Modifikationen des Flaggenmotivs stattfindet. Die Nutzer beanspruchen eine Deutungshoheit über die Konnotation des Flaggenmotivs, indem sie das Zeichen als ihr Profilbild setzen. Damit weichen sie einerseits von bis dahin gängigen Ästhetiken und vorherrschenden Motiven (herkömmliche Porträtfotografien, Fußballbilder, Bilder von Schönheitsprodukten oder luxuriösen Autos, vgl. Ben Naceur 2011) ab und greifen zum ersten Mal auf die Sphäre politischer Symbole zurück. Über diesen individuellen Aspekt hinausgehend kommt der Nationalflagge andererseits auch eine kollektiv-bürgerliche Dimension zu: Indem sie auf zahlreichen Profilen in gleicher oder ähnlicher Darstellungsweise als stabiles Zeichen der individuellen Identität genutzt wird, erhält sie (wieder) eine kollektive Relevanz. So verbreiteten sich die Flaggengrafiken in der Zeit zwischen Ende Dezember 2010 und März 2011 rasant und wurden stets von anderen Individuen als Profilbild gesetzt. Dadurch entstand eine ‚virale‘ Verbreitungsdynamik. Ähnlich lagge als Bildsymbol einer epidemischen Virusinfektion wurde die Nationalf innerhalb von Nutzernetzwerken gestreut, wodurch eine zeitliche Agglomeration mit dem Symbol ‚kontaminierter‘ Profile auftrat (vgl. Chatfield 2013: 170 f.). Damit wurde eine inhärente digitale Dynamik geschaffen, die sich erheblich von der Veröffentlichung des Flaggensymbols im physischen Raum unterschied: Im Gegensatz zu den Flaggenartefakten, die erworben oder hergestellt, zumindest aber physisch präsent sein mussten, die zudem zu Beginn der Protestbewegung nur im Rahmen einer Demonstrationsteilnahme im öffentlichen Raum gezeigt wurden, war das digitale Flaggenbild leicht verfügbar, kopierbar und – bezogen auf konkrete Situationen – dekontextualisiert. Somit konnte es auch von nichtdemonstrierenden Facebook-Nutzern einfach und beständig als
142 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution Profilbild gesetzt werden. Dies erklärt, weshalb sich das Flaggenmotiv im Internet auf viral-unkontrollierte Weise verbreiten konnte, während es im Raum der Stadt eher zu zeitlich und räumlich kontrollierten Arten der Verbreitung kam. Wie Bouzouita (2011) zeigte, ist das Bildzeichen deshalb zu einem konkreten historischen Zeitpunkt innerhalb von Nutzernetzwerken in Facebook das dominante Symbol geworden – nicht nur als Zeichen aufsteigender Umdeutung des Nationalen, sondern auch als Mittel kollektiver Selbstvergewisserung. Kollektive Handlungsfähigkeit als Aneignung hegemonialer Zeichen (vgl. Yakoub 2017: 31) wird so in Form des publizierten Flaggenbildes sichtbar und reflektierbar gemacht – außerhalb der Nutzernetzwerke als Eindruck der Politisierung der Facebook-Nutzer, aber auch nach Innen als kollektive Selbstermächtigung. Bouzouita wiederum verweist darauf, dass die tunesischen Facebook-Nutzer durch den massenhaften Aufgriff des Flaggenbildes einen widerständigen Stil entwickeln, welcher zu einer kollektiven Identität beitrage: „Le ‚sens‘ du style contre-culturel, fut ainsi la communication d’une différence et l’expression d’une identité commune muée par une volonté collective.“ (Bouzouita 2011: 157, Hervorhebung im Original). Das gemeinsame Symbol – wenn auch in unterschiedlichen Darstellungsweisen – löst die sonst sehr individuumszentrierte (Selbst-) Darstellungsoption des Profilbildes auf und weist dem Profilbild darüber hinaus die kommunikative Funktion einer gemeinschaftsbildenden, kollektiven Selbstvergewisserung als Selbstreflexion zu: Auf den ersten Blick wird ein Profil als zugehörig zu einem (protest-)kulturellen Programm dargestellt. So weist die tunesische Facebook-Nutzerin Samah Krichah darauf hin, dass die kommunikative Funktion der digitalen Nationalflagge eben in der Auflösung des Individuellen liege: „Die Nationalflagge transzendiert das Individuelle, um Zugehörigkeit zu einer größeren Sache zu markieren.“54 Die kollektive Vergewisserung und Selbstreflexion erfolgt hauptsächlich auf bildsymbolischer Ebene: Es entstehen durch die mit Flagge markierten Profile visuelle Multituden (vgl. Hardt und Negri 2004), lose Kollektive ohne verbindende Klassen- oder Schichtzugehörigkeit, die durch eine gemeinsame Tele ologie des Widerstands geeint werden. Das so entstehende Netzwerk zeichnet sich jedoch – entgegen der algorithmischen Logik des SNS – nicht durch eine soziotechnische Verbindung wie Hyperlinks oder die Verknüpfung von Nutzern durch ‚Freundschaft‘ aus. Es besteht einzig auf ikonisch-symbolischer Ebene – durch die Repräsentation der Flagge auf den Profilbildern wird zugleich das
54 „[L]e drapeau transcende l’individu pour marquer une appartenance pour quelque chose de plus grand.“ Interview Samah Krichah.
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gemeinsame Ziel des Widerstands gegen das Regime markiert, und es entsteht ein imaginäres Kollektiv. Die gesteigerte mediale Sichtbarkeit des Widerstands durch die Flaggenbilder ist allerdings nur in ihrer Wechselwirkung mit den Protestflaggen im physischen Raum der Städte zu verstehen. Die Repräsentationspolitiken der Flaggenproteste im physischen Raum und der Flaggenbilder im virtuellen Raum der SNS wirkten zusammen. Bei den Protesten in den Straßen wurde die symbolische Neuaufladung der Flagge insbesondere durch kontextualisierende Zeichen vollzogen. Die Aneignung fand hier auf Ebene der klassischen Bedeutungs- und Darstellungselemente der Flagge und in der performativen Einbettung in den Kontext des Protests statt. Jedoch waren die Flaggen in diesem Raum nicht für jeden Protestierenden verfügbar und auch nicht jeder Widerständige nahm – insbesondere aufgrund der Bedrohungslage durch Ordnungskräfte – an diesen physischen Protesten teil. Die individuelle Aneignung des Flaggenmotivs erfolgte deshalb vor allem in der virtuellen Umgebung des SNS. Jedoch war hier das Bild nahezu kontextbefreit. So lag weder ein medieninterner Rezeptionshintergrund des Motivs als Zeichen des Widerstands vor – vorherige Flaggendarstellungen im Internet waren wie im physischen Raum durch die Symbolpolitik des Regimes besetzt – noch fügten sich die Flaggenbilder in eine ‚widerständige Umgebung‘. So waren zu diesem Zeitpunkt oft keine weiteren politischen Aussagen oder Symbole auf den Profilen zu finden. Die widerständige Konnotation erhielt das Flaggenbild deshalb hauptsächlich durch die Einbettung in einen historischen Kontext und den dadurch entstehenden Verweis auf das Auftreten der Flaggen bei Demons trationen im physischen Raum. So konnten sich mehrere Tausende mit der widerständigen Symbolik schmücken. Es kam zu einer virtuellen Affirmation der physischen Flaggenaneignung. Neben dieser Bedeutungsprägung durch den weiteren, zeitgenössischen Kontext trug die kollektiv-virale Verbreitung des Flaggenmotivs im SNS Facebook zur Bedeutungsverschiebung bei. Die Nutzung des Motivs als Profilbild durch zahlreiche Individuen und die dadurch entstehende visuelle Multitude führten zu einer semiotisch relevanten Bildperformanz. Durch das zunehmend sichtbare Flagge-Zeigen im virtuellen Raum wurde der massenhaften Forderung nach einem Systemwechsel und einer Befreiung des Nationalen vom System Ben Alis Ausdruck verliehen. Die virale Verbreitung und performative Repräsentation der Nationalflagge prägten die widerständige Konnotation des Zeichens aus. Erst durch den Vollzug des kollektiven Bildaktes wurden deshalb einerseits die Bildbedeutung, andererseits die Option eines kollektiven, widerständigen Bildhandelns geschaffen. Diese Doppelseitigkeit der Bedeutungsprägung im performati-
144 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution ven Zeichenakt ist hierbei eine Besonderheit des Bildes. So hebt Emmanuel Alloa hervor, dass [d]ie performative Produktion […] sich nicht nur als eine Hervorbringung verstehen [lässt]; darin zu hören ist, ganz buchstäblich, ein Vor-führen (producere): performative Akte stellen das, was sie hervorbringen, immer auch vor Augen, sie sind Herstellungen, die auf ihre Darstellungen angewiesen sind und sich nur in deren Rahmen vollziehen können (darin liegt eine späte Erklärung für die Tatsache, dass Herstellung und Darstellung einst synonym verwendet wurden). Performanz heißt dann nicht nur: ›einen Akt vollziehen‹, sondern immer auch schon: ›das Vollziehen eines Aktes darstellen‹. Oder noch einmal anders formuliert: Bilder zeigen nicht nur, sie zeigen auch wie sie zeigen. […] In diesem Sinne geht es im Performativen weniger darum, etwas sein zu lassen als vielmehr (oder besser: viel weniger) etwas erscheinen zu lassen, über dessen Existenzmodus noch nichts gesagt ist. (Alloa 2011: 48)
Die massenhafte Sichtbarmachung des Flaggenmotivs insbesondere im digitalen Raum der Social Network Sites ist demnach nicht nur ein Auf-Zeigen des immer gleichen Motivs (oder ähnlicher Darstellungen), ist nicht nur die Festigung einer vorherrschenden Darstellungsweise. Jenseits der Sichtbarkeit des Bildes gewinnt die Kollektivität der Bildhandlungen an Gewicht. In der performativen Darstellung als visuelle Sichtbarmachung vollzieht sich die kollektive Dimension der Symbolaneignung: Neben der individuellen Setzung des Flaggenzeichens als Profilbild wird durch das gehäufte Veröffentlichen das Ideal einer bürgerlich gestützten Nation eröffnet. Das Symbol der Nationalflagge wird dadurch – wenn auch innerhalb der Profilseiten vergleichsweise kontextbefreit – nicht nur individuell, sondern kollektiv-kulturell angeeignet und zu einer bürgerlich-nationalen Konnotation zurückgeführt. Kultursemiotisch ist dies bedeutsam, da sich über diese kollektive Zeichen aneignung eine Dynamik innerhalb der Semiosphäre ausbildet, welche die gesamten semiotischen Code-Strukturen der Sphäre stört. Im Sinne Jurij Lotmans kommt es zu einer semiotischen „Explosion“, zu einer radikalen Umwälzung der Bedeutungsstrukturen innerhalb einer Schicht der Semiosphäre. Indem die Bürger das Nationalsymbol aneignen, entreißen sie dem Regime einen Teil der symbolischen Macht und stoßen dadurch Veränderungsprozesse innerhalb der gesamten hegemonialen Struktur der tunesischen Gesellschaft an: Die Kultur als komplexes Ganzes setzt sich zusammen aus Schichten unterschiedlicher Entwicklungsgeschwindigkeit, so dass jeder Synchronschnitt das gleichzeitige Vorhandensein von verschiedenen Stadien enthüllt. ,Explosionen‘ in der einen Schicht können sich mit sukzessiver Entwicklung in der anderen verbinden. (Lotman 2010: 21)
Als struktureller Prozess ist diese semiotische Explosion innerhalb der tunesischen Symbolpolitik und des damit verbundenen Machtgefüges selbstverständlich nicht nur durch die Flaggenzeichen angestoßen. Alle zum Zeitpunkt der
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revolutionären Phase veröffentlichten bildlichen Ausdrücke von Protest trugen zu dieser Wirkung bei. Allerdings waren die Flaggenzeichen der erste Ausdruck von Protest für große Teile der tunesischen Gesellschaft. Die kollektive Verbreitung der Flaggenbilder eröffnete demnach zuerst den Möglichkeitsraum widerständiger Ausdrucksweisen. Es werden feste Strukturen hegemonialer Macht innerhalb der Semiosphäre – in diesem Fall die Selbstzensur und Apolitizität der tunesischen Bürger bei gleichzeitiger politischer Indoktrination über die offiziellen Kommunikationsakte des Regimes – zerstört. Dadurch entsteht ein nahezu strukturfreier Raum offener, kommunikativer Handlungsmöglichkeiten. Daraus ergeben sich nach Lotman allerdings auch divergierende Strukturen sinnstiftender Kopplungen – gleich einer semiotischen Revolution wird das Spektrum von Zeichenproduktion und -rezeption schlagartig erweitert: Es entsteht ein Explosionsraum, ein Bündel unvorhersehbarer Möglichkeiten. Die davon ausgestoßenen Partikel bewegen sich auf so nahen Flugbahnen, dass man sie als synonyme Wege von ein und derselben Sprache beschreiben kann. […] Im Weiteren jedoch treibt die Bewegung auf unterschiedlichen Radien sie immer weiter auseinander, die Varianten des Einen verwandeln sich in Spektren des Verschiedenen. (Lotman 2010: 172)
Das poststrukturalistische (vgl. Illing 2017: 558) Konzept der Explosion bezieht Lotman auch auf den Bereich der Politik und schafft damit eine semiotische Fundierung symbolischer Dynamiken von Revolutionen: Schließlich weist Lotman darauf hin, dass die Explosion oftmals durch Prozesse innerhalb der Teilsemiosphären in der Peripherie einer Kultur angestoßen werden, was in der Form ebenso auf die Protestkultur zu beziehen ist (vgl. Illing 2017: 559). Durch diese Umstrukturierung innerhalb der Zeichenstrukturen der Semiosphäre wurde auch die Nationalflagge hinsichtlich ihrer Konnotation geöffnet. Damit einher ging die Bearbeitung der Flagge auf der Darstellungsebene des visuellen Zeichens.
2.5 Bricolagen des Flaggenmotivs Die ab Dezember 2010 in Facebook aufkommenden, ersten Flaggenmotive entsprachen allerdings nicht der klassischen Gestaltung der Nationalflagge. Tunesische Facebook-Nutzer veränderten bereits im Dezember 2010 und Januar 2011 das Flaggenmotiv ästhetisch, um auf markante Ereignisse der Proteste, bspw. Todesopfer, Polizeigewalt sowie die Flucht des Staatpräsidenten, zu reagieren. So wurden die Ausbreitung des Hintergrunds, die Darstellung der Elemente im Vordergrund und der Bildaufbau modifiziert, oder es wurden weitere Motive hinzugefügt.
146 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution Maßgeblich ist hier die Version anzuführen, die bereits Ende Dezember 2010 auf den Profilbildern erschien und sich vor allem ab dem 9. Januar 2011 massenhaft verbreitete. Auf ihr ist der Hintergrund erweitert, sodass der ursprüngliche rote Hintergrund der Nationalflagge nunmehr als roter Fleck auf einem weißen Hintergrund erscheint. Der Fleck breitet sich ausgehend von der zentral gelegenen weißen Scheibe mit Halbmond und Stern aus. Auf der weißen Scheibe finden sich rote Schlieren, umgeben von roten Spritzern. Zudem verläuft das Rot ausgehend vom Zentrum in Richtung des unteren Bildrands. Im Zentrum des Flecks ist der Farbauftrag dichter und die Farbe dunkler. Davon ausgehend wird der Auftrag schwächer, das Rot heller. Durch diese Kontrastveränderung wird das Zentrum – die weiße Scheibe mit Stern und Halbmond – betont und wirkt dadurch als Ursprung der Farbspritzer. Ergänzt wird das Bildzeichen durch einen Trauerflor an der rechten oberen Ecke des Bildes (vgl. Abbildung 3).
Abb. 3: Facebook-Profil Haythem El Mekki, Profilfoto, veröffentlicht am 09.01.2011.
Entscheidend ist, dass der ursprüngliche Hintergrund der Nationalflagge mit der grafischen Veränderung eine Ebene in den Vordergrund gerückt wird. Die auf ihre Monochromatik reduzierte Hintergrundfläche gerät in Bewegung. Die Stofflichkeit des Rots als Farbmaterial wird betont, indem die Farbstreuung scheinbar zufällig angeordnet ist. Die Fleckhaftigkeit des Rots wird über den „Charakter des Akzidentellen im Sinne des englischen ‚accidents‘ (Weltzien 2006: 3) insze-
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niert. Dadurch wird einerseits die „Faktizität des Materials“ (Weltzien 2006: 3) hervorgehoben, andererseits der Blick auf das Zentrum des Bildes gelenkt. Diese lagge Schichtverschiebung zwischen zugrundeliegendem Motiv der Nationalf und der nun vorliegenden Darstellung ist nicht nur hinsichtlich ihrer ästhetischen Erweiterung, sondern auch der semiotischen Dimension des Bildes relevant. Das monochrome Rot der Nationalflagge, welches symbolische Dimensionen von (weltlicher) Macht und Kampf um nationale Souveränität konnotierte, wird in ein organisch fließendes Material gewandelt. Die Stofflichkeit verweist damit umso mehr auf lebensweltliche Erfahrungen: Bedeutete zuvor das Hintergrundrot u.a. das Blut der Märtyrer im Kampf um die Nation, so wird hier das Blut nicht nur durch einen symbolischen Verweis, sondern insbesondere durch die repräsentierte Materialität als Flüssigkeit greifbar gemacht. In diesem Sinne wird der Hintergrund nun in ein aktives Element indexikalischer Bildlichkeit verwandelt. Über kulturell gesetzte Erkennungscodes werden zwischen dem roten Fleck einerseits und einem lebensweltlichen Blutfleck andererseits quasi-kausale Verbindungen gesetzt. Die Erkennungscodes werden in diesem Rahmen durch den historischen Produktions- und Rezeptionskontext gelenkt. Prominent verbreitet wurde diese Flaggenversion am Sonntag, den 9. Januar 2011, als die anwachsenden Proteste gegen das Regime mit einer repressiven Haltung der Polizei konfrontiert wurden. Die offizielle Bestätigung der damit verbundenen Todesopfer durch die Regierung, führten zu landesweiter Verwunderung und Trauer. Sie wurden auch auf den Facebook-Profilen in Form der variierten Nationalflagge ausgedrückt. Es wird hieraus deutlich, dass der zu einem roten, dynamisch zerfließenden Fleck gewordene Flaggenhintergrund nicht mehr symbolisch auf das Blut historischer Märtyrer, sondern quasi-indexikalisch auf die Schussverletzungen der getöteten Demonstranten verweist. Zur Bildbedeutung trägt neben dieser quasi-indexikalischen Verweisqualität des roten Flecks auch das symbolische Element des Trauerflors bei. Dieser gehört nach Reinhard Fiehler zu den „am Körper getragene[n] Gegenstände[n] mit Symbolcharakter“ (Fiehler 2014: 55) im Trauerfall und wird abgegrenzt von den externen Symbolen, wie Trauerrand und Halbmastbeflaggung. Jedoch hat sich der Trauerflor ebenso als externes Symbol in der visuellen Bestattungskultur, beispielsweise bei Todesanzeigen, etabliert. Im Falle des Florsymbols im o. g. Bild fungiert der Trauerflor damit in einer doppelten Funktion: Einerseits markiert er als Symbol im Bild die generelle Trauer um einen oder mehrere gestorbene Menschen. Andererseits wird er hier auch als Element des Profilbildes genutzt und damit an den virtuellen Körper des Profilnutzers angebunden. Insbesondere in der massenhaften Verbreitung des modifizierten Flaggenbildes entsteht deshalb ein virtueller Zug trauernder Individuen.
148 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution Indem die Nationalflagge in einen Blutfleck verwandelt und mit dem Symbol des schwarzen Bandes versehen wird, kommt es zu einer speziellen Form der Flaggenaneignung. Auf Darstellungs- und Bedeutungsebene wird eine weitere semiotische Schicht über die o. g. Bildlichkeit gelegt. Im modifizierten Motiv scheint zwar weiterhin die erste Konnotation, die Aneignung der Nationalflagge als Zeichen nationaler Souveränität und der Abkehr von der symbolischen Hegemonie des Regimes, durch. Allerdings wird die nationale Souveränität gekoppelt mit dem Tod von Demonstranten, die während des Protests, also dem Widerstand gegen die physische und symbolische Hegemonie des Präsidenten, ihr Leben ließen. Diese Deutung wird vor allem durch die visuelle Präsenz des Trauerflor- Motivs auch in anderen Darstellungen vom 9. Januar 2011 auf Facebook-Profilen gestützt, bei denen die tunesische Flagge (in der klassischen Form) oder der Slogan In Trauer. In Gedenken an die Opfer55 mit dem Trauerflor versehen wird. Durch die Nutzung kulturell etablierter Trauersymbolik wird zuerst ein indirekter Verweis auf die bei Demonstrationen Getöteten hergestellt, welcher sodann visuell oder textuell an das Ideal einer bürgerlich getragenen Nation angebunden wird. Dadurch verweist die ausgestellte Nationalflagge in diesen Fällen nicht nur auf eine vollzogene Aneignung des Nationalen. Vielmehr stellt die Flagge eine Utopie bzw. ein Telos dar, dessen Vollendung mit einem Kampf um nationale und bürgerliche Autonomie verbunden ist. Die Opfer werden als Element dieses Machtwechsels inszeniert, der Machtwechsel zu einem blutigen Kampf gemacht, dessen Toten in visuell repräsentierter Trauer gedacht wird. Diese Lesart nimmt eine Deutung der im Bild vorhandenen, semiotischen Elemente insbesondere hinsichtlich des soziohistorischen Kontextes vor. Eine erweiterte Lesart des zuerst angeführten Bildes ergibt sich, wenn man die semiotische Binnenstruktur des Bildes fokussiert. So liegt hier genau genommen eine visuelle Metapher vor, bei der ein visuelles Element durch ein anderes visuelles Element wahrgenommen und verstanden wird (vgl. Lakoff und Johnson 1980: 5). Gemäß der Theorie konzeptueller Metaphern nach Lakoff und Johnson wird im Folgenden davon ausgegangen, dass Metaphern keine primär sprachlichen Phänomene sind, sondern sich vielmehr aus einer funktionellen, kognitionsbasierten Dimension ergeben (vgl. Lakoff und Johnson 1980: 153). Sobald zwei (Denk-)Konzepte miteinander in Verbindung gebracht werden, liegt demnach eine Metapher vor. Charles Forceville bezieht diese Theorie auf die visuellen Metaphern und weist darauf hin, dass nicht zwangsläufig beide Komponenten der Metapher sichtbar sein müssen (vgl. Forceville 1996: 111). Vielmehr ergäben sich Interaktionsstrukturen zwischen zwei Metapherdomänen, die den visuellen
55 En deuil. A la mémoire des victimes.
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Kontext (vgl. Forceville 1996: 111) und den zeithistorischen Kontext sowie generell mit der Domäne verbundene Bedeutungselemente wie Konnotationen, Einstellungen und Ideologien (vgl. Forceville 1996: 108) miteinbeziehen. Zu einer solchen Durchdringung zweier visuell mehr oder weniger präsenter Konzepte kommt es im besprochenen Beispiel (vgl. Abbildung 3). Ein Bereich der visuellen Metapher ist die Nationalflagge, welche hier nur noch teilweise, da ihres ursprünglichen Hintergrunds befreit, vorhanden ist. Der andere Bereich ist zum Teil in die Flagge inkludiert, da dort, wo ursprünglich der rote Hintergrund zu sehen war, ein Blutfleck prangt. Ergänzt wird diese Schicht durch das Trauerband an der oberen Bildecke. Zwischen beiden Domänen kommt es während des Wahrnehmungsaktes zu einer Interaktion. Die impliziten Assoziationen, die mit Quell- und Zielbereich verbunden sind, geraten in einen selektiven Austausch. Dies erklärt sich mit der Interaktionstheorie der Metapher nach Max Black folgendermaßen: The metaphorical utterance works by ‘projecting upon’ the primary subject a set of ‘associated implications’, comprised in the implicative complex, that are predicable of the secondary subject. […] The maker of a metaphorical statement selects, emphasizes, suppresses, and organizes features of the primary subject by applying to it statements isomorphic with the members of the secondary subject’s implicative complex. […] In the context of a particular metaphorical statement, the two subjects ‘interact’ in the following ways: (a) the presence of the primary subject incites the hearer to select some of the secondary subject’s properties; and (b) invites him to construct a parallel implication-complex that can fit the primary subject; and (c) reciprocally induces parallel changes in the secondary subject. (Black 1979: 28 f.)
Festzuhalten ist, dass Assoziationen, die mit dem Quellbereich oder der Sekundärdomäne der Metapher verbunden werden, auf den Ziel- oder Primärbereich bezogen werden. Allerdings hält Black hierbei fest, dass „einige Eigenschaften“ des Quellbereichs selektiert und diese in einer Implikationsstruktur so angeordnet werden, dass sie auf den Zielbereich oder Primärbereich bezogen werden können. Die Interaktion zwischen beiden Bereichen erfolgt demnach über erstens einen Prozess der Selektion und zweitens einen Prozess der Strukturierung. Im vorliegenden Beispiel des Flaggenbildes ist die Distinktion zwischen Quell- und Zielbereich aufgrund der Hybridizität des Bildes erschwert: Die Bestandteile der Metapher fließen ineinander, eine funktionale Bestimmung des figurativen Bereichs (der Quelle des metaphorischen Bildes) ist erschwert. Einerseits, und dies wird insbesondere durch o. g. visuelle Trauer um die Opfer der Proteste angeregt, lassen sich Blutfleck und Trauerband als Symbol für die Trauer um die getöteten Personen als Primärbereich verstehen. Die Nationalflagge gerät hierbei in den visuellen Hintergrund, bzw. wird sie zum Quellbereich der Meta-
150 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution pher. Es entsteht dann die Lesart: Zielbereich = Blut und Trauer (Blutfleck, Trauerband); Quellbereich = Nation (Nationalflagge). Oder in einem semantischen Zusammenhang: ‚Blut und Trauer‘ ist ‚Nation‘. Dies würde o. g. genannte Lesart unterstützen, wonach die Flagge die Trauer um die Opfer der Proteste als Märtyrer im Kampf um nationale Souveränität darstellt, wie Samah Krichah nahelegt: „Zum Beispiel drückt das Trauerband die Trauer um die für das Land gestorbenen Märtyrer aus.“56 Insbesondere die Dringlichkeit der brutalen Ereignisse zum Zeitpunkt der Veröffentlichung verstärkt diese Interpretation. Andererseits eröffnet sich eine weitere Bedeutungsdimension des Bildes, wenn man unter dem Eindruck der Präsenz der Nationalflagge auf den Profilbildern und unter der generellen Bedeutung der symbolischen Aneignung des Flaggenmotivs die visuelle Ebene der Nationalflagge als Primärbereich und die Ebene des Bluts und Trauerbands als Sekundärbereich versteht. Dadurch ergäbe sich die Lesart: ‚Nation‘ (Nationalflagge) ist ‚Blut und Trauer‘ (Blutfleck und Trauerband). Der Fokus der bildlich-visuellen Darstellung ändert sich und ist nun die verletzte oder getötete Nation. Der Aktivist und Journalist Haythem El Mekki verweist deutlich auf diese Interpretation, wenn er die Symbolizität des Blutflecks deutet: Also, die Idee war es, die rote Flagge zu nehmen und so zu tun, als wäre sie mit Blut befleckt. Und das bedeutet, Tunesien ist ermordet worden, Tunesien ist verletzt, man hat auf Tunesien geschossen. Das ist das Symbol.57
Die Richtung der Lesart der entstehenden Metapher ist folglich in diesem Fall auch den Rezipienten des Bildes bzw. sogar den Multiplikatoren des Bildzeichens nicht klar. Sofiane Bel Haj beispielsweise stellt zwar klar, dass das Bild Trauer ausdrücke, worauf diese sich allerdings beziehe, bleibt ungenau: „Das ist die Trauer, in Bezug auf die Märtyrer, etc.“58 Die Uneinigkeit der Tunesier über die genaue Bedeutung dieses Flaggenmotivs und damit über die Interpretationsrichtung der Metapher bestätigt die Interaktion beider metaphorischer Bereiche: Die Assoziationen, die zu den jeweiligen Metaphernbereichen selektiert und strukturiert werden, sind stets von einem historischen Interpretationskontext abhängig. Zum Zeitpunkt der vermehrten Ver-
56 „Par exemple le ruban noir, c’est un deuil pour les martyrs morts pour le pays.“ Interview Samah Krichah. 57 „Donc l’idée était ça : de prendre le drapeau qui était tout rouge, et de faire comme s’il était tâché de sang […] Donc voilà, la Tunisie est meurtrie, la Tunisie est blessée, on a tiré sur la Tunisie, c’est ça le symbole.“ Interview Haythem El Mekki. 58 „C’est le deuil, par rapport aux martyrs, etc.“ Interview Sofiane Bel Haj und Hazar.
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breitung des besprochenen Motivs waren sehr starke Assoziationen mit beiden Bereichen verbunden: Die Flagge, die so auch während der physischen Demons trationen präsent war, ist stark konnotiert mit dem symbolischen und physischen Kampf um bürgerliche Autonomie und nationale Souveränität. Das vergossene Blut wiederum kann zu diesem prägenden Zeitpunkt der Revolutionsphase nur auf das Blut der Todesopfer und Verletzten verweisen. Die metaphorische Verbindung beider Bereiche über die entsprechenden visuellen Repräsentationen liegt somit nahe und die Struktur der impliziten Assoziationen ist weitgehend kompatibel. Dadurch kommt es zu einer diffusen und hybriden visuellen Metapher, die ein komplexes Bedeutungsgewebe entstehen lässt, das nicht ohne Weiteres in klare Bestandteile aufgelöst werden kann. Nahezu zeitgleich zur ersten Variante des Flaggenmotivs erschien eine weitere Version mit deutlich geringeren Modifikationen. Hier wurden sämtliche roten Elemente der Nationalflagge in Schwarz geändert. Dies betrifft den Flaggenhintergrund sowie Stern und Halbmond (vgl. Abbildung 4).
Abb. 4: Facebook-Profil Haythem El Mekki, Profilfoto, veröffentlicht am 09.01.2011
Das so abgeänderte Motiv wurde ab Dezember 2010 veröffentlicht und mit der landesweiten Verbreitung der Demonstrationen ebenso umfassend in Facebook geteilt. Insofern die Grafik jeglicher Farblichkeit beraubt wird, entsteht eine vergleichsweise reduzierte Bedeutungsveränderung. Es kommt dabei nicht zu einer komplexen Überlagerung mehrerer visueller Schichten durch die Einführung
152 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution oder Transformation symbolischer Elemente als Teil einer visuellen Metapher. Vielmehr wird die Symbolizität des Flaggenhintergrunds von entsprechenden soziohistorischen Verweisen (z. B. auf das Blut der Märtyrer oder die Herrschaft der Beys) bzw. Farbsymboliken (als weltliche Farbe der Macht) hin zu einem farbsymbolischen Ausdruck von Trauer, Vergänglichkeit und Tod verschoben. Allerdings wird, dem zuvor besprochenen Zeichen des hinzufügten Trauerbands nicht unähnlich, auch in diesem Fall nicht klar, welche Deutungsrichtung die Verbindung einer neuen Farbgebung mit dem klassischen Flaggenmotiv erfahren soll. Die Verbindung des Nationalemblems mit der Trauersymbolik der Schwarzfärbung konstruiert einen doppelten Genitiv. Deshalb bedeutet der visuelle Ausdruck, der sich als die ‚Trauer der Nation‘ benennen lässt, einerseits die Trauer um die Nation, andererseits die Nation in Trauer. Beide Deutungsperspektiven sind, vor allem anschließend an die Wahrnehmung der zuvor behandelten Bildgrafik, möglich. Die Nation wird in zweifacher Weise visuell personifiziert als trauerndes Subjekt oder Objekt der Trauer. In dieser Hinsicht liegt hier eine metaphorische Struktur vor, die die Nation mit einer Bedeutungserweiterung versieht. Während die zuvor besprochenen Varianten der Nationalflagge vor der Flucht Ben Alis veröffentlicht wurden, wurde das letzte Bildzeichen in den Tagen direkt nach dem Abend des 14. Januar produziert und verbreitet. So veröffentlichte der Blogger Ali Jabeur am 17. Januar ein Profilbild, in welchem die tunesische Flagge mit einem Ring sich umfassender Hände kombiniert wird (vgl. Abbildung 5).
Abb. 5: Facebook-Profil Ali Jabeur, Profilfoto, veröffentlicht am 16.01.2011
Die aus den Händen gebildete Kette umgibt die Kernelemente der tunesischen Flagge. Auch in diesem Beispiel wird ein klar symbolisches Zeichen mit der tune-
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sischen Flagge in Verbindung gebracht. Dieses lässt sich entsprechend der Aussagen mehrerer Interviewter als Solidarität lesen. Die Kette schließt sich visuell um die symbolischen Elemente der Nation, welche laut Sofiane Bel Haj, ab dem 14. Januar als das „neue Tunesien“,59 also die vom Diktator befreite und damit erneuerte Nation, bezeichnet werden kann. Das Motiv der verschlungenen Hände als Symbol für (zivil-)gesellschaftlichen Zusammenhalt ist nicht neu. Einerseits ist es naheliegend, eine Visualisierung für Zusammenhalt über sich haltende Hände zu symbolisieren, da das Zusammenhalten als vorrangig manuelle Aktivität wahrgenommen wird. Andererseits wird das Motiv in sich verschränkter Hände zahlreich in der visuellen Kommunikation zum Thema genutzt. Zwischen Zusammenhalt und Solidarität rekurriert die Darstellung auf zwei hervorstechende Aspekte der Hand als kunsthistorisches Motiv: Einerseits gilt die Hand neben dem Gesicht als Identifikationsmerkmal des Menschen und gleichsam auch als Ort emotionalen Handelns (vgl. Springer 2011: 444). Andererseits kann die Verbindung von Händen in einem Handschlag nach Wenger-Deilmann und Kämpfer (2006: 191) als Pathosformel im Sinne Aby Warburgs behandelt werden. Die Handschläge der visuellen Geschichte des Abendlandes dienten folglich als bildliche Formel emotionaler Intensität, die Annäherung, Verständigung, Friedensschluss und Vertragsabschluss ausdrücke (vgl. Wenger-Deilmann und Kämpfer 2006: 191). Sie basiert auf der lebensweltlichen performativen Geste des Handschlags, wobei die physische Performanz im Bild noch präsent bleibt. Nicht zuletzt ist die Hand als semantische Einheit lexikologisch eng mit dem Begriff der ‚Handlung‘ verbunden (vgl. Wildgen 1999: 55 f.). Demnach intendiert die Darstellung einer Hand, besonders in gestischer Aktion, oft eine konkrete Handlung oder den Aufruf zu einer solchen. In dem Motiv der Hand werden folglich beide Aspekte – einerseits ein emotional-ideologischer Zugang bzw. eine höhere Idee, andererseits konkret physisches Handeln – miteinander verbunden. Einen Ausdruck findet diese symbolische Aufladung des Motivs darin, dass der Handschlag zumeist mit einer über die Performanz hinausgehenden, politischen Idee verbunden wird. Dies ist der Fall, wenn sich Politiker unterschiedlicher Systeme die Hand geben und dadurch eine auch ideologische Einheit symbolisieren. Der Handschlag ist deshalb als Emblem in die visuelle Kultur der Arbeiterbewegung und des Sozialismus eingegangen, nach der er die Einheit der Arbeiterklasse symbolisiert (vgl. Wildgen 1999: 55 f.). Mithilfe der miteinander und zu einer Einheit verbundenen Hände auf der lagge wird somit eine Metapher gebildet, welche den tunesischen Nationalf
59 Interview Sofiane Bel Haj und Hazar.
154 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution Zusammenhalt, die Solidarität und Einigkeit der Bürger für die Nation vermittelt. Die Konstruktionsrichtung der Metapher ist in diesem Beispiel klarer, da der Quellbereich visuell um den Zielbereich angeordnet wird. Im Zentrum stehen hierbei die Kernelemente der tunesischen Flagge, um die herum visuell die Solidarität des Volkes symbolisiert wird. Der Zusammenhalt wird demnach als Quelle auf das Ziel der Nation übertragen. Der Zeitpunkt der initialen Veröffentlichung des Bildes auf Facebook am Tag nach der abrupten Flucht des Präsidenten Ben Ali weist zudem darauf hin, dass die tunesische Nation hiermit eine neue symbolische Konnotation erfährt. Während in den vorhergehenden Beispielen die Lesart der Metapher insbesondere durch die uneindeutige Gestaltung diffus blieb, wird in diesem Bild deutlich, dass die Nation nunmehr klar als Zielbereich in den Vordergrund gerückt wird. Die visuelle Darstellungsweise der besprochenen Beispiele metaphorischer Flaggengrafiken ist geprägt von drei Aspekten: Zunächst werden in allen visuellen Metaphern die Quellbereiche der Metapher durch höchst symbolische Darstellungen repräsentiert. Die Quellbereiche ‚Tod‘, ‚Verletzung‘, ‚Trauer‘ sowie ‚Zusammenhalt und Solidarität‘ werden mithilfe von visuellen Symbolen der Trauerkultur, Blutflecken oder verschränkten Händen dargestellt. Dies scheint mit dem zweiten Aspekt dieser frühen metaphorischen Kommunikation zu korrelieren: Die Bilder werden in allen Beispielen nicht mit einer textuellen Schicht ergänzt – die visuellen Bestandteile und die metaphorische Verbindungen von Quell- und Zielbereich stehen für sich. Eine Einordnung der Bildbedeutung erfolgt lediglich über den zeithistorischen Kontext sowie ggf. über Kommentare zum Bild.60 Zuletzt sind die hier gebildeten visuellen Metaphern durch eine große Ambivalenz gekennzeichnet. Diese ergibt sich durch die hybriden visuellen Verbindungsformen zwischen Quell- und Zielbereich, durch die eingefügte Symbole mit der tunesischen Flagge zu verschwimmen scheinen. Zumindest in den ersten beiden Beispielen ist aufgrund dessen unklar, ob es sich bei der durch die Nationalflagge dargestellte Nation um Quelle oder Ziel der Metapher handelt. Zu dieser Unsicherheit trägt auch der historische Kontext bei, da zu diesem Zeitpunkt weder der Charakter nationaler Identität geklärt war, noch der Ausgang der Proteste absehbar war. Im letzten Beispiel ist zwar die Denkrichtung der Metapher klar, die Bildbestandteile sind deutlicher voneinander getrennt. Doch auch hier wird aufgrund der sich rasant ändernden politischen Zustände nicht klar, welcher finale Status der durch die Nationalflagge symbolisierten Nation zukommt. Als metaphorische Ausdrücke weichen diese frühen Flaggendarstellungen auf den Facebook-Profilen unverkennbar von der Flaggenaneignung im materi-
60 Vgl. dazu das folgende Kapitel.
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ell-physischen Raum oder aber von der Aneignung des originären Flaggenmotivs in den sozialen Netzwerken des Internets ab. Sie zeichnen sich durch die Modifikation des ursprünglichen Motivs nicht auf der pragmatischen Ebene, sondern auf Ebene der Darstellung aus. Kerim Bouzouita führt dies als eine Wiederaneignung des Flaggenmotivs durch visuelle Bricolage ein: Drapeau noir, drapeau ensanglanté, drapeau dont l’étoile centrale a été remplacée par un symbole pacifiste ou drapeau surajouté de mains qui se soutiennent mutuellement, les tunisiens ont « bricolé » le drapeau. Ce bricolage a été réalisé essentiellement pour marquer une altérité identitaire et la volonté d’un avenir commun alternatif, tout en insistant sur l’attachement à l’Etat-nation, ce lien commun partagé. (Bouzouita 2011: 157)
Während Bouzouita dieser Flaggen-Bricolage eine klare kausalistisch-teleologische Ausrichtung zuweist, soll hier jedoch die antikausalistische Funktion der Bricolage betont werden: Nach Claude Lévi-Strauss zeichnet sich der Bricoleur im Unterschied zum Ingenieur durch den Zugriff auf vielfältige Repertoires, die Artefakte, Vorgaben für ihre Verwendung und Wissen über ihren symbolischen Gehalt beinhalten, aus. Die Elemente dieser Repertoires werden zueinander in Dialog gesetzt, um ein Problem zu lösen. Hierbei werden Vorgaben zur Nutzung der Artefakte weitgehend ignoriert, die Problemlösung steht – auch im Hinblick auf unkonventionelle Kopplungen – im Vordergrund. Dieses spontan- kreative Handeln basiere auf dem magisch-strukturalen Weltwissen des Bricoleurs (vgl. Hartley 2002: 22 f.). Die Bricolage zeichnet sich deshalb aus durch eine Abweichung von kulturellen Handlungs-, Kombinations- und Deutungscodes. „[B]ricolage refers to the creation of objects with materials to hand, re-using existing artefacts and incorporating bits and pieces.“ (Hartley 2002: 22 f.) In dieser Hinsicht lässt sich die Ergänzung der Flagge durch symbolische Motive der soziopolitischen Kommunikation (verschränkte Hände) und der Alltags- und Medienkultur (Trauerband, Schwarzfärbung und Blutfleck) als einen Akt der Bricolage verstehen, nach dem diese Elemente spontan und kreativ in einen Bedeutungszusammenhang mit der Nationalflagge gebracht werden. Bedeutsam ist hierbei jedoch, dass das Ziel der Aneignung von Artefakten durch eine (Neu-)Strukturierung der sinnlich greifbaren Welt im Vordergrund der Bricolage steht. Sie basiert nicht auf einem zuvor etablierten Wissen festgeschriebener kausaler Bindungen, sondern auf einer Logik des konkret alltäglichen Umgangs mit Symbolstrukturen: The process involves a ‘science of the concrete’ […] which far from lacking logic, in fact carefully and precisely orders, classifies and arranges into structures the minutiae of the physical world in all their profusion. (Hawkes 1977 zitiert in: Hebdige 2002: 126)
156 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution Dieses Re-Arrangement bestehender Sinnzusammenhänge birgt zwei zentrale Aspekte in sich: Einerseits sind die Bricoleure weit von einem material-symbolischen Expertentum entfernt. Sie zeichnen sich weniger durch ein politisch- kalkuliertes Verfügen von Symbolen aus als durch eine alltägliche, experimentelle und individuelle Aneignung von Artefakten und Zeichen. Diese Form der Alltäglichkeit der Bricolage wird in den Ansätzen der Cultural Studies zum Levi-Strausschen Konzept betont, wobei hier insbesondere die symbolische Dimension dieses Handelns in den Vordergrund gestellt wird: Das Konzept betont hier, dass vorgegebene bzw. aufgezwungene kulturelle Versatzstücke durch aktive Prozesse des Kombinierens und auch Umdeutens produktiv und sinnhaft in die eigene Lebenswelt integriert werden. Dabei können die einzelnen Elemente in den neuen Umwelten ihre Bedeutung ändern oder sogar umkehren – und ihre Zusammensetzung bleibt stets flexibel und veränderbar. (Dorer und Marchik 2015: 27)
Demnach ist – und dies trifft insbesondere auf die bisher besprochenen Beispiele zu – weniger die technische und kommunikative Perfektion entscheidend. Die interviewten Facebook-Nutzer gaben dazu beispielsweise an, dass die Grafiken allesamt mithilfe einfacher Grafikprogramme erstellt und zumindest zu Beginn dieser Tätigkeiten von Amateuren produziert wurden. Die genaue Analyse der metaphorischen Bedeutungsschaffung zeigt zudem, dass kein kohärentes Bild der Nation entworfen wurde, sondern in der Wechselwirkung der metaphorischen Bestandteile eine diffuse Bedeutung entstand. Dies widerspricht einer zielgerichteten Kommunikation, wie sie Bouzouita zuvor andeutet. Hierdurch wird auch der zweite Aspekt deutlich: Im Fokus der individuellen Bricolage und der Weiterverbreitung dieser Motive durch einzelne Nutzer stand nicht primär die Erstellung kollektiver Zeichen der Zugehörigkeit im Vordergrund, sondern vielmehr die Schaffung neuer Sinnzusammenhänge, die sich an die eigene Lebenswelt anpassen. So wird anhand der starken Symboliken der Bildzeichen deutlich, dass der individuelle Ausdruck von Trauer und Wut, von Hoffnung und Optimismus Ziel des Erstellens und Verbreitens der Bildzeichen ist. Der Begriff der Bricolage dient hier somit nicht als normatives Konzept, durch das ein neues, postmodernes Expertentum geschaffen oder alltäglichen Praktiken eine vertiefte kulturelle Signifikanz zugewiesen werden soll. Vielmehr ist es eine analytische Kategorie, mit deren Hilfe man die ästhetische Veränderung des Flaggenmotivs in Verbindung mit einer widerständig-semiotischen Aneignung des Nationalsymbols erfassen kann. So entsteht im Bereich der Wahrnehmung dieser visuellen Multitude an veränderten Bildzeichen der Eindruck einer neuen Form der Widerständigkeit, die Bouzouita, Umberto Eco folgend, als digitale semiotische Guerilla (vgl. Bouzouita 2011: 157) bezeichnet. Tatsächlich – im Bereich individuellen Zeichenhan-
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delns, ist dies primär eine Form des Selbstausdrucks, welche – und darauf weist Bouzouita selbst hin (vgl. Bouzouita 2011: 158) – einen ersten Schritt politischen Engagements markiert. Die politische Schlagkraft der Bildzeichen entfaltet sich jedoch nicht im Bereich des Individuellen, des konkreten Akts der Bricolage, sondern vielmehr in der kontextuellen und soziohistorischen Einbettung der Bildzeichen und daran anschließende, kollektive Sinnverhandlungen bzw. Affirmationen.
2.6 Kontextualisierung und Verhandlungen der Flaggenmotive Als Bildzeichen sind die bisher betrachteten Flaggenmotive durch eine weitgehende semiotische Offenheit hinsichtlich der konnotativen Ebene charakterisiert. Aufgrund der visuellen Struktur der Nationalflagge als Symbol bzw. der als Metapher strukturierten, visuellen Erweiterung des Flaggensymbols werden offene Bedeutungsstrukturen geschaffen, welche flexibel an verschiedene soziokulturelle Kontexte angefügt werden können. Erst dadurch entwickeln die Bildzeichen eine weitgehende, kulturell vermittelte Bedeutungsdetermination. So wurden die Bildzeichen ab dem Höhepunkt der revolutionären Phase auf einen politisch veränderten Kontext bezogen und es erfolgte eine de-facto-Verminderung der bildlichen Polysemie – auch wenn die visuellen Metaphern bedeutungsoffener gestaltet waren als vorhergehende ästhetisierte oder historisierte Repräsentationen der Flagge. Deutlich wird dies eben daran, dass die visuellen Metaphern zu konkret signifikanten Momenten der Revolutionsgeschichte auftauchten, wie Raja Fenniche (2013) an o. g. Beispielen verdeutlicht: L’image du drapeau tacheté de sang a été à partir de fin décembre la photo de profil de milliers de facebookeurs tunisiens qui témoignaient (souvent sous de faux noms) de leur indignation face aux crimes commis. Le drapeau reproduit en noir, en signe de deuil, était aussi très présent en photo de profil en cette période où la Tunisie comptait ses martyrs par dizaines. Ensuite, à partir du 15 janvier, le lendemain du départ de Ben Ali, et face aux dangers qui menaçaient la stabilité du pays, est apparue une nouvelle image du drapeau entouré de bras liés symbolisant l’union nationale, image qui a été reprise en photos de profils par de très nombreux facebookeurs. (Fenniche 2013: 14)
Folglich handelt es sich zumindest während des Höhepunkts der revolutionären Phase um Kontexte, von denen einerseits eine Vielzahl von Bürgern verschiedener politischer Ausrichtungen betroffen ist, und die in drastischer Weise Realitäten (bspw. der polizeilichen Willkür) offenlegen bzw. Wege für zukünftige Entwicklungen entwerfen (bspw. durch die Flucht des herrschenden Präsidenten).
158 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution Diese in historischer und sozialer Relevanz verdichteten Kontexte verengen die Lesarten der visuellen Metaphern. Doch auch in solch signifikanten Momenten kann die erhöhte Polysemie bildlicher und zudem metaphorischer Zeichen nicht komplett unterbunden werden. So wurde am 9. Januar 2011 in der Gruppe Tunisie die Nationalflagge mit Blutfleck (vgl. Abbildung 3) veröffentlicht. Aufgrund der zeitlichen Einbettung erscheint klar, dass ein direkter Verweis auf die Todesopfer bei den zahlreichen Demons trationen des Wochenendes vorliegt. Dieser Kontext war den meisten Mitgliedern der Gruppe wohl bewusst. Jedoch ist auffällig, dass das Bewusstsein der Referenz einer solchen Metapher eng mit der Entwicklung eines kollektiven Wissens verbunden ist. Dieses scheint nicht für alle Mitglieder der Gruppe gleichermaßen vorhanden gewesen zu sein. Verdeutlicht wird das durch entsprechende Kommentare zum Bildzeichen.61 In den meisten Kommentaren wurde das Schicksal der Opfer beklagt und mit dem Kampf für die Nation verbunden („Gott ehre sie. Lasst uns sterben, damit die Nation lebe!“62), es wurde auf die Relevanz des Kampfes hingewiesen („Es gibt keine andere Macht außer Gott. Gott wird es vollenden“) bzw. auf die Ernsthaftigkeit der Lage („Die Situation ist sehr gefährlich.“). Jedoch kommt es auch zu Deutungsunsicherheiten bei der Rezeption der Bilder. So wurden erste Kommentare dazu verfasst, welche die Legitimität des Bildes infrage stellten: „Komm schon, was soll dieses Bild?“,63 bzw. „Was ist das Ziel, dieses Bild zu veröffentlichen???“64 Insbesondere die letzte Kommentatorin schlägt anschließend eine neue Lesart des Bildes vor: „Verstehe ich das falsch, oder ist es dein Ziel, Tunesien als öffentliche Gefahr darzustellen???“.65 Hier wird die Metapher ihrer historischen Referenz enthoben – vielmehr wird allein auf die interne Struktur der Metapher verwiesen. Blut wird mit der Nation gleichgesetzt, wodurch auch die Lesart ‚Nation ist Gefahr‘ entstehen kann. Während hier jedoch diese Interpretation als Möglichkeit vorgeschlagen wird, unterstellt die Autorin an anderer Stelle eine beleidigende Absicht: „Ja, aber dieses Bild schadet Tunesien und allen Menschen, die von dort kommen. Und Du bist stolz, das zu veröffentlichen? Bitte ein bisschen mehr Höflichkeit!“66 Als Reaktion darauf wird von anderen Nutzern
61 Vgl. Profilbild der Gruppe Tunisie vom 09.01.2011. www.facebook.com/99328877514/photos/a.427641292514.225514.99328877514/484479627514/?type=3&theater (Stand: 31.03.2018). 62 Die folgenden Kommentare sind Übersetzungen des Autors aus dem Arabischen, dem latinisierten tunesischen Dialekt oder dem Französischen. 63 „wallah c’est quoi cette image“. 64 „C koi l bu d mettre cette pik lahh??? (sic!) :O“. 65 „C moi ou ton but c d faire passer la Tunisie comme un danger publike??? (sic!)“. 66 „Yo Mai serieu cte pik la nui a la Tunisie Pi tt les gens ki en provienne!! Pi twa t fier de la mettre??? Un pe de politesse svp!!!! (sic!)“.
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der Bedeutungsgehalt des Bildes geklärt und insbesondere auf den emotionalen Zustand der Tunesier – als Empfindung der Trauer – zurückgeführt: „Das Bild repräsentiert den Zustand, in dem sich das Herz der Tunesier befindet.“67 Während in diesem Beispiel durch Kommentare die Interpretation der visuellen Metapher infrage gestellt und weitere Lesarten eröffnet werden, führen die teils drastischen Quellbereiche der Metapher in anderen Beispielen auch zu einer ironischen Kritik. So übertreibt die Schwester der Facebook-Nutzerin Samah Krichah in einem Kommentar die metaphorische Verbindung der Nationalflagge mit einem Blutfleck,68 indem sie einen Koranvers als Ausdruck persönlich-familiärer Trauer und tiefster Betroffenheit zitiert. Die Ironie dieser Aussage ergibt sich insbesondere im Verlauf des sich anschließenden Diskurses. Die Nutzerin antwortet in einem Kommentar „Mein Heimatland“ und verbindet diese Aussage mit Emojis als Ausdruck der Gefühle von Trauer und der Liebe.69 Auf diese scheinbar authentische Emotionsbekundung antwortet die Schwester mit Verweis darauf, dass das Land verletzt sei und deshalb unnütz. Dem fügt sie ein lachendes Emoji mit herausgestreckter Zunge hinzu, um die Ironie ihrer Aussagen zu markieren. Während beide Nutzer die visuelle Metapher verstehen, hinterfragt die Schwester die Authentizität und Relevanz der ausgedrückten Trauer. Über Emojis wird die mit dem Flaggenmotiv verbundene Emotion verhandelt. Folglich wird nicht die Referenz des Bildzeichens in Frage gestellt, sondern der pragmatische Kommunikationszweck. Samah Krichah beschließt den Austausch von Kommentaren, indem sie feststellt, ihr Heimatland würde aus seiner Asche auferstehen. Darauf – so drückt sie aus – sei sie stolz.70 Beide Beispiele zeigen, dass einerseits die semantische Dimension, andererseits die soziopragmatische Dimension der visuellen Metapher verhandelt werden kann. Allerdings wird hier ebenso verdeutlicht, dass beide Dimensionen eng miteinander verbunden sind: So wird im ersten Beispiel der Zweck einer solchen Repräsentation der Nationalflagge hinterfragt und als Schädigung betrachtet und zugleich wird die Metapher in semantischer Hinsicht nicht bezogen auf eine Nation als Opfer, sondern als Täter der Gewalt aufgefasst. Im zweiten Beispiel verbergen sich zwei unterschiedliche Bedeutungskonstrukte, die sich aus der Interaktion der Metaphernbereiche ergeben: Während die Inhaberin des Profils das verletzte Land und dessen Blut als Chance eines Neubeginns betrachtet (indem sie auf die Mythologie des Phönix verweist), betrachtet ihre Schwester die Verlet-
67 „c dans l état ou se trouve le coeur des tunisien ke represente cett pixx (sic !)“. 68 Nicht öffentliches Profilbild der Facebook-Nutzerin Samah Krichah, verbreitet am 09.01.2011. 69 „bledi❤“. 70 „bledi te damdem w t9oum plus fière que jamais!“.
160 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution zung als Zeichen der Schwäche und Nutzlosigkeit. Somit werden in der bildlichen Metapher ebenso zwei Wahrnehmungen der Proteste gedacht: Einerseits sind die Proteste nötiger Bestandteil einer Revolution, andererseits schwächen sie die Stabilität des Landes. Die Entstehung kollektiver Lesarten wird folglich durch eine klare Einbettung in einen soziohistorischen Kontext und durch Bedeutungsverhandlungen beispielsweise in den Bildkommentaren begünstigt. Es kommt dadurch einerseits zur Reduktion von Polysemie, andererseits werden Lesarten als dominant und kulturell erwünscht vorgestellt. Nur so lässt sich erklären, dass sich die visuelle Metapher der nationalen Solidarität ab dem 15. Januar, also nach der Flucht Ben Alis, massenhaft verbreitete. Ein Bildbeispiel der Gruppe Tunisie 71 zeigt deutlich, inwiefern ab dem Moment der Veröffentlichung auf das Bild vermehrt durch Likes (149 Angaben) und Weiterverbreitung (232 Mal geteilt) reagiert wurde. Damit einher geht die Affirmation der Bildbedeutung in Kommentaren, welche hauptsächlich die neu entstandene Nation und ihre Bürger feiern. Bereits der erste Kommentar verbindet hierbei das Konzept kollektiver Solidarität mit dem Kampf um die Freiheit und bestätigt dadurch die durch den politischen Kontext suggerierte Lesart der Metapher. Die Entwicklung dominanter Lesarten der Flaggenmetaphorik diente insbesondere zum Höhepunkt der politischen Auflehnung der Besinnung auf eine gemeinsame, kollektive Identität. So führt Simon Hawkins bezüglich der ersten Flaggenzeichen aus, dass [a]ll Tunisians, whatever their political or religious perspective, could look to the flag as a symbol of their unified nation. It included them all and excluded none. While such inclusiveness is the hallmark of nationalism, it had added relevance in the tunisian case, as flying the flag emphasized the localness and indigenious roots of the revolution, and rejected roles for outside actors. (Hawkins 2014: 40)
Die Flagge hat das Potential einer symbolischen Einigkeit, welche zum konkreten historischen Zeitpunkt durch eine dominante Interpretationsweise realisiert wird. Dass diese Lesart jedoch nicht die einzige ist und dass insbesondere die hinzugefügten Bereiche der Metapher nicht unumstritten sind, darauf weisen die Kommentare hin. So scheint vor allem die Nutzung der Flaggengrafik als Teil einer visuellen Metapher die ‚imaginierte Gemeinschaft‘ (vgl. Hawkins 2014: 40) unter der gemeinsamen Flagge zu stören – es werden zusätzliche Bedeutungen geschaffen und die allegorische Dimension der Nationalflagge als Zeichen der
71 Vgl. Chronikfoto der Gruppe Tunisie vom 15.01.2011: www.facebook.com/99328877514/photos/a.427641292514.225514.99328877514/487953097514/?type=3&theater (Stand: 05.12.2017).
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Nation wird eingeführt. Der gemeinschaftsbildende Charakter der Flagge als einheitliches und neu angeeignetes Symbol verliert dadurch an Bedeutung. Vor allem in den Flaggengrafiken, die dem 14. Januar 2011 folgten, wurde die Nation in den visuellen Metaphern mit weiteren symbolischen Konzepten verbunden, die von einer nationalen, uneingeschränkten Einheit abwichen.
2.7 Verhandlungsebenen des Nationalismus im Flaggenbild In verschiedenen historischen Kontexten, insbesondere nach dem 14. Januar 2011, wurden neue visuelle Metaphern erstellt bzw. vorrevolutionäre Metaphern erneut und somit in einem veränderten Kontext verbreitet. So wurden während der Demonstrationen insbesondere Flaggenzeichen veröffentlicht, welche die Einheit des Volkes in der Trauer um die getöteten Demonstranten und im Entsetzen über den Einsatz tödlicher Waffen konstruierten. Die damit vorherrschende Konzeption des Nationalismus basierte folglich hauptsächlich auf emotionalen Kategorien der Bindung zur Nation. Dieses metaphorische Narrativ der Trauer, der Sorge und des Schmerzes wird in postrevolutio nären Flaggengrafiken fortgeführt. Hierbei wird – wie auch schon in den ersten Beispielen der Trauermotivik beschrieben – die Nationalflagge mit entsprechenden Symbolen kombiniert, in diese Symbole eingebettet oder die Symbolzeichen werden in die Flagge inkludiert. Eine stets wiederkehrende Formel ist hierbei die Kombination aus Flagge und Tränen. Diese Motivik ist während der Revolution entstanden, als die ersten Todesopfer bei Demonstrationen auftraten. So veröffentlichte die Journalistin Asma Laabidi am 12. Januar eine Fotografie, in der auf dem Antlitz einer Frau blutrote Tränen vom Auge über die Wange rinnen. Über die untere Gesichtshälfte ist eine halbtransparente tunesische Flagge gelegt (vgl. Abbildung 6). Die Träne aus Blut überdeckt damit teilweise das Nationalemblem aus Stern und Halbmond. Der emotionale Ausdruck – und hier ist die Leserichtung der Metapher eindeutig – richtet sich auf die Nation. Es wird um die Nation geweint. Das Blut verstärkt hierbei die emotionale Symbolwirkung der Träne als Ausdruck der Trauer – es handelt sich somit nicht mehr um eine vorübergehende oder willkürliche Traurigkeit, sondern um eine existenzielle Form der Trauer. So weist Geraldine Spiekermann darauf hin, dass blutige Tränen einerseits auf ikonische Darstellung der Kulturhistorie verweisen, andererseits aber eine sehr physische Symbolik in sich bergen:
162 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution Es [das Blutweinen, JE] steht bis heute in aktuellem Bezug zu Wundermeldungen über weinende Marienstatuen, ist jedoch als Steigerung der Krisis vor allem aus der weltlichen Literatur des Mittelalters, etwa dem Nibelungenlied aus dem 13. Jahrhundert, bekannt. Ist das Weinen besonders stark und intensiv, so können die Augen unter Umständen Blut verströmen. Die affektive Wirkung […] [wird, JE] über die assoziative Überblendung von Blut und Tränen demnach gesteigert, da die blutigen Tränen der Künstlerin unmissverständlich ein intensiveres Weinen oder einen heftigeren Schmerz symbolisieren, als es gemeinhin beim Vergießen von Tränen der Fall ist. (Spiekermann 2012: 98)
Abb. 6: Facebook-Profil Asma Laabidi, Profilfoto, veröffentlicht am 12.01.2011.
Ob innerhalb des tunesischen Deutungsrahmens die Konnotationen christlicher Ikonen tatsächlich hergestellt werden, mag ungewiss sein. Jedoch muss man vermuten, dass die Verbindung der Träne mit Blut die kommunikative Funktion der Tränen als Ausdruck seelischen Schmerzes (vgl. Söntgen und Spiekermann 2008: 9–15) intensiviert. Diese semantische Erweiterung dieses Trauerbildes konnte allerdings im Verlauf der Revolutionsgeschichte von der ursprünglichen Kommunikationsintension abweichen. So wird am 16. Oktober 2012 – zu einem Zeitpunkt, da das politische Klima des Landes von einer zunehmenden aggressiven Spaltung zwischen Säkularen und Anhängern der Islamisten geprägt ist, – in einem Bild auf der Chronik der Seite Tunisia.Revolution.2011 die Grafik eines weinenden Auges gezeigt. Die Pupille wird von den tunesischen Hoheitszeichen überdeckt. Der Inhaber der Seite betitelt das Bild: Die Liebe zu Tunesien lebt in meinem Augap-
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fel.72 Es eröffnet sich hierbei eine Text-Bild-Dimension, welche mehrere Bedeutungsebenen der Metapher eröffnet. Einerseits wird die Nation auf Ebene des „Augapfels“ angesiedelt und damit zum zentralen Wert des Lebens erklärt.73 Andererseits wird das Auge von einer Träne ergänzt, wodurch die Darstellung einen interpiktorialen Verweis auf die Trauerbilder der Revolution herstellt. Beide Bestandteile der Metapher, das trauernde Auge und der durch die Nationalflagge dargestellte Fokus auf die Nation, werden damit trotz der Verschmelzung im Bild selbst zwischen Text und Bild aufgespalten. Sie werden zu Elementen der narrativen Struktur des multimodalen Kommunikats. Es drückt sich damit die Sorge um das geliebte Land in Zeiten der zunehmenden Spannungen zwischen Anhängern islamistischer Parteien und Wählern der säkularen Kräfte aus. Anhand dieser Beispiele wird deutlich, inwiefern aus zuvor kollektivierten Bildzeichen, welche im Rahmen der Revolutionsbewegung massenhaft geteilt wurden, höchst individualisierte Zeichen eines persönlichen Ausdrucks wurden. Jedoch sind diese individuellen Aneignungen der während der Revolutionsphase etablierten Bildzeichen nicht willkürlicher Art. Simon Hawkins weist darauf hin, dass sie als Profilbilder der Nutzer lediglich zu historisch relevanten Momenten veröffentlicht werden: While in normal or unmarked times, individuals choose images that are either photographs of themselves or images that express something of their specific individuality, in some marked periods, individuals select images that replicate what others have done. (Hawkins 2014: 43)
In derart markanten Momenten läge dementsprechend der Fokus nicht mehr auf der individuellen Darstellung, sondern auf der Medialität des Bildes im Sinne einer massenhaft-viralen Verbreitung. Jedoch führt der Autor anschließend aus, dass die Relevanz eines Momentes für diese Form der Verbreitung eines gegebenen Bildzeichens in der kollektiven Beurteilung zwischen soziokulturellem Kontext und der zugewiesenen Bildbedeutung liege. So sei der soziale Zusammenhalt in der Revolutionsphase in der öffentlichen Wahrnehmung der Revolution relevant gewesen, wodurch sich das Bildzeichen mit den verschränkten Händen massenhaft verbreiten konnte. Die Individualität des Profilnutzers geriet zu diesem Zeitpunkt in den Hintergrund. Dasselbe Bildzeichen kam, dem Autor
72 Vgl. Chronik-Foto der Seite Tunisia.Revolution.2011 vom 16.10.2012, www.facebook.com/Tunisia.Revolution.2011/photos/a.118032261605436.23121.109706402438022/373585906050069/?type=3&theater (Stand: 08.12.2017). 73 Die Notion des ‚Augapfels‘ hat auch in den Versen des Koran und der Sunna eine Tradition als Bezeichnung des Liebsten und Wertvollsten.
164 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution folgend, immer wieder in Zeiten der nationalen Krise als Aufruf des Zusammenhalts auf, jedoch nunmehr als vereinzelte Bilder auf Nutzerprofilen und nicht mehr als viraler Bildersturm. Dies hinge entsprechend mit der kollektiven Selbstwahrnehmung der Tunesier und der Wahrnehmung der Nation zusammen: But the unity no longer exists, and the images have comparatively little power when they are no longer ubiquitous. If anything, the sight of such images, popping up in ones and twos from time to time, highlights the changes since the revolution. The aesthetics of protest have changed, becoming more assertively partisan and ideological. (Hawkins 2014: 46)
Auch wenn man Hawkins’ Diagnose, dass sich die revolutionären Kollektive in kleinere Interessensgruppen mit entsprechend partikularisierten Bildpraktiken und Zeichenästhetiken gespalten haben, bestätigen kann, ist dennoch die Ausrichtung der Analyse hinsichtlich des Verbreitungspotentials der Bildzeichen nicht unproblematisch. Letztendlich führt diese Betrachtung zur Einführung eines Dualismus zwischen individueller Selbstdarstellung und kollektiv relevantem Zeichenhandeln. Ein Bild, welches nur durch einen Nutzer zum Zweck der Selbstdarstellung veröffentlicht wird, ist demnach weniger relevant als Bildzeichen, die massenhaft verbreitet werden. Es stellt sich jedoch die Frage, ob das Weiterverbreiten eines standardisierten Bildes als Profilbild neben dem viralen Trend und der damit verbundenen Verschleierung der Individualität des Nutzers nicht auch Dimensionen eigener Reflexion und aneignenden Bildhandelns birgt. Eine erste produktive Wechselwirkung ist zwischen dem Bildkommunikat und dem soziohistorischen Kontext festzustellen. Wenn Bildzeichen zu historisch markanten Zeitpunkten (wieder-)veröffentlicht werden, so können sie nicht nur als Reaktion auf die sozialen Umstände betrachtet werden. Nadhem Oueslati führt aus, dass die Trauerbilder insbesondere in Zeiten sozialer oder politischer Instabilität veröffentlicht werden: Viele haben ihr Profilfoto durch die Flagge mit Blutfleck ausgewechselt. Viele Tunesier haben das getan. Sobald es etwas gibt, was das Land destabilisiert, veröffentlichen wir ein Flaggenbild mit Blut oder eine schwarze Flagge, schließlich ein schwarzes Bild oder ein Bild von Tunesien, das weint.74
74 „Beaucoup de monde a changé la photo de profil, le drapeau de la Tunisie taché de sang. Beaucoup de Tunisiens ont fait ça. Là où il y a quelque chose qui déstabilise la Tunisie soit on met un drapeau taché du sang ou un drapeau noir, enfin une image noire ou une Tunisie qui pleure.“ Interview Nadhem Oueslati.
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Diese Position widerspricht zuerst der These Hawkins’, dass in geschichtlich bedeutsamen Momenten nach der Revolution solche Bildzeichen nur von vereinzelten Nutzern verbreitet wurden. So reagierten viele Facebook-Nutzer auf die ersten politischen Morde75 mit der Veröffentlichung gemeinsamer Bildzeichen, u.a. auch mit der schwarz gefärbten Flagge. Im Vergleich zu den Tagen nach dem 8. Januar 2011 griffen diese Bildpraktiken im Jahr 2013 zwar auf einen Vorrat heterogener Profilbilder zurück. Allerdings verfügte diese Vielfalt an Bildzeichen auch über ein gesteigertes Bedeutungspotential gegenüber den normierten Flaggenzeichen der Revolutionsphase. Dies zeigt sich am Profilbild der Aktivistin Amel Belkhiria vom 26. Juli 2013, einen Tag nach dem Mord am linken Oppositionspolitiker Mohammed Brahmi, welches eine schwarze Nationalflagge zeigt. Die Besonderheit ist hier, dass diese zudem von Blutflecken bedeckt ist und dadurch die Bildsprache beider Repräsentationen nationaler Trauer – die Schwarzfärbung und die Blutflecken – vereint (vgl. Abbildung 7). Es entsteht ein differenzierter visueller Ausdruck, welcher individuelle Trauer und Bestürzung in einem Bild vereint. Da die Motive der vorhergehenden Revolutionsphase wiederaufgegriffen und in neuen politischen Kontexten verwendet werden, ist diese Form der Aneignung von Bildzeichen nicht nur als Reaktion auf historisch feste Umstände zu werten. Insbesondere in der Übergangs- und Stabilisierungsphase zwischen 2011 und 2013 unterliegen lebensweltliche Veränderungen oft umfassenden Bewertungen. D. h., dass Gegebenheiten wie politische Morde, Verhaftungen und Gewalt im öffentlichen Raum, die als außergewöhnlich und verstörend wahrgenommen werden, im Rahmen der politischen Umstürze bewertet werden müssen. Diese markanten Ereignisse werden folglich auch durch Bilddiskurse auf Facebook interpretiert und konstruiert. Ebensolches passiert in besonderer Weise, wenn einem lebensweltlichen Ereignis qua Wiederaufgriff von Bildern der Revolutionsphase der Status einer revolutionären Relevanz zugewiesen wird. Der Tod des Politikers Brahmi wird damit auf einer Ebene mit den Demonstrationstoten der revolutionären Zeit verhandelt. Zusätzlich dazu bietet sein Tod Anlass, beide dominante Bildzeichen zu kombinieren und die Drastik des Ausdrucks noch zu verstärken. Der gewaltsame Tod eines Oppositionspolitikers wird somit als Anlass der nationalen Trauer konstruiert und dadurch zu einem einheitlichen, alle politischen Lager übergreifenden Trauerfall gemacht. Zunächst muss folglich die konstruktive Dimension der Profilbilder betrachtet werden. Nutzer tendieren dazu, über Bilder die Signifikanz eines historischen
75 Vgl. Kapitel III.4.
166 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution Moments zwar zu repräsentieren, jedoch auch aufzubauen. Ereignisse werden dadurch zu Bildevents gemacht, von einer gesteigerten Mediatisierung begleitet und einem „imaginierten Publikum“ (vgl. Boyd 2011) als relevant erzählt. Dies wird deutlich, wenn beispielsweise das Profilbild in kurzen Abständen gewechselt wird. Jedes Profilbild wird dadurch zu einem sinnstiftenden Kommentar zum zeitgenössischen Kontext.
Abb. 7: Facebook-Profil Amel Belkhiria, Profilfoto, veröffentlicht am 26.06.2013.
So hat Amel Belkhiria nach vier Tagen das Bild der Trauer (vgl. Abbildung 7) entfernt und durch ein weiteres Flaggenmotiv ersetzt. Hierbei handelt es sich allerdings um eine weitestgehend unmodifizierte Version der Nationalflagge. Lediglich der Faltenwurf der Flagge ist mehr ausgeprägt, wodurch das Motiv mehr in Bewegung erscheint und ästhetisiert wirkt. Dadurch findet nicht nur ein Wechsel in der individuellen Selbstdarstellung statt. Vielmehr weist die Nutzerin dem veränderten politischen Kontext ebenso eine neue historische Dimension zu: Wenige Tage nach dem Tod Brahmis forderten die ersten Sit-Ins am Bardo zur Auflösung der Nationalversammlung auf. Zudem verließen einige Politiker die Nationalversammlung, um eine starke Oppositionsfront zu gründen. Die damit entstehende soziale Bewegung rief zum schnellen Abschluss der Verfassungserarbeitung unter einer neuen verfassungsgebenden Versammlung auf. Die Nutzerin Amel Belkhiria nimmt mit der Veröffentlichung des Nationalflaggenmotivs einen Kommentar der zeitlichen Umstände vor. Sie konstruiert das Geschehen als nationalrelevant. Zudem – greift man die Signifikanz der unveränderten Nationalflagge kurz vor Ende der Revolutionsphase auf – verweist sie in dieser neuen
Flaggenproteste: Die Nationalflagge und die Verhandlung des Nationalen 167
Phase nationaler Geschichte auf den Zusammenhalt aller tunesischen Bürger unter dem Emblem einer sich neu gründenden Nation. Diese Überlagerung verschiedener kommunikativer Funktionen der Flaggenbilder führt dazu, dass ihnen ein gesteigertes Potential der Bedeutungsverhandlung des Nationalen zugewiesen wird. Sie erfahren dadurch nicht nur eine kommunikative Aufwertung als Zeichen. Es wird ihnen als Bild mit konkret- materieller Ausprägung zudem eine Wertigkeit zugeschrieben, die das Nationale mit individueller Affektion verbindet. Dies wird an einem Profilbild der Nutzerin Houda Mrad deutlich.76 Sie veröffentlichte am Tag der Ermordung Brahmis die schwarz gefärbte Profilflagge. Die Rückkehr zu einem Motiv der nationalen Trauer scheint zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht unumstritten zu sein. So kommentiert ein weiterer Nutzer hierzu: „Nein Houda, das ist, was sie wollen. Überlassen wir ihnen die Farbe Schwarz. Wir behalten unsere Flagge, roter als nie zuvor, und zeigen ihnen, dass die Tunesier stärker sind, als sie denken.“ Eine weitere Nutzerin kommentiert dazu: „Meine Flagge wird niemals schwarz sein!! Die Trauer ist im Herzen.“ Houda Mrad schreibt als Rechtfertigung ihrer visuellen Entscheidung für eine schwarz gefärbte Flagge: „Ich bin traurig, ich bin krank, ich trauere.“77 Es wird hier folglich eine Metareflexion der Nation und ihres Emblems eröffnet, welche sich einerseits aus dem zeitgenössischen Kontext ergibt und andererseits durch die Rückkehr zu einem bekannten Flaggenmotiv angeregt wird. Es wurde vermutet, dass hinter dem Anschlag reaktionäre Kräfte der Islamisten stecken. Somit betrachtet die Nutzerin den schwarzen Hintergrund als Zeichen für das schwarze Banner der Islamisten und setzt die rote tunesische Flagge im Kommentar als Konterpart dazu. Anhand des Flaggenmotivs entwickelt sich eine Reflexion über die politische Färbung des Landes. Das ursprüngliche Rot wird als nationalkonstituierende Kraft gesehen, während das Schwarz der Islamisten als Störung nationaler Einheit verstanden wird. Entscheidend ist hierbei, dass die materielle Dimension der Farbgebung eine Reflexion der Symbolizität des Flaggenbildes anstößt. So wird einerseits eine abweichende Lesart der Bedeutung eröffnet, welche sich hier allerdings nicht aus einer individuellen Perspektive ergibt, sondern aus dem historischen Kontext der politischen Kämpfe abgeleitet wird. Die Dringlichkeit der Kritik der Flaggenfarbe ergibt sich offensichtlich aus der Verschränkung von soziosemiotischer Funktion
76 Vgl. Profilbild vom 25.07.2013 der Facebook-Nutzerin Houda Mrad: www.facebook.com/photo. php?fbid=590596190984851&set=a.137156139662194.23796.100001034272824&type=3&theater (Stand: 18.12.2017). 77 Diese Kommentare wurden vom Autor aus dem Französischen übersetzt.
168 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution des Flaggenprofilbildes als Appell an andere Nutzer einerseits und der nationskonstituierenden Funktion andererseits. Das Flaggenbild wird damit zum Kristallisationspunkt einer Hegemonie der Farblichkeit – zu einem Zeitpunkt, in dem die dominanten politischen Fronten zwischen Islamismus als leitendem Konzept der Nation einerseits und einer säkularen Demokratisierung andererseits verlaufen. Die Farbe wird dadurch ihrer rein materiellen Funktion im Bild enthoben und zu einem definitiven Symbol politischer Zugehörigkeit gemacht. Reflektiert wird dies insbesondere, wenn in den Kommentaren nunmehr gesagt wird, dass der Ausdruck von Trauer nicht mehr über eine gefärbte Flagge als Profilbild im Internet, sondern im Herzen stattfindet. Damit wird ebenso einer weiteren symbolischen Dimension der Flagge jenseits des Nationalen Absage erteilt. Die Verhandlungen und Reflexionen des Nationskonzeptes über die Flaggengrafiken sind eine Fortführung der protest- und daran anschließend nationskonstitutiven Funktion der Bildzeichen in Facebook. So weist Simon Hawkins darauf hin, dass die Profilbilder mit politischer Symbolik stets auch eine selbstreflektorische Dimension für das Kulturprogramm des tunesischen Protests hatten. „The media became a mirror, in which Tunisians saw their movement reflected back at them.” (Hawkins 2014: 43) Damit wurde Facebook zu einem Raum symbolischer Markierung von Einheit und dem Zusammenhalt des Volkes. Hawkins hebt in seiner Forschung hervor, dass die tunesische Revolution ohne prägnante historische Vorbilder und insbesondere ohne außenpolitischen Einfluss anderer Länder abgelaufen sei. Die Nationalflagge als kollektives Profilbild in Facebook zu wählen, drückt folglich einerseits eine Geschlossenheit der demonstrierenden Gruppe nach innen, zudem eine Abgrenzung vom alten System unter Aneignung des Nationalmotivs, und andererseits die deutliche Demarkation von außen aus. Asserting the people’s sovereignty in the nation not only drove out the existing political leadership; it also took a stand in relation to the many international and global groups that had taken active roles in trying to define and construct the Arab world in particular images, many of these rooted in stereotypical orientalist constructions. (Hawkins 2014: 40)
Die symbolische Betonung der nationalen Eigenheit liege folglich nicht nur in der Aneignung des hegemonial besetzten Nationalsymbols gegenüber dem herrschenden Regime, sondern auch in der Abwehr von externen Einflüssen in Form von Bedeutungszuweisungen und hegemonialer Symbolik begründet. Diese Abgrenzung gegenüber einer zentralen, historisch-politischen Kultur nach Innen sowie gegenüber der als feindlich wahrgenommenen Kulturen nach Außen (vgl. Hawkins 2014: 40) bleibt auch nach dem Machtumsturz erhalten. Besonders dem Flaggenmotiv wird einerseits eine distinktive und differenzierende, andererseits eine gemeinschaftsbildende Kraft zugeschrieben. So
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wurde die Originalflagge ebenso zahlreich auf Facebook-Profilen verbreitet, als im Vorfeld der Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung im Oktober 2011 die Einheit der Bürger als Mitglieder der tunesischen Nation beschworen wurde. Die offizielle Facebook-Gruppe der Stadt Hamam-Lif beispielsweise teilte am 23. Oktober 2011 eine Flaggengrafik und rief im Bildkommentar zu einer Wahlbeteiligung der Tunesier auf: „Geht alle wählen, ihr werdet sehen, das ist etwas ganz Besonderes und ein historischer Moment. Es lebe Tunesien, es lebe das vereinigte, tunesische Volk“.78 Die von mehreren Seiten und Gruppen erneut verbreiteten Bildzeichen wurden ebenso von individuellen Nutzern aufgegriffen und besonders im Vorfeld der Wahlen verbreitet. Die Nutzerin Amel Douja Dhaouadi beispielsweise gab an, bereits am 16. Oktober 2011 ihr Profilbild durch eine Flagge ersetzt zu haben, um während der Tage vermehrter Konflikte durch islamistische Demonstrationen (u.a. wegen der Affäre Nessma-TV um die Ausstrahlung des Films Persepolis) an den nationalen Zusammenhalt zu appellieren und das gemeinsame Ziel der politischen Reform durch die Wahlen in den Vordergrund zu rücken. Somit übersteigt der symbolisch kommunizierte Nationalismus die Ebenen eines durch Nationalflaggen markierten Nationalismus erster Stufe. Aus der historischen Evidenz der bürgerlichen Wiederaneignung des Flaggenmotivs heraus entwickeln vor allem die Flaggengrafiken in Facebook eine konstitutive Kraft, die sich nicht nur hinsichtlich der Idee des Nationalen, sondern auch hinsichtlich der (Re-)Konstruktion der Revolution ausdrückt: While the daily ubiquity of the Tunisian flag rendered it seemingly banal, it clearly had the potential to signify much more than modern statehood. Indeed, that ubiquity made it a potent symbol for revolution. To the extent that the flag had become a metonym for the nation-state, then seizing the flag represented a seizure of sovereignty. (Hawkins 2014: 47)
Die Veröffentlichung der Nationalflagge markiert demnach die bürgerliche Souveränität als essentiellen Bestandteil der gemeinsam unternommenen Revolution. Während Nationalflaggen stets als Nationalmetonymie zu werten sind, verkörpert die tunesische Flagge zudem auch noch die historischen Akte der Aneignung, des Protests und der Revolution. Diese historische Referenz als Basis der konventionellen Zuschreibung der Flaggenbedeutung wird durch wiederholte Kommunikationsakte im Nachfeld der Revolutionsphase aufrechterhalten. Da die Nationalflagge durch diese Bedeutungskonventionen und durch ihre kommunikative Nutzung an einer weiteren sozialen Relevanz gewonnen hat,
78 Vgl. Chronik-Foto der Facebook-Seite Hamam-Lif vom 23.10.2011: www.facebook.com/hammam.lif/posts/172256589530165 (Stand: 22.12.2017).
170 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution ist es nicht verwunderlich, dass sie als Hauptquelle für anschließende ideologisch-visuelle Kämpfe nach der Ausdifferenzierung und vor allem Etablierung einzelner ideologischer Kulturprogramme in Tunesien genutzt wurde.
2.8 Ideologische Flaggenkämpfe Nach Hawkins wird die Nationalflagge als Bildzeichen in der postrevolutionären Zeit, also insbesondere ab 2012, zwar noch auf Facebook verwendet, jedoch in einer veränderten Signifikanz. Die gemeinschaftsstiftende Funktion der Flaggengrafik beziehe sich demnach nicht mehr auf die imaginäre nationale Gemeinschaft, sondern auf kulturell-politische Subprogramme der tunesischen Gesellschaft. Die Vergemeinschaftung situiere sich in einem ideologischen Kampf um Hegemonie, der an die Rekonstruktionsphase anschließt. Deshalb ließe sich die symbolische Funktion der Flaggengrafiken in Facebook insbesondere auf den Widerstand gegen aufkeimende islamistische Kräfte in der tunesischen Politik beziehen: Unlike the imagery during the revolution, post-revolutionary symbolism took ideological stances about the nature of the nation itself and its relation to the rest of the world […]. Within this context, the use and understanding of the Tunisian flag has shifted. Its prominence […] positions it not as a non-ideological symbol for all, but as an assertion against the Salafi flag. It is used to advocate a particular vision of the nation. (Hawkins 2014: 49)79
Hierbei behält Hawkins hinsichtlich der funktionellen Funktion der Flaggengrafik Recht. Sie wird auch genutzt, um – in metonymischer Referenz auf die Nation – ideologisch geprägte Konzeptionen der Nation zu entwerfen. Jedoch soll im folgenden Kapitel aufgezeigt werden, dass sich diese ideologische Funktion der
79 Es muss darauf hingewiesen werden, dass die schwarze Flagge mit dem islamischen Glaubensbekenntnis nicht zwangsläufig die Flagge von Dschihadisten ist. Die Flagge zeigt grundsätzlich das islamische Glaubensbekenntnis – die Schahada – auf schwarzem Grund. Politisch als Flagge wurde die Schahada zuerst und bis heute hauptsächlich von Anhängern eines politischen Salafismus genutzt. So war sie zur Gründung des wahabistischen, saudi-arabischen Königreiches vermutlich bereits mehr als 100 Jahre auf einem grünen Flaggengrund in Gebrauch (vgl. Marshall 2017: 113). Sie wurde ab den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts dann auch von dschihadistischen Terrorgruppen wie Al Qaeda und zuletzt dem Islamischen Staat genutzt. Jedoch taucht sie auch auf den Flaggen der palästinensischen Hamas auf. Die Schahada vereint als Flaggenmotiv demnach mehrere Strömungen, die tendenziell eine salafistische Auslegung des Islams vertreten.
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Bildzeichen nicht nur auf eine anti-islamistische Position beschränken lässt und zudem nicht auf eine Phase der Individualisierung und Ausdifferenzierung der Bildpolitik auf Facebook reduziert werden kann. Bereits während der Revolutionsphase zwischen 2010 und 2011 wurden Flaggenmotive eingeführt, die visuelle Symbole konkreten Protests beinhalten. Dadurch rücken einheitsbildende Symbole wie die Flagge oder der emotionale Ausdruck in den Hintergrund, das politische Handeln wird fokussiert. So wurden metaphorische Kommunikate entwickelt, die Akteure des Widerstands sowie widerständige Handlungen zumeist in grafisch-abstrahierter Form darstellen. In diesen Motiven liegt der Fokus auf der Darstellung von Akteuren sowie konkreter Handlungen. Frühe, prominente Motive waren Gesichter von Protestierenden, auf die die Nationalflagge projiziert wurde. Im Gegensatz zum Ausdruck von Trauer um die Nation durch Tränen tritt hier im Antlitz ein Ausdruck der Wut und Entschlossenheit auf. So entsteht im folgenden Bild (vgl. Abbildung 8) der entschlossene Blick durch die weit geöffneten, direkt auf den Betrachter gerichteten Augen des jungen Menschen in Verbindung mit dem geschlossenen Mund.
Abb. 8: Facebook-Gruppe Tunisia Revolution 2011, Chronikfoto, veröffentlicht am 16.03.2011.
Das linke Auge wird von Stern und Halbmond der projizierten Flagge umspannt. Seinen widerständigen Charakter enthält das Gesicht zudem durch den in der Gesichtsmitte eingefügten, halbtransparenten roten Stern. Dieser hebt sich dadurch vom Stern als klassisches Element der tunesischen Flagge ab, dass zwei Zacken nach unten gerichtet sind. Er wird in der globalen visuellen Kultur zumeist als Zeichen des Sozialismus und Kommunismus, der Arbeiterbewegung und als
172 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution historisches Kennzeichen sozialistischer und kommunistischer Staaten 80 sowie der kommunistischen Internationale wahrgenommen. Darüber hinaus wird es als Zeichen linker Bewegungen und Proteste genutzt (Vgl. Buschhaus 2010). Es verleiht dem gezeigten Gesicht den Status eines Akteurs bei den revolutionären Protesten. Demnach ist hier die Anreicherung des Bildes mit politischen Symbolen entscheidend für das visuelle Framing der dargestellten Akteure. Sie stellen eine Verbindung mit konkreten Handlungen des Protests her – nicht nur über die kontextuelle Einbettung der Bilder, sondern durch die Verortung im Rahmen meist politisch linker Aktionen. Es ist somit nicht erstaunlich, dass genanntes Beispiel gehäuft nach dem 14. Januar und während der zahlreichen, im Jahr 2011 zunächst oft von linken reformistischen Kräften, Parteien und Gewerkschaften organisierten Sit-Ins und Besetzungen an der Kasbah von Tunis als Profilbild von Protestteilnehmern gewählt wurde. Ebenso wurde die in die Luft gereckte Faust bereits im Januar 2011 in Verbindung mit der tunesischen Flagge gezeigt. Im Gegensatz zu den bisherigen Darstellungstechniken allerdings, bei denen die Flagge entweder den Hintergrund für andere Symbole bildete oder mit diesen visuell verschmolz, wird in vorliegendem Beispiel die Flagge zum Vordergrund der Darstellung gemacht (vgl. Abbildung 9).
Abb. 9: Facebook-Profil Amel Douja Dhaouadi, Profilfoto, veröffentlicht am 10.03 2012.
80 Zur visuellen Inszenierung kommunistischer Staaten vgl. King (2010).
Flaggenproteste: Die Nationalflagge und die Verhandlung des Nationalen 173
Es handelt sich um eine Fotografie, die bereits während einer Demonstration der regimekritischen Proteste Anfang 2011 produziert und anschließend im Internet verbreitet wurde. Sie zeigt zwei Personen hinter dem semitransparenten Stoff. Von der rechten Person ist lediglich der Kopf, die linke Person nur über die in die Luft gereckte Faust erkennbar. Das durch die Flagge dringende Sonnenlicht führt zu einer Betonung der Farblichkeit des Flaggenstoffes und zugleich zu einer schattenhaften Abstrahierung der Akteure des Protests. Die reduzierte Geste der erhobenen Faust steht im Zentrum Flagge und wird damit fokussiert. Die tatsächliche Identität der abgebildeten Protestakteure bleibt unbekannt. Diese visuelle Dichotomie zwischen der Faktualität des fotografischen Bildes einerseits mit einer weitgehenden Darstellungsreduktion der gezeigten Menschen auf einen schemenhaften, quasi-grafischen Ausdruck andererseits schlägt sich ebenso in einer semantischen Dichotomie nieder. Protest wird dadurch nur vor der Kulisse der Nation greifbar, die Herkunft und die Motivation der Akteure scheint keine Rolle zu spielen. Zugleich wird die Diversität und gesellschaftliche Vielfalt des revolutionären Protests von 2010 bis Januar 2011 auf eine politische Linie reduziert, welche durch das Symbol der erhobenen Faust repräsentiert wird. Dass das Faustsymbol hier einem linksreformistischen Kulturprogramm zuzuordnen ist, wird durch die Vielzahl umgebender Bildzeichen innerhalb des Profils der Nutzerin deutlich. So veröffentlichte sie mehrfach Profilbilder, welche linke Slogans wie Rebel, Resist Revolt81 oder All cops are bastards82 enthielten. Das Faustsymbol stellt zudem innerhalb der Profilbilder ein wiederkehrendes Bildelement dar. Dieses Beispiel zeigt, dass die politisch-ideologische Aufladung der Nationalflagge im Sinne eines Einstehens für ein konkretes Konzept der Nation bereits während 2011 vielfältiger war, als von Hawkins angenommen. Zwar kommen auch unkommentierte Flaggengrafiken ohne symbolische Erweiterung vor. Diese werden in diffuser Ausrichtung als Kommemoration revolutionärer Ereignisse, als Angriff auf islamistische Tendenzen und als Appell an den Staat genutzt. Jedoch überwiegen Flaggenmotive, die durch Symbole erweitert werden und dadurch ideologisch geprägte Konzepte des Nationalen entwerfen. Diese liberale Ausrichtung der o. g. Flaggenmotive dient als visuelle Alternative zur islamistischen Prägung der zu diesem Zeitpunkt vorherrschenden, islamistischen Politik.
81 Vgl. Profilbild der Nutzerin Amel Douja Dhaouadi vom 03.02.2011: www.facebook.com/ photo.php?fbid=1879638507705&set=a.1621977186333.88169.1143554919&type=3&theater (Stand: 16.01.2018). 82 Vgl. Profilbild der Nutzerin Amel Douja Dhaouadi vom 07.05.2011: www.facebook.com/ photo.php?fbid=2095085293740&set=a.1621977186333.88169.1143554919&type=3&theater (Stand: 16.01.2018).
174 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution Zugleich kann nicht davon ausgegangen werden, dass die rote Nationalflagge nur innerhalb eines symbolischen Kampfes um nationale Hegemonie herangezogen wird. Zwar verweist sie u.a. durch ihre historische Bedeutungsaufladung als Zeichen der Unabhängigkeit auf die säkular geprägte Republik Bourguibas. Jedoch ist die nationalistische Dimension der Flagge, die aus der neuen, einheitlichen Bewegung der Bürger während der Revolution von 2011 resultierend eine bürgerliche Einheit beschwört, durchaus präsent. Dies zeigt sich daran, dass bereits kurz nach der Revolution die Nationalflagge in der ursprünglichen Farblichkeit nicht nur von reformistischen Kräften der linken Protestbewegungen, sondern auch von der zweiten dominanten Protestgruppe der Islamisten vereinnahmt wurde.
Abb. 10: Facebook-Seite Tunisie Islamique, Profilfoto, veröffentlicht am 10.11.2011.
So wurde bereits am 10. November 2011 von der Facebook-Seite Tunisie Islamique ein Profilbild veröffentlicht, welches die klassische tunesische Flagge mit der Schahada verbindet. Das muslimische Glaubensbekenntnis findet sich – im für Korantexte üblichen, kalligrafischen Stil verfasst – auf der rechten Seite der Flaggenelemente (vgl. Abbildung 10). Damit visualisiert der Seiteninhaber einerseits metaphorisch den weitestgehend politischen Inhalt der Seite, welche für eine islamistische Republik und damit für ein neues Konzept der Nation nach Vollzug der Revolution einsteht. Als Element der salafistischen Flagge steht die Schahada damit für ein nach islamistischen Kriterien ausgestaltetes Staatskonzept, insbesondere mit einer muslimischen Rechtssprechung und einem muslimisch geprägten Wertegerüst. Andererseits verweist die Nutzung der Nationalflagge in den Originalfarben auf
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den Anspruch, mit diesem Konzept sämtliche tunesischen Bürger nach der Revolution zu vertreten und diese in einer gemeinsamen – islamischen – Nation zu einen. Dadurch wird die zweite soziosymbolische Dimension der Nationalflagge bemüht – als Zeichen der Einheit und als nationale Referenz, während die erste soziosymbolische Dimension – der symbolische Kampf zwischen Nationskonzepten verschiedener Protestprogramme in den Hintergrund gerät. Diese doppelte Funktionsweise des Nationalemblems trat anschließend – am 30. März 2012 – erneut zutage, als der Abgeordnete Ibrahim Hamdi in der verfassungsgebenden Versammlung den Vorschlag unterbreitete, die Nationalflagge durch das Glaubensbekenntnis zu ergänzen.83 Damit wurde vorgeschlagen, eine einseitig islamistische Symbolik in die Flagge aufzunehmen und damit einen Schwerpunkt auf die muslimische Grundkonstitution der tunesischen Republik zu legen. In diesem Sinne führt die Nationalflagge zwei Diskurse in einem visuellen Zeichen zusammen. In einem fürsprechenden Diskurs wird eine teleologische Option dargestellt. Für das Nationalvolk solle ein konkret-partikulares Nationenkonzept durchgesetzt werden. In einem stellvertretenden Diskurs wiederum wird die vertretene ideologische Ausrichtung im Namen des Volkes gerechtfertigt. Durch die Verbindung mit politischen Symbolen, die einem politischen Lager –oder in kultursemiotischer Deutung einem Subprogramm der tunesischen Protestkultur zuzurechnen sind, erfährt die tunesische Nationalflagge eine neue Form des visuellen Gebrauchs. Während sie in den zuvor besprochenen Bildbeispielen genutzt wurde, um eine ideologische Einheit auch semiotisch herzustellen, dient die Flagge hier einer ideologischen Verankerung. Sie suggeriert den politischen Kampf im Dienst der Nation und stellt dadurch eine ideologische Ausrichtung des Protests als nationalrelevant dar. Dadurch wird der Kampf einzelner Kulturprogramme des Protests legitimiert, beworben und greifbar gemacht. Nicht zuletzt eröffnen die postrevolutionären und überwiegend von Teilprotestprogrammen genutzten Flaggengrafiken deshalb eine utopische Vision. Die Subprogramme projizieren nicht nur die Erinnerung an den revolutionären Protest auf ihre aktuellen Aktionen, sondern führen dadurch legitimiert die Erzählung der Revolution fort. Die Vollendung der revolutionären Bestrebungen vom Januar 2011 wird demnach lediglich in der eigenen ideologischen Vision gesehen und visuell durch die Flaggenbilder inszeniert.
83 Vgl. der Artikel Ibrahim Hamdi propose à la Constituante de changer le drapeau national auf Tunisienumerique.com: www.tunisienumerique.com/ibrahim-hamdi-propose-a-la-constituante-de-changer-le-drapeau-national/ (Stand: 17.01.2018); vgl. ebenso der Artikel Fête de la République: Le drapeau tunisien en question auf HuffpostMaghreb.com: www.huffpostmaghreb. com/2013/07/25/fete-de-la-republique-drapeau-tunisie_n_3649697.html (Stand: 17.01.2018).
176 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution Aus Sicht der Kultursemiotik wird durch die hinzugefügten bzw. modifizierten Elemente des Flaggenbildes ein erneuter Vorgang der Semiose angestoßen. Ein sekundäres Zeichensystem wird dem zugrundeliegenden Zeichensystem der Nationalflagge hinzugefügt. Während auf der ersten Konnotationsebene nach wie vor die Spur eines neuen, durch die Bürger angeeigneten Konzepts der Nation durchscheint, wird diese Spur auf einer zweiten Ebene bereits ideologisch vereinnahmt. Die Nationalflagge fungiert nun als verfügbares Vehikel zur Vermittlung neuer, ideologisch geprägter Proteste und politischer Forderungen. Diese Vehikelfunktion ergibt sich aus der Aneignung der Nationalflagge und einer damit verbundenen Neusetzung als Nationalallegorie. Die Flagge verkörpert seit dem Systemumsturz vom Januar 2011 gleichsam eine neue Nation, welche nicht mehr mit einem autokratischen Herrscher und der dominanten Partei verbunden wird. Sie verweist vielmehr auf die emanzipatorische Tradition in der tunesischen Geschichte und – durch die jüngsten Ereignisse der Revolution – auf das bürgerliche Engagement der Tunesier. Diese neue allegorische Aufladung der Nationalflagge wird nun für partikulare und ideologisch geprägte Kommunikate einzelner, politisch aktiver Kulturprogramme genutzt. Interessant ist allerdings, dass bei der allegorischen Verwendung der Flagge weniger neue Darstellungsformen, als tatsächlich bestehende visuelle Topoi, die bereits während der Revolution entwickelt worden sind, genutzt werden. Durch die Verbindung der Flaggengrafik mit anderen Symbolen entstehen metaphorische Darstellungsweisen, die zur Bildung „formelhafter (Bild-)Traditionen“ (Pfisterer 2003: 22) beitragen. Diese vorherrschenden Darstellungstypen werden im Rahmen einer kulturprogrammatisch ideologischen Nutzung zwar z. T. weiterverarbeitet und ergänzt, was sich insbesondere in der Einführung neuer Symbole wie der Faust oder im zugewiesenen Feindbild der Islamisten ausdrückt. In den meisten Fällen bleibt die grundsätzliche Darstellung dominanter Topoi dabei erhalten: Mithilfe der Nationalflagge wird die Nation inszeniert als Zukunftsvision, als Objekt emotionaler Betrachtung oder als Kausa kollektiver Bestrebungen. In dieser typisierten Darstellung wird die Flagge ihrer komplexen historischen Bedeutungszusammenhänge beraubt. Sie verweist primär auf das neue, durch die Revolution geschaffene Konzept der bürgerlichen Nation. Jedoch wird hier offensichtlich, dass das revolutionäre Konzept einer durch ihre Bürger angeeigneten Nation über die symbolischen Darstellungen hinausgehend relativ inhaltslos war. In der bisherigen Darstellung der Nation durch die Nationalflagge ist eben keine zukünftige, realpolitische Entwicklung oder Vision der Nation angedeutet. Die ideologische Überprägung der visuellen Topoi füllte diese politische Leerstelle aus. Nach ihrer Ausdifferenzierung ab dem 14. Januar besetzten die ideologisch geprägten Kulturprogramme des Protests diese Lücke und erfüllten damit auch die Flagge als Nationalallegorie mit einer tieferen inhaltlichen Ebene.
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2.9 Symbolischer Nationalismus zwischen Individuum und Kollektiv – eine Zusammenführung Die Flaggengrafiken stellten einen Anfangspunkt in der Entstehung einer revolutionären, tunesischen Bildkultur innerhalb des Social Networks Facebook dar. Nachdem bis 2010 hauptsächlich private Bildzeichen ohne jeglichen politischen oder kollektiven Bezug84 die Nutzerprofile dominierten, wurde durch die Flaggengrafiken zum ersten Mal ein deutlicher visueller Bezug zu einer öffentlichkeitsund nationalrelevanten Angelegenheit kollektiv hergestellt. Damit stellen diese Bildzeichen auch ein gesellschaftlich weit anschlussfähiges visuelles Phänomen dar – der erste schichtenübergreifende visuelle Konsens, der sich in dieser Form auf Facebook entwickelte. Die gesellschaftliche Breite des Phänomens lässt sich im historischen Kontext erklären. So spielte die gemeinsame und im öffentlichen Raum zunehmend sichtbare Aneignung von Flaggenartefakten eine entscheidende Rolle. Das Artefakt wurde förmlich der hegemonialen Grammatik des Regimes entrissen und für die Proteste zweckentfremdet. Dadurch kehrte sich die hegemoniale Funktion der Nationalflagge gegen die Machtstrukturen selbst – sie diente nicht mehr der Festigung von politischer Macht, sondern umgekehrt derer Hinterfragung. Dabei war diese widerständige Nutzung des Symbols keineswegs sicher. So musste zunächst die über die Jahrzehnte der autokratischen Herrschaft hergestellte, konnotative Verbindung zwischen dem Flaggenikon einerseits und dem verherrlichten System des Herrschers Ben Ali andererseits kognitiv aufgebrochen werden. Der Aktivist und Blogger Sofiane Bel Haj weist darauf hin, dass die Nationalflagge zunächst davon bedroht war, wie alle anderen Symbole des Regimes physisch zerstört zu werden: Und es gab einen Hass auf alles Öffentliche. Es waren insbesondere die Gewerkschaftler, die eine zu enge Verknüpfung [ein Amalgam] verhindert haben, die verhinderten, dass die Flagge verbrannt wurde. Sie sollte das Nationalemblem bleiben. Dieses Land gehörte uns, nicht ihm [dem Präsidenten Ben Ali, JE], also musste sie [die Flagge, JE] erhalten bleiben. Ihn musste man loswerden, nicht aber das Konzept [der Nation], vor allem in seiner Gänze, verwerfen.85
84 Eine Ausnahme stellen hierbei religiöse Bildzeichen dar, die sich – zumeist Suren oder Koranverse darstellend – durch kollektive Dynamiken verbreiteten. 85 „Et y’avait une espèce de haine de tout ce qui était publique, et [c’est, JE] surtout les syndicalistes qui ont déjoué ce truc là en empêchant de faire l’amalgame, cet amalgame de brûler le drapeau tunisien, ça reste l’emblème national. Ce pays est à nous, pas à lui, donc il fallait le préserver. C’est lui qu’il faut mettre out de là et pas ce concept-là, et non pas tout le concept, le rejeter en bloc.“ Interview Sofiane Bel Haj und Hazar.
178 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution Die Zerstörung der Flagge hätte zum Zeitpunkt der Proteste um die Jahreswende 2010/11 die symbolische Macht des Ben-Ali-Regimes verstetigt: Nach Jarman (2007: 93 f.) verfolgen Flaggenzerstörungen insbesondere vier symbolische Funktionen. Als Affirmation der Flaggensymbolik kann gelten, wenn Flaggen als Beigaben in das Grab Verstorbener gegeben werden oder wenn sie nach zu großer Abnutzung entsorgt werden. In negativer Hinsicht wird die Flagge als Stellvertreter für einen Feind oder als Akt des Protests gegenüber dem repräsentierten Regime zerstört. Eine Vernichtung der tunesischen Flagge würde die letzten Ebenen verbinden: Einerseits würde sie der Vernichtung des ‚Feindes‘ Ben Ali gleichkommen, andererseits als Akt des Protestes gegenüber dem noch herrschenden System der RCD gelten. In beiden Fällen würde dies die Einheit zwischen dem Regime und seiner Symbole noch verstärken. Durch die aktive Umkehrung der in die Flagge eingeschriebenen hegemonialen Symbolik hingegen entsteht ein aktiver Prozess der Aneignung, wodurch die Flagge als einheitsstiftendes Symbol aufrechterhalten wird. Bereits während dieser materiellen Aneignung kommt es ebenso zu einer ikonischen Aneignung des Flaggenmotivs als Grafik in der Umgebung des SNS Facebook. Hier erfolgt die Aneignung in einer doppelten Art. Einerseits besteht sie nicht in einer physischen Übernahme des Artefakts, sondern in der Schaffung eines digitalen Flaggenabbildes, welches in dieser Form anders verbreitet werden konnte als im materiellen Raum. Dadurch bildeten sich neue Formen von widerständigen Kollektiven, deren Mitglieder sich als solche durch das Bild der Flagge als Profilbild zu erkennen gaben. Das Flaggenbild wurde somit kollektiv als Zeichen für eine widerständige Haltung funktionalisiert, es diente als Spiegel des Protests (vgl. Hawkins 2014: 43) und als entmaterialisiertes Zeichen des Widerstandes. Diese Ebene der Aneignung ist somit dadurch gekennzeichnet, dass die Grafik sich massenhaft verbreitete, ebenso auch von Menschen gezeigt wurde, die nicht physisch in Tunesien präsent sein konnten (vgl. Hawkins 2014: 43). Es zeigt sich somit eine Aneignungsdynamik, welche als Akt des Protests gegenüber dem Regime – vornehmlich in den Straßen und dem öffentlichen Raum der Städte – betrachtet werden kann. Zugleich wird hier auch die gemeinschaftsbildende Dimension symbolischer Aneignung betont. Asma Ben Jebara fasst dies als Akt der symbolischen Vereinigung: „Wir haben ein Objekt, welches uns alle vereint. Unser Tunesien geht durch eine schwierige Situation. Wir müssen alle an einem Strang ziehen. Und eben dies tut die Flagge: Sie vereint uns.“86 Diese Repräsentation einer protestierenden und vereinigten Masse erschafft einen
86 „[O]n a tous un objet commun qui nous réunit tous. Notre Tunisie passe d’une situation assez critique. Il faut tous réunir. Voilà, c’est le drapeau qui nous réunit.“ Interview Asma Ben Jebara.
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widerständigen Raum und zugleich das Flaggensymbol als Zeichen in der Hand des protestierenden Volkes. Die zweite Dimension der Flaggenaneignung im digitalen Raum erfolgte durch ikonische Anpassung. So wurde das Flaggenmotiv mehrfach Gegenstand bildlicher Modifikationen, indem symbolische Elemente wie Blutflecken und in Solidarität verschränkte Hände eingefügt wurden, der Hintergrund verfärbt oder der Bildaufbau geändert wurde. Durch diese Veränderungen konstruierten die Tunesier metaphorische Konstrukte, welche einerseits die historischen Ereignisse der Proteste aufgriffen und diese andererseits mit dem visuellen Diskurs über die Nation (qua Nationalflagge als Allegorie) verbanden. Die visuellen Metaphern dienten demnach der Verankerung der Proteste im Rahmen nationaler Neuerfindung bzw. der Suche nach einem neuen Inhalt für das Nationale. Durch die metaphorischen Grafiken erweiterte sich das kommunikative Spektrum der Flaggenmotive nicht nur auf der ikonischen Ebene, sondern es wurden ebenso soziopragmatische Dimensionen hinzugefügt. Die politische Aktivistin Henda Jennaoui weist darauf hin, dass die Flaggengrafiken bis zum Sturz des Regimes insbesondere drei Funktionen erfüllten: Es war eine Botschaft an das Regime, um zu sagen, dass es nicht mehr das Land, die Nation und ihr Volk repräsentiert. Eine zweite Botschaft ist es, sich selbst zu schützen, zu sagen ‚Ich kann nein sagen und zugleich Tunesier und Patriot bleiben. Ich liebe mein Land.‘ Und zuletzt, wenn ich eine tunesische Flagge in rot oder schwarz verbreite, bin ich nicht politisch oder frage, wer die Macht übernehmen wird. Es geht nicht um das Regime, sondern um das Land.87
Die Erweiterung der Flagge mit soziopolitischen Referenzen auf die Ereignisse des Protests erfüllte sie mit einer gemeinschaftsbildenden Funktion, welche primär eine Solidarität mit dem Volk ausdrückte. Das Flaggensymbol wurde damit zu einem klassen- und schichtübergreifenden Symbol nationaler Vereinigung. Nach der Politikerin Asma Cherifi wurde damit ebenso die Suche nach einer gemeinsamen nationalen Identität ausgedrückt: „Es gab hier also eine Konvergenz aller
87 „C’est un message de régime, ça veut dire que ce régime ne représente plus le pays, ne représente plus cette nation et son peuple etc. Un deuxième message c’est comme se protéger, c’est comme dire « moi, je peux dire non, tout en restant Tunisien, patriote, j’aime mon pays » etc. Et, ça aussi…je sais pas comment expliquer…voilà, c’est pour dire que, finalement, si je partage le drapeau tunisien en rouge ou en noir, mon souci c’est pas la politique, c’est pas celui qui va prendre le pouvoir, c’est pas le régime, mais le pays effectivement…et pas autre chose.“ Interview Kerim Bouzouita und Henda Chennaoui.
180 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution Klassen in Richtung einer Identität, die gemeinsam aufgebaut wurde. […] Die Flagge markierte Gemeinschaft und Zugehörigkeit, vor allem Zugehörigkeit.“88 Zugleich wurde – besonders während des Umsturzes und im engeren Nachspiel der Revolution – die Frage der zu konstruierenden Nation und der damit verbundenen nationalen Identität z. T. kritisch in Kommentaren zu den Flaggenbildern verhandelt. Diese Bedeutungszuschreibungen und Sinnverhandlungen waren erstens der unsicheren Lage und dem ungewissen Ausgang der Proteste geschuldet. Zum zweiten wurde allerdings auch die Symbolizität der Flagge und der Modifikationen infrage gestellt, insbesondere, wenn eingefügte Blutflecke oder die Schwarzfärbung als deutliche Divergenz von der eigentlichen Ästhetik und Symbolik der Nationalflagge wahrgenommen wurden. Dies ist dem ambivalenten Status der Flaggengrafik geschuldet. Diese anfangs erwünschte, kommunikative Ambiguität des abstrakten Flaggenbildes in Facebook führte letztendlich dazu, dass die Nationalflagge als grafisches Symbol nach dem 14. Januar schnell von ideologischen Subprogrammen des Protests vereinnahmt wurde. Zwar können diese Subprogramme grob in die Lager Islamisten vs. Säkulare unterschieden werden, jedoch wurde bei der Untersuchung der konkreten Bilder deutlich, dass die mit der Flagge verbundenen Konzepte deutlich differenzierter ausfielen, als von Hawkins behauptet. Die ideologisch funktionalisierten Grafiken lassen sich nicht auf eine Kontersymbolik im hegemonialen Kampf gegen islamistische Strömungen beschränken, da sie einerseits ebenso vom islamistisch-religiösen Protestprogramm genutzt wurden und andererseits die Flagge ebenso zum Ausdruck einer anhalten Kritik gegenüber dem herrschenden Gouvernement, ob nun durch Islamisten oder säkulare Kräfte besetzt, genutzt wurden. In dieser Übernahme durch politische Subprogramme drückt sich allerdings insbesondere aus, dass die Suche nach einer nationalen Identität – vermittelt durch die Flagge als Nationalallegorie – nach dem 14. Januar nicht beendet war. In den neueren Darstellungen geriet die Flagge zum bildlichen Hintergrund oder visuellen Kontext für die gezeigten, ideologisch geprägten Symbole. Die mit dem Flaggenmotiv verbundenen Nationsdiskurse wurden zu einer Legitimation oder einer Projektion reduziert – sie bildeten die Hintergrundfolie für die Repräsentation nationalpolitischer Utopien, Bestrebungen und Geschichten.
88 „Donc il y a ici une convergence de toutes les classes vers une identité qui est en train de se construire. […] Le drapeau avait une fonction de communauté, d’appartenance, surtout c’était d’appartenance.“ Vgl. Interview Asma Cherifi.
Materialitätseinbrüche: Fotografien von Protest und als Protest 181
3 Materialitätseinbrüche: Fotografien von Protest und als Protest 3.1 Fotografien als Einbruch der Materialität im Digitalen Die bisher besprochenen Bildzeichen sind dadurch geprägt, dass sie als abstrahierte, computergenerierte Bildzeichen, bisher unter dem Begriff ‚Grafik‘ subsummiert, auftauchen. Bereits zu Beginn der ersten Protestwelle im Dezember 2010 kam zudem ein anderer Typus digitaler Bildzeichen auf, welcher im Rahmen der widerständigen tunesischen Bildkultur auf Facebook verbreitet wurde. So wurden ebenso Fotografien der Protestaktionen, der Protagonisten des Protests, Selbstportraits, Ausschnitte aus den Massenmedien und Amateurfotografien veröffentlicht und weiterverbreitet. Die Fotografien unterscheiden sich von abstrahierten, durch grafisches, computerbasiertes Design erstellten Bildern insbesondere durch die Konkretheit der Darstellungen, eine realitätsnahe Ästhetik und die sozial imaginierte Referenz auf Wirklichkeit. Im Fokus des Kapitels stehen deshalb die Interaktion zwischen der Zuweisung und Verhandlung von Authentizität und Indexikalität einerseits und der kulturellen Funktion der gezeigten Bildinhalte andererseits, die Rolle der Fotografien hinsichtlich der Repräsentation und Konstruktion einer widerständigen Kultur und der damit verbundene Einbruch des Materiellen in die visuellen Inszenierungsstrategien der SNS-Kommunikation. Selbstverständlich sind die behandelten fotografischen Bilder nicht die ersten Fotografien, die in der tunesischen Semiosphäre in Facebook auftauchten. Bereits zuvor wurden Bilder aus anderen Medien (Printmedien oder Stills aus audiovisuellen Medien) und detaillierte Fotografien von Blumen oder Tieren weiterverbreitet. Eine neue Qualität der fotografischen Bilder ergab sich mit den Protesten von 2010/11 in doppelter Hinsicht: Einerseits wurde zeitgleich mit den Revolutionsbestrebungen vermehrt das individuelle Bild, das Gesicht des Nutzers fotografisch im Social Network wiedergegeben. Andererseits kamen Fotografien auf, welche nicht durch ein zumeist staatlich kontrolliertes Medium produziert und verbreitet worden sind – es handelt sich um Fotografien aus dem öffentlichen Raum, welche durch enthaltene Symbole, die dargestellten Handlungen oder Akteure eine politisch widerständige Konnotation erhielten. So sollen zunächst diese Fotografien aus dem öffentlichen Raum im Vordergrund stehen und dabei deren Rolle für die Ikonisierung des Protests untersucht werden. Weiterhin stehen nicht nur Fotografien von körpergebundenen Protesthandlungen, sondern auch von Slogans und Graffitis des Protests im Vordergrund. Einen weiteren Schwerpunkt stellt die Analyse der Nutzungspraktiken von (Selbst-)Portraitfotografien
182 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution dar: Hierbei werden sowohl Selbstfotografien (Selfies), als auch Aufnahmen von Akteuren der Revolution durch andere hinsichtlich deren Rolle für die Inszenierung eines protestierenden Subjekts betrachtet. Zuletzt werden weitere fotografische Bildzeichen als Facebook-interne Form des Protests geprüft. Hauptsächlich wird auch dort auf den Kampf gegen die zunehmende Hegemonie islamistischer Strömungen in der postrevolutionären Kulturgeschichte eingegangen.
3.2 Ikonische Fotografien des Protests Mit der starken Verbreitung der Protestbewegungen, die letztendlich in mehreren zehntausend Demonstranten und einer landesweiten Ausstrahlung der Demonstrationen zwischen dem 11. und 14. Januar 2011 resultierte, erlangten Fotografien der Demonstrationsereignisse eine erhöhte Relevanz in den Massenmedien und in bildbasierten Social-Media-Anwendungen. Es wurden damit zunehmend Bilder verbreitet, die die Proteste selbst, deren Akteure und Symboliken in den Vordergrund rückten. Im Folgenden sollen unterschiedliche kommunikative und symbolische Funktionen dieser Fotografien herausgestellt werden. Eine erste Unterscheidung muss hinsichtlich der ästhetischen Qualität der ersten Protestfotografien von Anfang 2011 getroffen werden. Es stehen zu diesem Zeitpunkt professionelle Fotografien, die sich massenhaft in den tunesischen Netzwerken verbreiteten, den semi-journalistischen Fotografien von tunesischen Bürgerjournalisten, Hobbyfotografen und Aktivisten sowie individuellen Demonstranten gegenüber. Es zeigt sich bei einer näheren Betrachtung, dass sich die Grade der ästhetischen Qualität und der damit verbundenen Repräsentationsoptionen auf die mit den Bildern verbundenen kommunikativen, symbolischen und kulturellen Funktionen auswirken. Die professionellen Fotografien erhielten durch vorhandene Symbole, die dargestellten Handlungen oder Akteure eine politisch widerständige Konnotation. Sie verbreiteten sich ab Ende Dezember 2010 und bis Mitte Januar 2011 rasant durch individuell bzw. in Gruppen oder auf Facebook-Seiten veröffentlichte Bildzeichen. Die Bilder fokussierten (optisch) einen herausstechenden Protagonisten bei der Repräsentation des Protests. Die so erfolgte scheinbare Isolation einer Person aus der Menge ermöglicht es, ihr visuell repräsentierte Attribute zuzuweisen. So werden Gesichtsausdruck und Körperhaltung fixiert, vorhandene Artefakte in den Vordergrund gestellt, und es kommt zu einer narrativen Interaktion zwischen einem imaginierten Protagonisten und dem momentanen Hintergrund (der Masse der Protestierenden, dem Ort des Ereignisses, dem historischen Moment). Dies kann nachvollzogen werden anhand der prominenten Fotografie
Materialitätseinbrüche: Fotografien von Protest und als Protest 183
eines jungen Mannes, welcher, auf Schultern einer weiteren Person getragen, optisch aus der Menge der Demonstrierenden vor dem Innenministerium am 14. Januar in Tunis hervorsticht (vgl. Abbildung 11).89
Abb. 11: Facebook-Seite Mouvement Révolutionnaire Tunisien pour la Démocratie et les libertés, Chronikfoto, veröffentlicht von Facebook-Nutzer Ennouri Mass’oud, am 22.04.2011.
Deutlich wird der freudige Gesichtsausdruck des jungen Mannes hervorgehoben, indem sein Gesicht in der Mitte des Bildes angeordnet wird. Über dem Kopf, vor einem unscharfen Hintergrund, hält der Protagonist einen geöffneten Vogelkäfig in die Höhe, an dem die Nationalflagge hängt. Die Szene stammt von der großen Demonstration vor dem Innenministerium in der Hauptstadt mit geschätzten 100.000 Teilnehmern. Diese Demonstration führte am 14. Januar letztendlich zur Flucht des Präsidenten und damit zur Ermöglichung einer Übergangsregierung. Im Rahmen des soziokulturellen Kontexts der stattfindenden Demonstrationen werden professionelle Fotografien produziert, welche hauptsächlich der Veröffentlichung in massenmedialen Produkten, insbesondere in Tageszeitungen, dienen. Die vorliegende Fotografie beispielsweise wurde für die französische Nachrichtenagentur AFP erstellt und in mehreren Artikeln am 14.01.2011 bzw. im Nachfeld abgedruckt. Die mediale Präsenz des Bildes erklärt sich vor allem durch seinen symbolischen Gehalt. Während bei der visuellen Repräsentation der Pro-
89 Im Original handelt es sich um eine Fotografie der Presseagentur AFP von der Demonstration in Tunis am 14.01.2011. Urheber: Fethi Belaid.
184 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution teste oft auf den Slogan Dégage (‚Verschwinde‘) – fokussiert wurde, steht hier ein weiterer Aspekt im Vordergrund, wie Asma Ben Jebara darstellt: Und es war in der Menge vor dem Innenministerium, weil, bevor von allen ‚Verschwinde‘ gesagt wurde, gab es da einen jungen Mann, auf der Schulter eines anderen, und der hatte einen Käfig wie… man kann sagen als Symbol der Freiheit. Wir wollen die Freiheit.90
Gemäß dieses Narrativs werden die Ereignisse des 14. Januars als Kampf einer Jugend für Freiheit und Souveränität dargestellt, verkörpert durch den geöffneten, symbolischen Käfig, aus dem sich das Volk – vertreten durch die Nationalflagge – selbst befreit. Zwar basiert die Fotografie auf einer tatsächlich stattgefundenen Szene des Protests, welche fotografisch im Moment der Sichtbarkeit festgehalten wird. Andererseits führen Aufnahmewinkel, Fokus und Schärfe dazu, dass die Menschenmenge als Hintergrund verschwimmt, das Gesicht des Protagonisten hingegen scharf wiedergegeben wird. Dem Käfig kommt zudem die Funktion eines narrativen Ankers zu: Er dient als Ergänzung zu dem hoffnungsvollen Gesicht, erklärt gleichsam das Ziel des individuellen Protests. An der Bildgestaltung der Fotografie wird erkennbar, dass die massenhaft verbreiteten Bildzeichen nicht nur Ergebnis einer quasi-dokumentarischen Wiedergabe der Ereignisse, sondern vielmehr auch gezielte Kommunikate politisch-narrativer Inszenierung sind. Obwohl die in der Untersuchung gefundenen fotografischen Bilder der Protestszenen zumeist ursprünglich von professionellen Fotografen für Bildagenturen oder Nachrichtenagenturen gefertigt und zunächst auch hauptsächlich von internationalen Zeitungen veröffentlicht wurden, tragen sie zu einer visuellen Konstruktion politischer Wirklichkeit bei. Auch wenn die politische Positionierung in der visuellen Gestaltung von Pressefotografien bereits bekannt ist (vgl. Grittmann 2003 sowie 2007; vgl. Kanter 2016), wird in diesen Beispielen eine neue Dimension erreicht. In ihnen entsteht ein konstruktives Wechselspiel aus fotograf isch-visueller Inszenierung und der Selbstdarstellung des Protagonisten. So ist die Wahl des Käfigs Bestandteil einer gezielten Inszenierung im Rahmen des widerständigen Kulturprogramms. Mit dem symbolischen Käfig als Antithese der Freiheit greift er ein entscheidendes Element der Revolutionsbestrebungen auf. Dadurch inszeniert er sich bereits als konstruktives Mitglied des Protestprogramms. Entscheidend bei dieser Inszenierung ist die Zeitlichkeit der Aufnahme: Die Fotografie vereint Aspekte ikonischer Bildgestaltung mit einem indexikalisch
90 „[E]t c’était dans la foule devant la ministère de l’intérieur parce qu’avant de dire dégage, il était un jeune homme qui était surmonté sur l’épaule d’un autre et il avait une cage comme…on dirait un symbole si vous voulez, de la liberté. On veut la liberté.“ Interview Asma Ben Jebara.
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zu nennenden, als technisch realisierte ‚Ablichtung‘ umgesetzten Verweis auf eine außerbildliche Realität. Die ikonische und die indexikalische Bedeutungsstruktur des fotografischen Bildes werden durch seinen Charakter als ,Spur‘ (vgl. Dubois 1998: 49–52, vgl. ebenso Geimer 2017) miteinander verbunden. Der Moment der Aufnahme wird über den Auslöser mit dem Moment der Abbildung gekoppelt – das Außen wird nach innen ‚abgelichtet‘. Die Faszination für die Aussagekraft eines Bildes drückt sich deshalb über das generelle Faszinosum des fotografischen Augenblicks aus. Wir Photographen haben ständig mit Dingen zu tun, die unaufhaltsam verschwinden. Wenn sie erst einmal verschwunden sind, kann man sie durch nichts in der Welt wieder zurückholen. Erinnerungen lassen sich nicht entwickeln und abziehen. […] Was vorbei ist, ist unwiederbringlich (Cartier-Bresson 2010: 199)
fasst Henri Cartier Bresson die Magie des realen Moments in der Fotografie zusammen. In der physikalischen Fixation des Momentes liegt demnach der hauptsächliche Charakter der Fotografie. „Der entscheidende Augenblick“ wird für die Nachwelt erhalten, „[d]ie Menschen wollen durch ihr Porträt die Zeit überdauern“ (Cartier-Bresson 2010: 199). Die Augenblicklichkeit und scheinbar zufällige Temporalität der Fotografien drückt sich auch in ihrem symbolischen Gehalt aus. Sie repräsentieren Akteure des Protests, Elemente politischen Ausdrucks, seien es Objekte, Zeichen, oder Körperhaltungen, und den Kontext der durch staatliche Macht unterdrückten Demonstrationen (vgl. Barthes 1961). Dadurch schaffen sie allegorische Bilder, welche über das entwickelte, fotografische Narrativ hinausgehend abstrakte Sachverhalte bzw. abstrakte Charakteristika der politischen Situation Tunesiens in einer solchen Momentaufnahme visuell greifbar machen. So wird im Falle des Käfig-Fotos ein allegorisches Bild hergestellt, welches als Ausdruck für die Ziele der Demonstrationen dient. Das Bild drückt in der Verbindung des Protagonisten mit dem symbolischen Objekt des Käfigs eine allegorische Referenz an die Freiheitsbestrebungen des tunesischen Volkes aus. Der Moment der Aufnahme spielt zudem eine entscheidende Rolle, da das von dem Mann gehaltene Objekt einen definitiven Zustand symbolisiert: Am 14. Januar ist der Käfig bereits geöffnet, das Volk, einem zuvor eingeschlossenen Vogel gleich, bereits dem Gefängnis entkommen. An das machthabende Regime wird damit kommuniziert, dass eine weitere Freiheitsberaubung unmöglich ist, ein Weg zurück in den Status Quo nicht mehr existiert. Indem die Akteure und die Zeitlichkeit des Protests durch die professionellen Fotografen hervorgehoben werden, werden ebenso bildliche Ikone des Pro-
186 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution tests geschaffen. Als Ikone 91 werden in diesem Kapitel Bildzeichen verstanden, welchen über die mediale Aktualität eines repräsentierten Ereignisses hinaus eine besondere kulturtragende oder kulturschaffende Bedeutung zugewiesen wird (vgl. Grittmann und Ammann 2008: 299). Sie werden zu kulturrelevanten Kultbildern gemacht, wodurch ihnen – in Reminiszenz an die frühere Bedeutung der Ikonen im östlichen Christentum – ein quasi-religiöser Status zugeschrieben wird. Heutige Medienikone prägen nach wie vor ein jeweiliges Kulturprogramm, indem sie nicht nur kulturelle Wertigkeiten und Wirklichkeitsprogramme reflektieren, sondern darüber hinaus als Zeichen des kulturellen Gedächtnisses an der Konstituierung und Verstetigung von Kulturprogrammen teilhaben (vgl. Grittmann und Ammann 2008: 298). Ein weiteres Bild wurde zum ikonischen Foto der Revolution. Dieses zeigt einen Mann bei einer der ersten Solidaritätsdemonstrationen in der Hauptstadt am 27. Dezember 2010. Der Demonstrant erhebt die rechte Hand zu einem Victory-Zeichen, bei dem Zeige- und Mittelfinger ein V bilden. In der anderen Hand hält er ein Baguette-Brot (vgl. Abbildung 12). Die Fotografie wurde ursprünglich vom Fotografen Fathi Belaid für die Bildagentur Getty hergestellt, verbreitete sich jedoch wie die anderen Beispiele hauptsächlich über Facebook.
Abb. 12: Facebook-Profil Abdou Hamdi, Chronikfoto, veröffentlicht am 27.11.2011.
91 Der hier vorgestellte Begriff der Ikone muss grundsätzlich von der semiotischen Kategorie der ikonischen Zeichen unterschieden werden.
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Das Foto zeichnet sich durch eine hohe Symbolizität aus. Diese liegt im Gegensatz zum vorherigen Beispiel jedoch weniger in der Darstellung des protestierenden Protagonisten begründet, welcher als gleichberechtigter Teil der demonstrierenden Menge nicht besonders hervorgehoben wird. Im Vordergrund steht ausschließlich der Brotlaib, der sich durch die kräftig-gelbe Farbe vom Hintergrund abhebt. Als tragendes visuelles Element des Bildes verweist das Brot insbesondere auf seine symbolische Dimension innerhalb der tunesischen (Protest-) Kultur. Brot ist Grundnahrungsmittel in Tunesien und steht damit für das Recht auf Überleben und Nahrung. Bereits 1984 wurde das Nahrungsmittel zum Anlass und Symbollandesweiten Protesten, als der offizielle Brotpreis erhöht wurde. Die im Januar 1984 in zahlreichen Städten stattfindenden Demonstrationen waren die zweite Auflehnungsbewegung der tunesischen Bürger gegen das Regime von Präsident Habib Bourguiba 92 und sind unter dem Begriff Brot-Revolution Teil des tunesischen Gedächtnisses. Mit diesen Protesten wurde der Brotlaib zum Symbol politischer Bewegungen, die sich insbesondere in der wirtschaftlichen Notlage der Bürger eines Landes begründet sahen. In dieser Hinsicht wurde das Brot des Demonstranten am 27. Dezember 2010 zum Sinnbild für die Belange der zu diesem Zeitpunkt noch zögerlichen Auflehnungen. Diese drückten insbesondere Solidarität mit Mohammed Bouazizi als Vertreter einer politisch wie auch wirtschaftlich unterdrückten jungen Generation insbesondere in den tunesischen Provinzen aus. So wurde auch im Nachfeld der Revolution häufig diskutiert, ob diese als eine Brot-Revolution zu behandeln sei, da sie eher auf wirtschaftlichen Forderungen als auf dem Wunsch nach politischer Freiheit und Demokratisierung basiere (vgl. Krämer 2015: 138). Die Ikonisierung der Fotografie kann jedoch nur bedingt als Ergebnis bild inhärenter Eigenschaften oder symbolischer Elemente gesehen werden. Bilder werden laut Grittmann und Ammann aufgrund kommunikativer Prozesse zu Ikonen gemacht. Die Autorinnen greifen hierbei auf die Theorien von Perlmutter und Viehoff (vgl. Grittmann und Ammann 2008: 300) zurück, um die besondere Bedeutung der massenmedialen Verbreitung für die Bildung von Ikonen hervorzuheben. Demnach zeichnen sich Bildikonen durch eine erhöhte Bekanntheit innerhalb einer Generation aus, durch eine prominente Veröffentlichung, beispielsweise auf den Titelseiten der Zeitungen, sowie durch die hohe Frequenz ihres Vorkommens in den Medien und die einzelmedienübergreifende Verbreitung. Bezüglich ihrer medialen Diffusion und ihrer medialen Frequenz sind die
92 Zuletzt wurden im Januar 1978 ein Streikaufruf der Gewerkschaften und die Proteste tausender junger Tunesier unter Präsident Habib Bourguiba blutig niedergeschlagen.
188 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution bisherig angeführten Beispiele als Ikonen des tunesischen Protests wahrzunehmen. Sie wurden ab Januar 2011 u.a. in den Print- und Onlineausgaben der deutschen Süddeutsche Zeitung93 sowie Frankfurter Allgemeine Zeitung94 veröffentlicht. Auffällig ist jedoch, dass alle Fotografien für nichttunesische Nachrichten- und Bildagenturen erstellt worden sind und deshalb prominent insbesondere in ausländischen Zeitungen und Medien verbreitet wurden. Dies ist im Hinblick auf die Zensur der tunesischen Massenmedien bis Mitte Januar 2011 zunächst nicht verwunderlich: Eine Veröffentlichung solch kritischer Fotografien wäre zu diesem Zeitpunkt innerhalb Tunesiens schlechthin nicht möglich gewesen. Es ist allerdings nur erstaunlich, dass sich die Fotografien als Ikonen des Protests im Inland etablieren konnten. Obwohl die Bildzeichen also zunächst außerhalb der tunesischen Medienlandschaft kommuniziert wurden, waren sie ausreichend anschlussfähig, um auch innerhalb des tunesischen Kulturprogramms Bedeutung zu haben. Aus kultursemiotischer Sicht spielen bei dieser Anschlussfähigkeit nicht nur die mediale Zuschreibung von Bedeutung oder das damit verbundene soziale Prestige des Bildes eine Rolle, sondern auch die semiotische Relevanz eines Bildes innerhalb einer Semiosphäre. Durch vorhandene Symbole werden mögliche Sichtweisen innerhalb der Fotografien eröffnet, die im Rahmen von kommunikativen Handlungen konkretisiert werden. Die Anschlussfähigkeit des Bildes ist demnach Ergebnis des Zusammenspiels bildinhärenter Aspekte und kommunikativ- prozessualer Vermittlungen. Dies stellen auch Grittmann und Ammann heraus, wenn sie darauf hinweisen, dass Bilder Träger von Weltanschauungen sein können, dass sich hier Sichtweisen einschreiben. Diese Bedeutungszuweisung findet jedoch durch die Kommunikatoren selbst statt bzw. wird durch die Kontextualisierung der Bilder in den Medien hergestellt. (Grittmann und Ammann 2008: 312)
Die bisher besprochenen Fotografien zeichnen sich dadurch aus, dass sie symbolische Elemente mit einer fotografischen Zeugenschaft in höchst kondensierter Weise verbinden. So weist Asma Ben Jebara in einem Interview darauf hin, dass die Fotografien einerseits im lokalen Kontext verortete Informationen darstellen,
93 Vgl. Rudolph Chimelli: Tunesien. Würde und Brot. Artikel vom 27.02.2.011: www.sueddeutsche.de/ politik/die-arabische-welt-im-umbruch-der-hefeteig-der-revolution-1.1065397–2 (Stand: 12.02.2018). 94 Vgl. Leo Wieland: Unruhen im Maghreb. Eine Generation ohne Luft zum Atmen. Artikel vom 09.01.2011: www.faz.net/aktuell/politik/ausland/unruhen-im-maghreb-generation-ohne-luft- zum-atmen-1577601.html (Stand: 12.02.2018).
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andererseits über die Symbolizität des Bildes emotionale und soziale Funktionen übernehmen: Man wollte diese Informationen massenhaft und immer wieder kommunizieren. An die große Mehrheit der Menschen. Es ist wie… na, ich habe dieses Bild durch Person XY gesehen, und weil er ein Journalist ist, ist sie realitätsgetreu. Also wurde das Bild dann weiterverbreitet, damit jeder diese Information erhält. […] Ich denke, die Bilder wurden verbreitet, weil sie eine Bedeutung für uns haben. Sie repräsentieren uns. Ich teile mit Dir oder mit ihnen dieselbe Meinung und Einstellung und dieses Bild fasst dies alles zusammen. Statt zu schreiben, was ich fühle, denke ich, kann das Bild heute dies alles darstellen. Das Bild spricht über sich selbst. Wenn ich ein Bild verbreite, dann eines, welches das ausdrückt, was ich sagen will.95
Was hier als die Fähigkeit der Bilder zur Selbstaussage verhandelt wird, lässt sich insbesondere über deren symbolische Anschlussfähigkeit erklären. So führt Ben Jebara weiter aus: „Dieses Bild vereint uns alle, das ist wie ein… das ist ein Symbol, das ist die öffentliche Meinung. Eben, wir haben diesen speziellen Moment erlebt und dieses Fotos lässt uns zurückkehren zum 14. Januar 2011.“96 Dieser symbolische Gehalt der Fotografien geht zurück auf ihre Bildkomposition und insbesondere die vorhandenen Bildelemente. Es werden einerseits metonymische, visuelle Einheiten gebildet, welche die soziokulturelle Bedeutung eines Moments symbolisch verdichten (vgl. Grittmann und Ammann 2008: 300). Als Pars pro Toto können sie damit potentiell zu einem Emblem für die gesamten Protesthandlungen werden. Zugleich beinhalten diese ikonischen Fotografien Einzelelemente, welche wiederum zu dieser symbolischen Wirkung beitragen, jedoch auch komplex- allegorische Narrative formieren. Diese Symbole bieten Vertretern der tunesischen Semiosphäre einen direkten Zugang – sei es durch den Verweis auf die
95 „On a voulu diffuser et rediffuser l’information à la masse. A la grande majorité des gens. C’est comme si un…voilà j’ai vu cette image circulé(e) par XY, parce que c’est un journaliste, par exemple, elle a la réalité. Donc, ils l’ont diffusé parce qu’il faut que tout le monde a cette information. […] Généralement je pense s’ils partagent une image, […] c’est ce qu’il y a une signification à nousmêmes. Ils (sic !) nous représentent. Je partage avec toi ou avec vous la même opinion, même avis et cette image résume tout. Au lieu d’écrire ce que je sens, aujourd’hui je pense que l’image représente tout. Elle parle d’elle-même. L’image parle d’elle-même. Voilà. Lors que je partage (pour moi par exemple) je partage l’image que je trouve voilà, elle me dit ce que je veux dire.“ Interview Asma Ben Jebara. 96 „[C]ette image nous réunit tous, c’est comme un…c’est symbolique, c’est une opinion publique. Voila, on a vécu ce moment-là et cette image nous fait revenir au 14 janvier 2011.“ Interview Asma Ben Jebara.
190 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution gemeinsame Nation über die Flagge, durch den Verweis auf historische Symbole des Protests wie im Fall des Brotlaibs, durch den Ausdruck gemeinsamer Gefühle (der geöffnete Käfig) oder durch traditionelle Kleidungsstücke. Demnach erfüllen die Symbole eine Ankerfunktion, sie ermöglichen einen offenen Zugang zum Bild, der von verschiedenen Mitgliedern der Semiosphäre wahrgenommen werden kann. Gleichzeitig werden sie durch die anderen Bildelemente in einen erweiterten Bedeutungszusammenhang eingefügt und erhalten ihren neuen symbolischen Gehalt durch die realen Proteste und Demonstrationen. Es ist deshalb nicht verwunderlich, wenn beispielsweise das Brot als symbolisches Element der o. g. ikonischen Fotografie wiederum Bestandteil zahlreicher weiterer Protestbewegungen wird. Die Symbole werden durch die Fotografien in ihrer sozialkommunikativen Funktion affirmiert und verstetigt. So tauchte am Ende des Januar 2011, ca. einen Monat nach der ersten Fotografie ein weiteres Bild auf, welches einen Mann in einer Pose mit einem Brotlaib zeigte. In dieser Fotografie, die während einer Demonstration gegen die durch Politiker der ehemaligen Regierungspartei RCD dominierte Übergangsregierung aufgenommen wurde, liegt der Fokus des Bildes auf einem älteren, ärmlich gekleideten Mann in der linken unteren Bildecke. Er kniet in Schützenposition auf der Avenue Habib Bourguiba in Tunis, in seiner Hand hält er ein Baguette, welches er gegen eine nahende Gruppe von Polizisten richtet (vgl. Abbildung 13).97
Abb. 13: Facebook-Profil Badiaa Bouhrizi, Profilfoto, veröffentlicht am 20.01.2011
97 Im Original wurde die Fotografie vom Fotografen Fred Dufour für die Bildagentur Getty Images erstellt.
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Im Unterschied zum ersten Beispiel (vgl. Abbildung 12) wird hier der Protagonist aus dem Kontext der Demonstration isoliert. Zudem hält er das Brot nicht in die Höhe, um es als Forderung des Protests zu bekräftigen, sondern er richtet es, einer Maschinenpistole ähnlich, gegen die Polizei. Dem Brotlaib wird hier eine weitere symbolische Dimension zugeschrieben. Der Journalist Haythem El Mekki führt dazu aus, dass das Brot als Quelle des Lebens zu betrachten ist und zudem als eine Allegorie für den vitalen Protest bzw. die ursprünglichen Ziele der Revolution zur Waffe: Damit wird ausgedrückt, dass das Brot nun das Zentralste und Fundamentalste für einen Menschen ist, das sind die basalen vitalen Bedürfnisse der Leute. Aber dieses Symbol des Typen mit seinem Baguette, das ist großartig! Es ist, als würde der Typ die ganze Unterdrückungsmaschinerie der Polizei mit seinem Baguette herausfordern. Das heißt, gegenüber Eurem Tränengas, Eurer Patronen, Eurer Waffen und Einsatzwägen haben wir nur dieses Baguette und wir leisten damit Widerstand. Wir halten am Leben fest.98
Das widerständig-symbolische Potential ergibt sich aus dem zuvor genannten fotografischen Bild, welches sich als Ikone schnell verbreitete. Demnach bildete sich ausgehend von einer einmaligen fotografischen Aufnahme eine generelle Ikone heraus. Grittmann und Ammann verweisen auf das Konzept der „generic icon“ von Perlmutter, welches „sogenannte Bildtypen [bezeichnet], bei denen die Akteure, die Situation oder die Orte wechseln können, das Motiv aber dasselbe bleibt.“ (Grittmann und Ammann 2008: 299). Mit der Protestfotografie, die ein Baguette als symbolischen Ausdruck des Protests thematisiert, liegt damit ein genereller Bildtyp vor, welcher durch seine narrative Signifikanz mehrfach auch bei Protestfotografien in der postrevolutionären Zeit auftritt. Die professionellen, ikonischen Fotografien des Protests zeichnen sich dadurch aus, dass sie Bilder schaffen, welche auf zwei symbolischen Ebenen funktionieren: Zunächst beinhalten sie die Symbole des Protests und die Symbolhaftigkeit des konkreten Moments und verweisen dadurch auf Inhalte, Werte und Aspekte der Protestbewegung. Auf einer zweiten Ebene werden sie selbst zu Ikonen des Protests – sie stehen symbolisch für die Revolution und werden in dieser Form ebenso zu einem Gedächtniszeichen der historischen Ereignisse
98 „C’est pour dire, le pain est ce qu’il y a de plus central et de plus fondamental pour un homme, ce sont les besoin essentiels, vitaux, des gens. Après, le symbole du mec avec sa baguette de pain, c’est énorme ! C’est comme si le mec affrontait toute la machine de pression policière avec la baguette. C’est-à-dire vous avez vos bombes lacrymogènes, vos balles, vos fusils, vos fourgonnettes, nous on a que cette baguette et on résiste avec ça. On tient à la vie.“ Interview Haythem El Mekki.
192 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution gemacht. Dadurch lässt sich erklären, dass entweder die vorhandenen fotografischen Ikonen – ähnlich dem Flaggenmotiv – in soziokulturell relevanten Momenten der politischen Geschichte Tunesiens erneut veröffentlicht werden, beispielsweise um eine neue Partei als Erbin der Januar-Proteste zu inszenieren oder um im Vorfeld der verfassungsgebenden Wahl im Oktober 2011 soziale Einheit einzufordern.99 In ihrer Funktion als Gedächtniszeichen verweisen die Protestikonen auf die Zeitgeschichte des Protests in Tunesien und ermöglichen dadurch – im Kontext mit anderen Bildern – ebenso die Geschichte der tunesischen Revolutionsbewegung nachzuerzählen. Sie eröffnen einen emotionalen Zugang zu geschichtlichen Abfolgen, welcher in dieser Form nur durch die allegorischen Bildzeichen ermöglicht werden kann. Beispielhaft ist dies nachzuvollziehen an einer Collage, welche wenig mehr als einen Monat nach dem Tod des Oppositionspolitikers Chokri Belaid100 angefertigt wurde (vgl. Abbildung 14).
Abb. 14: Facebook-Gruppe Tunisie revolution, Chronikfoto, veröffentlicht am 23.03.2013.
In der Bildcollage werden drei Fotografien nebeneinandergestellt, zuerst auf der linken Bildseite die o. g. Bildikone mit dem Käfig als Freiheitssymbol. Auf den beiden rechts stehenden Fotografien, die mit weniger professionellen Geräten aufgenommen wurden, ist derselbe Protagonist zu sehen – im mittleren Foto eine Flagge mit den Händen im Wind haltend, auf dem rechten Foto wiederum mit
99 Zur ritualhaften Wiederverbreitung dieser fotografischen Ikonen und deren kultisch-sozialen Dimension vgl. das Kapitel III.4. 100 Für genauere Ausführungen zur soziopolitischen Rolle von Chokri Belaid und seiner Ikonisierung, vgl. Kapitel III.4.
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einem Ausdruck der Trauer und einer hängenden Nationalflagge. Unterhalb der Bilder findet sich eine Inschrift, die die Essenz der Fotografien und damit auch den historischen Ablauf der (Post-)Revolution anhand eines ihrer Protagonisten erzählt: „Im Januar 2011, mit einem großen Lächeln und einem Käfig, um unsere wiedergewonnene Freiheit zu symbolisieren. Am 8. Februar 2013, mit der Nationalflagge, um unseren Kampf für unser Land auszudrücken. Am 16. März 2013, in Würdigung eines großen Mannes. Aber wo ist sein Lächeln geblieben?“ Folglich wird über die hinzugefügten rechten Fotografien eine visuelle Brücke geschlagen zwischen dem hoffnungsvollen Tag des Regimeumsturzes und dem Tag der Beerdigung Chokri Belaids bzw. der Gedenkdemonstration 40 Tage nach seinem Tod. So werden beide Ereignisse – die Revolution und der Mord an Belaid – nicht nur in einer geschichtlichen Logik der Sukzession gedacht, sondern insbesondere wird eine emotionale Entwicklung nachverfolgt. Die ursprüngliche Ikone wird in einen größeren allegorischen Zusammenhang eingefügt, in dem einerseits das visualisierte Symbol getauscht wird (der Käfig wird durch die angeeignete Nationalflagge ersetzt), andererseits ebenso ein Zugang zu den Emotionen des Volkes (vertreten durch den Protagonisten) während der postrevolutionären Zeit geschaffen. Damit wird der Fokus des zugrundeliegenden Bildes verändert: In den Blick gerät der Protagonist, die daneben präsenten Symbole als Ausdruck der bürgerlichen Innenwelt unterliegen geschichtlichen Veränderungen und erscheinen dadurch nur im Hinblick auf den jeweiligen Kontext gerechtfertigt. In dieser Hinsicht erfüllten die Protestikonen auch mehrere kommunikative Funktionen: So fungierten sie als Gedächtniszeichen für die vergangene Revolution, sie forderten zudem das Volk auf, weiterhin gemäß diesem revolutionären Geist zu handeln. Und zuletzt konstituierten sie in großem Maße das Bild der Revolution: Insbesondere die vorhandenen Symbole transportierten hierbei die Leitlinien der Bewegung von 2010/11 – die Revolution wurde durch Ikonen als eine bürgerliche, schicht-, geschlechts-, ideologien- und generationsübergreifende, nationalistische Bewegung inszeniert, welche insbesondere nach der Absicherung des Überlebens und einem Recht auf persönliche Freiheit strebte. Die genannten Funktionen der Fotografien treten zutage, wenn man insbesondere die akribische Bildgestaltung sowie die Abbildung eines konkreten, das Ereignis gleichsam auf eine kohärente, visuelle Darstellung komprimierenden Moments berücksichtigt. Dabei sind es insbesondere die Fotografien der revolutionären und frühen postrevolutionären Proteste – von Dezember 2010 bis ca. März 2011 – welche solche bildlichen Ikone hervorbrachten. Nach den mehrfachen Sit-Ins an der Kasbah in Tunis in Verbindung mit der Bildung einer neuen Übergangsregierung entwickelten sich visuelle Ikonen der Revolution nicht mehr aus professionellen Fotografien von Demonstrationen. Vielmehr wurden andere, mit der postrevolu-
194 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution tionären Zeit in Tunesien verbundene Objekte zu Trägern der Erinnerungskultur der Revolution. Während der frühen Demonstrationen wurden auch nicht-professionelle Fotografien der Proteste erstellt. Im Folgenden wird gezeigt, inwiefern sich diese im Gegensatz zu Pressefotografien nicht als Ikonen des Protests begreifen lassen, sondern vielmehr als Authentifizierungs- und Verifikationsstrategie.
3.3 Amateurfotografien als Authentifizierungsstrategie der Demonstrationen Von den professionellen Pressefotografien unterscheiden sich die weiteren fotografischen Zeugnisse der Demonstrationen sowohl in ästhetischer als auch in kommunikativer Hinsicht. Zeichneten sich die ersten durch eine komplexe Bildgestaltung, die klare Setzung von Akzenten innerhalb des Bildes, sowie durch eine definierte Schärfe aus, so weichen die letzteren Zeugnisse von dieser normierten Ästhetik der Pressefotografie ab. Amateurfotografien werden nach Pierre Bourdieu als „illegitime Kunst“ (vgl. Bourdieu 2010) bezeichnet, da sie hinsichtlich ihrer Objekte die Wertvorgaben sinnvoll erachteter, legitimierter Formen der Fotografie und entsprechender Ästhetiken nicht erfüllen. Bourdieu geht davon aus, dass allerdings auch die Amateurfotografen nach einem „implizite[n] Modell“ normativer Prägung darüber entscheiden, was fotografierbar oder nicht fotografierbar ist: Diese Modelle bestimmen „objektiv den Sinn […], den eine Gruppe dem photographischen Akt als der fundamentalen Aufwertung eines Objekts zu einem Objekt verleiht, das für würdig befunden wird, es zu photographieren“ (Bourdieu 2010: 271). Die Amateurfotografen nun orientierten sich an einem impliziten Wertesystem, welches die fotografische Tätigkeit im Rahmen gesellschaftlicher Funktionen verortet. Sie legten einen Schwerpunkt auf „das Erfassen und Sammeln von ‚Erinnerungen‘ an Gegenstände, Personen oder Ereignisse, die sozial als wichtig etikettiert sind“ (Bourdieu 2010: 274). Demnach unterscheiden sie sich vom Wertesystem künstlerischer Fotografie, welche einen Schwerpunkt auf ästhetische Kategorien legt, und journalistisch institutionalisierter Fotografie, welche den soziopolitischen Informationsgehalt der Fotografie fokussiert. Aufgrund der vor dem 14. Januar vorherrschenden staatlichen Einschüchterung und Gewalt wurden als erste amateurhafte Fotografien Aufnahmen der postrevolutionären Proteste nach dem 14.01., allen voran der Sit-Ins am Place de la Kasbah in Tunis – dem Sitz der Regierung –, im Social Network sichtbar. Ab dem 23. Januar versammelten sich Demonstranten vor dem Dar El Bey-Palast,
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dem Regierungssitz an der Kasbah. Zwischen Ende Januar und dem 8. Februar, sowie zwischen dem 22. Februar und ca. dem 6. März 2011 kam es daraufhin zu einer Besetzung des Platzes. Meist junge Menschen feierten, aßen und campierten101 gemeinsam als Form des Protests gegen die anhaltende Präsenz der Partei RCD. Diese Form gelebten Widerstands wurde zu einem prominenten Fotomotiv der Teilnehmer und Unterstützer der Bewegung. So erstellte die Nutzerin Asma Laabidi für während des Sit-In Kasbah 2 gefertigte Fotos ein spezielles Album, betitelt mit Manif/Sit-in Kasbah. Dies unterstreicht in besonderer Weise die zentrale mnemonische Funktion der Amateurfotografie nach Bourdieu. Die Nutzerin versammelt im Album durchaus heterogene fotografische Bilder. Dazu gehören Repräsentationen einzelner Akteure, Selbstaufnahmen der Nutzerin, Bilder von Gegenständen, Schriftzügen sowie nicht weiter zuordenbare Bildzeichen. Die Bezeichnung ‚Fotoalbum‘, welche im SNS selbst genutzt wird, dient hierbei als metaphorischer Verweis auf das materielle Fotoalbum, welches fotografische Repräsentationen von beispielsweise relevanten Ereignissen im Leben eines Menschen oder in einer Familie in einem Buch vereint. Diese analoge Form des Fotoalbums gilt hinsichtlich ihrer soziokommunikativen Funktion hauptsächlich als Ort der Erinnerung und der visuell-rituellen Konstitution von Identität und Zusammenhalt (vgl. Bickenbach 2001). Ein digitales ‚Album‘ hingegen, unter dem eine Ansammlung thematisch geordneter Bilder auf einer abgegrenzten Subpage zu verstehen ist, kann nur metaphorisch als ‚Album‘ bezeichnet werden: Ihm wird der Wert eines visuellen Erinnerungsobjektes zugewiesen. Dementsprechend vereint die Nutzerin in ihm jegliche Fotografien, die zur Erinnerung an die Kasbah-Sit-Ins relevant sind. Die mnemotische Funktion wird nicht nur durch die Bildveröffentlichung der Nutzerin, sondern auch durch Kommentare anderer Nutzer in dem Album konstruiert. So wird von einem Nutzer geschrieben: „Sehr schöne Erinnerungen, diese Dokumente müssen konserviert werden.“102 Er fügt hinzu: „Bravo für die Veröffentlichung, es ist das Kulturerbe jedes Tunesiers.“103 Dem gesamten Album wird folglich aus der Sicht der Rezipienten ein Erinnerungswert zugewiesen, welcher nicht nur als persönliche Erinnerung der Nutzerin, ähnlich dem privaten Fotoalbum, sondern als zentral kulturelles Element der Erinnerungskultur Bedeutung erlangt. Diese Einschreibung von Rezeptionsaktivitäten und die Zuschreibung kultureller Relevanz von außen unterscheiden materielle Alben von solchen digitalen, eher metaphorisch zu betrachtenden Fotoalben. Das Anlegen von einem Fotoalbum in
101 Zur Rolle solcher Camps im Rahmen von Protestbewegungen vgl. McCurdy et al. (2015). 102 „de tres beau souvenir se sont des documents a conserver.“ 103 „Bravo de les avoir mis c’est un patrimoine pour tout Tunisien désormais.“
196 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution Facebook wird in der Chronik des Nutzers bzw. vor der Umstellung des Facebook-Interfaces in dem Profil nachgewiesen und vor allem im Newsfeed anderer Nutzer angezeigt. Es handelt sich damit nicht mehr einzig um private Fotoalben,104 sondern um kommunikative Inhalte, welche im Interface als automatische Nachrichten versendet werden. Demnach ist im Moment der Kommunikation nicht nur die Erinnerungsfunktion der Fotografien entscheidend. Dies wird in der Fotografie einer nächtlichen Versammlung deutlich (vgl. Abbildung 15).
Abb. 15: Facebook-Profil Asma Laabidi, Album-Foto, Album „Manif/Sit-in Kasbah“, veröffentlicht am 06.03.2011.
Hier wird ein Musiker inmitten einer Menge junger Menschen gezeigt, manche von ihnen tragen die tunesische Nationalflagge. Die Nutzerin selbst ist im Hintergrund erkennbar, ebenso wurde das Nutzerprofil eines weiteren Menschen durch sie im Foto verlinkt. Im Unterschied zu Pressefotografien ist das gesamte Bild – bedingt durch die Aufnahme in schlechten Lichtverhältnissen – unscharf. Zudem ist der Bildvordergrund im unteren Drittel durch das Blitzgerät überbelichtet, die dort vorhandenen Menschen sind zudem durch die Bildbegrenzung abgeschnitten. Das Bild zeichnet sich durch eine geringe symbolische Dichte aus – es beschränkt sich zunächst auf eine rein denotative Ebene, wonach die Situation,
104 Es gab und gibt allerdings die Möglichkeit, den Zugang zu den Alben nur für bestimmte Nutzer zu öffnen.
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wie sie sich tatsächlich ereignet hat, repräsentiert wird. Durch die mangelnde bewusste Bildkomposition werden keinerlei deutlich symbolische Konnotationsdimensionen im Bild selbst transportiert. Wird das Bild allerdings als aktive fotografische Repräsentation einer Situation betrachtet, ergeben sich hier weitere Bedeutungsebenen. Aufgrund der Aufnahmequalität, des Zeitpunkts der Aufnahme bei Nacht und der individuellen Veröffentlichung durch die Nutzerin muss davon ausgegangen werden, dass das Bild durch ein Mitglied ihres engeren Freundeskreises aufgenommen wurde. Dafür spricht ebenso, dass die Nutzerin selbst im Bild erkennbar ist und es für die Veröffentlichung in Facebook ausgewählt hat. Zudem wurde bei der Aufnahme eine erste Form visueller Verarbeitung durchgeführt. „Selbst wenn die Produktion des Bildes gänzlich dem Automatismus des Apparates anvertraut wird“, schreibt Pierre Bourdieu, „so bleibt doch die Aufnahme selbst der Ausdruck einer Wahl, der ästhetische und ethische Kriterien zugrundeliegen“ (Bourdieu 2010: 270). Diese ästhetischen und ethischen Kriterien der Auswahl „möglicher Gegenstände, Genres und Kompositionen“ (Bourdieu 2010: 271) lassen sich auf allgemeine visuelle Wertmaßstäbe eines Kulturprogramms zurückführen. So kann davon ausgegangen werden, dass die im Bild dargestellte Situation in doppelter Hinsicht als kulturell relevant bewertet wird: Einerseits durch die Auswahl dieser Situation und des fotografierten Ausschnittes bei der Aufnahme, andererseits durch die Auswahl als Element des veröffentlichten Fotoalbums. In erster Linie ist relevant, dass im Bild beispielsweise ein Musiker sowie das gemeinsame Musizieren als Elemente des Sit-Ins dargestellt werden, die Atmosphäre zwischen den beteiligten Akteuren friedlich und freundschaftlich ist und die Teilnehmer zu großen Teilen junge Menschen sind. Zweitens wird bei der Veröffentlichung diese visuelle Auswahl wiederum bestätigt und außerdem dadurch erweitert, dass mit dem im Bild verlinkten Nutzer eine externe Referenz und Verifikation der Situation geboten wird. Diese Form der Auswahl und Bestätigung durch anschließende Publikation lässt gemäß Bourdieu einen Rückschluss auf die implizierten Funktionen der Fotografien zu. Im Gegensatz zur Veröffentlichung innerhalb eines materiellen Fotoalbums werden hier bewusst visuelle Elemente einbezogen, welche für die Kommunikation der Bilder an andere Netzwerkteilnehmer und damit die Repräsentation des Protests geeignet sind. So fällt bei den Amateurfotografien der SitIn-Proteste an der Kasbah auf, dass selten einzelne Akteure in den Vordergrund gestellt werden. In den meisten Fällen werden einzelne Partikularitäten und Situationen des Protests, wie beispielsweise die Rolle von Musikern und kreativen Aktionen oder die hauptsächlich jungen Teilnehmer fokussiert. Des Weiteren stellten die Fotos konkrete Formen der Raumaneignung dar, wenn beispielsweise Zelte zum Übernachten an der Kasbah aufgebaut wurden. Andere Fotografien
198 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution aus dem Album Die schönsten Bilder der Kasbah 105 der Facebook-Gruppe Tunisie stellen die materiell-räumliche Aneignung durch die Menschenmengen auf dem Place de la Kasbah während des Sit-Ins der damit verbundenen Proteste dar. Auch hier werden keine einzelnen Akteure fokussiert, sondern es steht die raumergreifende Macht des Kollektivkörpers (vgl. Butler 2011) im Vordergrund. Bei einer genauen Analyse der Auswahl dargestellter Situationen, Elemente oder Akteure des Protests wird die Ambivalenz der kommunikativen Strategie solcher Amateurfotografien deutlich. Fotografische Darstellung gerät durch diese Auswahlprozesse bei der Erstellung der Fotografie und bei ihrer medialen Veröffentlichung zur Repräsentation, indem eine bildliche Erzählung der Ereignisse diese als Akte des Protests modelliert. Zudem werden diese Protestfotografien durch den medialen Materialitätseinbruch, durch den ihnen zugewiesenen Realismus, als Verifikation der Demonstrationen und öffentlichen Aktionen gewertet. Im Gegensatz zu den Pressefotografien, denen der Wert des Realismus neben der fotografischen Indexikalität durch ihre Institutionalisierung als journalistische Erzeugnisse zukommt, wird bei den Protestfotografien auf die realitätsgetreue Darstellung der Ereignisse gesetzt. So sind diese Bilder insbesondere aufgrund ihrer Aufnahmequalität als „poor images“ nach Hito Steyerl zu bezeichnen, welche nicht etwa die Realität durch eine klare Aufnahme wiedergeben, sondern durch ihre bildnerische Insuffizienz insbesondere die Aufnahmebedingungen, also ihren inhärenten Realitätsbezug, im Bild thematisieren und dadurch in visuell-reflexiver Weise auf eine außerbildliche Realität verweisen (vgl. Steyerl 2009 zitiert in Schankweiler 2016: 11 f.). In Abhängigkeit des jeweiligen Kulturprogramms und der jeweils vorhandenen Wirklichkeitswahrnehmung werden Bestandteile im Bild zu Elementen der Inszenierung von Authentizität. So wird die Besetzung der Kasbah besonders durch die Aneignung der Balustraden des Regierungssitzes Dar El Bey als authentischer Protest greifbar gemacht. Das Vorhandensein von programmspezifischen Symbolen (Graffiti und Banner), Praktiken (Musik und künstlerische Tätigkeit) sowie Akteuren (bspw. jungen Menschen) lässt die Bilder authentisch erscheinen. Ein erheblicher Aspekt dieser Authentifizierung ist nicht nur die Sichtbarkeit protestspezifischer Elemente und Handlungen, sondern auch die Perspektive dieser Fotografien. Im Gegensatz zu den professionellen Bildern der Journalisten zeichnen sich erstere durch teilnehmende Position ihrer Produzenten aus. Sie zeichneten nicht nur die Proteste aus der Entfernung auf, sondern partizipierten
105 Album أجمل صور القصبةder Facebook-Gruppe Tunisie, www.facebook.com/pg/Tunisie-99328877514/photos/?tab=album&album_id=10150097686672515 (Stand: 31.03.2018).
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direkt an diesen. Dies zeigt sich in der bildlichen Nähe der dargestellten Elemente sowie in der Aufnahmeperspektive: They did so from their own point of view, frequently being positioned within the protest action, and capturing the aspects of mobilizations that were more newsworthy from a social movement perspective. (Mattoni und Teune 2014: 881)
Dass diese Verifikation also Gegenstand einer Inszenierung und (Selbst-)Darstellung der Protestierenden und damit der politischen Bewegung ist, wird insbesondere an den textuellen Erweiterungen der Bilder und Alben deutlich. Wird beispielsweise das Album der Gruppe Tunisie als Die schönsten Bilder von der Kasbah betitelt, so verdeutlicht dies die Ambivalenz der Bilder zwischen einer authentischen Wiedergabe des Sit-Ins und der (subjektiven) Schönheit der bildlichen Inszenierung auf der anderen Seite. Das Album wurde über mit über 150 Gefällt-mir-Angaben versehen und 56 Mal kommentiert. Die Kommentare zum Album106 verstetigen die ambivalente kommunikative Funktion der Fotografien, indem dort einerseits die Lage an der Kasbah gelobt, das Engagement der Protestierenden mit religiösen Versen gewürdigt wird und die Situation als „cool und sehr zivilisiert“ beschrieben wird. Andererseits werden die Fotos als authentisch angesehen, was beispielsweise am Kommentar eines Nutzers deutlich wird: „Tunesische Fernsehsender konspirieren gegen die Revolution. Die riesige Demonstration wurde am Anfang nicht übertragen und sie sprachen nicht darüber.“ Auch hier wird deutlich, dass die Inszenierung Teil der Verifikation wird – die Fotografien werden zur Verifikation einer Wirklichkeitswahrnehmung der Protestsympathisanten genutzt. Die Wahrnehmung von Demonstrationen und Protesthandlungen wiederum wird innerhalb eines Kulturprogrammes und einer entsprechenden ideologischen Ausrichtung geprägt sowie fortgezeichnet. Verifikation wird damit zum Teil der medialen Repräsentation des Protests aus einer spezifischen Sicht heraus. Die Beziehung zwischen den begleitenden Texten, beispielsweise Titel, Beschreibungen und Kommentare zu Bildern und Alben, und den Bildern selbst lässt sich nicht nur auf eine additive Dimension beschränken. Dieser Zusammenhang von Inszenierung und Authentifizierung wird auch an der Nutzung von Amateurbildern als Zeugnis der Protestbewegung deutlich. Einen solchen Zeugnischarakter hat die Amateurfotografie bei Nutzer Abdou Hamdi (vgl. Abbildung 16), welcher bevorzugt Fotografien anderer Nutzer veröffentlicht, auf denen er als entscheidender Protagonist von Demonstrationen
106 Vgl. Album der Facebook-Gruppe Tunisie, www.facebook.com/pg/Tunisie-99328877514/ photos/?tab=album&album_id=10150097686672515 (Stand: 31.03.2018).
200 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution erkennbar wird. In einer Amateurfotografie wird er bei einer Demonstration auf der Straße kniend in siegreicher Pose gezeigt.
Abb. 16: Facebook-Profil Abdou Hamdi, Profilfoto, veröffentlicht am 14.04.2012.
Beide Hände hält er mit dem Victory-Zeichen in die Höhe, um den Hals trägt er eine nicht identifizierbare, rote Flagge. Im Hintergrund sieht man eine herannahende Gruppe von Menschen mit Nationalflaggen sowie einen Fotografen. Da das Foto relativ verschwommen und keine klare Trennung zwischen dem knienden Akteur und dem Hintergrund erkennbar ist, verliert die heroische Pose an Wirkkraft. Zudem ist nicht deutlich, gegen wen sich der Nutzer in dieser Pose richtet. Die Amateurfotografie, welche, wie vom Wasserzeichen angezeigt, offensichtlich auf der Seite JahwaraFM veröffentlicht wurde, hat ein geringes narratives Potential. Hinsichtlich der Pose und der Rolle des Akteurs fehlt eine klare Kontextualisierung innerhalb der Fotografie. Kurz darauf, am selben Tag, veröffentlichte der Nutzer allerdings die Titelseite der französischen Zeitung 20 Minutes. Auf der Titelfotografie der Zeitung sieht man Abdou Hamdi in der o. g. Pose. Nur handelt es sich um ein professionelles Pressefoto, welches ihn aus der Rückperspektive aufnimmt. Die Identität des Akteurs und sein Gesicht sind nicht mehr erkennbar, in den Vordergrund rückt die Pose mit dem Victory-Zeichen sowie ihr Ziel: Vor dem Protagonisten wird eine Polizeifront sichtbar, die sich mit Schilden und Kopfschutz gegen die Demonstranten richtet (vgl. Abbildung 17). Diese Fotografie wurde durch den Fotografen aufgenommen, der im vorherigen Bild im Hintergrund sichtbar war. Durch die Anonymisierung des Protagonisten und die klare Ausrichtung sowie Bildgestaltung der Fotografie wird verdeut-
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licht, dass sich hier ein Bürger in einer Handlung des Protests gegen die Polizisten wendet. Das Foto wird ergänzt durch den Titel „Die unterdrückte Demokratie“. Die Auseinandersetzungen zwischen den Demonstranten und der Polizei werden im Untertitel erwähnt.
Abb. 17: Facebook-Profil Abdou Hamdi, Chronikfoto, veröffentlicht am 14.04.2012.
Beide Fotografien – die amateurhafte in der Seitenansicht, die journalistische aus der Rückansicht – ergänzen sich im Album des Nutzers zu einem Gesamtnarrativ: Einerseits wirkt die Pose des Protagonisten in der Pressefotografie heroisch, sie wird in einen politischen Zusammenhang eingebettet und durch einen klaren ‚Feind‘ (die Polizei) mit politischem Potential versehen. Andererseits personalisiert die Amateurfotografie die Szene, indem sie dem Akteur ein Gesicht gibt, ihn als Profilinhaber erkenntlich macht und ihn in den Rahmen anderer Demonstranten einfügt. Demnach ist die klarere Referenzstruktur ein entscheidender Aspekt der Amateurfotografien. Die symbolische Dimension der journalistischen Fotografie wird durch die realistisch-indexikalische Ebene der Amateurfotografie ergänzt und erweitert.
202 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution
3.4 Fotografien als Aufzeichnung und Archiv von Protestsymbolen – Slogans, Graffitis, Collagen Wie bisher gezeigt, geben die Fotografien der Demonstrationen oder Sit-Ins besonders Szenen des Protests und widerständige Handlungen von Akteuren wieder. Ein Schwerpunkt dieser Repräsentation lag folglich auf der Performanz des Protests, durch Präsenz, Bewegung und die körperliche Aneignung des öffentlichen Raumes. Ein weiterer Fokus ist die fotografische Abbildung der Symbole des Protests im Sinne von symbolischen Realisationen, die im Rahmen von Demonstra tionen im öffentlichen Raum gezeigt oder produziert werden. Die vorherigen Fotografien dienten zudem der Wiedergabe des Vollzugs von Protest, der Schaffung eines „überzeitlichen Kairos oder [des, JE] indexikalischen Gewesensein[s]“ (Alloa 2011: 36), indem sie Fotografie durch die Ikonisierung entzeitlichen oder indem sie qua indexikalischer Qualität eine mediale Re-Präsenz der Performanz schaffen. Dem gegenüber stehen die Fotografien der Symbole des Protests, welche im Bild weniger den Vollzug, als vielmehr die Präsenz des Abgebildeten betonen. Das Ziel ist es hier demnach nicht, eine performative Handlung im Bild festzuhalten und damit kommunizierbar, nachweisbar zu machen. Vielmehr sind die symbolischen Träger und Produkte der Demonstrationen bereits mediale Spuren und Verzeitlichungen der Protestperformationen. Im Folgenden wird gezeigt, dass die Fotografien über die Abbildung dieser Zeichen vielmehr mediale Übersetzungen darstellen. Durch einen solchen fotografischen „Abdruck“ (Dubois 2010: 113)107 entstehen bildliche Spuren der materiellen Spuren, welche in dieser neuen medialen Form vervielfältigt, verbreitet, kommuniziert und erweitert werden können. Laut Massimo Leone kommen bei Demonstrationen zahlreiche, mithilfe semiotischer Methoden analysierbare Elemente zum Tragen, dazu gehören: [L]es modifications du corps à travers les vêtements, les masques, les pigments ou d‘autres artefacts et pratiques, les images de différents types, les sons et les bruits, les relations avec l‘espace, l‘architecture et les objets, la construction de nouveaux artefacts, la destruction d‘objets. (Leone 2015: 22)
107 Im Text „Die Fotografie als Spur eines Wirklichen“ nutzt Philippe Dubois mehrere metaphorische Begriffe, um die Wirkmacht der Fotografie zu begreifen. Aus medientheoretischer Sicht zeichnen sich diese Begriffe, „Spur“, „Einschreibung“ und „Abdruck“, nicht nur durch den indexikalischen Charakter aus (den Dubois insbesondere hervorhebt), sondern auch durch die Funktion einer medialen Übertragung. Jedes fotografische Bild ist die Übersetzung eines materiell sichtbaren Zeichens (einer Handlung, eines durch einen medialen Träger materialisierten Bildes, eines schriftlichen Textes, etc.) in ein kommunizier- und vervielfältigbares Bildzeichen. Vgl. zu einer semiotischen Lektüre der Metapher ‚Abdruck‘ auch Merzeau (2009).
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Cécile Boex hebt hervor, dass diese semiotischen Elementeeinerseits die Funktion haben, hegemoniale Strukturen über Framingprozesse in Frage zu stellen, andererseits die Demonstrationen zu inszenieren (vgl. Boex 2013: 66). Diese symbolischen Elemente stehen zumeist nicht im Fokus der Betrachtungen, können aber insbesondere bei modernen, kreativen Formen des Protests im öffentlichen Raum, wie beispielsweise Flash Mobs, Performances oder Straßentheater eine größere Rolle als klassische Slogans oder Flyer spielen (vgl. Amann 2011). Beispielhaft für die Bedeutung der fotografischen Repräsentation solcher Symbole bei Demonstrationen ist eine Aktion vom 3. Januar 2011, bei der Ingenieursstudierende eines Instituts in Tunis sich in den Hof des Campus setzten und dabei die Wörter ‚( تونس حرTunis hurra‘ bzw. ‚Tunesien ist frei‘) mit ihren Körpern formierten (vgl. Abbildung 18).
Abb. 18: Facebook-Seite Tunisie Nmout 3lik Ya, Chronik-Foto, veröffentlicht am 06.01.2011, transformiert in Schwarz-Weiß durch Autor.
Diese Fotografie stellt eine frühe Form eines Slogans dar, zumal dieser Slogan von Schülern, denen die Teilnahme an Demonstrationen verboten war, ein stiller und anonymer ist. Einzig die körperliche Präsenz im Raum, die Ausrichtung eines Kollektivkörpers, der einen Satz über das Ziel der Befreiung formt, zeugt von einem Akt des Protests. Ähnlich wie bei einem Flashmob spielt die Identität der Teilnehmer keine Rolle (vgl. Amann 2011), während die Teilnehmer bei einem Flashmob allerdings erkennbar bleiben, sind sie in o. g. Beispiel unkenntlich. Die Anonymität ist ein erwünschter Effekt der Aktion: Der formierte Ausspruch erhält nur Sinn durch eine Betrachtung aus der Vogelperspektive. Da die Aktion allerdings im halböffentlichen Raum des Instituts stattfand, war sie keinem großen Publikum
204 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution zugänglich. Das Ziel der Aktion war es, ebendiese Fotografie zu erstellen, welche einerseits nachweist, dass Menschen sich in einer Vielzahl zu einem solchen Ausspruch bekennen, diese Menschen andererseits in dieser frühen Phase der Bewegung nicht individuell erkannt werden sollen. Die Fotografie ist hier demnach ein Mittel der öffentlichen Sichtbarmachung (über die mediale Vermittlung vor allem im Internet) und zugleich der Opazität: Das Motiv wird erkenntlich dadurch, dass ein Kollektivkörper besteht, Individuen allerdings in der Undurchsichtigkeit dieses Kollektivs und zugleich im Aufnahmewinkel der Fotografie verschwinden. Die Studierenden nutzten diese Sichtbarmachung bei gleichzeitiger Unsichtbarkeit, um einen prominenten Slogan der ersten Demonstrationen zu visualisieren. Die Aufnahme verbreitete sich rasant unter tunesischen Facebook-Nutzern und führte die Forderungen der Demonstrationen bereits zu Anfang Januar damit an ein breites Publikum heran. Wenig später, am 10. Januar, veröffentlichten die Studierenden eine ähnliche Aufnahme, bei der sie – am selben Ort – die Formulierung ‚( ال للقتلNein zum Töten‘) bildeten.108 Während in diesem Beispiel der Slogan noch mithilfe von zahlreichen Körpern, nur in der Draufsicht erkennbar und nur als Fotografie im Internet sichtbar gemacht wurde, kamen seit Mitte Januar 2011 auch visuell-schriftliche Slogans auf Bannern oder Plakaten im öffentlichen Raum hinzu. So fällt bei einer Betrachtung der fotografischen Bildkultur des Protests auf, dass Fotografien von Protestschildern – zumeist beschränkt auf das Schild ohne die explizite Wiedergabe des Plakatautors oder des tragenden Akteurs – stets Bestandteil der Fotoalben zu Protestaktionen sind. Die Protestschilder sind Teil der ephemeren Zeichen einer Demonstration. Einerseits gehören die Plakate ähnlich wie gemeinsam gerufene Slogans oder Parolen, zu den „performativen Protest-Codes“ (Fahlenbrach 2009: 101) und bilden ebenso die Basis für die Schaffung eines Einheitsgefühls, für die Identifikation mit der Masse sowie für die Produktion eines protestierenden Kollektivs (vgl. Fahlenbrach 2009: 101 f.). Zudem visualisieren sie die Forderungen des Protests, prägen dadurch entscheidend die telemediale, hauptsächlich visuelle Berichterstattung über die Demonstration (in Zeitungen oder Fernsehen). Damit sind sie ein entscheidender Bestandteil nicht nur der direkten Wirkung einer Demonstration im öffentlichen Raum, sondern auch der damit verbundenen Mediatisierung des Protests (vgl. Fahlenbrach 2009: 105). Andererseits sind die Schilder des Protests aufgrund ihrer Performativität lediglich vorübergehende
108 Vgl. Mackey, Robert (Blog-Post vom 12.01.2011): Tunisians Document Protests Online. Online unter: https://thelede.blogs.nytimes.com/2011/01/12/tunisians-document-protests-online/ (Stand: 17.02.2018).
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Zeichen, welche während der Straßendemonstrationen gezeigt werden, jedoch nach Ende der Aktionen zerstört oder verstaut werden. Als kommunikative Zeichen werden sie folglich nur während der Aktion wirksam. Demgemäß spielen audiovisuelle Medien nicht nur die Rolle der Verbreitung solcher Zeichen jenseits des konkreten Wirkraums der Straße, sondern haben auch die Funktion der Verzeitlichung dieser visuellen Zeichen. Der Spruch Dégage war einer der prominenten Slogans der tunesischen Proteste (vgl. Azouzi 2013) und wurde nicht nur bei den Demonstrationen skandiert, sondern auch in Form von beschriebenen Plakaten visualisiert. Die von der Nutzerin veröffentlichte Fotografie einer hölzernen Protesttafel, auf die mehrere bedruckte Papiere aufgeklebt sind, zeigt auf, inwiefern der Begriff Dégage in unterschiedlichen Momenten der revolutionären und postrevolutionären Demonstrationen auch in unterschiedlichen semantischen Extensionen genutzt wurde (vgl. Abbildung 19).
Abb. 19: Facebook-Profil Asma Laabidi, Album-Foto, Album „Manif/Sit-in Kasbah“, veröffentlicht am 06.03.2011, transformiert in Schwarz-Weiß durch Autor.
Das Protestschild wurde bei den Demonstrationen im Rahmen der Kasbah-Besetzung im Februar und März 2011 gezeigt. Vor dem 11. Januar wurde der Slogan meist ohne eine namentliche Konkretisierung, Das ‚Verschwinde‘ richtete sich hier an den damaligen Präsidenten der Übergangsregierung, Mohammed Ghanouchi, und damit gezielt an einen ehemaligen Angehörigen des Regimes. Diese Fotografie ist nicht nur ein kommunikatives Produkt, durch das die Botschaft des Slogans über die Umgebung der Hauptstadt hinaus innerhalb des individuellen Netzwerks der Nutzerin verbreitet wird. Das fotografische Bild ist auch Spur einer materiellen Spur des Protests. Das Protestschild aktualisiert den Slogan, welcher
206 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution im Nachfeld der Revolution bereits in das kulturelle Gedächtnis der Bevölkerung übergegangen ist, im Kontext neuer Demonstrationen gegen die Übergangsregierung. Als Visualisierung der kollektiven Ziele des Protests wird es zu einer historischen Spur des historischen Moments. Das fotografische Bild wiederum verweist einerseits auf diese materielle Spur, fügt sie durch den Aufnahmewinkel in einen größeren Kontext ein (weitere Protestslogans auf dem Schildträger, Protestakteure im Hintergrund) und verweist damit direkt auf die Protestaktionen bei den Kasbah-Sit-Ins. Andererseits konserviert sie diese historische Realisation als Ausdruck des zeitgenössischen Wertesystems eines widerständigen Kulturprogramms. Zudem wurden diese Slogans nicht zuletzt durch die Mediatisierung in den SNS und Blogs zu innerhalb der tunesischen Semiosphäre zentral situierten Ausdrücken von Protest. Sie setzten sich auch in Form von nachträglichen, digitalen Inschriften in weiteren Fotografien durch. Der Medienaktivist MedFreeman veröffentlichte beispielsweise die Fotografie einer demonstrierenden Menge, welche durch einen digitalen Filter rot eingefärbt wurde (vgl. Abbildung 20).
Abb. 20: Facebook-Seite Vcom Freedom, Chronikfoto, veröffentlicht am 07.05.2011.
Der Nutzer fügte nachträglich in Form einer Collage den Schriftzug Dégage ein und schrieb der Menge damit diesen prominenten Slogan zu. Diese späte Visualisierung der Losung hat zwei Funktionen: Erstens wird das gezeigte Bild als eine Demonstration im Rahmen der tunesischen Proteste von 2011 gerahmt. So ist aus der rot gefärbten Fotografie zunächst nicht ableitbar, dass es sich tatsächlich um tunesische Demonstranten handelt. Zweitens wird auf diese Weise eine Referenz geschaffen auf die Proteste im Januar 2011. Da im Beschreibungstext zum Bild die korrupten Polizisten, systemtreue Journalisten und Unterstützer der Übergangs-
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regierung unter Essebsi im Vordergrund stehen, werden sie durch den Begriff unter derselben Kritik des unsozialen Systems verurteilt, wie zuvor der Machthaber Ben Ali und seine Anhänger. Durch die nachträgliche Einfügung der Protestslogans werden diese allerdings auch von der materialen Präsenz im öffentlichen Raum entkoppelt – sie sind eben nicht Teil der indexikalischen Ebene der Fotografie. Insbesondere die zahlreichen Fotografien von Protestschildern, welche sich in Facebook ähnlich einer viralen Ansteckung verbreiteten und sogar internationale Bekanntheit erreichten (vgl. Hawkins 2014: 44 f.), trugen zu dieser Entwicklung bei. Die Bildzeichen beschränkten sich oftmals auf eine Wiedergabe der Slogans, die Kontexte, die Autoren der Schilder sowie die konkreten Ziele der jeweiligen Demonstration gerieten in den Hintergrund. Folglich ist es nicht verwunderlich, dass sich diese Kommunikate als variable Losungen der Kritik durchsetzten und auch jenseits der Straßendemonstrationen beispielsweise in der digitalen Bildkultur Facebooks als gängige Losungen der Kritik galten. So ist der von Hawkins (Hawkins 2014: 44) besprochene Slogan Game Over (ein international verständlicher Ausspruch aus der Computerspielkultur) zahlreich wieder aufgegriffen worden, um Präsidenten oder Premierminister der Übergangsregierungen bis in das Jahr 2013 hinein zu diskreditieren. Die Slogans sind demnach nicht mehr nur Bestandteil von materiellen Demonstrationen im öffentlichen Raum, sondern sie wurden ebenso zu verfügbaren Elementen der visuell-medialen Systemkritik. Neben den Spruchbändern und Protestschildern waren Graffiti ein bestimmendes symbolisches Element der Protestfotografien in Facebook. Diese Graffitis entstanden während der Hochphasen des Protests – bei den ersten Unruhen in Sidi Bouzid im Dezember 2010, im Januar 2011 auf der Avenue Habib Bourguiba, im Februar bis März 2011 bei den Sit-Ins der Kasbah von Tunis, bei weiteren vereinzelten Demonstrationen in den Provinzstädten sowie bei dem Beerdigungszug von Chokri Belaid. Diese im Rahmen von Demonstrationen entstandenen Graffiti zeichnen sich dadurch aus, dass sie meist einfache Schriftzüge darstellen, ohne die besondere Ästhetik und noch weniger die klar designten Formen von StreetArt anzunehmen (vgl. Jakob 2009: 73 f.). Vielmehr sind sie spontane Äußerungen des Protests und ordnen sich demnach – ähnlich wie die skandierten Slogans oder die Protestschilder –in die Narrative der Widerstandsdiskurse einer Protestkultur ein (vgl. Bogerts 2016). Betrachtet man eine Fotografie, die von Asma Laabidi am 11. Mai 2011 als Profilbild veröffentlicht wurde, so fällt deutlich auf, inwiefern Graffiti-Schriftzüge an der Kasbah ähnlich der physischen Besetzung und der im öffentlichen Raum getragenen Plakate zur symbolpolitischen Einnahme eines hegemonial durch das Regime besetzten Raumes (in diesem Fall die Kasbah in Tunis) beitragen
208 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution (vgl. Abbildung 21). Roswitha Badry fasst diese Form der Graffiti ebenso als eine gezielte Aneignung von Machträumen auf: Die Raumaneignung strategischer und symbolischer Orte im Machtzentrum […] zählt zu den bewährten Strategien von SB [sozialen Bewegungen, JE]. […] Die Demonstranten stellen durch ihre massive körperliche Präsenz und die Umgestaltung des Territoriums mit ihren eigenen Symbolen, Ritualen, Verhaltensweisen und Aussagen die Legitimität der etablierten Macht in Frage. (Badry 2013: 12 f.)
Demnach stehen bei den Sprüchen weniger die Ästhetik oder eine komplexe Aussage im Vordergrund, denn vielmehr eine symbolische Präsenz (vgl. Hartmann 2011: 74), die Ausstellung reduzierter Forderungen sowie die mögliche Mediatisierung der Proteste durch Fotografien ebendieser Graffiti. Tobias Moraw ksi betont am Beispiel der Graffiti in Berlin, dass die Verbindung der öffentlichkeitswirksamen Kommunikation mit der anonymen Autorschaft dazu führen, dass Graffiti sich besonders als Mittel politischer Kommunikation eignen (vgl. Morawski 2014: 107). In dieser Hinsicht ist die (internationale) mediale Verbreitung der Schriftzüge dezidiertes Ziel der Aktivisten. So sind nicht alle Sprüche im Arabischen oder im lokalen Dialekt verfasst, sondern in den auf Facebook verbreiteten Fotografien sind oft auch Elemente in Französisch oder Englisch erkennbar. Im Bildbeispiel fordern Aktivisten im Namen der Stadt Tataouine („Tataouine says…“) das Abdanken des Premierministers Mohammed Ghannouchi („Ghannouchi OUT!!“). Nach Hawkins sind die in solchen Verkehrssprachen verfassten Slogans und Graffiti Zeichen für die anvisierte mediale Internationalisierung des Protests (Hawkins 2014: 44 f.).
Abb. 21: Facebook-Profil Asma Laabidi, Profilfoto, veröffentlicht am 11.05.2011.
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Das Bildbeispiel zeigt – als allegorisches Bild – auch auf, dass Graffiti zu den wenigen performativen Zeichen des Protests (als während der konkreten Protestaktion veröffentlichte Kommunikate) gehören, die semi-ephemer sind. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie – mit widerstandsfähiger Farbe an nur schlecht zu reinigenden Wänden oder anderen Objekte im öffentlichen Raum angebracht – zumeist die Proteste selbst überdauern. Ebenso sind sie im Gegensatz zu Plakaten weder auf einen menschlichen Träger angewiesen, noch können sie schnell entfernt oder zerstört werden. So wird im Bild verdeutlicht, dass die Graffiti, die während des Sit-Ins an der Kasbah angebracht wurden, selbst noch die Reinigungsarbeiten im Anschluss an die polizeiliche Räumung des Platzes überdauern konnten.109 Sie werden folglich zu einer Spur des performativen Protesthandelns, zeigen auf, dass am konkret materiellen Ort eine Besetzung in Verbindung mit politischen Forderungen stattgefunden hat, verweisen durch die Inschriften auf die Anwesenheit von Demonstrierenden aus den Provinzstädten Tatouine und Gabes (vgl. Khalil 2014: 59). Selbstverständlich handelt es sich bei Graffiti nicht um Spuren im Sinne von Indizes. Die Funktion der Spur wird ihnen im Rahmen einer pragmatischen Zuweisung des Kommunikationsgehaltes verliehen. In Tunis, wo der hegemoniale Raum des geopolitischen Machtzentrums bis zu den Protesten im Januar 2011 nahezu frei von einerseits politischen Slogans und Aussprüchen, andererseits von Graffiti als Ausdrucksform einer weitgehend defavo risierten Gesellschaftsschicht (vgl. Klee 2010) war, verweisen diese massenhaft an einem Ort versammelten Kommunikate zwangsläufig auf die vergangene Präsenz einer protestierenden Gemeinschaft. „The writing and visual iconography covering the walls of the Kasbah were a visual performance of the people’s taking over the power of the state.” (Khalil 2014: 58) Zugleich bleiben Graffiti ephemere Zeichen: Im Vergleich zu Architektur, staatlich legitimierten Werbeflächen, Verkehrszeichen und anderen semiotischen Elementen im öffentlichen Raum sind sie vergleichsweise vergänglich. Sich im Spannungsbereich zwischen individuellem Ausdruck und Vandalismus (Jakob 2009: 90) befindend, werden Graffiti und Street-Art oft durch die Eigentümer der Flächen oder die raumregulierende Behörde entfernt und übermalt sowie durch die Werke anderer Graffiti-Akteure zu palimpsestartig überlagert (vgl. Jakob 2009: 59). Durch dieses mediale Charakteristikum der Graffiti erlangt die mediale Konservierung und Verbreitung an Bedeutung – einerseits entsteht daraus der Drang, Street-Art zu musealisieren und zu archivieren (vgl. Jakob 2009: 92–96), andererseits Graffiti in fotografischen Bildern zu konservieren. Die Fotografien von den
109 Tatsächlich wurden sie am Tag nach der Räumung weiß übermalt (vgl. Khalil 2014: 58).
210 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution Wandmalereien an der Kasbah, die u.a. von Asma Laabidi innerhalb des SNS Facebook verbreitet wurden, legen eine indexikalische Zeugenschaft der übertünchten kommunikativen Äußerungen ab. Sie werden zu einer digitalen Spur der materiellen Spur und ermöglichen so die Archivierung der dennoch ephemeren Zeugnisse öffentlicher Proteste. Durch diese Konservierung werden die Fotografien der Graffiti wiederum zu Spuren der historischen Proteste, auf die man sich beziehen kann. So beschreibt die Nutzerin Asma Laabidi das o. g. Bild mit einem Zitat aus dem im Rahmen der Januarrevolution bekannt gewordenen Lied Dima Dima von Yasser Jradi, welches direkt Bezug nimmt auf die materielle Situation der Fotografie und die Ironie dieser Szene: „Im Namen derer, die kehren“ („ )“نحلف بليالي الك ّناسة, zeigt Laabidi auf, dass die Menschen nun die symbolischen Überbleibsel der Demonstrationen bereinigen, in deren Namen zuvor die Proteste von Dezember bis März geführt wurden. Eine andere Nutzerin nimmt diese Kritik auf und fordert, „wir werden die aktuelle Regierung auch noch wegkehren“.110 Dass die Reinigung oder Beseitigung damit zu einem hegemonialen Prozess um Macht, Sichtbarkeit und Verfügungsgewalt werden kann, bei dem einerseits die symbolischen Reste von Demonstrationen entfernt werden, andererseits ganze Regimes beseitigt durch die Benachteiligten einer Gesellschaft beseitigt werden, drückt das Bild in Verbindung mit den schriftlichen Beschreibungen und Kommentaren allegorisch aus.
Abb. 22: Facebook-Profil Amel Douja Dhaouadi, Profilfoto, veröffentlicht am 29.01.2011, transformiert in Schwarz-Weiß durch Autor.
110 „wa9tèch najemou noknsouh ce système kima noknsou ezbla!“.
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Die fotografische Inszenierung der Graffiti sowie die Verhandlung von Sinn nach der Produktion des fotografischen Bildes nutzen die Graffitibilder zwar als Spuren des Protests, lösen sie jedoch ähnlich den Fotografien von Protestschildern vom ursprünglich materiellen Kontext des Auftretens ab und setzen sie als generellen Ausdruck des Protests. Deutlich wird dies am bekannten Graffiti-Slogan Freedom, welcher zwischen Januar und dem 5. März 2011 an den Wänden der Kasbah bestand und zum Hintergrund zahlreicher fotografischer Inszenierungen wurde. Die von der Facebook-Nutzerin Amel Douja Dhaouadi weiterverbreiteten Fotografien (die nicht von ihr selbst produziert wurden), zeigen dieses Graffito mit jeweils unterschiedlichen Protestakteuren. In der ersten Abbildung (vgl. Abbildung 22) sieht man eine Gruppe junger Männer, die in der Dämmerung an der Mauer mit dem Wandbild ruhen. Es handelt sich hierbei um Teilnehmer des Sit-Ins, gezeigt wird das Graffiti als Kulisse der Besetzung. Zudem werden das Sit-In und die Besetzung als Formen des politischen Widerstands in einen semantischen Zusammenhang mit dem Protestgehalt des Graffito gebracht. Das Sit-In wird demnach inszeniert als weitere Etappe auf dem Weg Tunesiens in die anvisierte Befreiung. Davon weichen Fotografien ab, bei denen das Graffiti zur Ausstaffierung und zur semantischen Kontextualisierung für eine weitere Bildschicht dient. Dadurch wird der Schriftzug von einer kommunikativen Spur zu einem eigenständigen, symbolischen Zeichen und damit seiner semiotischen Komplexität beraubt. Beispielhaft kann hierfür eine Bildmontage des Medienaktivisten Med Freeman angeführt werden. Darin sieht man einen älteren Mann, gekleidet in einem herkömmlichen Pullover und einer schwarzen Mütze, der Oberkörper bedeckt von einer tunesischen Nationalflagge, aus der Rückansicht vor einem weiteren ikonischen Graffiti-Spruch der Kasbah ‚Endlich frei‘ („ENFIN LIBRES“, vgl. Abbildung 23). Der Mann kniet vor dem Graffito und richtet beide Arme in einer Geste der Anbetung in Richtung des Bildes. Das Graffito wird nicht als Hintergrund der Inszenierung eines Akteurs, sondern vielmehr als zentral-textuelle Botschaft im Zentrum dargestellt, die Person, durch die Nationalflagge als Bürger der neuen tunesischen Nation markiert, richtet sich im Dank und der Anerkennung gen Wandbild. In dieser Hinsicht bleibt das Graffito zumindest auf der fotografischen Ebene des Bildes als Spur und Forderung der vergangenen Proteste erkennbar. Erst durch die zweite semantische Ebene des Bildes – durch den in digitaler Bildbearbeitung eingefügten Kommentar ‚Noch nicht, mein Freund.‘ („Pas encore mon ami“) wird das Wandbild auf seine symbolische Ebene reduziert. Der eingefügte Kommentar berichtigt die gezeigte Euphorie des Mannes und zeigt auf, dass die Ziele des Protestes noch nicht umgesetzt wurden. Damit wird der Spurencharakter des Graffito als eine Kopplung zwischen seinem symbolischen Gehalt (der Aussage des Schriftzugs beispielsweise) und seiner physischen Präsenz in einem konkre-
212 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution ten Kontext (als raumaneignendes Zeichen an einem öffentlichen Ort) nichtig gemacht. In den Vordergrund rückt die symbolische Dimension des Graffito, sowie die kommunikative Funktion der Fotografie (welche als digitale Bildfläche wiederum bearbeitbar ist). Die Spurenhaftigkeit des ikonischen Zeichens Fotografie und des materiell-symbolischen Zeichens Graffito rückt hier deutlich in den Hintergrund. Der Charakter der Spur wird letztendlich nur dadurch erhalten, dass in o. g. Beispielen die Fotografie und die enthaltenen Graffiti auf eine historische Wertestruktur (als Ziele des Protests) und eine historische, kollektive Wahrnehmung (hinsichtlich des Erfolgs der Proteste) verweisen. Diese Historisierung des Bildes wird im letzten Beispiel so stark betrieben, dass ein ergänzender Kommentar und eine Berichtigung aus der Realitätswahrnehmung zum Moment der Veröffentlichung gerechtfertigt scheinen.
Abb. 23: Facebook-Seite Med Freeman Creations, Chronikfoto, veröffentlicht am 10.06.2011.
Diese historische Bedeutung der Fotografien als Spuren von Protestsymbolen, welche aus der Verbindung der sichtbaren symbolischen Ebene und der kontextabhängigen indexikalischen Ebene entsteht, etabliert die Bildzeichen als historische Archivierung des Protests. Dazu tragen insbesondere auch Collagen bei, welche die kollektive Erinnerung an die Protestmonate im Januar und Februar über miteinander verfügte Einzelbilder visuell wiedergeben und damit rekonstruieren. Die Collage, die am 03.02.2012 von Abdou Hamdi veröffentlicht wurde, führt die verschiedenen bisher besprochenen Gegenstandsbereiche der Protestfotografien – von Fotografien der Demonstrationen, über Repräsentationen der Protestschilder (wie der Fotomontage, bei das Antlitz Mohammed Bouazizis auf den Körper des Präsidenten Ben Ali bei seiner Vereidigung gesetzt wurde), bis hin
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zu Fotografien der Graffiti – zu einem Gefüge von „Medienangeboten des kollektiven Gedächtnisses“ (Erll 2008: 15) zusammen (vgl. Abbildung 24).
Abb. 24: Facebook-Profil Abdou Hamdi, Chronikfoto, veröffentlicht am 03.02.2012.
Die Besonderheit dieser Zusammenführung besteht darin, dass, basierend auf einer Auswahl charakteristischer Repräsentationen, eine Sammlung als „Zeugnis der Vergangenheit“ (Assmann 2001: 268) und damit als individualisiertes Archiv der Revolution erstellt wird. Die Doppelstruktur der Fotografien als Index und als ikonisches Zeichen, welches wiederum Symbole (Schrift, etc.) wiedergibt, spiegelt sich in den vorherrschenden Dimensionen des Archivs wieder: Einerseits vereint die Collage Fotografien als quasi-materielle Realisationen, die durch ihre Indexikalität auf das ‚So gewesen Sein‘ der Protestereignisse und der damit verbundenen Symbole verweisen. Sie stehen in dieser Collage als historische Zeugen und ähneln in dieser Hinsicht der historischen Gedächtnisfunktion der Archive. Andererseits sind Archive auch stets „Gedächtnis der Herrschaft“ (Assmann 2001: 268), sie legitimieren oder relegitimieren durch die Konservierung hegemonial relevanter Repräsentationen (dies umfasst institutionalisierende Texte wie Ver-
214 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution träge, aber auch historische Dokumente, die Machtausübung und -strukturen rechtfertigen) Machtstrukturen. In dieser Hinsicht werden die Fotografien auch zu Archiven der Macht, da sie hinsichtlich der Auswahl, Inszenierung und nachträglichen Veränderung der vorhandenen Symbole eine konkrete Perspektive auf die soziale Bewegung richten. Die in der Collage versammelten Bildzeichen des Nutzers und insbesondere ihre Zusammenführung zu einem kohärenten Bildzeichen tragen zu einer ideologisch geprägten Rekonstruktion des Protests bei. Demnach steht bei der Erstellung solcher Archive die mediale Übersetzung der real-historischen Ereignisse im Vordergrund: Die Aufzeichnung der Protestbewegungen, der daran teilnehmenden Massen und ihrer symbolischen Repertoires ermöglichen die Konservierung einerseits, die Sammlung, Selektion, Inszenierung und Manipulation andererseits.
3.5 Körper, Identität, Widerstand – Der Einfall der Materialität durch Selbstbilder des Protests Während bisher fotografische Zeichen als Repräsentationen materiell-real vorkommender, kollektiver Protesthandlungen, wie bspw. Demonstrationen oder Sit-Ins behandelt wurden, geraten im Folgenden Fotografien in den Blick, welche primär einen Fokus auf die Darstellung und damit individuelle Präsentation des Nutzers legen. Diese Maßgabe mag an das bekannte Bildgenre der Selfies (vgl. Saltz 2014) erinnern, insbesondere, da Selfies als die heute vorherrschende, fotografische Form visueller Selbstthematisierung gelten (vgl. Wendt 2014; Senft und Baym 2015; Autenrieth 2014; Reichert 2016). So definiert Reichert Selfies als „Fotos von sich selbst, die man selbst aufgenommen hat. Sie dienen der Selbstdokumentation und der Automedialisierung“ (Reichert 2016: 86). Eine Charakterisierung der Selfies basierend auf ästhetischen Kategorien (vgl. Saltz 2014) ist ungenau. Sinnvoller erscheint es, technisch-mediale und performative Kriterien anzuwenden. Prägend für die Bezeichnung von fotografischen Bildern als Selfies ist demnach auch, ob sie einerseits Produkt bestimmter techno- medialer Handlungsweisen sind und andererseits Ergebnis einer Aushandlung zwischen den Produzenten der Bilder und ihren Rezipienten. Zum techno- medialen Handeln gehört beispielsweise, dass Selfies quasi-instantan und direkt vom mobilen Endgerät (zumeist Smartphone und Tablet-PC) via mobile Applikationen in die sozialen Netzwerkseiten hochgeladen werden (vgl. Reichert 2016: 97; vgl. ebenso Senft und Baym 2015: 1589). Zudem zeichnet Selfies aus, dass sie über die SNS im Internet, ggf. auch App-basierten Communities wie Instagram, veröffentlicht werden und sich weiterhin darüber meist rasant verbreiten. In kommu-
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nikativer Hinsicht sind Selfies ein multidimensionales, hybrides und intertextuelles Genre, welches auf einer Aushandlung der Selbstdarstellungskonventionen zwischen Bildproduzenten und dem Bildpublikum basiert (vgl. Tiidenberg und Whelan 2017: 142 f.). Laut Reichert fügen sich Selfies in ein internetbasiert-mediales Dispositiv der „Selbstthematisierung“ ein: Unter dem weitverbreiteten Schlagwort ‚Selfies‘ können wir Formen der visuellen Selbstthematisierung verstehen, mit der sich eine Person oder auch mehrere Personen (‚Gruppenselfie‘) explizit zum Thema der Aufnahme machen. ‚Selfies‘ werden üblicherweise mit einer Digitalkamera oder einem Smartphone von der eigenen Hand aufgenommen und in den Teilöffentlichkeiten von Online-Netzwerken des Internets verbreitet. In dieser Engführung können die digitalen Netzwerke immer auch als mediale Anordnungen verstanden werden, die auf die beteiligten Akteure institutionellen und normativen Druck ausüben, sich am Prozess der Selbstthematisierung zu beteiligen. (Reichert 2017: 115)
Aus der Perspektive von Bildern als eines systemischen Bestandteils medialer Dispositive heraus betrachtet, werden Selfies zu einer Subkategorie einer generellen Ordnung von fotografischen Bildzeichen in SNS, die als konventionelle visuelle Reaktionen auf diesen Druck des Selbstbezugs gelten. So verweisen Tiidenberg und Whelan (2017) auf die Gruppe der ‚Not-Selfies‘, Bildzeichen, die nicht den Körper des Nutzers abbilden, sondern beispielsweise Objekte, die der Nutzer als relevant für seine Selbstdarstellung erachtet. Neben diesen objektorientierten Fotografien sollen in dieser Ordnung zudem alle weiteren Fotografien genannt werden, die als selfie-nah betrachtet werden können: In einem engeren Sinne gehören zu den Selfies nur Fotografien, die über die Rück- oder Frontkamera mobiler, internetfähiger Endgeräte aufgenommen werden, wobei der Nutzer einen direkten Kontakt mit dem Gerät haben muss. Als technische Hilfsmittel sind lediglich Selfie-Sticks und Spiegel möglich. Die Aufnahme per Selbstauslöser wiederum bringt das Konzept an seine Grenzen, da die Bilder einerseits durch Produzenten von sich selbst aufgenommen werden, der Unterschied zwischen einem Selbstauslöser-Bild und einem Foto, was durch eine weitere Person aufgenommen wurde, andererseits meist nicht mehr im Bild nachvollzogen werden kann. Da auch in Bildern, die durch eine weitere Person getätigt werden, der Selbstinszenierungsgrad des dargestellten Individuums durch Posen und Mimik hoch sein kann (man denke nur an die Praxis von „Fotoshootings“ innerhalb eines jugendlichen Freundeskreises), ist auch nicht klar, weshalb diese Fotografien nicht als Selfies gelten sollen. Es bleibt festzuhalten, dass eine Trennung zwischen einem ästhetischen Genre der Selfies, welches bedingt, dass die Selbstauslösung im Bild ablesbar sein muss, und einem kommunikativen Genre
216 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution der Selbstbilder, bei dem die Selbstthematisierung im Bild ein grundlegendes kommunikatives Ziel ist (vgl. Cruz und Thornham 2015: 2),111 erfolgen muss. Im Folgenden soll nun die Selbstthematisierung des Nutzers durch fotografische Bilder thematisiert werden, in denen er als Spektrum112 auftaucht. Die Fotografien, die durch den Nutzer selbst in Form eines Selfies, durch eine andere Person oder die technische Möglichkeit des Selbstauslösers aufgenommen wurden, eint, dass der Körper bzw. das Gesicht des Profilinhabers auf dem Foto zu sehen ist und er – basierend auf den bildinternen Bedeutungselementen – die im Bild erkennbaren Posen und den Eindruck weitgehend kontrolliert (vgl. Goffman 1990). Solche Bildzeichen existierten laut der Aussagen der Interviewpartner bereits vor dem Januar 2011. Jedoch nutzen die Facebook-Mitglieder zu diesem Zeitpunkt das SNS lediglich, um „ihre Fotos vom Strand, ihre Fotos beim abendlichen Ausgehen zu teilen, um sich selbst aufzuwerten, nach dem Motto: „Ich bin schön, ich bin reich, ich führe ein schönes Leben“.113 Solche Fotos wurden auch nach dem 14. Januar 2011 verbreitet, nur haftete ihnen ab diesem Moment eine politische Bedeutungsdimension an.So führt Jalel Tounsi weiter aus: „Aber dann wurde Facebook zu einem politisierten Raum: 80 % der Diskussionen und geteilten Informationen der Tunesier auf Facebook hatte etwas mit Politik zu tun.“114 Die postrevolutionäre Bedeutungserweiterung der Bildzeichen auf Facebook erstreckt sich demnach nicht nur auf solche, die als Repräsentationen des Protests angeeignet worden sind, wie die Flaggenbilder oder die fotografische Wiedergabe der Raumbesetzungen bei Sit-Ins, sondern offensichtlich auch auf prinzipiell selbstbezogene und damit oft als narzisstisch bewertete Fotografien (vgl. Mendelsohn und Papacharissi 2011). Im Gegensatz zur „medialen Skandalisierung der Selfies, die den ‚Narzissmus‘ der Selbstdarstellung anprangert und dabei oft private Fotografien ins Licht der Öffentlichkeit zerrt“ (Reichert 2016: 86), werden Selfies von tunesischen Nutzern in der nationalen Öffentlichkeit als legi-
111 Cruz und Thornham (2015) weisen außerdem darauf hin, dass Selfies im engeren Sinne auch als Mittel für einen ‚Chat‘ zwischen SNS-Nutzern, als algorithmusgesteuerte Kommunikation oder als soziotechnologisches Konstrukt konzeptualisiert werden können. 112 Roland Barthes unterscheidet drei Rollen, die beim fotografischen Zeichenprozess distinguiert werden können: Der Operator ist der Produzent des fotografischen Bildes, der Spektator ist der Betrachter des Bildes und das Spektrum schließlich ist die Person oder Sache, die im Bild zu sehen ist (vgl. Barthes 1985: 28). 113 „[T]out le monde utilisait Facebook pour partager ses photos à la plage, pour partager ses photos dans des soirées, pour se mettre en valeur, genre « je suis beau, je suis riche, je mène une belle vie ».“ Interview Jalel Tounsi. 114 „Mais ensuite, Facebook s’est politisé à fond : 80 % des discussions, des informations partagées sur Facebook des Tunisiens à quelque chose à voir avec la politique.“ Interview Jalel Tounsi.
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time Art der Repräsentation, der Sichtbarmachung und des Selbstausdrucks politisch aktiver Bürger thematisiert. Trotz der generellen Politizität der veröffentlichten Bildzeichen ab dem 14. Januar 2011 wurden diese Selbstbilder insbesondere in den Jahren 2011 bis 2012 selten ohne weitere Konnotationsmarker, die auf eine Lektüre der Bilder im Rahmen der stattfindenden Proteste verweisen, veröffentlicht. Eine beispielhafte Selbstfotografie des Nutzers Né à Tunis verweist – ähnlich den o. g. Protestfotografien – durch den dargestellten Kontext auf die Aufnahmesituation während einer Demonstration (vgl. Abbildung 25).
Abb. 25: Facebook-Profil Né à Tunis, Profilbild veröffentlicht am 29.03.2012.
Im Unterschied zu den zuvor besprochenen Demonstrationsfotografien wird hier der Nutzer allerdings nicht in einer typischen Pose als Demonstrant gezeigt. Vielmehr richtet er das Gesicht auf die Kamera, hält zwei Frauen zu seiner Seite, die Augenpartie wird durch eine Sonnenbrille verdeckt. Gezeigt wird folglich nicht die Performanz des Demonstrierens, sondern eine aufnahmeorientierte Pose der Selbstdarstellung im Rahmen einer Demonstration. Hier wird deutlich, welchen Stellenwert die körperliche Pose des Spektrums in der Wahrnehmung dieser Fotografie einnimmt. So stellt Roland Barthes die
218 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution Pose als ein konnotationsprägendes Grundelement, neben der Präsenz von Objekten, der Manipulation von Fotografien sowie der Bildkomposition vor. Es handele sich bei der Pose um eine „‚grammaire historique‘ de la connotation iconographique“, welche „devrait donc chercher ses matériaux dans la peinture, le théâtre, les associations d’idées, les métaphores courantes, etc., c’est-à-dire précisément dans la ‚culture‘.“ (Barthes 1961: 132) Posen unterscheiden sich demnach vom alltäglichen Verhalten und Alltagspraktiken insofern, dass sie als Handlung gezielt auf die visuelle Repräsentation des Körpers ausgerichtet sind. In dieser Ausrichtung auf das Bildliche greift die körperliche Pose auf das körperliche Inventar der visuellen Geschichte zurück. Im Bild wird sichtbar, inwiefern hier ein Rückgriff auf diese kulturhistorische Grammatik der Posen stattfindet. Es fällt auf, dass hierbei allerdings nicht die Posen des emotionalen Ausdrucks, wie sie von Aby Warburgs transhistorischen Kategorien der Pathosformeln beschrieben werden, genutzt werden. Auch werden nicht die etablierten Gestenkategorien genutzt, welche primär in der sozialen Kommunikation im Vordergrund stehen und auf die beispielsweise Barthes selbst in seiner Analyse der Pose des betenden John F. Kennedy verweist. Vielmehr stehen in der Selbstfotografie Posen im Vordergrund, die die Inszenierung des im jeweiligen Körper repräsentierten Individuums ermöglichen. Diese Posen sind wiederum aus der Porträtmalerei und der frühen Porträtfotografie bekannt. So wurde insbesondere die Darstellung der Mimik zur Individualisierung der repräsentierten Person in der Porträtmalerei der Renaissance entwickelt (vgl. Burke 1995). Das Lächeln beispielsweise, welches in zahlreichen fotografischen Selbstbildern auf tritt, trägt zur Charakterisierung einer Person bei, stellt diese als sympathisch dar, inszeniert ihre Schönheit115 und – im speziellen Fall des weiblichen Lächelns – schafft eine Aura der geheimnisvollen Erotik (vgl. Belting 2001b: 175–178). In ihrer Untersuchung zur Porträtfotografie im Social Web – konkret bezogen auf Fotografien aus Facebook – stellen Astheimer et al. (2011: 98–115) sechs prominente Körperposen und Arten von Mimik vor. Dabei grenzen sie die Körperposen von einer weitgehend neutralen Darstellung des Gesichts in der Ästhetik der Passbildfotografie ab. Während bei Letzteren die dargestellte Person eine Inszenierung durch Kleidung und die Frisur erfährt, stehen die Körperposen in den Fotografien für eine darüber hinaus gehende, bewusste Form der Selbstinszenierung. Die Flirtpose beispielsweise stellt im Gegensatz zum Passbild eine direkte Beziehung zum Betrachter her, indem der Blick, der Mund sowie das Gesicht direkt auf den Betrachter ausgerichtet sind. Zusätzliche Elemente der Mimik,
115 Im Gegensatz zur grotesken Gesichtsverzerrung beim Lachen.
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wie das Lächeln und geöffnete Augen unterstützen diese quasi-erotische Beziehung. Neben dieser Flirtpose nennen die Autoren die „Ansichtsache“-Aufnahme (Astheimer et al. 2011: 107), bei der das Gesicht des Akteurs im Halbprofil und auf einen bestimmten Bereich innerhalb oder außerhalb des Fotos ausgerichtet gezeigt wird, die Modelpose, bei der medial vermittelte Körperposen (insbesondere der Modeindustrie) in oftmals übertriebener Weise auftreten, die gestenlastige Pose (das Gesicht und der Körper werden mit unterschiedlichen Handgesten ergänzt), die Do-it-yourself-Pose, bei der der Aufnahmeprozess des Selfies im Bild sichtbar wird, und zuletzt die Vermummung (mit Verhüllung des Gesichts). Die von den Autoren aufgestellten Kategorien sind allerdings – insbesondere aufgrund der unklaren Setzung visueller Kriterien – nicht trennscharf. So wird an oben gezeigtem Profilbild deutlich, dass in diesem Fall einerseits die Darstellung sozialer Beziehungen vorliegt, welche durch die – scheinbar befreundeten – Frauen an der Seite des Akteurs verdeutlicht werden. Andererseits inszeniert der Nutzer mit diesem Bild ebenso sich selbst, was nicht zuletzt daran deutlich wird, dass die Fotografie als sein Profilbild und somit innerhalb des Interface als prominentes Kennzeichen der Nutzeridentität gesetzt wird. Daraus ergeben sich unterschiedliche soziokulturelle Funktionen der Fotografie. Astheimer et al. schlagen mit Blick auf Facebook vor, dass die Fotografien insbesondere der individuellen Dokumentation (als eine konkrete Präsenz innerhalb des Raum-Zeit-Gefüges), als (virtuell-visuelle) Stellvertreter der Person und vor allem zur Individualitätsbezeugung dienen (vgl. Astheimer et al. 2011: 92–96). Demnach stellen diese Bilder einen Schnittpunkt zwischen der Materialität des individuellen Alltagslebens und der Virtualität des Kommunikationsmediums Internet her – dazwischen finden die Dokumentation und zugleich Individualisierung der fotografisch repräsentierten Ereignisse statt. Jedoch blenden die Autoren bei dieser Konzeption aus, dass Bildzeichen und insbesondere die fotografischen Bildzeichen innerhalb der Medienkultur individueller Selbstthematisierung vor allem auch der Sichtbarmachung eines Ausschnitts individueller Wirklichkeitswahrnehmung dienen. Demnach nutzen Profilinhaber die Selbstfotografien, um sich selbst in Szene zu setzen, nicht nur hinsichtlich ihrer Individualität, sondern vor allem orientiert an kollektiv akzeptierten Normen sozialer Erwünschtheit. Diese Inszenierungsfunktion wird deutlich an den Kommentaren zu o. g. Beispielbild (vgl. Abbildung 25): Eine anscheinend im Bild präsente Nutzerin schreibt in tunesischem Dialekt: „Wir sind sehr schön.“, und bestätigt damit einerseits die Ausrichtung an kollektiven Mustern von Schönheit, andererseits die Selbstinszenierung der dargestellten Personen durch das Lächeln und bewusst ästhetisierende Objekte wie die Sonnenbrillen. Die Inszenierung der abgebildeten Personen beschränkt sich allerdings nicht auf die Darstellung von Schönheit, sondern erstreckt sich ebenso auf ihre Hand-
220 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution lungen als politisch aktive Bürger. Im Gegensatz zu den Demonstrationsfotografien wird die Ästhetisierung der Personen mit dem Aspekt politischer Betätigung verbunden: Das Bild stellt die Personen im Kontext einer Demonstration dar, die Nationalflagge als Zeichen der (wieder-)angeeigneten Nation ist im Bild sowohl im Hintergrund, als auch auf der als auch auf der Person und ihrer Bekleidung präsent Diese politische Dimension der Selbstbilder wird zumeist durch im Bild vorhandene Objekte erreicht, welche besonders insbesondere Porträtfotografien nicht nur ausschmücken, sondern eine tiefer liegende, meist auch soziokulturell fundierte Konnotationsschicht offenbaren (vgl. Barthes 1961: 132; vgl. ebenso Benjamin 2010: 256 f.). Die unter dem Bild angeführten Kommentare bestätigen ebenso die politische Ebene der Selbstinszenierung des Nutzers. Bezeichnenderweise weist sich der Nutzer Né à Tunis die Politizität selbst zu, indem er am Feiertag der nationalen Unabhängigkeit zur Attribution der Schönheit ergänzt: „unabhängig :))“. Es ist folglich die Referenz auf die Demonstration anlässlich des Feiertages, einer Demonstration, die vor allem auf Entschädigung der Revolutionsopfer und ihrer Familien sowie auf eine Beschleunigung der Verfassungserarbeitung drängte, welche der eigentlich individuumszentrierten Fotografie eine kollektive Relevanz gibt. Die identitätsstiftende Funktion, die sich durch ihr aktives, symbolisch-konstruktives Potential von der individualitätsbezeugenden Funktion nach Astheimer et al. (2011) abhebt, breitet sich im tunesischen Kontext ebenso auf eine politische Identität aus. Da die politische Identität eines Bürgers auf sein Engagement in Form von aktivem Handeln angewiesen ist, kommt hierbei der dokumentarischen Dimension, dem Realitätseffekt der Fotografie, eine besondere Bedeutung zu. Die physische Präsenz des Akteurs bei der Demonstration spielt eine entscheidende Rolle für die gelingende Inszenierung als „unabhängiges“, politisches Individuum. Ebendiese Funktion der Selbstfotografie als quasi-indexikalisches, bezeugendes Zeichen, wird in einem anderen Kommentar bestätigt, wenn ein Nutzer schreibt: „Ich war auch dort!! Ich habe Yaser interviewt und Dich nicht gesehen :-((.“ Der materielle Aufnahmekontext dient demnach als Verknüpfung zwischen einer ästhetischen, flirtartigen Selbstinszenierung und der Politisierung des Selbst. Die Künstlerin Rachida Amara stellt die Selbstfotografien bei Demonstrationen in eine Linie mit Formen der Selbstdarstellung in anderen Kontexten und stellt fest, dass die Darstellung von Schönheit in beiden Bereichen berechtigt ist: Weißt Du, entweder macht jemand ein Foto von seinem Abendessen oder Frühstück an einem besonderen Sonntag und ich finde das sympathisch. Oder schöne Frauen, Mädchen
Materialitätseinbrüche: Fotografien von Protest und als Protest 221 und Männer machen Selfies bei Demonstrationen und es ist sympathisch, weil man auch mit Spaß und Schönheit Widerstand leisten muss.116
Im Gegensatz zu den Fotografien von Nahrungsmitteln als Form der Selbstdarstellung innerhalb der Kultur eines ästhetisierten Konsumerismus wird die Selbstdarstellung im Rahmen von Demonstration zu einer Ausstellung von Schönheit als Form des Widerstandes. In beiden Fällen agiert die Darstellung von Schönheit als Markierung für Alltäglichkeit. Protest wird dadurch zu einer herkömmlichen Handlung gemacht. Die Inszenierung von Attraktivität dient demnach der Anbindung von Widerstand an den individuellen Alltag. Zugleich wird Protest dadurch als ästhetische Handlung legitimiert und als künstlerische Praxis – ganz im Sinne der Künstlerin Amara – gesellschaftsfähig gemacht. Eine andere Rolle der Inszenierung von körperlicher Attraktivität bei Demonstrationen wird deutlich, wenn man das Feld aus der protestpragmatischen Sicht der politischen Aktivistin Henda Chennaoui heraus betrachtet. Für sie zählt die öffentlichkeitswirksame Funktion des zunächst individuellen Ausdrucks: Sich im Foto bei Demonstrationen darzustellen, […] das zeigt einen gewissen Stolz, an dieser Revolution teilzunehmen. Und natürlich stimmt es, man inszeniert sich […], man zeigt sich vor den Kameras der ausländischen und nationalen Medien, hält Reden, fordert 1001 Dinge, etc. Aber das hat die Revolution auch unterstützt. Dieses Spektakel ist wichtig.117
Mit der Revolution sei zudem eine Freiheit entstanden, sich politisch zu engagieren. Dadurch entstand für Chennaoui ebenso ein Bedürfnis der Selbstreflexion und Spiegelung der eigenen politischen Rolle: Plötzlich gab man uns die Meinungsfreiheit und es kam zu einer Frustration, man wollte sich nun unbedingt ausdrücken. Und sich dabei sehen, betrachten, entweder auf Facebook oder in den Medien, wie man etwas tut. Und wenn es auch nur die physische Präsenz war, die entscheidend war. Und heute, dank dieser Personen, die sich fotografiert haben bei all
116 „Tu vois, soit quelqu’un prend en photo ce qu’il a préparé pour le diner ou pour un petit déjeuner un dimanche spécial et moi je vois personnellement que c’est sympathique. Ou qu’il y a des belles nanas, et des filles qui font des selfies lors des manifestations, et tout, ou des garçons, tu vois, que c’est sympathique, parce qu’on doit résister avec la joie et la beauté, aussi.“ Interview Rachida Amara. 117 „Se prendre en photo dans les manifs, […] ça montre une fierté de participer à cette révolution. Et c’est vrai, on se met en scène […], on se donne en spectacle devant les caméras des médias étrangers et des médias de notre pays, pour faire des discours, revendiquer mille et une choses etc. Mais ça, ça a servi, aussi, la révolution ; c’est important ce spectacle.“ Interview Kerim Bouzouita und Henda Chennaoui.
222 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution den Demonstrationen, dient dies nun als Bestätigung, dass wirklich alle daran teilgenommen haben.118
Damit führt Chennaoui zwei weitere entscheidende Funktionen der Selbstbilder bei Demonstrationen ein: Neben der Dokumentationsfunktion der Protestbilder, welche sogar zur nachträglichen Vergewisserung dienen kann, dass die Proteste von einer Mehrzahl der Tunesier unterstützt wurden, haben die Selbstbilder einen ähnlichen Zweck wie die Flagge als Profilbild: Sie machen Protest als ein kollektives Massenphänomen sichtbar und dadurch bedeutungsmächtig. Während die Flaggenbilder allerdings hauptsächlich eine Form der virtuellen Aneignung eines Zeichens darstellen, sind die Protestfotografien auf einer höheren Ebene der Partizipationspyramide zivilgesellschaftlichen Handelns im Web 2.0 nach Baringhorst (2014) anzusiedeln. Wenn beide Formen der visuellen Kommunikation auch nicht explizit in dieser Aufstellung genannt werden, so kommen die Flaggengrafiken der untersten Stufe des Clicktivismus gleich, bei dem durch einfache Handlungen die Zustimmung zum Protest ausgedrückt wird. Die Selbstfotografien allerdings bedingen, dass man physisch an den Demonstrationen teilgenommen hat, dort fotografisch aufgenommen wurde und diese Präsenz nun – über den digitalen Kommunikationskanal des Internets119 – weiterverbreitet. Eine weitere von Chennaoui angedeutete Dimension der Selbstbilder ist es, dass sie nicht nur einer Kommunikation an das imaginierte Publikum des engeren Netzwerks dienen, sondern eben auch einer visuellen, beinahe spiegelhaften Selbst-Reflexion. Sie ermöglichen es dem Individuum, sich selbst die Teilnahme an Protesten sowie die aktive Rolle bei den Revolutionsbewegungen zu bestätigen. So veröffentlichte Asma Laabidi im April 2011 eine offensichtlich von einer weiteren Person aufgenommene Fotografie, welche sie in einer aktiven Rolle bei Demonstrationen gegen die Partei des ehemaligen Präsidenten und die andauernde Regierungsbeteiligung der Anhänger des vergangenen Regimes zeigt (vgl. Abbildung 26).
118 „[T]out d’un coup on nous donne cette liberté de parole, et du coup y’a une frustration, on voulait absolument s’exprimer. Et se voir, après, se regarder, soit sur Facebook ou les médias, en train de faire quelque chose. Ne serait-ce que notre présence physique qu’était importante. […] Et du coup aujourd’hui, grâce à ces personnes qui se sont photographiées dans toutes les manifs, c’est une confirmation que tout le monde a participé.“ Interview Kerim Bouzouita und Henda Chennaoui. 119 Dieser weitere Kommunikationskanal kann im Vergleich zum materiellen Raum deutlich einfacher zu überwachen sein (vgl. Morozov 2011).
Materialitätseinbrüche: Fotografien von Protest und als Protest 223
Abb. 26: Facebook-Profil Asma Laabidi, Profilbild, veröffentlicht am 25.04.2011.
Der Kontext der Demonstration ist nicht deutlich erkennbar, ihr Gesicht steht im Vordergrund, nah hinter ihrer Schulter steht ein weiterer, scheinbar befreundeter Demonstrant. Beide blicken deutlich in die Kamera, sie lächelt. Während hier also die Selbstinszenierung bereits in der Fotografie auftritt, rücken der politische Rahmen der Aufnahmesituation und vor allem der Inhalt des Plakats klar in den Hintergrund. In den Kommentaren zum Bild gehen die anderen Nutzer entsprechend auch nicht auf die Demonstration, sondern auf die Identität des im Bild ersichtlichen Mannes ein. Der kommunikative Fokus auf die Selbstdarstellung wird folglich zwischen dem Bildproduzenten oder Profilinhaber einerseits und dem Bildpublikum andererseits hergestellt. Beide Pole des Prozesses äußern sich in semantischen und soziotechnologischen Akten der Anschlusskommunikation. So verzichtet Laabidi auf eine erklärende Bildbeschreibung. Vielmehr nutzt sie die Kommentarfunktion, um auf die Fragen einzugehen und den im Bild erkennbaren Mann mit seinem Facebook-Profil zu verlinken. Dadurch bestätigt sie die Identität des Mannes und zugleich die persönliche Beziehung, die sie zu ihm unterhält. Bezeichnend ist, dass Laabidi wenige Stunden nach der Veröffentlichung der ersten Fotografie eine weitere als Profilbild folgen lässt, bei der es sich um eine digitale Nachbearbeitung der ersteren handelt (vgl. Abbildung 27). Das Foto ist nun in Schwarz-Weiß wiedergegeben, wobei die Kontrastierung stark erhöht wurde. Dadurch erscheinen die dargestellten Personen maskenhaft, lediglich die wichtigsten Gesichtszüge sind noch erkennbar. Die teilweise noch vorhandene Schrift aus dem Plakat wurde entfernt. In diesem Bereich wurde in schwarzen Majuskeln der Slogan RCD DEGAGE eingefügt. Durch diese nachträgliche, digitale Bearbeitung der Fotografie korrigiert Laabidi die vorherige Fokussierung auf die Selbstdarstellung. Somit wird nun statt der Beziehung zu dem Mann
224 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution vielmehr eine Beziehung zu dem nachträglich eingefügten Protestslogan auf dem Plakat hergestellt. In dieser Hinsicht schafft Laabidi ein Selfie des Protests – auch wenn es hier nicht von ihr selbst aufgenommen wurde. Die Selbstdarstellung, welche durch die Veröffentlichung als Profilbild und durch das offensive Lächeln in Richtung des Betrachters greifbar wird, dient hier als Mittel der Darstellung einer Protesthaltung. Das abgebildete Selbst wird damit, Kerstin Schankweiler folgend, zum Medium für die Markierung individueller Affektion und darüber hinaus zum Medium einer Protesthaltung: Gerade der situative und relationale Aspekt, dass also ein Selfie die Beziehung des Dargestellten zu einer bestimmten Situation dar- und herstellt, lässt sich auf die Proteste übertragen. Denn hier geht es ebenfalls um das eigene Verhältnis zu bestimmten Geschehnissen, das man mit der Aktion herstellen, ausdrücken und kommunizieren möchte. Dabei wird das Bild der eigenen Person zum Vermittler für die Inhalte des Protestes. […] Das Genre des Selfies verschiebt sich also im Kontext von Protesten zu einer Geste des Bezeugens des eigenen Affiziertseins. Anders ausgedrückt: Die Affizierung des (zum Bild gewordenen) Körpers wird zur Botschaft. (Schankweiler 2016: 11)
Abb. 27: Facebook-Profil Asma Laabidi, Profilbild, veröffentlicht am 25.04.2011.
Solche Selbstbilder eröffnen in dieser Hinsicht ein funktionales Kontinuum zwischen der visuellen Selbstdarstellung einerseits und der Zeugenschaft von Protest andererseits. Wie in oben beschriebenem Beispiel deutlich wird, ist die soziokommunikative Funktion des Bildes nicht eindeutig einem dieser Pole zuordenbar. Sie changiert je nach Art der dargestellten Inhalte, nach der Erkennbarkeit des Kontextes und der unterschiedlichen Objekthierarchien im Bild. Laut Schankweiler basiert das Selbstbild auf der Funktion der „Affektzeugenschaft“
Materialitätseinbrüche: Fotografien von Protest und als Protest 225
(Schankweiler 2016: 11) basiert. Es wird damit zu einem Scharnierpunkt zwischen dem Selbst, welches sich visuell darstellen muss, um sich zu mediatisieren, und dem kollektiven Protest, an den das Selbst durch die bildliche Zeugenschaft angebunden wird. Diese Form der Zeugenschaft ist allerdings an sozialen Normen ausgerichtet, welche die ästhetischen Möglichkeiten solch einer affektiven Bezeugung beschränken. So äußerte der Journalist Ali Jabeur eine ironische Kritik an den Selbstdarstellungen während der Demonstration und des Sit-Ins am Bardo, Sitz der verfassungsgebenden Versammlung ANC, um den 6. August 2013, indem er eine Selbstfotografie zweier junger Frauen bei der Demonstration verbreitete (vgl. Abbildung 28).
Abb. 28: Facebook-Profil Ali Jabeur, Chronikfoto, veröffentlicht am 20.10.2013
Das Bild beschrieb er auf Arabisch als „Demo am Bardo!!!“. Das Bild zeigt die zueinander gewandten Oberkörper beiden Frauen, eine von ihnen blickt lächelnd in die Kamera und trägt eine Nationalflagge um die Schulter. Das Gesicht der anderen Frau ist im Profil zu sehen. Ihre Pose ist eine Verbindung aus gestenlastiger und modelartiger Darstellung: Ihre Augen sind geschlossen, die Mimik ähnelt
226 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution einer übertriebenen Modelpose mit gespitzten Lippen.120 Zudem richtet sie ihre linke Hand mit einem gedrehten Victory-Zeichen gen Kamera. Ironisch setzte Jabeur dieses Foto mittels der Bildbeschreibung als Visualisierung der Bardo-Demonstrationen ein. Die Ironie entsteht hierbei zwischen der textuellen Beschreibung einerseits, welche die bildliche Darstellung beispielsweise einer demonstrierenden Menge erwarten lässt, und dem dargestellten Bildinhalt andererseits, welcher sich nahezu auf die Darstellung und Selbstdarstellung zweier attraktiver Frauen beschränkt. Entscheidend erscheinen hierbei die Posen der Frauen, welche nicht auf die Darstellung einer politischen Tätigkeit abzielen, sondern (besonders im Fall der rechten Frau) auf die Inszenierung als begehrenswerter Körper. Die aus dieser Wort-Bilddifferenzentstehende Komik wird durch den Kommentar einer Nutzerin mit der Interjektion: „hihihihiiii“ bestätigt. Laut der Aktivistin Hazar, stellten die Sit-Ins am Bardo hinsichtlich der Selbstinszenierung der Teilnehmer eine Neuerung dar: Man verabredete sich, es gab Mitfahrgelegenheiten, man konnte auf 4square eingeben, dass man sich am Bardo befand, man sah es mit jedem Fastenbrechen am Abend auf Instagram, weil es während des Ramadans stattfand und man nur Fotos davon sah, was die Leute am Bardo gegessen haben.121
Das Vorhandensein distinkter Symbole des Protests sowie die Kontextualisierung der Fotografie (wie beispielsweise im Rahmen eines Sit-Ins) scheinen demnach nicht ausreichend zu sein, um dem Bild das Ausdruckspotential eines politischen Selbstbildes zu verleihen.
3.6 Flaggenfotografien zwischen körperlicher Authentizität und Fiktion Am Beispiel der Nationalflagge lässt sich verdeutlichen, welche Rolle die Positionierung des Körpers zu den Symbolen des Protests und die Persönlichkeit
120 Diese Mundstellung wird im Rahmen der Selfie-Kultur als Duckface – ‚Entenschnabel‘ bezeichnet. 121 „[O]n se donnait rendez-vous, il y avait un covoiturage, il fallait checker sur 4square comme quoi on était à Bardo, on le voyait sur Instagram, à partir de la rupture du jeûne, parce que c’était pendant la période du Ramadan parce que j’avais que des photos de ce qu’on était en train de manger au Bardo.“ Interview Sofiane Bel Haj und Hazar.
Materialitätseinbrüche: Fotografien von Protest und als Protest 227
des dargestellten Protagonisten spielt. Es wurde zuvor herausgestellt, inwiefern sich die Nationalflagge besonders im Zug der materiellen Aneignungen bei Demonstrationen und der immateriellen, virtuellen Aneignung als Grafik auf SNS als grundlegendes Symbol für den tunesischen Protest etabliert hat. So ist es nicht verwunderlich, dass das Symbol auch als Objekt im Rahmen einer visuellen Selbstdarstellung als Zeichen einer Protesthaltung dienen konnte. Zahlreich waren deshalb Fotografien, die Profilnutzer bei Demonstrationen mit der Nationalflagge zeigten (vgl. Abbildungen 25 und 28). Auch die Politikerin Amel Belkhiria veröffentlichte am 22. Juli 2011 eine solche Fotografie, bei der sie aus einer schrägen Froschperspektive bei einer Demonstration gezeigt wird (vgl. Abbildung 29). Das Foto wurde als Chronikfoto sowie im Album 07 juillet 2011 hochgeladen.
Abb. 29: Facebook-Profil Amel Belkhiria, Profilfoto, veröffentlicht am 30.06.2013.
Die Beschreibung zum Bilderalbum kontextualisiert die Fotografie im Rahmen einer Demonstration: „[g]egen die Gewalt, für einen Übergang zur Demokratie in unserem Tunesien“.122 Das Gesicht der gezeigten Demonstrantin ist nach oben gereckt, der Mund wie beim Ausruf eines Slogans weit geöffnet. Das Flaggenartefakt ist hier – im Gegensatz zur vorhergehenden Fotografie – nicht Ausschmückung eines ästhetisierten Körpers, sondern vielmehr Handlungsinstrument
122 „Contre la violence, pour assurer une transition démocratique à notre Tunisie.“
228 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution eines demonstrierenden Körpers. Dabei wirkt die Medialität der Fotografie auf den Handlungszweck der Flagge ein. In ikonischer Hinsicht dient die Flagge der Konstruktion einer virtuellen, widerständigen Identität, die Flagge dient als visueller Hinweis auf die ‚Mission‘ der für die Nation einstehenden Bürgerin und damit als Mittel der visuellen Selbstinszenierung. Zugleich wird die Flagge durch die indexikalische Ebene der Fotografie als Mittel für das politische Engagement der Nutzerin vorgestellt. Dadurch wird sie weiterhin in einem aktivistischen Rahmen benutzt und legitimiert in dieser Hinsicht die visuelle Selbstdarstellung Belkhirias. Dies wird ebenso in einem Nutzerkommentar deutlich, welcher Belkhiria den Status einer widerständigen und unabhängigen tunesischen Frau zuweist und damit beide Ebenen des Selbstbildes, die Inszenierung des Körpers und die aktive Präsenz bei Demonstrationen, affirmiert. Unsere Farben [der Nationalflagge, JE] schmücken die Frauen, es lebe die freie und verantwortungsvolle TUNESISCHE FRAU; Amel, du verkörperst diese Frau, die uns stolz macht und uns die Hoffnung gibt, dass unser Land stark ist.123
Es entsteht damit eine wechselseitige Bedeutungskonstruktion zwischen einerseits der innerhalb und außerhalb des Internets aufgebauten Persönlichkeit des Nutzers, insbesondere seiner Reputation als seriös-engagierter Bürger, und dem zu diesem Moment symbolisch aufgeladenem Flaggenartefakt. Durch ihre historische Signifikanz kann die Flagge nicht wahllos zu einem dekorativen Objekt innerhalb der Fotografie degradiert werden, das individuelle Engagement muss dem Symbol gerecht werden. Andererseits kann bei legitimer Platzierung der Flagge auch die Aktivität des Nutzers als nationalrelevant aufgewertet werden. Dies erklärt, weshalb der bekannte Aktivist Sofiane Bel Haj in einem Selfie vom 21. Januar 2011, kurz nach dem Sturz des Präsidenten, die Flagge auch als Hintergrund für seine Selbstinszenierung nutzen kann (vgl. Abbildung 30). Das Bild wurde vom Nutzer als klassisches Selfie erstellt, die linke Hand führt das aufnehmende Gerät, der Arm ist z. T. im Bild erkennbar. Der Gesichtsausdruck des Bloggers ist neutral und ernsthaft, er lächelt nicht. Im Hintergrund befindet sich eine mit Pflanzen und Fliesen dekorierte Wand. Dort ist ebenso in vertikaler Hängung eine Nationalflagge befestigt. Dadurch wird sie primär zu einem Hintergrund fotografischer Selbstinszenierung gemacht. Allerdings ist diese Fotografie direkt angebunden an die materielle Aktivität des Nutzers. Seine
123 „notre couleur donne des couleurs a nos Dames et Demoiselles, vive la Femme TUNSIENNE Libre et Résponsable; Amel tu incarne cette femme là qui fait notre fiérté et nous rassure que notre pays est fort“.
Materialitätseinbrüche: Fotografien von Protest und als Protest 229
Blogeinträge gehörten zu den maßgeblichen politischen Stimmen in der tunesischen Blogosphäre. In seinen Online-Veröffentlichungen wahrte er zudem bis zum Veröffentlichungszeitpunkt dieses Bildes seine Anonymität. Erst am 21. Januar veröffentlichte er mit diesem Selfie sein Gesicht. Es handelt sich demnach um eine Form der visuellen Selbstdarstellung, welche scheinbar nicht mit seiner Rolle als Internetaktivist bricht, sondern um eine Form der Authentifizierung, welche umso mehr durch die Präsenz der Nationalflagge glaubwürdig erscheint. So bestätigen mehrere Nutzer dieses Image durch ihre Kommentare zum Bild, wie beispielsweise mit dem Ausspruch: „Klein, intelligent und mutig, Kaloutcha“124 deutlich wird.
Abb. 30: Facebook-Profil Hamadi Kaloutcha, Profilfoto, veröffentlicht am 21.01.2011.
Entscheidend ist hierbei, dass der Körper als Begleitzeichen zur Flagge mit abgebildet wird, entweder durch Körperpartien, bei Selfies insbesondere das Gesicht, oder den gesamten Körper. Während die Flagge eine doppelte Zeichenstruktur hat, als Flaggenartefakt, welches in materieller Hinsicht bereits eine raumsymbo-
124 „Petit intelligent et courageux, Kaloutcha.“ Bezeichnenderweise wird Bel Haj auch in diesem Kommentar mit seinem Pseudonym angesprochen.
230 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution lische Funktion innehat, und als Flaggenbild, welches die visuell-ikonische Übertragung des Symbols in den medialen Raum des Internets ermöglicht,125 vereint der bildlich dargestellte Körper des Nutzers drei semiotische Aspekte: Zunächst verweist die indexikalische Dimension der Fotografie auf den materiellen Körper des Nutzers, welcher im physischen Raum eine Interaktion mit dem Flaggenartefakt eingeht. Beispielsweise wird die Flagge als Kleidungsstück getragen, hinter den Körper gehängt, auf das Gesicht aufgetragen, etc. Auf der ikonischen Ebene des Bildes liegt ein Körper in effigie (vgl. Belting 2001: 88) vor, er wird dadurch zum Ort der Inszenierung des eigenen Körperbildes, durch die spezifische Aufnahme, die bildliche Nachbearbeitung und das Einfügen von Schriftzeichen. Zuletzt – ausgehend von der soziosemiotischen Funktion des Profilbildes – wird das Selbstbild des Körpers in der Wechselwirkung zwischen dem Corpore als physischem Körper und der Effigie als bildlichem Körper zu einem Avatar, dem Stellvertreter des physischen Individuums in der Sphäre des virtuellen Raumes. Diese sich in der letzten Ebene ausdrückende Beziehung zwischen dem mediatisierten Körper einerseits, dem materiellen Körper andererseits ist entscheidend für die Authentizitätswirkung des Selbstbildes und damit auch der Flaggenfotografie. Hinsichtlich der materiellen Referenz digitaler Zeichenkörper und ihrer Kontrollierbarkeit unterscheidet Mela Kocher zwischen referentiellen und autonomen Avataren. Nicht-referentielle, autonome Avatare tauchten demnach hauptsächlich in der Science-Fiction-Literatur und Filmen desselben Genres auf und zeichnen sich durch eine weitgehende Ablösung vom zugrundeliegenden materiellen Körper, dessen zeichenhafter Stellvertreter sie eigentlich sind (vgl. Kocher 2005: 329–334), aus. Davon ließen sich die referentiellen Avatare abgrenzen, welche sich referentiell auf den Körper des Avatarinhabers beziehen. Diese seien nach Kocher durch den Nutzer steuerbar (Kocher 2005: 322) oder im Fall von Bots bzw. Virtual Pets partiell steuerbar. Allerdings muss klargestellt werden, dass im Fall der von Kocher besprochenen Beispiele die Referenz der Avatare auf den physischen Nutzer lediglich durch einen symbolischen Zusammenhang entsteht. So werden hier frühe Formen 126 von textbasierten Avataren, wie Chatnamen, bzw. bildbasierten Avataren, beispielsweise symbolische Avatarbilder in Chats und Foren sowie rollenspielorientierte Avatare in Massively Multiplayer Online Role Playing Games (MMORPGs) wie World of Warcraft, angeführt.
125 Vgl. hierzu Kapitel III.2. 126 Diese symbolisch gesetzten Avatare wurden in der Frühzeit (in etwa Mitte der 90er Jahre bis 2005) der Internetkultur entwickelt. Die bildbasierten Formen bestanden in einfachen, gering auflösenden Bildzeichen, teilweise in bewegten GIF-Bildern. In dieser Form sind die Avatare immer noch in Foren vorhanden.
Materialitätseinbrüche: Fotografien von Protest und als Protest 231
Im Unterschied dazu zeichnen sich die Avatare der Selbstbilder in SNS durch eine erhöhte Referenz aus, sie sind nicht Ergebnis kommunikativer Setzungen einer arbiträren, symbolischen Funktion, sondern basieren auf der kollektiven Wahrnehmung von Fotografien als indexikalische Spuren. Die fotografischen Selbstbilder, welche als Profilfotos innerhalb der Facebook-Profile veröffentlicht werden, verweisen demnach einerseits als Stellvertreter-Avatare, basierend auf einer soziosemiotischen Zuschreibung also, auf den physischen Körper der Nutzer. Andererseits machen sie den Nutzer identifizierbar und damit authentisch. So nutzt der Blogger Bel Haj (bzw. unter dem Pseudonym Hamadi Kaloutcha) o. g. Selfie, um seine physische Existenz und seine Identität zu bestätigen und insbesondere seiner bisherigen widerständigen und kritischen Kommunikation im Internet ein Gesicht zu verleihen. Während er also vor dem 21. Januar 2011 gezielt die Möglichkeiten des Internets nutzte, um anonym und entkörpert (vgl. Mathez 2005: 340) systemkritische Positionen zu kommunizieren, bezweckt er nun mit dem Selfie eine Entanonymisierung seiner Kommunikate. Erst durch diese ‚Wiederverkörperung‘ im Sinne einer „Abbildung des physischen Körpers des Nutzers“ (Mathez 2005: 340) wird damit erstens die politische Kommunikation aufgewertet und authentifiziert, zweitens auch der Nutzer als integrale und politische Person erkennbar. In beiden Hinsichten wird die politische Glaubwürdigkeit der Online-Kommunikation an der Glaubwürdigkeit des Körpers gemessen (vgl. Funken 2003: 287). Demnach steht auch das im Bild befindliche Flaggenartefakt innerhalb dieser verdoppelten Authentifizierungs- und Legitimationsfunktion: Die Flagge im Bild wird dadurch relevant und berechtigt, dass eine zumindest angenommene Einheit zwischen dargestelltem Körper und tatsächlichem, physischem Körper besteht, und dass das über den abgebildeten Körper inszenierte Individuum aufgrund seiner körperlichen Positionierung zum Nationalsymbol und aufgrund seiner Handlungen das Vorkommen der Nationalflagge rechtfertigt. Der zweite Aspekt, die Inszenierung und Positionierung des physischen Körpers, spielt bei der Darstellung des politischen Engagements bzw. des Patriotismus eine entscheidende Rolle. So ist davon auszugehen, dass der physische Körper selbst das Ergebnis sozialer und individueller Konstruktionen ist (vgl. Mathez 2005: 346). Er ist Träger eines Körperbildes (vgl. Belting 2001), aber auch Gegenstand und Materie für die Formung gemäß dem Selbstbild und dadurch basales Element eines Kommunikationsprozesses. Der Körper ist Zeichenträger (für Kleidung, ten, etc.) innerhalb physisch-räumlicher Kommunikation. Schmuck, Inschrif durch seine Positionierung, Pose und die verschiedenen Ausdruckselemente (Handgesten, mimische Ausdrücke, etc.) wird er selbst zum Zeichen, mit dem sich das Subjekt kommunikativ an andere richtet. Aufgrund dieser Konstruiert-
232 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution heit des Körpers wird seine Fähigkeit zur Authentifizierung politischer Diskurse fragil. So weist Christiane Funken darauf hin, dass [d]er Zeichenträger ‚Körper‘ […] als alleiniger Garant für eine glaubwürdige und authentische Kommunikation nicht anerkannt [wird], denn er ist bereits im real life ein durch Medienbilder erzeugter Leib.[…] Der Körper erlangt […] erst im Verhältnis zu den realweltlichen oder virtuellen Räumen seine Authentizität. (Funken 2003: 290)127
Demnach ist die körperliche Authentifizierungsfunktion verankert in intra- und extravisuellen Faktoren, welche eine An- und Einbindung des Körpers in die raumzeitlichen Kontextgefüge im Materiellen sowie Virtuellen erlauben. So wird erstens im Bild ein materieller Kontext des Körpers eröffnet, welcher wiederum auf einen extravisuellen, materiell-historischen Kontext verweist. Entscheidend allerdings für die Charakterisierung der fotografischen Selbstbilder in SNS und darüber hinaus für die Einschätzung ihrer Authentizität ist ihre Einbettung in den Kontext virtueller Räume sowie dessen Interaktion mit der Materialität des Bildes. So weist Manja Herlt darauf hin, dass die „Neuen Medien“ nicht die Materialität des Körpers auflösen, sondern „die bisherigen Bilder von ihm ab[lösen].“ (Herlt 2002: 47) Es entsteht folglich eine neue Bildlichkeit des Körpers, deren Medialität sich durch die Einbindung in die soziotechnische Umgebung des SNS Facebook definieren lässt. Der im Profilbild visualisierte Körper zeichnet sich durch die Passung mit der im Nutzerprofil dargestellten Onlineidentität aus. Die Scharnierfunktion des fotografischen Selbstbildes zwischen dem materiellen und dem virtuellen Körper des Nutzers wird insbesondere im Moment des kommunikativen Scheiterns deutlich. So speist sich die Kritik der in der Fotografie mit sexualisierten Posen und Flaggenumhängen gezeigten, jungen Frauen bei den Bardo-Sit-Ins (vgl. Abbildung 28) aus dem Fakt, dass einerseits die körperliche Selbstinszenierung nicht zum Anlass des Protests am Bardo und damit zum materiellen, extravisuellen Kontext passt. Andererseits wird die Repräsentation der Frauenkörper nicht im Kontext ihrer SNS-Profile veröffentlicht. Durch diese fehlende Einbettung in den virtuellen Identitätsraum einer Person kann keine Repolitisierung oder Bedeutungsnivellierung des Bildes erfolgen, es steht allein als Selbstinszenierung unbekannter Individuen im Kommunikationsraum des Internets. Die physische Zusammenführung eines konkreten Körpers mit dem Flaggenartefakt führt folglich nicht per se zum Ausdruck einer bürgerlichen, politisch engagierten Identität – wie im Fall von Sofiane Bel Haj. Vielmehr erfährt der
127 Diesen Gedanken entwickelt Christiane Funken an anderer Stelle expliziter als eine medientopologische Rahmung für das mediatisierte Selbstmanagement (vgl. Funken 2004: 312–316).
Materialitätseinbrüche: Fotografien von Protest und als Protest 233
Körper durch das Flaggenzeichen unterschiedliche Konnotationen bzw. Konstruktionen. So kann die Flagge auch zum Element einer ästhetisierenden oder sexualisierenden Körperinszenierung werden oder den individuellen Körper, wie im Fall der unten gezeigten, Mitte 2011 in der Facebook-Gruppe Tunisie moderne, Tunisie Revolution veröffentlichten Fotomontage, in einen kollektiven, patriotischen Körper einfügen und dadurch von den individuellen Nutzerprofilen sowie einer konkreten Nutzeridentität ablösen (vgl. Abbildung 31). In dieser Darstellung werden visuelle Praktiken der Selbstthematisierung in Verbindung mit einer Nationalflagge in den größeren Rahmen der Flaggen aneignung als Element der visuellen Symbolik des tunesischen Protests eingefügt. Wenn hier auch unter anderem die dargestellten Nutzer in fotografischen Selbstbildern einen körperlichen Ausdruck gegenüber der Flagge einnehmen, eine emotionale Bindung zur Flagge und darüber hinaus zur Nation darstellen, so wird durch die in der Collage eröffneten interpiktoriellen Bezüge der Bedeulagge hervorgehoben. Die Spezifika der einzelnen tungsprimat der Nationalf Körper und ihrer Gesten geraten in den Hintergrund, wodurch die Funktion der Nationalflagge als Visualisierung kollektiver Identität (vgl. Jarman 2007: 97; Eriksen 2007: 3) erneut hervorgehoben wird. Ist die Flagge sonst als Element subjektgebundener Selbstdarstellung (als revolutionäres oder attraktives Subjekt) in den Selbstbildern vorhanden, so wird hier die patriotische Einstellung verbunden mit der revolutionären Handlung, auf dem Weg nach nationaler Souveränität.
Abb. 31: Facebook-Gruppe Tunisie moderne – Tunisie Révolution, Profilbild, veröffentlicht am 02.08.2011
234 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution
3.7 Körper jenseits des Gesichts – Anonymisierung und Zeugenschaft Während in den bisher besprochenen Selbstfotografien das Gesicht als Ort der fotografischen Selbstinszenierung im Vordergrund stand, werden im Folgenden zwei weitere Formen körperlicher Präsenz vorgestellt, welche das Gesicht explizit in den Hintergrund stellen, auslassen oder unkenntlich machen. Während und nach den Umsturzereignissen im Jahr 2011 tauchten vermehrt fotografische Selbstbildnisse auf, in den meisten Fällen mit einem Selbstauslöser aufgenommen, bei denen das Gesicht der abgebildeten Personen durch eine Maske verdeckt ist. Es sind insbesondere zwei Maskenmotive hervorstechend, einerseits die Guy-Fawkes-Maske, welche insbesondere aus der Comic-Verfilmung V for Vendetta und den Aktivitäten des anonymen Hackerkollektivs Anonymous bekannt ist (vgl. Abbildung 32), andererseits die Atemschutz- oder Gasmaske (vgl. Abbildung 33).
Abb. 32: Facebook-Profil Haythem El Mekki, Profilbild, veröffentlicht am 12.10.2010.
Materialitätseinbrüche: Fotografien von Protest und als Protest 235
Abb. 33: Facebook-Profil Ali Jabeur, Profilfoto, veröffentlicht am 04.02.2013.
Die Visualisierung des von Masken verdeckten Gesichts zeichnet sich durch eine paradoxale Kommunikation aus. So hebt Richard Weihe hervor, dass die Maske hinsichtlich ihrer soziosemiotischen Bedeutung einen Doppelstatus innehat: Sobald sie aufgesetzt ist, lässt sich die Maske als Paradox beschreiben: Sie zeigt, indem sie verbirgt. Das Gesicht trägt die Maske; erst wenn sie dieses verdeckt, kann sie sich zeigen. Mit dem Maskenaufsetzen ist faktisch gesehen wie auch metaphorisch gesprochen eine optische Vereinfachung und Symmetrisierung der individuellen Gesichtszüge verbunden. Sie verlieren an Unverkennbarkeit und nähern sich Durchschnittsgesichtern. (Weihe 2004: 14)
In dieser Hinsicht ist es die inhärente Funktion der Maske, das individuelle Gesicht unkenntlich zumachen, nur um, zumindest im Fall der „zeichenhaft verwendeten Masken“ (Weihe 2004: 18), nachträglich ein neues, abstrahiertes Gesicht darüber zu legen. Sie werden damit zu einem „Gesichtsersatz“, welcher sich durch die „Formalisierung, Symmetrisierung und Stilisierung der Gesichtszüge“ (Weihe 2004: 18) auszeichnet. Aus dieser kommunikativen Doppellogik der Maske ergeben sich zwei semiotische Konsequenzen: Einerseits entzieht sich der Nutzer der gängigen Ästhetik und Pragmatik der fotografischen Selbstthematisierung via individualisierender Körperspezifika. Nicht mehr das Gesicht steht im Vordergrund der Darstellung, sondern der Akt der Verdeckung durch eine Maske. Somit lässt sich diese Selbstverdeckung als eine Form der „Medienpraktiken der Anonymisierung“ nach Ramón Reichert beschreiben, welche den „physiognomi-
236 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution schen Code mit seinem Entzug, seiner Absenz oder seinem Verschwinden“ (Reichert 2017: 120) konfrontieren. Der vorherrschende Code der Selbstdarstellung qua Ausstellung der Gesichtszüge wird dadurch gebrochen und unterwandert. Bezogen auf die Darstellung einer Protesthaltung durch Selfies kann dies bedeuten, dass hier Protest nicht Merkmal eines erkennbaren Individuums, sondern vielmehr als Ergebnis einer anonymen Masse zu verstehen ist. Es ist nicht verwunderlich, dass dabei auf gängige Maskenformen zurückgegriffen wird. Ramón Reichert stellt in dieser Hinsicht klar, dass [a]uch anonymisierende Bilder, die das Gesicht als Handlungsformation von Identifizierung, Beurteilung und Bewertung thematisieren, […] an einem kollektiven Bildervorrat [partizipieren] und […] sich auf gemeinsam geteilte Aushandlungsprozesse, Kontroversen und Grenzziehungen [beziehen]. (Reichert 2017: 121)
So entwickelte sich auch innerhalb der tunesischen Semiosphäre ein solch kollektiver Bildzeichenvorrat an möglichen Maskenmotiven, die insbesondere von Anhängern der Protestkulturprogramme genutzt wurden. Das Repertoire der Maskenzeichen wurde dabei dominiert von der Guy-Fawkes-Maske, welche bei Demonstrationen, als abstrahiertes Grafikzeichen in Blogs oder SNS sowie als Accessoire für Selfies auf Seiten des Social Web auftauchte. Diese Maske galt als Repräsentation der historischen Figur Guy Fawkes, eines britischen Verschwörers und Anarchisten128 des 17. Jahrhunderts, die der ritualisierten Verbrennung in effigie des Kriminellen diente.129 Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde die Maske durch lokale Widerstandskämpfe gegen die britische Regierung angeeignet und dadurch von der Effigie eines Kriminellen zu einem Symbol für den Widerstandskämpfer Fawkes gewandelt. Durch den populären Film V for Vendetta von 2006 ist das vereinfachte Gesicht auf der Maske zu einem generellen Symbol des Widerstands einer kleinen Gruppe von Menschen gegenüber einem dominanten und repressiven Staatssystem geworden (vgl. Kohns 2013: 93). Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass gerade dieses Motiv zu einer beliebten Maske im Zuge der Proteste in Tunesien geraten ist. Es wurde bereits zu Beginn der Protestaktionen im Dezember 2010 in die tunesische Semiosphäre eingeführt. Es kann davon ausgegangen werden, dass dies über das internationale, anonyme Hacker- und Internetaktivistenkollektiv Anonymous geschah. Diese trugen in der
128 Fawkes plante zu Beginn des 17. Jahrhunderts einen Bombenanschlag auf das britische Parlamentsgebäude. 129 So weist Kohns (2013: 93) darauf hin, dass bereits ein Jahr nach der Verurteilung des Verbrechers der 5. November zum nationalen Guy-Fawkes-Tag deklariert wurde. An diesem Tag wurde die Maske in einem Feuer rituell verbrannt.
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Vergangenheit in verbreiteten Videos diese Maske, führten sie zudem als Logo und auch innerhalb ihrer online-Kommunikation (vgl. Reißmann, Stöcker und Lischka 2012: 90–92). So veröffentlichte der Aktivist, Journalist und Co-Organisator der Kampagne Ammar 404, Haythem El Mekki, bereits im Oktober 2010 ein Selbstbild mit entsprechender Maske (vgl. Abbildung 32) und wies in einem Kommentar zu seinem Bild darauf hin, dass er dies damit deutlich vor der „Welle“ solcher Selbstbilder im Januar 2011 getan habe. Durch die – ab 2011 massenhaft auftretende – Veröffentlichung der Maskenbilder bildete sich einerseits eine anonymisierte Masse heraus, welche das Repräsentationsregime innerhalb Facebooks sowie die Medienmacht des herrschenden Regimes infrage stellte (vgl. Kohns 2013: 97). Andererseits weist Ramón Reichert darauf hin, dass die Maskierung des Gesichtes „nicht mit einer radikalen Entpersönlichung gleichgesetzt werden kann, insofern anonymisierende Praktiken immer auch kommunikative Adressierungen enthalten, die sich unter anderem auch den Bildern selbst inhärieren.“ (Reichert 2017: 121) Im Gegensatz zu den Mitgliedern von Anonymous, welche tatsächlich durch mehrere Verschlüsselungstechniken in einer anonymen, nicht einmal mehr technisch zu differenzierenden Masse aufgehen, schreiben sich nach wie vor die Präsenz des individuellen Körpers, sein Kommunikationsverhalten innerhalb von Facebook und sein teilweise authentischer Freundeskreis in die quasi-anonymisierten Selbstbilder ein. Die Online-Identität wird durch solch ein Bild nicht wirklich gebrochen, die Maske führt nicht vollkommen zur Entindividualisierung des Nutzers. Vielmehr wirkt die Symbolizität der Guy-Fawkes-Maske auf die Identität des Nutzers zurück, wodurch auch derart quasi-anonymisierte Selfies zur Online-Selbstdarstellung beitragen. Diesen Aspekt der Identitätsprägung durch eine vermeintliche Verdeckung stellt Hans Belting in der Verschränkung von Bild und Gesicht (als Bild der Seele) vor: „Die Analogie von Bild und Gesicht tritt erst in der Maske zutage, die nur noch Bild ist, aber Bild von einem Gesicht. Sie zeigt das originale Gesicht in einem Zweitgesicht.“ (Belting 2005a: 74) Es werden durch die Maske genau genommen zwei Gesichter in eine Analogie und damit einen Bedeutungszusammenhang gebracht: Das abstrahierte Guy-Fawkes-Gesicht wird über das in den meisten Fällen bekannte Gesicht des Nutzers gelegt, wodurch er sich als widerständiges Subjekt inszenieren kann. Dabei stellt er sich einerseits als Bestandteil einer größeren, anonymen Masse vor, andererseits als kämpferisches Individuum, welches spätestens mit dem nächsten Profilbild identifizierbar wird. Die Maske wird in dieser Hinsicht nicht nur zu einem Mittel der Entindividualisierung, sondern zugleich zu einem Mittel der Reindividualisierung über einen politisch-symbolischen Ausdruck (vgl. Haunss 2016: 416). Dies wird insbesondere bei Bildern mit Gasmasken bzw. Atemschutzmasken deutlich (vgl. Abbildung 33), in denen das Gesicht häufig teil-
238 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution weise noch erkennbar ist. Hier hat die Maske im Gegensatz zum Guy-Fawkes-Motiv nicht nur symbolischen, sondern darüber hinaus einen Gebrauchswert. Diese Schutzmasken wurden während der Demonstrationen genutzt, um sich gegen das von der Polizei eingesetzte Tränengas zu schützen. Durch die Einbettung in den Kontext der tunesischen Proteste erhält die Maske eine verdoppelte Symbolizität: Generell verweist die Atemschutzmaske im Rahmen des tunesischen Kulturprogramms auf die Demonstrationen und ein Engagement als Demonstrant. Als Maske mit dem konkreten Gebrauchswert des Schutzes vor Tränengas wertet die Maske den Träger zudem mit einer pragmatischen Relevanz auf. Als indexikalische Spur vermittelt das Selbstbild mit Gasmaske den Eindruck, der Nutzer hätte gerade an einer Demonstration teilgenommen. Er inszeniert sich folglich nicht nur über ein arbiträres Symbol, das historische Widerstandssymbol der Guy-Fawkes-Maske als Mitglied eines Protestprogrammes, sondern auch durch die indexikalisch angedeutete Protestperformanz. Die indexikalische Dimension, die Bezeugung einer materiellen Performanz, wird in Selbstfotografien während der Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung im Oktober 2011 betont. Zahlreiche tunesische Facebook-Nutzer veröffentlichten am 23. Oktober, dem Tag der Wahlen in Tunesien, ein fotografisches Bild von sich, bei dem ein mit blauer Tinte eingefärbter Zeigefinger präsentiert wird (vgl. Abbildung 34). Da bei den Wahlen der Finger des Wählenden mit blauer, nicht abwaschbarer Farbe markiert wurde, wird die Tinte in den Selfies als klar indexikalisches Zeichen genutzt. Aufgrund ihrer Materialität und Persistenz verweist als Zeugnis dafür, dass die Person als politischer Bürger gewählt hat.
Abb. 34: Facebook-Profil Samah Krichah, Profilbild, veröffentlicht am 25.02.2011.
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Interessanterweise wird der eingefärbte Zeigefinger nun zum Fokus in fotografischen Bildern innerhalb der tunesischen Mediensphäre Facebooks. Die Abbildung der Tinte wirkt als eine Verdopplung der Zeugenschaft: Das durch die Tinte markierte politische Engagement des Individuums wird durch das fotografische Bild erneut bezeugt. Jedoch weicht die zweite Form der indexikalischen Zeugenschaft von der ersten ab. Während die Tinte aufgrund ihrer tiefen Färbung und der Haftung an der Haut als Original nachzuweisen ist, eine Inszenierung der Wahlbeteiligung folglich einer materiellen Prüfung nicht standhalten würde, so ist der Bildnachweis nur das als solches gesetzte kollektive Zeugnis der materiellen Wahltätigkeit. Dennoch wird die Markierung zum Fokus der Abbildung gemacht. So ist in der Fotografie der Nutzerin Samah Krichah lediglich die vorgestreckte Hand scharf aufgenommen, das Gesicht liegt dahinter, wird teilweise verdeckt. Und doch ist die Nutzerin in dieser Selbstthematisierung noch erkennbar. Somit ist das Wahlzeugnis immer noch Bestandteil einer visuellen Selbsterzählung (sie ist auf dem Bild scheinbar direkt vor dem Wahllokal zu sehen, ihr Blick ist in die Kamera gerichtet, sie lächelt). Sie inszeniert sich deutlich als aktives Element der ersten freien Wahlen in Tunesien, wodurch die Teilnahme an der Wahl als Bürgerpflicht erscheint. In dieser Hinsicht wird die Fotografie des blauen Fingers auch in einer kollektiv-symbolischen Dimension bedeutend – er verweist auf die Einzigartigkeit der Wahlen, auf den damit verbundenen Stolz und auf die Rolle der Revolution für die Zukunft des Landes. Die Fotografie dient hier also zwei Funktionen: Einerseits wirkt der individuell gefärbte Finger erst durch seine Mediatisierung und Veröffentlichung als kollektives Symbol. Dadurch wird die Revolution nachträglich legitimiert und eine politische Relevanz der Proteste sowie der nun stattfindenden Wahlen wird konstruiert. Die Fotografie, bei der sieben nicht weiter erkennbare Personen ihre gefärbten Finger auf die Nationalflagge halten (vgl. Abbildung 35), verdeutlicht diese Funktion. Das Bild wurde am 22.10.2011 in der Gruppe Tunisie Revolution 2011 veröffentlicht. Die Wahl wird vor dem Hintergrund der Nationalflagge als erstens kollektiv relevante (von mehreren Personen durchgeführte) und zweitens als für die Nation (verkörpert und materialisiert durch die Nationalflagge) relevante Handlung visualisiert. Verstärkt wird diese Bedeutung durch die Bildbeschreibung, nach der die am darauffolgenden Tag stattfindenden Wahlen als „Hochzeit von Freiheit und Demokratie und Hochzeit der tunesischen Revolution“ gehandelt werden. Andererseits bezeugt sie hinsichtlich des individuellen Engagements im materiellen Raum die aktive Teilnahme an den Wahlen. Allerdings ist diese indexikalische Zeugenschaft als prekäre Zeichenfunktion zu beurteilen. So ver-
240 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution deutlicht o. g. Bild die Instabilität dieser materiellen Referenz. Die im Bild dargestellten Finger können nicht als tatsächliche Beweise der Wahlteilnahme in Tunesien gewertet werden, da diese erst einen Tag später stattfanden. Da hier offensichtlich die Wahlbeteiligung inszeniert wurde, wirkt die quasi-indexikalische Funktion der abgebildeten und gefärbten Finger vielmehr als Antizipation und visualisierte Projektion zukünftigen Handelns. Dadurch wird die symbolische Ebene der Wahl betont.
Abb. 35: Facebook-Gruppe Tunisie Revolution 2011, Chronikfoto, veröffentlicht am 22.10.2011.
Aus Sicht der Bildkommunikation ähneln die Fotografien von Fingern nach dem Wahlakt insofern den Maskenfotografien, als sie trotz eines scheinbaren Fokus auf nichtidentitätstragende Körperpartien, trotz der weitgehenden Ausblendung des Gesichts beispielsweise, die Selbstthematisierung des Nutzers vorantreiben. In beiden Fällen wird über das Bildzeichen der Nutzer als Mitglied eines kulturellen Programms gezeigt – auch ohne die sichtbare Präsenz des Körpers als Distinktionsmerkmal. Fotografische Selbstdarstellung äußert sich demnach nicht immer als narzisstischer Akt der körperlichen Selbstspiegelung oder gar der sexualisierten Selbstausstellung. Die Möglichkeiten fotografischer Selbstdarstellung werden vorgegeben durch a) die Mitgliedschaft in einem Kulturprogramm und dessen moralischer, ästhetischer und semiotischer Vorgaben für die Thematisierung des Selbst; b) durch medientechnische und medienkulturelle Visualisierungsregimes. So darf Selbstdarstellung nicht beschränkt werden auf die körperliche Identifizierbarkeit. Vielmehr ist sie unter dem Aspekt ihrer kommunikativen Funktion zu betrachten. Nach Barbara Becker sind
Materialitätseinbrüche: Fotografien von Protest und als Protest 241 [d]ie alltagsästhetischen Strategien der Selbstdarstellung […] zumeist mit einem pragmatischen, zweckorientierten Blick gekoppelt. Alltagsästhetische Inszenierungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie in Handlungszusammenhänge eingegliedert sind, die bestimmte Anforderungen an den Einzelnen erheben, denen er sich nicht völlig entziehen kann. (Becker 2004: 418)
Es ist deshalb davon auszugehen, dass innerhalb der tunesischen Protestkultur auch eine weitgehende visuelle Entindividualisierung des dargestellten Körpers als Form der Selbstdarstellung in Facebook legitim ist. Entscheidend erscheint zumindest in den Jahren 2011 bis 2013, dass ein politischer Bezug zu kollektiven Symbolen des Widerstands, des Patriotismus oder der demokratischen Teilhabe im Bild vorhanden ist Auf den Körper fokussierte Formen der Selbstdarstellung hingegen können als narzisstisch und zu sehr selbstbezogen kritisiert werden. Im Folgenden soll anhand des weiblichen Körpers in Online-Fotografien die Prekarität des so Darstellbaren thematisiert werden.
3.8 Exkurs: Grenzen der körperlichen Darstellung – der politisierte Frauenkörper im Bild Wie in verschiedenen der bisher gezeigten Abbildungen (vgl. z. B. Abbildung 29) deutlich wurde, war der weibliche Körper ein prominentes Motiv der politisierten Fotografien in Facebook. Als gängiger Topos hat sich die fotografische Wiedergabe von Frauen, die in den Flaggenfarben gekleidet sind, etabliert. Die Nationalflagge als Umhang oder Tunika getragen, kam als Kleidungsstück für Frauen insbesondere während der Sit-Ins im Januar bis März 2011 auf. In den Folgemonaten wandelte sich das Motiv der in die Flagge gehüllten, demonstrierenden Frau von einem visuellen Phänomen bei Demonstrationen und Raumbesetzungen, also einem Phänomen der politischen Peripherie, zu einem zentralen visuellen Gegenstand der tunesischen Kultur. Beispielhaft dafür steht der Aufgriff der Nationalflagge als Frauenkleidung durch den tunesischen Designer Haythem Bouhamad zur Fashion Week Tunis im April 2011. Er fertigte einen Kleidentwurf, der die Nationalflagge mit einem voluminösen Abendkleid verband. Dadurch entwickelte sich eine semiotische Dynamik, welche einerseits die protestkulturelle Bedeutungskraft der Flagge als Bekleidungsstück bei Demonstrationen in die Modewelt transportierte und dadurch gewissermaßen einen „Radical Chic“ (Wolfe 1970) entwickelte und Ästhetiken des Widerstands und Protests als Versatzstücke modischen Designs setzte. Andererseits wurden u.a. mit dieser Überführung in die Modewelt der visuelle Topos und die politische Inszenierung des Frauenkörpers als gängiges Zeichen einer engagierten Weiblichkeit etabliert. Von
242 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution diesem Kleidungsstück zirkulierten Fotografien auf Facebook, welche das Model auf dem Laufsteg zeigten oder in einer leicht seitlichen Aufnahme mit typischer Pose (vgl. Abbildung 36).
Abb. 36: Facebook-Profil Abdou Hamdi, Chronikfoto, veröffentlicht am 12.03.2012.
In zahlreichen Fällen wird dem Bild durch Kommentare und Bildbeschreibungen die Abbildung einer freien tunesischen Frau zugewiesen. Die Flagge wird demnach zum Merkmal der Nationalität und des Patriotismus der Frauen und in dieser Funktion als visuelles Attribut zur dargestellten Frau genutzt. Im Fall des Bildkommentars von Abdou Hamdi allerdings wird eine weitere Dimension des Bildes deutlich: Hier verschmilzt die Frau förmlich mit der Flagge, wird zu ihrer Personalisierung: Unsere Flagge hüllt uns ein, unsere Flagge erleuchtet uns, sie schmückt uns und vereinigt uns. Vereinigt uns als Männer und Frauen, in diesem schönen Land, unter dieser schönen Flagge und der gemeinsamen Basis von Arbeit, Freiheit und nationaler Ehre.130
Damit wird die Frau als Art Nationalallegorie inszeniert, in Verbindung mit der Flagge entsteht ein visueller Komplex zwischen Frauenkörper und Flaggenartefakt, welcher in besonderem Maße an die visuelle Konfiguration klassischer
130 Übersetzung aus dem Arabischen durch den Verfasser.
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weiblicher Nationalallegorien, wie der französischen Marianne, erinnert. In o. g. Beispiel verhüllt die Flagge den Körper der Frau, er wird weder sexualisiert, noch in revolutionärer Handlung (mit der Waffe in der Hand, wie im Gemälde La liberté guidant le peuple von Eugène Delacroix bspw.) dargestellt. Es wird damit ein visueller Frauentypus geschaffen, bei dem weibliche Schönheit angedeutet wird, die Physizität des Leibes sich unter den Falten der Flagge oder durch die freien Schultern abzeichnet. Die so konstruierte tunesische Frau ist selbstsicher und frei, jedoch umgeben und eingehegt von dem Nationalemblem. Diese Bildsprache um den weiblichen Körper etabliert sich als gängiger Darstellungsmodus für die national und bürgerlich engagierte Frau bzw. den weiblichen Patriotismus nach der Revolution. Die Fotografie der Nutzerin Amel Douja Dhaouadi zeigt eine junge Frau mit offenen Haaren und freien Schultern, welche in die Nationalflagge gehüllt an einem Strand posiert (vgl. Abbildung 37).
Abb. 37: Facebook-Profil Amel Douja Dhaouadi, Profilbild, veröffentlicht am 25.05.2011.
Mit der rechten Hand formt sie das Victory-Zeichen. In das Bild ist grafisch eingeschrieben: „Partei der Schönen von Tunis“.131 Hier wird nicht nur visuell der Bildtypus aufgegriffen, sondern auch textuell die soziopolitische Funktion der Frau
131 Übersetzung des Autors.
244 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution als attraktiver und liebevoller, nationalistisch gestimmter Körper bestätigt. Eine weibliche politische Aktion, wie sie vor allem bei den Demonstrationsfotografien während der Monate Januar bis März 2011 im Vordergrund stand, ist hier nicht mehr vorhanden. Vordergründig wird die weibliche Schönheit mit einer passiven politischen Einstellung verknüpft. Die Betonung der weiblichen Passivität stützt die Annahme von Mitchell, dass die Darstellung des weiblichen Körpers im Rahmen von Protestbewegungen insbesondere der Inszenierung der Friedlichkeit der Proteste diene. „[T]he whole tactic of nonviolence has an inherently feminine and feminist connotation, a striking contrast to the macho violence it elicits” (Mitchell 2012a: 16) So werden hier Nationalismus, das Eintreten für einen starken und unabhängigen Staat sowie die Liebe zur neuen, postrevolutionären Nation als eine weiblich-passive Form politischen Engagements inszeniert.
Abb. 38: Facebook-Seite Amina Tyler, Profilbild, veröffentlicht am 10.05.2013.
In ihrer Antwort auf Mitchells Konzept hebt Agata Lisiak allerdings hervor, dass die von Mitchell besprochenen Bildzeichen132 nicht auf die Visualisierung weiblicher Gewaltlosigkeit reduziert werden können. Insbesondere eine zweite Ebene
132 Es handelt sich hierbei um die Ballerina auf dem Poster von Occupy Wallstreet sowie um
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komme hier zum Tragen: Die Frau stehe als Symbol auch für die Ideale der Revolution (vgl. Lisiak 2014). Ebenso können auch die Frauenfotografien in dieser Dimension gedacht werden. Sie konnotieren – vor allem durch ihren Fokus auf die politische Stellung der Frau – das Ideal der Proteste: Eine freie Zivilgesellschaft, welche auch politisch aktive, freie und ehrbare Frauen umfasst. Erstaunlicherweise wird damit der feministische Protest mit einer nationalistischen Grundhaltung verbunden. Während in allegorischen Fotografien Frauenkörper entsprechend eines vorherrschenden Codes visualisiert werden – durch die Flagge bedeckt, metaphorisch gesprochen von der Nation schützend umgeben – eröffnete die Aktivistin Amina Sboui, auch bekannt unter ihrem Facebook-Pseudonym Amina Tyler, eine Alternativfolie der Inszenierung des weiblichen Körpers. Sboui veröffentlichte Mitte März 2013 auf ihrem Facebook-Profil eine Fotografie, in der sie mit nacktem Oberkörper sitzend zu sehen ist (vgl. Abbildung 38).133 Der Blick ist direkt in die Kamera gerichtet, ihr Gesicht ist unauf fällig geschminkt. Auf ihrem Oberkörper findet sich auf Arabisch mit schwarzer Farbe geschrieben: „Mein Körper gehört mir und ist nicht irgendjemandes Ehre“ (vgl. Salime 2016: 525). Kurz darauf veröffentlichte Sboui eine weitere Fotografie, die Ihre Brust mit der Aufschrift „Fuck your Morals“ darstellt. Durch diese Selbstbilder wich Sboui radikal von bisherig innerhalb des Zentrums der tunesischen Semiosphäre existierenden (Selbst-)Darstellungen von Frauen ab. Zwar sind Abbildungen nackter Frauenkörper selbstverständlich Bestandteil nordafrikanischer Bildkultur (vgl. Eickhof 2013: 167), sie kommen in Kunstwerken, pornografischen Bildern und insbesondere westlichen Medieninhalten vor. Jedoch definiert sich das Zentrum der visuellen Semiosphäre Tunesiens durch klare Vorgaben hinsichtlich der Abbildung von Frauenkörpern. In ihren Fotografien zeigte sich Sboui allerdings weder als ‚islamische Frau‘ mit Hijab oder als säkulare, patriotische Frau in einem Flaggenkleid, noch nahm sie eine der Darstellungsmöglichkeiten im Zwischenfeld beider Pole öffentlicher, weiblicher Inszenierung ein. Amina Sboui beschritt in ihren Fotografien vielmehr einen neuen Weg weiblicher Körperrepräsentation, welcher insbesondere durch die aktivistische Gruppe der Femen (vgl. Reestdorf 2014; Eileraas 2014) und ihre Nacktproteste als globale
die ägyptische Frau, die bei Demonstrationen in Kairo von Polizisten zu Boden geschlagen und teilweise bis auf ihren blauen BH entblößt wurde. 133 Da das offizielle Facebook-Profil von Amina Sboui schnell gelöscht worden ist, ist die Originalversion der Fotografie nicht mehr einsehbar. Es handelt sich hier um dieselbe Fotografie, welche zwei Monate später von der Solidaritätsseite Amina Tyler veröffentlicht wurde.
246 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution Darstellungspolitik etabliert wurde. Zudem gab Sboui an, sie sei von den fotografischen Selbstdarstellungen der Aliaa Magda El-Mahdy, die die ägyptische Bloggerin im Jahr 2011 veröffentlichte (vgl. Eickhof 2013: 165–168), beeinflusst gewesen. Während El-Mahdy zum Zeitpunkt der Veröffentlichung ihrer Nacktfotografien134 nicht Mitglied der Organisation Femen war, ordnete sich Sboui seit 2011 der Bewegung zu. Dennoch eint die Fotografien beider Frauen, dass sie sich hinsichtlich ihrer politischen Direktheit an die Kommunikate der Femen- Bewegung anlehnen. So ist der weibliche Körper hier weder sexualisiert (was insbesondere durch entsprechende Posen markiert werden könnte, vgl. Astheimer et al. 2011), noch wird er als schwacher Leib oder schutzbedürftige Person inszeniert (vgl. Eickhof 2013: 166). Vielmehr wirken ihre Posen selbstbewusst, der Blick ist neutral direkt in die Kamera gerichtet. Weiterhin nutzen sie ihren nackten Körper – ebenso ähnlich zu den Femen-Protesten – als Medium für Protestslogans und zivilgesellschaftliche Forderungen. Diese werden mit schwarzer Farbe auf dem nackten Oberkörper angebracht, wodurch eine wechselseitige Bedeutungsübertragung zwischen der nackten, zumeist als sexuelles Merkmal wahrgenommenen, weiblichen Brust und den oft frauen- und genderpolitischen Forderungen entsteht (vgl. Carr 2014).135 Andererseits grenzten sich sowohl El-Mahdy als auch Sboui in diesen frühen Fotografien von der Ästhetik der Körperinszenierungen von Femen ab. Beispielsweise wurden die Bilder nicht bei einer performativen Aktion in der Öffentlichkeit, sondern in einem geschützten, privaten Raum aufgenommen (vgl. Reestdorf 2014: 3). Indem Sboui einerseits globale, ästhetische Muster weiblich-visuellen Protests übernahm, andererseits diese modifizierte (durch den Verzicht auf eine weitere Ästhetisierung des Körpers über Blumengirlanden in den Haaren beispielsweise), konfrontierte sie das tunesische Kulturprogramm mit neuen Formen weiblicher Repräsentationspolitik. Ein entscheidender Aspekt ist hierbei, dass die Frau sich der Repräsentation ihres Körpers annimmt und diesen als politisches Ausdrucksmittel nutzt. Zwar wurde diese körperliche Selbstermächtigung der Frauen bereits durch die fotografische Repräsentation des mit der Nationalflagge verbundenen Körpers angedeutet. Jedoch wird in diesem Falle nicht radikal mit den Repräsentationscodes weiblicher Körperlichkeit gebrochen. Im
134 In der ersten Ganzkörperfotografie zeigte sich Aliaa El-Mahdy komplett nackt, gerade in die Kamera gerichtet. Sie trug lediglich Kniestrümpfe sowie eine rote Blüte im Haar. Das rechte Bein war leger auf einen Holzschemel gestellt. 135 In dieser Hinsicht betrachten die Femen-Aktivistinnen ihre Brüste als tatsächliche Waffen im Kampf um soziopolitische Hegemonie, vgl. „About Us“ von Femen International, www. femen.org/about-us/ (Stand: 13.03.2018).
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Fall der Fotografie von Sboui hingegen wird nun der weibliche Körper aus einer passiven bzw. auf seine Attraktivität und Sexualität beschränkten Rolle befreit. Die weibliche Nacktheit wird von einem, insbesondere in arabischen Kulturen oft mit Schamgefühl verbundenem Aspekt des Körpers zu einem Mittel des politischen Selbstausdrucks gewandelt. Ebenso wie in den Fotografien El-Mahdys wurden hier „conventional paradigms of artistic, social, and political engagement“ hinterfragt. Eileraas führt weiterhin aus, dass „[s]he enacts productive spaces of disturbance that suggest more promising forms of transnational feminist solidarity a venir, still to come.” (Eileraas 2014: 43) Die daraus entstehenden transnationalen Bildordnungen (vgl. Müller 2012) wirkten sich innerhalb lokaler Semiosphären aus und führten dort zu mehrfachen Brüchen mit vorherrschenden Weiblichkeitsbildern. Während die Abbildung nackter Frauen als Kommunikate sozialer Bewegungen oder künstlerischer Aktionen auf Facebook-Profilen in europäischen Semiosphären nicht ungewöhnlich ist, führte allein diese Repräsentation des weiblichen Körpers zu Kontroversen. Die Selbstdarstellung Aminas schuf in vielerlei Hinsichten Brüche innerhalb der tunesischen Semiosphäre. So kommunizierte und verbreitete sie ein mediales Selbstbild, welches auf körperlicher Selbstbestimmung und Souveränität der Frau basierte. Dabei setzte sie nicht nur auf den Tabubruch der Darstellung weiblicher Nacktheit. Durch den fotografischen Realitätseffekt wird die Nacktfotografie um die Ebene bildlicher Authentizität erweitert. Sboui stellt sich nicht nur über die konnotative, emanzipatorische Bildaussage dar, sondern vor allem über die Präsenz ihres eigenen, nackten Körpers. So provozierte die Fotografie vor allem auch dadurch, dass die im Bild gezeigte Tunesierin selbst Teilhaberin der tunesischen Semiosphäre ist. Sie führte nicht etwa neue Darstellungspraktiken als ‚kulturell fremde‘ Akteurin ein, sondern kennt als Tunesierin die visuellen Codes, Code-Grenzen und vor allem Tabus ihrer Gesellschaft. Die visuelle Überschreitung der zentralen Codes ihres Kulturprogramms wurde durch Amina Sboui über die Referenz auf die soziopolitischen Umbrüche nach der Revolution und das Ideal demokratischer Neuerfindung legitimiert. So zielte sie mit der schwarzen Inschrift auf zwei zentrale Aspekte tunesischer Körperpolitik: Die ‚Verwaltung‘ des weiblichen Körpers in Form einer sogar legislativ gerechtfertigten Biopolitik und die damit verbundene Frage (männlicher) Ehre. Es ist nicht verwunderlich, dass durch die Verbindung solcher soziopolitischen Forderungen, die Basiskonzepte der tunesischen Gesellschaft betreffen, mit dem nackten Körper als Kommunikationsmittel diese Bilder kontrovers diskutiert wurden. Während sie in westlichen Medien größtenteils positiv aufgenommen wurden (vgl. Reestdorf 2014: 3), wirkten die Bildzeichen innerhalb der tunesischen Gesellschaft polarisierend. So unterscheidet Jalel Tounsi, welcher sich als Politiker für die Belange von Sboui einsetzte, drei dominante Positionen:
248 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution Letztendlich sagte ein Teil des Volkes, dass sie frei sei zu tun, was sie möchte. Sie ist auf Facebook, Facebook ist eine private Angelegenheit. Dann gab es auch die Parteien, Ennahdha und weitere konservative, die sagten: ‚Seht, wir haben dem Volk die Freiheit gelassen, und nun tun sie Dinge, die gegen alle Sitten verstoßen.‘ Und es gab einen Teil des Volkes, welcher sagte: ‚Ehrlich meine Kleine, das brauchen wir gerade nicht. Wenn Du nackt sein willst, ok! Aber man muss es ja nicht überall sehen.‘136
Das Bild, welches vom Ursprungsprofil der Nutzerin wenige Tage nach der Veröffentlichung entfernt wurde, wurde zwar zu einem zentralen Zeichen innerhalb der medial-visuellen Semiosphäre des Internets, da es vielfach weiterverbreitet und dabei stets kontrovers diskutiert wurde. Jedoch wurde es als eine mögliche (Selbst-)Darstellung des weiblichen Körpers jenseits der Grenzen des tunesischen Kulturprogramms verortet. Differenziert betrachtet wurden in Hinsicht auf die Inszenierung des weiblichen Körpers im Bild zwei Teilprogramme deutlich: Während das konservative Subprogramm, welches politische Stabilisierung nach der Revolution forderte, die Selbstdarstellung Sbouis als nicht akzeptable Visualisierungsform gänzlich aus dem möglichen tunesischen Zeichenvorrat weiblicher Darstellungen ausschloss und ihr demnach den Status der kulturell Fremden (bzw. der kulturell Verwestlichten) zuwies,137 taten Mitglieder des liberalen und protestorientierten Subprogramms ihren Aktivismus als lediglich identitätspolitische Handlungsweise ab. In dieser Hinsicht würde Sbouis Feminismus nicht als Teil tunesischen Protests akzeptiert, da er lediglich kontraproduktiv sei (vgl. die Kritik der Feministin Mayra Jribi in Reestdorf 2014: 15). Diese doppelte Ausgrenzung von Sbouis Identitätsdiskursen – einerseits aus dem gesamttunesischen Kulturprogramm, andererseits aus dem Kulturprogramm des Protests – verdeutlicht den generell prekären Status des nackten Körpers als potentielles Zeichen politischen Widerstands. So führt der Karikaturist Tawfiq Omrane aus, dass jenseits der gesellschaftlichen Meinungspole zu Sbouis Fotografie die Darstellung von Nacktheit in dieser Form nicht akzeptabel sei:
136 „En fait une partie du peuple a dit qu’elle est libre de faire ce qu’elle veut, elle est sur Facebook, Facebook c’est privé, d’accord. Ensuite, les partis, Ennahdha et les partis conservateurs, ils ont dit « vous voyez, on a laissé la liberté au peuple, et voilà : ils sortent des choses contre les mœurs ». Il y’a une partie du peuple qui s’était dit « Franchement, ma p’tite, on n’a pas besoin de ça. Si tu veux être nue, d’accord ! Mais c’est pas la peine de le mettre partout ».“ Interview Jalel Tounsi. 137 Klar wird diese Ausgrenzung auch jenseits symbolischer Reaktionen auf das Bild. Sboui wurde kurz nach der Veröffentlichung durch den tunesischen Imam Adel Almi mit einer quasi- Fatwa belegt, indem er zum Tod durch Steinigung aufrief. Weiterhin wurde Sboui für mehrere Tage von ihrer Familie festgehalten und misshandelt. (Vgl. Reestdorf 2014: 4).
Materialitätseinbrüche: Fotografien von Protest und als Protest 249 Es ist inakzeptabel für die tunesische Gesellschaft. Es ist sicher akzeptabel für eine Minderheit, ja, weil eine Gesellschaft immer ein Mosaik von Mentalitäten ist. Es gibt Menschen, die das akzeptieren, andere, die es nichtakzeptieren und wiederum andere, die sagen: ‚Vielleicht.‘ Aber generell ist es nicht akzeptabel.138
Jalel Tounsi führt diese Nichtakzeptanz auf eine Konfrontation mit den generellen Sitten der tunesischen Kultur zurück.139 In dem Moment, wo die grundlegenden Wahrnehmungsweisen und moralischen Anker eines Wirklichkeitsmodells betroffen sind, werden solche Ästhetiken visueller Angriffe auf Körperpolitiken einer Gesellschaft nicht angenommen. Die Gegenüberstellung des von der Nationalf lagge verdeckten, patriotischen Frauenkörpers einerseits mit dem enthüllten, realistischen und engagierten Frauenkörpers von Amina Sboui andererseits erlaubt die Rolle weiblicher Repräsentation in der tunesischen Gesellschaft vor dem Hintergrund ihres Protestpotentials zu betrachten. Dabei wird deutlich, dass Frauen als Trägerinnen des Protests akzeptiert sind, solang sie sich dabei gemäß den vorherrschenden Weiblichkeitsbildern inszenieren. Eine entscheidende Rolle spielt hierbei die Materialität des weiblichen Körpers und seiner Darstellung innerhalb von Fotografien. Wird die angesprochene Norm weiblichen Protest überschritten, indem insbesondere der Körper in seiner Materialität und entsprechend auch Nacktheit zu realistisch repräsentiert wird, kann es zunächst zum kommunikativen Entzug des politischen Potentials der Fotografie kommen. Ein derart seiner politischen Intention beraubtes Bild bedeutet aber weiterhin auch eine Neuverhandlung des Weiblichen innerhalb der Fotografie. So weist Elina Oinas (2015) in ihrer Studie darauf hin, dass die Medienberichte und öffentlichen Debatten im Anschluss an Amina Sbouis Selbstfotografie den dargestellten weiblichen Körper insbesondere als verletzliches Objekt in Verbindung mit einer devianten, verrückten Psyche konzeptualisierten.
138 „C’est inacceptable par la société tunisienne, c’est acceptable par une minorité, ça surement, parce que une société c’est une mosaïque de mentalités. Il y a des gens qui acceptent, des gens qui n’acceptent pas, des gens qui dient « peut être » mais généralement c’est pas acceptable.“ Interview Tawfiq Omrane. 139 „En fait, le problème d’Amina, c’est qu’elle a touché aux mœurs, et les partis politiques sont très sensibles aux mœurs, vu que les mœurs régissent l’opinion publique.“ Interview Jalel Tounsi.
250 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution
3.9 Fotografischer Realitätseffekt und Protest – medientechnische und soziokommunikative Semiosen innerhalb des Kulturprogramms Die Fotografien von Protestaktionen im öffentlichen Raum und von materiellen Spuren des Protests, die fotografischen Selbstbilder bei Demonstrationen mit Symbolen des Widerstands, schließlich die Inszenierung des weiblichen Körpers als Mittel des Protests – fotografische Bilder wurden zu einem der vorherrschenden Bildmedien im Rahmen der tunesische Proteste. Aufgrund ihrer quasi-indexikalischen Zeichenfunktion verweisen diese stets auf den materiellen Raum als Ort von politischen Verhandlungen, als Topologie von Protestbewegungen, Demonstrationszügen und Raumbesetzungen und nicht zuletzt als Lebenswelt politischer Individuen. Dadurch entsteht eine visuelle Dialektik zwischen dem Bild als ikonischem Gestaltungsmittel und indexikalischer Referenz. Die ikonische Bildebene der Fotografie äußert sich insbesondere in den zahlreichen Gestaltungsmöglichkeiten – bei der Wahl der abzubildenden Spektren, bei der Bildgestaltung im Moment des Auslösens und zuletzt bei der postfotografischen Bearbeitung durch das Zusammenfügen von visuellen Zeichenverbünden (Collagen, Inschriften, etc.). Diese Gestaltungen dienen der Re-Imagination von lebensweltlichen Ereignissen, der Konstruktion von Protest und der symbolischen Ausdifferenzierung des Protestprogramms. Die Verschränkung der ikonischen mit der indexikalischen Dimension des Fotos ergibt sich bereits aus den Aufnahmebedingungen. Die Möglichkeit ikonischer Gestaltung entsteht lediglich durch das Vorhandensein von möglichen Spektren im materiellen Raum. Wenn auch durch die Digitalisierung des fotografischen Bildes diese Verknüpfung teilweise ihres Realitätseffektes beraubt wird, so beinhaltet die pragmatisch-kommunikative Nutzung der Fotografien stets den Verweis auf deren indexikalische Authentizität. Diese Authentifizierungsfunktion wird in der Doppelung der Deixis im Falle der Selbstfotografien von Wählern verdeutlicht: So zeigt bereits der ins Bild gerichtete, per Einfärbung auf die Wahlteilnahme hinweisende Finger die Authentizität des Nutzers als demokratisch handelndes Individuum an. Die indexikalische Fotografie überträgt diesen materiellen Hinweis wiederum in den semiotisch-medialen Raum des Internets und konkret der SNS-Anwendung Facebook. So verknüpfen Fotografien als Bilder nicht nur im Akt der Aufnahme Materialität und semiotischen Bildraum, sondern werden gleichzeitig zu semiotischen Mittlern zwischen kommunikativen Handlungen des Internets und weiterer medialer Räume und lebensweltlichen Handlungen im materiellen Raum. Die Bildung und intermediale Zirkulation von fotografischen Ikonen des Protests zeigt das Verschwimmen der Grenzen
Materialitätseinbrüche: Fotografien von Protest und als Protest 251
zwischen beiden Räumen an. Zeichen-Bedeutungs-Einheiten überschreiten mediale Grenzen, werden im Verlauf dieser Bewegung neu konfiguriert und auf- oder abgewertet. Es bilden sich semiotische Konvergenzdynamiken, welche nach Henry Jenkins als „the flow of content across multiple media platforms, the cooperation between multiple media industries, and the migratory behavior of media audiences” (Jenkins 2008: 2) gefasst werden können. Jedoch können diese Konvergenzbewegungen nicht nur auf Ebene der Inhalte begriffen werden, was insbesondere bei Fotografien deutlich wird. Vielmehr werden im Rahmen dieser Prozesse Zeichen aufgegriffen und verändert. Dadurch erlauben fotografische Bilder des Protests auch eine spezifische Rückwirkung auf das Kulturprogramm des Protests und insbesondere die Abgrenzungen des Programms. So werden mithilfe der Bilder und ihrer indexikalischen Ebene Protesthandlungen, Protestidentitäten und Protestkollektive verifiziert. Die realmateriellen Spuren des Protests werden aufgezeichnet und dadurch verstetigt. Zugleich wird das Protestprogramm in einem konkreten raum-zeitlichen Kontext angesiedelt und zu einem Bestandteil einer historisch-lokalen Kultur gemacht. Die Abgrenzung des Programms geschieht folglich einerseits hinsichtlich seiner Einbettung innerhalb einer materiellen Realität. Dort machen sich Individuen als Angehörige des Programms erkennbar, indem sie programmspezifische Symbole und diese durch ihre körperlich-materielle Präsenz aufwerten. Zudem weisen andererseits Fotografien von Raumbesetzungen auf die materielle und darüber hinaus hegemonial-kulturelle Ausbreitung eines Protestprogramms hin. Die Spuren des Protests, vor allem Graffiti mit Slogans, weisen diese räumliche Begrenzung der Protestperformanz an konkreten Orten nach und werden demnach zu einem beliebten Fotomotiv. Parallel dazu entstehen fotografische Zeichenordnungen innerhalb der Semiosphäre des Kulturprogramms, welche determinieren, in welcher Form der Materialität des Protests inszeniert und imaginiert werden kann, welche Elemente fotografisch in einen Bedeutungszusammenhang gebracht und aufeinander abgestimmt werden können. Dadurch entstehen semiotische Distinktionsprozesse innerhalb der Protestkultur, die darüber bestimmen, inwiefern beispielsweise körper- und schönheitszentrierte Selbstdarstellungen noch im Rahmen einer widerständigen Haltung innerhalb einer Fotografie angebracht sind. Ergebnis dieser ästhetisch-semiotischen Grenzziehungen ist die Integration erwünschter Fotografien und die Exklusion bzw. Marginalisierung unerwünschter Darstellungsweisen sowie der Bildproduzenten. Die Codekonformität der Fotografien ist wiederum angebunden an Kriterien lebensweltlich-sozialer Inszenierung. So stehen im Vordergrund dieser Zeicheneinschätzung die Aufbzw. Verdeckung des Körper und seiner Ausdruckspotentiale, die Etablierung von Symbolen durch ihre Präsenz bei den zahlreichen Demonstrationen, und die
252 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution politisch-hegemoniale Struktur des (urbanen) lebensweltlichen Raumes als Ort der Inszenierung und Ziel räumlicher Aneignung.
4 Bilderkörper – Märtyrer, Helden und Feinde im Bild 4.1 Bilder als (Re-)Materialisierungen absenter Personen Nachdem Bildzeichen als Mittel des Protests qua Aneignung von politischen Symbolen (im Fall der Nationalflagge) und als Mittel der Authentifizierung und Selbstdarstellung (durch Fotografien des Protests) besprochen wurden, werden nun Bildzeichen des tunesischen Protestprogramms thematisiert, die als Materialisierungen abwesender und nicht für einen direkten Kontakt verfügbarer Menschen behandelt werden. Der Ersatz des Körpers durch das Bild ist keine eigentliche Komponente einer tunesischen oder spezifischen Facebook-Bildkultur. Vielmehr wurden solche Bildpraxen in anthropologischer Forschung als basales Phänomen der Bildkultur vorgestellt. Erste Spuren davon finden sich in Konservierungspraktiken, bei denen der Leichnam eines Toten als letztes Bild des verstorbenen Menschen konserviert wird. So weist Jan Assmann (2010: 80) darauf hin, dass solche Bestattungsformen bereits seit der Jungsteinzeit bzw. der altägyptischen Kultur nachgewiesen werden können. Insbesondere in der Letzteren bildeten sich auch Praktiken heraus, die die Konservierung des Leichnams durch Totenbilder ergänzten. Dabei ist entscheidend, dass diese Bilder nicht nur Abbilder des Körpers sind, sondern gleichermaßen als Körper behandelt werden (vgl. Assmann 2010: 80). Der Körper wurde gewissermaßen durch das Bild eingetauscht (vgl. Belting 2001: 29). Nach Hans Belting ist hierbei die dualistische Relation zwischen Körper und Bild zu beachten: Er unterscheidet Körperbilder als Bilder in corpore und Bilder in effigie. Damit ist der Körper einerseits selbst Träger eines Körperbildes – wenn er beispielsweise zeichenhaft die Singularität eines Individuums ausdrückt oder zum Träger einer amtlichen Rolle wird – andererseits wird diese Repräsentationsfunktion auf das materielle Bild übertragen, wenn der Körper in ihm dargestellt wird. So stellt Belting fest, dass wir „Erscheinungskörper [haben], in denen wir uns in corpore ähnlich darstellen, wie wir dargestellt sein wollen, wenn wir uns in effigie betrachten.“ (Belting 2001: 88, Hervorhebungen im Original.) In dieser Hinsicht stehen Bilder von Körpern als Zeichen und Materie mit den materiellen Körpern auf einer Stufe, „sie zeigen Körper, aber sie bedeuten Menschen“
Bilderkörper – Märtyrer, Helden und Feinde im Bild 253
(Belting 2001: 87). Das Prädikat des Bedeutens kann hier durchaus auch als ein aktiver und materieller Prozess gelesen werden kann. Im Fall der Effigies, der Totenbilder und Totenmasken, welche nach dem Verscheiden des Menschen von seinem Körper durch Gips und Wachs abgenommen wurden, werden diese durch rituelle Praktiken zu einem physischen Ersatz des Körpers, jedoch zeitlich auf die Performanz der Praktiken beschränkt: Man muß auf einen doppelten Bildbegriff Wert legen, der hierbei zur Anwendung kam: auf das repräsentierende und auf das repräsentierte Bild. Das Bild, das ein lebender Körper ausdrückte, wurde in den Effigies auf einen virtuellen Körper übertragen. Wenn ihre ephemere Rolle im Totenritual beendet war, wurde die funktionslose Effigie achtlos in Schränken abgestellt. (Belting 2001: 97 f.)
Diese Bilder zeichnen sich folglich dadurch aus, dass sie als Körperersatze behandelt werden und nur dieser Funktionsbindung einen semiotischen sowie sozialen Sinn haben. Der Charakter der Körpereffigien ergibt sich aus einer rituellen Verwendung, nicht aber durch eine ontische Auswechselung. Am konkreten Fall der Effigies140 wird deutlich, dass die Körperbilder hinsichtlich ihrer Materie zur Schnittstelle zwischen der körperlichen Präsenz und der Körperrepräsentation wird (vgl. Marek 2010: 1): So zeigte Kristina Marek am Beispiel des Grabbildes Eduard II. von England, dass in der Effigies „der Herrscherkörper in toto in eine mediale Übersetzung, eben in ein Bild transmittiert, die nicht nur homogenes Fortführen, sondern auch Distanz und Differenz zum Referenten bedeutet.“ (Marek 2010: 5) Geht man allerdings von Beltings Unterscheidung zwischen dem Körperbild in corpore und dem Körperbild in effigie aus, also von der Prämisse, dass der Körper bereits als physisches Faktum Träger semiotischer Information und insbesondere visueller Signifikate ist, so kann man im Gegensatz zu Marek nicht mehr von einer „Medialisierung“ als Überführung des Körpers in die „Repräsentation“ (Marek 2010: 5) sprechen, sondern muss vielmehr eine intermediale Übertragung konstatieren. In diesem medialen Wechsel der bildlichen Visualisierung werden allerdings bestimmte Aspekte hervorgehoben, die im vorherigen Körper wenig oder gar nicht vorhanden waren. Somit ist die Effigies nicht nur Stellvertreter, sondern vielmehr eine neue mediale Erscheinungsform des Körperlichen. Damit die Erscheinungsform ebenso zu einer Präsenzform des Körperlichen wird, bedarf es folglich ritueller und sozialer Praktiken, die der neuen Medialität des Körpers einen quasi-materiellen Wert zusprechen. Anders gesagt:
140 Mit dem lateinischen Effigies wird im Folgenden die spezielle Kategorie der Grab- und Trauerbilder bezeichnet, die sich hinsichtlich ihrer Verwendung von anderen Effigien abgrenzen lässt.
254 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution Eine Körpereffigie, welche nicht als Materialisierung eines abwesenden Körpers behandelt wird, fällt zurück auf den Status des Abbildes – eines Körperzeichens. Zur Kennzeichnung dieser rituellen Markierung des Bildes als Körperersatz führt Belting (2001: 148) die Notion des Bildkörpers ein. Das Bild wird zu einem zweiten Körper des Verstorbenen und damit abwesenden Menschen, zum Träger seiner Seele, seiner sozialen und Herrschaftsrolle. Das Schweigen des Bildkörpers bzw. die Unbelebtheit des Bildes wurde durch Rituale ausgeglichen, bei denen man die Bilder „durch Anrufungen oder Aufführungen in einer Gemeinschaft zum Sprechen gebracht [hatte]“ (Belting 2001: 148 f.). Durch diese Formen ritueller Bildnutzungen wird ein magisches Verhältnis zum Bild aufgebaut. Das Bild wird zur Verkörperung, zum „Scheinleib“ (Belting 2001: 16), indem an ihm beispielsweise die Apotheose eines Herrschers nach dessen Tod durch verschiedene kollektive Rituale nachvollzogen wird.141 In anderen symbolischen Bildritualen wird dem Bildkörper die Macht des physischen Körpers eingeschrieben, beispielsweise, wenn der Effigies die Amtsperson des verstorbenen Herrschers eingeschrieben wird und die Wachspuppe dadurch zur Ausübung der Herrschaft nach dem Tod bzw. zur Übergabe des Herrscheramtes auf einen Nachfolger dient (vgl. Belting 2001: 97).142 Diese dem Bild eingeschriebene, tatsächlich existierende Macht führte dazu, dass Effigies und weitere, den Körper des Herrschers repräsentierende Bilder auch zerstört wurden, sobald die Legitimität der Macht durch einen Systemwechsel infrage gestellt wurde (vgl. Belting 2001: 22).143 So wurde beispielsweise bei der Wiedereinführung der britischen Monarchie 1660 in Ermangelung seines bereits bestatteten, physischen Körpers der Wachsleib Oliver Cromwells symbolisch zerstört (vgl. Mraček 2004: 34). Die rituelle Zerstörung des Bildes, der Ikonoklasmus der kollektiven Bilderstürme, stellte ebenso ein quasi-magisches Verhältnis zwischen dem im Bild repräsentierten und dem real existierenden Körper her – der repräsentative und der materielle Körper wurden durch diese Praktiken zu einem Bildkörper verbunden. Bei den juristisch normierten Bildnisstrafen von der Antike bis in die frühe Neuzeit findet man teilweise eine ebensolche Ineinssetzung zwischen materiellem Körper und Bild. Zwar weist Brückner (2016) darauf hin, dass die an einem Bild vollzogene Strafe von Schmähbildern über den
141 So ,spielten‘ die Leibärzte ihre Untersuchungen vor dem Todeseintritt des Kaisers Septimus Severus an dessen bildlicher Verkörperung nach (vgl. Mraček 2004: 33). 142 Ähnliche rituell aufgewertete und die Macht des Herrschers verkörpernde Bilder sind insbesondere Wappen und Siegel (vgl. Belting 2001: 115–121). 143 Ganz ähnlich erfolgte eine ritualisierte Machtzuweisung durch Bildzerstörung im Rahmen der religiösen Bilderstürme (vgl. Roeck 2002: 33–37).
Bilderkörper – Märtyrer, Helden und Feinde im Bild 255
Bildnisanschlag am öffentlichen Schandpfahl bis hin zur Hinrichtung in effigie reichte. Nur im letzten Fall, der Effigienhinrichtung, wird der bildliche Körper als Ersatz für den physischen Körper gesetzt und durch die Bilderzerstörung gleichsam hingerichtet (vgl. Terry-Fritsch: 191). Jedoch stehen alle Formen der Bildnisstrafe für eine staatlich legitimierte und damit kollektiv angewandte Form des Ersatzes eines physisch absenten Körpers durch einen bildlichen Körper. Im Gegensatz zu individualistischen Bildpraktiken, welche den Bildern eine Präsenz des Abgebildeten einschrieben, kam es bei Bestattungs-, Repräsentations- und Bestrafungsritualen zu kollektiven Praktiken, die eine Kultur des eingelebten Bildes entstehen ließen. Diese wurde in mehreren Fällen sogar staatlich genutzt. Weiterhin ist festzuhalten, dass die Herausbildung eines Bildkörpers darauf basiert, dass der physische Körper in seiner (Lebens-)Funktion nicht vorhanden ist. Deshalb dienten Bilder als Mittel, um einen Leib bestrafen zu können, Macht zu übertragen oder Bestattungsrituale zu vollführen. Aufgrund der kollektiv normierten Ineinssetzung des physischen Leibs und des repräsentierten Körpers innerhalb eines Bildkörpers oder Scheinleibs ist es nicht erstaunlich, dass Praktiken der Effigienkultur zahlreich als heidnische Praktiken quasi magischer Weltbilder verstanden wurden (vgl. Belting 2001: 16, 148 f.). Damit werden solche Bildpraktiken mehr als historisches Phänomen innerhalb einer zwischenzeitlich fremden, da unterentwickelten Kultur, denn als anthropologische Konstante menschlichen Bildhandelns thematisiert. Dem widerspricht W.J.T. Mitchell, indem er darauf hinweist, dass Bilder generell alle Charakteristika von beseelten Objekten aufweisen. Sie verführen zu ihrer animistischen oder quasi-magischen Nutzung: Bilder sind Dinge, die alle Stigmata der Personalität tragen: Sie haben sowohl physische als auch virtuelle Körper; sie sprechen zu uns, manchmal wörtlich, manchmal figürlich. Sie haben nicht nur eine Oberfläche (surface), sondern auch ein Gesicht (face), das sich an den Betrachter wendet. (Mitchell 2008: 349, Hervorhebungen im Original)
In dieser Hinsicht entwickelt Mitchell eine anthropologische Perspektive auf Bilder, welche davon ausgeht, dass auch in der modernen Bildkultur Elemente der Personalität von Bildern vorherrschen, wodurch nach wie vor quasi-magische Bildwahrnehmungen existieren (vgl. Mitchell 2008: 351). So entstehe eine Kontinuität der körperlichen Rematerialisierung durch rituelle Bildpraktiken, welche sich heute in einer „Fülle von magischen Bildern – von Fetischen, Idolen und Totems aller Art, die sowohl von den Massenmedien als auch in diversen Subkulturen ins Leben gerufen werden“ (vgl. Mitchell 2008: 373), ausdrückt. Dass Bildern demnach auch in modernen Kulturen noch der Wert quasi-magischer Objekte zukomme, lässt sich beispielsweise an den kollektiv-ikonoklastischen Praktiken an Herrscherstatuen bei Regimewechsel nachvollziehen (vgl. Mit-
256 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution chell 2008: 371 f.), aber auch an den emotionalen Nutzungsweisen der fotografischen Bilder seit Erfindung der Fotografie (vgl. Schulz 2001: 48). Die rituelle Aufladung des Bildes hat dabei, Mitchells Theorie folgend, erheblichen Einfluss auf die Funktion und Essenz dieser Bilder. Denn auch wenn der Anschein besteht, dass die Bilder bei Mitchell als Akteure fungieren, so hebt Hans Belting hinsichtlich Mitchells Theorie doch hervor, „dass wir es sind, die den Bildern ein solches Leben leihen, um mit ihnen zu kommunizieren, als wären sie dabei unsere Partner. Dabei nehmen wir in Kauf, dass sie nur an das Leben erinnern, ohne es zu besitzen.“ (Belting im Vorwort zu Mitchell 2012: 9). Werden Bilder mit dem Status eines sozialen Agens ausgestattet, so ist dies einerseits Ergebnis einer Konstruktion im Wahrnehmungsprozess, andererseits ein Prozess kollektiver Bedeutungszuschreibung. Mitchell führt hinsichtlich der quasi- magischen Bildzeichen aus, dass diese Objekte – Totems, Fetische und Idole – alles andere als objektiv sind. In Wirklichkeit sind es vielmehr die objektivistischen Projektionen von etwas wie einem kollektiven […] Subjekt […]. (Mitchell 2008: 409, Hervorhebung im Original)
Innerhalb der digitalen Sphäre der Social Network Sites wandeln sich physisch-materiell praktizierte Rituale, welchen Bildzeichen die Funktion eines Bildkörpers als Ersatz für einen materiellen Körper zuweisen, in symbolische Rituale. Kollektivität muss hierbei zwischen den Nutzern eines Netzwerks stattfinden. Im Folgenden wird anhand der bildlichen Konstruktion von Helden, Märtyrern, politischer Mordopfer und des ehemaligen Präsidenten als Feind der Revolution nachvollzogen, inwiefern hier digitale Bilder als Scheinkörper für abwesende Personen konstruiert werden und welche soziosemiotischen Funktionen diese Konstruktion haben kann.
4.2 Heldenproduktionen und -reproduktionen Das wohl erste ‚Opfer‘ der Revolution war zugleich ihr Beginn: Mohammed Bouazizis Selbstverbrennung wird als Startpunkt der Protestbewegung bezeichnet. Nach LeVine und Reynolds (2014) war die Selbstverbrennung Bouazizis nicht die erste im tunesischen Winter 2010. Sie zeichne sich allerdings dadurch aus, dass sie im Gegensatz zu den anderen Selbsttötungen mediatisiert, also fotografisch aufgezeichnet wurde (vgl. LeVine und Reynolds 2014: 202). Zudem – und insbesondere in ihrer medialen Wirkung – sei die Handlung Bouazizis zu kategorisieren als „theatraler Akt der Unmittelbarkeit“ („Theater of Immediacy“): Darunter verstehen die Autoren eine Form der direkten, soziopolitischen und antihege-
Bilderkörper – Märtyrer, Helden und Feinde im Bild 257
monialen Performanz, welche sich an ein aus der Dringlichkeit heraus entstehendes Publikum im Rahmen eines politischen Moments des Übergangs richte (vgl. LeVine und Reynolds 2014: 204): It is quickly produced (created, brought forth, staged) to embody and reflect the imminence and urgency of a particular, often radical moment, and transversally empowered insofar as it stimulates personal or group transformation which exceeds and even undermines established parameters for experience. (LeVine und Reynolds 2014: 205)
Der performative Moment der Selbstverbrennung Bouazizis entstehe folglich aus dem spontanen und zugleich grenzüberschreitenden Akt, welcher – vor allem in seiner mediatisierten und visualisierten Form und aufgrund seiner Verankerung in einem Zeitpunkt des Umbruchs – die Aktvierung soziopolitischer Bewegungen und gesellschaftlicher Transformationen – anrege. Interessant ist hierbei allerdings der Fakt – entgegen der Annahme von LeVine und Reynolds –, dass die Fotografie der Selbstverbrennung nicht eindeutig die Person Mohammed Bouazizis abbildet (vgl. Abbildung 39).
Abb. 39: Facebook-Profil Badiaa Bouhrizi, Profilbild, veröffentlicht am 02.01.2011.
Auf dem Foto ist ein Mensch in Straßenkleidung im öffentlichen Raum zu erkennen. Er wird von hinten gezeigt und bewegt sich in Richtung Bildhintergrund. Sein Körper steht in Flammen. Im Hintergrund kann lediglich ein gelbes Gebäude ausgemacht werden. Die Fotografie zeichnet sich deshalb durch eine hohe Kontextlosigkeit aus – es kann vom dargestellten Bildhintergrund nicht auf die Örtlichkeit der Selbstverbrennung Bouazizis geschlossen werden. Zudem sind weder
258 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution Gesichtszüge noch weitere identifizierende Merkmale des Menschen im Foto zu erkennen. Tatsächlich muss ungeklärt bleiben, ob das Bild tatsächlich in einem fotografischen Akt von Bouazizi während seiner Selbstverbrennung aufgenommen wurde.144
Abb. 40: Facebook-Seite Vcom Freedom, Chronik-Foto, veröffentlicht am 06.03.2011.
Die Frage nach der Authentizität des Bildinhalts scheint allerdings innerhalb der bildlichen Kommunikation in Facebook keine Rolle zu spielen. So wurden vor allem im Dezember 2010 und Januar des Folgejahres o. g. Fotografien massenhaft geteilt. Dabei zeigt die Veröffentlichung als Profilbild durch die Nutzerin Badiaa Bouhrizi am 2. Januar 2011 (vgl. Abbildung 39), dass die Causa Bouazizi derart prominent war, dass das Selbstverbrennungsbild a) als Profilbild, also als dominante Bedeutungseinheit im Nutzerprofil gesetzt werden kann; b) ohne weitere textuelle Informationen auskommt und dennoch als klare Referenz auf die Selbstverbrennung gelten kann, die die Protestbewegungen ausgelöst haben soll. Die Drastik des Bildes, die Abbildung des tatsächlich materiell brennen-
144 So wurde nach Haase (2013: 63) und Kraushaar (2012: 18 f.) durch den Cousin des Opfers ein Video von der Selbstverbrennung erstellt und auf Facebook und wenig später durch Al Jazeera verbreitet. Demgegenüber weist Boyter (2012) darauf hin, dass vom Akt der Selbstverbrennung keinerlei Videos oder Fotografien erstellt wurden. Vielmehr wurden die Videoaufnahmen der daran anschließenden Proteste in Sidi Bouzid in Facebook veröffentlicht und als Nachweis für die Selbstverbrennung Boauzizis gewertet (vgl. Boyter 2012: 94).
Bilderkörper – Märtyrer, Helden und Feinde im Bild 259
den Körpers, führt damit zu einer mediatisierten Reperformanz des materiellen Aktes. Die Selbstverbrennung wird dadurch umso greifbarer, dass es sich im Bild nicht tatsächlich um den Körper Boauzizis handeln muss. Die Selbstverbrennung zeichnet sich durch eine visuelle Entindividualisierung des Toten aus – die Person wird durch die Stärke des Feuers unkenntlich gemacht. So handelt es sich bei diesen Fotografien nicht um eine strikte Personalisierung in effigie, sondern vielmehr um eine symbolische Kopplung der Fotografie mit der Person Bouazizis. Der Gesichtslosigkeit des Verbrennungsaktes wird Rechnung getragen, indem insbesondere ab Beginn Januar 2011 eine nachträgliche Darstellung des Antlitzes Bouazizis in Facebook stattfand. Da der stark verletzte Bouazizi am 4. Januar 2011 verstarb, lag entsprechend nur eine Fotografie vor, die vor seinem Selbsttötungsversuch entstand und Bouazizis Gesicht darstellen konnte. Die ursprüngliche Fotografie zeigte ihn unverletzt im Kreis mehrerer Personen. Sein Blick ist nach links gewandt, er lächelt und richtet die Arme mit nach oben geöffneten Handflächen in die Luft. Diese Aufnahme wurde durch eine nachträgliche Bildbearbeitung auf den Oberkörper Bouazizis (vgl. Abbildung 40) bzw. sein Gesicht zugeschnitten. Der Fokus wurde damit noch mehr auf die Identität Bouazizis gelegt, umgebende Personen ausgeblendet. Dadurch kommt es zu einer nachträglichen Repersonalisierung des Brandopfers, welches nun mit einer Identität ausgestattet wird. Deutlich wird dies auch an der dazugehörigen Bildbeschreibung durch den Medienaktivisten MedFreeman. Das Halbportrait des Tunesiers wird mit einem Zitat seiner angeblichen Abschiedsbotschaft 145 verbunden, wodurch einerseits die Persönlichkeit hervorgehoben, andererseits diese klar auf den Akt der Selbstverbrennung bezogen wird. Die Doppelseitigkeit der Visualisierung Bouazizis zwischen Inszenierung seines politischen Aktes einerseits und seiner Persönlichkeit andererseits besteht folglich in einem Wechselspiel aus Anonymisierung und Personalisierung der Fotografien. Die Verbrennungsbilder zeichneten sich aus durch einen Fokus auf die Performanz der Selbsttötung, wobei die Person unkenntlich blieb. Es ging dabei primär um eine visuelle Repräsentation des Protestaktes. Ebenso anonym blieb Bouazizi bis Ende Dezember, als der ehemalige Präsident sich mit einem nahezu komplett bandagierten und dadurch unkenntlich gemachten Mann zeigte. Auch hier war der Körper nicht erkennbar, es blieben die Bandagen als bildlicher Hinweis auf seine nahezu die gesamte Körperoberfläche bedeckenden Brandwunden. Mit der Einführung der Identität Bouazizis, mit dem Aufkommen
145 Diese wird von der damaligen Version des Wikipedia-Artikel zu Bouazizi zitiert, ist allerdings inzwischen weder in der arabischen noch anderssprachigen Versionen auffindbar.
260 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution seines Namens und der Visualisierung seines Gesichts und Alltagslebens wurde die Tragweite des politischen Selbstmordversuchs in ihrer tatsächlichen Größe eröffnet. Durch den Rekonziliationsbesuch des Präsidenten wurde Bouazizi zu einem politischen Akteur stilisiert. In der Folge kamen dann Bilder von Bouazizi auf, welche den politischen Akt und die individuelle Person zusammenführen und damit ein neues Bild des Toten produzieren. So veröffentlichte die Seite Tunisie Revolution 2011 Ende des Jahres 2011 (vgl. Abbildung 41) bzw. Anfang 2012 (vgl. Abbildung 42) zwei fotografische Collagen, die jeweils Bouazizis Antlitz in der rechten Bildseite zeigten, während auf der linken Seite der bandagierte Mensch im Krankenhaus bzw. der von hinten abgebildete, brennende Mensch im öffentlichen Raum zu finden waren.
Abb. 41: Facebook-Seite Tunisia Revolution 2011, Chronik-Foto, veröffentlicht am 15.12.2011.
Abb. 42: Facebook-Seite Tunisia Revolution 2011, Chronik-Foto, veröffentlicht am 14.01.2012.
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Beide Bildzeichen wurden anlässlich historisch signifikanter Daten veröffentlicht. Die erste Fotografie (Abbildung 41) verwies am 15. Dezember weniger auf einen zeitgenössischen Kontext, sondern durch die bildliche Präsenz Bouazizis als Brandopfer und als Person auf den ein Jahr zuvor stattgefundenen Beginn der landesweiten Unruhen im Anschluss an seine Selbstverbrennung. Das zweite Bild wiederum wurde am 14. Januar 2012 – ein Jahr nach der Flucht des Präsidenten – veröffentlicht und appelliert dadurch an die konstitutive Rolle der Selbstverbrennung Bouazizis, die hier mit seinem Antlitz verbunden wird (Abbildung 42). In beiden Bildern tragen die umfassenden und poetischen Bildbeschreibungen zur Konstitution Bouazizis als Auslöser und Träger der Revolution bei: Einerseits wird im ersten Bildbeispiel Bouazizis Akt des Selbstmordversuchs als „heiliges Feuer“ thematisiert, welches „den Boden unter den Füßen der fliehenden Tyrannen verbrannte“. Die Metaphorik des Feuers, welche ihre visuelle Entsprechung in der Darstellung des Brandopfers fand, wurde verbunden mit einer Glorifizierung der Tat, Bouazizi habe mit seinem Blut „den Anfang einer neuen Ära geschrieben“, welche sich nun auf zahlreiche weitere Regionen der arabischen Welt ausbreite. Andererseits wurde in der zweiten Abbildung Bouazizis Tat als „Appell“ an ein „unbewaffnetes Volk“ dargestellt, welches sich dann einem übermächtigen Tyrannen entgegenstellte. Durch die „ungerechte“ Verbrennung sei die Revolution „entflammt“ worden. Die Feuermetaphorik stellt hier eine Parallele zwischen dem Akt der Selbstverbrennung und dem Beginn der Revolution her. Die Bildbeschreibung ist hier folglich den Bildern subordiniert, durch sie werden die Collagen, die Bouazizis Portrait mit seinem Akt der Verbrennung bzw. den Brandwunden als Spur dieser folgenschweren Handlung verbinden, kommentiert und in den Rahmen der der revolutionären Ursprungserzählung eingefügt.146 Bouazizi wird zur tragenden Kraft einer Erzählung der Revolution erhoben und dadurch als heroische Figur inszeniert. Unter einer heroischen Figur wird im Anschluss an Von den Hoff et al. eine reale oder fiktive, lebende oder tote menschliche Person, die als Held, hero, héros usw. benannt und/oder präsentiert wird und der heroische Eigenschaften zugeschrieben werden, und zwar insbesondere agonale, außeralltägliche, oftmals transgressive eigene Leistungen (Von den Hoff et al. 2013: 8)
verstanden. Der Held kann demnach als Ergebnis eines symbolischen und kommunikativen Aushandlungsprozesses innerhalb einer Gemeinschaft konturiert werden. Er wird zu dieser Figur gemacht, indem ihm Attribute kommunikativ
146 Zur kommentierenden und interpretierenden Funktion von textuellen Bildbeschreibungen vgl. Titzmann (2013: 335).
262 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution zugeschrieben werden, die innerhalb der „heroischen Modelle“ (Von den Hoff et al. 2013: 8) eines Kulturprogramms Bestand haben. Damit werden Heldenfiguren einerseits zu Realisationen der inhärenten Muster des Heldenhaften, andererseits wiederum zu Anlässen sozialer und individueller Orientierung sowie zur Transformation und Anpassung eines gesellschaftlichen Heldenmodells (vgl. Von den Hoff et al. 2013: 9 f.). So nehmen die Heldenfiguren einen doppelten Status ein: Als Symbole haben sie eine kollektive Funktion, indem sie Identität und Wertstruktur eines Kulturprogramms reflektieren und dadurch kollektive Zusammengehörigkeit stiften. Als Appelle wiederum lösen sie individuelles Handeln (in Form von Nachahmung, Sakralisierung, Politisierung) aus. Dabei spielt der transgressive und liminale147 Charakter des Helden eine entscheidende Rolle: Held/innen bewegen sich […] im suggestiven Spannungsfeld zwischen handelndem menschlichem Individuum und zugeschriebener übermenschlicher Leistung, zwischen Irritation und Stabilisierung sozialer Ordnung, zwischen Exzeptionalität, Normtransgression und Normvergewisserung. (Von den Hoff et al. 2013: 10)
In o. g. Bildzeichen (Abbildungen 41 und 42) wird dieses Spannungsfeld insbesondere in der Verbindung der Selbstverbrennung mit der Person Bouazizis deutlich. Einerseits wird er als Individuum und Teil der Gesellschaft zu einer nachahmungswürdigen Figur stilisiert, andererseits wird sein Verhalten als transgressive und dadurch übermenschliche Handlung der gewillten Selbstzerstörung modelliert. Diese bildlichen Darstellungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie „Vorstellungen des Heroischen […] remodellieren oder auch völlig neu […] imaginieren (vgl. Von den Hoff et al. 2013: 11). Durch die Darstellungen Bouazizis wird ein neuer Typus des revolutionären Helden herausgebildet. Im Folgenden werden drei entscheidende Aspekte der Konstruktion Bouazizis als solcher Held erläutert. An den Bildern wird eine a) Historisierung, b) Politisierung und c) Materialisierung des Helden vollzogen. Zu a): Unter der Historisierung eines Ereignisses wird in einem breiteren Verständnis der „Akt der Transformation von ‚toten‘, vergangenen Überlieferungen und Artefakten in sinnvolle, zeitlich geordnete Erzählungen und Geschichten“ (Kolář 2012) verstanden. So tauchten insbesondere während der Rekonstruktionsund der Stabilisierungsphase mehrere Bildzeichen auf, welche Bouazizis Tat historisch als Ausgangspunkt der Revolution setzten und sie dadurch im abgeschlossenen historischen Rahmen der Revolution verorteten. Diese historische Funktion wurde zudem verstärkt, indem sie eine Perspektive der longue durée eingebettet wird. So veröffentlichte am 7. Februar 2012 die Facebook-Gruppe Tunisie Nmout
147 Zur Liminalität als performative Transgression vgl. Turner (2017: 358–361).
Bilderkörper – Märtyrer, Helden und Feinde im Bild 263
3Lik Ya eine Fotomontage, in der die Selbstverbrennung als Element historischer Kontinuität des Heldentums dargestellt wird (vgl. Abbildung 43). Das Bild zeigt zwei nebeneinandergestellte Aufnahmen von Selbstverbrennungen. Auf der linken Seite findet sich die Schwarz-Weiß-Fotografie einer sitzenden, brennenden Person vor einer Menschenmenge. Darüber wird ein erklärender Text gezeigt, welcher die Fotografie im Vietnam von 1963 verortet und die Identität des Brandopfers als Thich Quang Dúc vorstellt. Auf der rechten Bildhälfte sieht man die Farbfotografie eines zu Boden stürzenden, brennenden Protagonisten, welche mit „2010 Tunisia Mohamed Bouazizi“ überschrieben ist. Unter beiden Bildern befindet sich zudem die Losung „All ages bring forth heroes“.
Abb. 43: Facebook-Gruppe Tunisie Nmout 3Lik Ya, Chronik-Foto, veröffentlicht am 07.02.2012.
Im Gegensatz zu den vorherigen Verbrennungsfotografien, in denen das zusätzlich eingefügte Antlitz die Funktion eines visuellen Kommentars und einer Personalisierung bzgl. des Akts der Verbrennung einnimmt, werden hier zwei zeitlich, räumlich und kausal unabhängige Fotografien nebeneinandergestellt. Es entsteht hierdurch ein Vergleich, durch den Bouazizis Akt als Äquivalent zur historischen Selbstverbrennung des Mönchs Thich Quang Dúc gegen die Repression der buddhistischen Mehrheit in Vietnam behandelt wird. Bouazizis Handlung der öffentlichen körperlichen Selbstzerstörung als extreme Form der
264 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution Körperpolitik148 wird damit in eine historische Genese dieser Form politischen Widerstands eingereiht und auf eine Stufe mit dem inzwischen in Vietnam als Helden verehrten Dúc gestellt. Durch dieses Bild erhält der konkrete Akt eine historische Bedeutung, erfährt eine Einreihung in eine Tradition widerständigen und insbesondere heldenhaften Handelns und wird zudem als legitime Form des Protests vorgestellt. Zu b): Durch seine visuelle Positionierung innerhalb der historischen (Nach-)Erzählung und narrativen (Re-)Konstruktion der Revolution erfährt die Selbstverbrennung Bouazizis eine starke Politisierung. Im Anschluss an den Selbstmordversuch kursierten mehrere, bisher nicht bestätigte Gerüchte über Abschiedsnachrichten oder Aussprüche während der Selbstverbrennung,149 die Aufschluss über seine politischen Motive geben könnten. Bisher konnte Bouazizi jedoch keine konkrete politische Intention nachgewiesen werden. Für die Herausbildung eines Helden der Revolution ist es jedoch notwendig, eine politisch- idealistische Motivation darzustellen. So hebt Michael Naumann (1984) den revolutionären Helden vom sakralen Helden ab: Während Ersterer insbesondere in der Antike als Teil der religiösen Welt konstruiert und Gegenstand von kultischer Anbetung wurde, zeichnet sich der Revolutionsheld durch sein idealistisches Wesen (Naumann 1984: 77 f.) aus. Er wird zu einem Symbol gemacht, welches die Grundfeste einer Weltanschauung im heldenhaften Akt, meist dem Tod für die Revolution, verkörpert. In diesem Sinne wurden bereits ab dem 14. Januar 2011 Bildzeichen genutzt, um dem Tod Bouazizis ein politisches Ideal zuzuschreiben (vgl. Halverson, Ruston und Trethewey 2013). Dabei wurde oftmals das Antlitz des Mannes bzw. das bekannte Selbstverbrennungsfoto in Collagetechnik mit anderen symbolischen Darstellungen der Revolution verbunden. Beispielhaft dafür kann die Collage, die am 31. Januar 2011 auf der Facebook-Seite La révolution tunisienne Tunisian Revolution Althaurat altounisia veröffentlicht wurde, gelten (vgl. Abbildung 44). Darin sieht man den imposanten während des Regimes Ben Ali errichteten Uhrenturm der Place du 14 janvier 2011 in rötlichen Farben dargestellt. Darunter ist eine Menschenmasse erkennbar, teilweise überdeckt vom rot-weißen Schriftzug „Al thaura“ („Die Revolution“). Die letzten Buchstaben des Wortes „Thaura“ werden dabei durch den Halbmond (für das -r-) sowie den Stern (für das -a-) der
148 Zur Rolle des Körpers bei Protesten und zur Entwicklung einer Body Politics, vgl. Pabst (2007) sowie Pabst (2016). 149 So soll er (neben einer angeblichen Abschiedsnachricht auf Facebook) während des Brandes den dominanten Slogan der Revolution: Choghl, horriya, karama wataniya (‚Arbeit, Freiheit, nationale Würde‘) ausgesprochen haben.
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tunesischen Flagge ersetzt. Während in der unteren Bildhälfte folglich der Protestakt an einem zentralen Ort hegemonialer Macht in Tunis150 als Symbol für die konkreten widerständigen Handlungen der Revolution abgebildet wird, nehmen drei Zeichen die obere Bildhälfte ein und bilden entsprechend den ideellen Horizont dieser Revolution. So wird eine symbolische Triade aus dem Gesicht Ben Alis, einer weiteren Darstellung des Nationalemblems und einer erhobenen Faust gebildet. Sie verweisen darauf, dass die nationale Würde Tunesiens im Zentrum der Proteste stand. Bouazizi wird zu einem Teil dieses Ideals bürgerlicher und staatlicher Souveränität gemacht, indem sein Gesicht ebenso wie die gereckte Faust – als Zeichen des Volksaufstands – in Verbindung zur Nationalflagge dargestellt wird. Dadurch wird er als entscheidendes Moment der Auflehnung vom Dezember 2010 historisiert. Zudem verschmilzt sein Antlitz symbolisch mit den Protestaktionen und dem Ideal der tunesischen Revolution.
Abb. 44: Facebook-Seite La révolution tunisienne Tunisian Revolution Althaurat altounisia, Albumfoto, veröffentlicht am 31.01.2011.
150 Der zentrale Platz am östlichen Ende der Avenue Habib Bourguiba wurde zunächst zum Ort räumlich-symbolischer Machtdemonstration nach Amtsantritt des Präsidenten Ben Ali – er ließ eine Reiterstatue des scheidenden Präsidenten Bourguiba entfernen und errichtete an deren Stelle den die Innenstadt überragenden Uhrenturm. Der Platz wurde zum Place du 7 Novembre 1987 ernannt und erinnerte damit an den Tag des Amtsantritts. Der Raum um den Uhrenturm wurde damit allerdings auch zu einem wichtigen Ort für die revolutionären Demonstrationen im Januar 2011. Nach der Flucht Ben Alis wurde er entsprechend umbenannt – in den Place du 14 Janvier 2011.
266 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution Ein wichtiger Aspekt bei der politischen Inszenierung der Figur Bouazizi ist seine soziale Herkunft. Da er aus einfachen Verhältnissen stammt, ist eine er eine leichte Projektionsfläche für einen Großteil der tunesischen Bürger. Durch die bildliche Politisierung wird dieser ‚Alltagsheld‘, der mit seiner Verkaufstätigkeit nach dem Tod des Vaters die Familie allein ernähren muss, in einen politischen Helden der Revolution transformiert. Die Gewöhnlichkeit Bouazizis schafft dabei nicht nur eine erhöhte Zugänglichkeit, sondern zudem eine Verankerung der Revolution im tunesischen Alltag und den unteren Schichten der tunesischen Gesellschaft. Mit diesem Hintergrund wirken manche Darstellungen Bouazizis überzogen, verdeutlichen aber auf den zweiten Blick genau das große politische Potential der Figur. Eine vergleichsweise bekannte Grafik zeigte Ende Januar 2011 Bouazizi als Präsidenten Tunesiens (vgl. Abbildung 45).
Abb. 45: Facebook-Seite La révolution tunisienne Tunisian Revolution Althaurat altounisia, Albumfoto, veröffentlicht am 21.01.2011.
Die detaillierte Betrachtung zeigt, dass es sich um eine verhältnismäßig gründliche Fotomontage handelt, bei der der fotografisch aufgenommene Körper des ehemaligen Präsidenten Ben Ali bei seinem Amtsantritt am 7. November 1987 genutzt wird. In der Originalfotografie wurde der Kopf Ben Alis durch den Bouazizis ersetzt. Das Bild wurde rot umrahmt und unterhalb durch den Untertitel „Mr. Le Président“ ergänzt. Die Politisierung Bouazizis findet in diesem Bild in zweifacher Weise statt: Einerseits wird er als symbolischer Nachfolger des Präsidenten gehandelt. Das zu
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diesem Zeitpunkt bereits verstorbene Brandopfer wird dadurch zu einem Symbol für die revolutionären Ideen und das revolutionäre Kollektiv erhoben, welches hier visuell in Regierungsfunktion versetzt wird. Damit werden die Ideale der Revolution als bestimmendes Moment und vorherrschendes System in der Nation inszeniert. Andererseits findet im Bild selbst ein politischer Prozess der Resignifikation statt: Der Kopf des autokratischen Herrschers wird innerhalb des Gründungsbildes seiner Präsidententätigkeit ersetzt durch den Kopf eines Gemüsehändlers, welcher sich aus Protest verbrannt hat. Es wird dadurch das anti-hegemoniale Potential der Selbstverbrennung in einer anderen Form inszeniert: Während die Selbstverbrennung im öffentlichen Raum als Akt der (körperlichen) Selbstermächtigung gelten kann, durch den gegen die herrschende Körper- und Symbolpolitik Ben Alis verstoßen wird, wird hier der Held als politisch-revolutionärer Nachfolger des Präsidenten, als Bruch mit dem visuellen Regime Ben Alis dargestellt. Zu c): Ein entscheidender Aspekt der visuellen Heroisierung Mohammed Bouazizis ist die (Re-)Materialisierung des Menschen durch Bildzeichen. Dabei wurde insbesondere die Porträtfotografie von Bouazizi, welche sich vor allem über Facebook verbreitete, auf einen nicht-digitalen Träger übertragen und anschließend im öffentlichen, materiellen Raum zu kollektiv relevanten Anlässen zur Schau gestellt. Es handelt sich in diesem Fall um eine zweifache Materialisierung. Einerseits wird das zuvor digitale Bild durch den physisch-analogen Träger materialisiert, dadurch insbesondere fixiert, sowie greifbar, überreichbar und lagerbar gemacht. Andererseits wird das Bild Bouazizis in den öffentlichen Raum eingebracht, als wäre es sein Scheinkörper. Diese Form der Effigie trägt zur Thematisierung des Individuums und des Akts der Selbstverbrennung bei, sie begleitet Demonstrationen und kollektiv-widerständiges Handeln. Dabei spielt das Arrangement der bildlichen Darstellung im öffentlichen Raum eine wichtige Rolle, wie ein Bildzeichen aus der Chronik des Facebook-Blogs El Kasbah vom 17. Dezember 2011 verdeutlicht (vgl. Abbildung 46): Das vom Blogger und Ingenieur Riadh Sifaoui veröffentlichte Bild zeigt die bekannte Fotografie Bouazizis, welche auf solidem Papier gedruckt, an einem Baum lehnt. Auf der darunter liegenden Grasnarbe sind um das Foto brennende Kerzen drapiert, die das Bild in der herrschenden Dunkelheit beleuchten. Die Fotografie ist zudem beschrieben – im Gegensatz zu allen bisher besprochenen Texteinfügungen allerdings handelt es sich hier um eine analoge Beschriftung in roter Farbe: „Tunesien ist in Trauer.“151
151 „Tunisie en deuil.“
268 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution
Abb. 46: Facebook-Seite El Kasbah, Chronik-Foto, veröffentlicht am 17.12.2011.
Einen individuellen Trauerakt imitierend wird hier eine Trauerstätte eingerichtet, welche in der materialisierten Fotografie den Toten inkorporiert – er wird im Bild inkarniert und dadurch im öffentlichen Raum erneut sichtbar gemacht. In dieser Form wird die Emotion greifbar gemacht, an einen konkret physischen Raum und einen zuvor existierenden, menschlichen Körper angebunden. Nur hebt sich diese Bildlichkeit ab von herkömmlichen, bildgestützten Formen individueller Trauer, bei denen der Tote bildlich für die persönliche Trauerarbeit konserviert wird (vgl. Anderson 2018). Bei der hier exponierten Trauer handelt es sich um einen kollektiven Akt, bzw. die Handlung eines nationalen Kollektivs, welches durch den Begriff „Tunesien“ metonymisch gefasst wird. Die Ausstellung dieser Trauer wird dadurch zu einem kollektiven Kommunikationsakt, welcher eher der massenhaften Kondolenz an öffentlichen Unglücksstellen gleicht. Die Fotografie ist damit nicht mehr individuelles Objekt der Trauer, sondern eine kollektive Inszenierung des Körpers Bouazizi. Die bildliche (Re-)Inszenierung von Körperlichkeit als Objekt der Trauer erinnert an den Zusammenhang zwischen Fetisch und Foto im Rahmen von Beerdigungskulturen, der von Christian Metz umfassend beschrieben wird. Demgemäß biete sich die Fotografie – mehr als der Film – als Fetischobjekt an. The funeral rites which exist in all societies have a double, dialectically articulated signification: a remembering of the dead, but a remembering as well that they are dead, and that life continues for others. Photography, much better than film, fits into this complex psycho-social operation, since it suppresses from its own appearance the primary marks of
Bilderkörper – Märtyrer, Helden und Feinde im Bild 269 ‘livingness’ and nevertheless conserves the convincing print of the object: a past presence. […] In all photographs, we have this same act of cutting off a piece of space and time, of keeping it unchanged while the world around continues to change, of making a compromise between conservation and death. (Metz 1985: 85)
Die Fotografie zeichne sich demnach durch die Präsenz des Absenten, durch die Vergegenwärtigung des Vergangenen aus. Beide Zustände, Abwesenheit und Anwesenheit, würden durch das Foto transportiert. Metz schließt daraus, dass Fotografien, die Menschen von den Verstorbenen konservieren, als Fetische, im Sinne Freuds als libidinös aufgeladene Objekte, welche einen ursprünglichen Mangel – hier die Absenz des Toten – ausgleichen und physisch ersetzen, gelten können (vgl. Metz 1985: 87). Dabei seien sich die Betrachter der Virtualität und Symbolizität der fetischisierten Fotografie bewusst. „The spectator”, so Metz, „does not confound the signifier with the referent, she or he knows what a representation is, but nevertheless has a strange feeling of reality (a denial of the signifier).“ (Metz 1985: 88) Im Beispiel der materialisierten Fotografie Bouazizis lässt sich ebenso von einem Fetisch sprechen, allerdings ist dieser nicht Ergebnis einer Umlenkung individueller Triebenergien, sondern vielmehr Produkt kollektiv-kommunikativer Bedeutungszuschreibungen. Das Bild ersetzt genau genommen nicht den individuellen Körper Bouazizis, wie dies bei der individuellen, bildgestützten Trauerarbeit üblich ist, sondern vielmehr den post mortem entstandenen, politischen Körper des Tunesiers. Die kollektive Gemeinschaft inszeniert ihn zuerst als Nationalheld, um ihn dann in dieser Funktion zu betrauern. Dass die bildliche Materialisierung wiederum abgebildet und innerhalb Facebook mediatisiert werden, ist entscheidend für die Heroisierung Bouazizis. Durch diese öffentlich-physische Rolle, die durch nachträgliche Visualisierungen im öffentlichen Raum zugeschrieben wird, erlangt der Held eine neue Dimension materieller Relevanz. So verfasste der Blogger eine Bildbeschreibung, die detailliert darstellt, wie er am 18.12.2010 von der Selbstverbrennung erfahren hat. Er endete seine Beschreibung mit dem Satz: „Die Fortsetzung wird von der Geschichte geschrieben“,152 und verwies damit auf die Rolle Bouazizis als Auslöser der Revolution sowie deren Fortführung bei den Protesten im Frühjahr 2011. In der Verknüpfung aus Historisierung, Politisierung und Materialisierung erfährt die Person Bouazizis eine Aufwertung als Held der tunesischen Revolution. Die entsprechenden Bilder tragen hierbei entscheidend zur Konstitution dieser Rolle bei, speisen ihre kommunikative Stärke jedoch stets aus der Wechselwirkung zwischen dem individuellen Akt der Selbstverbrennung und der indi-
152 „La suite appartient à l’histoire.“
270 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution viduellen Person Bouazizis einerseits und der kollektiven Inszenierung sowie symbolischen Heroisierung andererseits.
4.3 Märtyrer – Konstruktion und (Re-)Inkarnation der Proteste Die zum Teil schockierenden Bilder Bouazizis waren nicht die einzigen bildlich- fotografischen Repräsentationen toter Menschen, die die tunesische Online-Bildkultur Ende Dezember 2010 prägten. Ab dem 24. Dezember erhielt die Polizei den Befehl, bei Demonstrationen mit scharfer Munition zu schießen, wodurch es bis zum 14. Januar zu zahlreichen Toten kam. Die von diesen Todesfällen erstellten Fotografien wurden u.a. über Blogs, aber auch über Facebook verbreitet. Sie unterschieden sich dabei deutlich von den Aufnahmen des brennenden oder verletzten Bouazizi: Das am 10. Januar 2011 veröffentlichte Profilbild des Nutzers Moutaa Amin Elwar zeigt eine bis zum Gesicht in ein weißes Tuch gehüllte Frau.153 Die Augen sind halb geöffnet, das Gesicht wirkt eingefallen. Sie liegt auf Decken gebettet, im Hintergrund ist ein Koran platziert. Die Bildbeschreibung „Ein Foto der Märtyrerin, welche heute durch die Schüsse der Polizei sterben musste“154 verweist auf den Tod der Frau und weist ihr den Status einer Märtyrerin, welche durch die Polizei bei Demonstrationen getötet wurde, zu. Entgegen der Visualisierungspraktiken im Fall Bouazizis sind das Gesicht dieser Frau und damit ihre Identität klar erkenn- und zuordenbar, zudem wird sie als Leichnam gezeigt, also nicht während des Todeskampfes oder der ärztlichen Versorgung. Ein weiterer Aspekt unterscheidet die Visualisierungen der Demonstrationsopfer: Während in diesem Bildbeispiel die Schusswunde scheinbar absichtlich durch das Tuch verdeckt ist, herrscht bei anderen Fotografien der Opfer die explizite Darstellung der Verletzungen vor. Bei den von Sami M’Rad im Fotoalbum Die Opfer der Revolution, sie sind nicht umsonst gestorben155 veröffentlichten Fotografien werden die todbringenden Wunden deutlich gezeigt. Die Abbildung der Selbstverbrennung Bouazizis umgebend werden fünf der am meisten verbreiteten Fotografien von Todesopfern angeführt. Darauf sieht man explizite Darstellungen von Leichen mit zum Teil geöffneten Augen. Der Tod dieser Menschen wird einerseits durch den Aufnahmewinkel und die Bildgestaltung verdeutlicht, andererseits durch die Offenlegung blutender Wunden oder der Deformation des Körpers
153 Die Abbildung von Leichen soll hier vermieden werden, weshalb die Bilder umfassend beschrieben, nicht aber gezeigt werden. 154 Übersetzung des Verfassers aus dem Arabischen. 155 „Les victimes de la rèvolution [sic!], ils se son [sic!] pas morts pour rien“.
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(geöffnete Schädeldecke, klaffende Wunden an Bauch und Brust). Insbesondere die letzte Fotografie ist auffällig, da hier zwar das Gesicht abgebildet wird, der gesamte obere Bereich des Schädels jedoch völlig verblutet und zertrümmert ist und dadurch mit der Erwartung eines integralen Gesichts bricht. Diese Fotografie führte laut Henda Chennaoui Anfang Januar 2011 zu einer besonderen Schockwirkung unter den Tunesiern: Ich denke, dass die Bilder und Fotos der Märtyrer stärker gewirkt haben, als die der Demonstrationen. Das war ein enormer Schock für das tunesische Volk. […] Sie wussten, dass es Unterdrückung und Folteropfer etc. gab. Diesmal sahen sie direkt und zum ersten Mal, wozu das Regime fähig war. Und das Bild mit dem Märtyrer und seinem explodierten Kopf. Das war ein schockierendes Bild! […] Das hat die Menschen aufgeregt, sie waren angeekelt von Ben Ali. Dieser Typ tötet Tunesier!156
Diese Fotografien zeichneten sich dadurch aus, dass sie dem menschenunwürdigen Handeln des Regimes ein Gesicht gaben und ihm Sichtbarkeit verliehen. Diese Beweisfunktion ging einher mit einer Verschiebung dessen, was in der medialen Öffentlichkeit dargestellt werden konnte (vgl. Khatib 2012: 129). Der fotografische Fokus liegt auf den Gesichtern der Getöteten und dem oftmals leidvollen Gesichtsausdruck. Sie führten zu einem visuellen Einschnitt in der tunesischen Kultur, da hier erstmalig der Machtmissbrauch des Regimes deutlich wurde. Es kommt zu einem Bruch mit den visuellen Gewohnheiten, einerseits hinsichtlich der Nähe toter Menschen, andererseits hinsichtlich der Grausamkeit der Machthaber. Dieser Bruch erinnert an Susan Sontags Konzept der „negativen Epiphanie“, welche sie im Moment, als sie erstmals die fotografischen Aufnahmen von KZ-Opfern sah, empfand. Nichts, was ich jemals gesehen habe, hat mich so jäh, so tief und unmittelbar getroffen. Und seither erschien es mir ganz selbstverständlich, mein Leben in zwei Abschnitte aufzuteilen: in die Zeit, bevor ich die Fotos sah, und die Zeit danach. […] Als ich diese Fotos betrachtete, zerbrach etwas in mir. Eine Grenze war erreicht, und nicht nur die Grenze des Entsetzens; ich fühlte mich unwiderruflich betroffen, verwundet, aber etwas in mir begann sich zusammenzuballen; etwas starb; etwas weint noch immer. (Sontag 1984: 25 f.)
156 „Moi, je pense que plus fort que les images de rassemblements étaient les images, les photos de martyrs ! Ça c’était l’énorme choc du peuple Tunisien. […] [I]ls savaient très bien que il y’avait de la répression, des victimes de torture etc. Pour la première fois, ils voient concrètement ce que le régime était capable de faire. Et l’image du martyr avec son crâne explosé. C’était l’image choc, photo choc ! […] Les gens se sont indignés, ils ont été dégoûtés de Ben Ali ! Le type, il tue des Tunisiens !“ Interview Kerim Bouzouita und Henda Chennaoui,.
272 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution Diese negative Epiphanie scheint der Wirkung der tunesischen Fotografien sehr nah zu stehen: Basierend auf der Empfindung von Ekel, Entsetzen, Abneigung entsteht ein Gefühl der visuellen und darüber hinaus menschlichen Grenzüberschreitung, der individuellen Betroffenheit durch die Darstellung des Gräuels. Diese Wirkung wird erzielt, indem die Fotografien eine eindeutige Komposition aufweisen: Im Vordergrund steht das Gesicht, die Identifizierung des Toten als Mensch und Individuum. Diese Individualisierung jedoch wird gepaart mit einer direkten Darstellung von Verletzungen, Deformation, neu entstandenen Körperöffnungen und austretenden Körperinhalten. Damit aus der Empfindung des Ekels allerdings der Eindruck einer negativen Epiphanie entsteht, damit also der Ekel und das Entsetzen sich wandelt in o. g. kollektive Betroffenheit und Verwundung, müssen die dargestellten Körper eine über das menschliche Moment hinausgehende, kulturprogrammrelevante Bedeutung einnehmen. Nach dem nahezu physischen Schock der Fotografien, welche als quasi-phänomenologische Objekte, durch ihren Realitätseffekt und ihre Zufälligkeit ‚bestechen‘ aber auch ‚verwunden‘,157 verweist eine genaue Lektüre der Bilder und der Umstände ihres Entstehens auf deren lokale Relevanz hin. Es handelt sich um Darstellungen der Grausamkeit des tunesischen Systems, diese Tunesier sind Opfer einer repressiven Politik im eigenen Land. Sie wurden zu Ikonen der tunesischen Mediasphäre als „injustice symbols“ (Assmann und Assmann 2010: 235 zitiert in Teune und Mattoni 2014: 882) – Symbole für die Ungerechtigkeit des herrschenden Systems. Für die Interviewten war diese Erkenntnis der entscheidende Punkt einer Grenzüberschreitung. Nach Asma Ben Jebara entstand daraus das Moment kollektiver Betroffenheit: Wir kannten solche Ereignisse nicht. Man sieht solche Bilder aus Gaza, aus Palästina, aus dem Irak, aber in Tunesien ist das schockierend. Nein, wir haben nicht solche Dinge wie im Irak bei uns. Also sagten wir ‚Nein‘. Das war das Ende der Ben-Ali-Regierung.158
Indem die Fotografien, die aus anderen Kontexten bekannte Darstellungen von Gewalt enthielten, nicht nur in die tunesische Semiosphäre eingebracht wurden,
157 Roland Barthes verweist mit seinem Begriff des Punctums auf diese unmittelbare Wirkung, welche aus der Fotografie heraus, aus der Zufälligkeit der Aufnahme und deren Einschreibung in das Bild entsteht. „punctum, das bedeutet auch: Stich, kleines Loch, kleiner Fleck, kleiner Schnitt – und Wurf der Würfel. Das punctum einer Photographie, das ist jenes Zufällige an ihr, das mich besticht (mich aber auch verwundet, trifft).“ (Barthes 1985: 36). 158 „On n’a pas connu ce genre d’événements, on regarde ces images à Gaza, à Palestine, à l’Irak, mais en Tunisie c’est choquant. Non, on n’a pas ce genre d’événements pareils comme en Irak, on Tunisie. Alors là on a dit non. C’est terminé le gouvernement de Ben Ali.“ Interview Asma Ben Jebara.
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sondern zudem geografisch in Tunesien selbst verortet wurden, indem also die dargestellten Gräueltaten nicht mehr einem kulturellen Außen zugeschrieben werden konnten, sondern vielmehr im Inneren der tunesischen Kultur verortet wurden, brach eine neue Form der Betroffenheit durch Nähe aus. Die Fotografien spielten hierbei die Rolle eines Scharniers zwischen Semiosphäre (die Darstellung verstümmelter Leichname) und Biosphäre (fotografisch dokumentiert auf dem Territorium des tunesischen Staates). Hierbei spielte ebenso die Darstellung der Opfer-Identitäten eine Rolle: In den Bildern drückte sich die Normalität der getöteten Menschen aus. Meist unbekleidet oder in schlichter Kleidung dargestellt, konnten sie weder einer dominanten Klasse, noch der Minorität politischer Extremisten zugeordnet werden. Visualisiert wurden sie als Elemente des kulturellen Zentrums, als herkömmliche, zumeist junge Tunesier. Diese Inszenierung von Normalität verstärkte den Eindruck kultureller Betroffenheit, wie Samah Krichah klarstellt: Das war etwas, was einfach nicht ging. Das hätte ich sein können, meine Schwester oder mein Vater. Es ist ein Tunesier, der gestorben ist, umgebracht durch die Polizei. Das ist nicht normal, das ist ungerecht. Jeder hat das Recht zu leben und jeder hat das Recht, seinen Widerstand, seine Meinung auszudrücken.159
Die Schockwirkung der Fotografien entsteht folglich aus der Verbindung von einer expliziten Darstellungsweise einerseits und einer lokalen Verankerung andererseits. Die Bilder erfuhren durch diese Verbindung und durch die Schockwirkung eine semiotische Einbettung in kulturtypische Sinngebungen. So wurde ihnen nicht nur die Funktion des Schocks und Appels zugewiesen. Sie wurden – anfänglich durch bildimmanente Gestaltungsmuster, dann auch durch textuelle Kommentare – als Märtyrer der Revolution deklariert. Wichtig ist hierbei die Darstellung des Blutes, welche bereits bildimmanent den Gewaltopfern einen Märtyrerstatus zuordnet. Die Visualisierung von Blut spielt in den islamischen Kulturen der Moderne eine wichtige Rolle. So hat nach Angelika Neuwirth „symbolisch evozierte[s] oder sogar sichtbare[s] Blut“ (2007: 62) eine starke Präsenz innerhalb der islamisch geprägten Alltagskultur. Neuwirth zeigt in ihrer Argumentation, dass sich das Blut als kulturell signifikante Symbolik im Islam früh als Referenz auf die Vorgängerreligionen Judentum und Christentum entwickelte. Demnach galt Blut als Manifestation bzw. indexikalisches Zeichen für die vitale Kraft des Lebewesens.
159 „C’est quelque chose qui n’allait pas, et ça aurait pu être moi, ma sœur ou mon père. C’est un Tunisien comme moi qui est mort, et qui est mort par la police. C’est pas normal, c’est injuste. Tout le monde a le droit de vivre et tout le monde a le droit d’exprimer son opposition, son avis.“ Interview Samah Krichah.
274 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution Diese symbolische Dimension des Bluts drückte (und drückt) sich in der muslimischen Tradition besonders in rituellen Praktiken aus, bei denen das Blutvergießen Teil eines Opferrituals ist (bspw. bei der rituellen Schlachtung zum Opferfest, bei den Übergangsritualen der Entjungferung im Rahmen der Hochzeitsnacht oder bei rituellen Blutinszenierungen bei Prozessionen, vgl. Neuwirth 2007: 68–77). Das Blutvergießen des Märtyrers ist bis in das 20. Jahrhundert hinein eine religiöse Handlung: Das Konzept der Zeugenschaft, welches den griechischen Begriffen mártys und martýrion entspringt, wird hier als Bezeugung religiöser Ideale durch das Vergießen des eigenen Blutes fortgeführt. So finden sich im Koran und in den Hadithen-Passagen, die die Teilnahme am Krieg und das damit verbundene Selbstopfer als religiöse Prüfung im Rahmen des individuellen Dschihads bestimmen (vgl. Dizboni 2005: 70 f.). Somit wird – im Gegensatz zur christlichen Religionsgeschichte, in deren Verlauf Blut als Opfergabe eingesetzt wird – in der muslimischen Tradition die vitale Kraft des Blutes hervorgehoben. Atmane Aggoun betont, dass der muslimische Märtyrer durch den Akt letztendlich nicht sein Leben hergibt, sondern seine vitale Energie durch das vergossene Blut lediglich transformiert: [L]a dénomination chahid (littéralement : ‚témoin‘) ne recouvre pas la conception de celui qui témoigne par le sang dans la théologie chrétienne. Le corps du martyr en Islam passe au second plan dans la mesure où, comme le disent les versets, le martyr ne meurt jamais. (Aggoun 2006: 56)
Aus dem Blutvergießen kann neue Energie, kann ein Neuanfang entstehen (vgl Neuwirth 2007: 76), da aus dem gewählten Tod das ewige Leben folgt: Parce que le Coran lui accorde une place singulière, le martyr atteint le summum de la perfection morale que peut incarner un homme. Il n’est précédéque par la place qu’occupe le prophète lui-même. Le Coran récompense cette perfection morale par la vie éternelle. (Dizboni 2005: 72)
Als kollektiv-symbolische, mythisch mit Sinn aufgeladene Figur entstand der Märtyrer erst in der schiitischen Religion. Demnach musste einer der Gründungsväter der Schiaa, al-Husain ibn Alī, kurz Hussain, der 680 n. Chr. in der Schlacht um Kerbela getötet wurde, für seine (religiösen) Überzeugungen gegen die (sunnnitischen) Feinde leiden und sterben (vgl. Neuwirth 2007: 76). Ein weiteres, kollektiv relevantes Konzept des Märtyrers etablierte sich in Schiaa und Sunna erst in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts, während der antikolonialistischen Kriege: Dieses ist nun allerdings nicht mehr das Selbstopfer auf der Suche nach dem Göttlichen, ein politisches Opfer im religiösen (vgl. Dizboni 2005: 77), sondern der politisch-nationalistische Held, der im Kampf um und auf der Suche nach einer nationalen Heimat stirbt. Es entsteht das politisch wirkungsvolle
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Konzept des Märtyrers (vgl. Dizboni 2005: 73 f.) als nationalistische Befreierfigur. Hierdurch erhält sich einerseits die Dimension der Zeugenschaft im Martyrium, andererseits wird nun die Dimension des Opfers für eine höhere, kollektiv relevante, da nationale Idee, eingeführt (vgl. Neuwirth 2007: 82 f.): „Erst der moderne Märtyrer vergießt sein Blut als Opfer, er stellt durch einen stellvertretenden rite de passage als ‚Bräutigam der Heimat‘ die Ordnung wieder her, indem er die Würde der Gesellschaft wieder aufrichtet.“ (Neuwirth 2007: 83) Ausgehend von dieser nationalistischen Konzeption lässt sich in o. g. Fotografien ein weiterer Typus des Märtyrers erkennen: In den Darstellungen wird nicht nur die Identität des Opfers klar abgebildet, sondern insbesondere auch das vergossene Blut. Indem bei früheren Fotografien klargestellt wird, dass es sich um im Rahmen von Demonstrationen Getötete handelt, wird das Blut direkt mit den Protesten in Verbindung gebracht. Es werden dadurch bildlich Märtyrer der Proteste inszeniert, welche ihr Leben auf dem Weg nationaler und bürgerlicher Souveränität verloren haben. Besonders deutlich wird dies an einer Aufnahme aus o. g. Album. Darin erkennt man einen Mann, der, tot und auf einer Bahre gebettet, an Kopf und Oberkörper mit Blut befleckt ist. Im Hintergrund sind weitere Verletzte zu sehen. Entscheidend ist hierbei, dass das Blut als dominanter Aspekt dieses Bildes wahrgenommen wird, das Rot sticht hervor und die Menge an Blut nimmt einen Großteil des dargestellten Körpers ein. Der Tote, ähnlich den anderen Opferfotografien, wurde vor der Aufnahme explizit nicht gereinigt oder bedeckt. Dies hat nicht nur den Zweck, die Abscheu gegenüber dem in den Fotografien sichtbar gemachten Tötungen zu steigern, sondern erfüllt besonders die religiösen Vorgaben zur Totenkultur bei Märtyrern. Diese werden vor der Bestattung nicht gereinigt oder gesondert bekleidet, da sie bereits zum Todeszeitpunkt als rein gelten. Reinheit muss folglich nicht hergestellt werden, hingegen verweist das sichtbare Blut auf die mutige und reine Tat des Menschen als eine das Individuum übersteigende, national oder religiös relevante Handlung. Das Blut selbst bezeugt, der Märtyrer markiert durch das vergossene Blut seine religiöse und politische Überzeugung. Als visuelles Detail weist im Bild zudem der rechte, nach oben gerichtete Zeigefinger auf die Zeugenschaft des Märtyrers hin. Diese Geste, die, ob nun von ihm selbst vor dem Todeszeitpunkt erwirkt oder durch andere post mortem eingestellt, Bestandteil der visuellen Inszenierung ist, ist in der muslimischen Kultur ein Zeichen der Schahada, der Beschwörung der Einheit und Einzigkeit Gottes. Der Märtyrer, Schahid, wiederum starb für diese Überzeugung. Die ab dem 14. Januar 2011 veröffentlichten Abbildungen der Todesopfer bei Demonstrationen zeichnen sich zusätzlich zu dieser bildimmanenten Inszenierung bei der Aufnahme durch weitere Inszenierungsdimensionen und entsprechende semiotische Strategien aus: a) Die multimodale Zuschreibung des
276 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution Märtyrerstatus; b) die multimodale Inszenierung als nationaler Märtyrer; c) die Inszenierung als herkömmlicher Bürger. Zu a) Während in den Fotografien der Todesopfer bisher textuelle Einschreibungen und bildliche Nachbearbeitungen nicht stattgefunden haben, der Betrachter also visuell mit dem rohen Fakt des Todes160 konfrontiert wurde, entstanden im Nachfeld der Flucht Ben Alis Bildzeichen, bei denen insbesondere durch die textuelle Einfügung und Bildbeschreibung den Toten klar der Status des Märtyrers zugewiesen wird. Diese textuellen Zuschreibungen sind gepaart mit einer bildästhetischen Umwandlung der einfachen Fotografien. So zeigt das Chronik-Bild der Seite MedFreeman Creations im Bildhintergrund die schwarze Zeichnung zweier trauernder, verschleierter Frauen, im Vordergrund wurde eine farbige Fotografie des ersten Demonstrationsopfers eingefügt (vgl. Abbildung 47).161
Abb. 47: Facebook-Seite Med Freeman Creations, Chronik-Foto, veröffentlicht am 29.05.2011.
160 Bei diesen Bildern kann man einen Vergleich zu Georges Didi-Hubermans Idee der „Erfahrung der Bilder als Fakt“ ziehen, die er hinsichtlich der Fotografien aus dem Konzentrationslager Auschwitz entwickelte. Mit diesem Konzept antwortete er auf Gérard Wajcmans Polemik, er würde mit einer Ausstellung dieser Bilder einem persönlichen Fetisch folgen, da die Grausamkeit des Alltags in Auschwitz nicht vorstellbar und demnach auch nicht darstellbar sei. Didi-Huberman allerdings hebt hervor, dass mit den Bildern Fakten, also die Tiefe der Realität des KZ verdeutlicht werden (vgl. Didi-Huberman 2007: 81–83). 161 Diese Abbildung kann gezeigt werden, da die originäre Fotografie mehrfach bearbeitet und verfremdet wurde.
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Diese wurde durch Filter von Bildbearbeitungsprogrammen vergröbert und wirkt deshalb ähnlich einer Zeichnung. Durch diese ästhetische Transformation der sonst blutigen Fotografie und die neue Bildkomposition wird der Schockmoment des Bildes reduziert, das Bild seiner abjekten und (anti-)körperlichen Materialität beraubt. Die symbolische Lesart des Bildes gerät in den Vordergrund.162 Der Text wirkt hierbei insbesondere als eine lektüreleitende, da kommentierende, Information: Er ist direkt, in roter und weißer Farbe in das Bild eingefügt und verweist einerseits auf den Muttertag, andererseits – in der unteren Bildhälfte, auf die „Mutter des Märtyrers“. Das dargestellte Leid der Frauen wird dadurch gerahmt: Es bezieht sich visuell markiert auf das Bildnis des Toten im Vordergrund und textuell kommentiert auf die Mutterliebe. Zugleich wird dem Toten der Status des Märtyrers zugewiesen, welcher von seiner Mutter beweint wird. Das Bild reiht sich damit ein in die Tradition der Klagebilder (vgl. Didi-Huberman 2009), welche an der Inszenierung des Leidens anderer (hier der Mutter und einer weiteren Person) die Empfindung bei der Betrachtung dieser Leichenfotografien exerziert. Zugleich wird das Konzept des Märtyrers durch das dargestellte Leid der Mutter noch verstärkt: Neben den säkularen Klagebildern verweist die Bildgestaltung auf die ikonographische Tradition des Pietà-Motivs (vgl. Cheles 2016: 456 f.; vgl. ebenso Panofsky 1927; Morgan 1999). Das Porträt des verstorbenen Sohnes ist auf Höhe des Schoßes der trauernden Frauen platziert, beide Frauen haben geschlossene Augen, einen verzerrten Mund und trösten sich durch die Umarmung. Es wird deshalb nicht klar, welche der dargestellten Frauen die tatsächliche Mutter ist, beide werden gemäß der ikonographischen Tradition der Stabat Mater bzw. der Mater Dolorosa inszeniert. Die dadurch hergestellte Referenz auf das christliche Motiv der Passion und der Mutter Christi unterstützt die Konstruktion des Martyriums – das Schicksal des getöteten Sohnes wird mit dem Leidensweg Christi gleichgesetzt, wodurch ihm ein ähnlicher Märtyrerstatus verliehen wird und sein Tod als Opfer für eine überstehende, sakrale Idee inszeniert wird. Zu b): Nach dem 14. Januar 2011 galt insbesondere in einem ersten Moment die Revolution als abgeschlossen, wodurch die Märtyrer in ihrer Rolle als revolutionäre Opfer bestätigt wurden und sich ihre Selbstaufopferung nunmehr zu einem
162 So führt Roland Barthes in seiner Analyse zu den Schockbildern aus, dass eine deterministische Komposition von Fotografien, eine kompositorische und deshalb narrative Reduktion der Polysemie des bildlichen Zeichens dazu führten, dass die Bilder nicht mehr schockieren : „[L]‘intérêt que nous éprouvons pour elles ne dépasse pas le temps d’une lecture instantanée: cela ne résonnne pas, ne trouble pas, notre accueil se réferme trop tôt sur un signe pur; la lisibilité parfaite de la scène, sa mise en forme nous dispense de recevoir profondément l’image dans son scandale; réduite à l’état de pur langage, la photographie ne nous désorganise pas.“ (Barthes 2014 : 99).
278 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution Akt der Konstitution der Nation transformierte. Zu dieser Konstitution als nationaler Märtyrer trug vor allem die Verbindung der Fotografien mit der nunmehr durch die revolutionären Bürger angeeigneten Nationalf lagge bei. Beispielsweise wurden in einer weiteren Collage der Seite Med Freeman Creations 163 vom 2. Juni 2011 insgesamt acht hauptsächlich auf das Gesicht reduzierte Fotografien von Todesopfern nebeneinander dargestellt. Umgeben sind diese von einer halbtransparenten, roten Fläche, wodurch sie mit dem ebenfalls roten Hintergrund der Nationalflagge verschmelzen. Durch das Collageprinzip wird damit ein narrative Dichte erreicht, welche einerseits aus einzelnen Todesopfern eine Menge aus im Rahmen der Revolution gefallenen Menschen konstruiert, diese andererseits als Kollektiv beschreibt, welches vor dem Hintergrund der Nationalflagge zu nationalen Märtyrern stilisiert wird. Die Märtyrer schaffen dadurch ein Erbe der Revolution, das nun, in der postrevolutionären Zeit der Rekonstruktion der Nation, von den tunesischen Bürgern fortgeführt werden muss. Sie werden folglich zu Vorbildern national-revolutionärer Ideologie deklariert, denen man, wenn auch nicht in den Tod folgen, so doch hinsichtlich des nationalen Aufbaus gerecht werden müsse. Dies wird durch den über die ikonische Ebene des Bildes gelegten Text verdeutlicht, welcher als Ausdruck der Scham über den Verlauf der nationalpolitischen Entwicklung gelten kann: „Entschuldigt uns, Märtyrer, aber wir werden Euch nicht gerecht.“ Menschen, die die revolutionäre Rolle der Märtyrer ignorierten, werden als Mitschuldige und damit Mittäter des alten Regimes herabgesetzt, wie die weitere Bildbeschreibung betont. Dadurch wird das abgebildete Kollektiv von Märtyrern gleichsam zu einer Instanz der Revolution erklärt, zu einer historischen Personalisierung als Richtlinie für die Bemessung der nationalen Entwicklung. Zu c): Die letzte Form der Inszenierung hingegen fokussiert auf die Kon struktion möglichst authentischer und individueller Personen. So entsteht auf den ersten Blick eine Visualisierung, die von der bildgewaltigen Mise en Scene als Märtyrer abweicht. Eine Folge mehrerer Chronik-Fotos des Nutzers Med Hannachi zeigt Porträts der getöteten Personen, welche sie zu Lebzeiten abbilden. Auch hier ist der Fokus auf das Gesicht der Person gerichtet, jedoch weniger, um
163 Der Nutzer Med Hannachi, welcher im Rahmen dieser Untersuchung mehrfach bildlich zitiert wird, wurde seit dem Januar 2011 für seine zum Teil provokanten Collagen innerhalb der tunesischen Protestkultur bekannt. Diese verbreitete er über mehrere Facebook-Seiten, eine Segmentation, die nicht zuletzt auch der erhöhten Online-.Zensur geschuldet war. Neben der Facebook-Seite Med Freeman Creations existieren zwei Seiten mit dem Namen Vcom Freedom sowie seinem persönlichen Profil Med Hannachi.
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ein lebloses Gesicht oder die tödlichen Wunden zu zeigen, als die Ästhetik von Passfotografien zu imitieren (vgl. Abbildung 48). Die Menschen werden mit zurückhaltender Pose und neutralem Gesichtsausdruck gezeigt. In den Vordergrund werden dadurch die prinzipiellen Persönlichkeitsmerkmale der Personen gestellt, wie Alter, Geschlecht, Haarfarbe etc. Der blaue, wellenförmige Hintergrund sowie das Trauerflor, welches hier nicht schwarz ist, sondern aus der Nationalflagge besteht, sind auf allen Abbildungen gleich. Am unteren Bildrand befindet sich der Name der Person. Auch hier werden zwar die Personen als Objekte nationaler Trauer inszeniert. Jedoch werden durch die neutrale Bildgestaltung die Individualität der Personen und insbesondere deren alltägliche Gestalt vordergründig behandelt. Der Effekt dieser Reduktion auf das alltägliche Aussehen bei gleichzeitiger Darstellung individueller Merkmale liegt in der Authentifizierung der getöteten Personen. Deren bedingungslose und insbesondere spontane Aufopferung wird auf diese Weise glaubhaft gemacht. Dabei unterscheiden sich die Bilder von der Authentifizierungsstrategie im Falle Bouazizis. Die Fotografien der Leichname werden nicht direkt bildlich mit denen der lebenden Personen verbunden. Die Kennzeichnung der Individuen als Märtyrer geschieht lediglich durch die textuelle Bildbeschreibung.
Abb. 48: Facebook-Profil Med Hannachi, Übersicht der Chronikfotos vom 25.10.2011.
280 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution Folglich wird hier zwar die visuelle, metaphorische oder schockierende Ausgestaltung des Märtyrers vermieden, um den Moment authentischer Personen hervorzuheben. Bezieht man aber den zeitlichen Kontext der Veröffentlichungen mit ein – zwei Tage vor der Veröffentlichung fanden die Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung statt –, wird deutlich, dass diese Authentifizierung als Element der visuellen Märtyrerdiskurse gelten kann: Sie werden dadurch greifbarer. Die visuelle Ausgestaltung des Märtyrerbildes wirkt ausgeglichener, da neben bildgewaltiger und deutlich fiktionaler Inszenierung hier die Persönlichkeit der Personen eingeführt wird. Die visuelle Zurückhaltung schafft insbesondere im Nachfeld der Wahlen Erinnerungszeichen, indem auf tatsächliche Existenz und individuelle Lebenswelten hingewiesen wird. Sie wirken als Apell, die Ideale der Revolution auch nach den Wahlen nicht außer Acht zu lassen. Die bildlichen Repräsentationen dienten ab dem Zeitpunkt der Wahlen vor allem realpolitischer Kommunikationen. Bisher konnte festgestellt werden, dass die Bilder während der Proteste des Januars insbesondere der Mobilisation der Bürger dienten, da sie durch die Personalisierung der Todesopfer die Grausamkeit des herrschenden Regimes im Bild bannten. In der Folgezeit wurden die Märtyrer auf dieser Wirkung basierend umgewertet. Sie galten ab dem 14. Januar als Symbol für das ideologische Erbe der Revolution. Mit den Wahlen im Oktober 2011 wiederum fungierten sie insbesondere als Vehikel für die Entschädigungsforderungen ihrer Familien. Ein genauer Blick auf die dann vorherrschenden Bilder allerdings zeigt, dass diese realpolitischen Forderungen verbunden werden mit einer immanenten Systemkritik. Die Märtyrerbilder sind dann nicht nur politisches Druckmittel, sondern auch Gegenstand politischer Instrumentalisierung. Dies wird an einer weiteren Collage deutlich, die am 1. Juli 2012 veröffentlicht wurde (vgl. Abbildung 49). Darin sind Elemente bereits besprochener visueller Diskurse um die Märtyrer zu erkennen: Im unteren Bildteil findet sich eine symbolische Trias, bestehend aus drei Fotografien, darunter die bekannte Fotografie eines Leichnams, das Porträt eines Mannes mit auf den Betrachter weisendem Zeigefinger sowie, im oberen Bereich, die fotografische Abbildung einer verzweifelten oder trauernden älteren Frau. Unterlegt ist diese Triade von der grafisch abstrahierten Darstellung eines roten, weinenden Frauenkopfes mit Nationalemblem.164 Im oberen Bilddrittel finden sich drei fotografisch abgebildete, in Anzügen gekleidete Männer, welche als die Mitglieder der Regierung der Troika zu erkennen sind: Mustafa Ben Jaafar (im Bild rechts) von der Partei Ettakatol, Präsident der verfassungsgebenden Versammlung, Moncef Marzouki (Partei CPR), der von der ANC gewählte
164 Vgl. hierzu Kapitel III.2.
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Staatspräsident, und Hamadi Jebali (im Bild links) von der islamistischen Partei Ennahdha als Premierminister.
Abb. 49: Facebook-Seite Med Freeman Creations, Chronikfoto, veröffentlicht am 01.07.2012.
Es werden folglich zwei Triaden bildlich konfrontiert: Während im unteren Bildbereich drei visuelle Einheiten die verschiedenen Aspekte des Märtyrertums – den blutig geopferten Leib, die dahinterstehende, individuelle Person, welche anklagend den Zeigefinger hebt sowie das Leiden der Hinterbliebenen – sinnbildlich darstellen, ist im oberen Bereich die realpolitische Trias der Staatsführung erkennbar. Im Zwischenbereich wird durch das weinende Frauengesicht die trauernde Nation symbolisiert. Zudem ist dort auch eine textuelle Einheit verortet, welche sich an die Politiker richtet: „Ohne das Blut der Märtyrer und der Verletzten hättet Ihr nie diese Posten bekleiden können. Schämt Ihr Euch nicht?“ Das vergossene Blut der Märtyrer als zeugenhafter Ausdruck ihrer idealistischen Überzeugung richtet sich demnach gegen die Politiker und stellt ihr aktuelles Handeln infrage. Die Konstruktion der Märtyrerschaft dient demnach nicht nur einer Würdigung des individuellen Leidensweges, sondern vor allem auch dem Aufbau politischer Hegemonie und der Legitimation politischer Handlungen
282 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution (vgl. Kaya 2015).165 Das Konzept des Märtyrers wird damit Gegenstand populärer Zuschreibungen und in der Alltagskultur der muslimisch geprägten Gesellschaft Tunesiens verankert, nicht nur als gesellschaftstragender religiöser Mythos, sondern – in der politischen Aktualisierung – als soziopolitisch konstituierendes Konzept (vgl. Aggoun 2006: 58 f.). Im konkreten Beispiel diente es, acht Monate nach der Wahl, zur Diffamierung der Politik der Troika. Ihre kommunikative Stärke innerhalb der verschiedenen Funktionsebenen, von der Mobilisation für Proteste, über die Erinnerung, symbolische Kondensation und darüber hinaus idealistische (Re-)Konstruktion der Revolution, bis hin zu einer realpolitischen Kritik, Einflussnahme und Legitimation, erfahren die Märtyrerbilder durch signifikante Verankerung innerhalb der religiösen Kultur des Landes. In der Verquickung aus der religiösen Zeugenschaft des individuellen Glaubens mit dem Mythos des nationstragenden Märtyrers entsteht eine kulturelle Bedeutung, welche den im Bild dargestellten Personen zugewiesen wird. In diesem Sinne werden die Personen im und am Bild als Märtyrer behandelt, bestätigt und legitimiert.
4.4 Visualisierungen politischer Mordopfer und die Schaffung von Nationalmythen Sowohl Mohammed Bouazizi als auch die bei Demonstrationen getöteten Personen kamen noch vor der Flucht Ben Alis bzw. kurz darauf ums Leben. Ihr Tod und dessen Mediatisierung fanden inmitten der revolutionären Umstürze statt. Dem gegenüber standen politische Mordfälle, die eine ähnlich starke Mediatisierung erfahren haben und sich mehr als zwei Jahre nach der Flucht des Präsidenten ereigneten. Am 6. Februar 2013 wurde der Oppositionspolitiker Chokri Belaid auf offener Straße, vor seinem Wohnhaus in Tunis El Menzah von unbekannten Tätern erschossen. Belaid war Rechtsanwalt und setzte sich bei mehreren Prozessen, prominent vor allem im Prozess der Streikenden von Gafsa im Jahr 2008 und 2012 im Prozess gegen den Fernsehsender Nessma, für allgemeine Menschenrechte, Meinungs- und Redefreiheit in Tunesien ein. Zudem war Belaid Mitglied der
165 Dies wurde mit den letzten Aktivitäten des IS so weit gebracht, dass ausgehend von der Figur des Märtyrers neue Eschatologien gebildet wurden, welche als Legitimation politscher Herrschaft und vor allem des globalen Kampfes um physische Hegemonie dienten (vgl. Difraoui 2013; ebenso Cook 2007: 135–138).
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nationalen Anwaltskammer und aktiver Teilnehmer der Demonstrationen der Anwälte im Januar 2011. Im Nachfeld des 14. Januars trat er als Generalsekretär der links-nationalistischen, im Januar 2011 gegründeten Partei Mouvement des patriotes démocrates auf. Er war als eloquenter Redner bekannt und nutzte diese Fähigkeit, um bei Demonstrationen, in politischen Talkshows sowie in Printmedien seine politischen Überzeugungen kundzutun. Weiterhin engagierte er sich als Mitglied der Kontrollinstanz Haute instance pour la réalisation des objectifs de la révolution, de la réforme politique et de la transition démocratique. Da Belaid oft als vehementer Kritiker des Islamismus, allen voran der Partei Ennahdha, auftrat, wurde der Tod schnell mit islamistischen Kräften in Verbindung gebracht. Während innerhalb des links-säkularen Kulturprogramms in Tunesien auch die Kreise um die Ennahdha-Regierung für den Mord schuldig gemacht wurden, identifizierten die Ermittler den Mörder und seine Unterstützer als Mitglieder der radikal-islamistischen Gruppe Ansar Al Scharia. Sie wurden ebenso des Mordes am linken Oppositionspolitiker Mohammed Brahmi vom 25. Juli 2013, welcher sich vor dem Wohnhaus im Beisein seiner Familie mit derselben Tatwaffe ereignete, beschuldigt. Am 4. Februar 2014 wurde der mutmaßliche Mörder, Kamel Gadhgadhi, bei einem Verhaftungsversuch erschossen. Bei den Tötungen handelte es sich entsprechend um gezielte Ermordungen mit politischem Hintergrund. Ein weiterer Unterschied zu Bouazizi und den getöteten Demonstranten besteht darin, dass zum Zeitpunkt des Mordes am Schauplatz wenig Menschen präsent waren. So entstanden zu diesem Zeitpunkt keinerlei Fotografien, weder von der Mordhandlung, noch vom Opfer selbst oder dessen Leichnam. Es entsteht aus diesem materiellen Mangel an Repräsentationen eine erste visuell-kommunikative Konsequenz: Die Nachricht vom Mord an Chokri Belaid verbreitete sich am 6. Februar innerhalb weniger Stunden und eine Vielzahl von Nutzern veröffentlichten bereits das Bildnis Chokri Belaids auf Facebook als Profilbild oder als Bild innerhalb der Chronik. Im Gegensatz zu visuellen Referenzen bei den anderen Todesfällen wurden hier allerdings weder der Leichnam des Politikers (siehe die Leichname der Demonstranten) oder die zum Tod führende Handlung (siehe die zumindest fingierte Abbildung der Selbstverbrennung Bouazizis) repräsentiert. Es lassen sich im Folgenden drei Typen von Visualisierungen nach dem Tod Belaids ausmachen. Diese unterscheiden sich hinsichtlich ihrer medialen und soziokulturellen Funktion. So fallen zunächst die zahlreichen Fotografien Chokri Belaids auf, welche ab dem Vormittag des 6. Februar als Profilbilder verbreitet wurden. Das folgende Beispiel (vgl. Abbildung 50) verdeutlicht, dass darin der Politiker mehrheitlich in Situationen seines (beruflichen) Lebensalltags gezeigt wurde. Ein Schwerpunkt lag dabei auf der Darstellung seines Gesichts in Verbin-
284 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution dung mit einem ernsten Gesichtsausdruck oder einem Lächeln, wodurch Belaid bildlich als charismatische Persönlichkeit inszeniert wird.
Abb. 50: Facebook-Profil Asma Laabidi, Titelbild, veröffentlicht am 16.02.2013.
Auffällig ist bei diesen Fotografien, dass Belaid nicht mit den Emblemen seiner politischen Partei bzw. mit einem ideologischen Kontext in Verbindung gebracht wird. Dies lässt darauf schließen, dass er zwar als öffentliche Figur, nicht aber als Zugehöriger eines politischen Lagers inszeniert wird. Dadurch werden die fotografischen Repräsentationen auch für Anhänger anderer politischer Einstellungen relevant, sie bestätigen die bereits bestehende, mediale Inszenierung als Vereiniger. Sein dezidierter Anti-Islamismus war die einzige polemische Linie, die er klar vertrat166 und die ihm vor seiner Ermordung Anfeindungen einbrachte. Die als Profilbilder verbreiteten Fotografien führten dieses öffentliche Image Belaids fort. Sie zeigten Solidarität mit dem Mordopfer und seinen Hinterbliebenen an und wurden in dieser Form auch in den Kommentaren bestätigt, in denen Beileidsbekundungen geäußert wurden. Zugleich entwickelten sie sich zu einem generellen Ausdruck der Ablehnung gegenüber politischen Morden und der Befürwortung freier, auch polemischer Meinungsäußerung. So stellt der
166 Vgl.: Frida Dahmani: Tunisie : Chokri Belaïd, chronique d’une mort annoncée in: Jeune Afrique online, Artikel vom 14.02.2013. Online unter: www.jeuneafrique.com/138338/politique/tunisie-chokri-belaed-chronique-d-une-mort-annonc-e/ (Stand: 05.04.2018).
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Krankenpfleger und Aktivist Nadhem Oueslati klar, dass die Veröffentlichung als Profilbild keinesfalls eine ideologische Zugehörigkeit bedeute: Ich habe nie seine Ideen geteilt, ich fühlte mich seinen Zielen nie zugehörig. Er hat seine eigene Meinung und lebt diese, wie er will. Ich habe nicht dieselbe Meinung. Aber als er ermordet wurde, war das wirklich ein Schock, […] wie kann man jemanden ermorden, der nicht die gleiche Meinung wie ich hat. Ich habe seine Fotos geteilt, um zu sagen, nunja, es gibt jemanden, der Hass und Schlechtes säen will. Und ich tat es, um seiner Existenz und seiner Militanz zu gedenken, weil er jemand war, der viel gekämpft hat. Das muss man anerkennen, man muss in ihm die Militanz erkennen und nicht seine Ideologie.167
Neben der etablierten Funktion des Profilbildes als Form des politischen Ausdrucks wurde mit dem Portrait des getöteten Politikers das Erinnerungszeichen eingeführt. Deutlich wird dies vor allem an Asma Laabidis Profilbild, welches sie ca. eine Woche nach dem Tod des Politikers veröffentlichte (vgl. Abbildung 50). Hier verstärkte die technisch-semiotische Rahmung des Bildes die Kommemorationsfunktion. Das Bild wurde durch eine nachträgliche Bearbeitung als Zeichen der Trauer in schwarz-weiß gefärbt. Die dazu veröffentlichte Bildbeschreibung schreibt dem direkt in Richtung des Betrachters schauenden Mann die Aussage: „Ich werde nicht sterben“, zu, was zu einem Paradoxon zwischen der Denotationsebene des Bildes (dem verstorbenen Politiker) und der Aussage des Textes führt. Dadurch wird jedoch das symbolische Fortleben seiner Ideen, seines Aktivismus und seines Handelns trotz des Todes betont und an eine kollektive Erinnerung appelliert. Eine Besonderheit besteht darin, dass Belaids persönliches Facebook-Profil im Foto verlinkt wird. Der Hyperlink führt einerseits direkt zu Chokri Belaids Facebook-Profil und fügt ihn zudem automatisch in der Beschreibungssektion als Person ein – in Form der Aussage: „mit Chokri Belaid“ Durch diese multimodale und zugleich netzwerkimmanente Referenz wird die Erinnerungsfunktion des fotografischen Bildes noch verstärkt. Der Eindruck, dass eine Person in der Fotografie weiterlebt (vgl. Metz 1985: 84) wird verbunden mit dem Eindruck, dass sie innerhalb des Internets als virtueller Charakter fortlebt. Neben den Abbildungen von Antlitz und Person Belaids etablierten sich zudem Repräsentationen, die den Vorgang des Mordes nachverfolgten bzw.
167 „Je n’ai jamais partagé ses idées, je n’ai jamais été en faveur avec ce qu’il veut. Il a ses propres opinions et il les vit on peut dire ce qu’il veut, moi je n’ai pas de même opinion mais quand il a été assassiné c’était vraiment un choc, […] comment on peut assassiner quelqu’un qui n’a pas la même idée que la mienne. J’ai partagé ses photos pour dire que voilà il y a quelqu’un qui veut de la haine, il y a quelqu’un qui veut du mal. C’est aussi pour commémorer son existence et son militantisme, parce qu’il a beaucoup milité. Il faut reconnaître ça, il faut reconnaître le militantisme en lui même et non pas les idées.“ Interview Nadhem Oueslati.
286 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution dessen Spuren visualisierten. Dabei spielte insbesondere die Darstellung von Blut eine wichtige Rolle. So erkennt man im Titelbild von Haythem El Mekki, das er vier Stunden nach Belaids Tod veröffentlichte, auf den ersten Blick keinen Zusammenhang mit dem Mord (vgl. Abbildung 51).
Abb. 51: Facebook-Profil Haythem El Mekki, Titelbild, veröffentlicht am 06.02.2013.
Es ist eine Menschenmenge erkennbar, die sich um ein weißes Kleidungsstück drängt. Auf dem T-Shirt befindet sich ein Blutfleck. Im Vordergrund des Bildes ist der Hinterkopf der Witwe von Chokri Belaid, Basma Khalfaoui, erkennbar, die das weiße Shirt in den Händen hält. Begutachtet wird es von mehreren Politikern, u.a. von Taieb Baccouche, Mitbegründer und Generalsekretär der Partei Nidaa Tounes. Als Titelbild überragte das Bildzeichen das Profil des Journalisten und zog so verstärkt Aufmerksamkeit auf sich. Es verwundert deshalb nicht, dass 100 Nutzer dieses Bild weiterverbreitet und knapp 280 weitere mit einem Gefällt mir reagiert haben. Durch den Veröffentlichungszeitpunkt des Bildes, zu dem bereits einem Großteil der Tunesier der Mord an Belaid bekannt war, und durch die Anschlusskommunikation, beispielsweise durch Beileidsbekundungen in den Bildkommentaren, wird das im Bild vorhandene T-Shirt mit Blutfleck als Bekleidung von Chokri Belaid zum Zeitpunkt seiner Ermordung kontextualisiert. Als Spur der Tat wirkt der Blutfleck nach, er vereinigt die Menschen zu einem öffentlichen Treffen, zu kollektiver Aufregung, dauert als Materialisierung des Verstorbenen, als Quasi-Fetisch des Verstorbenen an. Zugleich wird die Szene Gegenstand einer bildlichen Darstellung – die Versammlung der Trauernden um das Kleidungsstück führt zu einer Authentifizierung und zugleich zu einer Inszenierung der Ermordung als nationalpolitisch relevantes Ereignis. Eine andere Bedeutungsdimension erfährt das Blut in einer Bildmontage, welche am 20. Februar 2013 von der Witwe Chokri Belaids, Basma Khalfaoui,
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auf ihrem Facebook-Profil geteilt wurde (vgl. Abbildung 52). Seit seiner Ermordung engagierte sie sich für die Aufklärung des Mordfalls. Die Grafik zeigt ein ausdrucksneutrales Porträt Belaids umgeben von einem grauen, nebelartigen Schleier. Am oberen Rand steht mit „CHOKRI BELAID 06.02.2013“ der Name sowie der Todestag des Ermordeten. Darunter ist in einem dominanten, schwarz roten Schriftzug die Frage „Wer hat ihn getötet?“ formuliert. In diesem Bild wird das Blut nicht als materielle Spur des Mords gezeigt, sondern vielmehr als symbolisch eingefügter Blutverlauf – einerseits im oberen rechten Bildbereich, andererseits als herablaufende Bluttropfen am Wort „getötet“. Hier wird das Blut demnach als Symbol genutzt, es veranschaulicht den Mord an Chokri Belaid innerhalb des Bildes und gleicht damit den Mangel an tatsächlichen Repräsentationen des Mordfalls und des Leichnams aus. Belaid wird dadurch symbolisch innerhalb des tunesischen Kulturprogramms einerseits als Märtyrer inszeniert, welcher sein Blut für seine Überzeugungen geopfert hat. Andererseits wird er aufgrund seines Bekanntheitsgrades zu einer politischen Causa, sein Blut zum politischen Druckmittel.
Abb. 52: Facebook-Profil Basma Khalfaoui, Chronikfoto, veröffentlicht am 20.02.2013.
Der Personenkult um Chokri Belaid in den bisher besprochenen Visualisierungen speist sich folglich aus der Sichtbarkeit seiner Person in Verbindung mit der textuellen, bildlichen sowie kontextuellen Zuschreibung einer nationaltragenden Rolle sowie politischen Relevanz. Dadurch wird die von Oueslati in seiner
288 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution Aussage betonte Figur des militant-politischen Widerstands bildlich inszeniert, so weit, dass wie in Abbildung 51 die Betrachtung seiner Bekleidung zu einer politischen Angelegenheit wird. Eine dritte Form der Effigie Belaids hingegen legt Wert auf eine Reduktion der Visualisierung. Solche Bildzeichen kamen ebenso bereits am Tag des Todes in Facebook auf, entwickelten jedoch vor allem bis zum 8. Februar, dem Tag von Belaids Bestattung, eine virale Dynamik, die sich bis in den physischen Raum ausbreitete. Am Nachmittag des Todestages von Chokri Belaid wurden erste Zeichen veröffentlicht, welche als Profilbilder lediglich in grafisch abstrahierter Form die Gesichtszüge des Politikers wiedergaben. Genauer gesagt wurde das Gesicht Chokri Belaids visuell auf die kulturell als relevant wahrgenommenen Kennzeichen, den Schnurrbart und das Muttermal, reduziert (vgl. Abbildung 53).
Abb. 53: Facebook-Profil Ghassen Karoui, Profilbild, veröffentlicht am 07.02.2013.
So zeigt das Profilbild des Bloggers Ghassen Karoui am Abend des 7. Februar 2013 einen weißen Hintergrund, auf dem sich im unteren Drittel die schwarze Form eines Schnurrbarts befindet. In diesen Schnurrbart ist mit weißen Lettern „R.I.P.“ (Rest in Peace) eingeschrieben, das Muttermal befindet sich – wie bei Belaid auch – rechts oberhalb vom Schnurrbart. Es gab mehrere Versionen dieses Bildes, während hier die Form des Schnurrbarts weitestgehend derer Chokri Belaids entspricht, wich sie in anderen Darstellungen erheblich ab und auch das Muttermal wurde nicht abgebildet. Prägnant für die Anspielung auf Chokri Belaid scheint zu dem konkreten historischen Zeitpunkt also insbesondere die Präsenz des Schnurrbarts zu sein – eine Formgenauigkeit musste nicht erfüllt werden. Es lässt sich
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deshalb der Frage nachgehen, weshalb gerade der Schnurrbart als symbolisches Zeichen für die Repräsentation Belaids gewählt wurde und weiterhin, welche Signifikanz aus der Verbindung mit dem politischen Mord hergestellt wurde. In erster Linie weist die bildinhärente Darstellung auf einen Wechsel des Signifikanten hin: In beiden Formen der Visualisierung (die beide ebenso als Profilbilder, also im gleichen medialen Kontext veröffentlicht wurden) repräsentieren die Bildzeichen Chokri Belaid im zeithistorischen Kontext, sprich bezogen auf seine Ermordung. Diese Referenz wurde im Fall der Fotografien insbesondere durch schwarz-weiß-Töne aber auch durch textuelle Beschreibungen und Kommentare verankert. Die Fotografie wies einerseits als indexikalisches Zeichen bzw. Spur auf die reale Existenz des Menschen bzw. der Aufnahmesituation hin, andererseits enthielt sie als ikonisches Zeichen Hinweise auf das Aussehen Chokri Belaids. Weiterhin kamen in ihr symbolische Elemente, wie beispielsweise der ernste Gesichtsausdruck oder die spezifische (Berufs-)Kleidung Belaids isch-abstrahierte Darstellung nun deutet auf dieselbe Referenz vor. Die graf (Person Belaids) sowie – auf den ersten Blick – dasselbe Signifikat (Ausdruck von Trauer und Solidarität bzgl. des politischen Mordes an Chokri Belaid) hin. Jedoch unterscheidet sie sich als Signifikant grundlegend von der fotografischen Realisation. Es liegt zwar eine ikonische Abbildung vor, welche auf den Schnurrbart einer Person mit Muttermal (durch den Kontext kann dann auf Chokri Belaid geschlossen werden) verweist. Jedoch überwiegt die symbolische Dimension des Bildes. Indem die Abbildung Belaids auf den Bart beschränkt wird, wird dieser als charakteristisches Element seiner Person betont. Dadurch erhält der Bart eine symbolische Funktion, welche in besonderer Weise als kennzeichnend für Chokri Belaid wahrgenommen wird. Die Reduktion auf eine solche Visualisierung schreibt demnach Chokri Belaid eine überstehende Bedeutung zu. Diese semiotische Betrachtung lässt sich durch die Aussagen der Interview partner stützen. So verweist Nadhem Oueslati darauf, dass der Schnurrbart symbolisch weniger auf die konkrete Person Chokri Belaids fokussiert, als vielmehr auf den Anlass der visuellen Solidaritätsbekundung: Den politischen Mord als Bedrohung einer demokratischen Politik: Es geht ein wenig in die Richtung auszusagen, dass nicht nur die Ideologie Chokri Belaids, sondern das gesamte Prinzip der Demokratie vernichtet wurde. Indem nur diese Schnurrbärte gezeigt wurden, wurde der Mord hervorgehoben und wurde ausgedrückt, dass nicht
290 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution nur der Mensch, sondern die gesamte Demokratie, diese Demokratie im embryonalen Stadium, dabei ist, zerstört zu werden.168
Dieser Position gemäß dient die grafisch-abstrahierte Darstellung des Barts einer Generalisierung jenseits der Grenzen politisch-ideologischer Kulturprogramme. Es wird ein allgemeines Symbol geschaffen, welches mehreren Semiosphären angehören kann und in dieser Hinsicht als einigendes Zeichen für die Ablehnung politisch motivierter, extremistischer Morde durch alle Tunesier eingesetzt werden konnte. Zugleich beinhaltet das Symbol dennoch eine Spur des konkreten Falles Chokri Belaids. So weist Nadhem Oueslati die Ambivalenz des Zeichens nach, wenn er – seiner ersten Aussage widersprechend – in dem Schnurrbart dennoch ein säkulares Zeichen gegen islamistische Politik erkennt: Islamisten haben keinen Schnurrbart und es gibt ein tunesisches Sprichwort, welches sagt: ‚Glaubwürdige Schnurbärte zählen 100.000 Mal mehr als unglaubwürdige Bärte.‘ […] Dadurch wird er von den Bärtigen [die Islamisten, JE] abgegrenzt, da er einen Schnurrbart hat und keinen Bart. Der Schnurrbart steht für die Glaubwürdigkeit und eben nicht der Bart derer, die nicht glaubwürdig sind.169
Die Notion der Glaubwürdigkeit ist hier entscheidend. Durch die Verbindung des symbolischen Schnurrbarts mit der (politischen) Person Chokri Belaids entsteht ein Bedeutungsgeflecht, in dem einerseits die durch den Schnurrbart symbolisierte Glaubwürdigkeit und Seriösität bei Belaid betont werden, zugleich der Oberlippenbart allerdings den langen Kinnbärten, wie unter streng gläubigen, muslimischen Männern üblich, gegenübergestellt wird. Somit wird die Lektüre des Symbols ebenso von Belaids politischem Hintergrund beeinflusst. Durch diese Verknüpfung entsteht eine weitere Bedeutungsebene, welche einerseits den ideologischen Hintergrund Belaids ausblendet und ihn damit als Figur der Vereinigung inszeniert, andererseits seine Persönlichkeit, vor allem sein charismatisches Auftreten innerhalb des Zeichens kommuniziert. In dieser
168 „C’est un peu dans ce sens de montrer que ce n’est pas seulement l’idéologie de Chokri Belaïd qui a été tué mais c’est tout le principe de démocratie qui a été tué. C’est en montrant seulement ces moustaches pour le distinguer et pour dire que celui qui a été tué ce n’est pas sa personne, c’est toute la démocratie et c’est, cette démocratie à l’âge embryonnaire qui est en train d’être écraser.“ Interview Nadhem Oueslati. 169 „Les islamistes n’ont pas de moustache et il y a un proverbe tunisien qui dit […] « Les moustaches de la credibilité valent 100,000 fois mieux que les barbes des incredibles » .[…] Donc, les moustaches avec le grain de beauté c’est pour le distinguer des barbus parce que lui il a des moustaches mais il n’a pas de barbe, donc les moustaches c’est, les moustache de crédibilité et non pas la barbe des...de ceux qui sont pas crédibles.“ Interview Nadhem Oueslati.
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Lesart des Schnurrbart-Symbols beginnt ebenso die kulturelle Ikonisierung des Politikers, wie die bildende Künstlerin Rachida Amara betont: Das ist jemand, der ein großes Charisma hatte. Wenn er noch lebte, wäre er jetzt ein großer Anführer, einer der ganz Großen. Der Schnurrbart und das Muttermal ist das Symbol dieses Images geworden. Das ist wie Che, dieses bekannte Foto von Che, welches einfach so, aus Zufall entstanden, bekannt wurde für die Baskenmütze, den Stern, den Blick. Er ist ein Held, er ist zum Held geworden. Stell Dir das Gegenteil vor. Hätte man in der Zeit, in der Chokri erschossen wurde, nicht von ihm gesprochen, keine T-Shirts mit ihm gemacht, hätten die Grafiker und Künstler nicht in dieser Weise gemalt, wäre er nur einer von vielen Märtyrern. Weil Chokris Tod eine Wunde hinterlassen hat. Nicht weil er als erster Tunesier auf diese brutale, aggressive und kriminelle Art umgebracht wurde. Also hat das [diese Symbolisierung] seine Stellung als Anführer, als großer Politiker verstärkt.170
Damit wurde aus dem visuellen Symbol des Schnurrbarts nicht nur ein Zeichen für die Peron Chokri Belaid, sondern darüber hinaus eine Referenz für Meinungsfreiheit, politisches Engagement, für eine starke politische Führung und den Kampf gegen islamistischen Extremismus im Land. Das Symbol setzte sich derart innerhalb des Kulturprogramms des tunesischen, säkularen Protests durch, dass daraus ein Stencil-Graffiti gefertigt wurde, welches u. a. bei der Demonstration anlässlich von Chokri Belaids Beerdigung am 8. Februar 2013 in der Umgebung des Friedhofs Jallez an Hauswänden und Mauern angebracht wurde. Die visuelle Materialisierung der Person Chokri Belaids in Facebook erfolgte parallel zum Anstieg seiner Popularität innerhalb der tunesischen Bevölkerung.171 Zwar trug die grafisch-abstrahierte Symbolisierung Belaids zu dieser Bekanntheit bei, jedoch entfernte sie sich zunehmend von der ursprünglichen
170 „[C’]‹est quelqu’un qui est...qui a un grand charisme. S’il resterait vivant, il serait un grand leader d’une catégorie très élevée. Cette moustache et grain de beauté, ça devient le symbole de cette image. C’est comme le Che, cette fameuse photo du Che captée, comme ça, par hasard, par un photographe qui est devenue célèbre avec son béret, l’étoile et son regard, comme ça. […] C’est un héros, il est devenu un héros, imagine l’inverse. Si à la période où Chokri était assassiné, juste après les funérailles on ne parle plus de lui, on ne fait plus de Tee Shirts, les grapheurs, les artistes ne le dessinent pas à sa manière. Donc, vraiment il sera comme tous les autres martyres. Parce que la mort de Chokri a causé une grande blessure. Pas parce que c’est le premier tunisien assassiné de cette manière brutale, agressive et criminelle, un assassinat politique. Donc ça a renforcé le coté leader, dirigeant, le coté grande politicien, Chokri.“ Interview Rachida Amara. 171 So versammelte sich anlässlich seiner Beerdigung die größte Menschenmenge seit der Totenfeier für Habib Bourguiba. Die Zeitung Le Monde geht von 40.000 bis 50.000 Teilnehmern aus, vgl. Artikel vom 08.02.2013 L’opposant Chokri Belaïd inhumé devant une foule immense à Tunis, online unter: www.lemonde.fr/tunisie/article/2013/02/08/greve-generale-en-tunisie-pour-lesfunerailles-de-chokri-belaid_1828941_1466522.html (Stand: 06.04.2018).
292 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution Kommunikationsintension und wurde als generell politisches Symbol wahrgenommen. Die fotografischen Abbildungen hingegen führten die soziokommunikative Funktion als Erinnerungszeichen fort und schufen zugleich ikonische Darstellungen seiner Person. Durch ihre Verwendung wurde Belaid eine bildliche Materialität zugeschrieben, welche ihrerseits wiederum Gegenstand einer Mythologisierung wurde. Dies war insbesondere auch möglich, da zu diesem Zeitpunkt bereits eine ausgeprägte Bildkultur in Facebook vorlag, deutlich mehr Nutzer als im Frühjahr 2011 in Facebook zu verzeichnen waren und insbesondere, da das Ereignis für mehrere Wochen im Zentrum der medialen Öffentlichkeit und der öffentlichen Meinung Tunesiens stand. Die visuelle Internetkultur in Facebook wurde zu einem Element der Mythologisierung des Chokri Belaid. Zugleich gab dieser Kult Aufschluss über die kollektive Sinnsuche eines Kulturprogramms in Zeiten semiotischer Verunsicherung. Die Jahre 2012 und 2013 waren geprägt von einem Erstarken nicht nur gemäßigt islamistischer Kräfte im Land, was die symbolischen Strukturen sowie den Kampf um Hegemonie des Kulturprogramms säkularen Protests in Gefahr brachte. Während also der Tod Bouazizis als Zeichen des Scheiterns des herrschenden Regimes galt, wurde Belaids Tod als politischer Kippmoment inszeniert. Durch den Tod Belaids erhielten die Ideale der Revolution einen Aufschwung, seine panarabisch-politische Ausrichtung, welche wenig mit dem tunesischen, säkularen Widerstand gemeinsam hatte, wurde hierbei ausgeblendet. Indem er – auch visuell – als Held konstituiert wurde und indem er zudem als individuelle und starke Führungspersönlichkeit galt (im Gegensatz zu den vergleichsweise gesichtslosen Alltagspersonen der Märtyrer), bot sich Belaid als mythische Heldenfigur an. Dabei fußt der Mythos Chokri Belaid insbesondere auf visuellen Zeichen.. Es wird hier von einem semiotischen Mythenbegriff ausgegangen, das seine Basis in der Erschaffung eines ideologisch geprägten, sekundären Zeichensystems findet. Roland Barthes‘ Mythenkonzept bezeichnet den Mythos hierbei als ein „système sémiologique second“ (Barthes 2014: 187). Während im ersten semiotischen System ein Signifikant in Verbindung mit einem Signifikat ein komplexes Zeichen bilde, würde dieses Zeichen im zweiten System wiederum zu einem Signifikanten für eine mythische Metasprache. Auf eine erste Zeichenstruktur wird folglich eine zweite Struktur aufgesetzt, die den Sinn der ersten verzerrt oder deformiert (vgl. Barthes 2014: 194 f.). Bezogen auf den Fall von Chokri Belaid würde die bildliche Repräsentation eines Porträtfotos in denotativer Hinsicht für das Gesicht Belaids stehen, in konnotativer Hinsicht auf ihn als verstorbene und erinnerungswürdige Person hindeuten. Es entsteht dadurch ein Erinnerungszeichen, welches die Person Belaids im bildlichen Signifikanten konserviert, sichtbar und für die individuelle Erinnerung greifbar macht. Dieses Erinnerungszeichen wiederum wird die signifikante Basis für die Schaffung des Mythos ‚Chokri Belaid‘, welcher
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einerseits die Person als Inkarnation des Ideals eines nicht islamistisch geprägten, säkularen Nationalstaats setzt, andererseits darüber hinaus den Mythos der tunesischen Revolution aktualisiert. Dabei entsteht, wie Barthes betont, eine Wechselwirkung zwischen dem ersten Zeichensystem und dem sekundären, mythischen Zeichensystem. [I]l faut toujours se rappeler que le mythe est un système double, il se produit en lui une sorte d’ubiquité : le départ du mythe est constitué par l’arrivée d’un sens. Pour garder une métaphore spatiale dont j’ai déjà souligné le caractère approximatif, je dirai que la signification du mythe est constituée par une sorte de tourniquet incessant qui alterne le sens du signifiant et sa forme, un langage-objet et un méta-langage, une conscience purement signifiante et une conscience purement imageante; cette alternance est en quelque sorte ramassée par le concept qui s’en sert comme d’un signifiant ambigu, à la fois intellectif et imaginaire, arbitraire et naturel. (Barthes 2014: 196)
Diese nicht stagnierende Fluktuation zwischen originärer und mythischer Zeichenstruktur schafft demnach ein System der Koexistenz, wobei das originäre System tendenziell zu einer abstrakten, entleerten Sinneinheit degradiert wird, während der mythische Sinn als quasi-natürliche Sinnstruktur wahrgenommen wird. Er ersetzt die konkrete Historizität des Ursprungszeichens und ‚naturalisiert‘ sie (vgl. Barthes 2014: 202): Dementsprechend eigne sich der mythische Diskurs für eine ideologisch geprägte Kommunikation in besonderer Weise. „ [L]e passage du réel à l’idéologie se définit comme le passage d’une anti-physis en pseudo-physis.“ (Barthes 2014: 216, Hervorhebungen im Original) Dabei lässt der Mythos seine Konstruiertheit vergessen, er hat den Anschein, Sinn und Bedeutung aus sich selbst heraus zu machen (vgl. Barthes 2014: 217). Ebendiese Wechselwirkung wird in der visuellen Darstellung Chokri Belaids als mythischer Figur deutlich. So veröffentlichte der Medienaktivist Hassen Hajibi am 16. Juli 2013 ein Bildzeichen in seiner Facebook-Chronik, welches eine grafisch veränderte, abstrahierte Fotografie von Belaid in Schwarz-Weiß ins Zentrum stellt (vgl. Abbildung 54). Der Politiker wird in seiner Anwaltsrobe gezeigt mit einem Mikrofon in der Hand. Der Bildhintergrund ist rot gefärbt und weist das Nationalemblem mit rotem Stern und Halbmond auf. Unterhalb des Protagonisten findet sich eine Menschenmenge – offensichtlich am Platz der Kasbah aufgenommen. Während die textuelle Inschrift im Bild die, seit der Bestattung des Politikers in der medialen Öffentlichkeit stehende Frage: „Wer hat Chokri Belaid ermordet?“ stellt, gerät sie zugleich ob der Präsenz der anderen visuellen Elemente des Bildes in den Hintergrund. Das Bild verweist vielmehr auf die mythische Figur des Chokri Belaid, welche anhand dreier bildlicher Elemente sichtbar gemacht wird: Zuerst wird Belaid
294 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution nicht als Politiker, sondern in seiner Funktion als Anwalt und öffentlicher Redner inszeniert. Diese Handlung wird in der Öffentlichkeit verortet – hier bei den SitIns und Demonstrationen an der Kasbah im Januar bis März 2011. Des Weiteren steht der Protagonist in Verbindung mit einer demonstrierenden Menge, wodurch er als Redner des Volkes und für das Volk verbildlicht wird. Drittens geschieht die dargestellte Performanz vor einem nationalen Hintergrund, symbolisiert durch die Nationalfarbe und das Emblem.
Abb. 54: Facebook-Profil Haijbi Hassen, Chronikfoto, veröffentlicht am 16.04.2013.
Die konkrete Person Belaids, Gegenstand der ersten, originären Zeichenordnung, wird hierbei ausgeblendet und ihre Visualisierung gerät nahezu zu einem leeren Zeichen. D. h. der historische Anlass für die ersten Veröffentlichungen von Belaids Fotografien, sein gewaltsamer Tod sowie der konkrete Kontext eines Erstarkens islamistischer Kräfte zu diesem Zeitpunkt ist für dieses Bild weniger von Belang. Es wird eine Ikone geschaffen, welche sich eben auch im medialen Charakter des Bildes ausdrückt: Vom Realitätseffekt der Fotografie als Fetisch der Person Chokri Belaids, von der konkreten Abbildung des materiellen Blutes auf seiner Kleidung, kommen wir nun zu collagenhaften Bildern, welche ein symbolisch komplexes Gefüge aus visuellen Elementen schaffen. Diese haben lediglich das Ziel, Belaid als Sprachorgan der protestierenden Menge zu visualisieren. Sein Blut wird symbolisch mit dem roten Hintergrund dargestellt, es verschmilzt mit der Farbe der tunesischen Flagge. Der ideologisch geprägte Mythos verengt die Sichtweise auf einen nationalkonstitutiven Charakter, welcher das Volk in seinen revolutionären Bestrebungen trägt und motiviert. Zugleich schwebt das historische Bewusstsein der Person mit, unterstützt wird die Schaffung dieses Mythos durch weitere
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mediale Kommunikate und Narrative, welche Belaid aufgrund vergangener Handlungen als Politiker, Anwalt, Aktivisten oder Widerständler glorifizieren. Seine Mitwirkung an revolutionären und postrevolutionären Protesthandlungen wird steter Bestandteil in der Lesart solcher Bilder, es gibt konkrete historische Momente, auf die sich das Bildbeispiel bezieht (die Sit-Ins der Kasbah). Demnach konstruieren solche Bilder nicht nur den Mythos des Chokri Belaid als revolu tionärer Politiker, als Nationalheld und personalisierter Märtyrer. Hinzu kommt, dass er zur entscheidenden Figur einer Reinszenierung der Revolution (vgl. Ben Alaya 2013) wird, durch den Mythos Chokri Belaids wird der Mythos der tunesischen Revolution in einer bestimmten, ideologisch geprägten Lesart erneut in Erinnerung gerufen. So wird hier eine Ideologie des revolutionären und postrevolutionären Protests vorgestellt, welche eine säkulare Konzeption des nachrevolutionären Staates, eine demokratische und für alle gesellschaftlichen Gruppen geöffnete, jedoch nicht islamisch geprägte Nation verfolgte. Diese ideologische Variante der Revolutionsgeschichte und der nachrevolutionären Ereignisse in der Rekonstruktionsphase drückt sich in Belaids Person aus, materialisiert sich quasi in ihr und stellt sich demnach als ahistorische Wahrheit dar. Die Nacherzählung der revolutionären Geschichte wird in ihrer Selbstverständlichkeit der soziokulturellen Kontexte konkret politischen Handelns beraubt und erscheint als Normalität. Ein entscheidender Faktor bei der Ausprägung des Nationalmythos Chokri Belaid ist die performative Reaffirmation dieser sekundären Zeichenstruktur in unterschiedlichen Visualisierungen. Diese kommen zeitlich versetzt in Facebook auf und finden durch die dortige Verbreitung sowie bildliche Transformation Eingang in die Bildkultur und Semiosphäre des Kulturprogramms. Dieser zeitliche, soziale und räumliche Aspekt der bildlichen Handlungen wurde in den partikularen Lektüren innerhalb Barthes Mythenkonzepts wenig ausgearbeitet. So verweist er zwar darauf, dass es mehrere signifikante Realisationen ein und desselben Mythos (bzw. mythischen Konzepts) geben kann (vgl. Barthes 2014: 192 f.) und dass mythische Konzepte nicht fix seien („ils peuvent se faire, s’altérer, se défaire, disparaître complètement“, Barthes 2014: 193). Allerdings, und dies ist eine Fehlstelle des frühen Strukturalismus Barthes’, wird der Einfluss der Form des mythischen Zeichensystems, im konkreten Beispiel der visuellen Ästhetik und Komposition sowie der vorhandenen symbolischen Elemente auf das mythische Konzept nicht deutlich gemacht. Dabei sind diese bildlichen Wiederholungen und Transformationen mythischer Diskurse in medialer Hinsicht ein konstituierendes Element der Ausprägung eines mythischen Konzepts. Trotz der Ahistorisierung des mythischen Diskurses wirkt der geschichtliche Rezeptionskontext der einzelnen Darstellungen, d. h. die Signifikanz innerhalb dieser geschichtlichen Kontexte, mit in die Rezeption er
296 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution Bilder ein. Ein darauf basierendes mythisches Konzept wird demnach stets aktualisiert und erneut kommuniziert. Zugleich ist die Wiederholung von Bildern, die repetitive Sichtbarmachung eines Sachverhaltes oder Konzepts, auch Bestandteil seiner Naturalisierung. Die Wiederholung solcher Narrative bis hin zur Konstitution neuer, visueller Darstellungsmodi oder zum Anlehnen an bestehende Formeln bildlichen Ausdrucks sind Grundelemente visueller Evidenzprägung (vgl. Schade und Wenk 2011: 98–100). Insbesondere im Fall Chokri Belaids werden die Bilder stets wiederholt, sei es als Teil der Kampagne zur Aufklärung seines Todes, sei es als kommemoratives Element zu den Jahrestagen seines Todes. Insbesondere während der Monate nach seinem Tod herrschte eine Vielzahl unterschiedlicher Repräsentationen vor, von den bereits besprochenen fotografischen Darstellungen bis hin zu abstrahiert-grafischen Darstellungen und den zuletzt genannten Collagen. Sie wurden Teil der medialen Konstitution einer kulturellen „Meistererzählung“, welche laut Binder „in außerordentlichen Zeiten, beispielsweise […] angesichts einer Krise beschworen [wird].“ (Binder 2014: 91) In einer Phase der soziopolitischen Unsicherheit wurde der politisch-ideologische Mythos ‚Chokri Belaid‘ zu einem Zeichen der Hoffnung. Indem er die tunesische Revolution bildlich reinkarnierte, wurde die Kontingenz geschichtlicher Ereignisse wegerzählt, die Komplexität sozio-ökonomischer Prozesse reduziert und die Fülle politischer Bindungen und Loyalitäten auf eine einzige Loyalität zurückgeführt. (Münkler 2005: 65 f.)
Dabei war der charismatische Politiker ein stärkeres Sinnangebot als politische Kampagnen oder Parteiprogramme, da er einerseits eine (höchst emotionalisierte) Deutung der Gegenwart ermöglichte, andererseits qua ideologischer Verankerung innerhalb des tunesischen Protestprogramms eine Zukunftsvision für die entstehende Nation bot (vgl. Assmann 1992: 40). Er diente demnach als ein Idol der Revolution, um das ein ähnlicher Kult betrieben wurde wie bei den frühen Formen der Idolatrie eines gottesähnlichen Bildes. So beschreibt Mitchell diese Idole als „Symbole eines Gottes oder als seine wirklichen Inkarnationen“ (Mitchell 2008: 405). Demgemäß sei das Idol als Bildwerdung eines Gottes das mächtigste in der Ordnung der „imperialen“ Bilder. Mitchell versteht den Imperialismus als symbolische und topologische Kategorie: Idole entsprechen der alten territorialen Form des Imperialismus, der sich durch Eroberung und Kolonisierung ausbreitet und die Länder anderer, die er versklavt oder vertreibt, okkupiert. Das Idol hat in diesem Prozeß zwei sich widersprechende Funktionen, je nachdem, ob es das Ideal der Einheimischen oder das der Eroberung ist. (Mitchell 2008: 404)
Hier werden Bildzeichen als Mittel der (topologischen) Ausdehnung von Kulturprogrammen verstanden, als Medium der Hegemonie. Sie werden in diesem
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Sinne zu „wandernden Bildern“, wobei das „Wandern der Bilder“ nicht bloß eine Metapher ist. Es macht vielmehr sinnlich begreifbar, „wie Bilder sich fortbewegen, zirkulieren, sich entwickeln, erscheinen und wieder verschwinden.“ (Mitchell 2008: 396) Belaids Bild trägt und verbreitet eine ideologische Lesart im Kampf um lokale Hegemonie und Ausbreitung. Die entsprechende Anbetung der bildlichen Materialisierungen von Chokri Belaid wird einerseits in den Bildern direkt verdeutlicht, andererseits zeigt es sich in der Verwendung seiner Bilder als quasi-sakrale Objekte, die ritualartig zu Krisenmomenten der Republik verbreitet, mit Kommentaren der Trauer und Glorifizierung versehen und durch Symbole der nationalpolitischen Würdigung aufgewertet werden.
4.5 Bilderstürme – Visuelle Vernichtung von Feinden des Protests Den in den o. g. Bildzeichen erfolgten, visuellen Ideologisierungen lassen sich entsprechende Kippbilder gegenüberstellen, welche mit diesen eng verbunden sind und dennoch – funktionell – scharf abgegrenzt werden können. Die ideologische Glorifizierung der zuvor genannten Personen als Träger der Revolution geht einher mit der Entglorifizierung der visuellen Träger des ehemaligen Regimes – allen voran die Darstellung des Präsidenten Zine El-Abidine Ben Ali. Während die ideologisch-politische Revolution einerseits beispielsweise auf die Konstruktion revolutionärer Mythen abzielen, um neben physischer Macht auch eine symbolische Macht zu etablieren, ist die gleichzeitige Deligitimation der symbolischen Machtgefüge des status quo entscheidend. Dies ist als eine Dekonstruktion der politischen Mythen des fokussierten Regimes zu begreifen. Es handelt sich, Jan Assmann (1992) folgend, um eine Entmythisierung: Wo der Mythos seine Unabänderlichkeit und Naturgemäßheit herausstellt, kehren sie [die Revolutionen, JE] seine willkürliche Gewordenheit und Geschichtlichkeit hervor. Revolutionen sind überhaupt nur möglich als Folge einer durchgreifenden Entmythisierung des Welt- und Geschichtsbildes. (Assmann 1992: 39)
Die Entmythisierung des gegebenen Weltbildes erscheint demnach innerhalb einer politischen und hegemonialen Dynamik als Rückseite der Mythisierung innerhalb des Kampfes um gesellschaftliche Hegemonie. In dieser dialektischen Verschränkung ist es nicht erstaunlich, dass auch die sozialen Bewegungen im Rahmen der tunesischen Revolution die symbolischen Repräsentationen des Regimes von Ben Ali zerstörten. Diese Zerstörung konnte bezogen auf bildliche Zeichen durchaus vielgestaltig sein. Dabei ist zunächst
298 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution zwischen zwei Fokussen der Zerstörung zu unterscheiden, wobei auf der einen Seite die Zerstörung visueller Macht in einer Sichtbarmachung, Aneignung und Kontrolle der Kommunikationsstrategien besteht, während in einer zweiten Hinsicht die Zerstörung auf die (bildlich materialisierte) Person Ben Alis abzielt. Es entsteht dadurch ein Kontinuum aus a) einer strukturell-kommunikativen Macht, b) einer im Präsidenten personalisierten Macht. Beide Dimensionen sind dennoch nicht komplett voneinander ablösbar, da sie einerseits teilweise visuell parallelisiert auftreten und andererseits innerhalb des Regimes die strukturelle Macht der Regierung stets an die Person des autokratischen Herrschers angebunden war. Im Moment der Proteste vom Beginn Januar bis März 2011 spielte das symbolische Spiel mit der Präsenz und Absenz, Materialisierung und Entmaterialisierung des Herrschers im Kontinuum zwischen a) struktureller und b) personeller Destruktion eine große Rolle: Im Bereich zwischen a) und b) lässt sich beispielsweise das Spiel mit der offiziellen Fotografie zur Amtseinführung des Präsidenten Ben Ali vom 7. November 1987172 verorten. Die ursprüngliche Fotografie mit dem Konterfei Ben Alis war Bestandteil des Personenkultes um Ben Ali (vgl. Geisser und Gobe 2008; vgl. Yakoub 2013: 28) und zugleich konstituierendes Element der visuellen Grammatik der Macht in Tunesien.
Abb. 55: Facebook-Seite Tunisie Nmout 3Lik Ya, Chronikfoto, veröffentlicht am 18.01.2011.
172 Vgl. auch deren Ersatz durch das Antlitz Mohammed Bouazizis, Abbildung 45.
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Im Fall der Veröffentlichung der Facebook-Seite Tunisie Nmout 3Lik Ya vom 18 Januar 2011 wurden diese systemische und personelle Macht im Bild angegriffen. Hier ist der gesamte Körper des Präsidenten inklusive der Insignien der präsidentiellen Macht ausgeschnitten und durch eine weiße Fläche mit schwarzer Umrandung ersetzt (vgl. Abbildung 55). Innerhalb dieser Fläche ist der Text eingefügt: „404 Not Found. The dictator you are looking for might have been removed“. Der Text ersetzt folglich die Silhouette des Präsidenten und weist darauf hin, dass dieser (durch die Proteste) entfernt wurde. Interessanterweise lehnt sich der Stil der textuellen Botschaft an typische Fehlermeldungen aus dem Internet an, wobei der Fehler-Code „404“ auf ein fehlendes Dokument, eine nicht verfügbare Seite oder andere fehlende Daten hinweist. In einem ersten Moment weist der Text demnach in zwei Hinsichten auf die Absenz des Herrschers hin. Das Bild reflektiert aufgrund seiner zeithistorischen Einbettung, dass Ben Ali durch die Proteste (und insbesondere deren Verbreitung im Land sowie über gesellschaftliche Grenzen hinweg) zum Verlassen des Landes gezwungen wurde. Zugleich reinszeniert das Bild die Absenz des Herrschers, indem vor den Nationalflaggen (welche wohlgemerkt im Bild belassen wurden) eine Fehlstelle abgebildet wird. Es wird damit einerseits mit den Rezeptionsgewohnheiten der Tunesier gebrochen, indem Ben Ali aus dem bekannten Bild entfernt wurde, der Präsident gleichsam seiner Macht enthoben wurde. Indem auch Schärpe und Amtskette fehlen, wird die präsidentielle Macht generell nichtig gemacht. Ein zweiter Moment der Interpretation entsteht durch den Stil der textuellen Inskription: Indem der Hinweis auf die Absenz des Herrschers an eine Internet-Fehlermeldung angelehnt wird, findet ebenso ein Verweis auf die während des Ben Ali-Regimes rekurrierende Einschränkung der Meinungsfreiheit und Medienzensur statt.173 Durch den Aufgriff des Fehler-Codes bei der Textinschrift entsteht eine metaphorische Struktur zwischen Text und Bild. Einerseits scheint es, dass durch die Absenz des Präsidenten nun auch die staatliche Zensur des Internets als ein Kennzeichen der Diktatur unterbunden wird („The dictator […] might have been removed“). Andererseits wird aufgezeigt, dass die Internetzensur trotz der Flucht Ben Alis fortdauert. Während also innerhalb des Bildes die visuelle Materialisierung der Person Ben Alis und die an das Amt des Präsidenten gebundene, systemische Macht durch ihre bildliche Abwesenheit entmaterialisiert werden, macht der Beschreibungstext das Fortbestehen der systemischen Macht, getragen durch Anhänger des ehemaligen Regimes, sichtbar. Das Spiel aus An- und Abwe-
173 Vgl. Kapitel III.1.2.
300 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution senheit, aus einer Materialisierung und Dematerialisierung von Personen dient hier einer differenzierten Kritik an der Macht des politischen Systems. Es ist bezeichnend, dass das Veröffentlichungsdatum des vorliegenden Beispiels, welches in einer nachträglichen, durch Bildbearbeitung erstellten Dematerialisierung der Person Ben Alis besteht, erst einige Tage nach dem Sturz des Präsidenten liegt. Im direkten zeitlichen Kontext der revolutionären Demonstrationen, vor allem um den 14. Januar 2011, fand das bildliche Verschwinden der Person Ben Alis auf eine andere Weise statt: Bei den Demonstrationen wurde Wert auf eine an Bildern durchgeführte Performanz der Infragestellung, Kritik und Zerstörung des Herrscherbildes (als Materialisierung des Herrschers) gelegt. Es wurden dazu Bilder von Ben Ali auf physischen Trägermedien in den öffentlichen Raum eingebracht und als Effigien des (nicht physisch verfügbaren) Herrschers genutzt. Während in den Fällen von Mohammed Bouazizi, der Demonstrationsopfer und von Chokri Belaid solch visuelle Materialisierungen im öffentlichen Raum der Konstruktion und Zelebration von Helden, Fetischen oder Idolen dienten, wurden anhand der Herrscherbilder die destruktiven Ebenen der Effigienhandlungen offenbar. So eröffneten sich in der öffentlichen Behandlung dieser Bilder Ebenen, welche sonst den klassischen Bildnisstrafen zugeordnet würden (vgl. Brückner 2016). Die folgenden Bildbeispiele sind fotografische Repräsentationen von Bildhandlungen im öffentlichen Raum und wurden in dieser Form wiederum in Facebook veröffentlicht. Die Aufnahmequalität und Bildgestaltung der Fotografien lässt darauf schließen, dass es sich um professionelle Pressefotografien handelt, welche wiederum von Facebook-Nutzern weiterverbreitet wurden. In einem ersten Beispiel wird deutlich, inwiefern die bildlichen Darstellungen von Ben Ali bei Demonstrationen nicht nur als symbolische Kritik, sondern auch zum Zweck der Verurteilung in effigie genutzt wurden. Die Fotografie zeigt einen Demonstranten, welcher das Porträt des noch an der Macht befindlichen Präsidenten schablonenartig174 auf ein Poster aufgetragen hat (vgl. Abbildung 56). Weiterhin findet sich über dem Antlitz der Schriftzug „WANTED“, unterhalb des Porträts wiederum „DEAD OR DEAD“. Im Plakat wird dadurch sowohl durch den Text als auch durch die Bild-Text-Relation und Ästhetik das visuelle Genre US-amerikanischer Kopfgeld-Plakate imitiert, in denen ein Porträt des gesuchten Verbrechers mit der Inschrift „Wanted. Dead or alive“ versehen wurde. Bei dem Wiederaufgriff dieser Gestaltung wurde allerdings die Möglichkeit, den Verbre-
174 Es sind lediglich die Umrisse sowie die wesentlichen, identitätstragenden Gesichtszüge in schwarz nachgezeichnet, der Kontrast ist derart erhöht, dass alle hellen Gesichtspartien verschwinden.
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cher gegen ein Kopfgeld lebend oder tot auszuliefern, insofern verändert, dass ein Ausliefern bei lebendigem Leibe ausgeschlossen wird.
Abb. 56: Facebook-Seite Vcom Freedom, Chronikfoto, veröffentlicht am 04.06.2011.
Entscheidend ist, dass der Demonstrant sich in der Fotografie mithilfe einer Nationalflagge vermummt (vgl. Haunss 2016) und dadurch anonym als Vertreter des tunesischen Volkes auftritt. Die bildliche Darstellung birgt eine doppelte, mediale Struktur: Bei der Demonstration wird Ben Ali durch das Plakat in effigie gerichtet. Die abstrahierte Form der zuvor besprochenen Fotografie, seiner Inszenierung als Präsident im Rahmen des Amstantritts,175 wird verbunden mit der symbolischen Darstellung als Verbrecher. Während dies zunächst nur einer bildlichen Anklage nahekommt, vergleichbar mit dem Anschlagen des Porträts eines Verbrechers am öffentlichen Pranger, wird zugleich der Richterspruch erteilt: Ben Ali solle nur tot ausgeliefert werden, was der bildlichen Erklärung der Todesstrafe gleichkommt. Dieses Bildhandeln basiert auf einer Rückführung des bildlich inszenierten Machtinhabers auf seine natürliche Person, wodurch Ben Ali verurteilbar und
175 Diese als Basis dienende Fotografie wird in der teilweisen Abbildung der Amtskette in der schablonenartigen Abbildung erkennbar.
302 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution richtbar wird: Cécile Boex versteht diesen Prozess als eine Umkehrung der hegemonialen Strukuren: Der Herrscher est destitué de son corps glorieux, incarnation de la fonction politique, pour être renvoyé à la corporéité d’un individu auquel on attribue la responsabilité des crimes commis contre les protestataires. (Boex 2013: 76)
Gleichzeitig dient die fotografische Darstellung dieser öffentlichen Performanz wiederum dem Eingang in den medialen Raum des Internets. Im Nachfeld der revolutionären Proteste, am 4. Juni 2011 veröffentlicht, wird anhand der Darstellung und innerhalb der Bildbeschreibung das Verbrechen Ben Alis konkret reflektiert – ausgehend von den Toten der Proteste bis hin zum Nachwirken seines politischen Regimes. Dadurch wird die bildliche Verurteilung verdoppelt, als Anklage bei den Demonstrationen, bei denen der Körper des Präsidenten im öffentlichen Raum zur Verurteilung vorgeführt wird, sowie als nachträgliche Rechtfertigung dieses Urteils durch das Einfügen textueller Informationen innerhalb des medialen Raumes des SNS. In beiden Dimensionen wird der materiell nicht verfügbare Körper Ben Alis, im Moment der Demonstrationen vom 14.01. bereitete er sich bereits auf die Flucht vor und seit diesem Moment residierte er in Saudi-Arabien, bildlich greifbar und damit auch richtbar gemacht. Eine weitere Form des Handelns mit bildlichen Repräsentationen des Präsidenten zeigte sich in den zahlreichen ikonoklastischen Akten während der Demonstrationen. Auch hier diente als bildliche Basis das Foto vom Machtantritt Ben Alis (vgl. Abbildung 57).
Abb. 57: Facebook-Seite Vcom Freedom, Chronikfoto, veröffentlicht am 15.12.2011.
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Es wurde eine mythische Ikone des Regimes aufgegriffen, um diese, vor allem bei der großen Demonstration am 14. Januar 2011, im öffentlichen Raum zu zerstören. Als beispielhaft kann die fotografische Wiedergabe einer solchen Bildzerstörung dienen, bei der lediglich eine Hand abgebildet wird, die das hell brennende Präsidentenbildnis in die Luft streckt. Die Aufnahme wurde zu einer vielfach im Internet verbreiteten Abbildung. Am Bild des Herrschers wurde eine Zerstörung einerseits der Person, andererseits der präsidentiellen Funktion Ben Alis exerziert. Durch diese performative Dimension wurde die Zerstörung zum Spektakel, welches einer Menge zur Schau gestellt wird und damit den kollektiven Voyeurismus, die Begierde nach einer visualisierten und visuellen Hinrichtung des Autokraten befriedigte (vgl. Terry-Fritsch 2015: 192). Die bildliche Praxis unterscheidet sich dahingehend von den vorgehenden Beispielen, als hier auf physischer Ebene, weniger auf visuell symbolischer Ebene, die Macht des Präsidenten infrage gestellt wird. Nach Mitchell kann hieran eine weitere Form der Bildwahrnehmung eingeführt werden. Das Bild wird nicht nur zu einem Zeichen, welches eine quasi-vitale Beziehung zum Repräsentierten einnimmt, sondern zudem selbst als Quasi-Akteur oder „Pseudoperson“ (Mitchell 2008: 372) behandelt. Dadurch wird dem Bild „eine gewisse Vitalität, eine Art Leben […], die es fühlen lässt, was ihm geschieht“ (Mitchell 2008: 372), zugeschrieben. Das Bild wird dahingehend nicht als Ersatz des Herrschers behandelt, sondern als dessen Materialisierung und zweiter Körper, welcher ebenso vernichtet werden kann und leidensfähig ist. Die Verbrennung in effigie reiht sich demnach ein in die anthropologische Tradition des Ikonoklasmus (vgl. Terry-Fritsch 2015: 192–195), welcher sich in den religiösen Bilderstürmen (vgl. Besançon 2000) aber auch in säkularen Formen der politischen Bildniszerstörung (vgl. Gamboni 1998: 29–119; vgl. ebenso Fleckner, Steinkamp und Ziegler 2011: 1–76) äußerte. Dabei sind die Bildniszerstörungen einerseits als ein bildphänomenaler Akt zu lesen, welcher, den Konzepten des Bildphänomenologen Lambert Wiesing folgend, die „artifizielle Präsenz“ von absenten Objekten durch Sichtbarmachung im Bild (vgl. Wiesing 2014) verdeutlicht und zugleich diese Präsenz durch die Bildzerstörung in eine Absenz verwandelt. Andererseits ist das Spiel mit bildlicher Präsenz und Absenz ebenso ein symbolischer Akt, der mit semiotischer Repräsentation verbunden ist. Das Präsidentenbildnis inkarniert nicht nur die Person Ben Alis, sondern symbolisiert auch seine personelle Macht. In dieser Hinsicht verwundert es nicht, dass die Bildnisverbrennungen ebenso auch Objekt fotografischer Aufnahmen und dadurch auch Teil (medialer) Inszenierungsstrategien wurden. Nach Mitchell ist das bildzerstörerische Handeln „[e]ine Art theatralischer Exzess, der mit den Ritualen des Zertrümmerns, Verbrennens, Verstümmelns, Beschmierens, des Bewerfens mit Eiern oder Exkrementen verbunden ist“. Es mache demnach „die
304 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution Bestrafung von Bildern selbst zu einem spektakulären Bild eigenen Rechts.“ (Mitchell 2008: 371). Die (massen-)mediale Vervielfältigung des sonst singulären Bildes der Verbrennung entwickelt sich dadurch auch zu einer ideologischen Strategie (vgl. Gamboni 1998: 121–125), mit der im konkreten Fall die Kompromisslosigkeit sowie die Ideale der Proteste ausgedrückt wurden. Dies wird besonders bei der erneuten Verbreitung des Bildes am 15. Dezember 2011, ca. ein Jahr nach der Selbstverbrennung Bouazizis, deutlich. Die veröffentlichende Facebook-Seite Vcom Freeman fügte der fotografischen Repräsentation der Bildzerstörung eine textuelle Beschreibung hinzu, welche kritische Etappen der Ben Ali-Regierung beginnend im Jahr 2000 (mit Schwerpunkt auf die liberale Ausgestaltung des Binnenmarktes, auf die ökonomische Bereicherung der Präsidentenfamilie, auf die Unterdrückung der Meinungsfreiheit sowie auf die Toten bei Demonstrationen) nachzeichnet. Ähnlich dem vorherigen Beispiel unterstützt die Bildbeschreibung die im Bild selbst vorhandene, visuelle Anklage oder Verurteilung, der Text wird zu einem erneuten Kommentar und damit zum Mittel der Reinszenierung – hier im medialen Raum des Internets. Zudem wirkt der Text als nachfolgende Rechtfertigung der visuellen Hinrichtung des Präsidenten. Während bildlich betrachtet die Verurteilung und Hinrichtung Ben Alis in effigie weniger a) die strukturelle Macht des Regimes, als vielmehr b) die konkrete Person des Herrsches anvisiert, kontextualisiert der Beschreibungstext das Bild in einem größeren, politischen Gefüge und seiner zeitlichen Entwicklung. Interessanterweise stützen sich alle behandelten Beispiele einer bildlichen (Re-) Materialisierung und Präsentifizierung Ben Alis – von der visuellen Unsichtbarmachung oder dem Ersatz durch Bouazizi, bis hin zur Verbrennung seines fotografischen Abbildes – auf der Fotografie seines Amtsantritts als Präsident nach der strategischen Absetzung des altersschwachen Bourguibas. Dieses Bildnis wurde damit zum visuellen Ursprung des Personenkultes um Ben Ali, aber auch der Konstitution eines mythologisierten Regimes. Der Mythos Ben Ali verbindet demnach die natürliche Person mit der präsidentiellen Macht und schafft so eine Legitimationsgrundlage des autokratischen Systems. Dieses Ursprungsdokument wiederum wurde durch die Aktivisten und Demonstrierenden aufgegriffen und transformiert. Die damit verbundenen visuellen Techniken der Collage erreichen hierdurch das politische Potential der semiotischen Guerilla: Durch die neuen Abbildungen, durch die entfernten Bildschichten bzw. hinzugefügte weitere Elemente werden die beiden Bedeutungsschichten des Mythos im Bild voneinander gelöst, die Person Ben Alis wird aus der naturalisierten Verbindung mit dem präsidentiellen Amt herausgelöst. Erreicht wird dies, indem die Position Ben Alis als Leerstelle erscheint, indem sie symbolisch verurteilt wird (und ihr dadurch die präsidentielle Amnestie abgesprochen wird). Die Bildverbrennung wiederum ordnet sich ebenso in diese
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demythifizierende Strategie ein, wenn auch nicht symbolisch-visuell, sondern physisch umgesetzt, denn hier wird durch die Zerstörung dem Herrscher erstens seine Berechtigung als Vertreter des Volkes entzogen, zweitens wird die Person Ben Alis gleichsam hingerichtet und damit ihres Amtes enthoben. Durch beide Strategien – das symbolische und das physische Richten des Herrschers – wird demnach das naturalisierte, sekundär-mythische Zeichensystem vom zugrundeliegenden System abgelöst und der Mythos entnaturalisiert bzw. demythifiziert. Der Herrscher wird erneut in eine Geschichtlichkeit eingebettet – als Ursprung einer berechtigten Kritik an seinem Herrschaftsstil und als Referenz für die zahlreichen, immer stärker werdenden Demonstrationen gegen sein System.
4.6 Bildliche Materialisierung und Bildmythen Die hier aufgeführten bildlichen Repräsentationen von real existierenden Personen zeichnen sich dadurch aus, dass ihnen – im Gegensatz zu den zuvor beschriebenen Körperdarstellungen – der Wert einer Materialisierung der gezeigten Person zugeschrieben wird. Ihnen kommt damit die Eigenschaft zu, physisch absenten Personen 176 eine (bildliche) Präsenz zu verleihen. Die physische Präsenz des Körpers in effigie dient jedoch nicht nur der Präsentifizierung der Person als Teilhaber innerhalb einer Kommunikationshandlung, beispielsweise – wie im Fall von Mohammed Bouazizi – als visueller ‚Begleiter‘ einer Demonstration. Vielmehr zeigte sich, dass dadurch eine Wechselwirkung zwischen dem Image der repräsentierten und materialisierten Person und dem Bildhandeln erfolgt. Eine bildliche Präsentifizierung wirkt demgemäß auf die Wahrnehmung der Person zurück, sie dient der Konstruktion (oder Dekonstruktion) von personellen Mythen bzw. – über die Person hinaus – von kulturprogrammrelevanten, politischen Mythen. Die Verbindung der bildlichen Materialisierung mit der Konstruktion mythischer Diskurse kommt nicht von ungefähr. Mitchell weist darauf hin, dass Bilder als Orte der realen Präsenz einer Person die „letzten Bastionen einer magischen Gedankenwelt“ (Mitchell 2008: 373) sind, in der das mythische Denken eine bedeutende Rolle spielt. Mythische Diskurse sind stets im Zwischenbereich von Repräsentation und Präsenz zu verorten. Insbesondere die Präsenz wirkt auf
176 In den behandelten Beispielen entsteht die Absenz durch den Tod (zeitliche Absenz) bzw. den physischen Entzug der Person (räumliche Absenz).
306 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution die Konstruktion und letztendlich Wahrnehmung von etwas als Mythos ein, wie Gebert und Mayer in der Einleitung ihres Sammelbandes feststellen: Wahrnehmungsformen gelten zudem oft als mythisch, wenn sie auf Verhältnissen zur Welt basieren, die von affektiver Unmittelbarkeit geprägt sind, Reflexion zuvorkommen oder epistemologische Vermittlung unterlaufen. (Gebert und Mayer 2013: 9 f.)
Indem Bildzeichen die Präsenz von etwas Absentem herstellen, einen zwar medial und semiotisch vermittelten, dennoch in der konkreten Zeichenpraxis als bedeutsam konstruierten direkten Zugriff zu den Dingen und Personen ermöglichen, werden sie zu Vermittlern von mythischen Narrativen. Aus einem Bildhandeln, welches beispielsweise in der Verbrennung der Effigie von Ben Ali oder in der Glorifizierung des Antlitz Chokri Belaids besteht, wird demnach ein thea trales, inszenatorisches Moment kollektiver Sinnprägung (vgl. Gebert und Mayer 2013: 10). Oder in anderen Worten: Die Veröffentlichung und Weiterverbreitung solch mythisch aufgeladener Bilder gerät zu einem ritualhaften Handeln. Die Bildzeichen werden in diesem Sinne mit Macht ausgestattet: Durch die Inkarnation von Personen erhalten sie eine mythopoetische Kraft, durch die sie innerhalb eines Kulturprogramms mythische Denkstrukturen etablieren, andererseits, insbesondere in einem politisch-strategischen Sinne, hegemoniale Mythen eines anderen Kulturprogramms demontieren und zerstören können. Die Dynamik zwischen bildlicher Mythifizierung und Entmythifizierung ist also auch eine politische Strategie, welche insbesondere der Etablierung neuer, revolutionärer Strukturen zuträglich ist (vgl. Assmann 1992). Dazu trägt insbesondere bei, dass sie ebenso auch die Grenzen politischer Mythen setzen. Im Fall von Chokri Belaid wurde durch diesen persönlichen Mythos die Revolution nachträglich als auf einer säkularen politischen Ideologie beruhend modelliert und damit von einer islamistischen Politik abgegrenzt. Dadurch eröffnet sich die individuelle Funktion solcher kulturprogrammrelevanten Mythen. Das Verbreiten dieser präsentifizierenden Bildzeichen über das individuelle SNS-Profil markiert einen spezifischen mythischen Glauben und dadurch auch eine Zugehörigkeit zu einem konkreten Programm des Protests. In einer letzten Analyse wird – entgegen der quasi-magischen Kraft der Bilder – insbesondere die dekonstruktive Funktion von Bildzeichen untersucht, durch die mythische Diskurse hinterfragt und darüber hinaus kulturelle Grenzen ausgeweitet sowie kulturprogrammspezifische Konventionen und Codes verändert werden können.
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5 Konstruktionen und Dekonstruktionen an den Grenzen von Kulturprogrammen Die folgenden Bildzeichen eint, dass sie selbst an den Rändern des Kulturprogramms des Protests stehen, da sie 1. in Karikaturen mit den generellen ästhetischen Normen der tunesischen Bildkultur brechen; und 2. durch ästhetische Innovation bzw. Ausweitung kultureller Repräsentationsverhältnisse die Möglichkeiten der Sichtbarmachung innerhalb der tunesischen Kultur verändern.
5.1 Politische Karikaturen und die Grenzen der Darstellbarkeit Politische Karikaturen in Tunesien erfuhren im Januar 2011 einen wichtigen Aufschwung. Zwar hatte die Kunst der Karikatur bereits während der französischen Kolonialherrschaft in Tunesien eine erste Blütezeit, da sie – innerhalb französischer Zeitungen – der Unterhaltung und in unabhängigen, arabischsprachigen Printmedien auch dem Widerstand gegen die Besatzung dienten. In der Folgezeit allerdings, einsetzend mit der Herrschaft Bourguibas und der damit eingeschränkten Meinungsfreiheit und vor allem verschärft während des Regimes von Ben Ali, wurde die offizielle Karikatur degradiert zu einem fait divers innerhalb privater Presseerzeugnisse (vgl. Fakhfah und Tlili 2013: 145). Dementsprechend waren nur einzelne Karikaturisten in dieser Zeit aktiv.177 Auch war das inhaltliche Feld dieser Karikaturen stark eingeschränkt. Eine, wenn auch versteckte Kritik am Präsidenten selbst oder an einzelnen Vertretern der Macht war de facto nicht möglich. Die Befreiung und Legalisierung der politischen Karikatur erfolgte erst mit dem Sturz des Präsidenten, wodurch offene Meinungsäußerung weitgehend möglich gemacht wurde. So entwickelte sich ab dem 14. Januar eine neue Bildsprache der Karikatur im Land. Einzelne Künstler wie Nadia Khiari (mit den emblematischen Katzenfiguren von Willis from Tunis) und Skander Beldi (als Flask) wurden in der postrevolutionären Zeit über ihre Zeichnungen bekannt. Sie gründeten zusammen mit anderen Mitstreitern im September 2011 das Projekt Yaka Yaka, welches als Kollektiv, Internetplattform und Verlag konzipiert wurde. Das Internet bot allerdings bereits vor dem Januar 2011 Raum für klandestine Veröffentlichungen von Karikaturen. Insbesondere der anonyme Zeichner -Z- war
177 Als wichtige Vertreter der Karikatur in Printmedien zu dieser Zeit können Lotfi Ben Sassi und Tawfik Omrane genannt werden.
308 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution trotz harscher Zensurmaßnahmen seit 2007178 als Karikaturist aktiv und veröffentlichte auf seinem Blog DEBATunisie regelmäßig kritische Zeichnungen. Seine ersten Karikaturen wandten sich allerdings nicht explizit gegen Ben Ali oder das Regime, sondern zunächst gegen die urbane Ausgestaltung sowie Hypermodernisierung der Hauptstadt Tunis sowie gegen die dubiosen Investitionen im Rahmen von durch die Vereinigten Arabischen Emirate finanzierten Entwicklungsprojekten. Doch der in einer ökologischen Ideologie verankerte Aktivismus richtete sich bis 2011 neu aus: -Z-’s concern for the environment, and more particularly for the endangered flamingos of the lakes of Tunis, later developed into more explicit political dissent against the corruption of the Ben Ali regime. (Said 2017: 215)
Bei einer Betrachtung der politischen Karikaturen von -Z- muss berücksichtigt werden, dass er stets aus dem Anonymat heraus veröffentlichte und in der tunesischen Diaspora in Paris lebt. Diese räumliche und kulturelle Distanz ermöglichte es ihm, eine kritische Position einzunehmen und ein neuartiges Instrumentarium ästhetischer Symbole zu entwickeln. -Z-s Karikaturen heben sich durch eben diese ästhetische Neuerung, durch diese „grammaire iconographique“ (Boëx 2013) als Mittel visuell-politischer Kommunikation hervor. So zeichnet sich -Z-s Ikonographie durch eine in Tunesien bisher unbekannte, visuell-ästhetische sowie symbolische Komplexität aus (vgl. Said 2017: 228). Die komplexe Bildsprache entsteht nicht nur in den farbenfrohen Zeichnungen selbst, sondern insbesondere im Zusammenspiel mit den zumeist umfangreichen Begleittexten, die der Karikaturist zu seinen Bildern liefert. Seitdem er diese auch auf Facebook179 verbreitet, wird die Karikatur von einer Kurzbeschreibung und einem Hyperlink zu einem längeren Kommentartext auf seinem Blog begleitet. In der vorliegenden Karikatur vom 27. Oktober 2013 (vgl. Abbildung 58) wird der Facettenreichtum des bildlichen Universums in den Karikaturen einsehbar. So wird hier eine Frau gezeigt, die in einem aufreizenden roten Kleid auf einem Bett liegt. Ihre Nase weist eine besondere, gezackte Form auf. Umgeben ist sie von mehreren Männern, welche sich teilweise auf dem Bett aufhalten, teilweise unter diesem hervorkommen.
178 Rania Said weist darauf hin, dass neben der üblichen Hacking-Angriffe auf den Blog DEBATunisie ebenso auch die Theaterregisseurin Fatma Riahi verhaftet wurde, als sie die Karikaturen über Facebook weiterverbreitete (vgl. Said 2017: 231 f.). 179 Sein Nutzerprofil wurde mehrfach gesperrt und gehackt, sodass die Aktivität der aktuell einsehbaren Seite nur bis April 2011 zurückführt (vgl. www.facebook.com/DEBATunisie , Stand: 15.04.2018).
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Abb. 58: Facebook-Seite DEBATunisie, Chronikfoto, veröffentlicht am 27.10.2013.
An ihrer Seite befinden sich ein bärtiger Mann, der – ausgehend von der Fotografie über dem Bett – als ihr Ehemann vorgestellt wird, sowie ein Mann in der Uniform polizeilicher Würdenträger. Auf der Familienfotografie über dem Bett befindet sich der barttragende Mann neben der – mit einem Schleier verhüllten – Frau. Weiterhin befindet sich an der Wand die Trophäe eines Stierkopfes, unterschrieben mit dem Begriff „Révolution“. Beide Männer wenden sich der Frau mit Begierde zu. Hinter dem bärtigen Mann befinden sich drei weitere Männer, jeweils mit Bart abgebildet, welche eine schwarze Flagge, ein Kondom und einen Koran mit sich führen. Im Bildvordergrund, auf Seiten des Polizisten, sieht man drei Männer in violetter Kleidung, die ein Porträt des Ex-Präsidenten Ben Ali halten. Zudem sieht man einen mit Sturmhaube und Maschinengewehr ausgestatteten Mann. Überschrieben ist die farbige Grafik mit dem Satz: „Tunesien zwischen zwei Wahlmöglichkeiten“. Der textuelle Kommentar verdeutlicht, dass die dargestellte Frau allegorisch Tunesien repräsentiert („Dame Tunisie“). Dies wird visuell durch die Form der Nase dargestellt, welche die Umrisse der Landesgrenzen aufweist. -Z-s Darstellung entfernt sich jedoch deutlich von klassischen weiblichen Nationalallegorien (vgl. Falkenhausen 2000). Die „Dame Tunesien“ wird als üppige, etwas unbeholfene, meist von Männern begehrte und/oder misshandelte Frau dargestellt. Tunesien wird folglich als instabile, schwache, umkämpfte Nation konzipiert. Im Bild-
310 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution beispiel steht „Dame Tunesien“ zwischen zwei Fronten, die in der Beschreibung als „Zaba“ und „Zaballah“ vorgestellt werden. „Zaba“ ist innerhalb der tunesischen Kultur leicht verständlich und zuordenbar. Mit dem Spitznamen wurde Ben Ali zu Zeiten seiner Herrschaft bezeichnet. -Z- wiederum benennt durch den Namen nicht nur den ehemaligen Präsidenten, sondern auch seine Anhängerschaft – von Regierungsmitgliedern bis hin zu opportunistischen Journalisten. Angezeigt wird diese ideologische Gruppe durch mehrere Symbole, die den Männern im Bildvordergrund zugeordnet werden (Herrscherporträt und violette Anzüge). Dominanter Protagonist ist wiederum ein ranghoher Polizist, welcher der Dame näherkommt. Der Topos einer korrupten und nach wie vor dem ehemaligen Präsidenten verbundenen Polizei zieht sich als tragendes Element durch die Karikaturen. -Z- fügt hier ein weiteres Element in Form des verhüllten Mannes ein, welcher einerseits als Militär, andererseits als Terrorist gesehen werden kann. Allenfalls verkörpert diese Figur eine Waffengewalt, welche sich – verdeckt und lediglich angedeutet durch die unter dem Bett herausragenden Waffen und Blutflecken – unter dem Bett abspielt. Gewalt, politischer Opportunismus sowie polizeiliche Willkür werden folglich dem ideologischen Erbe der Ben-Ali-Regierung zugeordnet. Dem gegenüber steht „Zaballah“, womit eine Gruppe von Islamisten bezeichnet wird. Als deren Anführer wird der Politiker Rached Ghanouchi, Vorsitzender der Partei Ennahdha, gezeigt. Die Symbole des Korans und der schwarzen Flagge verweisen auf den politischen Islam und dessen ideologische Ausrichtung. Der Name „Zaballah“ greift den Begriff „Zaba“ (als Verkörperung einer autokratischen Herrschaft) auf und fügt den muslimischen Gottesnamen hinzu. Die Islamisten werden bei -Z- folglich nicht als seriöse, politische Kraft konzipiert, welche für ihre Ideale eintritt, sondern als apodiktisch-ideologische Gruppe, welche ebenso wie das ehemalige Regime nach der Macht über das tunesische Volk strebt. Der Widerspruch zwischen Machtstreben und der religiösen Ausrichtung der Gruppe wird visuell durch die Promiskuität der lüsternen Männer (und entsprechende Symbole wie dem Kondom) und der bildlichen Gegenüberstellung von Hochzeitsbild (die – muslimisch – verschleierte Frau und ihr ‚Ehemann‘ Ghanouchi) und der übergriffig-sexualisierten, realen Situation im Bett angezeigt. Die Bildbeschreibung schildert, dass nach der „Vermählung“ der Nation mit dem islamistischen Anführer der Partei Ennahdha bzw. ihrer Ideologie am 23. Oktober 2011 (dem Tag der Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung und Übergangsregierung), Tunesien nun zunehmend von ihrem „Auserwählten“ „angewidert“ sei. Dies sei einerseits der (politischen) Inkompetenz und Unfähigkeit des Politikers geschuldet, andererseits einer Verschlechterung der finanziellen Situation des Paars. Der symbolischen Dimension der Karikatur folgend, ist das Volk enttäuscht von den politischen Qualitäten der machthabenden Partei
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und steht so vor der Frage, ob es sich erneut der Ideologie und den Repräsentanten des damaligen Regimes von Ben Ali zuwendet. Alternativen zu dieser Entscheidung werden dabei nicht vorgestellt. Der Stier, welcher als klassisches Symbol für Stärke, Entschlossenheit und Zorn (vgl. Orth 1929) die treibende Kraft und die Ideale der Revolution verkörpert,180 hängt enthauptet und entmachtet als Trophäe und Quasi-Legitimation der Vermählung des Landes mit dem Islamismus, an der Wand. -Z- schafft mit diesen symbolischen Darstellungen ein komplexes Bild der aktuellen politischen Situation des Landes. Die politische Landschaft unterteilt -Z- in zwei ideologische Blöcke. Während die Islamisten als hegemoniale und willkürliche Gruppierung gefasst werden, bezeichnet -Z- die säkularen Kräfte (welche u. a. die Partei des machthabenden Präsidenten Marzouki, den neu gegründeten Nidaa Tounes sowie die Linken von Ettakatol und der Front Populaire einschließen) als politische Rückkehr zum Regime Ben Alis. In seinen Karikaturen greift -Z- dementsprechend auf teilweise stereotypisierende und reduktionistische Konzeptionen zurück, welche nur bedingt der heterogenen Realität der Landespolitik sowie der komplexen ideologischen Lage innerhalb der Bevölkerung entsprechen (vgl. Fakhfah und Tlili: 159). Die Legitimation dieser reduktionistischen Darstellung der säkularen Parteien als Rückkehr in die Ideologie des Regimes von Ben Ali beschreibt -Z- erst im entsprechenden Blogbeitrag zum Bild.181 Dort kontextualisiert er die Karikatur im Rahmen der letzten Anschläge auf die tunesische Polizei, wodurch diese unter säkularen Politikern als nationale Kraft bewertet wurde. Der Karikaturist wiederum betont, dass eine solche Überbewertung der Polizei in einer „Restauration des altbekannten Sicherheitskonzepts aus der ‚Zaba‘-Ära“ resultiere. Diese visuell-textuelle Simplifizierung ist Teil der Strategie einer politischen Kommunikation. Die Karikaturen -Z-s dienen insbesondere der Anklage sowie als Denkanstoß für eine Reflektion der aktuellen, politischen Situation. So verweist -Z- selbst in seinem Blogbeitrag darauf, dass die Tunesier vermeiden müssten, der aktuellen Politik „blind“ zu begegnen: „Meine Freunde, lasst uns alle Toten dieses Planeten beweinen und niemanden dabei vergessen, Polizei und Salafisten inbegriffen. Aber wird sollten darauf achten, dass uns der Affekt nicht blind macht.“ (Übersetzung des Autors) Die Anbiederung der tunesischen Bevölkerung
180 Neben der Tiersymbolik des Stiers nutzt -Z- zudem die klangliche Ähnlichkeit der arabischen Begriffe für „Stier“ („altawr“) und „Revolution“ („althawra“) um eine metaphorische Lesart herzustellen. 181 Blogeintrag auf DEBATunisie vom 27.10.2013: Dame Tunisie entre Zaba et Zaballah, online unter: www.debatunisie.com/archives/2013/10/27/28303539.html (Stand: 16.04.2018).
312 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution gegenüber „faschistischen“182 nationalen Kräften, ob nun verdeutlicht durch die Sicherheitspolitik der Säkularen oder die Gewalt der Islamisten, wird visuell durch das Wanken der „Dame Tunesien“ zwischen zwei Männern ausgedrückt. -Z- verbindet demnach seine Kritik der politischen Kräfte mit einer Anklage der tunesischen Bevölkerung, ähnlich der zumeist als mütterliche Dame repräsentierten Nation, gegenüber den politischen Blöcken zu offenherzig zu sein und sich manipulieren zu lassen. Im Interview präzisierte -Z-, dass ebendieses Spiel mit der Darstellung der Nation als Dame entscheidend sei für eine deutliche politische Haltung: „Tunesien, das ist eine sexuelle Frau, aber im Sinne von mütterlich und fruchtbar. Sie ist nicht die Frau, mit der man schläft. Aber ich zeige, dass es sexuell missbraucht wird, dieses schöne Tunesien.“183 Diese Form symbolischer Abstraktion und simplifizierender visueller Darstellung bei gleichzeitiger narrativer Dichte drückt ebenso -Z-s Tendenz zur Provokation in seinen Bildern aus, eine Provokation, die er bezüglich des Falls von Amina Sboui als essentielle Handlung der Kritik sieht, „es geht darum, die Grenzen des Möglichen zu verschieben für die Menschen, welche die gesellschaftlichen Strukturen in Bewegung bringen wollen.“184 So verwendet -Z- die Ambivalenz der Karikatur zwischen Provokation und Humor, um die kognitiven Bedeutungsstrukturen der Gesellschaft aufzubrechen: Wenn ich unter Ben Ali ein Bild veröffentlichte, hatte ich ein Ziel, entweder die Menschen zum Lachen zu bringen, oder sie zu schockieren. Um ihre Denkstrukturen durcheinanderzubringen, diese Dinge, in denen sie seit Jahren denken, um ihnen zu zeigen, dass es auch andere Ideen und eine Offenheit gibt. […] Ich beanspruche eine Form der Transgression in den Dingen, die ich tue. Eine Art der Provokation.185
Diese Provokation äußert sich darin, dass -Z- in seinen Karikaturen die Möglichkeiten des Darstellbaren stets ausreizt und dadurch mit den visuellen (oder generell kommunikativen) Normen der tunesischen Kultur bricht. Dies wird beson-
182 -Z- benutzt diesen Begriff im Rahmen seines Blogartikels: „Pour nombre de nos compatriotes, la solution au fascisme est le fascisme. C’est Zaba ou Zaballah.“ 183 „La Tunisie, c’est une femme sexuelle, mais dans le sens maternel, fécond. C’est pas celle qu’on doit baiser, parce que je montre qu’elle se fait baiser, cette belle Tunisie.“ Interview Hasni und -Z-. 184 „C’est comme reculer un peu les limites du possible pour les gens qui essaient de faire bouger les lignes.“ Interview Hasni und -Z-. 185 „[S]ous Ben Ali, quand je publiais une image, moi, j’avais un objectif, c’était soit faire rire, soit choquer, pour bousculer l’esprit des gens, les trucs dans lesquelles ils sont enfermés depuis des années, pour leur montrer qu’il y a d’autres idées, une ouverture. […] Moi je revendique une forme de transgression dans ce que je fais. Une forme de provocation.“ Interview Hasni und -Z-.
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ders deutlich an der kohärenten Verbindung von Sexualität, politischer Macht und Religion (sexueller Missbrauch der Nation, Gleichsetzung säkularer, religiöser und patriarchalischer Macht durch die Begriffe ‚Zaba‘, ‚Zaballah‘ und ‚Zaab‘): Dahinter stecken tatsächlich die drei großen Tabus der tunesischen Gesellschaft und generell der arabischen Welt. Das sind der Sex, die Macht und Gott. Denn ‚Zaba‘, das ist die Polizeimacht, die Macht der Diktatur, ‚Zaballah‘ ist der Typ, der die Diktatur mit Allah und Gott verbindet, und ‚Zaab‘ ist das Sexuelle. In Tunesien haben wir die Revolution nicht zu Ende gebracht, bis nicht auch eine sexuelle Revolution stattgefunden hat. Deshalb ist bei mir das Sexuelle sehr präsent, sogar in vulgärer Weise. Ich zeichne immer Brüste, Hinterteile und solche Dinge. […] Die politische Revolution reicht nicht aus, wenn wir nicht auch eine sexuelle Revolution und eine Revolution der Religion unternehmen.186
So zeichnen sich die Karikaturen von -Z- als stete Grenzüberschreitungen innerhalb des tunesischen Kulturprogramms und sogar durch ihre Umstrittenheit innerhalb des säkularen Kulturprogramms des Protests aus. Besonders deutlich wird dies an einer der meistdiskutierten Abbildungen, welche am 13. Mai 2012, anlässlich einer Huldigung des Parteivorsitzenden der Ennahdha, Rached Ghannouchi, durch den Imam der Zeytouna-Moschee in Tunis veröffentlicht wurde (vgl. Abbildung 59). Unter der Bildüberschrift: „Ghannouchi auf den Rang des Wegbegleiters des Propheten erhoben!“,187 zeigte der Karikaturist die drei Propheten der monotheistischen Religionen – Moses, Jesus Christus und Mohammed – auf einer Couch sitzend. Sie betrachten einen Bildschirm, auf dem – in karikaturesk überzeichneter und deformierter Weise188 – das Gesicht Ghanouchis zu sehen ist. Über Sprechblasen werden den Propheten Aussagen zugeschrieben. Während Jesus Christus
186 „En réalité, derrière cela, c’est les trois grands tabous de la société tunisienne et du monde arabe en général. C’est le sexe, le pouvoir et Dieu. Parce que « Zaba » c’était le pouvoir policier, le pouvoir de la dictature, « Zaballah » c’est le gars qui mélange la dictature avec Allah, Dieu, cela fait « Zaballah », et « Zaab », c’est le cul. En Tunisie, on n’aura pas fait la révolution jusqu’au but, si on n’a pas fait notre révolution sexuelle. C’est pour cela que moi, dans ma provocation, le sexe est très présent, même d’une manière vulgaire, je dessine toujours des seins, des culs, des machins. […] La révolution politique elle ne suffira pas si on ne fait pas de révolution sexuelle et la révolution contre la religion.“ Interview Hasni und -Z-. 187 „Ghannouchi élevè (sic!) au rang de compagnon du Prophète!“ 188 So zeichnen sich Karikaturen – im Gegensatz zum Comic beispielsweise – durch groteske Übersteigerung, insbesondere auf der Darstellungsebene – aus: „The term ‘caricature’ has been employed to indicate exaggerated representation of the most characteristic features of persons or things, and, as noted, in a satirical manner. It could then be stated in a formal fashion that pictorial ‘caricature’ pertains to grotesque or ludicrous representation of scorn or ridicule of human vices or follies and exaggeration of their most characteristic features by means of graphic images.“ (Streicher 1967: 431).
314 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution den Propheten Mohammed befragt, ob dieser Typ für ihn gearbeitet habe 189, antwortet Mohammed: „Sein Gesicht sagt mir überhaupt nichts.“190 Überspitzt und humorvoll hinterfragte -Z- dadurch die obskure, durch den Imam hergestellte und in Medien verbreitete Verbindung von Politik mit religiöser Legitimation.
Abb. 59: Facebook-Seite DEBATunisie, Chronikfoto, veröffentlicht am 13.05.2012.
An der expliziten (und ebenso wie bei den anderen beiden Propheten im Zeichenstil -Z-s deformierten) Darstellung des Propheten Mohammed in der Karikatur entfalteten widersprüchliche Lesarten. Diese Kontroverse entzündete sich im semiotischen Zwischenbereich zwischen denotativer und konnotativer Ebene des Bildes, anhand des scheinbaren Gegensatzes zwischen dem, was das Bild visuell zeigt (Denotation), und dem, was es damit bedeuten will (Konnotation). Dies steht in einem Gegensatz zu Stuart Halls Konzeption des ideologischen Decodings,191 welches sich auf der konnotativen Ebene des Zeichens verortet lässt. Obgleich Hall betont, dass die Trennung zwischen Denotation und Konnotation nur mehr eine analytische und keine essentielle sein kann, distinguiert er beide Ebenen, um abweichende, ideologisch geprägte Lesarten hinsichtlich der Konnotation fassen zu können:
189 „Il a bossé pour toi, ce mec?“ 190 „Sa gueule ne m’évoque rien du tout!“ 191 Vgl. Kapitel II.3.
Konstruktionen und Dekonstruktionen an den Grenzen von Kulturprogrammen 315 The so-called denotative level of the televisual sign is fixed by certain, very complex (but limited or ‘closed’) codes. But its connotative level, though also bounded, is more open, subject to more active transformations, which exploit its polysemic values. Any such already constituted sign is potentially transformable into more than one connotative configuration. (Hall 2007: 513)
Stuart Hall leitet aus dieser konzeptuell-epistemischen Trennung zwischen Denotation und Konnotation drei mögliche Lesarten auf Ebene des Decodings – der Rezeption des Zeichens – ab. In einer dominant-hegemonialen Lesart dekodiert der Rezipient die konnotative Ebene des Zeichens ausgehend von der vorherrschenden Code-Struktur, also dem anvisierten Kulturprogramm des Produzenten oder Senders (vgl. Hall 2007: 515 f.). Mit der aushandelnden Lesart, welche insbesondere in partikularen Anpassungen hinsichtlich des dominanten Codes besteht, sowie der, drittens, oppositionellen Lesart, welche in Kenntnis der laut dominantem Code intendierten Konnotation und dennoch in einer grundsätzlich verschiedenen Lesart besteht, eröffnet Hall die Option einer Abweichung in der Rezeption von Zeichen, die eng mit der Zugehörigkeit zu einem (minoritären oder am gesellschaftlichen Rand verorteten) nicht-dominanten Kulturprogramm verbunden ist. Von dieser Perspektive wird im angeführten Beispiel abgewichen. So sind Stuart Halls Konzepte tragfähig, solange es sich um ein Medienkommunikat innerhalb der (bereits durch dominante Institutionen einer Kultur und Politik konstituierten) Massenmedien handelt. Im vorliegenden Beispiel hingegen trug -Z- seinen Diskurs aus einem kulturellen Randbereich in das Zentrum der Semiosphäre. So waren seine Karikaturen zu diesem Zeitpunkt bereits in vielen Bevölkerungsschichten des Landes bekannt und wurden insbesondere auf Facebook rezipiert. Die Prominenz der Karikaturen wird anhand der Reaktionen auf das Bild deutlich. Der Inhalt wurde 1220 Mal weiterverbreitet, es wurden 760 Gefällt-mir-Reaktionen ausgesprochen und 185 Kommentare begleiten das Bild. Trotz dieser vergleichsweisen großen Leserschaft entstammen -Z-s Karikaturen in zweierlei Hinsicht einer kulturellen Peripherie. Einerseits repräsentierte das Bild dezidierte Tabuthemen der tunesischen Gesellschaft und wich in dieser Hinsicht von dominanten Diskursen des kulturellen Zentrums ab. Andererseits gehört -Z- der Bewegung einer regimekritischen, tunesischen Diaspora an, welche sich bereits seit Beginn der 2000er Jahre in einem klaren, internetbasierten Aktivismus gegen dominante Herrschaftsordnungen des Landes auflehnte (vgl. Lecomte 2009). Als diasporische Gruppe agierten die Mitglieder trotz ihrer Kenntnis der tunesischen Semiosphäre aus einem geografischen Außen heraus, wodurch sie vor allem der politischen Zensur und physischen Repression entgehen und schärfere Kritik üben konnten. Allerdings sind sie dadurch Teilnehmer zumindest zweier nationaler Kulturprogramme (eines tunesischen und eines zumeist ,westlichen‘ – der engere Kreis der aktivistischen Diaspora lebte und agierte in
316 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution Frankreich, Großbritannien, Belgien und Deutschland) und übte einen gewissermaßen transnationalen Aktivismus (vgl. Pries 2015) aus. Im gezeigten Bildbeispiel nun kommt diese zweifach-periphere Stellung der Karikaturen zum Tragen. -Z- bringt eine Kritik aus dem kulturellen Rand ein, welche basale Bedeutungsstrukturen (deren Stellenwert dadurch klarer wird, dass sie mit einem kommunikativen Tabu belegt sind) innerhalb der tunesischen Semiosphäre thematisiert und kritisiert. Die Reaktionen, die insbesondere über die Kommentare zum Bild erfolgten, beschrieben demnach eine hinsichtlich der Lesarten von Stuart Hall verkehrte Dynamik. Es dominiert die Gruppe der Rezipienten, welche trotz der klaren Verortung der Zeichnung als Karikatur zu einer Rezeption auf Ebene der Bilddenotation und Sprichwörtlichkeit neigt: Die konnotative Ebene der bildlichen Kritik, des in den Figuren der Propheten entwickelten Humors sowie der Ironie wird nicht wahrgenommen. Im Vordergrund der zumeist diffamierenden Kommentare steht die Abbildung des Propheten, die laut einer Koraninterpretation verboten sei. Diese quasi-magische Lesart der Karikatur entspricht den Wahrnehmungs- und Sichtbarkeitsverhältnissen der tunesischen Semiosphäre. Die daraus entstehende Ablehnung und Alterisierung -Z-s Zeichnungen wird an einem Kommentar einer Nutzerin deutlich: Wie widerwärtig! Und das nennen Sie dann Meinungsfreiheit!! Die Kritik an einem Politiker gibt Ihnen nie das Recht, den Propheten in einer Karikatur abzubilden!! Sie überschreiten alle Grenzen und sind dabei dann auch noch schlecht.192
Das an Zeichen exerzierte Othering -Z-s (vgl. Brons 2015), das Zurückdrängen seiner Bilder an den Rand oder bestenfalls jenseits der Grenzen der Semiosphäre, erfolgt über die Kritik einerseits der denotativen Darstellungsverhältnisse, andererseits der ästhetischen Qualität des Bildes. Eine solche Ablehnung verfolgt das Ziel, nicht nur die Bedeutungsstrukturen innerhalb der Semiosphäre zu sichern und zu affirmieren, sondern zugleich auch die Strukturen der Sichtbarkeit zu fixieren, die Deutungs- und Darstellungshoheit der als dominant wahrgenommenen Kultur zu behaupten und derartige Überschreitungen zu unterbinden. Sie dient folglich nicht der Kritik oder Abweichung von einer dominanten Sichtweise, sondern deren Affirmation. Wird diese Gruppe von Lesarten auf das Konzept Halls zurückgeführt, so liegen hier zwar oppositionelle Lesarten vor, die jedoch die Dominanz des vorherrschenden visuellen Systems entgegen der intendierten Bedeutung des Karikaturisten bestätigen.
192 „Quelle bassesse ! c’est ce qui vous appelez la liberté d expression!! la crititique d’un homme politique ne vous donne jamais le droit de caricaturer les prophètes!! vous dépassez toutes les limites et vous etes méme nuls en ca (sic !).“
Konstruktionen und Dekonstruktionen an den Grenzen von Kulturprogrammen 317
Eine weitere Gruppe von Kommentaren kommt der aushandelnden Lesart nach Hall nahe. Diese Positionen würdigen die generelle Aussage der Karikatur, erkennen die Komplexität ihrer konnotativen Ebene an und bestätigen die kritische und dadurch wichtige Funktion der Karikatur. Beispielhaft kann hierzu der Kommentar eines Nutzers zitiert werden: Ich weiß nicht, weshalb man die Sachen nicht ordentlich machen kann, warum man einen Fehler macht, der dazu führt, dass von der wichtigen Botschaft und den kritisierten Punkten abgelenkt wird. Es ist sehr gut, dass du dieses ‚ta9dis‘ [die Erklärung einer Person zum Wegbegleiter Mohammeds, JE] als eine regierungsamtliche Handlung, als eine Zuschreibung auf eine Person, die zwar eine bestimmte Macht hat, allerdings kein Regierungsamt innehat und somit nicht das Recht hat, so ausgezeichnet zu werden, kritisierst. Aber anstatt bei dieser Kritik aufzuhören, musst du natürlich damit spielen, den ‚Propheten Mohammed‘ zu sehr zu repräsentieren. Als Muslim kann ich das nicht akzeptieren, da es, ob man nun will oder nicht, ‚haram‘ ist. […] Aus religiöser und sozialer Sicht ist es nicht akzeptabel und auch nicht intelligent.193
Die Aushandlungsprozesse in diesen Kommentaren sind insofern relevant, als auch hier das bestehende Codesystem der tunesischen Kultur affirmiert wird: Eine solche Darstellung, auch wenn die darin kommunizierte Kritik vollkommen gerechtfertigt und wichtig sei, stelle dennoch auf denotativer Ebene und insbesondere in der Konfrontation mit dem in Tunesien vorherrschenden Kulturprogramm, eine „religiös und sozial“ inakzeptable Form der Visualisierung dar. Diese Lesart verfährt, obgleich sie die Mittel der Karikatur und die Aussage des Bildes anerkennt, ähnlich wie die zuvor beschriebene Interpretation: Die denotative und konnotative Ebene des Bildes werden voneinander gelöst, wodurch die bildliche Darstellung einer Kritik unterzogen werden kann. Es wird an diesen Lesarten, die ausgehend von den Kommentaren eine mehrheitliche Wahrnehmungsweise darstellen, deutlich, inwiefern die politischen Karikaturen -Z-s an die Grenzen der Sichtbarmachung innerhalb des tunesischen Kulturprogramms geraten. So konstruierte der Karikaturist einerseits durch diese gezielte, bildliche Provokation seine Position als ein kulturell Randständiger. Andererseits führte sie im konkreten Fall zu einer mehrheitlichen
193 „[J]e ne sais pas pourquoi on ne peut pas faire les choses proprement, pourquoi il faut faire l’erreur qui sera un prétexte pour détourner le vrai débat et les points critiqués. c’est très bien tu as critiqué voire même ridiculiser cet acte de »ta9dis« une personne qui a pris une décision gouvernemental une personne qui a un certain pouvoir alors que normalement elle n’occupe aucun poste et n’a pas le droit de faire ça. mais au lieu de s’arrêter là il faut bien sur faire le truc de trop »représenter sayed na mohamed« franchement en temps que musulman je ne l’accepte pas parce que qu’on le veuille ou non c’est hram […] religieusement e socialement ce n’est pas acceptable et même intelligemment […].“
318 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution Bestätigung dieser Alterität, indem seine Darstellung sowie auch seine Funktion als Karikaturist in einer außenstehenden, kulturell-symbolischen Sphäre verortet werden. An der Menge dieser Reaktionen und an der Verbreitung des Bildzeichens wird deutlich, inwiefern hier eine kulturelle Ächtung durch die visuelle Grenzüberschreitung gerechtfertigt wird. Positionen, die die Tiefe der Reflektion innerhalb der Karikatur loben und zugleich die Darstellungsebene als berechtigt ansehen, sind in der Minderzahl. Indem sie die dominante Lesart zur Karikatur einnehmen, führen sie eine neue Sichtweise innerhalb ihrer Semiosphäre ein, verbreiten die bildliche Kritik und befördern dadurch neue semiotische Kopplungen innerhalb der Sinnstrukturen ihres Kulturprogramms. So greift ein Nutzer die Aussage der Karikatur auf und bezieht diese erneut auf den Vorwurf einer bildlichen Blasphemie: „Ich denke, das Foto (sic!) ist gelungen. Die wahre Blasphemie ist nicht das Foto (sic!), sondern der Vergleich Ghannouchis mit einem Wegbegleiter des Propheten!“194 Die Überschreitung von bildkulturellen Grenzen ist neben der Etablierung eines umfassenden visuellen Figuren- und Metaphernarsenals ein entscheidendes Moment des widerständigen Potentials in -Z-s Karikaturen. Der Karikaturist visualisiert durch die Übertreibung, stereotype Darstellung und insbesondere durch das Ausreizen der Grenzen des Darstellbaren die „anomalies d’un système“ (Fakhfah und Tlili 2013: 160). Gleichzeitig eröffnet er ein Spiel mit der Bedeutungskonstruktion durch die Rezipienten. Die Grenzüberschreitung führt zu einer klaren Positionierung der Betrachter zwischen den das dominante System stützenden, verhandelnden und zuletzt die widerständige Aussage der Karikatur stützenden Lesarten, spielt zugleich mit den Reaktionen und damit verbundenen Debatten über die Aussage der Karikatur innerhalb der Kommentarspalte. Im konkreten Beispiel führten letztendlich die Meinungen der Nutzer zu einer Verifikation der Bildaussage. Die „Anomalien“ der tunesischen Gesellschaft liegen nicht nur darin, dass es Verschränkungen zwischen religiöser und politischer Macht gibt, sondern dass diese aufgrund kommunikativer Tabus nicht thematisiert werden dürfen. Die textuellen Kommentare zu Karikaturen wirken folglich auf die Bildaussage zurück, erhöhen die provokative Wirkung, eröffnen allerdings auch reflexive, gesellschaftskritische Ebene. In diesem Sinne erweitern die Reaktionen der betrachtenden Nutzer die Bildaussage und verstärken die polemisierende und reflexive Wirkung der Karikatur. Dadurch wird trotz der traditionellen Sichtweisen innerhalb der Kommentare die semiotische Struktur
194 „Je trouve que la photo est réussi. Le vrai blasphème n’est pas la photo mais la comparaison de Ghannouchi au rang de compagnon du prophète!“
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des Kulturprogramms gestört, während zugleich interpretationsbasierte Gemeinschaften gebildet werden. Der Aspekt der Gemeinschaftsbildung durch bildliche Gestaltung und vor allem provozierende Bildinhalte wird zudem unterstützt durch den ironischen und humorvollen Ton der Karikaturen von -Z-. Insbesondere die vielfältigen Figuren seines visuellen Universums erlauben es, Brüche mit visuellen Regimes, harsche Stereotypisierungen und eine oftmals diffamierende Gesellschaftskritik zugänglich und nachhaltig zu kommunizieren. So schuf der Karikaturist mit der kollektiven Figur der Ben Simpsons, einer typisch bourgeoisen Familie des tunesischen Mittelstands, das Abbild einer großen, teilweise opportunistischen und revolutionärer Handlung fernen Gruppe innerhalb der tunesischen Gesellschaft. Den Namen sowie ihr visuelles Aussehen entlehnte der Karikaturist der popkulturell bedeutenden, zumeist oft bissig-satirischen Zeichentrickserie The Simpsons, und passte sie durch den parentalen Präfix ‚Ben‘ an eine tunesische Realität an. Anhand dieser symbolischen Familie eröffnet -Z- eine Gesellschaftskritik, die einen Großteil seiner Leserschaft direkt trifft.195 Dies kann an einer Karikatur verdeutlicht werden, welche knapp zwei Wochen nach dem Mord an Chokri Belaid, unter dem Titel: „Die Ben Simpsons singen nun die Internationale“,196 veröffentlicht wurde (vgl. Abbildung 60). Darin sieht man die singenden vier Hauptcharaktere der Ben-Simpson-Familie 197 vor einem Fernsehgerät. Durch den Bildtitel sowie die textuellen Inschriften im oberen Bereich des Bildes wird deutlich, dass die Protagonisten das Arbeiterkampflied Die Internationale anstimmen. Als Anlass dieses Gesangs wird das Porträt von Chokri Belaid im Fernsehgerät gezeigt. Die Putzkraft im Bildvordergrund fungiert als Gegenfigur aus einer anderen gesellschaftlichen Schicht und wird entsprechend nicht gemäß der Ästhetik der Simpsons-Comics dargestellt. -Zzielte mit dieser Karikatur auf den Opportunismus der tunesischen Mittelschicht ab, welche im Moment des Todes eines linken Politikers dessen politische Ideologie vereinnahmte. Dass der Karikaturist damit eine kritische Analyse der seinen Positionen anhängenden Rezipienten lieferte, wurde durch die humoristische Übertreibung
195 So gehören -Z-s Karikaturen zu einer Klasse von Bildzeichen auf Facebook, welche hauptsächlich von einer gebildeten Mittelschicht rezipiert werden. Dies liegt einerseits an der Nutzung der französischen Sprache (vgl. Said 2017: 230 f.), andererseits an der narrativen und symbolischen Komplexität der Bilder (vgl. Fakhfah und Tlili 2013). 196 „Les Ben Simpsons se mettent à chanter l’Internationale“. 197 Diese stimmt hinsichtlich der Darstellung nahezu komplett mit dem Vorbild des Zeichners Matt Groening überein. Lediglich der Familienvater – im Original Homer Simpson – wird hier durch den Kopfschmuck der Chechia als Tunesier markiert.
320 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution abgeschwächt. Diese wird in der Figur der Putzkraft bildlich greifbar gemacht, die durch ihre Gesten die Absurdität des kollektiven Handelns ausdrückt. Der Humor des Bildes entsteht hierbei in der ironischen Dekonstruktion einer kollektiven Haltung, welche zu diesem Zeitpunkt durchaus prominent innerhalb der tunesischen Mittelschicht war. Die plötzliche Zuwendung zu einer linken Politik, ausgelöst vom Tod eines ihrer Vertreter, wird überspitzt dargestellt, indem den Protagonisten das Kampflied der proletarischen Internationale in den Mund gelegt wird. Laut Bildtext („Nach den Sufi-Gesängen entdecken die Ben Simpsons nun: Die Internationale“) eignen sich die trägen und politikfaulen Mitglieder der Mittelschicht vorherrschende politische Positionen an – vom konservativen Islamismus bis zum linken Panarabismus.
Abb. 60: Facebook-Seite DEBATunisie, Chronikfoto, veröffentlicht am 24.02.2013.
Während diese Ironisierung primär die Funktion einer zeitgenössischen Kritik erfüllt, dient sie weiterhin der Konstruktion einer ideologischen Gemeinschaft. So weist Hutcheon (2003) darauf hin, dass die Wirkung von Ironie hauptsächlich von kulturellen Codes und Kontexten abhängig ist und deshalb in allen gesellschaftlichen Schichten und allen politischen Ideologien auftreten kann: [T]he cultural competence that interpreters are said to need might be more a matter of overlapping discursive communities between both participants. In a sense, then, it would be less a matter of the competence of one than of what Dan Sperber and Diedre Wilson have called the relevance of the context to both. (Hutcheon 2003: 96)
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Indem eine ironische Mitteilung als Kommunikationsakt in besonderer Weise der kommunikativen (und semiotischen) Kompetenz der Mitglieder einer „Diskursgemeinschaft“198 zu deren Entschlüsselung bedarf, ist sie nicht nur in der Relation zwischen dem dargestellten und dem nicht dargestellten Sinn zu verorten, sondern vor allem in den relationalen Gefügen und kollektiven Sinnbildungsprozessen einer Gesellschaft. Irony is a relational strategy in the sense that it operates not only betweenmeanings (said, unsaid) but between people (ironists, interpreters, targets).Ironic meaning comes into being as the consequence of a relationship, a dynamic, performative bringing together of different meaning-makers, butalso of different meanings , first, in order to create something new and, then […] to endow it with the critical edge of judgment. (Hutcheon 2003: 58)
In diesem Verständnis von Ironie als Spiel mit dem Gesagten und dem Nichtgesagten einerseits, der Zuweisung von sozialen Rollen und der Referenz auf das semiotische und kontextuelle Wissen einer „Diskursgemeinschaft“ andererseits, eröffnet sich die soziale Ebene von ironischer Kommunikation. Nach Hutcheon fungiert Ironie deshalb als Taktik einer politischen Legitimation oder Delegitimation (indem bspw. im Hinblick auf eine Diskursgemeinschaft andere Gruppen zum Ziel der Ironie werden, vgl. Hutcheon 2003: 10) und zugleich als konstituierendes Mittel zur Gemeinschaftsbildung, gegenseitiger Selbstversicherung innerhalb einer Gemeinschaft und Verstetigung sozialer Beziehungen innerhalb einer ideologischen Gruppe (vgl. Hutcheon 2003: 23). Die gemeinschaftsbildende Dimension der Ironie in den Karikaturen von -Zkonnte bereits in vorhergehendem Bildbeispiel als ein Wechselspiel aus Bedeutungsschaffung und der Verortung innerhalb eines Kulturprogramms verstanden werden. Im vorliegenden Beispiel nun wird deutlich, dass damit auch eine pragmatische Zielsetzung verfolgt wird: -Z- übt zwar generell Kritik an der Mittelschicht, der ein Großteil seiner Leser angehören. Indem er diese als Ziel der ironischen Attacke setzt, zugleich aber über das Verständnis des Humors und der Ironie im Bild eine „eingeweihte Gemeinschaft“ ausbildet, ermöglicht er es den individuellen Rezipienten, sich nicht als zugehörig zu dieser anvisierten Mittelschicht zu sehen. Die Ironie in der Karikatur, das Lachen über den Humor des Bildes gestatten es dem Rezipienten, sich vom eigenen Kulturprogramm (sei es die nationale Gesamtkultur oder das Subprogramm einer bürgerlichen Mittelschicht) – zumindest für den Moment der Rezeption – zu distanzieren. Erst diese
198 Die Notion der „Diskursgemeinschaft“ wird im Folgenden als eine durch ein gemeinsames Kulturprogramm verbundene Gruppe verstanden. Hutcheon selbst definiert die „Diskursgemeinschaft“ als „constituted by shared concepts of norms of communication“ (Hutcheon 2003: 99).
322 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution Distanzierung erlaubt eine kritische Sicht auf die inhärenten Sinn- und Sozialstrukturen der individuellen Lebenswelt.199 Im Rahmen der politischen Umbrüche von 2011–2013 wird der Humor, insbesondere die Satire der Karikaturen, demnach zu einem wichtigen Mittel der Lebensbewältigung. So beschreibt Mersal die Bedeutung des Humors während der nordafrikanischen Revolutionsbewegungen als ein überlebenswichtiges Mittel für die Bildung von Gemeinschaft, Solidarität und kollektiver Handlung: If every joke is a tiny revolution, as George Orwell once wrote, perhaps we have resisted humiliation by humiliating the sources of oppression; perhaps humor helped us survive the nightmare of a dictatorship. (Mersal 2011: 670)
Auch im Nachfeld des politischen Umsturzes von 2011 hielt sich die humoristische Kommunikation innerhalb der Massen- und Individualmedien, innerhalb der Alltagsgespräche und nicht zuletzt der Karikaturen. Die individuelle Distanznahme erfolgt demnach nicht nur in kritischer Absicht gegenüber der eigenen Kultur und der alltäglichen Politik des Landes, sondern auch hinsichtlich der eigenen Alltagsrealität und ihrer Schwierigkeiten. Die Karikaturen verbinden damit eine individuell lebensweltliche mit einer politischen Dimension und erlauben es, durch Humor Hoffnung zu schöpfen und zugleich Ansätze für kritisches politisches Handeln zu finden (vgl. Fakhfah und Tlili 3013: 153). Der Karikaturist wird in diesem Sinne zu einem Hoffnungsträger, Weltvermittler, Alltagskommentator und zugleich Erzähler des (politischen) Geschehens stilisiert. Trotz der mokierenden und provokativen Inhalte, sagt die Künstlerin Rachida Amara im Interview, sei -Z- der Szenograph der Revolutions- und Postrevolutionszeit: Ihm gelingt es in besonderer Weise, all das aufzunehmen und zu Papier zu bringen, mit seinen Farben, seinen politischen Figuren, der Inszenierung des Bildes. Es ist wirklich ein Spektakel. Die Karikaturen von -Z- sind Theater, Szenographie, Farbe, Text, denn zudem fügt er ja immer einen schönen Text hinzu.200
Die Darstellungsebene der Karikaturen trägt neben den symbolischen Elementen zur kritischen Distanzierung des Rezipienten bezüglich der politischen Kultur
199 Hinsichtlich des Humors spricht Berger von der transzendentalen Wirkung dieser Kommunikation, wodurch die Alltagswirklichkeit verlassen werden kann (vgl. Berger 2014: 194–206). 200 „Donc il réussit à un degré très haut à capter ce côté, à le transmettre sur papier avec ses couleurs, et les personnages politiques, les mettre en scène. C’est vraiment un théâtre. Les caricatures de -Z-, c’est le théâtre, la scénographie, les couleurs, le texte, et en plus il ajoute un beau texte avec.“ Interview Rachida Amara.
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bei, indem sie durch Übertreibung, Ironie, groteske Deformierung und überraschende textuelle Einschübe ein Narrativ inszeniert, welches die Absurditäten, Fehlstellen und Anomalien des soziopolitischen Systems aufdeckt.
5.2 Ästhetische Innovation und die Malerei Während die Karikatur durch textuelle Benennungen, groteske Darstellungen und Übertreibungen die Grenzen der Darstellbarkeit und Bedeutungskon struktion innerhalb einer Semiosphäre ausweitet, zeichnen sich künstlerische Gemälde im medialen Raum des Social Networks Facebook durch subtilere Prozesse der Erweiterung von Blickverhältnissen aus. Es muss zunächst darauf hingewiesen werden, dass unter den untersuchten Bildzeichen lediglich zwei von praktizierenden Künstlern erstellte Werke signifikant Stellung zu zeitpolitischen Geschehen einnahmen und in dieser Funktion verbreitet wurden. Die Gemälde von Nidhal Chamekh und von Rachida Amara zeichnen sich zudem dadurch aus, dass sie in beiden Fällen Symbole sowie visuelle Signifikate des tunesischen Protests aufgreifen bzw. weiterentwickeln und dadurch eine dezidiert politische Kunst schaffen. Generell wurden Gemälde, Zeichnungen und Plastiken von praktizierenden Künstlern innerhalb von Facebook wenig verbreitet. Die bildende Kunst und die alltägliche Praxis professioneller Künstler standen selten im Vordergrund der Online-Diskurse. Eine Ausnahme stellt das Gemälde des jungen Künstlers Nidhal Chamekh dar (vgl. Abbildung 61). Eine konkrete Beschreibung, Kontextualisierung oder gar Kommentierung zum Bildinhalt erfolgte durch die veröffentlichende Facebook-Seite El Kasbah nicht. Ebenso wenig wurde der Titel des Bildes wiedergegeben, einzig auf die Herstellungsweise („acrylique sur toile“) wurde hingewiesen. Bei dem Bild handelt es sich um das Gemälde Le Juge (‚Der Richter‘) von 2010. Es entstand demnach in der Zeit gehäufter politischer Kampagnen gegen das Regime,201 jedoch vor den Protesten im Dezember 2010 und Januar 2011. Der Künstler lebt seit seinem Studium an der Sorbonne hauptsächlich in Paris und gehört damit, ebenso wie -Z-, der tunesischen Diaspora in Frankreich an. In seinen Werken (Gemälde, Zeichnungen, Installationen) entwirft Chamekh eine dezidiert politische Ästhetik, die sich insbesondere der tunesischen Lebenswelt
201 Hier sei insbesondere auf die vielfältigen Kampagnen gegen die Medien- und Internet zensur von 2010 verwiesen.
324 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution widmet. In den Arbeiten und Installationen werden stets symbolhafte Objekte und Repräsentationen der jeweils vorherrschenden, dominanten Codesysteme aufgegriffen und übereinander bzw. nebeneinander neu angeordnet. Dies wird insbesondere im vorliegenden Beispiel deutlich. Darin stellt der Künstler eine junge, kurzhaarige Frau dar, welche vor einem diffusen Hintergrund in Pastellfarben steht. Ihr Oberkörper ist nackt, eine Brustwarze mit einem Piercing durchstochen, der Körper ist lediglich teilweise durch eine militärische Jacke verdeckt. Sie blickt direkt, mit ernstem Gesichtsausdruck in Richtung des Betrachters. Neben dieser symbolischen Einheit aus Subjekt und Kleidungsstück tauchen drei weitere Elemente auf, welche allerdings in keiner klaren visuellen Verbindung dazu stehen. Ein auf Höhe des Bauchnabels wahrnehmbarer Holzhammer scheint förmlich zu schweben. Das Gesicht wird beherrscht von diffusen, länglichen Tierohren, den Ohren eines Esels gleichend, sowie einer transparenten Maske, die über dem Mund liegt.
Abb. 61: Facebook-Seite El Kasbah, Chronik-Foto, veröffentlicht am 18.02.2012.
Im Bild werden heterogene Elemente miteinander in einen visuellen Zusammenhang gebracht. Während die Militärjacke als zum Körper zugehörig dargestellt wird, wirken die anderen Elemente – auch durch die Verbindung aus schraffiert und schnell gezeichneten Umrissen und teils verschwimmenden, uneindeutigen
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Aquarell-Flächen – dem Bild seltsam enthoben. Sie scheinen im Vorder- und Hintergrund der Person zu schweben, sind teilweise transparent bzw. der physischen Darstellung der Frau gegenübergestellt. Besonders aufgrund dieser diffusen Relationsverhältnisse der Elemente zueinander ist die Bildaussage nicht klar zu fassen. Statt einer unilateralen Bedeutung wird hier ein semantisches Netz vorgestellt mit teilweise unklaren Bedeutungszusammenhängen und demnach ebenso unklaren symbolischen Bedeutungsverschiebungen. Die visuellen Einzelelemente können hierbei als in der tunesischen Gesellschaft stark politisierte Symbole ausgemacht werden: Die Abbildung einer jungen, nackten Frau – wenn innerhalb öffentlicher Kommunikation gezeigt – wurde bereits als Form politisch relevanten Ausdrucks vorgestellt. Die gekürzten Haare sowie das Piercing an den Brustwarzen zeigen zudem eine gesteigerte körperliche Selbstbestimmung im Sinne einer Ablösung von gängigen Geschlechtsstereotypen und Repräsentationspolitiken auf. Die ordenbehangene Jacke sowie der Holzhammer verweisen auf die staatlichen Institutionen der Rechtsprechung sowie des Militärs. Vor allem die Militärjacke ermöglicht es auch – insbesondere zum Zeitpunkt der Bildproduktion – eine Anspielung an den ehemaligen Militär Zine el-Abidine Ben Ali zu erkennen. In allen Fällen kann sie als Symbol für militärische und darüber hinaus für politische Macht gelten, als Anzeige eines hohen gesellschaftlichen Status sowie als Marke für die politische Zugehörigkeit (vgl. Wildgen 2013: 191). Als relativ unsicher gilt die Referenz des Objekts vor dem Mund der Protagonistin, möglicherweise stellt es einen Atemschutz oder Schleier dar. Auch die Zuordnung der Eselsohren zur abgebildeten Frau ist aufgrund der diffusen Farbfläche nicht eindeutig. Eine solche Animalisierung der Person ist ein rekurrierendes Element innerhalb der Zeichnungen von Chamekh, so stellte er in einem Bild der Serie De quoi rêvent les martyrs einen Polizisten mit Eselskopf, einen in Anzug gekleideten, weiteren Mann mit Schafskopf dar. Dies scheint der Zuweisung von tiersymbolischen Attributen – im Fall des Esels mag dies Starrsinn und Idiotie sein – zu dienen. Es ist ein ästhetisches Mittel im Stil des Künstlers, diese symbolischen Elemente in ein komplexes Bedeutungsgewebe – einer Montage nicht unähnlich – einzufügen. Daraus entsteht u.a. ein symbolischer Widerspruch im Bild: Die junge Frau kann als Anspielung auf eine emanzipierte und modernistische tunesische Jugend verstanden werden – die kurzen Haare und der Körperschmuck sind Verweise auf eine aktive und selbstbewusste Jugendkultur. Dem gegenüber stehen die Elemente staatlicher Repression, welche insbesondere zu Zeiten des Ben Ali Regimes in der Verbindung aus Jurisprudenz und der exekutiven Macht bestanden. Während diese Symbole folglich als Kontext und nicht als Attribute für die junge Person verstanden werden können, brechen die Eselsohren als Zuschreibung negativer Charaktereigenschaften diese Struktur wiederum auf. Es scheint, als sei die Person selbst Träger der Symbole staatlicher Macht.
326 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution Chamekh spielt deshalb mit den Rezeptionserwartungen des Publikums und dessen Suche nach einer kohärenten Bedeutung. Entgegen der narrativen Kohärenz sonstiger bildlicher Kompositionen (vgl. Wildgen 2013: 107), nähert sich seine Technik der Collage an. Diese ist nach Brockelman an der Schwelle zur postmodernen Kunst zu verorten, welche die Gewissheit über Aussagen und Bedeutungen gezielt bricht. Das Spiel zwischen fragmentierter und genereller Bedeutung negiert die Suche nach Interpretationsgewissheit: The cycling between an awareness of fragments and origins on the one hand, and a unified meaning on the other, goes beyond static representation to a dynamic, almost animated sense of the relationships between meanings that is both the heart of the collage experience and the idea of ‘uncertainty as knowledge’. (Brockelman 2001: 187)
Das Bild eröffnet damit eine visuelle Verbindung repressiv-konservativer Macht und innovativer, offener und jugendlicher Kulturen, jedoch – im Gegensatz zu anderen Formen visueller Gestaltung, wie der Karikatur – ohne genaue Blickrichtungen vorzugeben. Diese Offenheit der Gestaltung ist eine generelle Ausrichtung in Chamekhs künstlerischer Tätigkeit. So war er ab 2012 beteiligt an dem tunesischen Kollektiv Politiques und dessen Gruppenausstellungen. Laut dem Manifest der Gruppe ist es dezidiertes Ziel, ausgehend von einer Infragestellung der ästhetischen Codes der Gesellschaft ihre politische, moralische und soziale Ordnung zu hinter fragen.202 Die politische Wirkung des Bildes von Chamekh entfaltet sich in dem bildlichen Wiederaufgriff von Symbolen, die im Zentrum der visuellen Kultur des Landes stehen (Militärjacke und der Holzhammer des Richters). Zudem werden sie collageartig mit anderen visuellen Elementen konfrontiert, ohne diese Konfrontation durch ergänzende multimodale Einheiten auszurichten oder zu kontextualisieren. Die scheinbare Eindeutigkeit der symbolischen Elemente, welche insbesondere in den Krisensituationen von 2010 und der postrevolutionären Zeit als eine quasi-natürliche Interpretationslinie erscheint, wird dadurch aufgebrochen und zu ihrem ursprünglich-polysemen Charakter zurückgeführt. Damit gehen einerseits eine relative Kontextoffenheit des Bildes – eine Anpassungsfähigkeit, welche das Bild in verschiedenen Situationen der politischen Krise in Tunesien als relevant erscheinen lässt – und eine Verunsicherung der unidirektionalen Wahrnehmungsgewohnheiten andererseits einher.
202 „Née du désir-même des artistes de se regrouper entre eux, l’exposition Politiques propose des travaux qui remettent en cause l’ordre esthétique établi pour mieux remettre en cause les ordres établis politiques, moraux ou sociaux…“ (zitiert in: Pierre-Bouthier 2017).
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Verdeutlicht wird dies in den Kommentaren zum Bildzeichen, welches fast zwei Jahre nach seinem Erscheinen auf Facebook verbreitet wurde. Durch die spätere Veröffentlichung wurde das Bild in den Kontext veränderter Machtgefüge der postrevolutionären Phase eingebettet. So lieferte ein Nutzer zwar eine Beschreibung der Elemente des Bildes und bezeichnet diese als Tabus innerhalb der tunesischen Gesellschaft. Jedoch führte er keine eindeutige Interpretation an: „Alle Tabus der arabischen Gesellschaft in einem einzigen Foto (sic!): Rechtsprechung, Frau und 3awra [Nacktheit, JE], Militärjacke (Macht) und die fehlende Rationalisierung (Gehirn eines Esels)“.203 Diese Lesart – der Fokus auf panarabische Tabuisierungen und weniger auf die konkrete Politik der tunesischen Gesellschaft – steht anderen Meinungen gegenüber, welche aufgrund des Bildes bereits die politische Verfolgung (und Inhaftierung im Gefängnis von Mornaguia) des Seiteninhabers antizipierten und dem Bild dahingehend eine realpolitische Relevanz zuwiesen. Dem Bildinhalt wird folglich der visuelle Angriff auf Tabus attestiert, die auf der einen Seite als generelle gesellschaftliche Grenzen, andererseits als konkrete politisch-rechtliche Grenzen der tunesischen Nation vorgestellt werden. Dass in den Kommentaren zum Bildzeichen der Fokus weniger auf die individuelle Interpretation, als auf die Folgen des bildkommunikativen Handelns gelegt wurde, drückt die durch bildliche Ästhetik bewirkte, radikale Subjektivität aus. Ein Kommentar bringt dies auf den Punkt, wenn darin (auf Französisch) gesagt wird, dass die Aussage des Künstlers zwar verstanden wurde. Darauf folgt ein Satz auf Arabisch, der betont, dass besonders in Zeiten der „Wettbewerbs-Hysterie“ zu den Menschen in einer Sprache gesprochen werden muss, die sie verstehen. Damit stellt die Nutzerin eine soziosemiotische Dimension des Bildes vor, die entscheidend für die Thematisierung neuer ästhetischer Ordnungen innerhalb der postrevolutionären Bildkultur ist: Die auf die Wahl zur verfassungsgebenden Versammlung im Oktober 2011 folgenden Monate waren geprägt durch bildsemiotische Auseinandersetzungen zwischen Anhängern eines politischen Islams und einer säkularen Politik, zwischen linken und konservativen Kräften. Diesem symbolisch ausgefochtenen, ,hysterischen Wettbewerb‘ muss mit Bildzeichen begegnet werden, welche keine klare Position innerhalb des Spannungsfeldes einnehmen. Das Bild Le Juge von Nidhal Chamekh eröffnet einen Raum für subjektive Lesarten jenseits der bildlich-symbolischen Fronten und erhält damit die Fähigkeit, unabhängig von ideologischer Zugehörigkeit individuelle Rezeptionen und Reflexionen anzustoßen. Die Semantik des Bildes gerät dadurch in den Hintergrund, vielmehr werden die Bildkomposition und die Konfrontation widersprüchlicher
203 „tout les tabous de la société arabe en une seule photo (sic !): justice, femme et 3awra [nudité, JE], jackette de militaire (pouvoir) et le manque de rationalisation (cerveau d’ane)“.
328 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution Visualitäten entscheidend. Im Fokus des Bildes steht die Politisierung des Publikums nicht durch eindeutige Symbole oder gelenkte Lesarten, sondern durch die Ermöglichung aktiver Rezeption. Darin erkennt die Philosophin Rachida Triki eine radikale Form künstlerisch-politischenWiderstands: „Un des modes de résistance est l’invention de formes de subjectivation pour réinvestir la vie publique et redynamiser la socialité.“ (Triki, R. 2013: 25) Triki betont dabei, dass mit solchen Kunstwerken die Befreiung der Wahrnehmung aus soziopolitisch vorgeprägten Interpretationsmustern ermöglicht werde. Dadurch werde der zeitgenössische Künstler zu einem ethisch-politischen Akteur, „qui introduit des signes inédits et dérange la domestication de la réception publique.“ (Triki, R. 2013: 28) Chamekhs Bild kommt einem kommunikativen Akt der Verunsicherung und Dekonstruktion politisch gelenkter Perzeptionen gleich. Er erreicht dies nicht etwa durch eine „semiologische Guerilla“ (Eco 1985), bei der die gewohnte Signifikanz der Zeichen durch eine Neukonfiguration innerhalb der Semiosphäre gestört wird. Vielmehr gerät im Bild die Signifikanz vorerst in den Hintergrund: Entscheidend sind der Raum und Interrelationen zwischen den signifikativen Elementen. Während Chamekh durch eine Rekomposition und den Entzug fertiger Interpretationsschemata neue Sichtweisen motiviert, rückt Rachida Amara in ihren Bildern die Materialität der visuellen Zeichen in den Vordergrund. So veröffentlichte die Künstlerin auf ihrem eigenen Facebook-Profil am Abend des 6. Februars 2013 eine Zeichnung anlässlich der Ermordung Chokri Belaids. Amara zeigte ihre Werke sonst selten auf ihrem Profil, zumeist als Darstellungen innerhalb ihrer Chronik. Eine Ausnahme hiervon bildete die Zeichnung Chokri Belaids, welche als Profilbild veröffentlicht wurde (vgl. Abbildung 62). Darin wird ein mit Graphit gezeichnetes Gesicht erkennbar, dessen Konturen mit roter Kreide nachgezogen wurden. Der Gesichtsausdruck ist starr, insbesondere die Augenpartie ist durch den Farbauftrag hervorgehoben. Der Mund sowie der angedeutete Schnurrbart sind kaum erkennbar, da sie von einem roten Farbfleck, vermutlich aus Tinte bedeckt wurden. In der Bildbeschreibung fügte die Künstlerin den Titel des Bildes hinzu: Ermordetes Wort. Ode an Chokri Belaid.204 Diese Bezeichnung weist darauf hin, dass es sich bei der im Bild dargestellten Person um Chokri Belaid handelt. Vor allem die explizit wiedergegebene Gesichtsbehaarung untermauert diese Referenz. Durch den Titel wird dem roten Tintenfleck in der Bildmitte zudem eine doppelte Signifikanz zugeschrieben. Einerseits verweist er – einem Blutfleck gleich –auf die Ermordung des Politikers, wodurch sich das Bild in der Gruppe der zuvor besprochenen bildlichen Hommagen an
204 „Mot assassiné. Ode à Chokri Belaid“.
Konstruktionen und Dekonstruktionen an den Grenzen von Kulturprogrammen 329
Belaid205 einreiht. Des Weiteren eröffnet er eine symbolische Wirkung, da er – auf dem Mund des Politikers platziert – nicht nur den Tod der Person, sondern zugleich die Unterdrückung ihrer Redefähigkeit, ihrer politischen Diskurse sowie Meinungen gleichsam darstellen. Auf diese Doppelseitigkeit weist der Titel hin, der das Bild als dem Politiker gewidmete Ode sowie als Symbol für die Tötung der freien Meinungsäußerung verstanden wissen will.
Abb. 62: Facebook-Profil Rachida Amara, Profilbild, veröffentlicht am 06.02.2013.
Die Zeichnung folgt trotz der eiligen Produktion in ihren Grundzügen dem Stil der Künstlerin. Rachida Amaras Werke entstanden (neben multimedialen Installationen und abstrakten Gemälden) oft als kleinteilige Tinten-, Kohle- und Graphitzeichnungen bzw. Radierungen. Darin zeigt sie häufig Menschenleiber, welche in ihrer deformierten und verzerrten Darstellung dem Stil der Neuen Sachlichkeit, insbesondere den Zeichnungen und Radierungen von George Grosz und Otto Dix ähneln. So ist auch hier die Verzerrung des Gesichts expressives Zeichen für die gesellschaftliche Störung, die mit der politischen Gewalt in Tunesien, im konkreten Beispiel dem Politikermord, entsteht. Die filigranen und zugleich verzerrten
205 Vgl. Kapitel III.4.
330 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution Zeichnungen kombiniert Amara häufig mit dem Auftrag pastoser Farbflächen, die einen (farblichen sowie ästhetischen) Bruch zur detaillierten und zweidimensionalen Zeichnung bilden. Diese Verbindung kommt besonders im vorliegenden Beispiel zum Tragen. Amara lehnt sich an die bereits ab dem Vormittag des 6. Februars 2013 aufkommenden, abstrahierten Darstellungen von Belaid an, auch sie fokussiert auf das Gesicht des Verstorbenen und veröffentlichte dieses als ‚Ode‘ bzw. als Zeichen der Solidarität und Würdigung. Rachida Amara unterzieht diese fotografischen Repräsentationen einer künstlerischen Verfremdung. Das Gesicht Belaids wird zur Schaufläche eines größeren Konflikts, dem Zurückdrängen der freien Meinungsäußerung innerhalb der tunesischen Kultur. Es wird folglich nicht abstrahiert, um Belaid zu einer Ikone zu stilisieren, sondern um vielmehr darin Missstände auszudrücken. Verdeutlicht wird dies vor allem durch den in Richtung des Bildrandes zerfließenden, roten Farbfleck. Obwohl es sich bei dem Bildzeichen im Internet um eine fotografische Wiedergabe der zugrundeliegenden Zeichnung handelt, tritt die Plastizität des Flecks in vollem Maße hervor, im Bildzentrum ist der Fleck nicht als Fläche, sondern als plastische Masse erkennbar. Durch die Betonung der Materialität der Farbe und des Farbauftrags entsteht eine zusätzliche semiotische Dimension, welche sich von bisher besprochenen, symbolisch-visuell wiedergegebenen Blutflecken abhebt. Indem Amara den Blutfleck pastos und reliefartig mit einem Zentrum auf dem Mund der abgebildeten Person aufträgt, wird der Tod des Politikers er- und begreifbar gemacht. Es erhält eine quasi-haptische, sinnliche Wirkung, die die Ästhetik der computergenerierten Grafiken intensiviert (vgl. Abbildung 52). Rachida Amaras Bild kennzeichnet demnach weniger eine interpretatorische Offenheit, als es im zuvor besprochen Werk Nidhal Chamekhs der Fall war. Vielmehr nutzt sie die ästhetischen Möglichkeiten einer auf materiellen Techniken basierten Kunst, um diese Materialität auf den Tod des Politikers zu übertragen. Sie bedient sich zwar der zeitgenössisch vorliegenden Bildsprache innerhalb Facebooks, integriert diese allerdings in ihre physische Bildproduktion. Dadurch schafft sie ein ästhetisches Ergebnis, welches seine Materialität weniger durch eine soziosemiotische Zuweisung erhält. Vielmehr und trotz der medialen Übertragung liegt die Physis im Bild selbst vor, in der Präsenz des Farbauftrags und der Dringlichkeit der eilig gefertigten Zeichnung. Der politische Mord wird dadurch im Bild räumlich und physisch erfühlbar gemacht, wodurch er im Akt der Rezeption präsentifiziert wird. In dieser Hinsicht bildet sich – Gernot Böhmes ästhetischer Theorie folgend – eine „Atmosphäre“ in der visuellen Repräsentation als eine Form der leiblichen Kopräsenz zwischen dem Wahrnehmenden und dem Wahrgenommenen heraus:
Konstruktionen und Dekonstruktionen an den Grenzen von Kulturprogrammen 331 Die Atmosphäre ist die gemeinsame Wirklichkeit des Wahrnehmenden und des Wahrgenommenen. Sie ist die Wirklichkeit des Wahrgenommenen als Sphäre seiner Anwesenheit und die Wirklichkeit des Wahrnehmenden, insofern er, die Atmosphäre spürend, in bestimmter Weise leiblich anwesend ist. (Böhme 2007: 298)
Der Tod wird – zunächst jenseits soziosemiotischer Interpretation, jenseits also einer ideologischen Zugehörigkeit zu einem Kulturprogramm und den damit verbundenen Lesarten eines Bildes – erfahrbar und erlebbar gemacht. Darauf ruht dann im zweiten Moment die semiotische Sinnbildung, wie sie zuvor anhand der bildlichen Wiedergabe des Antlitzes von Chokri Belaid besprochen wurde. Rachida Amara schafft demnach eine Ästhetik, welche eine ideologieübergreifende Sichtweise ermöglicht, basierend auf der physischen Erfahrung des Bildes. Hierdurch entfaltet sich eine neue Ebene von Gemeinschaftsbildung und demnach auch politisch relevanter künstlerischer Praxis (vgl. Böhme 2007: 304 f.) insofern, als der soziopolitischen Frontenbildung im Anschluss an den Tod Belaids bildlich begegnet und entgegengewirkt wird. Die ästhetische Erfahrung des Bildes von Rachida Amara als eine primär phänomenologische Erfahrung der Bildatmosphäre überspannt damit die semiotischen Lesarten einzelner Kulturprogramme und dekonstruiert damit Grenzen der visuell-semiotischen Wahrnehmung.
5.3 Ästhetische Praktiken und die Erfahrung neuer Sichtweisen Die Karikaturen -Z-s sowie die Kunstwerke von Rachida Amara und Nidhal Chamekh eint, dass sie die durch Kulturprogramme bestimmten Grenzen der visuellen Sichtbarmachung, der Rezeption visueller Zeichen und deren Darstellung, kurz: kulturelle Codes der visuellen Darstellung und Rezeption, überschreiten und dadurch neue Sichtweisen auf soziopolitisch relevante Bereiche der tunesischen Kultur eröffnen. Diese Grenzüberschreitung geschieht einerseits in Beziehung zum vorherrschenden politischen Programm der Sichtbarmachung, also den dominanten visuellen Codes der tunesischen Gesellschaft generell, andererseits in Form einer Abweichung von den gängigen Darstellungslogiken in Facebook als Ort einer internetbasierten, lokal dennoch verankerten, visuellen Kultur. Die Karikaturen von -Z- und die Werke der Künstler heben sich deutlich in ihrer Komplexität, der Genauigkeit ihrer Komposition sowie den verwendeten Darstellungsmitteln und symbolischen Elementen von gängigen Repräsenta tionspraktiken innerhalb der Facebook-Bilder des tunesischen Protests ab. Bei -Zbesteht die Neuerung in einem umfassenden Figuren- und Symbolrepertoire, in
332 Bildzeichen auf Facebook und die tunesische Revolution (Selbst-)Ironie und Humor als dezidierte Charakteristika der Karikatur sowie der visuellen Provokation. Im Vordergrund steht hier erstens der Bruch mit kulturprogrammspezifischen Vorgaben darüber, was und wie etwas in Bildern sichtbar gemacht werden kann, zweitens der humorvollen Ver- und Bearbeitung kulturprogrammrelevanter, politisch-lebensweltlicher Ereignisse und Dynamiken. In den Kunstwerken von Chamekh und Amara werden – im Gegensatz zu den Karikaturen – keine neuen semiotischen Einheiten oder Symbolrepertoires erarbeitet. Die semiotische Dimension der Bilder gerät zunächst, zumindest auf Ebene einer soziosemiotisch erfolgenden Bildung von Signifikant-Signifikat-Einheiten, in den Hintergrund, um vordergründig die Materialität der politischen Bilder sowohl im öffentlichen Raum als auch innerhalb des Internets zu dekonstruieren und eine neue Form der Materialität einzuführen. Während bei Chamekh sich diese neue Materialität auf der Ebene der Bildkomposition und undeutlichen Präsentation visueller Elemente etabliert, befasst sich Amara mit der Einführung einer neuen Plastizität durch Kombination figürlich-detaillierter und pastos-flächiger Elemente. Auch wenn in den besprochenen Beispielen die Veröffentlichung auf Facebook nur ein Seiteneffekt künstlerischer Produktions- und Ausstellungspraxis ist, führt doch insbesondere diese Mediatisierung zu einer verstärkten Wirkung der Kunstwerke. So kommen hierin zunächst Symbole vor, welche auch innerhalb anderer Bildzeichen des Protests in Facebook eine Rolle spielten, nur liegen diese hier in einer veränderten Darstellungsweise vor. Des Weiteren erreichen die Werke über Facebook eine heterogene, größere Rezipientenschaft, als dies innerhalb der üblichen Publikationswerke des Kunstmarktes der Fall ist. Zuletzt ermöglichten insbesondere die techno-semiotischen Mechanismen des Mediums Facebook, hervorzuheben ist insbesondere die Kommunikation und Fixierung von Lesarten durch die Nutzerkommentare, eine Erweiterung der künstlerischen Bilder, welche auf ihre Ästhetik zurückwirkt. Anhand des Bildes von Nidhal Chamekh konnte gezeigt werden, wie die Nutzer um eine universelle Interpretation des Bildes ringen, die Visualisierung der Kommentare hingegen die semiotische Offenheit des Bildes weiter fortführt. Beide hier behandelten Schwerpunkte, die Karikaturen von -Z- sowie die Zeichnungen von Rachida Amara und Nidhal Chamekh, wurden für eine Publikation in anderen Formaten entworfen. Dennoch entfalten sie ihr widerständiges Potential insbesondere durch die Veröffentlichung in Facebook. Dabei kommt es zu einer Dialektik zwischen kultureller Abgrenzung und Anpassung: Einerseits werden die Kunstwerke digitalisiert, um dort veröffentlicht werden zu können, wodurch ihre mediale Materialität bereits transformiert wird. Sie werden durch die Einschreibung der Nutzeraktivitäten verändert, kommentiert, weiterverbreitet. Zudem werden sie nach Maßstäben der Bildkultur innerhalb Facebooks und seines öffentlichen Kommunikationsraums bewertet und beurteilt, woraus bei-
Konstruktionen und Dekonstruktionen an den Grenzen von Kulturprogrammen 333
spielsweise die strikte Ablehnung der Repräsentation des Propheten resultiert. Andererseits entsteht die kulturell-visuelle Grenzüberschreitung vor allem in der Konfrontation mit der Bildkultur auf Facebook. In Relation zu den massenhaft verbreiteten, oftmals als glatt und zweidimensional empfundenen Bildzeichen auf Facebook heben sich die behandelten Bilder in ihrer Detailliertheit, Komplexität sowie erweiterten Ästhetik deutlich ab. Sie entwickeln ihr dekonstruktives Potential der Grenzüberschreitung vor allem innerhalb der Medialität Facebooks. In Abgrenzung zu sonstigen, insbesondere ab 2012 zumeist eindeutig signifikanten und einem politischen Kulturprogramm zuordenbaren Bildzeichen entfalten sich in ihnen neue Lesarten, die Formen der Gemeinschaftsbildung, der politischen Wahrnehmung und des politischen Handelns infrage stellen.
Teil IV: Schlussfolgerungen: Visueller Protest auf Facebook
1 Bilder als Mittler und Ursprünge der tunesischen Protestkultur Die Mediatisierung der Proteste auf Facebook manifestierte sich insbesondere in der Verbreitung von Bildzeichen. Dieser visuelle Protest etablierte sich beginnend im Sommer 2010 und endgültig im Dezember 2010. Er erreichte sowohl hinsichtlich seiner Verbreitung innerhalb der tunesischen Bevölkerung als auch hinsichtlich der Anzahl der politisch bedeutsamen Bildzeichen einen Höhepunkt im Januar 2011. In den Jahren 2011 bis 2013 schließlich differenzierten sich die Ästhetik der Protestbilder und die ideologischen Teilprogramme des Protests in einem nahezu parallelen Verlauf aus. Mit dieser Dynamik ging eine Etablierung visueller Diskurse in der tunesischen Semiosphäre einher. Die Sichtbarmachung wurde zu einem entscheidenden Element politischen Ausdrucks auf Facebook. Eine Konsequenz dieser Entwicklung war die visuell-mediale Omnipräsenz des Politischen in Facebook. Facebook entwickelte sich zu einem Medium individuell-politischen Ausdrucks, wodurch die Sichtbarmachung und damit die visuelle Konstruktion kollektiv relevanter Ereignisse an Bedeutung gewannen. Es kam – im Vergleich zur vorherigen politischen Kommunikation im Regime Ben Alis – zu einer Hypervisibilität und visuellen Formheterogenität des Politischen. Während Jean Baudrillard eine „Hyperpräsenz“ und „Hyper-Sichtbarkeit der Dinge“ (Baudrillard 1988: 284) als mediale Entwicklung des Kapitalismus und der Postmoderne problematisierte,1 wird sie im Kontext der tunesischen, postdiktatorischen Gesellschaft zu einem Akt der semiotischen Befreiung: Es wurden vielfältige Bilder als Mittel der Sichtbarmachung der kollektiv geteilten Wirklichkeit und zugleich als kulturprogrammtypischer Zugriff auf eine spezifische Wirklichkeit geschaffen. Die visuellen Zeichen wurden zu einem politischen Instrument und einem Moment des kritischen, widerständigen Selbstausdrucks. Als Konsequenz dessen kann man von einer politisierten Bilderflut auf Facebook sprechen, welche nicht nur die Politisierung und Protesthaltung der Gesellschaft zum Ausdruck brachte, sondern, wie am Beispiel der vielfach verbreiteten Nationalflaggen diskutiert, zu einer Neuprogrammierung der Semiosphäre der tunesischen Gesellschaft führte. Es kam im Sinne Lotmans zu einer kulturell-se-
1 Baudrillard kritisierte die medialen Bilder als reine Simulakren, welche einen für das Subjekt bedeutsamen Zugriff auf die Wirklichkeit unmöglich werden lassen (vgl. Baudrillard 2017). Diese Konzeption ist im Rahmen Baudrillards allgemeiner Theorie des Zeichenhaften zu verstehen, welche Zeichen als entscheidende Wirkkräfte einer politischen Ökonomie der neoliberalen Postmoderne entwirft (vgl. Baudrillard 1972). https://doi.org/10.1515/9783110643985-004
338 Schlussfolgerungen: Visueller Protest auf Facebook miotischen ‚Explosion‘, wobei die bedeutungstragenden Codestrukturen der Gesellschaft verschoben und transformiert wurden. Die damit verbundene Neustrukturierung der Semiosphäre veränderte die Optionen widerständigen und politischen Handelns, die Strukturen und zentralen Aspekte kollektiver Sinnproduktion sowie die Bedeutung der Bilder innerhalb der tunesischen Kultur.
2 Die Schwelle der Sichtbarkeit und die Aktivierung protestierender Bürger Hinsichtlich der Transformation einer Protestkultur können die bereits Anfang Januar 2011 vermehrt auftretenden, visuellen Aneignungen der Nationalflagge Aufschluss geben. Protest wurde durch das SNS Facebook in Ergänzung zum öffentlichen physischen Raum ermöglicht, wobei er sich hier signifikant von öffentlichen Formen des Protests bspw. bei Demonstrationen unterschied: Die visuelle Kommunikation auf Facebook gestattete den Ausdruck von Dissens, ohne eine deutliche, ideologisch-politisch geprägte Position im Gegensatz zur hegemonialen Politik des Regimes zu vertreten. In dieser frühen Phase wurde bildlicher Protest durch die Polysemie des bildlichen Zeichens und durch dessen kollektive Befreiung aus der dominant hegemonialen Verwendung innerhalb der politischen Ikonographie des Regimes markiert: Nationaltragende Bildzeichen wurden durch ein Nutzerkollektiv angeeignet und damit der dominanten Lesart entbunden. So konnte eine Referenz auf die Proteste in den Straßen hergestellt werden, ohne zugleich die gefahrvolle Rolle eines offen protestierenden Bürgers einzunehmen. Dieses Spiel mit Bildbedeutungen kennzeichnete anschließend den Protest innerhalb der tunesischen Mediasphäre auf Facebook. So lässt sich die Protestkultur nicht nur als eine instrumentelle Verwendung von Bildzeichen an den Rändern verschiedener (ideologisch geprägter) Kulturprogramme bestimmen, sondern auch als eine aktive Verschiebung und Transformation des Darstell- und Sichtbaren im Bild. Die Grenze der Sichtbarkeit wurde überschritten, indem zu Beginn des Jahres 2011 Bilder erstmals als Form kollektiv-politischen Ausdrucks genutzt wurden. Dabei stand nicht nur die Sichtbarkeit des Bildinhaltes im Vordergrund, sondern auch die Sichtbarmachung politischer Subjekte über ihr Bildzeichenhandeln. Dieser Akt reformierte die während des Regimes von Ben Ali jahrzehntelang vorherrschende Zensur und Selbstzensur kollektiv relevanter Kommunikationen. Es erfolgte ein Wechsel von den zuvor dominierenden, als ‚privat‘ angesehenen Bildzeichen, die lediglich im Rahmen des engeren Familien-
Bilder als Mittel politischen Framings 339
und Freundeskreises relevant waren, hin zu Bildzeichen, die kollektive Relevanz hatten und Fragen nationaler Reichweite thematisierten.
3 Bilder als Mittel politischen Framings In Ergänzung zum visuellen Ausdruck als erste Dimension politischen Handelns wurden Bilder innerhalb der tunesischen Protestkultur als Mittel politischen Framings erkannt. Dabei kann die Form des Framings im Sinne einer abweichenden Deutungsweise und Lesart wirklichkeitsbezogener Kommunikate nicht auf einer Stufe des Bildes (Denotation, kulturspezifische Konnotation, semiotischer Stil, politisch-ideologische Lesart) allein verortet werden. Vielmehr interagieren diese Ebenen miteinander. Auf denotativer Ebene erfolgt die Blickverschiebung durch die Sichtbarmachung von als konfliktär empfundenen Situationen, Ereignissen und Objekten. Indem beispielsweise die im öffentlichen Raum stattfindenden Demonstrationen und Sit-Ins fotografisch festgehalten wurden, entstand auf denotativer Ebene der Bildlichkeit eine neue Kategorie kollektiv relevanter Ereignisse, welche zuvor durch das politische Regime einer medialen Veröffentlichung entzogen wurden. Diese Form der denotativen Sichtbarmachung wurde allerdings auch für ideologisch gebundene Framingprozesse genutzt, indem sie zugleich der Verifizierung sowie Inszenierung der Proteste und damit dem hegemonialen Kampf der widerständigen Kultur dienten. Ebenso entwickelten sich spezifische Stile der bildlichen Darstellung von Protest. Diese bestanden insbesondere in zwei Mechanismen: Einerseits zeichneten sich die politischen Bilder als alltägliche Kommunikate durch ihre visuelle Nähe zu den darstellten Ereignissen aus. Fotografien wurden direkt innerhalb der Demonstrationen, auf Augenhöhe mit anderen Demonstrierenden, aufgenommen. Durch mobile digitale Kameras wurden Bürger zu Bildjournalisten, die Gewalt und Missstände zumeist frontal, ohne intendierten oder im Vorfeld reflektierten Bildaufbau aufnahmen. Es entstand damit ein fotografischer Stil der bildlichen Involviertheit, welcher die Emotionalität und Widerständigkeit der Bildzeichen unterstützte und sie von den durch offizielle Seite genehmigten, meist distanziert aufgenommenen Repräsentationen des Herrschers abgrenzte. Wurden Bildzeichen der Massenmedien, offiziellen Kommunikation der Nationalpolitik und der Popkultur durch die Protestkultur aufgegriffen, unterlagen diese andererseits häufig einer technologischen Nachbearbeitung. Stilistisch setzten sich dadurch collagenartige Verfügungen unterschiedlicher Bildzeichen und textueller Elemente durch. Diese Collagen verbanden Aufnahmen professioneller Fotografen mit oftmals groben, durch digitale Bildbearbeitung erstellten Grafi-
340 Schlussfolgerungen: Visueller Protest auf Facebook ken und mit Texten, die die Lesart dieser Bildverbünde konkretisierten. In beiden Fällen, dem Stil der Involviertheit durch eine spezifische Art der Aufnahme und dem Collagenstil, wurden allerdings auch neue Sichtbarweisen geschaffen und ideologisch geprägte Frames vermittelt. Konzipiert man bildliches Framing auf konnotativer Ebene als eine Verschiebung der innerhalb der tunesischen Bildkultur vorherrschenden Codes, stellte dieses lediglich eine Randerscheinung innerhalb der visuellen Kommunikation der Protestkultur dar. Die kulturspezifischen Grenzen der Darstellbarkeit und bildlichen Inszenierung haben sich insbesondere bzgl. gesellschaftlicher Tabus als höchst sensible und emotionalisierte Bereiche herausgestellt. Da vor allem in der Revolutionsphase ideologienübergreifende, kollektiv relevante Visualisierungen und Protestkommunikationen im Vordergrund standen, war eine Spaltung der Bildrezipienten durch die Überschreitung kultureller Grenzen des Bildlichen wenig gewünscht. So waren in dieser Zeit beispielsweise die Erweiterungen des Nationalflaggenbildes durch weitere grafische Symbole umstritten, wurde doch häufiger die bildliche Unversehrtheit des Nationalsymbols eingefordert. Solche Grenzen stellten sich auch im Verlauf der postrevolutionären Proteste als relativ stabil und starr heraus. Einzig die Karikaturisten, nachvollzogen am Beispiel der Karikaturen von -Z-, zeigten ebenso die gesellschaftlichen und bildlichen Tabubereiche der Religion, des politischen Machtapparats sowie der Sexualität in ihren Bildern auf. Durch den ironischen Unterton der Karikatur wurden diese Grenzüberschreitungen jedoch weitgehend toleriert. Demgegenüber stehen die Nacktportraits der Amina Sboui. Diese wurden aufgrund der in Facebook veröffentlichten, fotografischen Darstellung ihres nackten Körpers trotz der feministischen Intentionen ihres bildlichen Protests auch innerhalb aktivistischer Kreise und der Protestkultur als unhaltbar und lediglich als identitätspolitisch motivierter Akt wahrgenommen. Schließlich dienten im Rahmen der revolutionären Phase, aber auch während der Phasen der Rekonstruktion und der Stabilisierung die meisten für die Protestkultur relevanten Bildzeichen ebenso einem ideologischen Framing. Sie beinhalteten zumindest implizit eine Blickverschiebung auf die jeweils vorherrschende Politik. Es wurden neue Perspektiven vorgeschlagen, um eine Deutungshoheit innerhalb des Kampfes um politisch-symbolische Hegemonie zu erlangen. So wurden beispielsweise auch indexikalische, scheinbar wirklichkeitsgetreue Aufnahmen wie Fotografien von Demonstrationen zu einem hegemonialen Mittel, wenn mit ihrer Hilfe die Stärke und gesamtgesellschaftliche Relevanz einer Demonstration qua Abbildung der daran teilnehmenden Bürger präsentiert wird. Es ist im Sinne eines ideologischen Framings nicht verwunderlich, wenn in diesem hegemonial-symbolischen Kampf genaue Grenzen für Stile der Abbildung und die Inszenierung des Bildes eingeführt werden. So wurden die zahlreichen
Die semiotische Wirkung des medialen Interface 341
Selfies bei Sit-Ins und Demonstrationen innerhalb der ideologischen Teilkultur des Protests als hinderlich betrachtet, da sie die Körperlichkeit des Nutzers und weniger seine ideologische Zugehörigkeit in den Vordergrund stellten. Innerhalb der ideologischen Framing-Funktion wurde einzig die bildliche Darstellung des Körpers als protestierender und politisch agierender Körper zugelassen. Die so gesetzten Grenzen trugen zu einem Fokus auf ideologisch alternative Rahmensetzungen und den Kampf um gesellschaftliche Zustimmung bei. Da bildliche Protestkommunikate auf allen vier Ebenen des Framings verortet werden können, sind diese nicht mehr als intentionale Handlung eines Senders definierbar. Die Beispiele des konnotativ-kulturellen und des ideologischen Framings zeigen, dass einerseits zwar die Darstellungsebene und stilistischen Charakteristika des Bildkommunikats, die durch den Produzenten des Kommunikats verursacht werden, erheblich an der Framing-Wirkung beteiligt sind. Jedoch sind kollektive Lesarten und Sinnzuschreibungen insbesondere für ideologisch-kulturelle Wirkungen des Protestbildes entscheidend: So lässt sich beispielsweise die Veröffentlichung einer Nationalflaggengrafik als Profilbild nicht per se als intentionaler Akt des Protests beschreiben, da zunächst kein klarer Widerspruch sowie keine eindeutige Konfliktmarkierung vorliegen. Vielmehr können solche Bildhandlungen als Akte emotionalen Ausdrucks und der subjektiven Aneignung des Nationalsymbols beschrieben werden. Erst die Vervielfältigung dieser Handlungsweise durch zahlreiche Nutzer in Facebook und die Sichtbarkeit dieses kollektiven Zeichenhandelns führten zur Umdeutung der Flagge als Symbol für die nationale Souveränität und ein autonomes Volk.
4 Die semiotische Wirkung des medialen Interface Gestützt wurde die Entstehung solcher kollektiv-widerständiger Lesarten von Bildzeichen vor allem auch durch die technosemiotischen Strukturen der Me diasphäre des SNS Facebook. Insbesondere die Untersuchung der Kommentare, Gefällt-mir-Angaben und der Weiterverbreitungen über die Teilen-Funktion innerhalb des Facebook-Interfaces zeigte, dass die algorithmenbasierte Verbreitung von Bildzeichen innerhalb des SNS einerseits bedingt wird durch die individuelle Einschätzung des Bildzeichens als kollektiv relevanter und kritischer Kommentar zu hegemonialen Bedeutungsstrukturen. Andererseits führten diese technologisch gestützten Verbreitungsprozesse dazu, dass die Bildzeichen über Facebook-Seiten und -Gruppen sowie Nutzerprofile in immer größere Netzwerke eingeführt wurden, und damit ausgehend von sozialen Nutzernetzwerken in die
342 Schlussfolgerungen: Visueller Protest auf Facebook Kernbereiche der Semiosphäre eindrangen. Besonders deutlich wurde dies am bildlichen Protest nach dem Tod Chokri Belaids, dessen Portrait bereits kurz nach dem Mord innerhalb der tunesischen Mediasphäre Facebooks omnipräsent war. Neben der Verbreitung von Bildzeichen trugen techno-semiotische Verfahren ebenso auch zur Erweiterung der Bildbedeutung bei: Kommentare schärften widerständige Bildbedeutungen und beeinflussten damit anschließende Rezeptionsvorgänge. Im Bild verlinkte Personen wiesen auf eine lebensweltliche Relevanz der Abbildung hin, wie an den Verlinkungen von Personen in Fotografien der Demonstrationen deutlich wurde. In dieser Hinsicht verstärkten, korrigierten, authentifizierten und konkretisierten multimodal-algorithmische Komponenten des Interface die widerständigen Lesarten der Bildzeichen.
5 Protest-Bilder zwischen öffentlichem und medialem Raum Die bildlichen Proteste in Facebook sind eng verwoben mit den zeitgleich im öffentlichen Raum der tunesischen Städte stattfindenden Protesthandlungen, ob nun Demonstrationen, Sit-Ins oder Besetzungen des öffentlichen Raums oder weitere, als widerständig wahrgenommene Ereignisse. Der physische Raum wirkt hierbei hinsichtlich der medialen Verweisstrukturen, der denotativen Ebene sowie auch hinsichtlich des Interpretationsrahmens in die Bildbedeutung mit ein. Er schafft beispielsweise den Rahmen der fotografischen Abbildungen von Demonstrationen. Im materiellen Raum versammeln und verbünden sich Anhänger der Protestkultur, es werden Slogans, Protestschilder, sowie weitere multimodale Ausdrücke des Widerstands auf lokaler Ebene offen gezeigt und damit zum Gegenstand fotografischer Aufnahmen der Proteste. Diese Elemente des öffentlichen Protests wurden zu Ausdrucksmitteln des bildlichen Protests in Facebook, indem sie in Bildzeichen wiedergegeben werden, indem die Spuren von Demonstrationen im physischen Raum (bspw. Graffiti) ebenso auch als Spuren des Protests in Bildern konserviert werden. Ebenso werden die physisch vorhandenen Körper der Aktivisten und Protestierenden zu einem entscheidenden Gegenstand fotografischer Bilder: Sie personalisierten widerständige Positionen, machten die Proteste dadurch greifbar und fungierten als Vorbilder. Diese Aspekte der wahrgenommenen Realitätsnähe des Physischen spiegelten sich in dem kollektiven Wunsch nach einem indexikalischen und damit verifizierenden Wert der fotografischen Bilder. Der öffentliche Raum diente als Authentifizierung medialer Kommunikate, weshalb es nicht verwundert, dass die fotografisch realitätsnahe und quasi indexikalische Darstellung von Protestereignissen eine große Rolle für bild-
Bildliche Protestkultur zwischen Konventionalisierung und Differenzierung 343
lich-hegemoniale Kämpfe innerhalb der Mediasphäre spielte. Durch Fotografien konnte die physisch-materielle Bedeutsamkeit der Demonstrationen hervorgehoben und zugleich konstruiert werden. Dieser referentielle Dualismus zwischen fotografischer Abbildung und physischer Materialität von dargestellten Objekten, Ereignissen und Personen fand seinen Höhepunkt in den ikonengleich inszenierten und zugleich im Bild rematerialisierten Opfern der Revolution. Während also die materielle Öffentlichkeit einerseits die Möglichkeitsbedingung physischer Proteste und Produktionsbedingung deren fotografischer Abbildung ist und zugleich als Authentifizierung der bildlichen Repräsentationen und damit verbundenen Framingprozesse gelten kann, stellt sie weiterhin selbst eine symbolische, durch kollektive Kognition und Kommunikation konstruierte Bedeutungsressource dar. So wird insbesondere der städtische Raum Ort von widerständigen Raumaneignungsprozessen, bei denen die hegemonialen Strukturen des öffentlich-politischen Raums infrage gestellt werden. Diese kritische Komponente trat insbesondere bei Sit-Ins und Demonstrationen hervor. In den bildlichen Aufnahmen dieser Ereignisse wurde der öffentliche Raum als eben dieses kommunikativ-symbolische Konstrukt und damit als kritisierbares Mittel hegemonialen Machterhalts in den Vordergrund gestellt. Vielmehr noch wurden die medialen, scheinbar verfügbaren und von ihrer Physis befreiten Bildzeichen wiederum als gedruckte Protestschilder bei Demonstrationen Teil der symbolischen Raumaneignung. Dadurch wurde die diskursiv konstruierte, durch Individuen als Raum für politische Äußerung angeeignete Mediasphäre von Facebook übertragen auf die räumlichen Strukturen des physischen Raumes. Die damit verbundenen visuellen Zeichen wurden in den öffentlichen Raum eingebunden und entwickelten dort ein vergleichbares Protestpotential. Beide Räumlichkeiten wirkten damit auf die Bedeutung der Bildzeichen ein, als physischer und als medialer Kontext bildlichen Protests. Durch diese Materialisierung widerständiger Positionen wurden Bilder als potentielle Träger von Protest in das kulturelle Zentrum der tunesischen Semiosphäre aufgenommen.
6 Bildliche Protestkultur zwischen Konventionalisierung und Differenzierung Das mit der Flucht des autokratischen Herrschers entstandene Vakuum innerhalb der soziopolitischen Kultur des Landes wurde schnell durch die politisierten Bildzeichen und damit verbundene Protesthandlungen besetzt. Die widerständigen Zeichenregimes, die im Rahmen der Proteste entstanden, forderten die etablierten Codestrukturen des Zentrums heraus, machten diese teilweise obsolet
344 Schlussfolgerungen: Visueller Protest auf Facebook und führten damit zu einer, die gesamte Semiosphäre umfassenden, Sinnexplosion. Zurück blieb ein teilweises Chaos innerhalb des kulturellen Zentrums, welches nun nicht mehr durch stabile, in gesellschaftlichen Institutionen manifestierte und durch Konventionalisierung kollektiv verpflichtende Sinnstrukturen gekennzeichnet war. Davon waren insbesondere die Konzepte der Öffentlichkeit, des Nationalen und des Kollektiven betroffen. Diese teilweise Auflösung der gesamtgesellschaftlich verbindlichen Strukturen drückte sich in der Verhandlung der o. g. Konzepte durch Bilder aus: Im Zentrum des Bildhandelns stand oftmals auch die Verhandlung und Erprobung neuer Formen der Kollektivität. Durch die auf den Profilen veröffentlichten Bildzeichen wie den Flaggengrafiken oder dem Schnurrbart als Symbol der Solidarität mit dem ermordeten Politiker Belaid konnten auf gemeinsamem Symbolhandeln basierende Kollektive gebildet werden, welche wiederum neue Formen politischen Handelns möglich machten. Der symbolische Ausdruck und die Verhandlung dessen, was als Kollektiv gelten kann, waren in dieser Zeit kultureller Neuerfindung deshalb eng miteinander verbunden. Eine große Rolle spielte hierbei einerseits die Visualisierung des Kollektivs. Andererseits wurden neue Formen kollektiven Konsens und gemeinsame (visuelle) Codestrukturen innerhalb von so konstruierten Teilkulturen ausgebildet. Beispielsweise etablierten sich auch in lockeren Formen kollektiven Handelns, wie den Sit-Ins am Bardo, spezifische Zeichenpraktiken, die sich durch Graffitis im physischen Raum, den Formen der visualisierten Slogans oder zuletzt der bildlichen Aufzeichnung der Ereignisse in Form von Fotografien äußerten. Ebenso wurde die zukünftige Ausrichtung und Konzeption der Nation zu einer Leitfrage innerhalb der tunesischen Gesellschaft. Dieser Fokus zeigte sich in den Bedeutungsverhandlungen zu der bildlichen Veränderung von Nationalflaggen und deren Veröffentlichung in Facebook. Wurden Nationalsymbole bildlich genutzt, waren diese Veränderungen ab dem 14. Januar nicht nur ein Akt des Protests, sondern zugleich ein Entwurf der zukünftigen Nation. Dadurch erweiterte sich ebenso das Funktionsspektrum der Bildzeichen in Facebook: Indem ihnen hinsichtlich des Nationenkonzepts eine projektiv-utopische Funktion zugeschrieben wurde, konnten bestimmte, während der Revolutionsphase etablierte Darstellungsweisen, wie z. B. die Schwarzfärbung des Flaggenhintergrunds, in der postrevolutionären Zeit nicht ohne Widerspruch fortgeführt werden.
Bildzeichen als Spiegel und als Motor der Rekonfiguration des kulturellen Zentrums 345
7 Bildzeichen als Spiegel und als Motor der Rekonfiguration des kulturellen Zentrums Die Bildzeichen befanden sich damit im Zentrum dieser kulturellen Debatten, sie bildeten sie einerseits ab, wurden gleichzeitig zum Mittel innerhalb dieser Bedeutungsverhandlungen und der damit einhergehenden, strukturellen Neuausrichtungen. Durch die widerständigen Bildzeichen in Facebook wurden die Grenzen dieser Konzepte ausgeweitet und stets infrage gestellt. Damit zeigten sich die Bildzeichen nicht nur als ein Spiegel der kulturellen Neukonfiguration der Semiosphäre, sondern auch als essentieller Motor der postrevolutionären Entwicklungen und Aushandlungsprozesse. Die transformative Wirkung der widerständigen Zeichen beschränkte sich nicht nur auf das politische Feld im engeren Sinne, sondern wirkte auf die gesellschaftlich als relevant erachteten sozialen Normen, affektiven Strukturen und kognitiven Wirklichkeitszugriffe ein: In das Zentrum der tunesischen Semiosphäre gerieten nun Themen wie freie Meinungsäußerung, Frauen- und Minderheitenrechte, demokratische Teilhabe und Mitbestimmung sowie die Kritik an alltäglichen Einschränkungen des Lebens durch polizeistaatliche Methoden der Unterdrückung. Diese Bereiche wurden durch Bildkommunikate flankiert, ausgeschärft und aufrechterhalten. Entscheidend ist, dass diese semiotische Dynamik der Verschiebung von vormals im Privaten sowie der kulturellen Peripherie thematisierten Bedeutungen in das kulturelle Zentrum angeschlossen wird an die ideologischen Kämpfe der Revolution. Durch Protestbilder in Facebook wurde auch ein digital-kulturelles Archiv der Revolution, ihrer ideologischen Auseinandersetzungen sowie der damit verbundenen Protesthandlungen geschaffen. Dieses fungierte einerseits anschließend als Basis für soziopolitische Neuausrichtungen und die Restrukturierung sowie Konventionalisierung zentraler Bedeutungseinheiten. Andererseits – und dies steht in einem engen Zusammenhang mit dem ersten Punkt – diente das im Bildarchiv materialisierte, kollektive Gedächtnis der tunesischen Semiosphäre als sozial-verbindlicher, einender Kitt zwischen den von Differenzierung und Segmentierung gezeichneten, postrevolutionären Teilkulturen der Gesellschaft. Es ist demnach nicht erstaunlich, dass besonders in Zeiten gesellschaftlicher Krisen die Elemente des revolutionären Bildarchivs erneut als Appell für eine kulturelle Einheit veröffentlicht wurden.
346 Schlussfolgerungen: Visueller Protest auf Facebook
8 Bildliche Protestkultur und die Schaffung einer politischen Identität Eine Folge des widerständigen Bildzeichenhandelns und dessen Verortung im postrevolutionären Zentrum der tunesischen Mediasphäre und Semiosphäre ist auch eine Neubewertung von Protestkultur innerhalb der tunesischen Gesellschaft: Protest setzte sich – ebenso wie die o. g. Schwerpunktbereiche der postrevolutionären Demokratie – im kulturellen Zentrum fest. Protest wurde zu einem legitimen Mittel soziopolitischen Handelns. Infolgedessen entwickelten sich die Bildzeichen auch zu Labels oder Markierungen im Rahmen einer identitätspolitischen Selbstdarstellung. Durch deren massenhafte Verbreitung während der revolutionären Phase waren sie als Mittel zum öffentlichen Ausdruck individuellen Widerspruchs bekannt geworden und verkörperten – als Elemente eines visualisierten, kollektiven Gedächtnisses – das Erbe der revolutionären Proteste. Oder anders formuliert: Der bildliche Ausdruck von politischem Protest wurde ebenso wie die Zugehörigkeit zu einem ideologischen Teilprogramm zu einem sozial erwünschten Element bürgerlicher Identität. Das Individuum eignete sich die Zeichen des Protests an, schrieb Protestbilder wie Flaggen, Protestselfies und Demofotos in das eigene Nutzerprofil ein und koppelte es dadurch mit politischer Zugehörigkeit. Diese konstruierte politische Identität bewegte sich zwischen der Imagination politischen Handelns im Sinne von symbolischer Inszenierung des protestierenden Individuums und der Authentifikation politischen Handelns durch den Nachweis politisch relevanten Handelns im materiellen Raum. Relevant ist dieses individuelle Handeln über Bildzeichen allerdings auch für die Entstehung und Aufrechterhaltung der tunesischen Protestkultur: Der bildliche Protest wurde durch Verbreitung von Bildzeichen und deren Bedeutsamkeit während der Revolution zu einem zentralen Bereich der tunesischen Semiosphäre. Es entwickelte sich eine Protestkultur, die semiotische Ressourcen nicht nur für politische Kommunikation, sondern auch für Individualisierung, der Markierung einer kulturellen Zugehörigkeit sowie der sozialen Distinktion bereitstellte.
9 Die Politisierung der Bilder zwischen Nähe und Distanz Im Rahmen einer pragmatisch orientierten, kultursemiotischen Analyse der politischen Bildzeichennutzung stellt sich nicht nur die Frage nach der Funktion, die
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Bildern eingeschrieben wird, sondern auch nach dem Verhältnis, das der Betrachter zum Gezeigten einnimmt. Die Aneignungsprozesse und Bildkonstruktionen führten dazu, dass sich die visuelle Kultur in Tunesien grundlegend veränderte und Bildzeichen vorwiegend zu Mitteln politischer Kommunikation wurden. So dienten die Bilder des Protests insbesondere der ideologischen Kommunikation, der Emotionalisierung sowie der Inszenierung der Proteste und dem Aufbau eines historischen Archivs als bildlich-kollektives Gedächtnis der Proteste. In einer funktionellen Hinsicht betrachtet unterschieden sie sich damit nicht grundlegend von den Verwendungsweisen während des autokratischen Regimes. Bereits da waren politische Bilder mit der Intention verbunden, Blickweisen zu steuern und eine möglichst große Emotionalisierung und Authentifizierung der Kommunikation durch den Einsatz visueller Elemente zu erreichen. So wurde während der revolutionären und postrevolutionären Proteste Bildzeichen die Fähigkeit zugeschrieben, über ihre quasi-mimetischen Bezüge zur Wirklichkeit Widerstand zu authentifizieren und zu verifizieren. Zudem wurde ihnen ein utopisches und imaginatives Potential zugeschrieben, welches insbesondere zur Ausschärfung ideologischer Gesellschafts- und Wirklichkeitsentwürfe genutzt wurde. Davon weichen Bildzeichen ab, die gerade auf die Blickverschiebung gegenüber dominanten visuellen Diskursen und auf die Dekonstruktion visueller Codes abzielen. So zeichneten sich die behandelten Karikaturen und politischen Kunstwerke durch eine Distanzierung aus – nicht nur gegenüber der hegemonialen, etablierten politischen Kultur des kulturellen Zentrums, sondern auch in Hinblick auf politische Teilkulturen, die Moden des Protests und bezüglich der etablierten Praktiken innerhalb der Bildkultur. Somit eröffneten diese Bildkategorien eine kulturreflektorische Ebene der Bilder. Sie spielten mit Bedeutungsoffenheit, der Interaktion zwischen Bild und Bildkontext, mit den Darstellungsweisen und den Grenzen der Darstellbarkeit. Dadurch entfaltete sich die Kraft der Infragestellung dominanter, bildkultureller Grenzen über gesellschaftliche Teilprogramme hinweg. Mittels der Abkehr von etablierten Darstellungs- und Repräsentationsweisen eröffnete die politische Kunst Reflexionen des Politischen und damit verbundene bildliche Vorstellungsweisen.
10 Diskussion und Ausblick Die im Rahmen der Untersuchung entwickelte medienkultursemiotische Methode ermöglichte eine ganzheitliche Untersuchung der kultursemiotischen Dynamiken und Transformationen innerhalb des visuellen Protests auf Facebook während der tunesischen Revolution. Die Schwerpunkte dieses Vorgehens
348 Schlussfolgerungen: Visueller Protest auf Facebook lagen im Bereich der Bildsemiotik, der Kultursemiotik und der Soziosemiotik. Die Ausrichtung auf pragmatische Dimensionen visueller Kommunikation, welche weitgehend von theoretisch festgeschriebenen oder strukturell bedingten Bildbedeutungen abwich, basierte auf der Theorie des soziokulturellen Konstruktivismus. Dadurch konnten Bildsemiosen als kulturelle Anwendungsoptionen und zugleich als kollektiv bedingte semiotische Dynamiken innerhalb einer semi- rigiden Code-Struktur verstanden werden. Diese Konzeption wurde im Lauf der Untersuchung auf die kulturellen Teilbereiche der Medienkultur, der Protestkultur und der Bildkultur innerhalb der tunesischen Semiosphäre angewandt. Bildzeichen wurden als Vermittler zwischen diesen Kulturen analysiert. Basierend auf soziosemiotischen Verfahrensweisen schien eine Methodentriangulation als sinnvoll, welche neben der ikonographischen Analyse von Bildzeichen einerseits deren mediale Kontexte sowie umgebende Kommunikationen miteinbezog, andererseits kulturelle Lesarten und Rollen der Bildzeichen in semi-direktiven Interviews zu ergründen suchte. Durch dieses Vorgehen konnten erstens kulturell bedingten, hermeneutischen Fehlschlüssen des Autors entgegengewirkt werden. Zweitens konnte der Komplexität der multimodalen, zwischen globalisierten und lokalen Kulturen vermittelnden Kommunikationssituation in Social-Media-Plattformen damit Rechnung getragen werden. Der Fokus auf das politische Bildzeichenhandeln während der tunesischen Revolution und der postrevolutionäen Phase bis 2013 sollte allerdings nicht den Eindruck vermitteln, den Erfolg der politischen Umstürze und die kulturelle Neuorientierung einer nationalen Politik mithilfe der Analyse von Bildzeichen umfassend klären zu können. Zwar wurden über die Betrachtung semiosphärischer Verschiebungen, Transformationen und tiefgreifender Neustrukturierungen kultursemiotische Annäherungen an die kulturellen Dynamiken innerhalb eines durch soziale Bewegungen geprägten, historischen Moments eröffnet. Jedoch muss eine umfassende Analyse der symbolischen, kommunikativen und kulturellen Ebenen dieses historischen Moments auch weitere Zeichenpraktiken einbinden. Der Fokus auf Bildzeichen kann in diesem Kontext lediglich als ein semiotischer Analyseausschnitt gesehen werden. Gleiches muss hinsichtlich der Beschränkung auf Kommunikationspraktiken innerhalb von Facebook festgestellt werden. Dabei wurde dezidiert nicht die Rolle lokaler Massenmedien sowie globaler, bzw. transnationaler Medienangebote berücksichtigt. Auch wenn durch den pragmatischen und soziokulturellen Schwerpunkt der Studie sowie die interdisziplinäre bzw. interparadigmatische Einbeziehung von Theorien der Bildwissenschaft und der Visual Studies gewisse Fehlstellen der klassischen Semiotik ausgeglichen werden konnten (bspw. hinsichtlich fixer Konzepte des Bildlichen), verbleiben dennoch Desiderate hinsichtlich der Erforschung kommunikativen Handelns während der tunesischen Revolution:
Diskussion und Ausblick 349
So konnte weniger Wert auf die Untersuchung der bildlichen Performanz und der Materialität des kommunikativen Handelns gelegt werden. Dass allerdings insbesondere die performativen Ebenen intermedialen Handelns (vgl. Lim 2012) bzw. die physische Kopräsenz von Körpern und Objekten im physischen Raum (vgl. Butler 2011) eine entscheidende Rolle innerhalb der kommunikativen Praktiken neuer sozialer Bewegungen spielen, sollte damit nicht ignoriert werden. Es wurde versucht, diese Dimensionen anhand der Visualisierung in Bildern bzw. der bildlich-kommunikativen Praktiken in die semiotische Analyse mit aufzunehmen. Dass hierbei ein Schwerpunkt auf die Zeichenhaftigkeit der Bilder gelegt wurde, ließ sich dabei nicht vermeiden. Umso mehr erscheint es sinnvoll, die Interaktionen zwischen der Zeichenhaftigkeit, der Materialität und der Performanz kommunikativen Handelns von Protestbewegungen im Rahmen zukünftiger Forschung verstärkt zu berücksichtigen. Um der Detailliertheit der Ausführungen nicht entgegenzuwirken und zugleich den Rahmen der Untersuchung nicht zu überschreiten, konnten bestimmte Kategorien von Bildzeichen nicht mit in die Analysen aufgenommen werden. Dazu gehören: a) Bildzeichen im Rahmen von politischen Kampagnen; b) bildliche Memes als ludisch-humoristische und satirische Formen des Protests; c) globale Bilder des Protests und entsprechende Symboliken; d) Fake-Bilder und bildliche Falschmeldungen. Besonders bei den für aktuelle Kommunikationsweisen im Internet so wichtigen Memes ist es wünschenswert, deren Rolle für die visuelle Kommunikation sozialer Bewegungen genauer zu betrachten. Die Untersuchung sieht sich in dieser Hinsicht als Aufriss, um daran anschließend weitere Formen der internet-basierten visuellen Zeichen zu analysieren. Letztendlich können quantitative Studien die hier vorgestellten Ergebnisse – auch im Hinblick auf eine Öffnung der Semiotik für Methoden der Digital Humanities – sinnvoll erweitern. Da vor allem die bildliche Kommunikation innerhalb von Social Media potentiell große Reichweiten aufweisen und aufgrund algorithmischer Steuerungsprozesse schnell Datenmengen im Bereich der Big Data generieren kann, sollte zukünftig eine Verbindung von quantitativen und qualitativen Methoden der Analyse viraler Verbreitungsformen angestrebt werden. Dennoch zeigten sich basierend auf den erarbeiteten Erkenntnissen neue Orientierungen an der Schnittstelle zwischen Bildsemiotik, Medienwissenschaft und Bewegungsforschung. In den Blick genommen wurden vor allem alltägliche Zeichenhandlungen heterogener und pragmatisch handelnder Nutzer, wobei weder die Kategorie des Künstlerisch-Ästhetischen noch des im engeren Sinne Politischen als fixe Aspekte der Selektion oder Differenzierung eingesetzt wurden. Durch die Ausbreitung, Individualisierung und kulturelle Aufwertung kommunikativen Handelns im Internet, durch eine Sichtbarkeit bürgerlicher Partizipation in Protestbewegungen und politischen Prozessen der Meinungsbildung sowie
350 Schlussfolgerungen: Visueller Protest auf Facebook durch die Omnipräsenz individuell produzierter Bildzeichen erscheint eine pragmatische und alltagsbezogene Öffnung kultursemiotischer Forschung sinnvoll. So entwickelt die Semiotik neue Sichtweisen auf aktuelle Entwicklungen und die Interdependenzen von Politik, Kultur individueller Lebensweise.
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Abbildungsverzeichnis 371 Weslati, Lilia (11. Juni 2012): Des salafistes détruisent des œuvres artistiques au Palais Abdellia. In: Nawaat. Online unter: http://nawaat.org/portail/2012/06/11/des-salafistes-detruisent-des-oeuvres-artistiques-au-palais-abdellia/ (Stand: 19.04.2018). Wieland, Leo (09.01.2011): Unruhen im Maghreb. Eine Generation ohne Luft zum Atmen. In: FAZ Online. Online unter: http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/unruhen-im-maghrebgeneration-ohne-luft-zum-atmen-1577601.html (Stand: 12.02.2018). Yezzi Fock: Facebook-Seite. Online unter: https://www.facebook.com/yezzifock (Stand: 27.04.2018)
Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Facebook-Profil Nidhal Chamekh, Chronikbild, veröffentlicht am 29.01.2011. Online unter: https://www.facebook.com/photo/?fbid=1840207004301&set=a.1118576403987 (Stand: 01.06.2018). Abb. 2: Facebook-Profil Ghassen Amami, Profilfoto, veröffentlicht am 31.12.2010. Online unter https://www.facebook.com/photo.php?fbid=494578637600&set=a.442307492600.226763.719697600&type=3&theater (Stand: 01.06.2018). Abb. 3: Facebook-Profil Haythem El Mekki, Profilfoto, veröffentlicht am 09.01.2011. Online unter: https://www.facebook.com/photo.php?fbid=1677176802615&set=pb.1033341778.-2207520000.1416849742.&type=1&theater (Stand: 01.06.2018). Abb. 4: Facebook-Profil Haythem El Mekki, Profilfoto, veröffentlicht am 09.01.2011. Online unter: https://www.facebook.com/photo.php?fbid=1676161817241&set=pb.1033341778.-2207520000.1416849742.&type=1&theater (Stand: 01.06.2018). Abb. 5: Facebook-Profil Ali Jabeur, Profilfoto, veröffentlicht am 16.01.2011. Online unter: https://www.facebook.com/photo.php?fbid=1671526119610&set=a.1483816106977.71079.1581111399&type=3&theater (Stand: 01.06.2018). Abb. 6: Facebook-Profil Asma Laabidi, Profilfoto, veröffentlicht am 12.01.2011. Online unter: https://www.facebook.com/photo.php?fbid=1589902190993&set=a.1442968197735.2059613.1338998210&type=3&theater (Stand: 01.06.2018). Abb. 7: Facebook-Profil Amel Belkhiria, Profilfoto, veröffentlicht am 26.06.2013. Online unter: https://www.facebook.com/photo.php?fbid=10200588653412041&set=a.1440194558110.2057595.1030413936&type=3&theater (Stand: 01.06.2018). Abb. 8: Facebook-Gruppe Tunisia Revolution 2011, Chronikfoto, veröffentlicht am 16.3.2011. Online unter: https://www.facebook.com/Tunisia.Revolution.2011/ photos/a.118032261605436.23121.109706402438022/118722984869697/?type=3&theater (Stand: 01.06.2018).
372 Bibliographie Abb. 9: Facebook-Profil Amel Douja Dhaouadi, Profilfoto, veröffentlicht am 10.03.2012. Online unter: https://www.facebook.com/photo.php?fbid=3545838321659&set=a.1621977186333.88169.1143554919&type=3&theater (Stand: 01.06.2018). Abb. 10: Facebook-Seite Tunisie Islamique, Profilfoto, veröffentlicht am 10.11.2011. Online unter: https://www.facebook.com/220027164730514/ photos/a.220029764730254.54855.220027164730514/224837760916121/?type=1&theater (Stand: 01.06.2018). Abb. 11: Facebook-Seite Mouvement Révolutionnaire Tunisien pour la Démocratie et les libertés, Chronikfoto, veröffentlicht von Facebook-Nutzer Ennouri Mass’oud, am 22.04.2011. Online unter: https://www.facebook.com/photo.php?fbid=2018566868467&set=g.150841698307520&type=1&theater (Stand: 01.06.2018). Abb. 12: Facebook-Profil Abdou Hamdi, Chronikfoto, veröffentlicht am 27.11.2011. Online unter: https://www.facebook.com/photo.php?fbid=2339300449566&set=pb.1461548273.-2207520000.1417028066.&type=1&theater (Stand: 01.06.2018). Abb. 13: Facebook-Profil Badiaa Bouhrizi, Profilfoto, veröffentlicht am 20.01.2011. Online unter: https://www.facebook.com/photo.php?fbid=500047755788&set=pb.785780788.-2207520000.1517955459.&type=3&theater (Stand: 01.06.2018). Abb. 14: Facebook-Gruppe Tunisie revolution, Chronikfoto, veröffentlicht am 23.3.2013. Online unter: https://www.facebook.com/Tunirevolution/ photos/a.182495335183658.29333.182473481852510/347920788641111/?type=3&theater (Stand: 01.06.2018). Abb. 15: Facebook-Profil Asma Laabidi, Album-Foto, Album Manif/Sit-in Kasbah, veröffentlicht am 06.03.2011. Online unter: https://www.facebook.com/photo.php?fbid=1658894115748&set=a.1642588948129.2083985.1338998210&type=3&theater (Stand: 01.06.2018). Abb. 16: Facebook-Profil Abdou Hamdi, Profilfoto, veröffentlicht am 14.04.2012. Online unter: https://www.facebook.com/photo.php?fbid=3122368985790&set=pb.1461548273.-2207520000.1417445679.&type=3&theater (Stand: 01.06.2018). Abb. 17: Facebook-Profil Abdou Hamdi, Chronikfoto, veröffentlicht am 14.04.2012. Online unter: https://www.facebook.com/photo.php?fbid=3122374905938&set=pb.1461548273.-2207520000.1417445679.&type=3&theater (Stand: 01.06.2018). Abb. 18: Facebook-Seite Tunisie Nmout 3lik Ya, Chronik-Foto, veröffentlicht am 06.01.2011. Online unter: https://www.facebook.com/2lkarama/ photos/a.181416515216542.41694.181371305221063/182488331776027/?type=3&theater (Stand: 01.06.2018).
Abbildungsverzeichnis 373 Abb. 19: Facebook-Profil Asma Laabidi, Album-Foto, Album Manif/Sit-in Kasbah, veröffentlicht am 6.3.2011. Online unter: https://www.facebook.com/photo.php?fbid=1658865275027&set=a.1642588948129.2083985.1338998210&type=3&theater (Stand: 01.06.2018). Abb. 20: Facebook-Seite Vcom Freedom, Chronikfoto, veröffentlicht am 07.5.2011. Online unter: https://www.facebook.com/Vcom.Freedom.2/ photos/a.171044292944046.35610.171033746278434/186888654692943/?type=3&theater (Stand: 01.06.2018). Abb. 21: Facebook-Profil Asma Laabidi, Profilfoto, veröffentlicht am 11.05.2011. Online unter: https://www.facebook.com/photo/?fbid=1787407168494&set=a.1442968197735 (Stand: 01.06.2018). Abb. 22: Facebook-Profil Amel Douja Dhaouadi, Profilfoto, veröffentlicht am 29.01.2011. Online unter: https://www.facebook.com/photo.php?fbid=1870108269455&set=pb.1143554919.-2207520000.1517951983.&type=3&theater (Stand: 01.06.2018). Abb. 23: Facebook-Seite „Med Freeman Creations“, Chronikfoto, veröffentlicht am 10.06.2011. Online unter: https://www.facebook.com/MedFreemanCreations/ photos/a.227679747247293.79419.227645950584006/234341526581115/?type=1&theater (Stand: 01.06.2018). Abb. 24: Facebook-Profil Abdou Hamdi, Chronikfoto, veröffentlicht am 03.02.2012. Online unter: https://www.facebook.com/photo.php?fbid=2730618592275&set=pb.1461548273.-2207520000.1417028017.&type=1&theater (Stand: 01.06.2018). Abb. 25: Facebook-Profil Né à Tunis, Profilbild veröffentlicht am 29.03.2012. Online unter: https://www.facebook.com/photo/?fbid=3459840255673&set=a.1567757474786 (Stand: 01.06.2018). Abb. 26: Facebook-Profil Asma Laabidi, Profilbild, veröffentlicht am 25.04.2011. Online unter: https://www.facebook.com/photo.php?fbid=1758054754702&set=a.1442968197735.2059613.1338998210&type=3&theater (Stand: 01.06.2018). Abb. 27: Facebook-Profil Asma Laabidi, Profilbild, veröffentlicht am 25.4.2011. Online unter: https://www.facebook.com/photo.php?fbid=1758067075010&set=a.1442968197735.2059613.1338998210&type=3&theater (Stand: 01.06.2018). Abb. 28: Facebook-Profil Ali Jabeur, Chronikfoto, veröffentlicht am 20.10.2013. Online unter: https://www.facebook.com/photo.php?fbid=10201363881970626&set=a.1582131044789.80629.1581111399&type=3&theater (Stand: 01.06.2018). Abb. 29: Facebook-Profil Amel Belkhiria, Profilfoto, veröffentlicht am 30.06.2013. Online unter: https://www.facebook.com/photo.php?fbid=1997459689390&set=a.1997459489385.2103583.1030413936&type=3&theater (Stand: 01.06.2018).
374 Bibliographie Abb. 30: Facebook-Profil Hamadi Kaloutcha, Profilfoto, veröffentlicht am 21.01.2011. Online unter: https://www.facebook.com/photo.php?fbid=1815450428636&set=a.1597827188191.80133.1311339903&type=3&theater (Stand: 01.06.2018). Abb. 31: Facebook-Gruppe Tunisie moderne – Tunisie Révolution, Profilbild, veröffentlicht am 2.08.2011. Online unter: https://www.facebook.com/tunisie.moderne.tunisie.revolution/ photos/a.193980063996165.48934.193976780663160/193980070662831/?type=3&theater (Stand: 01.06.2018). Abb. 32: Facebook-Profil Haythem El Mekki, Profilbild, veröffentlicht am 12.10.2010. Online unter: https://www.facebook.com/photo.php?fbid=1550984887896&set=pb.1033341778.-2207520000.1416849742.&type=1&theater (Stand: 01.06.2018). Abb. 33: Facebook-Profil Ali Jabeur, Profilfoto, veröffentlicht am 04.02.2013. Online unter: https://www.facebook.com/photo.php?fbid=10200164936357735&set=a.1483816106977.71079.1581111399&type=3&theater (Stand: 01.06.2018). Abb. 34: Facebook-Profil Samah Krichah, Profilbild, veröffentlicht am 25.20.2011. Online unter: https://www.facebook.com/photo.php?fbid=2579537648581&set=pb.1258596619.-2207520000.1517934840.&type=3&theater (Stand: 01.06.2018). Abb. 35: Facebook-Gruppe „Tunisie Revolution 2011“, Chronikfoto, veröffentlicht am 22.10.2011. Online unter: https://www.facebook.com/Tunisia.Revolution.2011/ photos/a.118032261605436.23121.109706402438022/191309937611001/?type=3&theater (Stand: 01.06.2018). Abb. 36: Facebook-Profil Abdou Hamdi, Chronikfoto, veröffentlicht am 12.03.2012. Online unter: https://www.facebook.com/photo.php?fbid=2956869208399&set=pb.1461548273.-2207520000.1417445687.&type=3&theater (Stand: 01.06.2018). Abb. 37: Facebook-Profil Amel Douja Dhaouadi, Profilbild, veröffentlicht am 25.5.2011. Online unter: https://www.facebook.com/photo.php?fbid=2149903064150&set=a.1621977186333.88169.1143554919&type=3&theater (Stand: 01.06.2018). Abb. 38: Facebook-Seite Amina Tyler, Profilbild, veröffentlicht am 10.05.2013. Online unter: https://www.facebook.com/AminaFemenTunez/ photos/a.477745078947128.1073741825.477745005613802/496355867086049/?type=3&theater (Stand: 01.06.2018). Abb. 39: Facebook-Profil Badiaa Bouhrizi, Profilbild, veröffentlicht am 02.01.2011. Online unter: https://www.facebook.com/photo.php?fbid=491042420788&set=pb.785780788.-2207520000.1517955459.&type=3&theater (Stand: 01.06.2018). Abb. 40: Facebook-Seite Vcom Freedom, Chronik-Foto, veröffentlicht am 06.03.2011. Online unter: https://www.facebook.com/Vcom.Freedom.2/ photos/a.171044292944046.35610.171033746278434/173132736068535/?type=3&theater (Stand: 01.06.2018).
Abbildungsverzeichnis 375 Abb. 41: Facebook-Seite Tunisia Revolution 2011, Chronik-Foto, veröffentlicht am 15.12.201. Online unter: https://www.facebook.com/Tunisia.Revolution.2011/ photos/a.118032261605436.23121.109706402438022/217813421627319/?type=3&theater (Stand: 01.06.2018). Abb. 42: Facebook-Seite Tunisia Revolution 2011, Chronik-Foto, veröffentlicht am 14.01.2012. Online unter: https://www.facebook.com/Tunisia.Revolution.2011/ photos/a.118032261605436.23121.109706402438022/233739703368024/?type=3&theater (Stand: 01.06.2018). Abb. 43: Facebook-Gruppe Tunisie Nmout 3Lik Ya, Chronik-Foto, veröffentlicht am 07.02.2012. Online unter: https://www.facebook.com/2lkarama/ photos/a.181416515216542.41694.181371305221063/353344658023726/?type=3&theater (Stand: 01.06.2018). Abb. 44: Facebook-Seite La révolution tunisienne Tunisian Revolution Althaurat altounisia, Albumfoto, veröffentlicht am 31.01.2011. Online unter: https://www.facebook.com/120308444708651/ photos/a.120314204708075.21178.120308444708651/122790334460462/?type=3&theater (Stand: 01.06.2018). Abb 45: Facebook-Seite La révolution tunisienne Tunisian Revolution Althaurat altounisia, Albumfoto, veröffentlicht am 21.01.2011. Online unter: https://www.facebook.com/120308444708651/ photos/a.120314204708075.21178.120308444708651/120360228036806/?type=3&theater (Stand: 01.06.2018). Abb. 46: Facebook-Seite El Kasbah, Chronik-Foto, veröffentlicht am 17.12.2011. Online unter: https://www.facebook.com/El.Kasbah/ photos/a.202591169780458.49532.192061820833393/304046889634885/?type=3&theater (Stand: 01.06.2018). Abb. 47: Facebook-Seite Med Freeman Creations, Chronik-Foto, veröffentlicht am 29.05.2011. Online unter: https://www.facebook.com/MedFreemanCreations/ photos/a.227679747247293.79419.227645950584006/230841190264482/?type=1&theater (Stand: 01.06.2018). Abb. 48: Facebook-Profil Med Hannachi, Übersicht der Chronikfotos vom 25.10.2011. Online unter: https://www.facebook.com/photo.php?fbid=436998916397609&set=a.292843417479827.57944.100002625134958&type=3&theater (Stand: 01.06.2018). Abb. 49: Facebook-Seite Med Freeman Creations, Chronikfoto, veröffentlicht am 01.07.2012. Online unter: https://www.facebook.com/MedFreemanCreations/ photos/a.227679747247293.79419.227645950584006/491958380819427/?type=3&theater (Stand: 01.06.2018).
376 Bibliographie Abb. 50: Facebook-Profil Asma Laabidi, Titelbild, veröffentlicht am 16.02.2013. Online unter: https://www.facebook.com/photo.php?fbid=4587239882562&set=a.2658724510883.2121864.1338998210&type=1&theater (Stand: 01.06.2018). Abb. 51: Facebook-Profil Haythem El Mekki, Titelbild, veröffentlicht am 06.02.2013. Online unter: https://www.facebook.com/photo.php?fbid=4726922244345&set=pb.1033341778.-2207520000.1416848703.&type=3&theater (Stand: 01.06.2018). Abb. 52: Facebook-Profil Basma Khalfaoui, Chronikfoto, veröffentlicht am 20.02.2013. Online unter: https://www.facebook.com/photo?fbid=141305581558533 4&set=a.1413055805585335 (Stand: 01.06.2018). Abb. 53: Facebook-Profil Ghassen Karoui, Profilbild, veröffentlicht am 07.02.2013. Online unter: https://www.facebook.com/photo.php?fbid=10151322652428924&set=a.425531273923.221492.733538923&type=3&theater (Stand: 01.06.2018). Abb 54: Facebook-Profil Haijbi Hassen, Chronikfoto, veröffentlicht am 16.04.2013. Online unter: https://www.facebook.com/photo.php?fbid=10200512649964548&set=pb.1406800884.-2207520000.1416841783.&type=3&theater (Stand: 01.06.2018). Abb. 55: Facebook-Seite Tunisie Nmout 3Lik Ya, Chronikfoto, veröffentlicht am 18.1.2011. Online unter: https://www.facebook.com/2lkarama/ photos/a.181416515216542.41694.181371305221063/185480071476853/?type=3&theater (Stand: 01.06.2018). Abb. 56: Facebook-Seite Vcom Freedom, Chronikfoto, veröffentlicht am 04.06.2011. Online unter: https://www.facebook.com/Vcom.Freedom.2/ photos/a.171044292944046.35610.171033746278434/193094327405709/?type=3&theater (Stand: 01.06.2018). Abb. 57: Facebook-Seite Vcom Freedom, Chronikfoto, veröffentlicht am 15.12.2011. Online unter: https://www.facebook.com/Vcom.Freedom.2/ photos/a.171044292944046.35610.171033746278434/279144182134056/?type=3&theater (Stand: 01.06.2018). Abb. 58: Facebook-Seite DEBATunisie, Chronikfoto, veröffentlicht am 27.10.2013. Online unter: https://www.facebook.com/DEBATunisie/ photos/a.161654073892645.36256.149229615135091/615495771841804/?type=3&theater (Stand: 01.06.2018). Abb. 59: Facebook-Seite DEBATunisie, Chronikfoto, veröffentlicht am 13.05.2012. Online unter: https://www.facebook.com/DEBATunisie/ photos/a.161654073892645.36256.149229615135091/369363109788406/?type=3&theater (Stand: 01.06.2018).
Abbildungsverzeichnis 377 Abb. 60: Facebook-Seite DEBATunisie, Chronikfoto, veröffentlicht am 24.02.2013. Online unter: https://www.facebook.com/DEBATunisie/ photos/a.161654073892645.36256.149229615135091/501477743243608/?type=3&theater (Stand: 01.06.2018). Abb. 61: Facebook-Seite El Kasbah, Chronik-Foto, veröffentlicht am 18.02.2012. Online unter: https://www.facebook.com/El.Kasbah/ photos/a.202591169780458.49532.192061820833393/346634408709466/?type=3&theater (Stand: 01.06.2018). Abb. 62: Facebook-Profil Rachida Amara, Profilbild, veröffentlicht am 06.02.2013. Online unter: https://www.facebook.com/photo.php?fbid=10200586079754957&set=a.1612624155998.2088857.1248107499&type=3&theater (Stand: 01.06.2018).
Index 14. Januar 87, 112, 113, 117, 121, 140, 152, 153, 161, 172, 176, 180, 182, 183, 185, 189, 194, 216, 261, 264, 270, 275, 277, 280, 300, 303, 307, 344, 355 Abbild 23, 130, 319 Album 12, 195, 198, 199, 201, 205, 227, 275, 372, 373 Algorithmen 38, 39, 41, 42, 43, 44, 45, 47, 63 Allegorie 179, 191 Aneignung 15, 17, 36, 71, 77, 84, 87, 131, 141, 142, 143, 148, 150, 155, 156, 165, 168, 169, 176, 177, 178, 198, 202, 208, 222, 227, 252, 298, 341 Anonymous 115, 234, 236, 237, 365 Artefakt 32, 53, 132, 138, 140, 155, 177, 178, 262 Aushandlung 47, 214, 215 Authentifizierung 19, 101, 194, 198, 199, 229, 231, 232, 252, 279, 280, 286, 342, 343, 347 Avatar 230, 231 Ben Ali 3, 4, 5, 87, 101, 102, 103, 105, 108, 109, 110, 112, 114, 115, 116, 117, 119, 130, 134, 136, 137, 138, 139, 143, 152, 154, 157, 160, 177, 178, 207, 212, 264, 265, 266, 267, 271, 272, 276, 282, 297, 298, 299, 300, 301, 302, 304, 306, 307, 308, 309, 311, 312, 325, 338 Bildbearbeitung 96, 211, 259, 300, 339 Bilderstürme 254, 297, 303 Bildkultur 37, 39, 49, 63, 65, 66, 67, 69, 88, 89, 95, 177, 181, 204, 207, 245, 252, 255, 270, 292, 295, 307, 327, 332, 333, 340, 347 Blog 109, 118, 204, 308, 370 Blogger 91, 92, 108, 110, 111, 114, 152, 177, 231, 267, 269 Blut 134, 147, 150, 152, 158, 159, 161, 162, 164, 261, 273, 274, 275, 281, 286, 294, Bricolage 131, 145, 155, 156,
Chokri Belaid 192, 193, 283, 285, 286, 288, 289, 290, 291, 293, 294, 295, 296, 306, 328, 342 Code 6, 11, 13, 14, 25, 26, 27, 29, 30, 38, 40, 42, 43, 47, 49, 50, 52, 56, 59, 61, 63, 79, 80, 82, 83, 85, 86, 88, 107, 144, 204, 236, 245, 247, 299, 306, 315, 320, 326, 331, 340, 347, 348 Collage 16, 84, 92, 192, 202, 206, 212, 233, 250, 260, 261, 264, 278, 280, 296, 304, 326, 339 Dégage 116, 119, 139, 184, 205, 206, 223 Deixis 250 Demonstration 4, 19, 70, 76, 87, 91, 103, 109, 110, 114, 115, 117, 120, 124, 125, 126, 127, 128, 130, 136, 138, 143, 148, 151, 158, 161, 169, 182, 183, 185, 187, 190, 193, 198, 199, 202, 204, 205, 206, 207, 210, 212, 214, 220, 221, 222, 226, 227, 228, 236, 238, 241, 245, 250, 251, 265, 267, 270, 275, 282, 283, 294, 300, 302, 304, 305, 338, 339, 340, 342, 343 denotativ 26, 27, 28, 34, 48, 77, 83, 132, 141, 196, 292, 314, 315, 316, 317, 339, 342 digital V, 5, 7, 15, 19, 23, 25, 37, 38, 39, 40, 41, 42, 43, 44, 46, 47, 49, 50, 63, 68, 86, 96, 141, 142, 144, 178, 179, 181, 195, 206, 207, 210, 211, 215, 222, 230, 256, 267, 345 Digitalität 11, 23, 62 Effigie 230, 236, 252, 253, 255, 259, 267, 288, 300, 301, 303, 304, 305, 306 Emoji 61, 159 Ennahdha 120, 121, 123, 124, 125, 127, 128, 129, 248, 281, 283, 310, 313 Femen 127, 245, 246, 364, 370 fiktional 14, 93, 280 Framing 75, 76, 79, 87, 94, 172, 340, 341, 361 Gedächtnis 15, 60, 61, 81, 85, 186, 187, 206, 213, 345, 347
380 Index Graffiti 34, 127, 128, 198, 207, 209, 211, 212, 251, 291, 342 Grenze 12, 18, 30, 32, 44, 58, 59, 62, 63, 74, 78, 79, 88, 112, 215, 241, 247, 248, 250, 271, 290, 299, 306, 307, 312, 316, 317, 318, 323, 327, 331, 338, 340, 341, 345, 347 Guerilla (semiologische) 15, 83, 156, 304, 328 Hegemonie 5, 74, 75, 87, 114, 124, 135, 148, 168, 170, 174, 182, 246, 281, 282, 292, 296, 297, 340 Held 19, 252, 256, 261, 262, 264, 266, 267, 269, 274, 291, 292, 300 ideologisch 42, 58, 72, 74, 79, 80, 84, 85, 86, 87, 114, 115, 121, 122, 124, 153, 170, 173, 175, 176, 180, 199, 214, 284, 290, 292, 293, 294, 295, 296, 297, 304, 310, 311, 314, 320, 321, 327, 331, 337, 338, 339, 340, 341, 345, 346, 347 Idol 255, 296, 300 Ikone 5, 25, 28, 185, 191, 193, 294, 303, 330 ikonographisch 15, 277, 348 Index 28, 43, 87, 213 Indexikalität 39, 40, 82, 131, 181, 198, 213 Individualisierung 19, 171, 218, 219, 272, 346, 349 Innovation V, 7, 8, 9, 17, 34, 37, 78, 88, 101, 307, 323 Inszenierung 4, 13, 17, 19, 101, 172, 182, 184, 198, 199, 211, 214, 218, 219, 220, 226, 228, 230, 231, 239, 241, 244, 245, 248, 250, 252, 259, 266, 268, 270, 273, 275, 277, 278, 280, 284, 286, 301, 322, 339, 340, 346 Internetaktivismus 101, 104 Internetkultur 44, 57, 60, 61, 62, 67, 68, 89, 105, 230, 292 Interpretant 24, 25, 31, 32, 361 Ironie 61, 105, 159, 210, 226, 316, 320, 321, 323, 332 Islam 123, 126, 128, 133, 273, 274, 310 Karikatur 15, 16, 19, 35, 91, 104, 127, 307, 308, 310, 311, 312, 313, 314, 315, 316,
317, 318, 319, 321, 322, 323, 326, 331, 332, 340, 347 Kasbah 113, 119, 120, 124, 172, 193, 194, 196, 198, 205, 206, 207, 209, 211, 267, 293, 295, 323, 324 Kollektiv 10, 18, 44, 70, 105, 115, 118, 122, 127, 128, 143, 177, 204, 267, 268, 278, 307, 326, 344 Komposition 197, 272, 277, 295, 326, 331 konnotativ 26, 27, 28, 30, 48, 82, 89, 131, 137, 141, 157, 177, 247, 292, 314, 315, 316, 317, 340 Konventionen 7, 8, 9, 26, 27, 29, 30, 71, 82, 306 Konvergenz 66, 179 Korruption V, 103, 105, 113, 119 Kultursemiotik 48, 88, 89, 176, 348 Legitimation 81, 180, 281, 282, 311, 314, 321 Like-Funktion 7, 46 machine semiosis 47 Märtyrer 134, 147, 150, 152, 252, 270, 271, 273, 274, 275, 278, 279, 280, 281, 282, 287, 292, 295 Maske 234, 235, 236, 237, 324 Massenmedien 53, 54, 60, 76, 103, 104, 107, 116, 120, 181, 182, 188, 255, 315, 339, 348 Materialisierung 32, 49, 53, 60, 67, 81, 89, 131, 252, 254, 262, 267, 269, 286, 291, 297, 298, 299, 300, 303, 304, 305, 343 Materialität 11, 32, 34, 35, 36, 37, 39, 40, 41, 49, 53, 65, 88, 89, 92, 132, 147, 181, 214, 219, 232, 238, 249, 250, 251, 277, 292, 328, 330, 332, 343, 349 Mediasphäre 57, 60, 61, 62, 63, 66, 67, 68, 69, 74, 77, 78, 81, 82, 272, 338, 341, 343, 346 Medienkultur 10, 18, 23, 44, 50, 54, 55, 56, 57, 58, 62, 64, 68, 88, 90, 94, 117, 129, 155, 219, 348 Mediensemiotik 88 Memes 67, 91, 349 Metapher 4, 25, 28, 148, 149, 150, 153, 154, 157, 158, 159, 160, 161, 163, 179, 202, 297
Index 381 Mimesis 11, 25, 37 Mohammed Bouazizi 113, 114, 115, 187, 212, 256, 257, 267, 282, 298, 300, 305 Multimodalität 16, 44 Mythologisierung 292 Nationalallegorie 176, 180, 242, 309 Nationalismus 161, 169, 177, 244 Nawaat 107, 136 Öffentlichkeit 60, 70, 75, 77, 78, 95, 120, 121, 124, 138, 141, 216, 246, 271, 292, 293, 294, 343, 344 Phishing 111 Pose 190, 200, 201, 217, 218, 219, 225, 231, 242, 279 Pragmatik 41, 235 Presse 65, 103, 115, 116 Profilfoto 140, 146, 151, 152, 162, 166, 172, 174, 190, 200, 208, 210, 227, 229, 231, 235 Protestkultur 17, 19, 69, 71, 72, 73, 74, 78, 81, 84, 85, 86, 87, 88, 89, 90, 94, 101, 111, 113, 114, 116, 117, 118, 120, 129, 130, 145, 175, 207, 241, 251, 278, 337, 338, 339, 340, 342, 343, 346, 348 RCD 3, 4, 115, 116, 119, 120, 136, 139, 178, 190, 195, 223 Referentialität 25, 62, 64, 92 Referenz 4, 11, 12, 31, 37, 92, 93, 94, 133, 137, 158, 159, 169, 170, 175, 181, 185, 197, 206, 220, 230, 231, 240, 247, 250, 258, 273, 277, 289, 291, 305, 321, 325, 328, 338 Rekonstruktionsphase 113, 119, 123, 170, 295 Repräsentamen 24, 25, 27, 28, 31 Reveil Tunisien 105, 107 Revolutionsphase 112, 117, 140, 151, 163, 165, 166, 169, 171, 340, 344 Rezipient 42, 43, 57, 65, 76, 150, 195, 214, 315, 316, 318, 319, 321, 322 säkular 121, 124, 125, 126, 133, 163, 168, 174, 277, 283, 291, 292, 303, 306, 311, 313, 327
salafistisch 126, 170, 174 Schahada 170, 174, 275 Schahid 275 Selbstverbrennung 112, 136, 256, 257, 259, 261, 262, 264, 267, 269, 283, 304 Selfies 4, 16, 91, 182, 214, 215, 216, 219, 221, 224, 229, 236, 237, 238, 341 Semiose 18, 24, 30, 31, 32, 33, 34, 35, 36, 42, 44, 47, 48, 49, 69, 176 Semiosphäre 58, 59, 60, 61, 62, 65, 66, 71, 73, 74, 78, 79, 80, 82, 83, 84, 85, 87, 144, 181, 188, 189, 206, 236, 245, 247, 248, 251, 272, 295, 315, 316, 318, 323, 328, 337, 338, 342, 343, 345, 346, 348 Sichtbarmachung 11, 32, 41, 49, 82, 85, 144, 204, 217, 219, 296, 298, 303, 307, 317, 331, 337, 338, 339 Sit-In 113, 119, 120, 124, 129, 166, 172, 193, 195, 197, 199, 202, 206, 207, 209, 211, 214, 216, 225, 226, 232, 241, 294, 295, 339, 341, 342, 343, 344 Slogan 139, 148, 173, 181, 184, 202, 203, 204, 205, 206, 207, 208, 209, 211, 223, 227, 251, 264, 342, 344 Social Network Site 4, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 19, 23, 44, 47, 48, 49, 68, 95, 129, 141, 144, 177, 256, 323 SNS 4, 23, 44, 63, 64, 69, 87, 93, 96, 110, 129, 131, 139, 141, 142, 143, 178, 181, 195, 206, 210, 214, 216, 227, 231, 232, 236, 250, 302, 306, 338, 341 Solidarität 72, 110, 128, 153, 154, 160, 179, 187, 284, 289, 322, 330, 344 Spur 5, 9, 47, 176, 185, 202, 205, 206, 209, 210, 211, 212, 231, 238, 250, 251, 252, 261, 286, 287, 289, 290, 342 Stabilisierungsphase 113, 118, 123, 129, 165, 262 Symbol 28, 87, 132, 134, 138, 141, 142, 144, 147, 149, 150, 153, 157, 161, 168, 173, 178, 179, 184, 187, 189, 191, 193, 227, 228, 236, 238, 239, 245, 264, 267, 280, 287, 290, 291, 311, 325, 329, 341, 344 Symbolizität 34, 131, 134, 150, 152, 167, 180, 187, 189, 237, 269
382 Index Takriz 104, 105, 106, 107 Technikdeterminismus 10 Troika 122, 123, 128, 129, 280, 282 TUNeZINE 105 Twitter 86, 109, 110, 114 user generated content 7, 9, 10, 11 Victory 186, 200, 226, 243 viral 67, 78, 116, 139, 142, 143, 163, 207, 288, 349 Visual Culture 39, 63 visuelle Kultur 63, 64, 65, 66, 68, 153, 347 Widerstand 14, 17, 69, 70, 83, 119, 120, 134, 135, 138, 148, 170, 191, 214, 221, 273, 292, 307, 347 Youtube 109, 110 Zeichenhandeln; 6, 7, 8, 9, 10, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 87, 141, 164 Zeichenpraktiken 46, 56, 57, 58, 60, 62, 64, 65, 73, 80, 82, 83, 129, 132, 344, 348 Zensur 105, 107, 110, 188, 278, 299, 315, 338 Zeugenschaft 39, 188, 210, 224, 234, 239, 274, 275, 282