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German Pages 230 Year 2015
Holger Michael Kulturelles Erbe als identitätsstiftende Instanz?
Holger Michael (Dr. phil.) studierte Altamerikanistik, Ethnologie und Soziologie an der Freien Universität Berlin. Im Lateinamerika-Institut derselben Institution promovierte er in Altamerikanistik.
Holger Michael
Kulturelles Erbe als identitätsstiftende Instanz? Eine ethnographisch-vergleichende Studie dörflicher Gemeinschaften an der Atlantik- und Pazifikküste Nicaraguas
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I NHALT
Danksagung
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Einleitung Ausgangslage Forschungsstand
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Kapitel 1: Kolonialgeschichtliche Hintergründe bei der Herausbildung unterschiedlicher kultureller Ausprägungen an der Atlantikund Pazifikküste Nicaraguas 1. Vorbemerkung 2. Die Herausbildung der mestizischen Bevölkerung an der Pazifikküste
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Kapitel 2: Die begriffliche Einordnung zentral verwendeter Termini 1. Zur theoretischen Debatte der Begriffe soziale Organisation vs. soziale Struktur 2. Die begriffliche Bestimmung des Terminus kulturelles Erbe 3. Die wechselseitigen Einflüsse von kultureller Identität und internen Gruppenbildungsprozessen (‚Wir-Gruppen‘) 4. Überlegungen anhand der eigenen empirischen Ergebnisse 5. Vorstellung und Diskussion der bei der Forschung verwendeten Methoden Kapitel 3: Ethnographie der comunidad Wawa Bar an der Atlantikküste 1. Sozialgeographie der dörflichen Gemeinschaft 2. Die Wahrnehmung der unterschiedlichen politischen Epochen 3. Struktur und Aufgabenbereiche traditioneller Autoritäten 4. Der Einfluss der Drogenökonomie auf die soziale Organisation der Bewohner 5. Kultureller Wandel in Wawa Bar 6. Die sozialen Phänomene envidia und brujeria und ihre Anwendung bei der Schädigung von Konkurrenten 7. Fazit: Die Drogenökonomie als paradigmatisches Beispiel für den Einfluss supranationaler Verhältnisse auf die soziale Organisation Wawa Bars
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71 75 100 120 130 134
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Kapitel 4: Ethnographie der comunidad Masachapa an der Pazifikküste 1. Geschichtliche Daten 2. Die Diktatur Somozas: Herausbildung einer unreflektierten Sympathie 3. Das Missfallen der Bevölkerung gegenüber der sandinistischen Revolution 4. Der Wahlsieg Violeta Chamorros und dessen Auswirkungen auf die Bewohner 5. Gewinner und Verlierer während der Regierungszeit Arnoldo Alemáns 6. Endogene und exogene Einflüsse auf die soziale Organisation Masachapas 7. Katholische und evangelikale Konfessionen in Masachapa 8. Die sozialen Phänomene envidia und brujeria 9. Fazit: Die Diktatur als paradigmatisches Beispiel für das Verhältnis der lokalen Bevölkerung zu sich selbst und zu ihrer Außenwelt
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Zusammenfassung und Ausblick 1. Unterschiede und Gemeinsamkeiten beim Vergleich der comunidades Wawa Bar und Masachapa
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Bibliographie
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D ANKSAGUNG An dieser Stelle möchte ich mich bei all jenen bedanken, die zum Zustandekommen der vorliegenden Arbeit beigetragen haben. An erster Stelle sei meine Ehefrau Yoanne Zúñiga genannt, die mich nicht nur bei meiner Feldforschung begleitet, sondern auch mit ihrer aktiven und kritischen Mitarbeit bzw. moralischen Unterstützung wesentlich zum Gelingen der Dissertation beigetragen hat. Den Bewohnern der dörflichen Gemeinschaften Masachapa an der Pazifik- und Wawa Bar an der Atlantikküste Nicaraguas möchte ich herzlich für ihre Gastfreundschaft und insbesondere für ihre Geduld danken, die sie einem ständig seltsame Dinge fragenden Europäer gegenüber aufgebracht haben. Meinem Doktorvater Prof. Dr. Jürgen Golte danke ich für die Betreuung der Arbeit, die er stets mit Interesse und Wohlwollen begleitet hat. Herrn Prof. Dr. Wolfgang Gabbert danke ich für die Übernahme des Koreferates und seinen hilfreichen Anregungen und Hinweisen. Die Mitglieder der Mikro-AG „Fachlich-Methodische Beratung nach der Feldforschung“ haben mich bei der Bearbeitung meines empirischen Materials durch unermüdliche Kritik unterstützt. Ein Promotionsstipendium der Hans-Böckler-Stiftung ermöglichte mir nicht nur die für die vorliegende Arbeit notwendigen Studien in Nicaragua, sondern verschaffte mir ebenso die finanzielle Grundlage, um sich mit voller Konzentration in meinen Forschungsgegenstand zu vertiefen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ibero-Amerikanischen Instituts in Berlin haben mir stets mit Rat und Tat zur Seite gestanden. Ihnen gebührt große Anerkennung. Besonders meinen Eltern sei an dieser Stelle für ihre tatkräftige Unterstützung beim Zustandekommen der Dissertation gedankt.
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E INLEITUNG In Nicaragua ist es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu tief greifenden gesellschaftlichen Transformationen gekommen. Insbesondere die sandinistische Revolution im Jahr 1979 löste eine Flut wissenschaftlicher Veröffentlichungen aus, die sich hinsichtlich der politischen Umwälzungen den Fragen widmeten, welche historischen Gründe für den revolutionären Umsturz vorlagen und in welche ideologische Richtung sich der postrevolutionäre Prozess entwickeln würde. Gleichwohl wurde bisher nicht der Frage nachgegangen, wie sich politische Brüche auf der nationalstaatlichen Ebene auf die soziale Organisation dörflicher Gemeinschaften auswirken, um nachvollziehen zu können, wie der alltägliche Prozess sozialer Interaktion auf lokaler Ebene durch übergeordnete Verhältnisse tangiert wird und welche Rolle dabei das kulturelle Erbe spielt. Insbesondere fehlt ein Vergleich der beiden Landesteile an Atlantik- und Pazifikküste, da diese aufgrund ihrer unterschiedlichen Kolonialgeschichte kulturelle Besonderheiten aufweisen. Mit der vorliegenden Forschungsarbeit soll diese in der Nicaraguaforschung existierende Lücke geschlossen werden. In der Arbeit wird mittels einer ethnographischen Beschreibung der dörflichen Gemeinschaften Wawa Bar an der Atlantik- bzw. Masachapa an der Pazifikküste und der Dokumentation erhaltener Aussagen befragter Personen dargelegt, wie die gesamtgesellschaftlichen Transformationsprozesse von sozialen Akteuren auf lokaler Ebene wahrgenommen werden. Sowohl die geführten Diskurse von Einzelpersonen als auch die kollektiven Argumentationsstränge der von diesen Personen konstituierten Gruppen stehen im Vordergrund des wissenschaftlichen Interesses. Dabei werden nicht nur die subjektiven Erfahrungen als Wahrnehmungs- und Erinnerungsunterschiede kategorisiert, sondern ebenso die in den Diskursen auftauchenden Widersprüche thematisiert. Durch die Wiedergabe erhaltener Aussagen, der Dokumentation von Fallbeispielen und der Darstellung soziokultureller Spezifika werden Rückschlüsse auf charakteristische Veränderungen in der sozialen Organisation gezogen. Auf Grundlage beobachteter Alltagshandlungen und individueller Stellungnahmen befragter Bewohner1 wird nachgezeichnet, wie sich die einzelnen politischen Epochen auf das Zusammenleben der dörflichen Gemeinschaften ausgewirkt haben. Eine solche Vorgehensweise impliziert bei der Darstellung der empirischen Daten eine parallele Betrachtung von Vergangenheit und Gegenwart. Dabei 1 Zur besseren Lesbarkeit des Textes werde ich in dieser Arbeit ausschließlich die männliche Form verwenden. 9
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werden die erhobenen Daten nicht nur dokumentiert, sondern an bestimmten Abschnitten auch analog interpretiert. Um bestimmte Ereignisse in der Komplexität des historischen Verlaufs bzw. wesentliche Charakteristika untersuchter Kultur besser einordnen zu können, werden in einigen Abschnitten weiter gehende Informationen anhand kurzer Exkurse gegeben. Mittels des Vergleichs von Atlantik- und Pazifikküste soll herausgearbeitet werden, ob sich trotz der kulturellen Verschiedenartigkeit der beiden Landesteile gemeinsame Handlungsmuster erkennen lassen oder es generell zu differierenden Reaktionsweisen kommt. Dabei wird die Rolle des jeweiligen kulturellen Erbes zu klären sein. Ebenso soll analysiert werden, welche Mechanismen bei einer Reproduktion und Neubewertung der jeweils individuellen und gruppenspezifischen sozialen Realität zum Tragen kommen. Durch das Herausfinden des Sinns und der Regelmäßigkeit bestimmter Handlungen soll eine Einbettung von Alltagsprozessen in einen Sinnzusammenhang erfolgen. Da politische Veränderungen die Alltagsprozesse modifizieren können, wird eine Verknüpfung dieser Prozesse mit übergeordneten Sinnzusammenhängen notwendig sein. Die empirischen Ergebnisse verdeutlichen – so die hier vertretene These –, dass gesamtgesellschaftliche Transformationsprozesse von den sozialen Akteuren in den lokalen Verhältnissen dergestalt umgesetzt werden, dass sie in ihnen reinterpretiert, umgedeutet und damit auch umgewertet werden. Aufgrund dessen ist zu konstatieren, dass Lokalität kein bloßer Spiegel gesamtgesellschaftlicher Tendenzen ist, sondern einen eigengesetzlichen sozialen Prozess darstellt, in dem sich nationale Politik und die supranationale Umgebung abbilden. Lokalität wird hier als ein selbständiger sozialer Zusammenhalt bezeichnet, der von Prozessen bestimmt wird, die die Bewohner je spezifisch vor dem Hintergrund der Gesamtheit von Einflüssen aus der Außenwelt ihre innere und persönliche Ordnung mit unterschiedlichen Tendenzen weiterentwickeln lässt. Dabei stellt das kulturelle Erbe nicht eine statische Größe, sondern einen dynamischen Prozess dar. In dessen Verlauf wird das kulturelle Erbe permanent neu interpretiert, wobei es über mannigfaltige Ressourcen verfügt, auf die die Menschen in der sozialen Interaktion zurückgreifen können. Um sich den spezifischen Begebenheiten auf lokaler Ebene nähern zu können, wird es an dieser Stelle erforderlich sein, die gesamtgesellschaftlichen Transformationsprozesse kurz zu thematisieren. Dabei werden für jede einzelne politische Epoche die spezifischen Lebens- und Arbeitsbedingungen der Bevölkerung charakterisiert und die politischen und sozioökonomischen Veränderungen skizziert.
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EINLEITUNG
Ausgangslage Seit dem Sturz der Diktatur Somozas Ende der 1970er Jahre ist die nicaraguanische Gesellschaft einem politischen Ringen zwischen Autoritarismus und Demokratisierung unterworfen. Während der fast 50-jährigen Diktatur, bei der sich die Machtstrukturen in den Händen der Familie Somoza konzentrierten, bildete sich ein spezifisches politisches und sozioökonomisches Gefüge in der nicaraguanischen Gesellschaft heraus.2 Die politischen Säulen der Diktatur bestanden aus der Kooptation der bürgerlichen Eliten, der direkten Befehlsgewalt über die Ende der 1920er Jahre gegründeten Nationalgarde (guardia nacional) und der Unterstützung durch die USA (vgl. Walker 1986: 26). Die Kooptation diente als Vorwand, dem diktatorischen Regime nach außen hin einen demokratischen Anstrich zu verleihen und die bürgerliche Opposition bis zu einem gewissen Grad in Präsidentschaftswahlen und Regierungsbildung einzubeziehen. Im Gegenzug erhielten die Eliten alle Optionen, ihren unternehmerischen Interessen nachzugehen (vgl. Walker 1997b: 4). Der Nationalgarde3 wurde die Kontrolle einer Reihe öffentlicher Institutionen übertragen, wodurch sie im täglichen Leben Nicaraguas allgegenwärtig wurde. Mittels der militärischen Durchdringung der Gesellschaft installierte die Diktatur ein breit angelegtes Überwachungssystem. Während Nicaragua aufgrund geostrategischer Interessen der USA umfassende Wirtschafts- und Militärhilfen bzw. diplomatische Anerkennung seitens der Vereinigten Staaten erhielt, kam es innenpolitisch zu verfassungspolitischen Manipulationen und einer Willkür der Nationalgarde gegenüber der Bevölkerung (vgl. Niess 1987: 295ff.). Parallel dazu entwickelte sich eine starke Ausrichtung des nicaraguanischen Agrarsektors auf den US-amerikanischen Markt, in dessen Verlauf es zu gewichtigen Veränderungen in der Sozialstruktur der Bevölkerung kam. Aufgrund eines Mitte des 20. Jahrhunderts einsetzenden Baumwollbooms4 vertrieb die Nationalgarde Kleinbauern von ihren Ländereien, was zu einer gleichzeitig einsetzenden Konzentration des verfügbaren Bodens führte (vgl. IEPALA 1978: 18). Die prekären Lebensverhältnisse äußerten sich in einem Anwachsen wandernder Tagelöhner bzw. der Migration in die größeren Städte, bei denen fehlende Arbeitsmöglichkeiten und unzureichender Zugang zu sozialen Dienstleistungen die Situation der in den Städten ohnehin schon marginalisierten Bevölkerungsteile noch verschärften (vgl. Walker 1999: 4). Doch erst in den 1970er Jahren entwickelte sich aus dem ge2 Torres Lazo (2000) beschreibt anhand eigener Erlebnisse anschaulich die zum Zeitpunkt der Diktatur vorherrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse. Siehe ebenso Informationsbüro Nicaragua (1983). 3 Hinsichtlich Entstehungsbedingungen und Funktion der Nationalgarde siehe Niess (1987: 291-296). 4 Dieser Boom ging von den USA aus, da sich infolge des Korea-Krieges eine erhöhte Nachfrage nach Baumwolle in der westlichen Hemisphäre entwickelte (vgl. Niess 1987: 340). 11
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sellschaftlichen Kontext eine breite Widerstandsbewegung gegen die Diktatur heraus, die mit dem Sieg der sandinistischen Revolution am 19. Juli 1979 ihren Höhepunkt fand.5 Der revolutionäre Umsturz rief einen tief greifenden sozioökonomischen Umbruchprozess hervor, der maßgeblich von der Sandinistischen Front zur Nationalen Befreiung (Frente Sandinista de Liberación Nacional; FSLN) vorangetrieben wurde. Dabei wurden Tempo und Richtung dieses Prozesses durch die gesellschaftstheoretischen Vorstellungen der Sandinisten geprägt (vgl. Links 1992: 8).6 Um die Bevölkerung bei den gesellschaftlichen Veränderungen aktiv mit einzubeziehen, bildete die FSLN aus ihren Reihen Polizei und Militär bzw. gründete sandinistische Massenorganisationen wie Industrie-, Landarbeiter- und Lehrergewerkschaft, Produzenten- und Jugendverbände, Frauenorganisationen, bis hin zu den als ,Sandinistische Verteidigungskomitees‘ (Comité de Defensa Sandinista; CDS) benannten Stadtteilorganisationen. In den ersten vier Jahren nach dem Sturz der Diktatur kam es zu einem vorher nicht gekannten Auf- und Ausbau eines Netzes sozialer Sicherheit. Insbesondere die im Jahr 1980 durchgeführte Alphabetisierungskampagne, der Aufbau eines basisorientierten Bildungs- und Gesundheitswesens und eine eingeleitete Landreform charakterisierten diese Epoche (vgl. Pickert 1999: 4). Infolge Landenteignungen und der Bildung von Kooperativen erhielten vormals landlose Bauern Bodenbesitz. Zwischen den Jahren 1979 und 1983 führte die veränderte Wirtschafts- und Sozialpolitik zu einer signifikanten Abnahme der extremen Armut breiter Bevölkerungsschichten (vgl. Walker 1997b: 9). Allerdings kam es im weiteren Verlauf – trotz einer bedeutsamen Steigerung der Nahrungsmittelproduktion – aufgrund eines Ungleichgewichts beim Güteraustausch Stadt-Land zu einem Bruch der traditionellen Austauschbeziehungen zwischen Zentrum und Peripherie. Erschwerend kam ab Mitte der 1980er Jahre der von den USA finanzierte Contra-Krieg hinzu, dem die Sandinisten u.a. mit einem obligatorischen Militärdienst (Servicio Militar 5 Zu den Gründen für die Entwicklung dieser Widerstandsbewegung siehe Niess (1987: 331-396). 6 Diese Vorstellungen basieren auf einer drei Komponenten umfassenden Ideologie: ein auf das Volk und die Unabhängigkeit orientierter Nationalismus, das in der Alltagskultur verwurzelte Christentum und der Marxismus. Diese Komponenten wurden mit den revolutionären Erfahrungen anderer Völker verbunden (vgl. Links 1992: 8). Nicht nur die gesellschaftstheoretischen Vorstellungen der FSLN, sondern auch die Vielschichtigkeit des Sandinismus insgesamt haben zu unzähligen Deutungsversuchen verschiedener Autoren geführt. Während bspw. Walker (1986) eine eher nationalistische Interpretation der sandinistischen Revolution abgibt, bewertet Kriele (1985) diese als Zwangsstaat sowjetischer Prägung. Darüber hinaus hat der sandinistisch geprägte Nationalismus nachhaltig zum Konflikt zwischen Sandinisten und Mískito an der Atlantikküste beigetragen. Für eine Einführung in diesen Konflikt siehe CIDCA/Development Study Unit (1987); Hale (1987: 255-275); Ohland/Schneider (1982). 12
EINLEITUNG
Popular; SMP) begegneten. Der SMP führte jedoch dazu, dass aufgrund der Einberufung von Bauernsöhnen die familiäre Ökonomie auf dem Land stark in Mitleidenschaft gezogen wurde (vgl. Vargas 1999: 45). Ebenso wurden durch den SMP die ohnehin schon zu beklagenden Verluste an Menschenleben noch weiter erhöht. Eine zusätzlich von den USA verhängte Wirtschaftsblockade verschärfte überdies die ökonomischen und fiskalischen Probleme der sandinistischen Regierung. Die Revolution erlitt einen schwer wiegenden Vertrauensverlust in der Bevölkerung (vgl. Walker 1997b: 8f.). Ohnehin erzeugte der Contra-Krieg Bruchlinien in der nicaraguanischen Gesellschaft, da sich bei dieser militanten Auseinandersetzung nicaraguanische Bürger – mitunter auch Angehörige derselben Familie – als Mitglied der Contra bzw. Anhänger der Sandinisten direkt bei Kampfhandlungen gegenüberstanden.7 Der Krieg und die sich daraus resultierende ökonomische Entwicklung8 Nicaraguas hatten zur Folge, dass die Bevölkerung den Sandinisten das Vertrauen entzog und es bei den am 25.02.1990 abgehaltenen Wahlen zur Nationalversammlung und der Präsidentschaft zu einem Wahlsieg der von den USA gestützten Präsidentschaftskandidatin Violeta Barrios de Chamorro und einer 14-Parteien-Koalition namens UNO (Unión Nacional Opositora; Nationale oppositionelle Union) kam (vgl. Azzellini 1993: 93). Auch wenn der politische Wechsel nicht annähernd so militant wie beim Sturz der Diktatur Somozas vor sich ging, war abzusehen, dass sich die nicaraguanische Gesellschaft nach der Wahl der neuen Regierung erneut radikal transformieren würde. Da die sandinistische Revolution gerade einmal 10 Jahre Bestand hatte, musste sich die Bevölkerung in weniger als einer Generation erneut auf veränderte gesellschaftliche Verhältnisse einstellen (vgl. Close 1999: 37). Im wirtschaftlichen Bereich kam es zu einem Übergang von einer sozialistisch orientierten Gesellschaftsform zu einer konservativen Politik mit neoliberalen Wirtschaftskonzepten. Trotz ca. 700 Millionen US-Dollar an Wiederaufbauhilfe und einer 500%igen Abwertung des Cordoba9 im März 1991 (vgl. Leonhard 1993: 230f.) sank das 7 Aufgrund der Komplexität dieses Aspekts kann hier nicht näher auf den Contra-Krieg eingegangen werden. Für eine Einführung in die Thematik siehe Bahrmann/Links (1985); Benitez Manaut et al. (1987); Eich/Rincón (1984). 8 In den späten 1980er Jahren hatte die im Land vorherrschende Inflation verheerende Größenordnungen angenommen: Sie erreichte 1988 eine Höhe von 33.000% (vgl. Arana 1997: 27). Dies bewog die Sandinisten, ein wirtschaftliches Schockprogramm aufzulegen, mit dem das Staatsdefizit verringert, die Inflation abgebaut und Kapital ins Land geholt werden sollte. Ebenso kam es zu direkten Verhandlungen mit der Contra, was die Sandinisten bisher rundweg abgelehnt hatten (vgl. Leonhard 1993: 230f.). 9 Der Cordoba ist die Landeswährung Nicaraguas und wurde nach dem spanischen Konquistador Francisco Hernández de Córdoba benannt, der Anfang des 16. Jahrhunderts das Territorium des heutigen Nicaragua zu besiedeln begann (vgl. Niess 1987: 18f.). 13
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Bruttosozialprodukt per capita von 469 US-Dollar im Jahr 1990 auf 425 US-Dollar im Jahr 1993. Im gleichen Zeitraum erhöhte sich die Arbeitslosigkeit von 11,1% auf 21,8%. Die sozialen Folgeerscheinungen, die sich infolge der vom Internationalen Währungsfonds auferlegten Strukturanpassungsprogramme noch gravierender auf die Bevölkerung auswirkten, wurden nicht durch die Schaffung neuer Verdienstmöglichkeiten ausgeglichen (vgl. Arana 1997: 82f.).10 Als erschwerend kam hinzu, dass es der Chamorro-Regierung kaum gelang, die große Anzahl ehemaliger sandinistischer Soldaten und Contra-Rebellen wieder in das zivile Leben zu integrieren. Die Folge waren neuerliche Aufstände, bei denen vagabundierende Kleingruppen ehemaliger Söldner weiterhin den Norden des Landes terrorisierten.11 Die angezeigten Fälle von Gewalt gegen Personen erhöhten sich von 9.392 im Jahr 1991 auf 17.934 Fälle im Jahr 1995. Diese Häufung von personeller Gewalt ist vor allem darauf zurückzuführen, dass sich seit der sandinistischen Revolution zwei diametral gegenüber stehende Gruppen in der nicaraguanischen Gesellschaft herausgebildet haben: Auf der einen Seite die Sandinisten selbst und auf der anderen gesellschaftliche Gruppen, die den Sandinismus völlig ablehnen. Als ein in diesem Zusammenhang immer mehr ins öffentliche Rampenlicht rückender Protagonist ist eine Partei zu nennen, deren Wurzeln in der Zeit der Diktatur liegen: Die Liberal Konstitutionelle Partei (Partido Liberal Constitucionalista; PLC) (vgl. Close 1999: 79ff.). Bereits während der Amtszeit Violeta Chamorros12 war diese Partei stets darum bemüht, die Politik der UNO-Regierung vor der Bevölkerung zu kompromittieren und sich offen gegen eine erneute Präsidentschaft der Sandinisten zu positionieren (vgl. Vargas 1999: 73). Die Wahl des PLC-Kandidaten Arnoldo Alemán Lacayo am 20. Oktober 1996 zum Präsidenten kann als ein Ergebnis dieser Strategie angesehen werden. Bereits während seiner Amtszeit als Bürgermeister in Managua 10 Vargas (1996: 13) gibt an, dass sich zwischen 1990 und 1996 die Anzahl der Haushalte, die unterhalb der Armutsgrenze lebten, von 69,4% auf 82,2% erhöhten. Zudem wurde Mitte der 1990er Jahre immer ersichtlicher, dass die geschaffenen Finanzstrukturen lediglich große Produktionseinheiten begünstigten und den informellen Sektor, der zu diesem Zeitpunkt die größte Einkommensquelle für die Bevölkerung darstellte, kaum berücksichtigten (vgl. Arana 1997: 85). 11 Dies ist auch unter dem Gesichtspunkt zu betrachten, dass bei den Verhandlungen zur Demobilisierung der Contras den Ex-Rebellen als Gegenleistung für abgegebene Waffen Ländereien angeboten wurden. Jedoch verfügten nur wenige dieser Ländereien über eine notwendige Infrastruktur. Außerdem wurden Tausende von ehemaligen Widerstandskämpfern am Rande der Agrargrenze, in den kaum erschlossenen Waldgebieten im Süden und Norden angesiedelt, auf Böden, die sich entweder für die Landwirtschaft nicht eigneten oder zumindest keinen rentablen Ackerbau zuließen (vgl. Leonhard 1999: 9f.). 12 Die persönliche Sichtweise Violeta Chamorros auf ihre Amtszeit lässt sich nachlesen in: Barrios de Chamorro (1996). 14
EINLEITUNG
verstand es Alemán, sich durch öffentlichkeitswirksame Maßnahmen wie Straßenreparaturen oder dem Wiederaufbau des Malecón-Parks am Ufer des Managua-Sees die Unterstützung vieler Wähler aus den ärmeren Bevölkerungsschichten zu sichern. Während die Chamorro-Regierung durch Strukturanpassungsmaßnahmen eine erhebliche Verschärfung der sozialen Situation hervorrief, sorgte Alemán für zumindest bescheidene Verbesserungen in den ärmeren Wohnvierteln Managuas (vgl. Caster 1996: 8). Aufgrund seiner Popularität als Bürgermeister und der Verschärfung der sozialen Krise während der Regierungszeit Chamorros wurde er trotz massiven Wahlbetruges13 zum neuen Präsidenten gewählt. Mit dieser Wahl schien sich der Kreis zur Diktatur Somozas wieder zu schließen, da Alemán nicht das nicaraguanische, sondern das ausländische, somozistische Kapital repräsentierte. In Kooperation mit den entsprechenden Lobbygruppen zielte seine Politik darauf ab, einen „Neo-Somozismus“ in Nicaragua zu installieren, bei dem die vor der sandinistischen Revolution bestehenden Besitzverhältnisse wiederhergestellt bzw. umfassende Entschädigungszahlungen an die Enteigneten entrichtet werden sollten. Erklärtes Ziel war die politische Liquidierung der Sandinisten durch die Schwächung bzw. dem Bruch der FSLN mit ihren Unterstützergruppen (vgl. Anonymus 1997: If.). Die Sandinisten wiederum initiierten infolge des PLC-Wahlbetruges eine Mobilisierung ihrer Anhänger, so dass sich Alemán gezwungen sah, einen nationalen Dialog verschiedener ökonomischer und sozialer Sektoren des Landes ins Leben zu rufen. Die Folge davon war, dass sich die ehemaligen politischen Feinde FSLN und PLC mittels eines politischen Paktes verbündeten. Damit konnte einerseits Alemán den Makel des Wahlbetrugs von sich weisen und andererseits die FSLN die während der so genannten piñata14 unrechtmäßig erworbenen Besitztümer mit Billigung Alemáns behalten (vgl. Marenco Tercero 2003: 87f.). Da durch den Pakt keine unabhängige Kontrolle der Staatsfinanzen mehr möglich war, konnte sich Alemán – dessen politische Immunität ebenso durch den Pakt gesi-
13 Während der Wahl wurden Wahlurnen gestohlen, tauchten Wahlzettel auf Müllkippen auf, es gab in mehreren Wahlkreisen mehr Stimmen als Wähler oder Ergebnisse wurden schlichtweg falsch übermittelt (vgl. Anonymus 1997: I; Close 1999: 194). 14 Zur Zeit der Revolution wohnten die sandinistischen comandantes in konfiszierten Villen, ließen sich in Dienstfahrzeugen chauffieren und kauften mit Kreditkarten auf Staatskosten ein. Die Zeit zwischen der Wahlniederlage am 25. Februar 1990 (dem Wahltag) und dem 25. April 1990 (dem Tag der Amtsübergabe) ging als so genannte piñata in die Geschichte Nicaraguas ein: Im Eiltempo stellten die Sandinisten Eigentumstitel aus, privatisierten Dienstwagen und übertrugen Staatsgüter auf Privatpersonen. Da jede ernsthafte Untersuchung der persönlichen Bereicherung von den Parteiführern abgeblockt wurde, blieb das Stigma der Korruption an der FSLN haften (vgl. Leonhard 1999: 9f.). 15
KULTURELLES ERBE ALS IDENTITÄTSSTIFTENDE INSTANZ?
chert war – in den Jahren seiner Präsidentschaft immens bereichern.15 Das politische Kernstück des Pakts bestand in der Etablierung eines Zweiparteiensystems. Durch Modifizierung der Wahlgesetzgebung und der Verfassung teilten sich FSLN und PLC de facto die staatliche Macht unter sich auf (vgl. Meyer 1999: 14). Diese Politik trug nicht nur zu einer Polarisierung der nicaraguanischen Gesellschaft bei. Auch die absolute Zahl der in Armut bzw. extremer Armut lebenden Menschen hatte sich zwischen 1993 und 1998 um knapp eine Viertelmillion erhöht (vgl. Banco Mundial 2002: 13).16 Ebenso ergab eine Umfrage unter der Bevölkerung hinsichtlich der Selbsteinschätzung der eigenen Lebensbedingungen, dass 21% der Befragten der Auffassung waren, in extremer Armut zu leben (vgl. CINASE 2000: 24). Von offizieller Seite wurde die extreme Armut mit 17% beziffert (vgl. Banco Mundial 2002: 13). Darüber hinaus gaben 71% der Befragten an, dass die Regierung Alemáns nichts zur Verringerung der Armut getan hätte (vgl. CINASE 2000: 26).17
Forschungsstand Hinsichtlich der zentralen Fragestellung in dieser Arbeit ist zu konstatieren, dass die Auswirkungen der gesamtgesellschaftlichen Transformationsprozesse in Nicaragua auf die soziale Organisation dörflicher Gemeinschaften in bisherigen Forschungsarbeiten kaum Gegenstand der Betrachtung gewesen sind. In gleichem Maße trifft dies auf die Diskurse der bei diesen Prozessen beteiligten sozialen Akteure zu. Das wissenschaftliche Interesse richtete sich bisher vor allem auf die vor sich gehenden Veränderungen auf der Makro-Ebene der nicaraguanischen Gesellschaft. Dabei differenzierte die Forschung nicht zwischen den kulturell verschiedenartigen Landesteilen an Atlantik- und Pazifikküste, sondern bezog sich auf den gesamten Nationalstaat.18 Selbst bei Untersuchungen, die sich explizit mit Aspekten des atlantischen oder pazifischen Landesteils auseinandersetzen, ist festzu15 Im Februar 1999 gab die staatliche Rechnungsprüfung die Information heraus, dass sich das angegebene Vermögen von Alemán bereits während seiner Amtzeit als Bürgermeister von Managua (1990-1997) um 900% erhöht hätte (vgl. Marenco Tercero 2003: 97). 16 Ausgehend von einer Gesamtbevölkerung von 4.175 Millionen Menschen im Jahr 1993 bzw. 4.803 Millionen Menschen im Jahr 1998 (vgl. Banco Mundial 2002: 14). 17 Da sich der im Jahr 2001 gewählte Präsident Enrique Bolaños Geyer zum Zeitpunkt der Untersuchung erst relativ kurze Zeit im Amt befand bzw. die Befragten kaum Aussagen zu seiner Amtszeit abgegeben haben, fokussiert sich der Diskurs in dieser Arbeit auf die dargestellten gesellschaftlichen Transformationsprozesse. 18 Die in der Ausgangslage verwendete Literatur stellt hinsichtlich dessen ein gutes Beispiel dar. Die zitierten Autoren beziehen sich in ihren Ausführungen fast ausschließlich auf den gesamten Staat Nicaragua. 16
EINLEITUNG
stellen, dass eine solche Fragestellung bislang kaum Eingang in die Betrachtung gefunden hat. Aufgrund dessen kann die vorliegende Untersuchung nur bedingt auf diesen Studien aufbauen. Die an der Atlantikküste existierende ethnische Heterogenität hat die Forschung zu einer Vielzahl wissenschaftlicher Untersuchungen angeregt. Insbesondere ein sich nach dem Sturz der Diktatur entwickelnder militanter Konflikt zwischen Sandinisten und regional ansässigen Bevölkerungsgruppen erhöhte deutlich das Interesse an diesem Landesteil. Den Mískito als zahlenmäßig größte Ethnie an der Atlantikküste wurden bereits vor dieser Auseinandersetzung in ethnographischen Arbeiten19 Beachtung geschenkt. Doch gerade der genannte Konflikt trug maßgeblich dazu bei, dass sich die historische,20 ethnohistorische21 und politikwissenschaftliche22 Forschung stärker den Mískito als anderen Bevölkerungsteilen zuwandte. Gabbert (1992: 4) verweist in diesem Zusammenhang zu Recht auf den Umstand, dass der wissenschaftliche Fokus auf die Mískito die innere Bipolarität der Region vernachlässigt hätte. Der Autor lenkt in seiner Monographie die Aufmerksamkeit auf die Sozialhistorie der Creoles als afroamerikanische Gruppe und bezieht sich dabei auf die sozialen und kulturellen Differenzierungen innerhalb dieser Bevölkerungsgruppe. Diese Differenzierungen erschließt er sich durch die Analyse eruierten Quellenmaterials. In seiner umfangreichen Ethnographie der Sumu-Mayangna23 kommt von Houwald (2003) neben anderen Aspekten ausführlich auf Kultur und Kulturwandel dieser Ethnie zu sprechen. Trotz der Widergabe eigener Beobachtungen, die er mit den Meinungen anderer Autoren in Beziehung setzt, unterlässt es der Autor, sich die im Prozess des Kulturwandels herausbildenden Differenzierungen innerhalb der untersuchten Gruppen zu diskutieren. Ebenso beschreibt er lediglich in Ansätzen die Auswirkungen gesamtgesellschaftlicher Transformationen auf die überlieferten Traditionen der Sumu-Mayangna. Auch Hurtado de Mendoza (2000) schildert in seiner ethnographischen Arbeit explizit die kulturellen Charakteristika dieser Ethnie. Im Gegensatz zu von Houwald listet der Autor in seiner Arbeit eine Vielzahl 19 20 21 22
Siehe bspw. Conzemius (1932); Helms (1971); Nietschmann (1973). Siehe bspw. Potthast (1988); von Oertzen (1990). Siehe bspw. Rossbach (1987); von Oertzen (1987). Siehe bspw. CIDCA/Development Study Unit (1987); Hale (1987); Meschkat (1987b); Ohland/Schneider (1982). 23 Die genannte Ethnie wird mit unterschiedlichen Termini beschrieben. Während Hale/Gordon (1987: 11) lediglich den Begriff Sumu verwenden, weist Hurtado de Mendoza (2000: i) darauf hin, dass der Terminus Mayangna die ursprüngliche Bezeichnung für die Ethnie und der Begriff Sumu ein Namenskonstrukt der Kolonisatoren sei. Von Houwald (2003: 29) argumentiert, dass für die Angehörigen der Ethnie der Terminus Sumu eine negative Bedeutung hätte. Aufgrund dessen würden sie die Bezeichnung Mayangna (‚Nosotros‘; ‚Wir‘) bevorzugen. Neben diesen begrifflichen Festlegungen wird in Kapitel 1, Abschnitt 1.1 noch zu zeigen sein, dass der Terminus Sumu auch eine linguistische Komponente enthält. 17
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von Zitaten auf, die einen profunden Einblick in die Gedankenwelt der befragten Personen gewähren. Auch er bezieht sich auf Elemente traditioneller Kultur bzw. thematisiert Außeneinflüsse wie dem militanten Konflikt in den 1980er Jahren. Gleichwohl unterlässt es Hurtado de Mendoza, sich mit den soziokulturellen Veränderungsprozessen in Nicaragua auseinanderzusetzen. Fragwürdig erscheinen die Aussagen des Autors, bei den SumuMayangna würden die tiefsten Wurzeln der nationalen kulturellen Identität fortbestehen bzw. die kulturelle Vielfalt des Landes würde aufgrund eines Ursprungs und einer Vergangenheit das Fundament der kulturellen Identität Nicaraguas bezeugen (vgl. Hurtado de Mendoza 2000: 7). Der vom Autor verwendete Begriff einer nationalen kulturellen Identität erscheint aufgrund der kulturellen Verschiedenartigkeit der beiden Landesteile gewagt. Im Gegensatz zum atlantischen Teil Nicaraguas beschäftigen sich eine Reihe von Forschungsarbeiten zur Pazifikküste einerseits mit der Herausbildung einer nationalen kulturellen Identität während und nach der Kolonialzeit24 und führen andererseits eine Debatte um Identitätskonzepte aufgrund gesellschaftlicher Transformationsprozesse. Beispielsweise argumentiert Lárez (1998: 83f.), dass sich durch den ausgelösten revolutionären Prozess eine dialektische Beziehung zwischen Kultur und politischer Gesellschaft herausgebildet hätte. Dieser Prozess hätte zur Bestätigung und Festigung der nationalen Identität beigetragen.25 Allerdings verhindert die ideologisch gefärbte Darstellung von Larez eine differenzierte Sichtweise auf die Umbruchsituation in Nicaragua und lässt die sozialen Auswirkungen auf die Bevölkerung außer Acht. Demgegenüber vertritt Navarro (2001) den Standpunkt, dass die gesellschaftlichen Transformationsprozesse zu einer radikalen Veränderung alltäglicher Verhaltensweisen geführt hätten. Es hätte sich eine charakteristische nationale Identität herausgebildet, die auf einer Kultur der Gewalt und der Intoleranz aufbaue. Der Diskurs des Autors über Konflikte in der nicaraguanischen Gesellschaft lässt zwar die Dimensionen einer spezifischen Gewaltkultur erahnen, blendet aber die Eigenwahrnehmung und damit die subjektiven Erfahrungen der an diesen Prozessen beteiligten sozialen Akteure aus. Es wäre sicherlich interessant zu erfahren, wie sich die vom Autor beschriebene Realität im lokalen Kontext wieder finden ließe. Ohnehin wird Literatur, die sich den Auswirkungen gesellschaftlicher Transformationen auf lokaler Ebene widmet, umso spärlicher, je mehr sich Autoren tatsächlich dem lokalen Kontext nä24 Siehe bspw. Instituto Nicaragüense de Cultura (1999); Kinloch Tijerino (1999). 25 Es sei hier in diesem Zusammenhang erwähnt, dass die Herstellung der nationalen Souveränität generell das ideologische Grundgerüst der Sandinisten darstellte. Diese Ideologie berief sich stark auf den revolutionären Nationalismus der mexikanischen Revolution. Ein Bestandteil dieses Konzepts war die Herstellung der formalen Gleichheit der Individuen, um ihnen damit den Status eines Staatsbürgers anzuerkennen (vgl. Gabbert 1985: 117ff.). 18
EINLEITUNG
hern. Horton (1998) untersucht bspw. anhand der in Zentralnicaragua gelegenen Gemeinde Quilalí, wie sich die nationalstaatliche Politik Nicaraguas zwischen den Jahren 1979 und 1994 auf lokaler Ebene ausgewirkt hat. Seinem Anspruch, die strukturellen, historischen und kulturellen Wurzeln der entstehenden Polarisierung zwischen den Gemeindebewohnern herauszuarbeiten, kommt er zwar nach – jedoch vernachlässigt er einen genaueren Blick auf die sich herausbildenden Differenzierungen zwischen den einzelnen Gemeindemitgliedern selbst. Er verweist zwar auf die Auswirkungen des Transformationsprozesses auf das Zusammenleben in der Gemeinde, schließt aber seine Betrachtungen mit der Feststellung ab, dass die Wiederherstellung einer kollektiven Identität aufgrund der sich heraus gebildeten Polarisierung fragwürdig erscheint. Dass sich aber gerade infolge von Widersprüchlichkeiten und Polarisierungen unterschiedliche Identitäten entwickeln können, thematisiert García (1992) mit dem von ihm so betitelten ‚Spiel der Identitäten‘ (juego de identidades). Dabei weist er auf die Mannigfaltigkeit von Identität(en) hin und macht explizit darauf aufmerksam, dass sich Identität in einem dynamischen Prozess herausbildet und permanent von den beteiligten sozialen Akteuren neu definiert wird. Die vorliegende Forschungsarbeit baut auf diesem Aspekt auf. Dabei untersucht sie nicht nur die Wahrnehmung gesamtgesellschaftlicher Transformationen aus dem Blickwinkel sozialer Akteure auf lokaler Ebene, sondern zieht durch die Betrachtung zweier dörflicher Gemeinschaften einen Vergleich zwischen den kulturell verschiedenartigen Landesteilen an Atlantikund Pazifikküste. Die kulturellen Unterschiede sind auf den Einfluss der britischen Kolonisierung an der Atlantik- bzw. der spanischen Kolonisierung an der Pazifikküste zurückzuführen. Das erste Kapitel widmet sich den kolonialgeschichtlichen Hintergründen bei der Herausbildung dieser kulturellen Ausprägungen. So verschieden wie die britische und spanische Kolonialpolitik waren auch die indigenen Gruppen, die die Kolonialmächte in den beiden Landesteilen vorfanden: Aufgrund unterschiedlicher Wanderungsbewegungen auf dem mittelamerikanischen Isthmus siedelten sich diese Gruppen, die eine anders geartete Lebensweise, Kosmovision und Sozialorganisation aufwiesen, in unterschiedlichen Regionen auf dem Territorium des heutigen Nicaragua an. In dieser Arbeit wird davon ausgegangen, dass sich durch die britische Kolonialpolitik des indirect rule ein eher egalitäres Gefüge an der Atlantikküste aufrechterhalten konnte, während sich durch die repressive Kolonialpolitik Spaniens hierarchische Strukturen an der Pazifikküste herausbildeten.26 Die in diesem Prozess entstandenen 26 Dietrich (1990: 44f.) spricht in diesem Zusammenhang von einem langwierigen Dekulturalisierungsprozess an der Pazifikküste, in dessen Verlauf die kolonisierte indigene Bevölkerung einen weit reichenden Verlust ihres Kulturschatzes erlitt und der das Bild einer rassischen Überlegenheit der Spanier von Generation zu Generation weiter reichte. Gabriel (1988: 16) betont, dass die an der Atlantik- und Pazifikküste installierten Herrschaftsstrukturen 19
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gesellschaftlichen Schichtungen sind meines Erachtens auch heute noch in den beiden Landesteilen vorzufinden. Dabei hat sich im historischen Verlauf ein je spezifisches kulturelles Erbe herausgebildet. Vor diesem Hintergrund wird im weiteren Verlauf der Arbeit zu zeigen sein, wie sich die beschriebenen gesamtgesellschaftlichen Transformationsprozesse auf die soziale Organisation der untersuchten Dorfgemeinschaften ausgewirkt haben. Aufgrund der spezifischen Fragestellung sind einige der in dieser Arbeit verwendeten Termini von zentraler Bedeutung. Es erscheint daher notwendig, diese vorab theoretisch zu diskutieren und begrifflich einzuordnen. Der erste Abschnitt des zweiten Kapitels wird sich mit der theoretischen Debatte um die Begriffe soziale Organisation vs. soziale Struktur auseinandersetzen. Dabei wird aufgezeigt, wie diese beiden Termini im Verlauf ethnologischer Theoriebildung von verschiedenen Autoren definiert wurden, um nicht nur verwandtschaftliche Systeme, sondern auch andere Phänomene menschlichen Zusammenlebens zu charakterisieren. Nach der Darstellung dieser wissenschaftlichen Diskussion werden die Begriffe auf Grundlage der eigenen Forschungsergebnisse kritisch hinterfragt. Daran schließt sich die eigene Definition des Terminus soziale Organisation an. Es sei an dieser Stelle erwähnt, dass sowohl die in dieser Arbeit vorgestellten empirischen Ergebnisse, als auch neuere Forschungsansätze in der Ethnologie darauf hinweisen, dass die in der Vergangenheit aufgestellten Definitionen nicht mehr ausreichend sind, um soziale Realitäten umfassend erklären zu können. Es erscheint daher notwendig, eine entsprechende Modifizierung der jeweiligen Definitionen vorzunehmen. Darüber hinaus ist bei der Beschäftigung mit kulturellem Erbe der Frage nachzugehen, welche Funktion es im Zusammenleben einer Gesellschaft überhaupt ausübt. Um sich der Beantwortung dieser Frage zu nähern und für die vorliegende Arbeit fruchtbar zu machen, wird auch beim Terminus kulturelles Erbe eine begriffliche Definition vorgenommen. Dabei wird berücksichtigt, dass dieses Erbe in einer sehr komplexen Beziehung zu den unterschiedlichen Interessenlagen der sozialen Akteure steht. Dieses spezifische Beziehungsverhältnis macht es erforderlich, sich ebenso mit dem Einfluss interner Gruppenbildungsprozesse (‚Wir-Gruppen‘) und kultureller Identität auseinanderzusetzen. Auf Basis der theoretischen Diskurse anderer Autoren werden diese Aspekte diskutiert und mit eigenen, auf den empirischen Ergebnissen der Untersuchung fußenden Überlegungen verglichen.27 unterschiedlich seien: Am Pazifik das spanische Encomienda-System, das die indigene Bevölkerung zu Zwangsdiensten verpflichtete und am Atlantik eine eher auf ein Bündnissystem ausgerichtete indirekte Herrschaft (indirect rule) Großbritanniens. 27 Aufgrund des ethnographischen Charakters der vorliegenden Arbeit bzw. der Fülle theoretischer Arbeiten zu den zentral verwendeten Termini kann es nicht Aufgabe dieser Monographie sein, eine umfassende begriffliche Erörterung dieser Begriffe vorzunehmen. Der im zweiten Kapitel geführte Diskurs soll aber durch Wiedergabe der persönlichen Auffassungen des Autors 20
EINLEITUNG
Der zweite Abschnitt des Kapitels wird sich mit den bei der Untersuchung verwendeten qualitativen Methoden auseinandersetzen. Diese sind für die vorliegende Arbeit signifikant, weil die im empirischen Teil vorgestellten Daten das Ergebnis von 160 geführten Gesprächen und Aufzeichnungen der teilnehmenden Beobachtung darstellen. Da das Alltagswissen von Mitgliedern einer Gesellschaft nicht nur die aktuellen Handlungen der sozialen Akteure strukturiert, sondern ebenso einen Einblick in deren Verstrickungen bei kulturellen Veränderungsprozessen und ihrem Eingebundensein in makro-strukturelle Bedeutungszusammenhänge gewährt (vgl. Appel 2001: 17), können diese Vorgänge meines Erachtens nur unter Zuhilfenahme qualitativer Methoden erschlossen werden. Die verwendeten Methoden werden vorgestellt, inhaltlich diskutiert, und auf ihre Anwendbarkeit für die spezifische Untersuchungssituation überprüft. Hinsichtlich der teilnehmenden Beobachtung wird zu Beginn der Einfluss vorheriger Aufenthalte des Forschers auf die Interaktion mit den sozialen Akteuren thematisiert. Der Feldzugang wird zwar aufgrund des relativen Bekanntheitsgrades des Forschers erleichtert, wirft aber hinsichtlich der ihm zugeschriebenen Rolle Fragen auf, die bei der weiteren methodischen Vorgehensweise zu klären sind. Weiterhin werden die tägliche Schreib- und Analysetätigkeit thematisiert bzw. die Wichtigkeit einer permanenten Selbstreflexion im Feld hervorgehoben. Ebenso wird ein direkt am Ende der Feldphase verfasstes Essay diskutiert, das als Orientierungspunkt bei der gezielten Datenauswertung zur Anwendung gekommen ist. Daran schließt sich das Ero-Epische Gespräch als Gegenstand der Betrachtung an. Dieses Gesprächsverfahren wird anhand seiner Verwendung im Feld beschrieben und die signifikanten Unterschiede zu anderen Befragungstechniken verdeutlicht. Anhand eines Fallbeispiels wird abschließend verdeutlicht, dass bestimmte Inhalte einer im Feld verwendeten Methode ggf. modifiziert werden sollten, um sie in der spezifischen Untersuchungssituation Gewinn bringend einsetzen zu können. Die Grounded Theory (G.T.) stellt eine weitere qualitative Forschungsmethode dar, mit der der Prozess der Datenerhebung und Datenauswertung systematisch miteinander verknüpft worden ist. Es wird dargestellt, dass eine bereits während der Feldforschung beginnende Kodierarbeit durch kontinuierliches Analysieren der erhaltenen Daten den Prozess der Datenerhebung unterstützt und nach Abschluss der Feldphase den weiteren Auswertungsvorgang angeleitet hat. Dieses Vorgehen wurde durch die zusätzliche Verwendung des computergestützen Analyseprogramms atlas/ti methodisch weiter verfeinert. Den bei dieser Forschung verwendeten qualitativen Forschungsmethoden ist gemein, dass sie durch Ziel gerichtete Auswertung der erhobenen Daten wesentlich zum Generieren der in dieser Arbeit vertretenen Thesen beigetragen haben. Auch hinsichtlich eines anderen Aspekts ist die methodische Kontrolle der erhaltenen Daten unerlässlich gewesen: Aufgrund der und dem Verweis auf zukünftig in der wissenschaftlichen Debatte zu klärende Aspekte einen Beitrag für weitere theoretische Diskussionen liefern. 21
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kulturellen Verschiedenartigkeit der Atlantik- und Pazifikküste war es erforderlich, sich jeweils kulturell neu zu ‚akklimatisieren.‘ Damit wurde eine Phase doppelter Sozialisation durchlaufen, die eine methodische Kontrolle erforderlich machte.28 Die verwendeten Forschungsmethoden werden generell als Prozess aufgefasst, bei dem im Feld getroffene Entscheidungen die weitere Methodenanwendung und die weitere Vorgehensweise bei der Forschung strukturiert haben. Nicht zuletzt deswegen wird die Darstellung der Forschungsmethoden aus der Perspektive der ersten Person erzählt. In Kapitel drei und vier werden die empirischen Daten dokumentiert, welche mittels ethnographischer Studien der dörflichen Gemeinschaften Wawa Bar an der Atlantik- bzw. Masachapa an der Pazifikküste erhoben wurden. Zu Beginn des jeweiligen Kapitels werden die untersuchten Gemeinschaften (comunidades) hinsichtlich geographischer Lage, demographischer Faktoren und ihren jeweiligen Entstehungsdeterminanten vorgestellt. Daran schließt sich eine Beschreibung der wirtschaftlichen Aktivitäten an. Im weiteren Verlauf bildet die Darstellung der Eigenwahrnehmungen befragter Dorfbewohner hinsichtlich der unterschiedlichen politischen Epochen einen Hauptteil dieser Kapitel. Es wird zu zeigen sein, wie die einzelnen politischen Epochen von den befragten Dorfbewohnern wahrgenommen worden sind. Daran schließt sich eine Darstellung der in beiden Dorfgemeinschaften vorgefundenen sozialen Realitäten und die jeweilige Sichtweise der befragten Bewohner zu diesen Aspekten an. Anhand dieser Darstellung und mittels mehrerer Fallbeispiele sollen die sich herausgebildeten internen Differenzierungen zwischen den Individuen und den Mitgliedern verschiedener Gruppen verdeutlicht werden. Bei der Darstellung der beiden comunidades wird deutlich werden, dass sowohl endogene als auch exogene Faktoren einen Einfluss auf die soziale Organisation der Bewohner ausüben. Diese Faktoren variieren allerdings hinsichtlich Ausformung und Intensität in den beiden Gemeinschaften: In Wawa Bar üben die traditionellen Autoritäten aufgrund ihrer Vertretungsfunktion zwar weiterhin einen Einfluss auf die lokale Bevölkerung aus, jedoch hat sich infolge der Anwesenheit der Mährischen Kirche (Iglesia Morava) bzw. ihres lokalen Vertreters eine Konkurrenzsituation zwischen Kirche und den traditionellen Autoritäten herausgebildet. Darüber hinaus existieren weitere Zusammenschlüsse, die jeweils eine bestimmte Klientel von Personen vertreten und die ebenfalls zu Konflikten zwischen den einzelnen Gruppen führen. Allerdings haben nicht diese Faktoren, sondern ein explizit supranationaler Einfluss zu signifikanten soziokulturellen und sozioökonomischen Veränderungen in Wawa Bar geführt: Die seit Mitte der 1990er Jahre betriebene Kommerzialisierung von Kokain hat mittlerweile sämtliche Lebensbereiche durchdrungen und zu sichtbaren Veränderungen in den traditionellen Austauschbeziehungen bzw. des Gemeinschaftslebens geführt. 28 Insbesondere beim Verlassen der ersten Untersuchungseinheit und dem Eintritt in die zweite erschien eine methodische Kontrolle aufgrund möglicher unbewusster Übertragungen unumgänglich. 22
EINLEITUNG
Aufgrund dessen wird die Drogenökonomie als paradigmatisches Beispiel für den Einfluss supranationaler Verhältnisse auf die soziale Organisation der Bevölkerung Wawa Bars bezeichnet. Bei der Wiedergabe der Daten Masachapas wird zu zeigen sein, dass andere Einflussfaktoren auf die soziale Organisation im Vordergrund stehen. Hier werden insbesondere die relativ hohe Anzahl konkurrierender Glaubenskonfessionen zu nennen sein, die sich in einer Rivalität zwischen der lokalen katholischen und den ansässigen evangelikalen Kirchen ausdrückt. Ebenso hat eine permanente Arbeitsmigration nach Masachapa zur Folge, dass die Bevölkerungszusammensetzung einem permanenten Wandel unterworfen ist. Trotz des Einflusses der genannten Faktoren und mehrerer Zusammenschlüsse, die wie im Falle Wawa Bars von spezifischen Interessen geleitet sind, hat insbesondere die Diktatur Somozas eine nachhaltige Veränderung der sozialen Organisation bewirkt, da sich bei einem bestimmten Teil der lokalen Bevölkerung während dieser Epoche eine andere Logik wirtschaftlichen und sozialen Handelns herausgebildet hat. Aufgrund dessen wird die Diktatur als paradigmatisches Beispiel für das Verhältnis der Bevölkerung Masachapas zu sich selbst und zu ihrer Außenwelt herangezogen. Die empirischen Daten beider Dorfgemeinschaften zeigen, dass trotz der kulturellen Verschiedenartigkeit der beiden Landesteile bestimmte soziale Phänomene bei der sozialen Interaktion der Bewohner eine nicht unwesentliche Rolle spielen. Sowohl das soziale Phänomen envidia (Neid) als auch das der brujeria (Schadenszauber) ist in fast identischer Weise in beiden Dorfgemeinschaften vorzufinden. Es wird zu zeigen sein, welche Triebfedern sozialen Handelns beim Auftreten dieser Phänomene zum Tragen kommen. Darüber hinaus haben das individuelle und gruppenspezifische Selbstverständnis bzw. kulturelle Rahmenbedingungen eine Modifizierung erfahren. Die Anpassung an gesamtgesellschaftliche Transformationen baut meines Erachtens auf dem kulturellen Erbe der untersuchten Dorfgemeinschaften auf und ist ein Beleg für dessen dynamischen Charakter. Die umfassende Dokumentation der von den Gesprächspartnern beschriebenen sozialen Realität muss auch die inhärenten Widersprüchlichkeiten der geführten Diskurse berücksichtigen. Da ‚Realität‘ per se widersprüchlich ist, werden die empirischen Ergebnisse in ihrer Gesamtheit dargestellt, um den doppelten Diskurs der sozialen Akteure zu verdeutlichen.29 Diese Widersprüchlichkeiten sind jedoch nicht nur von der individuellen Position, sondern ebenso aus dem Blickwinkel der verschiedenen Gruppen zu betrachten, da sie die Neuformierung der Gesellschaft versinnbildlichen. In diesem Prozess bilden sich unterschiedliche kulturelle Entwicklungslinien heraus. Um dies nachzeichnen zu können, ergibt sich die Notwendig29 Berger/Luckmann (1996: 139) sprechen in diesem Zusammenhang von Gesellschaft, die objektiv und subjektiv Wirklichkeit ist. Aufgrund dessen müsse Gesellschaft immer als dialektischer Prozess gesehen werden. 23
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keit, die Fragmentierung der unterschiedlichen Einstellungen und Haltungen, die sich in den Widersprüchlichkeiten ausdrücken, bis auf die individuelle Ebene zurückzuverfolgen. Da beide Seiten dieses Diskurses für die sozialen Akteure handlungsrelevant sind, werden diese Doppeldeutigkeiten nicht nur dokumentiert, sondern auch in die Interpretation eingebunden. Darüber hinaus werden widersprüchliche Aussagen oder voneinander abweichende Meinungen mit den persönlichen Erfahrungen der befragten Person bzw. ihrem individuellen Status, sozialer Position, Bildung, Alter, etc. in Beziehung gesetzt. Dies ermöglicht weitere Rückschlüsse hinsichtlich des zugrunde liegenden Kontextes des Gesprächspartners und der Gesprächssituation. Beispielsweise stellen traditionelle Autoritäten Fraktionen dar und müssen vom jeweiligen Einzeldiskurs der involvierten Personen getrennt betrachtet werden. So kann der Akteur als Individuum zu bestimmten Aspekten eine eher ablehnende Haltung einnehmen, während er sich als Teil einer Fraktion durch ein potentiell zustimmendes Verhalten gänzlich anders positioniert. Da weiter zurückliegende soziale Prozesse in der Gegenwart in veränderter Form zum Ausdruck kommen können, werden diese Diskurse parallel auf der Ebene der Vergangenheit und der Gegenwart betrachtet. Auf diese Weise können signifikante Einflussfaktoren und die mit ihnen verbundenen sozialen Folgeerscheinungen umfassender nachvollzogen werden. Der Autor dieser Arbeit fühlt sich der so genannten Writing Culture verpflichtet. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass die Methode der teilnehmenden Beobachtung eine fragile Balance zwischen Objektivität und Subjektivität darstellt. Die persönlichen Erfahrungen des Ethnographen werden hinsichtlich Teilnahme und Empathie im Forschungsprozess zwar als zentral erachtet, diese Erfahrungen werden aber durch die unpersönlichen Standards der Beobachtung und ‚objektiver‘ Distanz fest in Grenzen gehalten (vgl. Clifford 1986: 13). Im Rahmen der Writing Culture wird ein künstlich geschaffener Ausgleich zwischen nicht erklärbaren bzw. nachvollziehbaren Widersprüchen im Rahmen ethnographischer Forschung als nicht zulässig erachtet. Insbesondere nach der so genannten WritingCulture-Debatte sollte dieser künstlich geschaffene Ausgleich nicht Gegenstand der wissenschaftlichen Betrachtung sein.30 Aufgrund dessen werden Widersprüche, die sich nicht aus der jeweiligen Kontextsituation erklären und deuten lassen, lediglich dokumentiert und nebeneinander gestellt. Abschließend werden in einer Zusammenfassung die wesentlichen Ergebnisse der Arbeit noch einmal in überblicksartiger Form dargestellt und ein Resümee der Arbeit gezogen. Von den Ergebnissen dieser Forschungsarbeit lassen sich weitere Fragestellungen ableiten, die in einem Ausblick thematisiert und diskutiert werden.
30 Für eine Einführung in die Thematik der Writing Culture siehe Clifford/Marcus (1986). 24
K APITEL 1: K OLONIALGESCHICHTLICHE H INTER GRÜNDE BEI DER H ERAUSBILDUNG UNTERSCHIEDLICHER KULTURELLER A USPRÄGUNGEN AN DER A TLANTIK - UND P AZIFIKKÜSTE N ICARAGUAS 1. Vorbemerkung Die mittelamerikanischen Gesellschaften entwickelten sich vornehmlich in den pazifischen Küstenregionen und zentralen Hochländern. In diesen Gebieten sind die wichtigsten Wirtschaftszentren und die am stärksten ausgebaute Infrastruktur vorzufinden. Dort lebt auch die Mehrheit der Bevölkerung. Demgegenüber sind die atlantischen Landesteile trotz ihrer Ausdehnung relativ dünn besiedelt und weisen eine andere ethnische Bevölkerungsstruktur auf. In selbem Maße trifft dies auf die kulturellen Ausprägungen zu. Aufgrund der historischen Entwicklung sind diese Regionen mehr mit der angelsächsischen Karibik verbunden und stehen im Gegensatz zu den pazifischen Teilen Mittelamerikas, in denen eine hispanisierte Mestizenkultur dominiert (vgl. Gabbert 1992: 1f.). Diese Charakteristika treffen ebenso auf die Pazifik- und Atlantikküste Nicaraguas zu. Bei der Herausbildung spezifischer soziokultureller Strukturen sind unterschiedliche kolonialgeschichtliche Einflüsse auf beide Landesteile zum Tragen gekommen. Für den weiteren Diskurs wird es daher notwendig sein, diese Einflüsse und deren Auswirkungen auf die Sozialstruktur mit einigen kurzen Beispielen zu erläutern. 1.1 Die Herausbildung von Ethnien und ethnischen Gruppen an der Atlantikküste Die indigene Bevölkerung der Mosquitia1 gehört – wie alle indigenen Völker der karibischen Küste Mittelamerikas – der Gruppe der MacroChibcha an. Aufgrund der engen sprachlichen Verwandtschaft zu den Chibcha Südamerikas ging man davon aus, dass die Macro-Chibcha Mittelamerikas vom Territorium des heutigen Kolumbien aus in diese Region eingewandert seien (vgl. Potthast 1988: 16f.). Mittels glotochronologischer Studien konnte allerdings nachgewiesen werden, dass sich die Chibcha vor ca. 6.000 Jahren geographisch von den in Mexiko ansässigen UtoAzteken getrennt haben und in Richtung Süden gewandert sind. Die nahe sprachliche Verwandtschaft wird als Indiz angesehen, dass die an der 1 Der Terminus Mosquitia stellt die historische Bezeichnung für die Atlantikküste dar, die bis heute Verwendung findet (vgl. Meschkat et al. 1987: 7). 25
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nicaraguanischen Atlantikküste ansässigen Mískito, Sumu-Mayangna und Rama Nachfahren der Chibcha seien (Smutko 1983: 4).2 Die Lebensweise beruhte nicht auf intensiviertem Maisanbau, sondern auf der Kombination von Jagd, Fischfang und dem Sammeln von Wildfrüchten bzw. dem Brandrodungsfeldbau (vgl. Gabbert 1992: 38f.; Potthast 1988: 16f.).3 Die heutige Sozialstruktur der Region setzt sich sowohl aus drei Ethnien als auch aus drei ethnischen Gruppen zusammen (vgl. Gabbert 1992: 34ff.; 334ff.).4 Zu den Ethnien werden hier Mískito, Sumu-Mayangna und Rama gezählt. Diese entwickelten sich durch demographische und soziokulturelle Veränderungen infolge des britischen Kolonialismus und dem Einfluss der in der Region missionierenden Herrnhuter Brüdergemeine zu ihrer heutigen Ausprägung. Teilweise hatten die gegenwärtigen Bezeichnungen vormals eine andere Bedeutung:
2 Smutko differenziert allerdings hinsichtlich der Sprachverwandtschaft zwischen Rama auf der einen und Mískito bzw. Sumu auf der anderen Seite: „Es cierto que el idioma Rama es distinto de los otros idiomas de Nicaragua, aunque por ser idioma Chibcha, tiene una relación lejana con los idiomas Macro-Chibchas de Sumu y Mískito.“ Smutko (1983: 11) 3 Für eine Auflistung der regionalen Bevölkerungsverteilung bzw. der gesprochenen Sprachen siehe Niess (1987: 21f.); Romero Vargas (1988: 155). Für einen Überblick der angebauten Nahrungsmittel siehe Radell (1969: 44ff.). Für eine Übersicht bezüglich der Klassifizierung von südamerikanischen Kulturen bzw. der Gegenüberstellung mit dem mesoamerikanischen Raum siehe Newson (1987: 23ff.; 33-41). 4 Mit der Beschreibung der Sozialstruktur anhand der begrifflichen Unterscheidung in Ethnie und ethnische Gruppe soll auf die unterschiedlichen Formen sozialer Organisation und Abstufungen sozialer Komplexität an der nicaraguanischen Atlantikküste hingewiesen werden (vgl. Gabbert 2006: 16): „The term ethnie (sic!) should be reserved for populations with a relatively high degree of ‚institutional completeness‘ […]. This requires access to the basic means of production and the production of a major part of its foodstuffs. Beyond this, the society must be able to provide for the basic social needs of its members (physical survival, child-rearing, human relations etc.). The capacity to secure its reproduction over time (through the physical reproduction of its members through endogamy or by cultural means, i.e., incorporation of the offspring of exogamic unions and childrearing practices) for the most part independent of a larger, encompassing society is also required. The term ethnic group (sic!), in contrast, is proposed for populations that lack the material base for a separate existence due to their embeddedness in an encompassing society. In contrast to ethnies, they form an integral part of the processes of production, distribution, and consumption of that larger society (think of a trading minority). Consequently such groups can only exist as part of that social organization. In contrast to ethnies, they can be internally class stratified.“ (Gabbert 2006: 19f.) 26
KOLONIALGESCHICHTLICHE HINTERGRÜNDE „Bei der Bezeichnung ‚Sumu‘ handelte es sich z.B. lediglich um eine kulturelle Kategorie, mit der Sprecher verschiedener, zum Teil untereinander nicht verstehbarer, vom linguistischen Standpunkt jedoch verwandter Sprachen bezeichnet wurden.“ (Gabbert 1992: 8)
Ebenso wird angenommen, dass die Mískito vormals Angehörige eines Unterstammes der Sumu-Mayangna gewesen seien (vgl. Conzemius 1932: 17; Helms 1971: 18). Aufgrund der britischen Politik des indirect rule, die in der Region mehr auf ein Bündnissystem als auf Unterwerfung der indigenen Bevölkerung setzte, hat sich die soziale Organisation dieser Ethnien trotz der genannten Einflüsse weitgehend erhalten können. Als ethnische Gruppe werden hier Creoles, Garifuna und Mestizen bezeichnet. Die Creoles bilden eine Bevölkerungsgruppe, die sich infolge der britischen Sklavenökonomie ab Mitte des 18. Jahrhunderts herausgebildet hat. Diese Gruppe besteht aus nicht-weißen, nicht-indianischen Personen, die Englisch bzw. ein auf dem englischen Wortschatz beruhendes Creole sprechen. Die Garifuna sind dagegen aus einer Verbindung zwischen afrikanischen Sklaven und der ansässigen indigenen Bevölkerung hervorgegangen. In ihrer Sprache dominieren indigene Elemente (vgl. Gabbert 1992: 2ff.). Die Mestizen sind aufgrund einer Verschiebung der Agrargrenze, der Erschöpfung natürlicher Ressourcen und der Suche nach neuen Einkommensquellen gegen Ende des 19. Jahrhunderts in mehreren Schüben vom Pazifik her in die Region der Atlantikküste eingewandert (vgl. Gonzalez-Perez 1997: 30). 1.2 Der Einfluss des britischen Kolonialismus Auf seiner vierten und letzten Seereise, die ihn nach Mittelamerika führte, landete Kolumbus am 30. Juli 1502 unweit der Mündung des Río Coco an der heutigen Nordostgrenze Nicaraguas (vgl. Potthast 1988: 11). Eine feste Verankerung der spanischen Kolonialmacht fand im Gegensatz zur pazifischen Küste jedoch nicht statt. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass in der Region keine relevanten Edelmetallvorkommen gefunden wurden. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde von Gummisammlern Gold in der Mosquitia entdeckt. Ebenso ließ sich die dort siedelnde Bevölkerung aufgrund ihrer spezifischen Lebensweise nicht brauchbar für die spanischen Kolonien einsetzen (vgl. Potthast 1988: 19). Das spanische Desinteresse trug wesentlich zur Entstehung kultureller und wirtschaftlicher Verbindungen der Atlantikküstenbewohner mit dem britischen Kolonialreich bei. Im Jahr 1740 wurde die Mosquitia aufgrund geostrategischer Überlegungen zum britischen Protektorat ernannt (vgl. Gabbert 1985: 21f.; Potthast 1988: 123f.). Somit verfügte die Mosquitia bis zu ihrer Eingliederung in den nicaraguanischen Nationalstaat im Jahr 1894
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über eine eigene Geschichte.1 Dieser historische Umstand hat die Grundlage einer indigenen Tradition geschaffen, Großbritannien als eine Art Schutzmacht zu betrachten (vgl. Meschkat et al. 1987: 8ff.).2 Der größten in der Mosquitia siedelnden Ethnie, den Mískito, kommt dabei eine besondere Bedeutung zu, da sie in den Kriegszügen des 17. und 18. Jahrhunderts als militärische Verbündete der Engländer gegen die Spanier auftraten und anfangs eine gewisse Vormachtstellung gegenüber den anderen Bevölkerungsgruppen in der Mosquitia erlangten (vgl. Rossbach/ Wünderich 1985: 66). 1.2.1 Die Mískito als Nutznießer der Piraterie und des britischen Kolonialismus Mit Beginn des 17. Jahrhunderts kam es zu ersten friedlichen Kontakten zwischen französischen und englischen Piraten und den Mískito. Ein sich dabei entwickelnder Vermischungsprozess zwischen Mískito-Frauen und Filibustern bzw. mit Händlern, Schiffbrüchigen und entlaufenen Sklaven veränderte das Verhältnis zwischen den siedelnden Bevölkerungsgruppen nachhaltig zugunsten der Mískito (vgl. Conzemius 1932: 13). Andererseits gelangten die Mískito durch Tauschhandel in den Besitz von Feuerwaffen, mit denen sie eine Ausweitung ihrer Siedlungsgebiete durchsetzen konnten. Sie überfielen Dörfer, plünderten sie aus, versklavten die Bewohner oder verkauften sie an englische Händler (vgl. Helms 1971: 19f.; Nietschmann 1973: 31). Das Selbstverständnis der in der Region lebenden Bevölkerung veränderte sich ebenso in den politischen Strukturen, da die Engländer Ende des 17. Jahrhunderts einen Mískito-König einsetzten. Die Funktion dieses Königs stellte in erster Linie eine Legitimität der englischen Handelsaktivitäten in der Region dar. Ziel war die Umgehung des spanischen Handelsmonopols, welches seinem Anspruch nach auch für die Mosquitia galt.3 1.2.2 Veränderungen in der traditionellen Lebensweise Im Gegensatz zur Pazifikküste führte der Kulturkontakt nicht zu signifikanten Brüchen und gewaltsamen Konflikten. Die ansässige Bevölkerung wurde von Großbritannien als wichtiges militärisches und politisches Druckmittel gegenüber der spanischen Kolonialmacht angesehen. 1 Der Nationalstaat Nicaragua erlangte bereits 1838 seine politische Unabhängigkeit. 2 Auch das im Jahr 1987 für die Atlantikküste zugebilligte Autonomiestatut hat hier ihren historischen Ursprung. Die intensive Beschäftigung mit dem Aspekt einer indigenen Autonomie würde den hier gesetzten Rahmen sprengen. Für eine Einführung in diese Thematik siehe: Jenkins Molieri (1986: 383-445); Michael (2001: 30-57); Ohland/Schneider (1982). 3 Zum ausführlicheren Studium der Geschichte der Mosquitia verweise ich auf spezifische Literatur (Gabbert, 1985: 20-50; ders., 1992: 40-168; González-Perez, 1997: 43-87; Meschkat et al. 1987; Potthast 1988; Wünderich, 1996: 9-44). 28
KOLONIALGESCHICHTLICHE HINTERGRÜNDE
Dies implizierte dass die „Voraussetzung für das Funktionieren dieser Form des Miteinander beziehungsweise der englischen Herrschaft […] die Annahme einer prinzipiellen Gleichwertigkeit europäischer und indianischer Rechte [war], die die Engländer gegenüber Spaniern und Eingeborenen aufrechterhielten.“ (Potthast 1988: 156).
Zwar führte der dauerhafte Kontakt mit Europäern dazu, dass sich einige Bevölkerungsgruppen dauerhaft an der Küste niederließen. Deren traditionelle Siedlungsgebiete lagen aber ohnehin in Meeresnähe, zumal die Bewohner aufgrund ihrer halbnomadischen Lebensweise ihren Sitz bei Beginn der Fangsaison direkt an die Küste verlegten. Die Veränderung kultureller Merkmale blieb bis zum Ende des 18. Jahrhunderts überwiegend auf die Aneignung materieller Werte und äußerer Verhaltensweisen beschränkt. Auch wenn die Einführung von Schusswaffen sukzessive zum Verlust der Fähigkeit, mit Speer, Pfeil und Bogen zu jagen oder zu fischen führte (vgl. Romero Vargas 1996: 59), hat sich eine matrilokal ausgerichtete Siedlungsweise Jahrhunderte lang erhalten können (vgl. Potthast 1988: 158ff.). 1.3 Indigene Glaubensvorstellungen und der Einfluss der Mährischen Kirche (Iglesia Morava) Die noch heute stark ausgeprägten Glaubensvorstellungen der indigenen Bevölkerung sind von einer gegliederten Geister- und Götterwelt geprägt. Bei den Mískito steht bspw. ‚wan aisa‘ (unser Vater) an der Spitze, der einen Gott ohne Kultus und Ort der Verehrung darstellt. Dazu kommen wietere Götter, die mit vorgeschriebenen Verhaltensweisen und Ritualen besänftigt werden müssen. Die pluritheistische Ausrichtung wird um Geister, Dämonen und Tiergeistern erweitert, die sich in natürlichen Erscheinungen manifestieren. So existiert bspw. ‚prahacu‘ als der Geist des Windes (vgl. Cox 2003: 13). Eine besondere Stellung nehmen die sukia ein, die als Mittler zwischen den beiden Welten fungierten und neben dem geistig-religiösen auch den heilenden Bereich kontrollieren (vgl. Rossbach 1987: 67; Vargas Romero 1996: 29). Mitte des 19. Jahrhunderts trafen protestantische Missionare der aus Sachsen stammenden Herrnhuter Brüdergemeine (Mährische Kirche) an der Atlantikküste ein, die ‚die armen wilden Indianer mit dem Evangelium bekannt machen‘ wollten (vgl. Rossbach 1987: 65). Zu dieser Zeit, sah sich die Bevölkerung der Region mit signifikanten Veränderungsprozessen konfrontiert.4 Aufgrund der krisenhaften Situation reagierten vor 4 Die Charakteristika dieses Wandels waren in erster Linie die Auflösung des Mískito-Königstums, des Verlustes der führenden Stellung der Mískito gegenüber anderen Bevölkerungsgruppen, der Beendigung der Kriegszüge gegen Sumu-Mayangna und Rama, der Einbüßung der Rolle als Zwischenhändler im kolonialen Handel und die Einbindung als Arbeitskräfte in 29
KULTURELLES ERBE ALS IDENTITÄTSSTIFTENDE INSTANZ?
allem die Mískito mit einer protestantisch beseelten Heilsbewegung, bei der sie die Wiederbelebung ihrer religiösen Traditionen mit protestantischen Inhalten verbanden. Nicht nur die bloße Präsenz der Mährischen Kirche trug maßgeblich dazu bei, dass sie sich an der Atlantikküste fest verankern konnte. Insbesondere durch Verwendung der indigenen Sprachen in den Gottesdiensten bzw. durch Übersetzung der Bibel schuf diese Institution die Grundlagen für eine regionale Volkskirche, zu der sie sich immer mehr an der Atlantikküste entwickelte (vgl. Rossbach 1987: 65ff.).
2. Die Herausbildung der mestizischen Bevölkerung an der Pazifikküste An der Pazifikküste hat eine soziokulturelle Entwicklung stattgefunden, die nicht mit dem atlantischen Teil Nicaraguas identisch ist. Wie bereits weiter oben erwähnt, kam Kolumbus auf seiner letzten Reise mit der Atlantikküste und deren Bewohnern in Berührung. Allerdings wurde erst im Jahr 15225 eine Expedition in das Landesinnere durchgeführt und die Region für die spanische Krone in Besitz genommen (vgl. Niess 1987: 14ff.).6 Dabei fanden die Expeditionsteilnehmer eine komplexe ethnische Struktur der ansässigen Bevölkerungsgruppen vor (vgl. Walker 1986: 9). Die indigene Bevölkerung wies durch ihre kulturellen Ausprägungen eine Affinität zu den mesoamerikanischen Hochkulturen auf. Dabei handelte es sich insbesondere um Maya- und uto-aztekische Gruppen, die eine umfassende religiöse und wirtschaftliche Sozialorganisation entwickelt hatten: „En general, constitutian sociedades mayores, economicamente más productivos y más complejas que las tribus vecinas del este de la provincia. La religión y los rituales estaban altamente desarrollados en el Pacifico de Nicaragua. Los Chorotega y los Nicarao tenían sacerdotes, ídolos y templos, practicaban sacrificios humanos y la automutilación.“ (Padilla 1992: 10f.)
Diese indigenen Gruppen bauten als sesshafte Bauern Mais, Bohnen und Gemüse an (vgl. Niess 1987: 20; Potthast 1988: 16).7 Im Zuge der eine vom US-Kapital kontrollierte Exportökonomie (vgl. Rossbach 1987: 65). 5 Romero Vargas (1988: 155) gibt für dieses Ereignis das Jahr 1523 an. 6 Potthast (1988: 12) beschreibt, dass Kolumbus damit zwar das mittelamerikanische Festland vom Kap Honduras bis Retrete in der Nähe des heutigen Palenque auf dem Isthmus von Panama erkundet hatte, jedoch bei der Suche nach der erhofften ozeanischen Verbindung zwischen Atlantik und Pazifik nichts entdeckte, was auf sein Interesse gestoßen wäre. 7 Für eine Übersicht der verschiedenen Gruppen, ihrer Herkunft und ihrer verwendeten Sprachen siehe Kirkland Lothrop (1998: 6-38 [auch für die Atlantikküste]); Newson (1987: 26-33). Für eine Übersicht über die regio30
KOLONIALGESCHICHTLICHE HINTERGRÜNDE
spanischen Kolonisierung kam es zu demographischen und soziokulturellen Veränderungen, die im Folgenden kurz beleuchtet werden sollen. 2.1 Demographischer Wandel Während der ersten Phase der Kolonisierung ist es zu einer erheblichen Bevölkerungsabnahme gekommen.8 Allerdings werden dazu in der Literatur voneinander abweichende Aussagen getroffen.9 Hinsichtlich der Gründe für diese Abnahme besteht in der Wissenschaft Konsens, dass neben den kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Spaniern und Ureinwohnern bzw. den von den Spaniern eingeschleppten Krankheiten wie Masern, Pocken oder Grippe insbesondere der eingeführte Sklavenhandel diesen demographischen Wandel hervorrief.10 Dieser Handel wurde als lukrative Einnahmequelle angesehen, nachdem die Suche nach Edelmetallen – insbesondere Gold – nicht wie erwartet die gewünschten Erträge lieferte (vgl. Romero Vargas 1988: 159). Man ging dazu über, die für Erkundungsreisen aufgewendeten Kosten durch die Ausweitung des Sklavenhandels über den internen Markt hinaus zu kompensieren. Die ansässige Bevölkerung wurde in großem Umfang nach Panama bzw. von dort aus in die Bergwerke Perus ‚exportiert‘ (vgl. Niess 1987: 23). Aufgrund des im Jahr 1530 in den spanischen Kolonien erlassenen Sklavereiverbots wurden fortan afrikanische Sklaven als Hausdiener oder Feldarbeiter auf den Zuckerrohr- und Indigo-Feldern herangezogen (vgl. Romero Vargas 1988: 160).11 Dadurch bildete sich im Lauf der Zeit eine Dreiklassengesellschaft heraus, die sich aus Angehörigen der indigenen Bevölkerung
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nale Verteilung bzw. den möglichen Gründen für eine Einwanderung in diese Region siehe Ayón (1956: 41-47). Die geschätzte einheimische Bevölkerungszahl lag bereits um das Jahr 1540 nur noch zwischen 30.000 und 50.000 Personen (vgl. Niess 1987: 22; Radell 1969: 11). Newson (1987: 110) konstatiert, dass im Jahre 1548 von den ursprünglich 40.000 Personen, die im Gebiet des heutigen Managua lebten, lediglich 265 tributpflichtige Ureinwohner noch am Leben waren. Romero Vargas (1988: 157f.) beziffert die ursprüngliche Bevölkerungszahl auf 100.000 Personen, die bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts um die Hälfte dezimiert worden sei. Demgegenüber werden von Niess (1987: 23), Radell (1969: 66) und Walker (1986: 10) übereinstimmend eine Bevölkerungszahl von ursprünglich 1.000.000 Personen genannt. Laut Radell (1969: 75) wurden allein zwischen 1527 und 1537 fast eine halbe Million Ureinwohner (446.600) zum Isthmus von Panamá transportiert, um sie von dort aus in weiter entfernte Minengebiete zu verschiffen. Für Daten zu den erstgenannten Gründen siehe Niess (1987: 22f.); Radell (1969: 77); Romero Vargas (1988: 158ff.). Da aber weiterhin ein starkes Interesse an der Sklavenökonomie bestand, wurde dieses Verbot auf Druck der kolonialen Oberschicht bereits 1534 wieder aufgehoben (vgl. Niess 1987: 24). 31
KULTURELLES ERBE ALS IDENTITÄTSSTIFTENDE INSTANZ?
und afrikanischen Sklaven bzw. kreolischen, im Land geborenen Personen und gebürtigen Spaniern zusammensetzte: „Fue el punto de partido de un proceso hístorico que habria de durar tres siglos, caracterizando, de una parte, por el desmantelamiento de las sociedades indígenas en las zonas Central y del Pacifico […], y, de otra, por el surgimiento y desarrollo de una nueva sociedad, en cuya formación habrian de entrar elementos de origen indígena, europeo y africano.“ (Romero Vargas 1988: 155)
Die Bevölkerung an der nicaraguanischen Pazifikküste ist zu einem bedeutenden Teil aus diesem Vermischungsprozess hervorgegangen. Ebenso setzte sich Spanisch als mehrheitlich gesprochenes Idiom durch, da die autochthonen Sprachen infolge der Dezimierung der indigenen Bevölkerungsgruppen bzw. der ethnischen Durchmischung sukzessiv verschwanden (vgl. Walker 1986: 11).12 2.2 Soziokulturelle Veränderungen 2.2.1 Religion Die Religion und die Rituale der ansässigen Bevölkerungsgruppen waren ein Abbild der mesoamerikanischen Sozialordnung, die auf einem Gleichgewicht zwischen Menschen und Göttern beruhte und die durch verschiedene religiöse Praktiken, wie beispielsweise dem Menschenopfer, in einem Gleichgewicht gehalten werden musste.13 Das Glaubenssystem war pluritheistisch und ordnete jeder einzelnen Gottheit eine spezielle Macht zu (bspw. Quiatéot als Gott des Regens oder Mixcoa als Gott des Handels) (vgl. Padilla 1992: 11). Aufgrund des monotheistisch ausgerichteten Katholizismus der Spanier wurden die indigenen Glaubenssymbole durch christliche ersetzt. Die Christianisierung wird in der Literatur unterschiedlich bewertet: Padilla (1992: 12) zeichnet ein eher positives Bild dieses Prozesses. Sie vertritt die Auffassung, dass es Ähnlichkeiten zwischen den ideologischen Geboten des Christentums und den Glaubensvorstellungen der Ureinwohner gegeben hätte. Diese hätten dazu beigetragen, dass sich die indigene Bevölkerung in relativ kurzer Zeit christianisieren ließ. Dagegen vertritt Niess (1987: 25) die Meinung, dass die religiöse Bekehrung lediglich als Deckmantel für die rücksichtslose Ausbeutung der indigenen Bevölkerung diente bzw. die so genannten Schutzbefohlenen ihren neuen Herren auf Gnade oder Ungnade ausgeliefert und zu jeder Arbeitsleistung verpflichtet worden wären. Es ist davon auszugehen, dass die indigene Bevölkerung das rigide spanische Kolonialsystem nur überstehen konnte, sofern es ihr gelang, durch weit reichende Synkretismen die eigenen Glaubensvorstellungen mit den christlichen zu verschmelzen. In der Tat konnten bspw. durch Instrumentalisierung der cofradías (Lai-
12 Für eine Übersicht der vorkolonialen Sprachen siehe Ayón (1956: 71ff.). 13 Für eine ausführliche Darstellung dieses Aspekts siehe Ayón (1956: 63-70). 32
KOLONIALGESCHICHTLICHE HINTERGRÜNDE
enbruderschaften)14 prähispanische Sozialstrukturen aufrecht erhalten werden: „La cofradía permitió conservar las estructuras sociales prehispánicas, pues tenía una estructura clánica basada en el parentesco, razón por la cual los antiguos calpules preservaron su autoridad […]. Así […] sobrevivieron el arte de la música y los bailes, así como las celebraciones de los dioses antiguos, el culto a los muertos, el calendario y otros rituales.“ (Lanza 2002: 41)
Auch Newson (1987: 9) vertritt die Auffassung dass die indigene Kultur nicht einen vollständigen Verlust erfahren hätte, sondern an die kolonialen Verhältnisse angepasst und transformiert worden wäre. Dass sich Bestandteile indigener Kultur bis in die heutige Zeit erhalten konnten, wird bspw. bei der näheren Betrachtung von Volkstänzen sichtbar: Lanza (2002: 44) beschreibt, dass bei einem nicaraguanischen Tanz, der ‚Los Diablitos‘ genannt wird, die Tänzer eine Kette bilden. Diese Kette würde nicht nur die erlittene Sklaverei sondern auch die Brüderlichkeit symbolisieren, mit deren Hilfe die indigene Bevölkerung die erlittenen Demütigungen und Strafen überlebt hätte. 2.2.2 Ökonomie und Besitzverhältnisse Wie bereits weiter oben erwähnt, hatte sich in den indigenen Gemeinden an der Pazifikküste eine umfassende wirtschaftliche Sozialorganisation entwickelt, die auf dem kommunalen Landbesitz basierte und die den einzelnen Familien Parzellen für die Kultivierung zuteilte. Insbesondere die landwirtschaftliche Produktion von Mais und Bohnen stellte die wichtigste Quelle der Nahrungsmittelversorgung dar (vgl. Newson 1987: 48ff.; Romero Vargas 1988: 161). Die politische Organisation lag in den Händen von Ältestenräten oder wurde in einer Häuptlingslinie vererbt (vgl. Ayón 1956: 49). Aufgrund des Voranschreitens der Agrargrenze und einer zunehmenden Mestizisierung der Bevölkerung kam es zu immer häufiger auftretenden Auseinandersetzungen.15 Lanza (2002: 43) geht davon aus, dass große Teile der indigenen Bevölkerung im Verlauf des 18. Jahrhunderts ihr gemeinschaftlich bebautes Land verloren haben. Des Weite14 Die Institution der cofradía wurde von den Spaniern in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in Lateinamerika eingeführt. Deren Mitglieder hatten zwar das Gelübte abgelegt, aber keine klerikalen Weihen erhalten. Daher besaßen sie geringere Rechte. Sie bildeten zwischen den Mönchen und den weltlichen Dienstboten eines Klosters eine eigene Gruppe mit einem eigenen, vor allem praktischen Aufgabenbereich (vgl. Brockhaus, 1996a: 11ff.). Eine cofradía wurde von einem Gutsverwalter (mayordomo) oder von Abgesandten des Gemeinderats bewirtschaftet. Die indigene Bevölkerung musste zur Subsistenz des mayordomo ein Plusprodukt ihrer landwirtschaftlichen Güter abführen (vgl. Lanza 2002: 40f.). 15 Für Lanza (2002: 43) stellt dieser Vorgang nicht eine friedliche Vermischung der einzelnen ethnischen Gruppen, sondern eher einen Konflikt um die Ausweitung privaten Landbesitzes dar. 33
KULTURELLES ERBE ALS IDENTITÄTSSTIFTENDE INSTANZ?
ren wurden die einzelnen indigenen Dorfgemeinschaften durch die Politik der spanischen Kolonialverwaltung voneinander abgeschnitten. Auch wenn die Bewohner vor der spanischen Eroberung dem gleichen Kulturraum angehört hatten, gab es untereinander keine Verbindungen mehr. Diese Faktoren hätten dazu beigetragen, dass sich einerseits der Katholizismus immer weiter ausbreitete und andererseits im 18. Jahrhundert fast nur noch Spanisch von der Bevölkerung gesprochen wurde (vgl. Romero Vargas et al. 1992: 25). 2.2.3 Die Herausbildung eines spezifischen kulturellen Erbes Aufgrund der unterschiedlichen Kolonialpolitik Spaniens und Großbritanniens bzw. deren Einflüsse auf die ansässigen Bevölkerungsgruppen entwickelte sich an Atlantik- und Pazifikküste ein je spezifisches kulturelles Erbe heraus. Es stellt sich nun die Frage, ob und wie dieses kulturelle Erbe als Ausgangsbasis für die soziale Interaktion zwischen den Mitgliedern der untersuchten comunidades dient bzw. welche Rolle es bei sozialen Differenzierungsprozessen spielt. Eine solche Fragestellung macht es erforderlich, sich mit der Herausbildung einer spezifischen kulturellen Identität und den damit in Verbindung stehenden Gruppenbildungsprozessen auseinanderzusetzen. Diese Aspekte bilden einen wichtigen Rahmen, um die Einflüsse gesamtgesellschaftlicher Transformationsprozesse auf die soziale Organisation der untersuchten Gemeinschaften präziser erfassen zu können. Zunächst jedoch werden die zentral verwendeten Termini ‚soziale Organisation‘, ‚kulturelles Erbe‘ und ‚kulturelle Identität‘ theoretisch eingeordnet. Anhand dieser Vorgehensweise sollen die genannten Begriffe definiert und unter Zuhilfenahme der empirischen Daten diskutiert werden.
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K APITEL 2: D IE BEGRIFFLICHE VERWENDETER T ERMINI
E INORDNUNG ZENTRAL
1 . Zu r t h e o r e t i s c h e n D e b a t t e d e r B e g r i f f e s o z i a l e Organisation vs. soziale Struktur1 Aufgrund der Tatsache, dass für die Ethnologie des 19. Jahrhunderts die Verwandtschaft das grundlegende Organisationsprinzip darstellte, erschien bis weit in die 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts eine schier unerschöpfliche Flut von Veröffentlichungen,2 bei denen zur Bestimmung verwandtschaftlicher Kriterien insbesondere die Termini soziale Organisation und soziale Struktur zur Anwendung kamen (vgl. Helbling 2003: 125). Allerdings konstatierte Radcliffe-Brown im Jahr 1952, dass unter den Ethnologen kaum Übereinstimmung hinsichtlich der verwendeten Konzepte und Begriffe vorzufinden wäre (vgl. Radcliffe-Brown 1952: 1). Es verwundert daher nicht, dass gerade dieser Autor die klarste Unterscheidung zwischen sozialer Struktur und sozialer Organisation getroffen hat. Soziale Struktur wird von ihm als eine Anordnung von Personen in institutionell kontrollierten oder definierten Beziehungen (bspw. die Beziehung Mann – Frau) verstanden. Wenn Radcliffe-Brown also von sozialer Struktur spricht, dann geht es ihm in erster Linie um ein System sozialer Positionen. Die soziale Organisation wiederum wird von ihm als Bezugnahme auf eine Anordnung von Aktivitäten gesehen. In diesem Rahmen würde jedes Individuum bei den sozialen Beziehungen eine spezifische Rolle spielen: „Within an organization each person may be said to have a role. Thus we may say that when we are dealing with a structural system we are concerned with a system of social positions, while in an organisation we deal with a system of roles.“ (Radcliffe-Brown 1952: 11)
Auch wenn die Überlegungen Radcliffe-Browns auf keiner allgemeingültigen, sondern eher partikulären Theorie basieren (vgl. Radcliffe1 Eine ausführliche Darlegung zur Entstehung dieser begrifflichen Debatte würde den hier gesetzten Rahmen sprengen. Für eine Einführung zur Entstehungsgeschichte ethnologischer Theoriebildung siehe Harris (1968); LévyStrauss (1997: 11-40). 2 Sicherlich ist dies auch heute noch festzustellen; allerdings hat sich der Fokus bei der Untersuchung sozialer Organisation auch auf andere Bereiche verlagert. 35
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Brown 1952: 1)3, sind sie doch als Reaktion auf die vormals unterschiedslose Verwendung dieser Termini aufzufassen. Dies lässt sich beispielsweise an der Argumentation von Tax und Eggan verdeutlichen, die sich beide als Schüler Radcliffe-Browns verstehen und die sich in ihrem Diskurs explizit auf das Verwandtschaftssystem beziehen. Eggan argumentiert, dass die Funktion der sozialen Struktur darin bestünde, eine soziale Integration des Einzelnen in der Gruppe zu ermöglichen. Dem Verwandtschaftssystem käme dabei eine entscheidende Rolle zu: „The kinship-system has proved the most useful index of social integration; in some cases the kinship-system represents practically the total social structure of the group.“ (Eggan 1937b: 40).4
Tax wiederum ersetzt den Begriff soziale Struktur mit dem Terminus soziale Organisation, um damit das Verwandtschaftssystem zu definieren: „In the type of social organisation that here will be considered, the kinshipsystem – including in that term both the kinship terminology and the behaviour patterns which accompany it – is one facet of the social organization.“ (Tax 1937: 17).5
In diesem Zusammenhang kommt Tax darauf zu sprechen, dass die gegenseitigen Beziehungen aller Individuen in einer Gruppe gewöhnlicherweise in einem systematischen und gleichförmigen Verhalten ablaufen würden. Aufgrund dessen würde ein System gleicher Verhaltensweisen konstituiert (vgl. Tax 1937: 17). Einen anders gearteten theoretischen Rahmen definiert Parsons, dessen Sichtweise zur Beziehung von sozialer Organisation und sozialer Struktur derjenigen von Radcliffe-Brown nicht unähnlich ist. Er kreiert jedoch zusätzlich den Terminus soziales System, in dem er die beiden erstgenannten Begriffe integriert: „A social system is only one of three aspects of structuring of a completely concrete system of social action. The other two are the personality systems of the individual actors and the cultural system which is built into their action. Each is indispensable to the other two in the sense that without personalities and culture there would be no social system and so on around the rooster of logical posibilities.“ (Parsons 1952: 6) „A social system is a mode of organization of action elements relative to the persistence or ordered processes of change of the interactive patterns of plurality of individual actors.“ (Parsons 1952: 24). Dabei unterscheidet er vier verschiedene Formen in diesem System, die sich alle wechselseitig bedingen: soziale Werte (Social Values), institutio-nelle Strukturen (Institucional Patterns), spezialisierte Gemeinschaften (Gruppen) 3 Diese Feststellung wird vom Autor in seiner Monographie selbst getroffen. 4 Kursiv gesetzte Stellen von mir. 5 Kursiv gesetzte Stellen von mir. 36
DIE BEGRIFFLICHE EINORDNUNG VERWENDETER TERMINI (Specialized Communities [Groups]) und die ausgebildeten Rollenverhältnisse in diesen Gemeinschaften oder Gruppen (Roles performed by individuals in these collectivities or groups) (vgl. Parsons 1952: vii).6 Die sozialen Werte, die von Parsons auch als ‚value orienta-tion‘ bezeichnet werden, leiten sich von den geteilten Traditionen einer Gruppe ab. Dieses System der Werteorientierung sei wiederum direkt mit der sozialen Integration in ein Struktursystem verbunden, das mit dem Erlernen kultureller Muster einhergehen würde (vgl. Parsons 1952: 12ff.). Auf Grundlage dieser sozialen Werte und kulturellen Muster würden die sozialen Akteure mittels der täglich von ihnen entfalteten Aktivitäten eine spezialisierte Gemeinschaft generieren (vgl. Parsons 1952: 91). In diesem Prozess seien alle sozialen Akteure durch eine Vielzahl interpersoneller Beziehungen verbunden, was wiederum zu einer Ausbildung spezifischer Rollenverhältnisse beitragen würde (vgl. Parsons 1952: 25). Neben der Skizzierung eines Systems institutionalisierter Rollen würden die darin organisierten motivationalen Prozesse ebenso ein signifikantes Datum darstellen.
Ähnlich wie Parsons definiert auch Firth vier unterschiedliche Bereiche als essentiell für das soziale Zusammenleben in einer Gemeinschaft: soziale Hierarchie (social alignment), soziale Kontrolle (social control), soziale Medien (social media) und soziale Standards (social standards). Die soziale Hierarchie stellt für ihn die soziale Rangfolge der Individuen in einer Gemeinschaft dar, die durch die soziale Kontrolle mit ihren regulativen Faktoren aufrechterhalten wird. Die sozialen Medien in Form materieller Güter und der gesprochenen Sprache repräsentieren gemeinsam mit den sozialen Standards ein Wertesystem, das sich in entsprechenden Aktivitäten der Gemeinschaftsmitglieder ausdrückt (vgl. Firth 1951: 42). Murdock geht noch einen Schritt weiter und wendet bei seinen Untersuchungen vier verschiedene Disziplinen7 an, um mit dieser Technik frühe Formen sozialer Organisation in jeder Gesellschaft historisch rekonstruieren zu können. Allerdings kommen bei ihm sowohl der Begriff soziale Struktur als auch der Terminus soziale Organisation unterschiedslos zur Anwendung. So stellt er beispielsweise für die Bestimmung sozialer Organisation bei einem Sample von 250 unterschiedlichen Gesellschaften elf so genannte Haupttypen (major types) auf, die er ohne klare Unterscheidungskriterien ebenso als soziale Struktur bezeichnet: „The proposed hypothesis of the evolution of social organization will be illustrated by the classification of the 250 sample societies into eleven types of social structure.“ (Murdock 1949: 220).8 „Eleven major types of social organization have been set up.“ (Murdock 1949: 224).9
6 Im Gegensatz zu Radcliffe-Brown gibt der Autor vor, mit seinen Ausführungen eine generelle soziologische Theorie entwerfen zu wollen. 7 Als Disziplinen werden Cultural Anthropology, Sociology, Behavioristic Psychology und Psychoanalysis benannt (vgl. Murdock 1949: Ohne Seitenzahl). 8 Kursiv gesetzte Stellen von mir. 37
KULTURELLES ERBE ALS IDENTITÄTSSTIFTENDE INSTANZ?
Dass in der Ethnologie überwiegend mit feststehenden Definitionen gearbeitet wurde – und teilweise immer noch wird – ist meines Erachtens in besonderem Maße auf die Wissensgeschichte dieser Disziplin zurückzuführen. Es zeigt sich, dass zum Zeitpunkt dieser wissenschaftlichen Debatte der Wert ethnologischer Studien aufgrund ihrer relativen Neuheit erst sukzessive eine akademische Anerkennung erfuhr. Es ist davon auszugehen, dass mit der Diskussion der Versuch unternommen wurde, den ‚neuen‘ Forschungszweig Ethnologie in der Wissenschaftslandschaft zu etablieren. Firth bemerkt dazu, dass die angewendeten Untersuchungsmethoden bis dato noch nicht vollständig verstanden worden seien: „Social Anthropology aims at a reasoned comparative analysis how people behave in social circumstances. But the study is a comparatively new one – less than a hundreds years old. So its scope and methods are still not generally understood.“ (Firth 1951: 1)10
Der Wert solcher Untersuchungen würde durch ein stetig zunehmendes Verständnis ethnologischer Forschung erhöht. Mit den vergleichenden Analysen könne man besser als je zuvor zum Verständnis menschlichen Sozialverhaltens beitragen (vgl. Firth 1951: viii). Dass diese Auffassung jedoch nicht von allen geteilt wird, lässt sich an der Kritik Lévy-Strauss´ deutlich ablesen: „Bei […] der Ethnographie und der Ethnologie [haben] sich im Laufe der letzten 30 Jahre eine üppige Blütenpracht theoretischer und beschreibender Untersuchungen entwickelt: aber um den Preis von Konflikten, Streitigkeiten und Verwirrungen, in denen man die in die Ethnologie selbst verlagerte Debatte der Vergangenheit wiedererkennt […].“ (Lévy-Strauss 1997: 11)
Die von Lévy-Strauss thematisierte Debatte scheint für die präzise Definition der hier diskutierten Termini nicht besonders konstruktiv gewesen zu sein. Ungeachtet bereits vorgenommener begrifflicher Unterscheidungen werden nämlich neuere Forschungsergebnisse nicht zur Präzisierung dieser Termini herangezogen: Die Begriffe soziale Organisation und soziale Struktur werden erneut synonym gebraucht und finden als gebräuchliches Vokabular innerhalb der Soziologie und der Ethnologie ihre Verwendung (vgl. Barnard 1996: 511). Keesing kommt Mitte der 1970er Jahre zu dem Schluss, dass
9 Kursiv gesetzte Stellen von mir. Der Wert dieser so genannten Cross Cultural Studies wurde zu diesem Zeitpunkt innerhalb der Ethnologie hoch geschätzt: „G.P. Murdock and his associates worked out a system whereby materials from a great many world cultures would be reproduced verbatim and organized according to a standard indexing code. This enterprise, known as Human Relation Area File (HRAF) is now shared by a number of American universities that have fullsets of data.“ (Keesing 1976: 180). 10 Kursiv gesetzte Stellen von mir. 38
DIE BEGRIFFLICHE EINORDNUNG VERWENDETER TERMINI „Social structure – or, as some would call it, social organisation – is an abstraction from patterns of actual behaviors and events - a web of relationships; culture refers to systems of ideas […].“ (Keesing 1976: 143)11 „When anthropologists talk about ‚social organization‘ or ‚social structure‘, they often mean by that a set of problems centering about kinship in a broad sense. […] Social organization is […] not simply a matter of kinship; rather it has to do with all the modes of organizing social groupings that bind people together and make ordered social life possible.“ (Keesing 1976: 230)
Trotz der synonymen Verwendung setzt sich bei Keesing die Einsicht durch, dass sich die genannten Begriffe eben nicht nur auf das Verwandtschaftssystem, sondern auf alle sozialen Prozesse beziehen, die ein relativ geordnetes soziales Miteinander erst ermöglichen. Dass sich soziale Realität in einem beständigen Veränderungsprozess befindet, schlägt sich mehr und mehr in der ethnologischen Theoriebildung nieder. Dabei wird der sich stetig verändernde Charakter der sozialen Organisation explizit hervorgehoben. Aufgrund dieser permanenten Veränderungen müsse die sich daraus generierende Theorie immer wieder durch vergleichende Studien mit den jeweils unterschiedlichen sozialen Realitäten verglichen und ggf. modifiziert werden (vgl. Burk 1991: 26). Interessanter Weise wird eine solche Modifizierung in neueren Veröffentlichungen gar nicht erst vorgenommen. So bezieht sich beispielsweise Rossbach de Olmos wie bei den ethnologischen Paradigmen Mitte des 20. Jahrhunderts explizit auf Aspekte der Verwandtschaft, ohne jedoch eine eigene Definition des von ihr im Titel verwendeten Begriffes Sozialorganisation abzugeben (vgl. Rossbach de Olmos 1998: 13). Bei Appel (2001) sucht man in seiner Abhandlung über indianische Lokalkultur der Otomí in Mexiko sogar vergebens nach einer begrifflichen Bestimmung von sozialer Organisation. Gleichwohl haben ‚klassische‘ ethnologische Themen wie Verwandtschaft und Familie einen signifikanten Bedeutungsverlust erlitten. Jenkins (1999: 86) vertritt die Auffassung, dass insbesondere die weltumspannende Migration und neu in diesem Zusammenhang aufflammende Nationalismusdiskurse signifikant zu einer theoretischen Diversifizierung und Verbreiterung kultureller Anwendungsbereiche beitragen haben. Generell durchläuft die Ethnologie seit geraumer Zeit einen Paradigmenwechsel, der insbesondere durch die Diskussion um Auswirkungen und Folgen der Globalisierung zu nicht unerheblichen theoretischen Umbrüchen in der Disziplin geführt hat: „Die Globalisierungsdebatte führte nicht nur zu einer Neubewertung des Forschungsterrains und der Methodik, sondern von einem breiten Konsens getragene Grundannahmen wurden verabschiedet. Dies ergibt ein Vergleich der
11 Kursiv gesetzte Stellen von mir. 39
KULTURELLES ERBE ALS IDENTITÄTSSTIFTENDE INSTANZ? gegenwärtigen neuen Konzeptualisierungen von Gesellschaft, Kultur und Lokalität in der europäischen und US-amerikanischen Forschung.“12 (Kreff 2003: 11)
Es wird konstatiert, dass sich die vermeintliche Einheit von Kultur und Ort bzw. Raum und Sprache als Irrtum erwiesen hätte. Dabei wird darauf verwiesen, dass Kultur etwas Bewegliches sei und sich durch die neuen Kommunikationsmedien Raum übergreifend weiter vermittelt. In diesem Prozess wird Kultur modifiziert, neu geschaffen und auch instrumentalisiert (vgl. Hauser-Schäublin/Braukämper 2002: 10). 1.1 Kritische Reflexion auf Grundlage eigener Forschungsergebnisse Es sei an dieser Stelle daran erinnert, dass die vorliegende Forschungsarbeit der Frage nachgeht, wie sich gesamtgesellschaftliche Transformationsprozesse auf die soziale Organisation dörflicher Gemeinschaften auswirken. In dieser Arbeit wird der Begriff der sozialen Organisation als Interaktion zwischen den einzelnen Bewohnern innerhalb der spezifischen kulturellen Struktur und den sich in diesem Interaktionsprozess herausbildenden Interessengruppen definiert. Geleitet wird diese Definition von der Erkenntnis, dass die sozialen Akteure in einem gemeinsamen Spannungsfeld – nämlich auf der Ebene der dörflichen Gemeinschaft – ihre partikulären und mitunter widerstreitenden Interessenlagen ausfechten. Dieser Prozess trägt zu nachvollziehbaren Differenzen zwischen den einzelnen Mitgliedern der Gemeinschaft bei, die die Herausbildung unterschiedlicher Interessengruppen fördern und die sich direkt oder indirekt auf die Gruppenidentität auswirken.13 Dieses gemeinsame Spannungsfeld strukturiert zwischen den einzelnen sozialen Akteuren eine spezifische Form des Zusammenlebens. Es sei bereits hier erwähnt, dass sich in diesem Prozess eine immer wieder auftauchende ökonomische Variable konstatieren lässt. Je spezifischer der individuelle ökonomische Vorteil ist, desto stärker ist die Tendenz vorhanden, dass die Gesellschaft aufgrund unterschiedlicher Interessengruppen auseinanderdriftet. Diese ständig neu stattfindende Restrukturierung der gesamten Gesellschaft weist eine signifikante persönliche Dimension auf. Dies wird durch die eruierten Widersprüchlichkeiten zwischen Gesprächspartnern hinsichtlich einer spezifischen Fragestellung deutlich. Aber auch bei ein- und derselben Person sind diese Widersprüche feststellbar. Diese Rahmenbedingungen kön12 Bereits ein kurzer Blick in das renommierte Annual Review of Anthropology reicht aus, um dieser Auffassung zu folgen. Eine bloße Überschriftenrecherche aller zwischen 1981 und 2005 in diesen Jahrbüchern veröffentlichten Artikel verdeutlicht, dass sich die Forschung zu einem großen Teil anderen Richtungen zugewendet hat (vgl. Annual Review of Anthropology. In: http://arjournals.annualreviews.org/loi/anthro). 13 Den Aspekt der Gruppenidentität werde ich weiter unten ausführlicher diskutieren. 40
DIE BEGRIFFLICHE EINORDNUNG VERWENDETER TERMINI
nen als Interpretationsmuster für stattfindende soziale Prozesse verwendet werden. Aufgrund dieser Erkenntnisse, aber auch hinsichtlich des stattfindenden Paradigmenwechsels innerhalb der Ethnologie erachte ich als notwendig, die zentral bei der Erklärung sozialer Phänomene zur Anwendung kommenden Termini zu modifizieren. Dabei geht es nicht um die Vernachlässigung eines präzisen analytischen Werkzeugs, sondern um die Einsicht, dass die Disziplin durch den sich stetig wandelnden Charakter der sozialen Organisation sehr gut beraten wäre, eine nach dem jeweiligen Untersuchungsgegenstand exakte Definition dieses Terminus einzufordern. Wie ich in den nächsten Kapiteln anhand meiner empirischen Daten zeigen werde, sind die in der Vergangenheit aufgestellten Definitionen nicht mehr ausreichend, um soziale Realitäten umfassend erklären zu können. Die bereits weiter oben diskutierten Termini soziale Organisation und soziale Struktur, die man in anderen Untersuchungen analytisch auseinander gehalten hat, werden hier vereint und für die weitere theoretische Diskussion gewinnbringend eingesetzt. Um dies zu verdeutlichen, möchte ich die bereits weiter oben diskutierten Auffassungen anderer Autoren hier noch einmal kurz erwähnen und sie meinem Diskurs gegenüberstellen. Ich vertrete den Standpunkt, dass die von Radcliffe-Brown vorgenommenen Unterscheidungskriterien hinsichtlich sozialer Organisation und sozialer Struktur eine künstlich geschaffene Grenze suggerieren, die bei der alltäglichen Interaktion von Individuen mit ihrer sozialen Umwelt in dieser Form nicht aufrechterhalten werden kann. Meines Erachtens bedingen sich sowohl die soziale Position des Einzelnen als auch die jeweilige Rolle, die der Akteur bei der Interaktion mit der Gruppe spielt. Es handelt sich also um ein Wechselspiel verschiedener Einflüsse, die sich weder unter die eine noch unter die andere begriffliche Klammer präzise subsummieren lassen. Auch Tax’ Behauptung, dass die gegenseitigen Beziehungen aller Individuen in einer Gruppe gewöhnlicher Weise in einem systematischen und gleichförmigen Verhalten ablaufen würden, kann durch die vorliegenden empirischen Ergebnisse widerlegt werden. Meines Erachtens kann sich eine Abfolge gleicher Verhaltensweisen aufgrund der unterschiedlichen Interessen der einzelnen Gruppenmitglieder nicht konstituieren. Das Verhaltensrepertoire der sozialen Akteure wird um Handlungsspielräume erweitert, die sich mitunter nicht mit den kulturell vorgegebenen Rollenmustern decken. Das von Firth eingeführte Wertesystem, das sich in entsprechenden Aktivitäten der Gemeinschaftsmitglieder abbilden würde, greift für eine umfassende Erklärung ebenso zu kurz. Auch wenn in diesem Ansatz die Vielschichtigkeit und Komplexität sozialer Verhaltensweisen eine gebührende Berücksichtigung findet, bleibt trotzdem unklar, ob und wie sich infolge ökonomischer Veränderungen das Wertesystem der Gruppe umformt und wie sich dies auf die soziale Organisation der Gruppenmitglieder auswirkt. Die von Firth aufgestellten 41
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Typologien sind meines Erachtens zu starr konstruiert, als dass sie sich als mögliche Erklärung auf vor sich gehende soziale Differenzierungsprozesse anwenden ließen. Da sich soziale Realität in einem beständigen Veränderungsprozess befindet, vertrete ich den Standpunkt, dass insbesondere dem sich stetig wandelnden Charakter der sozialen Organisation besondere Beachtung geschenkt werden sollte. Wie Burk (1991: 26) vertrete auch ich die Ansicht, dass sich eine auf Grundlage der sozialen Veränderungsprozesse generierende Theorie unablässig durch vergleichende Studien mit unterschiedlichen sozialen Realitäten verglichen und ggf. modifiziert werden müsste. Allerdings muss dies meines Erachtens mehr umfassen als lediglich zu konstatieren, dass der Terminus soziale Organisation auf die Summe aller Aktivitäten in einem sozialen Kontext bezogen wird und der Begriff soziale Struktur bei der Statusdefinition eines sozialen Akteurs bzw. bei den in formellen Beziehungen ausgehandelten Rollen zwischen den beteiligten Personen zur Anwendung kommt (vgl. Barnard 1996: 511). Es mag zwar einleuchten, dass soziale Struktur explizit mit einem System gegenseitiger Beziehungen in Relation gesetzt wird, das bei der Interaktion der sozialen Akteure zum Tragen kommt bzw. die Individuen unterschiedliche Positionen und Statusrollen einnehmen, in denen ein bestimmtes Verhalten von ihnen erwartet wird (vgl. Müller 1983: 113). Dabei muss aber auch das individuelle Interesse Eingang in die Betrachtung finden. Beispielsweise verweist Parsons in seinem psychoanalytisch geprägten Ansatz zu Recht auf die vom persönlichen Interesse geleiteten Verhaltensweisen des sozialen Akteurs bzw. die sozialisierte Erwartungshaltung in eine bestimmte Rolle. Ich plädiere deshalb für einen einheitlichen Begriff, der beide Aspekte umfasst und den ich als soziale Organisation benenne. Ich bin der Auffassung, dass sich der soziale Prozess von Rollen- und Statuszuschreibungen bzw. die Gesamtheit aller sozialen Aktivitäten nicht voneinander trennen lassen. Meiner Auffassung nach sind beide Kategorien gemeinsam zu betrachten und jeweils auf den speziellen Forschungsgegenstand zu fokussieren. Die Generierung einer spezifischen Forschungshypothese ergibt sich aus dem charakteristischen Untersuchungszusammenhang und bedarf keiner vorher festgelegten schematischen Einteilung in unterschiedliche Denkschablonen. Wenn wir hinsichtlich dieses Begriffes Erkenntnis generierend diskutieren und unsere Vergleichsmöglichkeiten mit anderen Untersuchungsergebnissen vorantreiben wollen, muss eine an den jeweiligen Bedingungen ausgerichtete Definition die sich stetig verändernden Formen der sozialen Organisation berücksichtigen und ebenso explizit darstellen: „First reality is in a state of flux. This postulate highlights the partially integrated character of social organization and emphasizes its changing character, and it has consequences, of course, for evaluating the appropiateness of various styles of theory construction.“ (Burk 1991: 26)
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Darüber hinaus muss eine an internen Wandlungsprozessen ausgerichtete Theoriebildung die sich bei der Analyse der sozialen Differenzierungen mitunter überschneidenden Hypothesen berücksichtigen. Diese Hypothesen, die jeweils für sich allein betrachtet auf einen spezifischen Bereich begrenzt bleiben würden, erlangen in diesem Prozess erst in einem weiter gefassten theoretischen Rahmen ihre spezifische Bedeutung (vgl. Burk 1991: 26). Diese Erkenntnis wird in der vorliegenden Arbeit auch auf andere zentral verwendete Begriffe übertragen. Die sich aus den aufgestellten Hypothesen generierenden Begriffsdefinitionen werden miteinander in Beziehung gesetzt, um einerseits die Komplexität des theoretischen Rahmens zu veranschaulichen und andererseits das Ineinandergreifen der unterschiedlichen sozialen Differenzierungen nachvollziehbar zu dokumentieren. Dass Kultur eine sich ständig im Wandel befindliche Variable darstellt, hat in den letzten Jahren endlich die ihr gebührende wissenschaftliche Anerkennung erfahren.
2. Die begriffliche Bestimmung des Terminus kulturelles Erbe Wie bereits im ersten Kapitel dargestellt, haben sich an der Atlantik- und Pazifikküste aufgrund kolonialgeschichtlicher Hintergründe unterschiedliche kulturelle Ausprägungen herausgebildet. Es ist davon auszugehen, dass die sozialen Akteure bei der Weitergabe und Vermittlung einer Vielfalt komplexer, oft übereinander gelagerter oder ineinander verwobener Vorstellungsstrukturen (vgl. Geertz 1997: 15) auf ein je spezifisches kulturelles Erbe zurückgreifen. Es stellt sich die Frage, welche Funktion dieses Erbe im Zusammenleben einer Gesellschaft ausübt. Müller vertritt die Auffassung, dass es als eine Art Mittler zwischen den überkommenen Traditionen und soziokulturellen Veränderungsprozessen fungiert: „Der Rückgriff auf Traditionen oder deren Reaktivierung beinhaltet in der Regel einen ideologischen Diskurs, der rein symbolisch fundierte Gemeinschaften auch über ökonomische Interessengegensätze hinweg zu konstituieren vermag und umgekehrt dazu tendiert, Gruppen mit strukturell ähnlichen Interessen zu spalten.“ (Müller 1991: 8)
Dabei scheinen sich kulturell tradierte Normen und Erwartungshaltungen nachhaltig auf das individuelle Verhalten auszuwirken. Müller konstatiert, dass eine traditionelle Gesellschaft – bedingt durch einen so genannten ‚time lag‘ des kulturellen gegenüber des strukturellen Wandels – weiter als verhaltensbestimmende Prägung, eben als kulturelles Erbe bis heute weiter wirkt (vgl. Müller 1991: 23f.). Dabei würden „Traditionen eine […] eine Art Subventionierung des aktuellen gesellschaftlichen Wandels durch den ‚Verzehr‘ soziokultureller Reserven aus der Vergangenheit [erlauben].“ (Müller 1991: 8). Da menschliche Individuen in sozialen Netz43
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werken und kulturellen Bedeutungsformen zusammenleben und in vielfältiger Weise miteinander verbunden seien, würden Verhaltensweisen und Symbole nicht nur einen sozialen Rahmen bilden, sondern ihre Dynamik aus gesellschaftspolitischen Interessenkonstellationen und Legitimitätsstrategien beziehen (vgl. Müller 1991: 8ff.). Der Autor verdeutlicht mit diesen Ausführungen, dass kulturelles Erbe einen höchst kontroversen Prozess darstellt und sich als endogener Faktor in stetig anderen Ausprägungen mit exogenen, weltgesellschaftlichen Einflüssen verbindet (vgl. Müller 1991: 1). Diese Argumentation entspricht im Wesentlichen auch den bei der vorliegenden Untersuchung vorgefundenen soziokulturellen Realitäten. Müller betont zu Recht, dass das jeweilige kulturelle Erbe – ähnlich wie die soziale Organisation einer lokalen Gesellschaft – keine statische Größe, sondern einen dynamischen Prozess darstellt. Dabei wird es von den sozialen Akteuren fortwährend neu interpretiert, wobei es über mannigfaltige Ressourcen verfügt, auf die die Akteure in der sozialen Interaktion zurückgreifen können. Diese Ressourcen werden aus dem der Gesellschaft zur Verfügung stehenden religiösen, sprachlichen aber auch ökonomischen Repertoire geschöpft und in Situationen, die den Einsatz dieses ‚kulturellen Vorrats‘ erfordern, zur Anwendung gebracht. Die für die vorliegende Arbeit erhobenen Daten weisen darauf hin, dass in beiden Untersuchungseinheiten sowohl das individuelle bzw. gesamtgesellschaftliche Selbstverständnis als auch kulturelle Rahmenbedingungen infolge der auf die jeweilige Kultur wirkenden verändernden Impulse einer unablässigen Modifizierung unterworfen sind. Das kulturelle Erbe dient dabei als Ausgangspunkt für die soziale Interaktion zwischen den Mitgliedern der jeweiligen Gesellschaft, auf dessen Grundlage die bereits erwähnten Aushandlungsprozesse stattfinden. Allerdings steht dieses Erbe in einer sehr komplexen Beziehung zu den partikulären und mitunter widerstreitenden Interessenslagen, die für die sozialen Akteure handlungsrelevant sind. Wie verträgt sich diese vielschichtige und mitunter opponierend verlaufende Interaktion aber im Hinblick auf die Identitätskonstruktion der untersuchten Gesellschaften? Die Beantwortung dieser Frage macht es erforderlich, sich näher mit den wechselseitigen Einflüssen von kultureller Identität und internen Gruppenbildungsprozessen zu beschäftigen.
3. Die wechselseitigen Einflüsse von kultureller Identität und internen Gruppenbildungsprozessen (‚Wir-Gruppen‘) Die Einsicht, dass Identitäten sozial konstruiert sind, hat sich in den 1990er Jahren in den Sozial- und Kulturwissenschaften durchgesetzt. Waldmann und Elwert (1989b: 8ff.) vertreten die Auffassung, dass die 44
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besondere Attraktivität der so genannten ‚Wir-Gruppen-Prozesse‘, die für die Konstituierung einer gesellschaftlichen Gruppe eine wichtige Rolle spielen, unter anderem in ihrer Funktion der doppelten Überbrückung von Klassengegensätzen bzw. der Bereitschaft ihrer Mitglieder zur Identifikation mit einem kollektiven Akteur zu suchen sei. Wie sich beispielsweise eine Ethnie selbst darstellt und wie sie von außen definiert wird, sei meist das Resultat eines Fusionsprozesses der Selbst- und Fremdzuschreibung. Damit würden aber auch ihre Verhaltensformen und Durchsetzungsstrategien nach außen maßgeblich beeinflusst. Die Autoren argumentieren, dass wir es mit Konstruktionsbegriffen zu tun haben, die weniger eine soziale Realität bezeichnen, sondern eher vom Einzelnen ein Verhalten fordern, das seiner ‚Zugehörigkeit‘ zu einer Ethnie auch entspricht. Die Selbstzuschreibung einer Gruppenidentität würde demzufolge keinen Akt des freien Willens darstellen, sondern müsse als gruppenspezifische Reaktion auf unterschiedliche soziale Prozesse wie bspw. ökonomische Unsicherheit oder dem Wettbewerb um neue Einkommensquellen angesehen werden. Dieses theoretische Konzept würde in der Konsequenz die Frage aufwerfen, in welchem Wechselverhältnis individuelle und kollektive Identität zueinander stehen (vgl. Elwert 1989: 35ff.). Hinsichtlich dessen vertritt Zimmermann die Auffassung, dass individuelle und kollektive Identität, die sich auf Grundlage spezifischer kultureller Ausprägungen konstituiert, sich aufgrund des stetig wechselnden Einflusses endogener und exogener Faktoren in einem permanenten Aushandlungs- und Differenzierungsprozess befindet: „Identität ist nicht einfach das Abbild der sozialen Seinswesen eines Individuums. […] Ein x zu sein und die Identität eines x zu haben, ist kein Zusammenpassen per se, sondern Identität ist eine Relation, die erst hergestellt werden muß, ist etwas, was man nicht einfach hat, sondern was man in etwas, das man Identitätskonstitution (sic!) nennen kann, erst ‚produziert‘. Diese Produktion geschieht in einem Zusammenhang von interaktiven, reflexiven, retrospektiven und projektiven Prozessen.“ (Zimmermann 1992: 79)
Im selben Maße könne dies auch für die kulturelle Identität konstatiert werden. Zimmermann beschreibt in seinem Diskurs eine Ambivalenz, die zwischen freiwillig akzeptierten, dankend aufgenommenen, friedlichen und unter Bedingungen der Gleichberechtigung stattfindenden exogenen Kultureinflüssen bzw. solchen, die aufgezwungen, abgelehnt und unter Bedingungen der Unterdrückung stattfinden, unterscheidet. Wenn sozialer Wandel nicht angenommen, sondern von außen oktroyiert würde, stellt er seiner Auffassung nach eine Situation der Bedrohung dar. In diesem Sinne hätte kulturelle Identität immer etwas mit Selbstbestimmung zu tun, weil sie sich auf ein potentiell gemeinsames Interesse bezieht, das sich aus dem Wunsch nach Fortführung der gemeinsamen Lebensweise ergeben würde. Dabei misst Zimmermann der internen (Gruppen-)Struktur eine hohe Bedeutung bei, da sich nur über diese Struktur etwas herausbil45
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det, was man als ‚Wir-Gefühl‘ bezeichnen könne (vgl. Zimmermann 1992: 93ff.). Die Annahme, dass Identität gleichzusetzen sei mit Personen, die gleich aussähen, das Gleiche fühlen und sich als Gleiche unter Gleichen bezeichnen würden, ist nach Halls Auffassung ‚nonsense‘ (vgl. Hall 1991b: 49). Der Begriff kulturelle Identität wird von ihm aus zwei unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet: Zum einen bestimmt der Terminus eine gemeinsame Kultur, die ein einzig wahres Selbst beinhalten und das sich hinter vielen anderen – zum Teil künstlich auferlegten – ‚Selbsten‘ verborgen halten würde. Damit würden Mitglieder einer Gruppe ihre gemeinsamen historischen Erfahrungen teilen bzw. sich auf gemeinsam verwendete kulturelle Codes berufen, die ihnen einen dauerhaften Referenz- und Bedeutungsrahmen zur Verfügung stellen. Zum anderen postuliert Hall, dass man nicht länger über eine Identität sprechen könne, ohne die Brüche und Diskontinuitäten im historischen Verlauf einer Gruppe anzuerkennen. Identität sei unablässig Geschichte, Kultur und Macht unterworfen und würde dadurch den unterschiedlichen Verhältnissen, denen Personen in ihrem sozialen Umfeld ausgesetzt sind und über die sie sich anhand von Erzählungen über ihre Vergangenheit positionieren, einen Namen geben (vgl. Hall 1994: 27ff.). Eine kulturelle Identität sei niemals etwas Vollendetes, sondern immer in einen unablässigen Prozess eingebunden: „Identity is always in the process of formation. Secondly, identity means, or connotes, the process of identification of saying that this here is the same as that, or we are the same together, in this respect. […] But something we have learnt from the whole discussion […] is the degree to which that structure of identification is always constructed through ambivalence. Always constructed through splitting. Splitting between that which one is, and that which is the other.“ (Hall 1991b: 47f.)
Hall spricht in diesem Zusammenhang von Identität als einem Schnittpunkt, an dem sich ein Ensemble neuer theoretischer Diskurse überschneiden und ein Repertoire neuer kultureller Praktiken entstehen würde (vgl. Hall 1994: 66). Seine Argumentation stellt er in den Kontext eines voranschreitenden Globalisierungsschubs. Die Interdependenz zwischen verschiedenen Gruppen – insbesondere durch die fortschreitende RaumZeit-Verdichtung – sei ausgeweitet worden. Kulturelle Identität hätte durch internationale Migration eine neue Qualität erlangt (vgl. Hall 1994: 10), da sich als Folge eine Zweiseitigkeit eines jeden Diskurses bzw. die Notwendigkeit des Anderen für die eigene Person ergeben würde. Kulturelle Identität würde nunmehr auch von der Position des Anderen aus erzählt (vgl. Hall 1994: 73f.). Aufgrund der ständigen Durchdringung kultureller Traditionen mit anderen Kulturelementen würde der Prozess der Identitätsbildung ohnehin nicht gradlinig verlaufen:
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Die cultural studies postulieren neben den erwähnten Fragmentierungen, dass die spätkapitalistische und globalisierte Welt zu komplex sei, als dass eine einzige Disziplin die in ihr vorkommenden sozialen Phänomene angemessen untersuchen könnte (vgl. Rossbach de Olmos 2003: 264ff.). Gleichwohl führte die ausdrückliche Absage an theoretische, methodische und thematische Festlegungen als integrativem Bestandteil ihres Selbstverständnisses zu Kritik aus benachbarten wissenschaftlichen Disziplinen. Beispielsweise kritisiert Rossbach de Olmos (2003: 267f.), dass durch den spezifischen Zugang der cultural studies zu ihren Untersuchungsobjekten keine Theorie an und für sich eine Erklärungspräferenz beanspruchen und keine Methode bevorzugt zur Anwendung kommen könnte. Nach Ansicht de Olmos´ sei durch die Herausbildung unterschiedlicher Modelle, die von den jeweiligen nationalen Kontexten geprägt worden wären, der mehr oder weniger einheitliche Ansatz der cultural studies verloren gegangen. Bei ihrer Kritik übersieht de Olmos jedoch, dass diese Modelle aufgrund ihrer theoretischen Hauptelemente Wissen/Symbol, Gesellschaft/Geschichte und Subjekt/Geschlecht miteinander verbunden sind. Darüber hinaus formt sich die Theorie der cultural studies erst im Prozess der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Machtverhältnissen (vgl. List, in: www.kfunigraz.ac.at/kulturwissenschaften/archiv/kultur-wissenschaft /forum/grosber.list.html. Dabei stehen die Kategorien Kultur, Identität und Macht in einem untrennbaren Wechselverhältnis zueinander (vgl. Marchart, in: www.medienheft.ch/dossier/bibliothek/d19_MarchartOliver. html. Dass die cultural studies nicht bloß in einer akademischen Übung aufgehen, hat – wie bereits weiter oben erwähnt – bei ihrer Disziplinierung zu einem universitären Fach kritische Debatten hervorgerufen. Gleichwohl „werden [Cultural Studies] von einem unhintergehbaren politischen Impetus getragen, der sich sowohl außerhalb des Akademischen als auch innerhalb der Wissenschaft in Erkenntnisinteresse, kategorialem Apparat und Theoriedesign der Cultural Studies manifestiert.“ (Marchart, in: www.medienheft.ch/dossier/bi bliothek/d19_MarchartOliver.html)
Des Weiteren sei die Disziplin aus einer ganzen Reihe von Diskursen und Bewegungen entstanden, die auf verschiedenen Konjunkturen und instabilen Bewegungen aufgebaut wären. Insbesondere Hall verweist darauf, 47
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dass es keine theoretischen Grenzen gäbe, vor denen die cultural studies zurückschrecken dürften. Sie sollten als Projekt immer offen für Unbekanntes sein, um sich nicht allzu sehr selbst einzugrenzen: „Hier macht sich die Spannung bemerkbar zwischen der Weigerung, das Feld abzuschließen, einzugrenzen, es zu kontrollieren und der gleichzeitigen Entschlossenheit, einige Positionen darin zu markieren und für sie einzutreten. Das ist das Spannungsverhältnis – die dialogische Herangehensweise an die Theorie […].“ (Hall 2000: 36)
4. Überlegungen anhand der eigenen empirischen Ergebnisse Auf Grundlage der eben diskutierten Diskurse möchte ich nachfolgend eigene Überlegungen zum Begriff kulturelle Identität und den damit verbundenen Gruppenbildungsprozessen darstellen. Ähnlich wie Zimmermann vertrete auch ich den Standpunkt, dass durch ein Wechselspiel von endogenen und exogenen Faktoren ein signifikanter Einfluss auf die kulturelle Identität ausgeübt wird. Auch wenn sich soziale Akteure über die gemeinsam in der jeweiligen Gesellschaft gesammelten Erfahrungen in symbolhafter Form verständigen, kann meines Erachtens jedoch nicht davon gesprochen werden, dass sich alle Mitglieder einer Gruppe in gleicher Weise auf einen kulturellen Ausgangspunkt stützen. Dies werde ich anhand der in den Kapiteln drei und vier präsentierten Untersuchungsergebnissen dokumentieren. Darüber hinaus belegen die empirischen Daten, dass es zu einem sozialen Differenzierungsprozess in der jeweiligen Gesellschaft kommt. Die kulturelle Identität wird von den Mitgliedern anhand sich stetig verändernder sozioökonomischer Verhältnisse und den daraus resultierenden Modifikationen in der sozialen Hierarchie einer Neubewertung unterzogen. Die sich dabei ergebenden Herausforderungen an das Zusammenleben der Gruppe werden von den Mitgliedern auf spezifische Art und Weise interpretiert und auf die neuen Bedingungen angepasst. Die sozialen Akteure können aufgrund des vorhandenen Verhaltensrepertoires unterschiedlich handeln und dies wiederum je nach persönlichem Kalkül ausrichten. Da davon auszugehen ist, dass einige Mitglieder Vorteile aus der veränderten Situation ziehen, während anderen diese Vorteile verwehrt bleiben, besteht die Tendenz, dass die gemeinsame kulturelle Identität zum Bruch kommen und sich in Teilidentitäten zergliedern kann. Durch die unterschiedlichen Interessenlagen der einzelnen Gruppenmitglieder ist kaum von der Herausbildung und Konstituierung einer ‚Wir-Gruppe‘ auszugehen. Aufgrund dessen kann man auch nicht a priori konstatieren, dass eine so genannte ‚Wir-Gruppen-Identität‘ vorliegen würde. Ein ‚Wir‘ ist meiner Auffassung nach viel zu unspezifisch, weil mit einem solchen konstruierten Kollektivbegriff die sich im
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Prozess der Identitätsbildung herausbildenden internen Differenzierungstendenzen verwischt werden. Auf Grundlage meiner empirischen Ergebnisse kann ich Waldmann und Elwert zwar insofern zustimmen, als dass sich eine Ethnie mit einer spezifischen Zuschreibung von kulturellen Eigenheiten nach außen abgrenzt und ihre jeweiligen Verhaltensformen gegenüber Nicht-Mitgliedern der Gesellschaft entsprechend der Situation und Interessenlage ausrichtet. Nichtsdestoweniger ist bei der von den Autoren genannten gruppenspezifischen Reaktion auf ökonomische Unsicherheiten Skepsis angebracht, sofern es sich auf die gesamte Gruppe bezieht. Nach meinem Dafürhalten umfasst eine solche Reaktion lediglich einen Teil der Gruppe, der sich infolge zu erwartender (ökonomischer) Vorteile zusammenschließt. Des Weiteren existieren auch innerhalb dieser Teilgruppen unterschiedliche Interessenlagen der involvierten sozialen Akteure. Die von Zimmermann vertretene Auffassung, dass ein von außen oktroyierter Wandel generell eine Situation der Bedrohung darstellen würde, kann ich ebenso in dieser Form nicht nachvollziehen. Ich vertrete die Auffassung, dass ein von außen in eine Gesellschaft herein getragener Wandel nicht notwendigerweise eine Bedrohung darstellen muss – zumal der Autor die Fragen unbeantwortet lässt, mit welchen Mitteln sozialer Wandel oktroyiert wird bzw. wie sich dies auf die kulturelle Identität der jeweiligen Gruppe auswirkt. Der Autor lässt in seinem Diskurs ebenso offen, ob sich bei einem soziokulturellen Wandel Prozesse herausbilden, die einerseits zu einer Etablierung neuer kultureller Einflüsse innerhalb der Bevölkerung beitragen, sich aber andererseits durch verschiedene Stufen wie aktiver Annahme, gleichgültigem Gegenüberstehen oder schroffer Ablehnung, eine innere Differenzierung zwischen den Bewohnern herausbildet, die eine ohnehin scheinbare ‚Wir-Gruppen-Identität‘ noch weiter unterminiert. Interessanter Weise tauchen im Identitätsdiskurs von Hall die Termini einer ‚Wir-Gruppe‘ oder uniformer Gruppenbildungsprozesse überhaupt nicht (mehr) auf. Dieses bewusste Auslassen ist meines Erachtens aufgrund der Brüche und Diskontinuitäten im historischen Verlauf von Gesellschaften auch nicht weiter verwunderlich. Ich gehe davon aus, dass die Herausbildung von so genannten ‚Wir-Gruppen‘ – gerade durch die sich herausbildenden Fragmentierungen in einer globalisierten Welt – einer empirischen Überprüfbarkeit kaum mehr standhalten dürften. Insbesondere die von Hall vorgenommene Thematisierung der immer umfassender werdenden grenzüberschreitenden Migration und die sich daraus ergebenden kulturellen Verbindungen weist auf die Notwendigkeit hin, die theoretischen Definitionen sozialer Prozesse einer generellen Überprüfung und Neuausrichtung zu unterziehen. Die eher offene Ausrichtung der cultural studies, sich einem gesellschaftlichen Phänomen zu nähern, ohne ideologischen Dogmen verpflichtet zu sein, kann in diesem Zusammenhang von großem Nutzen sein. Von den cultural studies können frucht49
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bare Impulse für die weitere wissenschaftliche Diskussion ausgehen. Sie folgen einer interdisziplinären Tradition, schauen über den Tellerrand wissenschaftlicher Disziplinen und sind auch abseits akademischer Glaubenssätze darum bemüht, Alltagsphänomene zu untersuchen bzw. Beiträge zur Weiterentwicklung sozialwissenschaftlicher Erkenntnis zu liefern. Ich habe bereits weiter oben darauf hingewiesen, dass sich in der Ethnologie aufgrund der seit einiger Zeit geführten Globalisierungsdebatte ohnehin eine Neubewertung des Forschungsterrains und der Methodik ergeben hat. Die gegenwärtige Situation würde die Ethnologie geradezu drängen, ihre Untersuchungsobjekte und verwendeten Methoden neu zu reflektieren (vgl. Kreff 2003: 11ff.). Vor allem die immer weiter zunehmenden Fragmentierungstendenzen würden der aktuell geführten Diskussion Vorschub leisten und zu weit reichenden Konsequenzen innerhalb der Disziplin führen: „Einige AnthropologInnen [bringen] die gegenwärtig innerhalb der Sozial- und Kulturanthropologie stattfindende Globalisierungsdebatte mit der durch die Auflösung der Sowjetunion geförderten Fragmentierung in Zusammenhang. Wie direkt ein solcher Zusammenhang auch immer zu deuten sein mag, gefördert wurde das Bewusstsein für die Bedeutung überregionaler Prozesse und die Virulenz der Globalisierungsdebatte für das eigene Fach wohl nicht zuletzt durch die öffentliche Diskussion um die ubiquitär gewordene Einbindung weltweit verstreuter Ressourcen und Produktionsstätten global agierender Konzerne, den damit assoziierten Druck auf lokale Bevölkerungen, in jenen Gebieten, in denen Sozial- und KulturanthropologInnen ihre Feldforschungen betreiben, und die mit der wachsenden Multikulturalität verstärkt aufkommenden Neorassismen und Neonationalismen in jenen Orten, in denen sie lehren.“ (Kreff 2003: 14)
Diese Situation, die auch von der Überschreitung der Grenzen der eigenen Disziplin bzw. der Verschiebung zu benachbarten Wissenschaftsbereichen gekennzeichnet ist, wird von der Ethnologie jedoch eher als Bedrohung für die eigenen Studienobjekte und Forschungsfelder angesehen (vgl. Kreff 2003: 17). Meines Erachtens schränkt die Ethnologie damit die Möglichkeit ein, dass sie sich in einem umfassenden und interdisziplinär angelegten Rahmen diesen neuen wissenschaftlichen Herausforderungen stellt und neue, an den jeweiligen Bedingungen ausgerichtete theoretischmethodische Konzepte Erkenntnis generierend einsetzt. Ich bin der Auffassung, dass die in einer globalisierten Welt beobachtbaren sozialen Phänomene zu komplex sind, als dass eine einzige Disziplin diese angemessen untersuchen könnte. Aufgrund dessen sollte die Ethnologie diese Chance nutzen und sich über die wissenschaftlichen Fächergrenzen hinweg um eine konstruktive und fruchtbare Zusammenarbeit bemühen. Dies gilt insbesondere für die cultural studies, da es meines Erachtens wesentlich sinnvoller erscheint, die zur Anwendung kommenden Forschungsin-
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strumentarien interdisziplinär einzusetzen,14 als darüber nachzusinnen, ob es angebrachter wäre, die (deutsche) Ethnologie in die cultural studies zu integrieren (vgl. Rossbach de Olmos 2003: 263).
5. Vorstellung und Diskussion der bei der Forschung v e rw e n d e t e n M e t h o d e n 5.1 Methodisches Design Wie bereits in der Einleitung erwähnt, gehe ich in der vorliegenden Arbeit der Frage nach, wie sich die gesellschaftlichen Transformationsprozesse in Nicaragua auf die soziale Organisation dörflicher Gemeinschaften auswirken. Damit möchte ich nachvollziehen, wie der alltägliche Prozess sozialer Interaktion auf lokaler Ebene durch übergeordnete Verhältnisse tangiert wird und welche Rolle dabei das kulturelle Erbe spielt. Die für diese Untersuchung notwendigen empirischen Daten habe ich mit Hilfe qualitativer Methoden erhoben, da sie meines Erachtens die erforderliche Flexibilität des Forschungsablaufes garantieren (vgl. Girtler 2001: 56).15 Anhand der Darstellung meines Feldeinstiegs und des Forschungsverlaufs möchte ich verdeutlichen, dass sich die bei der Untersuchung vorgefundene soziale Realität mitunter kaum oder gar nicht mit den ersten theoretischen Vorannahmen deckt. Des Weiteren werde ich die im Feld verwendeten Methoden vorstellen und anhand ausgewählter Beispiele meines empirischen Materials diskutieren. Vor Beginn der Feldforschung bin ich davon ausgegangen, dass es im Zuge gesellschaftlicher Transformationsprozesse zu lokalen Umformungen und Neuinterpretationen einzelner Kulturbestandteile kommt, die von einer klassifikatorischen Fremd- und Selbstdefinition der beteiligten Akteure begleitet wird.16 Auf dieser Grundlage wollte ich einerseits der Frau14 Darüber hinaus ist zu konstatieren, dass „je flexibler, je anpassungsfähiger der Kategorienapparat ist, desto leichter können neue Problemkonstellationen prozessiert werden.“ (Holert 1995, zitiert in: Liebl, in: www.siam online.org/09_cultural/studies_marx.html). 15 Entsprechend meines wissenschaftlichen Interesses habe ich mich bereits während der Vorbereitungsphase mit unterschiedlichen Forschungsmethoden auseinandergesetzt. Dabei wurde mir deutlich, dass ein hypothesenüberprüfendes Forschungsdesign aufgrund des spezifischen Untersuchungsgegenstandes nicht angemessen erscheint (vgl. Flick 2002: 13; Girtler 1992: 149). 16 In der Sozialanthropologie wird bereits seit einigen Jahren die Auffassung vertreten, dass ethnische und nationale Traditionen lediglich eine Erfindung der beteiligten sozialen Akteure darstellen. Wie sich beispielsweise eine Ethnie selbst darstellt und wie sie von außen definiert wird, ist meist das Resultat eines Fusionsprozesses der Selbst- und Fremdzuschreibung (vgl. Waldmann/Elwert 1989: 8ff.). 51
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ge nachgehen, durch welche Prozesse die soziale Organisation dörflicher Gemeinschaften reformiert und reorganisiert wird. Andererseits wollte ich erforschen, welchem Wandel die zur Bestimmung einer Gruppe verwendeten Termini unterliegen und wie sie im geführten Diskurs den neuen Umständen entsprechend mit veränderten Inhalten wieder zur Anwendung kommen. Um Aspekte von Fremd- und Selbstzuschreibungen einfließen zu lassen bzw. sowohl die lokale als auch die nationale Ebene gebührend zu berücksichtigen, habe ich zu Beginn des Feldaufenthaltes eine umfangreiche Recherche von vier nicaraguanischen Printmedien vorgenommen.17 Nach Abschluss der Recherche begab ich mich mit meiner Ehefrau,18 die mich während meiner Forschungsaktivitäten begleitete, in die ausgewählten dörflichen Gemeinschaften, um mittels teilnehmender Beobachtung und Ero-Epischer Gespräche19 empirische Basisdaten für eine erste Hypothesenbildung zu erheben. Die während der Feldforschung erhaltenen Informationen wollte ich in einem weiteren Arbeitsschritt mit den bei der Zeitungsrecherche erhobenen Daten vergleichen. Dadurch sollte die in den nicaraguanischen Printmedien konstruierte soziale Realität mit der von den Bewohnern konstruierten sozialen Realität gegenüberstellt werden. Auf dieser Grundlage wollte ich den national und lokal geführten Diskurs analysieren. Die in den jeweiligen Diskursen verwendeten Termini und deren inhaltlicher Wandel sollten ebenso Gegenstand der Betrachtung sein. Mit zunehmender Aufenthaltsdauer in den dörflichen Gemeinschaften zeichnete sich jedoch ab, dass diese Vorgehensweise aufgrund der vorgefundenen sozialen Realität nicht realisierbar war. Die ersten empirischen Daten wiesen darauf hin, dass die sozialen Akteure hinsichtlich der gesellschaftlichen Transformationsprozesse weder kulturelle Bestandteile neu interpretierten noch signifikante Veränderungen im Alltagshandeln bzw. in der Alltagssprache postulierten. Das alltägliche Handeln würde nach Aussagen der Bewohner nicht durch übergeordnete Verhältnisse tangiert. Ein viel größeres Gewicht wurde indes zwei sozialen Phänome17 Für die Atlantikküste wählte ich die unregelmäßig erscheinenden (und mittlerweile eingestellten) Printmedien ‚Autonomía‘ und ‚Sunrise‘ bzw. an der Pazifikküste die Tageszeitungen ‚La Prensa‘ und ‚El Nuevo Dirario‘ aus. 18 Die eigenen Erfahrungen meiner Ehefrau im Feld trugen nicht nur dazu bei, aus einem anderen Blickwinkel die Alltagsrealität der sozialen Akteure betrachten zu können. Da sie auch als meine Forschungsassistentin fungierte, konnte eine Auseinandersetzung und Diskussion des Datenmaterials aufgrund ihrer eigenen Beobachtungen ermöglicht werden. Auch wurde eine mögliche Konkurrenzsituation, die sich durch einen allein stehenden europäischen Forscher – speziell bei der männlichen Bevölkerung – möglicherweise herausgebildet hätte, durch die Anwesenheit meiner Ehefrau vermieden. 19 Einzelne Aspekte der zur Anwendung gekommenen qualitativen Methoden werde ich in den nachfolgenden Abschnitten erörtern. 52
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nen eingeräumt, die für die Befragten eine dominierende Rolle in der sozialen Interaktion spielen. Es handelt sich um das Phänomen der envidia (Neid) und eines mit der envidia in Verbindung stehenden Schadenzaubers (brujeria).20 Deren Anwendung wurde immer wieder in Zusammenhang mit ökonomischer Prosperität genannt. Ich begann mich zu fragen, ob diese Phänomene eine Form des Verständnisses der individuellen Handlungsabläufe darstellen bzw. ob mit diesen Termini politische Zusammenhänge und/oder eine Neuordnung der Machtverhältnisse in einer anderen Form des Nachdenkens verstanden werden. Ebenso fiel mir bei der Auswertung der Gespräche auf, dass sich die Befragten hinsichtlich der unterschiedlichen politischen Epochen des Öfteren widersprachen – teilweise sogar im selben Gespräch. Mir wurde bewusst, dass sich jedes Individuum seine Erinnerung gemäß seiner subjektiven Erfahrungen zurechtlegt. Diese Einsicht führte dazu, dass ich mit meiner Befragung zu den unterschiedlichen politischen Epochen fort fuhr, jedoch die individuellen Wahrnehmungs- und Erinnerungsunterschiede der sozialen Akteure in das Zentrum meiner Untersuchung rückte. Aufgrund der flexiblen Anpassung an die vorgefundene soziale Realität war es mir nun möglich, zielgerichtet die spezifischen Begebenheiten meines Untersuchungsgegenstandes zu erforschen. Im Folgenden möchte ich beschreiben, wie die ausgewählten qualitativen Methoden während und nach der Datenerhebungsphase zur Anwendung gekommen sind. Es sei bereits hier erwähnt, dass ein Kernaspekt qualitativen Forschens darin besteht, die erhobenen Daten nicht erst am Ende der Erhebungsphase auszuwerten, sondern sie einem kontinuierlichen Wechselspiel zwischen Erheben und Analysieren zu unterziehen. 5.2 Teilnehmende Beobachtung bei der ethnographischen Feldforschung Einen Hauptbestandteil der hier vorliegenden Untersuchung bildet die teilnehmende Beobachtung in zwei ausgewählten dörflichen Gemeinschaften. Während eines Zeitraums von jeweils sechs Monaten haben meine Ehefrau und ich am Alltagsleben dieser räumlich abgegrenzten Gemeinschaften im Kontext ihrer sozialen, ökologischen und historischen Umwelt teilgenommen. Während dieser Zeit führte ich mit den Bewohnern insgesamt 160 Ero-Epische Gespräche. Da sich die beiden Landesteile hinsichtlich ihrer kulturellen Ausprägungen signifikant voneinander unterscheiden, musste ich mich beim Feldeinstieg jeweils soziokulturell ‚akklimatisieren‘. Dass jedoch dieser Prozess relativ schnell vor sich ging, ist auf meine vorher gehenden Studien- und Arbeitsaufenthalte an der Atlantik- und Pazifikküste zurückzuführen.21 20 Eine genaue Darstellung dieser sozialen Phänomene werde ich in den Kapiteln drei und vier vornehmen. 21 Auf den Feldeinstieg meiner Frau werde ich weiter unten eingehen. 53
KULTURELLES ERBE ALS IDENTITÄTSSTIFTENDE INSTANZ?
An der Atlantikküste habe ich bereits zwischen 1998 und 1999 eine Feldforschung durchgeführt und bin während meines Aufenthaltes mit vielen Einheimischen in Kontakt gekommen. In der Dorfgemeinschaft stellten mich einige dieser Personen dem Pastor (Reverendo) der Mährischen Kirche vor. Dabei stellte sich heraus, dass ich den ältesten Sohn des Reverendos bereits kannte, da ich mit ihm vor einigen Jahren an der Regionaluniversität URACCAN22 studiert hatte. Dies erleichterte mir wesentlich meinen Einstieg in die Feldforschung, da mir die Bewohner die Rolle des ausländischen Studierenden dieser Bildungseinrichtung zuteilten. An der Pazifikküste wiederum war ich den meisten Bewohnern durch meine aktive Mithilfe beim Bau eines Hospitals in der comunidad bereits bekannt. Im Jahr 2000 habe ich vier Wochen in Masachapa gelebt und gemeinsam mit anderen freiwilligen Helfern bzw. unter der Schirmherrschaft des Vereins zur Förderung der Städtepartnerschaft Berlin-Kreuzberg/San Rafael del Sur e.V. das erwähnte Hospital errichtet. Da diese Städtepartnerschaft zu Zeiten der sandinistischen Regierung im Jahr 1985 ins Leben gerufen wurde, bringen die Bewohner auch heute noch die initiierten Projekte mit den Sandinisten in Verbindung. Da ich überdies bei einer pro-sandinistischen Familie wohnte, ist davon auszugehen, dass mir die Bewohner die Rolle eines den Sandinisten nahe stehenden Internationalisten zuteilten. Aufgrund dieser Rollenzuschreibungen musste ich bei meiner Forschung berücksichtigen, welchen Einfluss die ersten Kontakte zu den Bewohnern und der jeweilige Bekanntheitsgrad auf meine Anwesenheit im Feld bzw. den Prozess der Datenerhebung ausüben würden. Dass ich trotz meiner grundsätzlich passiv eingenommenen Haltung und meinem sozialen Status das Handeln der aktiven Teilnehmer in der sozialen Interaktion beeinflusste (vgl. Girtler 1992: 133ff.), möchte ich an der mir jeweils zugeschriebenen Rolle verdeutlichen: In Masachapa fiel mir bereits bei den ersten Gesprächen auf, dass insbesondere Personen, die ich bereits bei meinem Aufenthalt im Jahr 2000 kennen gelernt hatte, während der Unterhaltung vom eigentlichen Thema abzulenken versuchten oder unvermittelt das Gespräch beendeten. Insbesondere bei Fragen, die die individuellen Erfahrungen der Befragten mit dem Sandinismus beleuchten sollten, stellte ich diese Verhaltensweise fest. Erst nach einer gewissen Zeit und einer Reihe weiterer Gespräche stellte sich heraus, dass die Befragten überwiegend negative Erfahrungen mit dem Sandinismus gemacht hatten. Es ist davon auszugehen, dass sie ihre persönlichen Auffassungen einem – in ihren Augen – pro-sandinistischen Internationalisten aufgrund seiner Mithilfe beim Bau eines Hospitals bzw. der den Sandinisten nahe stehenden Städtepartnerschaft nur ungern mitteilen wollten. In Wawa Bar wiederum zeigten sich die Bewohner nicht nur aufgrund ihrer oralen Tradition relativ gesprächsbereit. Insbesondere meine Nähe zur indigenen Uni22 Universidad de las Regiones de la Costa Caribe Nicaragüense; Universität der autonomen Atlantikküstenregion. 54
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versität URACCAN und meinen an dieser Institution absolvierten Studiengängen ‚Indigenes Recht‘ (derecho indígena) und Soziologie mit dem Schwerpunkt Autonomie (sociología con mención en autonomía) bzw. die von der URACCAN initiierten Programme zur Stärkung der kulturellen Identität der Atlantikküstenbewohner trugen meines Erachtens wesentlich dazu bei, dass mir die Bewohner bei einer Vielzahl längerer Gespräche eine relativ umfassende Einsicht in das lokale Gemeinwesen ermöglichten. In diesem Zusammenhang ist für beide comunidades zu konstatieren, dass die weibliche Bevölkerung kaum mit mir kommunizierte. Dies war offensichtlich nicht nur dem allgegenwärtigen machismo geschuldet, sondern ebenso meinem Status als hellhäutige, männliche und aus einem anderen Kulturkreis stammende Person. Dass ich trotzdem einen Zugang zur Lebens- und Gedankenwelt dieses Personenkreises erhielt, ist auf die Anwesenheit meiner Ehefrau zurückzuführen. Nicht zuletzt aufgrund ihrer lateinamerikanischen Herkunft bzw. ihrer Verwurzelung in vergleichbaren soziokulturellen Strukturen öffnete sie Türen zu Bereichen, in denen Frauen dominierten und die mir bei einem alleinigen Forschungsaufenthalt verschlossen geblieben wären. Gleichwohl muss man in diesem Zusammenhang berücksichtigen, dass sicherlich auch sie als eine Person wahrgenommen wurde, die in Europa ihren Lebensmittelpunkt hat bzw. über die entsprechenden Geldmittel verfügt, um eine Reise nach Mittelamerika finanzieren zu können. Diese kurzen Beispiele verdeutlichen, dass man als teilnehmender Beobachter bemüht sein sollte, die von den sozialen Akteuren zugedachte Rolle beim Prozess der Datenerhebung zu berücksichtigen und sich deren Einfluss in der Gesprächs- und Beobachtungssituation immer wieder bewusst zu machen. Dies stellt meines Erachtens einen wesentlichen Aspekt dar, um insbesondere die von den Handelnden aufgestellten Alltagskonstrukte fassen zu können (vgl. Girtler 1992: 22). Anhand dieser Selbstreflexion bzw. mittels genauer Beobachtung des Alltagslebens und dem ständigen Dialog mit den Bewohnern habe ich mich dem Forschungsgegenstand Schritt für Schritt genähert. Insbesondere das Führen eines Feldtagebuchs hat mich bei diesem Vorgehen unterstützt (vgl. Rossbach de Olmos 1998: 145). Dass sich aber erst im weiteren Verlauf die wesentlichen Aspekte meiner Untersuchung herauskristallisierten, ist unter anderem auf die spezifische Situation zurückzuführen, mit der ich mich – trotz meiner Kenntnisse der beiden Landesteile – nach Eintritt ins Feld konfrontiert sah und was sich zu Beginn im Führen des Feldtagebuchs bzw. den Befragungen der Gesprächspartner niederschlug. Barley illustriert anschaulich, was auch mir zu Beginn der Feldforschung widerfahren ist: „Ich war viel zu beschäftigt damit, die Sachen aufzuschreiben, um mir auch nur den Anflug eines Gedankens über den Sinn dessen machen zu können, was ich da mit solchem Eifer notierte. Oft bombardierte ich meine Informanten einfach 55
KULTURELLES ERBE ALS IDENTITÄTSSTIFTENDE INSTANZ? aufs Geratewohl mit Fragen, in der Hoffnung, auf etwas zu stoßen, was mir Gelegenheit zu weiteren Fragen gab. […] Man ist gezwungen, sich das Ganze Stück für Stück zusammenzusetzen.“ (Barley 1997: 165)23
Wie bereits weiter oben erörtert, verursachte meine Anwesenheit als Forscher Störungen im ‚normalen‘ Ablauf der sozialen Interaktion. Aufgrund dessen war ich bemüht, mich durch geringe Einflussnahme auf die ‚Untersuchungsobjekte‘ bei gleichzeitig möglichst hoher Sozialisation und Teilnahme am täglichen Leben sozial in die Gesellschaft zu integrieren. Aufgrund der Tatsache, dass die ethnographische Wirklichkeit der durchzuführenden Feldforschung in viel größerem Maße ihren Stempel aufdrückt als den Methodenidealen zu entnehmen ist (vgl. Rossbach de Olmos 1998: 147), war ich beim weiteren methodischen Vorgehen darauf bedacht, unbewusste Vorurteile und Klassifizierungen möglichst zu vermeiden. Jedoch stellte ich während einer Beobachtungssituation oder eines Gesprächs teilweise fest, dass ich unwillkürlich damit begann, das Gesehene oder Gehörte mit persönlichen Wertmaßstäben und Moralvorstellungen zu vergleichen. Beispielsweise wurde zwischen dem 21. und 24. Tag des Aufenthaltes in Wawa Bar eine Konferenz der Mährischen Kirche abgehalten, zu der mehr als 1.000 Teilnehmer erschienen. Diese wurden in den Häusern der Bewohner einquartiert. Im Haus der Familie, bei der meine Ehefrau und ich zu Beginn der Untersuchung wohnten,24 wurde eine gemischte Gruppe von fünf Personen untergebracht. Während des ersten gemeinsamen Abendessens fiel mir auf, dass sich diese Gruppe zum Essen auf den Boden setzte, nicht mit uns kommunizierte und meine Einladung, sich zu uns an den Tisch zu setzen, stillschweigend ignorierte. Diese vorher nicht erlebte Situation fand ihren Niederschlag in einer Aufzeichnung im Tagebuch, dass das „für uns […] schon eine schwer zu händelnde Situation [ist]…fünf wildfremde Leute, mit denen wir eine Zeitlang unter einem Dach leben, die kein Wort mit uns sprechen, auf dem Boden essen und uns auf diese Weise das Gefühl vermittelten, als wenn wir hier die ‚Herren im Hause‘ wären“ (Tagebuchaufzeichnung vom 01.02.04).25 Erst eine vorsichtige Nachfrage bei der Familie am nächsten Tag ergab, dass die Einnahme des Essens auf dem Fußboden eine Gewohnheit der Mískito darstellen würde. Darüber hinaus stammten die 23 Auch Girtler (2001: 85) beschreibt, dass der Feldforscher zu Beginn der Datenaufnahme mitunter recht ungeschickt vorgehen und damit einen möglicherweise ungünstigen Verlauf der weiteren Datenerhebung hervorrufen kann. 24 Im Verlauf der Forschung kehrte einer der Söhne der Familie nach Wawa Bar zurück. Aufgrund Platzmangels mussten wir uns eine andere Unterkunft suchen. 25 Speziell zu solchen Situationen diskutierten meine Frau und ich unsere teils unterschiedlichen Wahrnehmungen. Durch den Vergleich unserer Auffassungen waren wir bestrebt, tiefer zum Kern beobachteter Handlungen vordringen zu können. 56
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Gäste aus einer anderen comunidad und konnten somit nicht wissen, dass ich den Bewohnern Wawa Bars aufgrund der weiter oben genannten Gründe bereits in gewisser Weise bekannt war. Um mit auftretenden Verzerrungen besser umgehen zu können, begann ich damit, Gedankengänge solcher Art nicht gänzlich zu unterdrükken, sondern sie sowohl im Tagebuch festzuhalten als auch regelmäßig mit meiner Ehefrau zu diskutieren. Diese Vorgehensweise bot mir die Möglichkeit, Bestandteile der zu untersuchenden Kultur mit meiner mitunter auftretenden ethnozentristischen Wahrnehmung in Beziehung zu setzen und der Frage nachzugehen, warum gerade bestimmte Verhaltensweisen ein solches Denken beförderten und andere wiederum nicht. Aufgrund dessen habe ich im Feldtagebuch alles festgehalten, was sich während der Untersuchung ereignete und welche Vorkommnisse emotional bewegend waren. Insbesondere solche Gemütsbewegungen, die gerade durch die Arbeit im Feld ausgelöst wurden und unmittelbare persönliche Reaktionen hervorgerufen haben, fanden besondere Beachtung. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: „…und dann geht wieder die Sucherei nach Brot los. Wir laufen von einem Punkt Wawa Bars zum anderen, ohne dass wir fündig werden. […] Es existieren hier aktuell zwei unübersehbare Probleme, die mich bei der Arbeit erheblich behindern: Ersten haben die Bewohner aufgrund des z.Zt. mangelhaften Fischfangs kaum Geld mehr zur Verfügung und kaufen auch folglich weniger Nahrungsmittel in der comunidad ein. Dies bedeutet, dass auch weniger Brot gebacken wird. Das momentane Nahrungsmittelproblem weitet sich […] aus, so dass wir fast schon mehr Zeit für die Nahrungsmittelsuche als für die eigentliche Untersuchung aufwenden müssen. Zweitens sind hier fast alle meine wichtigsten Gesprächspartner aus unterschiedlichen Gründen momentan nicht greifbar.“ (Tagebuchaufzeichnung vom 17.03.04)
Ebenso habe ich im Feldtagebuch auftretende Schwierigkeiten und Probleme beim Forschungsvorgehen bzw. Fragestellungen, denen während der Beobachtung nachgegangen wurde oder denen bei weiteren Beobachtungen noch nachgegangen werden sollte, protokolliert. Dies trifft in selbem Maße auf die Aufzeichnungen von Hypothesen, Ideen und Gedanken zu. Meines Erachtens ist es ohnehin grundlegend, sich im Forschungsprozess unablässig selbst zu reflektieren, dies schriftlich festzuhalten und über diesen Weg die Gründe für etwaig auftretende Störungen zu eruieren. Methoden der Selbstreflexion stellen für mich ein zentrales Element der teilnehmenden Beobachtung dar. Sie dienen der Analyse des Forschungsprozesses und der Einschätzung der Ergebnisse. Die Offenlegung der Untersuchungssituation bzw. die Darstellung der eigenen Lage und Befindlichkeit werden zu einem wichtigen Faktor, da sie die persönlichen Wertvorstellungen, Sichtweisen, Interessen und Konflikte widerspiegeln. Der Einfluss unbewusster Projektionen auf die eigene Wahrnehmungsebene wird auch von Bourdieu und Wacquant hervorgehoben:
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KULTURELLES ERBE ALS IDENTITÄTSSTIFTENDE INSTANZ? „Sobald wir die soziale Welt beobachten, unterliegt unsere Wahrnehmung einem bias (sic!), der damit zusammenhängt, dass wir, um sie zu untersuchen, zu beschreiben, über sie zu reden, mehr oder weniger vollständig aus ihr heraustreten müssen. […] Eine wirklich reflexive Theorie muss ständig vor dem Epistemozentrismus auf der Hut sein, vor jenem ‚Wissenschaftler-Ethnozentrismus‘, der darin besteht, alles zu ignorieren, was der Analysierende aufgrund der Tatsache, dass er dem Objekt äußerlich ist, es von fern und von außen betrachtet, in seine Wahrnehmung dieses Objekt hinein projiziert.“ (Bourdieu/ Wacquant 1996:100)
Des Weiteren war ich bemüht, direkt im Anschluss an eine Beobachtungssituation die betrachteten Handlungen in einem schriftlichen Bericht niederzuschreiben. Ich nutzte dabei den Tagesrhythmus der Bewohner aus, indem ich die am Vormittag erhobenen Daten während der Mittagszeit bzw. die am Nachmittag und am frühen Abend gesammelten Informationen kurz vor dem Schlafengehen in das Feldtagebuch übertrug. Diese Vorgehensweise war der bereits in früheren Untersuchungen gemachten Beobachtung geschuldet, wonach das synchrone Aufzeichnen während der teilnehmenden Beobachtung zu sichtbaren Veränderungen im Verhalten der Befragten führte. Aufgrund dessen fertigte ich lediglich in Ausnahmefällen Aufzeichnungen während der Gespräche und Beobachtungen an und verließ mich in der Beobachtungssituation vorrangig auf mein Gedächtnis. Beim Übertragen dieser Beobachtungen in das Feldtagebuch hielt ich Tag, Tageszeit und Datum bzw. den Ort der Erhebung und die beteiligten Personen fest. Ein Beispiel: Am 40. Tag unseres Aufenthaltes in Wawa Bar führe ich am Vormittag gegen 10:00 Uhr mit einem Gesprächspartner, der sich im Verlauf der Untersuchung als meine beste Informationsquelle entpuppt, eine Unterhaltung zur Diktatur Somozas. Das Gespräch findet im Beisein seiner Frau auf der Veranda des Hauses statt. Während des Gesprächs fällt mir das spezifische Verhalten der Frau auf: Obwohl sie fließend Spanisch spricht und sich des Öfteren mit mir und meiner Ehefrau unterhalten hat, kommentiert sie mehrmals die Ausführungen ihres Mannes, in dem sie sich relativ leise – und ausschließlich auf Mískito – mit ihrem Mann unterhält. Sie erweckt den Eindruck, ihrem Mann vorsichtig zu verstehen zu geben, dass er zu dem einen oder anderen Punkt besser nichts sagen sollte (Tagebuchaufzeichnung vom 16.02. 04). Beobachtungen dieser Art geben meiner Auffassung nach Hinweise auf die individuell gemachten Erfahrungen der befragten Personen und sagen bisweilen mehr über deren Verhältnis zum Untersuchungsgegenstand aus als der Inhalt der geführten Gespräche. Während der Erhebungsphase habe ich den Untersuchungsrahmen durch eine unstrukturierte (‚freie‘) Beobachtung relativ weit gefasst. Diese Herangehensweise bot mir die Möglichkeit, sowohl erwartete als auch unerwartete Situationen bzw. komplexe Handlungsprozesse ohne eingeengten Blick zu erfassen. Aufgrund der sich im Verlauf der Forschung erweiternden Perspektiven verfügte ich damit über einen breiten Rahmen, in dem ich permanent neue Bereiche heranziehen, untersuchen und inter58
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pretieren konnten (vgl. Girtler 2001: 62). Den Ausgangspunkt stellten die ersten Arbeitshypothesen dar, die ich bei der Auswertung der ersten empirischen Daten generiert habe und an denen ich mich bei der weiteren Durchführung der Feldforschung orientierte. Eine der ersten Arbeitshypothesen lautete bspw., dass das alltägliche Handeln nicht durch übergeordnete Verhältnisse beeinflusst würde. Weiterhin konstatierte ich zu Beginn der Forschung, dass das kulturelle Erbe keinen nachvollziehbaren Einfluss auf die soziale Organisation der comunidades ausübt bzw. äußerte Zweifel, ob das kulturelle Erbe aufgrund der vorgefundenen sozialen Realität eine Gruppenidentität stiften würde. Mit zunehmender Dauer der Untersuchung war es mir durch das kontinuierliche Wechselspiel zwischen Datenerhebung und Datenanalyse möglich, die ursprünglichen Hypothesen anhand der im weiteren Verlauf der Untersuchung gesammelten Informationen zu modifizieren. Auf Grundlage des Feldtagebuchs habe ich zum Abschluss der Erhebungsphase ein Essay verfasst. Dadurch konnte ich die während der Untersuchung aufgestellten Hypothesen anhand der Versatzstücke des Essays und den im Feld gesammelten Erfahrungen miteinander vergleichen. Die Idee des Essays besteht darin, sich zu Beginn der Endauswertung nicht auf die Details des Forschungstagebuches zu stützen, sondern der ersten Darstellung im essayistischen Sinne etwas Fragmentarisches, Bewegliches und Momenthaftes anzuhaften (vgl. Golte 2002: Mündliche Stellungnahme im Forschungskolloqium). Ohne objektivierende Distanz einzunehmen, habe ich versucht, auf ein Denken in festgelegten Schemata zu verzichten. Die einfache Grundfrage lautete: Wie verstehe ich das, was ich in den untersuchten Gemeinschaften erlebt habe? Daran anschließend habe ich das Essay ‚von innen her‘ mit empirischen Daten aufgefüllt, in dem ich die Versatzstücke des Essays mit den auf Grundlage der Forschungstagebücher aufgestellten Hypothesen verglichen habe. Sofern die bei diesem Arbeitsschritt generierten Ergebnisse in gegensätzliche Richtungen tendierten, ging ich zurück zu meinem Datenmaterial und überprüfte die Herausbildung der jeweiligen Hypothese anhand meiner getätigten Aufzeichnungen. Diese habe ich wiederum mit dem verfassten Essay verglichen, bis sich eine der sozialen Realität entsprechende Kongruenz ergab. Ziel war es, die einzelnen Daten und Hypothesen miteinander zu verbinden, um auf diese Weise die vorgefundene soziale Realität in ihrer Gesamtheit überblicken zu können (vgl. Girtler 1992: 145). Die mehrfache Überprüfung aufgestellter Hypothesen und deren Rückblende auf das verfasste Essay haben zur Generierung der in dieser Arbeit vertretenen These beigetragen.
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5.3 Das Ero-Epische Gespräch26 Da in der Ethnologie bisher kein eigenes Interviewverfahren entwickelt wurde (vgl. Friebertshäuser/Prengel 1997: 249), aber gerade die Erzählung oder ein Bericht eine bedeutende Informationsquelle für eine ethnographische Untersuchung darstellt, habe ich auf ein Verfahren des Wiener Soziologen und Kulturanthropologen Roland Girtler zurückgegriffen: das Ero-Epische Gespräch (vgl. Girtler 2001: 147ff.).27 Damit wollte ich herausfinden, wie die Bewohner geschichtliche Ereignisse subjektiv erfahren und wie sich diese Erinnerungen – die sich die Befragten gemäß ihrer subjektiven Erfahrung ‚zurechtgelegt‘ haben – als Wahrnehmungsund Erinnerungsunterschiede benennen und kategorisieren lassen. Die Gespräche habe ich in der vertrauten Umgebung der Gesprächspartner durchgeführt. Die Stärke dieser Methode liegt meines Erachtens darin, dass sie an den Alltagserfahrungen des Befragten anknüpft und versucht, keine künstliche Gesprächssituation herzustellen. Dazu ein paar Beispiele: Am achten Tag unseres Aufenthaltes in Wawa Bar führe ich mit einer Ladenbesitzerin auf der Veranda ihres Hauses ein Gespräch, bei der ich mich über die Einkunftsmöglichkeiten ihres kleinen Verkaufsladens unterhalte. Nachdem sie berichtet, dass sie ihren Laden bereits seit 15 Jahren betreibt und ebenso einen defekten Lastkahn ihr Eigen nennt, kommt sie unvermittelt auf die Zeit der Sandinisten zu sprechen. Dass sie von selbst darauf zu sprechen kommt, erweist sich für das weitere Vorgehen als sehr nützlich, da ich erste Informationen über die Meinungen der Bewohner zu dieser politischen Epoche erhalte. Am siebenten Tag des Aufenthaltes kommt mir beim Einstieg in das erste längere Gespräch mit dem Pfarrer (Reverendo) der Mährischen Kirche zugute, dass ich – wie bereits er wähnt – mit seinem ältesten Sohn zwischen 1998 und 1999 an der Regionaluniversität URACCAN studiert hatte. Auf der Veranda in einem Schaukelstuhl sitzend, beginnt er zu erzählen, dass er vorher in einer anderen comunidad als Reverendo tätig gewesen sei und sich diese Dorfgemeinschaft aufgrund des regen Drogenhandels in der Region sozioökonomisch sehr verändert hätte. Auch in Wawa Bar würde dieser Wandel immer mehr zum Tragen kommen. Auch hier erhalte ich erste wichtige 26 Der Begriff des Ero-Epischen Gesprächs baut auf die altgriechischen Wörter Erotema und Epos auf. Während der Terminus Erotema als Frage bzw. Eromai mit fragen, befragen und nachforschen übersetzt werden kann, bedeutet der Begriff Epos Erzählung, Nachrich, Kunde oder auch Götterspruch (vgl. Girtler 2001: 150). Der Autor weist explizit darauf hin, dass man die Gesprächspartner nicht als bloße Datenlieferanten ansehen darf. Mit ihnen sei in einer Weise umzugehen, dass sie sich geachtet fühlen und ihnen nichts aufgezwungen wird (vgl. Girtler 2001: 185). 27 Girtler (2001: 148f.) grenzt sich bei dieser Gesprächsmethode vom so genannten ‚narrativen Interview‘ ab, das maßgeblich von Schütze (1987) entwickelt wurde. 60
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Informationen über das Zusammenleben der Bewohner. Am 43. Tag des Aufenthaltes komme ich mit einem der in der comunidad tätigen Karrenschieber28 ins Gespräch. Das Gespräch, dass im Gemeinschaftsraum seines Hauses stattfindet und zu dem ein Dolmetscher hinzugezogen werden musste, da der Befragte lediglich Mískito spricht, beginne ich mit der Frage, seit wann er dieser Beschäftigung nachgeht und ob die daraus erzielten Einkünfte für die Grundbedürfnisbefriedigung ausreichen. Die Frage veranlasst ihn zu der Feststellung, dass während der Diktatur Somozas alles billiger gewesen sei und sich die Preise nunmehr stetig erhöhen würden. Diese Aussage vermittelte mir erste Informationen über die Veränderungen in der Einkommens- und Konsumsituation der Bewohner aufgrund der veränderten politischen Verhältnisse. Auch in Masachapa erhielt ich mit dieser Vorgehensweise erste wichtige Informationen für die weitere Vorgehensweise. Am vierten Tag unseres Aufenthaltes eröffne ich mit einer weiteren Ladenbesitzerin (wie im Falle Wawa Bars) das Gespräch nach ihren Einkommensmöglichkeiten. Da wir uns bereits seit meinem Aufenthalt im Jahr 2000 persönlich kennen und ein Vertrauensverhältnis besteht, berichtet sie in den Räumlichkeiten des Ladens von ihrer Familie. Sie erzählt, dass der ältere Bruder Angehöriger der Contra gewesen sei. Dadurch bekomme ich einen ersten Hinweis auf die in der comunidad bestehenden Spannungen zwischen Anhängern und politischen Gegnern der Sandinisten. Am neunten Tag führe ich ein Gespräch mit einem der ansässigen Schneider, bei dem ich bereits im Jahr 2000 vier Wochen gewohnt habe. Bei den Nähmaschinen zusammen sitzend kommt er auf die Frage, ob auch andere Bewohner einer Schneidertätigkeit nachgehen, unvermittelt auf die Fischer zu sprechen. Dabei erwähnt er, dass sich die Fischer aufgrund des in der comunidad vorherrschenden Egoismus nicht organisieren würden. Mit seiner Feststellung erhalte ich erste Anhaltspunkte auf bestehende Auseinandersetzungen zwischen der ansässigen Bevölkerung. Am 18. Tag komme ich im ansässigen Hospital mit einer Krankenschwester ins Gespräch, die ich ebenso von meinem ersten Aufenthalt her kenne. Meine Frage, wie hoch die Entlohnung als Krankenschwester sei, beantwortet sie mit einem Verweis auf den in Masachapa vorherrschenden Neid. Dieser Neid würde durch eine relativ gute berufliche Tätigkeit und dem damit verbundenen guten Verdienst entstehen. Mit dieser Information erhielt ich einen ersten wertvollen Zugang zu einem Aspekt, der sich im Verlauf der Forschung als einer der Meistgenannten herauskristallisierte.29
28 Wawa Bar ist nur auf dem Flussweg erreichbar. Kehren Dorfbewohner mit ihren in Puerto Cabezas erledigten Einkäufen in die comunidad zurück, stehen an der kleinen Anlegemole mehrere Karrenschieber bereit, die gegen Entgelt die getätigten Einkäufe zu den Häusern der jeweiligen Einkäufer transportieren. 29 Zu diesen Gesichtspunkten siehe auch Girtler (2001: 157ff.). 61
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Darüber hinaus wurde im Verlauf der Untersuchung immer deutlicher, dass es sich am Pazifik wesentlich schwieriger als am Atlantik30 gestaltete, einen begonnenen Dialog hinsichtlich des ursprünglichen Gesprächsinteresses weiter zu führen. Mehrere Male musste ich feststellen, dass die Gesprächspartner darum bemüht waren, das eigentliche Thema in eine andere Richtung zu lenken. Dies war insbesondere dann der Fall, sofern sich Nachbarn oder Mitglieder der eigenen Familie zu dem Gespräch dazu gesellten. Dies ist relativ häufig (zumindest im Falle Masachapas) bei Fragen zur politischen Epoche der Sandinisten zu beobachten gewesen. Beispielsweise führe ich am 44. Tag des Aufenthaltes ein Gespräch mit einer Bewohnerin, die sich selbst als Sandinistin bezeichnet und die während des Contra-Krieges Flucht und Vertreibung erlitten hat. Als ich sie zu ihren persönlichen Erfahrungen des Sandinismus befrage, kehrt einer ihrer Söhne nach Hause zurück und gesellt sich zum Gespräch dazu. Prompt lenkt die Befragte das Gespräch auf ein anderes Thema. Es hat ganz den Anschein, dass die Mutter, die während der sandinistischen Zeit schlechte Erfahrungen machen musste, ihre Vergangenheit von ihrem Sohn fernhalten möchte. Sie trennt ihre eigene Vergangenheit von ihrem Sohn ab, um ihn womöglich in seiner Entwicklung nicht zu belasten. Eine Gesprächssituation eröffnete ich mit einer für beide Landesteile typischen Begrüßungsfloskel: Ich redete über das Wetter. Diesen Einstieg kann man als Analogie zum in anderen Weltregionen verbreiteten ‚how do you do?‘ ansehen.31 Im weiteren Gesprächsverlauf war es mir wichtig, in den Gesprächen an den alltagsüblichen Vorgehens- und Verhaltensweisen der befragten Personen anzuknüpfen. Damit sollte dem jeweiligen Gesprächspartner signalisiert werden, dass ich mich für ihn als Mensch in seiner normalen Lebenswelt interessiere. Zu Beginn der ersten Gespräche knüpfte ich an meinen bisherigen Erfahrungen in den beiden Landesteilen an. Anhand der Wiedergabe dieser Kenntnisse war ich darum bemüht, dass mein Gegenüber selbst begann, mir seine persönlichen Auffassungen mitzuteilen. Dazu kommt, dass ich mein Wissen über spezifische Begebenheiten in den comunidades mit fortlaufender Dauer des Aufenthaltes ständig erweiterte und ich diese Aspekte immer mehr in die geführte Konversation einfließen lassen konnte. An dieser Stelle sei darauf hinge30 An der Atlantikküste haben die Befragten wesentlich offener argumentiert. Das ich wohl auch auf die orale Tradition der Mískito zurückzuführen. 31 Barley (1997: 67) berichtet von seiner Feldforschung bei den Dawayos in Kamerun, bei der ein Gespräch mit der Frage „Lacht Ihnen der Himmel?“ eröffnet wird. Die Wendung wird erweitert mit dem Ausspruch „Mir lacht der Himmel, lacht er Ihnen?“, wobei mit „Mir lacht der Himmel auch!“ geantwortet wird. Anschließend unterhält man sich über die Feldarbeit oder dem Herkunftsort der befragten Person. Levy-Strauss (1996: 272) nähert sich den Nambikwara in Brasilien, indem er vorgibt, ihre preziöse Sprache nicht verstehen zu können. Dieses ruft allgemeine Belustigung unter den Nambikwara herbei, führt zu einer schalkhaften Übertreibung der Sprache und schafft dem Forscher Raum für weitere Gespräche. 62
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wiesen, dass durch eine solche Vorgehensweise mitunter auch das Gegenteil erzielt werden kann. Ein allzu forderndes Herangehen kann dazu führen, dass ein Gespräch nach bereits kurzer Zeit vom Gegenüber beendet wird oder der Gesprächspartner darum bemüht ist, das Thema zu wechseln. Auch hier ein Beispiel: Zu Beginn der Untersuchung in Masachapa kam es aufgrund wochenlanger Auseinandersetzungen mit den nicaraguanischen Migrationsbehörden zu einer angespannten Situation im Feld. Da meine Ehefrau zum Zeitpunkt der Untersuchung peruanische Staatsbürgerin gewesen ist, verwehrten die zuständigen Behörden anfangs die Erteilung der benötigten Aufenthaltserlaubnis. Aufgrund dessen mussten wir mehrere Male die Untersuchung unterbrechen, in die Hauptstadt Managua zurückkehren und unser Augenmerk auf die Lösung dieser Formalie richten.32 Diese Stresssituation bewirkte im Feld, dass wir uns unbewusst unter Zwang setzten, um an entsprechende Informationen hinsichtlich des Untersuchungsgegenstandes zu gelangen. Dies führte zu unangenehmen Störungen bei den geführten Gesprächen und gipfelte mitunter in einem vorzeitigen Abbruch des Dialogs. Am 20. Tag des Aufenthaltes führe ich beispielsweise ein Gespräch mit einem ansässigen Fischer vor dessen Wohnhaus. Hinsichtlich seiner persönlichen Einkünfte möchte von ihm wissen, ob die Fischer früher mehr gefangen bzw. verdient hätten Da er mir diese Frage nicht beantwortet, setze ich nach und frage ihn denselben Aspekt noch einmal. Als er immer noch nicht darauf zu reagieren scheint, schaltet sich meine Ehefrau ins Gespräch ein und stellt ihm die Frage ein drittes Mal. Das Gespräch, das ohnehin schleppend begonnen hatte, verläuft nun praktisch im Sande. Nachdem wir ein paar Minuten schweigend gegenüber gesessen haben, erhebt sich der Befragte, geht in sein Haus und gibt uns damit zu verstehen, dass für ihn das Gespräch beendet sei. Verhaltensweisen solcher Art haben mich ebenso darauf hingewiesen, dass die befragten Personen schlechte Erfahrungen mit einer bestimmten politischen Epoche gemacht haben oder trotz des Wissens um den persönlichen Hintergrund des Forschers unsicher sind, was er mit den erhaltenen Informationen zu tun gedenkt.33 Dessen ungeachtet war bei der Mehrheit der befragten Personen eine relative Neugier zu verspüren, welches spezielle Interesse einen Europäer dazu treiben würde, sich in abgelegene Regionen Mittelamerikas zu begeben, um dort eine Untersuchung durchzuführen. Aus den jeweiligen Gesprächsverläufen ließ sich ablesen, dass sowohl meine Ehefrau als auch ich als Gesprächspartner anerkannt wurden (vgl. Girtler 2001: 147). Ohnehin vertrete ich die Auffassung, dass gerade bei einer ethnographischen Feldforschung ein jegliches Zurückhalten aufgrund des interkulturellen Kontextes kaum durchführbar und meiner Meinung nach auch 32 Nach Antritt der Forschung verging ein halbes Jahr, bis meine Ehefrau die benötigte Aufenthaltserlaubnis ausgestellt bekam. 33 Auf diesen Aspekt habe ich bereits in Abschnitt 5.1 hingewiesen. 63
KULTURELLES ERBE ALS IDENTITÄTSSTIFTENDE INSTANZ?
nicht ratsam erscheint. Der Forscher ist zuerst einmal ein Fremder. Als solcher provoziert er Neugier bei denjenigen, die im Mittelpunkt seiner Untersuchung stehen. Da Kommunikation mindestens aus zwei beteiligten Akteuren besteht, muss der Forscher auch den Informationsbedarf derer befriedigen, die er selbst erforschen will. Dies bedeutet, dass sich partiell die Rollen von Forscher und Beobachteten vertauschen. Darüber hinaus ist ein standardisiertes Verfahren der Befragung in einer multikulturellen Situation nur nach einer qualitativen Voruntersuchung, welche die Bedeutungszusammenhänge bei den Untersuchten zu klären versucht, möglich (vgl. Golte 2002: Mündliche Stellungnahme im Forschungskolloqium). Bei ethnologischen Forschungen innerhalb des eigenen Kulturzusammenhangs fallen möglicherweise Neugier und damit auch die Anforderungen an den Forscher auf Kommunikation über sich selbst geringer aus. Der Forscher wird weniger als Fremder wahrgenommen.34 Gerade in der Ethnologie wird jedoch grundlegend problematisiert, ob sich Beobachter und Beobachteter bzw. Fragender und Befragter ohne weiteres verstehen. Oft gehören sie unterschiedlichen Kulturen oder Milieus an, sind unterschiedlich sozialisiert und sprechen in unterschiedlichen ‚Sprachen‘ innerhalb der jeweils gesellschaftlich geprägten spezifischen Sinnzusammenhänge. Zum gegenseitigen Austausch in einer solchen interkulturellen Gesprächs- und Forschungssituation kommt hinzu, dass der Ethnologe seine Interpretationen hinterfragen muss, um sich zu vergewissern, dass sie den intendierten Bedeutungen des Untersuchten auch entsprechen. Er ist darauf angewiesen, den Prozess des Fremdverstehens durch die Anwendung geeigneter empirischer Methoden zu kontrollieren, um ein Verständnis der Diskurse der an den sozialen Prozessen beteiligten Akteure zu entwickeln.35 In der Soziologie bezeichnet man diesen Prozess des Fremdverstehens auch als Paraphrasieren. Paraphrasieren bedeutet, dass während eines Gesprächs die thematisierten Inhalte vom Forscher in seinen eigenen Worten an den Gesprächspartner ‚zurückgegeben‘ werden. Damit kann überprüft werden, ob er das Gesagte in der vom Gesprächspartner vermittelten Intention auch verstanden hat.36 Auf Grundlage der Ero-Epischen Gespräche konnte ich mir diese wichtigen Elemente aus dem Selbstverständnis der beteiligten Personen und Gruppen erarbeiten. Diese Vorgehensweise ermöglichte mir sowohl 34 Für eine weiter gehende Beschäftigung mit diesen Aspekten siehe Malinowski (1953), ders. (1985); Stichweh (1997: 165-183). 35 Dies ist unter dem besonderen Umstand zu betrachten, dass sich Gesprächsinhalte verändern können, sobald der entsprechende Kontext ein anderer ist. Bei meiner Forschung kam es mitunter vor, dass mir die Gesprächspartner (teilweise in ein- und demselben Gespräch) entgegengesetzte Informationen mitteilten. Beim genaueren Betrachten des Kontextes fiel mir auf, dass sich der Kontext durch das Hinzukommen anderer Personen verändert hatte. 36 Mögliche Fragen dazu wären: „habe ich Dich/Sie richtig verstanden?“ oder auch „meintest/meinten Du/Sie damit jetzt, dass...?“ 64
DIE BEGRIFFLICHE EINORDNUNG VERWENDETER TERMINI
einen Überblick über die spezifischen Wertungen der einzelnen Gesprächspartner hinsichtlich der gesellschaftlichen Veränderungsprozesse als auch den damit verbundenen Diskursen bezüglich der Selbst- und Fremdzuschreibungen. Wie auch bei der teilnehmenden Beobachtung habe ich die Kontrolle des eigenen Verhaltens während der Gesprächssituation als signifikantes Datum für die Selbstreflexion verwendet. Am 103. Tag des Aufenthaltes in Wawa Bar zeigte sich beispielsweise, dass sich die nicht mehr in weiter Zukunft liegende Abreise aus der comunidad in einem Gespräch bemerkbar machte: Anstatt mich auf die Inhalte des Dialogs zu konzentrieren, schweiften meine Gedanken des Öfteren nach Deutschland ab. Die Folge davon war, dass das Gespräch einerseits nach relativ kurzer Dauer beendet war und ich andererseits kaum auf Inhalt und Kontext geachtet hatte. Erst beim Schreiben des Feldtagebuchs fiel mir dieser Umstand gebührend auf. 5.4 Methodische Diskussion des Forschungsverlaufs Bei der Untersuchung habe ich großen Wert darauf gelegt, ein Verhältnis maximaler und minimaler Kontrastierung zu schaffen. Hinsichtlich des Gesamtkontextes bin ich aufgrund der unterschiedlichen kulturellen Ausprägungen an Atlantik- und Pazifikküste von einer maximalen Kontrastierung ausgegangen. Innerhalb der jeweiligen Region erschien es mir wichtig, Angehörige unterschiedlicher sozialer Schichten als Gesprächspartner zu gewinnen. Beispielsweise habe ich Vertreter von: • ökonomischer Macht (Laden- und Apothekenbesitzer, Fischer) • ideologischer Macht (Pastoren, Lehrer, traditionelle Autoritäten) und Angehörige sozial schwacher Schichten zu meinem Untersuchungsgegenstand befragen können. Des Weiteren bin ich in Kooperation mit meiner Ehefrau bemüht gewesen, unterschiedliche geschlechtsspezifische Blickwinkel einzufangen, in dem wir uns sowohl mit Frauen als auch Männern zu spezifischen Themen unterhalten haben. Ebenso haben wir die unterschiedlichen Verhaltensweisen, die wir bei den jeweiligen Gesprächspartnern beobachtet haben, miteinander verglichen und ausführlich diskutiert. Zu Beginn der Datenerhebung habe ich mich beim Führen eines Ero-Epischen Gesprächs auf das eigene Gedächtnis verlassen bzw. zur Vermeidung möglicher Interaktionsstörungen keine Mitschriften angefertigt.37 Da ich während einer zwischen 1998 und 1999 durchgeführten Feldforschung an der nicaraguanischen Atlantikküste schlechte Erfahrungen hin37 Eine ausführliche Narrationsanalyse der geführten Gespräche habe ich nicht vorgenommen, weil dafür eine Verschriftlichung (Transkription) der erhobenen Daten notwendig gewesen wäre. 65
KULTURELLES ERBE ALS IDENTITÄTSSTIFTENDE INSTANZ?
sichtlich der Verwendung von Aufnahmegeräten gemacht habe, nahm ich bei der vorliegenden Forschung auch von Tonbandaufnahmen Abstand. Im weiteren Verlauf bin ich jedoch von dieser Verfahrensweise abgerückt. Je länger und intensiver sich ein Gespräch gestaltet, desto schwieriger wird es, sämtliche erörterten Aspekte mittels der individuellen Gedächtnisleistung präzise zu rekonstruieren. Die während meiner Untersuchung geführten Gespräche erstreckten sich mitunter über einen mehrstündigen Dialog und beinhalteten darüber hinaus unterschiedliche Themen. Aufgrund der relativen Länge dieser Gespräche hat ab einem bestimmten Zeitpunkt meine individuelle Aufnahmekapazität abgenommen. Dazu kommt, dass ich die im Dialog verwendete Sprache zwar beherrsche, jedoch zur Einordnung der berichteten Einzelheiten eine höhere Konzentrationsleistung erbringen musste. Meines Erachtens wird ein Forscher kaum in der Lage sein, durch eine reine Gedächtnisleistung wichtige Details adäquat niederschreiben zu können. Spätestens beim Schreiben des Feldtagebuchs offenbart sich die nachteilige Wirkung dieser Vorgehensweise. Ich sehe die Gefahr, dass nicht nur wesentliche Teile des Gesagten durch Unaufmerksamkeit verloren gehen, sondern durch die vergehende Zeitspanne zwischen Gespräch und Aufzeichnung bereits unbewusste Filter im Gedächtnis aktiv sind, die bestimmte Erzählsequenzen, die als weniger wichtig für den Untersuchungsgegenstand erachtet werden, in ihrem Sinngehalt verändert oder sogar ausgeblendet werden. Dadurch nimmt man sich selbst die Möglichkeit, die sozialen Verhältnisse klarer zu erkennen und einzuordnen. Um das zu vermeiden, habe ich bei länger geführten Gesprächen während der Untersuchung damit begonnen, zumindest stichpunktartig die Ausführungen des Gesprächspartners zu notieren und möglichst umgehend in einen ausführlichen schriftlichen Bericht münden zu lassen. Zu Beginn dieser Verfahrensweise war bei den Gesprächspartnern eine Veränderung in ihrem Verhalten zu beobachten. Die Gespräche verliefen nicht mehr so ‚flüssig‘ wie zuvor und es bedurfte einiger Zeit, bis sich die Befragten an die verwendete Schreibkladde gewöhnt hatten.38 Mit zunehmender Dauer der Untersuchung wurde diese Art der Datenaufnahme jedoch von den Gesprächspartnern akzeptiert. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass auch der Einsatz moderner Aufnahmetechnik die Gesprächssituation belasten kann. Bereits während der weiter oben erwähnten Feldforschung im Jahr 1998 und 1999 ist mir dieser Umstand mehrere Male während eines geführten Gespräches aufgefallen. Trotz signalisierter Gesprächsbereitschaft zeigte sich beim 38 Da diese Veränderung im Forschungsvorgehen während der Untersuchung am Pazifik durchgeführt wurde, kam es lediglich in Masachapa zu den erwähnten Störungen. An der Atlantikküste kam diese Arbeitsweise gleich zu Beginn der Untersuchung zum Einsatz. Aufgrund dessen kann hier nicht nachvollzogen werden, ob eine andere Vorgehensweise zu einem veränderten Verhalten geführt hätte. 66
DIE BEGRIFFLICHE EINORDNUNG VERWENDETER TERMINI
Einsatz eines Aufnahmegerätes, dass meine Gesprächspartner lediglich Versionen einer sozialen Realität präsentierten, die kaum oder gar nicht mit der beobachteten Realität übereinstimmten. Die offensichtliche Ähnlichkeit der vorgetragenen Versionen ließen bei mir als Forscher den Eindruck einer offiziell erwünschten Darstellung entstehen. Bei der vorliegenden Untersuchung wurde bei ersten Gesprächen in der comunidad Masachapa wiederum ersichtlich, dass Begriffe wie tragbarer Computer (Laptop) oder Digitalkamera für die dortige Bevölkerung keine sinnhaften Begriffe darstellten. Die Dorfbevölkerung konnte diese Bezeichnungen nicht mit den von ihnen wahrgenommenen Dingen in Verbindung bringen. Aufgrund dessen nahm ich von einer Verwendung dieser Technik im Feld Abstand. Meines Erachtens müssen diese Aspekte bereits bei der Planung zukünftiger Forschungen bzw. bei der Auswahl der Verfügung stehenden Methoden berücksichtigt werden. Auch wenn Levy-Strauss (1996: 271) beschreibt, dass der von ihm untersuchten Ethnie der Nambikwara sowohl das Notizbuch des Forschers wie auch dessen Fotoapparat gleichgültig waren, vertrete ich aufgrund meiner eigenen Erfahrungen die Auffassung, dass der Einsatz moderner Technik bei ethnologischen Forschungen mit Bedacht gewählt werden sollte. Sofern bereits in einer bestimmten Region bzw. bei den dort lebenden Gesellschaften Forschungen durchgeführt worden sind, hat sich der Forscher meiner Meinung nach darüber zu informieren, ob den vorliegenden Abhandlungen Informationen über spezifisches Verhalten der zu untersuchenden Bevölkerung aufgrund eines Technikeinsatzes zu entnehmen sind. Sollten diese Aspekte bei der Vorbereitung einer Forschung nicht bedacht werden, kann dies meines Erachtens zu Verzerrungen in der Datenaufnahme und der Beschreibung der sozialen Realität durch die befragten Gesellschaftsmitglieder führen. Wie bereits weiter oben erwähnt, habe ich bei meinem Forschungsvorgehen den Prozess der Datenerhebung und -auswertung zeitlich nicht strikt getrennt, sondern miteinander verschränkt. Dieser parallel verlaufende Erhebungs- und Auswertungsprozess ist kennzeichnend für qualitative Forschungsverfahren. Die während meines Feldaufenthaltes entwikkelten Arbeitshypothesen waren für die nachfolgenden Erhebungssituationen handlungsrelevant. Auftauchende Fragen und Probleme, die sich beim Verfassen des Feldtagebuchs herauskristallisierten, leiteten den Forschungsprozess dahingehend an, bestimmte Themen in den kommenden Gesprächen stärker zu fokussieren bzw. ein größeres Augenmerk auf den Kontext der Gesprächssituation zu legen. Eine solche Vorgehensweise wird auch von Strauss und Corbin (1996: 27ff.) beschrieben.39 Darüber hinaus habe ich bereits während der Feldphase damit begonnen, die Aus39 Es sei an dieser Stelle erwähnt, dass sich im Verlauf der Zeit unterschiedliche Interpretationen der Grounded Theory herausgebildet haben. Dey (2004: 80) gibt eine Übersicht der verschiedenen Herangehensweisen und Arbeitstechniken. 67
KULTURELLES ERBE ALS IDENTITÄTSSTIFTENDE INSTANZ?
sagen meiner Gesprächspartner anhand der Aufzeichnungen im Forschungstagebuch zu kodieren. Dadurch konnte ich bereits im Feld erkennen, ab welchem Zeitpunkt eine bestimmte theoretische Sättigung des Datenmaterials erreicht war.40 Dieser Analyseteil, der sich speziell auf das Benennen und Kategorisieren der im Feld beobachteten Phänomene bezieht, wird als offenes Kodieren bezeichnet (vgl. Strauss/Corbin 1996: 44 ff.). Die Besonderheit des offenen Kodierens liegt darin, dass der Forscher dem Text offen und unvoreingenommen gegenübertritt, alle wichtigen Passagen markiert und diese mit so genannten Codes bezeichnet. Eine andere Form des Kodierens stellt das selektive Kodieren dar. Mit diesem Begriff wird zum Ausdruck gebracht, dass der Forscher mit ausgewählten Fragen (Selektion) an den Text herangeht. Bezogen auf die Auswertung meines Forschungsvorhabens sind meine Kodierungen der ersten Beobachtungen und Gesprächssequenzen dem offenen Kodieren zuzuordnen. Mit der Entwicklung meiner Arbeitshypothesen fokussierte ich mich bei meinen weiteren Beobachtungen und Gesprächen nicht mehr auf sämtliche Details. Mein Blick wurde aufgrund der sich immer schärfer herauskristallisierenden Hauptaspekte selektiver (vgl. Strauss/Corbin 1996: 94 ff.). Das Augenmerk habe ich dabei vor allem auf die Aussagen der Befragten als soziale Akteure gerichtet. Das allgemeine Grundmuster, von dem die sozialen Akteure aus handeln, sind die unterschiedlichen politischen Epochen und die Handlungsstrategien, die von den Akteuren in diesem Zusammenhang entwickelt worden sind. Mit dem Vergleich Pazifik– Atlantik habe ich zudem eine maximale Kontrastierung gewählt. Hintergrund sind dabei die unterschiedlichen kulturellen Traditionen bei gleichen Gegenwartskonstellationen. Meines Erachtens bietet die methodische Vorgehensweise der Grounded Theory (G.T.) gerade in der Anfangsphase einer Feldforschung eine wertvolle Unterstützung. Die Analyse der ersten Feldbeobachtungen und Gespräche ist sehr hilfreich, um zu ‚sehen‘, welche Informationen in den erhobenen Daten verborgen liegen. Aufgrund des ethnographischen Charakters meiner Untersuchung habe ich die Methode jedoch nicht mit dem grundsätzlichen Ziel verwendet, eine dicht konzeptualisierte Theorie zu entwickeln. Ich habe die G.T. als Forschungsstrategie und nicht als Forschungsmethode eingesetzt. Anhand des von Strauss und Corbin vorgeschlagenen Kodierparadigmas (vgl. Strauss/Corbin 1996: 17) habe ich mit dem offenen Kodieren Vergleiche zwischen den jeweiligen Aussagen der Gesprächspartner ziehen können. Diese Kodierarbeit verwendete ich als nützliches Werkzeug zur Lokalisierung der Basis-konzepte. Ich habe insbesondere darauf geachtet, die jeweiligen Sichtweisen der wichtigsten 40 Mit dem Begriff der theoretischen Sättigung wird in der qualitativ-empirischen Sozialforschung der Moment bezeichnet, bei dem zu einer im Feld gefundenen Kategorie keine weiteren Ausgestaltungen mehr gefunden werden. 68
DIE BEGRIFFLICHE EINORDNUNG VERWENDETER TERMINI
sozialen Akteure zu erfassen und sie in einen Gesamtzusammenhang zu stellen. Nach der Erhebungsphase habe ich am heimischen Schreibtisch die Möglichkeiten moderner Auswertungstechnik genutzt. Die bereits im Feld getätigten Beobachtungen und Gesprächsnotizen wurden in das Analyseprogramm atlas/ti übertragen. Mit dem sich dabei ergebenden Kodierbaum habe ich ein weiteres Mal alle Beobachtungen und Gesprächsnotizen überarbeitet. Die während dieses Arbeitsprozesses entstehenden Theoriekonstrukte und Arbeitshypothesen habe ich als so genannte Memos verfasst. Nachfolgend sollen zwei dieser Memo-Texte illustriert werden: • Memo zu den Auswirkungen der Drogenkommerzialisierung auf die soziale Organisation der Bewohner in Wawa Bar (Atlantikküste): Die Kommerzialisierung des Kokains ruft scharfe soziale Gegensätze zwischen den Bewohnern hervor. Es ergibt sich eine Spaltung in Personen, die Kokain gefunden und/oder kommerzialisiert haben und Personen, die (bisher) nicht das ‚Glück‘ hatten, diese Droge gewinnbringend zu nutzen. Das Resultat dieser Spaltung manifestiert sich darin, dass sie sich einerseits nur noch für die Droge interessieren und andererseits damit Neid geschürt wird. Durch die höhere finanzielle Ausstattung fühlen sich die entsprechenden Personen als etwas Besseres und zeigen dies auch bei der Verwendung erworbener Gebrauchsgüter. Auch wenn durch Ausbleiben weiterer Kommerzialisierungsmöglichkeiten lediglich Passagiere mit den durch Drogengelder finanzierten Booten befördert werden müssen, so bleibt der soziale Unterschied zwischen den Bewohnern aufgrund der vorhandenen Gebrauchsgüter weiterhin bestehen. •
Memo zu so genannten Marketingstrategien der Bewohner Masachapas (Pazifikküste):
In Masachapa fällt auf, dass – obwohl die comunidad direkt am Meer liegt – ein gehöriger Teil der Bewohner seine Einkünfte nicht aus dem Fischfang schöpft. Es gibt in der comunidad Personen, die direkt vom Tourismus leben, die als Schneider tätig sind (vier an der Zahl) oder die einer anderen Beschäftigung nachgehen. Es sind also verschiedene (von mir so benannte) ‚Marketingstrategien‘ vorhanden, die dem einzelnen sein Überleben sichern sollen. Damit ergibt sich aber eine sichtbare Trennung in einzelne soziale Schichten, die Auswirkungen auf die soziale Organisation haben, weil die Mitglieder der comunidad von einer bestimmten Maßnahme jeweils unterschiedlich betroffen sind, bspw. weil ein Schneider nicht in erster Linie unmittelbar von einer Verteuerung des Benzins (wie ein Fischer) betroffen ist. Außerdem produzieren die Schneider in erster Linie gar nicht für die Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung, son69
KULTURELLES ERBE ALS IDENTITÄTSSTIFTENDE INSTANZ?
dern für das sich in der Nähe befindliche Fünf-Sterne-Hotel Montelimar, bzw. für auswärtige Kundschaft. Allerdings gibt es nicht nur eine Trennung in verschiedene Tätigkeiten, sondern der potentielle materielle Erfolg wird darüber hinaus von den sozialen Akteueren mittels der Anwendung von envidia moralisch sanktioniert. Die Erstellung von Memos diente mir als Orientierung, um ein weiteres Mal in die Daten hineinzublicken. Die sich in diesem Prozess herausbildenden Hypothesen habe habe ich immer wieder durch das Zurückgehen in mein Datenmaterial überprüft. Diese zirkuläre Herangehensweise trug wesentlich zur Entwicklung meiner Theoriekonstrukte bei, da es mir möglich war, alle Aussagen der befragten Personen zu einem bestimmten Code miteinander zu vergleichen bzw. genau überblicken zu können, wer zu welchem Sachverhalt welche Aussage getroffen hatte. Dieses Verfahren hat wesentlich dazu beigetragen, sich die Widersprüche im Diskurs der jeweiligen sozialen Akteure sichtbar zu machen, die gegensätzlichen Aussagen miteinander zu vergleichen und Rückschlüsse auf die Entstehung dieser Widersprüche ziehen zu können.
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K APITEL 3: E THNOGRAPHIE DER COMUNIDAD W AWA B AR AN DER A TLANTIKKÜSTE 1. Sozialgeographie der dörflichen Gemeinschaft 1.1 Bedeutung des Ortsnamens, Entstehung und geographische Lage Wawa Bar1 wird von Angehörigen der Mískito bewohnt. Vor den Mískito hätten Angehörige der Sumu-Mayangna die comunidad besiedelt. Die älteren Bewohner Wawa Bars geben an, dass die den Sumu-Mayangna zugehörigen Einwohner der comunidades Wasakin und Awastingni die Nachfahren der ersten Bewohner Wawa Bars seien (vgl. CIDCA 1987:1). Fast alle indigenen Ortsnamen der nicaraguanischen Atlantikküste werden von Bezeichnungen für Wasser, Tiere und Pflanzen abgeleitet. Für Wawa Bar gibt die Literatur mehrere Begriffe an: In einer Beschreibung des CIDCA2 wird das Mískito-Wort wawa mit ‚Weide‘ (spanisch: sauce) übersetzt (vgl. CIDCA 1987: 1). In der Sprache der Sumu-Mayangna bedeutet wawa wiederum ‚suspendido‘ (hängend). Conzemius übersetzt den Begriff mit ‚schwebend‘ (vgl. Conzemius 1997: 99). Der Río Wawa, der die comunidad an ihrer Nordseite begrenzt, bildet vor der Einmündung in die karibische See die Lagune Karatá. Von dort aus mündet der Fluss über eine Nehrung (barra) mit lediglich geringer Wassertiefe in das offene Meer.3 Der Ursprung der comunidad liegt in einer vormaligen Siedlung namens quija südlich der Mündung des Río Wawa. Dort soll ein alter Schamane gelebt haben, nach dessen Name das Dorf vermutlich benannt wurde. Aufgrund eines Wirbelsturms, bei dem die Unterkünfte der Bewohner vollständig zerstört wurden, siedelten sie sich an der Stelle des heutigen Wawa Bar an (vgl. Conzemius 1997: 99; 181). Es wird noch ein anderer Ortsname angegeben, wobei der bereits erwähnte Wirbelsturm bestätigt wird: „En 1830 ya existia gente pero estaban en kijahuaca y solo 1 Neben Wawa Bar existieren noch drei weitere – jedoch weiter entfernt liegende – comunidades, die von den Bewohnern zusammengefasst als ‚Wawa Bum‘ bezeichnet werden. Zum Gebiet von Wawa Bum zählen die dörflichen Gemeinschaften Betania, Betel und Seven Benk. Die in dieser Arbeit behandelten Daten beziehen sich allesamt auf Wawa Bar. 2 Centro de Investigación y Documentación de la Costa Atlántica; Forschungs- und Dokumentationszentrum der Atlantikküste. 3 Als Nehrung wird eine Stelle an Flussmündungen bezeichnet, bei der sich die Strömung des Flusses gegen die Meereswellen bricht und infolge dessen eine Sandbank entsteht. 71
KULTURELLES ERBE ALS IDENTITÄTSSTIFTENDE INSTANZ?
eran dos familias. Entre 1840 y 1845 vino un huracan a la costa y esas dos familias vinieron para Wawa Bar“ (Gespräch mit Arturo Faro, 14.01.04).4 Der Gesprächspartner berichtet weiterhin, dass die eigentliche Gründung Wawa Bars von einem Missionar vorgenommen worden sei: „En 1849 Wawa Bar fue fundado por un misionero.“ (Gespräch mit Arturo Faro, 14.01.04). Wawa Bar wird von den Bewohnern in drei verschiedene Wohnbereiche gegliedert, wobei diese Bereiche als barrios bezeichnet werden: ‚Wawa arriba‘ (Mískito: auhya tá), ‚Wawa medio‘ (midil oder mango tara) und ‚Wawa abajo“ (maya oder kiha watla). Diese räumliche Abgrenzung wird darauf zurückgeführt, dass sich insbesondere zwischen „Wawa arriba‘ und ‚Wawa abajo‘ eine sozioökonomische Hierarchie herausgebildet hätte. Durch die verstärkte Arbeitsmigration der Bewohner von ‚Wawa arriba‘ hätten die dort lebenden Personen bessere Verdienstmöglichkeiten erlangt. Diese hätten ihnen zum Kauf besserer Fischfanggeräte und der Kontrolle über die Transportmittel verholfen. Die Folge wäre ein höherer Lebensstandard, der in größeren Wohnhäusern, eleganterer Kleidung, höherer Bildung, etc. zum Ausdruck käme (vgl. CIDCA 1987: 2.).5 1.2 Demographische Faktoren Im Jahr 1903 sollen in Wawa Bar 180 Personen gelebt haben.6 Allerdings hat die comunidad erst in den vergangenen zwei Dekaden ein relativ hohes Bevölkerungswachstum zu verzeichnen: So wird für das Jahr 1987 eine Bevölkerungszahl von 1.600 Personen angegeben, die sich auf 200 Familien verteilt (vgl. CIDCA 1987: 1). Einer internen demographischen Erhebung ist zu entnehmen, dass bis zum Jahr 2002 ein Bevölkerungsanstieg auf 2.361 Personen stattgefunden hat (vgl. Marenco 2002: 1ff.). Für das Jahr 2004 wird die Bevölkerungszahl bereits mit 2.500 Personen beziffert, die wiederum auf 520 Familien verteilt sind (vgl. Alcaldia Municipal de Puerto Cabezas 2004: 1). Es ist davon auszugehen, dass die Bevölkerungszahl noch höher liegt, da eine nicht unerhebliche Zahl von Bewohnern auf der Suche nach Beschäftigungsmöglichkeiten zeitweilig nach Puerto Cabezas oder auf die Corn Islands emigriert. Insbesondere die jüngere männliche Bevölkerung Wawa Bars geht zeitlich befristeten Tätigkeiten außerhalb Wawa Bars nach, um ihre Familien ökonomisch zu unterstützen.
4 Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes habe ich die tatsächlichen Namen der in dieser Arbeit zitierten Gesprächspartner maskiert und durch frei erfundene Pseudonyme ersetzt. 5 Dieser Sachverhalt wird in Abschnitt 4.2.1 noch eingehender behandelt. 6 Für weiter zurückliegende Zeiträume konnten keine Daten eruiert werden. 72
ETHNOGRAPHIE DER COMUNIDAD WAWA BAR
1.3 Wirtschaftliche Aktivitäten 1.3.1 Fischerei Die wirtschaftliche Basis stellt die traditionelle Fischerei (pesca artesanal) dar. Ursprünglich wurde mit einer einfachen Angel (anzuelo) oder Wurfnetzen gefischt, die durch Verwendung eines aus einem Baumstamm geschlagenen Einbaums (cayuco) in Küstennähe ausgebracht wurden. Dieses heute noch zur Anwendung kommende cayuco wird entweder gerudert oder mittels einem aus Reis- oder Plastiksäcken genähtem Segel bzw. einem Außenbordmotor angetrieben. Darüber hinaus werden seit Mitte der 1990er Jahre moderne Glasfiberboote und Fangnetze verwendet. Aufgrund der nahe gelegenen Hafenstadt Puerto Cabezas und den damit verbundenen Absatzmöglichkeiten auf dem lokalen Markt, bzw. den nicaraguanischen Fischfirmen Atlanor7 und Invernic,8 stellt der Fischfang nicht bloß eine Subsistenzwirtschaft für die Fischer dar. Ein Teil des gefangenen Fisches wird allerdings weiterhin für die eigene Nahrungsmittelversorgung verwendet bzw. an Mitglieder der eigenen Familie weitergegeben. Gefischt werden hauptsächlich ‚Jurel‘ (Stöcker), ‚Macarela‘ (Makrele), ‚Pargo Rojo‘ (Rote Brasse) und eine Fischart, die von den Einheimischen als ‚Roncador‘ bezeichnet wird.9 Von Januar bis Februar werden temporär Großgarnelen (camarones) gefangen. Dazu kommt das Fangen von Haien, das aber eher nebensächlich betrieben wird. Die besten Fangerträge ergeben sich zwischen Januar und Mai, bei denen eine tägliche Fangquote zwischen 800 und 1.000 libra10 erzielt wird (Gespräch mit Miguel Sarazo, 19.01.04). Eine Untersuchung des CIDCA aus dem Jahr 1987 gibt eine tägliche Fangmenge zwischen 3.000 und 9.000 libra an (vgl. CIDCA 1987: 4). Offensichtlich haben die Fischer mit einem starken Rückgang der Fischbestände zu kämpfen. Dies hängt sicherlich damit zusammen, dass die von Violeta Chamorro geführte UNO-Regierung Anfang der 1990er Jahre Fanglizenzen an nordamerikanische, koreanische, panamesische und honduranische Fischfangflotten vergab. Die Folge war die Überfischung der karibischen See, was dazu führte, dass die traditionelle Fischerei mit Angel und chinchorro11 in Wawa Bar fast vollständig aufgegeben wurde.12 Heutzutage wird fast ausschließlich mit Fangnetzen 7 Atlanor: Empresa Pesquera del Atlántico Norte; Fischereiunternehmen der nördlichen Atlantikküstenregion. 8 Invernic: Inversiones de Nicaragua, SA; Nicaraguanische Investitionen. 9 Für den Begriff roncador (wörtlich: ‚Schnarcher‘) wurde keine adäquate Übersetzung gefunden. 10 1 libra entspricht 0,454kg. 11 Als chinchorro wird ein engmaschiges Netz bezeichnet, mit dem Großgarnelen gefangen werden. 12 Der industrielle Fischfang an der Atlantikküste befindet sich in größtenteils in den Händen ausländischer Unternehmen, die mit ihren Fangflotten 36% 73
KULTURELLES ERBE ALS IDENTITÄTSSTIFTENDE INSTANZ?
gefischt. Ein weiterer Faktor ist, dass sich die Anzahl der Fischer in Wawa Bar und in den umliegenden comunidades kontinuierlich erhöht hat. Um die Fisch- und Langustenbestände besser zu schützen, hat das nicaraguanische Umweltministerium im Jahr 2004 erstmalig eine dreimonatige Schonfrist angeordnet. Diese wird allerdings kaum befolgt: „Lo que queria Marena13 era que los pescadores no pesquen los pescados pequeños, como una veda, pero los pescadores no lo aceptan ya que ellos tienen que pescar lo que encuentren para sobrevivir.“ (Gespräch mit Vera Zúniga, 13.02.04). Der größte Teil des erzielten Fangs wird bereits am Strand von weiblichen Aufkäufern (vendedoras) erworben. Dabei fällt auf, dass die Mehrheit der vendedoras nicht der Fischerfamilie angehört. Der Fangertrag wird anschließend nach Puerto Cabezas transportiert und den bereits weiter oben erwähnten Abnehmern zum Kauf angeboten. Beispielsweise wird eine libra Großgarnelen, für die eine vendedora am Strand 27 Cordoba entrichtet, in Puerto Cabezas für 60 Cordoba weiter verkauft. Die Fischer selbst fahren nur nach Puerto Cabezas, sofern sie einen verhältnismäßig großen Fang erzielt haben. Die Preise für Benzin würden bei einer kleineren Fangmenge den zu erwartenden Gewinn sofort wieder zunichte machen. Allerdings wird auch einige Tage gefischt, der Fang in Kühltruhen zwischengelagert und erst dann nach Puerto Cabezas transportiert (Gespräch mit Miguel Sarazo, 22.01.04). 1.3.2 Weitere wirtschaftliche Aktivitäten in und außerhalb der comunidad In Wawa Bar sind an mehreren Stellen kleine Verkaufskioske (ventas) vorzufinden, in denen Dinge des täglichen Gebrauchs erworben werden können und mit denen die überwiegend weiblichen Betreiberinnen einen zusätzlichen Verdienst für die Familie erwirtschaften. Wie bereits erwähnt, emigriert ein Teil der männlichen Bewohner aufgrund temporärer Beschäftigungsmöglichkeiten in andere Regionen. Da kaum noch Langusten in Küstennähe vorkommen, heuern viele Männer auf speziellen Schiffen zum Langustenfang an. Auf diesen Schiffen, die auf offener See operieren, wird jeweils zwischen 45 Tagen und drei Monaten gearbeitet. Allerdings ist diese Beschäftigung aufgrund der jahreszeitlichen Fangzyklen häufig irregulär.14 Des Weiteren werden Langustentaucher mit speziellen Lastkähnen (‚ponkyn‘) in die jeweiligen Fangregionen der gesamten nicaraguanischen Fischproduktion erwirtschaften (vgl. CONPES 2001: 27). 13 Marena; Ministerio del Medio Ambiente y Recursos Naturales; nicaraguanisches Umweltministerium. 14 Ein weiteres Problem stellt die bereits erwähnte Überfischung der karibischen See dar, wovon auch die Langustenpopulationen stark betroffen sind. Der Rückgang der Population sei mittlerweile auch an den Preisen erkennbar: Eine libra Languste, die vor einigen Jahren noch zwei Cordoba kostete, würde nun einen Preis von 150 Cordoba erzielen (Gespräch mit Aramis Lombardo, 16.01.04). 74
ETHNOGRAPHIE DER COMUNIDAD WAWA BAR
befördert (bspw. zu den weiter nördlich gelegenen Inseln Cayos Mískitos). Die Besitzer eines ponkyn transportieren darüber hinaus Baumaterialien, Lebens-mittel und andere Dinge des täglichen Bedarfs. 1.3.3 Subsistenz- und Tauschwirtschaft In Wawa Bar wird Brandrodungsfeldbau mit Hacke betrieben, bei dem speziell Yucca, Quequisque und Bananen angebaut werden. Insbesondere bei der Yucca wird der obere, nicht in der Erde befindliche Teil der Pflanze, der in seinen sichtbaren Verästelungen die Samen beherbergt, in kleine Stücke gehackt. Diese Stücke werden in einen Erdhaufen verbracht, in dem in den nächsten vier Monaten die neue Ernte heranreift. Während das eine Yucca-Feld abgeerntet wird, erhält das benachbarte Feld auf die beschriebene Weise die Aussaat. Neben diesen Produkten sind in der comunidad Kokospalmen, Marañon- und Mango-Bäume vorzufinden. Die Felderwirtschaft dient hauptsächlich der Subsistenz, wird aber aus Gründen, die noch Gegenstand der Betrachtung sein werden, immer mehr vernachlässigt. Da die vorhandenen Böden Wawa Bars relativ sumpfig und für den Anbau einiger Nahrungsmittel ungeeignet sind, haben die Bewohner auf dem zur comunidad Klingna gehörenden Territorium begonnen, Reis anzubauen. Für das Ausbringen der Saat bleiben einige Familienmitglieder ca. einen Monat in Klingna. Zum Einholen der Ernte kehren sie nach ca. drei bis vier Monaten wieder in diese comunidad zurück. Der erwirtschaftete Reis wird anschließend zum Verkauf nach Puerto Cabezas transportiert und auf dem lokalen Markt verkauft. Darüber hinaus existiert ein Tauschhandel mit den in der Region liegenden Dorfgemeinschaften, bei dem insbesondere Fisch mit dort erzeugten Produkten (bspw. Yucca) getauscht wird.
2. Die Wahrnehmung der unterschiedlichen politischen Epochen Der folgende Abschnitt wird sich insbesondere mit der Eigenwahrnehmung der befragten sozialen Akteure hinsichtlich ihrer Lebens- und Arbeitsverhältnisse während der unterschiedlichen politischen Epochen auseinandersetzen. Insbesondere soll der von den Bewohnern geführte Diskurs dokumentiert und der Blick auf zutage tretende Erinnerungsunterschiede gerichtet werden.
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KULTURELLES ERBE ALS IDENTITÄTSSTIFTENDE INSTANZ?
2.1 Die individuelle und gruppenspezifische Wahrnehmung der Diktatur Somozas 2.1.1 Allgemeine Lebensverhältnisse Die Mehrheit der Befragten ist der Auffassung, dass das Zusammenleben und das soziale Umfeld in einer positiven Atmosphäre des gegenseitigen Austausches stattgefunden hätten. Auch wenn der damalige Lebensstandard als weitaus geringer eingestuft wird, äußern sich die Befragten zufrieden über diese Epoche. Ohnehin sei die Diktatur in Wawa Bar kaum präsent gewesen: „Era un mundo cerrado.“ (Gespräch mit Miguel Sarazo, 29.02.04). Lediglich einige Nationalgardisten (guardia nacional) seien in Wawa Bar stationiert gewesen.15 Die Bewohner seien in ihrer Bewegungsfreiheit nicht eingeschränkt worden. Ebenso wenig hätte es Streit oder Diebstähle untereinander gegeben, dafür jedoch relativ viele Beschäftigungsmöglichkeiten: „En el Somocismo habia bastante trabajo y la comida era barata, se sembraba bastante yuca, no habian muchos ladrones. Los Mískitos eran libres y podian ir donde querian.“ (Gespräch mit ‚El Noruego‘, 19.02.04) „En el Somocismo habia un mejor ambiente, nadie molestaba y podiamos hacer lo que queriamos. Por ejemplo si yo queria salir de noche para conseguir como vivir lo podia hacer. No habia muchos borrachos ni pleitos. Se tomaba chicha y se visitaba a otras familias.“ (Gespräch mit Pedro Anicama, 19.02.04)
Dieses Zufriedenheitsgefühl wird durch die Aussage mehrerer Bewohner, dass Somoza bei anstehenden Wahlen den Bewohnern Geschenke in Form von Lebensmitteln und Alkohol überbringen ließ, noch weiter unterstrichen: „En el somocismo cuando habia votaciones venia un representante de Puerto que estaba en la mesa de votación y regalaba dos libras de azucar y tabaco ademas regalaba fotos y fichas de Somoza.“ (Gespräch mit Miguel Sarazo, 16.02.04) „En la epoca de elecciones mandaba comida, tabaco y licor de regalo.“ (Gespräch mit Vera Zúniga, 13.02.04) „En las elecciones regalaban tabaco y una libra de cafe.“ (Gespräch mit Magdalena Urtecho, 16.02.04)
Lediglich Miguel Sarazo vertritt eine völlig andere Auffassung: „Somoza tenia marginada a la Costa Atlántica. La comunidad era pobre y marginada por el gobierno central.“ (Gespräch mit Miguel Sarazo, 29.02.04)
15 Siehe dazu ausführlich den Abschnitt 2.1.3 76
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2.1.2 Die Beschäftigungsmöglichkeiten während der Diktatur Die Anwesenheit multinationaler – allen voran US-amerikanischer – Unternehmen16 und die damit verbundenen Erwerbsmöglichkeiten werden überwiegend positiv betrachtet. Trotz der relativ niedrigen Löhne war man mit den Einkommen zufrieden, da Kleidung und Nahrungsmittel ebenso preiswert erhältlich waren. Auch wenn der Verdienst lediglich acht Cordoba am Tag betragen hätte, wäre es zu dieser Zeit möglich gewesen, mit einem Betrag von 30 Cordoba die zum Feldanbau notwendigen Werkzeuge zu erwerben (Gespräch mit Pedro Anicama, 19.02.04; Gespräch mit ‚El Noruego‘, 19.02.04). Der Zentralstaat hätte sogar bei der besseren Entlohnung der Tätigkeiten geholfen: „En la primera empresa [Franklin Olan Company; H.M.] no habia pago de vacaciones y en Nipco [Nicaraguan Pine Lumber Company; H.M.] en un comienzo tampoco hasta llegó el gobierno central exigiendo el pago de vacaciones y se hizo.“ (Gespräch mit Pablo Chamorro, 25.02.04.)
Unabhängig von Alter und sozialem Status gibt die Mehrheit der Befragten an, dass sie über gute Erwerbsmöglichkeiten innerhalb und außerhalb der comunidad verfügte: „La gente que vive en el muelle en Puerto se fueron por trabajo ya que en el Somocismo habia trabajo allá por lo de la bananera, ellos trabajaban con el ferrocaril y en el muelle.“ (Gespräch mit Pedro Anicama, 19.02.04) „Cuando regresé a Wawa encontré otra maderera al frente la mayoria de trabajadores eran de Wawa y tres trabajadores de Karata, el dueño era de Puerto Cabezas, Clerence Sanders, y ahi trabajé por cinco años hasta 1965.“ (Gespräch mit Pablo Chamorro, 25.02.04). „Standard Fruit Company plantó platanos a la orilla del rio. Habian muchos bananos y cuando estaban maduros la empresa los botaba en el agua y los pobladores se los comian. La gente de todas las comunidades cercanas trabajaban y los de aca iban por un tiempo. La mayor parte trabajaba en el muelle como estigadores – miembros del sindicato cargadores.“ (Gespräch mit Genardo Esquivel, 24.01.04).
Allerdings sind zu diesem Aspekt auch gegenläufige Auffassungen vorzufinden. So stehen sich etwa die Aussagen zweier älterer Bewohner konträr gegenüber: „En esa epoca no habia trabajo y si habia pagaban poco.“ (Gespräch mit ‚El Obrero‘, 18.02.04). „En el Somocismo habia bastante trabajo en el barco y la comida era barata.“ (Gespräch mit ‚El Noruego‘, 16 Die Atlantikküste wurde von der Diktatur generell als Enklave angesehen, mit der sich über die Bewilligung von Konzessionen (bspw. Bananenanbau, Holzeinschlag, etc.) gutes Geld verdienen ließ. An einer infrastrukturellen Entwicklung dieser Region war die Diktatur ebenso wenig interessiert wie der Bildung der ansässigen Bevölkerung (vgl. Gabbert 1992: 145; 168f.). 77
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19.02.04). Meines Erachtens lassen sich die widersprüchlichen Aussagen der beiden Gesprächspartner nur durch die nähere Betrachtung ihrer sozialen Umgebung auflösen. Es fällt auf, dass ‚El Noruego‘ im barrio ‚Wawa arriba‘ lebt. Wie bereits weiter oben erwähnt, soll sich insbesondere zwischen ‚Wawa arriba‘ und ‚Wawa abajo‘ eine sozioökonomische Hierarchie herausgebildet haben. Durch die verstärkte Arbeitsmigration der Bewohner von ‚Wawa arriba‘ hätten die dort lebenden Personen bessere Verdienstmöglichkeiten erlangt. Man beachte, dass sich ‚El Noruego‘ in seiner Aussage auch explizit auf einen externen Lohnerwerb („habia bastante trabajo en el barco“) bezieht. ‚El Obrero‘ wiederum lebt im barrio ‚Wawa abajo‘, das eine ähnliche ökonomische Entwicklung nicht vorweisen kann. Es ist davon auszugehen, dass die individuell in dieser Epoche gemachten Erfahrungen immer noch in der Erinnerung der beiden Personen eine große Rolle spielen. Möglicherweise hat auch die Gesprächsumgebung dazu beigetragen, dass diese gegensätzlichen Aussagen getroffen wurden: Da ‚El Noruego‘ fast ausschließlich Mískito spricht, wurde der älteste Sohn des Reverendo als Übersetzer hinzugezogen. Der Reverendo wiederum stellt eine der einflussreichsten Autoritäten in der comunidad dar und äußerte sich mitunter positiv zur Diktatur.17 Aufgrund der tiefen Religiosität von ‚El Noruego‘ und seiner starken Einbindung in die kirchlichen Aktivitäten ist seine Meinung wahrscheinlich durch die Anwesenheit eines der Söhne des Reverendo beeinflusst worden. Demgegenüber war beim Gespräch mit ‚El Obrero‘ lediglich die Ehefrau anwesend, die den Ausführungen ihres Mannes stets mit einem zustimmenden Kopfnicken folgte. Auch bei Miguel Sarazo, der sich als Einziger kritisch hinsichtlich der Beschäftigungsmöglichkeiten während der Diktatur äußert, ist der individuelle Hintergrund zu beachten: In seinem Fall kommt ein politischer Faktor zum Tragen weil Sarazo aufgrund seiner Zugehörigkeit zu den Sandinisten generell die Diktatur scharf kritisierte.18 2.1.3 Der Einfluss der anwesenden Nationalgardisten (guardia nacional) auf das Zusammenleben der Bewohner Zunächst wird von den Befragten erwähnt, dass sich lediglich eine Handvoll Nationalgardisten vor Ort befunden hätte, die die Einfahrt zur Lagune von Karatá und das offene Meer beobachtet und etwaige Vorkommnisse
17 Dass auch beim Reverendo ein doppelter Diskurs hinsichtlich der Diktatur festzustellen ist, werde ich weiter unten verdeutlichen. 18 Die in diesem Abschnitt genannten Charaktere werden im weiteren Verlauf meines Diskurses noch eine tragende Rolle spielen. Dabei werden sich die bereits hier kurz beschriebenen Einflüsse auf Meinung und Verhalten noch stärker herauskristallisieren 78
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nach Puerto Cabezas gemeldet hätten.19 Ein genauerer Blick auf die erhaltenen Stellungnahmen macht jedoch deutlich, dass die dargestellte Zufriedenheit mit der Diktatur relativiert wird. Die guardia nacional hätte ein Klima der Angst verbreitet und ihre Machtposition dazu missbraucht, Weisungen zu erteilen und für deren strikte Einhaltung zu sorgen: „En el Somocismo el pueblo tenia miedo a los militares y las ordenes se cumplió.“ (Gespräch mit Vera Zúniga,13.02.04) „En el Somocismo la gente participaba por miedo a la guardia ya que si no llegó a las reuniones el juez lo denunciaba a la guardia. Entonces la guardia ponia una sanción que podia ser un castigo o una multa. Los motivos de las reuniones eran para hacer limpieza en la comunidad y cuando la gente no participaba se llamaba a la guardia para que les de una sanción. No existia competencia entre el juez20 y la guardia. La guardia hacia cumplir las leyes con la ley de Somoza y la gente tenia miedo de ir a la carcel y por lo general se hacia con el juez pero si la persona no hacia caso se tenia que ir con la guardia.“ (Gespräch mit Genardo Esquivel, 24.01.04)
Bei der zitierten Meinung von Genardo Esquivel spielt der Gesprächspartner Miguel Sarazo eine zentrale Rolle. Im vorliegenden Fall hat die Gesprächsumgebung zu Esquivels weiter oben erwähnten Positionierung gegenüber der Diktatur beigetragen: Da Esquivel genauso wie ‚El Noruego‘ nur Mískito spricht, wurde zu dieser Unterhaltung Miguel Sarazo als Dolmetscher herangezogen. Da er aber große Teile der Befragung selbst beantwortete, ist davon auszugehen, dass er bei der Übersetzung sehr viel von seinen eigenen Ansichten wiedergab. Darüber hinaus war mit zunehmender Dauer des Gesprächs zu beobachten, dass Sarazo immer mehr den Part des Protagonisten übernahm und Esquivel kaum mehr zu Wort kommen ließ. Da er den Ausführungen Sarazos nicht widersprach, kann von seiner überwiegenden Zustimmung ausgegangen werden. Allerdings werden auch hier die persönlichen Auffassungen Miguel Sarazos überwogen haben. Des Weiteren ist anzumerken, dass die eben zitierten Gesprächspartner nicht mit den in Abschnitt 2.1.1 aufgeführten Personen übereinstimmen. Es steht zu vermuten, dass die Diktatur von den Befragten lediglich auf die in Wawa Bar anwesende guardia nacional fokussiert wird. In diesem Zusammenhang geben die individuellen Hintergründe der Ge19 Die Angaben sind zu diesem Punkt widersprüchlich. Die Anzahl der anwesenden Nationalgardisten bewegt sich laut Aussagen der Befragten zwischen zwei und 10 Soldaten. 20 Als Juez Comunal (Mískito: Wihta) wird ein kommunaler Richter bezeichnet, der traditionell das Recht besitzt, einen Delinquenten bei kleineren Vergehen selbst abzuurteilen. Nur bei größeren Verstößen gegen das friedliche Zusammenleben der comunidad obliegt ihm die Pflicht, die entsprechende Person den Behörden in Puerto Cabezas zu überstellen. Über weitere Aufgaben des Juez Comunal siehe Abschnitt 3.2 79
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sprächspartner mehr Aufschluss über diese Aussagen. Anhand eines Fallbeispieles soll dies verdeutlicht werden. 2.1.4 Fallbeispiel: Die widersprüchlichen Aussagen Vera Zúnigas zur Diktatur und ihr persönlicher Hintergrund Vera Zúniga ist Mitte der 1970er Jahre ca. 15 Jahre alt. Sie kommt mit einem in Wawa Bar stationierten Nationalgardisten in Kontakt, in den sie sich verliebt und mit dem sie sich schließlich verheiratet. Bei Gesprächen über ihre persönlichen Erfahrungen zur Diktatur werden Widersprüche in ihrem Diskurs sichtbar. Zuerst äußert sie, dass Somoza den Dorfgemeinschaften zwar geholfen, diese aber nie besucht hätte: „Somoza ayudaba a las comunidades pero no visitaba.“ (Gespräch mit Vera Zúniga, 03.02. 2004). In einem weiteren Gespräch führt sie aus, dass sich Somoza gegenüber der Dorfgemeinschaft nie schlecht verhalten, dieser aber auch nicht geholfen hätte: „Somoza no ayudaba a los pueblos, era bueno y malo pero con el pueblo nunca demostró la maldad.“ (Gespräch mit Vera Zúniga, 13.02.2004). Die Überprüfung der beiden Gesprächssituationen auf mögliche Einflüsse von außen ergibt keine Auffälligkeiten. Setzt man aber die Aussagen Vera Zúnigas mit der Meinung Miguel Sarazos in Beziehung, dann wird deutlich, dass der Ehemann Zúnigas seine Machtposition als lokal stationierter guardia nacional dazu benutzt, um persönliche Vorteile daraus zu ziehen: „Una vez al radiooperador de la guardia [el esposo de Vera, H.M.] quiso poner la ley de que todos los dueños de chinchorros sacarán una licencia y sin permiso no podian pescar, pero la gente se fue a pescar sin permiso, el llegó con su rifle y el pueblo lo malmató. Cuando esto llegó a Puerto la comunidad ganó el caso. El fue trasladado a otro lugar, esto pasó mas o menos en 1973 o 1974. El también queria aprobar la ley de pagar por cayuco.“ (Gespräch mit Miguel Sarazo, 29.02.04)
Wie es scheint, sieht sich Vera Zúniga mit einer Konflikt beladenen Situation konfrontiert: Auf der einen Seite ihre ethnische Zugehörigkeit zu den Mískito bzw. lokale Zugehörigkeit zur comunidad und auf der anderen Seite ihre Heirat mit einem aus einer anderen Region stammenden, Spanisch sprechenden Nationalgardisten, der sich den anderen Bewohnern der comunidad aus einer Position der Stärke heraus nähert. Zúniga scheint zwischen diese beiden Pole zu geraten. Dadurch werden meines Erachtens die Widersprüchlichkeiten in den Auffassungen Zúnigas hinsichtlich der Diktatur nachvollziehbar. 2.1.5 Die Herausbildung einer Konkurrenzsituation zwischen traditionellen Autoritäten Bei der in Abschnitt 2.1.3 zitierten Aussage von Genardo Esquivel taucht noch ein weiterer interessanter Aspekt auf: Der gegenseitigen Zusammenarbeit zwischen dem kommunalen Richter (juez comunal) und den 80
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Nationalgardisten. Der juez comunal kann durch diese Kooperation offenbar seinen Einfluss auf die Bewohner Wawa Bars erhöhen. Dabei hätte sich unter dem Einfluss der Nationalgardisten auch ein Klima der Angst herausgebildet: „Entre los años 60 y 70 toda la comunidad indígena estaba más organizada, por ejemplo para sembrar iban todos un día y lo hacian todo o cuando se construia una casa era en un día con la ayuda de todos. Si el juez decia que tal día iban a limpiar todo el pueblo la gente ayudaba o si no pagaba una multa. Tal vez era por la influencia que tenia la guardia. En esa epoca si no obedecian al juez, el los llevaba a la guardia y tenian miedo.“ (Gespräch mit Arturo Faro, 03.03.04).
Bei den zitierten Gesprächspartnern fällt auf, dass sowohl Arturo Faro als auch Genardo Esquivel eine Autoritätsfunktion in der comunidad ausüben. Faro fungiert als Reverendo der Mährischen Kirche (Iglesia Morava) und Esquivel ist Mitglied des Ältestenrates (Consejo de Ancianos). Ihre Aussagen lassen sich dahingehend interpretieren, dass durch die erweiterte Autorität des Juez Comunal der Einfluss der anderen traditionellen Autoritäten auf die Bewohner Wawa Bars geschmälert wurde. Interessanter Weise wird die Iglesia Morava in den Aussagen aller Befragten zur Diktatur aber gar nicht erwähnt. Daraus kann man wiederum schlussfolgern, dass die Kirche keinen repressiven Maßnahmen seitens der Nationalgarde ausgesetzt war. Diese nunmehr positive Darstellung der guardia nacional lässt sich aus der Aussage Faros herauslesen: „Siempre la guardia se cambiaba cada tres meses ya que a veces ellos tomaban y hacian daño, tiraban balas y el juez informaba a Puerto y lo cambiaban. Una vez un guardia mató a un operador. La guardia y el juez hacian la ley en la comunidad. La guardia no molestaba a la comunidad solo cuando tenia un mal comportamiento.“ (Gespräch mit Arturo Faro, 03.02.04)
Beim Vergleich der beiden Aussagen spiegelt sich der doppelte Diskurs Faros hinsichtlich der guardia nacional wider: Ihre Beschreibung fällt sowohl positiv als auch negativ aus. Die unterschiedlichen Darstellungen der traditionellen Autoritäten und der Iglesia Morava während der Diktatur weisen darauf hin, dass sich in der Tat eine Konkurrenzsituation herausgebildet hat: Während Arturo Faro die Existenz der traditionellen Autoritäten – mit Ausnahme des Juez Comunal – negiert,21 werden von Miguel Sarazo die Restriktionen der Nationalgardisten und die damit verbundenen Einschränkungen hinsichtlich der traditionellen Ämterausübung hervorgehoben: „En el Somocismo la organización de la comunidad era un poco diferente ya que solo habia un juez.“ (Gespräch mit Arturo Faro, 03.02.2004) 21 Dies ist sicherlich darauf zurückführen, dass Faros Bruder Aramis zum Zeitpunkt der Untersuchung das Amt des lokalen Juez Comunal bekleidete. 81
KULTURELLES ERBE ALS IDENTITÄTSSTIFTENDE INSTANZ? „Entre los años 70 y 80 el pueblo si participaba en las reuniones. La comunidad era pobre y marginada por el gobierno central y la gente creía más en los ancianos y en la iglesia.“ (Gespräch mit Miguel Sarazo, 29.02.2004). „En el somocismo no se respetaba a las autoridades tradicionales solo a la guardia.“ (Gespräch mit Miguel Sarazo, 11.03.2004).
Der folgende Abschnitt wird sich mit der alltäglichen Wahrnehmung des Sandinismus seitens der Bewohner auseinandersetzen. Zu Beginn soll mit einem kurzen Exkurs die spezifische Rolle des Mískito Brooklyn Rivera beleuchtet werden. 2.2 Der Sandinismus: Der Widerwille gegen die neuen Machthaber 2.2.1 Exkurs: Die Rolle des Mískito Brooklyn Rivera beim beginnenden Konflikt Mískito-Sandinisten und sein Einfluss in der comunidad Die Darstellung der individuellen und kollektiven Erinnerung der Bewohner an die sandinistische und postsandinistische Ära wäre ohne Berücksichtigung des von Brooklyn Rivera geführten Diskurses und seiner Rolle beim militanten Konflikt zwischen Mískito und Sandinisten unvollständig.22 Aufgrund seiner zentralen Rolle bei den politischen Auseinandersetzungen zwischen dem nicaraguanischen Zentralstaat und den indigenen Eliten an der Atlantikküste bzw. seinem Diskurs bezüglich der Selbstverwaltung der Region übte er einen Einfluss auf den weiteren Verlauf des Zusammenlebens innerhalb Wawa Bars aus. Dieser Diskurs spiegelt sich auf der Mikroebene der comunidad wider und muss zum Verständnis der Handlungsabläufe der sozialen Akteure berücksichtigt werden. Mit einem kurzen Exkurs zu seiner Person soll diesem Umstand Rechnung getragen werden. Zu Beginn sei erwähnt, dass der Sturz der Diktatur durch die sandinistische Revolution in Wawa Bar begrüßt wurde: „El triunfo se anuncio por radio desde Puerto [Cabezas; H.M.] y las guardias se rindieron o se huyeron a Honduras. La población estaba alegre del triunfo porque no sabia la politica del FSLN y creia que eran como Sandino que mataba a los gringos y solo estaba bien con los Mískitos y los Sumus. El primer año los Sandinistas trabajaban bien. Vinieron a prometer que iban a ayudar a los pobres y que la revolución era para el pueblo, la gente confió.“ (Gespräch mit Pedro Anicama, 19.02.04)
Dem Zitat ist nicht nur zu entnehmen, dass die Bevölkerung über die sandinistische Revolution unterrichtet war. Sie verdeutlicht auch, dass der 22 Eine umfassende Darstellung seiner Rolle in diesem Konflikt würde den hier gesetzten Rahmen sprengen. Für eine tiefer gehende Beschäftigung mit diesem Aspekt verweise ich auf weiterführende Literatur: Azzellini (1993: 61ff.); Hale (1987: 261ff.); Ohland/Schneider (1982). 82
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Guerilla-Kampf Sandinos an der Atlantikküste immer noch in den Köpfen der Bewohner präsent ist.23 Dass die Bevölkerung dem Machtwechsel zustimmend gegenüberstand, wird darauf zurückgeführt, dass Rivera insbesondere die jüngere Generation auf einer Versammlung in Puerto Cabezas über das nahende Ende der Diktatur informierte. Da während der Diktatur alle administrativen Tätigkeiten an der Atlantikküste von Personen aus dem pazifischen Landesteil ausgeübt wurden, hätten die Mískito nun selbst die Kontrolle über die Verwaltung der Atlantikküste übernehmen können: „Brooklyn vivio aca porque su padastro era de Wawa, ya de joven va estudiar a Managua y saca la licenciatura, ya en el pacifico habia empezado la guerra y el miraba que Somoza iba a caer y que el FSLN ganaria. El viene a Puerto e invita a todos los jovenes a una asamblea: ‚Nosotros tenemos que organizarnos como Mískitos de las comunidades porque Somoza caerá y cuando el FSLN gane, nosotros vamos aprovechar y manejar nuestra Costa para todo trabajo.‘ Antes toda la gente que trabajaba en las oficinas y en los colegios, etc. eran del pacifico y todos los jovenes estaban de acuerdo.“ (Gespräch mit Arturo Faro, 03.03.04).
Dass auch die Bewohner Wawa Bars den Diskurs Riveras positiv aufnahmen, hängt sicherlich damit zusammen, dass er als junger Mann bei seinem Stiefvater in der comunidad aufwuchs. Es ist davon auszugehen, dass die Bewohner den Ideen und Auffassungen Riveras aufgeschlossen gegenüberstanden und diese mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunft verknüpften. Die hohe Erwartungshaltung wird aber in den folgenden Jahren enttäuscht. Einerseits hätte Rivera in Wawa Bar hinsichtlich der von den Sandinisten geplanten Abschaffung des kommunalen Landbesitzes in den comunidades ein Bedrohungsszenario inszeniert. Andererseits hätte er den Bewohnern sozioökonomische Verbesserungen in der Zukunft suggeriert:
23 Während seines nationalen Befreiungskampfes gegen die US-amerikanische Intervention in den 1920er Jahren weitete Sandino seinen Aktionsradius auf die Atlantikküste aus und kam dabei auch in den Kontakt mit Angehörigen der Mískito. Er nahm einzelne Personen als Kämpfer, Bootsführer oder Ortskundige in sein Revolutionsheer auf und ging daran, die seiner Auffassung nach ausbeuterischen Produktionsmethoden der ansässigen multinationalen (allen voran US-amerikanischen) Unternehmen mitsamt ihrer Technologie zu zerstören. Während Sandino für dieses Vorgehen bis heute an der Pazifikküste Nicaraguas als Nationalheld verehrt wird, ist er für die Bevölkerung der Atlantikküste nichts weiter als ein Bandit, der den Menschen die Arbeitsplätze geraubt hätte. Umso mehr verwundert es, dass die Befragten positiv über Sandino sprechen. Für die weiter gehende Beschäftigung mit dem antiimperialistischen Kampf Sandinos siehe Wünderich (1987: 99139). 83
KULTURELLES ERBE ALS IDENTITÄTSSTIFTENDE INSTANZ? „Con el triunfo todo estaba tranquilo pero Brooklyn comenzó a organizar a los Mískitos diciendo que el FSLN iba a quitar la tierra a los Mískitos. Brooklyn dijo que si llegaba a ser presidente, seria un Mískito y que cada uno sera millionario, que a los hijos los mandaria a estudiar, que iba a elegir un rey de la Costa Atlántica.“ (Gespräch mit Pablo Chamorro, 25.02.04)
Die führende Rolle, die Brooklyn Rivera bei dem sich immer stärker abzeichnenden Konflikt zwischen Sandinisten und Mískito einnimmt, führt dazu, dass er schon als Präsident der Atlantikküste angesehen wird. Dadurch hätte er auch unter den Bewohnern Wawa Bars zu einer Mentalität beigetragen, die sich in Sezessionsgedanken der Atlantikküste von den restlichen Landesteilen Nicaraguas geäußert hätte. Die von Rivera betriebene Mobilisierung führte schließlich zu seiner Verhaftung. Damit wurde die militante Auseinandersetzung zwischen Mískito und Sandinisten überhaupt erst ins Rollen gebracht: „Los Mískitos pensaban que Brooklyn y Steadman24 eran dirigentes, como presidentes. Decian vamos a quitar la Costa Atlántica al gobierno, esa era la mentalidad de esa epoca.“ (Gespräch mit Felton Allen, 03.03.04) „Y de ahi empezó la guerra cuando detuvieron a Brooklyn y su gente. Todos los Mískitos decidieron a luchar como ha luchado el.“ (Gespräch mit Pedro Anicama, 19.02.04)
Nach der Wahlniederlage der Sandinisten im Jahr 1990 wird unter der Nachfolgeregierung bzw. der Präsidentin Violeta Chamorro das Institut für die Entwicklung der Atlantikküste (Instituto del Desarrollo de la Costa Atlántica, INDERA) gegründet. Da Rivera den Vorsitz dieser Institution übernimmt, gehen die Bewohner Wawa Bars von einer Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse aus. Allerdings werden sie mit der Untätigkeit Riveras konfrontiert: „Brooklyn hizo un trato con ella [Violeta Chamorro, H.M.] para ser ministro de INDERA y se fue a Managua. Y no cumplió con lo que dijo en la Costa. El gobierno de Violeta se dio cuenta de Brooklyn, es un lider y no hablaria a favor de los Mískitos si el estaba con el gobierno.“ (Gespräch mit Genardo Esquivel, 29.01.04) „En el gobierno de Doña Violeta, Brooklyn era ministro de la Costa Atlántica. Violeta lo puso para que se ocupe de la Costa y le dieron un buen presupuesto, el estaba en Managua y venia a Puerto, prometia a las comunidades pero no hizo nada y en el siguiente año el gobierno se dio cuenta de que no habia gastado el presupuesto entonces le dieron menos y cada vez menos. Los Míski24 Der Mískito Steadman Fagoth ist der zweite Protagonist während des beginnenden Konflikts. Wie auch Rivera kann er einer längeren Inhaftierung durch seine Flucht nach Honduras entgehen. Dort beginnt er den bewaffneten Widerstand gegen die Sandinisten zu organisieren (vgl. Hale 1987: 264f.). 84
ETHNOGRAPHIE DER COMUNIDAD WAWA BAR tos vieron esto y hablaron en contra de el ya que el gobierno apoyó a la Costa Atlántica pero el no hizo nada.“ (Gespräch mit Arturo Faro, 03.03.04)
Diese Auffassungen zu Brooklyn Rivera ziehen sich wie ein roter Faden durch die geführten Gespräche. Es herrscht Einigkeit darüber, dass sich Rivera nach Übernahme eines gut bezahlten Postens in Managua nicht mehr für die Belange der Atlantikküste eingesetzt hätte. Aussagen wie „Brooklyn es un mentiroso“ (Gespräch mit Genardo Esquivel, 27.02.04) oder „Brooklyn dijo que ahora voy a ser ministro y no les faltará nada pero fue mentira“ (Gespräch mit Magdalena Urtecho, 16.02.04) verdeutlichen den Vertrauensverlust in seine Person. Die Befriedigung eigener Interessen würde nunmehr im Vordergrund stehen: „Cuando el FSLN y PLC en el gobierno regional se unen y el [Brooklyn Rivera; H.M.] no tiene un puesto de trabajo en el gobierno regional el no esta de acuerdo pero cuando trabaja en el gobierno el esta de acuerdo. Esto surge de un interes personal. El solo quiere actuar cuando tiene un cargo principal.“ (Gespräch mit Miguel Sarazo, 03.04.04; 26.04.04)
Bei der Durchsetzung seiner persönlichen Interessen würde Rivera auch heute noch die Bewohner für seine politischen Ränkespiele instrumentalisieren: „Si Brooklyn quiere hacer la ley a su favor invita a alguien de la comunidad que es de YATAMA25 para que hable a su favor.“ (Gespräch mit Miguel Sarazo, 19.04.04). Dies scheint dazu geführt zu haben, dass die Sympathie der Bewohner Wawa Bars gegenüber der – auch von Rivera – während der militanten Auseinandersetzung gegründeten GuerillaBewegung YATAMA schwindet und sich eine politische Polarisierung in der comunidad abzuzeichnen beginnt: „Brooklyn ya no lucha como antes. YATAMA esta amarrado con FSLN. Antes era una organización indígena ahora es un partido político.“ (Gespräch mit Arturo Faro, 03.03.04) „Anteriormente la comunidad era 100% Yatama y por engaños de Brooklyn Rivera la comunidad se convirtió en 50% PLC y 50% Yatama.“ (Gespräch mit Miguel Sarazo, 12.01.04)
In einem anderen Gespräch widerspricht sich der zitierte Miguel Sarazo. Während er bei einer weiteren Diskussion mit Genardo Esquivels als Übersetzer fungiert, äußert er sich in anderer Form: „La ley 28 deberia estar con los Mískitos pero Brooklyn les desfraudó. El 100% de YATA25 YATAMA: Yapti Tasba Masraka Nani Aslatakanka; Hijos de la madre tierra; Söhne der Mutter Erde. Die YATAMA ist eine in den 1980er Jahren gegründete indigene Guerillaorganisation, die maßgeblich in den militanten Konflikt mit den Sandinisten verwickelt war. Sie wandelte sich nach 1990 in eine politische Partei, die insbesondere in der RAAN im Regionalparlament vertreten ist. 85
KULTURELLES ERBE ALS IDENTITÄTSSTIFTENDE INSTANZ?
MA se fue al PLC.“ (Gespräch mit Genardo Esquivel, 29.01.04). Dass sich Sarazo unterschiedlich positioniert, hat mit der Gesprächsumgebung zu tun: Die oben zitierte Aussage traf er allein bei einem Gespräch auf der Veranda seines Hauses. Demgegenüber traf er seine zweite Aussage während des Gesprächs mit Esquivel. Dieses fand wiederum auf der Veranda von Esquivels Haus statt – im Beisein seiner drei Söhne. Da Genardo Esquivel ein großer Anhänger des ehemaligen PLC-Präsidenten Arnoldo Alemán ist, kann davon ausgegangen werden, dass Sarazo die von Esquivel ungeliebte YATAMA nicht erwähnen wollte. Ich werde in Abschnitt 2.2.4 noch eingehender auf die Rolle der YATAMA zu sprechen kommen. Zunächst sollen aber die Aussagen der Bewohner hinsichtlich der Epoche der Sandinisten dokumentiert werden. 2.2.2 Die individuelle und gruppenspezifische Wahrnehmung des Sandinismus: Beschäftigungs-, Einkommens- und Bildungs- möglichkeiten Hinsichtlich der Beschäftigungs- und Einkommensmöglichkeiten äußert sich lediglich der Fischer Salvador Juanes, der von der veränderten Situation profitieren konnte: Nach Beendigung der Kampfhandlungen,26 die auch Wawa Bar in Mitleidenschaft gezogen hatten, wurden von den Sandinisten Fangnetze auf Kreditbasis an die lokalen Fischer abgegeben. Juanes hätte als erster damit begonnen, diese Fangnetze gewinnbringend einzusetzen. Durch die höheren Fangmengen und den erzielten Gewinnen verfügt er heute über zwei eigene Boote mit Außenbordmotoren und fährt selbst nicht mehr zum Fischen auf das Meer hinaus (Gespräch mit Salvador Juanes, 27.01.04). Auch hinsichtlich der Bildungsmöglichkeiten äußert sich lediglich ein einziger Bewohner Wawa Bars – der Direktor der ansässigen Schule: „Desde el Sandinismo existen dos programas: Paeser, que es maestro en casa, esto es por radio, este funciona más o menos y educación para adultos pero esto funciona muy poco. En el Sandinismo los maestros ganaban más, se daba una canasta basica.“ (Gespräch mit Dionisio Marenco, 17.02.04)
2.2.3 Der militante Konflikt und die sozialen Folgen Der folgende Abschnitt soll verdeutlichen, dass sich der überwiegende Teil der Bewohner Wawa Bars nicht mit der sandinistischen Politik identifizieren konnte. Der Sandinismus wird mit Begriffen wie Krieg, Flucht, permanente Kontrolle und damit verbundenen Einschränkungen bzw. repressiven Maßnahmen umschrieben. Insbesondere die Einschränkung der eigenen Bewegungsfreiheit wird als Zwang empfunden: „En el Sandinismo la población tenia presión porque no habia libertad. Por ejemplo no se podia ir a los Cayos Mískitos para pescar langosta y si queria 26 Im folgenden Abschnitt 2.2.3 wird auf den militanten Konflikt zwischen Sandinisten und Mískito näher eingegangen. 86
ETHNOGRAPHIE DER COMUNIDAD WAWA BAR hacerlo primero habia que ir a Puerto Cabezas sacar un permiso donde se avisaba cuantas personas iban, cuantos días y el indígena queria su libertad de donde ir a pescar o sembrar.“ (Gespräch mit Arturo Faro, 03.02.04). „En el gobierno de los Sandinistas la gente estaba intranquila porque no podia movilizarse libremente, no podia ir al monte ni a pescar porque los Sandinistas decian que eran de la Contra Mískita, y todo lo tenian que hacer hacian con miedo.“ (Gespräch mit Genardo Esquivel, 29.01.04)
Der militante Konflikt zwischen Sandinisten und Mískito hat zur Folge, dass auch die Bevölkerung Wawa Bars in Kampfhandlungen verwickelt wird. Die Bombardierung und anschließende Besetzung der comunidad durch das sandinistische Militär hat zur Folge, dass die Mehrheit der Bewohner in den umliegenden Dschungel flieht oder versucht, sich zu Verwandten in andere Dorfgemeinschaften durchzuschlagen: „Cuando habia el combate se fueron al monte, Wounta, Haulover, Walpa Siksa. Yo con mi familia estuvimos en Haulover una semana, Wounta, y Walpa Siksa en total estuvimos a fuera por tres semanas y de ahi llego la cruz roja a recogernos, cuando llegaron a Wawa estaban los militares, habian dos cuarteles en la punta.“ (Gespräch mit Pedro Anicama, 19.02.04)
Nicht nur das unfreiwillige Verlassen Wawa Bars wird als traumatisches Ereignis wahrgenommen. Als die Bewohner auf Initiative des internationalen Roten Kreuzes nach Wawa Bar repatriiert werden, sehen sie sich Repressionen, Verdächtigungen und unbefriedigenden Lebensbedingungen ausgesetzt: Nach ihrer Rückkehr müssen sie feststellen, dass die Sandinisten nicht nur Kühe und Schweine geschlachtet haben, sondern mittels restriktiver Kontrollen der Bewohner die Wiederaufnahme der Felderwirtschaft und der Fischerei unterbinden: „Despues de un mes regresaron a la comunidad con la ayuda de la cruz roja internacional. El Frente [Sandinista; H.M.] no permitió a la gente ir a pescar ni ir a sembrar en sus plantaciones. Si ellos daban permiso de ir a sembrar era por dos horas y la gente tenia que estar puntual si no tenia problemas.“ (Gespräch mit Arturo Faro, 16.01.04) „Cuando regresaron a Wawa los militares se habian comido todas las gallinas, vacas, arroz, cerdos, yuca y habian tres bases militares. Además los Mískitos no podian salir al monte porque decian los Sandinistas que iban alimentar a la Contra. Los Sandinistas todo revisaban, si te encontraban con agua florida, mejoral o zepol te acusaban de contacto con la Contra ya que estos productos venian de Honduras, asi que habia que esconder o quemar las cosas despues de usarlas.“ (Gespräch mit Magdalena Urtecho, 16.02.04)
Zwar werden die Bewohner nach Beendigung der Kampfhandlungen und erfolgter Repatriierung von den Sandinisten mit Nahrungsmitteln versorgt. Dessen Qualität wird jedoch – wie auch das Fehlen alltäglicher Gebrauchsgegenstände – als negativ empfunden: 87
KULTURELLES ERBE ALS IDENTITÄTSSTIFTENDE INSTANZ? „En esa epoca se recibia una libra de azucar negra por persona esto era quincenal, el frijol era grande y malo, el jabon no servia, esto lo enviaba Cuba. La gente no tenia mosquiteros y los hacian de sacos de harina.“ (Gespräch mit Magdalena Urtecho, 16.02.04)
Ein weiteres Merkmal stellt die grundsätzliche Ablehnung des obligatorischen Militärdienstes SMP (Servicio Militar Popular) dar, den die Sandinisten mit zunehmender Dauer des Contra-Krieges einführen. Um sich dem SMP zu entziehen, flüchten insbesondere die jüngeren männlichen Bewohner aus Wawa Bar. Wer den näheren Umkreis der comunidad nicht verlassen wollte, versteckte sich in der Umgebung vor den sandinistischen Truppen (Gespräch mit Magdalena Urtecho, 16.02.04; Gespräch mit Pedro Anicama, 19.02.04). 2.2.4 Die Rolle der YATAMA Nicht nur die Sandinisten, sondern auch die YATAMA hätte einen negativen Eindruck bei den Bewohnern hinterlassen. Unabhängig von den politischen Überzeugungen der befragten Personen lässt sich dies an ihren Aussagen ablesen: „La gente vio que los de YATAMA son malos porque torturaban a la gente. Por ejemplo si ‚El Obrero’ no les vendia primero el tenia problemas. Alguna gente decia de YATAMA que los animales vienen a molestar a la comunidad.“ (Gespräch mit Pablo Chamorro, 25.02.04) „En la guerra de los Sandinistas y los de YATAMA se comian a los animales de la comunidad y cuando la gente regresó a la comunidad no tenia nada.“ (Gespräch mit Arturo Faro, 03.02.04)
Auch die sich nach Beendigung des militanten Konflikts immer stärker herausbildende Zusammenarbeit zwischen YATAMA und Sandinisten wird negativ beschrieben: „Ahora todo el mundo sabe que YATAMA esta involucrado con FSLN y por eso tenemos desconfianza en YATAMA. Las organizaciones pequeñas estan apoyando al Sandinismo. Si nosotros apoyamos a YATAMA estamos apoyando al Sandinismo.“ (Gespräch mit Pedro Anicama, 22.04.04) „Hasta ahora la comunidad no sabe con cuantos consejales se puede buscar un coordinador y por eso dicen que si le dan el voto a YATAMA. Siempre se une con el FSLN.“ (Gespräch mit Miguel Sarazo, 26.04.04).
Die auf regionaler Ebene ausgetragenen politischen Grabenkämpfe haben dazu geführt, dass sich innerhalb der comunidad ein an parteiischer Einflussnahme orientiertes Denken etabliert hat. Die u.a. von Rivera ursprünglich vorgetragene Losung der YATAMA auf ökonomische Besserstellung der costeños hat aufgrund der vorherrschenden Verhältnisse dazu geführt, dass die Bewohner jeder Partei ihre Stimme geben würden, 88
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sofern sie im Gegenzug bei einem potentiellen Wahlsieg Hilfe zugesichert bekämen: „El gobierno regional no apoya en nada. YATAMA dice que tiene la autonomía de los Mískitos pero no se maneja, pienso que solo dan algo a los partidistas es decir cuando una comunidad apoya las elecciones el partido ganador ayuda a la comunidad.“ Gespräch mit Pedro Anicama (04.04.04).
Die Abwendung von indigenen Organisationen und Parteien geht sogar so weit, dass eine direkte Hinwendung an die Zentralregierung eingefordert wird: „Nosotros tenemos que apoyar más al gobierno central porque son más superiores.“ (Gespräch mit Pedro Anicama, 22.04.04). Allerdings stehen die Bewohner Wawa Bars mit solchen Auffassungen nicht allein da. In einer 2002 veröffentlichten Studie wird darauf hingewiesen, dass erst die zwischen 1998 und 2002 in der RAAN regierende PLC eine erwähnenswerte kommunale Entwicklung angestoßen hätte. Dieses wird für die Amtszeit der YATAMA überhaupt nicht erwähnt: „En el gobierno de Alba [Rivera de Vallejos, H.M.] las comunidades por primera vez alcanzaron el desarrollo comunal, con construcción de escuelas, centro de salud, carreteras pavimentadas, becas, estadios, lanchas, mercados, agua, luz, teléfono.“ (Reyna/Peralta 2002: 15.).
Allerdings würde die Bevölkerung der gewählten Regionalregierung in der nördlichen Atlantikküstenregion nicht viel, dagegen den in diesem Landesteil tätigen Nichtregierungsorganisationen umso mehr Vertrauen schenken: „El Estado descuida su labor en el área social, papel que fue asumido por otras entidades no gubernamentales como: la salud y la educación. Ello permitió el incremento de la violencia, la actividad delincuencial y la profundización de la corrupción en todas asferas del Estado. […] La población de la RAAN confia más en los proyectos de desarrollo que llevan las agencias no gubernamentales hasta sus comunidades que las promesas del GRAAN [Gobierno de la Región Autónoma Atlántico Norte, H.M.] en sus circunscripciones, eso demuestra la poca ligitimidad del espacio autónomico regional y municipal, esta actitud de los entes gubernamentales ha permitido fortalecer el espacio más pequeño que es la comunidad.“ (Reyna/Peralta 2002: 14ff.).
2.2.5 Fallbeispiel: Persönliche Vorteilsnahme durch Sympathie für den Sandinismus und die individuellen sozialen Folgewirkungen Der Bootsbauer Miguel Sarazo ist Ende der 1970er Jahre ca. 20 Jahre alt. Er kommt mit dem Sandinismus über seinen Vater in Kontakt, der durch die sandinistische Organisierung der Bewohner einen Posten im CDS (Comite de Defensa Sandinista) erhält. Als die Sandinisten die comunidad wegen des Verdachts auf Unterstützung der YATAMA attackiert und die Bewohner aus Wawa Bar flüchten müssen, nutzt der Vater seine Nähe zu 89
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den Sandinisten, indem er sich in einem sandinistischen Betrieb einen Arbeitsplatz verschafft: „Al comienzo del Sandinismo habian CDS. Yo era CDS y llegue a Puerto cada fin del mes para una asamblea con todas las comunidades donde informaban los problemas de la comunidad al comandante de la región y el resolvia el problema. El CDS funcionaba como un juez comunal y despues los CDS cambiaron el nombre a delegado. Cuando habia la guerra yo me fui a trabajar en Puerto para una empresa sandinista, era una fabrica de bloques.“ (Gespräch mit Pablo Chamorro, 25.02.04)
Auch Sarazo kann von dieser Nähe profitieren: Er wird von den Sandinisten nach Odessa ans Schwarze Meer geschickt und erhält bei den dort stationierten russischen Truppen eine fünfjährige Ausbildung zum Schiffskapitän. Sein für die lokalen Verhältnisse hoher Bildungsgrad ist nicht zu übersehen: Er verfügt über ein relativ hohes Allgemeinwissen, liest aktuelle Ausgaben der Newsweek27 und informiert sich per Weltempfänger über die Geschehnisse in anderen Erdteilen. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Sarazo seinen Russland-Aufenthalt nie erwähnt, sondern lediglich davon berichtet, dass er zu Zeiten des Krieges in Puerto Cabezas gewesen wäre.28 Die Vorteile, die er und seine Familie während der sandinistischen Zeit genießen, verkehren sich nach Abwahl der Sandinisten in ihr Gegenteil: Während der Untersuchung war zu beobachten, dass sich Sarazo ausschließlich ohne Begleitung in der comunidad bewegte und bei seinen Rundgängen selten mit jemandem kommunizierte. Auch hinsichtlich seiner Kundschaft war festzustellen, dass die ihm übertragenen Arbeiten überwiegend von Familienangehörigen in Auftrag gegeben wurden. Hinsichtlich der sandinistischen Revolution ist Miguel Sarazo der Auffassung, dass der Konflikt zwischen Mískito und Sandinisten nur auf einem gegenseitigen Missverständnis beruhen würde. Auch sein Vater ist der Auffassung, dass der Sieg der sandinistischen Revolution keine Unruhe in der comunidad ausgelöst hätte. Erst Brooklyn Rivera hätte mit der Aussage, dass die Sandinisten Landenteignungen bei den Mískito vornehmen würden, erhebliche Unruhe unter den Bewohnern ausgelöst und signifikant zur allmählichen Zuspitzung der Situation beigetragen. Selbst als es zur bewaffneten Auseinandersetzung kam und sich die YATAMA in den Konflikt einschaltete, wäre die Gunst der Bevölkerung immer noch auf Seiten der Sandinisten gewesen: „La población tenia miedo de la 27 Während der Untersuchung lebte in Wawa Bar eine US-Amerikanerin, die bei der amerikanischen Nichtregierungsorganisation ‚Cuerpo de la Paz‘ tätig gewesen ist. Die an sie gesendeten Ausgaben der Newsweek gab sie nach Auslesen an Miguel Sarazo weiter. 28 Diese Information kam von einer Quelle in Puerto Cabezas und es hat ganz den Anschein, dass mit Ausnahme der Familie Sarazos niemand in Wawa Bar Kenntnis über diesen Auslandsaufenthalt besitzt. 90
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Contra y más confianza en el FSLN“ (Gespräch mit Pablo Chamorro, 25.02.04). Soweit die Aussagen der Befragten zur politischen Epoche der Sandinisten. Im Folgenden werden die Meinungen der Befragten zur Regierungszeit Violeta Chamorros dokumentiert. 2.3 Die Regierungszeit Violeta Chamorros: trotz wieder erlangter Bewegungsfreiheit keine neuen Beschäftigungsmöglichkeiten 2.3.1 Individuelle Wahrnehmungsunterschiede der neuen Regierung Die Befragten sind der Auffassung, dass die Region nach dem Ende des militanten Konflikts und vor allem nach der Abwahl der Sandinisten wieder zunehmend in Vergessenheit geraten sei. Sie berichten einhellig, dass sie sich zwar wieder frei und unkontrolliert in der Region bewegen konnten, allerdings eine benötigte staatliche Hilfe für die nach Kampfhandlungen ausgeblutete Region fast vollkommen ausblieb. Die Beendigung des Krieges und die wieder gewonnene Bewegungsfreiheit in der Region sind die positiven Aspekte, die von einigen Befragten hervorgehoben werden: „Cuando ganó la Violeta la gente estaba tranquila sin guerra.“ (Gespräch mit Genardo Esquivel, 29.01.04). „Con Violeta hubo un poco de libertad.“ (Gespräch mit Arturo Faro, 03.02.04). „En el tiempo de Violeta poco a poco mejoró la situación.“ (Gespräch mit Leonardo Ramirez, 11.01.04). Die neue Regierung ersetzt den Bewohnern die von Sandinisten und YATAMA getöteten Tiere und initiiert Maßnahmen zur Verbesserung der sanitären Situation: „En el gobierno de Violeta regalaron animales donde se perdieron por la guerra […] y vinieron muchos proyectos de letrina y pozos.“ (Gespräch mit Arturo Faro, 03.02.04). Den positiven Meinungen stehen aber auch Aussagen gegenüber, die verdeutlichen, dass nicht alle mit dieser neuen Situation zufrieden gewesen sind: Laut Miguel Sarazo hätten viele Bewohner die Meinung vertreten, dass die UNO-Regierung unter Violeta Chamorro von den Sandinisten gesteuert sei und die Mískito weiterhin nicht respektieren würde (Gespräch mit Miguel Sarazo, 26.04.04). Andere Befragte thematisieren die Untätigkeit der neuen Regierung: „Violeta no hizo nada solo fue presidenta.“ (Gespräch mit ‚El Noruego‘, 19.02.04). „Violeta no hizo nada lo unico que cambió es que no habia guerra.“ (Gespräch mit ‚El Obrero‘, 18.02.04). 2.3.2 Fehlende Beschäftigungsmöglichkeiten bei steigender externer Konkurrenz Trotz der wieder gewonnenen Bewegungsfreiheit stellen die Bewohner fest, dass ihnen externe Beschäftigungsmöglichkeiten kaum zur Verfügung standen. Insbesondere die Privatisierung und damit verbundene Entlassungen der von den Sandinisten errichteten Fischfabrik Atlanor werden explizit genannt. Es ist davon auszugehen, dass auch einige Bewohner 91
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Wawa Bars von diesen Entlassungen betroffen waren. Viele Hoffnungen, die die Bewohner nicht zuletzt durch Einbindung von Brooklyn Rivera in die neue Regierung verbanden, werden enttäuscht: „Con Violeta la gente dijo ahora si ganamos pero ella no hizo nada y no hubo trabajo. Brooklyn dijo ahora voy a ser ministro y no les faltará nada, pero fue mentira.“ (Gespräch mit Magdalena Urtecho, 16.02.04) „Brooklyn hizo un trato con ella [Violeta Chamorro; H.M.] para ser ministro de INDERA y se fue a Managua. Y no cumplió con lo que dijo en la Costa. El gobierno de Violeta se dio cuenta que Brooklyn es un lider y no hablaria a favor de los Mískitos.“ (Gespräch mit Genardo Esquivel, 29.01.04) „En el gobierno de Doña Violeta Brooklyn era ministro de la Costa Atlántica. Violeta lo puso para que se ocupe de la Costa y le dieron un buen presupuesto, el estaba en Managua y venia a Puerto, prometía a las comunidades pero no hizo nada y en el siguiente año el gobierno se dio cuenta de que no habia gastado el presupuesto entonces le dieron menos y cada vez menos. Los Mískitos vieron esto y hablaron en contra de el ya que el gobierno apoyo a la Costa Atlántica pero el no hizo nada.“ (Gespräch mit Arturo Faro, 03.03.04)
Fast zeitgleich werden internationalen Fangflotten Fanglizenzen in nicaraguanischen Gewässern zugesprochen. Dadurch entwickelt sich eine ernsthafte Konkurrenz für die traditionelle Fischerei. Als Reaktion darauf organisieren sich im Jahr 1995 die Fischer Wawa Bars und den umliegenden comunidades Karata, Tuapi, Haulover und Wounta in einer Kooperative (Gespräch mit Salvador Juanes, 27.01.04). Dabei werden jedoch extern gewährte Kredite nur an bestimmte Personen vergeben bzw. die traditionellen Autoritäten entscheiden, wer in den Genuss eines Kredites kommen soll: „La empresa compradora de pescados que debian organizarse en una coperativa, ya que venian japoneses iban a dar credito para ponkyns y asi que se formó la cooperativa, ahí se hicieron cinco o seis grupos de 12 personas y llegaron a conseguir personeria juridica. Esto fue un error ya que la companía no participó en el credito (ellos hubieran sabido quienes trabajaban activamente) sino que los representantes del gobierno y los japoneses vinieron a Wawa, hablaron con el Juez y el Sindico y fueron ellos que eligieron a la gente que recibio el credito de cinco ponkyns.“ (Gespräch mit Salvador Juanes, 09.02.04)
Nicht nur aufgrund der in der karibischen See operierenden Fangflotten werden die Fischer mit einer veränderten Situation konfrontiert: Mit dem Wegfall der während des Contra-Krieges von den Sandinisten betriebenen Überwachung der Seewege kommt es zur Herausbildung einer Drogen-
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ökonomie, die die soziale Interaktion der Bewohner Wawa Bars signifikant verändert.29 2.4 Die Bewunderung des Präsidenten Arnoldo Alemán und die individuelle Inanspruchnahme der neuen politischen Strukturen 2.4.1 Die Verbesserung der Lebensbedingungen generiert Sympathiebekundungen Im Gegensatz zu seiner Amtsvorgängerin Violeta Chamorro, die nie die comunidad besucht hätte, sei Präsident Arnoldo Alemán mehrere Male persönlich nach Wawa Bar gekommen und hätte die bei seinen Besuchen gegebenen Versprechen auch in die Tat umgesetzt. Mit diesem Auftreten trägt er zu einer Vielzahl von Sympathiebekundungen in der comunidad bei: Bei den Befragten sind kaum negative Meinungen über Arnoldo Alemán vorzufinden. Dass man ohne Kontrollen und Restriktionen wieder der täglichen Arbeit nachgehen konnte, wird dem Präsidenten zugeschrieben: „Alemán les dejo trabajar como querian y de acuerdo a su cultura, ademas hizo sus proyectos ya antes mencionado. El visitó tres o cuatro veces y la gente se sentia bien porque era un presidente que queria trabajar con el pueblo.“ (Gespräch mit Arturo Faro, 03.02.04)
Unabhängig von Alter, Geschlecht oder sozialer Stellung in der comunidad zieht sich die positive Beschreibung Arnoldo Alemáns wie ein roter Faden durch die Aussagen der Befragten. Selbst für den ansonsten so kritisch eingestellten Miguel Sarazo hätten sich unter Alemán die Lebensverhältnisse in der comunidad wesentlich verbessert: „Alemán en su gobierno vino en tres oportunidades y en su gobierno hubieron muchos avances en la comunidad: electricidad en diciembre de 1999, construyó el muelle, construyó la escuela primaria, complementó un telefono, entregó 28 cabezas de ganado, construyó un anden pequeño.“ (Gespräch mit Miguel Sarazo, 12.01.04)
Auch wenn die Aussagen zur Anzahl des geschenkten Viehs erheblich voneinander abweichen,30 wird die besondere Rolle Alemáns für die comunidad nicht in Frage gestellt – selbst dann noch, als die Begünstigten für den Transport des Viehs von Puerto Cabezas nach Wawa Bar nicht unwesentliche Summen zu übernehmen hatten: „La comunidad tenia que 29 Aufgrund der Signifikanz dieses Aspekts auf die soziale Organisation der Bewohner wird im Abschnitt 4.0 explizit auf die Drogenökonomie eingegangen. 30 Leonardo Ramirez beziffert die Anzahl des erhaltenen Viehs mit 250 Tieren (Gespräch mit Leonardo Ramirez, 11.01.04). 93
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pagar los gastos desde Puerto hasta aca entonces cada persona que recibió ganado tuvo que pagar 500 cordobas por cada ganado.“ (Gespräch mit Arturo Faro, 03.03.04). Dass man sich überdies mit anderen erhaltenen Schenkungen bereichern könnte, wird ebenso wenig Alemán, sondern anderen Stellen zugeschrieben: „El [Alemán; H.M.] dio material para adoquinar la calle pero solo adoquinaron el camino de la iglesia porque alguien llenó sus bolsas.“ (Gespräch mit Leonardo Ramirez, 11.01.04). Miguel Sarazo erwähnt, dass die Kosten für den betonierten Weg, der zur Iglesia Morava angelegt wurde, von der amtierenden PLC-Regionalregierung unter Alba Rivera übernommen worden sei: „El adoquinamiento que hay fuera de la iglesia fue donado por el gobierno regional de Alba Rivera, se hizo una licitación donde Raúl, el Sindico en ese periodo, y su cuñado ganaron. Yo no sé cuantos metros habia que construir y la gente despues dijo que Raúl robó.“ (Gespräch mit Miguel Sarazo, 03.04.04)
Ebenso trägt Präsident Alemán dazu bei, dass die lokale Schule mit externer Hilfe ausgebaut wird: „El colegio antes era un solo pabellón y se agrando en el año 2000 esto fue con la ayuda del proyecto FISEC, una organización de los Estados Unidos. Aleman ayudo a que el proyecto FISEC apoyará a la escuela.“ (Gespräch mit Dionisio Marenco, 17.02.04). Neben den bereits genannten Fortschritten hätten sich während der Amtszeit Alemáns auch die Einkommensmöglichkeiten verbessert: „La gente empezó a tener más dinero porque hicieron chinchorros y conseguieron anzuelos. Vinieron bastantes fabricas a Puerto.“ (Gespräch mit Vera Zúniga, 27.01.04). 2.4.2 Ausnutzung und individuelle Bewertung der politischen Verhältnisse Vera Zúniga profitiert als Sympathisantin der liberalen PLC von der besonderen Situation, dass auch das autonome Regionalparlament der nördlichen Atlantikküstenregion während der Amtszeit Alemáns unter dem Vorsitz einer PLC-Regierung steht. Dieser liberalen Regionalregierung sitzt Alba Rivera vor: „El gobierno de Alba Rivera se hizo algo junto con el presidente Alemán. A mi me dieron laminas de zinc y dos maquinas de coser para mi casa de mujeres.“ (Gespräch mit Vera Zúniga, 18.04.04) „A partir de 2001 el gobierno de Nicaragua a traves del ministerio de educación me paga un sueldo como profesora de costura, yo consegui esto por medio del gobierno regional.“ (Gespräch mit Vera Zúniga, 27.01.04)
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Auf der anderen Seite wird erwähnt, dass die Bewohner mehr Vertrauen zur Zentralregierung in Managua als zum autonomen Regionalparlament31 entwickelt hätten. Das Vertrauen in die eigene Bevölkerungsgruppe wäre nicht sehr ausgeprägt: „La comunidad cree más en el gobierno central que en el regional. El anterior gobierno regional era una Mestiza, Alba Rivera y hizo bastantes cosas y el actual que es un Mískito no hace mucho. Las comunidades piensan mejor en un Mestizo porque nuestra raza no ha hecho nada por nuestra Costa. El problema es perder la confianza en la propia raza.“ (Gespräch mit Arturo Faro, 03.03.04)
Diese beiden Aussagen zeigen die widersprüchlichen Meinungen zum Verhältnis der comunidad mit dem autonomen Regionalparlament und der Zentralregierung in Managua. Je nach individueller Stellung in der sozialen Hierarchie und politischer Zugehörigkeit profitieren die sozialen Akteure von den politischen Verhältnissen. Dabei werden Personen, die nicht der eigenen Ethnie angehören, in ihrer parlamentarischen Arbeit höher bewertet. Selbst nach Aufdeckung der Korruptionsaffäre Alemáns zum Ende seiner Amtszeit sind die Bewohner weiterhin der Auffassung, dass er den einzigen Hoffnungsträger für die Atlantikküste darstellen würde: „La unica esperanza es Arnoldo Alemán y que Brooklyn [Rivera, H.M.] y Daniel [Ortega, H.M.] solo piensan para ellos.“ (Gespräch mit Genardo Esquivel, 29.01.04). Die Dokumentation unterschiedlicher Auffassungen zeigt, dass sich die befragten traditionellen Autoritäten bei ihrem Diskurs häufig auf das autonome Regionalparlament der nördlichen Atlantikküstenregion berufen. Die politische Legitimation dieses Regionalparlaments basiert auf einem Autonomiestatut, dass die Sandinisten im Jahr 1987 der Atlantikküste zubilligten. Da sich die Auffassungen der Bewohner hinsichtlich Inhalt und Ausgestaltung des Autonomiestatuts signifikant von den offiziellen Verlautbarungen einer den Autonomieprozess vorantreibenden Bildungselite unterscheiden, sollen an dieser Stelle die Inhalte des Statuts kurz beleuchtet und als Kontrast die Meinungen der Bewohner zu diesem Aspekt wiedergegeben werden.32
31 Im Jahr 1987 wurde der Atlantikküste Nicaraguas ein Autonomiestatut zugebilligt. Einen Bestandteil dieses Statuts bilden die alle vier Jahre zu wählenden autonomen Regionalparlamente in der nördlichen und südlichen Atlantikküstenregion. Der Abschnitt 2.5 wird sich eingehender mit dem Autonomiestatut und seiner Wahrnehmung durch die Bewohner auseinandersetzen. 32 Da die umfassende Beschäftigung sowohl mit theoretischen Aspekten politischer Autonomie als auch mit Entwicklung, Umsetzung und Ausbildung des Autonomiestatuts an der nicaraguanischen Atlantikküste den hier gesetzten Rahmen sprengen würde, kann hier nur ansatzweise auf diese Thematik 95
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2.5 Das Autonomiestatut aus dem Blickwinkel der Bewohner 2.5.1 Vorbemerkung Die politisch-militärische Situation Anfang der 1980er Jahre führte die Sandinisten zu der Erkenntnis, dass eine Entspannung des Konflikts an der Atlantikküste nur auf dem Verhandlungsweg erreichbar sei. Diese Anerkennung fand schließlich ihren Niederschlag in der Gründung einer nationalen Autonomiekommission bzw. zweier Regionalkommissionen in der nördlichen und südlichen Atlantikküstenregion.33 Die Kommissionen erhielten die Aufgabe, einen Plan zur regionalen Autonomie zu erarbeiten. Anfang September 1987 wurde das ausgearbeitete Autonomiestatut von der nicaraguanischen Nationalversammlung beschlossen. Neben anderen Aspekten wird in diesem Dokument anerkannt, dass die Wahrung der ethnischen Identität einer eigenen materiellen Basis bedarf (vgl. Rediske/Schneider 1982: 23). Zur Umsetzung des zugebilligten autonomen Status werden so genannte Regionalräte (Consejos Regionales) gebildet, die mit der Administration und der Verwaltung der autonomen Regionen betraut werden. Ebenso erhalten die Bewohner das Recht, Programme zu entwerfen, die sich mit Fragen der Gesundheit, Bildung, Ernährung, Transport und öffentlichen Dienstleistungen befassen.34 Jedoch wurde aufgrund fehlender Ausführungs- und Regelungsmechanismen nicht exakt festgelegt, mit welchen Institutionen, Geldmitteln und Ablaufplänen die vorgegebenen Ziele erreicht werden sollten. Damit wurde dieses Statut seinen vorgegebenen Zielen kaum gerecht. Es vergingen weitere 16 Jahre, bis die Nationalversammlung Anfang Juli 2003 ein Gesetz (ley 445) mit den entsprechenden Inhalten verabschiedete. Mit dem beschlossenen Regelwerk wurden erstmals juristische, politische und administrative Definitionen festgelegt, die klar benennen, was bspw. unter dem Begriff kommunale Ländereien verstanden wird und welche Maßnahmen zur Demarkierung dieser Territorien ergriffen werden müssen.35 Mit Hilfe dieser Gesetze bzw. auf Grundlage eigener Traditionen kann die ansässige Bevölkerung lokale Autoritäten wählen und vorhandene Ressourcen selbst bestimmt verwalten.
eingegangen werden. Für eine Einführung in die genannten Aspekte siehe González-Perez (1997); Michael (2001: 42-62). 33 Im Autonomiestatut ist die Atlantikküste in zwei Regionen unterteilt worden: Región Autónoma Atlántica Norte (RAAN; Nördliche Autonome Atlantikküstenregion) und Región Autónoma Atlántica Sur (RAAS; Südliche Autonome Atlantikküstenregion) (vgl. ODACAN 2003: 4). 34 Der komplette Text des Autonomiestatuts (ley 28) findet sich in: Asamblea Nacional de Nicaragua (1987: 2833-2838). 35 Der komplette Text der Ausführungs- und Regelungsmechanismen (ley 445) findet sich in: ODACAN (2003). 96
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2.5.2 Unterschiedliche Diskurse zum Begriff Autonomie Während die Mískito-Elite durch die aktive Beteiligung bei der Ausgestaltung der Regelungsmechanismen des Autonomiestatuts die Rolle und Funktion der traditionellen Dorfautoritäten definieren und dabei klare Maßstäbe für die Aufrechterhaltung der angestammten Kultur durch die Selbstorganisation der Bewohner anlegen, wird der Terminus Autonomie von den Bewohnern Wawa Bars auf andere Art und Weise interpretiert. Es zeigt sich, dass die Ausgestaltung autonomer Strukturen eng mit der alltäglichen Bedürfnisbefriedigung verknüpft wird. Die Erfahrungen des Krieges in den 1980er Jahren und die dabei erlittenen Restriktionen werden zum Anlass genommen, die eigene Bewegungsfreiheit einzufordern bzw. ungehindert der gewünschten Tätigkeit nachgehen zu können. Potentielle Beschäftigungsmöglichkeiten und Einkommensquellen werden dabei ebenso in Erwägung gezogen: „Autonomía es andar libre, tranquilo que nadie te moleste, sin ninguna restricción. Con la Autonomía deberia haber bastante trabajo, no deberia haber violencia y se deberia pagar bien por el trabajo.“ (Gespräch mit Magdalena Urtecho, 30.03.04) „La Autonomia es que la Costa tiene que ser autónoma, tiene que haber un presidente, tiene que haber fabricas para general dinero para el mismo pueblo.“ (Gespräch mit Vera Zúniga, 18.04.04) „La autonomía es como una independencia para vivir libre en su tierra.“ (Gespräch mit Pedro Anicama, 04.04.04)
Selbst die lokalen Autoritäten Wawa Bars sprechen in diesem Zusammenhang nicht davon, durch Bildungsprogramme die historischen Wurzeln der eigenen Kultur bzw. Traditionen und Werte der Bewohner zu bewahren und zu schützen. Lediglich die Selbstverwaltung der natürlichen Ressourcen wird explizit hervorgehoben: „La autonomía es la administración de los recursos de la comunidad.“ (Gespräch mit Genardo Esquivel, 29. 01.04). „La autonomia es administrar todos los recursos propios como nativos de la Costa Atlántica.“ (Gespräch mit Miguel Sarazo, 03.04.04). Das Autonomiestatut wird also auf seine ökonomische Verwertbarkeit reduziert, da durch die Ausbeutung dieser Rohstoffe ein wirtschaftlicher Gewinn erzielt werden kann. Dem für die Ausführung des Statuts zuständigen autonomen Regionalparlament wird in diesem Zusammenhang eine geringe Bedeutung beigemessen. Zwar wird darauf hingewiesen, dass das Parlament als oberste ausführende Behörde fungiere, die in Zusammenarbeit mit den lokalen Autoritäten autonome Strukturen in den comunidades gewährleisten soll: „El gobierno regional hace que las leyes que otorga el consejo se cumplan.“ (Gespräch mit Miguel Sarazo, 12.01.04). „El gobierno regional aconseja que los Sindicos deben manejar la ley 28 y 445. Asi que para 97
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manejar bien la organización de la comunidad se debe conocer las leyes.“ (Gespräch mit Miguel Sarazo, 03.04.04). Für andere Befragte würde die Autonomie lediglich auf dem Papier existieren. Beispielsweise wäre bei der beabsichtigten Demarkierung des kommunalen Landbesitzes kein Fortschritt erkennbar (Gespräch mit Pedro Anicama, 04.04.04). Erst die aktive Unterstützung einer bestimmten Partei würde der comunidad Hilfe bescheren: „El gobierno regional no apoya en nada. YATAMA dice que tiene la autonomía de los Mískitos pero no se maneja, pienso que solo dan algo a los partidistas es decir cuando una comunidad apoya las elecciones el partido ganador ayuda a la comunidad.“ Gespräch mit Pedro Anicama, 04.04.04)
Weiterhin wird trotz aller Kritik am Autonomiestatut betont, dass die erlassenen Regelungen in der nördlichen Atlantikküstenregion wesentlich flexibler und stärker wären als im Süden der Atlantikküste. Flexibler, weil die erlassenen Gesetze der Mískito (sic!) in der RAAN nicht so strikt wie in der RAAS wären und damit der Drogenhandel erleichtert würde. Stärker, weil die strikten nationalen Antidrogengesetze nicht so einfach angewendet werden könnten (Informelles Gespräch mit Miguel Sarazo, 15.01.04; Tagebuchaufzeichnung vom 15.01.04). Dass sich eine solche Auffassung herausbilden kann, die mit den tatsächlichen Verhältnissen nicht übereinstimmt, ist darauf zurückzuführen, dass das Autonomiestatut mit der Zugehörigkeit zur Ethnie der Mískito direkt in Verbindung gesetzt wird.36 Die Mískito hätten demnach ein Anrecht auf Bewegungsfreiheit; die übrigen in der Region lebenden Ethnien und ethnischen Gruppen werden in diesem Zusammenhang nicht erwähnt. Allerdings sind die Bewohner unterschiedlicher Meinung bzw. verfügen über kein klar umrissenes Autonomiekonzept. Autonomie stellt für den überwiegenden Teil der Befragten in erster Linie etwas Materielles wie bspw. ein Boot mit Außenbordmotor oder ein neues Haus dar. Ein Fallbeispiel soll die beschriebene Auffassung von Autonomie verdeutlichen. 2.5.3 Fallbeispiel: Autonomie als Entschädigungsfaktor Auf der Suche nach einem mutmaßlichen Drogenschmuggler, der sich vor der Küstenwache (capitania) mit seinem Boot in einem Seitenarm der angrenzenden Lagune versteckte, kontrollierte das Militär eine nach Wawa Bar zurückkehrende panga.37 In dieser befanden sich auch drei angetrunkene junge Männer, die nach Kontrolle ihre Papiere anfingen, die Soldaten zu beschimpfen. Die Soldaten eröffneten daraufhin das Feuer. Einer der beteiligten Männer erlitt einen Beinschuss, ein weiteres Projektil zer36 Das Autonomiestatut und seine Ausführungsbestimmungen haben sowohl für die RAAN, als auch die RAAS rechtsverbindliche Gültigkeit. Darüber hinaus untersteht das Statut den nationalen Gesetzen. 37 Ein Fiberglasboot mit Außenbordmotor wird von den Einheimischen als panga bezeichnet. 98
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störte den Außenbordmotor. Dieser Vorfall wurde nach einiger Zeit als Beispiel herangezogen, um zu verdeutlichen, dass Autonomie die Entschädigung der Betroffenen bedeuten würde: „La autonomía es como un pretexto pero no se cumple. Por ejemplo como el accidente que hubo con la panga que disparó la capitania. Hasta ahora no le han dado un nuevo motor al dueño de la panga y al herido con la bala no le han quitado la bala.“ (Gespräch mit Pedro Anicama, 22.04.04).
2.5.4 Definitionsunterschiede zwischen den verschiedenen traditionellen Autoritäten Die Untersuchung hat zutage gefördert, dass die Inhalte des Autonomiestatuts bzw. die Reglementierung des ley 28 nicht mit den Bewohnern diskutiert oder in der Schule vermittelt werden: „No se enseña la ley de autonomía porque en los papeles que entrega el MECD [Ministerio de educación y deporte; H.M.] no sale eso.“ (Gespräch mit Dionisio Marenco, 25.04.04). Hieraus resultiert meines Erachtens der beschriebene Widerspruch zu den Definitionen der indigenen Elite und den Bewohnern Wawa Bars. Widersprüche sind zudem zwischen traditionellen Autoritäten in der comunidad und den übergeordneten Ältestenräten (Consejos de Ancianos) in Puerto Cabezas feststellbar. Bei Gesprächen kristallisierten sich deutliche Definitionsunterschiede bezüglich der Einrichtung und den Aufgaben der Ältestenräte heraus. Außerdem hat praktisch jede Partei ihren eigenen Consejo de Ancianos, der vorgibt, mit der eigenen politischen Linie den Interessen aller Bewohner der Atlantikküste gerecht zu werden. Es hat den Anschein, als ob das Autonomiestatut bzw. die im ley 445 festgelegten Regelungsmechanismen38 dazu führen, dass sich die Funktionsund Würdenträger nicht mehr den Belangen der eigenen comunidad widmen, sondern lediglich um eine Befriedigung der eigenen Interessen bemüht sind. Das Verhalten der in die Regionalparlamente gewählten Personen scheint sich mittlerweile auf die lokalen Autoritäten übertragen zu haben. Auf diesen Sachverhalt bin ich bereits bei einer zwischen 1998 und 1999 durchgeführten Feldforschung hingewiesen worden: „Unicamente esta así una superestructura regional pero que pierdes a veces la visión porque los mismos consejales tambien pierden el contacto con sus electores, no vuelven a los lugares donde ellos consiguieron votos y eso es un problema. No hay una retroalimentación, vienen aqui, hacen cualquier cosa y sus electores no saben lo que esta pasando. Siguen con los mismos problemas, no hay ningúna resolución. Y se buscan como resolver algún problema siempre estar de promedio, los intereses personales, yo creo que ese es algo que no esta matando.“ (Gespräch mit Alváro Belascoarán, 19.06.1998).
38 Hier geht es insbesondere um die Wahl der traditionellen Autoritäten in der Gemeinde. 99
KULTURELLES ERBE ALS IDENTITÄTSSTIFTENDE INSTANZ?
Die Beispiele verdeutlichen, dass das Autonomiestatut trotz der darin verankerten Partizipationsmöglichkeiten und der damit verbundenen Absicht, den Autonmieprozess generell zu stärken, zu einer sozialen Differenzierung zwischen den beteiligten Akteuren und lokalen Autoritäten beiträgt (vgl. Michael 2002: 91). Wen bzw. was repräsentieren aber diese lokalen Autoritäten, welche Aufgaben haben sie und welche Ziele verfolgen sie? Welche Meinungen werden von den anderen Bewohnern der comunidad abgegeben? Die nachfolgenden Abschnitte sollen darüber Aufschluss geben.
3. Struktur und Aufgabenbereiche traditioneller Autoritäten Nicht nur aufgrund der bereits in Abschnitt 1.2 beschriebenen britischen Kolonialpolitik des indirect rule konnten sich traditionelle Bestandteile dörflicher Organisation aufrechterhalten. Auch in den Ausführungs- und Regelungsbestimmungen des Autonomiestatus (ley 445) wird den autonomen Regionen die Aufrechterhaltung und Bewahrung überlieferter Traditionen explizit übertragen (vgl ODACAN 2003: 13). Nachfolgend werden die in der comunidad existierenden traditionellen Autoritäten vorgestellt. Des Weiteren werden sowohl die lokale Mährische Kirche (Iglesia Morava) als auch weitere lokale Zusammenschlüsse beschrieben. Die Dokumentation von Meinungen befragter Bewohner wird verdeutlichen, dass zwischen Autoritätspersonen einerseits und Interessengruppen andererseits verschiedenartige Konflikte ausgetragen werden. 3.1 Der Ältestenrat (Consejo de Ancianos) 3.1.1 Aufgaben und Struktur Nach Ansicht von Genardo Esquivel, der selbst Mitglied im Consejo de Ancianos ist, sollen in dieser Vereinigung nicht allzu betagte Personen vertreten sein. Des Weiteren sollen sie unter den Bewohnern einen guten Ruf besitzen und über eine hohe Disziplin verfügen. Ihre Aufgabe bestehe darin, der comunidad ohne jegliche Gewinnerwartungen eine neue Entwicklung zuteil werden zu lassen und der Jugend durch die Bewahrung und Vermittlung traditioneller Kulturelemente einen Halt zu geben: „Cada comunidad tiene su consejo y tiene sus propias leyes. El consejo sirve para llevar un nuevo desarrollo sin fines de lucro. El consejo tambien sirve para seguir llevando las tradiciones culturales y principalmente aconsejar a los jovenes para que ellos no vayan por el mal camino esto existe en la biblia y de ahi salio. Para pertenecer al consejo de ancianos no se debe ser muy viejo para poder tener conocimiento de la epoca actual, se debe tener una buena reputación y disciplina. Yo tengo 58 años.“ (Gespräch mit Genardo Esquivel, 24.01.04)
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ETHNOGRAPHIE DER COMUNIDAD WAWA BAR „Las responsabilidades del consejo de ancianos son que deben dirigir bien ordenadas las leyes de la comunidad deben hacerla convenientemente para el beneficio de la comunidad. Tambien deben velar por el orden de la comunidad segun las tradiciones, conservar las tradiciones y reeducar a los jovenes.“ (Gespräch mit Miguel Sarazo, 26.04.04)
Der Consejo de Ancianos arbeitet mit anderen lokalen Autoritäten auf verschiedenen Feldern zusammen. Wenn bspw. eine Lehrkraft oder eine Krankenschwester39 bei der Ausübung ihrer Tätigkeiten nicht die in sie gesetzten Erwartungen erfüllt, werden sie gemeinsam vom Consejo de Ancianos und dem Juez Comunal darauf aufmerksam gemacht. Bei schwer wiegenden Verstößen wie tagelangem Nichterscheinen ergeht eine Meldung an die zuständigen Behörden in Puerto Cabezas. In Zusammenarbeit mit dem Reverendo wird bei Versammlungen nach einer Lösung für bestehende Probleme gesucht (Gespräch mit Arturo Faro, 03.02.04). Darüber hinaus soll der Consejo de Ancianos die Schulbildung von Kindern erkrankter oder mittelloser Bewohner finanziell unterstützen, indem deren Mitglieder die übrigen Bewohner um Spenden und Mithilfe bitten (Gespräch mit Magdalena Urtecho, 18.03.04). Zur Lösung möglicher Landkonflikte tritt der Ältestenrat gemeinsam mit einem Vertreter der Sindicos40 und dem kommunalen Richter als Vertreter der comunidad auf (Gespräch mit Miguel Sarazo, 12.01.04). Dies ist ebenso der Fall, wenn sie Dinge mit der autonomen Regionalregierung zu besprechen haben (Gespräch mit Genardo Esquivel, 27.02.04). Der auf lokaler Ebene gewählte Ältestenrat wird vom Consejo Regional41 in Puerto Cabezas bestätigt. Ein Vergleich mit den Aussagen eines in Puerto Cabezas lebenden Consejo de Ancianos zeigt, dass bestimmte Aufgaben von den befragten Gesprächspartnern nicht genannt wurden: „Las funciones del consejo de ancianos son: Velar por los enfermos, huerfanos, liciados, la escuela, la salud y lo religioso. Si hay un conflicto, ellos tienen que ver quien tiene la culpa. Aplicar la ley en la persona que falla y ahi demandan. Educar la parte de la lengua, cada etnia tiene que respetar las otras lenguas. La plantación. Compartir su gente armoniosamente unidos. Cuidar los arboles. Cuidar de que el río no seque. El consejo quiere que respeten a la religión, no descriminar a la misma gente, compartir y no solo esperar dinero. Como ancianos
39 Während der Regierungszeit Arnoldo Alemáns ist in Wawa Bar ein Gesundheitsposten errichtet worden, um der ansässigen Bevölkerung eine medizinische Erstversorgung zu gewährleisten. Allerdings kam es während der Untersuchung des Öfteren vor, dass der Posten unbesetzt oder die Grundausstattung mit Medikamenten unzureichend war. 40 Die Aufgaben der Sindicos werden in Abschnitt 3.3 erläutert. 41 Im Rahmen der autonomen Regionalparlamente stellt der Consejo Regional die höchste Instanz dar. Dieser Rat urteilt über die von den regionalen Regionalregierungen (Gobierno Regional) beschlossenen Gesetze und wacht nach deren Verabschiedung über die Umsetzung. 101
KULTURELLES ERBE ALS IDENTITÄTSSTIFTENDE INSTANZ? deben explicar bien a sus nietos para no perder la cultura.“ (Gespräch mit Ernesto Nevado, 24.03.04).
3.1.2 Erinnerungsunterschiede bei der Entstehung des Consejo de Ancianos Hinsichtlich der Entstehung des Consejo de Ancianos werden unterschiedliche Angaben gemacht. Es wird die Ansicht vertreten, dass der Consejo bereits zu Zeiten der Diktatur Somozas existiert hätte. Somoza hätte sich aber nicht für dieses Vertretungsorgan interessiert (Gespräch mit Miguel Sarazo, 29.02.04). Andere Befragte geben an, dass der Ältestenrat erst mit Beginn des Contra-Krieges von nach Honduras geflüchteten Mískitos gegründet worden wäre: „La guerra entre los Mískitos y los Sandinistas duró 6 o 7 años y despues de la guerra se formó el consejo de ancianos de la comunidad.“ (Gespräch mit Arturo Faro, 03.02.04). Interessanter Weise widerspricht sich selbst Genardo Esquivel, der als amtierendes Mitglied des Consejo de Ancianos erst angibt, dass sich dieses Gremium in der Zeit der Revolution gegründet hätte, um dann einige Zeit später zu berichten, dass dies erst während der Amtszeit von Violeta Chamorro stattgefunden hätte: „En la epoca de la revolución se formó el consejo de ancianos.“ (Gespräch mit Genardo Esquivel, 24.01. 04). „El consejo de ancianos se formó despues de la guerra en el gobierno de Violeta.“ (Gespräch mit Genardo Esquivel, 27.02.04). Diese gegensätzlichen Meinungen beruhen meines Erachtens auf einem Missverständnis: Gemäß der überlieferten Traditionen bildet der Consejo de Ancianos einen festen Bestandteil in der dörflichen Struktur der Mískito. Diese lokale Autorität übte bereits lange vor der Diktatur ihre Funktion in der comunidad aus. Ein Vorstand (Junta Directiva) ist allerdings in der traditionellen Organisationsweise unbekannt. Eine Junta Directiva wurde erst von geflüchteten Mískito im honduranischen Exil – insbesondere von Vertretern der YATAMA – während der militanten Auseinandersetzung Mitte der 1980er Jahre gegründet. Nach dem Ende des militanten Konflikts bzw. aufgrund sich entwickelnder politischer Auseinandersetzungen zwischen den in die autonomen Regionalparlamente gewählten Parteien wurden eigene Consejos de Ancianos gegründet. Die Zielsetzung dieser Ältestenräte war und ist eng mit dem politischen Programm der jeweiligen Partei verbunden. Beispielsweise werfen politische Gegner einem dieser Ältestenräte – trotz ihrer nach außen vertretenen neutralen Haltung bzw. der Berufung auf die Zeit vor der Wiedereingliederung der Atlantikküste in den nicaraguanischen Nationalstaat im Jahr 1894 – eine Kooperation mit den Sandinisten vor: „Los consejos de ancianos de Puerto Cabezas estan divididos por partidos, hay uno del PLC, uno de YATAMA y uno neutral pero YATAMA y el PLC lo critican diciendo que son Sandinistas.“ (Gespräch mit Miguel Sarazo, 31.01.04)
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ETHNOGRAPHIE DER COMUNIDAD WAWA BAR „Antes de Zelaya todos vivian juntos y compartian pero despues de Zelaya pusieron departamentos e implementaron el sindico, alcalde, juez, diputado y lo hicieron para esclavizar a los Mískitos.“ (Gespräch mit Ernesto Nevado, 24.03.04)
3.1.3 Der kritische Diskurs der Bewohner über den Ältestenrat Solche Auseinandersetzungen sind auch auf lokaler Ebene feststellbar. Dies lässt sich an kritischen Äußerungen der Befragten ablesen: Es wird bemängelt, dass der Consejo de Ancianos für eine neue Entwicklung der comunidad eintreten, diese Aussage aber nur als Vorwand zur Durchsetzung eigener Interessen missbrauchen würde: „El consejo de ancianos habla de trabajar por un nuevo desarrollo pero no es asi porque no trabajan con transparencia y democracia sino que cada uno busca sus intereses.“ (Gespräch mit Miguel Sarazo, 29.02.04). Des Weiteren wird kritisiert, dass die Bewohner über gefällte Entscheidungen des Consejo de Ancianos nicht informiert würden: „Cuando el consejo de ancianos hace una reunión no hay participación del pueblo y la comunidad dice que los del consejo de ancianos son unos ladrones que solo piensan en coca porque una vez alguien de la comunidad encontró cocaina y entrego una parte al consejo de ancianos para que lo repartieran con la comunidad pero los lideres lo cogieron por eso no llega el pueblo a las reuniones y los ancianos hacen lo que quieren. Hay poca comunicación de las decisiones del consejo de ancianos es decir no se enteran de lo que decide el consejo o si se enteran es por chismes, el consejo toma una decisión y va a Puerto avisar al consejo del litoral sur en el consejo regional. De ahi la comunidad se molesta y pelea. El consejo no hace un plan de trabajo ni tiene un programa.“ (Gespräch mit Miguel Sarazo, 29.02.04)
Man könnte vermuten, dass der zitierte Miguel Sarazos aus Verärgerung eine solche Aussage trifft, da er bei bisherigen Drogenfunden leer ausgegangen ist. Auch sein eigener Status als Sindico könnte auf eine Konkurrenzsituation hindeuten. Doch auch Personen, die keiner lokalen Autorität angehören, stehen dem Consejo de Ancianos kritisch gegenüber: „El consejo de ancianos no piensa mucho en su responsibilidad. Yo no estoy contento con las autoridades tradicionales.“ (Gespräch mit Pedro Anicama, 04.04.04). „Yo no estoy de acuerdo con las autoridades tradicionales porque no funcionan. Por ejemplo cuando robaron al barco Gulf King42 los del barco avisaron a Wawa para atrapar los ladrones pero no se podian atrapar porque no hay juez, ni sindico, ni junta de ancianos. Yo tuve que ir a Puerto a la policia para que
42 Während der Untersuchung entwendeten drei Personen einen relativ hohen Geldbetrag von einem vor der Küste ankernden Schiff der internationalen Fangflotte ‚Gulf King‘. Die Täter wurden gestellt und eine Person entpuppte sich dabei als einer der Söhne von Genardo Esquivel. 103
KULTURELLES ERBE ALS IDENTITÄTSSTIFTENDE INSTANZ? vengan a capturar el ladron. Y decir que soy de la junta de los ancianos y que no hay juez en la comunidad.“ (Gespräch mit Pedro Anicama, 22.04.04).
Des Weiteren würde in den einzelnen Gremien viel Neid zwischen den Mitgliedern existieren. Die Kontrahenten wären unablässig bemüht, sich gegenseitig ökonomisch zu übertrumpfen (Informelles Gespräch mit Manuela Sarazo, 20.01.04). Auch innerhalb des Ältestenrates gibt es kritische Stimmen zum eigenen Selbstverständnis: „En el consejo de ancianos que pertenezco como representante de las mujeres ellos no me toman en cuenta si hacen reuniones no me avisan y cuando estoy en una no tengo derecho de hablar. No hay respeto ya que hay hombres que dicen que la mujer no tiene derecho a dar su opinion.“ (Gespräch mit Vera Zúniga, 13.02.04).43 „El pueblo esta desorganizado y existe poca participación de los consejos y que de esto viene la corrupción y la falta de confianza.“ (Gespräch mit Genardo Esquivel, 24.01.04).44
Der Aussage Esquivels ist zu entnehmen, dass die Mitglieder des Ältestenrates die erhaltene Kritik auf ihre Weise wieder an die Bewohner zurückgeben. Neben der besagten Desorganisation würden die Bewohner nur deswegen nicht an Versammlungen (reuniónes) der lokalen Autoritäten teilnehmen, weil diese Gremien ohne finanziellen Gewinn arbeiten würden: „Su objetivo [del Consejo de Ancianos; H.M.] es ayudar al sindico y al juez sin fines de lucro. Por eso la gente no quiere participar en estos consejos.“ (Gespräch mit Genardo Esquivel, 27.02.04). Diese gegensätzlichen Schuldzuweisungen weisen auf ein lediglich an ökonomischen Interessen ausgerichtetes Verhalten der Bewohner hin. Es lässt sich festhalten, dass ein erheblicher Widerspruch zwischen dem Diskurs des lokalen Consejo de Ancianos und dem Diskurs der Bewohner vorliegt. 3.2 Der Kommunale Richter (Juez Comunal) 3.2.1 Aufgaben und Struktur Der kommunale Richter (Mískito: wihta) wird von allen erwachsenen Mitgliedern der comunidad für ein Jahr gewählt. Sofern der wihta seine Funktion zur allgemeinen Zufriedenheit ausfüllt, kann seine Amtsperiode auf zwei Jahre erweitert werden. Er kann sein Amt aber auch vorzeitig aufgeben, sofern er während seiner Amtszeit außerhalb der comunidad einer bezahlten Tätigkeit nachgeht. Das Amt ist freiwillig und die gewählte 43 Vera Zúniga ist die einzige Frau im Consejo de Ancianos. 44 Auch bei diesem Gespräch fungierte Miguel Sarazo als Übersetzer. Da er eine Zeitlang nur selbst sprach, muss diese Aussage eigentlich ihm zugeordnet werden. Dass auf die Aussage Sarazos kein Widerspruch von Genardo Esquivel zu vernehmen war, zeigt, dass er wohl im Grundsatz mit Miguel Sarazos Meinung einverstanden gewesen ist. 104
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Person erhält kein Geld für diese Aufgabe. Der kommunale Richter hat einen Stellvertreter, der ihn bei Abwesenheit vertritt. Allerdings hat dieser nur bei einem Notfall Entscheidungsbefugnis; in allen anderen Fällen muss er die Rückkehr des wihta abwarten. Dem kommunalen Richter stehen in der comunidad freiwillige, unbewaffnete Polizisten als Hilfskräfte zur Verfügung. Allgemein gesprochen obliegt es dem kommunalen Richter, sich mit in der comunidad auftretenden Konflikten auseinanderzusetzen und diese in Zusammenarbeit mit den anderen Autoritäten bzw. den Bewohnern zu lösen. Seine Aufgaben umfassen sowohl juristische als auch soziale Komponenten, deren Einhaltung er mit aufgestellten Gesetzen reglementieren kann. Sofern er einem Dieb habhaft wird, ist er zu seiner Festnahme und zur Verhängung eines Strafgeldes berechtigt. Er kann ihn auch den Behörden in Puerto Cabezas übergeben. Insbesondere bei einem Tötungsdelikt, Vergewaltigung oder Drogentransport muss der kommunale Richter dies unverzüglich veranlassen. Zusätzlich muss bei festgestellten Drogentransporten das Militär in Kenntnis gesetzt werden. Falls ein Toter am Strand gefunden wird, hat der lokale Richter ebenso die regionalen Behörden zu informieren. Nach Abschluss polizeilicher Untersuchungen hat er – sofern sich niemand für den Toten verantwortlich fühlt – für dessen Begräbnis zu sorgen. Sollte eine Familie bei einem Todesfall über keine finanziellen Mittel für die Beerdigung verfügen, obliegt es dem wihta, das benötigte Geld bei den übrigen Bewohnern zu sammeln. Der Sarg wird von den Sindicos gestellt. Sofern jemand eine Kuh schlachtet, muss der Richter darüber wachen, dass das Tier tatsächlich aus der comunidad stammt. Sofern das Tier von außerhalb ist, muss der Besitzer 50 Cordoba oder als Äquivalent 2,5 kg Fleisch an den Richter abführen. Das Fleisch wird dann zwischen den freiwilligen Polizisten verteilt bzw. das erhaltene Geld wird für notwendige, der Allgemeinheit dienenden Arbeiten verbraucht oder einer bedürftigen Familie zugeteilt. Des Weiteren hat der wihta die Fischer über bestehende Schonzeiten in der Lagune von Karatá zu unterrichten. Ebenso trägt er neu geborene Kinder in ein Register ein. (Gespräch mit Arturo Faro 14.01.04; Gespräch mit Miguel Sarazo, 19.04.04; Informelle Gespräche mit Aramis Lombardo, 16.01.04; 22.02.04). Darüber hinaus verfügt der kommunale Richter über eine Kontrollfunktion gegenüber den anderen lokalen Autoritäten. Wenn die Sindicos ihre eigentlichen Aufgaben nur unzureichend oder gar nicht wahrnehmen, ist der wihta berechtigt, durch eine einberufene Versammlung die Bewohner davon in Kenntnis zu setzen. Eine direkte Einmischung in die Arbeit der anderen Autoritäten ist dem kommunalen Richter allerdings untersagt.
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3.2.2 Die Konstruktion sozialer Realität: Individuelle Erinnerungsunterschiede Wie bereits weiter oben erwähnt, befand sich der wihta aufgrund seiner Kooperation mit den anwesenden Nationalgardisten in einer privilegierten Position und konnte seinen Status gegenüber den übrigen Bewohnern noch weiter erhöhen: „En el Somocismo la organización de la comunidad era un poco diferente ya que solo habia un juez y mandaban dos o tres guardias de Managua. Siempre la guardia se cambiaba cada tres meses ya que a veces ellos tomaban y hacian daño tiraban balas y el juez informaba a Puerto y lo cambiaban. La guardia y el juez hacian la ley en la comunidad. La guardia no molestaba a la comunidad solo cuando tenian un mal comportamiento.“ (Gespräch mit Arturo Faro, 03.02. 04)
Bei der Aussage fällt auf, dass der Consejo de Ancianos und die Sindicos zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht existiert hätten. Wie bereits in Abschnitt 3.1.2 verdeutlicht, hat der Ältestenrat bereits vor der Diktatur Somozas auf der Ebene der comunidad seine Funktion ausgeübt. Die individuelle Erinnerung der Befragten scheint davon abzuhängen, aus welcher Perspektive sie die Ereignisse in der Vergangenheit erlebt haben. Familiäre Verbindungen scheinen genauso wie Streitigkeiten zwischen den verschiedenen Mitgliedern der einzelnen Autoritäten einen Einfluss auszuüben. So ist der zum Zeitpunkt der Untersuchung amtierende kommunale Richter der Bruder des Reverendo. Dieser äußert sich wiederum kritisch gegenüber bestimmten Mitgliedern der lokalen Autoritäten. Dazu kommt, dass signifikante Veränderungen ausgeblendet werden: Dass bspw. das Amt des lokalen Richters durch Einrichtung eines Sandinistischen Verteidigungskomitees (CDS) in Wawa Bar obsolet wurde, spricht nur der Vater des Sindicos Miguel Sarazo an: „Al comienzo del Sandinismo habian CDS. Yo era CDS y llegue a Puerto cada fin del mes para una asamblea con todas las comunidades […]. El CDS funcionaba como un juez comunal y despues los CDS cambiaron el nombre a delegado.“ (Gespräch mit Pablo Chamorro, 25.02.04). Sowohl Vater als auch Sohn stehen wiederum den Sandinisten nahe. 3.2.3 Die Darstellung des Juez Comunal in anderen Untersuchungen Die dargestellten Meinungen werden durch eine im Jahr 2004 veröffentlichte Abschlussarbeit kontrastiert, die an der CIUM-BICU45 in Puerto Cabezas am Fachbereich Recht erarbeitet wurde und die sich insbesondere mit alternativer Konfliktlösung und der lokalen Gerichtsbarkeit in den comunidades46 auseinandersetzt. Im Gegensatz zu den bei der Untersuchung eruierten Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen lo45 Centro Interuniversitario Moravo – Bluefields Indian Caribbean University; Regionaluniversität der Mährischen Kirche. 46 Eine der untersuchten comunidades war Wawa Bar. 106
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kalen Autoritäten kommt die Autorin hinsichtlich der Aufgaben des Juez Comunal zu dem Schluss, dass: „[…] la justicia comunitaria es una practica reiterada y importante porque a través de ella se mantiene el equilibrio, la paz y la armonía social en las comunidades indígenas de la Costa Atlántica.“ (Gespräch mit Aramis Lombardo. In: Cunningham Kain 2004: 60)
Die Verfasserin scheint sich lediglich auf die Aussagen des kommunalen Richters zu stützen und untermauert ihre Aussage nicht mit eigenen Beobachtungen. Das nachfolgende Zitat ist ebenso der genannten Arbeit entnommen und deutet auf eine eher euphemistische Eigendarstellung des kommunalen Richters hin: „Nuestra función como juez es la de mantener el equilibrio en la comunidad, resolviendo los problemas que se dan entre las personas, además de planificar para el futuro de la comunidad, ya sea pensando en hacer escuelas, caminos, etc.“ (Gespräch mit Aramis Lombardo. In: Cunningham Kain 2004: 64)
Auch an anderen Stellen wird deutlich, dass die Autorin ein sehr positives Bild des Juez Comunal zeichnet, sich jedoch nicht mit den soziokulturellen Folgen der Drogenökonomie auseinandersetzt. So erwähnt sie zwar explizit, dass Drogenkonsum und Drogenhandel das grundlegende Problem für die comunidades darstellen würde. Ohne jedoch weiter darauf einzugehen, bezieht sie sich lediglich auf die daraus resultierenden Aufgaben des wihta: „[En el caso; H.M.] de trafico de drogas el juez comunal junto con su directiva inician las investigaciones de campo, una vez que confirman las informaciones sobre los hechos proceden a detener el autor y coordinan con la Policia Nacional la remisión del Juez local al municipio de Waspam o Bilwi.“ (Cunningham Kain 2004: 52)
Im selben Maß trifft dies auch auf den Umgang mit alkoholischen Getränken zu, deren Konsum lediglich bei lokalen Festen erlaubt sei und deren Einfuhr vom Juez Comunal strikt überwacht würde. Jeder unerlaubte Verkauf von hochprozentigem Alkohol in der comunidad würde der kommunale Richter sofort bei den zuständigen Behörden anzeigen (vgl. Cunningham Kain 2004: 66). Eigene Beobachtungen haben jedoch ergeben, dass Alkoholkonsum eher die Regel als die Ausnahme in der comunidad darstellt und durch die relativ hohe Anzahl von Booten bzw. einer von fast allen Seiten frei zugänglichen Dorfstruktur die Alkoholeinfuhr und -weitergabe ohnehin nicht kontrollierbar ist.
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3.3 Die Sindicos als Verwalter der natürlichen Ressourcen 3.3.1 Zusammensetzung und Aufgaben Die Sindicos setzen sich aus acht gewählten Personen zusammen. Davon stammen vier aus Wawa Bar. Die restlichen Mitglieder vertreten die drei in Wawa Bum ansässigen comunidades (ein Vertreter für Betania, einer für Betel und zwei für Seven Benk) (Informelles Gespräch mit Miguel Sarazo, 12.01.04). Die Sindicos sind für den schonenden Umgang und einer nachhaltigen Nutzung der natürlichen Ressourcen zuständig (Gespräch mit Arturo Faro, 14.01.04). Da Wawa Bar überwiegend vom Fischfang lebt und keinen Holzeinschlag vornimmt, erhalten die Sindicos 50% der Erträge des in Wawa Bum geschlagenen Holzes (Gespräch mit Miguel Sarazo, 22.01.04). Neben anderen Dingen werden bei einem Todesfall mit diesem Geld der Sarg und das Begräbnis bezahlt. Bei Krankheitsfällen werden Teile der Medikamentenkosten beglichen. Darüber hinaus existiert ein Fonds, aus dem die entstehenden Transportkosten für die Hilfslieferungen des Welternährungprogramms der Vereinten Nationen gedeckt werden. Diese Nahrungsmittelhilfe, die die comunidad alle drei Monate erhält, existiert seit mittlerweile zwei Jahren (Gespräch mit Dionisio Marenco, 27.02.04; Gespräch mit Miguel Sarazo, 22.01.04).47 3.3.2 Entstehung des Gremiums und Probleme bei der Zusammenarbeit mit anderen lokalen Autoritäten Nach Aussage von Miguel Sarazo48 wäre das Amt des Sindico im Jahre 1903 eingeführt worden und würde innerhalb der Familie an die Nachkommen weitergegeben. Ebenso hätte die comunidad zu diesem Zeitpunkt ihren Landtitel erhalten: „A partir de 1903 existe el sindico y en ese año se entregó el titulo de Wawa Bar y Wawa Bum. El cargo del Sindico es familiar.“ (Gespräch mit Miguel Sarazo, 22.01.04).49 Hinsichtlich des erhaltenen Landtitels nennt er das Jahr 1915. Die beiden Jahreszahlen erlangen dadurch Bedeutung, da sie mit der geplanten Landreform an der Atlantikküste während der sandinistischen Revolution in Zusammenhang stehen. Auch wenn die Sandinisten das Amt der Sindicos auflösen wollten, sei die geplante Reform seinerzeit per Gesetz gestoppt worden: „En el gobierno del FSLN querian terminar con el sindico y hacer una sola Nicaragua. Ellos querian desintegrar el titulo de propiedad de 1903 pero los lideres escondieron el titulo y no lo entregaron al instituto de reforma agraria
47 Ausgehend vom Zeitpunkt der geführten Gespräche. 48 Miguel Sarazo stellte sich beim ersten Aufeinandertreffen mit Jefe de la comunidad (Chef der Gemeinschaft) vor. Im weiteren Verlauf der Untersuchung stellte sich heraus, dass er der Sekretär der Sindicos ist. 49 Dass der zuletzt genannte Aspekt nicht korrekt ist (Weitergabe des Amtes in der Familie) werde ich weiter unten thematisieren. 108
ETHNOGRAPHIE DER COMUNIDAD WAWA BAR INERA. Existe un mapa desde 1903.“ (Gespräch mit Genardo Esquivel, 29.01.04)50 „La ley de reforma agraria queria hacer que Wawa Bar y Wawa Bum sean nacional pero despues dieron una ley que decia: Que la tierra que tiene titulo entre 1903 y 1915 se quedaria asi tierra comunal.“ (Gespräch mit Miguel Sarazo, 22.01.04)
Die Sicherung des kommunalen Landbesitzes stellt neben den bereits genannten Aufgabenbereichen die ausschlaggebende Tätigkeit dar, die in Kooperation mit anderen lokalen Autoritäten durchgeführt wird. Insbesondere die für die Atlantikküste bestehenden Autonomieregelungen sollen dabei zur Anwendung kommen: „El gobierno regional aconseja que los sindicos deben manejar la ley 28 y 445 porque si no la comunidad perderá sus derechos como de limites y area complementaria. La titulación de Wawa es de 1915 pero hay lugares que pertenecen a Wawa pero no tienen papeles y puede venir otra persona y vive por un tiempo y consigue el derecho. Asi que para manejar bien la organización de la comunidad se debe conocer las leyes.“ (Gespräch mit Miguel Sarazo, 03.04.04)
Der Rat der Sindicos (Junta Directiva) wird einmal pro Jahr gewählt und vom regionalen Consejo Regional im Amt bestätigt. Auch wenn die gewählten Mitglieder die entsprechenden Autonomiegesetze kennen bzw. über einfache Lesefertigkeiten verfügen sollten, wird dennoch bemängelt, dass dies nicht bei allen Personen der Fall wäre (Gespräch mit Genardo Esquivel, 21.01.04). Hier kommt erneut der relativ hohe Bildungsgrad des Sindico Miguel Sarazo zum Vorschein. Zum einen übt er Kritik am Analphabetentum der anderen lokalen Autoritäten: „Los ancianos de la comunidad deben trabajar como un Sindico pero los directivos son analfabetos y no se dan cuenta cuales son sus responsabilidades.“ (Gespräch mit Miguel Sarazo, 19.04.04). Zum anderen drängt Sarazo darauf, dass die in der comunidad geltenden, aber ungeschriebenen Verhaltensmaßregeln als eine Art Gesetz schriftlich formuliert werden müssten. Internationale Organisationen sollen dabei eine finanzielle Hilfestellung leisten: „Los lideres pasados no publicaron ni una ley escrita de la comunidad ya que antes los sindicos eran analfabetos. Desde que estoy sindico quiero escribir la ley y ahora el banco internacional tiene un presupuesto de 4.000.000 de dolares para las comunidades. Wawa pediria ayuda para escribir la ley. Queremos como ley: Que se debe trabajar coordinamente y asi el trabajo saldria bien. Los nativos se conocen pero mucha gente que viene no se integra a la comunidad. Cuando hay trabajo en la comunidad todos deben trabajar.“ (Gespräch mit Miguel Sarazo, 29.01.04) „En el CBA [Corredor Biológico Atlántico Norte; H.M.] hay un fondo de un millón de dolares para trabajos en las comunidades como talleres de capaci50 Das Zitat stammt von Miguel Sarazo. Er traf diese Aussage während eines Gesprächs mit Genardo Esquivel, bei dem er als Dolmetscher fungierte. 109
KULTURELLES ERBE ALS IDENTITÄTSSTIFTENDE INSTANZ? tación. El sindico quiere pedir ayuda para capacitación para hacer la ley de Wawa.“ (Gespräch mit Miguel Sarazo, 29.01.04)
3.3.3 Widersprüche und Kritik Seine relativ hohe Bildung bewahrt Miguel Sarazo nicht vor eigenen Widersprüchen. Aufgrund weiterer Gespräche mit anderen Gesprächspartnern und Beobachtungen bei lokalen Versammlungen stellte sich heraus, dass das Amt des Sindico nicht in der Familie weitergegeben wird. Bei diesem Amt stellen sich die Anwärter zur Wahl. Als Beispiel soll Vera Zúniga herangezogen werden, die sich im Verlauf der Untersuchung als scharfe Kritikerin von Miguel Sarazo entpuppte und die nicht mit diesem verwandt ist. Mit ihrer Aussage wird deutlich, dass sich ein verwandtschaftliches Verhältnis bei der Wahl traditioneller Autoritäten sogar eher nachteilig auswirken könnte: „Cuando Raúl era sindico renuncio porque el pueblo le reclamaba que haga respetar los limites con Karata y el sindico de Karatá era un familiar de Raúl. El no queria que hay turismo porque en ese momento el pueblo era mas cristiano y para el cristianismo tiene que ser sano, sin licor, no bikinis y solo si la gente que viene acepta las reglas del pueblo.“ (Gespräch mit Vera Zúniga, 18.03.04).
Miguel Sarazos Aussage, dass sich die sindicos jedes Wochenende beraten würden („Soy el secretario de los sindicos y ellos se reunen cada fin de semana.“; Gespräch mit Miguel Sarazo, 12.01.04), stimmte ebenso nicht mit der vorgefundenen Realität überein. Da sich Sarazo im Verlauf der Untersuchung als überaus informativer Gesprächspartner entpuppte, wurde mit ihm relativ oft Kontakt aufgenommen – sehr oft auch am Wochenende. Bei den geführten Gesprächen kam er trotz Nachfrage nicht auf diese Treffen zu sprechen. Ein weiterer interessanter Aspekt ist Sarazos Auffassung, dass die Sindicos die höchste Organisation in der comunidad darstellen würden. Man könnte dies als eine von ihm gewünschte Erhöhung in der sozialen Hierarchie ansehen. Ebenso kritisiert er, dass auf regionalen Versammlungen zwar laut über Restriktionen gegenüber schlecht arbeitenden Sindicos nachgedacht, dieses aber aufgrund der schlechten Informationspolitik nicht an die Öffentlichkeit gelangen würde: „Yo creo que ni el reverendo ni los maestros saben la ley 445. Muchos de la población no conocen el titulo de Wawa y yo creo que es por el sindico ya que no les explica ni les enseña lo que tiene la población. Los sindicos de Karatá tienen más educación y si sale algún conflicto Karatá puede ganar porque al gente de Wawa no sabe sus derechos.“ (Gespräch mit Miguel Sarazo, 03.04.04) „En el 2001 se hizo aca una asamblea con todos los lideres de las comunidades para hacer una sola organización OSICAN [Organización de Sindicos de la Costa Atlantica de Nicaragua; H.M.] y se discutió la demarcación y la administración de los recursos. Y aprobaron leyes: Los sindicos que manejan mal los recursos la comunidad tiene el derecho de recuperar las cosas del sindico pero
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ETHNOGRAPHIE DER COMUNIDAD WAWA BAR esto la comunidad no lo sabe porque no se publicó.“ (Gespräch mit Genardo Esquivel, 29.01.04)
Auch andere Bewohner sind sich der Einflussmöglichkeiten der Sindicos bewusst, betonen aber, dass deren Mitglieder diese Möglichkeiten nicht nutzen würden. Aufgrund der Veränderungen in der sozialen Interaktion der Bewohner hätte sich diese Situation herausgebildet: „El sindico actual no ha hecho nada. El debe manejar el terreno de la comunidad, tiene más voz que las otras autoridades. Antes la organización era mejor, yo creo que el tiempo va cambiando y la gente cambia su pensamiento. Esto empezó a cambiar hace cinco años, hay muchos partidos y la droga. Las personas que tienen dinero no le importan los pobres. Hay una diferencia socio-economica.“ (Gespräch mit Pedro Anicama, 04.04.04)
Auch im Fall der Sindicos würde sich zeigen, dass die gewählten Personen ihre Position gebrauchen, um sich und anderen bestimmte Vorteile zu verschaffen: „La empresa compradora de pescados que debian organizarse en una cooperativa, ya que venian japoneses iban a dar credito para ponkyns y los japoneses vinieron a Wawa, hablaron con el juez y el sindico y fueron ellos que eligieron a la gente que recibio el credito de cinco ponkyns.“ (Gespräch mit Salvador Juanes, 09.02.04) „Nadie apoya el equipo [de beisbol; H.M.] y el sindico solo llena sus propias bolsas y no ayuda a los jovenes.“ (Gespräch mit Don Arnulfo, 17.01.04)
Die Skepsis der Bewohner ließ sich auch an ihrer Teilnahme an einer Versammlung ablesen, bei man sich mit der Neuwahl der Sindicos befasste. Bei dieser reunión war das öffentliche Interesse auffallend gering: Es waren ca. 30 bis 40 Bewohner anwesend (Tagebuchaufzeichnung vom 14.03.04). Möglicherweise ist dies neben den bereits genannten Aspekten auch auf die Politisierung dieses Amtes zurückzuführen: „El sindico tiene autorización de los antepasados y debe ser apolitico pero ahora trabaja con la política, se mete con los partidos.“ (Gespräch mit Ernesto Nevado, 24.03.04.) 3.4 Die Mährische Kirche (Iglesia Morava) als Gegenspieler der traditionellen Autoritäten 3.4.1 Regelvorschriften der Iglesia Morava und die Einsetzung eines lokalen Vertreters (Reverendo) Die Iglesia Morava und insbesondere das lokal eingesetzte Kirchenoberhaupt (Reverendo) erteilen den Bewohnern Wawa Bars klare Regelvorschriften für das religiöse Leben und achten strikt auf deren Einhaltung. Die Zugehörigkeit zur Iglesia Morava manifestiert sich nicht nur in der regelmäßigen Teilnahme an den täglich stattfindenden Gottesdiensten: Das aktive Praktizieren der mährischen Religion dokumentieren die Frau111
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en durch eine weiße, auf dem Kopf getragene gestickte Kappe. Die Männer tragen keine vergleichbare Kopfbedeckung.51 Während der Messe sitzen Frauen und Männer getrennt. Die mährische Kirche schreibt vor, dass jede Person, die ein wahrer Christ werden möchte, ein Jahr am religiösen Leben der Gemeinde teilnehmen muss. Während dieser Zeit müssen die Aspiranten jeden Sonntag zum Gottesdienst erscheinen. Wer längere Zeit nicht an den Gottesdiensten teilgenommen oder nicht in der comunidad gelebt hat, darf zwar an den Gottesdiensten, aber nicht am heiligen Abendmahl teilnehmen. Ein Reverendo wird vom Superintendenten der Mährischen Kirche für drei Jahre in einer comunidad eingesetzt. Allerdings kann diese Zeit auf Bitten des Reverendos sowohl verlängert als auch bei auftauchenden Problemen zwischen ihm und den Dorfbewohnern auf ein Jahr verkürzt werden. Innerhalb der Kirche existiert neben dem traditionellen Ältestenrat auf der Dorfebene auch ein Rat auf der Kirchenebene – der so genannte Consejo de Ancianos de la Iglesia. Sofern der Reverendo nicht in der Dorfgemeinschaft anwesend ist, wird der Gottesdienst vom amtierenden Vorsitzenden dieses Rates geleitet. Darüber hinaus überwacht der Kirchenrat alle Aktivitäten der Kirche. 3.4.2 Der Einfluss der Kirche auf das Zusammenleben der Bewohner Bei näherer Betrachtung der Iglesia Morava und anderen lokalen Autoritäten wurden bestehende Konfliktlinien und eine hierarchisch gegliederte Struktur sichtbar. Darüber hinaus waren kirchliche Bestrebungen zu beobachten, die auf die Unterbindung bestimmter Kulturelemente abzielten und die Ansätze eines Traditionsverlustes offenbarten. Zuerst einmal ist zu konstatieren, dass in Wawa Bar neben der Iglesia Morava noch die Kirche Gottes (‚Iglesia de Díos‘) und die Kirche der Adventisten existieren. Der Reverendo vertritt die Auffassung, dass zwischen den einzelnen Kirchen keine Streitigkeiten existieren würden: „En Wawa hay tres iglesias: Morava a la que pertenece la mayoria, la Iglesia de Díos, son tres familias y la Adventista, son tambien tres familias. No existen problemas entre ellas y los Moravos los ayudan cuando hacen actividades.“ (Gespräch mit Arturo Faro, 14.01.04). Andere Gesprächspartner weisen wiederum auf Konflikte hin, die mit handfesten Streitigkeiten geendet hätten. Insbesondere die adventistische Kirche wäre mit dem Vorhaben, eine eigene Kirche zu errichten, für diesen Konflikt verantwortlich gewesen: „Los de Iglesia Morava estaban en contra que se construyen la Iglesia Adventista porque el día en que ellos hacen la misa es el sabado y el domingo trabajan y la Iglesia Morava hace la misa el domingo y este día no se trabaja. Asi que la Iglesia Morava no daba permiso porque el día domingo no era respetado y despues la Iglesia Adventista de Puerto ayudo a la construcción y ahi el 51 Im Gespräch erläuterte der Reverendo, dass er auf der Suche nach einer geeigneten Kopfbedeckung für die Männer sei. 112
ETHNOGRAPHIE DER COMUNIDAD WAWA BAR reverendo dijo que no queria mas pleito.“ (Gespräch mit Magdalena Urtecho, 27.02.04). „En el 2001 se construyo la iglesia adventista, hubo problemas hasta los pobladores sacaron machetes y hubieron heridos ya que el reverendo dijo que mientras el este vivo no habria otra iglesia. Por ese problema vino la policia de Puerto y dijo que la constitución nicaragüense dice que la iglesia tiene libertad de expresión y si tiene cinco miembros puede hacer una iglesia.“ (Gespräch mit Miguel Sarazo, 16.02.04).
Die Aussagen lassen den Eindruck entstehen, dass die Iglesia Morava bemüht wäre, die um Mitglieder konkurrierende adventistische Kirche nicht allzu sehr an Einfluss gewinnen zu lassen. Interessanter Weise haben beide Kirchen Anfang der 1970er Jahre unter einem gemeinsamen Dach ihre Gottesdienste abgehalten, bis die Iglesia Morava im Jahr 1974 ihre eigene Kirche fertig stellte. Solche internen Auseinandersetzungen werden auch auf anderer Ebene ausgetragen. Insbesondere das Verhältnis der Iglesia Morava zu den Mitgliedern traditioneller Autoritäten muss dabei genannt werden. 3.4.3 Konfliktlinien zwischen traditionellen Autoritäten und dem Reverendo Durch den christlichen Glauben und die feste Einbindung der Bewohner in sämtliche religiöse Aktivitäten52 würden die Bewohner der comunidad mehr dem Reverendo als den übrigen Entscheidungsträgern vertrauen: “La comunidad apoya a la iglesia por la fé de Díos porque piensa que cuando mueran recibirán algo mejor por lo que trabajaron en la iglesia. La comunidad respeta más al dirigente de la iglesia que a las autoridades.“ (Gespräch mit Arturo Faro, 03.03.04). Der tiefen Religiosität wird dabei eine nicht unwesentliche Rolle zugeschrieben: „La población sí colabora con la iglesia porque el reverendo dice que el que colabora con la iglesia se va al cielo.“ (Gespräch mit Dionisio Marenco, 27.02.04) „A la iglesia sigue asistiendo porque la población cree que Jesu Cristo es lo más importante. La población a la iglesia si ayuda porque los pastores piden ayuda.“ (Gespräch mit Genardo Esquivel, 21.02.04)
Befragt man Mitglieder der traditionellen Autoritäten zu diesem Aspekt, ergibt sich aus ihren Stellungnahmen ein gänzlich anderes Bild. Insbesondere Miguel Sarazo als Vertreter der Sindicos wirft dem Reverendo vor, sich durch seine Position zu bereichern und durch seine Art der Predigt
52 Während der Untersuchung wurden zwei regionale Konferenzen der Iglesia Morava in der comunidad abgehalten. Wie zu beobachten war, waren sämtliche Mitglieder der Dorfgemeinschaft in die dabei anfallenden Tätigkeiten eingebunden. 113
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den Zusammenhalt der Bewohner zu untergraben. Auch in den Drogenhandel sei er verstrickt: „La Iglesia Morava recauda entre 70.000 a 100.000 cordobas mensules en esta comunidad. A la iglesia lo que más le interesa es el dinero. En el 2003 una persona encontró cocaina y para esconderla de la policia la llevó a la casa del reverendo, la policia llegó, revisó varias casas y se fue. El reverendo no predica biblicamente sino a su manera y esto afecta en las relaciones personales.“ (Gespräch mit Miguel Sarazo, 16.02.04)
Die Kritik wird auch auf den Consejo de Ancianos ausgeweitet. Wie bereits in Abschnitt 3.3.1 dargestellt, ist eine der Funktionen des Sindicos die schonende Nutzung der natürlichen Ressourcen bzw. die Verwendung der aus dem Holzeinschlag erzielten Erlöse für Aktivitäten, die der comunidad direkt zugute kommen sollen. Nun kritisiert Sarazo, dass mögliche Einkommensquellen nicht den Sindicos zukämen, sondern zwischen dem Consejo de Ancianos und der Iglesia Morava aufgeteilt würden: „En Wawa tambien hubo un acopio Promavic entre 2001 y 2002 y ellos pagaban un porcentaje del pescado que fue pescado en Wawa y el dinero era entregado al Consejo de Ancianos y ellos dicen que este dinero era entregado a la iglesia. El acopio salio de Wawa porque los ancianos corruptos querian que cambian el comprador y que se ponga a otra persona de Wawa y la empresa no acepto y se fue y ellos perdieron el derecho de cobrar ese porcentaje.“ (Gespräch mit Miguel Sarazo, 31.03.04).
Da Miguel Sarazo in mehreren Gesprächen berichtete, dass er bisher noch nicht das Glück hatte, an den Strand geschwemmte Drogenpakete zu finden, kann davon ausgegangen werden, dass sich die ökonomische Unzufriedenheit Sarazos in einer abwertenden Meinung gegenüber dem Reverendo ausdrückt – der Reverendo erhält aufgrund seines Amtes sowohl ein relativ hohes Einkommen als auch bestimmte Dienstleistungen zugesprochen, die sich über Kochen, Hausputz, etc. erstrecken und von den weiblichen Mitgliedern der comunidad erbracht werden müssen. Darüber hinaus würde er das Kochgas gratis bekommen und auf einer nagelneuen Matratze schlafen (Tagebuchaufzeichnung vom 16.02.04). Im Folgenden wird zu zeigen sein, dass neben den traditionellen Autoritäten und dem Reverendo der Mährischen Kirche weitere gruppenspezifische Vereinigungen existieren, die in einem spezifischen Verhältnis zueinander stehen. 3.5 Gruppenspezifische Vereinigungen und ihr Verhältnis zu den traditionellen Autoritäten 3.5.1 Die Frauenorganisation AMICA Die Frauenorganisation AMICA (Asociación de las Mujeres Indígenas de la Costa Atlántica; Vereinigung der indigenen Frauen der Atlantikküste) wurde nach Beendigung der Kriegshandlungen an der Atlantikküste im 114
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Jahr 1990 gegründet. AMICA unterstützt im Wesentlichen eine integrierte Entwicklung der Frauen in den comunidades, bei der Frauenrechte verteidigt, eine Beteiligung an den gefällten Entscheidungen sichergestellt und die Integration der Frauen in die ökonomischen Aktivitäten ermöglicht werden sollen. Die Organisation möchte soziokulturelle und ökonomische Belange mit dem Schutz der natürlichen Ressourcen an der Atlantikküste verbinden. Die einzelnen Programme werden von internationalen Nichtregierungsorganisationen wie der finnländischen KEPA (KEhitysyhteistyön PAlvelukeskus; Service Centre for Development Service), dem World Wildlife Fund (WWF) oder dem Programm ‚PRO-ARCA capas‘ (Programa Ambiental Regional para Centro America; Regionales Umweltprogramm für Zentralamerika) finanziert (vgl. www.miskito-nicara gua.de/miskito/amica1.htm. 3.5.2 AMICA in Wawa Bar und die Rolle der Protagonistinnen Auch in Wawa Bar gibt es seit dem Jahr 1993 Bestrebungen, durch externe Finanzierung seitens PROARCA, WWF und MARENA (Ministerio de Recursos Naturales y Medio Ambiente; nicaraguanisches Umweltministerium) ein Öko-Tourismus-Projekt zu installieren. Daneben werden Nähkurse und das Handwerk der Konditorei angeboten. Der Vorstand (junta directiva) wird von sieben Frauen gebildet. Der Organisation gehören 36 Frauen an (Gespräch mit Antoñia Jerez, 06.02.04). Diese offizielle Version stimmt jedoch nicht mit den vorgefundenen Verhältnissen in der comunidad überein. Die durchgeführten Beobachtungen und Gespräche haben zutage gefördert, dass AMICA politisch instrumentalisiert wird und sich unterschiedliche Interessengruppen herausgebildet haben. Diese Gruppen unterscheiden sich nicht nur in ihren politischen Anschauungen, sondern zementieren auch die ohnehin schon bestehende räumliche Verteilung bzw. Zuordnung der Bewohner Wawa Bars in unterschiedliche barrios. Im Jahr 1993 wird von Vera Zúniga die Frauenorganisation ‚Prana Watla‘ (Casa de Belleza, Haus der Schönheit) gegründet. Mit externer Hilfe in Höhe von 1.900 Cordoba und drei zur Verfügung gestellten Nähmaschinen werden Nähkurse für Frauen angeboten und mit dem Verkauf der erstellten Kleidung eine Verbesserung ihrer finanziellen Situation angestrebt.53 Als im Jahr 1995 die Aktivitäten der AMICA in Wawa Bar begannen, wurde Vera Zúniga zu Beginn die Verantwortung übertragen. „En 1995 AMICA vino a formar una organización de mujeres y a mi pusieron la presidenta.“ (Gespräch mit Vera Zúniga, 27.01.04). Mit der 53 Interessanter Weise nennt Vera Zúniga bei zwei aufeinander folgenden Gesprächen unterschiedliche Geldgeber: Während sie in einem ersten Treffen davon spricht, dass die Organisation von einer nicht näher benannten USamerikanischen Nichtregierungsorganisation unterstützt wurde (Gespräch mit Vera Zúniga, 27.01.04), nennt sie beim zweiten Gespräch die lokale Initiative ‚Micupia‘ (Gespräch mit Vera Zúniga, 03.02.04). 115
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Zeit entwickelte sich ein politisch motivierter Interessenkonflikt zwischen der zu diesem Zeitpunkt amtierenden AMICA-Präsidentin Heidi Echeverría und Vera Zúniga. Offiziell ist AMICA apolitisch ausgerichtet: „AMICA es ápolitico. En AMICA se recibe a Sumos, Mískitos, Mestizos, Criollos, si es mujer es bienvenida.“ (Gespräch mit Antoñia Jerez, 06.02.04). Allerdings werden die politischen Präferenzen der beteiligten Personen an anderer Stelle klar hervorgehoben: „AMICA hizo talleres en Puerto Cabezas y eran de como recibir a los turistas, como servir la comida y al final de los talleres. Heidi decia que en las elecciones ellas deberian votar por Yatama ella no acepta en la organización gente del PLC.“ (Gespräch mit Magdalena Urtecho, 11.02.04)
Da Vera Zúniga Anhängerin der liberalen PLC ist und mit der YATAMA nichts zu tun haben will, wurde ihr im Jahr 1998 die Leitungsfunktion der AMICA in der comunidad wieder entzogen. Daraufhin reaktivierte Zúniga ihre vormals gegründete Frauenorganisation, nicht zuletzt, um das durch ihre Initiative errichtete Haus und die erhaltenen Utensilien für sich und ‚ihre‘ Frauen weiterhin in Anspruch nehmen zu können. Um die Räumlichkeiten zu finanzieren, buken die Frauen Brot und verkauften es in der comunidad. Allerdings kam Vera Zúniga auch ihre Nähe zur PLC zugute: „El gobierno de Alba Rivera se hizo algo junto con el presidente Alemán. A mi me dieron laminas de zinc y dos maquinas de coser para mi casa de mujeres.“ (Gespräch mit Vera Zúniga, 18.04.04). Darüber hinaus stifteten in Puerto Cabezas ansässige Institutionen Lebensmittel, die entweder in Holz getauscht oder weiter verkauft wurden. Auch die Sindicos unterstützten die Frauen mit einer Holzspende (Gespräch mit Vera Zúniga, 03.02.04). Nach Zúnigas Abwahl erhielt eine Frau das Amt der lokalen AMICA-Präsidentin, die am entgegengesetzten Ende von Wawa Bar wohnt und lediglich in ihrem Umfeld die dort lebenden Frauen organisiert bzw. ihre eigenen Tätigkeiten über dieses Amt entfaltet: „AMICA quiso quitarme la presidencia junto con la casa pero yo dije que no y que nosotras organizaremos nuestra propia organización y que a mi y mis mujeres nos habia costado conseguir las cosas. Fue ahi que pusieron a Adela de presidenta de AMICA pero con eso ella trabaja para si misma por su negocio.“ (Gespräch mit Vera Zúniga, 03.02.04) „En ese tiempo solo AMICA formó la organización y no hizo nada hasta más o menos 1998 o 1999 que vinieron de nuevo y escogieron otra junta directiva y el otro grupo en que solo participan la gente del lado de [Wawa, H.M.] arriba.“ (Gespräch mit Vera Zúniga, 27.01.04) „AMICA dijo que despues prestaria dinero a las mujeres y que daria credito para pangas y anzuelos. Y en todo mintieron la unica que recibe un credito es Adela y fue de 5.000 Cordobas.“ (Gespräch mit Magdalena Urtecho, 11.02.04)
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Dass die neue Präsidentin an einer Verwirklichung der Unterstützungsprogramme nicht interessiert und eher darum bemüht ist, nicht allzu viel davon an die Öffentlichkeit gelangen zu lassen, wird an mehreren Punkten sichtbar: Es ist nicht möglich gewesen, auch nur ein einziges Gespräch mit ihr zu den genannten Aspekten zu führen.54 Zum anderen hat AMICA in der comunidad ein Hotel für den Ökotourismus gebaut, welches laut Aussage der Bewohner nicht genutzt wird. Die dafür bereit gestellten Utensilien befänden sich in den Händen der Präsidentin. In ihrem eigenen Haus würde sie Touristen aufnehmen bzw. Mitglieder der eigenen Familie im Hotel wohnen lassen, was den Unmut der anderen organisierten Frauen provoziert hätte: „La casa costó 6.000 Cordobas y solo se pago el carpintero y la madera. Cuando se termino el hotel vino el donante y dio dinero para hacer el servicio y esto no se termino de hacer y Adela tiene el inodoro en su casa. AMICA tambien dono las camas, sabanas, almohadas, trastes y una cocina grande. Actualmente la cocina la tiene Adela. Adela solo trabaja con su hermana y a veces me invita para trabajar juntos pero no a las otras mujeres. Esto es cuando llegan turistas, el año pasado vinieron dos turistas en noviembre, a la casa de Adela vinieron 20 turistas. Actualmente en el hotel vive una familia de Adela. Algunas mujeres pelean con Adela.“ (Gespräch mit Magdalena Urtecho, 11.02.04)
Darüber hinaus würde nach offizieller Aussage ein so genannter revolvierender Fonds in Höhe von 5.000 Cordoba existieren, mit dem ein typischer comedor55 eröffnet, Kunsthandwerk angeboten und die Näherei erlernt werden solle (Gespräch mit Antoñia Jerez, 06.02.04). Die vorgefundene Realität ist auch hier eine andere: Weder werden die Frauen durch den Hotelbau begünstigt noch ist ihnen ein revolvierender Fonds bekannt. Dieses Beispiel verdeutlicht, dass die in der nördlichen Atlantikküstenregion ausgetragenen politischen Grabenkämpfe auch in die comunidad hinein getragen werden und sich bspw. in einer Aufteilung der in den unterschiedlichen barrios lebenden Frauen in politische Interessengruppen manifestiert. Die ohnehin schon bestehende Unterteilung der Bewohner in bestimmte barrios innerhalb der Grenzen der Dorfgemeinschaft erfährt dadurch noch zusätzlich eine politische Komponente. Dass die dargestellte Auseinandersetzung auf den Bereich der Frauen beschränkt blieb, ist daran abzulesen, dass sich kein männlicher Befragter zu diesem Thema äußerte. Darüber hinaus wurde dieses Thema nur von Frauen angesprochen, die direkt in diesen Konflikt involviert waren. Dies bedeutet, dass ein bestimmter Teil der Bewohner von diesem Vorgang entweder gar keine Kenntnis besaß oder sich bewusst aus der Sache heraushielt. 54 Bei den Gesprächsversuchen wiegelte sie immer dahingehend ab, dass sie keine Zeit hätte, das Wetter zu schlecht wäre oder man am nächsten Tag wiederkommen solle. 55 Als comedor wird ein kleines Restaurant bezeichnet, in dem die lokalen Speisen relativ preiswert angeboten werden. 117
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3.5.3 Die Gründung einer Fischerkooperative und die Nichtteilnahme der Bewohner Wie bereits weiter oben kurz erwähnt, wurde im Jahr 1995 eine Fischerkooperative in Wawa Bar gegründet. Zur selben Zeit konstituieren sich weitere Kooperativen in den comunidades Karata, Tuapi, Haulover und Wounta (Gespräch mit Salvador Juanes, 27.01.04). Zum Zeitpunkt der Untersuchung gehören 40 Fischer dieser Fischerkooperative an, die alle über Boote mit Außenbordmotor und eigene Gerätschaften verfügen. Die wöchentlichen Treffen seien nicht gut besucht, was damit begründet wird, dass nicht alle Fischer Mitglied der Kooperative seien. Ein weiterer Grund wäre das stetig nachlassende Interesse, überhaupt an Versammlungen teilzunehmen: „Las reuniones son domingos despues del culto y muchas veces los pescadores no se enteran porque Wawa Bar es grande. No todos los pescadores estan en la cooperativa ya que no llegan a las reuniones ni participan para ir a Puerto Cabezas ni pone una cuota solo los que siempre participan. A los que no participan no piensan en prosperar más, solo piensan en sus siembras y su pesca, asi son los Mískitos. Antiguamente no se podia salir el domingo de Wawa Bar y si de asi el juez ponia una multa, tenian que trabajar para la comunidad y hasta que llevaban presos.“ (Gespräch mit Salvador Juanes, 09.02.04)
Während einer für die Fischer durchgeführten Informationsveranstaltung, bei der die nachhaltige Nutzung des traditionellen Fischfangs an der Atlantikküste thematisiert wurde, konnte das geringe Interesse beobachtet werden: An einer unter dem Titel ‚Solo pescadores organizados tienen una vida mejor‘ (‚Nur organisierte Fischer haben ein besseres Leben‘), organisierten Veranstaltung nahmen 24 Personen teil. In der TeilnehmerUnterlage wurde ein generelles Problem der Küstenfischerei angesprochen: Die Fangmengen würde immer mehr ab-, die Anzahl der Fischer aber immer mehr zunehmen (Tagebuchaufzeichnung vom 15.03.04). Des Weiteren war angedacht, durch die Vergabe von Kleinkrediten die Mikro-Ökonomie der Fischerkooperative zu unterstützen und die Finanzierung über eine zu gründende Kredit-Kooperative abzusichern. Diese sollte ursprünglich unter Mithilfe der autonomen Regionalregierung und der schwedischen Nichtregierungsorganisation ASDI (Agencia sueca para el desarrollo internacional; Schwedische Agentur für Internationale Entwicklung) aufgebaut werden. Trotz weiterer Unterstützungsmaßnahmen scheiterte das Vorhaben: „La cooperativa de credito fracasó hace un año en Wawa y estaba apoyada por ASDI y el gobierno regional. Con ellos siempre habian seminarios y eran cinco cooperativas y se hizo una unión de cooperativas con un representante en Puerto Cabezas.“ (Gespräch mit Salvador Juanes, 27.02.04)
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3.5.4 Der Schulrat (Consejo Consultivo de la Escuela) und fehlendes Engagement der Eltern Der Schulrat wurde während der Regierungszeit der Sandinisten im Jahr 1981 unter der Bezeichnung patronato escolar gegründet. Die Mitglieder werden alle drei Jahre gewählt und treffen sich turnusgemäß alle drei Monate (Gespräch mit Dionisio Marenco, 27.02.04). Der Schulrat hat sich dabei insbesondere mit Problemen des Fernbleibens vom Unterricht auseinanderzusetzen. Dies würde in gleichem Maße auf Schüler wie Lehrkräfte zutreffen: „Actualmente existe en el colegio un consejo consultivo que es formado por los padres de la familia, la mayoria asiste a las reuniones y tienen voz y voto, son llamados cuando hay problemas en la escuela y los problemas más comunes son que los alumnos no vienen a clase o que los maestros se van por varios días a Puerto. Cuando los maestros faltan por varios días el consejo consultivo junto con el director hacen una carta y lo envian al ministerio de educación.“ (Gespräch mit Dionisio Marenco, 17.02.04)
In einem weiteren Gespräch ergänzt Marenco, dass die dem Unterricht fernbleibenden Lehrkräfte die Gründe ihres Verhalten vor dem Schulrat darlegen sollen: „Cuando un profesor falta debe explicar al consejo consultivo cuales son sus razones.“ (Gespräch mit Dionisio Marenco, 27.02. 04). Ebenso wäre bei den Eltern keine Bereitschaft vorhanden, die speziell aus dem Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (Programa Mundial de Alimentación) zugeteilten Nahrungsmittelhilfen für die Kinder unentgeldlich von der Mole in die comunidad zu transportieren: „Cuando la donación llega al muelle de Wawa Bar los padres de familia no quieren colaborar con cargar las cosas hasta la escuela, quieren que les paguen por esto. Asi es mi raza y que los Mískitos quieren que les paguen por todo.“ (Gespräch mit Dionisio Marenco, 27.02.04). Die genaue Betrachtung der lokalen Vereinigungen fördert zutage, dass sich die soziale Interaktion zwischen den jeweiligen Teilnehmern von individuellen Differenzen über Nichtteilnahme bis hin zu offenen Konflikten erstreckt. Auch bei der Darstellung der traditionellen Autoritäten bzw. der Mährischen Kirche lassen sich individuelle und gruppenspezifische Auseinandersetzungen erkennen. Meines Erachtens rufen diese Konflikte eine Veränderung in der sozialen Organisation hervor. Die Triebfeder dieses sozialen Handelns ist aber nicht auf der Ebene der Dorfgesellschaft verortet, sondern auf einen supranationalen Einfluss zurückzuführen, der bereits mehrfach in den Aussagen der Bewohner zum Vorschein kam wurde und der im folgenden Abschnitt umfassend thematisiert werden soll. Es handelt sich dabei um eine in der Region herausgebildete Drogenökonomie, die auf die soziale Organisation der Bewohner einen nachhaltigen Einfluss ausübt.
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4. Der Einfluss der Drogenökonomie auf die soziale Organisation der Bewohner 4.1 Die beginnende Kommerzialisierung von Kokain Der Drogenhandel (narcotrafico) hat zu signifikanten soziokulturellen und sozioökonomischen Veränderungen in der comunidad geführt.56 Dass sich die Befragten in allen geführten Gesprächen ohne explizite Nachfrage des Autors zu diesem Aspekt äußerten, lässt erkennen, dass sämtliche Lebensbereiche von diesem narcotrafico berührt werden: „Antes de la planta electrica la vida era más pobre y ahora que hay droga va cambiando. La gente era más unida, era amorosa, todo era regalado y ahora todo es vendido, el pueblo era sano desde hace seis años, ya no hay amor, ni armonía.“ (Gespräch mit Vera Zúniga, 18.03.04) „Con la droga la gente cambio bastante y la gente se vuelve maliante.“ (Gespräch mit Genardo Esquivel, 27.02.04) „La droga afecta en la comunidad porque todos quieren conseguirla.“ (Gespräch mit Miguel Sarazo, 16.02.04) „La droga cambia la organización de la comunidad, la cultura y la educación. Por ejemplo nadie quiere transportar gratis las autoridades para que defienden los derechos de la comunidad en Puerto [Cabezas; H.M.].“ (Gespräch mit Miguel Sarazo, 24.02.04)
Gleich zu Beginn der Untersuchung fiel auf, dass sich die Bewohner kaum gegenseitige Besuche abstatten. Insbesondere nach Einbruch der Dunkelheit wirkt die comunidad wie ausgestorben, da sich die Bewohner in ihre Hütten einschließen. Die am abendlichen Schulunterricht teilnehmenden Kinder werden trotz der relativen Überschaubarkeit der Dorfgemeinschaft von ihren Eltern abgeholt. Ebenso kehren Bewohner, die sich gemeinsam auf der Terrasse eines Nachbarn einen Videofilm ansehen, nach Ende des Films in eiligen Schritten zu ihren Häusern zurück. Ohne zunächst erkennbaren Grund wurde davor gewarnt, zu vorgerückter Stunde noch in der comunidad unterwegs zu sein. Erst im weiteren Verlauf des Aufenthaltes wurde deutlich, dass die Drogenökonomie ein Klima des gegenseitigen Misstrauens und des individuellen Rückzugs geschaffen hat. 56 Bei den folgenden Ausführungen wird auch von gefundenen Drogen gesprochen. Der Großteil des – für den US-amerikanischen Markt bestimmten – geschmuggelten Kokains wird von Kolumbien aus auf dem Seeweg an die nicaraguanische Atlantikküste transportiert. Es ist davon auszugehen, dass die Bewohner anfänglich durch zufällige Drogenfunde mit dem Kokain in Berührung gekommen sind: Zuerst werfen narcotraficantes, die bei Schmuggelaktivitäten von der Küstenwache entdeckt werden, ihre Drogenpakete über Bord. Diese werden dann durch die Meeresströmung an die Küste gespült und von den Bewohnern gefunden. 120
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Die traditionellen Autoritäten hätten zu Beginn der ersten Drogenfunde die aus dem Weiterverkauf erzielten Erlöse für das Allgemeinwohl verwendet. Als den Bewohnern jedoch die zu erzielenden Gewinnspannen bewusst wurden, sei diese Form des gemeinsamen Verwertens aufgegeben worden. Dies hätte hinsichtlich des Findens und Vermarktens von Kokain zu einem Konkurrenzkampf unter den Bewohnern geführt: „En el año 1998 fue la primera vez que encontraron droga y entregaron la mitad del dinero al juez y el compró ganado.“ (Gespräch mit León Andrade, 31.01.04) „Cuando alguien encuentra droga se entra cinco kilos para el juez, los ancianos y la Policia Nacional y dos kilos para la comunidad. Cuando el tio de Emilio Aragón era juez una persona de la comunidad encontró droga y le entregó al juez cinco kilos y el tenia que dividirlos con la Policia Nacional y los ancianos. Pero el no entregó nada, se escondió en la montaña y los vendió.“ (Gespräch mit Aramis Lombardo, 22.02.04)
Der Beginn der ersten Drogenfunde wird unterschiedlich datiert: Einerseits wird das Jahr 1985 genannt. Andere Befragte nennen den Zeitraum zwischen 1998 und 2000. Ein Mitte der 1980er Jahre entstehender Drogenhandel erscheint aufgrund der Kriegssituation, bei der auch die karibische See unablässig von den Sandinisten überwacht wurde, eher unwahrscheinlich. Wie bereits weiter oben erwähnt, wurde nach Einstellung der Kampfhandlungen und formalen Beendigung des Bürgerkrieges die Seeund Küstenüberwachung eingestellt. Fast zeitgleich vergab die von Violeta Chamorro geführte UNO-Regierung Fanglizenzen an internationale Fischfangflotten. Diese in nicaraguanischen Hoheitsgewässern operierenden Flotten hätten es den kolumbianischen Drogenkartellen erleichtert, neue Transportrouten zu erschließen, diese auszubauen und immer weiter zu festigen (vgl. Poveda Rodriguez et al. 1998: 3). Auf Grundlage meines Datenmaterials ist davon auszugehen, dass ab Mitte der 1990er Jahre der narcotrafico in der Region zunahm und Wawa Bar zwischen 1998 und 2000 das erste Mal mit an Land geschwemmten Drogenpaketen in Berührung kam. Offensichtlich waren die nationalen Regierungen unter Violeta Chamorro und Arnoldo Alemán nicht an der Lösung dieses Problems interessiert: „Los gobiernos de Violeta y Alemán no les interesó resolver este problema.“ (Gespräch mit Arturo Faro, 14.01.04). In ähnlicher Weise äußerten sich auch andere Gesprächspartner (Gespräch mit Dionisio Marenco, 27.02.04; Gespräch mit ‚El Noruego‘, 19.02.04). 4.2 Wandlungsprozesse infolge der Drogenökonomie 4.2.1 Sichtbare Veränderungen der Infrastruktur Bei einem Rundgang durch die comunidad fällt auf, dass einige Bewohner mehr und andere weniger Glück beim Fund bzw. der Kommerzialisierung der so genannten ‚cosa buena‘ oder auch ‚cosa blanca‘ hatten: Die näher am Strand liegenden Häuser sind teils ungestrichene, teils wind121
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schiefe Bretterhütten, vor denen mit Brennholz gekocht wird. Allerdings verändern sich die Hütten hinsichtlich Konstruktion und Ausstattung umso mehr, je näher sie sich am Hauptweg bzw. in der Nähe der Iglesia Morava befinden. Diese Unterkünfte verfügen über ein separates kleines Haus, das einzig und allein als Küche fungiert. Darin befinden sich moderne Gasherde, unterschiedliche Küchenutensilien und Mobiliar wie Aufbewahrungsschränke, Esstische und Stühle. Darüber hinaus sind die Wohnhäuser mit Konsumartikeln wie Fernseher, Satellitenschüsseln für internationalen TV-Empfang, Videorecordern, Mobiltelefonen, Notstromaggregaten, etc. ausgestattet (Tagebucheintrag vom 03.01.04). Anhand der Ausstattung eines Hauses könne man den Umfang eines Drogenfundes ablesen: „Cuando la gente encontró unos pocos kilos de droga los repartió con su familia pero los que consiguieron mucho no repartieron nada y son los que tienen buenas casas. Por ejemplo si yo tengo dinero, voy a comer como norteamericano, no voy a hablar Mískito, no voy a llegar a la iglesia porque tengo mucho trabajo y en 10 o 15 años la gente va a olvidar todos sus antepasados.“ (Gespräch mit Pedro Anicama, 22.04.04)
4.2.2 Wandel der Konsummuster Das eben genannte Zitat weist darauf hin, dass sich sukzessive die soziale Organisation und die Konsummuster der Bewohner verändern. Der ökonomische Spielraum weitet sich aus und manifestiert sich neben den bereits genannten Einrichtungsgegenständen in der Anschaffung von Glasfiberbooten, Außenbordmotoren und neuen Netzen (Gespräch mit Miguel Sarazo, 19.01.04). Diese sicherlich auch auf die Erleichterung des Fischfangs zielenden Maßnahmen bewirken eine wesentlich höhere Mobilität, die jedoch auf einen bestimmten Personenkreis beschränkt bleibt: „Cuando la gente encontró droga se compró una panga viajaba a Puerto solo con su esposa y no queria llevar a nadie y mucho menos con carga.“ (Gespräch mit Miguel Sarazo, 16.02.04). Das Konsumverhalten wirkt sich je nach Finder unterschiedlich aus: Die einen verwenden ihren Gelderlös für Dinge, die für ein Leben in einem abgelegenen Fischerdorf nicht unbedingt notwendig erscheinen (wie bspw. Plastikblumen zur Dekoration des Wohnhauses). Die anderen tätigen langfristige Investitionen, indem sie in den Fischfang investieren: „Cuando la gente encuentra coca muchas personas malgastan el dinero y otras lo invierten en equipo de pesca y asi salen de la pobreza. Cuando la gente encuentra coca lo vende de inmediato aca mismo.“ (Gespräch mit Salvador Juanes, 27.01.04). Die schnellere und vor allem größere Verfügbarkeit über Geld führt ebenso dazu, dass die traditionelle Subsistenzwirtschaft fast vollständig zum Erliegen kommt: „Entre los años 70 y 80 el pueblo si participaba en las reuniones, no habia drogas ni guerras. Antes la organización era mejor, yo creo que el tiempo va cambiando y la gente cambia su pensamiento. Esto empezó a cambiar hace 122
ETHNOGRAPHIE DER COMUNIDAD WAWA BAR cinco años, hay muchos partidos y la droga.“ (Gespräch mit Miguel Sarazo, 29.02.04) “La gente se dedicaba más a la agricultura y a la pesca, actualmente es más a la droga.“ (Gespräch mit Miguel Sarazo, 16.02.04) „Esta gente ya no se dedica a este negocio de comercializar ya que ahora se dedica a vender droga. Casi todos los de Wawa Bar que viven en Puerto se dedican a ser narcos, se olvidaron de la pesca y el comercio.“ (Gespräch mit Pablo Chamorro, 25.02.04) „Despues de la guerra algunas personas trafican con drogas y surgieron por esto mejoraron sus casas y dejaron de sembrar para su autoconsumo solo se dedican a comprar y la iglesia aconseja que esto no se debe hacer y que pronto se acabará” (Gespräch mit Arturo Faro, 14.01.04).
4.2.3 Neid (envidia) als Folgeerscheinung der Drogenökonomie In diesem Zusammenhang wird von den Befragten noch ein weiteres Phänomen genannt: Der Einfluss des Neids (envidia), der zwischen den Bewohnern Wawa Bars bestehen würde. Die envidia57 sei eindeutig auf den Einfluss der Drogenökonomie zurückzuführen: „La envidia sucede aca ya que algunas personas que trabajan con drogas y mejoraron sus condiciones de vida como comprando pangas, motores y la otra gente busca la manera de trabajar con la droga. Algunas familias son enemigas porque no encuentran droga. En la ciudad esto es distinto pero en la comunidad es diferente porque el pobre ve como el otro supera y la responsabilidad de la iglesia es que tiene que evitar esas cosas y tiene que apoyar más a las familias pobres y los que tienen dinero no quieren participar en la iglesia.“ (Gespräch mit Arturo Faro, 03.02.04). „Actualmente cada quien piensa por si mismo y no quieren obedecer esto sucede hasta con la iglesia. El trabajo de la iglesia lo hacen por temor a Díos.“ (Gespräch mit Arturo Faro, 03.03.04).
Die sich durch diesen Prozess herausgebildete Konkurrenzsituation zwischen Bewohnern, die bereits von Drogenfunden profitieren konnten oder sogar einen regelmäßigen narcotrafico betreiben und denen, die von dieser Erwerbsquelle ausgeschlossen bleiben, würde zur Herausbildung und Festigung der envidia beitragen. Da die lokalen Autoritäten hinsichtlich der Verwendung von Drogengeldern nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht seien, scheint durch den Einfluss der Drogenökonomie ebenso das Vertrauensverhältnis zwischen Bewohnern und gewählten Autoritätspersonen zu schwinden: „Las autoridades no funcionan, nadie trabaja, hacen las cosas en que no deben estar. Cuando es cosa de trafico las autoridades son rapidas para hacer sus negocios.“ (Gespräch mit Vera Zúniga, 18.03.04)
57 Eine nähere Betrachtung der envidia werde ich in Abschnitt 6.0 vornehmen. 123
KULTURELLES ERBE ALS IDENTITÄTSSTIFTENDE INSTANZ? „El consejo de ancianos desconoce la ley 445, solo piensa en el negocio de la coca.“ (Gespräch mit Miguel Sarazo, 26.04.04). „Las autoridades tradicionales no sirven, solo cuando una persona encuentra la cosa blanca le buscan para pedirle algo.“ (Gespräch mit Magdalena Urtecho, 14.03.04) „Cuando el consejo de ancianos hace una reunión no hay participación del pueblo y la comunidad dice que los del consejo de ancianos son unos ladrones que solo piensan en coca porque una vez alguien de la comunidad encontró cocaina y entregó una parte al consejo de ancianos para que lo repartieran con la comunidad pero los lideres lo cogieron por eso no llega el pueblo a las reuniones y los ancianos hacen lo que quieren.“ (Gespräch mit Miguel Sarazo, 29.02.04)
Diese unterschiedlichen Interessenlagen würden zur Herausbildung einer sozioökonomischen Trennlinie zwischen den Bewohnern und den gewählten Autoritäten beitragen: „Las personas que tienen dinero no le importan los pobres. Hay una diferencia socioeconomica.“ (Gespräch mit Pedro Anicama, 04.04.04) „La mayoria de Wawa bajo son pobres porque no comercializan con drogas y la iglesia siempre habla fuerte con ellos para que no lo hagan.“ (Gespräch mit Arturo Faro, 14.01.04)
4.3 Die Auswirkungen auf Familie und Schulausbildung Auch die innerfamiliären Strukturen seien von dieser Entwicklung betroffen. Es würde sich ein sozioökonomisches Gefälle zwischen den Bewohnern herausbilden und die soziale Interaktion durch charakteristische Verhaltensweisen maßgeblich bestimmen. Dieses Verhalten würde sich einerseits in der verbalen Kommunikation und gegenseitigen Besuchen niederschlagen: „Antes el hombre y la mujer no se comportaban asi con respecto al saludo ya que actualmente no se saludan ni dentro de la familia y solo se miran en la iglesia y despues son como otras personas. El reverendo no predica biblicamente sino a su manera y esto afecta en las relaciones personales.“ (Gespräch mit Miguel Sarazo, 16.02.04) „Antiguamente la gente se visitaba entre familiares y amigos esto sucedio hasta la guerra. Desde que se encontró droga esto cambio. La gente que viene de Puerto Cabezas o de otro lugar conversa más tranquila pero estoy observando que la gente de aca guarda distancia. Yo creo que es por la desconfianza. Por ejemplo si alguien llega a una casa quiere ver que puede robar, esto lo hacen los fumadores de crack.“ (Gespräch mit Miguel Sarazo, 31.03.04)
Ebenso sei festzustellen, dass einerseits die Schüler immer mehr ihre Ausbildung vernachlässigen und andererseits die Eltern nicht weiter daran interessiert wären:
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ETHNOGRAPHIE DER COMUNIDAD WAWA BAR „Desde que entró la coca no importa si los niños van a la escuela, solo importa el dinero y la educación no es importante.“ (Gespräch mit Miguel Sarazo, 29.02.04) „Cuando la gente encontró droga no hablaba ni con su familia, se sentia como superior.“ (Gespräch mit Miguel Sarazo, 31.03.04) „La gente piensa que siempre va a ver la coca, no le interesa la educación y por la iglesia si se preocupan. El pueblo no se preocupa por los maestros pero si por el reverendo.“ (Gespräch mit Miguel Sarazo, 16.02.04)
Diese abnehmende Kommunikation untereinander ließ sich auch bei Dorfversammlungen beobachten, die mehrere Male während des Untersuchungszeitraumes abgehalten wurden. Auffällig war, dass sich bei der ohnehin geringen Teilnahme der Bewohner immer wieder Gruppen bildeten, die lediglich um die Durchsetzung ihrer eigenen Interessen bemüht waren. Interessant erscheint in diesem Zusammenhang, dass diejenigen, die im Einzelgespräch permanent die Gefahr einer Zersplitterung der Gemeinschaft thematisierten, diese Foren nicht als Plattform nutzten, um diese ihrer Meinung nach negative Entwicklung in der comunidad mit den anderen Bewohnern zu diskutieren. Auch die in Wawa Bar tätigen Lehrer hätten mehr und mehr unter dieser Situation zu leiden, da sich die Bewohner mittlerweile weigern würden, sie bei ihrer Tätigkeit zu unterstützen: „La droga provoca odio y envidia ya que la gente que solo se interesa en la droga y que la consiguió se sienten superiores y humillan a los pobres. Los pobres se sienten menospreciados.“ (Gespräch mit Miguel Sarazo, 16.02.04) „Culturalmente no respetan a los maestros. Segun la biblia: cuando viene un forastero o extranjero se debe ayudar. Yo veo un problema con respecto a eso ya que la gente no regala pescados a los maestros y cuando hay una reunión y se les pregunta, ellos dicen para que los vamos a ayudar si ellos ganan un salario. Antiguamente este pensamiento no existia.“ (Gespräch mit Miguel Sarazo, 31.03.04) „En una reunión de padres la gente dijo que ese no era su problema. Los padres dicen que todo no es su problema.“ (Informelles Gespräch mit Manuela Sarazo, 17.04.04)
Die Arbeitslosigkeit in der Region würde ebenso dazu beitragen, dass die jüngeren Bewohner eher Straftaten begingen als ihre Schulausbildung voranzutreiben. Der Schulbesuch würde lediglich als eine Möglichkeit gesehen, sich für eine bestimmte Zeit aus dem Elternhaus entfernen zu können: „Actualmente a la gente no le gusta estudiar porque no hay trabajo y prefieren robar. La gente de Wawa se va a robar en Puerto.“ (Gespräch mit Magdalena Urtecho, 27.02.04)
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KULTURELLES ERBE ALS IDENTITÄTSSTIFTENDE INSTANZ? „Pero la gente de aca en la mayoria de los casos consuma el dinero de la droga y no esta interesada a la educación de sus niños. Los alumnos en su mayoria solo participan en la escuela para no tener que trabajar en la casa y de establecer relaciones con personas de su edad. La educación no les interesa mucho.“ Gespräch mit Doña Norma, 17.01.04).
Es ist davon auszugehen, dass neben diesem Desinteresse eine durch die Drogenökonomie erzeugte Abhängigkeit ebenso eine große Rolle spielt. Ein Lehrer der ansässigen Schule vertritt die Auffassung, dass unter den Schülern ein massives Drogen- und Alkoholproblem bestehen würde (Informelles Gespräch mit Dionisio Marenco, 09.01.04). Relativ häufig in Wawa Bar vorkommende Diebstähle scheinen direkt mit diesem Konsum in Verbindung zu stehen: Während des Untersuchungszeitraumes wurden des Nachts Wertgegenstände aus der Schule gestohlen und von einem vor der comunidad ankernden Fischerboot entwendeten jüngere Bewohner gefangene Großgarnelen. Auch der Reverendo ist der Auffassung, dass insbesondere die Jugendlichen keinen Antrieb zum Arbeiten mehr hätten bzw. nur noch Drogen konsumieren und Diebstähle begehen würden (Informelles Gespräch mit Arturo Faro, 26.01.04). An dieser Stelle sei erwähnt, dass sicherlich auch die älteren Bewohner dem Einfluss der Drogen unterliegen. Erfahrene Kriegstraumata bei den Kampfhandlungen Mitte der 1980er Jahre und erlittene Verletzungen hätten dazu beigetragen, dass Drogenkonsum stark verbreitet sei: „A los guerrilleros les ponian moraina para las heridas de guerra, esto es un derivado de Morfina, este medicamento les daba alucinaciones y actualmente con la droga han encontrado una solución fácil. Nunca nadie solucionó la parte psicologica y por eso usan la droga porque se sienten liberados de sus problemas del porque de la guerra.“ (Gespräch mit Leonardo Pastora, 22.03.04)
4.4 Vorgehensweise der Mährischen Kirche gegen den Drogenhandel 4.4.1 Die Rolle des Reverendo Der Reverendo, der einen starken Einfluss auf die Bewohner Wawa Bars ausübt, ist sich über den Einfluss der Drogenökonomie auf den Zusammenhalt seiner Gemeinde bewusst und darum bemüht, dieser Gefahr durch die ihm zur Verfügung stehenden Mittel entgegenzutreten: „La iglesia enseña el buen camino con la biblia. La iglesia ha puesto medidas hacia los traficantes de drogas: Ellos no pueden participar en la Santa Cena y yo aconsejo a las personas en sus propias casas y que deben de vivir como dice la biblia y algunos traficantes estan parando poco a poco. Tambien aconsejo a los traficantes diciendoles que eso acabará con el tiempo y que no dura toda la vida. En las familias de traficantes hay problemas a veces los hijos son consumidores de drogas, el hombre busca otra mujer o dejan de ser cristianos. Ellos tienen dinero pero no paz.“ (Gespräch mit Arturo Faro, 03.02.04)
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Für den Reverendo ist es ein besonderes Anliegen, dass die Kirche hinsichtlich des Zusammenhaltes seiner Gemeinde eine besondere Rolle zu übernehmen hat. Er ist sich jedoch auch darüber im Klaren, dass es schwer sei, diesen Zusammenhalt zu organisieren: „Los Mískitos cuando se superan se sienten orgullos y no quieren hablar con los pobres. La autoestima de los pobres es baja por el trato de la gente que tiene dinero. Antes todos eran iguales, todos sembraban y tenian sus casitas. Actualmente en Wawa hay una división socioeconómica: la etapa abajo [los pobres; H.M.] y la etapa un poco más arriba [los que tienen dinero, H.M.].“ (Gespräch mit Arturo Faro, 03.02.04)
Erschwerend würde hinzukommen, dass diese Entwicklung mittlerweile sämtliche Lebensbereiche durchdringt und sich sogar auf die Kleidung erstreckt, die die Kirchgänger bei ihren Messebesuchen tragen: „Entre tres y 12 años yo caminé descalzo, no tenia mucha ropa e incluso iba a la iglesia sin zapatos y ahora todos los niños aunque sea tienen chinela y nadie quiere andar como antes.“ (Gespräch mit Pedro Anicama, 19.02.04). „Entre los Mískitos hay mucha envidia y ellos hablan mal si vas a la iglesia sin zapatos o ropa vieja.“ Gespräch mit Magdalena Urtecho (27.02.04).
Andere Befragte sind hingegen der Überzeugung, dass es der Reverendo selbst gewesen sei, der durch zeitliche Verlegung der von der Iglesia Morava angebotenen Sonntagsschule dazu beigetragen hätte, die Kommunikation zwischen den Bewohnern zu unterbinden: „Antes del Reverendo Arturo Faro la escuela dominical era en la mañana y de ahi se iba almorzar y descansar, se regresaba a la misa en la tarde y de ahi se juntaba la población para conversar.“ (Gespräch mit Miguel Sarazo, 26.04.04). Die Auffassung, dass das Verhalten des Reverendo zu einer Veränderung der Kommunikation untereinander beigetragen hätte, wird auch von weniger kirchenkritischen Bewohnern vertreten (Informelles Gespräch mit Magdalena Urtecho, 28.04.04). 4.4.2 Fallbeispiel: Die Verwicklung des Reverendo in die Drogenökonomie Gegen Ende des Untersuchungszeitraumes ereignete sich ein Vorfall, der dem Reverendo sein Amt als kirchliches Oberhaupt in der comunidad kostete. Arturo Faro ist 1999 vom Superintendenten der Mährischen Kirche als Reverendo in Wawa Bar eingesetzt worden. Er wurde in dieser comunidad geboren und lebt dort mit seiner Familie. Durch seine Tätigkeit als Reverendo in Sandy Bay Norte, das sich aufgrund des Drogenhandels noch stärker als Wawa Bar verändert hätte, ist er umfassend über diese Problematik unterrichtet. In Gesprächen lässt er durchblicken, dass ihm die in den Drogenhandel involvierten Personen persönlich bekannt seien. Während einer in Wawa Bar stattfindenden Konferenz der Iglesia Morava, zu der mehr als 1.000 Teilnehmer erscheinen, wird der Reve127
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rendo von einem Bewohner gebeten, für die Dauer der Konferenz eine Geldsumme von 10.000 US-Dollar in seinem Haus zu verwahren. Die diesen Wunsch äußernde Person wohnt im größten Haus in der comunidad und es ist unschwer zu erkennen, mit welchen geschäftlichen Tätigkeiten die finanziellen Mittel für dieses Gebäude aufgebracht worden sind. Weil in diesem Haus relativ viele Teilnehmer untergebracht werden und der Besitzer einen Diebstahl fürchtet, wird ihm dieser Wunsch vom Reverendo gewährt. Nach Abschluss der Konferenz fährt der Reverendo für einige Tage nach Bluefields. Zu diesem Zeitpunkt fällt seine adoptierte Tochter in Puerto Cabezas dadurch auf, dass sie über eine größere Geldmenge verfügt. Offensichtlich hat sie den deponierten Geldbetrag im Haus der Familie entdeckt, eignet sich ihn an und gibt einen Teil des gestohlenen Geldes mit ihren Freundinnen in Puerto Cabezas aus. Als der eigentliche Besitzer des Geldes davon erfährt, erstattet er beim Superintendenten der Iglesia Morava in Puerto Cabezas Anzeige gegen den Reverendo. Als direkte Folge wird Arturo Faro in seiner Funktion als kirchliches Oberhaupt Wawa Bars suspendiert und in eine andere comunidad versetzt. Die dem Superintendenten überbrachte Bitte einer Delegation aus Wawa Bar auf Verbleib des Reverendo in der comunidad verläuft erfolglos. Noch während der Untersuchung verlässt er mit seiner Familie die comunidad. Den Verlust des Betrages muss er dem Besitzer zurück erstatten. Dabei bieten die Bewohner Sandy Bay Nortes dem Reverendo an, den gestohlenen Betrag aufzubringen, damit er diese Schuld wieder begleichen könne (Informelles Gespräch mit Aramis Lombardo, 05.05. 04). 4.5 Das Autonomiestatut als Türöffner für den Drogenhandel Dass sich die Drogenökonomie in derart umfassender Form in der Dorfgemeinschaft etablieren konnte, ist nach Auffassung des Sindico Miguel Sarazo auch auf das Autonomiestatut zurückzuführen. Es würde seiner Meinung nach den Handel mit den entsprechenden Substanzen erleichtern, weil die erlassenen Gesetze der Mískito in der RAAN nicht so strikt wie in der RAAS wären und die strikte nationale Drogengesetzgebung nicht ohne weiteres zur Anwendung kommen könnte.58 Das Autonomiegesetz wäre gut für die Mískito (Informelles Gespräch mit Miguel Sarazo, 15.01.04). Bei diesem Streben nach größtmöglicher Partizipation scheint das eigene Handeln lediglich danach ausgerichtet zu sein, die anderen Bewohner ökonomisch zu übertreffen. Dies hätte es vor dem ersten Drogenfund in dieser Form nicht gegeben (Gespräch mit Miguel Sarazo, 29.02.04). 58 Diese Meinung ist insofern interessant, da sie auf ein Denken hinweist, dass die in der RAAN aufgestellten Gesetze vollständig ein Produkt der Mískito (und keiner anderen Ethnie oder ethnischen Gruppe der Atlantikküste) seien. 128
ETHNOGRAPHIE DER COMUNIDAD WAWA BAR
4.6 Einflüsse der Drogenökonomie auf die Kosmovision und die Herausbildung neuer Rituale Diese von Sarazo angesprochenen Veränderungen im Sozialverhalten weisen darauf hin, dass durch die Drogenökonomie traditionelle Kulturbestandteile tangiert und in ihrer Form verändert werden. Durch den Einfluss der Drogenökonomie haben sich ebenso neue Rituale herausgebildet: In der Karwoche ist es mittlerweile Brauch, dass sich die männlichen Bewohner abends in Gruppen zusammenfinden, um gemeinsam durch die comunidad zu streifen und Gebrauchsgegenstände der Bewohner zu entwenden. Die gestohlenen Dinge werden am nächsten Tag den Betroffenen lachend und scherzend wieder ausgehändigt (Tagebuchaufzeichnung vom 15.04.04.)59 Die Drogenökonomie lässt sich mittlerweile auch in der Kosmovision der Mískito wieder finden: Da in der Vorstellungswelt der Mískito alle gefundenen Gegenstände ein Geschenk Gottes (regalo de Díos) darstellen, wird ein gefundenes Drogenpaket ebenso als ein solches Gottesgeschenk angesehen. Aufgrund dessen stellt ein Drogenpaket eine Himmelsgabe dar, das ohne Restriktionen weiter veräußert werden darf und deren Ausbleiben nicht in Frage gestellt wird: „La droga es un regalo de Díos que nunca acabará.“ (Gespräch mit Miguel Sarazo, 24.02.04). Darüber hinaus verändern sich die Diskurse der an der Drogenökonomie partizipierenden Akteure, da sie mit dem erwirtschafteten Geld in die Lage versetzt werden, andere Kommunikationskanäle (z.B. Fernsehen) zu nutzen. Diese vor sich gehenden Veränderungen auf soziokultureller Ebene werden auch von anderer Seite bestätigt: „Los Mískitos cambiaron su cultura especialmente por la droga. La cultura se cambió de una cultura de puerta abierta a una cultura de puerta cerrada.“ (Informelles Gespräch mit Celia Flores, 11.04.04). 4.7 Die Darstellung der Drogenökonomie in lokalen Publikationen Interessanter Weise wird der Einfluss der Drogenökonomie auf das Zusammenleben der Bewohner in lokalen Publikationen kaum thematisiert. So handelt der ansonsten sehr umfangreiche Bericht ‚Desarrollo Humano en la Costa Caribe de Nicaragua‘ das Drogenproblem auf lediglich eineinhalb Seiten ab, wobei sich die Autoren fast ausschließlich auf das Problem der weiter steigenden Transportmengen beziehen (vgl. CONPES 2001: 23f). Meines Wissens existiert lediglich eine auf lokalen Untersuchungen basierende Publikation, die sich umfassend mit dem narcotrafico auseinandersetzt. Darin argumentiert die Autorin, dass neben der bereits genannten Vergabe von Fanglizenzen an ausländische Fischfangflotten (die den kolumbianischen Drogenkartellen bei der Erschließung neuer 59 Der Verfasser ist von diesem Ritual selbst betroffen gewesen und konnte erst durch den beschriebenen Vorfall Kenntnis vom Verhalten der männlichen Bewohner erlangen. 129
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Transportrouten zugute gekommen seien) auch die internationale Arbeitsmigration von costeños zu diesem Zustand beitragen hätte. Die Arbeit suchenden Küstenbewohner hätten nach ihrer Rückkehr neue kulturelle Muster in ihre Heimatorte getragen. So hätten nicht wenige Personen Erfahrungen mit kriminellen Banden (pandillas) gesammelt, was dazu geführt hätte, dass für viele Zurückgekehrte die ursprünglich vermittelten Werte und Moralvorstellungen nicht mehr handlungsrelevant seien (vgl. Poveda Rodriguez et al. 1998: 3). Durch diesen Werte- und Moralverfall sei der narcotrafico in seiner Ausbreitung begünstigt worden.
5. Kultureller Wandel in Wawa Bar 5.1 Endogene und exogene Einflüsse beim Kulturwandel Neben den Einflüssen der Drogenökonomie wurden von den Befragten noch weitere endogene und exogene Faktoren benannt, die sich verändernd auf Bestandteile der Mískito-Kultur auswirken. So hätte das vor ein paar Jahren in der comunidad installierte Stromaggregat wesentlich zu diesem Wandel beigetragen: „Despues de la inaguración de la electricidad cambiaron las costumbres. Ahora se escucha CD y antes se hacia musica con tambores, guitarra y marimba. En el Río Coco todavia tienen esa costumbre porque no tienen electricidad.“ (Gespräch mit Miguel Sarazo, 16.02.04)
Dass jedoch das Stromaggregat nicht allein zu einem Wandel kultureller Bestandteile beigetragen hat, wird an den Aussagen der Befragten zu einem traditionellen Tanz deutlich. Dieser als King Pulanka bezeichnete Tanz wird seit dem Jahr 1788 an der Atlantikküste zelebriert und soll an die von den Engländern eingesetzten Mískito-Könige in der Mosquitia erinnern. King Pulanka wird normalerweise im Januar und Teilen des Februars begangen. Durch die gleichzeitige Erinnerung an den heiligen Baum Suha kündigt er den Beginn des neuen Jahres (mani raya) an. Die Teilnehmer tragen traditionelle Kleidung,60 es wird chicha zubereitet, Vieh geschlachtet und alles bei einem großen Festmahl verzehrt. (vgl. Gonzalez G., in: www.laprensa.com.ni/archivo/2002/febrero/16/regiona les).61 Dieses Fest hätte nach übereinstimmender Meinung der Befragten 60 Nach Angaben der Bewohner tragen die Männer einen Lendenschurz aus Tierleder. Der Oberkörper bleibt unbedeckt und wird mit verschiedenen Ornamenten bemalt. 61 Es sei an dieser Stelle erwähnt, dass die zu diesem Fest gehörenden Tänze nach wie vor in einem in Puerto Cabezas ausgetragenen Wettbewerb aufgeführt werden. Bei diesem Wettbewerb treten die einzelnen comunidades um die beste Darbietung gegeneinander an. Den Siegern winkt große Ehre, für ihre Dorfgemeinschaft den Wettbewerb gewonnen zu haben. 130
ETHNOGRAPHIE DER COMUNIDAD WAWA BAR
den Unmut des Reverendo heraufbeschworen. Auch zu diesem Aspekt äußern sich nicht nur Kritiker des Reverendo. Selbst cristianos der Gemeinde teilen diese Auffassung: „Muchos reverendos prohiben hacer danza y asi se pierde la cultura.“ (Gespräch mit Miguel Sarazo, 29.02.04) „Antes de que viniera el Reverendo a la comunidad habian pastores y se hacia bastante de King Pulanka pero con los Reverendos se dejó de hacer porque ellos quieren que se vea más la religion.“ (Gespräch mit Vera Zúniga, 18.04.04)
Die Meinungen, seit wann dieses Fest in Wawa Bar nicht mehr begangen wird, gehen allerdings auseinander: Während man sich einerseits auf das Kriegsende bezieht, wird von anderer Seite hervorgehoben, dass dieses Fest erst in jüngerer Zeit nicht mehr zelebriert würde: „Despues de la guerra la cultura desapareció. La cultura era King Pulanka y la Iglesia. La Iglesia sigue asistiendo porque la población cree que Jesu Cristo es lo más importante.“ (Gespräch mit Genardo Esquivel, 27.02.04) „En esa epoca hacian la fiesta del Rey Feo, la gente hacia los musicales, cantando en Mískito con baldes y porras, mataba una vaca. El Rey decia en el juego: ‚Que iba a traer trabajo’, en el Sandinismo todavia se hacia y se dejo de hacer hace tres años porque los dirigentes ya no podian dirigir bien porque son ancianos.“ (Gespräch mit ‚El Noruego‘, 19.02.04)
Nichtsdestoweniger wird die Iglesia Morava als Hauptschuldige für diesen Traditionsverlust benannt: „La Iglesia esta en contra de las fiestas. Por ejemplo hace dos años se escuchaba guitarra o se tocaba y se tomaba guaro asi que el Reverendo y el Juez decidieron prohibirlo. Las unicas fiestas que se celebran son navidad y año nuevo cada uno en su casa.“ (Gespräch mit Miguel Sarazo, 19.04.04)
Der Reverendo weist wiederum darauf hin, dass sich die egalitäre Aufteilung von erlegtem Wild oder gefangenem Fisch zu ungunsten einer egoistischen Haltung verändert hätte: „Antiguamente cuando alguien mataba un venado se regalaba a los pobladores de la comunidad y comian todos igual, casi tambien era con el pesacado. Habia tranquilidad en la vida comunal. Actualmente cada quien piensa por si mismo y no quieren obedecer esto sucede hasta con la Iglesia. El trabajo de la Iglesia lo hacen por temor a Díos.“ (Gespräch mit Arturo Faro, 03.03.04)
Wie es scheint, trägt diese egoistische Haltung ebenso dazu bei, dass sich beim traditionellen Tauschhandel mit anderen comunidades Veränderungen in der individuellen Wahrnehmung ergeben. Da die an Wawa Bar angrenzenden Böden sehr sumpfig sind, ist ein ausgedehnter Anbau von Feldfrüchten wie Yucca oder Quequisque nur begrenzt möglich. Aufgrund der geographischen Lage an der karibischen Küste und dem damit 131
KULTURELLES ERBE ALS IDENTITÄTSSTIFTENDE INSTANZ?
verbundenen Fischfang ist die comunidad jedoch in der Lage, erzielte Fangerträge mit den Ernteerträgen anderer dörflicher Gemeinschaften zu tauschen. Bei Gesprächen zu diesem Aspekt stellte sich heraus, dass unterschiedliche Wahrnehmungen vorherrschen. Während der betagte Pablo Chamorro der Auffassung ist, dass das System eines unentgeldlichen Austausches aufgrund steigender Preise aufgegeben wurde, ist der jüngere Pedro Anicama der Meinung, dass es nach wie vor existiert: „Yulu y Klingna venian a cambiar bastimento por pescado. Wawa daba el pescado. Esto fue hasta hace poco y se dejo de hacer porque el precio del pescado subio y el de la yuca no. Actualmente la gente vende su pescado y de ahi compra la yuca.“ (Gespräch mit Pablo Chamorro, 25.02.04) „Los chacalines se cocinaban y secaban y los vendian entre 10 y 15 pesos y el pescado se salaba para llevarlo a vender en Puerto y se llevaba a las comunidades para intercambiarlo con otros productos, esto hace ahora se conserva.“ (Gespräch mit Pedro Anicama, 19.02.04)
Es hat den Anschein, dass sich aufgrund der genannten Außeneinflüsse nicht nur die soziale Interaktion zwischen den Bewohnern verändert, sondern sich dies ebenso in einem fehlenden Vertrauen in die eigene Ethnie niederschlägt. Der Reverendo Arturo Faro weist explizit auf diesen Umstand hin. 5.2 Fehlendes Vertrauen in die eigene Ethnie… Laut Faro würden die Bewohner mehr einem Mestizen, als einem Angehörigen der Mískito vertrauen: „Las comunidades piensan mejor en un Mestizo porque nuestra raza no ha hecho nada por nuestra Costa. El problema es perder la confianza en la propia raza.“ (Gespräch mit Arturo Faro, 03.03.04). Sogar der Sindico Miguel Sarazo – der stets eine klare Gegenposition zum Reverendo einnimmt – vertritt dieselbe Auffassung und begründet diese noch weitergehend: „Las principales costumbres de nuestros ancestros vienen existiendo hasta la fecha pero al cambiar se va perdiendo porque nuestra raza no sabe nada a cerca de la cultura. Los Mískitos piensan que es mejor aprender las culturas ajenas en especial la de Estados Unidos ya que la propia cultura la miran atrasada. La gente no tiene la capacidad de contar sus historias pasadas y no existe ningún libro de la historia de Wawa Bar. Los Mískitos son tranquilos y conservan su cultura cuando no hay corrupción pero en esta comunidad hay un cambio porque cuando hay más dinero se olvidan más de las costumbres, esto pasa principalmente en las comunidades que viven en la costa.“ (Gespräch mit Miguel Sarazo, 19.04.04)
Interessanter Weise vertritt Sarazo, der als Sindico auch die Interessen der dörflichen Gemeinschaft nach außen vertritt, die Auffassung, dass gerade die Einrichtung der autonomen Regionalparlamente den Einfluss lokaler Autoritäten auf die Bewohner der comunidades verringert hätte: 132
ETHNOGRAPHIE DER COMUNIDAD WAWA BAR „Antes de que existia el gobierno regional las comunidades resolvieron sus problemas y ahora las comunidades esperan que el gobierno soluciona los problemas. Actualmente cuando hay un problema se denuncia a las autoridades tradicionales y lo llevan a Puerto a denunciar el problema a la policia o en el gobierno regional.“ (Gespräch mit Miguel Sarazo, 11.03.04)
5.3 …ruft Untätigkeit bei den Beteiligten hervor Als weiteren Aspekt benennt Miguel Sarazo die von den jüngeren Bewohnern betriebene Übernahme exogener Konsumeinflüsse.62 Die Lehrer würden trotz spezieller Schulungen auf kulturellem Gebiet nichts unternehmen, um diesem Prozess etwas entgegenzusetzen. Auch die Weitergabe von überlieferten Werten und Traditionen innerhalb der Familie würde in dieser Form nicht mehr funktionieren: „Aca no hay nada para mantener la cultura, entre los jovenes solo se aprende otra cultura de afuera. La organización de la comunidad esta muy desorganizada y de ahi se pierde la confianza en todo sentido como en la cultura y la educación. A los maestros les dan talleres en Puerto para mantener la cultura pero no hacen ninguna actividad.“ (Gespräche mit Miguel Sarazo, 16.02.04; 29.02.04) „Mis padres me enseñaron a amar al projimo, lo que tenemos dar al otro, respetar a los ancianos y a los extranjeros, vivir en paz , estar con el pueblo unido. Para mi la unidad es lo más importante. Yo enseñe esto a mis hijos. Actualmente la mayoria de los jovenes no practica esto y se meten a las drogas, los vicios.“ (Gespräch mit Genardo Esquivel, 27.02.04)
Ebenso wird betont, dass der Zuzug von nicht in Wawa Bar geborenen Personen in die comunidad sich nachteilig auf das Zusammenleben der Bewohner ausgewirkt hätte: „En los ultimos 25 años llegaron mas de 150 personas. Esto es entre hombres y mujeres. Antes los hombres iban a vivir en la comunidad de la mujer pero esto ya no es así. La convivencia pasada de la comunidad era mejor.“ (Gespräch mit Miguel Sarazo, 29.01.04)
Dies scheint dazu beigetragen zu haben, dass einige traditionelle Verbote nicht mehr von den Bewohnern eingehalten werden. Beispielsweise durfte beim Ableben eines Bewohners niemand die comunidad am Todestag verlassen. An Sonntagen sei dies genauso gewesen: „Cuando alguien muere en la comunidad no se puede salir de la comunidad, esto es una tradición pero no se cumple de todos.“ (Gespräch mit Genardo Esquivel, 29.01.04)
62 Hierbei dreht es sich insbesondere um nordamerikanische Kultureinflüsse, die den Jugendlichen in Form von Fastfood, Hip Hop-Musik und entsprechender Kleidung bzw. Verhalten begegnen. 133
KULTURELLES ERBE ALS IDENTITÄTSSTIFTENDE INSTANZ? „Antiguamente no se podia salir el domingo de Wawa Bar y si de asi el juez ponia una multa y hasta que llevaban presos porque tenian que trabajar para la comunidad.“ (Gespräch mit Salvador Juanes, 09.02.04)
Es ist davon auszugehen, dass die relative Nichtbeachtung traditioneller Verhaltensregeln und der erwähnte Vertrauensverlust als ein Resultat der sich infolge der Drogenökonomie herausgebildeten Differenzierungsprozesse zwischen den Bewohnern anzusehen ist. Gleichwohl wurden von den Befragten zwei weitere soziale Phänomene genannt, die ihrerseits Einfluss auf das Zusammenleben der Bevölkerung ausüben.
6. Die sozialen Phänomene envidia und brujeria und ihre Anwendung bei der Schädigung von Konkurrenten Dabei handelt es sich insbesondere um den bereits kurz in Abschnitt 4.2.3 thematisierten Neid (envidia) bzw. einem damit in Verbindung stehenden Schadenszauber (brujeria). Im Folgenden wird zu zeigen sein, welche Rolle und Funktion diese sozialen Phänomene bei der sozialen Interaktion zwischen den Bewohnern ausüben. 6.1 Die Rolle von envidia und brujeria bei der sozialen Interaktion Die envidia kann als Reaktion auf subjektiv empfundene sozioökonomische Unterschiede, die die sozialen Akteure je spezifisch nach ihrer Einkommenssituation wahrnehmen, bezeichnet werden. In Wawa Bar hat diese Situation zur Bildung von Antipathien zwischen den Bewohnern geführt, die sich im individuellen und gemeinschaftlichen Verhaltensrepertoire abbilden. Bei der envidia spielt es offenbar keine Rolle, ob jemand wirtschaftlich in der Lage ist, die eigenen Kinder nach Puerto Cabezas auf eine Schule zu schicken oder lediglich einen kleinen Laden zu besitzen, mit dem die eigenen Grundbedürfnisse befriedigt werden sollen. Ausgehend von der eigenen wirtschaftlichen Situation werden die ökonomische Besserstellung und der Besitz aller Arten von Gebrauchsgegenständen einer Person argwöhnisch kommentiert: „La gente tiene envidia de la venta de Emilia y varias veces le han hecho daño hasta una vez casi muere porque pisó la brujeria. La envidia tambien es por tener una buena casa, cosas dentro de la casa o mandar a estudiar a los hijos a Puerto Cabezas.“(Gespräch mit León Andrade, 31.01.04)
Die envidia würde nach Ansicht der Befragten ‚schon immer‘ zwischen den Mískito existieren: „La envidia existe desde siempre.“ (Gespräch mit León Andrade, 31.01.04). „Entre los Mískitos hay mucha envidia.“ (Gespräch mit Magdalena Urtecho, 27.02.04). Sie würde sich sich immer 134
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wieder in der verbalen und nonverbalen Kommunikation offenbaren. Die brujeria steht mit diesem sozialen Phänomen in direkter Verbindung. Einer verbal geäußerten Missbilligung folgt zumeist die Anwendung von brujeria, um die missliebige Person gesundheitlich und wirtschaftlich zu schädigen. 6.2 Fallbeispiele: envidia in der nonverbalen Kommunikation Während eines Gesprächs mit dem Kommunalen Richter (Juez Comunal) und seiner Frau, bei dem sie zur Wahrnehmung der Diktatur Somozas und der sandinistischen Revolution befragt werden, kommen beide relativ schnell auf den Drogenhandel in der Region zu sprechen. Das Gespräch verändert sich dabei nicht nur inhaltlich. Hinsichtlich Intonation und Mimik zeigen beide eine deutliche Missbilligung, dass sie im Gegensatz zu anderen Bewohnern noch nicht das Glück hatten, an der lokalen Drogenökonomie teilzuhaben (Tagebuchaufzeichnung vom 16.01.04.) Als weiteres Beispiel sei der Sindico Miguel Sarazo genannt, der in vielen Gesprächen eine deutliche Oppositionshaltung zum Reverendo einnahm. Er vermittelte nicht nur den Eindruck, dass er durch den großen Einfluss des Reverendo auf die Bewohner sich in seinen Autoritätskompetenzen verletzt fühlte. Während einiger Gespräche offenbarte Sarazo durch Tonfall und Mimik seine Missbilligung, dass der Reverendo eine ganze Reihe von Annehmlichkeiten besäße.63 Sarazos Frau machte in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass sich diese Konkurrenzsituation auch bei den traditionellen Autoritäten wieder finden ließe. Diese würden wegen ihres Strebens nach ökonomischer Vormachtstellung ständig darum bemüht sein, ihre Nebenbuhler in der öffentlichen Diskussion negativ darzustellen. Eine gemeinsame Vertretung der comunidad wäre somit nicht mehr möglich (Informelles Gespräch mit Manuela Sarazo, 20.01.04). Die Drogenökonomie hätte zu dieser Situation maßgeblich beigetragen: „La envidia sucede aca ya que algunas personas que trabajan con drogas mejoraron sus condiciones de vida como comprando pangas, motores y la otra gente busca la manera de trabajar con la droga.“ (Gespräch mit Arturo Faro, 03.02.04) „La droga provoca odio y envidia ya que la gente solo se interesa en la droga y quien la consiguio se siente superior y humilla a los pobres.“ (Gespräch mit Miguel Sarazo, 16.02.04)
63 Auf diesen Aspekt ist bereits in Abschnitt 3.4.3 kurz hingewiesen worden. 135
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6.3 Die Anwendung von brujeria und angewendete Schutzmaßnahmen Um brujeria anzuwenden, wird ein so genannter brujo oder hechizero aufgesucht.64 Insbesondere dem hechizero wird die Fähigkeit zu Boshaftigkeit (maldad) zugeschrieben. Nach Aushandeln des Preises und des gewünschten Schadenszaubers schreitet der brujo (oder hechizero) zur Tat. Um sich vor diesem Schadenszauber zu schützen, ergreifen die Bewohner unterschiedliche Schutzmaßnahmen: Beispielsweise wird eine Schildkrötenart verwendet, die als ‚Ig‘ bezeichnet wird. Diese in Flüssen lebende Art wird nach dem Fang zerlegt und insbesondere der Panzer als Schutzinstrument verwendet: „Se utiliza la tortuga Ig que es del rio, esta tortuga la disecan. Tengo la uña de una tortuga como protección.“ (Gespräch mit Vera Zúniga, 25.04.04). Des Weiteren lassen sich die Bewohner Säckchen (almohaditas) anfertigen, in die bestimmte Heilkräuter eingenäht werden. Dabei haben die Träger dieser almohaditas bestimmte Regeln zu befolgen, die bei Nichtbeachtung den Verlust der magischen Kraft des Säckchens nach sich ziehen: „Existe una persona que hace amuletos es decir entrega una almohadita con hierbas adentro y uno se lo debe poner muy cerca del cuerpo, en el caso de las mujeres debe llevarlo en el sosten sostenido con un imperdible y cuando tiene la regla debe guardarlo en su casa además no puede ver un muerto cuando tiene esto porque el hechizo se va.“ (Gespräch mit Miguel Sarazo, 19.01.04).
Die Aussage, dass sich der Träger eines almohadita nicht einem Toten nähern soll, wurde bei einem Todesfall in der comunidad deutlich. Zur Beerdigung des Verstorbenen kamen nur die nahe stehenden Verwandten. Die anderen Bewohner, die in früheren Zeiten geschlossen an den Begräbnissen teilgenommen hätten, hielten sich davon fern, weil sie die magische Kraft ihrer auch als Amulett (amuleto) bezeichneten Säckchen nicht verlieren wollten (Gespräch mit Miguel Sarazo, 16.02.04). Neben dem Schutz vor brujeria sollen die almohaditas ebenso dazu beitragen, dem Träger eine gute Arbeitsstelle zu verschaffen bzw. zum Vorgesetzten eine freundschaftliche Beziehung aufzubauen: „Estas almohaditas sirven para tener un buen trabajo y buena relación con los jefes.“ (Gespräch mit Miguel Sarazo, 19.01.04). 6.4 Exkurs: Grisi Siknis als sichtbarer Ausdruck der brujeria Bei den Mískito existiert eine Krankheitsform, die als Grisi Siknis65 bezeichnet wird und die die Bewohner direkt mit brujeria in Verbindung
64 Die Begriffe werden von den Befragten synonym verwendet. 65 Der Terminus ist dem Mískito entnommen und wird im nicaraguanischen Spanisch mit enfermedad de locura (Wahnsinn) übersetzt. Die eigentliche 136
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bringen. Da sich während der Untersuchung mehrere Fälle von Grisi Siknis in der comunidad ereigneten, sollen nachfolgend die wesentlichen Inhalte dieser Erkrankung erläutert werden. 6.4.1 Die ethnopyschologische Definition von Grisi Siknis Grisi Siknis wird von der Ethnopsychologie als „Running Taxon“ bezeichnet. Diese Kategorie stellt eine von sieben verschiedenen Gruppen dar, mit denen die bekannten „Culture-Bound-Syndrome“ charakterisiert werden. Diese kulturgebundenen Krankheitsbilder beruhen auf psychischen Veränderungen im Verhalten der Betroffenen. Die Krankheitsbilder kommen in ihrer jeweiligen Form in keiner anderen Kultur vor, drücken sich in kulturell vorgegebenen Mustern aus und sind nur anhand der speziellen soziokulturellen Situation erklärbar. Sehr oft werden „CultureBound-Syndrome“ durch extreme soziale Stresssituationen ausgelöst. Diese Syndrome stellen sowohl für die Gesamtgesellschaft als auch für das Individuum eine erhebliche Belastung dar und können epidemische Ausmaße annehmen. Die Mískito deuten Grisi Siknis als eine Besessenheit durch übernatürliche und ihnen schlecht gesinnte Wesen. In der Mehrheit sind es junge Frauen, die von diesem Running Taxon ‚befallen‘ werden. Die Attacken weisen starke sexuelle Züge auf, da die Betroffenen glauben, in diesem Zustand mit den genannten Wesen den Geschlechtsakt zu vollziehen. Grisi Siknis wird als dramatisches Ereignis empfunden, das das gesamte Dorf mobilisiert. Es gilt als hoch ansteckend (vgl. Kutalek/Prinz: 1ff., in: www.univie.ac.at/ethnomedicine/PDF/Kulturgebunden e%20Syndrome.pdf). Dennis (1985: 305) vertritt die Auffassung, dass Grisi Siknis eindeutig stressbedingt sei. Die von ihm erhobenen Daten lassen seines Erachtens den Schluss zu, dass diese kulturell bedingte Krankheit eine Antwort auf belastende Lebenssituationen sei. Cox Molina (2003: 11) betont, dass Krankheit im traditionellen Denken der Mískito eine Störung der Harmonie in der Interaktion Mensch – Natur darstellt. Da bereits Ende des 19. Jahrhunderts diese Krankheitssymptome beschrieben wurden, wäre es meines Erachtens notwendig, die historischen Ereignisse an der Atlantikküste mit den auftretenden Fällen von Grisi Siknis zu vergleichen. Damit könnten sowohl die Begleitumstände, die möglicherweise das Auftreten dieser Krankheit bedingen oder sie zumindest unterstützen, präziser erfasst als auch eine umfassende Erklärung dieses Phänomens entwickelt werden. Die Hypothese, dass Grisi Siknis unmittelbar mit signifikanten Veränderungen an der Atlantikküste wie bspw. der Eingliederung der Mosquitia in den nicaraguanischen Nationalstaat oder des militanten Konflikts zwischen Mískito und Sandinisten und den daraus resultierenden Folgen zusammenhängen könnte, wird von Cox Molina hervorgehoben: Bezeichnung für diese Krankheit lautet ‚Pauka Prukan‘ (vgl. Cox Molina 2003: 81). 137
KULTURELLES ERBE ALS IDENTITÄTSSTIFTENDE INSTANZ? „La colonización ha sido la enfermedad más severa que ha enfermado a nuestros pueblos indígenas a lo largo de su historia en esta parte de Nicaragua […]. En las actuales circunstancias las expresiones de los problemas de salud son el incremento de la violencia, la corrupción, drogadicción, la crisis de las estructuras comunales tradicionales; el incremento de la dependencia acuñada por el sistema, como el paternalismo, la inaccesibilidad cultural de los programas de salud (Silais, MINSA). Jamás se contó con una participación activa de nuestros médicos, autóctonos, las parteras, no ha habido interculturalidad entre los dos sistemas.“ (Cox Molina 2003: 76).66
6.4.2 Das Auftreten der Grisi Siknis in Wawa Bar Während einer weiteren in Wawa Bar abgehaltenen Konferenz der Iglesia Morava sind Fälle von Grisi Siknis aufgetreten. Davon betroffen waren sieben junge Frauen, die in Puerto Cabezas im gleichen barrio wohnen (Informelles Gespräch mit Miguel Sarazo, 02.02.04).67 Da die Bewohner der übereinstimmenden Meinung waren, dass ein während der Konferenz anwesender brujo aus Sandy Bay Norte für diese Fälle verantwortlich sei, wurde er in der Schule Wawa Bars festgehalten. Die Bewohner bestanden auf der Rücknahme des von ihm auferlegten Schadenszaubers. Bevor die Eltern der Erkrankten ihre Kinder abholen konnten, wurden sie von lokalen curanderos68 betreut. Etwa zwei Wochen nach Auftreten dieser Fälle trat die Grisi Siknis auch bei einer Tochter des Juez Comunal auf. 6.4.3 Fallbeispiel: Grisi Siknis bei der Tochter des kommunalen Richters Die Tochter des Juez Comunal liegt auf dem Boden des Hauses und entwickelt solche Kräfte, dass sie von sechs Männern festgehalten werden muss. Die ganze Zeit ist von ihr ein gedämpftes Schreien zu hören, das aber nicht klar, sondern eher gepresst klingt. Zur Linderung der Symptome wird ihr Gesicht permanent mit agua florida69 benetzt. Dies wird von einem curandero vorgenommen, der aus Puerto Cabezas herbeigeholt worden ist, da die drei in Wawa Bar praktizierenden traditionellen Ärzte (medicos tradicionales) aufgrund der Schwere des Falles nichts für die
66 Um sich einen Überblick über die Kosmovision der Mískito zu verschaffen siehe Cox Molina (1998). 67 Von anderer Seite wurden insgesamt 15 betroffene junge Frauen genannt. Da die Betroffenen vom Rest der Bevölkerung isoliert wurden, war eine eigene Überprüfung nicht möglich (Tagebuchaufzeichnung vom 02.02.04). 68 Die traditionellen Heiler werden bei den Miskito als sukia bezeichnet. Durch die kulturellen Einflüsse anderer in der Region lebender Ethnien und ethnischer Gruppen hat sich im Sprachgebrauch der Mískito ebenso der Begriff curandero eingebürgert. Über die Stellung dieser Personen in den comunidades der Mískito und ihren speziellen Heilungsmethoden bei verschiedenen Krankheiten siehe Cox Molina (2003). 69 Diesen Terminus, für den keine adäquate Übersetzung zu finden war, könnte man im Deutschen am ehesten mit „Duftwasser“ übersetzen. 138
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Erkrankte tun können.70 Neben den genannten Personen ist ein Polizist aus Puerto Cabezas anwesend, der sich als Chef des Distrikts (jefe del distrito) vorstellt. Er trägt einen aus Stahl gefertigten Ring mit drei Kreuzen, den ihm laut eigener Aussage ein brujo aus Honduras hergestellt hätte. Dieser Ring würde ihn vor brujeria schützen. Dabei taucht er den Ring in ein Glas Wasser und trinkt die Flüssigkeit nach einer Weile vollständig aus. Es erscheint ein weiterer curandero, der in einem mit Wasser gefüllten Eimer Heilpflanzen zubereitet.71 Er beginnt diese Lösung auf der Stirn zu verteilen, danach auf das Haar und dann auf dem ganzen Körper. Diese Prozedur nimmt er wortlos vor. Die Erkrankte wird durch die Behandlung etwas ruhiger. Einen Tag vor dem Ausbruch der Krankheit träumte sie, dass derselbe brujo, der während des Kirchenkongresses in Wawa Bar die Grisi Siknis bei den jungen Frauen hervorrief, sie auf dem Hauptweg zur Kirche seitlich am Körper berührte. Sie schob ihn mit einer Handbewegung weg. Aufgrund dessen sind die Eltern der Erkrankten überzeugt, dass er auch der Urheber der Grisi Siknis bei ihrer Tochter sei. Dieser Fall von Grisi Siknis konnte erst durch einen curandero aus Sandy Bay Norte geheilt werden, der seit geraumer Zeit in Puerto Cabezas lebt und zu dem die Tochter nach einem ersten Abklingen der Symptome gebracht wurde. 6.5 Grisi Siknis im Meinungsbild der sozialen Akteure Der am Ende der Fallbeschreibung geschilderte Traum weist eine interessante Parallele zu den Ausführungen des ältesten medico tradicional in Wawa Bar auf. Dieser ist der Auffassung, dass das Abweisen von Annäherungsversuchen ein grundlegendes Motiv für den Schadenszauber der Grisi Siknis darstellt: „El Grisi Siknis viene de que una mujer nueva llega a la comunidad y a un hombre le gusta esa mujer pero a ella no le interesa entonces el le hace daño. Ella consigue la enfermedad y dice el nombre de alguien que conoce y la enfermedad se traslada a esa persona.“ (Gespräch mit León Andrade, 31.01.04).
Auch Dennis thematisiert diesen Aspekt: „The devils who appear want young women for sex, and they come particularly for the ones they find most attracttive.“ (Dennis 1985: 292). Für den Reverendo, der sich in Wawa Bar um ein friedliches Miteinander bemüht, sind auftretene Fälle von Grisi Siknis ein schlechtes Omen und würden Ängste unter der Bevölkerung schüren. Dass diese Fälle ungewöhnlich häufig bei stattfindenden Konferenzen auftreten, wäre für ihn ein klares Zeichen, dass die religiöse Einheit der Bewohner zerstört werden soll: 70 Es handelt sich bei diesen medicos tradicionales um eine weibliche und zwei männliche Personen. 71 Um die Heilkraft der Pflanzen zu schützen, wurden mir auf Nachfrage die Namen der Kräuter verwehrt. 139
KULTURELLES ERBE ALS IDENTITÄTSSTIFTENDE INSTANZ? „Los reverendos de las comunidades piensan que esto no solo ataca a la comunidad sino tambien a la iglesia. Como por ejemplo el proximo año el congreso de jovenes será en Sandy Bay y los jovenes no quieren participar por miedo a enfermarse. Los posibles motivos del Grisi Siknis en las conferencias es por molestar a la conferencia y porque hay muchos jovenes y el hechizero esta en contra de lo bueno y por el tema de la conferencia, es como una cisaña en destruir la unidad es decir un espiritu malo.“ (Gespräch mit Arturo Faro, 03. 02.04).
Im Gespräch verweist Faro auf frühere Konferenzen, bei denen bereits Fälle von Grisis Siknis auftraten. Dass diese Krankheit aber gerade auf solchen Veranstaltungen auftreten würde, sei nach Dennis’ Ansicht darauf zurückzuführen, dass sich die Symptome sofort auf die in der unmittelbaren Umgebung anwesenden Personen übertragen würden: „Church meetings and other places where a number of young women are congregated are thus likely places for an outbreak to occur.“ (Dennis 1985: 294). Der jeweilige Verursacher der Grisi Siknis ließe sich relativ schnell durch die Anwendung von bestimmten Heilkräutern, die den Erkrankten unter das Kopfkissen gelegt werden, herausfinden. Die verwendeten Kräuter würden bewirken, dass die Betroffenen den Namen des Verursachers aussprechen: „Cuando alguien tiene Grisi Siknis se pone unas hierbas debajo de la almohada para que las personas digan quien fue que la hechizó.“ (Gespräch mit Arturo Faro, 03.02.04). Diese Aussage wird von Miguel Sarazo bestätigt: „Y cuando estan en trance dicen el nombre del brujo.“ (Gespräch mit Miguel Sarazo, 02.02.04). Um gegen ein Ausbrechen der Krankheit besser gewappnet zu sein, sollte es nach Auffassung des Reverendo möglich sein, potentielle Verursacher der Grisi Siknis aus der comunidad zu entfernen: „Yo creo que la iglesia debe hacer una ley contra eso como sacar a una persona que haga esto.“ (Gespräch mit Arturo Faro, 03.02.04). Dies wäre umso notwendiger, da mittlerweile nicht nur mehr junge Frauen, sondern auch andere Bevölkerungsteile unter der Grisi Siknis zu leiden hätten: „El Grisi Siknis antes solo afectaba a los jovenes y ahora ataca tambien niños, adultos y viejos.“ (Gespräch mit Arturo Faro, 03.02.04). In seiner lokalen Funktion als Reverendo könne er kaum etwas gegen den Ausbruch von Grisi Siknis unternehmen. Für ihn bestehe die Hauptaufgabe der Iglesia Morava in der Anleitung der Bewohner, auf dem rechten Pfad des Glaubens zu bleiben: „La función de la Iglesia con respecto al Grisi Siknis es que la Iglesia debe proteger la fe y que no se pierda el camino bueno. Nosotros como fe de cristianos debemos enseñar el buen camino. Como por ejemplo en 2005 la conferencia será en Sandy Bay y tal vez llegará gente puesto que no quieren llegar por miedo y la Iglesia tiene que hablar como afecta estas cosas.“ (Gespräch mit Arturo Faro, 03.02.04).
Die Darstellung des Reverendo und die tief im kulturellen Glaubenssystem der Mískito verwurzelten Vorstellungen von ihnen schlecht gesinnten Geistern und Damönen zeigen, dass in der comunidad sowohl christliche 140
ETHNOGRAPHIE DER COMUNIDAD WAWA BAR
als auch naturreligiöse Elemente nebeneinander existieren. Abschließend soll auf dieses Nebeneinander und der Rolle und Funktion traditioneller Medizin in Wawa Bar eingegangen werden. 6.6 Das Nebeneinander christlicher und naturreligiöser Elemente Das Nebeneinander von christlichen und naturreligiösen Elementen lässt sich an mehreren Faktoren ablesen: Einerseits anhand der von der Iglesia Morava vermittelten Werte und Verhaltensregeln bzw. der tiefen Religiosität der Bewohner. Täglich abgehaltene Gottesdienste, strenge Maßstäbe, um als cristiano anerkannt zu werden und die umfassende Einbindung der gesamten Bevölkerung bei Konferenzen verdeutlichen den Einfluss der Kirche auf die Bewohner. Andererseits werden traditionelle Bestandteile der Mískito-Kosmovision aufrechterhalten. In der Vorstellung der Mískito kontrollieren verschiedene Naturgewalten das soziale Leben: Der tropische Regenwald, die Piniensavannen, die Kräfte des Wassers und des Meers bzw. des Himmels mit seinen entsprechenden Erscheinungen Regen, Wind, Blitz und Donner. Auftretende Krankheiten seien eine Folge von Kontakten, die zwischen Menschen und den der Natur zugeordneten Geistern ohne entsprechende Kontrolle von Vermittlungsinstanzen hergestellt worden wären. Cox Molina vertritt die Ansicht, dass diese übernatürlichen Kräfte (fuerzas sobrenaturales) auch für die Grisi Siknis verantwortlich seien (Informelles Gespräch mit Cox Molina, 12.04.04). Um sich einer guten Gesundheit zu erfreuen, wäre insbesondere in schwierigen Zeiten die Zusammenarbeit mit lokalen curanderos notwendig. Dies würde die Signifikanz der traditionellen Medizin (medicina tradicional) bei der Heilung von Krankheiten unterstreichen (vgl. Grünberg 2004: 1).72 Durch das beschriebene Nebeneinander christlicher und naturreligiöser Elemente entsteht meines Erachtens ein Raum schaffender Synkretismus, in dem neue kulturelle Elemente weitgehend konfliktfrei in die alten integriert werden und sich dabei nicht gegenseitig in Frage stellen. Unterschiedliche Glaubensvorstellungen werden übereinander gelegt und von den Bewohnern dahingehend interpretiert, dass diese beiden religiösen Ausdrucksformen einen für sie verbindenden Charakter aufweisen. Aufgrund dessen scheinen sie ohne größere Reibungspunkte nebeneinander existieren zu können. Dieser Aspekt wird auch bei der Heilung von Krankheiten sichtbar, da in Wawa Bar eine Koexistenz zwischen medicina tradicional und westlich geprägter Schulmedizin auszumachen ist.
72 Dass dieser genannte Zusammenhang in Wawa Bar nicht mehr den Tatsachen entspricht, werde ich weiter unten veranschaulichen. 141
KULTURELLES ERBE ALS IDENTITÄTSSTIFTENDE INSTANZ?
6.7 Die Rolle der traditionellen Medizin (medicina tradicional) bei der Heilung von Krankheiten In der traditionellen Medizin (medicina tradicional) der Mískito existiert eine Rangfolge bestimmter Persönlichkeiten. An der Spitze steht der Ukuly, dessen Aufgaben u.a. die Vermeidung von bösen Geistern in der comunidad oder Insektenplagen in den Pflanzungen umfassen. Ebenso wacht er darüber, dass kein Feuer in der Nähe von heiligen Stätten entzündet wird. An zweiter Stelle steht der Sukia, dem es als Schamanen einer comunidad obliegt, sowohl die Behandlung auftretender Krankheiten durchzuführen als auch Ursprünge und Gründe der auftretenden Erkrankungen zu ermitteln. An dritter Stelle steht der Uhura (auch: curandero), der als Hüter der Traditionen über die Heilung derjenigen Krankheiten wacht, die nicht den Geist als Ursprung haben (vgl. Cox Molina 2003: 42).73 In Wawa Bar sind Ukuly und Sukia nicht mehr vorzufinden. Auch die überlieferte Weitergabe von Kenntnissen der traditionellen Medizin an ausgewählte Personen hat eine Wandlung vollzogen. In der comunidad praktizieren lediglich eine weibliche und zwei männliche Personen die medicina tradicional, deren Kenntnisse sie auf verschiedenen Wegen erlangt haben. Einer der männlichen traditionellen Ärzte erhielt sein Wissen noch vom älteren Bruder, der es sich wiederum vom leiblichen Vater angeeignet hatte: „Yo tengo 77 años y practico la medicina tradicional desde 1972. Mi hermano me enseñó y al hermano le ensenó mi padre. Mi padre sabia mucho más que yo.“ (Gespräch mit León Andrade, 31.01.04). Die weibliche medica tradicional erlernte ihre Kenntnisse autodidaktisch: „Yo soy medica tradicional. Desde hace cuatro años lo practico. Yo no aprendi por mi misma y todo empezó porque mi hijo tenia la enfermedad de la sirena74, asi que a mi hijo le daba ataques y un seno me enseñó a curar a mi hijo con plantas desde ahi yo compro y consigo las plantas. Yo lo hago para ayudar y por que tengo necesidad.“ (Gespräch mit Maria Roblez, 04.04.04)
73 Für eine ausführliche Beschreibung dieser Hierarchie siehe Cox Molina (2003: 15ff.). 74 In der Kosmovision der Mískito wird die Krankheit der Sirena (Sirene) auf die Geister des Wassers zurückgeführt. Da viele Mískito an der karibischen Küste oder an Flussufern leben, existieren im täglichen Leben eine Vielzahl von Vorstellungen, die mit im Wasser lebenden spirituellen Wesen in Verbindung gebracht werden. Wer dabei bestimmte Verhaltensregeln nicht beachtet (bspw. zu welcher Uhrzeit man sich im Fluss wäscht oder im Meer badet, wenn Frauen ihre Regel haben und trotzdem ins Wasser gehen, etc.), riskiert diese Erkrankung. Auch Fischer und Taucher müssen sich in den ertragreichsten Fangmonaten vor der Sirena schützen (Informelles Gespräch mit Cox Molina, 12.04.04). 142
ETHNOGRAPHIE DER COMUNIDAD WAWA BAR
Der im täglichen Sprachgebrauch verwendete Begriff medico tradicional wird synonym mit den Termini curandero und sukia verwendet. Mit diesen unterschiedlichen Termini werden Personen charakterisiert, die durch kenntnisreichen Einsatz natürlicher und spiritueller Hilfsmittel in der Lage sind, kulturell determinierte Krankheiten zu heilen. Da die westliche Medizin auf bestimmte Krankheitsbilder, mit denen sich die Mískito konfrontiert sehen, des Öfteren mit Unverständnis reagieren würde, bringen die Bewohner der traditionellen Medizin weiterhin großes Vertrauen entgegen. Wie sehr die Bewohner Wawa Bars auf ihre traditionellen Ärzte zählen, verdeutlicht ein Vorfall aus der Regierungszeit Violeta Chamorros, bei dem der älteste medico tradicional aufgrund seiner Praktiken ins Gefängnis gesteckt werden sollte: „En el gobierno de Violeta yo la pasaba mal porque vinieron los españoles para construir el canal y habian unos enfermos y el medico tradicional los estaba curando y el español contó y me quisieron llevar a la carcel de Managua pero la comunidad dijo que si me llevaban se llevaban a todos. Ellos llegaron a un acuerdo para que yo no trabajara. Yo volvi a trabajar al final del gobierno de Violeta mas o menos en 1996.“ (Gespräch mit León Andrade, 31.01.04)
Die Inanspruchnahme traditioneller Heilmethoden wird meines Erachtens auch durch ökonomische Zwänge hervorgerufen, da sich ein relativ großer Teil der Bewohner Wawa Bars teure Medikamente nicht leisten kann. Wer allerdings finanziell dazu in der Lage ist, kuriert sich aufgrund der schnelleren Wirksamkeit mit Tabletten: „La mayoria de Wawa cree en la medicina tradicional porque cuando van al hospital a muchos les dicen que no tienen nada y cuando van al doctor de medicina tradicional se curan.“ (Gespräch mit León Andrade, 31.01.04) „La gente busca de las dos maneras de curarse, con la medicina occidental y tradicional porque las pastillas son directas y las plantas mas lentas.“ (Gespräch mit Maria Roblez, 04.04.04)
Bei der Behandlung von Krankheiten spielen Pflanzen und Blumen eine große Rolle. Mit diesen pflanzlichen Zutaten werden bei gleichzeitigen Gebeten entsprechende Heilbäder zubereitet: „Primero hago una oración cortando las plantas y despues baño al enfermo.“ (Gespräch mit Maria Roblez, 04.04.04) „El medico tradicional trabaja con plantas y flores. Tambien hace baños con flores y las plantas. Cuando curo pongo el agua a las 9.00 a.m. al sol y al medio día se usa para los baños.“ (Gespräch mit León Andrade, 31.01.04)
Das wichtigste für eine Person, die sich der Heilung von Krankheiten mittels traditioneller Medizin verschrieben hätte, sei ihre Resistenzfähigkeit gegenüber Geistern. Allerdings würden die Pflanzen beim Vorliegen menschlicher Boshaftigkeit nicht wirken: 143
KULTURELLES ERBE ALS IDENTITÄTSSTIFTENDE INSTANZ? „La gente busca a la persona que esta más fuerte, en la persona y en el cuerpo, alguien que pueda resistir a los espiritus. Lo importante es tener valor, yo no uso ningún amuleto. Cuando no es maldad de una persona a otra la medicina cura pero cuando es maldad de una persona a otra la medicina no cura.“ (Gespräch mit Maria Roblez, 04.04.04).75
In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass viele comunidades die Anwendung von brujeria als unsoziale Handlung sanktionieren. Die Vielzahl polizeilich gemeldeter Morde, die die Hinterbliebenen auf brujeria zurückführen, wird von den Behörden jedoch nicht als Delikt im strafrechtlichen Sinn erachtet. Mehr noch: Die Existenz von brujeria wird generell in Frage gestellt: „Es la problematica de la brujeria, aceptada y sancionada como actividad antisocial en numerosos comunidades indígenas, pero generalmente no son reconocidos como delitos ni siquiera su existencia es admitida en la legislación nacional. La practica judicial y policial ha documentado numerosos y dramaticos casos de homicidios cometidos por causa de brujeria, homicidios que son sancionados por el derecho positivo pero admitido como forma de hacer justicia o de legitima defensa personal en del derecho consuetudinario.“ (Cunningham Kain 2004: 64).
Die eben dargestellten Faktoren verdeutlichen meines Erachtens die tiefe Verankerung von envidia und brujeria in Wawa Bar und deren Einfluss auf das Zusammenleben der Bewohner. Der nach wie vor in der comunidad vorherrschende hohe Stellenwert der traditionellen Medizin verdeutlicht dies umso mehr. Nichtsdestoweniger stellt meines Erachtens die Drogenökonomie den entscheidenden Einflussfaktor auf die soziale Organisation Wawa Bars dar. Daher wird die Drogenökonomie als paradigmatisches Beispiel für den Einfluss supranationaler Verhältnisse auf die soziale Organisation der lokalen Bevölkerung bezeichnet. Im folgenden Fazit soll noch einmal zusammenfassend darauf eingegangen werden.
7. Fazit: Die Drogenökonomie als paradigmatisches Beispiel für den Einfluss supranationaler Verhältnisse auf die soziale Organisation Wawa Bars Es ist zu konstatieren, dass durch den Einfluss der Drogenökonomie eine Restrukturierung der gesamten Gesellschaft Wawa Bars hervorgerufen wird, die eine starke persönliche Dimension aufweist und die durch Wi75 Die Aussage verwundert insofern, dass gerade die medicos tradicionales in der Lage wären, durch kenntnisreichen Einsatz natürlicher und spiritueller Hilfsmittel kulturell determinierte Krankheitsbilder zu heilen. Eine mögliche Erklärung könnte sein, dass sich die befragte Person ihre Kenntnisse autodidaktisch angeeignet hat und hinsichtlich dieses Aspekts über kein ausreichendes Wissen verfügt. 144
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dersprüchlichkeiten zwischen den Gesprächspartnern bzw. bei ein- und derselben Person gekennzeichnet ist. Darüber hinaus sind die in die Drogenökonomie involvierten Personen aufgrund der ihnen zur Verfügung stehenden Konsummöglichkeiten in andere Informationskanäle eingebunden. Die über das Medium Fernsehen erhaltenen Informationen tragen dazu bei, dass sich zwischen den eingebundenen Bewohnern und denjenigen, die der Zugang zu diesen Kanälen verwehrt bleibt, ein doppelter Diskurs herausbildet. Dieser doppelte Diskurs generiert unterschiedliche Interessengruppen, die je spezifisch die Dorfgemeinschaft für ihre Belange instrumentalisieren und sie in eine bestimmte Richtung lenken möchten. Beispielsweise stehen die grundsätzlichen Moralvorstellungen der Iglesia Morava denjenigen der in die Drogenökonomie involvierten Personen gegenüber: Während der Reverendo um die Geschlossenheit seiner Gemeinde bemüht ist und eine weitere Ausbreitung der Drogenökonomie verhindern möchte, haben diese Moralvorstellungen für die vom Drogenhandel Begünstigten kaum Relevanz, da für sie die soziale Realität in der comunidad eine gänzlich andere ist. Damit wird der bestimmende Einfluss der Mährischen Kirche auf die Bewohner massiv untergraben. Auch wenn die am Drogenhandel partizipierenden Personen als gläubige Christen weiterhin der Kirche angehören, wandeln sie die aus der Drogenökonomie erzielten Gewinne in soziales Kapital um und werten damit das persönliche Lebensbild – also auch das der Iglesia Morava – nach ihren Vorstellungen um. Darüber hinaus generiert sich für diesen Teil der Bewohner ein soziales Prestige, weil sie durch den Drogenhandel ökonomische Vorteile gegenüber anderen erzielen können. Da sich dieses soziale Prestige nicht auf die gesamte comunidad übertragen lässt, ergibt sich ein anderes Verhältnis der einzelnen sozialen Akteure zueinander und ebenso hinsichtlich der individuellen Erinnerung an politische Epochen. In selbem Maße wird das individuelle wirtschaftliche und soziale Handeln berührt, wovon auch die lokalen Autoritäten nicht ausgeschlossen bleiben. Nach außen hin geben sie vor, ihre eigentliche Vertretungsfunktion der comunidad aufrechtzuerhalten. Dass sie jedoch zunehmend ihre eigentlichen Aufgaben vernachlässigen, lässt sich daran ablesen, dass gegen Ende des Forschungsaufenthaltes überhaupt keine traditionellen Autoritäten in Wawa Bar mehr anzutreffen waren: Sie gingen außerhalb der comunidad anderweitigen Tätigkeiten nach. Die empirischen Daten belegen, dass der supranationale Charakter der Drogenökonomie einen höheren Einfluss auf die soziale Organisation der Bewohner ausübt als die unterschiedlichen politischen Epochen. Beispielsweise nimmt die Bedeutung der familiären Subsistenzproduktion insbesondere durch die in die comunidad gespülten Drogendollars und nicht aufgrund der veränderten politischen Rahmenbedingungen ab. Hinsichtlich der Diktatur wird die Auffassung vertreten, dass das Zusammenleben in einer Atmosphäre des gegenseitigen Austausches stattgefunden hätte. Selbst die spezifische Interaktion zwischen kommunalem 145
KULTURELLES ERBE ALS IDENTITÄTSSTIFTENDE INSTANZ?
Richter und guardia nacional, bei dem der Richter eine Art Sonderstatus zugebilligt bekommt, wird als nicht schwerwiegend für die Gesellschaft wahrgenommen. Ebenso wenig wird der während des Sandinismus auftretende militante Konflikt und die damit einher gehende Vertreibung der Bewohner aus der comunidad als sozial differenzierendes Element thematisiert. Erst der während der Regierungszeit Violeta Chamorros einsetzende und unter Arnoldo Alemán weiter zunehmende Drogenhandel in der Region führt dazu, dass sich signifikante sozioökonomische Unterschiede zwischen den Bewohnern herausbilden und diese sich nachhaltig auf das Zusammenleben in der comunidad auswirken. Im nun folgenden vierten Kapitel soll der Blick auf die untersuchte Dorfgemeinschaft an der Pazifikküste gerichtet und der Frage nachgegangen werden, welche spezifischen Einflussfaktoren auf die soziale Organisation der comunidad Masachapa auszumachen sind. Wie bei der Vorstellung Wawa Bars werden zu Beginn einige geschichtliche, demographische und wirtschaftliche Rahmendaten aufgeführt.
146
K APITEL 4: E THNOGRAPHIE DER COMUNIDAD M ASACHAPA AN DER P AZIFIKKÜSTE 1. Geschichtliche Daten Die Bewohner Masachapas bezeichnen sich selbst als Angehörige der ethnischen Gruppe der Mestizen. Ab dem Jahr 1815 soll eine dauerhafte Besiedlung der comunidad stattgefunden haben. Allerdings weisen archäologische Funde wie indigenes Kunsthandwerk und Petroglyphen darauf hin, dass die Region bereits zu einem früheren Zeitpunkt bewohnt wurde. Man geht davon aus, das eine in der Pazifikregion siedelnde indigene Gruppe durch die spanische Kolonisierung ihr vorheriges Siedlungsgebiet verlassen musste und sich in der Gegend des heutigen Masachapa niederließ. Der Ursprung des Namens Masachapa lässt sich auf das NahualtWort ‚Ma-Sx-Pa‘ zurückverfolgen.1 Wörtlich übersetzt bedeutet es ‚lugar o sitio rocoso de leche arenoso‘2 (vgl. Gobierno de Nicaragua 1999: 2). Daneben existieren noch andere, aber eher unwahrscheinliche Versionen der Entstehung des Namens Masachapa: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde der zu diesem Zeitpunkt noch üppig in der Region vorhandene Regenwald von norwegischen Unternehmen ausgebeutet. Diese Edelhöl-zer wurden von Masachapa aus in die USA und nach Europa verschifft (vgl. Schulz 1993: 35).3 Die Bedeutung des Namens ‚Masachapa’ sei auf das Abschwemmens des Holzes über den angrenzenden Río Jesús zurückzuführen.4
1 Lehmann gibt die Bezeichnungen ‚Nahual‘, bzw. ‚Nahuat‘ an, wobei er zwischen dem Nahuatl – dem klassischen Aztekisch – und den so genannten TDialekten der Nahua unterscheidet (vgl. Lehmann 1920: 789ff.; 978ff.). 2 Wörtlich übersetzt: ‚Platz oder felsige Stelle der sandigen Milch‘. 3 Andere Quellen datieren diese Holzausbeutung auf das Ende des 19. Jahrhunderts. So berichtet Robles Arauz (1988: 1) von einem Schiffbruch eines norwegischen Schiffes, welches um 1880 vor der Küste Masachapas gesunken sein soll. 4 Masa – Masse und chapa: Im Fluss wäre eine Maschine installiert gewesen, die den antreibenden Bäumen ihre chopas (die Strünke von den Ästen) entfernt hätte (Informelles Gespräch mit Don Alberto, 28.10.2003). Andere Quellen geben an, dass dieser Ort ‚Cargadillo‘ genannt wurde, weil dort ausbeutbare Edelhölzer vorgekommen wären (vgl. Robles Arauz 1988: 1). 147
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1.1 Demographie Seit der offiziellen Dorfgründung in den 1930er Jahren hat Masachapa in den nachfolgenden Jahrzehnten eine relativ hohe Bevölkerungsentwicklung zu verzeichnen - insbesondere wegen der vom Diktator Somoza Garcia5 vorangetriebenen Plantagenwirtschaft in der Region: Grafik 1: Bevölkerungsentwicklung im Municipio San Rafael del Sur und Masachapa: Jahr
Bevölkerungszahl
Jährliche
Bevölkerungszahl
Jährliche
San Rafael del Sur
Wachstums-
Masachapa
Wachstumsrate6
rate 1906
3.300
---
30 (1935)
---
1950
8.749
3,75%
300 (1968)
27,27%
1963
15.774
6,15%
---
---
1971
18.494
2,13%
1.500 (1975)
---
1983
34.305
7,08%
2.544 (1984)
7,78%
1989
37.326
1,5%
3.180
5,0%
1992
---
---
3.500
3,35%
1999
---
---
4.678
4,86%
2003
---
---
5.843
6,25%
Quellen: Schulz (1993: 33); Gobierno de Nicaragua (1999: 6); ders. (2003: 11).
Durch den Bau einer Zuckerfabrik im Jahr 1944 und der Ausweitung der Anbauflächen wurde der Zuckerrohranbau rund um Masachapa intensiviert. Ebenso ließ Somoza nahe seines Wohnsitzes Montelimar eine Betonmole konstruieren, um die in der Zuckerfabrik (ingenio)7 produzierte
5 Somoza García war vom 01.01.1937 bis 01.05.1947 und vom 21.05.1950 bis 29.06.1956 amtierender Staatspräsident Nicaraguas (vgl. Niess 1987: 275). 6 Die jährlichen Wachstumsraten sind nach folgender Formel berechnet worden: Rate t = [X (t) – x (t-1)] / x (t-1). t = Laufindex der jeweiligen Periode. Der Wert, der sich ergibt, wird mit 100 multipliziert, um die Wachstumsangaben in Prozent zu erhalten (vgl. Anonymus, in: www.luebbert.net/uni/statist/zr/zr3.htm). Aufgrund der in der Tabelle angegebenen Jahresabstände ist der erhaltene Wert weiterhin mit der errechneten Differenz der Jahresabstände dividiert worden. 7 Ein Produktionskomplex wird als ingenio bezeichnet. Während der Diktatur wurden in diesem Komplex Zucker, Alkohol und Melasse hergestellt. Melasse ist eine bei der Zuckerproduktion zurückbleibende zähflüssige, schwarzbraune, unangenehm bittersüß schmeckende Mutterlauge. Sie wird zu Alkohol vergoren sowie als Nährsubstrat für Bäcker- und Futterhefe und als Zusatz zum Viehfutter verwendet (vgl. Brockhaus 1996a: 463). Die Melasse wurde sowohl in die USA exportiert als auch an das Vieh ver148
ETHNOGRAPHIE DER COMUNIDAD MASACHAPA
Melasse verladen zu können (vgl. Schulz 1993: 35f.). Die bei der Produktion benötigten Arbeiter, die aus verschiedenen Teilen des Landes nach Masachapa strömten, trugen zu diesem raschen Bevölkerungsanstieg bei. Die beträchtlichen Zuwachsraten zwischen den Jahren 1971 und 1983 lassen sich sowohl auf den zunehmenden Bürgerkrieg in verschiedenen Städten des Landes ab dem Jahr 1978 als auch das Erdbeben in Managua im Jahr 1972 zurückführen. Die schlechte Nahrungsmittelversorgung wie auch die Sicherheitslage der Bevölkerung haben sicherlich zu dieser Erhöhung beigetragen. Auch nach dem Jahr 1983 liegen die jährlichen Zuwachsraten über denen der gesamten Gemeinde, da sich weitere Arbeitsmöglichkeiten im Tourismuszentrum Pochomil8 und des im Jahr 1988 eröffneten Hotels Montelimar9 ergeben (vgl. Schulz 1999: 41). Die comunidad gliedert sich in drei barrios:10 • Der Mittelpunkt der Gemeinde, der als ‚casco urbano‘ bezeichnet wird • das barrio San Antonio, das von den Bewohnern auch ‚El Galope‘11 genannt wird • das barrio ‚Villa Kobe’, das nach einer Flutwelle (Tsunami) im Jahr 1992 für die Geschädigten mit ausländischer Beteiligung aufgebaut wurde.12 1.2 Wirtschaftliche Aktivitäten 1.2.1 Fischerei Die traditionelle Fischerei (pesca artensanal) stellt trotz einer Diversifizierung der Beschäftigungsmöglichkeiten13 nach wie vor die wirtschaftli-
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9
10
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12 13
füttert. Zum Zeitpunkt der Untersuchung wurde im ingenio lediglich Zucker produziert (Gespräch mit Don Ernesto, 30.10.03). Das ‚Centro Turistico Pochomil‘ liegt etwa zwei Kilometer von Masachapa entfernt. Es wurde zwischen 1981 und 1983 zu einem Tourismuszentrum ausgebaut und ermöglicht breiten Bevölkerungsschichten den Zugang zu touristischer Infrastruktur. Während der sandinistischen Regierung errichtete das staatliche Tourismusunternehmen INTURISMO drei Kilometer nördlich von Masachapa eine luxuriöse Hotelanlage für unternationalen Tourismus hohen Standards. Dieses Hotel wurde später unter der Regierung von Violeta Chamorro an die spanische Hotelkette Barceló veräußert. Die Bezeichnung barrio wird eigentlich für einen Stadtteil verwendet. Nichtsdestoweniger wird er von den Bewohnern bei der Beschreibung der verschiedenen Wohnviertel gebraucht. Der Name ‚El Galope‘ stammt aus einer Erzählung von Fabio Gadea Mantilla. Mantilla trägt im Radio Geschichten von der Person Pancho Madrigal vor, der in einem Ort namens ‚Galope‘ geboren wurde (Informelles Gespräch mit Don Ernesto 12.11.03.). In Abschnitt 4.4 wird explizit auf diese Naturkatastrophe eingegangen. Diese Aspekte werden in Abschnitt 1.3 thematisiert. 149
KULTURELLES ERBE ALS IDENTITÄTSSTIFTENDE INSTANZ?
che Grundlage in der comunidad dar. Während der Diktatur sei mit cayucos gefischt worden. Erst nach einem Tsunami im Jahr 1992, bei dem Masachapa stark in Mitleidenschaft gezogen wurde, seien die Fischer durch staatliche Hilfe in den Genuss moderner Fiberglasboote mit Außenbordmotoren gekommen: „Antes del maremoto solo existieron botes de madera. Hoy en día son lanchas de fiebra de vidrio.“ (Gespräch mit Don Miguel, 29.11.03). Die eingesetzte Technik hätte zur Erhöhung der Fangmengen beigetragen: „Despues del maremoto habia una pesca mejor: Más lanchas, más motores, más tecnologia y inversiones.“ (Gespräch mit Don Miguel, 02.12.03). Zu Zeiten der cayucos seien lediglich Angeln zum Einsatz gekommen, die Anfang der 1980er Jahre durch 200 Meter lange Fangnetze abgelöst wurden: „Con el trasmayo se pesca desde hace 15-20 años, antes los pescadores solo pescaban con ansuelos en alta mar.“ (Gespräch mit Don Miguel, 29.11.03). Seit 1998 kommt ebenso die so genannte linea zur Anwendung: An einem reißfesten Seil werden ca. alle 20-30 Zentimeter Haken befestigt, die mit einer Sardine als Köder versehen und des Nachts auf einer Länge von einem Kilometer im Meer ausgelegt werden: „La linea tiene un kilometro de largo. Para la linea se utiliza sardina como carnada y la linea solo se utiliza de noche.“ (Gespräch mit Don Miguel, 19.11.03). Der Ursprung der linea soll in Costa Rica liegen (Informelles Gespräch mit Don Rigoberto, 01.12.03). Traditionell werden ‚Muku‘ (eine Unterart des Wels), ‚Pargo Rojo‘ (Rote Brasse), ‚Macarela‘ (Makrele), ‚Jurel Barracuda‘ (eine StöckerArt), und zwei Arten, die als ‚Robalo‘ und ‚Kurbina‘ bezeichnet werden, gefischt. Ebenso haben sich einige Fischer auf den Haifang spezialisiert (Informelles Gespräch mit Don Miguel, 09.12.03). Insbesondere der ‚Pargo Rojo‘ wird mit der Methode der linea gefangen (Gespräch mit Don Miguel, 19.11.03). Zu Beginn der 1980er Jahre hätte es nur sehr wenige Fischer in Masachapa gegeben. Obgleich die Fischerei kein formelles Arbeitsverhältnis darstellt, stieg der Anteil der in diesem Sektor arbeitenden Personen relativ stark an. Die Arbeitssuchenden erhofften sich von der Fischerei einen guten Verdienst. Mittlerweile könne man mehr als 80 Fischerboote am Strand zählen (Informelles Gespräch mit Don Rigoberto, 12.09.03).14 Auch wenn Masachapa aufgrund der Selbstversorgung durch den Fischfang nicht so sehr von nationalen Entscheidungen wie bspw. der Erhöhung der Preise für Grundnahrungsmittel betroffen sei, würden die Fischer aufgrund der Überfischung des Meeres vor erhebliche ökonomische Probleme gestellt (Gespräch mit Ricardo Jimenez, 01.09.03).15 Ein 14 Eine eigene Zählung ergab eine Anzahl von 45 Booten. Da jedoch praktisch rund um die Uhr gefischt wird, ist die Ermittlung einer genauen Anzahl nicht möglich gewesen. 15 Der Fischer Don Miguel ist demgegenüber der Auffassung, dass die nationalen Benzinsteuern und die neuen (zum Zeitpunkt der Untersuchung geplanten) nationalen Fischereigesetze sehr wohl verdeutlichen würden, 150
ETHNOGRAPHIE DER COMUNIDAD MASACHAPA
Fischer, der nicht selbst über ein Boot (‚lancha‘) verfügt, würde pro Tag zwischen 10 und 100 Cordoba verdienen. Sollte überhaupt nichts gefangen werden, würde er praktisch leer ausgehen (Informelles Gespräch mit Doña Ines, 05.10.03). Die auf den Haifang spezialisierten Fischer fahren morgens gegen 4:00 Uhr ca. 150-200 Kilometer auf die offene See hinaus und kehren bei Einbruch der Dunkelheit wieder zurück. Ein zu erwartender Gewinn wird durch den hohen Kraftstoffverbrauch geschmälert: „Los pescadores tiburones se van a 150 - 200 km al mar adentro, esto significa que tienen que gastar mucho dinero para la gasolina.“ (Gespräch mit Don Miguel, 19.11.03). Doch auch andere Fischer wären aufgrund der schlechter werdenden Fangerträge in Küstennähe gezwungen, immer mehr auf offener See zu operieren.16 Die Überfischung würde damit zusammenhängen, dass seit der Regierungszeit Violeta Chamorros internationale Flotten Fanglizenzen in nicaraguanischen Hoheitsgewässern erhalten haben. Die diesen Fangflotten zur Verfügung stehende Technik und die sich daraus ergebenen Fangkapazitäten würden eine ernsthafte Konkurrenz für die ansässigen Fischer darstellen (Gespräch mit Ricardo Jimenez, 01.09.03; Gespräch mit Don Ernesto, 07.11.03). Dazu käme, dass das Abwasser der comunidad ungeklärt in den angrenzenden Río Jesús geleitet und von dort weiter ins Meer gespült wird. Die Folge wäre die Verschmutzung der küstennahen Gewässer und eine daraus resultierende Massenpopulation von Meeresquallen. Diese Quallen würden wiederum potentielle Fischschwärme vertreiben (Gespräch mit Don Miguel, 19.11.03).17 1.2.2 Weiterverkauf der Fangerträge Die Fangerträge werden direkt am Strand sowohl an paneras18 als auch an die nicaraguanische Fischfirma Expomar sowie die norwegische Firma dass die Fischer ebenso von nationalen Entscheidungen betroffen wären (Gespräch mit Don Miguel, 21.10.03). 16 Die Angaben schwanken hier zwischen 90 und 120 Kilometern (Gespräch mit Ricardo Jimenez 01.09.03; Gespräch mit Don Ernesto, 07.11.03; Gespräch mit Don Gustavo, 03.12.03). Bei eigener Teilnahme an Fangfahrten fiel jedoch auf, dass etliche Fischer nach wie vor in relativer Küstennähe fischen. 17 Wie sehr die Überfischung vorangeschritten ist, wird daran deutlich, dass Don Miguel mehr als eine Woche keinen einzigen Fisch in seinen Netzen hatte. Die bereits für solche Fälle zurückgelegte finanzielle Reserve schwand während dieser Zeit bedrohlich dahin (Informelles Gespräch mit seiner Frau Doña Amanda, 08.12.03). Don Miguel erzählt, dass die Monate November und Dezember zwar traditionell keine guten Fischfangmonate wären, der momentane Fang sei allerdings noch nie so schlecht gewesen (Informelles Gespräch mit Don Miguel, 09.12.03). 18 Als panera wird eine (meist weibliche) Person bezeichnet, die den Fischern einen Teil des erzielten Fangs abkauft und die erworbene Ware den in Masachapa und San Rafael del Sur ansässigen Restaurants anbietet. Ebenso 151
KULTURELLES ERBE ALS IDENTITÄTSSTIFTENDE INSTANZ?
Nicafish verkauft. Die Firmen, die sich im Jahr 1998 in Masachapa ansiedelten, seien insbesondere am Pargo Rojo interessiert, der direkt vor Ort eingefroren und hauptsächlich nach Costa Rica und in die USA exportiert wird (Gespräch mit Don Miguel, 19.11.03). Sobald ein Fischerboot an die Küste zurückkehrt, erwerben die paneras direkt am Boot einen Großteil des Fangs. Sie stellen den von den Fischern bevorzugten Abnehmerkreis dar, weil sie einen höheren Preis für Frischfisch anbieten. In ihrer Funktion als Zwischenhändler würden sie trotz dieser Mehrausgaben einen höheren Gewinn erzielen: „Ser intermediaria [panera; H.M.] es un negocio rentable ya que pagan por el pescado seis cordobas y lo vende a 15 cordobas. Los pescadores prefieren venderles a la panera ya que la empresa paga muy poco por los pescados que las paneras pagan seis codobas.“ (Gespräch mit Don Miguel, 19.11.03) „La gente que realmente gana es la que sirve como intermediario entre el pescador y la fabrica.“ (Gespräch mit Don Ernesto, 30.10.03)
Als Konkurrenz zu den paneras haben sich die bereits genannten Fischfirmen an der Küste angesiedelt. Allerdings beschränken sich diese nicht nur auf den Ankauf von Fisch. So bietet bspw. die Firma Expomar importierte Fangnetze aus Norwegen und Peru mitsamt weiteren Utensilien den Fischern zum Verkauf an: „Los trasmayos son importados de Noruega y Peru y vendido por la misma empresa Expomar que compra el pescado. Un trasmayo vale depende de su tamaño entre 1.500 y 3.000 Cordobas más plomo, ancla, mecate, etc.“ (Gespräch mit Don Miguel, 02.12.03).19
wird der Fisch von ihnen auf Märkten und Restaurants in Managua weiter veräußert (Gespräch mit Doña Amanda, 04.12.03). 19 Obwohl Don Miguel explizit die nicaraguanische Firma Expomar nennt, ist kaum davon auszugehen, dass ein Unternehmen die Produkte seiner direkten norwegischen Konkurrenz importiert, um sie dann vor Ort weiterzuverkaufen. In diesem Zusammenhang ist interessant, dass unterschiedliche Angaben zur Herkunft und Anzahl der Fischfirmen gemacht werden: Das Unternehmen Expomar soll bspw. aus Costa Rica stammen (Aussage des VizePräsidenten der ‚federacion de los pescadores‘ (Fischervereinigung) auf einer Versammlung, Tagebuchaufzeichnung vom 21.10.03). Des Weiteren gäbe es vier in Masachapa tätige Fischfangunternehmen – zwei norwegische, eines aus Costa Rica und eines aus den USA (Gespräch mit Ricardo Jimenez, 01.09.03). Eine eigene Überprüfung ergab, dass in Masachapa lediglich zwei Unternehmen ansässig sind. Dies sind die Firmen Nicafish aus Norwegen und Expomar aus Nicaragua. Zu Nicafish (Nicaraguan Fisch) siehe Anonymus: „Farmed tilopia threaten indigenous people.“ In: www.gen e.ch/genet/2001/Jun/msg00003.html. Zu Expomar (Empresa Exportadora de Productos del Mar) siehe: Brenes: „Los 100 expotadores más grandes de Centroamerica.“ In: www.actualidad.co.cr/286-287/32.especial.html. Die abweichenden Aussagen lassen sich darauf zurückführen, dass Ricardo 152
ETHNOGRAPHIE DER COMUNIDAD MASACHAPA
1.3 Diversifizierung der Beschäftigungsmöglichkeiten Wie bereits weiter oben erwähnt, haben sich im Verlauf der Zeit für die Bewohner neben der traditionellen Fischerei anderweitige Beschäftigungsmöglichkeiten ergeben. Im landwirtschaftlichen Bereich wird Zukkerrohr angebaut. Im industriellen Bereich sind Arbeiter in der Zuckerraffinade und der Güterverladung tätig. Und nicht zuletzt hat sich im Zuge der Errichtung des Tourismuskomplexes Pochomil und der Eröffnung des Hotels Montelimar ein Dienstleistungssektor entwickelt. Arbeitssuchende finden in Pochomil eine Beschäftigung als Restaurant- und Barangestellte oder ‚fliegende Händler‘. In Montelimar sind sie als Küchen- und Reinigungspersonal oder Animateure tätig. Die Herausbildung des touristischen Sektors bewirkt die weitere Diversifizierung von Beschäftigungsmöglichkeiten: Es existieren Verkaufskioske (ventas), die in Größe und Angebot variieren, Schneiderbetriebe bieten ihre in Familienbetrieben hergestellten Produkte an, ein Busunternehmen ermöglicht einen Transport nach Managua. Darüber hinaus werden weitere Dienstleistungen in Form von Apotheken, Telekommunikation, etc. angeboten. In den folgenden Abschnitten soll dokumentiert werden, wie die einzelnen politischen Epochen von den Bewohnern Masachapas hinsichtlich ihrer Lebens- und Arbeitsverhältnisse wahrgenommen und interpretiert wurden. Wie bei der Darstellung der in Kapitel drei vorgestellten Ergebnisse wird auch an dieser Stelle der von den Bewohnern geführte Diskurs dokumentiert und der Blick auf zutage tretende Erinnerungsunterschiede gerichtet.
2. Die Diktatur Somozas: Herausbildung einer unreflektierten Sympathie 2.1 Gewährte Annehmlichkeiten generieren rosige Zeiten Bereits während der Amtszeit von Präsident Moncada20 soll der spätere Diktator Somoza García mehrere Male die comunidad besucht haben. Er sei von der Region so angetan gewesen, dass er umgehend seinen Sommersitz dorthin verlegte und einige Gutshöfe (haciendas) errichten ließ: „El dueño de la Terraza anteriormente era Moncada. El fue el presidente antes de Somoza y Somoza siempre venia con el a Masachapa y es de ahi cuando Jimenez nicht zu der Gruppe der Fischer gehört bzw. der Vizepräsident der Fischervereinigung seinen Wohnsitz nicht in Masachapa hat. 20 Der liberale General José Moncada wurde am 04.11.1928 zum Präsidenten Nicaraguas gewählt. Während seiner Amtszeit war Somoza García im Außenministerium tätig. Dieser erhielt am 01.01.1933 den Posten des ersten ‚Jefe Director‘ der Nationalgarde Nicaraguas (vgl. Niess 1987: 261ff.). 153
KULTURELLES ERBE ALS IDENTITÄTSSTIFTENDE INSTANZ? Somoza se enamoró de este lugar para hacer haciendas.“ (Gespräch mit Don Ernesto, 06.11.03).21
Befestigte Straßen hätten zu diesem Zeitpunkt ebenso wenig wie die barrios San Antonio und Villa Kobe existiert, in denen heutzutage etwa die Hälfte der Bewohner lebt (Gespräch mit Doña Ana, 29.10.03). Die Befragten sind mehrheitlich der Auffassung, dass die Diktatur den Bewohnern eine rosige Zeit (epoca rosa)22 beschert hätte. Durch die Intensivierung des Zuckerrohranbaus in der Region wurde in der Nähe der comunidad eine Zuckerfabrik (ingenio) errichtet, deren Produkte auf einer vor Ort errichteten Mole verladen wurden. Die Güterverwaltung sei so gut organisiert gewesen, dass es Nahrungsmittel im Überfluss gegeben hätte. Darüber hinaus seien die Tätigkeiten auf den Feldern bzw. in der Zuckerfabrik für die arbeitende Bevölkerung mit vielen Annehmlichkeiten verbunden gewesen: „Somoza sabia muy bien administrar la producción por eso habia bastante comida y trabajo.“ (Gespräch mit Don Ernesto, 06.11.03) „En el tiempo de Somoza habia comida en abundancia. Mi padre trabajó en la hacienda San Antonio. Somoza le entregaba su casa en el ingenio San Antonio.“ (Gespräch mit Doña Leonor, 05.11.03) „En la epoca de Somoza no se cobraba la electricidad y abastecia a todos los trabajadores con granos basicos.“ (Gespräch mit Don Ernesto, 06.12.03)23
Die ausgezahlten Löhne seien für die Grundbedürfnisbefriedigung ausreichend gewesen (Informelles Gespräch mit Don Ernesto, 29.10.03). Für die Fabrikarbeiter wurden sogar eigene Wohnstätten errichtet: „Ellos formaban las comunidades La Gallina, Villa El Carmen, km 54 y San José o sea alla se construyó en la epoca de Somoza casas para los trabajadores del ingenio Montelimar.“ (Gespräch mit Don Ernesto, 16.12.03). Da überall Arbeit vorhanden gewesen wäre, hätten die in der Landwirtschaft Beschäftigten bei Nichtgefallen der Tätigkeit oder bei Schwierigkeiten mit den Arbeitskollegen ohne Probleme die hacienda wechseln können (Informelles Gespräch mit ‚El Gordo‘, 17.09.03). 21 Vor der Machtübername Somozas wurde der liberale Präsident Juan Bautista Sacasa am 01.01.1933 in seinem Amt vereidigt. Allerdings riss Somoza Anfang Juni 1936 nicht zuletzt aufgrund seiner Befehlsgewalt über die Nationalgarde die Macht an sich (vgl. Niess 1987:265ff.). 22 Der Begriff wurde von zwei befragten Personen explizit genannt (Informelles Gespräch mit ‚El Gordo‘, 17.09.03; Informelles Gespräch mit Don Alberto, 28.10.03). 23 Dass die Bewohner den Strom nicht zu bezahlen brauchten, hängt sicherlich mit dem Strombedarf der Produktionsstätten zusammen. Don Ernesto berichtet, dass Somoza eine auf Wasserkraft basierende Elektrizitätsversorgung errichten ließ, die sowohl für den ingenio als auch für ganz Masachapa Energie erzeugte (Gespräch mit Don Ernesto, 16.12.03). 154
ETHNOGRAPHIE DER COMUNIDAD MASACHAPA
2.2 Zufriedenheit mit den vorhandenen Erwerbsquellen Wie eben erwähnt, wurde in der Nähe Masachapas eine Zuckerfabrik errichtet. Trotz der höheren Rentabilität der Fischerei hätten viele Einheimische die Arbeit im ingenio bevorzugt: „Los Masachapeños preferian trabajar en la fabrica de azúcar en el ingenio como obreros pero era más rentable trabajar como pescador“ (Gespräch mit Don Ernesto, 30.10.03). Die Tätigkeiten im ingenio gingen mit sozialen Versorgungsleistungen einher: „En la epoca de Somoza a la gente que trabajaba en la fabrica se les hacia una casita para que ellos vivan y a los obreros les daban la tierra para que construya su casa, crien sus animales y cultiven. El obrero tiene un nivel económico más alto que el campesino.“ (Gespräch mit Don Ernesto, 18.11.03)
Trotz dieser Leistungen widmeten sich viele Bewohner weiterhin dem traditionellen Fischfang. Allerdings hätte sich aufgrund einer stattfindenden Arbeitsmigration eine Konkurrenzsituation zwischen Zugezogenen und Einheimischen herausgebildet: „La tasa de los pescadores subió porque llegó gente de otros lugares por falta de empleo y pensó que la pesca es algo rentable y no esta burocratica ya que puedes preguntar al dueño de una lancha. Que si puedes ir.“ (Gespräch mit Don Ernesto, 30.10.03)
Die Zugezogenen gingen jedoch nicht nur der Fischerei nach, sondern wurden auch bei der Zuckerrohrernte beschäftigt. Die in diesem Bereich Tätigen hätten eigenes Land und Unterkunft erhalten: „En el gobierno de Somoza a las personas que cortaba caña en el ingenio se les daba un terreno con su casa para que ellos puedan plantar y criar sus animales. Esta gente no nació en Masachapa.“ (Gespräch mit Don Ernesto, 30.10.03)
Ein an der Unterkunft aufgetretener Schaden hätten die Bewohnern bei den zuständigen Stellen melden können, woraufhin der Schaden umgehend beseitigt worden wäre. Für im Voraus bekannt gegebene Geburtstage sei einem sogar das Haus gestrichen worden (Informelles Gespräch mit ‚El Gordo‘, 17.09.03).
2.3 Die Rolle der Nationalgardisten (guardia nacional) bei der Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung Die in Masachapa stationierten Nationalgardisten stammten allesamt aus anderen Regionen: „Los de la guardia eran de otros lugares. La gente de aca no les gusta trabajar en eso.“ (Gespräch mit Don Ernesto, 06.11.03). Es wurden Verhaltens- und Ordnungsregeln aufgestellt, an die man sich strikt zu halten hatte. Die Regeln hätten zu einem friedlichen Zusammen155
KULTURELLES ERBE ALS IDENTITÄTSSTIFTENDE INSTANZ?
leben beigetragen. Diese Form des Zusammenlebens würde heute nicht mehr existieren: „En el tiempo de Somoza habia un orden publico y todos fueron obligados a cumplirlo. Hoy en día hay delincuencia como violación, robo, asesinato, etc. que en este tiempo no existia.“ (Gespräch mit Doña Leonor, 05.11.03) „La gente aca no respetan las leyes ni las autoridades. En el tiempo de Somoza no habia esa iresponsabilidad.“ (Gespräch mit Don Miguel, 21.10.03)
Sogar das Einsammeln von Schildkröteneiern wurde überwacht: „En la era de Somoza habia una vigilancia para proteger los huevos de tortuga y hoy se caza la tortuga en alta mar para quitarle los huevos.“ (Gespräch mit Don Ernesto, 20.10.03). Um die unverheirateten Arbeiter vom Arbeitsalltag abzulenken, wurden Bordelle eröffnet, die penibel auf ihre Sauberkeit überwacht wurden: „Habian prostibulos adonde los hombres llegaban. El MINSA [Ministerio de Salud, Gesundheitsministerium; H.M.] llegó una vez en la semana para ver la limpieza y hicieron un examen de las mujeres.“ (Gespräch mit Doña Leonor, 05.11.03) „En la epoca de Somoza toda la calle abajo a la casa de Doña Teresa eran prostibulos.“ (Gespräch mit Don Ernesto,10.12.03)
Ebenso gestattete Somoza den Bau einer Schule, in der den Kindern trotz unzureichender Ausstattung eine Bildung zuteil wurde: „Doña Olga junto con un grupo de señoras masachapeñas pidieron a Somoza un pedazo de tierra para construir la escuela, lo que es actualmente la secundaria. Aunque yo andaba descalzo y lleve mis cuadernos hecho de papel para envolver en una bolsa de plastico.“ (Informelles Gespräch mit Don Alberto, 28.10.03)
Die Aussagen der befragten Bewohner lassen erkennen, dass die Diktatur den Bewohnern ein für sie angenehmes Lebens- und Arbeitsumfeld schuf. Dass die Gesprächspartner die nachfolgenden politischen Epochen an der Ära der Diktatur messen, wird bei den nachfolgenden Abschnitten ersichtlich. 3. Das Missfallen der Bevölkerung gegenüber der sandinistischen Revolution 3.1 Der Übergang von der Diktatur zum Sandinismus Die Aussagen der befragen Bewohner hinsichtlich des politischen Machtwechsels weisen darauf hin, dass die Bewohner auf den Sturz der Diktatur
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ETHNOGRAPHIE DER COMUNIDAD MASACHAPA
nicht vorbereitet waren.24 Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass sich einer der Wohnsitze Somozas in der Nähe Masachapas befand. Zum Schutz vor sandinistischen Angriffen wurde die Region hermetisch abgeriegelt: „En la preparación para la revolución de 1979 el FSLN no podia entrar a Masachapa ya que todo perteneció a Somoza y estaba vigilada.“ (Gespräch mit Don Ernesto, 20.10.03). Als sich jedoch der Machtwechsel abzeichnete, begannen die Bewohner sich auf die neue Situation einzustellen: „El 19 de julio cuando se sabia que Somoza no regresaria la gente de Masachapa comenzó a decir que estaban con el FSLN y se fueron a sacar las cosas de las quintas.“ (Gespräch mit Don Ernesto, 20.10.03). Dass die Bewohner beginnen, alle möglichen Einrichtungs- und Gebrauchsgegenstände aus den quintas25 zu schaffen, kann als Indiz angesehen werden, dass sie mit dem persönlichen Lebensstandard zu Zeiten der Diktatur trotz ihrer überwiegend prodiktatorischen Grundhaltung nicht zufrieden waren. Da sich sandinistische Kämpfer in gleicher Weise verhielten, kann davon ausgegangen werden, dass diese Tendenz noch weiter gefördert wurde: „Cuando llegó el comandante de la revolución el sacó todo de la casa hasta el inodoro y las camas y se lo llevó. Argumentando que el era un combatiente para que Nicaragua sea libre.“ (Gespräch mit Doña Amanda, 27.11.03). Durch Enteignungen von Landbesitzern und der kostenlosen Vergabe von Grundbesitz an die Bevölkerung wächst die Migration nach Masachapa noch stärker an: „En el tiempo del FSLN regalaron muchos terrenos a los pobres asi que mucha gente de Managua emigró hacia Masachapa y la comunidad creció porque llegaron muchas familias.“ (Gespräch mit Teresa Medina, 27.08.03). Einige Ländereien gehörten Medinas Großeltern, die sie aufgrund der sandinistischen Enteignungspolitik verloren. Die Ländereien wurden an die einheimische Bevölkerung übergeben (Gespräch mit Teresa Medina, 11.09.03). Die in diesem Zusammenhang geplante Vergabe von Eigentumstiteln rief erhebliche Konflikte zwischen den Beteiligten hervor: „En el año ´84 se pelea la escritura [de la propiedad; H.M.] y la alcaldia entregó un papel simple y la gente dijo que no servia y lo rompió. En 1989 empieza con más fuerza la pelea por la escritura. Se extendio un titulo de propiedad que nunca fue entregado ya que adelantaron las elecciones y no hubo tiempo para entregarlos.“ (Gespräch mit Don Ernesto, 07.11.03)
24 Man kann davon ausgehen, dass durch die permanente Arbeitsmigration nach Masachapa Nachrichten über politische Veränderungsprozesse in die comunidad hineingetragen wurden. Aufgrund der in Abschnitt 2.1 und 2.2 beschriebenen Sympathie für die Diktatur ist jedoch nicht davon auszugehen, dass sich die Bewohner aufgrund des bevorstehenden sandinistischen Sieges gegen die Diktatur aufgelehnt haben. 25 Ein Landhaus für die wohlhabende nicaraguanische Oberschicht wird als quinta bezeichnet. 157
KULTURELLES ERBE ALS IDENTITÄTSSTIFTENDE INSTANZ?
Die sandinistische Enteignungspolitik rief starken Widerwillen in der Bevölkerung hervor, da die Enteignungen glatter Raub gewesen wären. Es sei nicht gerecht, Landbesitzern, die 40 Jahre lang hart für ihre Ländereien gearbeitet hätten, dieses Land einfach wegzunehmen und es der verarmten Bevölkerung zu schenken (Gespräch mit ‚El Gordo‘, 17.09.03). Ebenso wird kritisiert, dass sich die soziale Lage der Bewohner zu dieser Zeit nicht verbessert, sondern eher noch verschlechtert hätte: „Con la revolución hubo un retraso de 10 años para la población de Masachapa.“ (Gespräch mit Don Ernesto, 07.11.03). 3.2 Unzureichende Versorgung und steigender Konkurrenzdruck Es sei an dieser Stelle daran erinnert, dass die Herrschaftskontrolle der Diktatur auf der Befriedigung von Grundbedürfnissen und der Kontrolle aufgestellter Verhaltensregeln durch die Nationalgardisten basierte. Die nach dem Sieg des Sandinismus als schlecht empfundene Lebensmittelqualität und der steigende Konkurrenzdruck bei den vorhandenen Beschäftigungsmöglichkeiten infolge einer steigenden Migration nach Masachapa werden als wesentliche Kritikpunkte der veränderten politischen Rahmenbedingungen benannt. Darüber hinaus haben die Befragten speziell die Organisationsbestrebungen der Sandinisten als Zwang empfunden: „Cuando llegó la revolución yo me recuerdo de ¡patria libre o morir! y la gente tuvo que aceptarlo.“ (Gespräch mit Doña Leonor, 05.11.03). „El FSLN quiso organizar la gente pero lo que no era justo era el servicio militar obligatorio, la guerra, hacer filas [para las raciones; H,M.] y el intento de organización.“ (Informelles Gespräch mit Don Alberto, 28.10.03). „La poblacion estaba harta de acudir siempre a reuniones del FSLN.“ (Gespräch mit Don Ernesto, 06.11.03). „En el gobierno del FSLN para todo hubo una asociación o un comite, se puede decir que hasta la venta de tortillas tenia su comite.“ (Gespräch mit Don Ernesto, 20.10.03).
Trotz unterschiedlicher Grundauffassungen der befragten Personen hinsichtlich der Sandinisten, die sich von grundsätzlicher Sympathie, über kritische Beurteilung bis hin zu kompletter Ablehnung erstrecken, scheint in der Bevölkerung der Widerwille gegen diese als zwanghaft empfundene Organisierung stark verbreitet gewesen zu sein. 3.2.1 Beschäftigungsstruktur und Schwarzmarkt Aufgrund der Migration und der damit verbundenen Nachfrage nach Beschäftigungsmöglichkeiten erhöhen die Sandinisten die Anzahl der Arbeitsplätze auf den Feldern und der Fabrik. Die Menge der zur Verfügung stehenden Tätigkeiten bleibt jedoch gleich, was zur Folge hat, dass 158
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eine Beschäftigung, die bisher von einer Person ausgeführt wurde, nun von mehreren ausgeübt wird.26 Aufgrund des höheren Arbeitskräfteeinsatzes bei gleichzeitiger Beibehaltung der alten Lohnstruktur verteuert sich der produzierte Zucker um ein Vielfaches.27 Hinzu kommt, dass sich infolge der einsetzenden Inflation der Geldwert erheblich verringert. Die Konsequenz ist eine geringere Kaufkraft der Bevölkerung (Gespräch mit Don Ernesto, 20.10.03). Ein sich daraus entwickelnder Schwarzmarkt verkehrt ursprünglich beabsichtigte Unterstützungsleistungen der Sandinisten, wie Benzingutscheine für die Fischer, in ihr Gegenteil: „En el gobierno del FSLN se entregaba cupones de gasolina pero los pescadores al final se volvió al negocio negro.“ (Gespräch mit Don Ernesto, 30.10.03). Die Bewohner versuchen zusehends, sich mit dem Sandinismus zu arrangieren, um bspw. durch Mitarbeit in einer Kooperative zu Vergünstigungen zu kommen: „Con el triunfo la gente se organizó en cooperativas para poder recibir algo, por ejemplo una finca. Despues la vendieron porque no les gustaba este tipo de trabajo o no sabian administrar.“ (Gespräch mit Don Ernesto, 06.11.03). Aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Situation sind die Bewohner bestrebt, etwaige Versorgungslücken auszumachen und diese mit den Ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten auszufüllen.28 Andere nutzen persönliche Kontakte, um aus der mangelhaften Versorgung mit Lebensmitteln persönliche Vorteile zu ziehen: „Doña Olga en la epoca del Sandinismo se hizo amiga del repartidor de alimentos basicos asi que cuando el traia las cosas para Masachapa se les vendia todos a ella y ella con una parte de estos alimentos basicos los comercializaba 26 Laut Don Ernesto wurden während der Diktatur vier surcos auf einem Zukkerrohrfeld von einer Person bearbeitet. Nach der Machtübernahme der Sandinisten bearbeitete eine einzelne Person nur noch einen halben surco (Gespräch mit Don Ernesto, 29.10.03). (Anmerkung: Ein surco ist eine Ackerfurche – die Gesamtfläche, über die diese surcos verlaufen, beträgt pro Einheit 0,19 ha). 27 Vor der Revolution soll die Produktion eines Zentner Zuckers sechs USDollar betragen haben. Nach Einführung der sandinistischen Produktionsweise seien die Kosten auf 18 US-Dollar pro Zentner gestiegen (Gespräch mit Don Ernesto, 29.10.03). 28 Doña Ana erzählt, dass ihre Familie durch den Einsatz von drei Tiefkühltruhen, die sie vom Atlantik mitbrachte, ökonomisch überleben konnte [Anmerkung: Ihr Mann arbeitete in einer Fabrik in Laguna de Perlas an der Atlantikküste. Als sich der militante Konflikt Anfang der 1980er Jahre verschärfte, entschieden sie sich zur Rückkehr nach Masachapa. Die Kühltruhen konnte sie aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu den Sandinisten problemlos transportieren]. Zwei Truhen wurden benutzt, um Eis herzustellen, die dritte wurde vermietet, um Fisch zu konservieren (Informelles Gespräch mit Doña Ana, 04.10.03). Don Gustavo eröffnete einen Verkaufskiosk, um mit dem erwirtschafteten Geld die Familie versorgen zu können (Informelles Gespräch mit Don Gustavo, 03.12.03). 159
KULTURELLES ERBE ALS IDENTITÄTSSTIFTENDE INSTANZ? en el mercado oriental o sea en el mercado negro asi que aumento su dinero. Doña Olga tenia el permiso de destazar dos reces y dos chanchos semanal y lo vendio. Nadie tenia este permiso.“ (Gespräch mit Don Ernesto, 10.12.03)29
Auch das Anwesen von Somoza, das die Sandinisten beschlagnahmen und in eine Hotelanlage für den internationalen Tourismus umbauen, verschafft einigen Bewohnern nur temporär eine Beschäftigung. Darüber hinaus führt die fehlende Erfahrung bei der Leitung eines Hotels zu hohen finanziellen Einbußen (Gespräch mit Ricardo Jimenez, 28.08.03).30 3.2.2 Qualitätsverluste bei der Lebensmittelversorgung Das unbefriedigende Verteilungssystem bei der Versorgung mit Lebensmitteln bewirkt nach anfänglicher Zustimmung ein schwindendes Vertrauen in die sandinistische Revolution: „La gente pensaba que el cambio era bueno pero hubo mala administración. La gente pensaba que la distribución de jabon, frijol, cafe, etc. era como una fiesta pero asi se desarrollo un mercado negro.“ (Gespräch mit Don Ernesto, 06.11.03) „No habia leche tampoco y la gente tuvo que hacer filas para obtener alimentos.“ (Gespräch mit Doña Amanda, 27.11.03)
Die Sandinisten hätten bereits zu Beginn ihrer Präsenz zur Lebensmittelknappheit beigetragen, da sie das vorhandene Vieh schlachten und für sich einbehalten: „Los Sandinistas mataron el ganado incluso un ganado que solo existia aca. Llevaban lo mejor de la carne y el resto lo dejaban.“ (Gespräch mit Doña Leonor, 05.11.03). Aufgrund dessen hätte man Fleisch stundenlang suchen müssen, welches darüber hinaus ausnahmslos von minderer Qualität gewesen sei (Gespräch mit Doña Leonor, 09.09.03). Auch andere Nahrungsmittel seien von schlechter Qualität und überdies rationiert gewesen (Gespräch mit ‚El Gordo‘, 17.09.03; Gespräch mit Don Héctor, 24.09.03). Höhere Fischfangquoten tragen ebenso wenig zu einer Entspannung der Versorgungssituation bei. Obwohl sich die Fischer in einer Kooperative organisieren und über ein kleines Schiff bzw. Transportmöglichkeiten verfügen, werden Teile des Fanges exportiert anstatt ihn an die Bevölkerung weiterzugeben: „En la epoca del San29 Doña Olga wird von Don Ernesto als Somozistin bezeichnet. Laut Doña Amanda hätte Doña Olga ihre Überlegensstrategie gut durchdacht, da sie sich offiziell der FSLN zuwendet: „La comida se repartieron en la casa de Javier, la abuela [Doña Olga, H.M.] y el abuelo lo repartieron. Esa familia era PLC y se convirtió en FSLN en este tiempo.“ (Gespräch mit Doña Amanda, 27.11.03). 30 Teresa Medina, die in diesem Hotel zwischen 1988 und 1993 gearbeitet hat, vertritt den Standpunkt, dass die schlechte Administration damit zusammenhängt, dass das Hotel wie eine Kooperative geführt wurde, somit allen Beschäftigten gehörte und dadurch keine Rentabilität erzielt werden konnte (Gespräch mit Teresa Medina, 30.10.03). 160
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dinismo habia una cooperativa de los pescadores. Tenia barco y camión pero por mala administración lo perdieron.“ (Gespräch mit Don Miguel, 21.10.03). „La pesca creció en el gobierno del FSLN ya que exportaban.“ (Informelles Gespräch mit Don Gustavo, 20.10.03). Neben der schlechten Versorgungslage wäre das erwirtschaftete Geld ebenso wenig in die Infrastruktur der Fischerei investiert worden. Die Fischer hätten mit diesem Geld lediglich ihren Alkohol- und Drogenkonsum finanziert. (Gespräch mit Don Gustavo, 22.10.03). 3.3 Fallbeispiel I: Die individuelle Konstruktion der sozialen Realität im Sandinismus Das Fallbeispiel soll veranschaulichen, wie aus dem Blickwinkel von zwei Dorfbewohnern, die unterschiedliche politische Meinungen vertreten, die Epoche des Sandinismus konstruiert wird. Es soll deutlich gemacht werden, wie einflussreich in der Vergangenheit liegende Ereignisse noch in die Gegenwart hineinreichen und die soziale Interaktion der Bewohner beeinflussen: Doña Leonor hat aufgrund des von den Sandinisten eingeführten obligatorischen Militärdienstes (SMP) einen ihrer Onkel verloren. Sie hat miterlebt, wie er und andere gefallene Soldaten in ihren Särgen zurück nach Masachapa gebracht wurden. Die Särge waren fest verschlossen, so dass die betroffenen Familien nicht sicher sein konnten, ob darin tatsächlich das verstorbene Familienmitglied lag (Gespräch mit Doña Leonor, 09.09.03). Das Gespräch wird während ihrer Arbeitszeit in der lokalen Gesundheitsstation geführt. Ebenfalls im Raum anwesend ist Doña Leonors Vorgesetzter. Sie bekennt sich offen als Sympathisantin der liberalen Partei PLC und berichtet, dass es zu Zeiten Somozas mehr Arbeit gegeben hätte. Ebenso hätte ihre Familie durch die sandinistische Währungsabwertung viel Geld verloren. An diesem Punkt schaltet sich der Vorgesetzte, der bislang im Hintergrund an seinem Schreibtisch gearbeitet hat, in das Gespräch ein. Es entwickelt sich eine verbale Auseinandersetzung, in deren Verlauf sich der Vorgesetzte als Sympathisant der sandinistischen Partei FSLN zu erkennen gibt und in freundlichem, aber bestimmten Ton darauf hinweist, dass man in diesem Zusammenhang die Wirtschaftsblockade der USA und den Contra-Krieg nicht vergessen dürfe. Zudem hätte es unter den Sandinisten mehr Arbeit gegeben. Aus seiner kurzen Bemerkung entwickelt sich ein offener Schlagabtausch gegenseitiger Positionen. Der Disput wird in einem sarkastischen Ton geführt, kann aber keineswegs die Schärfe der Auseinandersetzung überdecken. Nach ca. zwei Minuten erscheint eine andere Krankenschwester, die Doña Leonor ein paar Papiere überreicht, mit denen sie eine andere Abteilung des Hospitals aufsuchen soll. Als sie kurze Zeit später zurückkehrt, wird der Disput weder von ihr noch von ihrem Vorgesetzten wieder aufgenommen. Beide wenden sich ihren Arbeitsaufgaben zu, wobei Doña Leonor den Gesprächsfaden wieder aufnimmt. Sie 161
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vermeidet jedoch weiterhin über die Sandinisten zu sprechen und beginnt von ihrer Unterstützertätigkeit bei Wahlkämpfen der liberalen Partei zu berichten. Die Argumentation Doña Leonors zeigt, dass über den lokalen Kontext hinausgehende historische Begebenheiten bei der Rekapitulation sozialer Realität kaum Gegenstand der Betrachtung sind. Der politische Wechsel wird lediglich auf der Ebene der comunidad wahrgenommen und auf die persönliche Situation bezogen. Die übergeordneten Verhältnisse werden ausgeklammert. Die Mehrheit der befragten Personen weist eine solche Erinnerungskultur auf. Dabei spielen weder Alter noch Geschlecht, Beschäftigung oder Bildung eine Rolle. Dies untermauert die in dieser Arbeit vertretene These, dass Lokalität nicht bloß ein Spiegelbild der gesamtgesellschaftlichen Tendenzen darstellt. Durch die veränderte soziale Realität infolge politischer Umbruchprozesse verändert sich die innere und persönliche Ordnung und wird je nach individuellem Blickwinkel mit unterschiedlichen Ausrichtungen weiterentwickelt. Damit wird ebenso die soziale Organisation modifiziert. Mit einem weiteren Fallbeispiel soll gezeigt werden, welche Schritte von den Bewohnern unternommen wurden, um sich mit den neuen sandinistischen Machthabern zu arrangieren bzw. wie sie sich in der veränderten gesellschaftlichen Realität nach dem Sturz der Diktatur neu positionieren. 3.4 Fallbeispiel II: Anpassung an die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse Don Ernesto ist ca. 70 Jahre alt und nicht in Masachapa geboren. Er stammt aus einer relativ wohlhabenden Familie und beschließt nach erfolgreichem Schulabschluss nach Argentinien zu gehen. In Buenos Aires studiert er Medizin, verheiratet sich und wird Vater von zwei Kindern. Im Jahr 1972 kehrt er gemeinsam mit seiner Familie nach Nicaragua zurück. In Masachapa erhält Don Ernesto eine Anstellung als Arzt. Seine Tätigkeit übt er auf dem Gelände der Zuckerfabrik aus. Politisch ist er der Diktatur zugewandt. Die Ehe zerbricht nach einigen Jahren und seine Frau verlässt mit beiden Kindern das Land in Richtung Argentinien. Nach dem Sturz Somozas sind die Sandinisten in Masachapa bemüht, Anhänger der Diktatur aufzuspüren. Auch Don Ernesto ist davon betroffen: „En la epoca de Somoza trabajaba en el ingenio, cuando Somoza cayó me tuve que mandar a la casa donde viví y por tres años estuve buscado por el FSLN.“ (Gespräch mit Don Ernesto, 20.10.03). Im Lauf der Zeit passt sich Don Ernesto den veränderten Verhältnissen an und wird zum Koordinator des in Masachapa eingerichteten CDS gewählt: „Don Ernesto tenia ideas somocistas. En el cambio se convertió a ser Sandinista.“ (Informelles Gespräch mit Doña Ana, 11.11.03). „En el tiempo del FSLN estuve coordinador del CDS. Fui escogido porque nadie queria ser coordinador ya que estos eran vistos como espias.“ (Gespräch mit Don 162
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Ernesto, 30.10.03). Aufgrund seines relativ hohen Bildungsgrades stellt er als Einziger der Befragten die sandinistische Zeit in einen größeren Sinnzusammenhang. Er verweist auf die bereits erwähnte Wirtschaftsblockade gegen Nicaragua und beschreibt die Auswirkungen der Revolution auf das Zusammenleben der Bevölkerung: „En el bloque economico siempre se recibió donaciones especialmente de Venezuela y Rusia, ellos donaban gasolina y alimentos. Los cambios de los gobiernos fueron muy rapidos y la gente no estaba preparada para eso. En el gobierno del FSLN la gente vivia con miedo porque todos los días se decia hoy nos invaden o nos bombardean los gringos. Todos hicieron un hueco en su casa para poderse esconder. Una vez los gringos vinieron a bombardear ya que en Montelimar habia una base militar.“ (Gespräch mit Don Ernesto, 06.11.03) „Despues del gobierno la gente dejo de organizarse es decir existe una desorganización completa, cada persona ve por sus propios intereses.“ (Gespräch mit Don Ernesto, 20.10.03).
Nicht nur diese Aussagen, sondern auch weitere empirische Daten verdeutlichen, dass die Bewohner aufgrund der veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse vorrangig an der individuellen Bedürfnisbefriedigung interessiert sind. Dies führt dazu, dass sie sich auf die eigenen Belange zurückziehen. Dieses Zurückziehen wird als Strategie zur Sicherung der eigenen Einkommensmöglichkeiten angewendet. Ein weiteres Fallbeispiel soll dies veranschaulichen. 3.5 Fallbeispiel III: Sicherung des Einkommens durch individuellen (Familien-)Rückzug Aufgrund der unübersichtlichen Verhältnisse nach dem Erdbeben in Managua emigriert Ricardo Jimenez im Jahr 1974 nach Masachapa. Gemeinsam mit seinem Schwager baut er sich eine Existenz als Schneider im Dorf auf. Sie spezialisieren sich zunächst auf die Herstellung von Hosen. Während der Revolution schließt sich Jimenez den Sandinisten an, verlässt Masachapa und wird in einer Einheit der psychologischen Kriegsführung (‚intelegencia‘) eingesetzt. Fünf Jahre ist er damit befasst, Funkanlagen zu reparieren und Abhöreinrichtungen zu installieren. Aufgrund seiner hochgradigen Spezialisierung wird er im gesamten Land eingesetzt und weilt nie länger als ein paar Tage am selben Ort.31 Die permanente Stresssituation hat zur Folge, dass er noch Monate nach seiner Rückkehr nach Masachapa nicht seiner alten Tätigkeit nachgehen kann und auch nur schwer in seine Familie zurückfindet. Nach Beendigung des Contra-Krieges und der US-amerikanischen Wirtschaftsblockade ist Jimenez gezwungen, seine Produktpalette umstellen, da ihm die aus den USA importierte Second-Hand-Kleidung das Hosengeschäft verdirbt. Er verlegt sich auf 31 Lediglich Ricardo Jimenez und ein weiterer Spezialist werden für diese Tätigkeiten eingesetzt (Informelles Gespräch mit Ricardo Jimenez, 09.09.03) 163
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das Herstellen von Sportkleidung, wobei er Markennamen wie adidas, Nike, etc. und deren Logos verwendet.32 Darüber hinaus stellt er Arbeitskleidung für die Beschäftigten des nahe gelegenen Hotels ‚Barcelo‘ her. Trotz seiner Sympathien für die Sandinisten vermeidet er im Gespräch jegliche Stellungnahme zur Revolutionszeit und belässt es bei der Schilderung seiner Armeetätigkeiten. Er argumentiert, dass er sich politisch neutral verhält, um seine geschäftlichen Tätigkeiten nicht zu gefährden. Die Vermeidung politischer Aussagen wird von ihm als Strategie angesehen, um seine Kundschaft nicht zu verlieren (vgl. Gespräch mit Ricardo Jimenez, 30.08.03). Aufgrund seiner Alkoholabstinenz würden ihm seine Kunden hinsichtlich der fristgerechten Ausführung erteilter Aufträge vertrauen. Demgegenüber gäbe es zwei evangelikale Pastoren in Masachapa, die ebenfalls als Schneider tätig seien und die der PLC nahe stünden. Sie würden ihre Kundschaft permanent mit ihren ideologischen Überzeugungen konfrontieren. Aufgrund dessen würden sie nicht die gleiche Anzahl von Aufträgen wie er selbst erhalten. Sofern Jimenez auf der Straße in ein politisches Gespräch verwickelt werden sollte, würde er sich der Gesprächssituation umgehend und ohne Kommentar entziehen (vgl. informelles Gespräch mit Ricardo Jimenez, 04.10.03). Dieses Verhalten ist auch bei seiner näheren Verwandtschaft zu beobachten. Ricardos Schwiegermutter, die seit mehr als 35 Jahren in Masachapa lebt, erzählt nur im Kreis der Familie, dass die sandinistische Zeit für sie ein einschneidendes Erlebnis gewesen wäre. Die Sandinisten hätten tatsächlich etwas für das Volk getan (Gespräch mit Doña Cecilia, 03.09.03). Sie unterbricht jedoch ihre Ausführungen, sobald Außenstehende am Haus erscheinen und Zeuge des Gesagten werden könnten.33 Die Cousine von Ricardos Frau verhält sich in ähnlicher Weise: Teresa Medina kam im Jahr 1981 im Alter von 22 Jahren nach Masachapa und hat sich durch verschiedene Tätigkeiten bzw. durch die Unterstützung ihrer Familie einen der größten Verkaufskioske (venta) in der comunidad erwirtschaftet. Ihre Eltern trugen maßgeblich zum Aufbau dieser Existenz bei: „Mi papa llegó a Masachapa sin dinero y con esposa y cinco hijos. El compró la casa de la venta a credito. Mi mama tuvo una venta en Cemex [Cemex es la única fabrica de cemento en Nicaragua y se ubica unos 20 km de Masachapa; H.M.] donde vendia cerveza pero le robaron y perdió todo. Despues tuvimos 32 Die Fälschung von Markenkleidung wird in Nicaragua seiner Auffassung nach nicht gesetzlich sanktioniert. Ebenso gäbe es keinen Vertreter der genannten Firmen in der Region, der ihm die Verwendung der Markenlogos verbieten würde (Gespräch mit Ricardo Jimenez, 30.08.03) 33 Das Nähen der Kleidungsstücke erfolgt auf einer überdachten Veranda, die dem Wohnhaus vorgelagert ist. Dieser Platz ist zugleich Produktionsstätte und Ort des Verkaufs. Sowohl werden dort alle Aufträge entgegengenommen als auch die bestellten Kleidungsstücke nach Fertigstellung den Kunden übergeben. 164
ETHNOGRAPHIE DER COMUNIDAD MASACHAPA una venta en la casa, mi mama vendio. Con la venta pagamos la casa y compramos la casa en la que ahora vivimos. Todo esto fue en el gobierno del FSLN. Mi papa vendio la prensa y trabajaba en la municipalidad.“ (Gespräch mit Amador Medina, 19.10.03)
Die bereits vor ihrer Ankunft in Masachapa lebende Verwandtschaft wird durch die Sandinisten enteignet: „La tia de mi papa era casi la dueña de Masachapa pero con el triunfo le quitaron sus tierras.“ (Gespräch mit Teresa Medina, 27.08.03). Während der überwiegend an der venta geführten Gespräche ist auch sie stets darum bemüht, politische Stellungnahmen vor anwesender Kundschaft zu unterlassen. Zum Schutz ihres Geschäftes würde sie mit niemandem über politische Themen diskutieren. Sie würde keiner politischen Partei angehören und sich völlig aus solchen Auseinandersetzungen heraushalten (Gespräch mit Teresa Medina, 05.10.03). Die Aussagen der Befragten zu den Sandinisten verdeutlichen, dass sich infolge der Revolution tief greifende Veränderungen im Zusammenleben der Bewohner Masachapas ergeben haben. Die Veränderungen spiegeln sich in einem spezifischen Verhalten der sozialen Akteure wider. Wie hat sich aber die Machtübernahme der Regierung Violeta Chamorros nach dem Wahlsieg der Sandinisten im Jahr 1990 auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen der lokalen Bevölkerung ausgewirkt? Der folgende Abschnitt soll auf diese Frage Antworten liefern.
4. Der Wahlsieg Violeta Chamorros und dessen Auswirkungen auf die Bewohner 4.1 Verlust vs. Schaffung von Beschäftigungsmöglichkeiten Die Neuausrichtung der UNO-Regierung in der Wirtschaftspolitik aufgrund der vom internationalen Währungsfonds auferlegten Strukturanpassungsprogramme bewirkt auch in Masachapa einen signifikanten Verlust von Arbeitsplätzen. Die Bewohner sind abermals gezwungen, sich ökonomisch neu zu orientieren. Es fällt auf, dass in den geführten Gesprächen die für Beschäftigung und Einkommen so bedeutsame Zuckerfabrik nicht mehr erwähnt wird. Es kann davon ausgegangen werden, dass sie ihre beherrschende Stellung als lokaler Arbeitgeber Anfang der 1990er Jahre verliert. Darüber hinaus wird das von den Sandinisten als Kooperative geführte Hotel Montelimar im Jahr 1993 an die spanische Hotelkette Barceló verkauft.34 In gemeinsamer Aktion mit der Sandinistischen 34 Bei diesem Verkauf wird zwischen UNO-Regierung und dem neuen Besitzer ein Vertrag auf Begleichung des Kaufpreises innerhalb von 10 Jahren abgeschlossen (Gespräch mit Ricardo Jimenez, 28.08.03). Hinsichtlich der Höhe des Kaufpreises konnte sich keiner der Befragten an die vereinbarte Summe erinnern. 165
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Arbeitervereinigung CST35 versuchen die Kooperativenmitglieder einen 25%igen Besitzanteil aufrechtzuerhalten. Jedoch scheitern die Verhandlungen und mit Ausnahme von zehn Personen werden alle Angestellten entlassen (Gespräch mit Teresa Medina, 30.10.03). Wie andere ehemalige Angestellte erhält auch Teresa Medina weder einen neuen Arbeitsvertrag zu vorherigen Konditionen noch eine Abfindung: „En la era del Sandinismo trabajé en Montelimar y despues de la derrota [de los Sandinistas; H.M.] no conseguí ningún dinero como indemnización. Y no me pudieron contratar de nuevo porque los nuevos dueños no querian pagar lo que el gobierno anterior me pagó.“ (Gespräch mit Teresa Medina, 27.08.03)
Demgegenüber vertritt Ricardo Jimenez die Auffassung, dass gerade die Neueröffnung des Hotels ein wichtiges Ereignis für Masachapa gewesen sei, weil sich dadurch vielfältige Arbeitsmöglichkeiten ergeben hätten. Jimenez selbst konnte erfolgreich einen Kooperationsvertrag mit dem Hotel abschließen. Darüber hinaus haben sich auch andere Anbieter von Dienstleistungen wie Apotheker, Verkäufer, etc. in Masachapa angesiedelt. Dies hätte sowohl die ökonomischen Perspektiven der Menschen als auch die Infrastruktur verbessert (Informelles Gespräch mit Ricardo Jimenez, 01.09.03). Da jedoch nicht alle Bewohner von diesen Veränderungen profitieren können, sind sie gezwungen, sich eine Beschäftigung in Managua zu suchen oder in den informellen Sektor zu wechseln. Insbesondere die Eröffnung einer venta wird von vielen als neue Einkommensquelle auserkoren. So auch Teresa Medina, die im Jahr 1993 ihre eigene venta eröffnet: „Trabajé dos años con mi suegra haciendo pan y lo vendio y mi marido trabajó en Montelimar tambien, en esa epoca llegaron muchos canadienses y daban muy buenas propinas. Con el dinero que gané con el pan nos podian alimentar y ahorré todas las propinas que conseguí. Con este dinero abrimos la venta.“ (Gespräch mit Teresa Medina, 27.08.03).
4.2 Entstehender Konkurrenzdruck zwischen Familienmitgliedern Beim Vergleich der unterschiedlichen Aussagen Medinas und Jimenez’ fällt nicht nur auf, dass beide Personen eng miteinander verwandt sind.36 Auch bei der Zuteilung von Land wird ein Gegensatz zwischen diesen beiden Personen sichtbar: Teresa, deren nahe Verwandte unter den Sandinisten enteignet worden waren, erhält von der Regierung Chamorro ein Stück Land in der Nähe Masachapas zugesprochen. Diese Parzelle tauscht sie gegen ein direkt in der comunidad gelegenes Haus: „Recibí en la era de Violeta un terreno cerca de Masachapa que cambie por una casa en Masachapa donde nosotros vivimos actualmente.“ (Gespräch mit Teresa 35 CST; Confederación Sandinista de los Trabajadores; Sandinistische Arbeitergewerkschaft. 36 Siehe Abschnitt 3.5 166
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Medina, 27.08.03). Demgegenüber erhält Ricardo Jimenez, der während des Krieges fünf Jahre bei einer Spezialeinheit der Sandinisten eingesetzt wurde, zu Zeiten des Sandinismus kein Land zugeteilt. Während der Untersuchung war zu beobachten, dass die Familie von Ricardo Jimenez sehr selten bei Teresas venta einkaufte bzw. Teresa Medinas Familie keine Aufträge für Kleidungsstücke bei Ricardo Jimenez in Auftrag gab, sondern selbst Kleidung in der venta verkaufte oder sogar zum Kleiderkauf nach Managua fuhr. Der durch die Privatisierungspolitik einher gehende Verlust von Beschäftigungsmöglickeiten scheint einen Konkurrenzdruck zu erzeugen, der selbst Personen in verwandtschaftlichen Beziehungsgeweben in direkten Wettbewerb zueinander treten lässt. Damit wird eine Entwicklung gefördert, die die verwandtschaftlich organisierte Produktion von Waren oder Dienstleistungen untergräbt. 4.3 Vertiefung des Konkurrenzdrucks zwischen den Bewohnern Nach dem Wahlsieg Chamorros entledigen sich die Bewohner der sandinistischen Organisationsstrukturen: „Despues del gobierno [de los Sandinistas; H.M.] la gente dejo de organizarse es decir existe una desorganización completa, cada persona ve por sus propios intereses.“ (Gespräch mit Don Ernesto, 20.10.03). Gleichzeitig werden durch stete Migration nach Masachapa die Partizipationsmöglichkeiten an der Ressource Arbeit aufgrund der weiter zunehmenden Konkurrenz verringert. Die in diesem Zusammenhang von den Bewohnern gesammelten Erfahrungen spiegeln sich in den getätigten Aussagen auf unterschiedlichen Ebenen wider. Dabei wird der politische Blickwinkel erkennbar, von dem aus diese Konkurrenzsituation betrachtet und in einen Zusammenhang mit der Diktatur und dem Sandinismus gestellt wird: Doña Ana, die den Sandinisten nahe steht, ist der Meinung, dass es während des Sandinismus mehr Beschäftigung als zu Zeiten Violeta Chamorros gegeben hätte. Durch massive Privatisierungen wären viele Arbeitsplätze verloren gegangen (Gespräch mit Doña Ana, 29.10.03). Teresa Medinas pro-sandinistisch eingestellter Bruder Amador vertritt die Meinung, dass sich alle in der Regierung Chamorros vertretenen Politiker durch Diebstahl [an der Bevölkerung; H.M.] bereichert hätten: „En el gobierno de Violeta los politicos robaron todo.“ (Gespräch mit Amador Medina, 19.10.03).37 Auch Teresa Medina vertritt einen solchen Standpunkt: „En el tiempo de Violeta vendieron terrenos al mar y no saben a donde salió este dinero.“ (Gespräch mit Teresa Medina, 27.08.03). ‚El Gordo‘, der mit der Diktatur sympathisiert, ist der Auffassung, dass Violeta Chamorro ganz Nicaragua verkauft hätte. (Gespräch mit ‚El Gordo‘, 17.09.03). Der zurückliegende Abschnitt und die darin dokumentierten Aussagen verdeutlichen, dass die Diktatur an den nachfolgenden politischen 37 Die Aussage ist darauf zurückzuführen, dass nahe Verwandte von den Sandinisten enteignet worden sind. 167
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Epochen gemessen wird, sich aber gleichzeitig die sozialen Rahmenbedingungen für die Bewohner grundlegend verändert haben. Bezeichnender Weise beziehen sich die positiven Aussagen der Befragten zur Regierungszeit Violeta Chamorros nicht auf die eigentliche Regierungspolitik, sondern auf eine Masachapa in Mitleidenschaft ziehende Naturkatastrophe. 4.4 Ein Tsunami als sozialer Heilsbringer Am 01.09.1992 ereignet sich in der Region ein Seebeben, in deren Verlauf eine vier bis zehn Meter hohe Flutwelle die Küste verwüstet. In Masachapa sind 170 Tote zu beklagen, die meisten davon sind Kinder. Viele Fischerboote, Hafenanlagen und Gebäude werden stark beschädigt oder komplett zerstört (vgl. Strauch, in: www.ineter.gob.ni/geofisica/tsunami/p eligro/peligro.html). Der Tsunami wird aufgrund nationaler und internationaler Hilfe direkt mit Präsidentin Violeta Chamorro in Verbindung gebracht und als hilfreich für die Entwicklung Masachapas angesehen.38 Es werden Straßen asphaltiert, neue Boote für die Fischer angeschafft und das barrio Villa Kobe für die am schwersten Geschädigten errichtet (Gespräch mit Doña Ana, 04.10.03). Auch andere Gesprächspartner betonen die einsetzenden Hilfeleistungen für die comunidad: „El gobierno de Violeta fue positivo para Masachapa ya que por el maremoto llegaron muchas donaciones y con eso se adoquinó las calles de Masachapa y se dio credito a los pescadores. Y se hizo la plaza enfrente de la iglesia.“ (Gespräch mit Don Ernesto, 06.11.03) „Fue horible pero habia gran ayuda y avance. Llegaron calles, lanchas y la remodelación del centro de salud.“ (Gespräch mit Doña Leonor, 03.12.03) „Despues del maremoto habian donaciones de Japon y otros paises y con esas donaciones establecieron Villa Kobe y construyeron calles pavimentadas. Además el gobierno otorgó creditos para comprar nuevas lanchas.“ (Informelles Gespräch mit Don Gustavo, 11.11.03)
Die mit Außenbordmotoren versehenen Fiberglasboote ersetzen die hölzernen cayucos und tragen zu einer Erhöhung der Fangmengen bei: „Antes del maremoto solo existieron botes de madera. Hoy en día son lanchas de fiebra de vidrio.“ (Gespräch mit Don Miguel, 29.11.03) „Antes del maremoto la gente pescó con cayucos y botes de remo.“ (Gespräch mit Don Ernesto, 30.10.03) „Despues del maremoto habia una pesca mejor, más lanchas, más motores, más tecnologia y inversiones.“ (Gespräch mit Don Miguel, 02.12.03) 38 Wie sehr die Befragten den Blick auf die Präsidentin Violeta Chamorro fokussieren, wird daran deutlich, dass die UNO-Regierung in keinem Gespräch erwähnt wird. 168
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Die unübersichtliche Situation nach der Verwüstung Masachapas hat aber auch zur Folge, dass die Lage von nicht direkt Geschädigten ausgenutzt wird, um an Hilfslieferungen und Krediten teilhaben zu können: „Mucha gente aprovechó la situación del maremoto. No eran damnificados sino gente que venia de otros lugares para conseguir ropa, medicamentos y comida.“ (Informelles Gespräch mit Don Rigoberto, 11.11.03) „En Villa Kobe llegó gente de otros lugares que no fueron damnificados. Dijeron que fueron victimas del maremoto para conseguir una casa. Habian pescadores que no tenian lancha pero dijeron que la perdieron para conseguir el credito.“ (Gespräch mit Don Miguel, 02.12.03) „Despues del maremoto el gobierno de Violeta dio credito para que la gente que perdio sus lanchas pudieran adquirir unas nuevas, pero mucha gente sin haberlas perdido tomó el credito.“ (Gespräch mit Don Ernesto, 30.10.03)
Um aus dem Tsunami noch weitere ökonomische Vorteile zu ziehen, verkaufen viele Bewohner das für sie in Villa Kobe errichtete Haus und errichten am ursprünglichen Standort ihres Domizils eine neue Unterkunft: „Mucha gente vendio despues su casa en Villa Kobe para construir una nueva casa en sus terrenos a la orilla del mar.“ (Gespräch mit Teresa Medina, 26.11.03). Ebenso hätten Mitglieder ihre Position in den nach der Flutkatastrophe eingerichteten Komitees genutzt, um darüber zu entscheiden, ob jemand einen Kredit, notwendige Baumaterialien, oder ähnliches zugebilligt bekommt: „Los comites tenian el poder a decidir quien recibe algo y quien nada. Jaime [el hermano mayor de Teresa; H.M.] tenia un bote pero el comite decidia de no darle el credito.“ (Gespräch mit Teresa Medina, 26.11.03). Dieses Zitat weist darauf hin, dass individuelle Verhaltensweisen bei den Bewohnern verstärkt zum Tragen kommen. Der folgende Abschnitt wird verdeutlichen, dass dieser sich immer stärker herausbildende Individualismus im weiteren Verlauf mit parteipolitischen Sympathien vermengt wird. Es wird zu zeigen sein, dass lediglich ein paar Bewohner von diesen Veränderungen profitieren konnten.
5. Gewinner und Verlierer während der Regierungszeit Arnoldo Alemáns 5.1 Der Erlass der Bootskredite… Die Rückzahlung der von der Regierung Chamorro bewilligten Bootskredite wird den Begünstigten von Präsident Alemán erlassen. Trotz dieses Erlasses und aller möglichen Verbesserungen im Land sei es jedoch zu keinen Fortschritten in Masachapa gekommen: „Aunque el gobierno Alemán construyó un montón en el pais, calles, rotondas, bares, metrocentro, escuelas, etc. no habia ningún paso adelante en Masachapa.“ (Ge169
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spräch mit Doña Amanda, 27.11.03). Dass für Doña Amanda die Regierung Alemáns trotzdem die beste Nicaraguas gewesen wäre („para mi el gobierno Aleman fue el mejor en Nicaragua“) ist wohl darauf zurückzuführen, dass auch ihr Ehemann Don Miguel den Kredit für sein neues Fischerboot nicht zurückzuzahlen brauchte (Informelles Gespräch mit Don Miguel, 06.11.03). In diesem Fall wurde also die Gruppe der Fischer begünstigt. In einem anderen, nachfolgend aufgeführten Fall wird die Zugehörigkeit zur ‚richtigen‘ Partei belohnt. 5.2 …und die Vorzüge parteipolitischer Sympathien Doña Leonor, die offen ihre Sympathie zur PLC bekundet, hat durch aktive Wahlkampfunterstützung Alemáns einen relativ gut bezahlten Arbeitsplatz im ansässigen Hospital erhalten (Gespräch mit Doña Leonor, 09.09.03). Je höher die Qualifikation einer Person sei, desto größer wäre die Chance, einen Arbeitsplatz zugebilligt zu bekommen – vorausgesetzt die Person sympathisiere mit der ‚richtigen‘ politischen Partei. Es wäre etwas ganz Normales, wenn man während politischer Wahlkampagnen die Kandidaten um Arbeit ansprechen würde. Von Alemáns Tochter und dessen Ehefrau bzw. einem weiteren führenden Mitglied der PLC hätte Doña Leonor mehrere Empfehlungsschreiben für diese Tätigkeit erhalten. Sie sei selbst nach Managua gefahren und hätte direkt bei der PLC um Unterstützung gebeten. (Gespräch mit Doña Leonor, 05.10.03). Auftretende Auseinandersetzungen mit anders denkenden Personen nimmt sie dabei in Kauf: Doña Leonor berichtet, dass sie aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur PLC Probleme mit ihren Nachbarn und ihrer Tante hätte, die beide Anhänger der Sandinisten wären (Gespräch mit Doña Leonor, 08.10.03). 5.3 „Con ningún gobierno hubo mejoramientos en Masachapa“ Im Gegensatz zu den eben erwähnten Gesprächspartnern gibt es Bewohner, die der Regierungszeit Arnoldo Alemáns kritisch bis ablehnend gegenüberstehen. ‚El Gordo’, der als Gelegenheitsschneider temporär bei Ricardo Jimenez arbeitet, hat durch den Sturz der Diktatur viele Annehmlichkeiten verloren und ist generell auf die Nachfolgeregierungen schlecht zu sprechen. Sein hoher Alkoholkonsum deutet darauf hin, dass er mit der veränderten Situation nur schlecht umgehen kann. Auf Alemán angesprochen erwidert er lediglich, dass der Ex-Präsident nun für seine Taten im Gefängnis sitzen würde (Gespräch mit ‚El Gordo’, 17.09.03). Don Gustavo, der zwar der PLC nahe steht, stellt die Epoche Alemáns in einen Gesamtzusammenhang und betont, dass keine Regierung die Situation in Masachapa verbessert hätte: „Con ningún gobierno hubo mejoramientos en Masachapa.“ (Informelles Gespräch mit Don Gustavo, 11.11.03). Don Ernesto, der seine pro-somozistische Haltung nach dem Sturz der Diktatur 170
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aufgibt und sandinistische Positionen annimmt, vertritt ebenso den Standpunkt, dass Masachapa sich ökonomisch nicht weiter entwickelt hätte: „Masachapa no ha prosperado despues del gobierno de Violeta. Lo unico nuevo es el hotel Vista al Mar.“ (Gespräch mit Don Ernesto, 06.11.03). Er setzt die Politik der liberalen Parteien mit der Diktatur gleich: „Los gobiernos liberales son un regreso al Somocismo lo unico que falta es la guardia nacional.“ (Gespräch mit Don Ernesto, 06.11.03) „El gobierno de Somoza y el gobierno liberal tienen el mismo plan económico. Su prioridad son los Estados Unidos, privatizan empresas y el gobierno no proyecta nada para los pobres.“ (Gespräch mit Don Ernesto, 07.11.03)
Da sich viele Bewohner mit der ökonomischen Rückständigkeit Masachapas nicht mehr länger zufrieden geben wollen, gründen sie die so genannte Initiative Pro-Gemeinde (iniciativa pro-municipio)39 mit dem Ziel, dass Masachapa und die umliegenden comunidades einen eigenen Gemeindestatus zugebilligt bekommen (Gespräch mit Doña Ana, 10.11.03). 5.4 Temporärer Zusammenschluss von Einzelpersonen zu einer lokalen Interessengruppe: die ‚iniciativa pro municipio‘ Ziel der im Jahr 1999 gegründeten Initiative ist die administrative Trennung von der Gemeindeverwaltung in San Rafael del Sur. Der Grund liegt in der Erhebung von Steuern auf die rund um Masachapa liegenden Gewerbe- und Dienstleistungseinrichtungen, die nach Auffassung der Unterstützer nur unzureichend in die sozioökonomische Entwicklung der comunidad reinvestiert würden. Die Präsidentin des Komitees ist Mitglied der liberalen Partei PLC. Unter den Befragten sind insbesondere Gewerbetreibende, die dieses Ansinnen unterstützen: „Habian intentos para convertir Masachapa en un municipio para que los impuestos sean utilizados para fortalecer y desarrollar el desarrollo económico y social de Masachapa.“ (Informelles Gespräch mit Don Gustavo, 11.11.03; Besitzer einer venta) „Los mejores impuestos se van de aqui. No hay inversiones en Masachapa.“ (Gespräch mit Doña Leonor, 03.12.03; die Familie schlachtet Schweine und verkauft im Haus Lebensmittel). „Ellos cobran altos impuestos a Cemex, Montelimar y Barcelo pero esto se va a Managua y solo quedan los cobros de los pequeños comerciantes.“ (Gespräch mit Amador Medina, 19.10.03; seine Schwester Teresa ist Besitzerin einer venta, in der Amador zeitweilig arbeitet).
39 Ein municipio stellt nach deutscher Einteilung einen Landkreis dar. Die Gemeindehauptstadt des municipios ist San Rafael del Sur, an die sämtliche anfallende Steuern zu entrichten sind (vgl. Schulz 1993: 32). 171
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Ein wohlhabender, aber nicht namentlich genannter Bewohner Masachapas hätte den Anstoß für diese Idee gegeben. Er sei von einem liberalen Abgeordneten der Nationalversammlung unterstützt worden. Voneinander unabhängig berichten Bewohner, dass dieser Abgeordnete ermordet worden sei: „La idea fue establecido por un dueño de una quinta que se ubica cerca de Barceló. El fue ayudado por un diputado liberal que fue asesinado en Ocotal.“ (Gespräch mit Don Miguel, 27.11.03). „Un diputado conservador que promovió y ayudó esa iniciativa fue asesinado.“ (Gespräch mit Doña Raquel, 12.11.03).40
Die Initiatoren können die Mehrheit der Bewohner Masachapas und der umliegenden comunidades für dieses Vorhaben gewinnen. Nach Auskunft von Doña Ana hätten ca. 5.000 Personen diesen Aufruf unterschrieben (Gespräch mit Doña Ana, 10.11.03). Die erhaltenen Unterschriften wären persönlich in der Nationalversammlung abgegeben worden (Informelles Gespräch mit Don Miguel, 25.11.03). Die Initiative scheitert letztendlich am Widerstand des Präsidenten Alemán. Hauptgrund sei der zu diesem Zeitpunkt amtierende PLC-Bürgermeister in San Rafael del Sur gewesen: „La aprobación de la iniciativa pro-municipio fue negado por el presidente Dr. Alemán porque el alcalde de San Rafael era PLC.“ (Gespräch mit Don Miguel, 12.11.03). Die Geldeinnahmen aus den nach Managua abzuführenden Gemeindesteuern sollten offensichtlich nicht in der Region verbleiben. Dies führt dazu, dass die Initiative mit ihrem Ansinnen erfolglos bleibt. Sie löst sich nach diesem gescheiterten Versuch umgehend wieder auf und wird auch nach der Wahlniederlage Alemáns bzw. dem Wahlsieg eines sandinistischen Bürgermeisterkandidaten in San Rafael del Sur nicht wieder aktiviert.
5.5 Zwischenfazit: Die Nutzung individueller Faktoren zur Erlangung persönlicher Vorteile Die immer stärker auftretenden Differenzierungen zwischen den Bewohnern führen dazu, dass die Befragten verstärkt ihre jeweiligen individuellen Faktoren wie Bildung, Berufszweig oder Konfession einsetzen, um hinsichtlich potentieller Beschäftigungsmöglichkeiten einen Vorteil zu erzielen. Die persönliche Ausnutzung politischer Epochen aufgrund aktiver Partizipation aber auch deren Umgehung kommt in diesem Zusammenhang ebenso zum Tragen. Wie im Abschnitt über die Diktatur verdeutlicht wurde, bildete sich bereits während dieser Epoche eine soziale Differenzierung zwischen den Bewohnern heraus, die aber aufgrund eines relativ 40 Ob dieses Delikt mit der Initiative direkt in Zusammenhang gebracht werden kann, wird aus den Meinungen nicht ersichtlich. 172
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gleichen Lebensstandards nicht von den sozialen Akteuren in dieser Form wahrgenommen wurde. Aufgrund der gesamtgesellschaftlichen Transformationen treten diese Differenzierungen immer stärker zutage. Dies führt dazu, dass hinsichtlich des beschriebenen Einsatzes individueller Faktoren mitunter mehrere gleichzeitig eingesetzt werden: • Bildung / Politische Zugehörigkeit: Die 40-jährige Doña Ana, die während des Contra-Krieges mit ihrer Familie von der Atlantikküste nach Masachapa zurückkehrt, profitiert von ihrer politischen Zugehörigkeit zu den Sandinisten: Sie studiert in Managua Soziologie und erhält nach Abschluss ihres Studiums sowohl eine leitende Stellung in der Vorschule als auch eine Tätigkeit in einer nicaraguanischen Nichtregierungsorganisation.41 Don Ernesto kann aufgrund seiner wohlhabenden Familie im Ausland studieren und erhält wegen seiner positiven Haltung zur Diktatur auf dem Gelände der Zuckerfabrik eine Anstellung als Arzt. Während der Revolution konvertiert er ideologisch zum Sandinismus, beteiligt sich in unterschiedlichen Komitees und steigt zu einer hoch angesehenen Person in der comunidad auf. • Berufszweig / Glauben: Der ca. 50-jährige Don Miguel, der mit sieben Jahren die Fischerei begann, verlor während des 1992er Seebebens eines seiner Boote. Da er allerdings in seiner Familie einen Waisenjungen aufzog, der später an einem anderen Ort mit der Fischerei prosperierte, konnte er diesen Verlust wettmachen und fischt heute mit zwei Motorbooten und mehreren Mann Besatzung. Darüber hinaus verfügt er als Pastor der Iglesia Pentecostes und als Vize-Präsident der Kirche auf nationaler Ebene nicht nur einen mit hohem Prestige versehenen Posten, sondern erhält als Lohn von den Mitgliedern der Kirche den zehnten Teil ihrer jeweiligen Einkommen. Seine Frau Doña Amanda, die zuvor als panera gearbeitet hat, gibt daraufhin diese vergleichsweise gute Einkommensquelle auf.
41 Die nicaraguanische Nichtregierungsorganisation (NGO) Nicalit bohrt in den comunidades der Region Trinkwasserbrunnen für die Bevölkerung. Ebenso vergibt sie kleinere Stipendien, um Frauen eine Ausbildung in den Bereichen Schneider-, Friseur- und Konditorhandwerk zu ermöglichen. Die NGO ist darum bemüht, der Landbevölkerung die Subsistenzwirtschaft wieder näher zu bringen (Gespräch mit Doña Ana, 28.08.04). Die Bevölkerung Masachapas betreibt kaum Landwirtschaft, sondern erwirbt Gemüse und Obst an den einzelnen ventas. Diese Lebensmittel werden von den Besitzern der ventas in Managua auf einem Großmarkt erworben und mittels eigenem PKW oder Bus nach Masachapa transportiert. 173
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• Umgehung bzw. Ausnutzung politischer Systeme: Um zu vermeiden, dass ihre Söhne zum obligatorischen Militärdienst der Sandinisten eingezogen werden, schicken einige relativ wohlhabende Personen ihre Kinder in die USA. So auch die etwa 50-jährige Doña Angela, die einen an der Hauptstraße gelegenen comedor betreibt, der durch gleichzeitigen Außer-Haus-Verkauf von Spirituosen, Wein, Bier, etc. in den letzten Jahren beständig expandierte. Sie kann ihren relativen Wohl-stand durch die einzelnen politischen Epochen hindurch aufrechterhalten. Der jeweilige Einsatz dieser Faktoren weist darauf hin, dass sich eine individuelle Aneignung von Verhaltensmustern herausgebildet hat, die nicht nur Rückschlüsse auf die sich sukzessive herausbildenden Differenzierungen zwischen den einzelnen Mitgliedern der comunidad, sondern auch innerhalb der sich gebildeten Interessengruppen erlauben. Dies lässt sich sowohl anhand erhaltener Aussagen nachvollziehen als auch direkt bei der sozialen Interaktion beobachten. Im Folgenden sollen diese Aspekte mittels der Beschreibung endogener und exogener Einflüsse auf die soziale Organisation Masachapas näher beleuchtet werden.
6. Endogene und exogene Einflüsse auf die soziale Organisation Masachapas 6.1 Die verschiedenen Komitees und ihre Ziele In der comunidad existieren mehrere Komitees, die sich aufgrund bestimmter Ereignisse temporär und mit unterschiedlichen Zielen gegründet haben. Sie befassen sich mit unterschiedlichen Schwerpunkten: • Der Familienrat (consejo de padre de la familia). Dieses Gremium, das jedes Jahr neu gewählt wird, überprüft und bewertet die Unterrichtsqualität der Lehrkräfte. Ebenso werden die getätigten Geldausgaben der Institution einer Revision unterzogen. • Das Komitee zur Verhütung von Straftaten (comite de prevención de delito). Dieses seit vier Jahren existierende Komitee erarbeitet in Zusammenarbeit mit den lokalen Polizeibehörden ein Konzept zur Eindämmung von Diebstählen und Überfällen bzw. dem Verkauf von Drogen. • Der Rat der Katholischen Kirche (consejo de iglesia catolica). Der seit ca. fünf Jahren bestehende Rat koordiniert Feiern und Prozessionen bei religiösen Festtagen und fungiert als ideologisches Gegengewicht zu den in Masachapa ansässigen evangelikalen Kirchen (Gespräch mit Don Ernesto, 18.11.03). 174
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Solche vorübergehenden Komitees hätte es bereits während des Sandinismus gegeben. Auch hier sei es um das interessenspezifische Erreichen bestimmter Ziele gegangen: „En el gobierno del FSLN dieron cupones para la gente que tenian vehiculos y los pescadores formaron una asociación para recibir mas combustible. Cuando acabo la escasez de combustible la asociacón dejó de existir.“ (Gespräch mit Don Ernesto, 20.10.03)
Es wird kritisiert, dass die existierenden Komitees von der politischen Konstellation abhängig wären, da sie bei einem Wahlsieg der vorher nicht amtierenden Parteien inhaltlich verändert oder aufgelöst würden. Aufgrund dessen wäre die notwendige Kontinuität zum Erreichen formulierter Ziele nicht gegeben: „En los debates de los comites hay muchos planes para mejorar Masachapa pero nunca se llega a cumplir. Los comites son políticos. Si el alcalde es PLC o FSLN la gente que pertenece al comite es del partido del alcalde. La gente que pertenece a los comites no tiene continuidad y se retiran de los comites. La gente no piense a largo plazo para solucionar los problemas que existen.“ (Gespräch mit Don Ernesto, 18.11.03).
Darüber hinaus werden Teile der Bevölkerung bei den Komitee-Bildungen nicht berücksichtigt: Bei der Gründung des Komitees zur Verhütung von Straftaten wurden lediglich die direkt im Zentrum (casco urbano) lebenden Bewohner über diesen Vorgang informiert und zur Konstituierung aufgerufen.42 Don Ernesto geht davon aus, dass diese Abgrenzungstendenz der permanenten Migration und der kulturellen Verschiedenartigkeit anderer Bevölkerungsteile geschuldet sei: „Puede ser que la gente no se organiza ya que mucha gente es inmigrante de Esteli, Matagalpa, etc. y tiene diferente cultura ademas la gente entra y sale. Hay muy poca gente que ha nacido aca.“ (Gespräch mit Don Ernesto, 18.11.03).
Ohnehin würden die Bewohner nach Meinung von ‚El Gordo‘ ausschließlich nach eigenen Überzeugungen handeln und dabei lediglich auf persönliche Vorteile bedacht sein. Aufgrund dessen könne sich in Masachapa keine soziale Ordnung herausbilden (Gespräch mit ‚El Gordo‘, 09.10.03). Insbesondere nach der Wahlniederlage der Sandinisten im Jahr 1990 hätte diese Entwicklung eingesetzt: „Despues del gobierno [de los Sandinistas; 42 Meiner persönlichen Bitte, an diesen Komitee-Versammlungen teilnehmen zu dürfen, wurde nicht entsprochen. Aufgrund dessen ist eine umfassende Wiedergabe der in den einzelnen Gremien geführten Diskussionen hier nicht möglich. Interessanter Weise ist einer Forscherin, die Anfang der 1990er Jahre eine wirtschafts- und sozialgeographische Analyse der Region durchführte, die Teilnahme an sämtlichen Versammlungen gestattet worden. Möglicherweise erhofften sich die Bewohner von den Ergebnissen der genannten Untersuchung eine Steigerung ihrer wirtschaftlichen Aktivitäten. 175
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H.M.] la gente dejó de organizarse es decir existe una desorganización completa, cada persona ve por sus propios intereses.“ (Gespräch mit Don Ernesto, 20.10.03). Auch Ricardo Jimenez ist der Auffassung, dass die Bewohner lediglich ihren eigenen Dingen nachgehen würden, ohne sich dabei um politische Veränderungen zu kümmern (Gespräch mit Ricardo Jimenez, 01.09.03). Die nähere Betrachtung der abgegebenen Auffassungen zu diesem Aspekt hat ergeben, dass alle befragten Personen – unabhängig von Alter, Status, Geschlecht und Wohnort – eine in diese Richtung tendierende Aussage getroffen haben. 6.2. Fallbeispiel: Das ‚große Monstrum des Neids‘ bei Masachapas Fischervereinigung Dass auch innerhalb von Vereinigungen eher individuelle Interessen vorherrschen, soll an einem Fallbeispiel veranschaulicht werden: In Masachapas Fischervereinigung (federación de pescadores) wird eine Versammlung mit dem Ziel abgehalten, die Fischer über die Einführung einer nationalen Steuer auf Fischfang bzw. Fischverkauf zu informieren (Tagebuchaufzeichnung vom 21.10.03). Zur Erläuterung des Gesetzestextes ist eine von der Fischervereinigung beauftragte Rechtsanwältin eingeladen worden. Während ihrer Ausführungen beruft sich die Vortragende auf die nicaraguanischen Regierungen, die mit ihren Gesetzesprojekten lediglich eigene wirtschaftliche Vorstellungen und Ideologien einbringen würden. Zu Beginn der Versammlung sind lediglich fünf Fischer anwesend. Die Vereinigung hat von den ca. 700 ansässigen Fischern 50 Personen organisiert, wovon wiederum nur der kleinste Teil in der federación de pescadores aktiv ist. Trotz dieser Organisierung fischt jedes Mitglied weiterhin auf eigene Rechnung (Gespräch mit Don Miguel, 21.10.03). Der Vize-Präsident der Vereinigung bemerkt während einer Pause, dass das Desinteresse der Fischer auf ‚das große Monstrum des Neids‘ („eso es el gran monstruo de la envidia“) zurückzuführen sei.43 Die Fischer wären trotz Organisierung und der Vertretung ihrer Interessen lediglich auf ihren eigenen Vorteil bedacht (Gespräch mit Doña Cecilia, 03.09.03). Sofern ein Fischer einen guten Fangertrag erzielt hätte, würden sich die anderen sofort nach seinem Fangplatz erkundigen. Um zu verhindern, dass seine Konkurrenten einen ebenso guten Fang erzielen, würde der Fischer durch die Angabe eines anderen Fangplatzes gezielte Fehlinformationen streuen (Gespräch mit Don Miguel, 06.11.03).44 Dass lediglich ein geringer Teil der Fischer an solchen Versammlungen teilnimmt, wird sowohl mit finan43 Das soziale Phänomen des Neids (envidia) wird in Abschnitt 8 eingehender behandelt. 44 Dieses gegenseitige Kopieren findet auch in anderen Erwerbszweigen statt: Wenn jemand bspw. eine Eisenwarenhandlung eröffnen würde und damit ökonomischen Erfolg hätte, würde dieses Beispiel sofort von anderen Bewohnern kopiert (Gespräch mit Doña Ana, 06.10.03). 176
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ziellen Gründen als auch dem großen Desinteresse gegenüber den behandelten Themen begründet. Ricardo Jimenez vertritt die Auffassung, dass die von der Fischervereinigung erhobene Gebühr in Höhe von 100 Cordoba pro Monat für viele Fischer kaum aufzubringen sei. Außerdem würden sich die Fischer erst organisieren, wenn der nicaraguanische Staat bestimmte Restriktionen auf den Fischfang erlassen würde (Gespräch mit Ricardo Jimenez, 01.09.04). Wie am zuletzt genannten Argument unschwer zu erkennen ist, zeigt sich ein Widerspruch zwischen dem eigentlichen Grund der einberufenen Versammlung und der Begründung der Nichtteilnahme des eben zitierten Gesprächspartners. Meines Erachtens ist dies ein Indiz für die mangelnde Kommunikation untereinander, die sich infolge der unterschiedlichen Interessenlagen der Bewohner herausgebildet haben. 6.3 Kritik als einzige Konstante im Zusammenleben der Bewohner Das Fallbeispiel spiegelt die soziale Interaktion der sozialen Akteure wider: Die Bewohner gehen in erster Linie ihren eigenen Interessen nach, was wiederum die Differenzierungstendenzen verschärft. Das daraus resultierende Spannungsfeld wird aufgrund des vorhandenen Konkurrenzdrucks nach potentiellen Einkommensmöglichkeiten noch weiter verschärft. Eine gegenseitige Hilfe würde in Masachapa nicht existieren. Dagegen würde eine nicht offen geäußerte Kritik die einzige feste Konstante im Zusammenleben der Bewohner darstellen. Selbst Ricardo Jimenez, dem als Mäzen der ansässigen Baseballmannschaft die Finanzen der Mannschaft obliegen, wird von den eigenen Spielern kritisiert, dass er der Mannschaft Geld stehlen würde (Gespräch mit Doña Cecilia, 01.09.03). Die im Hospital tätige Doña Leonor erwähnt, dass sie während ihres Arbeitsplatzwechsels von der Vorschule in das Hospital von ihrer Chefin Doña Ana gegängelt worden sei. Die den Sandinisten nahe stehende und einer evangelikalen Kirche zugehörige Doña Ana hätte der katholischen PLC-Sympathisantin Doña Leonor mitgeteilt, dass sie nicht vorzeitig ihre Arbeit in der Vorschule aufgeben könne. Als sich Doña Leonor mit der nationalen Nichtregierungsorganisation in Verbindung setzt, die die Aktivitäten der Vorschule finanziert, hätte der vorzeitige Wechsel überhaupt kein Problem dargestellt (Gespräch mit Doña Leonor, 24.09.03). Die versteckte Kritik entlädt sich mitunter in gewalttätiger Form: Bei der Verabschiedung der Schüler der secundaria45 wird während der Abschlussfeierlichkeiten eine Massenschlägerei angezettelt.46 Den ca. 500 feiernden 45 Mit dem erfolgreichen Abschluss der Secundaria erhalten die Schüler die Zugangsberechtigung an die Universität. 46 Bei diesem Initiationsritus geht es in erster Linie um Übertreibung. Von den Teilnehmern wird erwartet, dass sie sich übertrieben elegant kleiden, um den Anderen mit der eigenen Ausstaffierung zu übertreffen (Tagebuchaufzeichnung vom 30.11.03). Dieses Verhalten wird sogar bis zum folgenden 177
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Menschen stehen lediglich fünf Polizeibeamte gegenüber, die die ausufernde Gewalt nicht unter Kontrolle bekommen. Die Schlägerei artet in eine Straßenschlacht aus, bei der die beteiligten Personen Flaschen und Steine als Wurfgeschosse einsetzen. Die vornehmlich jugendlichen Beteiligten werden bei ihrem Treiben nicht von den anwesenden Eltern zurückgehalten. Niemand sieht sich veranlasst, dieser Situation ein Ende zu bereiten (Tagebuchaufzeichnung vom 30.11.03). 6.4 Die Herausbildung von auf Eigennutz basierenden Strukturen Neben dem beschriebenen individuellen Verhalten thematisieren die Gesprächspartner eine vorherrschende Gleichgültigkeit, die das Produkt fehlender Kommunikation untereinander wäre: „Por la falta de comunicación la gente no sabe nada de cualquier actividad.“ (Gespräch mit Teresa Medina, 27.08.03). Doña Cecilia berichtet von einer Caritas-Aktion, die der comunidad vor ca. 25 Jahren eine Schenkung überreichen wollte. Da sich die Bewohner jedoch nicht auf die lokale Umsetzung einigen konnten, ging diese Schenkung verloren (Gespräch mit Doña Cecilia, 03.09.03). Auch politische Veränderungen würden lediglich ein allgemeines Desinteresse hervorrufen: „Entre la dictadura y el tiempo del Sandinismo no puedo ver ningún cambio en la comunidad. El problema es que la gente no le interesa un cambio politico.“ (Gespräch mit Teresa Medina, 27.08.03). Unabhängig von der politischen Ausrichtung der Zentralregierung würden die Bewohner aus rein egoistischen Gründen handeln und lediglich auf ihren eigenen Vorteil bedacht sein. Der in der comunidad vorherrschende Egoismus sei aber nicht Ergebnis eines sich während des Krieges in den 1980er Jahren herausbildenden Paternalismus. Ein solches Verhalten hätte bereits früher bestanden und sei ein Produkt der familiären Erziehung (Gespräch mit Doña Cecilia, 03.09.03).47 Die folgenden Abschnitte werden aufzeigen, dass diese Strukturen in den einzelnen barrios in unterschiedlicher Ausprägung vorzufinden sind.
Tag weitergeführt: „Es una tradición traer la misma ropa del día anterior de la fiesta.“ (Gespräch mit Doña Raquel, 01.12.03). Barley hat zu diesem Aspekt ähnliche Beobachtungen in Kamerun gemacht (vgl. Barley 1997: 228). 47 Diese Verhaltensweise ließ sich bspw. bei den Baseballspielern der comunidad beobachten, wenn sie sich vor dem Training oder der Abfahrt zu Auswärtsspielen im Haus von Ricardo Jimenez versammelten. Ohne um Erlaubnis zu bitten, wurde der Inhalt des Kühlschranks inspiziert und sich zu Leibe geführt, der Fernseher in Beschlag genommen und sich auf den Möbeln der Familie ausgestreckt. Über den Busbesitzer Manuel Rodriguez wird erzählt, dass er nach dem Seebeben nicht bereit gewesen wäre, die Opfer des Tsunami mit seinen Bussen aus Masachapa zu evakuieren (Gespräch mit Don Miguel, 03.12.03). 178
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6.4.1 Die räumliche Trennung der Bewohner durch die spezifische Lage der barrios Die durch die Mitte Masachapas verlaufende Hauptstraße scheint als imaginäre Grenze zu fungieren, um die comunidad hinsichtlich der Bevölkerungszusammensetzung voneinander abzugrenzen: Es fällt auf, dass sich auf der einen Seite der Hauptstraße die Fischer angesiedelt haben, während auf der gegenüber liegenden Seite nur drei Personen vorzufinden sind, die sich ihren Lebensunterhalt mit der Fischerei verdienen. Diese Personen verfügen ebenso wenig über ein eigenes Boot, sondern fungieren auf den Booten der Fischer als Besatzungsmitglieder. Innerhalb des barrios der Fischer war eine gegenseitige Nachbarschaftshilfe festzustellen, die sich in dieser Form nicht in anderen Teilen der comunidad beobachten ließ: Beispielsweise erschien während eines Gesprächs mit Doña Amanda und ihres Sohnes Heriberto eine Nachbarin am Haus und bat Doña Amanda, auf ihre kleine Tochter aufzupassen. Eine solche gegenseitige Hilfe war in den anderen barrios nicht zu beobachten. Eher hatten viele Kinder mit unterschiedlichen Hautkrankheiten zu kämpfen und wurden sichtbar von ihren Eltern vernachlässigt (Tagebuchaufzeichnung vom 17.10.03). Die im barrio der Fischer beobachtete Nachbarschaftshilfe steht wiederum in einem Widerspruch zu den Aussagen anderer Bewohner, die im Abschnitt 6.3 bereits dokumentiert worden sind. Neben der räumlichen Trennung zwischen den einzelnen barrios, spielen die ungeregelten Eigentumsverhältnisse und steigender Wohnraumbedarf innerhalb eines barrios ebenso eine nicht unwesentliche Rolle. Das Resultat sind wiederkehrende Konflikte zwischen den Bewohnern. 6.4.2 Ungeregelte Eigentumsverhältnisse bei steigendem Wohnraumbedarf Beim Bürgermeisteramt (alcaldia) in San Rafael del Sur liegen keine Einschreibungen der Bewohner Masachapas über ihren Haus- und Bodenbesitz vor. Dabei sei nicht einmal geklärt, ob die Ländereien der comunidad den Erben Somozas gehören oder unter Verwaltung der alcaldia stehen würden: „No se sabe a quien pertenece Masachapa si a los sucesores de Somoza o a la alcaldia.“ (Gespräch mit Don Ernesto, 07.11.03). Bei etwaigen Rechtstreitigkeiten über Besitzverhältnisse würden den Bewohnern diese notwendigen Unterlagen nicht zur Verfügung stehen. Da sich die comunidad in einer für den Tourismus exponierten Lage befindet, könnte sich dies zu einem ernsthaften Problem entwickeln: „Mucha gente aca no tiene escritura de su casa y más adelante podria haber problemas ya que es un lugar turistico.“ (Gespräch mit Don Ernesto, 06.11.03). Es war zwar geplant die Bewohner per Zensus zu erfassen und anhand der erhaltenen Daten die notwendigen Eigentumstitel auszustellen: „Ahora hacen un censo en todas las casas de Masachapa porque la gente no tiene un titulo de propiedad de sus casas. Y la municipalidad necesita este censo para mandar un topografo y entregarles su titulo. En el censo van a preguntar 179
KULTURELLES ERBE ALS IDENTITÄTSSTIFTENDE INSTANZ? cuantas personas de la casa trabajan, cuantos viven alla, etc.“ (Gespräch mit Doña Ana, 28.08.03).
Allerdings wurden während des Untersuchungszeitraumes keine Anstrengungen in dieser Richtung unternommen. Wie sich herausstellte, wird die Auseinandersetzung um Landeigentum und der Vergabe von Landtiteln bereits seit mehreren Jahren geführt – jedoch ohne konkrete Ergebnisse: „En el año 1984 se pelea la propiedad [la escritura; H.M.] y la alcaldia entregó un papel simple y la gente dijo que no servia y lo rompio. En 1989 empieza con más fuerza la pelea por la escritura pero Masachapa esta dentro de la central de ingenio y anexos. Se extendio un titulo de propiedad que nunca fue entregado ya que adelantaron las elecciones y no hubo tiempo para entregarlos. En el siguiente gobierno la persona encargada de urbanismo en la municipalidad rompio estos titulos.“ (Gespräch mit Don Ernesto, 07.11.03)
Die unübersichtlichen Eigentumsverhältnisse und der durch Migration nach Masachapa hervorgerufene Bedarf an Wohnraum tragen zu unerlaubten Landnahmen bei: „En Villa Kobe gente ocuparon sín permiso el terreno privado de un dueño. No es seguro de donde es esa gente y no se puede controlar por la falta de escritura. (Gespräch mit Don Ernesto, 01.12.03). Dabei scheint es völlig irrelevant zu sein, ob es sich bei dem Besitzer um eine Einzelperson oder um eine Institution handelt: „Existe un conflicto con una familia que construyó su casa en terreno de la iglesia pentecostes, que quieren establecer ahi un comedor y un preescolar. Queremos recibir a esa familia un terreno de la municipalidad y no queremos crear un conflicto.“ (Gespräch mit Don Miguel, 21.10.03)
Die prekären Eigentumsverhältnisse lassen sich stellvertretend für das nach dem Seebeben im Jahr 1992 errichtete barrio Villa Kobe nachzeichnen: Dort wurden den Geschädigten durch japanische Schenkungen kostenlos neue Häuser zur Verfügung gestellt. Daneben sind einfachste, aus Plastikplanen und Pappe errichtete Unterkünfte vorzufinden, die von Zugezogenen aufgrund fehlender ökonomischer Mittel errichtet worden sind. Allen gemeinsam ist, dass sie über keine gültigen Besitztitel verfügen. Welche Rolle spielt aber in diesem Zusammenhang die regionale Gemeindeverwaltung und welche Wahl- bzw. Einflussmöglichkeiten haben die Bewohner Masachapas auf dieser Ebene? Die Beantwortung dieser Frage soll in einem kurzen Exkurs geklärt werden. Darüber hinaus soll verdeutlicht werden, dass in Masachapa – im Gegensatz zu der in Kapitel drei beschriebenen comunidad Wawa Bar – bestimmte Teile der Administration und Verwaltung aufgrund der Gesetzgebung an die Gemeindeverwaltung delegiert wurden. Damit wird auch die Intention der Dorfbewohner hinsichtlich der in Abschnitt 5.4 behandelten ‚iniciativa pro-municipio‘ nachvollziehbarer.
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6.4.3 Exkurs: Die Rolle der regionalen Gemeindeverwaltung Eingangs sei daran erinnert, dass die innerhalb der Grenzen der comunidad liegenden Unternehmen und Dienstleistungsbetriebe einen relativ hohen Steuersatz an die Gemeindeverwaltung in San Rafael del Sur abführen müssen. Aufgrund dessen wird die Gemeindeverwaltung als Hauptverantwortliche für Erhaltung und Schutz der vorhandenen Infrastruktur angesehen und rangiert noch vor der Zentralregierung in Managua: „La municipalidad es el organismo principal aca es la que se preocupa de la infraestructura del pueblo como calles, canchas deportivas, etc. El gobierno central no es importante para el desarrollo en Masachapa.“ (Gespräch mit Amador Medina, 19.10.03)
Allerdings wird die Gemeindeverwaltung hinsichtlich ihrer Untätigkeit bei der Unterstützung Masachapas kritisiert: „El municipio de San Rafael del Sur no tiene una política para Masachapa ya que no existe una política de turismo ni de pesca.“ (Gespräch mit Don Ernesto, 18.11.03). Auch der Bürgermeister (alcalde) würde sich nicht um die Belange der comunidad kümmern. Interessanter Weise wird mit dem am 02.07.1988 verabschiedeten Gemeindegesetz (Ley de Municipios)48 eine Gemeindeautonomie gefördert, in der die Partizipation der Bevölkerung explizit hervorgehoben wird. Die Bevölkerung erhält ein Anrecht auf Information und Kontrolle der Gemeindevertreter. Ein Ziel dabei ist die Unterstützung der Gemeindeentwicklung: „Der von der Verfassung gewährte Autonomiestatus sichert der Gemeinde die Entscheidung über den zu wählenden Entwicklungsweg und die freie Ausgabe der in der Gemeinde eingenommenen Steuergelder zu.“ (Schulz 1993: 32).
Bei Kommunalwahlen werden Bürgermeister, stellvertretender Bürgermeister und ein zwischen vier und neun Mitgliedern umfassender Gemeinderat gewählt.49 Der Bürgermeister stellt die höchste ausführende Autorität (maxima autoridad ejecutiva) in der Gemeinde dar. Ihm obliegt es, die vom Gemeinderat gefällten Entscheidungen umzusetzen: „La ley establece que el alcalde es la maxima autoridad ejecutiva del gobierno local, que deben ser definidas y aprobadas por el consejo.“ (Larson in: http: //reseau.crdi.ca/es/ev-43423-201-1-DO_TO-PIC.html)
Larson betont, dass diese Ämter aber auch zum eigenen Vorteil ausgenutzt werden:
48 Der vollständige Gesetzestext (Ley No. 40; Ley de Municipios) wurde im offiziellen Regierungsorgan ‚La Gaceta’ Nr. 155 am 17.08.1988 veröffentlicht. Siehe: Anonymus, in: www.femica.org/archivos/codigonicaragua.pdf. 49 Die Anzahl der zu wählenden Räte ergibt sich aus der jeweiligen Bevölkerungszahl. 181
KULTURELLES ERBE ALS IDENTITÄTSSTIFTENDE INSTANZ? „Los representantes locales de los partidos políticos tienden a promover relaciones paternalistas y caudillistas, y las divisiones politícas influyen en las relaciones con el gobierno central. [...] Por otra parte, el gobierno local se concibe como un proveedor de servicios y con frecuencia la planificación de mediano o largo plazo y la gestión de recursos naturales no forman parte de esa visión.“ (Larson, in: http://reseau.crdi.ca/es/ev-43423-201-1-DO_TOPIC.html)
Durch die im Jahr 1997 durchgeführte Reform des Gemeindegesetzes ist die politisch-administrative Dezentralisierung durch Übertragung weiterer Kompetenzen von Zentralregierung auf die Gemeindeebene vorangetrieben worden. Allerdings wird den Bürgern die Möglichkeit einer Intervention in den Ratssitzungen und den dazu gehörigen Kommissionen genommen.50 Diese zwar dezentralisierte, aber immer noch hierarchisch aufgebaute politisch-administrative Struktur bewirkt, dass Anliegen und Belange einzelner comunidades an die zuständigen Stellen in der Gemeindeverwaltung delegiert werden. Die Selbstorganisation auf Ebene der comunidad wird dadurch geschwächt. Die von einigen sozialen Akteuren Masachapas ins Leben gerufene ‚iniciativa pro-municipio‘ scheint nichts anderes als einen gescheiterten Versuch darzustellen, verloren gegangene Kompetenzen auf lokaler Ebene wieder zu etablieren. Es hat sich aber auch gezeigt, dass sich bei dieser Initiative nur ein kleiner Teil der Bewohner aktiv engagierte. Im Folgenden wird zu zeigen sein, welche weiteren Gründe für die Herausbildung auf Eigennutz basierender Strukturen vorliegen. Zunächst soll auf die bereits mehrmals genannte Migration nach Masachapa eingegangen werden. 6.4 Der Einfluss der Migration auf die Gruppenidentität der Bewohner Ein großer Teil der Bewohner Masachapas wurde nicht in der comunidad geboren, sondern ist aus unterschiedlichen Gründen (Naturkatastrophen, Flucht vor dem Contra-Krieg, bessere Verdienstmöglichkeiten, kostenloser Erhalt von Land, etc.) nach Masachapa emigriert. Ricardo Jimenez 50 Vgl. Gutiérrez, in: www.bancomundial.org.pe/ii-foro/nicaragua.pdf. Diese Entscheidung wurde zu einem Zeitpunkt getroffen, als sich die kommunalen Institutionen mit einer veränderten öffentlichen Meinung konfrontiert sahen: Die Gemeindeverwaltung wird nicht mehr als bloße Dienstleistung hinsichtlich Abfallentsorgung, Straßenreinigung und Bestandserhaltung von Parks, Friedhöfen, etc. angesehen. Eine ‚neue‘ Gemeindeverwaltung soll ebenso zur Lösung grundlegender Probleme wie Gesundheit, Bildung und Transportmöglichkeiten beitragen. Vgl.: Anonymus, in: www.envio.org.ni /articulo/274. Für die inhaltlichen Veränderungen des Gemeindegesetzes siehe: Anonymus, in: www.georgetown.edu/pdba/Decen/Nicaragua/ni_lo calej_funciones.html. Für eine kritische Auseinandersetzung mit der Dezentralisierung und einer Chronologie der politischen Strukturbildung auf Gemeindeebene siehe: Anonymus, in: www.envio.org.ni-/articulo/274. 182
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kam bspw. nach dem schweren Erdbeben von 1972 nach Masachapa (Gespräch mit Doña Cecilia, 25.08.03; Tagebuchaufzeichnung, 01.09.03). Doña Ines verließ 1986 aufgrund der Kriegssituation Managua und siedelte sich in der comunidad an (Informelles Gespräch mit Doña Ines, 05.10.03). Don Ernesto, der ebenso nicht in der comunidad geboren wurde, betont in diesem Zusammenhang die potentiellen Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten auf lokaler Ebene. So seien während der Diktatur die für die Zuckerrohrernte notwendigen Arbeitskräfte aus anderen Regionen Nicaraguas eingewandert. Ebenso seien im Verlauf der Jahre immer mehr Menschen nach Masachapa gekommen, um in der Fischerei tätig zu werden (Gespräche mit Don Ernesto, 20.10.03; 30.10.03). Ricardo Jimenez betont die (Neu-)Eröffnung des Hotels Montelimar im Jahr 1993: Durch die Eröffnung des Hotels hätten sich weitere Dienstleistungsanbieter (Apotheker, Verkäufer, etc.) in der comunidad niedergelassen (Gespräch mit Ricardo Jimenez, 01.09.03). Die im Jahr 1981 nach Masachapa emigrierte Teresa Medina vertritt die Auffassung, dass sich viele mittellose Familien zum Umzug in die comunidad entschlossen, um in den Genuss einer kostenlosen Landvergabe seitens der Sandinisten und der UNO-Regierung unter Violeta Chamorro zu kommen (Gespräch mit Teresa Medina, 27.08.03). Auch Don Gustavo betont, dass der überwiegende Teil der Bevölkerung während des Sandinismus nach Masachapa eingewandert sei (Gespräch mit Don Gustavo, 22.10.03). Die Ursprungsorte der emigrierten Personen würden sich praktisch über ganz Nicaragua erstrecken: Neben San Rafael del Sur werden von den Befragten die Städte Managua, Corinto, Esteli, Matagalpa, und die an der Atlantikküste liegenden Städte Bluefields und Puerto Cabezas genannt (Gespräch mit Don Gustavo, 22.10.03; Informelles Gespräch Don Alberto, 28.10.03; Gespräch mit Don Ernesto, 18.11.03). Sicher ist, dass die Zugezogenen aufgrund der kulturellen Verschiedenartigkeit ihrer Herkunftsregionen eine jeweils spezifische Sozialisation durchlaufen haben. Unterschiedliche kulturelle Elemente hätten nach Meinung Don Ernestos dazu beigetragen, dass sich die Bewohner nicht organisieren würden: „La gente no se organiza ya que mucha gente es inmigrante de Esteli, Matagalpa, etc. y tienen diferente cultura además la gente entra y sale.“ (Gespräch mit Don Ernesto, 18.11.03). Es erscheint plausibel, dass sich die in die comunidad hinein getragenen kulturellen Elemente direkt oder indirekt auf die Gruppenidentität auswirken und sich auf diese Weise unterschiedliche Interessengruppen herausbilden. Doch nicht nur die beständige Arbeitsmigration hat zu diesem Prozess beigetragen. Im folgenden Abschnitt wird zu zeigen sein, dass auch die Vermittlung bestimmter Bildungsinhalte in der lokalen Schule zu dieser Entwicklung beigetragen hat.
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6.6 Partizipation am Schulunterricht und der Wandel der Bildungsinhalte aufgrund der verschiedenen politischen Epochen Eingangs sei erwähnt, dass der nicaraguanischen Presse zu entnehmen ist, dass der überwiegende Anteil der ländlichen Bevölkerung lediglich die dritte Stufe der primaria51 absolviert hätte (vgl. Aguilera/Moncada, in: www.laprensa.com.ni/archivo/2003/octubre/16/economia/economia20031 016-01.html. Hinsichtlich des Bildungsniveaus der Bewohner Masachapas werden in diesem Zusammenhang unterschiedliche Aussagen getroffen. Ricardo Jimenez vertritt die Auffassung, dass sich die meisten Personen auf dem Niveau der fünften Stufe der primaria befinden würden. Ihr einziges Interesse bestünde in einem guten Verdienst beim Fischfang. Durch diese verengte Sichtweise würden die Bewohner die sich ergebenden gesamtgesellschaftlichen Veränderungen aufgrund politischer Regierungswechsel nicht bewusst wahrnehmen (Gespräch mit Ricardo Jimenez, 22.09.03). Der Lehrer Don Héctor wiederum begründet den relativ kurzen Schulbesuch der Heranwachsenden mit der familiären Verpflichtung, die Familie ökonomisch zu unterstützen. Auch wenn mittlerweile mehr Kinder am Schulunterricht teilnehmen würden, könnte die Mehrheit aufgrund ökonomischer Zwänge der Eltern ihre Schulausbildung nicht zu Ende führen. Zur Regierungszeit der Sandinisten unterbrachen viele Schüler ihre Schulausbildung, weil sie sich dem Mitte der 1980er Jahre eingerichteten Militärdienst SMP durch Verstecken oder Flucht entziehen wollten. Die politischen Veränderungen haben auch die inhaltlichen Bestandteile des Schulunterrichts verändert. Unter den Sandinisten sei der Schulunterricht rein ideologisch ausgerichtet gewesen: Im Geschichtsunterricht sei lediglich der Werdegang des Sandinismus thematisiert und in Mathematik Soldaten als rechnerische Variablen gebraucht worden (Gespräch mit Don Héctor, 24.09.03). Aber auch der heutige Schulunterricht hätte viel von seiner Qualität verloren. Dies hätte dazu geführt, dass sich die Schüler überfordert fühlten und ein geringes Selbstwertgefühl entwickeln: „Anteriormente en el colegio la parte de primaria debia hacer un examen para pasar al siguiente nivel pero hace como dos o tres años este examen ya no se hace y ahora lo más importante es que el niño asiste a las clases y no importa si tiene buen o mal rendimiento. Cuando el niño pasa a la secundaria muchas veces no sabe sumar o a las tablas de multiplicar, etc. y por ese motivo no puede entender otras materias como la fisica, pero como los profesores no pueden desaprobar a la gran mayoria, ignoran el bajo rendimiento entonces cuando el alumno termina el colegio tiene una deficiente educación y esto les impide ingresar a las universidades estatales.“ (Gespräch mit Don Ernesto, 06.11.03).52 51 Die primaria stellt im nicaraguanischen Schulsystem die Grundschulausbildung dar. 52 In diesem Zusammenhang entwickelt sich aufgrund der prekären ökonomischen Situation eine reziproke Schüler-Lehrer-Beziehung: Die Schüler erkaufen sich ihre Schulbildung, indem den Lehrern Nahrungsmittel von den 184
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Diese kurzen Beispiele verdeutlichen, dass den verschiedenen Schülergenerationen unterschiedliche Bildungsinhalte vermittelt worden sind. Aufgrund dessen kann davon ausgegangen werden, dass die einzelnen politischen Epochen nicht nur unterschiedliche Erfahrungen, sondern auch unterschiedliches Wissen bei den Generationen generiert haben, die zu Spannungen sowohl zwischen Familienmitgliedern als auch zwischen einzelnen Familien führen. Teresa Medina vertritt die Auffassung, dass der wichtigste Platz für Erziehung und Bildung immer noch die Familie sei: „El lugar más importante de la educación y enseñar a los niños es la familia.“ (Gespräch mit Teresa Medina, 27.08.03). Aufgrund dessen ist davon auszugehen, dass sich diese Spannungen im Laufe der Zeit noch verfestigen konnten. Dass auch innerhalb einer Familie Spannungen auftreten, die sich nachhaltig auf die Sozialisation der Kinder auswirken, soll an einem weiteren Fallbeispiel verdeutlicht werden. Das Beispiel spiegelt die vorgefundenen gesellschaftlichen Verhältnisse in der comunidad anschaulich wider. 6.7 Fallbeispiel: Alkoholmissbrauch als Spiegelbild auftretender Spannungen in der Familie Im Alter von 17 Jahren verheiratet sich die schwangere Teresa Medina mit ihrem Lebensgefährten Elías. Anfänglich weigert sich dieser, der Heirat einzuwilligen. Da Elías’ Mutter eine gute Freundin von Teresas Vater ist, wird Elías von seiner Mutter zu dieser Hochzeit gedrängt. Die ersten fünf Jahre seien für Teresa eine Tortur gewesen, weil Elías permanent trinkt und sie verbal misshandelt. Zwischenzeitlich geht er mehrere Monate einer Beschäftigung nach. Den erhaltenen Lohn behält er jedoch ausschließlich für sich. Nachdem er wieder arbeitslos geworden ist und weiter trinkt, will Teresa sich von ihm scheiden lassen. Zu diesem Zeitpunkt (ca. im Jahr 1993) verliebt sich ein befreundeter Kanadier in Teresa, was zu einer Veränderung in Elías’ Verhalten führt. Er behandelt Teresa zwar besser, hört aber nicht auf zu trinken. Teresa hegt bereits seit längerer Zeit den Plan, neben ihrer venta ein kleines Restaurant zu eröffnen. Allerdings vertrinkt Elías bereits seit Jahren das erarbeitete Geld, was Teresa bisher immer die Möglichkeit genommen hat, ihren comedor schon früher zu eröffnen. Die drei gemeinsamen Kinder zollen ihrem Vater gegenüber keinen Respekt. An die Kinder gerichtete Mahnungen werden von diesen erst nach Aufforderung von Teresa ausgeführt. Elías sitzt meist allein in der venta, während sich die Familie im Hof des Hauses versammelt. Sofern Teresa hinter dem Verkaufstresen steht, kommen die Nachbarn zu kleineren Unterhaltungen herbei und die Kinder toben zwischen den Re(als Fischer) tätigen Eltern angeboten wird. Es werden also Strategien gegen den Hunger (von den Lehrern) und Strategien zum Schulabschluss (von den Schülern) entwickelt (Tagebuchaufzeichnung vom 06.11.03). 185
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galen herum. Da sich die Kinder des Alkoholkonsums ihres Vaters bewusst sind, gehen sie ihm so weit wie möglich aus dem Weg (Tagebuchaufzeichnung, 05.09.03; 13.09.03). Solche Spannungsverhältnisse innerhalb der Familie würden nach Auffassung von Doña Ana bereits seit längerer Zeit in Masachapa existieren. Hinsichtlich des Alkoholmissbrauchs wäre es im Unterschied zu früheren Zeiten zu einer zunehmenden Verjüngung der Konsumenten gekommen. Was vorher ein reines Erwachsenenproblem gewesen sei, würde sich nun auf die jüngere Generation übertragen (Informelles Gespräch mit Doña Ana, 21.10.03). Die durch überhöhten Alkoholkonsum und weiterem Drogenmissbrauch entstehenden innerfamiliären Spannungen würden zu einem massiven Autoritätsverlust der Väter beitragen. Masachapa wird sogar als Ort mit dem höchsten Drogenkonsum an der Pazifikküste bezeichnet (Informelles Gespräch mit Doña Angela, 18.10.03). Die Daten belegen, dass sich diese in den Familien vorzufindenden Spannungen auch auf die soziale Interaktion zwischen den Geschlechtern übertragen. Der folgende Abschnitt wird dies verdeutlichen. 6.8 Weibliches und männliches Sozialverhalten als Ausdruck des Spannungsverhältnisses zwischen den Geschlechtern Am Beispiel der sozialen Interaktion während einer Begrüßung soll dieser Aspekt verdeutlicht werden: Kommen männliche Personen zu einer aus Männern und Frauen bestehenden Gruppe dazu, werden lediglich die bereits anwesenden Männer begrüßt, während den anwesenden Frauen keine weitere Beachtung geschenkt wird – auch wenn diese im Mittelpunkt des Geschehens stehen. Im Haus von Ricardo Jimenez ist dies insbesondere während seiner Abwesenheit zu beobachten gewesen. Sofern eine männliche Person erschien, die gefertigte Kleidung abholen oder mit Ricardo über Belange der Baseballmannschaft sprechen wollte, entbot die Person keinen Gruß und wechselte mit den nähenden Frauen nur die allernötigsten Sätze. Sicherlich spielt der in den ländlichen Regionen Nicarguas weit verbreitete machismo auch eine Rolle. Dieses Sozialverhalten basiert aber ebenso auf einer Form der Distanz und einem geringen Vertrauen zu anderen Personen (Tagebuchaufzeichnung 31.08.03; 01.09.03; Gespräch mit Doña Leonor, 10.09.03). Ein in diesem Zusammenhang immer wieder von den Gesprächspartnern genannter Aspekt stellt das Fehlen einer Kommunikation zwischen den Dorfbewohnern dar. Mit Hilfe der Darstellung eines Solidaritätsprojektes soll im Folgenden gezeigt werden, dass diese fehlende Kommunikation auf ein sich herausgebildetes Desinteresse der Bewohner während vergangener politischer Epochen zurückzuführen ist.
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6.9 Wasserprojekte des Vereins zur Förderung der Städtepartnerschaft Berlin-Kreuzberg – San Rafael del Sur e.V. als Indiz fehlender Kommunikation 6.9.1 Vorbemerkung Aufgrund ihrer Sympathie für die sandinistische Revolution schließen sich in Berlin Anfang der 1980er Jahre Vertreter von Jugendverbänden, Parteien, Gewerkschaften, Kirchen und viele Einzelpersonen zusammen, um den gesellschaftlichen Wandel in Nicaragua zu unterstützen. In Berlin wird im Jahr 1984 der ‚Verein zur Förderung der Städtepartnerschaft Berlin-Kreuzberg / San Rafael del Sur e.V.‘ gegründet. Gemeinsam mit der lokalen Nichtregierungsorganisation CEDRU (Centro de Desarrollo Rural; Zentrum für ländliche Entwicklung), werden die Themenschwerpunkte auf die Bereiche Trinkwasserversorgung, Gesundheits- und Bildungswesen, Menschenrechte, Verbesserung des Ackerbaus, Kleintierhaltung, Ökologie und Nothilfen fokussiert (vgl. Verein zur Förderung der Städtepartnerschaft Berlin-Kreuzberg/San Rafa-el del Sur e.V, in: www.staepa-berlin.de/s_verein-/index.htm. 6.9.2 Die Arbeit des Vereins in Masachapa und die Reaktionen der Bewohner Als Reaktion auf die durch den Tsunami im Jahr 1992 verursachten Zerstörungen wird vom Verein am 01.01.1993 ein Wasserprojekt in Masachapa initiiert. Ursprünglich gingen die Planungen von einem Brunnen aus. Durch die Errichtung des neuen barrios Villa Kobe musste jedoch noch ein weiterer Brunnen erschlossen werden. Bei dieser Maßnahme wurden insgesamt 750 Hausanschlüsse für ca. 5.000 Personen gelegt und die Bevölkerung aktiv beim Ausheben der Gräben und dem Verlegen von Leitungen involviert. Wer allerdings diese Eigenleistung nicht erbringen wollte, kam nicht in den Genuss eines Wasseranschlusses. Am 20.09.1995 wurde das installierte Leitungsnetz offiziell an die comunidad übergeben. Darüber hinaus ist im Jahr 2000 mit dem Bau einer modern ausgestatteten Gesundheitsstation begonnen worden. Diese wurde in Zusammenarbeit mit mehreren Gruppen deutscher Freiwilliger und der lokalen Bevölkerung errichtet. Die Station wurde 2003 fertig gestellt und steht seitdem der Bevölkerung zur Verfügung. Die Gesprächspartner weisen allerdings darauf hin, dass die Bewohner von beginnenden Solidaritätseinsätzen nichts gewusst hätten. Da bereits die Organisationsbestrebungen der Sandinisten bei den Bewohnern auf Ablehnung gestoßen seien und ein allgemeines Desinteresse hervorgerufen hätten, sei diese Gleichgültigkeit der Auslöser für eine mangelnde Kommunikation untereinander (falta de comunicación) gewesen. Da darüber hinaus der Verein direkt mit den Sandinisten in Verbindung gebracht wird, ist davon auszugehen, dass die vorherrschende Abneigung der Bewohner gegen sandinistisch anmutende Organisierungsbestrebungen zu 187
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diesem gezeigten Desinteresse beigetragen hat. Dies zeigt sich auch daran, dass der seinerzeit sandinistische Bürgermeister von San Rafael del Sur beim Bau der Wasserleitungen notwendige Materialien zur Verfügung stellen wollte. Auch hier hätten die Bewohner kein Interesse an einer Eigenaktivität gezeigt (Informelles Gespräch mit Teresa Medina, 27.08.03). An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die Beschreibung und Darstellung verschiedener endogener und exogener Einflüsse auf die soziale Organisation der Bewohner Masachapas in weiten Teilen unvollständig wäre, sofern sich der hier geführte Diskurs nicht mit weiteren signifikanten Aspekten auseinandersetzen würde. Das nun folgende Unterkapitel bezieht sich insbesondere auf Rolle und Funktion der in Masachapa vorgefundenen religiösen Institutionen. Dabei werden nicht nur die lokal ansässigen Glaubensrichtungen beschrieben. Ebenso wird explizit auf die bestehenden Konflikte innerhalb einer Konfession als auch zwischen unterschiedlichen Glaubensrichtungen eingegangen. Des Weiteren werden Fragmentierungstendenzen kultureller Identität beschrieben, die sich in einem spezifischen Verhalten der Angehörigen verschiedener Konfessionen widerspiegeln. Zu Beginn werden die einzelnen Glaubensrichtungen kurz vorgestellt.
7. Katholische und evangelikale Konfessionen in Masachapa 7.1 Die Gründung evangelikaler Kirchen Zum Zeitpunkt der Untersuchung waren 11 verschiedene evangelikale Kirchen in Masachapa vorzufinden. Apostolische Kirche und Bautisten sind mehrfach vertreten, da es infolge interner Streitigkeiten zu Abspaltungen gekommen sei (Gespräch mit Doña Leonor, 24.09.03). Zwischen 1973 und 1978 öffneten die ersten drei evangelikalen Kirchen ihre Pforten: • 1973: Iglesia de Cristo • 1976: Iglesia Bautista Internacional Horeb • 1978: Iglesia Apostolica Unida Dass sich diese Glaubensrichtungen bereits während der Diktatur in Masachapa ansiedeln konnten, ist umso bedeutsamer, als dass der bekennende Katholik Somoza eine spezifische Rolle in der katholischen Kirche spielte: „Somoza era catolico. Fue nombrada por un Cardenal ‚Principe de la Iglesia Catolica‘. Habia mucho hermanamiento entre Somoza y la Iglesia Católica.“ (Gespräch mit Don Ernesto, 12.11.03). Somoza hätte jedoch die evangelikalen Kirchen in der Nähe seines Sommersitzes ge188
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währen lassen, da er sein Augenmerk mehr auf die Bekämpfung der Sandinisten richtete: „En los años cuando llegaban las iglesias habia la lucha del FSLN contra Somoza y el concentró su fuerza a combatir la insurrección. Ademas llegaron esas iglesias de Managua. Por eso no habia ningún problema con Somoza.“ (Gespräch mit Don Gustavo, 08.11.03).
Nach dem Sieg der sandinistischen Revolution kommt es in Masachapa zu weiteren Kirchengründungen: • 1981: Iglesia Apostolica Libre • 1985: Iglesia Bautista Internacional Rey de Reyes • 1985: Iglesia Dios Pentecostal Misión Internacional Im Jahr 1993 wird in Masachapa während der Amtszeit Violeta Chamorros die • Iglesia de Dios de la Profecia gegründet. Während der Regierungszeit von Arnoldo Alemán siedeln sich drei weitere Kirchen in der comunidad an: • 1996: Iglesia Apostolica la Fe en Jesu Cristo • 1996: Iglesia Apostolica Universal Cristianos • 1996: Iglesia Josue Die vorerst letzte Neugründung wird zur Regierungszeit Enrique Bolanos‘ kurz vor Beginn der Feldforschung vollzogen: • Juni 2003: Iglesia Pentecostal La palabra de Dios 7.1.1 Spenden und diezmo als Finanzierungsquelle Die Mitglieder der Bautisten finanzieren durch die 10%ige Abgabe ihres individuellen Verdienstes (diezmo) sowohl die Bezahlung des Pastors als auch die notwendigen Bau- und Erhaltungsmaßnahmen ihres Versammlungsortes. Dagegen finanzieren sich die apostolischen Kirchen lediglich über die erhaltenen Spenden ihrer Mitglieder (Gespräch mit Don Gustavo, 12.11.03; Gespräch mit Don Miguel, 17.11.03). 7.1.2 Verhaltensregeln als Voraussetzung der Mitgliedschaft Die evangelikalen Kirchen pochen bei ihren Mitgliedern auf die Einhaltung unterschiedlicher Verhaltensregeln, die mitunter strikte Verbote beinhalten: Bei den apostolischen Kirchen ist das Fernsehen verboten. Frauen dürfen weder Ohrringe noch Halsketten tragen: „Las iglesias de la linea apostólica usan velo y prohiben la televisión. Tambien prohiben las 189
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aretes y cadenas.“ (Gespräch mit Don Gustavo, 12.11.03). Bei den Kirchen der Pentecostes dürfen Frauen weder Hosen tragen noch sich das Haar abschneiden, sich schminken oder Schmuck anlegen: „Las mujeres no deben usar pantalones, ni cortar el pelo, ni pintarse o usar collar.“ (Gespräch mit Don Miguel, 17.11.03). Den Bautisten wird das Rauchen und Alkoholtrinken untersagt. Des Weiteren sollen sie sich mit einer Person der gleichen Glaubensrichtung verheiraten: „Las mujeres no deben usar pantalón y no vestirse obtentosamente. La gente no debe tomar licor ni fumar ni bailar. Los de la Iglesia debe casarse con gente que tenga los mismos principales. Puede ser de otra Iglesia Evangelica y no con alguien de la Iglesia Católica o con otros principios.“ (Gespräch mit Don Gustavo, 12.11.03).
Die Heirat mit einem Evangelikalen wird auch von Teresa Medina erwähnt: „En la Iglesia de Cristo la gente debe casarse con un evangelico.“ (Gespräch mit Teresa Medina, 12.11.03). Die strikte Trennung zwischen den Konfessionen findet ihren Ausdruck in bestimmten Termini, die von den Evangelikalen zur Verunglimpfung der Katholiken verwendet werden. So werden Angehörige der katholischen Kirche als impius53 bezeichnet. Darüber hinaus wird jede Person, die keiner evangelikalen Kirche zugehörig ist, als mundano54 charakterisiert (Gespräch mit Ricardo Jimenez, 09.09.03). 7.2 Die katholische Kirche in Masachapa Im Gegensatz zur steigenden Hinwendung zu den evangelikalen Kirchen hat die katholische Kirche in den letzten Jahren einen Mitglieder- und Vertrauensverlust zu verzeichnen. Dieser Umstand wird auf die unzureichende Präsenz und Betreuung der Bewohner durch den eingesetzten Priester bzw. seinen Helfern zurückgeführt. Die an diesen Personenkreis gerichtete Kritik wird interessanterweise ausschließlich von Angehörigen des katholischen Glaubens geäußert. Auch die bereits in anderen Zusammenhang genannten ökonomischen Aspekte spielen bei der Interaktion zwischen Priester und Gläubigen eine nicht zu unterschätzende Rolle. 7.2.1 Rolle und Verhalten des katholischen Priesters und seiner Helfer Der für die comunidad zuständige katholische Priester wäre aufgrund des geringen Spendenaufkommens lediglich alle vier Wochen zu einer Messe
53 Der umgangssprachliche Begriff impius bedeutet in der Region ‚sucio‘ (schmutzig). 54 Der Begriff mundano, der eigentlich eine viel und weit gereiste Person bezeichnet, wird negativ besetzt, in dem man die so benannte Person als einen herumstreunenden Menschen (vago) klassifiziert. 190
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erschienen.55 Erst als sich wohlhabende katholische Gläubige in unmittelbarer Nähe zu Masachapa an der Küste niederlassen und mit einer Erhöhung des Spendenaufkommens zu rechnen ist, findet er sich fortan jeden Sonntag in der Gemeinde ein: „La Iglesia Católica ha descuidado mucho su labor, cada cuatro semanas habia una misa y que el cura no venia aca porque las propinas eran pocas. Pero a partir de que los ricos compraron quintas y comenzaron a venir el viene todos los domingos.“ (Gespräch mit Don Ernesto, 30.10.03).
Neben diesem Verhalten werden generell die lasterhaften Umtriebe aller bisherigen Priester in Masachapa kritisiert: „La Iglesia Católica tiene desprestigio ya que varios sacerdotes dejaron mujeres embarazadas en el pueblo.“ (Gespräch mit Don Ernesto, 18.11.03). Demgegenüber hätten die evangelikalen Pfarrer allesamt ihren Wohnsitz in der comunidad und würden durch ihre ständige Präsenz vor Ort ihre Kirche besser repräsentieren: „Los pastores funcionan más ya que son más persistentes. La atención de la Iglesia Evangelica es mucho mejor a la de la Iglesia Católica.“ (Gespräch mit Don Ernesto, 18.11.03). Das katholische Kirchenkomitee hätte mehrere Jahre dafür gekämpft, dass der amtierende Priester von seinem Amt entbunden und Masachapa seinen eigenen Priester bekommen würde.56 Dabei hätte die persönliche Bereicherung bei Patronatsfesten57 den Unmut vieler Gläubiger weiter geschürt: „El cura es oportunista ya que el vende la fiesta patronal y no ayuda en nada en la Iglesia. Anteriormente la Iglesia organizaba la fiesta patronal ‚Fiesta de la Cruz’. Pero solo organizaba la parte religiosa. Y la otra parte lo organizó una empresa de otro lugar. Desde que llegó el nuevo cura esto cambió. El habló con el alcalde para encargarse de toda la fiesta. El año pasado el escogio el mayordomo [que es del FSLN, H.M.] y cuando el comite de la iglesia queria organizar la fiesta el cura dijo que no. Que el mayordomo se encargaria de todo. Este mayordomo alquiló el lugar donde se festejó los toros, cerraron el lugar y cobraron una entrada. El empresario pagó al mayordomo 4.000 cordoba. El mayordomo lo entregó al cura. El comite pidió cuentas donde estar el dinero. Pero el cura no dijo nada y el dinero nunca se vio en la iglesia. Este año volvio a ser lo mismo. Ya el mayordomo otra vez era Sandinista. El comite volvio a reclamar.“ (Gespräch mit Don Ernesto, 30.10.03).
Durch eine vorgetäuschte Einladung des nicaraguanischen Kardinals zum Patronatsfest soll der Priester weitere Geldmittel erhalten, aber nicht für 55 Der katholische Priester erhält einen Teil seiner Entlohnung über das Spendenaufkommen der Gemeindemitglieder. Seinen Wohnsitz hatte er nicht in der comunidad, sondern in San Rafael del Sur. Der Seminarist kommt sogar aus Managua. 56 Dieses Komitee setzt sich aus fünf Mitgliedern zusammen: Ricardo Jimenez und seine Frau, Doña Leonor und die Besitzer einer der ansässigen Apotheken. 57 Das in Masachapa gefeierte Patronatsfest wird ‚Fiesta de la Cruz‘ genannt und alljährlich am 03. Mai zelebriert. 191
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die eigentliche Sache eingesetzt haben. Als das katholische Kirchenkomitee beim Kardinal vorstellig wird, fliegt der ganze Schwindel auf und das Komitee bittet um die Absetzung des Priesters: „El cura anterior dijo que el cardenal iba a venir para las fiestas patronales y asi conseguio dinero de las personas de las quintas ademas hizo volantes. El comite fue donde reside el cardenal y le enseño uno de estos volantes. El cardenal dijo que a el no lo habian invitado y les enseña su agenda, es asi que el comite le pidio que se sacara al ex-cura.“ (Gespräch mit Doña Leonor, 11.12.03).
Generell würden sich die katholischen Würdenträger allesamt egoistisch verhalten (Gespräch mit Don Ernesto, 30.10.03). Des Weiteren wird kritisiert, dass die katholische Kirche bei Feierlichkeiten für jede abzuhaltende Messe einen Geldbetrag fordern würde. So wurde während der Untersuchung die Messe für die Schulabgänger in einer der protestantischen Kirchen zelebriert: „La misa en la Iglesia Evangelica tuvo lugar alla porque la Iglesia Católica cobra 300 cordobas para la misa. La iglesia evangelica no cobra nada.“ (Gespräch mit Don Miguel, 29.11.03). 7.2.2 Die Kritik kommt aus den eigenen Reihen Vergleicht man die eben dokumentierten Aussagen mit der Konfessionszugehörigkeit der Gesprächspartner, so ist festzustellen, dass die hauptsächliche Kritik von Personen geübt wird, die selbst Mitglied der katholischen Kirche sind. Die Mitglieder der evangelikalen Kirchen äußern sich in dieser Hinsicht gar nicht. Die von der katholischen Glaubensgemeinschaft geäußerten Kritikpunkte werden durch Untätigkeit ihrer Autoritäten sogar noch untermauert: Die eigene Kirche wird weder in ein positives Licht gerückt noch trägt man durch aktives Werben für eine makellose Kirche dazu bei, dass die ansässige Bevölkerung den katholischen Glauben wieder mehr wahrnimmt und schätzen lernt. Ricardo Jimenez, der als Vorsitzender dem Kirchenkomitee vorsteht, äußert sich zu diesen Aspekten gar nicht. Wie bereits in Abschnitt 3.5 hinsichtlich der Vermeidung politischer Aussagen erwähnt, scheint sich Ricardo Jimenez auch in diesem Fall neutral zu verhalten, um die eigene Kundschaft nicht zu verlieren. Es hat den Anschein, dass er sich aufgrund seiner Nähe zu den Sandinisten nicht der Kritik der Bewohner ausgesetzt sehen möchte – vor allem, weil die Personen, die sich mit Kirchengeldern bereichert haben, ebenso den Sandinisten zuzurechnen sind. 7.2.3 Verhaltensregeln und sichtbare Veränderungen lokaler Feierlichkeiten Im Gegensatz zu den strikten Verhaltensregeln der evangelikalen Kirchen werden von den katholischen Würdenträgern keine grundsätzlichen Verbote ausgesprochen. Den Menschen wird mehr oder weniger freigestellt, wie sie ihr Leben führen wollen: „La Iglesia Católica dice: Vive como quieres vivir.“ (Gespräch mit Don Ernesto, 18.11.03). Lediglich den nicht 192
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kirchlich getrauten Personen wird die Hostie beim Abendmahl vorenthalten. Trotz dieser liberalen Ausrichtung haben sich in der Vergangenheit viele Bewohner dem evangelikalen Glauben zugewendet: „Tambien mucha gente cambia la religiosidad del catolizismo al protestantismo.“ (Gespräch mit Teresa Medina, 27.08.03). Dass sich auf der einen Seite die Anzahl katholischer Gemeindemitglieder erheblich verringert und auf der anderen Seite lokale Feierlichkeiten sichtbar verändert haben, soll folgendes Beispiel verdeutlichen: Während des Feldaufenthaltes beginnt die 11 Tage dauernde Prozession für die heilige Jungfrau Maria. In Nicaragua trägt sie den Namen purisima. Bei der Prozession wird das Abbild der purisima auf einem blumengeschmückten Altar durch die comunidad getragen. Es fällt auf, dass an der Prozession fast ausschließlich Kinder teilnehmen. Vor jedem katholischen Haushalt stoppen sie den Umzug, singen Loblieder auf die purisima und erhalten dafür Geschenke in Form von Kakao, Rasseln, Zuckerrohr-Stückchen und anderen Süßigkeiten (Tagebuchaufzeichnung vom 28.11.03). Die Feierlichkeiten zu Ehren der Jungfrau Maria werden nur noch in einem katholischen Haushalt abgehalten, in dem sich die Teilnehmer nach der täglichen Prozession zum gemeinsamen Gebet versammeln: „Cuando habian más catolicos en Masachapa la purisima se celebró en muchas casas. Hoy en día solo en mi casa y en general la fiesta esta más pequeña.“ (Gespräch mit Don Ernesto, 01.12.03). Auch das Zelebrieren anderer christlicher Feiertage wie Weihnachten hätte sich verändert: „Navidad tambien perdió el costumbre de comer juntos con toda la familia. Hoy muchos miembros de la familia andan a fiestas. En año nuevo antes habia tambien una cena ahora la gente se va a fiestas y gastan un montón de dinero para la polvera.“ (Gespräch mit Don Ernesto, 01.12.03).
7.3 Religiöse Grenzgänger: Das Hin- und Herwechseln zwischen katholischer und evangelikaler Kirche 7.3.1 Gründe für den Übertritt zu einer evangelikalen Kirche Die verstärkte Hinwendung zu den evangelikalen Kirchen würde damit zusammenhängen, dass die Bewohner in direkte Kommunikation mit Gott treten möchten. Sie wollen keine Heiligenbilder (imagenes) mehr anbeten, sondern suchen und fordern unmittelbare Lösungsmöglichkeiten für ihre Probleme (Gespräch mit Don Elías, 31.08.03). Warum wird aber trotz der von den evangelikalen Kirchen erlassenen Verhaltensregeln die Entscheidung zum Glaubenswechsel von den Bewohnern getroffen? Zuerst einmal würden die auferlegten Verhaltensregeln etwaigen Krankheiten vorbeugen (Gespräch mit Don Héctor, 24.09.03). Ebenso wird nach einer Kraft gesucht, die den Bewohnern Halt in der ökonomischen Krise gibt: „La crisis económica provoca que la gente busca algo para agarrarse porque la Iglesia Evangelica es bien organizada y recibe ayuda extranjera.“ (Gespräch mit Don Ernesto, 07.11.03). Wie jedoch eine in der comunidad 193
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durchgeführte Stichprobe ergeben hat, trägt der Wechsel zu einer anderen Glaubensgemeinschaft nicht zwangsläufig zur Verbesserung der ökonomischen Situation bei: Bei der Stichprobe wurden 16 Gesprächspartner, die sowohl dem evangelikalen als auch dem katholischen Glauben angehören, zu ihrer ökonomischen Entwicklung befragt. Die Stichprobe ergab zwar einige Auffälligkeiten bezüglich der genannten Faktoren, hat aber keine eindeutigen Beweise dafür erbracht, dass sich ökonomisches Wachstum aufgrund eines Glaubenswechsels eingestellt hätte (Tagebuchaufzeichnung vom 25.11.03). Darüber hinaus existieren selbst in einer einzigen Familie unterschiedliche Glaubensvorstellungen nebeneinander her.58 Aufgrund des gegenseitigen Respekts käme es jedoch zu keinen größeren Konflikten (Gespräch mit Doña Amanda, 11.11.03). 7.3.2 Gründe für das Hin- und Herwechseln zwischen verschiedenen Konfessionen Es wird immer wieder betont, dass nicht wenige Anhänger der evangelikalen Kirchen temporär zum katholischen Glauben konvertieren würden, um an verbotenen Feierlichkeiten wie der Karwoche (semana santa) teilnehmen zu können (Gespräch mit Ricardo Jimenez, 10.09.03). Nach Beendigung der Feierlichkeiten würden sie wieder ihren vorherigen Glauben annehmen. Trotz zu befürchtender Sanktionen durch die evangelikalen Pfarrer würde dieses Verhalten mittlerweile keine Ausnahme mehr darstellen: „La gente no conoce bien sus creencias. La gente cambia cada rato su religiosidad por fiestas, etc.“ (Gespräch mit Don Ernesto, 07.11.03). „Alguna gente se va de la Iglesia para las fiestas de toros [lo que pertenece a la Fiesta de la Cruz; H.M.], de la semana santa. La gente no tiene disciplina. Esa gente recibe un castigo. No se puede sentarse adelante en la Iglesia y no tienen ‚ni voz, ni voto‘ si hay decisiones. Los castigos son por medio año o año. A pesar de eso mucha gente vuelve de hacer lo mismo.“ (Gespräch mit Don Miguel, 17.11.03).
In anderen evangelikalen Kirchen würden die weltlichen Strafen milder ausfallen. Um wieder in die Kirche aufgenommen zu werden, müssten die Rückkehrwilligen drei Monate auf der letzten Kirchenbank Platz nehmen (Gespräch mit Don Héctor, 24.09.03). Die Unentschlossenheit der Gläubigen sei einer der Hauptgründe für das permanente konfessionelle Hinund Herwechseln. Ebenso seien die Konvertierten ohnehin nie in der katholischen Kirche aktiv gewesen: „La gente esta indecisa que no sabe lo que quiere y casi siempre las personas que cambiaron la iglesia nunca asistian en la catolica.“ (Gespräch mit Doña Leonor, 03.12.03). Auch hier gibt es Hinweise, dass die Übernahme des katholischen bzw. evangelika58 So gehört bspw. der Bruder des evangelikalen Pfarrers Don Miguel der katholischen Kirche an. 194
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len Glaubens ebenso durch das Erlangen persönlicher Vorteile gekennzeichnet ist. Beispielsweise berichtet Doña Amanda, dass sie bautistisch getauft worden sei. Als ihr Mann Don Miguel zum Pastor der Iglesia Pentecostes berufen wurde, konvertierte sie zu diesem Glauben. Da ein Pastor in der kirchlichen Hierarchie eine hohe Position einnimmt, erhöht sich dadurch auch der soziale Status seiner Angehörigen. Anders ist es nicht zu erklären, warum Doña Amanda ihre Tätigkeit als panera aufgibt, bei der sie die Fangausbeute ihres in der Fischerei tätigen Mannes auf Märkten und in Restaurants weiter vermarktete und so wesentlich zum Familieneinkommen beitrug. Neben dem beschriebenen ‚religiösen Grenzgängertum‘ traten bei der Untersuchung zwei soziale Phänomene in Erscheinung, die in einem signifikanten Gegensatz zu den in der comunidad ansässigen katholischen und evangelikalen Glaubensgemeinschaften stehen. Im Folgenden soll auf die sozialen Phänomene Neid (envidia) und Schdenszauber (brujeria) eingegangen werden.
8. Die sozialen Phänomene envidia und brujeria 8.1 Vorbemerkung Von den Befragten wird häufig das soziale Phänomen des Neids (envidia) erwähnt, welches das individuelle Handeln der sozialen Akteure maßgeblich beeinflussen würde. Damit einher geht ein fester Glaube an einen durch Hexerei verursachten Schadenszauber (brujeria). Es herrscht die Überzeugung vor, dass ein Misserfolg bei geschäftlichen Aktivitäten oder unvermittelt auftretende Krankheiten auf den direkten Einfluss von envidia und brujeria zurückzuführen seien. Als auslösender Faktor wird die Missgunst des Nachbarn oder anderer Bewohner aufgrund eines erzielten ökonomischen Erfolgs benannt. 8.2 Sichtbare Ausprägungen der envidia: Neid als Alltagsphänomen Ricardo Jimenez charakterisiert die Bewohner Masachapas als envidioso und no-cooperante.59 Auf die Frage, was envidioso für ihn bedeute, entgegnet er, dass die Bewohner schlecht über jemanden reden würden. Neid wäre der Ausdruck für die Missbilligung einer guten Arbeit und dem damit verbundenen Verdienst. Dies hätte dazu geführt, dass sich die Fischer bei ihren Fangaktivitäten stetig ökonomisch übertreffen wollten. Einige Fischerboote seien mit Funk und den leistungsstärksten Motoren ausgerüstet. Die Besitzer dieser Boote würden jedoch kaum jemand an ihrem Technikvorsprung teilhaben lassen. Aufgrund dessen gäbe es viele 59 Envidioso - neidisch / no cooperante - nicht kooperativ. 195
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Fischer, die envidioso wären, weil sie selbst so etwas nicht besitzen würden. (Gespräch mit Ricardo Jimenez, 01.09.04). Der bei dem Gespräch anwesende Franzisco Lopez ergänzt, dass envidia ebenso zwischen Geschwistern und in der eigenen Familie vorkommen würde. Er selbst würde durch seine Arbeit auf einer quinta mehr Geld als seine Schwester verdienen. Aufgrund dessen wäre sie neidisch auf ihn (Gespräch mit Franzisco Lopez, 01.09.04). Ein weiteres Beispiel gibt Amador Medina aus der Familie seines Schwagers: „La familia de Elías tiene envidia porque Teresa no le encarga la venta y a su familia. La gente empieza hablar mal de una persona y tratan de hacerte mal.“ (Gespräch mit Amador Medina, 19.10.03). Dass envidia sehr oft mit der Ressource Arbeit in Verbindung gebracht wird, soll an einem Fallbeispiel verdeutlicht werden. Dabei soll auch auf die Funktion der brujeria hingewiesen werden. 8.2.1 Fallbeispiel I: Die Ressource Arbeit und ökonomischer Erfolg als Auslöser von envidia und brujeria Die envidia würde immer dann bei anderen Bewohnern ausgelöst, wenn ein Mitglied der comunidad ökonomischen Erfolg hätte: „La envidia existe cuando alguien tiene un buen trabajo, si tienes una buena relación con el jefe del trabajo o si te ve bien en tu negocio.“ (Gespräch mit Amador Medina, 19.10.03). Besonders Personen, die mit eigenen unternehmerischen Aktivitäten einen Misserfolg erlitten haben, führen ihr Scheitern auf das Einwirken von envidia zurück. Die mit der envidia in Verbindung stehende brujeria60 würde dazu beitragen, dass sie der auferlegte Schadenszauber wirtschaftlich stark getroffen, wenn nicht gar ruiniert hätte. Beispielsweise hat die Mutter von Doña Leonor im Jahr 1990 einen Rinderhandel eröffnet. Durch den eintretenden wirtschaftlichen Erfolg hätte sie sich bald den Neid einiger Bewohner Masachapas auf sich gezogen. Doña Leonor berichtet, dass eine Bewohnerin, die mit ihrem eigenen Rinderhandel weniger gut prosperierte, brujeria gegen Doña Leonors Mutter angewendet hätte. Da die Frau bei einer unerlaubten Schlachtung eines ihrer Tiere von der Polizei gestellt wurde und Doña Leonors Mutter von der Schlachtung wusste, ging ihre Konkurrentin von einem Hinweis an die Polizei aus. Um das Geschäft der missliebigen Konkurrentin zu zerstören, hätte die Person einen Schadenszauber bei Doña Leonors Mutter initiieren lassen. Die Mutter erkrankte unversehens mehrere Monate an einer von ihr nicht näher beschriebenen Krankheit. Da sich ihr Zustand nicht besserte und sie annahm, dass bei dieser Krankheit brujeria mit im Spiel sei, konsultierte sie eine auf diese Phänomene spezialisierte Heilerin (curandera). Aufgrund ihres Wissens um den möglichen Einfluss von envidia und brujeria weigerte sich Doña Leonor, das Rindergeschäft ihrer erkrankten Mutter weiter zu führen (Gespräch mit Doña Leonor, 10.09.03; Gespräch mit Doña Leonors Mutter, 16.10.03). Ihre Schwägerin 60 Die brujeria wird im folgenden Abschnitt eingehend thematisiert. 196
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Doña Ines, die seit Jahren einen kleinen Außer-Haus-Verkauf von nacatamales61 betreibt, vertritt dieselbe Auffassung: Aufgrund der in der comunidad vorherrschenden envidia könnte sie kein ordentliches Geschäft eröffnen (Informelles Gespräch mit Doña Ines, 05.10.03). Eine völlig andere Meinung zum Thema envidia vertritt Don Gustavo, der im Laufe der Jahre durch hartes Arbeiten und eisernem Sparwillen ökono-misch prosperierte. Er ist der Überzeugung, dass mit der Omnipräsenz der envidia lediglich die eigene Faulheit und der niedrige Bildungsstand überdeckt werden soll: „Para mi la envidia es un pretexto para no no crecer economicamente. La gente que habla de envidia tiene un nivel bajo cultural. Yo soy bachiller y no creo en eso. Yo ahorré el dinero para hacer mi casa en tres años por la venta. La gente aca no ahorra su dinero.“ (Gespräch mit Don Gil, 08.11.03). „La mayoria de la gente que habla de envidia no es de Masachapa y es floja. Es decir que no quiere trabajar, no quiere ahorrar dinero sino gastar todo en alcohol y drogas.“ (Gespräch mit Don Gustavo, 11.11.03).
Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass Don Gustavo im Jahr 1977 in die evangelikale Kirche der Bautisten eingetreten ist und für mehrere Jahre als Pastor dieser Kirche tätig war. Die von Don Gustavo vertretene Meinung ist im Zusammenhang mit dem von dieser Kirche vorgegebenen und bereits weiter oben genannten Verhaltenskodices zu sehen. Neben ökonomischen Aspekten wird auch die Parteienzugehörigkeit als auslösendes Moment der envidia genannt. Im nachfolgenden Abschnitt soll dies dokumentiert werden. 8.2.2 Parteienzugehörigkeit als auslösendes Moment der envidia Die envidia wird ebenso mit den in der comunidad vorherrschenden politischen Meinungen in Verbindung gebracht. Don Ernesto vertritt die Auffassung, dass Politik als Vorwand benutzt wird, um sich negativ über eine Person zu äußern: „La envidia es algo natural en este pueblo y se aumentó por relaciones políticas. La gente cuando tiene envidia utiliza de pretexto la politica y habla mal de esa persona por la politica.“ (Gespräch mit Don Ernesto, 30.10.03).
Eine andere Position vertritt Doña Leonor. Sie ist der Auffassung, dass envidia erst eintreten würde, wenn eine Person einen gut bezahlten politischen Posten erlangen würde. Da sie bekennende Liberale ist, wäre es nach Auffassung von Don Ernesto sehr wahrscheinlich, dass sie durch diese politische Offenheit von envidia betroffen sein könnte. Diese konträr gegenüberstehenden Sichtweisen lassen sich bei näherer Betrachtung 61 Als nacatamal wird eine verdickte Maismasse bezeichnet, die mit Kartoffeln, Reis und/oder Fleisch gefüllt, in Palmblätter eingewickelt und mehrere Stunden lang gekocht wird. 197
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auflösen: Don Ernesto wandelte sich in der Umbruchphase der Revolution von einem Anhänger des Somozismus zu einem Sandinisten. Ebenso ist er Mitglied in einigen gegründeten Komitees und wird von vielen Bewohnern als preiswert behandelnder Arzt geschätzt. Allerdings muss er sich aufgrund seiner politischen Vergangenheit auch eine Menge Kritik gefallen lassen – und diese wird insbesondere von Doña Leonor geäußert. Don Ernesto reflektiert mit seinem Standpunkt seine persönlichen Erfahrungen. Doña Leonor wiederum hat sich als Aktivistin der iniciativa promunicipio hervorgetan, sich an den Wahlkampagnen von Violeta Chamorro bzw. Arnoldo Alemán beteiligt und ist mit ihren in der Öffentlichkeit vorgetragenen politischen Meinungen – trotz der Erfahrungen ihrer Mutter mit dem Rinderhandel – offensichtlich nicht besorgt, von envidia bzw. brujeria betroffen zu sein. 8.2.3 Die Ausblendung und/oder Verlagerung von envidia Neben der übersteigerten Wahrnehmung von envidia ist ebenso die Strategie der Ausblendung bzw. des Nicht-Sehen-Wollens vorzufinden. Doña Leonors Bruder Rigoberto, der seit ca. 30 Jahren als Fischer zur See fährt, ist der festen Überzeugung, dass es – zumindest unter den Fischern – keine envidia geben würde. Auf diese Meinung angesprochen, entgegnet Doña Leonor, dass ihr Bruder so etwas nicht wahrnehmen würde. Sie selbst hätte beobachtet, wie sich der Nachbar verhielte, wenn Don Rigoberto seinen Kindern neue Kleidung kaufen würde: Er würde sich beeilen, um den eigenen Kindern ebenso neue Kleidung zukommen zu lassen. Don Rigoberto würde diese Verhaltensweise nicht auffallen. Neben der Ausblendung lässt sich auch eine Verlagerung des Phänomens in andere Bereiche der comunidad feststellen. Für Teresa Medina würde die envidia in ihrem eigenen barrio nicht existieren: „En la cuadra donde vivo yo no hay envidia pero por el lugar donde viven los pescadores la envidia es muy fuerte. Por ejemplo si uno tiene un televisor otra persona quiere o se compra uno más grande asi no tenga que comer.“ (Gespräch mit Teresa Medina, 12.11.03).
Interessanter Weise widerspricht sie sich im selben Gespräch. Sie berichtet von ihrer Schwägerin, die ihr den Tod wünsche. Ihr Ehemann hätte eine gut bezahlte Tätigkeit verloren und um sich Nahrungsmittel kaufen zu können, würden sie ständig auf Kredit bei Teresa einkaufen. Ihre Schulden würden sich bereits auf einen relativ hohen Betrag belaufen. Die Schwägerin wäre envidiosa, da Teresa eine prosperierende venta hätte (Gespräch mit Teresa Medina, 12.11.03). Dieser Widerspruch ist nur zu verstehen, wenn man sich den konfessionellen Glauben von Teresa Medina vor Augen hält. Sie ist Mitglied einer protestantischen Kirche, die ihre Mitglieder scharfen Restriktionen unterwirft. Als cristiana hätte sie alle Dinge positiv zu sehen und dürfe sich nicht kritisch äußern. Sowohl für die katholische als auch für die evangelikalen Kirchen würde die envi198
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dia einen Verstoß gegen die Gebote und eine Sünde darstellen: „La posición de la iglesia catolica acerca de la envidia: Eso es contra los mandamientos.“ (Gespräch mit Doña Leonor, 03.12.03). „Para la iglesia catolica la envidia es un pecado.“ (Gespräch mit Don Miguel, 01.12.03). 8.2.4 Fallbeispiel II: envidia als Abbild persönlicher Missbilligung Die studierte Soziologin Doña Ana ist der Auffassung, dass envidia eine Verhaltensweise von armen und/oder arbeitslosen Menschen darstellen würde, die überdies ein geringes Selbstwertgefühl besäßen (Gespräch mit Doña Ana, 06.10.03). Sie berichtet, dass sie während der Karwoche einen Verkaufsstand vor ihrem Haus aufbaute, um den zu dieser Zeit in Masachapa weilenden Touristen eine Fischsuppe anzubieten.62 Ihre Nachbarin Doña Raquel, die täglich bei Sonnenuntergang verschiedene Speisen vor ihrem Haus zum Verkauf anbietet, soll darin eine direkte Konkurrenz gesehen und sich sehr über Doña Anas Geschäftssinn erbost haben. Signifikant für dieses Beispiel ist, dass Doña Raquel eine relativ wohlhabende Person in Masachapa darstellt, da sie einerseits Gesellschafterin einer Kreditkooperative ist und andererseits Second-Hand-Kleidung bzw. kleinere Haushaltsgeräte verkauft. Im weiteren Verlauf des Gesprächs wird Doña Anas Auffassung durch einen beobachteten Dialog zwischen ihr und ihrem ältesten Sohn konterkariert: Dieser kehrt zwischenzeitlich von einer Feier zurück, bei der der Sieg des Wissenswettbewerbes auf nationaler Ebene gefeiert wird.63 Die Tochter eines der ansässigen Apotheker hatte als Beste diesen Wettbewerb gewonnen. Als sich Doña Ana mit ihrem Sohn über das Fest unterhält und sich berichten lässt, dass alle getanzt hätten, fragt sie unvermittelt, ob die Gewinnerin überhaupt tanzen bzw. ‚mit Stil‘ tanzen könne. An Mimik und Tonfall lässt sich ihre abwertende Haltung ablesen. Es sei hier erwähnt, dass Doña Anas Tochter mit der etwa gleichaltrigen Gewinnerin gemeinsam zur Schule geht. Wie es scheint, werden ihr während des Gesprächs die eigenen Widersprüche bewusst, da sie die kurze Gesprächspause zu einem Themenwechsel nutzt und beginnt, sich über das Schulsystem in Deutschland zu unterhalten (Tagebuchaufzeichnung vom 06.10.03).
62 Während der Karwoche, bei der die arbeitende Bevölkerung Nicaraguas eine Woche von ihrer beruflichen Tätigkeit freigestellt wird, fahren viele Binnentouristen aufgrund der Feiertage und der hohen sommerlichen Temperaturen an die pazifischen Badeorte. Während dieser Zeit halten sich in Masachapa ca. 20.000 Personen auf. 63 Der jährlich ausgetragene Wissenswettbewerb lässt die besten Schüler der secundaria (an der Pazifikküste) gegeneinander antreten. Die Kandidaten werden durch gezieltes Abfragen unterrichtsrelevanter Fakten auf ihr Wissen überprüft. 199
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8.2.5 Fallbeispiel III: envidia als Stellvertreterkonflikt Doña Anas Tochter wird auch anderweitig erwähnt. Doña Cecilia, die der envidia einen starken Einfluss in Masachapa bescheinigt, berichtet über den Fall ihrer Enkelin Felicia.64 Felicia besucht zum Zeitpunkt der Untersuchung die secundaria der ansässigen Schule. Doña Anas Tochter Dolores ist eine gute Freundin von Felicia. Eines Tages sei eine von Doña Cecilia nicht näher beschriebene Person zu ihr gekommen und hätte berichtet, dass Dolores eine Herumtreiberin (vaga) sei. Dieselbe Person wäre bei Doña Ana erschienen und hätte ihr die Auffassung Doña Cecilias mitgeteilt, dass ihre Tochter keine gute Freundin für Felicia abgeben würde. Dies hätte dazu geführt, dass Doña Ana ihrer Tochter den Umgang mit Felicia verbot. Schließlich sei Doña Ana mitsamt Tochter bei Doña Cecilia erschienen um diese Sache zu besprechen. Dabei hätte sich die ganze Sache aufgeklärt (Gespräch mit Doña Cecilia, 11.09.03). Es scheint, dass die beiden Freundinnen Opfer eines Stellvertreterkonfliktes geworden sind. Sowohl die Familie von Dolores als auch die von Felicia sind ökonomisch relativ gut versorgt. Des Weiteren fällt auf, dass beide Familien Anhänger der Sandinisten sind. Wie steht aber die envidia mit der brujeria in Beziehung und wie bzw. von wem wird brujeria ausgeübt? Der folgende Abschnitt wird sich mit diesem Gesichtspunkt beschäftigen und aufzeigen, welche individuellen Gründe vorliegen, um die brujeria zur Anwendung kommen zu lassen. 8.3 Die brujeria als Mittel direkter Schädigung Dritter Zunächst wird von mehreren Gesprächspartner angegeben, dass in Masachapa keine die brujeria ausübende Person (brujo) wohnen würde. Aufgrund dessen müssten potentielle Interessenten einen brujo an einem anderen Ort aufsuchen (Gespräch mit Doña Cecilia, 11.09.03; Informelles Gespräch mit Modesta Medina, 17.10.03; Informelles Gespräch mit Teresa Medina, 18.10.03). Sowohl von ‚El Gordo‘ als auch von Don Ernesto wird die in den Bergen Nicaraguas liegende comunidad Niquinohomo als Wohnort von in Frage kommenden brujos genannt (Gespräch mit ‚El Gordo‘,16.09.03; Gespräch mit Don Ernesto, 07.11.03). Die brujeria stehe in direktem Zusammenhang zur envidia, wobei der Neid gegenüber einer anderen Person nur verschlüsselt und nicht offen weitergegeben wird, da sich sonst die brujeria gegen die eigene Person richten könnte. Die brujeria würde mehr von Frauen angewendet, wobei insbesondere die in der Fischerei tätigen Zwischenhändlerinnen (paneras) genannt werden: „La mayoria de las paneras visitan a los brujos.“ (Gespräch mit Franzisco Lopez, 02.12.03). Ebenso soll die brujeria in allen sozialen Schichten existieren (Gespräch mit Ricardo Jimenez, 07.10.03). Es werden unterschiedliche Gründe für die Anwendung der brujeria genannt: Der Schadenszauber soll potentiellen Nebenbuhlerinnen schaden und Männer davon ab64 Felicia ist die Nichte von Ricardo Jimenez. 200
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halten, ihre Ehefrauen zu verlassen. Zur Durchführung würde der brujo ein Foto oder Unterwäsche der betreffenden Person benötigen. Anschließend würde er diese Gegenstände vergraben. ‚El Gordo‘ berichtet von gefundenen Gläsern, in denen mit Nadeln gespickte Puppen gefunden wurden, die die Kleidungsstücke der Opfer getragen hätten. Ebenso würde der brujo eine Substanz aushändigen, die in eine Mahlzeit oder in ein Getränk des Opfers geschüttet werden soll (Gespräch mit ‚El Gordo‘, 16.09.03 und 17.09.03). Auch die Erde von Friedhofsgräbern würde bei der brujeria verwendet: „Con 13 años estaba enamorado y obsesionado por una mujer de 33 años. Ella me dijo que seria mia si yo me voy al cementerio y le traigo tierra de un muerto. Me fui al cementerio tiré una moneda de 25 centavos en una tumba y recogí la tierra. Salí sin mirar atras. Yo estuve desnudo. Atras se escuchaba muchos ruidos como si un auto tuviera muchas latas amarradas. Llegue a salir el cementerio y terminó el ruido. Esta mujer queria la tierra del muerto para hacer brujeria a su vecina. Llegue y debia tirar la tierra al techo de la vecina pero ella estaba esperando y llamo a la policia. La policia nos llevo presos por la brujeria es un delito nos encarcelaron cerca de un mes y despues la dejaron libre. A mi me dejaron en libertad porque estuve menor de edad.“ (Gespräch mit Franzisco Lopez, 02.12.03).65
Da die Bewohner unterschiedliche Maßnahmen ergreifen, um sich vor envidia und brujeria zu schützen, ist die Präsenz dieser sozialen Phänomene im Alltagshandeln offensichtlich. Im folgenden Abschnitt soll sowohl auf getroffene Vorsichtsmaßnahmen als auch der Strategie der Ausblendung eingegangen werden. 8.3.1 Die individuellen Vorsichtsmaßnahmen gegen brujeria Wie bereits in Abschnitt 8.2.1 verdeutlicht, stellt ökonomischer Erfolg einen der Hauptgründe für Schadenszauber dar. Es verwundert daher nicht, dass insbesondere Geschäftsinhaber entsprechende Vorsichtsmaßnahmen treffen, um nicht Opfer der brujeria zu werden. Beispielsweise werden Pflanzen verkehrt herum an der Decke aufgehängt oder kleine Puppen aus Stoff bzw. verschiedene Steine verwendet: „En los negocios mucha gente tiene una muñeca de yeso agarrandose el pie, salvia o tijeras. Eso es un tipo de protección en su negocio.“ (Gespräch mit Don Ernesto, 07.11.03.). Darüber hinaus sind die Bewohner bestrebt, mit eigenen Verhaltensweisen und Meinungen nicht zur Zielscheibe der brujeria zu werden.66 65 Im nicaraguanischen Strafrecht ist der Tatbestand der brujeria nicht angegeben. Sofern jemand eine Anzeige wegen brujeria erstatten will, wird das von der Polizei nicht Ernst genommen (Gespräch mit ‚El Gordo‘,17.09.03). Auch andere Kreise merken an, dass nach geltendem nicaraguanischem Strafrecht brujeria keine Straftat darstellt (Gespräch mit dem Rechtsanwalt Alvaro Fuentes, 23.12.03). 66 ‚El Gordo‘ erzählt, dass ihm sein Vater mehrere Ratschläge gegeben hätte. So solle er sich bspw. immer alle notwendigen Dinge selbst kaufen, um 201
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Von einigen Bewohnern wird die brujeria wiederum ausgeblendet. Doña Raquel vertritt bspw. die Auffassung, dass brujeria in Masachapa nicht existieren würde: „La brujeria no existe en Masachapa.“ (Gespräch mit Doña Raquel, 03.12.03). Interessanterweise berichtet sie im selben Gespräch von einer Legende, die die Verwandlung einer Frau in einen Affen thematisiert, die des Nachts in Masachapa umherstreunen würde. Erst Informationen anderer Gesprächspartner geben Aufschluss über negative Erfahrungen, die Doña Raquel und ihre Familie hinsichtlich der brujeria gemacht haben: „Doña Lizbeth [la hermana de Doña Raquel; H.M.] tenia la venta más grande de Masachapa. Ella comenzó a creer que Doña Angela le hacia brujeria. Ella para curarse perdio todo lo que tenia: vendio su casa y tenia tres vehiculos, dos camionetas y un auto, vendio una camioneta y un auto y al final se quedo sin nada. Al poco tiempo Doña Angela puso su licoreria al frente de la ex-venta de Doña Lizbeth. La casa de Doña Lizbeth fue comprado por un español y lo convirtió en un bar y la gente decia que Doña Angela le hacia mal ya que al comienzo a el le iba bien y despues el negocio bajó. El vendio el local y todas las personas que han tenido este local le va mal.“ (Gespräch mit Franzisco Lopez, 02.12.03).
Neben diesen Abwehrstrategien wird die brujeria allerdings auch mit positiven Attributen versehen. Diese sollen ebenso kurz beleuchtet werden. 8.3.2 Positive Sichtweise zur brujeria In diesem Fall wird brujeria als Heilungsfaktor bei Krankheiten bzw. zur Unterstützung des Wunsches nach wirtschaftlicher Prosperität angesehen (Gespräch mit Modesta Medina, 17.10.03). Diese Aussage muss jedoch in den Kontext der Zugehörigkeit der Gesprächspartnerin zu einer evangelikalen Kirche gestellt werden. Modesta Medina ist wie ihre Schwester Teresa zu diesem Glauben konvertiert und einem Verhaltenskodex verpflichtet, der die Menschen zu einer positiven Darstellung ihrer Lebensrealität verpflichtet. Die dokumentierten Aussagen und Fallbeispiele verdeutlichen, dass die gesellschaftlichen Transformationsprozesse zu einer Modifizierung der alltäglichen Verhaltensweisen geführt haben. Die empirischen Daten zeigen aber auch, dass der Ursprung dieser Modifizierungen in der Epoche der Diktatur zu suchen ist. Meines Erachtens haben sich während dieser Zeit die Grundlagen für die in der heutigen Zeit beobachteten sozialen Verhaltensweisen herausgebildet. Daher wird die Diktatur als paradigmatisches Beispiel für das Verhältnis der lokalen Bevölkerung zu sich selbst und zu ihrer Außenwelt bezeichnet. Im folgenden Fazit soll noch einmal zusammenfassend darauf eingegangen werden. Streitereien mit den Nachbarn zu vermeiden (Gespräch mit ‚El Gordo‘, 09. 10.03). 202
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9. Fazit: Die Diktatur als paradigmatisches Beispiel für das Verhältnis der lokalen Bevölkerung zu sich selbst und zu ihrer Außenwelt Die empirischen Daten weisen darauf hin, dass die Bewohner mit der politischen Epoche der Diktatur sympathisieren: Die Befragten äußern sich mehrheitlich positiv über ihre damaligen Lebensverhältnisse. Die durch die Aktivitäten der Diktatur hervorgerufenen sozioökonomischen Veränderungen in Masachapa wie bspw. lokale Beschäftigungsmöglichkeiten werden von den Befragten nicht nur wahrgenommen, sondern auch kategorisiert und interpretiert. Allerdings bleibt dieser Prozess dahingehend unreflektiert, dass die genannten Veränderungen nicht im Kontext der sozialen Folgeerscheinungen für das Zusammenleben der Bewohner gesehen werden. Es zeigt sich, dass lediglich ein bestimmter Teil der Bewohner an den geschaffenen Beschäftigungsmöglichkeiten partizipieren kann. Andere wiederum sind von diesen Tätigkeiten ausgeschlossen. Damit vollzieht sich ein Prozess, bei dem der partizipierende Teil der lokalen Bevölkerung eine andere Logik wirtschaftlichen und sozialen Handelns entwickelt. Für diesen Teil der Bewohner generiert sich ein soziales Prestige, weil sie durch die Mitarbeit in den Betrieben Somozas einen Vorteil gegenüber anderen erzielen konnten. Da sich dieses soziale Prestige nicht auf die gesamte comunidad übertragen lässt, ergibt sich ein anderes Verhältnis der einzelnen sozialen Akteure zueinander und ebenso hinsichtlich der individuellen Erinnerung an die Epoche der Diktatur. Somit werden die Widersprüchlichkeiten in den einzelnen Aussagen der Befragten nachvollzieh- und erklärbar. Die Aussagen verdeutlichen, dass gerade die sozialen Veränderungsprozesse auf lokaler Ebene die diskursiven Widersprüche zwischen den Befragten produziert haben. Je spezifischer dabei der ökonomische Vorteil ist, desto stärker ist die Tendenz vorhanden, dass sich die Gesellschaft auseinander driftenden Kräften ausgesetzt sieht. Des Weiteren werden sowohl die Sandinisten als auch die nachfolgenden nicaraguanischen Regierungen an der Epoche der Diktatur gemessen. Nach dem Sieg der Sandinisten über die Diktatur und den sich daran anschließenden politischen Epochen kommt es aufgrund der gesellschaftlichen Transformationsprozesse zu weiteren sozialen Differenzierungen, die das Verhältnis der Bewohner zueinander signifikant beeinflussen: Durch Enteignungen und der Neuverteilung von Ländereien werden die Eigentumsverhältnisse in der comunidad grundlegend verändert. In der Amtszeit Violeta Chamorros intensiviert sich aufgrund der (Re-)Privatisierungspolitik und einer erhöhten Migration infolge der Landvergabe an ärmere Bevölkerungsschichten der sich bereits im Sandinismus abzeichnende Veränderungsprozess im lokalen Beschäftigungssektor. Diese Entwicklung führt nicht nur zu einer Zunahme informeller Beschäftigung, sondern generiert ebenso innerfamiliäre Konkurrenz. Während der Regierungszeit Alemáns richten die Bewohner ihr Verhalten immer stärker 203
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nach den Möglichkeiten aus, die sich durch Mitarbeit und/oder Mitgliedschaft in politischen Parteien für sie ergeben. Diese individuelle Herangehensweise wird auch bei der Gründung der ‚iniciativa pro municipio‘ sichtbar. Allen politischen Epochen ist gemein, dass sich aufgrund der permanenten Migration nach Masachapa die Bevölkerungsstruktur der comunidad verändert. Dies wiederum hat einen Konkurrenzkampf um die knapper werdende Ressource Arbeit zur Folge. Aufgrund der unterschiedlichen Beschäftigungsverhältnisse hat sich zwischen den Bewohnern eine soziale Hierarchie herausgebildet, da die gesellschaftliche Position des Einzelnen davon abhängt, wie die individuelle Tätigkeit von anderen Mitgliedern der Gemeinschaft angesehen und beurteilt wird. Dabei verändern sich ebenso die Bewertungen der unterschiedlichen politischen Epochen, was damit zusammenhängt, dass einzelne Bewohner in einem bestimmten Zeitraum prosperieren und andere wiederum nicht. Die Ebene der Dorfgemeinschaft generiert sich dabei mehr und mehr zu einem gemeinsamen Spannungsfeld, in dem die sozialen Akteure ihre partikulären und mitunter widerstreitenden Interessenslagen ausfechten.
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Z USAMMENFASSUNG UND A USBLICK Das Ziel der vorliegenden Forschungsarbeit war es, sich mittels einer an der nicaraguanischen Atlantik- und Pazifikküste durchgeführten Feldforschung mit der Frage auseinanderzusetzen, wie sich gesamtgesellschaftliche Transformationsprozesse auf die soziale Organisation dörflicher Gemeinschaften in den beiden Landesteilen auswirken, um nachvollziehen zu können, wie der alltägliche Prozess sozialer Interaktion durch übergeordnete Verhältnisse tangiert wird und welche Rolle dabei das kulturelle Erbe spielt. Der Fokus wurde dabei insbesondere auf die geführten Diskurse der sozialen Akteure und der in diesen Diskursen auftauchenden Widersprüche gerichtet. Die empirischen Daten belegen, dass sich die politischen Brüche auf nationalstaatlicher Ebene nur bedingt auf die untersuchten Gemeinschaften auswirken: Der Wandel der sozialen Organisation in Wawa Bar ist deutlich auf supranationale Einflüsse in Form einer sich in den letzten Jahren herausgebildeten Drogenökonomie zurückzuführen. Andererseits ist das Verhältnis der Bevölkerung Masachapas zu sich selbst und zu ihrer Außenwelt signifikant durch Einwirkungen der Diktatur Somozas geprägt. Trotz der kulturellen Unterschiede der beiden Landesteile sind aber auch gemeinsame Handlungsmuster erkennbar. Dies ist insbesondere für die sozialen Phänomene envidia und brujeria zu konstatieren, die von den Bewohnern vor allem hinsichtlich ökonomischer Aspekte zum Einsatz gebracht werden. Diese sozialen Phänomene sind meines Erachtens ein Indiz, dass das kulturelle Erbe bei der sozialen Interaktion der Bewohner eine spezifische Rolle spielt. Wie bereits weiter oben bei der begrifflichen Einordnung zentral verwendeter Termini erwähnt, unterliegt das kulturelle Erbe einem fortwährenden Prozess der Neuinterpretation seitens der sozialen Akteure. In der Tat werden in beiden dörflichen Gemeinschaften sowohl das individuelle als auch das gesamtgesellschaftliche Selbstverständnis bzw. die kulturellen Rahmenbedingungen infolge der auf die jeweilige Kultur wirkenden verändernden Impulse einer steten Modifizierung unterworfen. Bestimmte kulturelle Ressourcen werden von den sozialen Akteuren dann explizit angewendet, wenn spezifische Situationen im Alltagshandeln den Einsatz dieses ‚kulturellen Vorrats‘ erfordern. Somit kann das kulturelle Erbe auch als identitätsstiftend bezeichnet werden, da die sozialen Akteure durch die Aufrechterhaltung ‚habitualisierter Tätigkeiten‘ (vgl. Berger/Luckmann 1996: 57) und traditioneller Symbole den gesellschaftlichen Wandel legitimieren. Auch die Gruppenidentität wird anhand der sich verändernden 205
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sozioökonomischen Verhältnisse und den daraus resultierenden Veränderungen in der sozialen Hierarchie einer unablässigen Neubewertung und Neuausrichtung unterzogen.
1. Unterschiede und Gemeinsamkeiten beim Vergleich der comunidades Wawa Bar und Masachapa Durch eine vergleichende Darstellung der in beiden comunidades erhobenen Daten sollen abschließend die wesentlichen Ergebnisse der Untersuchung noch einmal zusammengefasst werden. Dabei werden explizit die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der beiden dörflichen Gemeinschaften hervorgehoben. 1.1 Die Einflüsse der verschiedenen politischen Epochen auf soziale Organisation der Bewohner 1.1.1 Die Diktatur Somozas Das Verhältnis der Bevölkerung Masachapas zu sich selbst und zu ihrer Außenwelt ist signifikant durch Einwirkungen der Diktatur Somozas geprägt. Aufgrund unterschiedlicher Beschäftigungsarten in der ansässigen Fabrik, auf den Zuckerrohrfeldern und in der Fischerei bzw. den von der Diktatur unterschiedlich gewährten Leistungen wie Entlohnung, Hausbau, etc. ist ein Prozess in Gang gesetzt worden, bei dem das wirtschaftliche und soziale Handeln der involvierten Personen einer jeweils anderen Logik unterworfen wurde. Dabei sieht sich die lokale Gesellschaft umso mehr auseinander driftenden Kräften ausgesetzt, je spezifischer der ökonomische Vorteil des einzelnen sozialen Akteurs ist. Die immer wieder geäußerte Sympathie zur Diktatur weist darauf hin, dass diese spezifische Situation von den Befragten nicht im Kontext der sozialen Folgeerscheinungen für das Zusammenleben der Bewohner gesehen wird. Die Akzeptanz der Diktatur führt im Gegenteil dazu, dass die Bewohner sowohl die Sandinisten als auch die nachfolgenden Zentralregierungen an dieser Epoche messen. Aufgrund dessen kann die Diktatur als paradigmatisches Beispiel für das Zusammenleben der Bewohner Masachapas bezeichnet werden. Auch die Bewohner Wawa Bars charakterisieren die Ära der Diktatur als überwiegend positiv. Insbesondere die relative Bewegungsfreiheit, die zur Verfügung stehenden externen Beschäftigungsmöglichkeiten und ein von äußeren Einflüssen nahezu abgeschottetes Leben werden dabei hervorgehoben. Allerdings bildet sich durch die Zusammenarbeit der anwesenden Nationalgardisten mit dem lokalen Richter (Juez Comunal) ein spezielles Verhältnis zwischen den Bewohnern und dem lokalen Richter heraus. Der Juez Comunal kann durch diese Kooperation seinen Einfluss auf die Bewohner Wawa Bars erhöhen. Die Widersprüche in den Auffas206
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sungen einzelner Gesprächspartner lassen darauf schließen, dass sich einige Bewohner besser mit den vor Ort stationierten Nationalgardisten arrangieren konnten. Des Weiteren bilden sich sukzessive interne Konflikte zwischen den traditionellen Autoritäten und dem lokalen Vertreter der Mährischen Kirche heraus, die sich während der nachfolgenden politischen Epochen noch weiter verfestigen. 1.1.2 Die sandinistische Revolution Nach dem Sieg der Revolution kommt es in Masachapa aufgrund der von den Sandinisten vorgenommenen Enteignungen zu Veränderungen der lokalen Besitzverhältnisse. Ebenso wandelt sich die Bevölkerungsstruktur, da mittellose Familien aufgrund des Contra-Krieges, Landzuteilungen, etc. ihre Ursprungsregionen verlassen und nach Masachapa emigrieren. Dies löst wiederum eine zunehmende Konkurrenz zwischen den Bewohnern hinsichtlich lokaler Beschäftigungsmöglichkeiten aus. Ebenso generieren die sozio-ökonomischen Veränderungen soziale Differenzierungen zwischen den Bewohnern. Aufgrund der sandinistischen Politik bilden sich auf lokaler Ebene auf Eigennutz basierende Strukturen heraus. Einen weiteren Einfluss auf das Zusammenleben der Bewohner übt der Verein zur Förderung der Städtepartnerschaft Berlin-Kreuzberg/San Rafael del Sur e.V. aus. Durch die kostenlose Versorgung mit Trinkwasser werden die unter den Sandinisten als negativ empfundenen Veränderungen relativiert: Da den Bewohnern diese Basisversorgung fast ohne eigenes Zutun zur Verfügung gestellt wird, fühlen sie sich in die Zeit der Diktatur zurückversetzt, da sie während dieser Epoche in den Genuss einer unentgeltlichen Stromversorgung gekommen sind. Demgegenüber haben die Bewohner Wawa Bars ein kollektives Trauma erlitten, weil die militante Auseinandersetzung zwischen Mískito und Sandinisten zur Folge hat, dass die lokale Bevölkerung von Kampfhandlungen in Mitleidenschaft gezogen wird: Die Bombardierung und anschließende Besetzung der comunidad durch das sandinistische Militär führt dazu, dass die Mehrheit der Bewohner aus Wawa Bar fliehen muss und versucht, zu Verwandten in andere Dorfgemeinschaften zu gelangen. Nicht nur das unfreiwillige Verlassen des eigenen Lebensraumes, sondern auch die nach der erfolgten Repatriierung einsetzende Repression, Verdächtigungen und die verschlechterten Lebensbedingungen üben einen Einfluss auf das Zusammenleben der Bewohner aus. Das im Zuge des militanten Konflikts von den Sandinisten erlassene Autonomiestatut generiert weitere Differenzierungen zwischen den lokalen Autoritäten und den Bewohnern Wawa Bars. Die unterschiedlichen Definitionen, die von den Befragten zum Terminus Autonomie abgegeben wurden, müssen im Zusammenhang mit der sozialen Hierarchie in der comunidad gesehen werden. Die Inhalte des Autonomiestatuts bzw. die Ausführungs- und Regelungsmechanismen scheinen dazu beizutragen, dass die lokalen Autoritäten ihre Vertretungsfunktion für die Bewohner der Dorfgemeinschaft 207
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kaum mehr wahrnehmen und sich stattdessen der Befriedigung eigener Interessen widmen. 1.1.3 Die Regierungszeit Violeta Chamorros Nach dem Ende des militanten Konflikts und der Abwahl der Sandinisten gerät die Atlantikküste und damit auch Wawa Bar wieder zunehmend in Vergessenheit. Diese Nichtbeachtung der Region seitens der Regierung Violeta Chamorros trägt dazu bei, dass sich an der Atlantikküste eine Drogenökonomie etabliert, die zu nachhaltigen soziokulturellen und sozioökonomischen Veränderungen im Zusammenleben der Bewohner führt. Daher wird die Drogenökonomie als paradigmatisches Beispiel für den Einfluss supranationaler Verhältnisse auf die soziale Organisation der lokalen Bevölkerung bezeichnet. Die gesamte Gesellschaft wird durch den Einfluss der Drogenökonomie restrukturiert und weist eine signifikante persönliche Dimension auf. Dadurch kommt es zu einer Vernachlässigung spezifischer Kulturbestandteile bzw. der Herausbildung neuer soziokultureller Ausprägungen. In Masachapa bildet sich zwischen den Bewohnern infolge der von der Chamorro-Regierung betriebenen Privatisierungspolitik und den damit verbundenen Entlassungen ein Konkurrenzdruck hinsichtlich der Ressource Arbeit heraus. Davon sind auch die verwandtschaftlichen Beziehungen betroffen, da der Stellenwert verwandtschaftlich organisierter Produktion abnimmt. Durch kostenlose staatliche Landvergabe und einer damit einhergehenden Migration nach Masachapa wird der Konkurrenzdruck auf die Ressource Arbeit weiter erhöht. Die sich wiederum ändernden Besitzverhältnisse und der unsichere Zugang zur sozialen Ressource Arbeit führen genauso wie externe Schenkungen nach dem 1992er Seebeben zu einer Veränderung in der sozialen Organisation. Es bilden sich unterschiedliche Interessengruppen heraus, die lediglich temporär bestehen und die bei der Verfolgung ihrer spezifischen Ziele einen Teil der Gesellschaft ausschließen. 1.1.4 Die Amtszeit Arnoldo Alemáns Ein signifikantes Datum der Amtszeit Arnoldo Alemáns ist die immer offensichtlicher werdende Ausnutzung parteipolitischer Sympathien durch die sozialen Akteure in Masachapa. Dabei nehmen sie Konflikte mit politisch Andersdenkenden billigend in Kauf. Überdies verdeutlicht die Gründung der ‚iniciativa pro-municipio‘ die sich auf Eigennutz herausgebildeten Strukturen, da mit der temporären Bildung einer Gruppe lediglich die Interessen eines bestimmten Teils der Bewohner verfolgt werden. Auch in Wawa Bar werden politische Vorlieben bzw. Sympathien für eine bestimmte Partei immer mehr zur Befriedigung eigener Interessen genutzt. Je nach individueller Stellung in der sozialen Hierarchie und politischer Zugehörigkeit profitieren die sozialen Akteure unterschiedlich von den politischen Verhältnissen. Aufgrund des deutlichen Spannungs208
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verhältnisses zwischen dem autonomen Regionalparlament der nördlichen Atlantikküstenregion und der Zentralregierung in Managua wenden sich Teile der Bevölkerung von den politischen Regionalstrukturen ab und schenken der Zentralregierung in Managua mehr Vertrauen. 1.2. Unterschiede und Gemeinsamkeiten signifikanter Einflussfaktoren in beiden dörflichen Gemeinschaften 1.2.1 Die Rolle der traditionellen Autoritäten Zwischen Wawa Bar und Masachapa bestehen grundlegende Unterschiede hinsichtlich Rolle und Funktion lokaler Autoritäten. In Wawa Bar werden auf Grundlage des Autonomiestatuts (ley 28) bzw. der erlassenen Ausführungs- und Regelungsmechanismen (ley 445) traditionelle Autoritäten gewählt, die die lokale Gesellschaft bei unterschiedlichen Belangen nach außen hin vertreten sollen. Allerdings weisen die empirischen Daten darauf hin, dass die gewählten Autoritäten gegeneinander konkurrieren und bestrebt sind, durch das ihnen übertragene Amt individuelle Vorteile zu erringen. Dies lässt sich insbesondere am widersprüchlichen Diskurs zwischen den lokalen Autoritäten und den Bewohnern erkennen. Generell ist ein lediglich an ökonomischen Interessen ausgerichtetes Verhalten der sozialen Akteure zu erkennen. Dagegen sind in Masachapa solche lokalen Autoritäten nicht mehr vorzufinden. Es existieren lediglich unterschiedliche Komitees, die sich temporär zusammenschließen und nach Erreichen oder Nicht-Erreichen des angestrebten Ziels ihre Tätigkeiten wieder einstellen. Aufgrund ungenügender Information und Kommunikation werden Teile der Bevölkerung von den dort geführten Diskursen ausgeschlossen. In beiden comunidades ist festzustellen, dass sich die sozialen Akteure bei ihrem Handeln ausschließlich von der Ausnutzung persönlicher Vorteile leiten lassen und vor allem an der Befriedigung ökonomischer Belange interessiert sind. 1.2.2 Die Rolle der Kirchen Während in Wawa Bar die Iglesia Morava die religiöse Institution darstellt, haben sich in Masachapa im Verlauf der letzten 30 Jahre verschiedene evangelikale Kirchen angesiedelt. Diese werben in direkter Konkurrenz zur katholischen Kirche um die Gunst der lokalen Bevölkerung. Dadurch hat sich in der comunidad ein kulturelles Muster herausgebildet, das in dieser Arbeit als ‚religiöses Grenzgängertum‘ bezeichnet wird: Nicht wenige der zu einer evangelikalen Kirche konvertierten Personen kehren temporär zur katholischen Kirche zurück, um an verbotenen Feierlichkeiten wie bspw. der semana santa teilnehmen zu können. Nach Beendigung dieser Aktivitäten treten sie erneut zu der gewählten evangelikalen Kirche über. Durch die Hinwendung großer Teile der Bevölkerung zu verschiedenen Glaubensrichtungen geht den lokalen Kirchen der integrative und verbindende Charakter für die dörfliche Gemeinschaft verlo209
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ren. Die comunidad ist nicht nur in temporär gegründete und auf ökonomischen Eigennutz basierenden Interessengruppen zergliedert, sondern teilt sich in verschiedene religiöse Kleingruppen mit jeweils festgelegten Verhaltenskodices auf. Eine solche religiöse Ordnung ist in Wawa Bar nicht vorzufinden. Dort stellt die Iglesia Morava durch die feste Einbindung der Bevölkerung in sämtliche Aktivitäten der Kirche die bestimmende religiöse Institution dar. Allerdings nutzt der Reverendo diese religiöse Vormachtstellung zur Unterbindung traditioneller Kulturelemente, was zum sukzessiven Verlust lokaler Traditionen führt. Darüber hinaus existieren Konfliktlinien zwischen Iglesia Morava und den traditionellen Autoritäten, die sich explizit auf lokale Macht- und Einflussmöglichkeiten beziehen. 1.2.3 Die Einflüsse von envidia und brujeria Trotz der kulturellen Verschiedenartigkeit der Atlantik- und Pazifikküste sind sowohl in Wawa Bar als auch in Masachapa die sozialen Phänomene envidia und brujeria vorzufinden. Darüber hinaus ist für beide comunidades zu konstatieren, dass das individuelle Streben nach wirtschaftlicher Prosperität mit dem Bemühen gekoppelt wird, potentiellen Konkurrenten zu schaden. Dies stellt eine wesentliche Triebfeder des sozialen Handelns dar. In Masachapa ist dieses Verhalten den politischen Umbruchsituationen geschuldet, da sich die Bevölkerung mehrmals mit veränderten politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen arrangieren musste. Das ausschließlich auf eigenen Überzeugungen basierende und zum persönlichen Vorteil gereichende Handeln verstärkt in der sozialen Interaktion das Auftreten von envidia. In Wawa Bar ist dieses Verhalten einer sozioökonomischen Ungleichheit geschuldet, die sich insbesondere durch die Drogenökonomie herausgebildet hat. Diese Konkurrenz generiert bei der sozialen Interaktion Mechanismen, mit deren Hilfe missliebige Personen mit einem Schadenszauber (brujeria) belegt werden. Diese sozialen Phänomene stellen meines Erachtens eine Form dar, in der die Bewohner sich und ihre Gesellschaft begreifen. Sie begründen ihr eigenes Handeln oder sehen sich als Opfer von Handlungen, die sie mit diesen Termini beschreiben. Das Verständnis der internen Handlungsabläufe erhält dadurch eine spezifische Prägung. In diesem Differenzierungsprozess werden unterschiedliche Einflüsse und Erfahrungen erkennbar, die je spezifisch die persönliche Ordnung der Person tangieren. 1.2.4 Die Rolle des kulturellen Erbes Die Untersuchung hat gezeigt, dass in beiden comunidades im Verlauf der Zeit das individuelle und gesamtgesellschaftliche Selbstverständnis infolge der auf die jeweilige Kultur wirkenden verändernden Impulse eine Modifizierung erfahren hat. Dabei stellt das kulturelle Erbe nicht eine statische Größe, sondern einen dynamischen Prozess dar. Das Verhaltensre210
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pertoire des Individuums und die soziale Interaktion mit der Gruppe sind in einen kulturellen Sinnzusammenhang eingebunden. Dabei kommt es zu einer individuellen Übernahme von Normen und Werten der jeweiligen Kultur. Die wiederum auf diesen Normen und Werten basierenden Verhaltensmuster sind einer Dynamik unterworfen, die die verschiedenartigen Einzel- bzw. Gruppeninteressen beinhaltet und die mit dem Rückgriff auf traditionelle Bestandteile der jeweiligen Kultur legitimiert werden. Damit wird gesellschaftlicher Wandel durch den Gebrauch soziokultureller Elemente aus der Vergangenheit legitimiert. Das kulturelle Erbe wird im historischen Verlauf permanent neu von den sozialen Akteuren interpretiert, wobei es über vielgestaltige Ressourcen verfügt, auf die die beteiligten Personen in der sozialen Interaktion zurückgreifen können. 1.2.5 Untermauerung der zentralen These Die empirischen Ergebnisse untermauern die in dieser Arbeit vertretene These, dass die untersuchten Gesellschaften und insbesondere die diese Gesellschaften konstituierenden Personen in erster Linie einer der lokalen Dynamik entspringenden Einordnung in spezielle regionale bzw. nationale und supranationale Verhältnisse folgen. Die Diskurse der befragten Bewohner und weitere, durch teilnehmende Beobachtung erhobene Daten verdeutlichen, dass die auf lokaler Ebene agierenden sozialen Akteure die politischen Veränderungsprozesse auf nationaler Ebene reinterpretieren, umdeuten und damit auch umwerten. Dies verdeutlicht einen eigengesetzlichen sozialen Prozess, mit dem sich auf lokaler Ebene nationale Politik und die supranationale Umgebung abbilden. Dass insbesondere die Diktatur maßgeblich Einfluss auf den alltäglichen Prozess sozialer Interaktion in Masachapa genommen hat bzw. ein supranationaler Einfluss in Form einer Drogenökonomie in Wawa Bar zum Tragen kommt, ist meines Erachtens ein Hinweis, das die unterschiedlichen Kolonialpolitiken Spaniens und Großbritanniens auf die Formierung gesellschaftlicher Strukturen an Atlantik- und Pazifikküste bis heute einwirken. Ohne die hierarchischen Strukturen an der Pazifik- bzw. das eher egalitäre Gefüge an der Atlantikküste hätten sich meines Erachtens die vorgefundenen soziokulturellen Ausdrucksformen in den beiden Dorfgemeinschaften nicht in der beschriebenen Form herausbilden können. 1.3 Ausblick Die Frage, welchen Verlauf die soziokulturelle Entwicklung an Atlantikund Pazifikküste genommen hätte, wenn entgegen des tatsächlichen historischen Verlaufs Maya- und uto-aztekische Gruppen am Atlantik bzw. Macro-Chibcha am Pazifik gesiedelt hätten und unter den Einfluss britischer bzw. spanischer Kolonialpolitik gekommen wären, ließe sich nur hypothetisch diskutieren und entbehrt jeglicher empirischer Grundlage. 211
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Zumindest sollte anhand interkultureller Vergleiche mit anderen Weltregionen der Frage nachgegangen werden, wie sich gesamtgesellschaftliche Transformationsprozesse auf die soziale Organisation dörflicher Gemeinschaften in anderen Kulturarealen auswirken. In gleichem Maße gilt dies für die Modifizierung kultureller Identität der zu untersuchenden Gesellschaften. Bei der Erforschung zunehmender Fragmentierungen der kulturellen Bestandteile von Lokalgesellschaften sollte berücksichtigt werden, dass kulturelle Identität eine spannungsgeladene Konstruktion darstellt, die durch verschiedenartige Ambivalenzen strukturiert wird. Eine solche Herangehensweise impliziert die besondere Einbeziehung spezifischer Überschneidungs- und Interaktionspunkte der sozialen Akteure (vgl. Sousa, in: www.inst.at/trans/5Nr/ribeiro-.htm). Gerade weil die in dieser Arbeit vorgelegten Ergebnisse verdeutlichen, dass soziale Akteure durch ihre jeweils partikulären Interessenlagen ein Spannungsfeld zwischen Individuum und der durch sie konstituierenden Gruppe erzeugen, ist die Entwicklung einer neuen analytischen Kategorie notwendig. Der vorherrschende Diskurs hat sich bisher bei der Bestimmung und Deutung des gruppenspezifischen Handelns auf die Gruppe bzw. beim individuellen Handeln auf das Individuum beschränkt. Meines Erachtens stellt aber gerade die Interaktion zwischen dem sich stetig neu bestimmenden und positionierenden Individuum auf der einen und die sich als Grundlage sozialen Handelns anbietende Gruppe auf der anderen Seite ein signifikantes Datum kultureller Wandlungsprozesse dar. Auf Grundlage dieser Erkenntnis sollten meines Erachtens Indikatoren erarbeitet werden, mit denen in einem theoretischen Konzept dargelegt werden kann, wie sich diese wechselseitigen Einflüsse gegenseitig bedingen. Die aus den Indikatoren zu bildende analytische Kategorie müsste in ihrer Konsequenz von der empirischen sozialen Wirklichkeit und nicht mittels aufgestellter Hypothesen und deren bloßer Überprüfbarkeit im Feld ausgehen. Mit dieser Vorgehensweise können nicht nur die umfassende Interpretation einer sich immer weiter ausdifferenzierenden sozialen Wirklichkeit gewährleistet, sondern auch die damit verbundenen theoretischen Einordnungen vorgenommen werden. Beispielsweise ließe sich mit Hilfe dieser analytischen Kategorie die Mikro-Ebene des Autonomieprozesses an der Atlantikküste besser erfassen. Wie in der vorliegenden Arbeit dargestellt, haben sich im Verlauf dieses Prozesses unterschiedliche Diskursebenen herausgebildet, die mit unterschiedlichen Inhalten besetzt sind und die stark nach persönlichen Vorteilen ausgerichtete Komponenten beinhalten. Hinsichtlich politischer Gestaltungsmöglichkeiten existieren sowohl auf lokaler als auch regionaler Ebene verschiedene, parallel existierende Institutionen, die um Macht und Einfluss konkurrieren. Durch die betonte Hervorhebung der Mískito im Autonomiediskurs wird eine ethnische Hierarchie (re)konstruiert, die die eigene Ethnie explizit in den Vordergrund rückt. Dabei bildet sich zwischen den verschiedenen Ethnien und ethnischen Gruppen eine Exklu212
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sion bei der Teilhabe an Errungenschaften des Autonomiestatuts heraus. Aufgabe zukünftiger Forschungen wäre es, den stattfindenden Interaktionsprozess zwischen indigener Elite und Dorfbevölkerung auf der einen und die sich zwischen einzelnen Ethnien und ethnischen Gruppen herausbildenden Differenzierungen unter Zuhilfenahme der neuen analytischen Kategorie umfassender zu untersuchen. Darüber hinaus sollten die sozialen Phänomene envidia (Neid) und brujeria (Schadenszauber) ebenso einem Vergleich unterschiedlicher Regionen und Kulturareale unterzogen werden, um auch in anderen Regionen diese zutage tretenden soziokulturellen Merkmale interpretieren und einordnen zu können. Für Nicaragua ist zu konstatieren, dass landesweit Radioprogramme ausgestrahlt und Beilagen in Tageszeitungen veröffentlicht werden, die sich explizit mit der Frage auseinandersetzen, welche Schutzmaßnahmen die Bevölkerung vor envidia und brujeria ergreifen könnte. Es zeigt sich, dass diese sozialen Phänomene einen festen Platz in der Alltagsrealität der Menschen einnehmen und bei der sozialen Interaktion eine wichtige Rolle spielen. Darüber hinaus ist die enge Verflechtung zwischen wirtschaftlichen Ressourcen und der Anwen-dung von envidia und brujeria bisher kaum – zumindest für den nicaraguanischen Fall – von der ethnologischen Forschung beachtet worden.1 Auch hier liegen meiner Auffassung nach weit reichende Untersuchungsfelder brach, die in Zukunft umfassender in den Fokus sozialwissenschaftlicher Forschung gerückt werden sollten.
1 Sicherlich ist dies für andere Regionen zu konstatieren. Zum Neid-Komplex sei an die Debatte um George Fosters (1965) Konzept des image of limited good oder an Peter Wilsons (1973) Analyse kompetetiver Verhaltensweisen (crab antics) auf Providencia erinnert. Die Debatte um Hexerei hat ihr Augenmerk bei der ethnologischen Betrachtung ländlicher Gemeinschschaften in Lateinamerika (beispielsweis Nash 1970) oder Afrika (z.B. Geschiere 2003) auf den Zusammenhang zwischen Hexereivorwürfen und sozioökonomischen Veränderungsprozessen gerichtet. 213
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Holger Michael Kulturelles Erbe als identitätsstiftende Instanz? Eine ethnographisch-vergleichende Studie dörflicher Gemeinschaften an der Atlantik- und Pazifikküste Nicaraguas
Manfred Glagow Die Mkandawires auf Livingstonia Eine afrikanische Familie in Zeiten der Mission, des Kolonialismus und der Diktatur, Malawi 1875-1994
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Kultur und soziale Praxis Maria Wurm Musik in der Migration Beobachtungen zur kulturellen Artikulation türkischer Jugendlicher in Deutschland
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Thomas Hüsken Der Stamm der Experten Rhetorik und Praxis des Interkulturellen Managements in der deutschen staatlichen Entwicklungszusammenarbeit
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Heidrun Schulze Migrieren – Arbeiten – Krankwerden Eine biographietheoretische Untersuchung 2006, 282 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-495-9
Kerstin Hein Hybride Identitäten Bastelbiografien im Spannungsverhältnis zwischen Lateinamerika und Europa 2006, 472 Seiten, kart., 31,80 €, ISBN: 978-3-89942-447-8
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