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German Pages [423] Year 2022
Daniela Mathuber
Körperkommunikation Das Auftreten falscher Mitglieder der Dynastie im frühneuzeitlichen Russland
Schnittstellen Studien zum östlichen und südöstlichen Europa Herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Ulf Brunnbauer Band 22
Daniela Mathuber
Körperkommunikation Das Auftreten falscher Mitglieder der Dynastie im frühneuzeitlichen Russland
Vandenhoeck & Ruprecht
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Graduiertenschule für Ost- und Südosteuropastudien der Universität Regensburg. Die Arbeit wurde im Jahr 2020 von der Fakultät für Philosophie, Kunst-, Geschichts- und Gesellschaftswissenschaften der Universität Regensburg als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2022 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Peter III. von Russland und Emel’jan Pugačev, der bekannteste falsche Peter III., zu einer Person verschmolzen. Zeichnung: © Daniela Mathuber Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2566-6614 ISBN 978-3-666-36855-4
Vorwort
Diese Monografie ist die überarbeitete Fassung meiner Doktorarbeit, die ich im Dezember 2020 an der Universität Regensburg verteidigt habe. Die Arbeit wurde durch ein Stipendium der Graduiertenschule für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg ermöglicht und entstand zum Großteil an dem Schreibtisch, den mir die Graduiertenschule zur Verfügung stellte. Mein Dank geht daher zuerst an alle, die der Graduiertenschule angehör(t)en und die Promotionszeit für mich zu einer ebenso angenehmen wie bereichernden Phase machten: die beiden Sprecher, die Geschäftsführung, die ProfessorInnen, meine KollegInnen und, last, but not least, alle guten Geister, die im Hintergrund wirkten. Bedanken möchte ich mich bei besonders bei Prof. Guido Hausmann und PD Dr. Angela Rustemeyer für die Geduld mit meinen unorthodoxen Thesen, viele gute Ratschläge und die freundlichen Gutachten. Anerkennend erwähnen möchte ich hier auch die MitarbeiterInnen der Bibliothek des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung, die meinetwegen besonders viel Arbeit hatten. Sie mussten nicht nur kiloweise Fachliteratur herumschleppen, sondern auch obskure Zeitschriften ausheben und immer wieder Bücher erst neu signieren, weil ich seit Jahren oder Jahrzehnte die Erste war, die sich dafür interessierte. Ich widme das Buch Prof. Kerstin Jobst (Wien). Ohne sie hätte ich mir weder zugetraut, tatsächlich eine Doktorarbeit zu schreiben, noch wäre ich in der Graduiertenschule gelandet. Regensburg, im Juni 2021
Daniela Mathuber
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 I . Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1.1 Einleitung und Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1.2 Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 1.3 Hintergründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 2. Quellenkritische und theoretische Grundlagen . . . . . . . . . . 56 2.1 Majestätsverbrechen, ihre Untersuchung und Ahndung . . . 56 2.2 Gerüchte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 2.3 Performanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 II . Voraussetzungen der Performanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93
3. Das Archiv von samozvanstvo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 3.1 Der Körper des Herrschers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 3.2 Der carevič in der Säule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 3.3 Kudejars Schatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 4. Die Weitergabe des Wissens über samozvanstvo . . . . . . . . . . 180 4.1 Die samozvancy der Zeit der Wirren . . . . . . . . . . . . . . 181 4.2 Die falschen Peter III. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 4.3 Die falschen Konstantiny Pavloviči . . . . . . . . . . . . . . . 227 III . Samozvanstvo als Performanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251
5. Die performative Erzeugung von Glaubwürdigkeit . . . . . . . . 253 5.1 Motive und Ziele: die Agenda . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 5.2 Der Nachweis der angeeigneten Identität: Form und Mittel
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5.3 Erfolg und Scheitern: Autorität, Strategie und Emergenz . . 309
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Inhalt
6. Die Funktion von samozvanstvo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 6.1 Der Öffentlichkeitsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 6.2 Samozvanstvo und Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 345 6.3 Die Funktion von samozvanstvo . . . . . . . . . . . . . . . . 366 IV. Abschließende Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 V. Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 VI . Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391
Archivdokumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 Publikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 VII . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407
I. Grundlagen
1. Einführung
1.1
Einleitung und Fragestellung
Im Juli 1776 hörte der Leibeigene Tichon Ignat᾽ev, der in einem Gasthaus (traktir) in der Nähe des Jauza-Tores (Jauzkie vorota) in Moskau arbeitete, wie ein ihm unbekannter Soldat sagte, an Pugačevs Stelle sei jetzt Metelkin; den Hecht hätten sie gefangen, aber die Zähne seien noch da.1 Der Don-Kosake Emel’jan Pugačev gab sich für Peter III. aus und löste unter dieser Identität 1773 einen Aufstand aus, der das Russländische Reich an den Rand des Abgrunds brachte. 1774 wurde Pugačev von Mitstreitern gefangen genommen und an die Behörden ausgeliefert, 1775 in Moskau hingerichtet. Die »Befriedung« der aufständischen Gebiete dauerte aber noch länger. Die Botschaft des Soldaten lautete demnach, dass Pugačev zwar tot sei, aber nach ihm andere den Kampf weiterführen würden. Die Niederlage sei eigentlich keine Niederlage. Diese spezifische Antwort auf eine spezifische Situation lässt sich jedoch auf eine allgemeine Ebene heben: Pugačev gehört als falscher Peter III. zu den sogenannten Selbsternannten (russ. samozvancy / samozvanki). Er war insgesamt weder der erste, noch der letzte samozvanec, und er war zwar der bekannteste falsche Peter III., aber nicht der erste und nicht der letzte. Der Soldat wählte ein sprachliches Bild, das trefflich einen Aspekt des Auftretens falscher Mitglieder der Dynastie (russ. samozvanstvo) im Moskauer und Russländischen Reich beschreibt, der den HistorikerInnen, die sich bislang mit diesem Phänomen befassten, wahrscheinlich bewusst, aber keine eigene Erwähnung wert war: Die Art und Weise, wie sich ein falsches Mitglied der Dynastie verhielt und die angeeignete Identität plausibel zu machen versuchte, veränderte sich über die Jahrhunderte hinweg erstaunlich wenig. Zwischen dem ersten samozvanec im Moskauer Reich, dem ersten falschen Dmitrij, der sich 1603 für den jüngsten Sohn Ivans IV. ausgab, und der falschen Anastasija Nikolaevna Anna Anderson (recte Franziska Schanzkowska), der bekanntesten samozvanka des 20. Jahrhunderts, die ab 1920 von sich reden machte,2 lassen sich einige Parallelen und Gemeinsamkeiten feststellen.
1 Rossijskij gosudarstvennyj archiv drevnich aktov (Russländisches Staatsarchiv der alten Akten, weiter RGADA), f. 7, o. 2, d. 1452, l. 1. 2 Zu ihr siehe King, Greg / Wilson, Penny: The Resurrection of the Romanovs. Anastasia, Anna Anderson, and the World᾽s Greatest Royal Mystery. Hoboken 2011.
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Grundlagen
Damit soll samozvanstvo nicht zu etwas Ahistorischem erklärt werden. Bei näherer Betrachtung durchlief dieses Phänomen wie alle historischen Erscheinungen verschiedene Phasen. Auf den ersten Blick allerdings ist bei ihm nicht der Wandel das Auffällige und Interessante, sondern die Kontinuität. Samozvanstvo erscheint tatsächlich als Abfolge von verschiedenen »Hechten«, die mit denselben »Zähnen« (d. h. Strategien, glaubwürdig zu erscheinen) ähnliche Interessen verfolgen. Diese Gleichförmigkeit im Verhalten wie auch die lange Existenz des Phänomens deuten darauf hin, dass das für die glaubwürdige Aneignung einer fremden Identität erforderliche Wissen3 weitergegeben wurde und / oder alle Beteiligten aus einem gemeinsamen kulturellen Fundus schöpften, der sich im Laufe der Zeit wenig veränderte. Die samozvancy und samozvanki wussten ebenso wie ihre (potenziellen) AnhängerInnen, in welcher Situation sie sich befanden, was diese bedeutete und von ihnen an Mitwirkung verlangte bzw., welche Handlungsoptionen ihnen offen standen. Wäre das nicht der Fall gewesen, hätten sich die Beteiligten nicht auf eine gemeinsame Definition der Situation verständigen können und kein falsches Mitglied der Dynastie wäre jemals unter der angeeigneten Identität akzeptiert worden. Außerdem zeigt sich bereits bei einer nur oberflächlichen Betrachtung, dass dieses Wissen ohne Intention weitergegeben wurde, ohne die Vermittlung durch Institutionen oder SpezialistInnen, ohne Textkorpus, gleich, ob mündlich oder schriftlich vermittelt. Samozvanstvo begründete auch keine raum- und zeitübergreifende Gemeinschaft, in die jemand geboren worden wäre oder zu der sich jemand bewusst bekennen hätte können. Wenn eine Detailrecherche auch Verbindungen zwischen einzelnen samozvancy und samozvanki ergibt, handelte es sich nichtsdestoweniger um Einzelpersonen, deren einzige Gemeinsamkeit darin bestand, dass sie alle auf die Idee kamen, sich für ein Mitglied der Dynastie auszugeben. Die vorliegende Monografie schließt die einzige noch verbleibende Lücke bei der Erforschung des Auftretens falscher Mitglieder der Dynastie, indem sie aufzeigt, wie die beschriebene Ähnlichkeit zwischen den einzelnen Fällen über Jahrhunderte hinweg möglich war. Alle relevanten Aspekte werden dabei durch den Überbegriff Kommunikation verbunden, wobei die Kommunikation unterschiedliche Formen annehmen konnte: Sie war notwendig, damit samozvancy und samozvanki das Wissen erwerben konnten, das sie brauchten, um glaubwürdig zu sein und damit ihre AnhängerInnen mit den kulturellen 3 Wissen wird hier nicht im soziologischen Sinn verwendet. Es dient als Sammelbegriff für alle Informationen, die in die Performanz eines samozvanec / einer samozvanka einfließen konnten: Gerüchte, aber auch Fakten über Mitglieder der Dynastie und historische Ereignisse, folkloristische Überlieferungen, gängige Vorstellungen über HerrscherInnen, literarische Texte, biblische Geschichten, und so weiter.
Einführung
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Traditionen vertraut waren, die sie dazu brachten, ein vermeintliches Mitglied der Dynastie zu akzeptieren. Kommunikation schaffte, so weit vorhanden, die Querverbindungen zwischen einzelnen Fällen. Die Art und Weise, wie falsche Mitglieder der Dynastie mit ihren AnhängerInnen kommunizierten, entschied zum einen, ob sie erfolgreich waren oder scheiterten und bietet zum anderen Anhaltspunkte, warum das Phänomen über so lange Zeit hinweg bestand. Ein Großteil der Kommunikation, von der hier die Rede ist, war performativ. Falsche Mitglieder der Dynastie setzten vor allem ihren Körper ein, um ihre Botschaft zu vermitteln. Dementsprechend ist Performanz der zweite zentrale Begriff. Er erlaubt es, sowohl die Weitergabe von Wissen im zeitlichen Verlauf, als auch die Begegnung zwischen einem falschen Mitglied der Dynastie und (potenziellen) AnhängerInnen mit demselben begrifflichen Instrumentarium zu beschreiben und zu analysieren. Darüber hinaus macht er die nur schwer fassbare Weitergabe von Wissen über samozvanstvo methodisch handhabbar. Die Erforschung von samozvanstvo besetzt zunächst eine exotisch anmutende Nische, lässt sich aber mit einer kommunikationsgeschichtlichen Perspektive aus dieser herausholen. Für die Frühneuzeitforschung ist interessant, dass Bevölkerungsschichten im Mittelpunkt stehen, die zum überwiegenden Großteil nicht alphabetisiert waren und nur wenig Kontakt mit Schriftlichkeit hatten. Es geht dabei auch um das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, weil nicht alles, was irgendwann mündlich weitergegeben wurde, auch seinen Ursprung in mündlicher Kommunikation hatte. Zudem ist das Buch ein Beitrag zu Forschung über den Körper, der hier vor allem als Mittel der Kommunikation und als Projektionsfläche für Herrscherbilder vorkommt. Das Quellenkorpus für dieses Vorhaben ist einfach zu umreißen. Zentral sind zum einen die Untersuchungsakten zu samozvanstvo, zum anderen Akten über Personen, die wegen der Weitergabe von Gerüchten angezeigt wurden. Gerüchte sind ein zentrales Mittel mündlicher Informationsweitergabe, und ihr Inhalt beeinflusste das Auftreten falscher Mitglieder der Dynastie. Dazu kommen vielfältige Quellen, die dabei helfen, die so gewonnenen Befunde einzuordnen. Ihre Bandbreite erstreckt sich von »Volksliedern« über apokalyptische Schriften bis hin zu folkloristischen Erzählungen über Räuber. Nach zwei einleitenden Kapiteln zu den theoretischen und methodischen Grundlagen orientiert sich der Aufbau des Hauptteils am Performanzbegriff. Kapitel 3 behandelt die Voraussetzungen der Performanz und zeigt exemplarisch, auf welche weit verbreiteten Vorstellungen, Überlieferungen und sonstiges Wissen samozvancy und samozvanki ebenso wie ihre AnhängerInnen zurückgriffen. Kapitel 4 stellt anhand je eines Beispiels aus den drei Jahrhunderten, die der Untersuchungszeitraum abdeckt, die Frage nach den Wegen der Weitergabe des Wissens, wobei der Schwerpunkt zum einen auf dem Einfluss von Gerüchten auf die Performanz und zum anderen auf dem
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Grundlagen
Wissen über frühere Fälle von samozvanstvo liegt. In Kapitel 5 wird die Performanz selbst analysiert, wobei es unter anderem darum geht, welche Ziele die samozvancy und samozvanki wie auch ihre AnhängerInnen verfolgten, wie sie die angeeignete Identität glaubwürdig machen konnten oder welche Faktoren bestimmten, ob sie erfolgreich waren bzw. scheiterten. In Kapitel 6 wird auf den Ergebnissen insbesondere von Kapitel 5 aufgebaut, um eine neue Gesamtdeutung des Phänomens vorzulegen, welche die Frage beantwortet, warum es so lange bestand und welchen Sinn die Beteiligten darin sahen. Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes
Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich vom erfolgreichen Versuch des ersten falschen Dmitrij, als jüngster Sohn Ivans IV. anerkannt zu werden im Jahr 1603 bis zum Auftreten der falschen Konstantiny Pavloviči im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts. Der Beginn bedarf keiner längeren Begründung; der erste falsche Dmitrij war der erste samozvanec im Moskauer Reich und ist als solcher von besonderem Interesse. Der Endpunkt könnte auch anders gewählt werden, etwa mit dem Ende der Monarchie 1917. Ihn mit den falschen Konstantiny anzusetzen hat zwei Gründe. Zum einen markieren diese – rein auf samozvanstvo bezogen – den Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert, der eine wichtige Zäsur im Auftreten falscher Mitglieder der Dynastie darstellt. Zum anderen wird so gewährleistet, samozvanstvo als fast ausschließlich von mündlicher Kommunikation getragenes Phänomen zu erforschen. Ein solches war es vom Beginn des 17. Jahrhunderts bis etwa 1860, und um 1860 endeten, von einer späteren Ausnahme abgesehen, auch die Aktivitäten der falschen Konstantiny. Infolge der von Alexander II. eingeleiteten Großen Reformen entstand im Russländischen Reich unter anderem ein auf ein Massenpublikum ausgerichteter, kommerzieller Zeitungsmarkt.4 Die neu gegründeten Tageszeitungen berichteten auch über aktuelle Fälle von samozvanstvo,5 sodass sich jemand erstmals ohne mündlichen Austausch und persönlichen Kontakt über das Phänomen informieren konnte. Nach 1917 vervielfältigten sich die diesbezüglichen Möglichkeiten erheblich. Erstens war es nach dem Ende der Monarchie möglich, ohne Einschränkungen über die gewesene Dynastie zu schreiben, 4 Dazu siehe McReynolds, Louise: The News under Russia’s Old Regime. The Development of a Mass-Circulation Press. Princeton 1991. 5 Vladimir Korolenko verfasste 1896 einen Essay über das Phänomen, der zum Großteil auf Zeitungsberichten basiert. Das zeigt deutlich den Wandel in der Kommunikationssituation. Siehe Korolenko, V. G.: Sovremennaja samozvanščina. In: Ders.: Polnoe sobranie sočinenij. Tom tretij. Sankt-Peterburg 1914, 271–368.
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intime Details aus dem Privatleben ihrer Mitglieder eingeschlossen. Zweitens gab es zwar auch innerhalb der Sowjetunion Fälle von samozvanstvo,6 aber die Mehrheit verlagerte sich nach 1918 ins Ausland, wo die Hindernisse für Publikationen noch geringer waren und diese ein größeres Publikum erreichten. Einzelne samozvanki des 20. Jahrhunderts veröffentlichten ihre Memoiren oder wurden zum Gegenstand von Zeitschriftenreportagen,7 sodass es für potenzielle Nachahmerinnen immer einfacher wurde, sich die nötigen Informationen zu verschaffen und das eigene Vorgehen zu planen. Diese Voraussetzungen unterscheiden sich entscheidend von denen, die bis etwa 1860 gegeben waren. Geografisch werden grundsätzlich nur Fälle von samozvanstvo berücksichtigt, die zum gegebenen Zeitpunkt innerhalb der Grenzen des Moskauer oder Russländischen Reiches zu lokalisieren sind. Es ist jedoch gleich vorwegzunehmen, dass dieses Prinzip an mehreren Stellen durchbrochen wird. Als zusätzliche Bestimmung werden nur samozvancy und samozvanki behandelt, die auf diesem Gebiet den Schwerpunkt ihres Auftretens hatten. Jemand wie der Armenier Manuel wird also nicht berücksichtigt. Er wurde 1620 unmittelbar bei der Einreise ins Moskauer Reich verhaftet, was seinen Aufenthalt auf Moskauer Gebiet denkbar kurz, peripher und folgenlos machte. Außerdem könnte es sein, dass Manuel selbst gar nicht plante, sich für ein Mitglied der Dynastie auszugeben, sondern ihm derlei nur wegen einer auffälligen Tätowierung auf der Brust unterstellt wurde.8 Auch samozvanstvo in der Zeit der Wirren verlangt eine Aufweichung der geografischen Eingrenzung, weil es nicht dargestellt werden kann, ohne samozvancy einzubeziehen, die in der Rzeczpospolita auftraten. Das gilt für den ersten falschen Dmitrij, der dort Unterstützung fand, ehe er Boris Godunov herausforderte, sowie für den verhinderten falschen Dmitrij Michail Molčanov, der sich in der heutigen Ukraine festsetzte (siehe Kapitel 4.1). Bei beiden steht allerdings außer Zweifel, dass sich ihre Aktivitäten auf das Moskauer Reich bezogen und dort reale Auswirkungen hatten, während sie in der Rzeczpospolita nur den König sowie ein paar Magnaten und hohe Geistliche beschäftigten. Den jeweiligen Grenzverlauf als Ausschlusskriterium heranzuziehen hat den Zweck, das Fass mit der Aufschrift kulturelle Universalien geschlossen zu
6 Dazu siehe etwa Alekseev, V. V. und Nečaeva, M. Ju.: Voskresšie Romanovy?… K istorii samozvančestva v Rossii XX veka. Čast’ I + II . Ekaterinburg 2000–2002. 7 Massie, Robert K.: The Romanovs. The Final Chapter. New York 1995, 157. 8 Usenko, O. G.: Novye dannye o lžemonarchach v Rossii XVII v. In: VMU Serija 8 Istorija 2 (2006), 119–137, hier 126–131. Zu den Zweifeln an Manuels Absichten siehe Perrie, Maureen: »Royal Marks«. Reading the Bodies of Russian Pretenders, 17th–19th Centuries. In: K 11/3 (2010), 535–561, hier 542–544.
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Grundlagen
halten. Falsche Herrscher und Herrschersöhne sind aus sehr vielen Ländern und Epochen bekannt, und ihr Auftreten weist stets Ähnlichkeiten auf, obwohl sich die kulturellen, religiösen und politischen Rahmenbedingungen zum Teil deutlich voneinander unterschieden. Als Erklärung für diese raum- und zeitübergreifenden Gemeinsamkeiten kommen nur zwei Modelle infrage: Entweder entstand das Phänomen falscher Herrscher und Herrschersöhne irgendwann an einem bestimmten Ort und verbreitete sich von diesem ausgehend kontinuierlich über Regionen und Kontinente, Kulturen, Religionen und Epochen hinweg, bis daraus etwas Universales geworden war. Oder hinter dem Auftreten falscher Herrscher und Herrschersöhne steht ein aus »grauer Vorzeit« datierender, allen Menschen gemeinsamer Stock von Vorstellungen über Herrschaft, der sich mit den Besonderheiten der jeweiligen politischen Kultur verband. Beide Annahmen sind problematisch, nicht zuletzt deswegen, weil sie sich nicht belegen lassen. Eine von beiden der Untersuchung grundzulegen oder nachweisen zu wollen wäre daher unseriös. Selbst wenn es in diesem Zusammenhang nur um ein kleines, begrenztes Problem geht, sind Thesen auf sehr unsicherem Grund gebaut. Beispielsweise trat 1766 in Montenegro ein samozvanec auf, der als Stefan Mali (wörtl. ›Stefan der Kleine‹) bekannt ist und sich für Peter III. ausgab. Seit der Regierungszeit Peters I. bestanden enge Beziehungen zwischen dem Russländischen Reich und Montenegro, sodass es nicht allzu erstaunlich ist, dass sich jemand für einen gewesenen Kaiser von Russland ausgab, der dabei war, sich zum defacto-Herrscher über Montenegro aufzuschwingen. Was die Entscheidung konkret für die Identität Peters III. angeht, lässt sich zumindest die begründete These formulieren, dass Stefan ins Russländische Reich gereist sein und dort Gerüchte über ein Überleben Peters III. gehört und / oder vom Auftreten früherer samozvancy erfahren haben könnte (siehe Kapitel 4.2). Allerdings gibt es keinerlei Anhaltspunkte, warum sich Stefan Mali als Peter III. so verhielt wie seine »Kollegen« im Russländischen Reich – aber gerade ihr performatives Verhalten macht die Ähnlichkeit zwischen falschen Herrschern aus verschiedenen Ländern und Epochen aus und wäre das eigentlich Erklärungsbedürftige. Das bedeutet, wo es sich anbietet, werde ich westeuropäische Beispiele für falsche Herrscher und Herrschersöhne heranziehen, um die Besonderheiten von samozvanstvo herauszuarbeiten. Ich werde auch auf transnationale Verbindungen hinweisen, wo sich, wie im Fall von Stefan Mali, zumindest eine gute begründete These formulieren lässt. Aber ich werde keinesfalls über Anleihen oder gemeinsame Ursprünge in grauer Vorzeit spekulieren, wo es nicht einmal den Hauch eines Anhaltspunktes gibt. Die geografische Beschränkung auf das Moskauer bzw. Russländische Reich ist die Rückversicherung, möglichst fest auf dem Boden der Quellen zu bleiben. Auch aus den Fällen innerhalb des Moskauer und Russländischen Reiches muss eine Auswahl getroffen werden. Die Bedeutung des Begriffs samo
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zvanstvo ist so weit,9 dass die Gesamtheit arbeitsökonomisch nicht zu bewältigen und analytisch nicht sinnvoll wäre. Daher werden folgende Gruppen von Fällen nicht berücksichtigt: – Ein Teil der samozvancy und samozanki eignete sich nicht die Identität einer konkreten Person an, sondern eine soziale und / oder berufliche Stellung. Beispiele sind falsche Generäle, falsche Beamte oder falsche Mönche. Dadurch waren die Anforderungen an ihre Performanz geringer. Ein Mönch lässt sich leichter imitieren als ein Kaiser. Außerdem hatten sie in der Regel kein Interesse daran, AnhängerInnen um sich zu scharen, sondern waren darauf aus, beispielsweise Leichtgläubigen das Geld aus der Tasche zu ziehen oder sich freie Kost und Logis zu erschleichen. Beides macht diese Gruppe für die Fragestellung dieser Monografie ungeeignet. – Immer wieder wurden Personen verhaftet, weil sie die Titel car’/carica (Zar / Zarin), imperator / imperatrica (Kaiser / Kaiserin) und gosudar’/gosu darynja (Souverän / Souveränin) oder die davon abgeleiteten Adjektive auf sich selbst bezogen hatten. Bei diesen Fällen geht aus den Verhören üblicherweise hervor, dass die Beschuldigten nicht behauptet hatten, ein Mitglied der Dynastie zu sein, sondern die genannten Ausdrücke in einem figurativen, metaphorischen Sinn gebraucht hatten. Als beispielsweise der Bauer Ivan Grigor᾽ev 1637 seinen einjährigen Sohn auf den Arm nahm und diesen dabei als »Zarenspross« (carskie semjany) bezeichnete,10 wollte er weder andeuten, dass er Michail Romanov sei, noch, dass der biologische Vater des Kleinen im Kreml zu suchen sei. Vielmehr kannte er offenbar kein besseres Prädikat als carskij, um seinen Vaterstolz zum Ausdruck zu bringen. Für die Zeitgenossen waren auch solche Äußerungen samozvanstvo und daher strafbar, nichtsdestoweniger lässt sich nicht wirklich von der Aneignung einer fremden Identität sprechen. – Wieder andere Personen wurden verhaftet, weil sie sich unspezifisch etwa als Verwandte des Herrschers / der Herrscherin (etwa Bruder / Schwester, Onkel, Sohn / Tochter) oder als Zar, Kaiser, Souverän / Souveränin bezeichneten, jeweils ohne Verbindung mit einem konkreten Namen. Hier ist die Intention der Beschuldigten besonders schwierig zu erfassen und war auch nicht in jedem Fall gleich. Eine Zarentochter könnte vor allem den hohen Rang im Sinn gehabt haben, bei einem Teil der Fälle könnten die Bezeichnungen in einem übertragenen Sinn gebraucht worden sein. Ein Teil der unspezifischen SouveränInnen verzichtete zwar auf einen konkreten Namen, 9 Dazu siehe unten, 1.3. 10 Novombergskij, N. Ja. (Hg.): Slovo i delo gosudarevy. Tom I Processy do izdanija Uloženija Alekseja Michajloviča 1649 goda. Reprintnoe vosproizvodenie Moskva 2004 [Original Tomsk 1911], 121. Für weitere Beispiele siehe Lukin, P. V.: Narodnye predstavlenija o gosudarstvennoj vlasti v Rossii XVII veka. Moskva 2000, 139–157.
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Grundlagen
verhielt sich aber sonst wie die übrigen falschen Mitglieder der Dynastie. Letztere werden darum berücksichtigt. – Falsche Mitglieder der Dynastie erhalten zweifellos die meiste Aufmerksamkeit. Im Moskauer und Russländischen Reich gab es aber auch eine ganze Reihe falscher Heiliger, Engel und Personen aus der Bibel, die noch darauf warten, systematisch erforscht zu werden. Diese sind ohne das Wissen um falsche Mitglieder der Dynastie kaum zu verstehen, jedoch reicht dieser Kontext zum Verständnis nicht aus. Unter anderem müssten zusätzlich die Entwicklung der sogenannten Volksfrömmigkeit, die Geschichte der Altgläubigen und der diversen heterodoxen Gruppen sowie die Konjunkturen von Endzeitvorstellungen berücksichtigt werden. Das ist mit der notwendigen Sorgfalt nicht weniger aufwändig als die Analyse von weltlichem samozvanstvo, weswegen ich mich auf Letzteres beschränke. Die einzige Ausnahme bilden die Skopzen,11 da sich deren Gründer Kondratij Selivanov gleichzeitig für Jesus und Peter III. ausgab. Nach diesen Einschränkungen bleiben Fälle übrig, in denen sich eine Person für ein bestimmtes Mitglied der Dynastie ausgab und versuchte, Unterstützung zu gewinnen. Falsche Zaren / Kaiser und Thronfolger bilden in dieser Gruppe die Mehrheit, jedoch wäre es verkürzend, nicht zur Thronfolge berechtigte Mitglieder der Dynastie von vornherein aus der Betrachtung auszuschließen. Die verbleibenden Fälle sind allerdings in ihrem Aussagewert sehr inhomogen. War bei der Aneignung einer fremden Identität Trunkenheit oder eine psychische Störung im Spiel, versuchten die Betroffenen oft nicht, AnhängerInnen zu gewinnen und ihre Performanz war schwach bis gar nicht entwickelt. Andere samozvancy / samozvanki wurden praktisch sofort angezeigt, nachdem sie Anspruch auf eine bestimmte Identität erhoben hatten und bekamen somit keine Möglichkeit, diesen performativ zu belegen. Solche Fälle werden nicht von vornherein ausgeschlossen, es bleibt aber festzuhalten, dass sie nicht viel Material für eine Analyse bieten.
11 Bei den Skopzen handelt es sich um eine heterodoxe Gruppe, die zum ersten Mal Anfang der 1770er Jahre greifbar ist. Ihr Alleinstellungsmerkmal bestand darin, dass die letzte (aber keineswegs für alle verpflichtende) Stufe der Initiation bei Frauen wie Männern die Entfernung der primären Geschlechtsorgane vorsah.
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Technische Hinweise
Alle Übersetzungen stammen von der Verfasserin. Zitate aus der Bibel folgen der Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift und der darin üblichen Zählung und Benennung der Bücher des Alten Testaments. Alle Datumsangaben stehen quellengetreu im julianischen Kalender. Um das Datum im gregorianischen Kalender zu erhalten, sind für das 17. Jahrhundert zehn Tage zu addieren, für das 18. Jahrhundert elf und für das 19. Jahrhundert zwölf. Personennamen werden so geschrieben wie sie im Untersuchungsakt vorkommen. Das ist insbesondere bei der Unterscheidung von »RussInnen« und »UkrainerInnen« von Bedeutung. Aus diesem Grund scheint ein falscher Peter III. als Petro Nesterenko (alias Petro Taran) auf, ein anderer aber als Nikolaj Kolčenko und nicht als Mykola Kolčenko. Dahinter steht nicht der Versuch, die BewohnerInnen der heutigen Ukraine zu russifizieren oder eine ukrainische Geschichte zum Verschwinden zu bringen, sondern das Bemühen, den Gegebenheiten im Untersuchungszeitraum gerecht zu werden. Erste Spuren eines ukrainischen Nationalbewusstseins lassen sich Ende des 18. Jahrhunderts ausmachen, aber es dauerte bis etwa 1850, bis sich diese Strömungen verstärkten und bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, bis sie eine echte Breitenwirkung erzielten. Namen von BewohnerInnen der heutigen Ukraine zu ukrainisieren wäre darum meines Erachtens nach selbst in jenen Fällen, in denen es besonders gute Argumente dafür gibt, gleichbedeutend damit, gegenwärtige Verhältnisse auf den Untersuchungszeitraum zu projizieren und auf diese Weise Anachronismen zu erzeugen. Ihrer geografischen Herkunft nach wurden BewohnerInnen der heutigen Ukraine im Untersuchungszeitraum als »KleinrussInnen« bezeichnet, aber es ist nicht rekonstruierbar, ob für sie selbst diese Zuordnung mehr bedeutete als eine geografische Angabe, ob sie sich in irgendeiner Weise von den »GroßrussInnen« verschieden fühlten oder ob sie es verstanden hätten, hätte ihnen jemand einen solchen Unterschied klarzumachen versucht. Ortsnamen werden ebenfalls so angegeben, wie sie in den Akten vorkommen und wie es im Untersuchungszeitraum üblich war. Das bedeutet bei Ortsnamen in der heutigen Ukraine, der russischen Schreibweise den Vorzug zu geben. Ist ein Ortsname in der heutigen Ukraine bis heute gleich geblieben und unterscheiden sich der russische und der ukrainische Name nur in der Lautung, werden bei der ersten Nennung beide Formen angegeben, zum Beispiel Gluchov (ukr. Hluchiv). Elizavetgrad würde hingegen nur in dieser Form aufscheinen, nicht als Jelyzavethrad (falls die Stadt jemals jemand so bezeichnet hat) und schon gar nicht als Kirovohrad.
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1.2 Forschungsstand Sekundärliteratur
Überlegungen, die darauf hinauslaufen, samozvanstvo als Performanz aufzufassen, sind vereinzelt in der vorhandenen Sekundärliteratur zu finden. 1991 schrieb etwa der Historiker Aleksandr Myl’nikov: Ein samozvanec war verpflichtet, der Vorstellung, als deren Verkörperung er auftrat, seine Gedanken, Handlungen und das Alltagsverhalten selbst insofern unterzuordnen, als das Bewusstsein der Bevölkerung ein Bild ›seines‹ Souveräns herausgearbeitet hatte, eines strengen, aber gerechten [Herrschers]. […] Das machte das Phänomen samozvančestvo selbst zu einer Art improvisierten Theatervorstellung, in der jeder Teilnehmer seine Rolle spielte und das allgemeine Szenario von der Tradition bestimmt wurde. Deswegen musste der samozvanec wissen, was von ihm erwartet wurde, um es zu vermeiden, sie [die Tradition] zu verletzen.12
Vom Vergleich des Auftretens eines falschen Mitglieds der Dynastie mit einem Theaterstück wäre es an sich nur ein kleiner Schritt gewesen, eine Analyse unter diesem Gesichtspunkt durchzuführen, unabhängig davon, ob der Performanzbegriff schon zur Verfügung stand. Nichtsdestoweniger formulierte weder Myl’nikov, noch jemand anderer ein derartiges Forschungsprogramm. So gibt es bislang keine Sekundärliteratur zum Thema samozvanstvo als Performanz, nur allgemein zu dem Phänomen. Im folgenden Überblick werden nur Werke berücksichtigt, deren Hauptthema samozvanstvo ist und nicht etwa solche, die in einem Absatz oder auch auf ein, zwei Seiten Überlegungen dazu anstellen. Die erste russischsprachige Publikation, die nicht an einer Einzelperson wie dem ersten falschen Dmitrij interessiert war, sondern einen etwas größeren Rahmen abdeckte, stammt von Michail Ščerbatov. Er verfasste und veröffentlichte 1774 »Kratkaja povest’ o byvšich v Rossii samozvancach« (»Kurze Erzählung über die samozvancy, die es in Russland gegeben hat«).13 Das Erscheinungsdatum am Höhepunkt des Pugačev’schen Aufstandes ist kein Zufall. Bei dem Text handelt es sich um eine Auftragsarbeit Katharinas II. Die Kaiserin wollte auf diese Weise darauf aufmerksam machen, dass es falsche Herrscher in vielen anderen Ländern und Epochen gegeben hatte sowie darauf, dass Pugačev nicht der erste samozvanec im Moskauer bzw. Russländischen 12 Myl’nikov, A. S.: Iskušenie čudom. »Russkij princ«, ego prototipy i dvojniki-samozvancy. Leningrad 1991, 203. 13 [Ščerbatov, Michail]: Kratkaja pověst’ o byvšich v Rossii samozvancach. 3. Aufl. Sankt peterburg 1793.
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Reich war. So sollte ihre eigene Politik zu einer bestenfalls sekundären Ursache des Aufstands herabgestuft werden.14 Anders als der Titel vermuten ließe, behandelt Ščerbatov keineswegs sämtliche samozvancy und samozvanki, die im Moskauer oder Russländischen Reich vor 1774 aufgetreten waren. Er konzentriert sich auf die Zeit der Wirren, bezieht aber auch einen falschen Sohn des ersten falschen Dmitrij in der Rzeczpospolita sowie Stepan Razin ein, sodass er näherungsweise das 17. Jahrhundert abdeckt. Dem Auftrag Katharinas II. entsprechend legt er eine psychologische Deutung an, welche die Aufmerksamkeit etwa von sozialen Ursachen des Aufstands ablenkt. So hält er eingangs fest, das »Volk« neige auch dann zu leichtsinnigen Aktionen, wenn es keinen Grund zur Klage gebe.15 Vom faktischen Material her bietet Ščerbatov nichts, was nicht auch in späteren Publikationen zu finden wäre. Die wissenschaftliche Erforschung von samozvanstvo begann im 19. Jahrhundert. Dafür stehen vor allem Quellenpublikationen, von denen im nächsten Abschnitt die Rede sein wird. Sonst sind nur zwei Aufsätze erwähnenswert. Sergej Solov’ev identifizierte 1868 die Kosaken als treibende Kraft hinter dem Auftreten falscher Mitglieder der Dynastie.16 Diese Beobachtung trifft auf die Zeit der Wirren zweifellos zu, auf die folgenden Jahrzehnte und Jahrhunderte aber nur mehr bedingt. Bei der bereits erwähnten Publikation »Sovremennaja samozvanščina« (»Das gegenwärtige samozvanstvo-Unwesen«) von Vladimir Korolenko handelt es sich nicht um eine wissenschaftliche Untersuchung, sondern um einen Essay. Korolenko sammelte jahrelang Zeitungsberichte über samozvanstvo und stellte davon ausgehend Überlegungen zu dem Phänomen als Ganzes an. Zeitbedingt verfügte er vor allem über Meldungen über falsche Heilige, falsche Beamte sowie falsche Mönche und Nonnen, deren betrügerische Absichten er anprangert. Zusätzlich bezog er ein paar länger zurückliegende Fälle ein, darunter Pugačev, den falschen Sohn Katharinas II. Nikolaj Petrov und den falschen Konstantin Pavlovič Aleksandr Rodionov. Korolenko führt samozvanstvo auf eine Lücke in der echten Identität zurück. Solche Lücken konnten bei unehelichen oder adoptierten Kindern, Deserteuren, entflohenen Leibeigenen und Gefangenen entstehen.17 Er legt sich aber nicht fest, ob er die psychologische Überwindung einer solchen Lücke als Hauptantrieb hinter der Aneignung einer fremden Identität ansieht oder ob er meint, dass es samozvancy und samozvanki vor allem darum ging, sich einen eindeutig definierten Platz im gesellschaftlichen Gefüge zu verschaffen. 14 Fedosov, I. A.: Iz istorii russkoj obščestvennoj mysli. M. M. Ščerbatov. Moskva 1967, 38. 15 [Ščerbatov]: Kratkaja pověst’, 2. 16 Solov’ev, S. M.: Zamětki o samozvancach v Rossii. In: RA 6 (1868), 265–281. 17 Korolenko: Sovremennaja samozvanščina, 321; 323; 333.
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Korolenkos Überlegungen sind zweifellos interessant, treffen aber auf die Mehrheit der samozvancy und samozvanki nicht zu. Ihren Höhepunkt erreichte die Erforschung von samozvanstvo in der Sowjetunion in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Das liegt daran, dass der Aneignung einer fremden Identität relativ leicht ein paar Grundannahmen der marxistischen Geschichtswissenschaft übergestülpt werden konnten. Samozvanstvo galt als Form des Klassenkampfes und dadurch als Ausdruck des grundsätzlich als eher schwach eingestuften politischen Bewusstseins der »dunklen Massen«. Da die Mehrheit der samozvancy und samozvanki als Mitglied der Dynastie auftrat, fungierte das Phänomen gleichzeitig als Bestätigung für die These, Bauern und Bäuerinnen seien durch die Bank rückständig gewesen und hätten den Herrscher / die Herrscherin auf naive Weise idealisiert. Nur drei sowjetische Publikationen sind nach wie vor von Interesse. 1967 erschien »Russkie narodnye social’no-utopičeskie legendy XVII–XIX vv.« (»Russische sozial-utopische Volkslegenden des 17. bis 19. Jahrhunderts«) des Ethnologen Kirill Čistov,18 das trotz massiver Schwächen in seiner Konzeption bis heute die Monografie über samozvanstvo schlechthin geblieben ist. Es wurde 2003 und 2011 unter dem Titel »Russkaja narodnaja utopija. Genezis i funkcija social’no-utopičeskich legend« (»Die russische Volksutopie. Genese und Funktion sozial-utopischer Legenden«) mit einem neuen Nachwort des Autors, aber sonst unverändert wieder aufgelegt19 und 1998 unter dem Titel »Der gute Zar und das ferne Land« ins Deutsche übersetzt.20 »Das ferne Land« bezieht sich auf den hier nicht weiter interessierenden zweiten Teil des Buches, in dem Čistov sein Konzept der sozial-utopischen Legenden auf folkloristische Überlieferungen über fiktive Länder und Städte anwendet. Die große Bedeutung des Buches ist zum einen darauf zurückzuführen, dass es als einzige Publikation alle (dem Autor in den 1960er Jahren bekannten) Fälle von samozvanstvo von der Zeit der Wirren bis 1861 berücksichtigt. Diese Breite reduziert zwar die analytische Tiefe, ist aber sehr nützlich, um sich einen Überblick über das Thema zu verschaffen und Hinweise auf Quellen und Sekundärliteratur zu bekommen. Čistov vollbrachte zweifellos eine beachtliche Leistung, als er die zitierten Quellen und die Sekundärliteratur zusammentrug. Zum anderen fand Čistov mit den titelgebenden »sozial-utopischen Legenden« eine für viele spätere AutorInnen sehr überzeugende Erklärung für das Auftreten falscher Herrscher und Herrschersöhne, welche die Sichtweise auf samozvanstvo bis heute prägt. Čistov interpretierte das Auftreten von samo 18 Čistov, K. V.: Russkie narodnye social᾽no-utopičeskie legendy XVII–XIX vv. Moskva 1967. 19 Ders.: Russkaja narodnaja utopija. Genezis i funkcija social’no-utopičeskich legend. Sankt-Peterburg 2011. 20 Ders.: Der gute Zar und das ferne Land. Russische sozial-utopische Volkslegenden des 17. bis 19. Jahrhunderts. München 1998.
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zvancy und samozvanki als Reaktion auf Gerüchte über ein verstorbenes Mitglied der Dynastie. Die Menschen sprachen zum Beispiel davon, dass Peter III. am Leben sei und jemand schloss daraus, es könnte nützlich sein, sich selbst Peter III. zu nennen. Die entsprechenden Gerüchte über verstorbene Mitglieder der Dynastie wertet Čistov als Beweis für die Existenz einer »sozial-utopischen Legende« über das jeweilige Mitglied der Dynastie, welche dessen Rückkehr und den damit verbundenen Anbruch goldener Zeiten angekündigt habe. Sozial sind diese Legenden, weil Čistov alle samozvancy und samozvanki gemäß dem bereits umrissenen sowjetischen Deutungsschema als KlassenkämpferInnen einstuft. Utopisch wiederum sind sie, weil sie die Rückkehr eines immanent guten Herrschers / Thronfolgers voraussagen. Die Rückkehr von den Toten ist nicht möglich, und die Existenz eines tatsächlich guten und gerechten Herrschers war im sowjetischen Geschichtsbild ebenso ausgeschlossen. Dem nicht genug, war jede »Legende« Čistov zufolge mit einer »Volksbewegung« verbunden, die unter anderem die Aufhebung der Leibeigenschaft zum Ziel gehabt habe. Bei näherem Betrachten löst sich diese Konzeption in Luft auf. Čistov erklärt an keiner Stelle, wie er die Existenz der »Legenden« ermittelt, und seine Ausführungen erlauben auch keine indirekten Schlüsse zu diesem Punkt. Seine wichtigsten Quellen sind Gerüchte – aber Gerüchte sind eben Gerüchte und keine Legenden. Von der Existenz eines Gerüchtes auf die Existenz einer Legende zu schließen, die ein umfassenderes Narrativ repräsentiert und auch in anderen Quellentypen vorkommen müsste, ist ein zu weiter Schritt. Kaum nachweisbar ist außerdem, dass die Ankündigung der Rückkehr des jeweiligen Mitglieds der Dynastie für diese Gerüchte / Legenden so zentral war wie Čistov behauptet. Zweifellos gab es Gerüchte über verstorbene Mitglieder der Dynastie, die deren Rückkehr ankündigten, aber dabei handelt es sich um eine Minderheit. Čistov geht offenbar davon aus, sobald ein Herrscher oder Thron folger für lebend erklärt wird, gebe es kein anderes Szenario als die Erwartung seiner Rückkehr, doch das lässt sich nicht belegen. Stefan Plaggenborg entlarvte den »guten Zaren«, also eine der tragenden Säulen von Čistovs Konzeption, vor kurzem als Legende der Geschichtswissenschaft.21 Angesichts dessen und der gerade geschilderten Probleme ist davon auszugehen, dass die Existenz »sozial-utopischer Legenden« eine weitere geschichtswissenschaftliche Legende ist und sich diese Legenden gegenseitig stützen. Čistov dürfte deren Existenz konstruiert haben, weil er so marxistisch korrekt der breiten Bevölkerung ein politisches Bewusstsein zuschreiben, dieses aber zugleich als naiv, weil den Herrscher / die Herrscherin idealisierend einstufen konnte. 21 Zum »guten Zaren« siehe Plaggenborg, Stefan: Pravda. Gerechtigkeit, Herrschaft und sakrale Ordnung in Altrussland. Paderborn 2018, 307–311.
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Einigermaßen erstaunlich ist, dass Čistov seine Konzeption im Nachwort zur Neuauflage seines Buches unverändert ließ. Er räumt zwar die Existenz des einen oder anderen strittigen Punktes ein, stellt aber insgesamt weder seine Schlussfolgerungen in Frage, noch kommt er darauf zu sprechen, dass sich die Voraussetzungen der historischen Forschung durch den Zerfall der Sowjetunion in einer Weise veränderten, die auch für sein Werk relevant ist. Nun kann von niemandem verlangt werden, seine Meinung zu ändern. Es hat aber den Anschein, als wäre Čistov überhaupt nicht bewusst gewesen, dass er nicht nur das in der Sowjetunion verpflichtende Vokabular benutzte, sondern auch seine Deutung stark von ideologischen Prämissen abhängig ist. Zweifelhaft ist darüber hinaus, dass Čistov die Geschichte von samo zvanstvo als Kette vollständig unabhängig voneinander entstandener »Legenden« auffasst, die jedoch stets eine sehr ähnliche bis gleiche Form angenommen hätten.22 Diese Annahme widerspricht nicht nur Ockhams Rasiermesser, sondern ist auch analytisch schwierig. Auf diese Weise kann Čistov letzten Endes keine Dynamik, keine Entwicklung des Phänomens aufzeigen, sondern nur Einzelfälle betrachten. Der wahrscheinlich interessanteste sowjetische Beitrag zu samozvanstvo ist der Aufsatz »Car’ i samozvanec« (»Zar und samozvanec«) des Semiotikers Boris Uspenskij aus dem Jahr 1982.23 Uspenskij trat als Erster dafür ein, sa mozvanstvo primär nicht als politisches, sondern als kulturelles Phänomen zu betrachten, wobei er die kulturelle Dimension in erster Linie als religiöse versteht. Darin ist eine bewusste (?) Absatzbewegung vom sowjetischen Mainstream zu erkennen, die ins andere Extrem zu verfallen und den Stellenwert von Religion bzw. Sakralität zu sehr hervorzuheben droht. Uspenskij zufolge konnte es den ersten samozvanec nur geben, nachdem es den ersten Zaren gegeben hatte und er meint, samozvancy und samozvanki hätten sich in erster Linie die sakrale Autorität des Herrschers / der Herrscherin angeeignet. Das führt er darauf zurück, dass der Titel car’ aus dem (Alt-)Kirchenslawischen übernommen und daher zuerst nur in einem religiösen Zusammenhang verwendet wurde.24 Viktor Živov widerspricht dem. Ihm zufolge kam die Idee, dass Kirchenslawisch eine heilige (sacred) Sprache sei, erst nach der Zeit der Wirren im 17. Jahrhundert auf.25 Das ist zu spät, um die ersten zwei Dutzend samozvancy zu erklären. Abgesehen davon lässt sich die These, dass es samozvancy und 22 Čistov: Russkie narodnye social’no-utopičeskie legendy, 223. 23 Uspenskij, B. A.: Car’ i samozvanec. Samozvančestvo v Rossii kak kul᾽turno-istoričeskij fenomen. In: Ders.: Izbrannye trudy Tom I Semiotika istorii. Semiotika kul᾽tury. 2. Aufl. Moskva 1996, 142–183. 24 Ebd., 143 f. 25 Zhivov, Victor M. [Živov, Viktor M.]: Religious Reform and the Emergence of the Individual in Russian Seventeenth-Century Literature. In: Baron, Samuel H. / Kollmann, Nancy
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samozvanki im Kern um den sakralen Aspekt der Herrscherwürde gegangen sei, aus den Quellen nicht belegen. In der zweiten Hälfte seines Aufsatzes interpretiert Uspenskij samozvanstvo als Form von Anti-Verhalten (anti-povedenie), d. h. als Normbruch, der das genaue Gegenteil vom Normalen macht, zum Beispiel Hierarchien auf den Kopf stellt. Das Problem dabei ist zum einen, dass der Autor nicht ausreichend klar macht, ob er damit sagen will, dass ein samozvanec bewusst Anti-Verhalten an den Tag gelegt habe (und falls ja, aus welchen Gründen), ob die Zeitgenossen sein Auftreten so deuteten oder ob das lediglich eine Kategorie ist, die er als Semiotiker für die Analyse benutzt. Zum anderen kann Uspenskij in Hinblick auf Anti-Verhalten zwar Parallelen zwischen dem ersten falschen Dmitrij, Ivan IV. und Peter I. ziehen, übersieht aber, dass der erste falsche Dmitrij der einzige samozvanec ist, auf den sich dieser Begriff gut anwenden lässt. Zuletzt ist unter den originellen sowjetischen Publikationen »Iskušenie čudom. ›Russkij princ‹, ego prototipy i dvojniki-samozvancy« (»Erlösung durch ein Wunder. Der ›russische Fürst‹, seine Prototypen und selbsternannten Doppelgänger«) von Aleksandr Myl’nikov aus dem Jahr 1991 zu erwähnen. Es wurde 1994 unter dem Titel »Die falschen Zaren« auf Deutsch übersetzt.26 Myl’nikovs Interesse gilt in erster Linie dem echten Peter III.; das ist etwa daran erkennbar, dass er das Buch zu einer Biografie Peters III. ausbaute und 2001 erneut publizierte.27 Aus dem gehäuften Auftreten falscher Peter III., von denen er auf sieben näher eingeht, zieht Myl’nikov den Schluss, dass der echte Kaiser besser gewesen sein müsse als sein landläufiger Ruf. Es trifft zweifellos zu, dass die Memoiren Katharinas II. nicht geeignet sind, um ihren Ehemann angemessen einzuschätzen. Allerdings stammen die von Myl’nikov zusammengetragenen positiven Äußerungen von Zeitgenossen über Peter III. aus einem sehr kleinen Kreis von Adeligen und ausländischen Diplomaten am Hof, der nicht repräsentativ für die Bevölkerungsschichten ist, in denen sich die falschen Peter bewegten. Die Meinung Letzterer lässt sich anhand der Anzeigen wegen »ungehöriger Worte«28 erfassen, die Myl’nikov nicht berücksichtigt – vielleicht, weil sie seine Argumentation unterminiert hätten. In diesen ungehörigen Äußerungen findet sich durchaus Lob für Peter, etwa, wenn er Shields (Hg.): Religion and Culture in Early Modern Russia and Ukraine. DeKalb / Illinois 1997, 184–198, hier 187. 26 Myl’nikov: Iskušenie čudom; Ders.: Die falschen Zaren. Peter III . und seine Doppelgänger in Rußland und Osteuropa. Eutin 1994. 27 Ders.: »On ne pochož byl na gosudarja…«. Petr III . Povestvovanie v dokumentach i versijach. Sankt-Peterburg 2001. Die Erweiterung besteht primär aus biografischem Material über den echten Peter III . sowie einem fiktionalen einführenden Kapitel. »Iskušenie čudom« ist wortwörtlich darin enthalten, nur anders angeordnet. Selbst die 2001 längst nicht mehr verpflichtenden Zitate von in der Sowjetunion geschätzten Theoretikern, im konkreten Fall von Georgij Plechanov, wurden nicht entfernt. 28 Zu diesem Begriff siehe Kapitel 2.1.
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als Gegenspieler von Aleksej Razumovskij gezeichnet wird (siehe Kapitel 3.2). Gleichzeitig war er aber auch regelmäßig das Ziel von Beschimpfungen. Dieses Nebeneinander von Zustimmung und Ablehnung betraf nicht nur Peter III., sondern auch seine VorgängerInnen und NachfolgerInnen. In dieser Hinsicht war er ein Kaiser wie jeder andere, sodass Myl’nikovs Erklärung für die vielen samozvancy unter seinem Namen in eine Sackgasse führt. Neben dem Versuch, den Ruf Peters III. zu retten, konstruiert Myl’nikov aus Gerüchten über einen »russischen Fürsten«, die 1780 in Böhmen kursierten, die Existenz eines panslawischen Solidaritätsnetzwerks, das nebenbei samozvanstvo aus dem Russländischen Reich in den Rest Europas exportiert habe. Die Quellen, die er anführt, belegen aber weder, dass der vermeintliche »russische Fürst« irgendetwas mit Russland zu tun hatte, noch, dass er »eigentlich« Peter III. verkörperte. Es ist mehr als fraglich, ob Myl’nikov auf die Idee gekommen wäre, ein slawisches Netzwerk zu konstruieren, falls zu diesem Zeitpunkt der Warschauer Pakt nicht mehr existiert hätte und sowjetische Politiker nicht ständig das Wort von den osteuropäischen »Bruderstaaten« im Mund geführt hätten. Bei den übrigen sowjetischen Publikationen zu samozvanstvo handelt es sich um Aufsätze, die sich auf einen bestimmten geografischen und / oder zeitlichen Raum konzentrieren und versuchen, die jeweiligen Fälle mit dem Klassenkampfschema in Einklang zu bringen. Die daraus resultierenden Schlussfolgerungen sind heute nur mehr bedingt bis gar nicht brauchbar; der höchste Wert dieser Publikationen ist darin zu sehen, dass sie umfangreiche Quellenzitate beinhalten. Hier seien nur zwei Beispiele genannt. Sivkov veröffentlichte 1950 in der Zeitschrift »Istoričeskie zapiski« (»Historische Notizen«) den Aufsatz »Samozvančestvo v poslednej treti XVIII v.« (»Samozvančestvo im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts«).29 Sivkovs wichtigstes Ergebnis, mit dem er zugleich der marxistischen Deutung des Phänomens Genüge tat, lautete, dass samozvanstvo in der Regierungszeit Katharinas II. vorwiegend von Einhöfern30 getragen worden sei. Es stimmt, dass in dem von ihm untersuchten Zeitraum mehrere samozvancy entweder selbst Einhöfer waren wie Gavrila Kremnev und Gerasim Savelov oder sich unter ihrer Anhängerschaft viele EinhöferInnen befanden. Jedoch wäre es übertrie29 Sivkov, K. V.: Samozvančestvo v Rossii v poslednej treti XVIII v. In: IZ 31 (1950), 88–135. 30 EinhöferInnen waren die Nachkommen von Dienstadeligen, die im 17. Jahrhundert in Grenzfestungen in der Steppe gedient hatten. Im Gegenzug erhielten sie das Recht, Land und Leibeigene zu besitzen. Im 18. Jahrhundert unterschieden sie sich jedoch kaum mehr von freien Bauern. Die wenigsten besaßen Leibeigene, sodass sie die Felder selbst bestellen mussten, und oft reichte ihr Grund kaum aus, um davon eine Familie zu ernähren. Unter Katharina II . wurden Einhöfer schließlich den Staatsbauern zugerechnet, während sie selbst ein adeliges Selbstverständnis bewahrten (Kollmann, Nancy Shields: The Russian Empire 1450–1801. Oxford 2017, 359 f.).
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ben, samozvanstvo im ausgehenden 18. Jahrhundert als Einhöfer-Bewegung zu charakterisieren, weil Soldaten, Offiziere und Kosaken ebenfalls in größerer Zahl vertreten waren. Nina Razorenova veröffentlichte 1975 in der Zeitschrift der Moskauer Universität einen Aufsatz über samozvanstvo in den 1730er Jahren.31 Dieser enthält umfangreiche Zitate aus den Akten über den falschen Aleksej Petrovič Andrej Cholščevnikov, das Duo Timofej Truženik (»Aleksej Petrovič«) und Larion Starodubcev (»Peter Petrovič«) sowie den falschen Aleksej Petrovič Ivan Minickij. Die Analyse nimmt verhältnismäßig wenig Raum ein und ist heutzutage unbrauchbar. Die Autorin versucht, streng den Vorgaben einer marxistischen Geschichtswissenschaft zu folgen, hat aber sichtliche Probleme damit, diese ihren Quellen überzustülpen. Das führt teilweise zu geradezu absurden Passagen wie der, als sie Truženik vorwirft, sich auf Versprechungen und Phrasen beschränkt zu haben anstatt aktive Schritte zu setzen, um die Lage der Leibeigenen zu verbessern.32 Truženik verhielt sich nicht so, wie sich ein samozvanec laut sowjetischer Interpretation verhalten sollte, aber Razorenova suchte den Fehler bei ihm und nicht bei den ideologischen Prämissen. Eine der einflussreichsten jüngeren Arbeiten zu samozvanstvo ist die Dissertation von Pavel Lukin, die 2000 unter dem Titel »Narodnye predstavlenija o gosudarstvennoj vlasti v Rossii XVII veka« (»Volksvorstellungen über die Staatsmacht im Russland des 17. Jahrhunderts«) erschien.33 Lukin benutzte als Quelle Akten über »ungehörige Worte« unabhängig von ihrem Gegenstand, sodass sein Fokus wesentlich breiter ist als samozvanstvo. Allerdings widmete er diesem Phänomen ein sehr umfangreiches Kapitel, dessen Ergebnisse seither gerne zitiert werden. Lukin kommt zu dem Schluss, die Aneignung einer fremden Identität sei im 17. Jahrhundert omnipräsent gewesen.34 Dieser Befund kommt dadurch zustande, dass er auch solche Fälle als samozvanstvo einstuft, in denen jemand beispielsweise Zar und das Adjektiv carskij im übertragenen Sinn gebrauchte. Damit folgte er der Sichtweise der Behörden des 17. Jahrhunderts, aber, wie gesagt, wäre es für die Analyse sinnvoller, zwischen Fällen mit unterschiedlicher Qualität zu differenzieren. Von Allgegenwärtigkeit zu sprechen vermittelt ein falsches Bild, zumal es sich dabei auch um keine Besonderheit des 17. Jahrhunderts handelte. Gegenwärtig ist Oleg Usenko der wichtigste und produktivste russischsprachige Historiker, der zu samozvanstvo forscht. Seine Auseinandersetzung mit diesem Thema begann 1997 mit einem Kapitel im dritten Band seines Lehrbuchs »Psichologija social’nogo protesta« (»Die Psychologie des sozialen 31 Razorenova, N. V.: Iz istorii samozvanstva v Rossii 30-ch godov XVIII v. In: VMU Serija IX Istorija 6/1974, 54–67. 32 Ebd., 56. 33 Lukin: Narodnye predstavlenija. 34 Ebd., 157–163.
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Protests«),35 auf das mehrere wissenschaftliche Aufsätze und Konferenzbeiträge36 sowie eine enorme Anzahl populärwissenschaftlicher Artikel folgten. Drei Momente durchziehen Usenkos Publikationen wie ein roter Faden. Erstens ist er dem Zugang der historischen Psychologie treu geblieben und geht davon aus, dass alle samozvancy und samozvanki ein ähnliches Temperament und eine ähnliche psychische Disposition gezeigt hätten. Beispielsweise behauptet Usenko, sie seien sehr emotional gewesen, hätten stark zu Autosuggestion geneigt und deswegen geglaubt, die Person zu sein, für die sie sich ausgaben37 ‒ nichts davon ist in dieser Klarheit aus den Quellen rekonstruierbar. Für den seiner Ansicht nach grundlegenden psychologischen Mechanismus bei samozvanstvo prägte Usenko sogar den Begriff der »falschen Selbstidentifizierung« (russ. ložnaja samoidentifikacija).38 Was wie ein Terminus aus einem Handbuch der Psychiatrie klingt, ist nichts anderes als der von Jurij Lotman und Boris Uspenskij 1973 in ihrem Aufsatz »Mif – imja – kultura« (»Mythos – Name – Kultur«) eingeführte Begriff der mythischen Gleichsetzung (russ. mifologičeskoe otoždestvlenie) in neuem Gewand. Lotman und Uspenskij beschreiben in diesem Aufsatz die Merkmale des sogenannten mythischen Bewusstseins (mifologičeskoe soznanie), bei dem es sich um eine stark linguistisch und semiotisch geprägte x-te Version eines »primitiven« oder »vormodernen« Bewusstseins handelt. Unter anderem ist den Autoren zufolge in der Logik des mythischen Bewusstseins alles gleich, was gleich heißt oder gleich bezeichnet wird, auch wenn faktisch keine Gleichheit besteht. Zum Beispiel wird jemand Herkules genannt und glaubt nur deswegen, genauso groß und stark zu sein wie Herkules.39 Das ist die mythische Gleichsetzung, die per definitionem eine falsche ist. Lotman und Uspenskij brachten das mythische Bewusstsein selbst als Erklärung für samozvanstvo ins Spiel,40 und mehrere postsowjetische russisch35 Usenko, O. G.: Psichologija social’nogo protesta v Rossii XVII–XVIII vekov. Posobie dlja učitelej srednej školy. Čast’ 3. Tver’ 1997, 36–74. 36 Ders.: Monarchičeskoe samozvančestvo v Rossii v 1762–1800gg. Opyt sistemno-statisti českogo analiza. In: Ryčalovskij, E. E. (Red.), Rossija v XVIII stoletii. Vypusk II . Moskva 2004, 290–353; Ders.: Gendernyj aspekt monarchičeskogo samozvančestva v Rossii XVII– XVIII vv. In: Gendernaja teorija i istoričeskoe znanie. Materialy vtoroj meždunarodnoj naučno-praktičeskoj konferencii. Syktyvkar 2005, 241–249; Ders.: Lžemonarchi v Sibiri do XIX v. In: Zapadnaja Sibir’. Problemy istorii, istoriografii i istočnikovedenija. Materialy okružnoj naučnoj konferencii, posvjaščennoj 300-letiju so dnja roždenija G. F. Millera. Nižnevartovsk 2005, 103–107; Ders.: Novye dannye; Ders.: Izučenie rossijskogo monarchičeskogo samozvančestva. »Lovuški«, problemy, perspektivy. In: Svak, Djula [Szvák, Gyula] (Red.): Samozvancy i samozvančestvo v Moskovii. Budapest 2010, 9–37. 37 Ders.: Psichologija social’nogo protesta III, 66 f. 38 Ebd., 67–74. 39 Lotman, Ju. M. / Uspenskij, B. A.: Mif – imja – kul’tura. In: Lotman, Ju. M.: Izbrannye stat’i. Tom I Stat’i po semiotike i tipologii kul’tury. Tallinn 1992, 58–75, hier 60. 40 Ebd., 72.
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sprachige HistorikerInnen griffen diese Anregung nur zu gerne auf, weil das Konzept scheinbar objektiv und ideologiefrei ist. Pavel Lukin stellte etwa die Überlegung an, dass jemand nur deswegen geglaubt habe, Peter I., Peter II. oder Peter III. zu sein, weil er selbst Petr hieß. Oder aber jemand habe geglaubt, alleine dadurch zum Beispiel zu Peter III. zu werden, dass er sich selbst als Peter III. bezeichnete.41 Tatsächlich gab es im Untersuchungszeitraum der vorliegenden Monografie gerade einmal vier samozvancy, die denselben Vornamen trugen wie das Vorbild: der falsche Ivan Ivanovič (Sohn Ivans IV.) Ivan Vasil’ev, der falsche Aleksej Petrovič Aleksej Rodionov, der falsche Peter III. Petr Černyšev und der falsche Konstantin Pavlovič Konstantin Kalugin. Warum sich Vasil’ev für einen Sohn Ivans IV. ausgab und ob er selbst glaubte, Ivan Ivanovič zu sein, ist unbekannt. Rodionov glaubte zwar, Aleksej Petrovič zu sein, aber nicht wegen des Namens.42 Černyšev teilte mit dem echten Peter III. nicht nur den Vornamen, sondern auch den Vatersnamen und hatte wie dieser einen Sohn namens Pavel (Paul),43 doch weder trat er deswegen als Peter III. auf, noch glaubte er, Peter III. zu sein. Dasselbe gilt für Kalugin als Großfürst Konstantin. An diesem einfach überprüfbaren Beispiel zeigt sich, dass das Konzept des mythischen Bewusstseins für samozvanstvo keinen echten Erkenntnisgewinn bringt. Usenko ging anders vor als Lukin. Er übernahm von Lotmans und Uspenskijs Konzept nur das Merkmal der fehlerhaften Gleichsetzung, übertrug es auf samozvanstvo und führte dafür mit der falschen Selbstidentifizierung einen neuen Begriff ein. Dabei wandelte Usenko den ursprünglichen Begriff so um, dass die Gefahr besteht, das Phänomen zu pathologisieren und eine Analyse letztlich unmöglich zu machen. Wird die Aneignung einer fremden Identität in der Mehrheit der Fälle mit einer individuellen psychischen Disposition erklärt, kann das Auftreten falscher Mitglieder der Dynastie nicht mehr mit sozialen, gesellschaftlichen, politischen Umständen und Ähnlichem erklärt werden. Es wäre nicht mehr als eine zufällige Ansammlung psychisch aus der Norm gefallener Individuen. Zweitens tritt Usenko dafür ein, bei der Erforschung von samozvanstvo einen quantitativen Zugang zu benutzen und hält diesen für die einzige Möglichkeit, um noch neue Erkenntnisse über das Phänomen zu gewinnen.44 Auch das erweist sich als zweischneidig. Auf der einen Seite ist es verdienstvoll, dass Usenko im Bestreben, die exakte Zahl von Fällen zu ermitteln, Wanderfehler in bisherigen Publikationen aufzeigte,45 die Bestände des Russländischen Staatsarchivs der alten Akten (Rossijskij gosudarstvennyj archiv drevnich aktov, 41 42 43 44 45
Lukin: Narodnye predstavlenija, 158 f. RGADA , f. 371, o. 1/č. 1, d. 1843, l. 14 ob. RGADA , f. 6, o. 1, d. 406, l. 9 ob; 14. Usenko: Monarchičeskoe samozvančestvo, 300. Ebd., 291–295.
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kurz RGADA) nach vergessenen samozvancy und samozvanki durchforstete46 und sich über die Begriffsklärung Gedanken machte (siehe Kapitel 1.3). Allerdings ist es illusorisch, zu behaupten, es gäbe so etwas wie eine objektiv richtige Zahl von Fällen, die noch dazu eindeutig ermittelt werden könnte. Auf diesen Punkt werde ich in Abschnitt 1.3 genauer eingehen. Drittens führte Usenko eine Typologie für samozvanstvo ein. Er unterteilt alle samozvancy und samozvanki in AbenteurerInnen (avantjuristy), ReformerInnen (reformatory) und Törichte (blažennye). AbenteurerInnen suchten nur den eigenen Vorteil, ReformerInnen versprachen ihren AnhängerInnen Verbesserungen und Törichte hatten keinen wie immer gearteten Plan.47 Bei näherer Betrachtung ist an dieser Dreiteilung mehreres problematisch. »AbenteurerInnen« und »ReformerInnen« sind beispielsweise nicht zwei verschiedene Typen, sondern zwei Seiten derselben Medaille. Alle samozvancy und samozvanki suchten einen persönlichen Vorteil, sofern sie nicht durch Krankheit oder Alkoholeinfluss in ihrem Urteilsvermögen beeinträchtigt waren. Versprechen machten sie in erster Linie, um AnhängerInnen zu gewinnen. Daraus folgt, dass das Fehlen eines Plans weniger mit der Person selbst zu tun hat als mit den Umständen, unter denen sie agierte. Außerhalb des Russländischen Reiches, der Sowjetunion und der Russländischen Föderation ist die Erforschung von samozvanstvo bis heute sehr selten. Den Anfang machte Philip Longworth 1975 mit einem Aufsatz über samozvanstvo im 18. Jahrhundert.48 Darin erfasste er als Erster quantitativ soziale Schicht, Beruf, Alphabetisierung und Familienstand der ihm bekannten samozvancy und samozvanki, um zu einer allgemeinen Vorstellung über das Phänomen zu gelangen. Da Longworth von einer zu geringen Gesamtzahl an Fällen ausging, sind die absoluten Zahlen und damit errechneten Prozente nicht zu gebrauchen,49 die groben Größenverhältnisse sowie die Schlussfolgerungen, die er aus seinen Berechnungen zog, sind aber durchaus gültig und verallgemeinerbar. Maureen Perrie ist die wichtigste Historikerin außerhalb Russlands, die samozvanstvo erforscht. Zu berücksichtigen ist, dass sie ausschließlich mit Sekundärliteratur und publizierten Quellen arbeitet, nicht aber mit Archivmaterial. Auf Beiträge zur Zeit der Wirren und auch zum Rest des 17. Jahrhunderts hat das keine Auswirkungen, weil die Quellen in ausreichend großem Umfang ediert sind. Für das 18. Jahrhundert sind hingegen nicht alle ihre Beobachtungen zutreffend, weil der Anteil nicht-edierter Quellen wesentlich höher ist und Letztere ihre Schlussfolgerungen zum Teil verändert hätten. 46 Die Ergebnisse sind nachzulesen im Aufsatz Ders.: Novye dannye. 47 Ders.: Monarchičeskoe samozvančestvo, 306; 308. 48 Longworth, Philip: The Pretender Phenomenon in Eighteenth-Century Russia. In: Past and Present 66 (1975), 61–83. 49 Usenko: Monarchičeskoe samozvančestvo, 295.
Einführung
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Perries Hauptwerk zu samozvanstvo ist ihre Monografie »Pretenders and Popular Monarchism« von 199550 über die samozvancy der Zeit der Wirren. Der titelgebende Begriff popular monarchism ersetzt den schon von Lenin gebrauchten Begriff »naiver Monarchismus« und bringt zum Ausdruck, dass sich die Herrscherbilder der Untertanen nicht alleine aus Naivität oder einem Mangel an Bildung speisten. Abgesehen von der Wendung ins Positive besteht jedoch kein Unterschied zwischen beiden Begriffen. Perrie wollte in »Pretenders and Popular Monarchism« nachweisen, dass Čistovs Konzept der sozial-utopischen Legenden einer näheren Überprüfung nicht standhält, erweiterte also ihren Aufsatz »›Popular Socio-Utopian Legends‹ in the Time of Troubles« von 1982, in dem sie die erste umfassende Kritik an Čistov formulierte.51 Zu diesem Zweck arbeitete sie heraus, wer die Unterstützer der einzelnen samozvancy waren, wie deren fiktive Selbstzeugnisse52 entstanden, in welchen Kreisen sie zirkulierten und Ähnliches mehr, was als Argument gegen Čistov dienen kann. Dadurch leistete Perrie viel wertvolle Grundlagenarbeit. Unter anderem vergleicht sie die verschiedenen Versionen der Geschichte des ersten falschen Dmitrij und geht der Frage nach, wie viele samozvancy in der Zeit der Wirren auftraten und welche Berührungspunkte es zwischen ihnen gab. Im Epilog zieht sie allgemeine Schlussfolgerungen zu dem Phänomen, die etwa den Zusammenhang zwischen samozvanstvo und Häresie oder die Identifizierung von Personen betreffen. In Vertiefung und Weiterentwicklung ihrer Monografie publizierte Perrie eine ganze Reihe von Aufsätzen, von denen hier nur die wichtigsten genannt werden können. 2006 befasste sie sich mit dem Motiv des Herrschers, der aus dem Ausland den entscheidenden Schlag gegen Verräter führt,53 2010 mit den 50 Perrie, Maureen: Pretenders and Popular Monarchism in Early Modern Russia. The False Tsars of the Time of Troubles. Cambridge 1995. 51 Dies.: ›Popular Socio-Utopian Legends‹ in the Time of Troubles. In: The Slavonic and Eastern European Review 60/2 (1982), 221–243. 52 Als fiktive Selbstzeugnisse bezeichne ich die Geschichten, die samozvancy und samo zvanki über ihre Vergangenheit erzählten, um plausibel zu machen, warum sie noch am Leben seien oder sich nicht dort aufhielten, wo sie jedermann vermutete. Selbstzeugnisse sind es, weil samozvancy und samozvanki von sich selbst erzählten. Fiktiv sind sie, weil sie unter der Prämisse formuliert wurden, dass der Erzähler / die Erzählerin die Person sei, für die er / sie sich ausgab. Letztlich ist jedes Selbstzeugnis ein Konstrukt. Insofern wäre es nicht notwendig, das Adjektiv fiktiv hinzuzufügen. Es wird hier aber belassen, um zum Ausdruck bringen, dass der Grad an Fiktionalität höher ist als wenn jemand nur seine Jugendsünden unter den Teppich zu kehren versucht. Die Narrative der samozvancy und samozvanki beruhten zum Großteil nicht auf ihren tatsächlichen Erlebnissen, sondern sie mussten sich ein ganzes Leben als eine Person vorstellen, mit deren Lebensumfeld sie nicht einmal ansatzweise vertraut waren. 53 Perrie, Maureen: Fugitive Tsars and Zaporozhian Cossacks. The Development of a Seventeenth-Century Stereotype. In: Harvard Ukrainian Studies 28 (2006), 581–590.
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Grundlagen
sogenannten carskie znaki (Zarenzeichen – siehe Kapitel 5.2)54 und 2014 mit möglichen Vorbildern des ersten falschen Dmitrij.55 Die gegenwärtig jüngste Monografie zu samozvanstvo stammt von Claudio Ingerflom. In »Le tsar c’est moi«56 erklärt er Selbstbezeichnung (autonomina tion) im Sinn von sprachlicher Selbstaneignung zu einem grundlegenden Zug des »russischen« »politischen« Denkens von Ivan IV. bis zur Gegenwart. Den Begriff Selbstbezeichnung leitet Ingerflom zwar von samozvanstvo ab, fasst ihn aber wesentlich breiter. Darunter fällt etwa auch, wenn sich ein Herrscher / eine Herrscherin selbst einen neuen Titel oder neue Befugnisse verleiht. Es ist keine allzu glückliche Wahl, dass Ingerflom samozvanstvo undifferenziert neben die Annahme eines neuen Titels oder neuer herrscherlicher Befugnisse stellt. Erstens handelt es sich um zwei verschiedene Dinge, zweitens ist die Selbstaneignung von Titeln kein russländisches Spezifikum. Die österreichische Geschichte kennt zum Beispiel keine spektakulären Fälle von falschen Herrschern oder Herrschersöhnen, dafür aber eine gewisse Tradition der herrscherlichen Selbstaneignung von Titeln. Franz II. erfand für sich 1804 ohne sich mit irgendjemandem abzusprechen und ohne Verweis auf historische Präzedenzfälle den Titel eines Kaisers von Österreich. Rudolf IV. hatte 1359 immerhin noch das Privilegium maius fälschen lassen, um seinen Anspruch auf den gleichfalls selbsterfundenen Titel eines Erzherzogs zu belegen. Was würde das nun für das österreichische politische Denken bedeuten, und wo wäre der Unterschied zu Russland? Ungeachtet solcher Einwände im Detail legte Ingerflom ein ebenso kühnes wie wichtiges Buch vor. Gerade, weil er so breit (und aus der Perspektive von samozvanstvo manchmal zu breit) denkt, brachte er viel Neues ein. Unter anderem machte er als Erster darauf aufmerksam, dass der Körper des Herrschers bei der Aneignung einer fremden Identität eine wichtige Rolle spielte, und dass dieser Körper im Moskauer Reich anders gedacht wurde als im Rest Europas. Von allen genannten Publikationen ist »Le tsar c’est moi« sicher diejenige, von der die meisten Anregungen für zukünftige Forschungen, einschließlich der vorliegenden Monografie, ausgehen.
54 Dies.: »Royal Marks«. 55 Dies.: Trans-National Representations of Pretenders in the 17th-Century Russian Revolts. In: Griesse, Malte (Hg.): From Mutual Observation to Propaganda War. Premodern Revolts in Their Transnational Representation. Bielefeld 2014, 53–78. 56 Ingerflom, Claudio Sergio: Le tsar c᾽est moi. L᾽imposture permanente d᾽Ivan le Terrible à Vladimir Poutine. Paris 2015.
Einführung
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Quellen
Im Untersuchungszeitraum beeinflusste nur das Auftreten der samozvancy der Zeit der Wirren und Pugačevs die »große« Geschichte, sodass im Prinzip nur die Quellen zu diesen Fällen für die Wissenschaft so interessant sind, dass sie ediert wurden. Einzelne Ausnahmen bestätigen die Regel, etwa ein kurzer Bericht über den falschen Peter III. Grigorij Rjabov 57 oder die Verhöre des falschen Sohns des Fürsten von Holstein Ivan Andreev.58 Für die Zeit der Wirren sind (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) Berichte ausländischer Reisender59, Chroniken60 und Quellensammlungen zu für die sowjetische Geschichtswissenschaft besonders wichtigen Aspekten wie dem Bolotnikov-Aufstand zu nennen.61 In der Sowjetunion wurden zwar nicht alle, aber doch der Großteil der Dokumente über den Pugačev’schen Aufstand ediert; darunter befinden sich die Verhörprotokolle von Pugačev, seinen engsten Mitstreitern und weiteren SympathisantInnen, die von ihm veröffentlichten Manifeste und in seiner Kanzlei ausgestellten Dokumente.62 57 Putincev, Nikolaj: Samozvanec Rjabov. Ob᾽᾽javlenie ot general-poručika, lejb-gvardii premier-maiora, Sibirskago gubernatora i kavalera Čičerina. In: RA 4 (1902), 59–60. 58 Mnimyj syn Golštinskago princa. Iz děl Tajnoj ėkspedicii. In: Bazunov, A. F˙. (Hg.): Pamjatniki novoj russkoj istorii. Sbornik istoričeskich statej i materialov. Tom III . Sankt- Peterburg 1873, 315–322. 59 A Chronicle of the Carmelites in Persia and the Papal Mission of the XVIIth and XVIIIth centuries. Volume I. London 1939; Dunning, Chester S. L. (Hg.): Jacques Margeret᾽s State of the Russian Empire and Grand Duchy of Muscovy. Ann Arbor, London 1977; Orchard, G. Edward (Hg.): Massa᾽s Short History of the Muscovite Wars. Toronto u. a. 1982; Ders. (Hg.): Journey to Moscow. Beschreibung der moßcouitterischen Rayß, Welche ich Hanns Georg Peyerle von Augspurg mit herrn Andreasen Nathan und Matheo Bernhardt Manlichen dem Jüngern, Ady 19 Marty Ao 1606 von Crachaw aus, angefangen, und was wir wahrhafftiges gehört, gesehen und erfahren, alles aufs khürzest beschriben, bis zue unserer Gott lob wider dahin ankunft den 15 Decembris Anno 1608. Münster 1997; Skazanija Massy i Gerkmana o Smutnom vremeni v Rossii. Sanktpeterburg 1874; Smirnov, I. I. (Red.): Konrad Bussov. Moskovskaja chronika 1584–1613. Moskva, Leningrad 1961; Ustrjalov, A. G. (Hg.): Skazanija sovremennikov o Dimitrii Samozvancě. Čast’ 1 + 2. Tret’e ispravlennoe izdanie Sanktpeterburg 1859. 60 Polnoe sobranie russkich lětopisej. Tom četyrnadcatyj. Pervaja polovina. I. Pověst’ o čestnom žitii carja i velikogo knjazja F˙eodora Ivanoviča vsea Russii. II Novyj lětopisec. Sankt-Peterburg 1910; Polnoe sobranie russkich lětopisej. Tom tridcat’ vtoroj. Chroniki: Litovskaja i Žmojtskaja, i Vychovca. Lětopisi: Barkulabovskaja, Averki i Pancyrnogo. Moskva 1975. 61 Kopanev, A. I. / Man’kov, A. G. (Hg.): Vosstanie I. Bolotnikova. Dokumenty i materialy. Moskva 1959. 62 Golubcov, S. A. (Red.): Pugačevščina. Tom pervyj Iz archiva Pugačeva (manifesty, ukazy, perepiska). Moskva, Leningrad 1926; Ders. (Red.): Pugačevščina. Tom vtoroj Iz sledstvennych materialov i oficial᾽noj perepiski. Moskva, Leningrad 1929; Ders. (Red.): Pugačev ščina. Tom tretij Materialy po istorii revoljucionnogo dviženija v Rossii. Moskva, Leningrad 1931; Martynov, M. (Hg.): Vosstanie Emel’jana Pugačeva. Sbornik dokumentov.
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Grundlagen
Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die wichtigsten Passagen einer großen Anzahl von Akten über samozvanstvo in Paraphrase oder einer Mischung aus Paraphrase und längeren Zitaten publiziert, zum Teil in Zeitschriften, zum Teil in Monografien. Das betrifft innerhalb der hier gewählten geografischen Grenzen – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – den falschen Ivan Ivanovič Ivan Vasil’ev,63 die falschen Aleksei Petroviči Aleksandr Semikov 64 und Ev(s)tifij Artem’ev,65 das bereits erwähnte Duo Truženik und Staro dubcev,66 den falschen Sohn Peters I. Ivan Dirikov,67 die falschen Peter III. Petr Černyšev (mit Verweisen auf Gavrila Kremnev),68 Fedot Bogomolov (alias Kazin),69 Iov Mosjakin,70 Kondratij Selivanov (und andere Skopzen),71 Maksim Chanin,72 Ivan Kolyčev (alias Vasilij Bunin),73 den falschen Sohn Katharinas II. Nikolaj Petrov,74 den falschen Konstantin Pavlovič aus dem Gouvernement Saratov75 sowie die falschen Konstantiny Danila Naumov,76 Konstantin Kalugin77 und starec Avraamij.78 Diese Beiträge sind nützlich für einen ersten
63 64 65
66 67 68 69
70 71 72 73 74 75 76 77 78
Leningrad 1935; Ovčinnikov, R. V. (Red.): Dokumenty stavki E. I. Pugačeva, povstančeskich vlastej i učreždenij 1773–1774 gg. Moskva 1975; Ders. (Red.): Emel’jan Pugačev na sledstvii. Sbornik dokumentov i materialov. Moskva 1997. Zenbickij, P.: Sumasšedšij samozvanec. In: Živaja starina 3/1907, 153–157. Laškevič, S.: Istoričeskoe zamečanie o smertnoj kazni samozvanca, Aleksandra Semikova, vydavavšago sebja za careviča Aleksěja Petroviča. In: ČIOIDR 1/1860, čast᾽ 1, 141–146. L-ev, F.: Iz archivnych děl XVIII stolětija. In: IV 89 (1902), 940–945, hier 940–943; Prokopovič, M. N.: O izvoščikě 1-go grenaderskago bataliona (Nizovago korpusa) Evstifiě Artem’evě, nazvavšemsja carevičem Aleksěem Petrovičem. In: ČIOIDR kn. 1/otd. 5 (1897), 9–14. Esipov, G.: Samozvancy careviči Aleksěj i Petr Petroviči. In: RV 47 (1863), 393–412. Pokrovskij, N. N.: Samozvanyj syn Petra I. In: VI 4/1983, 186–188. Maksimov, S. V.: Sibir’ i katorga. V trech častjach. 3. Aufl. Sankt-Peterburg 1900, 447–461. Dubrovin, N. F.: Pugačev i ego soobščniki. Ėpisod iz istorii carstovanija Imperatricy Ekateriny II . 1773–1774 gg. Po neizdannym istočnikam. Tom I. Sanktpeterburg 1884, 104–131; Mordovcev, D. L.: Samozvancy i ponizovaja vol᾽nica. Tom I. Samozvancy. Sankt-Peterburg, Moskva 1867, 72–97. O. N.: Posobniki i storonniki Pugačeva. Očerki i razskazy. In: RS 17 (1876), 53–74, hier 70–74. Zum Beispiel Livanov, F˙. V.: Raskol’niki i ostrožniki. Očerki i razskazy. 5 Bände, Sanktpeterburg 1872–1875; Mordovcev: Samozvancy, 268–285; Majnov, V. N.: Skopčeskij eresiarch Kondratij Selivanov. Ssylka ego v Spaso-Evf˙imiev monastyr’. In: IV 1 (1880), 755–778. Al’bovskij, Evgenij: Otgolosok Pugačevščiny na Ukrajně. In: RA 11 (1898), 297–308; Šul’gin, I. P.: Ešče těn’ Petra III-go. 1788. In: RA 12/1871, 2055–2065. Judin, P.: Samozvanec XIX-go stolětija. In: RA 4/1898, 615–620. Mordovcev, D. L.: Odin iz Lže-Konstantinov. In: Ders.: Političeskija dviženija russkago naroda. Istoričeskija monografii. Tom II . Sanktpeterburg 1871, 126–179. Vitevskij, Vladimir: Popytka samozvanstva v XIX věkě. In: RA 8/1878, 483–486. Kazochanin, M.: Samozvanec Kalugin. In: IV 136 (1914), 167–173. Borodin, A.: Vokrug legendy o F˙eodorě Kuz᾽mičě. In: IV 147 (1917), 133–139.
Einführung
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Einstieg. Sie ersetzen aber den Gang ins Archiv nicht, weil damit zu rechnen ist, dass sie interessante bzw. für die jeweilige Fragestellung wichtige Details nicht wiedergeben. Die Akten zu samozvanstvo aus dem 17. und 18. Jahrhundert liegen bis auf wenige Ausnahmen im RGADA . Der Großteil ist auf die Fonds 6, 7, 349 und 371 verteilt, welche die Bestände der zentralen Behörden beinhalten, die für die Verfolgung von Majestätsverbrechen zuständig waren: Preobraženskij prikaz, Geheime Kanzlei und Geheime Abteilung (siehe Kapitel 2.1). Die Fonds 6 und 7 wurden in ihrer heutigen Gestalt erst nachträglich zusammengestellt. Einzelne Akten sind auch in anderen Fonds zu finden, etwa 159 (Zusammenstellung von Akten aus dem 17. Jahrhundert) und 210 (Razrjadnyj prikaz, d. h. Zentralamt für das Heeraufgebot). Außerdem existiert Fond 149, der speziell samozvanstvo gewidmet ist. Die darin enthaltenen Akten stammen mehrheitlich aus den Beständen des Posol’skij prikaz (Zentralamt für Gesandtschaftswesen) bzw. des Kollegiums für auswärtige Angelegenheiten und beziehen sich daher auf samozvancy / samozvanki, die außerhalb der jeweiligen Grenzen des Moskauer bzw. Russländischen Reichs auftraten. Sie sind für die vorliegende Monografie von geringem Interesse.
1.3 Hintergründe Samozvanstvo, samozvancy und samozvanki
Dieses Unterkapitel gibt allgemeine Informationen einerseits zu samozvanstvo, andererseits zur politischen Kultur, in die dieses Phänomen eingebettet war. Sie sind zum Verständnis des Hauptteils notwendig, werden aber in diesem nicht eigens behandelt. Manche Aspekte werden hier der Vollständigkeit halber erwähnt, aber nur kurz angerissen, weil sie im Hauptteil ausführlicher thematisiert werden. Wer sich eine fremde Identität aneignet, wird auf Russisch als samozvanec (mask., Pl. samozvancy) oder samozvanka (fem., Pl. samozvanki) bezeichnet. Die Aneignung einer fremden Identität heißt samozvanstvo oder samozvančestvo; in den Quellen sind vereinzelt auch spontane Bildungen wie samozvanie zu finden.79 Außerdem existiert der Begriff samozvanščina. Alle diese Begriffe sind aus dem Präfix sam(o)- ›selbst‹ und dem Verb zvat’ ›nennen, rufen‹ zusammengesetzt.
79 Prokopovič: O izvoščikě, 12.
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Grundlagen
Samozvanščina ist unschwer als analoge Bildung zu Begriffen wie Pugačev ščina, Arakčeevščina oder Ždanovščina erkennbar80 und wie diese (ab-)wertend gemeint. Die einzige Publikation, die sich dieses Begriffs bedient, ist Korolenkos Essay »Sovremennaja samozvanščina«. Die Begriffe samozvanstvo und samozvančestvo sind synonym. Das ist daran erkennbar, dass sich russischsprachige HistorikerInnen lange nicht veranlasst sahen, ihre Entscheidung für einen der Begriffe zu begründen. Insgesamt bevorzugten russischsprachige wie nicht-russischsprachige HistorikerInnen das etwas kürzere samozvanstvo.81 Dann aber behauptete Usenko, samozvanstvo und samozvančestvo müssten sorgfältig unterschieden werden und nur mangelndes Sprachgefühl bzw. mangelnde Genauigkeit habe zu ihrer Gleichsetzung geführt.82 1997 definierte er erstmals die Begriffe samo zvanstvo, samozvanščina und samozvančestvo, bestand aber noch nicht darauf, dass seine Definitionen in jedem Fall anwendbar sein müssten.83 Seit 2004 benutzt er eine apodiktisch formulierte Variante, für die er allgemeine Gültigkeit beansprucht. Deswegen ist es wert, sie vollständig zu zitieren und zu kommentieren: Unter samozvanstvo werden die Gedanken, Gefühle und Handlungen eines konkre ten Menschen verstanden, der beschlossen hat, sich für den Träger eines anderen, neuen Namens und / oder Status auszugeben, die Besonderheiten seiner Selbstwahrnehmung, die inneren Faktoren seines Verhaltens und seiner Selbsteinschätzung. Samozvanstvo beginnt, wenn einem Menschen die Idee kommt, seinen gewöhnlichen Status zu verändern und endet im Moment seiner öffentlichen Selbstenttarnung – des Geständnisses, dass sein echter (gegenwärtiger) Status der frühere, von ihm ›auf gegebene‹ sei. Samozvanščina ist ein sozialpsychologisches Phänomen, das entsteht, wenn es einem Individuum, das in einer neuen Qualität auftritt, gelingt, zumindest einen Menschen auf seine Seite zu ziehen. Dementsprechend hört dieses Phänomen in dem Moment zu existieren auf, in dem sich der letzte Mitstreiter (ein solcher ist im gegebenen Fall eine Person, die mit dem falschen Souverän persönlich oder mittelbar in ständigem Kontakt steht) öffentlich von dem samozvanec lossagt.
80 Pugačevščina meint den von Pugačev angeführten Aufstand, unterstreicht aber das Chaos und die Gewalt dieses Ereignisses. Arakčeevščina meint das strenge und brutale Regiment, das Aleksej Arakčeev ab 1815 in den ihn unterstehenden Militärkolonien einführte. Ždanovščina meint die Kulturpolitik von Andrej Ždanov, die ab 1940 zu einem Kahlschlag in der sowjetischen Kulturlandschaft führte. Die Liste mit derart gebildeten Begriffen ließe sich verlängern. 81 Beispiele für ältere Publikationen, die samozvančestvo bevorzugen sind Sivkov: Samo zvančestvo und Uspenskij: Car’ i samozvanec. 82 Usenko: Izučenie, 12. 83 Ders.: Psichologija social’nogo protesta III, 37 f.
Einführung
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Samozvančestvo ist die dialektische Einheit der zwei oben genannten Phänomene. Dabei ist anzumerken, dass es samozvanščina nicht ohne samozvanstvo geben kann, allerdings samozvanstvo ohne samozvanščina vollkommen möglich ist.84
Das größte Problem mit dieser Begriffsbestimmung besteht darin, dass Usenko sie weder begründet noch belegt; der zitierte Abschnitt enthält auch im Original keine einzige Fußnote. Weder leitet er sie aus dem Gebrauch in älteren Publikationen ab, noch zieht er Wörterbücher heran oder erklärt, wie sich das Infix -če- auf die Bedeutung auswirkt. Merkwürdig mutet auch an, dass sich Usenko zwar bewusst ist, dass russischsprachige Personen samozvanščina instinktiv als abwertend empfinden, er aber ebenfalls ohne jede Begründung darauf besteht, dass der Begriff nicht negativ verstanden werden dürfe.85 Folglich erregten Usenkos Definitionen durchaus Widerspruch. Lukin hält es in der Praxis für schwierig, die Aspekte des Phänomens getrennt zu halten, die Usenko je einem Begriff zuordnet. Er bezeichnet diese Differenzierung sogar wörtlich als künstlich (iskusstvennyj). Lukin ist auch skeptisch, dass die drei verschiedenen Aspekte so zielsicher genau jenem Begriff zugeordnet werden können, den Usenko dafür vorsieht.86 Insgesamt ist Usenkos Begriffsbestimmung als unbegründete Festlegung nicht überzeugend und sprachlich keineswegs zwingend, darum wird hier für die Aneignung einer fremden Identität durchgehend und ausschließlich der Begriff samozvanstvo verwendet. Es ist allerdings festzuhalten, dass Usenkos Definitionen durchaus eine Veränderung im Sprachgebrauch zugunsten von samozvančestvo bewirkten. Veniamin Alekseev und Marina Nečaeva betrachten samozvanstvo, samozvan čestvo und sogar samozvanščina als Synonyme, stellten jedoch schon 2000 fest, dass in der Wissenschaft gegenwärtig samozvančestvo am gebräuchlichsten sei.87 Es ist zu vermuten, dass das auf Usenko zurückgeht, zumal es für seinen Einfluss konkrete Belege gibt. Julija Obuchova erklärte es 2014 im avtoreferat ihrer Kandidatendissertation zu einem wichtigen Ziel, terminologische Klarheit zu schaffen.88 Vor Usenko wäre niemand auf die Idee gekommen, dass überhaupt Klärungsbedarf besteht. Außerdem lehnt Obuchova zwar den Gebrauch von samozvanščina ab, definiert aber samozvanstvo und samozvančestvo exakt so wie von Usenko vorgegeben. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Begriffsbestimmung ist zumindest im avtoreferat nicht erkennbar. 84 Ders.: Monarchičeskoe samozvančestvo, 302 [Hervorhebung im Original]. Wortgleich auch in Ders.: Izučenie, 23 f. 85 Ders.: Psichologija social’nogo protesta III, 38, Fußn. *. 86 Lukin: Narodnye predstavlenija, 109. 87 Alekseev / Nečaeva: Voskresšie Romanovy? I, 5, Fußn. 1. 88 Obuchova, Julija: Fenomen monarchičeskich samozvancev v kontekste Rossijskoj istorii (po materialam XVIII stoletija). Avtoreferat dissertacii. Rostov-na-Donu 2014, 16.
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Grundlagen
Samozvanščina und samozvančestvo scheinen relativ junge Neubildungen zu sein. Der erste (und bis Usenko einzige) Beleg für samozvanščina ist, wie gesagt, Korolenkos Essay von 1896, und die Schöpfung dieses Begriffs ergibt sich aus der polemischen Absicht des Textes. Der älteste mir bekannte Beleg für samozvančestvo ist Sivkovs Aufsatz von 1950. Sollte Sivkov den Begriff tatsächlich geprägt haben, ist kein Grund dafür erkennbar. Samozvanstvo ist von den drei Begriffen der einzige Quellenbegriff, wenngleich er nicht im gesamten Untersuchungszeitraum gebräuchlich war. Im 17. Jahrhundert wurde ein falsches Mitglied der Dynastie üblicherweise als vor bezeichnet. Vor bedeutet heute ›Dieb‹, und konnte auch im 17. Jahrhun dert so verwendet werden. Weitaus häufiger handelte es sich jedoch um den generischen Terminus für ›Bandit‹ oder ›Verbrecher‹. Da die Aneignung einer fremden Identität als Form von Verrat galt (siehe Kapitel 2.1), konnte ein samozvanec auch als izmennik (›Verräter‹) bezeichnet werden, doch das ist eher selten. Seit dem 18. Jahrhundert ist samozvanec bzw. samozvanka gebräuchlich. Der Begriff samozvanec entstand zwischen 1691 und 1714.89 Der falsche Peter I. Terentij Prokof’ev war 1690 noch ein vor,90 der falsche Aleksej Petrovič Andrej Krekšin 1712 schon ein samozvanec.91 Eine genauere Eingrenzung wäre theoretisch mithilfe der Akten über den mutmaßlichen falschen Peter I. Timofej Kobylkin (1697)92 und einen falschen Onkel Peters I. (1708)93 möglich, allerdings sind beide wegen des schlechten Erhaltungszustandes für die Benutzung gesperrt. Das größte Problem mit dem Begriff samozvanstvo ist seine unspezifische Bedeutung.94 Abgesehen davon, dass er, wie gesagt, erst ab dem 18. Jahrhundert gebräuchlich war, verweist er weder auf ein bestimmtes Land, noch auf eine bestimmte Epoche und kann für Fälle von sehr unterschiedlicher Qualität benutzt werden. Er besagt nur, dass sich eine Person für jemanden oder etwas ausgibt, der oder das sie nicht ist. Der erste falsche Dmitrij ist ebenso ein samozvanec wie jemand, der sich im Jahr 2021 als Mitarbeiter einer Hilfsorganisation ausgibt und von Haus zu Haus geht, um Spenden zu sammeln, die in Wahrheit für die eigene Tasche bestimmt sind. Unterschiedlicher könnten 89 Evgenij Anisimov schreibt, der erste Beleg für samozvanec datiere von 1725, aber das ist schlicht falsch (Anisimov, E. V.: Dyba i knut. Političeskij sysk i russkoe obščestvo v XVIII veke. Moskva 1999, 45.). 90 RGADA , f. 159, o. 2/č. 2, d. 4078a, l. 1. 91 RGADA , f. 371, o. 1, d. 788, l. 9 ob. Krekšin trat 1712 auf, wurde aber erst 1715 angezeigt und verhaftet. Aus diesem Jahr stammt auch der Akt. 92 RGADA , f. 371, o. 2/č. 1, d. 482 und 635. Von dem Akt über Kobylkin ist nur der zweite Teil (d. 482) gesperrt, der aber der längere und interessantere ist. 93 RGADA , f. 371, o. 1, d. 491. 94 Samozvančestvo den Vorzug zu geben würde daran nichts ändern.
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diese Beispiele kaum sein, und doch werden sie im Russischen von demselben Begriff abgedeckt. Der Beginn des Phänomens im Moskauer Reich ist entweder mit dem Jahr 1602 anzugeben, in dem der erste falsche Dmitrij vermutlich einen erfolglosen Versuch unternahm, sich für den jüngsten Sohn Ivans IV. auszugeben, oder mit 1603, als er Gehör fand. Der Endpunkt führt auf weitaus größere Schwierigkeiten. Es ist keinesfalls auszuschließen, dass es in der Zukunft noch zu weiteren Fällen von samozvanstvo kommen wird. Analytisch macht es Sinn, 1993 einen provisorischen Schlusspunkt zu setzen. In diesem Jahr änderte Ellen Kailing aus Idaho ihren Namen offiziell in Anastasia Romanow, weil sie sich für eine Tochter der falschen Anastasija Nikolaevna Anna Anderson ausgab (hielt?) und beteiligte sich als Nebenklägerin an einem Prozess in Virginia, der die Verfügungsrechte über eine Gewebeprobe von Anderson klären sollte.95 Kailing war die letzte samozvanka, die sich auf die Ermordung der Familie Nikolaus᾽ II. bezog. Obwohl samozvanstvo mehrere Jahrhunderte lang bestand, existiert dafür keine eigene Periodisierung. Um diesen Zeitraum zu unterteilen, orientierten sich HistorikerInnen bisher entweder an Epochen der »großen« Geschichte wie der Zeit der Wirren, an den Regierungszeiten der echten HerrscherInnen oder auch an den angeeigneten Identitäten, wie es Kirill Čistov machte. Letzteres hat den Nachteil, zu viele Überlappungen zu erzeugen. Die Zeit der falschen Peter III. ist auch die Zeit der falschen Peter II., falschen Ivans VI. und falschen Pauls I., was mehr Verwirrung stiftet als weiterhilft. Zum Teil mag das Fehlen einer eigenen Periodisierung darin begründet sein, dass samozvanstvo nicht von der »großen« Geschichte abgekoppelt war und es falsch wäre, so zu tun, als habe es in einem abgeschlossenen Raum existiert. Zum Teil mag es daran liegen, dass unter den Publikationen zu samozvanstvo Gesamtbetrachtungen die absolute Ausnahme sind. Die Auseinandersetzung mit kurzen und kürzesten Abschnitten befördert sicherlich nicht die Reflexion über das Phänomen als solches. Ob Abschnitte unterschieden werden können und welche das sind, wird im Hauptteil noch ausführlich Thema sein. Im Moskauer und Russländischen Reich gab es signifikant mehr falsche Mitglieder der Dynastie als in anderen Ländern und Epochen. Usenko kommt für das 17. und 18. Jahrhundert auf insgesamt 147 Fälle.96 Als Orientierungswert ist diese Zahl völlig in Ordnung, aber sie sollte wie jede andere konkrete Zahl weder einfach so übernommen, noch als »richtig« verstanden werden. Grundsätzlich ist zum einen der Quellenverlust nicht quantifizierbar, zum anderen ist nicht auszuschließen, dass in den Archiven noch Akten über Fälle 95 Massie: The Romanovs, 210. 96 Usenko: Gendernyj aspekt, 241.
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von samozvanstvo liegen, die bislang niemand zur Kenntnis genommen hat. Usenkos Recherchen belegen eindrucksvoll, dass solche Entdeckungen auch noch im 21. Jahrhundert und in einer so zentralen Institution wie dem RGADA möglich sind. Die Abweichungen in den Zahlen gehen aber hauptsächlich darauf zurück, dass HistorikerInnen, wie gesagt, aus den Fällen eine Auswahl treffen müssen. Da sich die Auswahl am jeweiligen Forschungsinteresse orientiert, gibt es dafür weder allgemein gültige Kriterien, noch eine sich daraus ableitende objektiv richtige Zahl von Fällen. Nicht zuletzt stellt auch die Festlegung solcher Kriterien für die eigene Forschung nicht sicher, dass jeder Fall eindeutig ein- oder ausgeschlossen werden kann. Wie schon in Zusammenhang mit dem Armenier Manuel erwähnt, wurden manchmal Personen als samozvancy / sa mozvanki verhaftet, bei denen zu vermuten ist, dass sie selbst gar nicht die Absicht hatten, sich für ein Mitglied der Dynastie auszugeben. Auch eine verschleppte Untersuchung kann eine Einordnung erschweren. 1722 wurde beispielsweise der Verwalter (upravitel’) von Ilimsk Ivan Litvincov verhaftet, weil er sich »zweiter Kaiser« genannt hatte.97 Die Untersuchung des Vorfalls versandete, bevor sie an den Preobraženskij prikaz weitergegeben werden konnte (möglicherweise auf Betreiben von Litvincov selbst), sodass nicht klar ist, ob er im übertragenen Sinn sprach und seine Position als Lokalpotentat hervorhob oder ob er Peter I. den Kaiserthron streitig machen wollte. Die unbestritten große Fallzahl bedeutet aber nicht, dass samozvanstvo entsprechend große Auswirkungen auf das Zeitgeschehen gehabt hätte. Im Untersuchungszeitraum beeinflussten nur die folgenden samozvancy die »große Geschichte«: Dem ersten falschen Dmitrij gelang es 1605, den Thron des Moskauer Reiches zu besteigen und sein Sturz im folgenden Jahr eröffnete die verheerendste Phase des Bürgerkriegs, der als Zeit der Wirren bekannt ist. Die restlichen samozvancy der Zeit der Wirren trugen dazu bei, den Konflikt räumlich auszudehnen, zeitlich zu verlängern und zu verschärfen (siehe Kapitel 4.1). Der von Emel’jan Pugačev als Peter III. 1773/1774 angeführte Aufstand brachte das Russländische Reich an den Rand des Abgrunds (siehe Kapitel 4.2). Die Zeit der Wirren wie auch der Pugačev’sche Aufstand waren zweifellos einschneidende Ereignisse, die es ohne samozvancy nicht gegeben hätte, aber sie sind nicht repräsentativ für die Auswirkungen von samozvanstvo. Wer sich nicht näher mit dem Thema befasst, findet häufig die Frage am interessantesten, ob samozvancy und samozvanki glaubten, die Person zu sein, für die sie sich ausgaben. Darauf gibt es keine pauschale Antwort, weil es zu viele Fälle mit einer zu großen Bandbreite an Hintergründen waren. Möglich ist nur eine Einschätzung, ob die Mehrheit von ihnen glaubte, die Person zu
97 RGADA , f. 371, o. 1, d. 1484, l. 2.
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sein, für die sie sich ausgaben oder ob die Mehrheit einen bewussten Betrug durchführte. Usenko vertritt erstere Ansicht,98 die sich jedoch nicht belegen lässt. Die Einstufung von samozvancy und samozvanki als wahnsinnig ist für diese Frage nicht aussagekräftig (siehe auch Kapitel 2.1). Die allermeisten samozvancy und samozvanki gaben die Performanz in dem Moment auf, in dem sie verhaftet wurden. Das heißt, entweder sie gestanden alles oder sie bestritten, sich jemals für ein Mitglied der Dynastie ausgegeben zu haben. Im einen wie im anderen Fall distanzierten sie sich umgehend vom vorhergehenden Geschehen. Es ist kaum vorstellbar, dass jemand in der Lage gewesen wäre, das Register erstens so rasch und zweitens in genau dem Moment zu wechseln, in dem es eng wurde, der sich tatsächlich für ein Mitglied der Dynastie hielt. Nur sehr wenige samozvancy und samozvanki beharrten bis zum Abschluss der Untersuchung darauf, dass sie die Wahrheit sagten. Ein Beispiel ist Praskov’ja Seredenko, die sich 1796 für Elena Pavlovna, die zweite Tochter Pauls I., ausgab.99 Doch auch hier ist nicht klar, ob Seredenko tatsächlich glaubte, die Großfürstin zu sein oder ob sie auf eine mildere Strafe hoffte. Nicht auszuschließen, aber auch nicht nachweisbar ist, dass einzelne sa mozvancy und samozvanki zunächst durchaus wussten, dass sie nicht die Person waren, für die sie sich ausgaben, aber im Laufe der Zeit immer mehr mit der persona verschmolzen, bis die Grenzen zwischen der echten und der angeeigneten Identität auch für sie selbst verschwammen. Der erste falsche Dmitrij ist der wahrscheinlichste Kandidat für diese Variante. Mehrere Zeitgenossen meinten, er habe den jüngsten Sohn Ivans IV. so »natürlich« und selbstverständlich verkörpert, dass er davon überzeugt gewesen sein müsse, es tatsächlich zu sein.100 Aber das sagt wahrscheinlich mehr über die Außenwahrnehmung eines möglicherweise überaus begabten Schauspielers aus als über die Selbstwahrnehmung des ersten falschen Dmitrij. Eine psychische Ursache für samozvanstvo ist also nicht ausreichend klar und häufig festzumachen. Dafür findet sich auf einer anderen Ebene ein relevantes Muster: Mehrere samozvancy und auch ein paar samozvanki hatten ihren Namen bereits einmal oder auch häufiger gewechselt, als sie sich für ein Mitglied der Dynastie ausgaben. Sie waren beispielsweise aus der Armee desertiert, aus dem Gefängnis oder von der Zwangsarbeit geflohen, benutzten aus anderen Gründen einen gefälschten Pass oder waren in ein Kloster eingetreten. Insgesamt sind es zu wenige Fälle, um daraus die Ursache für samozvanstvo schlechthin zu machen. Das Muster ist aber auffällig genug, 98 Usenko: Psichologija social’nogo protesta III, 58. 99 Ders.: Gendernyj aspekt, 247. 100 Dunning, Chester S. L.: Russia᾽s First Civil War. The Time of Troubles and the Founding of the Romanov Dynasty. Pennsylvania 2001, 131.
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um die Überlegung anzustellen, dass es der bereits erfolgte Namenswechsel psychologisch erleichtert haben könnte, einen Schritt weiterzugehen und sich für ein Mitglied der Dynastie auszugeben. Usenko berechnete für den Zeitraum 1762–1800, dass samozvancy und samozvanki eher in städtischen Siedlungen (gorod, gorodok, posad, etc.) auftraten, wenn sie der Zentralregion des europäischen Teils des Russländischen Reiches nahe waren, und eher in dörflichen Siedlungen (derevnja, selo, stanica, sloboda, etc.), wenn sie sich an der Peripherie befanden.101 Das deutet darauf hin, dass samozvancy und samozvanki nicht grundsätzlich Land oder Stadt bevorzugten, sondern üblicherweise in jenem Siedlungstyp auftraten, der in der jeweiligen Gegend überwog. Die Berechnungen von Longworth und Usenko für das 18. Jahrhundert ergaben, dass samozvancy und samozvanki insgesamt mehrheitlich an der Peripherie auftraten, insbesondere im Schwarzerdegürtel, in dem die Leibeigenschaft am drückendsten war.102 Dieses Ergebnis ist nicht grundsätzlich in Zweifel zu ziehen. Es gilt aber zu beachten, dass der geografische Zu sammenhang zwischen samozvanstvo und Leibeigenschaft weniger deutlich wird, wenn einzelne Gruppen von samozvancy wie die falschen Peter III. (Kapitel 4.2) oder die falschen Konstantiny Pavloviči (Kapitel 4.3) untersucht werden. Samozvanstvo war nicht auf eine bestimmte Schicht oder Bevölkerungsgruppe beschränkt. Unter den falschen Mitgliedern der Dynastie waren alle vier »Stände« (soslovija) vertreten – Adelige, Geistliche, Bauern und Bäuerinnen sowie StadtbewohnerInnen – sowie ein paar der Gruppen, die nicht in dieses Schema eingefügt waren wie Kosaken, EinhöferInnen und guljaščie ljudi, d. h. Leute ohne festen Wohnsitz. Allerdings waren die zwei privilegierten, (d. h. nicht steuerpflichtigen) soslovija klar in der Minderheit, wobei sich unter den samozvancy und samozvanki sogar noch weniger Angehörige des geistlichen Standes befanden als Adelige. Ein paar samozvancy waren in einem früheren Lebensabschnitt Mönche gewesen (vielleicht der erste falsche Dmitrij, sicher der falsche Aleksej Petrovič Ivan Minickij und der falsche Paul Petrovič Grigorij Zajcev) oder gelten als mögliche Popensöhne bzw. Popen (der zweite und dritte falsche Dmitrij). Doch nur die Nonne Devora gehörte noch dem geistlichen Stand an, als sie sich für die carevna Natal’ja Alekseevna, eine Schwester Peters I., ausgab. Das ist durchaus bemerkenswert, weil Popen als Anhänger eines samozvanec in mehreren Fällen eine gewichtige Rolle spielten, sich also kein grundsätzlicher Widerspruch zwischen dem geistlichen Stand und falschen Mitgliedern der Dynastie ergibt. 101 Usenko: Monarchičeskoe samozvančestvo, 311 f. 102 Longworth: The Pretender Phenomenon, 68 f.; Usenko: Monarchičeskoe samozvančestvo, 312.
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Unter den Angehörigen der beiden nicht-privilegierten (d. h. steuerpflich tigen) soslovija überwogen Bauern und Bäuerinnen klar vor StadtbewohnerInnen, zu denen etwa HändlerInnen und HandwerkerInnen zählten. In größerer Anzahl waren unter den samozvancy auch Einhöfer und Kosaken vertreten. Entsprechend dieser sozialen Verteilung konnten nur sehr wenige samozvancy und samozvanki lesen und schreiben.103 Bis 1918 zeichnete sich samozvanstvo durch ein signifikantes Ungleich gewicht zwischen Männern und Frauen aus. Die erste bekannte samozvanka, die Nonne Devora, trat erst 1717/1718 auf, also mehr als ein Jahrhundert nach dem ersten samozvanec. Usenko berechnete für die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts einen Frauenanteil von fünf Prozent und für die zweite Jahrhunderthälfte von acht Prozent.104 Dieser war im 19. Jahrhundert kaum höher. Aus der bisherigen Forschung ergeben sich dafür zwei Gründe. Erstens dürfte die verstärkte Teilnahme am öffentlichen Leben, die Peter I. den adeligen Frauen verordnete und die gleichzeitige Normalisierung gemischter Gesellschaften zwar die Voraussetzung dafür gewesen sein, dass auch weibliche Mitglieder der Dynastie von der Bevölkerung als eigenständig agierend wahrgenommen wurden und so samozvanki anzogen. Jedoch änderte sich dadurch nichts an der weitverbreiteten Misogynie. Zahlreiche Strafsachen wegen »ungehöriger Worte« legen nahe, dass die breite Bevölkerung den regierenden Kaiserinnen des 18. Jahrhunderts pauschal die Befähigung zu regieren absprach.105 Das schmälerte die Erfolgsaussichten von samozvanki im Vergleich zu samozvancy. Infolgedessen zogen die Kaiserinnen nicht so sehr samozvanki als Doppelgängerinnen ihrer selbst an, sondern samozvancy, die vom Misstrauen gegenüber einer Frau auf dem Thron profitierten. Zur Regierungszeit Anna Ioan novnas und Elizaveta Petrovnas häuften sich die falschen Zaren, Souveräne und Brüder der Kaiserin, die keinen konkreten Namen anführten. Letzteres deutet darauf hin, dass sie ihre Legitimität alleine aus dem biologischen Geschlecht ableiteten.106 Zur Regierungszeit Katharinas II. stand mit Peter III. wieder ein konkretes männliches Vorbild zur Verfügung, das auch häufig für Gerüchte und samozvanstvo herangezogen wurde (siehe Kapitel 4.2). Zweitens stellte Longworth fest, dass die Aneignung einer fremden Identität eine gewisse Mobilität verlangte. Wer sein ganzes Leben in derselben kleinen 103 Longworth: The Pretender Phenomenon, 71. 104 Usenko: Gendernyj aspekt, 247. 105 Rustemeyer, Angela: Dissens und Ehre. Majestätsverbrechen in Russland (1600–1800). Wiesbaden 2006, 322; 323, Fußn. 202. Mangels einer systematischen Analyse der entsprechenden Akten ist allerdings nicht klar, ob dafür alleine das biologische Geschlecht ausschlaggebend war oder ob die Zeitgenossen meinten, eine Frau könne nicht das weltliche Kirchenoberhaupt sein sowie im Kriegsfall den Oberbefehl führen. 106 Ingerflom: Le tsar c’est moi, 300.
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Ortschaft verbrachte, verfügte mit einiger Wahrscheinlichkeit weder über das Wissen, das notwendig war, um als Mitglied der Dynastie glaubwürdig zu erscheinen, noch machte er Erfahrungen, die es erleichtert hätten, überkommene Verhaltens- und Denkmuster zu hinterfragen.107 Dieser Befund ist lediglich dahingehend zu präzisieren, dass nicht unbedingt die Person selbst mobil sein musste, sondern es reichte, wenn sie sich regelmäßig an viel frequentierten Orten wie einem Gasthaus aufhielt. Aber was bedeutete Mobilität im Allgemeinen und speziell auf Frauen bezogen? Das Gesetzbuch Sobornoe Uloženie von 1649 bestätigte nicht nur die Ausbildung der Leibeigenschaft und damit die Schollenbindung eines bedeutenden Teils der Bauern und Bäuerinnen, sondern band auch die Stadtbevölkerung (posadskie ljudi) an ihren Wohnort. 1711 wurde die Ortsbindung auf Mönche und Nonnen ausgedehnt, 1719 auf die weiße Geistlichkeit in den Pfarren.108 Zuletzt führte Peter I. gemeinsam mit der Kopfsteuer ein Inlandspasssystem für alle Bauern und Bäuerinnen ein. Alle Angehörigen der genannten Gruppen mussten in einem Dorf, einer Stadt oder auch einer Fabrik, einem Regiment oder Kloster registriert sein (pripisan) und durften sich prinzipiell nur dort aufhalten. Wer den Aufenthaltsort vorübergehend oder auf Dauer wechseln wollte, brauchte die Erlaubnis einer Behörde, des Grundherren / der Grundherrin (bei Leibeigenen), der Bauerngemeinde (bei freien Bauern und Bäuerinnen), der Stadtgemeinde (bei StädterInnen) oder des Bischofs (bei Angehörigen des geistlichen Standes). Hinter diesem System stand zum einen der Gedanke, dass entflohene Leibeigene sowie Deserteure leichter zu identifizieren wären, falls sich jeder an einem bestimmten Ort aufhalten oder andernfalls die Genehmigung vorweisen können musste, sich von dort zu entfernen. Zum anderen sollte auf diese Weise das Steueraufkommen gesichert werden. Abgaben wurden kollektiv pro Dorf- oder Stadtgemeinde eingehoben, und falls zu viele Mitglieder wegzogen, konnten die Dagebliebenen die erforderliche Summe nicht mehr aufbringen. Formal war die Mobilität von Frauen nicht über die grundsätzliche Ortsbindung hinausgehend eingeschränkt. Frauen und Männer nutzten allerdings die bestehenden Möglichkeiten mobil zu sein unterschiedlich, und bestimmte Berufe, die eine erhöhte Mobilität verlangten oder nach sich zogen standen Frauen tatsächlich nicht offen. Das machte sich bei samozvanstvo insofern bemerkbar, als samozvancy mehrheitlich mit erhöhter Mobilität verbundene Berufe ausübten. Die meisten samozvancy dienten in der Armee. Während im 17. Jahrhundert noch Kosaken überwogen, bildeten ab dem 18. Jahrhundert Offiziere 107 Longworth: The Pretender Phenomenon, 70 f. 108 Mironov, B. N.: Rossijskaja imperija: ot tradicii k modernu. V trech tomach. Tom 2. SanktPeterburg 2015, 18.
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und Soldaten die Mehrheit, und unter diesen wiederum Soldaten. Gemeine Soldaten wechselten von ihrem Wohnort zum Ausbildungsort und später zu ihrem Dienstort. Ihre Aufgaben zogen entweder weitere Ortswechsel nach sich oder brachten sie in Kontakt mit vielen verschiedenen Menschen, etwa durch Wachdienste. Offiziere wurden von einem Dienstort zum anderen versetzt, als Kuriere eingesetzt oder erledigten Aufträge wie die Beschaffung von Pferden. Alles das förderte den Austausch mit einer größeren Anzahl Menschen. Nicht zuletzt waren bis 1814 nahezu alle Militärangehörigen bei Familien einquartiert und nicht in Kasernen untergebracht.109 Das Zusammenleben mit den Einheimischen gestaltete sich nicht immer friktionsfrei, aber so oder so waren die Soldaten in deren Kommunikationsnetzwerke eingebunden. Dazu kommen Deserteure, die zu einem vaganten Leben gezwungen waren, ehe sie irgendwo Unterschlupf fanden. Ein weiterer mobiler Beruf, der des Händlers, war unter den samozvancy kaum vertreten. Unter den samozvancy befanden sich auch vergleichsweise wenige Bauern, was der sowjetischen Deutung von samozvanstvo als Klassenkampf widerspricht, sich aber mit dem Faktor Mobilität gut erklären lässt. Wer vom Ertrag seiner Felder lebt, kann sich den Großteil des Jahres nicht allzu weit und allzu lange von diesen entfernen und muss auch im Winter liegengebliebene Arbeit erledigen und sich schon auf das Frühjahr vorbereiten. Das beschränkt die Kommunikationsmöglichkeiten. Samozvancy bäuerlicher Herkunft dienten daher bei der Armee, waren Läuflinge, Lohnarbeiter, Zauberer oder Dienstboten oder hatten, wie der falsche Sohn Katharinas II. Osip Šurygin, eine Reise unternommen, um sich gegen eine Krankheit behandeln zu lassen. Wie Nada Boškovska für das 17. Jahrhundert ausführlich dargelegt hat, konnten Frauen selbstständig Handel treiben, eine Garküche einrichten oder ein Handwerk ausüben.110 Das 18. Jahrhundert ist in dieser Hinsicht noch gar nicht erforscht, aber die Gegebenheiten können sich nicht wesentlich verändert haben. Jede diese Tätigkeiten ging mit erhöhter Mobilität im Vergleich mit einer auf Haus, Hof und Felder beschränkten Arbeit einher. Allerdings nutzten vergleichsweise wenige Frauen diese Möglichkeiten, weil die Gefahren des Reisens für sie größer waren als für Männer.111 Folglich waren Frauen nicht in jedem Einzelfall, aber doch im Durchschnitt weniger mobil als Männer.112 Das wirkte sich in zweierlei Hinsicht auf die Anzahl von samozvanki aus: Zum einen war es für Frauen schwieriger, das für die Aneignung einer fremden Identität notwendige Wissen zu erwerben, weil ihr Aktionsradius kleiner war. Von den wichtigsten oben angeführten Beschäftigungen der 109 110 111 112
Ebd., 589. Boškovska, Nada: Die russische Frau im 17. Jahrhundert. Köln u. a. 1998, Teil III, 209–296. Ebd., 231. Kivelson, Valerie A.: Male Witches and Gendered Categories in Seventeenth-Century Russia. In: CSSH 45/3 (2003), 606–631, hier 621.
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samozvancy war ihnen das Militär ganz verschlossen. Handwerkerinnen und Händlerinnen bildeten unter Frauen insgesamt nur eine kleine Minderheit, und keine einzige samozvanka war in Handwerk oder Handel tätig. Zum anderen machte es die geringere Mobilität wahrscheinlicher, dass Frauen in ihrem angestammten Umfeld zur samozvanka wurden, während sich samozvancy im Normalfall weit weg von ihrer Heimat befanden.113 Dort, wo sie jeder kannte, war das Risiko ungleich höher, sofort verhaftet zu werden. Dieser Umstand könnte die eine oder andere potenzielle samozvanka davon abgehalten haben, sich eine fremde Identität anzueignen. Hinsichtlich der Religionszugehörigkeit ist mangels gegenteiliger Informationen davon auszugehen, dass die überwiegende Mehrheit der samozvancy und samozvanki orthodox war. Eindeutig zu den Altgläubigen gehörten nur die Nonne Devora, der falsche Aleksej Petrovič Timofej Truženik und der falsche Peter Petrovič Larion Starodubcev. Der falsche Aleksej Petrovič Andrej Cholščevnikov und der falsche Peter II. Iov Evdokimov lebten zwar bei Altgläubigen, aber bei beiden ist nicht klar, wie weit der Prozess der Konversion zum Zeitpunkt ihrer Verhaftung fortgeschritten war. Pugačev wird häufig zu den Altgläubigen gerechnet, weil er als Deserteur in einem altgläubigen Kloster Unterschlupf fand, das achtendige Kreuz die Standarten seiner Truppen zierte und er in seinen Manifesten »Bärte und Kreuze« versprach. Bei den Verhören vermied er allerdings klare Aussagen zu seinem persönlichen Bekenntnis und Verhältnis zu den Altgläubigen, sodass die Frage als offen zu betrachten ist.114 Unter den nicht-orthodoxen samozvancy befanden sich außerdem einzelne Mitglieder heterodoxer Gruppen wie Skopzen und Molokanen sowie Muslime. Von den Vertretern der drei großen Buchreligionen lassen sich lediglich Juden nicht sicher nachweisen.115 In keinem einzigen Fall lässt sich davon sprechen, dass ein von der Orthodoxie abweichendes Glaubensbekenntnis der Auslöser für die Aneignung einer fremden Identität gewesen wäre. Maureen Perrie stellte zwar die Überlegung an, dass die innere Distanzierung von der ursprünglichen Glaubensgemeinschaft jemanden von der Gesellschaft insgesamt entfremdet und so samozvanstvo erleichtert haben könnte.116 Aber abgesehen von der Frage, ob ein solches Szenario für das Moskauer Reich des 17. Jahrhunderts nicht einen 113 Usenko: Monarchičeskoe samozvančestvo, 333. 114 Alexander, John T.: Emperor of the Cossacks. Pugachev and the Frontier Jacquerie of 1773–1775. 2. Aufl. Lawrence / Kansas 1974, 15. 115 Mehrere Quellen behaupten entweder, der zweite falsche Dmitrij sei in eine jüdische Familie geboren worden und später zum Christentum übergetreten oder er habe der heterodoxen Gruppe der Judaisierer angehört (Perrie: Pretenders and Popular Monarchism, 158 f.) Doch es ist nicht sicher, ob es sich um zutreffende Angaben oder um den Versuch handelt, ihn anzuschwärzen. 116 Ebd., 242.
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Anachronismus darstellt, sind die Hinweise für die Zeit der Wirren entgegen Perries Meinung zu dünn. Beim ersten falschen Dmitrij beruht ihre These auf der nicht hinreichend bewiesenen Vermutung, dass er der geflohene Mönch Grigorij Otrep’ev gewesen sei. Selbst wenn es sich um Otrep’ev gehandelt haben sollte, ist nicht sicher, dass seine Flucht aus dem Kloster durch eine »innere Entfremdung« von der Orthodoxie ausgelöst wurde und noch weniger, dass diese Entfremdung später dazu beitrug, dass er sich für den jüngsten Sohn Ivans IV. ausgab. Otrep’evs Entschluss die Mönchskutte abzulegen, sein Naheverhältnis zu Arianismus und Katholizismus können Ursachen gehabt haben, die zum Zeitpunkt seiner Flucht noch gar nicht bestanden. Über den dritten falschen Dmitrij ist zu wenig bekannt, um festzustellen, ob er wirklich der Geistlichkeit angehört hatte und unter welchen Umständen er zum samozva nec wurde. Für den zweiten falschen Dmitrij gilt im Prinzip dasselbe, allerdings ist in seinem Fall irrelevant, ob er eine innere Entfremdung erlebt hatte oder nicht, weil er in diese Rolle gezwungen wurde. Die übrigen bekannten samozvancy der Zeit der Wirren müssen mangels gegenteiliger Informationen als orthodox betrachtet werden. Für andere Epochen ist ein Zusammenhang zwischen Glaubensbekenntnis und samozvanstvo noch weniger in Betracht zu ziehen. Der falsche Peter III. Anton Aslanbekov, der vermutlich Muslim war, kündigte als einziger samo zvanec an, die Religion wechseln zu wollen.117 Doch das war nicht der Grund, warum er sich für Peter III. ausgab und hatte auch wenig mit Entfremdung zu tun. Er meinte lediglich, als Christ wäre er besser gelitten. Herrscherbilder und politische Kultur
In diesem Abschnitt geht es um die Sicht derjenigen auf den Herrscher / die Herrscherin, die samozvancy und samozvanki unterstützten oder Gerüchte über verstorbene Mitglieder der Dynastie erzählten: Bauern und Bäuerinnen, gleich, ob frei oder in einem Abhängigkeitsverhältnis stehend, KosakInnen, Angehörige der regulären Armee, EinhöferInnen sowie, schon in geringerer Anzahl, Kaufleute und Geistliche. Adelige spielen kaum eine Rolle, allerdings ist davon auszugehen, dass im 17. Jahrhundert zwischen den Herrscherbildern der Adeligen und denen der übrigen Bevölkerung keine allzu großen Unterschiede bestanden. Erst die verstärkte Westorientierung des Adels ab der Regierungszeit Peters I. ließ ihn an Texten und Vorstellungen teilhaben, welche den Rest der Bevölkerung nur zeitverzögert und unvollständig erreichten. Das bedeutet allerdings nicht, dass 117 RGADA , f. 349, o. 1/č. 1, d. 7086, l. 5 ob. Aslanbekov sagte von sich selbst, er sei Armenier, aber kein Christ.
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sich die Herrscherbilder verschiedener Schichten ab dem 18. Jahrhundert fundamental voneinander unterschieden hätten oder miteinander nicht vereinbar gewesen wären. Es ist anzunehmen, dass sie sich im Kern oft ähnelten, aber die Mittel des Ausdrucks andere waren. Die folgenden Überlegungen basieren auf dem Quellenkorpus dieser Monografie; andere Quellenbestände mögen zum Teil auf abweichende Schlussfolgerungen führen. Da es sich bei samozvanstvo um ein epochenübergreifendes Phänomen handelt, bildet der Untersuchungszeitraum aus der Perspektive der politischen Geschichte keinen einheitlichen Block. Dessen ungeachtet veränderte sich im Untersuchungszeitraum vieles, was unter das Stichwort politische Kultur fällt, nicht wesentlich, und wo Veränderungen festzustellen sind, weisen sie ihre eigene Dynamik auf, sodass ihre Phasen nicht zwangsläufig mit jenen der politischen Geschichte kongruent sind Im gesamten Untersuchungszeitraum erschien den Untertanen die Macht des Herrschers / der Herrscherin als unbeschränkt. Sie gingen davon aus, er / sie könnte jede Angelegenheit regeln und genösse dabei sämtliche Rechte. Die Handlungsmöglichkeiten des Herrschers / der Herrscherinnen erschienen ihnen groß, und möglicherweise gilt auch der Umkehrschluss, dass zukünftige samozvancy und samozvanki ihre eigene soziale Position nicht nur als einengend und die sich daraus ergebenden Handlungsoptionen als beschränkt, sondern die Einschränkungen geradezu als unüberwindlich empfanden.118 Unter Umständen empfanden sie die Einschränkungen auch als restriktiver als die Untertanen zentral- und westeuropäischer Monarchien, wo falsche Herrscher und Herrschersöhne ja deutlich seltener auftraten. Es verdient jedenfalls Beachtung, dass samozvancy und samozvanki im Normalfall ihre Ziele selbst dann als Mitglieder der Dynastie zu erreichen versuchten, wenn diese gar nichts mit Herrschaft, Legitimität und Ähnlichem zu tun hatten. Der Eindruck unbeschränkter herrscherlicher Befugnisse und Rechte ergab sich wohl nicht zuletzt daraus, dass sich fast alle BewohnerInnen des Reiches räumlich wie sozial in einer großen Distanz zum Hof befanden. Zudem waren im 17. Jahrhundert erhebliche Teile der Bevölkerung nicht direkt der Herrschaft des Zaren unterworfen, sondern einem adeligen Grundherrn oder einer geistlichen Macht wie einem Kloster, einem Bischof oder dem Patriarchen.119 Peter I. bemühte sich, die geistliche Oberherrschaft einzuschränken, aber die Rechte der Grundbesitzer über ihre Leibeigenen blieben auch im 18. Jahrhundert und darüber hinaus bestehen. 118 Diese Feststellung hat nichts mit den Möglichkeiten sozialen Aufstiegs zu tun, die im Moskauer und Russländischen Reich nicht allzu groß, aber vorhanden waren. Stattdessen geht es um die Frage, wie frei sich jemand in seinem Handeln fühlte, dessen primäres Ziel nicht der soziale Aufstieg war, bzw. ein Anliegen hatte, das er nicht jahrelang, bis zum erfolgreichen sozialen Aufstieg, aufschieben konnte. 119 Rustemeyer: Dissens und Ehre, 103–107.
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Die überwiegende Bevölkerungsmehrheit besaß daher keine Möglichkeit, sich selbst ein Bild davon zu machen, wie Entscheidungsfindungsprozesse am Hof in Wahrheit abliefen, wie eine formal unbeschränkte Macht auf informelle Kompromisse angewiesen war und Ähnliches mehr. Deswegen und weil es keine Gewaltenteilung, keine formalen Herrschaftsschranken, keine verbrieften Rechte der Untertanen und Ähnliches gab, konnten die Untertanen kaum einen anderen Schluss ziehen als den, dass die Macht des Herrschers / der Herrscherin unbeschränkt sei.120 Es ist durchaus interessant, dass sich durch das Auftreten eines falschen Mitglieds der Dynastie dem Anschein nach Teile der Bevölkerung begegneten, die in der Realität wenige bis keine Berührungspunkte aufwiesen. Das Massenphänomen waren nicht falsche Adelige, falsche Bischöfe oder Heilige, sondern falsche Mitglieder der Dynastie. Das lässt sich damit erklären, dass das Verhalten adeliger wie geistlicher Grundbesitzer der nicht-privilegierten Bevölkerung wesentlich besser bekannt war als jenes der Angehörigen des Hofs, sodass sie sich von Ersteren kaum Gutes mehr erwarten konnten. Mit Mitgliedern der Dynastie machten die meisten im Unterschied dazu keine persönlichen Erfahrungen, die sich desillusionierend auswirken hätten können. Die Realität gestaltete sich nicht ganz so wie es den meisten Untertanen schien. Zutreffend ist, dass die Macht der Herrscher und Herrscherinnen des Moskauer bzw. Russländischen Reiches im Untersuchungszeitraum formal tatsächlich unbeschränkt war. Bis in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts existierten zwar beratende Körperschaften wie die Duma (bestehend aus den Bojaren, den Duma-Adeligen und den Duma-Sekretären) oder die sobory (bestehend aus dem Zaren, der Duma, Vertretern von Geistlichkeit, Stadtbewohnern und zeitweise freien Bauern), aber diese verfügten weder über schriftlich fixierte Befugnisse, noch über ein Vetorecht gegen Entscheidungen des Zaren. Auch war der Zar nicht an Beschlüsse gebunden, welche die Duma oder ein sobor fällte. Gleichwohl bedeutet das nicht, dass die Zaren und später die Kaiser und Kaiserinnen ganz nach Belieben schalten und walten konnten. Ihnen waren immer dann Beschränkungen auferlegt, wenn bestimmte Traditionen121 bestanden. Waren die Zeitgenossen der Ansicht, etwas sei »immer schon« auf eine bestimmte Art gehandhabt worden oder gewesen, meinten sie, es müsse auch weiterhin so gehandhabt werden oder sein, um rechtens und richtig zu sein. 120 Mironov: Rossijskaja imperija 2, 362; 365. 121 Tradition wird in dem von Edward Shils festgelegten weiten Sinn verstanden. Demnach kann eine Tradition alles sein, was von der Vergangenheit in die Gegenwart überliefert oder auch nur als überliefert betrachtet wird. Dabei kann es sich ebenso um Texte wie um Objekte der materiellen Kultur, um Vorstellungen oder Glaubenssätze handeln (Shils, Edward: Tradition. Chicago 1981, 12–14.).
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Der letzte sobor trat 1683 zusammen und Peter I. schaffte die Duma ab. Boris Mironov meint, dass die breite Bevölkerung im 17. Jahrhundert noch ein Subjekt der Herrschaft gewesen, aber im 18. Jahrhundert zu deren Objekt degradiert worden sei.122 Hinter dieser Ansicht verbirgt sich womöglich eine zu optimistische Einschätzung der Einflussmöglichkeiten und der demokratischen Verfasstheit der sobory, allerdings ist auch festzuhalten, dass es im 18. Jahrhundert mehr samozvancy und samozvanki gab als im 17. Jahrhundert. Das könnte durchaus (auch) mit der Wahrnehmung eines Verlusts an Rechten oder Handlungsoptionen zu tun haben (siehe auch Kapitel 6.2). Demnach waren die Kaiser und Kaiserinnen ab dem 18. Jahrhundert in ihren Entscheidungen noch freier als ihre Vorgänger im 17. Jahrhundert. Allerdings mussten auch sie mit den Adeligen am Hof einen grundsätzlichen Zustand des Konsenses erreichen, den sie nicht zu sehr strapazieren durften, um ihre Herrschaft nicht zu gefährden. Wer, wie Peter III. und Paul I., versuchte, sich über den Adel hinwegzusetzen, bezahlte dafür im Extremfall mit dem Leben. Wer, wie Katharina II., gemeinsam mit dem Adel regierte (oder zumindest den Anschein erwecken konnte, es wäre so), ging hingegen als überaus erfolgreich in die Geschichtsbücher ein.123 Gewisse Beschränkungen ergaben sich auch durch Erwartungen, wie sich der Herrscher / die Herrscherin zu verhalten hatte. Diese folgten im Wesentlichen dem allgemeinen christlichen Tugendkatalog: Der Herrscher / die Herrscherin solle stets die Gebote des Christentums beachten, barmherzig und dem Dienst am Nächsten verschrieben sein. Er / Sie solle kein tyrannisches Verhalten an den Tag legen und Gerechtigkeit üben.124 Das bedeutet jedoch nicht, dass dieses Ideal Härte ausgeschlossen hätte. Wenn jemand auf objektiver Grundlage eine Strafe verdiente, musste sie auch wirklich verhängt werden, damit der Herrscher / die Herrscherin nicht als zu weich und wenig durchsetzungsstark erschien. Eine gänzlich ungerechtfertigte Strafe wäre hingegen als die Laune eines Tyrannen angesehen worden.125 Im Moskauer Reich besaßen die Untertanen das seit dem 16. Jahrhundert belegte Recht, sich mittels Bittschriften direkt an den Herrscher / die Herrscherin als obersten Richter / oberste Richterin und höchste Instanz für Gerechtigkeit zu wenden. Beginnend mit der Regierungszeit von Aleksej Michajlovič wurde dieses Recht immer wieder eingeschränkt und im 18. Jahrhundert zeitweise ganz aufgehoben. Das war Teil der zunehmenden Rationalisierung der Verwaltung und Depersonalisierung von Herrschaft, welche im Gegensatz dazu stand, dass speziell die bäuerliche Bevölkerung dem direkten Kontakt 122 Mironov: Rossijskaja imperija 2, 383. 123 Ostrowski, Donald: The Façade of Legitimacy. Exchange of Power and Authority in Early Modern Russia. In: CSSH 44 (2002), 534–563, hier 554 f. 124 So etwa in Plaggenborg: Pravda, 53 f. 125 Ebd., 307.
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zwischen HerrscherIn und Untertanen auch noch im 18. Jahrhundert große Bedeutung beimaß.126 Samozvancy und samozvanki versprachen, die zunehmende Diskrepanz zwischen dem Ist- und dem Soll-Zustand der Herrschaft zu überwinden und insofern der bessere Herrscher / die bessere Herrscherin zu sein, als sie für ihre »Untertanen« greif- und ansprechbar waren. Die Distanz zum Herrscher / zur Herrscherin wirkte sich bei samozvanstvo also in zweierlei Hinsicht aus: Während die tatsächliche Distanz zwischen Herrscher / Herrscherin und Untertanen wohl einer der Faktoren war, der die Anziehungskraft falscher Mitglieder der Dynastie erklärt, vergrößerte sich diese Anziehungskraft noch einmal durch das Versprechen, die bestehende Distanz aufzuheben. Die Idealisierung des Herrschers / der Herrscherin funktionierte nur aus der Ferne, aber gleichzeitig mussten samozvancy und samozvanki versprechen, die Ferne in Nähe umzuwandeln, um dem so entstandenen Ideal zu entsprechen. Einen deutlichen Niederschlag fand die als ebenso groß wie nachteilig empfundene Distanz zum Herrscher / zur Herrscherin im Stereotyp von den bösen Bojaren (später von den bösen Herren, allgemein von Verrätern am Hof), das sich im 18. Jahrhundert zu einem Gemeinplatz in Klagen über die gegenwärtigen Zustände verwandelte. Den Bojaren wurde nachgesagt, Intrigen zu spinnen, Attentate zu planen, wichtige Informationen vom Herrscher / von der Herrscherin fernzuhalten – kurz, ihnen sei jedes Mittel recht, um die eigene Machtposition zu sichern. Dadurch galten ihre Umtriebe als direkte Ursache der beklagten Distanz. Die »bösen Bojaren« repräsentierten die Schattenseite der Regierung. Was auch immer verkehrt zu laufen schien, konnte ihnen angelastet werden. Das war eine Voraussetzung, um die positive Grundnote der verschiedenen Herrscherbilder aufrechtzuerhalten. Im gesamten Untersuchungszeitraum erfreute sich die Monarchie als solche großer Zustimmung. Bei der nicht-alphabetisierten, von der Verwestlichung verhältnismäßig unberührt gebliebenen Bevölkerungsmehrheit könnte das mit einem Mangel an Alternativen erklärt werden, doch der Befund trifft mit wenigen Ausnahmen auch auf die ab dem 18. Jahrhundert zunehmend verwestlichten Adeligen zu. John Keep hob etwa hervor, dass die Dekabristen zwar planten, einen konkreten Kaiser zu ermorden, im Kern aber Monarchisten gewesen seien.127 126 Dazu siehe Kivelson, Valerie A.: The Devil Stole His Mind. The Tsar and the 1648 Uprising. In: The American Historical Review 98/3 (1993), 733–756. Für Beispiele aus dem 18. Jahrhundert siehe Brewer, Aljona: »Iz poslushaniia Ego Velichestva ne vykhodim, a ostat’sia nesoglasny.« The Perceptions of Law, Justice and a »Just Authority« of Russian Peasants in the Second Half of the Eighteenth Century. In: Cahiers du Monde Russe 53/1 (2012), 1–22, hier 6 f. 127 Keep, John L. H.: Soldiers of the Tsar. Army and Society in Russia 1462–1874. Oxford 1985, 271.
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Damit waren die Dekabristen durchaus typisch für ihre Zeit, denn ab dem Ende des 18. Jahrhunderts lässt sich schichtübergreifend vermehrt die Tendenz beobachten, individuelle HerrscherInnen abzuschreiben, ohne deswegen die Monarchie als solche in Frage zu stellen. Die Meinung, dass ein zukünftiger Herrscher besser sein werde als der gegenwärtige hielt sich hartnäckig. So ist unter anderem erklärbar, warum die durch samozvanstvo zum Ausdruck gebrachte Version der Wirklichkeit einen vergleichsweise geringen Eingriff in die bestehenden Verhältnisse darstellte. In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurden den neu an die Macht gekommenen Romanovy noch Vertreter anderer Dynastien gegenübergestellt, konkret falsche Söhne des ersten falschen Dmitrij und damit Rurikiden, sowie außerhalb des Moskauer Reiches falsche und fiktive Söhne von Vasilij Šujskij. Die Zeit der Wirren lag zu diesem Zeitpunkt noch nicht allzu lange zurück, und die beiden Alternativen waren historisch wie biologisch nicht unrealistisch. Ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurden einander nur mehr Vertreter derselben Dynastie, der Romanovy, gegenübergestellt. Ein vermeintliches Mitglied der Dynastie erschien also als Teil der Lösung und nicht etwa als Teil des Problems, was auf eine durchgehend hohe Akzeptanz der Monarchie im Untersuchungszeitraum hindeutet.128 Darin kommt auch die starke Personalisierung der Monarchie zum Ausdruck, da nicht nur Errungenschaften an einer konkreten Person festgemacht wurden, sondern auch Missstände. War jemand mit Peter I. nicht zufrieden, unterstützte er Aleksej Petrovič. Ließ sich nicht leugnen, dass keineswegs alles zum Besten stand, mussten die Bojaren, die Herren oder sonstige Verräter als Sündenböcke herhalten, aber niemals die Regierungsform, die Organisation des Verwaltungsapparats oder ein anderes strukturelles Merkmal. Auf denselben Befund führen typische Rechtfertigungsstrategien für Ungehorsam. Nicht alle Erhebungen im Moskauer und Russländischen Reich legitimierten sich durch einen Bezug auf den Herrscher / die Herrscherin. Ohne einen solchen kamen unter anderem der Kupfergeldaufstand 1662, der Pestaufstand in Moskau 1771 und nahezu alle der wörtlich unzähligen Bauernunruhen im 18. und 19. Jahrhundert aus. Es gibt aber mehrere Beispiele für Erhebungen, deren Beteiligte behaupteten (sich selbst und anderen einredeten), sie handelten wenn schon nicht mit expliziter Billigung des Herrschers / der Herrscherin, so doch unter Voraussetzungen, dass nicht die Rede davon sein könne, dass sie den Treueschwur ihm / ihr gegenüber verletzten. Ein falsches Mitglied der Dynastie könnte als Unterart dieser Rechtfertigungsstrategie bezeichnet werden, weil seine Anwesenheit den Herrscher / die Herrscherin automatisch illegitim machte und so Ungehorsam rechtfertigte. 128 Auch Lukin meint, dass samozvanstvo weniger für grundsätzlichen Protest gegen die Herrschaftsform stehe als für ein grundsätzlich hohes Ansehen des Monarchen / der Monarchin wie auch der Monarchie (Lukin: Narodnye predstavlenija, 254.).
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1650 kursierten unter Aufständischen in Pskov und Novgorod Gerüchte, denen zufolge sich ein Konflikt zwischen dem Zaren und den Bojaren so zugespitzt hatte, dass Aleksej Michajlovič gar sein Reich verlassen habe und nun von der Rzeczpospolita aus einen Befreiungsschlag plane.129 Somit durften die Aufständischen glauben, im Interesse des Zaren zu handeln und dadurch in Wahrheit gar keine Aufständischen zu sein. Stepan Razin sicherte sich ab, indem er behauptete, der kürzlich verstorbene Thronfolger Aleksej Alekseevič sowie der in Ungnade gefallene ehemalige Patriarch Nikon begleiteten ihn auf zwei Schiffen.130 Jeder Verweis auf Umtriebe der Bojaren und später der »Herren« war ein argumentatorischer Kniff, der es den Unzufriedenen erlaubte, sich zu erheben und dennoch formal dem Herrscher / der Herrscherin treu zu bleiben, bzw. gerade dadurch die eigene Treue unter Beweis zu stellen. »Argumentatorischer Kniff« ist dabei des Pudels Kern, da sich die Frage stellt, inwieweit die gerade angeführten Rechtfertigungen nur geschickt gewählte Phrasen waren, an deren Inhalt niemand wirklich glaubte, und ob überhaupt jemand an die gängigen Herrscherbilder glaubte. Mir scheint, es ist von einem sowohl – als auch auszugehen. Bereits angeführte Punkte wie die hohe Wertschätzung des Rechts, Bittschriften dem Zaren direkt zu übergeben, die Art der Legitimierung von Aufständen oder die Unterstützung für zahlreiche falsche Mitglieder der Dynastie deuten darauf hin, dass es sich nicht nur um Phrasen und rhetorische Konstrukte handelte. Zumindest für einen Teil der Zeitgenossen waren das Überzeugungen und Realitäten. Aber das bedeutet drei Dinge nicht, die aus dieser Position leicht gefolgert werden könnten: Erstens bedeutet es nicht, dass in den Welt- und Herrscherbildern der Zeitgenossen keine Veränderungen stattfanden. Wie bereits angedeutet wurde und in Kapitel 5.2 genauer ausgeführt werden wird, ist davon auszugehen, dass um 1800 der Glaube daran, dass der Herrscher / die Herrscherin zentral sei, um für das Wohlergehen der Untertanen zu sorgen, zunehmend schwand. Zweitens bedeutet es nicht, dass nicht mehrere verschiedene, auch einander widersprechende Standpunkte nebeneinander existieren konnten. Zu einem bestimmten Zeitpunkt gibt es immer mehrere Herrscherbilder,131 und Abweichungen lassen sich nicht nur zwischen verschiedenen Schichten oder sozialen Gruppen feststellen, sondern auch innerhalb einer Schicht oder Gruppe. Um beim gerade angeführten Beispiel zu bleiben, es gibt genügend Hinweise, dass sich um 1800 die Sicht auf den Kaiser / die Kaiserin auf die gerade skizzierte Weise veränderte. Gleichzeitig stammen die eindrucksvollsten Beispiele für eine Sakralisierung des Kaisers, also für eine sehr starke Überhöhung und 129 Perrie: Fugitive Tsars, 581. 130 Čistov: Russkie narodnye social’no-utopičeskie legendy, 81; 84. 131 Weiand, Kerstin: Herrscherbilder und politische Normbildung. Die Darstellung Elisabeths I. im England des 17. Jahrhunderts. Göttingen 2015, 29.
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Verehrung seiner Person, aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert. Bauern und Bäuerinnen verneigten sich vor dessen Bild wie vor einer Ikone und bekreuzigten sich.132 Es ist weder möglich, beides auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, noch, eine der beiden Positionen als Missverständnis oder Konstrukt zu entlarven. Stattdessen handelt es sich offenbar um zwei gleichwertige Möglichkeiten, den Kaiser im 19. und frühen 20. Jahrhundert zu imaginieren, die sich beide aus der vorhergehenden Entwicklung der unterschiedlichen Herrscherbilder ableiten. Deswegen kann auch keines verallgemeinert werden.133 Drittens bedeutet es nicht, dass die Zeitgenossen nicht in der Lage gewesen wären, zu begreifen, wie Herrscherbilder konstruiert wurden und sich das zunutze zu machen oder zu einem bestimmten Sachverhalt je nach Erfordernis unterschiedliche Standpunkte einzunehmen. Um noch einmal zu den Aufständen zurückzukehren, deren Rechtfertigung über angebliche Interessen des Zaren kann beides sein. Rädelsführer mögen eine derartige Argumentation benutzt haben, um die vielleicht sympathisierende, aber passive Masse zu aktiven Handlungen zu verleiten, ohne selbst daran zu glauben. Gleichzeitig mag ein Teil der Aufständischen tatsächlich geglaubt haben, gegen Umtriebe der Bojaren aktiv zu werden und den Zaren zu unterstützen. Was tatsächlich zutrifft, wäre nur für jeden Einzelfall zu entscheiden – allerdings lassen die Quellen das normalerweise nicht zu. Für einen situationsabhängigen Umgang mit Überzeugungen gibt es im Untersuchungszeitraum zahlreiche Beispiele, von denen zwei genannt werden sollen. Im 17. und 18. Jahrhundert und zum Teil darüber hinaus war der Glaube an die tatsächliche Wirksamkeit magischer Praktiken die Regel und nicht die Ausnahme. Das bedeutet aber weder, dass sich unter den Magiern keine bewussten Betrüger befunden hätten, noch, dass die Zeitgenossen in die Fähigkeiten jedes x-beliebigen Zauberers Vertrauen gehabt hätten. Vasilij Šujskij versuchte seine Legitimität unter anderem durch den Nachweis zu erhöhen, dass der echte Dmitrij Ivanovič tatsächlich 1591 gestorben sei. Dazu ließ er den angeblich unverwesten Leichnam des Buben nach Moskau bringen, vor zahlreicher Zeugenschaft Wunder tun und schließlich hastig kanonisieren. Schon die Zeitgenossen vermuteten, dass statt Dmitrij ein vor kurzem eigens zu diesem Zweck getöteter Bub im Sarg lag und die angeblich von ihm geheilten Kranken und körperlich Behinderten ihre Gebrechen nur vorgetäuscht hätten.134 Šujskij und alle anderen Beteiligten manipulierten 132 Figes, Orlando / Kolonitskii, Boris: Interpreting the Russian Revolution. The Language and Symbols of 1917. New Haven, London 1999, 138. 133 Evgenij Trefilov gelangt in einem Aufsatz über das Ansehen von Zar und Monarchie in der Regierungszeit Peters I. zu analogen Ergebnissen (Trefilov, Evgenii: Proof of Sincere Love for the Tsar. Popular Monarchism in the Age of Peter the Great. In: K 18/3 (2017), 461–486, hier 486.). Ich danke Angela Rustemeyer für diesen Literaturhinweis. 134 Dunning: Russia’s First Civil War, 247 f.
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jedes Detail der angeblich wundersamen Vorgänge und müssen sich dessen vollauf bewusst gewesen sein. Dennoch können sie prinzipiell davon überzeugt gewesen sein, dass Heilige an ihren nicht verwesenden und wundertätigen Leichnamen zu erkennen seien. Beide Beispiele zeigen, dass die Zeitgenossen in der Lage waren, das Allgemeine vom Speziellen zu trennen. Ähnliche Konstellationen ergaben sich auch bei samozvanstvo. Wer einem vermeintlichen Mitglied der Dynastie begegnete, erwartete, dass es sich auf eine bestimmte Art verhielt und ein bestimmtes Aussehen hatte, um es als echt zu akzeptieren. Diese Erwartungen beruhten auf Überzeugungen der Zeitge nossen, die dann reale Auswirkungen hatten, wenn an ihrer Nichterfüllung die Performanz eines samozvanec oder einer samozvanka scheiterte (genauer dazu siehe Kapitel 5.3). Wer allerdings Interesse daran hatte, dass die Performanz erfolgreich war, musste mit den eigenen Überzeugungen und darauf basierenden Erwartungen pragmatisch umgehen können. Jemand mochte zum Beispiel davon überzeugt sein, dass Mitglieder der Dynastie an bestimmten Zeichen an ihrem Körper erkennbar seien, aber dennoch einen samozvanec akzeptieren, der diese Zeichen offensichtlich vortäuschte (genauer siehe Kapitel 5.2). Zuletzt ist anzumerken, dass ich das pragmatische Moment am Handeln falscher Mitglieder der Dynastie wie auch ihrer AnhängerInnen stärker hervorhebe als den Einfluss von Überzeugungen, obwohl ich Letzteren keineswegs bestreite. Das hat drei Gründe: Erstens gibt der Performanzbegriff diese Ausrichtung vor. Jede Performanz ist aus zahlreichen Einzelbestandteilen zusammengesetzt, die so kombiniert werden, dass sie den Interessen der Ausführenden bestmöglich dienen (dazu siehe Kapitel 5). Das hat grundsätzlich wenig mit Überzeugung zu tun. Zweitens ist Überzeugung in den Quellen viel weniger sichtbar als pragmatisches Handeln. Wieder aus dem Performanzbegriff heraus lässt sich in vielen Fällen sehr gut zeigen, warum sich ein samozvanec oder eine samozvanka auf eine bestimmte Weise verhielt. Aber es gibt kein Instrumentarium, um festzustellen, wann sie nicht (nur) den Spielregeln der Performanz folgten, sondern (auch) in Hinblick auf ihre Ziele aufrichtig waren. Drittens ist es wichtig, diesen Aspekt hervorzuheben, um der alten Vorstellung entgegenzuwirken, die Bevölkerung des Moskauer Reiches sei naiv und gänzlich in ihrem Weltbild gefangen gewesen, sie hätte ihre Welt gar nicht verstanden. Auf manche mag das zutreffen, aber nicht auf alle. Zweifellos sahen und verstanden die Zeitgenossen die sie umgebende Welt anders als wir das heute tun. Zweifellos hatten die meisten Personen, um die es hier geht, wenig bis gar keine formale Bildung aufzuweisen. Zweifellos wussten sie vieles nicht, was für uns selbstverständlich ist. Aber unter diesen abweichenden Voraussetzungen waren sie durchaus in der Lage pragmatisch, situationselastisch oder gewieft vorzugehen.
2. Quellenkritische und theoretische Grundlagen
2.1 Majestätsverbrechen1, ihre Untersuchung und Ahndung Im gesamten Untersuchungszeitraum war es ebenso strafbar, sich eine fremde Identität anzueignen wie Gerüchte über ein Mitglied der Dynastie zu erzählen. Beides gehörte in die Kategorie der besonders schwerwiegenden Majestätsverbrechen. Folglich entstand ein wesentlicher Teil des Quellenkorpus dieser Monografie durch die Untersuchung von Straftaten. Das macht es notwendig, einen Überblick über die Einordnung der beiden Delikte, die zuständigen Behörden, den Ablauf der Untersuchung und Besonderheiten im quellenkritischen Umgang mit den Akten zu geben. Im Moskauer Reich bildeten Majestätsverbrechen erstmals in dem 1649 erlassenen Gesetzbuch Sobornoe Uloženie eine eigene Kategorie. Die Aneignung einer fremden Identität scheint darin nicht als gesondertes Delikt auf, sondern wurde als Form von Verrat aufgefasst,2 während das Erzählen von Gerüchten in den Bereich von Slovo i delo fiel. Beide Delikte werden weiter unten ausführlicher beschrieben. Die Bestimmungen des Uloženie blieben grundsätzlich im gesamten Untersuchungszeitraum gültig, wurden aber im Laufe der Zeit auf der einen Seite ergänzt und auf der anderen nicht mehr vollständig angewandt. Beispielsweise stand auf Verrat die Todesstrafe, jedoch ging im 18. Jahrhundert die Zahl der Todesurteile generell zurück,3 sodass auch nicht alle samozvancy und samozvanki hingerichtet wurden. Dass Majestätsverbrechen erst 1649 als eigene Kategorie definiert wurden bedeutet nicht, dass die hier interessierenden zwei Delikte in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts auf eine vom Uloženie abweichende Weise oder auch gar nicht geahndet worden wären. Gerüchte und andere Äußerungen über
1 Ich folge Angela Rustemeyer darin, dass der Begriff Majestätsverbrechen den Gegebenheiten im Untersuchungszeitraum besser entspricht als der Begriff politisches Verbrechen (Rustemeyer: Dissens und Ehre, 61.). 2 Anisimov: Dyba i knut, 43. 3 Kollmann, Nancy Shields: Crime and Punishment in Early Modern Russia. Cambridge 2012, 422. Zur Einschränkung und zeitweisen Abschaffung der Todesstrafe unter Elizaveta Petrovna siehe Bryner, Cyril: The Issue of Capital Punishment in the Reign of Elizabeth Petrovna. In: The Russian Review 49 (1990), 389–416.
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Mitglieder der Dynastie zu erzählen war auch schon vor 1649 strafbar,4 und für die samozvancy der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts war wie für ihre »Nachfolger« die Todesstrafe vorgesehen. Dabei machte es keinen Unterschied, ob ein samozvanec mit einem Bezug zum Moskauer Reich außerhalb davon auftrat, oder ob ein samozvanec ohne Bezug zum Moskauer Reich auf dessen Gebiet verhaftet wurde. Wurden Moskauer Behörden seiner habhaft, wurde er hingerichtet.5 Für die Ahndung von samozvanstvo waren die ersten beiden Punkte des zweiten Kapitels des Uloženie relevant. Sie behandeln zwei verschiedene Delikte, allerdings waren die Zeitgenossen der Ansicht, dass eine Tat, die einen der beiden Punkte betraf, mit großer Wahrscheinlichkeit auch etwas mit dem anderen zu tun hatte. Ab der Regierungszeit Peters I. wurde es daher üblich, undifferenziert von einem Vergehen »gemäß den ersten zwei Punkten« (po pervym dvum punktam) zu sprechen. Der erste Punkt des Uloženie betraf Verbrechen gegen die Person des Zaren, zu denen auch Delikte zählten, die sich nach heutigem Verständnis gegen den Staat richten. Dazu gehörten Anschläge auf das Leben des Zaren bzw. das seiner Familie einschließlich der Anwendung von Magie, Verschwörungen mit dem Ziel eines Umsturzes sowie der Bereich des Slovo i delo gosudarevy (Wort und Angelegenheit des Souveräns), meist als Slovo i delo (Wort und Angelegenheit) abgekürzt. Unter Slovo i delo fielen zum einen alle Äußerungen über den Herrscher / die Herrscherin oder ein anderes Mitglied der Dynastie sowie über politische Entscheidungen, denn diese Themen wurden als dem Herrscher / der Herrscherin vorbehalten betrachtet. Verstöße gegen dieses Sprechverbot wurden auch als ungehörige oder dreiste Worte, ungehörige oder dreiste Reden (nepristojnye oder derzkie slova, nepristojnye oder derzkie reči) bezeichnet. Für die Strafwürdigkeit war es irrelevant, ob und inwieweit solche Äußerungen als kritisch oder gar aufrührerisch einzustufen waren. Auch die neutrale Erzählung von Fakten über frühere Regierungszeiten und sogar Lob konnten jemanden in Schwierigkeiten bringen6 ‒ allerdings sind das Extrembeispiele und nicht der Normalfall. Zum anderen fielen unter Slovo i delo Informationen, die nach Ansicht der Zeitgenossen dem Herrscher / der Herrscherin unbedingt zur Kenntnis gebracht werden mussten. Deren Bandbreite war sehr groß; sie reichte von Hinweisen, wo und wie ein vergrabener Schatz zu finden sei über die Denunziation von Falschmünzern bis hin zum Aufdecken von Verschwörungen. 4 Für Beispiele aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts siehe Novombergskij: Slovo i delo gosudarevy. 5 Für Beispiele siehe Usenko: Novye dannye. 6 Anisimov: Dyba i knut, 61.
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Peter III. schaffte die Formel Slovo i delo 1762 ab, doch »ungehörige Worte« blieben strafbar. Samozvancy und samozvanki wurden üblicherweise unter Berufung auf Slovo i delo angezeigt, die Aneignung einer fremden Identität als Delikt galt aber, wie gesagt, als Form von Verrat und fiel daher unter den zweiten Punkt des Uloženie. Darin wurde als Verrat bewertet, im Krieg Kontakt mit der gegnerischen Armee aufzunehmen oder eine Festung zu übergeben, das Moskauer Reich aus eigenem Antrieb zu verlassen sowie jede Art von Verschwörung (zagovor), Zusammenrottung (skop) oder Aufruhr (bunt) gegen den Zaren anzuzetteln. Jede größere Menschenansammlung galt als verdächtig, falls sie keinem unmittelbar ersichtlichen und von der Obrigkeit gebilligten Zweck diente.7 Sämtliche dieser Vergehen waren gleichbedeutend damit, das Untertanenverhältnis zu verletzen oder ganz aufzukündigen;8 die Einordnung von samozvanstvo in diese Kategorie ist also durchaus nachvollziehbar. Peter I. verschärfte die Bestimmungen des Uloženie. Für Majestätsverbrechen sah er härtere Strafen vor, außerdem machte er deren Anzeige verpflichtend.9 Wer eine Anzeige verabsäumte, machte sich genauso strafbar wie jemand, der selbst ein Verbrechen begangen hatte. Nicht-DenunziantInnen konnten im Nachhinein ausgeforscht und zur Rechenschaft gezogen werden.10 Selbst Geistliche waren davon nicht ausgenommen. 1722 bestimmte der Synod auf Peters Geheiß, dass Priester das Beichtgeheimnis brechen müssten, falls sie von einem Majestätsverbrechen erfuhren. Diese Bestimmung blieb unter Peters NachfolgerInnen aufrecht.11 Unter Peter I. entstanden auch erstmals Institutionen, die speziell mit der Untersuchung von Majestätsverbrechen befasst waren. Zuvor hatte jene Behörde die Untersuchung durchgeführt, die auch bei weniger schwerwiegenden Vergehen zuständig gewesen wäre. Das konnte beispielsweise das Zentralamt für die jeweilige Region sein, der Razrjadnyj prikaz oder bei Fällen im Ausland der Posol’skij prikaz.12 1695 fasste Peter I. mehrere Behörden, die er für die Verwaltung des Pre obraženskoe-Regiments eingerichtet hatte, zum Preobraženskij prikaz zusammen. Das neue Zentralamt sollte zusätzlich zu den früheren Aufgaben die öffentliche Ordnung in der Stadt Moskau aufrechterhalten. Ab 1697 war es für die Untersuchung von Majestätsverbrechen im gesamten Reich zuständig.13 7 8 9 10 11 12 13
Ebd., 38. Ebd., 29 f. Ebd., 150. Ebd., 175; 345. Ebd., 180. Kollmann: Crime and Punishment, 334. Golikova, N. B.: Političeskie processy pri Petre I. Po materialam Preobraženskogo prikaza. Moskva 1957, 9 f.; 12; 14.
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1722 wurde der Preobraženskij prikaz in Preobraženskaja kanceljarija umbenannt und 1729 aufgelöst.14 1718 gründete Peter I. in der neuen Hauptstadt St. Petersburg die Kanzlei für geheime Inquisitionsfälle (Kanceljarija tajnych rozysknych del), kurz Geheime Kanzlei (Tajnaja kanceljarija) genannt. Sie sollte nur die Untersuchung gegen den carevič Aleksej Petrovič durchführen, übernahm aber auch andere Fälle von Majestätsverbrechen und bestand letztendlich bis 1726.15 Nach der Auflösung der Preobraženskaja kanceljarija gab es für zwei Jahre keine Institution, die speziell für die Untersuchung von Majestätsverbrechen zuständig gewesen wäre. 1731 gründete Anna Ioannovna eine neue Geheime Kanzlei, die jedoch die Nachfolgeinstitution des Preobraženskij prikaz war und dessen Räumlichkeiten in Moskau übernahm.16 Peter III. löste die Geheime Kanzlei 1762 auf, richtete aber gleichzeitig die Geheime Abteilung (Tajnaja ėkspedicija) des Senats ein, deren Existenz Katharina II. bestätigte.17 Alexander I. löste die Geheime Abteilung 1801 auf. Vor dem Hintergrund der Napoleonischen Kriege und später der zunehmenden Aktivität der Geheimgesellschaften versuchte Alexander I. ab 1805, eine moderne Geheimpolizei aufzubauen, die auf mehrere Komitees sowie das Polizeiministerium aufgeteilt war.18 In der Forschung herrscht allerdings Konsens, dass die Effektivität dieser Strukturen sehr zu wünschen übrig ließ.19 Nach dem Aufstand der Dekabristen richtete Nikolaus I. 1826 die Dritte Abteilung seiner persönlichen Kanzlei (Tret’e otdelenie Sobstvennoj Ego Veličestva Kanceljarii) ein, kurz Dritte Abteilung genannt. Die Dritte Abteilung war unmittelbar dem Kaiser unterstellt und die erste funktionsfähige Geheimpolizei des Russländischen Reiches. Als solche unterschied sich ihre Arbeit in vielerlei Hinsicht von den Behörden für die Verfolgung von Majestätsverbrechen des 17. und 18. Jahrhunderts. Neu war unter anderem, dass die Dritte Abteilung professionelle Agenten und Spitzel beschäftigte anstatt sich rein auf Anzeigen aus der Bevölkerung zu verlassen, proaktiv die öffentliche Meinung überwachte und Außenstellen in anderen europäischen Ländern einrichtete. Sie wurde 1880 wegen nachlassender Effektivität aufgelöst.
14 Anisimov: Dyba i knut, 107. 15 Ebd., 111. 16 Ebd., 112. Unter Peter II . wurde die Hauptstadt 1728 wieder nach Moskau verlegt, Anna Ioannovna verlegte sie 1732 zurück nach St. Petersburg. 17 Ebd., 123 f. 18 Sevast’ janov, F. L.: Gosudarstvennaja bezopasnost’ est’ predmet uvažitel’nyj. Političeskij rozysk i kontrol’ v Rossii ot Pavla I do Nikolaja I. Sankt-Peterburg 2016, 142; 192. 19 Ebd., 149.
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Der Ablauf der Untersuchung
Majestätsverbrechen wurden im Inquisitionsverfahren (sysk, rozysk) untersucht.20 Das Prinzip der Unschuldsvermutung war im Untersuchungszeitraum unbekannt. Stattdessen galt eine angezeigte Person grundsätzlich als schuldig,21 und musste eine allfällige Unschuld selbst nachweisen. Letzteres war durch die Auswahl der ZeugInnen und eine stets gleichbleibende, in sich schlüssige Darstellung der Ereignisse möglich.22 Die Aufgabe der Untersuchungsbeamten bestand darin, das Vorgefallene in allen Details zu klären, sämtliche MittäterInnen bzw. MitwisserInnen auszuforschen und ein Geständnis zu erlangen.23 Bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde das bloße Geständnis als ausreichend betrachtet, um jemandes Schuld zweifelsfrei zu belegen und war zudem unabdingbar, um eine Untersuchung abzuschließen. Wie in Westeuropa galt Schmerz im Moskauer und Russländischen Reich als probates Mittel, um zur »Wahrheit« vorzudringen, sodass Folter bei den schwersten Verbrechen ein regulärer und wichtiger Bestandteil der Untersuchung war.24 Die ausgeklügelten Marterwerkzeuge aus zentral- und westeuropäischen Folterkammern waren im Moskauer und Russländischen Reich praktisch unbekannt. Folter bedeutete in erster Linie Auspeitschung, wobei die Schmerzen dadurch vergrößert werden konnten, dass der / die Verhörte an den Armen an einer als dyba bezeichneten Konstruktion aufgehängt wurde. Nur in Ausnahmefällen wurde zusätzlich mit Feuer gefoltert.25 Bevor jemand tatsächlich gefoltert wurde, wurden die Instrumente als psychologisches Druckmittel verwendet und den Beschuldigten nur gezeigt. Das Verhör fand dann u dyby oder u pytki (wörtl. ›bei der dyba‹ bzw. ›bei der Folter‹) statt.26 Die tatsächliche Anwendung der Folter wurde als Verhör s dyby, Verhör s pytki (wörtl. Verhör ›von der dyba‹ oder ›von der Folter‹) oder als Verhör »mit Eifer« (s pristrastiem) umschrieben. In den Akten findet sich aber auch der direkte Vermerk, jemand sei kräftig gefoltert (krepko napytan(a)) worden. Kollmann: Crime and Punishment, 117. Anisimov: Dyba i knut, 315; 330. Ebd., 330; 341; 345. Ebd., 315. Ebd., 95 f.; Kivelson, Valerie: Desperate Magic. The Moral Economy of Witchcraft in Seventeenth-Century Russia. Ithaca / New York 2013, 201; 204. Valerie Kivelson zufolge hatte die Einschätzung von Schmerz als Weg zur Wahrheitsfindung allerdings unterschiedliche Ursprünge. In Westeuropa lässt sie sich auf die Schriften des Kirchenvaters Augustinus zurückführen, der Menschen als grundsätzlich verstockt betrachtete. Im Moskauer und Russländische Reich spiegelte sich darin die breitere Tendenz, abstrakte Konzepte wie Wahrheit zu personifizieren oder zu verkörperlichen (Ebd., 214; 216.). 25 Kollmann: Crime and Punishment, 133. 26 Anisimov: Dyba i knut, 391. 20 21 22 23 24
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Die Anwendung der Folter sollte das Geständnis rascher herbeiführen. Sie wurde angeordnet, falls jemand »verstockt« wurde (zapirat’sja, wörtl. ›sich selbst einschließen‹), d. h., nicht gestand und womöglich jegliche Aussage verweigerte. Außerdem diente sie dazu, noch unbekannte Details der Geschehnisse zu Tage zu fördern. In Untersuchungsakten aus der Regierungszeit Peters I. findet sich am Ende eines Verhörs sehr oft die Angabe, wie viele Hiebe mit der Knute der / die Befragte bekommen hatte. Erst unter Katharina II. verbreitete sich die Ansicht, dass ein Geständnis alleine nicht reiche, um zu einem Urteil zu gelangen, sondern auch die Umstände des Vorgefallenen berücksichtigt werden müssten. Außerdem schaffte die Kaiserin die Folter als äußerst unzuverlässiges Mittel zur Wahrheitsfindung 1774 ab.27 Allerdings veröffentlichte sie den Erlass nicht, damit Untersuchungsbeamten nicht auf die möglicherweise abschreckende Wirkung der Folter verzichten mussten. Dementsprechend lückenhaft wurde er befolgt.28 Alexander I. schaffte die Folter 1801 erneut ab und veröffentlichte auch den Ukaz, aber sie wurde dennoch (mindestens) bis zu den Großen Reformen angewandt.29 Die Person, die eine Anzeige machte, wurde ebenso verhaftet wie der / die Beschuldigte und sämtliche ZeugInnen, allerdings freigelassen, sobald feststand, dass ihre Angaben stichhaltig waren. Alle Verhafteten waren unabhängig von ihrer Rolle in der Untersuchung den gleichen Haftbedingungen unterworfen; sie konnten gefoltert und für Falschaussagen bestraft werden.30 Diese Maßnahme lässt sich als Druckmittel auffassen, um den Gang der Untersuchung zu beschleunigen. Grundsätzlich sollte auf diese Weise aber nur sichergestellt werden, dass alle für eine Untersuchung relevanten Personen auch tatsächlich greifbar waren. Wer sich aus welchen Gründen auch immer den Behörden entziehen wollte, brauchte nur den Wohnort zu verlassen. Danach war es sehr schwierig, eine Person ausfindig zu machen, sodass die Verhaftung aller Beteiligten den einzig wirksamen Schutz dagegen bildete. Diese Vorkehrung zu treffen war nicht zuletzt deswegen erforderlich, weil ohnehin relativ viele Untersuchungen aus unterschiedlichen Gründen nicht abgeschlossen werden konnten.31 Bei der Untersuchung wurde zuerst der / die Beschuldigte befragt, danach alle ZeugInnen. An die Verhöre schloss sich die Gegenüberstellung (očnaja 27 Kivelson zufolge waren sich bereits die Untersuchungsbeamten des 17. Jahrhunderts dieses Umstandes bewusst (Kivelson: Desperate Magic, 206.). Katharina II . war aber die Erste, die daraus rechtliche Konsequenzen zog. 28 Anisimov: Dyba i knut, 444 f. 29 Ebd., 397. 30 Ebd., 317; 345. 31 Kollmann: Crime and Punishment, 122. Im Gegensatz dazu betont Kivelson, dass das Moskauer Reich überaus effizient dabei gewesen sei, abgängige Personen aufzuspüren (Kivelson: Desperate Magic, 173.).
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stavka) an, die widersprüchliche Angaben klären sollte. Die Gegenüberstellung war ein Moment großen psychologischen Drucks, was daran erkennbar ist, dass häufig ganz neue Versionen des Geschehens auftauchten. Das bedeutet jedoch nicht, dass in der Gegenüberstellung stets die endgültige Version präsentiert worden wäre. Zudem war ein Patt ebenfalls häufig. Beide Seiten blieben bei ihren Angaben, sodass es Aussage gegen Aussage stand. Falls nach der Gegenüberstellung ein Geständnis vorlag und der Ablauf der Ereignisse geklärt war, wurde die Untersuchung beendet. War das nicht der Fall, begann die nächste Runde an Verhören. Häufig kamen neue Elemente hinzu – die Befragung ging mehr ins Detail, im ersten Durchgang neu benannte ZeugInnen wurden erstmals befragt, Folter wurde angeordnet – allerdings wurden die Durchgänge inhaltlich sehr bald repetitiv. Untersuchungsakten als Quelle
Aus dem Konvolut der Untersuchungsakten über samozvanstvo sind die Aufzeichnungen der Verhöre und die daraus zusammengestellten Auszüge (ėkstrakt) am interessantesten. Die Verhöre wurden nicht als wortwörtliche Wiedergabe von Frage und Antwort protokolliert, sondern in indirekter Rede paraphrasiert.32 Eingriffe des jeweiligen Schreibers sind relativ einfach zu erkennen, falls das Gesagte an geltende Sprachregelungen angepasst wurde. Beispielsweise musste Pugačev auch dann als Bösewicht (zlodej) bezeichnet werden, wenn die verhörte Person eine positive Einstellung zu ihm erkennen ließ, sodass sich ein gewisser Widerspruch zwischen der Wortwahl und der Tendenz der Aussage ergab. Eingriffe in den eigentlichen Inhalt der Aussage sind nicht auszuschließen, können aber im ins Reine geschriebenen Text nicht mehr identifiziert werden. Beim Umgang mit den Untersuchungsakten als Quelle ist zudem zu berücksichtigen, dass die Angeklagten bemüht waren, die eigene Schuld zu leugnen oder jedenfalls so geringfügig wie möglich aussehen zu lassen, weil sie, wie erwähnt, a priori als schuldig galten. Das führt dazu, dass die Motive und Hintergründe für ein bestimmtes Vorgehen oft verzerrt dargestellt oder ganz verschwiegen wurden. Mitunter ist erkennbar, dass die Angaben nicht wahr sein können, aber falls der / die Angeklagte bei dieser Version blieb, ist es nicht möglich, herauszufinden, was sich stattdessen zutrug. Um die Verhöre richtig einzuordnen ist es unerlässlich, die gängigsten Verteidigungsstrategien33, deren Ursachen und Auswirkungen zu kennen. Die jeweils angeführten typischen Ausdrücke stammen aus der Behördensprache. 32 Anisimov: Dyba i knut, 335. 33 Für eine anders gegliederte Übersicht von Verteidigungsstrategien siehe Ebd., 459–464.
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– Die Behauptung, ganz alleine gehandelt zu haben. Sehr häufig versuchten die Beschuldigten, sich als isolierte Insel darzustellen. Das bedeutet zum Beispiel, jemand bestritt, ein Gerücht von jemand anderem gehört zu haben, und wollte es sich ganz alleine ausgedacht haben. Auf den ersten Blick wirkt dieses Vorgehen unlogisch, da etwas alleine getan zu haben bedeutet, auch ganz alleine die Verantwortung dafür zu tragen. Allerdings sollte die Behauptung vor dem Verdacht schützen, an »Zusammenrottung und Verschwörung« (skop i zagovor) beteiligt gewesen zu sein. Ein Gerücht selbst erfunden zu haben zog etwa eine Anklage wegen ungehöriger Worte nach sich, nicht aber wegen Verschwörung, was den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen konnte. Durch diese Verteidigungsstrategie gingen an sich vorhandene Information darüber verloren, wo jemand ein Gerücht gehört hatte, wie es zustande gekommen war und sich im Prozess der Weitergabe verändert hatte. Nicht immer ist klar, wann das so war und wann jemand tatsächlich als isolierte Insel agiert und zum Beispiel einen Traum nacherzählt hatte. Wenn aber die inhaltliche Überstimmung mit anderen fixierten Gerüchten so groß ist wie in den Beispielen in Kapitel 3.2 und 4.2, liegt es auf der Hand, dass sich hier jemand keineswegs etwas ausgedacht, sondern Gehörtes aufgegriffen hatte. Wann, wo, von wem und wie viel muss offen bleiben. – Geistige Unbedarftheit bzw. Fehleinschätzung der Situation Geradezu ein Leitmotiv der Verhöre ist, dass jemand etwas »einfach so« (sprosta), »ohne böse Absicht« (bez zlogo umyslja), aus der »eigenen Schlichtheit« heraus (po prostote svoej) getan, geglaubt oder gesagt habe. Zum Teil ist die Motivation dieselbe wie bei der ersten Verteidigungsstrategie. Wer etwas einfach so, ohne größere Überlegung getan hatte, konnte nicht an einer Verschwörung beteiligt gewesen sein. Solche Behauptungen lassen sich im Einzelfall nicht dekonstruieren, aber da sie derart häufig vorkommen, ist davon auszugehen, dass es sich mehrheitlich um eine bloße Ausflucht handelt. Es ist schlicht nicht glaubwürdig, dass der Großteil der Bevölkerung das Rechtssystem pragmatisch zu nutzen verstand,34 sich aber nicht darüber im Klaren sein wollte, dass es potenziell aufrührerisch war, zum Beispiel die baldige Rückkehr Peters III. mit einer Armee anzukündigen. Die Betroffenen stellten sich hier zweifellos dümmer als sie waren. Es wäre interessant, wie viel vom Stereotyp des naiven, rückständigen Bauern auf diese Verteidigungsstrategie zurückgeht. – Trunkenheit Die Alkoholisierung des / der Beschuldigten ist sowohl ein zu berücksichtigender realer Umstand, als auch eine Verteidigungsstrategie, wobei sich meistens nicht sicher feststellen lässt, wann die eine und wann die andere 34 Rustemeyer: Dissens und Ehre, 295.
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Grundlagen
Variante vorliegt. Zunächst ist festzuhalten, dass übermäßiger Alkoholkonsum eine plausible Ursache für unvorsichtiges Gerede ist. Wenn etwa ein Mann angezeigt wurde, der nachweislich längere Zeit in geselliger Runde im Gasthaus verbracht hatte,35 ist davon auszugehen, dass keiner der Anwesenden nüchtern geblieben war. Doch wie hoch der Alkoholpegel tatsächlich war, wie er sich darauf auswirkte, was die Anwesenden sagten und inwieweit sie sich der Tragweite des Gesagten bewusst waren, ist nicht ersichtlich. Falls jemand schon eine längere Vorgeschichte von Alkoholmissbrauch und deswegen gesundheitliche Probleme hatte wie der falsche »erste Imperator« Prokop Galuška,36 ist es naheliegend, dass der angezeigte Vorfall (auch) auf Alkoholeinfluss zurückzuführen ist. Allerdings könnte die fragliche Begebenheit auch die Ausnahme von der Regel darstellen. Gleichzeitig war es sehr einfach, sich auf übermäßigen Alkoholkonsum zu berufen, um die eigene Verantwortung kleinzureden, weil sich derlei im Nachhinein kaum überprüfen ließ. Hier sind zwei Sichtweisen zu unterscheiden. Die Obrigkeit akzeptierte Trunkenheit nicht als mildernden Umstand. Die zuständigen Beamten gingen davon aus, dass Alkohol die Zunge löse und eine sonst wohlverborgene gefährliche Gesinnung ans Tageslicht kommen lasse.37 Wer Trunkenheit als Verteidigungsstrategie benutzte, berief sich hingegen darauf, dass jemand in betrunkenem Zustand zu einer ganzen Reihe Dummheiten in der Lage ist, die er bei klarem Verstand niemals begehen würde. Um diesen Umstand zu betonen, wollten gerade Männer in verfänglichen Situationen bis zum Gedächtnisausfall gebechert haben. Sie behaupteten, sinnlos betrunken (mertvecki p’ jan) gewesen zu sein und sich an rein gar nichts mehr erinnern zu können. Dahinter verbarg sich die Botschaft, die ganze Untersuchung sei sinnlos, weil sie nichts (mehr) wüssten, daher nichts aussagen oder gestehen könnten und auch keine Verantwortung für das Vorgefallene trügen. Wie Alkohol auf unterschiedliche Weise als Argument funktionierte, ist besonders gut an folgendem Beispiel nachvollziehbar: 1754 zeigte Ivan Berdov seinen Großonkel Ivan Meteljagin an. Er erklärte, er habe Meteljagin besucht, mit diesem Bier und Wein getrunken und zu Mittag gegessen. Nach dem Essen seien sie in eine benachbarte sloboda gegangen und hätten nach der Rückkehr von dort weitergetrunken. Bei dem Ausflug am Nachmittag habe Meteljagin ihm 35 Auch Frauen handelten sich im betrunken Zustand Probleme ein. Zum Beispiel war die Dienstbotin Mavra Grigor’eva angetrunken, als sie 1725 anderen Dienstboten erzählte, Peter I. sei in einer Säule auf einer Insel im Meer eingemauert (RGADA , f. 371, o. 1, d. 3300, l. 7 ob.). Fekla Makarova war betrunken, als sie ihrer Bekannten Ustin’ja Zav’jalova 1765 ankündigte, Peter III . werde zu Peter und Paul oder zu Maria Himmelfahrt zurückkehren (RGADA , f. 7, o. 2, d. 2180. 1 ob.). Aber die von mir durchgesehenen Akten enthalten kein Beispiel dafür, dass Frauen in einem Gasthaus gezecht hätten. 36 RGADA , f. 7, o. 2, d. 2577, l. 2 ob. 37 Anisimov: Dyba i knut, 460.
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erzählt, dass Peter II. noch lebe.38 Berdov wollte durch den Verweis auf unmäßigen Alkoholkonsum offenbar plausibel machen, dass sein Onkel Unsinn über Peter II. erzählt habe. Meteljagin selbst benutzte Trunkenheit auf zwei unterschiedliche Arten zur Verteidigung. Zuerst sagte er aus, Berdov und er seien bereits zu Mittag so betrunken gewesen, dass sie nirgendwohin gegangen seien. Folglich habe er auch nicht unterwegs von Peter II. reden können.39 Später gab Meteljagin zu, von Peter II. gesprochen zu haben, berief sich aber auf Alkoholisierung als Milderungsgrund.40 Mitunter ist es möglich, den Verweis auf Alkoholisierung zu dekonstruieren. Der falsche Peter III. Il’ja Fedorov behauptete 1782, so viel getrunken zu haben, dass er sich nicht mehr erinnern könne, sich für den Kaiser ausgegeben zu haben. Allerdings unterstrich er gleichzeitig – vielleicht, weil er nicht für einen gewohnheitsmäßigen Säufer gehalten werden wollte – dass ihm das zum ersten Mal passiert sei.41 Es ist einigermaßen verdächtig, dass Fedorov just an dem Abend zum ersten Mal einen Gedächtnisausfall erlitten haben wollte, an dem er etwas gesagt hatte, das ihn in die Geheime Abteilung brachte. Wahrscheinlicher ist, dass er angetrunken gewesen war, aber nicht so sehr, um sich an gar nichts mehr erinnern zu können. Der Soldat Jakov Dmitriev erzählte 1778, Peter III. sammle eine Armee auf der Krim. Später gab er an, er sei zu betrunken gewesen, um sich daran zu erinnern.42 Allerdings sagten sowohl der Kosake Grigorij Kurpekov, als auch die Sergeanten Ivan Ivanov und Petr Sucharev aus, Dmitriev sei zu diesem Zeitpunkt durchaus alkoholisiert gewesen, aber nicht stark genug, um Gedächtnisausfälle haben zu können.43 – Wahnsinn Wie Trunkenheit war Wahnsinn sowohl ein tatsächlicher Sachverhalt, als auch eine Verteidigungsstrategie. Evgenij Anisimov zufolge war Wahnsinn kein Grund für eine Strafminderung, es sei denn, jemand redete dermaßen wirr, dass niemand den Ausführungen folgen konnte.44 Angela Rustemeyer zeichnet ein differenzierteres Bild, das mit meinem eigenen Eindruck übereinstimmt: Beispiele aus dem 18. Jahrhundert zeigen, dass Wahnsinn ein Grund für Strafminderung sein konnte, doch das bedeutet nicht, dass das in allen Fällen so war.45 Beispielsweise wurde Osip Šurygin, der sich 1785 als Sohn Katharinas II. bezeichnete, als »Melancholiker« eingestuft. »Melancholie« galt als Geisteskrankheit, sodass Katharina II. 38 39 40 41 42 43 44 45
RGADA , f. 349, o. 1/č. 1, d. 5708, l. 6 ob–7.
Ebd., l. 10 ob. Ebd., l. 47 ob. RGADA , f. 7, o. 2, d. 2608, l. 4; 5 ob. RGADA , f. 7, o. 2, d. 2512, l. 1–1 ob. Ebd., l. 1; 5 ob. Anisimov: Dyba i knut, 384. Rustemeyer: Dissens und Ehre, 345–348.
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verfügte, Šurygin müsse als Wahnsinniger behandelt werden. Er wurde also nicht hingerichtet, sondern zu Klosterhaft verurteilt.46 Die Einstu fung von samozvancy und samozvanki als wahnsinnig ist kein verlässliches Indiz dafür, dass ihr Urteilsvermögen tatsächlich beeinträchtigt gewesen wäre. Das liegt nicht nur daran, dass es im 17. und 18. Jahrhundert noch nichts gab, was den Namen Psychiatrie verdient hätte, sondern auch daran, dass die Akten üblicherweise keinen Aufschluss geben, wie die Diagnose zustande kam. Weder wurde sie explizit begründet, noch lassen die vorhergehenden Verhöre auffällige, deutlich von einer Norm abweichende Verhaltensweisen erkennen. Das ist nur in Ausnahmefällen so, etwa bei der Generalswitwe Aleksandra Korsakova, die sich 1779 für eine Tochter Elizaveta Petrovnas ausgab. Ihr Neffe Aleksandr Mordvinov sagte aus, Korsakova habe versucht, ihre Tochter zu töten und sich mit ihrer Zofe geprügelt. In der Nacht schlafe sie nicht, sondern wandere mit einer Kerze in der Hand durchs Haus. Mitunter schlage sie mit einem Stock gegen die Wand oder schaue ein Stück Wand an, als ob dort ein Spiegel hinge und spreche sich dann vor diesem imaginären Spiegel selbst als Schönheit und Alexander [sic!] der Große an. Sie sei schon seit drei Jahren in diesem Zustand.47 Selbstredend muss das nicht stimmen, aber zumindest besteht hier ein klar erkennbarer Zusammenhang zwischen Mordvinovs Aussage und dem Urteil, Korsakova sei geistesgestört. Nicht zuletzt war die Zuschreibung Wahnsinn wie in vielen anderen Ländern und Epochen zum Teil keine medizinische Diagnose, sondern eine Strategie, um unerwünschtes oder unverständliches Verhalten zu pathologisieren. Beispielsweise schrieb Katharina II. im Urteil über den bereits oben erwähnten Galuška, wer so etwas sage (sich »erster Imperator« nenne), könne einfach nicht richtig im Kopf sein (»ot imejuščago nepovreždennoj razum čeloveka takogo vran’ ja otnjud’ by proizojtit’ ne moglo«). Also sei er wahnsinnig und dementsprechend zu behandeln.48 Diese Meinung rettete Galuška das Leben, aber das macht sie nicht weniger problematisch. Es gibt auch Fälle, in denen die Angehörigen eines samozvanec im Verhör versuchten, ihn möglichst gestört erscheinen zu lassen und so vor der Hinrichtung zu retten. 1671 behauptete Ivan Kleopin, Ivan Dmitrievič zu sein, d. h. der Sohn des zweiten falschen Dmitrij von Maryna Mniszchówna.49 46 47 48 49
RGADA , f. 7, o. 2, d. 2681, l. 9–9 ob. RGADA , f. 7, o. 2, d. 2537, l. 10; 11–11 ob.; 19 ob. RGADA , f. 7, o. 2, d. 2577, l. 21.
Der echte Ivan Dmitrievič wurde 1614 im Alter von vier Jahren hingerichtet. Zu Kleopin siehe Čistov: Russkie narodnye social’no-utopičeskie legendy, 67 f. und Scheidegger, Gabriele: Kommunikation ausserhalb der Norm. Kinder und Irre in altrussischen Quellen. In: Boškovska, Nada u. a. (Hg.): Wege der Kommunikation in der Geschichte Osteuropas. Köln u. a. 2002, 303–321, hier 317–320.
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Sein Vater hatte ihm das von frühester Kindheit an eingeredet, sodass es nicht erstaunlich ist, dass Kleopin davon überzeugt war und irgendwann mit Außenstehenden über seine »wahre« Herkunft sprach. In diesem Sinn ist er auch kein samozvanec, weil er von sich selbst keine andere Vorstellung haben konnte. Im Verhör gaben seine Verwandten allerdings nicht dem Vater die Schuld, sondern behaupteten, Ivan sei noch nie ganz richtig im Kopf gewesen. Das ließ sich nicht überprüfen und rettete Kleopin am Ende nicht vor dem Strang. Drastischer ist der Fall von Ivan Fomenko. Er fuhr 1775 mit seinem Onkel Denis und seinem Bruder Trofim an den Don, um zu fischen. Der Aussage des Onkels zufolge erkrankte Ivan auf dem Rückweg und war zwei Wochen bettlägerig. Durch die Krankheit habe er den Verstand verloren. Denis schilderte recht plastisch, wie er sich nicht mehr anders zu helfen wusste, als Ivan mit einem Stock zu verprügeln und gefesselt an ihrem Wagen anzubinden, damit er mit ihnen mitging und keine Dummheiten machte. Trotz dieser Maßnahmen sei er entwischt, habe sich auch vor Wildfremden General und Souverän genannt und sei deswegen verhaftet worden.50 In anderen Worten ausgedrückt, der Onkel bemühte sich redlich, auf der einen Seite seinen Neffen als sabbernden Irren darzustellen, dem seine Worte nicht angelastet werden könnten. Auf der anderen Seite sollte der Gebrauch von Stock und Fesseln ihn selbst von dem Verdacht reinwaschen, Ivans Gerede gebilligt oder gar gefördert zu haben. Grundsätzlich ist es möglich, dass sich Ivan Fomenko eine Krankheit zuzog, die sein Urteilsvermögen beeinträchtigte. In Frage kämen dafür etwa Enzephalitis und Meningitis. Jedoch ist im Akt kein einziges Krankheitssymptom angeführt, sodass sich eine solche Hypothese nicht belegen lässt. Die Aussage von Trofim Fomenko zieht diese Version zusätzlich in Zweifel. Trofim zufolge war Ivan nach seiner Genesung eine Woche »normal« und Denis verprügelte Ivan nicht, um ihn unter Kontrolle zu halten, sondern um sich zu verteidigen, als Ivan ihn angriff.51 Trofim verneinte also den von Denis hergestellten Kausalzusammenhang zwischen Krankheit und »Wahnsinn« und ließ es so aussehen, als wäre das einzig »Wahnsinnige« an Ivan gewesen, dass er sich General und Souverän nannte. Dass Ivan das überhaupt tat und zusätzlich seine Verwandten tätlich angriff, könnte, wie bei anderen Fällen von samozvanstvo im engsten Familienkreis,52 mit einem familieninternen Konflikt zusammenhängen, den alle drei im Verhör verschwiegen. 50 RGADA , f. 7, o. 2, d. 2453, l. 5. 51 Ebd., l. 5 ob. 52 Ein Beispiel ist Avdot’ja Zavarzina, die sich 1768 Souveränin nannte (RGADA , f. 349, o. 1/č. 1, d. 7113.). Sie hatte sich nicht mehr anders gegen die Schikanen ihrer Schwiegermutter Domna zu erwehren gewusst, während Domna behauptete, ihre Schwiegertochter sei wahnsinnig.
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Grundlagen
2.2 Gerüchte Allgemeines
Gerüchte gehören zum Alltagsleben. Mit ihnen in Berührung zu kommen ist nicht auf eine bestimmte Epoche, Region, soziale Schicht oder Gesellschaftsordnung beschränkt. Falls es überhaupt übertrieben ist, zu sagen, jeder habe schon einmal eines gehört oder gelesen und dann weitergegeben, so auf keinen Fall stark. Folglich hat auch jeder eine Vorstellung davon, was ein Gerücht ist, wenngleich genaueres Nachhaken wahrscheinlich Unsicherheiten und voneinander abweichende Antworten zu Tage fördern würde. Diese Alltäglichkeit erschwert es, eine Definition für Gerüchte zu finden, die erstens allgemein gültig ist und es zweitens ermöglicht, sie für eine wissenschaftliche Untersuchung heranzuziehen. Zuletzt stellte der Kommunikationswissenschafter Klaus Merten 2009 fest, dass eine solche Definition fehle.53 Daran hat sich in der Zwischenzeit nichts geändert und aus zwei Gründen wird das noch länger so bleiben: Erstens ist das Kursieren von Gerüchten, wie gesagt, an sich zwar etwas Universelles. Allerdings weisen Gerüchte nicht immer dieselben Merkmale auf, sondern diese variieren je nach untersuchter Zeit und untersuchtem Raum. Zweitens leisten mehrere Disziplinen einen Beitrag zur Gerüchteforschung, vorrangig Soziologie, Kommunikationswissenschaft und Psychologie. Jede Disziplin geht mit einem anderen Grundverständnis an Gerüchte heran und setzt andere Methoden ein, um zu Erkenntnissen über sie zu gelangen. Auch das macht es unwahrscheinlich, mit einer Definition alle zufriedenzustellen. Dieses Unterkapitel ist kein erschöpfender Abriss der bisherigen Forschung zu Gerüchten. Mithilfe der vorhandenen Sekundärliteratur werden die wichtigsten Merkmale eines Gerüchts identifiziert, wobei bei abweichenden Positionen zu einem von ihnen derjenigen der Vorzug gegeben wird, die dem Quellenkorpus am besten entspricht. Daraus wird sich jenes Verständnis von Gerücht ergeben, das dieser Monografie zugrunde liegt. Ausgehend davon werden dann die wichtigsten Probleme im Umgang mit Gerüchten als Quelle thematisiert. Zuletzt wird ein kurzer Überblick gegeben, wer wo und wie im Moskauer und Russländischen Reich Gerüchte verbreitete. Die Geschichtswissenschaft hat keine nennenswerten theoretischen Beiträge geleistet, um Gerüchte zu definieren und wissenschaftlich operationalisierbar zu machen. Ihr Zugang zu Gerüchten besteht darin, Erkenntnisse aus anderen Disziplinen auf historische Quellenkorpora anzuwenden.54 53 Merten, Klaus: Zur Theorie des Gerüchts. In: Publizistik 54/1 (2009), 15–42, hier 16. 54 Altenhöner, Florian: Kommunikation und Kontrolle. Gerüchte und städtische Öffentlichkeiten in Berlin und London 1914/1918. München 2008, 3.
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Die psychologische Gerüchteforschung setzt beim Individuum an55 und ist darum am wenigsten geeignet, um auf geschichtswissenschaftliche Fragestellungen angewandt zu werden. Grundsätzlich ist nicht zu bestreiten, dass die allgemeine psychische Disposition eines Menschen wie auch kurzfristige Stimmungslagen Einfluss darauf haben können, ob er ein Gerücht weitergibt oder nicht, glaubt oder nicht. Langeweile, die Befriedigung darüber, etwas zu wissen, das sonst niemand weiß und Ähnliches mehr sind Faktoren, die jemandes Einstellung zu einem Gerücht beeinflussen. Allerdings erlauben es die Quellen nicht, derartige Einflüsse zu identifizieren. Wie im vorhergehenden Unterkapitel dargelegt, sollte die Untersuchung eines Majestätsverbrechens klären, wann, wo und von wem jemand ein Gerücht gehört hatte. Diese äußeren Parameter besagen nichts über die psychischen Faktoren, die gleichzeitig wirkten. Bestenfalls sind auf historische Quellen allgemein psychologische Feststellungen anwendbar wie jene, dass jemand den Inhalt eines Gerüchts interessant finden müsse, um es weiterzugeben.56 Doch auch die Gültigkeit solcher Annahmen ist im Einzelfall nicht nachweisbar. Davon abgesehen kommen PsychologInnen üblicherweise zu ihren Thesen, indem sie Experimente unter Laborbedingungen durchführen. Sie lassen beispielsweise ProbandInnen einander einen vorher festgelegten Inhalt erzählen, um herauszufinden, wie er sich bei der Weitergabe verändert und nach welchen Gesetzmäßigkeiten das geschieht. Solche Versuchsanordnungen entsprechen aber nicht den Bedingungen, unter denen spontan entstandene Gerüchte in bereits vorhandenen sozialen Beziehungsgeflechten weitergegeben werden und sind daher nur eingeschränkt aussagekräftig.57 Für eine geschichtswissenschaftliche Publikation sind vorrangig die Ergebnisse von soziologischer und kommunikationswissenschaftlicher Gerüchteforschung interessant, weil sie die Entstehung und Weitergabe eines Gerüchts als kollektiven Prozess begreifen.58 Was das bedeutet, wird unten genauer erläutert; vorweggenommen sei nur, dass die kollektiven Aspekte eines Gerüchts an den Quellen besser ersichtlich sind. So werden im folgenden Abschnitt primär die Erkenntnisse dieser beiden Disziplinen berücksichtigt werden.
55 Rosnow Ralph L.: Rumor as Communication. A Contextualist Approach. In: Journal of Communication 38/1 (1988), 12–28, hier 15. 56 Peterson, Warren A. / Gist, Noel P.: Rumor and Public Opinion. In: The American Journal of Sociology 57/2 (1951), 159–167, hier 160. 57 Ebd., 171; Taylor Buckner, H.: A Theory of Rumor Transmission. In: The Public Opinion Quarterly 29 (1965), 54–70, hier 59 f. 58 Rosnow: Rumor as Communication, 15.
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Merkmale von Gerüchten
Vorauszuschicken ist, dass von einem Gerücht zu sprechen immer wertend ist. Das einzige sichere Merkmal, um ein Gerücht von einer Nachricht zu unterscheiden, ist die Einstellung der RezipientInnen zu einer Information, sprich, ob sie diese für glaubwürdig halten oder nicht.59 Kurz und salopp ausgedrückt, die Tatsache des einen ist das Gerücht des anderen.60 Wer eine Information für glaubwürdig hält, wird sie nicht als Gerücht einstufen.61 Ob eine Information glaubwürdig erscheint oder nicht, ergibt sich zu einem gewissen Grad aus objektiven Kriterien. Laut H. Taylor Buckner entsteht eine kritische Einstellung zum Inhalt einer Information (critical set) etwa, wenn jemand schon einmal eine ähnliche Information erhalten hat und so Vergleiche anstellen kann, wenn er den Mittler / die Mittlerin kennt und weiß, wie vertrauenswürdig er / sie normalerweise ist, und nicht zuletzt dann, wenn jemand grundsätzlich nicht allzu leichtgläubig ist.62 Die Einschätzung der Plausibilität ist aber weitgehend subjektiv. Letztendlich gilt, falls jemand aus dem einen oder anderen Grund einem Gerücht Glauben schenken möchte, wird er das auch tun und unter Umständen weniger strikte Maßstäbe für die Beurteilung einer Information anlegen als sonst.63 Für die Geschichtswissenschaft weniger relevant ist die Frage, ob ein Gerücht ein Medium ist. Doch da diese Debatte in der Gerüchteforschung eine relativ große ist, soll sie kurz angeschnitten werden. Jean-Noël Kapferer bezeichnete Gerüchte im Untertitel seiner Monografie plakativ als das älteste Massenmedium der Welt64 und erntete dafür sowohl Zustimmung, als auch Ablehnung. Florian Altenhöner übernahm die Sichtweise unreflektiert, da er Gerüchte als »Medium der Imagination« charakterisiert.65 Gleiches gilt für Gerhard Sälter, der Gerüchte zum subversiven Medium erklärt.66 59 Bruhn, Manfred: Gerücht als Gegenstand der theoretischen und empirischen Forschung. In: Ders. / Wunderlich, Werner (Hg.): Medium Gerücht. Studien zu Theorie und Praxis einer kollektiven Kommunikationsform. Bern u. a. 2004, 11–39, hier 15. 60 Eberle, Thomas S.: Gerücht oder Faktizität. Zur kommunikativen Aushandlung von Geltungsansprüchen. In: Bruhn, Manfred / Wunderlich, Werner (Hg.): Medium Gerücht. Studien zu Theorie und Praxis einer kollektiven Kommunikationsform. Bern u. a. 2004, 85–115, hier 94. 61 Ebd., 96. 62 Taylor Buckner: A Theory of Rumor Transmission, 56. 63 Merten: Zur Theorie, 31; Taylor Buckner: A Theory of Rumor Transmission, 57; Kapferer, Jean-Noël: Gerüchte. Das älteste Massenmedium der Welt. Berlin 1997, 103. 64 Kapferer: Gerüchte. 65 Altenhöner: Kommunikation und Kontrolle, 10. 66 Sälter, Gerhard: Gerüchte als subversives Medium. Das Gespenst der öffentlichen Meinung und die Pariser Polizei zu Beginn des 18. Jahrhunderts. In: WG 15 (1996), 11–19.
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Andreas Ernst verneint hingegen kategorisch, dass ein Gerücht ein Medium sei.67 Manfred Bruhn will sich nicht eindeutig festlegen. An sich ist er gegen diese Zuordnung, hält aber auch fest, dass ein Gerücht zugleich Mittel und Mittler von Information sei und daher einzelne Merkmale eines Mediums aufweise.68 Die Position von Ernst ist aus zwei Gründen die sinnvollste. Wenn es erstens möglich ist, dass derselbe Inhalt als Tatsache weitergegeben und als Gerücht aufgenommen wird (oder umgekehrt), kann es sich kaum um ein Medium handeln, denn Medien bleiben bei der Übertragung unverändert. Zweitens kann ein Gerücht in verschiedenen Medien übermittelt werden, bei denen Konsens herrscht, dass es sich um Medien handelt, etwa durch einen Brief oder einen Zeitungsartikel. Es macht wenig Sinn, Gerüchte als Medium aufzufassen, wenn sie ohne zweites Medium gar nicht fassbar wären. Historisch gesehen war die mündliche Rede zweifellos das wichtigste Medium für die Weitergabe von Gerüchten; das zeigt bereits die Etymologie des Wortes. In vielen europäischen Sprachen bezieht sie sich auf die Senderseite in mündlicher Kommunikation. Lat. rumor hat die Grundbedeutung ›Ruf, Zuruf‹; die Bedeutung ›Gerücht‹ ist sekundär. Davon sind frz. rumeur und engl. rumo(u)r abgeleitet. Auch dt. Gerücht ist damit verwandt.69 In den slawischen Sprachen steht hingegen die Empfängerseite im Vordergrund. Sluch – mit teils abweichender Schreibung – bedeutet ›Gehör‹ und sekundär ›Gerücht‹; es ist mit russ. slušat’ ›hören‹ verwandt.70 Nichtsdestoweniger wäre es verkürzend, Gerüchte ausschließlich der mündlichen Kommunikation zuzurechnen. Etwas zuvor mündlich Gehörtes kann verschriftlicht werden, sodass beispielsweise ein Brief oder eine Zeitung zum Medium der Übermittlung wird. Umgekehrt kann Gelesenes mündlich weitererzählt werden. Das Geschäftsmodell der Regenbogenpresse stützt sich zu einem nicht geringen Teil auf die schriftliche Verbreitung von Gerüchten (die allerdings als Tatsachen verkauft werden). Angesichts der gegenwärtigen Beliebtheit der diversen sozialen Netzwerke ist der Anteil schriftlich weitergegebener Gerüchte womöglich so hoch wie nie zuvor. Gerüchte sind weder pauschal wahr, noch pauschal falsch.71 Stattdessen sind sie dadurch gekennzeichnet, dass sie im Moment der Weitergabe aus der
67 Ernst, Andreas: Mutmassungen über Gerüchte. Zu Jean-Noël Kapferers Untersuchungen über das Gerücht. In: WG 15 (1996), 105–108, hier 105. 68 Bruhn: Gerücht, 13. 69 Ebd., 14. 70 Vasmer, Max: Russisches etymologisches Wörterbuch. Zweiter Band L-Ssuda. Heidelberg 1955, 666. 71 Shibutani, Tamotsu: Improvised News. A Sociological Study of Rumor. Indianapolis, New York 1966, 9.
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Grundlagen
Sicht des Mittlers / der Mittlerin wahr sein könnten. Sie sind zu diesem Zeitpunkt weder eindeutig wahr, noch eindeutig falsch. Eine eindeutig falsche Information wird nicht mehr weitergegeben,72 während eine eindeutig wahre Information, wie gesagt, nicht mehr als Gerücht wahrgenommen wird. Eine zunächst ungesicherte Information kann sich später ebenso als wahr wie als falsch herausstellen. Gerüchte, die Verlobungen, Krankheiten, Kandidaturen bei Wahlen, Schwangerschaften und Ähnliches betreffen, haben gute Chancen, wahr zu sein – müssen es aber nicht. Die hier behandelten Gerüchte sind allerdings allesamt falsch. Jene Kaiser und Thronfolger, die als lebendig galten, waren tatsächlich tot (siehe Kapitel 3.1). Pugačev konnte sich nicht vor der Hinrichtung retten und hatte keinen Nachfolger (siehe Kapitel 4.2). Konstantin Pavlovič zog nicht mit der polnischen Armee nach Frankreich (siehe Kapitel 4.3), und so weiter. Aus der Sicht der MittlerInnen waren die Informationen aber zumindest soweit stichhaltig und glaubwürdig, dass sie diese nicht sofort als Unsinn abtaten und das Bedürfnis hatten, darüber zu sprechen. Bei dieser Diskrepanz kann die geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit Gerüchten ansetzen und etwa die Frage stellen, warum die Zeitgenossen ein bestimmtes Gerücht für glaubwürdig hielten. Hier kommen mehrere Faktoren ins Spiel. Jemand konnte etwas nicht wissen, was anderen Zeitgenossen durchaus bekannt war und seine Einstellung verändert hätte. Das Vertrauen in einen Kommunikationskanal und Misstrauen gegenüber einem anderen hätte eine Rolle spielen können. Nicht zuletzt mögen Vorstellungen dafür verantwortlich gewesen sein, die für die Zeitgenossen selbstverständlich waren, im 21. Jahrhundert aber eher skurril anmuten. In dieser Monografie werden Gerüchte einerseits herangezogen, um solche Vorstellungen zu identifizieren und zu analysieren, zum anderen werden sie als mögliche Inspirationsquelle für samozvancy und samozvanki verstanden. Wegen ihres Zwischenstellung zwischen wahr und falsch werden Gerüchte auch als unbestätigte Informationen definiert.73 Die Formulierung ist unglücklich, weil unbestätigt impliziert, dass sie a priori wahr seien und nur die Bestätigung ausstehe. Davon abgesehen stellt sich die Frage, wer in der Lage ist, etwas zu bestätigen.74 Kapferer schreibt diese Kompetenz »offiziellen Kanälen« zu,75 was insbesondere bei vormodernen Gesellschaften schwierig ist. Als solche offiziellen Kanäle kommen im hier untersuchten Kontext de facto nur Stellungnahmen des Zaren, des Kaisers oder der Kaiserin in Frage, das
72 73 74 75
Kapferer: Gerüchte, 14. Taylor Buckner: A Theory of Rumor Transmission, 55; Kapferer: Gerüchte, 14. Ernst: Mutmassungen, 106. Kapferer: Gerüchte, 25.
Quellenkritische und theoretische Grundlagen
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heißt, ein Ukaz oder ein Manifest. Diese waren aber erstens nicht der Transparenz verpflichtet und hatten zweitens nicht die von Kapferer angenommene Wirkung. Stattdessen trifft die Beobachtung des amerikanischen Soziologen Tamotsu Shibutani zu, dass jedes Dementi sinnlos wird, falls die Glaubwürdigkeit eines Kommunikationskanals zu stark ausgehöhlt ist.76 Stepan Razin behauptete, in seinem Gefolge befinde sich Aleksej Alekseevič, der kürzlich verstorbene älteste Sohn von Aleksej Michajlovič. Als der Zar davon erfuhr, ließ er mehrere Manifeste veröffentlichen, in denen er seine Untertanen daran erinnerte, dass sein Sohn tot sei und sie alle davon erfahren hätten.77 Während des Pugačev’schen Aufstandes ließ Katharina II. mehrere Manifeste veröffentlichen, um die Bevölkerung zu erinnern, dass Peter III. 1762 gestorben und der nunmehrige »Kaiser« nichts anderes als ein gewöhnlicher Kosake sei.78 In beiden Fällen handelte es sich um offizielle Bekanntmachungen von höchster Stelle, die den Gerüchten die Grundlage entziehen sollten. Doch sie zeitigten nicht die erwartete Wirkung. Das lag daran, dass gerade solche offiziellen Mitteilungen aus dem Zentrum bei der breiten Bevölkerung tendenziell diskreditiert waren, als unzuverlässig, Lügen oder Mystifikationen galten. Das hängt mit dem bereits erläuterten Stereotyp von den »bösen Bojaren« zusammen.79 Falls die noch ausstehende Bestätigung von Informationen zu den Merkmalen eines Gerüchts gehören soll, muss erstens auch die noch ausstehende Widerlegung einbezogen werden und zweitens darf beides nicht an eine bestimmte Instanz geknüpft sein. Stattdessen können Bestätigung und Widerlegung etwa in dem Sinn verstanden werden, dass die jeweiligen Umstände Fakten schaffen. Das Verstreichen der Frist widerlegte etwa Ankündigungen mit festen Zeitangaben. Im Mai 1765 kündigte Fekla Makarova ihrer Bekannten Ustin’ja Zav’jalova an, Peter III. werde zu Peter und Paul oder zu Maria Himmelfahrt zurückkehren und dann werde es große Veränderungen geben.80 Das Gerücht wäre bestätigt worden, hätte (ein falscher) Peter III. in diesem Zeitraum tatsächlich ein Lebenszeichen von sich gegeben. Da das nicht geschah, war es mit dem 16. August desselben Jahres widerlegt. Doch das bedeutet nicht, dass der Inhalt als solcher diskreditiert gewesen wäre. Die Rückkehr Peters III. blieb für weitere rund zwei Jahrzehnte Gesprächsstoff (siehe Kapitel 4.2). Allerdings enthalten die meisten hier verwendeten Gerüchte keine genauen Zeitangaben und kündigten nicht einmal die Rückkehr eines Mitglieds der 76 Shibutani: Improvised News, 132. 77 Svečova, E. A. (Hg.): Krest’janskaja vojna pod predvoditel’stvom Stepana Razina. Sbornik dokumentov. Tom II /1. Moskva 1957, 203; 341. 78 Myl’nikov: Iskušenie čudom, 157. 79 Čistov: Russkie narodnye social’no-utopičeskie legendy, 84. 80 RGADA , f. 7, o. 2, d. 2180, l. 1.
Grundlagen
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Dynastie explizit an. Stattdessen schufen sie eine Erwartung, führten eine Möglichkeit ein und waren in ihrer Unbestimmtheit praktisch nicht zu widerlegen. Da das kaum grundlos geschah, ergibt sich die Frage, welche Funktion Gerüchte erfüllen (können). Die beiden wichtigsten Ansätze dazu werden im nächsten Abschnitt behandelt. Die Funktion von Gerüchten
Der amerikanische Soziologe Tamotsu Shibutani kam zu dem Schluss, dass Gerüchte in mehrdeutigen Situationen besonders häufig seien. Infolgedessen definiert er sie als den prozesshaften Versuch, solche Situationen eindeutig zu machen und aufzulösen. Gerüchte schließen objektiv bestehende oder subjektiv wahrgenommene Informationslücken, bieten einfache Erklärungen für Vorgefallenes und ordnen es in bekannte Kategorien ein.81 Mehrdeutigkeit entsteht für Shibutani in erster Linie dann, wenn Kommunikationskanäle weniger zuverlässig sind als normal oder vorübergehend ganz zusammenbrechen. Das ist der Fall nach Naturkatastrophen, in Kriegen und Bürgerkriegen. Der Umkehrschluss gilt allerdings nicht; das Kursieren von Gerüchten ist kein Beleg für einen krisenhaften Zustand.82 Des Weiteren entstehen Informationslücken, wenn ein Staatsoberhaupt den Informationsfluss allzu restriktiv reguliert.83 Nicht zuletzt kann, wie schon mehrfach erwähnt, die rein subjektive Empfindung ausschlaggebend sein. Eine objektiv zweideutige Situation ist im Untersuchungszeitraum etwa für das Interregnum von 1825 zu konstatieren. Während mehrerer Wochen war nicht klar, wer Alexander I. nachfolgen würde, und der Thronverzicht von Konstantin Pavlovič schien auf einen ganzen Haufen Geheimnisse bzw. unterdrückter Informationen hinzudeuten (siehe Kapitel 4.3). Angesichts dessen ist es nicht erstaunlich, dass während des Interregnums und in den folgenden Monaten besonders viele Gerüchte über Alexander I. und Konstantin Pavlovič kursierten. Eine rein subjektive Einschätzung lag hingegen den Gerüchten zugrunde, die aufkamen, nachdem in nur anderthalb Jahren zwei Söhne und die erste Frau von Aleksej Michajlovič gestorben waren. Es wurde nichts verheimlicht, dennoch schossen die Spekulationen über finstere Machenschaften der Bojaren ins Kraut.84 Wenn Gerüchte als Versuch aufgefasst werden, mehrdeutige Situationen aufzulösen, rückt ihr kollektiver Charakter in den Vordergrund. Ein Gerücht 81 82 83 84
Shibutani: Improvised News, 17. Für die gegenteilige Meinung siehe Altenhöner: Kommunikation und Kontrolle, 1. Ernst: Mutmassungen, 107. Čistov: Russkie narodnye social’no-utopičeskie legendy, 84.
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kann immer nur an einem Individuum festgemacht werden, das etwas hört und weitergibt. Nichtsdestoweniger betont Shibutani, dass ein Gerücht stets etwas Kollektives sei.85 Der kollektive Charakter lässt sich an mehreren Aspekten festmachen. Jede Person in der Kette bzw. im Netz der Weitergabe trägt etwas zum Gerücht bei.86 Elementar besteht der Beitrag in der Weitergabe selbst. Falls jemand kein Interesse am Inhalt des Gerüchts hat oder diesen als hanebüchenen Unsinn empfindet, gibt er es wahrscheinlich nicht weiter. Je mehr Menschen innerhalb eines Kommunikationsnetzes diese Einstellung teilen, desto schneller stirbt das Gerücht ganz ab.87 Zudem geht die Weitergabe eines Gerüchts häufig mit seiner Veränderung einher. Merten nimmt sogar an, dass jeder Mittler / jede Mittlerin den eigenen Interessen entsprechend Details hinzufügt, weglässt oder abändert.88 Inwieweit das zutrifft, lässt sich mit dem Quellenkorpus dieser Monografie nicht bestimmen. Nach der Anzeige eines Gerüchts wurde ermittelt, woher es jemand kannte, aber die Antwort darauf erlaubt in der Regel nicht, den Teil, der einer anderen Person zugeschrieben wird, mit der angezeigten Version abzugleichen. Beispiele wie das folgende sind die absolute Ausnahme: Sevast’jan Karasev hörte 1776 von Treidlern in Dmitrievsk an der Volga, dass im Hafen seit mehreren Tagen ein geheimnisvolles Schiff liege. Als er die Information selbst weitergab, machte er daraus ein mit zwölf Kanonen bestücktes Schiff unter dem Kommando Peters III.89 Es ist anzunehmen, dass Karasev bei anderer Gelegenheit gehört hatte, dass Peter III. bald mit einer Armee zurückkehren werde oder seine eigene Erinnerung an den im Vorjahr niedergeschlagenen Pugačev’schen Aufstand verarbeitete. Insgesamt wird der Inhalt eines Gerüchts tendenziell plausibler, je länger es kursiert. Plausibel darf dabei aber nicht mit realistisch oder den Tatsachen entsprechend gleichgesetzt werden.90 Daraus folgt, dass die potenziellen Versionen eines Gerüchts nicht notwendigerweise über längere Zeit stabil kursieren müssen, sondern rezente Modifikationen sein können. Zudem sind Gerüchte Produkte eines kollektiven Prozesses, weil sie sich mit Fragen und Problemen befassen, die eine größere Gruppe von Menschen beschäftigt, mitunter sogar die ganze Gesellschaft.91 Wäre diese breite Relevanz nicht gegeben, fände keine Weitergabe statt. Um sich über solche Themen
85 86 87 88 89 90 91
Shibutani: Improvised News, 9. Ebd., 13. Taylor Buckner: A Theory of Rumor Transmission, 62. Merten: Zur Theorie, 17. RGADA , f. 7, o. 2, d. 2475, l. 2 ob.; 1 ob. Kapferer: Gerüchte, 101. Pendleton, Susan Coppess: Rumour Research Revisited and Expanded. In: Language & Communication 18/1 (1998), 69–86, hier 70.
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zu verständigen, greifen MittlerInnen auf allgemein bekannte Topoi und Vorstellungen92 oder auch Archetypen im Jung’schen Sinn93 zurück. Dieser Aspekt ist für die vorliegende Monografie überaus wichtig. Noch häufiger als die Klärung zweideutiger Situationen wird Gerüchten die Funktion zugeschrieben, eine oppositionelle bis widerständige Haltung gegenüber der jeweiligen Obrigkeit zum Ausdruck zu bringen. Kapferer feierte Gerüchte regelrecht als eigenständige Opposition, als er sie zur »Gegenmacht«, zum »Angriff auf die Autorität« und »Geheimnisbruch« stilisierte.94 Andreas Würgler spricht von dem »Zwillingspaar« Gerücht und Aufruhr.95 Sälter betrachtet Gerüchte, wie gesagt, als subversives Medium. Nüchterner stuft Simon Walker sie als Form von Protest ein96 und Anjan Ghosh stellte fest, dass sie bestehende Autoritätsverhältnisse untergrüben.97 Ungeachtet dieser Einmütigkeit ist Altenhöner darin zuzustimmen, dass Verallgemeinerungen in diesem Punkt nicht möglich sind. Nicht jedes Gerücht hat eine negative, kritisierende Stoßrichtung; der Inhalt kann ebenso gut die bestehenden Verhältnisse, politische Maßnahmen und Ähnliches befürworten.98 Das Kursieren von Gerüchten alleine ist kein Indiz für bevorstehende Unruhen. Zudem hat das Weitererzählen von Gerüchten als solches keine praktischen Auswirkungen; es kann kaum als Form von Protest bezeichnet werden, wenn es keine anderen Protestaktionen gibt. Zutreffender und wichtiger als die Verbindung von Gerüchten und Protest scheint mir der Hinweis zu sein, dass die MittlerInnen von Gerüchten durch deren Formulierung lernen, sich eine Meinung zu einem bestimmten Thema zu bilden und diese zum Ausdruck zu bringen. Darin liegen erste Ansätze zu Entstehung einer Öffentlichkeit und öffentlichen Meinung, die auf lange Sicht zu einer Politisierung der MittlerInnen beitragen können.99 Zusammenfassend werden Gerüchte hier als Informationen verstanden, die dem Mittler / der Mittlerin zum Zeitpunkt der Weitergabe glaubwürdig 92 Ernst: Mutmassungen, 107; Fox, Adam: Rumours, News and Popular Political Opinion in Elizabethan and Early Stuart England. In: The Historical Journal 40/3 (1997), 597–620, hier 616. 93 Merten: Zur Theorie, 31. 94 Kapferer: Gerüchte, 26 f. 95 Würgler, Andreas: Fama und Rumor. Gerücht, Aufruhr und Presse im Ancien Régime. In: WG 15 (1996), 20–33, hier 20. 96 Walker, Simon: Rumour, Sedition and Popular Protest in the Reign of Henry IV. In: Past and Present 166 (2000), 31–65, hier 49. 97 Ghosh, Anjan: The Role of Rumour in History Writing. In: History Compass 6/5 (2008), 1235–1243, hier 1238. 98 Altenhöner: Kommunikation und Kontrolle, 10. 99 Dazu siehe Farge, Arlette: Rumeur, ville et roi: L᾽opinion publique à Paris au XVIII siècle. o. O. o. J; Dies.: Dire et mal dire. L᾽opinion publique au XVIIIe siècle. Paris 1992. Im selben Sinn äußert sich auch Sälter: Gerüchte, 16 f.
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erscheinen, aber weder eindeutig wahr, noch eindeutig falsch sind. Sie dienen dazu, objektiv und / oder subjektiv empfundene Informationslücken zu schließen, zweideutige Situationen aufzuklären und Erklärungen für ein bestimmtes Geschehen zu geben. Dazu bedienen sie sich weit verbreiteter Motive, Fabeln und Vorstellungen. Sie werden meistens mündlich verbreitet und können unterschiedlich scharfe Kritik enthalten. Gerüchte als Quelle
Nun sollen die Besonderheiten beim Umgang mit Gerüchten als Quellen besprochen werden. Eine wichtige Konsequenz der oben angeführten Definition von Gerücht lautet, dass HistorikerInnen nur Ausschnitte aus einem Kommunikationsprozess zur Verfügung stehen. Die für das Thema der vorliegenden Monografie relevanten Gerüchte wurden schriftlich fixiert, weil einzelne Personen verhaftet wurden, die sie gehört und / oder ihrerseits weitergegeben hatten. Üblicherweise ergibt das eine Kette von 2 + x Personen, wobei x ≥ 0: der erste bekannte Mittler / die erste bekannte Mittlerin, der / die Angeklagte sowie mögliche weitere Betroffene. Auch wenn es keine verallgemeinerbaren Zahlen gibt, wie viele Personen durchschnittlich ein Gerücht kennen, werden in den Untersuchungen so wenige MittlerInnen genannt, dass es sich mit einiger Wahrscheinlichkeit um Ausschnitte handelt. Das gilt nicht, falls der erste bekannte Mittler / die erste bekannte Mittlerin mit dem Urheber / der Urheberin ident ist. Problematisch ist daran nicht, dass der Urheber / die Urheberin meistens unbekannt bleibt. Ein Gerücht als kollektiven Kommunikationsprozess aufzufassen bedeutet, dass es nicht darum geht, wer es aufgebracht hat, sondern um die Frage, warum es jemand weitergegeben hat.100 Bedauerlich sind vielmehr die Lücken, die sich aus der Ausschnitthaftigkeit ergeben. Es ist höchstens näherungsweise nachvollziehbar, wie lange ein Gerücht bereits kursierte, als es niedergeschrieben wurde, es ist nichts über seine geografische Verbreitung bekannt und es ist sehr schwierig bis unmöglich, Varianten desselben Gerüchts von inhaltlich ähnlichen, aber unabhängig voneinander entstandenen Gerüchten abzugrenzen. Varianten können erst kurz vor der Niederschrift (oder sogar erst durch die Niederschrift selbst) entstanden sein oder schon eine längere Vorgeschichte haben, falscher Erinnerung geschuldet sein oder eine tatsächliche Weiterentwicklung spiegeln. Kapitel 3.2 behandelt ein Gerücht über Peter II., das in einem Zeitraum von zehn Jahren an verschiedenen Orten im Russländischen Reich fixiert wurde.
100 Kapferer: Gerüchte, 33 f.
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Im Vergleich mit anderen Gerüchten ist es damit sehr häufig belegt. Nichtsdestoweniger bilden die verschiedenen Belege nur einen Ausschnitt ab, während die gesamte Verbreitung und deren Ursprünge nicht mehr ermittelbar sind. Umgekehrt handelt es sich bei den sogenannten »Moskovskie novosti« (»Moskauer Neuigkeiten«; siehe Kapitel 4.3) um eine Sammlung von Gerüchten, die Ende 1825/Anfang 1826 in Moskau kursierten. Ihre Anzahl und inhaltliche Vielfalt sind bemerkenswert, doch die zeitliche wie räumliche Ausdehnung außerhalb Moskaus liegt völlig im Dunkeln. HistorikerInnen stehen die Gerüchte selbst nicht mehr zur Verfügung. Sie können nur mit späteren Niederschriften, also Rekonstruktionen, arbeiten.101 Heike Mierau spricht davon, dass Gerüchte bei der Übertragung von einem Medium in das andere Eigenschaften verlieren, aber auch gewinnen. Formulierungen können sich ändern, Details entfallen oder neu gewichtet werden, falls sich der Schreiber / die Schreiberin nicht mehr genau erinnert.102 Deswegen ist es wichtig, die Verschriftlichungssituation in die Analyse einzubeziehen und in ihren Auswirkungen abzuschätzen.103 Die Verschriftlichungssituation der hier benutzten Gerüchte wird vom Ablauf der Untersuchung von Majestätsverbrechen bestimmt, der in Kapitel 2.1 behandelt wurde. Ein guter Teil der mündlichen Gerüchtekommunikation im Moskauer und Russländischen Reich ging verloren, weil nur aufgezeichnet wurde, was zuvor angezeigt worden war. Shibutani spricht davon, dass ein Gerücht nicht mehr weitergegeben wird, sobald zwischen den MittlerInnen kein Konsens über den Inhalt mehr besteht.104 Für die Situation im Untersuchungszeitraum muss die Beobachtung leicht umformuliert werden: Zur Anzeige kam es dann, wenn der Mittler / die Mittlerin die Information für plausibel hielt, mindestens ein Zuhörer / eine Zuhörerin aber für unglaubwürdig und sie deswegen als anzuzeigende »ungehörige« Äußerung identifizierte. Der Umkehrschluss daraus lautet, falls ein Gerücht in einer Gruppe kursierte, deren Mitglieder den Inhalt entweder alle für glaubwürdig hielten oder zumindest keinen Grund hatten einander anzuzeigen, blieb die Anzeige und somit die Verschriftlichung aus.
101 Narskij, I. u. a.: Predislovie. In: Ders. (Hg.): Sluchi v Rossii XIX–XX vv. Neoficial’naja kommunikacija i »krutye povoroty« rossijskoj istorii. Čeljabinsk 2011, 7–16, hier 9. 102 Mierau, Heike Johanna: Über Gerüchte schreiben. Quellen zur Gerüchteforschung vom Konstanzer Konzil (1414–1418). In: Brokoff, Jürgen u. a. (Hg.): Die Kommunikation der Gerüchte. Göttingen 2008, 44–67, hier 44. 103 Ebd., 47. 104 Shibutani: Improvised News, 24.
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Gerüchte im Quellenkorpus
Zuletzt soll kurz erläutert werden, wer die Gerüchte weitergab, die hier als Quellen verwendet werden, an welchen Orten und in welchen Medien das geschah. Bis auf wenige Ausnahmen wurden die hier benutzten Gerüchte nur verschriftlicht, weil ein Mittler / eine Mittlerin angezeigt wurde, sodass die mündliche Weitergabe von überragender Bedeutung ist. Das hat zwei Gründe. Der erste Grund ist der geringe Alphabetisierungsgrad im Moskauer und Russländischen Reich. Die ersten zuverlässigen und flächendeckenden Daten zur Alphabetisierung stammen von der ersten imperiumsweiten Volkszählung 1897. Für die vorhergehenden rund 900 Jahre Schriftlichkeit im ostslawischen Raum sind nur Hochrechnungen möglich. Jene Quellen, auf denen derartige Hochrechnungen für Zentral- und Westeuropa beruhen (wie Pfarrmatriken, Testamente oder Dienstzeugnisse) sind vor dem 18. Jahrhundert entweder gar nicht vorhanden oder nur in einem Umfang erhalten, der keine aussagekräftigen Berechnungen zulässt. Folglich müssen indirekte Hinweise herangezogen werden, die noch unzuverlässiger sind. Zudem kann unabhängig von den Quellen die Methode und damit die Aussagekraft jeder derartigen Hochrechnung in Zweifel gezogen werden. Die ersten, Ende des 19. Jahrhunderts durchgeführten Hochrechnungen ermittelten recht hohe Werte, etwa eine Alphabetisierungsrate der Bauern und Bäuerinnen von 15 Prozent um 1650. Diesbezügliche sowjetische Forschungen weisen dieselbe Tendenz auf.105 Seit einem 1990 erschienen Aufsatz von Gary Marker geht die Forschung im Gegenteil davon aus, dass die Alphabetisierungsrate seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zwar kontinuierlich, aber nur schwach und ohne große Sprünge wuchs, sodass sie bis zu den Großen Reformen sehr niedrig blieb. Um 1800 konnten geschätzte drei bis sieben Prozent der Gesamtbevölkerung lesen,106 oder, nach den vier soslovija gegliedert, 1–12 % der Bauern und Bäuerinnen, 20–25 % der StadtbewohnerInnen, 84–87 % der Adeligen und mehr als 75 % der Geistlichen.107 Die Alphabetisierungsrate bei Frauen war dabei zu jeder Zeit und in jeder Schicht niedriger als bei Männern. Schon alleine deswegen blieb die schriftliche Verbreitung von Gerüchten ein Randphänomen. Ein zweiter Grund für die Dominanz mündlich weitergegebener Gerüchte im Quellenkorpus ist darin zu sehen, dass es kaum realistische Möglichkeiten gab, die hier interessierenden Gerüchte über verstorbene Mitglieder der Dynastie schriftlich zu verbreiten. Immerhin handelte es sich um »ungehörige 105 Marker, Gary: Literacy and Literacy Texts in Muscovy. A Reconsideration. In: Slavic Review 49/1 (1990), 74–89, hier 74. 106 Mironov, B. N.: Rossijskaja imperija: ot tradicii k modernu. V trech tomach. Tom 3. SanktPeterburg 2015, 475. 107 Ebd., 478.
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Worte«, also um strafbare Inhalte. Privatbriefe konnten ein solches Medium sein, das jedoch wegen der geringen Alphabetisierungsrate für diesen Zweck kaum genutzt wurde. Bekanntmachungen wie Pugačevs Manifeste kursierten jeweils nur für einen begrenzten Zeitraum. Zeitungen und Zeitschriften kamen wegen der Strafbarkeit nicht in Frage und hätten bis zu den Großen Reformen auch nur eine sehr kleine Leserschaft erreicht. Die hier verwendeten Gerüchte kursierten mehrheitlich unter Bauern und Bäuerinnen, EinhöferInnen, KosakInnen, Angehörigen der regulären Armee, Geistlichen und Kaufleuten. Ethnisch handelte es sich bei den MittlerInnen fast ausschließlich um »(Groß-)RussInnen« und »KleinrussInnen«. Wenn in einzelnen Unterkapiteln auch andere Ethnien wie Baschkiren (Kapitel 4.2) oder Polen (Kapitel 4.3) verstärkt vorkommen, liegt das an den spezifischen Zeitumständen, welche die Quellenlage dementsprechend veränderten. Es bedeutet nicht, dass ihre Anwesenheit sonst unterdrückt würde. Im Moskauer und Russländischen Reich wurden Gerüchte an Orten erzählt und gehört, die auch in anderen Ländern als wichtige Gerüchtebörsen gelten. Dazu gehören erstens Privatwohnungen. Dazu gehören zweitens Orte von halböffentlichem Charakter, an denen stets ein großes Kommen und Gehen herrschte wie Fabriken, Kasernen, Gefängnisse oder Klöster. Dazu gehören drittens öffentliche Orte wie Gasthäuser, Dampfbäder, Geschäfte und Märkte, Straßen und Plätze.108 Es ist nicht erkennbar, dass die Strafbarkeit »ungehöriger Worte« die Gerüchteproduktion entweder insgesamt gehemmt oder in private Räume abgedrängt hätte. Das bisher Gesagte gilt im Großen und Ganzen für den gesamten Untersuchungszeitraum. Trotz der Dominanz mündlich weitergegebener Gerüchte scheint die schriftliche Weitergabe von Gerüchten und allgemein Schriftlichkeit im 19. Jahrhundert im Vergleich zum 17. und 18. Jahrhundert eine größere Bedeutung erlangt zu haben. Die erkennbaren Verschiebungen betreffen erstens die Weitergabe der Gerüchte. Für das 17. und 18. Jahrhundert wurde hier kein einziges Gerücht verwendet, das im Prozess der Weitergabe selbst und nicht erst infolge einer Anzeige verschriftlicht wurde. Im Unterschied dazu ist die wichtigste Quelle über die persona Konstantin Pavlovič, wie gesagt, eine aus Privatinteresse zusammengestellte Liste mit der beachtlichen Zahl von 51 Gerüchten. Auch abgesehen von dieser Liste kursierten Gerüchte über Konstantin zum Teil schriftlich. Beispielsweise schrieb der Regimentsmusiker Ivan Sokolov im Mai 1826 einen Brief an einen Freund, der mit Gerüchten über verschiedene Mitglieder der Dynastie geradezu gespickt ist.109 108 Dazu siehe auch Ders.: Rossijskaja imperija 2, 754–756. 109 Gosudarstvennyj archiv Rossijskoj Federacii (Staatsarchiv der Russländischen Föderation, weiter GARF), f. 109, 1 ėksp. 1826, o. 1, d. 13, l. 4. Der Brief ist publiziert in GancovaBernikova: Otgoloski, 163–165.
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Die Verschiebungen betreffen zweitens den Inhalt der Gerüchte. Beispielsweise dient der Verweis auf schriftliche Fixierung zur Beglaubigung des Inhalts. Von Konstantin Pavlovič hieß es, er habe von seinem Vater Paul I. ein Schriftstück erhalten, um seinen Anspruch auf den Thron nachzuweisen.110 Eine persona, die (auch) auf die Überzeugungskraft geschriebener Worte setzt, ist im 17. und 18. Jahrhundert nicht zu finden. 1839 kursierte unter Bauern in der Nähe von Fastov (ukr. Chvastiv) das Gerücht, Konstantin werde mit der polnischen Armee bald in Wolhynien eintreffen, Kiev (ukr. Kyïv) erobern und zur Hauptstadt des Reiches machen. Sie beriefen sich darauf, dass das irgendwo geschrieben stehe und deswegen die reine Wahrheit sei.111 Auch solche Verweise fehlen im 17. oder 18. Jahrhundert. Die sich auf diese Weise andeutende gewachsene Bedeutung von Schriftlichkeit kann nicht damit erklärt werden, dass signifikant mehr BewohnerInnen des Russländischen Reiches lesen und schreiben hätten können als am Ende des 18. Jahrhunderts, denn unter Alexander I. kam es nicht zu einem sprunghaften Anstieg der Alphabetisierungsrate. Stattdessen dürften die ohnehin besser alphabetisierten Teile der Bevölkerung verstärkt in die Produktion und Verbreitung von Gerüchten einbezogen gewesen sein. Der Machtwechsel 1825/1826 und die nicht erfolgte Thronbesteigung von Konstantin Pavlovič dürften für alle Schichten interessant gewesen und in allen diskutiert worden sein.112 Die für das 17. und 18 Jahrhundert untersuchten Gerüchte behandeln hingegen kaum schichtübergreifend relevante Themen. Ein Beispiel wäre die Herabwürdigung der Favoriten Peters II. (siehe Kapitel 3.2), deren Wirken den Zeitgenossen allerdings bei weitem nicht so folgenschwer erschien wie die nicht erfolgte Thronbesteigung von Konstantin Pavlovič. Wenn alle Schichten ein gemeinsames Gesprächsthema haben, könnten Gerüchte, die in Schichten mit größerer Schriftnähe entstanden, über mündliche Weitergabe in weiterhin kaum alphabetisierte Schichten gelangt sein und dabei die inhaltlichen Spuren ihres Entstehungszusammenhangs behalten haben.
110 Syroečkovskij, B. E.: Moskovskie »sluchi« 1825–1826gg. In: Katorga i ssylka 112/3 (1934), 59–85, hier 81. 111 GARF, f. 109, 1 ėksp. 1839, o. 14, d. 326, l. 2. 112 Siehe etwa die diesbezüglichen Vermerke in GARF, f. 109, 1 ėksp. 1831, o. 6, d. 545, l. 1 ob; GARF, f. 109, 1 ėksp. 1839, o. 14, d. 326, l. 3.
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2.3 Performanz Die Performance Studies und ihr Performanzbegriff
Die Beschäftigung mit Performanz gehört zu den jüngeren Modeerscheinun gen in den Geisteswissenschaften,113 sodass der Begriff häufig nur zum Ausdruck bringt, dass Handlungen Bedeutung erzeugen und festschreiben.114 Diese weitgehende Beliebigkeit resultiert unter anderem in Klagen über ein konzeptionelles Durcheinander bei seiner Anwendung.115 Um dem vorzubeu gen, wird hier der Performanzbegriff im Verständnis der Performance Studies verwendet, in deren Rahmen er ursprünglich definiert wurde. In diesem Unterkapitel wird zuerst das kleine Fach der Performance Studies vorgestellt, dann der Performanzbegriff erläutert und zuletzt die Analyse von samo zvanstvo als Performanz umrissen. Der nach wie vor aktive Begründer des Fachs Performance Studies ist der Theaterwissenschafter Richard Schechner. In Publikationen und Vorträgen forderte er seit den 1960er Jahren eine Erweiterung der Theaterwissenschaft; sein Forschungsprogramm nahm die Konturen des Fachs vorweg. 1980 wurde an der New York University das erste Institut für Performance Studies gegründet. Ein zweites Zentrum entstand an der Northwestern University in Illinois.116 Inhaltlich zielte die von Schechner angestoßene Erweiterung der Theater wissenschaft darauf ab, nicht nur den klassischen Kanon europäischer Bühnenstücke zu berücksichtigen, sondern beispielsweise auch performance art, außereuropäische szenische Darstellungen oder verschiedene Arten von Ritualen. Methodisch steht Interdisziplinarität im Vordergrund, wenngleich es die methodische Offenheit für VertreterInnen des Fachs mitunter schwierig macht, anzugeben, was Performance Studies sind und noch mehr, was sie nicht sind.117 Es scheint möglich, jede Fragestellung und jede Methode in das Fach zu integrieren, sobald es um bedeutungsstiftende Handlungen geht.
113 Oschema, Klaus: ›Dass‹ und ›wie‹. Performanz und performative Qualität als Kategorien historischer Analyse. In: Ders. u. a. (Hg.): Die Performanz der Mächtigen. Rangordnung und Idoneität in höfischen Gesellschaften des späten Mittelalters. Ostfildern 2015, 9–31, hier 9. 114 Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. 5. Aufl. Reinbek bei Hamburg 2014, 104; 110. 115 Oschema: ›Dass‹ und ›wie‹, 10. 116 Schechner, Richard: Performance Studies. An Introduction. 3. Aufl. Abingdon 2013, 17; 20. 117 Striff, Erin: Introduction: Locating Performance Studies. In: Dies.: Performance Studies. Houndmills u. a. 2003, 1–13, hier 4.
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Schechner selbst bevorzugt Anleihen bei der Anthropologie und arbeitete mit dem Anthropologen Victor Turner zusammen. Turners Begriff des Liminalen wurde weit über die Anthropologie hinaus rezipiert und zählt mittlerweile zum Grundinventar der Erforschung von Performanz.118 Schechners Vorbild getreu ist der anthropologische Zugang bei VertreterInnen der Performance Studies überaus beliebt; Feldforschung spielt eine wichtige Rolle.119 Weitere große Strömungen innerhalb der Performance Studies nehmen Anleihen bei Sprachwissenschaft, Soziologie, Gender Studies bzw. Frauen- und Geschlechtergeschichte sowie Psychoanalyse.120 Dessen ungeachtet blieb die Nähe der Performance Studies zur Theaterwissenschaft groß. Einführungen in das Fach oder eng mit ihm verbundene Begriffe wie Performativität und Performanz121 wie auch Monografien legen den Schwerpunkt auf szenische Darstellungsformen, die einem Bühnenstück sehr ähnlich sind und arbeiten mit Begriffen, bei denen es sich Metaphern handelt, die vom Bühnengeschehen abgeleitet wurden. Letzteres gilt auch für den Performanzbegriff in der Soziologie.122 Der Gegenstand der Performance Studies ist Performanz. Diese Feststellung ist weniger banal als sie im ersten Moment klingt, da Performanz sehr viele unterschiedliche Arten von Handlungen meinen kann. Schechner unterscheidet zwischen einem engen und einem weiten Performanzbegriff.123 Der enge Begriff (etwas ist Performanz) umfasst sämtliche szenischen Darstellungs formen, welche die Beteiligten – Ausführende und Publikum gleichermaßen – als Performanz verstehen. Eine solche Zuordnung erfolgt üblicherweise dann, wenn Praktiken vom Alltag abgegrenzt, etwas außer-Gewöhnliches, für sich Stehendes sind. Welche Darbietungen diese Kriterien erfüllen, hängt von der jeweiligen Zeit und Gesellschaft ab, aber ihre Anzahl ist stets begrenzt. Beispiele sind klassische Bühnenstücke, performance art in ihren unterschiedlichen Ausprägungen, aber ebenso Rituale oder Spiele.
118 Bachmann-Medick: Cultural Turns, 116. 119 Schechner: Performance Studies, 2. 120 Dazu siehe Carlson, Marvin: Performance. A Critical Introduction. 3. Aufl. New York, London 2018, Kapitel 1–3, 9–90. 121 Beispiele sind Schechner: Performance Studies; Taylor, Diana: The Archive and the Repertoire. Performing Cultural Memory in the Americas. Durham, London 2003; Fischer-Lichte, Erika: Performativität. Eine Einführung. 2. Aufl. Bielefeld 2013; Carlson: Performance. 122 Beispiele sind Alexander, Jeffrey C.: Cultural Pragmatics. Social Performance between Ritual and Strategy. In: Ders. / Giesen, Bernhard / Mast, Jason L. (Hg.): Social Performance. Symbolic Action, Cultural Pragmatics, and Ritual. Cambridge 2006, 29–90 und Goffman, Erving: The Presentation of Self in Everyday Life. Harmondsworth 1972 [erstmals 1959]. 123 Schechner: Performance Studies, 38.
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Der Gegenstand des weiten Performanzbegriffs (etwas als Performanz betrachten) ist hingegen praktisch unbegrenzt, weil er sich auf Alltägliches, Selbstverständliches bezieht. So gut wie alle Handlungen können als performativ charakterisiert werden, wenn ihre transformierende Qualität betont werden soll oder sie unter Fragestellungen von der Art erforscht werden, wie Hierarchien erzeugt, zum Ausdruck gebracht oder verfestigt werden. Für Judith Butler wird etwa das soziale Geschlecht performativ erzeugt, und zwar durch Praktiken, die so alltäglich und selbstverständlich erscheinen, dass ihnen üblicherweise keine Aufmerksamkeit geschenkt wird. Butlers Position ist durchaus umstritten,124 zeigt aber gut, wie weit der weite Performanzbegriff sein kann. Samozvanstvo steht zwischen dem engen und dem weiten Performanzbegriff. An sich lässt sich vom Auftreten eines vermeintlichen Mitglieds der Dynastie nur als Performanz sprechen, weil es weder die Qualität noch den Stellenwert eines Theaterstücks, Rituals oder eines anderen der oben genannten Beispiele besaß. Allerdings zählt Marvin Carlson das Bewusstsein der Ausführenden, dass sie eine Rolle verkörpern, die von ihrer üblichen Identität verschieden ist, zu den zentralen Kriterien, um von Performanz im engen Sinn sprechen zu können.125 Samozvancy und samozvanki erfüllen dieses Kriterium, weil die meisten von ihnen, wie in Kapitel 1.3 ausgeführt, wussten, dass sie nicht die Person waren, für die sie sich ausgaben. Samozvanstvo ist auch insofern zwischen dem engen und dem weiten Performanzbegriff angesiedelt, als Alltägliches und nicht Alltägliches eng miteinander verknüpft waren. Die Performanz selbst sollte den Eindruck vermitteln, dass etwas Außergewöhnliches geschehe – ein Mitglied der Dynastie erscheint unerwartet zwischen seinen Untertanen. Aber sie entfaltete sich im Alltag. Jemand gab sich im Gasthaus, im Gefängnis, in der Kirche, gegenüber dem Arbeitgeber oder einfach auf der Straße als Mitglied der Dynastie zu erkennen. Da die wenigsten samozvancy und samozvanki das Ziel hatten, einen Aufstand anzuzetteln, wurde ihr Leben und das ihrer AnhängerInnen kaum je in ganz neue und außergewöhnliche Bahnen gelenkt. Nicht zuletzt hing die Glaubwürdigkeit der samozvancy und samozvanki davon ab, inwieweit sie den für selbstverständlich gehaltenen, nicht hinterfragten Vorstellungen gerecht wurden, was ein Mitglied der Dynastie ausmache. Unabhängig davon, ob es um den engen oder den weiten Begriff von Performanz geht und unabhängig von den beteiligten Disziplinen lässt sich aus Einführungen in die Performance Studies ein Minimalkonsens darüber herausschälen, welche Merkmale eine Performanz aufweist. Sie lassen sich auch bei samozvanstvo identifizieren: 124 Fischer-Lichte: Performativität, 41–43. 125 Carlson: Performance, 5.
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– Performanz ist ein Randphänomen. VertreterInnen der Performance Studies befassen sich zwar nicht ausschließlich, aber doch mehrheitlich mit sexuellen und ethnischen Minderheiten, kolonisierten Gesellschaften sowie aus anderen Gründen marginalisierten Gruppen.126 Nicht zufällig stellt Judith Butler in ihrem 2015 erschienen Buch »Notes toward a Performative Theory of Assembly«127 ausgehend von dem von ihr performativ gedeuteten Recht der Versammlungsfreiheit Überlegungen über das Prekariat, die Rechte von Frauen, sexuellen Minderheiten sowie Geflüchteten in der Gegenwart an. Wie in Kapitel 1.3 ausgeführt, entstammte die Mehrheit der samozvancy und samozvanki den nicht-privilegierten soslovija sowie den Kosaken, sodass sie tendenziell materiell nicht allzu gut gestellt waren. Einige befanden sich zudem in einer Notlage, als sie den Entschluss fassten, sich für ein Mitglied der Dynastie auszugeben. Sie konnten Geldprobleme haben, gerade aus dem Gefängnis oder aus der Zwangsarbeit entlassen worden sein, sich als Landstreicher durchschlagen, Opfer häuslicher Gewalt sein und Ähnliches mehr. Bei samozvanstvo ist aber auch eine andere Form von Randständigkeit wichtig, die Dwight Conquergood hervorhebt: Performance privileges threshold-crossing, shape-shifting and boundary-violating figures, such as shamans, tricksters and jokers, who value the carnevalesque over the canonical, the transformative over the normative, the mobile over the monumental.128
Hier geht es weniger um karnevaleskes Verhalten im engen Sinn, wie es Boris Uspenskij in Hinblick auf den ersten falschen Dmitrij identifizierte,129 weil sich diese Beispiele, wie im Forschungsstand angemerkt, nicht verallgemeinern lassen. Threshold crossing und shape-shifting verweist stattdessen auf die Feststellung von Longworth, dass sich nur für ein Mitglied der Dynastie ausgeben konnte, wer in der Lage war, sich über Konventionen und überkommene Verhaltensweisen hinwegzusetzen. – Eine Performanz bewirkt Veränderungen. Eine Grundannahme der Performance Studies lautet, dass jede performative Handlung Gegebenheiten verändert und etwas Neues hervorbringt, gleich, ob es sich um ein Ritual, ein klassisches Drama, die Aktion eines Performance Künstlers / einer Performance-Künstlerin oder Ähnliches handelt. Dauer und Umfang der Veränderung variieren abhängig davon, um welche Performanz es sich handelt. 126 Schechner: Performance Studies, 4. 127 Butler, Judith: Notes toward a Performative Theory of Assembly. Cambridge / Massachu setts, London 2015. 128 Conquergood, Dwight: Of Caravans and Carnivals. Performance Studies in Motion. In: The Drama Review 39/4 (1995), 137–141, hier 138. 129 Uspenskij: Car᾽ i samozvanec, 161–165.
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Bei einem rite de passage wird der Übergang von einem Stadium zum anderen bewusst herbeigeführt und ist irreversibel: aus einem Buben wird ein Krieger, aus zwei Ledigen ein Ehepaar, und so weiter. Ein Bühnenstück hat hingegen nur temporäre Effekte. Die ihm immanente Welt wird geschaffen und besteht, solange die SchauspielerInnen auf der Bühne stehen. Sie vergeht spurlos, wenn der Vorhang fällt. Von längerer Dauer sind höchstens die emotionalen und / oder kognitiven Auswirkungen einer gelungenen Darbietung. Sie kann etwa dazu anregen, dauerhaft eine neue Einstellung zu einem bestimmten Thema zu entwickeln.130 Um glaubwürdig zu sein, mussten falsche Mitglieder der Dynastie eine Version der Realität erschaffen, die sich in bestimmten Details doch sehr von den tatsächlichen Verhältnissen unterschied: Sie erklärten Tote zu Lebenden, offizielle Mitteilungen zu Lügen, den regierenden Herrscher zum Usurpator / die regierende Herrscherin zur Usurpatorin, wenn nicht gar zur Verkörperung des Antichristen. War die performativ erzeugte Version der Realität glaubwürdig, veränderte sich in einem nächsten Schritt der soziale Status sowohl der samozvancy und samozvanki, als auch ihrer AnhängerInnen. Ihr Ansehen stieg, ihr Handlungsspielraum erweiterte sich. – Eine Performanz ergibt sich aus dem Zusammenwirken von Ausführenden und Publikum. VertreterInnen der Performance Studies stimmen darin überein, dass es vorrangig an den Ausführenden liegt, ob eine Performanz erfolgreich ist oder scheitert.131 Aber falls das Publikum gar nichts zum performativen Geschehen beiträgt, ist selbst eine makellose Ausführung zum Scheitern verurteilt. Bei den meisten Performanzen im engen Sinn kommt dem Publikum vordergründig eine passive Rolle zu. Während eines Bühnenstücks ist für gewöhnlich nicht vorgesehen, dass ein Zuseher / eine Zuseherin beispielsweise spontan die Bühne erklimmt und sich in die Handlung einmischt. Nichtsdestoweniger hängt der Erfolg der Darbietung davon ab, ob sich die ZuseherInnen von ihr fesseln lassen, ob sie konzentriert oder gelangweilt sind, ob sie viel oder wenig Applaus spenden.132 Das Publikum ist bei Performanzen im engen Sinn, die ohne Bühne auskommen und daher räumlich weniger segregiert sind sowie bei Performanzen im weiten Sinn stärker involviert. Bei samozvanstvo waren die AnhängerInnen als Publikum besonders wichtig. Nur wenn sich jemand auf die erste Offenbarung als Mitglied der Dynastie einließ, konnte sich die Performanz überhaupt entfalten. Im Weiteren entschied die Beteiligung oder Nichtbeteiligung der AnhängerInnen darüber, ob jemand seine Ziele erreichen konnte
130 Fischer-Lichte: Performativität, 57. 131 Carlson: Performance, 39. 132 Fischer-Lichte: Performativität, 55.
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oder im Gegenteil angezeigt, verhaftet und womöglich zum Tod verurteilt wurde. – Das letzte und zugleich für diese Monografie wichtigste Merkmal von Performanz ist ihr doppelter Zeitbezug: Sie findet in der Gegenwart statt, greift aber auf Gewesenes zurück. Davon wird im nächsten Abschnitt ausführlich die Rede sein. Archiv und Repertoire
Wie wichtig der doppelte Zeitbezug für den Performanzbegriff ist, lässt sich daran erkennen, dass im Laufe der Zeit mehrere Begriffspaare definiert wurden, um das Wechselspiel zwischen der synchronen und der diachronen Ebene einer Performanz zum Ausdruck zu bringen. Rund zwanzig Jahre vor der Formierung des Fachs Performance Studies prägte der Soziologe Erving Goffman in seinem Buch »The Presentation of Self in Everyday Life« die Begriffe Vorderseite (front) und dramatische Umsetzung (dramatic realization).133 Vorderseite bezieht sich auf alles, was zu einer Performanz (hier im Sinn alltäglicher Rollenspiele) gehört, vergleichbar mit Bühnenbild und Requisiten in einer Theateraufführung. Dramatische Umsetzung meint die Performanz selbst, welche sich auf die Vorderseite bezieht und ohne diese gar nicht möglich wäre. Goffman wollte dafür sensibilisieren, dass jede Interaktion zwischen Menschen im Alltag ein Rollenspiel ist. Er erläuterte, aus welchen Komponenten ein solches Rollenspiel besteht, warum es erfolgreich ist oder scheitert. Hingegen interessierte es ihn nicht, woher die Komponenten stammen und wie es kommt, dass sie zur Verfügung stehen. Es wird lediglich deutlich, dass die Ausgestaltung der Vorderseite nicht spontan passiert, sondern Bestehendes aufgreift. Jeffrey Alexander, wie Goffman Soziologe, spricht von Drehbuch (script) und Hintergrundrepräsentation (background representation). Das Drehbuch entsteht durch Auswahl aus der Hintergrundrepräsentation. Es wird nicht vom Hintergrund bestimmt, muss aber in dessen Logik funktionieren, um verständlich zu sein und den gewünschten Effekt beim Gegenüber zu erzeugen.134 Für Alexander ist die diachrone Seite des Vorgangs ebenfalls nicht zentral, aber im Unterschied zu Goffman hebt er explizit hervor, dass das Drehbuch bereits Dagewesenes aufgreift, wiederholt und verändert. Erst Schechner ließ der Wiederholung und damit dem diachronen Aspekt einer Performanz gesonderte Aufmerksamkeit zuteilwerden:
133 Goffman: The Presentation of Self, 32–44. 134 Alexander: Cultural Pragmatics, 58 f.
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Grundlagen
In fact, restored behavior is the main characteristic of performance. The practitioners of all these arts, rites, and healings assume that some behaviors – organized sequences of events, scripted actions, known texts, scored movements – exist separate from the performers who ›do‹ these behaviors. Because the behavior is separate from those who are behaving, the behavior can be stored, transmitted, manipulated, transformed.135
Wie an diesem Zitat ersichtlich ist, benutzt Schechner im Unterschied zu Goffman und Alexander kein Begriffspaar. Stattdessen definiert er Performanz als wiederhergestelltes Verhalten (restored behavior)136 und deckt auf diese Weise beide Aspekte ab. Das Substantiv bezieht sich auf das gegenwärtige Geschehen, während das Adjektiv Wiederholung samt der dafür erforderlichen Speicherung impliziert. Speicherung und Wiederholung sind auch bei samozvanstvo wichtig; ich werde aber nicht mit restored behavior arbeiten, sondern mit dem Begriffspaar Archiv und Repertoire von Diana Taylor. Taylor kam über ihr Interesse für die präkolumbianischen Gesellschaften Amerikas zum Performanzbegriff. Für sie ist Performanz ein Mittel, um Wissen zu erzeugen, zu speichern und weiterzugeben.137 Auf diese Weise kann sie begründen, dass Schriftlichkeit in diesen Gesellschaften zwar nur eine geringe Rolle spielte, sie aber über andere Wege zur Wissensspeicherung und -weitergabe verfügten, dank derer sie weder ihren europäischen »Entdeckern« unterlegen, noch »geschichtslos« gewesen seien.138 Die zentrale Position der Weitergabe von Wissen in Taylors Verständnis von Performanz passt gut zur Fragestellung dieser Monografie. Auch die Konzeptionen von Goffman, Alexander und Schechner basieren auf der Speicherung und Weitergabe von Wissen, aber nicht einmal Schechner ging auf die Frage ein, wie diese erfolgen. Taylors Interesse für schriftlose Gesellschaften ist insofern relevant, als die meisten samozvancy und samozvanki AnalphabetInnen in einer insgesamt nur wenig alphabetisierten Gesellschaft waren. Die Begriffe Archiv und Repertoire werden nun näher vorgestellt139 und dann ein paar damit verbundene Probleme angesprochen.140 Zum Archiv gehört alles, was in einer Kultur scheinbar von dauerhaftem Bestand und unveränderlich ist: unter anderem Bauwerke, Objekte der materiellen Kultur, schriftlich fixierte Texte oder, aus der jüngeren Vergangenheit stammend, Ton- und Filmaufnahmen. Die Zusammensetzung des Archivs kann sich ändern, doch nur langsam und in kleinen Etappen. Folglich bemerken die Menschen, die sich auf das Archiv beziehen, eine solche Veränderung in der 135 136 137 138 139 140
Schechner, Richard: Between Theater and Anthropology. Philadelphia 1985, 35 f. Ebd., 35–37; Ders.: Performance Studies, 34–36. Taylor: The Archive and the Repertoire, 16. Ebd., 17 f. Genauer nachzulesen bei Ebd., 19–22. Für den Hinweis auf die Problematik des Archivs danke ich Angela Rustemeyer.
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Regel nicht. Zu größeren Verschiebungen kommt es nur in Bezug darauf, was die einzelnen Bestandteile bedeuten und / oder wie sie miteinander in Wechselwirkung stehen. Da aber die Bestandteile selbst im Archiv verbleiben, geht auch die Bedeutungsveränderung oft unbemerkt vor sich und wird erst aus einer größeren zeitlichen Distanz sichtbar. Im Unterschied zum Archiv ist das Repertoire flüchtig und wird nur in seiner performativen Umsetzung sichtbar, die nicht wiederholt werden kann.141 Das Repertoire unterliegt einem ständigen Wandel, was den Vorteil hat, dass die Beteiligten die Auswahl und Schwerpunktsetzung gemäß ihren eigenen Zielen oder Absichten vornehmen können. Wie Drehbuch und Hintergrundrepräsentation bei Alexander sind Archiv und Repertoire insofern miteinander verbunden, als in das Repertoire nur eingehen kann, was im Archiv vorhanden ist. Taylor betont jedoch, daraus folge nicht, dass das Repertoire dem Archiv untergeordnet sei. Zum einen besteht jede Performanz aus Komponenten aus beiden Bereichen. Verschiedene Gesellschaften setzen unterschiedliche Schwerpunkte, messen dem Archiv oder dem Repertoire mehr Gewicht bei, doch sie können nicht auf einen der beiden Bereiche gänzlich verzichten. Zum anderen ist nicht vorgegeben, welche Bestandteile des Archivs in einer Performanz eingesetzt werden, welchem Zweck sie dienen und welche Bedeutung sie erhalten. Es ist beispielsweise denkbar, dass die in der Performanz zugewiesene Bedeutung der Bedeutung im Archiv genau entgegengesetzt ist. Bei näherer Betrachtung ist der Begriff des Archivs nicht vollständig ausgearbeitet. Die wichtigsten Kritikpunkte ergeben sich daraus, dass das Archiv wie auch das Repertoire nur vermittelt zugänglich ist.142 Bei samozvanstvo ist das Repertoire vermittelt, weil die bei der Performanz Anwesenden das Geschehen im Verhör nacherzählten und ihre Nacherzählung schriftlich festgehalten wurde. Das Archiv ist durch die mündlich wie schriftlich überlieferten Texte vermittelt, auf die sich samozvancy und samozvanki während der Performanz bezogen, sowie durch die Handlungen, die sie ausführten, weil sie sie für herrschertypisch hielten. Die Vermitteltheit des Archivs führt auf Schlussfolgerungen, die im Widerspruch zu Taylors Ausführungen stehen. Sie bedingt etwa, dass das Archiv nur als relative, standpunktabhängige Größe verstanden werden kann. Taylor macht nicht ausreichend deutlich, welchen TrägerInnen das Archiv zuzuordnen ist, bzw. wer dafür in Frage kommt. Ihren Ausführungen zufolge ist 141 Seit der Erfindung des Tonfilms ist es möglich, eine Performanz so aufzuzeichnen, dass sie in ihrer gesamten Dauer immer wieder abgespielt (angehört, angesehen) werden kann. Eine Aufzeichnung ist allerdings stets Bestandteil des Archivs und damit von der Performanz, die sie repräsentiert, zu unterscheiden (Taylor: The Archive and the Repertoire, 20.). 142 Ebd., 21.
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anzunehmen, dass das Archiv einer Kultur, einer Gesellschaft oder einem Land zuzuordnen ist. Unter dieser Voraussetzung muss es als eine virtuelle Gesamtheit betrachtet werden, da alle Bestandteile aufzuzählen und zu kennen die Möglichkeiten eines einzelnen Menschen übersteigen würde. Wichtiger ist allerdings, dass ein Bezugsrahmen wie ein Land oder eine Gesellschaft zum einen im zeitlichen Verlauf Veränderungen unterworfen ist, zum anderen nicht einmal zu einem bestimmten Zeitpunkt uniform sein kann. Bei samozvanstvo ist die Zusammensetzung des Archivs nur über das kulturelle Wissen erschließbar, auf das sich samozvancy / samozvanki und ihre AnhängerInnen in der Performanz bezogen. Welche Bezugspunkte das in einem konkreten Fall waren, hing (unter anderem) davon ab, welchen sozialen und religiösen bzw. konfessionellen Hintergrund die Beteiligten hatten, woher sie stammten und in welcher Gegend des Reiches das jeweilige falsche Mitglied der Dynastie auftrat. Dementsprechend ist in den Quellen beispielsweise nicht »das« Herrscherbild als einheitliche Essenz zu finden, sondern nur eine Menge zwar ähnlicher, aber nicht exakt übereinstimmender Vorstellungen davon, was einen Herrscher / eine Herrscherin ausmache. Es ist dennoch sinnvoll, für die Analyse und Argumentation von einer virtuellen Gesamtheit auszugehen, weil die Herrscherbilder bei allen Nuancen keine klar voneinander geschiedenen Blöcke ergeben, sondern die Ähnlichkeiten gegenüber den Unterschieden überwiegen. Ungeachtet der genannten Schwächen ist das Begriffspaar Archiv und Repertoire besser als die vorhandenen Alternativen geeignet, um die Besonderheiten von samozvanstvo theoretisch zu fassen. Das Auftreten falscher Mitglieder der Dynastie kann nicht analysiert werden, ohne davon auszugehen, dass es einen wenig veränderlichen Grundstock von Wissen gab, auf den sich die samozvancy und samozvanki wie auch ihre AnhängerInnen beziehen konnten, ohne dass sie sich gezielt auf die Performanz vorbereiten hätten müssen. Sonst ließe sich die in der Einleitung erwähnte Stabilität des Phänomens nicht erklären, und dafür steht das Archiv. Als weitere Voraussetzung müssen die Beteiligten aus dem Grundstock frei ausgewählt haben. Die Performanzen der verschiedenen samozvancy und samozvanki sind einander ähnlich, aber niemals völlig deckungsgleich. Dafür steht das Repertoire. Ohne das Ineinandergreifen und die wechselseitige Bedingtheit einer stabilen und einer variablen Größe ließe sich nicht erklären, wie ein falsches Mitglied der Dynastie überhaupt als echt anerkannt werden konnte. Lautete die Ausgangshypothese, dass das Wissen zu atomisiert und wandelbar wäre, um jemals feste Einheiten zu ergeben, hätten sich die AnhängerInnen ja nicht einmal darauf verständigen können, was als glaubwürdig und was als unglaubwürdig zu bewerten sei. Wie oben ausgeführt, definierten auch Goffman, Schechner und Alexander Begriffspaare, die denselben Grundgedanken zum Ausdruck bringen. Doch selbst wenn die unklaren Punkte bei Taylor beiseitegelassen werden, ist ihre
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Konzeption am umfassendsten. Über den Performanzbegriff hinausgehend weist die Unterscheidung von Archiv und Repertoire Ähnlichkeiten mit dem kulturellen Gedächtnis auf, konkret mit dem Begriffspaar Speichergedächtnis und funktionales Gedächtnis bei Aleida Assmann.143 Das Speichergedächtnis entspricht weitgehend dem Archiv, das funktionale Gedächtnis dem Repertoire. Das kulturelle Gedächtnis ist aber keine sinnvolle Alternative, um samozvanstvo zu analysieren. Das Konzept wird auf Gemeinschaften angewandt, die sich bewusst an etwas Vergangenes erinnern und das Wissen darüber bewusst weitergeben. Der Bezug auf die Vergangenheit dient dazu, unter den Mitgliedern in Gegenwart und Zukunft Zusammenhalt und Identität zu stiften. Im Unterschied dazu bestand zwischen den verschiedenen samozvancy und samozvanki keine Gemeinschaft, sie beteiligten sich nicht an der Performanz, um sich einer kollektiven Identität zu vergewissern und sie pflegten auch nicht in irgendeiner Form die Erinnerung an frühere Fälle, auch wenn sie sich mitunter in der Performanz auf »VorgängerInnen« bezogen, um glaubwürdiger zu erscheinen. Im Vergleich mit Erinnerungsgemeinschaften sind Erwerb und Weitergabe des Wissens bei samozvanstvo viel amorpher und diffuser. Das kulturelle Gedächtnis bietet für eine solche Situation keine Lösung.
143 Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999, 133–137.
II. Voraussetzungen der Performanz
3. Das Archiv von samozvanstvo
1778 zog der Zaporožer Kosake Dmitrij Popovič in »Neurussland« von Dorf zu Dorf, um fantasievolle Geschichten über Peter III. und Pugačev zu erzählen.1 Er behauptete etwa, Pugačev trete jetzt unter dem Namen Metla auf und stehe mit einer Armee an einem Meer oder auf einem Berg. Bei ihm befänden sich Semen Palej, Aleksej Krasnoščekov und Maksim Železnjak.2 Von Popovičs Wirken und den Männern, von denen er sprach, wird unten noch genauer die Rede sein. Vorerst genügt der Hinweis, dass sich seine Ankündigung auf keinen Fall bewahrheiten konnte, weil alle Genannten zu diesem Zeitpunkt bereits tot waren. Popovič war im Untersuchungszeitraum nicht der Einzige, der die Ankunft Verstorbener ankündigte, als wären sie noch am Leben. Demnach stellt sich die Frage, warum die Zeitgenossen, abgesehen von schlichter Unkenntnis, solche Behauptungen nicht als absurd abtaten, sondern zumindest ein Teil von ihnen bereit war, ihnen Glauben zu schenken. Antworten finden sich im kulturellen Fundus aus den im Untersuchungszeitraum allgemein verbreiteten Vorstellungen, folkloristischen Überlieferungen, mündlich wie schriftlich weitergegebenen Texten und Ähnlichem mehr. Samozvancy und samozvanki bezogen sich auf ihn, um glaubwürdig zu wirken, während er ihre AnhängerInnen dazu brachte, sie unter der angeeigneten Identität zu akzeptieren. Wenn um 1780 jemand ein Gerücht für plausibel hielt, dem zufolge mehrere Verstorbene noch am Leben waren, würde er es auch akzeptieren können, wenn er vermeintlich einem dieser Männer begegnete. Um solche Vorstellungen geht es im nun folgenden 3. Kapitel. In Taylors Begrifflichkeit gesprochen, wird das Archiv genauer beleuchtet. Sich damit auseinanderzusetzen veranschaulicht zum einen, dass samozvancy und samozvanki nicht im luftleeren Raum operierten, sondern auf dem kulturellen Boden der jeweiligen Gegenwart standen, zum anderen ergibt sich eine genauere Vorstellung davon, aus welchen Bestandteilen sich dieser kulturelle Boden zusammensetzte. Da das Archiv eine virtuelle Größe ist, die nicht in ihrer Gesamtheit erfasst werden kann, werden nur Beispiele behandelt. Deren Auswahl wird hauptsächlich von pragmatischen Gesichtspunkten wie weißen Flecken in der bisherigen Forschung und den vorhandenen Quellen bestimmt.
1 RGADA , f. 7, o. 2, d. 2455, l. 1. 2 Ebd., l. 4 ob.
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Nichtsdestoweniger soll möglichst viel von der Vielfalt des Archivs selbst, den Wegen seiner Vermittlung sowie der Art und Weise, wie sich die an der Performanz Beteiligten darauf bezogen abgebildet werden. Auf der Grundlage der ausgewählten Ausschnitte können zwar allgemeine Schlüsse über samozvanstvo gezogen werden, unmittelbar betreffen sie aber unterschiedlich viele und meist vergleichsweise wenige Fälle. Das erste Beispiel sind mit dem Körper des Herrschers3 verbundene Vorstellungen. Diese waren für den gesamten Untersuchungszeitraum und für die Mehrheit der samozvancy relevant, sodass sie den größten hier zu untersuchenden Ausschnitt des Archivs bilden. Das mittlere Kapitel über das Motiv der Gefangenschaft in einer Säule diskutiert anhand einer Gruppe von neun Gerüchten den Zusammenhang zwischen Gerüchten und samozvanstvo bzw. fiktiven Selbstzeugnissen. Am Ende steht mit dem Duo Timofej Truženik und Larion Starodubcev ein Beispiel, an dem sich zeigen lässt, wie der Zugriff auf das Archiv von individuellen Interessen sowie dem sozialen und geografischen Hintergrund der Akteure bestimmt war.
3.1
Der Körper des Herrschers
Samozvanstvo und Körperlichkeit
Claudio Ingerflom machte 2015 auf einen Aspekt von samozvanstvo aufmerksam, der eigentlich offensichtlich ist, vor ihm aber dennoch niemand explizit thematisiert hat: Der Körper sei für die Aneignung einer fremden (Herrscher-)Identität zentral gewesen. Im Moskauer und Russländischen Reich sei das Verhältnis zwischen dem Amt und der Person des Herrschers / der Herrscherin anders vorgestellt worden als in Westeuropa. Die Herrscherwürde sei ohne Bezug auf einen konkreten Körper nicht denkbar gewesen, und diese große Bedeutung des Herrscherkörpers erkläre, warum es so viele
3 In diesem Unterkapitel wird fast ausschließlich von männlichen Mitgliedern der Dynastie und von samozvancy die Rede sein. Das hat zum einen den Grund, dass sich samozvanki vor 1918 mit der Ausnahme der Nonne Devora die Identität von Lebenden aneigneten, sodass sie ihr unerwartetes Erscheinen auch ohne die Annahme erklären konnten, ein Mitglied der Dynastie überstehe jede Gefahr unbeschadet. Zum anderen gab es im Untersuchungszeitraum stets signifikant weniger samozvanki als samozvancy, und damit weniger Quellen, von denen auf solche Vorstellungen geschlossen werden könnte. Allerdings steht zu vermuten, dass hier nicht nur ein genderspezifisches Ungleichgewicht in den Quellen zum Tragen kommt, sondern die meisten Vorstellungen, die zu den gängigen Herrscherbildern gehörten, nicht auf Frauen übertragbar waren.
Das Archiv von samozvanstvo
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samozvancy und samozvanki gegeben habe.4 Das ist ein wertvoller Hinweis, aber der Körper des Herrschers war auf insgesamt dreifache Weise für samo zvanstvo relevant: Erstens waren nahezu alle Mittel der Performanz5 auf den Körper bezogen. Selbst die fiktiven Selbstzeugnisse der samozvancy und samozvanki, die in schriftlicher Form erhalten sind und als Narrative analysiert werden, waren erstens üblicherweise mündlich vermittelt und kamen zweitens nur im Zusammenspiel damit zur Geltung, wie sich samozvancy und samozvanki gegenüber anderen Menschen verhielten, wie sie sich kleideten und Ähnliches mehr. Folglich hing die Wirkung ihres Auftretens zu einem wesentlichen Teil davon ab, wie sie ihre Körperlichkeit einsetzten. Dieser Aspekt wird in Kapitel 5.2 ausführlich behandelt; die beiden nachfolgend genannten Aspekte bilden hingegen den Gegenstand des vorliegenden Unterkapitels. Zweitens basierten Gerüchte über Mitglieder der Dynastie ebenso wie die fiktiven Selbstzeugnisse von samozvancy häufig auf der Prämisse, dass ein in Wahrheit Verstorbener nach wie vor gesund und munter sei. Daraus ergab sich die Behauptung, er entkomme jeder Gefahr und überstehe Entbehrungen unbeschadet, die realistischerweise zum Tod oder zumindest zu schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen führen hätten müssen. Nun ist leicht ersichtlich, dass samozvancy kaum anders vorgehen hätten können, weil sie sich meistens die Identität von Verstorbenen aneigneten. Deren Tod als Faktum zu akzeptieren hätte ihre Performanz ad absurdum geführt, noch ehe sie richtig begonnen hätte. Doch dieses Element von Konstruktionszwang ändert nichts daran, dass solche Behauptungen keineswegs die Glaubwürdigkeit eines samozvanec beeinträchtigten. (Potenzielle) Anhän gerInnen waren bereit, sie zu akzeptieren, und das bedeutet, sie teilten mit den samozvancy Vorstellungen über den Körper des Herrschers, welche die fortgesetzte Rettung von Mitgliedern der Dynastie plausibel erscheinen ließen. Welche das sind, wird in diesem Unterkapitel erörtert. Wenn jemand alle Bedrohungen ohne einen Kratzer übersteht, liegt der Schluss nahe, dass er für alle Zeit vor dem Tod gefeit sei. Nichtsdestoweniger wäre es irreführend, von Unsterblichkeit und dem Glauben daran zu sprechen, weil die Quellen nur die retrospektive Überzeugung belegen, der Betroffene sei zum gegebenen Zeitpunkt noch nicht gestorben und nicht die auf die Zukunft bezogene Überzeugung, dass er nie sterben werde. Eine derartige prospektive Versicherung ist auf wenige Einzelfälle beschränkt und nicht verallgemei nerbar.
4 Ingerflom: Le tsar c’est moi, 20. 5 Zu diesem Begriff siehe Kapitel 5.2.
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Voraussetzungen der Performanz
Ein Beispiel, das auch mit samozvanstvo zu tun hat, sind die Skopzen. Sie glaubten, ihr Gründer Kondratij Selivanov sei unsterblich.6 Außerdem schrieb zumindest ein Teil der Mitglieder dieser heterodoxen Gruppe auch Personen, die in ihrer Version der russländischen Geschichte bzw. in ihrer Lehre7 eine wichtige Rolle spielten, ein ewiges Leben zu.8 Das betrifft Elizaveta Petrovna, die den Skopzen zufolge der Welt entsagt und als Akulina Ivanovna weitergelebt hatte,9 Alexander I., dessen Regierungszeit die Skopzen aufgrund der ihnen gegenüber geübten Toleranz als Goldenes Zeitalter betrachteten, sowie Alexanders Frau Elizaveta Alekseevna.10 Selbst Napoleon, der den Skopzen wie auch radikalen Altgläubigen als Antichrist galt, war in ihrer Version der Geschichte nicht auf St. Helena gestorben, sondern ins Osmanische Reich gegangen, um dort scheinbar bis in alle Ewigkeit weiterzuleben.11 Die Skopzen integrierten laufend neue Elemente in ihr Welt- und Geschichts bild, gaben ihnen aber den Anschein seit jeher bestehender Traditionen. Folglich ist es bei vielen Details schwierig, festzustellen, welchen Ursprung
6 [Nadeždin, N. I.]: Issledovanie o skopčeskoj eresi. In: Kel᾽siev, V. (Hg.): Sbornik pra vitel᾽stvennych svědenij o raskol᾽nikach. Vypusk tretij O skopcach. London 1862, 1–240, hier 75. Der fragliche Mann benutzte den Namen Kondratij Selivanov von seiner Verbannung nach Sibirien 1775 bis zu seinem Tod 1832. Vorher scheint er in den Quellen unter verschiedenen anderen Kombinationen auf, wobei nicht immer klar ist, ob es sich tatsächlich um Selivanov handelte, weil nicht eindeutig bestimmbar ist, welcher Name zu welchem Zeitpunkt welches Individuum bezeichnete (Ebd., 76 f.; Engelstein, Laura: Castration and the Heavenly Kingdom. A Russian Folktale. Ithaca / New York 1999, 30 f.). 7 Lehre soll hier nicht als ein Korpus verbindlicher Dogmen verstanden werden, da es ein solches bei den Skopzen wie bei den meisten anderen heterodoxen Gruppen nicht gab (Pančenko, A. A.: Christovščina i skopčestvo. Fol’klor i tradicionnaja kul’tura russkich mističeskich sekt. Moskva 2002, 41.). Vielmehr ist die Gesamtheit der Glaubensvorstellungen gemeint, die je nach Ort und Zeit variierte. 8 Liprandi, I.: O sektě Tatarinovoj. In: ČIOIDR 4/1868, 20–51, hier 50, Fußn. 34. 9 Sinjavskij, Andrej: Ivan-durak. Očerk russkoj narodnoj very. Moskva 2001, 443. Akulina Ivanovna war die Vorsteherin einer großen Chlystengemeinde im Gouvernement Orel. Sie soll Selivanovs besondere Fähigkeiten entdeckt und ihn als Erste als Erlöser bezeichnet haben. 10 [Nadeždin]: Issledovanie, 65 f. Es ist in diesem Zusammenhang nicht uninteressant, dass unabhängig von der Geschichtsversion der Skopzen sowohl über Alexander I., als auch über dessen Frau Elizaveta Alekseevna Gerüchte kursierten, denen zufolge sie ihren Tod vorgetäuscht und unter einer anderen Identität weitergelebt hatten. Mit Alexander I. wird üblicherweise der sibirische Einsiedler Fedor Kuz᾽mič in Verbindung gebracht, mit Elizaveta Alekseevna die Pilgerin Vera, genannt Mol’čal᾽nica (etwa ›die Schweigerin‹). Zu beiden Gerüchtekomplexen siehe Kudrjašev, Konstantin: Aleksandr I i tajna starca Feodora Koz’miča. Moskva 2014 [erstmals Moskva 1923]. Zu Alexander I. als Fedor Kuz᾽mič siehe auch Kapitel 4.3. Da nicht zu bestimmen ist, wann die Skopzen begannen, an die Unsterblichkeit des Kaiserpaares zu glauben, ist nicht klar, ob sie sich an diesen Gerüchten orientierten. 11 Sinjavskij: Ivan-durak, 449.
Das Archiv von samozvanstvo
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sie hatten und wann genau die Skopzen sie rezipierten.12 Das gilt auch für den Glauben an die Unsterblichkeit der genannten Personen. Die Skopzen könnten Selivanov selbst für unsterblich gehalten haben, weil er tatsächlich ein sehr hohes Alter erreichte.13 Bei den übrigen genannten Personen kann das nicht der Fall gewesen sein, da sie im Gegenteil eher jung starben. Es muss also eine andere Erklärung geben. Hier kommen zwei in Frage. Die erste ergibt sich daraus, dass sich die Skopzen als heterodoxe Gruppe formierten, bevor sie mittels samozvanstvo eine Anbindung an die weltliche Geschichte des 18. und 19. Jahrhunderts herstellten.14 Es erscheint daher plausibel, dass ihre religiösen Vorstellungen es ihnen erleichterten, für sie bedeutsame Personen für unsterblich zu halten. Die zweite Möglichkeit lautet, dass die Skopzen zu jenen Teilen der Bevölkerung gehörten, welche die von der Hochkultur vorgegebene fortschreitende Sakralisierung der Mitglieder der kaiserlichen Familie rezipierten (siehe unten). Sie könnten etwa gemeint haben, Sakralität sei gleichbedeutend mit Unsterblichkeit. In jedem Fall ist davon auszugehen, dass es sich um eine nachträgliche Zuschreibung bzw. Deutung handelt und nicht um einen von Anfang an vorhandenen Bestandteil ihres Weltbildes. Drittens soll Ingerfloms eingangs erwähnte Beobachtung ebenso erweitert wie hinterfragt werden. Warum genau war der Körper des Herrschers im Moskauer und Russländischen Reich wichtiger als in westeuropäischen Monarchien? Liegt es tatsächlich daran, dass Amt und Person des Herrschers nur unsauber unterschieden wurden oder gibt es eine andere Erklärung? Welche Rolle spielten dabei Vorstellungen von Herrschersakralität? Unversehrte Körper
In diesem ersten Abschnitt wird anhand einer Auswahl von Beispielen aus dem Untersuchungszeitraum veranschaulicht, in welcher Form körperliche Unversehrtheit in den Quellen vorkommt, und eine Erklärung dafür angeboten. Das Material stammt zum einen aus den fiktiven Selbstzeugnissen von samozvancy, zum anderen aus Gerüchten über das »wahre« Schicksal eines Mitglieds der Dynastie. In den Quellen lassen sich zwei Varianten körperlicher Unversehrtheit unterscheiden. Bei der ersten entkommt der Herrscher jeder noch so akuten und großen Gefahr für sein Leben. Sie ist die historisch ältere, weil sich schon 12 Engelstein: Castration and the Heavenly Kingdom, 32 f.; 39. 13 Selivanovs Geburtsjahr ist nicht bekannt, dürfte aber, nach den gesicherten Daten über sein Leben zu schließen, um 1740 liegen. In seinem Todesjahr 1832 hatte er folglich ein Alter von rund 90 Jahren erreicht (Pančenko: Christovščina i skopčestvo, 174.). 14 Ebd., 316.
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Voraussetzungen der Performanz
die samozvancy der Zeit der Wirren (zu ihnen siehe Kapitel 4.1) darauf bezogen, um ihre Existenz plausibel zu machen. Die persona carevič / Zar Dmitrij erwies sich als besonders langlebig, was nicht zuletzt damit zusammenhängt, dass sie verschiedene Personen verkörperten, die stets an das bisherige Geschehen anknüpfen mussten, um ihr Dasein zu begründen. Der erste falsche Dmitrij präsentierte sich als der auf wundersame Weise seinen Mördern entkommene jüngste Sohn Ivans IV. Sowohl Michail Molčanov, der in der zweiten Hälfte des Jahres 1606 in Schloss Sambor (ukr. Sambir) als Dmitrij fungierte, als auch der als »Bandit aus Tušino« (Tušinskij vor) bekannte zweite falsche Dmitrij begründeten ihre Existenz unter der angeeigneten Identität damit, dass »Dmitrij« seinen Sturz überlebt habe und ihm die Flucht aus Moskau gelungen sei. Die nach ihnen auftretenden falschen Dmitrii wiederum stützten sich auf die Behauptung, »Dmitrij« sei seinen Mördern in Kaluga entkommen. Über den dritten und vierten falschen Dmitrij ist wenig bekannt, zumal sie als samozvancy nicht übermäßig erfolgreich waren. Letzteres lässt sich dahingehend deuten, dass die Zeit der Wirren der Bevölkerung und dem Land bei ihrem Erscheinen ab 1610 bereits zu viel abverlangt hatte, als dass sich erneut eine größere Anzahl Menschen für die Machtambitionen eines Individuums mobilisieren hätte lassen. Oder aber die geringe Resonanz ist ein Hinweis, dass zu viele Personen innerhalb zu kurzer Zeit als Dmitrij aufgetreten waren und die persona gewissermaßen abgenutzt hatten.15 Allerdings zeigt selbst der begrenzte Erfolg der letzten samozvancy der Zeit der Wirren, dass es weiterhin Menschen gab, die von »Dmitrijs« wiederholter Rettung überzeugt waren und somit implizit annahmen, nichts und niemand könne ihm als dem Zaren etwas anhaben. Dieser Befund wird dadurch gestützt, dass bis in die 1640er Jahre16 Menschen verhaftet wurden, weil sie behauptet hatten, der »Bandit aus Tušino« oder, wie im folgenden Beispiel, »Zar Dmitrij« sei noch am Leben: Im Jahr 132 [1624] am 27. Jänner richtete der Fedorov-Bauer aus dem Kreis Novosil᾽sk aus dem Dorf Naščokin Ivaška Semenov eine Bittschrift an den Souverän und zeigte in der Kanzlei des Voevoden [s᾽᾽ezžaja izba] bei dem großen Fürsten Michail Fedorovič Borjatinskij in einer Angelegenheit des Souveräns den Kanonier aus Novosil᾽sk Andrej Dubenec an, und im Verhör sagte Ivaška Semenov: Am selben Tag war er, Ivaška, bei einem Gespräch mit einem Kanonier aus Novosil᾽sk, mit Danilka Ovdeev, und dieser Andrjuška Dubenec sagte, als er vor dem Festungskommandanten Stepan Rževskij stand, dass der Souverän Fürst Dmitrij Ivanovič von der ganzen Rus᾽ gesund sei.17 15 Čistov: Russkie narodnye social᾽no-utopičeskie legendy, 64. 16 Für Beispiele siehe Lukin: Narodnye predstavlenija, 112–118. 17 Zitiert nach: Novombergskij (Hg.): Slovo i delo gosudarevy, 10. »132. g. genvarja v 27 d. bil čelom gosudarju Novosil’skogo uězda F˙edorov krest’janin Naščokina sela Bedkova Ivaška Semenov, а v s’’ězžej izbě v. kn. Michailu F˙edoroviču Borjatinskomu izvěščal slovesno v
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Als ähnlich zählebig wie Dmitrij erwies sich erst wieder die persona Peter III. Maßgeblichen Anteil daran hatte Pugačev (siehe Kapitel 4.2). Während des von ihm angeführten Aufstandes glaubten viele Menschen, der echte Kaiser sei zurückgekehrt und kämpfe um seinen Thron. Nach Pugačevs Hinrichtung schien eine Wiederholung dieses Vorgangs jederzeit möglich zu sein, was in einer Reihe von Gerüchten Ausdruck fand, welche die baldige Rückkehr Peters III. mit einer Armee ankündigten. Bemerkenswert ist, dass die Zeitgenossen nicht nur bereit waren, an Peters wiederholtes Überleben zu glauben, sondern sie ihm auch bereits verstorbene Kämpfer zur Seite stellten: 1778 war der eingangs erwähnte Popovič aktiv. Bei den Verhören gelang es ihm, sich um eine konkrete Antwort auf die Frage zu drücken, was er mit seinen Geschichten bezweckt hatte. Allem Anschein nach benutzte er sie als eine Art Testballon, um herauszufinden, wie viele Menschen noch bereit wären, sich unter Führung der persona Peter III. zu erheben.18 Möglicherweise wollte Popovič selbst in diese Rolle schlüpfen.19 Wie auch immer es gewesen sein mag, er kündigte die Ankunft realer, aber toter Personen an, deren Biografien Hinweise auf seine Vorstellungswelt und Absichten geben. Metla gilt als Verballhornung des Familiennamens Zametaev.20 Ignatij Zametaev kämpfte auf der Seite Pugačevs. Nach dessen Verhaftung machte er als Räuberhauptmann das Kaspische Meer und die Volga in der Umgebung von Astrachan’ unsicher. Im Herbst 1775 wurde er gefasst und starb an den Folgen der Körperstrafe. Obwohl Zametaev nicht zur ersten Garnitur von Pugačevs Truppenführern gehört hatte und als Räuberhauptmann nichts als Angst und Schrecken verbreitete, galt Metla bereits zu seinen Lebzeiten als derjenige, der Pugačevs Kampf weiterführen würde. Semen Palej (ukr. Semen Palij) war ein Kosake im Dienst der polnischen Krone. Als der König nach dem Frieden von Karlowitz 1699 die Dienste der Kosaken nicht mehr benötigte und befahl, deren Regimenter aufzulösen, gosudarevě dělě na Novosil’skago puškarja na Andreja Dubenca, а v rasprosě v zapiskě Ivaška Semenov skazal: togo ž de čisla byl on, Ivaška, na besědě u Novosil’skogo ž puškarja u Danilka Ovděeva, i tot de Andrjuška Dubenec, stoja pered osadnym golovoju Stepanom Rževskim, govoril, čto b de zdorov byl gosudar’ knjaz’ Dmitrij Ivanovič vsea Rusii.« 18 RGADA , f. 7, o. 2, d. 2455, l. 1 ob. 19 1783 wurde Popovič erneut verhaftet, weil er sich in der sloboda Alekseevka am Don, in der er nach der Entlassung aus der Zwangsarbeit untergekommen war, für Peter III . ausgegeben hatte. Bei den anschließenden Verhören behauptete er, die Idee dazu sei ihm erst im Vorjahr während der Zwangsarbeit in Taganrog gekommen (Ebd., l. 27.). Doch das muss nicht stimmen, zumal diese Variante die weniger gravierende war. 20 Zu Zametaev siehe Judin, P.: Poslě Pugačevščiny na Kaspii. In: IV 77 (1899), 546–567. Schon Zeitgenossen wie Aleksandr Suvorov gingen davon aus, dass mit Metla Zametaev gemeint sei (Ebd., 557, Fußn. 2.). Diese Auffassung ist auch überall in der Sekundärliteratur zu finden, nichtsdestoweniger handelt es sich um eine unbestätigte Hypothese. In Kapitel 4.2 werden andere Erklärungen für die Herkunft dieses Namens angeboten.
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weigerte sich Palej, dem Folge zu leisten und stellte sich 1702 an die Spitze eines Aufstandes in der rechtsufrigen Ukraine. Peter I. kam in dieser Situation seinem Verbündeten Stanislaus I. August zu Hilfe und entsandte 1704 Truppen unter Ivan Mazepa. Palej wurde besiegt und nach Tomsk verbannt, wo er 1710 starb.21 Sein Name ist primär mit dem Bestreben verbunden, das unabhängige Hetmanat der Ukraine wiederzuerrichten.22 Aleksej Krasnoščekov war Don-Kosake. Ab 1772 kämpfte er im Krieg gegen das Osmanische Reich,23 in dem er dem Akt über Popovič zufolge auch fiel.24 Bevor Pugačev den Entschluss fasste, sich für Peter III. auszugeben, hatte er geplant, sich Krasnoščekovs Truppen anzuschließen.25 Das dürfte der Grund sein, warum Popovič ihn zu Pugačevs Mitstreitern rechnete, denn weder wurde Krasnoščekovs Gestalt posthum überhöht, noch kann er sich dem Aufstand angeschlossen haben, da er sich bei dessen Ausbruch am Kriegsschauplatz befand und möglicherweise gar nicht mehr am Leben war. Maksim Železnjak (ukr. Maksym Zaliznjak) schließlich war Zaporožer Kosake und führte während des Hajdamaken-Aufstandes von 1768 das größte Kontingent Aufständischer an.26 Nachdem er in Kiev zu lebenslanger Zwangsarbeit in den Bergwerken von Nerčinsk verurteilt worden war, wurde er nicht sofort nach Sibirien geschickt. Der Dichter Gavrila Deržavin erfuhr von seinem Cousin Serebrjakov, der sich eine Zelle mit Železnjaks Gefolgsmann Černjaj teilte, dass Železnjak 1769 in Moskau gewesen war. Es ist unbekannt, ob er im Weiteren Nerčinsk erreichte oder zuvor starb.27 Somit könnte er als Einziger der genannten Männer noch gelebt haben, als ihn Popovič in Pugačevs Armee platzierte. Popovičs Erzählungen waren aber vermutlich nicht von konkreten Informationen über Železnjaks Verbleib motiviert, sondern von Gerüchten, die während des Pugačev᾽schen Aufstandes in der rechtsufrigen Ukraine kursiert waren und Železnjak zu einem von dessen Mitstreitern gemacht hatten.28 Um zusammenzufassen: Popovič machte aus Metlas Armee ein überwiegend kosakisches Pantheon mit einigem Unruhepotenzial. Die Wahl der Kämpfer erlaubt wohl Rückschlüsse darauf, was er selbst plante. Am auffälligsten ist jedoch, dass Popovič nur Männer nannte, die zu diesem Zeitpunkt Polons’ka-Vasylenko, N.: Palij ta Mazepa. Avgsburg 1949, 9 f. Ebd., 7. Ovčinnikov (Red.): Emel’jan Pugačev na sledstvii, 363, Endn. 55. RGADA , f. 7, o. 2, d. 2455, l. 4 ob. Ovčinnikov (Red.): Pugačev na sledstvii, 138. Zu dem Aufstand siehe Reufsteck, Jens: Bauern als Kosaken. Die Kolijivščyna des Jahres 1768. In: Löwe, Heinz-Dietrich (Hg.): Volksaufstände in Rußland. Von der Zeit der Wirren bis zur »Grünen Revolution« gegen die Sowjetherrschaft. Wiesbaden 2006, 293–324. 27 Lavrinenko, Nazar: Maksym Zaliznjak. Fakty, mify, zobražennja. Kyïv 2012, 56–59. 28 Golobuckij, V. A.: Maksim Železnjak. Moskva 1960, 69.
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sicher oder zumindest mit einiger Wahrscheinlichkeit tot waren, das aber offensichtlich nicht als Hindernis für die Glaubwürdigkeit seiner Geschichten ansah. Ein zweites Beispiel für eine Geisterarmee ist sehr ähnlich. Im März 1779 wurde der Kleinbürger Ivan Sokolov aus Tjumen’ verhaftet, weil er die Ankunft einer Armee angekündigt hatte, bei der sich Peter III. mit Sludnjakov und Metla sowie Großfürst Peter Petrovič befinde. Letzterer werde nach dem Sturz Katharinas II. den Thron besteigen.29 Wie auch Popovič vermittelte Sokolov mit der Auswahl der Kämpfer eine bestimmte Botschaft. Hinter Sludnjakov verbirgt sich Fedor Kamenščikov, ein Kosake aus der Festung Čebarkul᾽sk, der auch als Sludnikov (von dem russischen Wort für ›Glimmer‹, sljuda, den sein Vater abbaute) und Altynnyj glaz (›armseliges Auge‹) bekannt war.30 Er wurde 1763 in der Dreifaltigkeitsfestung am Ural inhaftiert, weil er zwei andere Kosaken tätlich angegriffen hatte, konnte aber im folgenden Jahr aus dem Gefängnis heraus zum spiritus rector der Aufständischen auf dem Eigengut (votčina) des Dolmatov-Uspenskij-Klosters werden. Mit deren Hilfe floh er im Frühjahr 1765 aus der Festung. Daraufhin gab er sich in mehreren Dörfern am Ural unter dem Namen Michail Rescov als Bote des Senats aus und rief die Bevölkerung dazu auf, der Obrigkeit nicht zu gehorchen. Kamenščikov zog bei seinen Fahrten immer weitere Kreise, bis er im Herbst desselben Jahres in St. Petersburg verhaftet wurde. 1766 wurde er nach Nerčinsk verbannt; sein weiteres Schicksal ist unbekannt. 1773 kursierten unter den Isetsker Kosaken Gerüchte, dass Sludnikov sich Pugačev angeschlossen habe. Peter Petrovič war einer der Söhne Peters I. Er wäre als Thronfolger vorge sehen gewesen, starb aber 1719 im vierten Lebensjahr. Wie Popovič versammelte Sokolov in der Armee Peters III. nur Verstorbene, sprach von ihnen aber wie von Lebenden. Das gilt gleichermaßen für Mitglieder der Dynastie, Kosaken und Aufständische. In der zweiten Variante von körperlicher Unversehrtheit ist der Betroffene über längere Zeit hinweg Lebensbedingungen ausgesetzt, die realistischerweise zu schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen und früher oder später zum Tod führen hätten müssen. Sie ist erstmals in der Regierungszeit Peters I. nachweisbar. Nach der Rückkehr des Zaren von der Großen Gesandtschaft und dem Beginn der verstärkten Verwestlichung des Moskauer Reiches kursierte eine ganze Reihe von Gerüchten, denen zufolge Peter im Ausland getötet oder 29 RGADA , f. 7, o. 2, d. 2570, l. 1–1 ob. 30 Die Angaben folgen Poberežnikov, I. V.: Samozvančestvo F. I. Kamenščikova-Sludnikova v istoričeskom kontekste. In: Ders. (Red.): Delo o samozvance F. I. KamenščikoveSludnikove. Materialy po istorii samozvančestva i krest’janskogo protesta na Urale v seredine XVIII v. Sbornik dokumentov. Ekaterinburg 1992, 3–34.
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eingesperrt worden war und ein Doppelgänger seinen Platz eingenommen hatte.31 Gerüchte mit einer solchen Fabel sollten erklären, warum sich Peter so deutlich von seinen Vorgängern unterschied. Insofern spielte es keine Rolle, ob der echte Zar darin im Ausland überlebte oder starb, und die diesbezüglichen Angaben fehlen. Anders verhält es sich in einer unter Altgläubigen verbreiteten Geschichte über Peter I., in der ebenfalls das Motiv des Doppelgängers vorkommt.32 Darin befindet sich der echte Peter lebendig begraben in einem Sarg, in dem er mehrere Jahre lang für seine Sünden Buße tun muss, ehe er zurückkehren darf. Sein Überleben ist also unabdingbarer Bestandteil der Fabel. Am Ende gelingt es ihm aber nicht, sich gegen den falschen Peter durchzusetzen, weil die reale Situation der Altgläubigen wiedergegeben werden musste. Da diese Geschichte jünger ist als die Gerüchte, könnte sie bereits zur nächsten Entwicklungsstufe gehören. Aus dem weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts sind Gerüchte überliefert, welche dieselben Motive enthalten und eindeutig vom Überleben des Protagonisten berichten. Ein Beispiel ist eine Gruppe von Gerüchten über Peter II., Aleksej Petrovič und einen namenlosen carevič aus den 1750er Jahren, welche die Genannten in einer Säule, einer Wand oder einem Turm wähnen (siehe Kapitel 3.2). In den angeführten Beispielen geht es meistens um einen Herrscher oder Thronfolger, der scheinbar immer weiterlebt, gleich, was geschieht. Die von Popovič und Sokolov verbreiteten Gerüchte zeigen jedoch, dass das auch für Personen gelten konnte, die nicht der Dynastie angehörten. Als gemeinsames diesbezügliches Vorbild für Kosaken, Aufständische und Mitglieder der Dynastie kommt vor allem die Räuberfolklore in Frage. Räuber waren in der Folklore des Moskauer und Russländischen Reiches grundsätzlich positiv besetzt. Sie galten, vergleichbar ihrem englischen Kollegen Robin Hood, als Freunde der Armen und Feinde der Reichen. Ihnen wurde eine ganze Reihe besonderer Eigenschaften zugeschrieben. Sie galten etwa als Zauberer (koldun) und unverwundbar (der Körper »nimmt keine Kugel auf«). Diese Eigenschaften wurden bis ins 19. Jahrhundert auf Personen übertragen, die zwar keine Räuber im Sinn von ›Mitglieder einer von Raubüberfällen lebenden Bande‹ waren, aber wie diese in dem Ruf standen, Freunde der Armen und eingeschworene Feinde der Reichen und Mächtigen zu sein.33 Ein gutes Beispiel für die Angleichung an einen folkloristischen Räuber ist Stepan Razin. Er war primär Kosake und Aufständischer, weist aber sowohl in zeitgenössischen Quellen, als auch in späteren Überlieferungen Merkmale eines Räubers auf. Er wird als koldun bezeichnet und gilt als unverwundbar.34 31 32 33 34
Golikova: Političeskie processy, 168. Basnin, P. P.: Raskol᾽nič᾽i legendy o Petrě Velikom. In: IV 92 (1903), 513–548. Sokolova, V. K.: Russkie istoričeskie predanija. Moskva 1970, 104; 169. Ebd., 122.
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In einer weiteren Etappe der Folklorisierung nahm er außerdem Züge eines bogatyr᾽ an. Teilweise gingen in die Räuberfolklore Motive aus den byliny ein. Bogatyri wie Räuber können etwa jahrelang in einem Stein sitzen oder selbst versteinern, bis die Zeit für neue Abenteuer gekommen ist.35 Lieder aus dem 19. Jahrhundert besagen, Razin sitze im Inneren eines Steins und werde irgendwann zurückkehren.36 Sowohl die Angleichung an einen Räuber, als auch die Angleichung an einen bogatyr᾽ verhindert, dass Razins Körper Schaden nimmt. Auch Pugačev wurde an das Bild des Räubers angeglichen. An sich unterscheiden sich die Überlieferungen über Razin und Pugačev deutlich voneinander, da jene über Razin bis zu ihrer schriftlichen Fixierung im 19. Jahrhundert eine längere Zeit der fiktionalen Überformung durchmachten und sich mehr vom historischen Geschehen entfernten, während die Überlieferungen über Pugačev näher am Geschehen blieben und insgesamt realistischer sind.37 Allerdings wurden einzelne Motive, die zunächst an Razin gebunden waren, im Laufe der Zeit zu allgemeinen Eigenschaften eines Räubers und später auf Pugačev übertragen.38 Zum Beispiel soll Pugačev wie Razin verkleidete Adelige an ihren gepflegten Händen erkannt haben.39 Auf diese Weise kam es zu einer Angleichung zwischen den beiden, die so stark war, dass im 19. Jahrhundert manche BewohnerInnen des Ural Pugačev für den wiedergekommenen Razin hielten.40 Auch Pugačev galt als unverwundbarer Beschützer der Schwachen41 und in einer von Lozanova publizierten russischen Überlieferung wird er als koldun bezeichnet.42 Letzteres ist prinzipiell zweifach deutbar. In der Zeit der Wirren wurde ein als Usurpator oder samozvanec abgestempelter politischer Gegner häufig zusätzlich durch die Behauptung diskreditiert, er betreibe schwarze Magie. Sobald die Nachricht über das Auftreten des ersten falschen Dmitrij nach Moskau gelangt war, ließ Godunov ihn in den offiziellen Bekanntmachungen als Grigorij Otrep᾽ev identifizieren, einen gewesenen Mönch und Schwarzmagier (černoknižnik). Der erste falsche Dmitrij richtete dieselben Vorwürfe an Godunov, um seine Legitimität als vermeintlicher Rurikide zusätzlich zu stärken,43 während Vasilij Šujskij unter anderem auf sie zurückgriff, 35 Ebd., 164. 36 Kostomarov, N. I.: Bunt Sten᾽ki Razina. In: Ders.: Bunt Sten᾽ki Razina. Istoričeskie monografii i issledovanija. Moskva 1994, 330–440, hier 440. 37 Sokolov, Ju. M.: Russkij fol᾽klor. Moskva 1941, 277. 38 Sokolova: Russkie istoričeskie predanija, 128. 39 Sokolov: Russkij fol᾽klor, 276. 40 Sokolova: Russkie istoričeskie predanija, 140. 41 Ebd. 42 Lozanova, A. N. (Hg.): Pesni i skazanija o Razine i Pugačeve. Moskva 1935, 198. 43 Uspenskij: Car’ i samozvanec, 168 f.
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um »Dmitrijs« Sturz zu rechtfertigen.44 Zuletzt setzte sie der falsche zweite Dmitrij gegen Šujskij ein.45 Nach der Zeit der Wirren ist eine generelle Assoziation von samozvancy und samozvanki mit Magie oder Häresie46 jedoch nicht mehr nachweisbar, obwohl die überwiegende Mehrheit der Zeitgenossen nach wie vor an die reale Wirksamkeit magischer Praktiken glaubte. Im Gegenteil ist anzunehmen, dass die Verbindung von samozvancy und samozvanki mit Magie im 18. Jahrhundert eine andere, ins Positive gewendete Bedeutung hatte als im 17. (siehe Kapitel 5.3). Daher wäre es überraschend, wäre Pugačev als koldun bezeichnet worden, weil er sich die Identität Peters III. angeeignet hatte. Eher geht sie auf die Angleichung seiner Person an das Bild des Räubers bzw. konkret Razins zurück. Das erklärt beispielsweise, warum sich Pugačev wie Razin angeblich vor der Hinrichtung retten konnte. Pugačev ist allerdings insofern ein Sonderfall, als er auch nach der Niederschlagung des Aufstandes nicht immer klar von der persona Peter III. unterschieden wurde (siehe Kapitel 4.2). Gerüchte über seine Rettung können ebenso davon herrühren, dass er an Razin (allgemein an einen Räuber) angeglichen wurde, wie davon, dass er teilweise mit Peter III. verschmolz, denn in Gerüchten kommt der Kaiser im Unterschied zu Pugačev nach dem Aufstand in jedem Fall mit dem Leben davon. Der Auslöser für die Übertragung des Merkmals körperlicher Unversehrtheit von Räubern auf ein Mitglied der Dynastie dürfte gewesen sein, dass es ein ähnlich hohes Ansehen genoss wie ein Räuber. Das soll nicht heißen, dass alle Mitglieder der Dynastie pauschal überhöht wurden. Für jedes Beispiel einer derartigen Idealisierung gibt es in den Quellen das Gegenbeispiel einer deftigen Beschimpfung, sodass beides nicht überbewertet werden sollte. Wenn aber Gerüchte besagen, ein verstorbenes Mitglied der Dynastie sei noch am Leben, ist sehr wohl davon auszugehen, dass es ähnlich hoch angesehen war wie ein Räuber. Interessant ist aber nicht nur, woher die Vorstellung kam, dass Mitglieder der Dynastie jede Bedrohung unbeschadet überstehen, sondern auch, warum es so wichtig war, dass ihre Körperlichkeit unversehrt erhalten blieb. Um auf diese Frage eine Antwort zu geben, wird im nächsten Abschnitt Hans Ulrich Gumbrechts Unterscheidung von Präsenzkulturen (im Original presence cul tures) und Sinnkulturen (im Original meaning cultures) auf die Aneignung einer fremden Identität angewandt. Anhand dreier westeuropäischer Beispiele wird gezeigt, dass samozvanstvo im Moskauer und Russländischen Reich der Logik einer Präsenzkultur folgte, während das Auftreten falscher Thron44 Perrie: Pretenders and Popular Monarchism, 119. 45 Dunning: Russia᾽s First Civil War, 259. 46 Im 17. Jahrhundert konnte Häretiker (eretik) auch ein Synonym für Magier sein.
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prätendenten in Westeuropa der Logik einer Sinnkultur folgte. Dieser Unterschied bestimmt, welchen Stellenwert der Herrscherkörper jeweils besitzt. Herrscherkörper und präsentisches Denken
Gumbrecht tritt seit den 1980er Jahren dafür ein, die zentrale Stellung der Interpretation (Hermeneutik) in den Geisteswissenschaften zu durchbrechen. Seiner Ansicht nach sollten bei der Wahl von Forschungsthemen und bei der Gestaltung der Lehre unmittelbare sinnliche Eindrücke, also Präsenzerfahrungen, stärker berücksichtigt werden.47 Um ein Argument für seinen Standpunkt zu gewinnen, historisierte Gumbrecht die Hermeneutik. Die daraus zu ziehende Schlussfolgerung lautet, weil die Hermeneutik in der Wissenschaft nicht immer die gegenwärtige Bedeutung gehabt habe, müsse sie diese auch nicht bis in alle Ewigkeit behalten. Das Ergebnis der Historisierung der Hermeneutik ist die hier interessierende Unterscheidung von Präsenzkulturen und Sinnkulturen, die Gumbrecht über Jahre hinweg entwickelte und schließlich am ausführlichsten in seinem Buch »Production of Presence« von 2004 erläuterte.48 Gumbrecht unterscheidet Präsenz- und Sinnkulturen anhand von neun Parametern.49 In Präsenzkulturen gestalten sie sich folgendermaßen: Menschen verstehen sich selbst primär als Körper und begreifen sich als Teil der sie umgebenden Welt. Allgemein anerkanntes Wissen entsteht durch Offenbarung. Die Aristotelische Zeichenkonzeption besitzt Gültigkeit. Die Menschen wollen Teil der Welt sein, wie sie ist. Das Verhältnis von Menschen und Objekten zueinander wird durch die Kategorie Raum beschrieben. Eine Gesellschaft toleriert die sichtbare Ausübung von Gewalt. Veränderungen gelten grundsätzlich als schlecht. Die Konzepte Fiktion und Spiel sind unbekannt. Die Parameter von Sinnkulturen gestalten sich folgendermaßen: Der Geist ist der primäre Bezugspunkt menschlicher Selbstwahrnehmung. Die Menschen begreifen sich als Subjekt außerhalb der sie umgebenden Welt. Allgemein anerkanntes Wissen entsteht durch Beobachtung. Die Saussure᾽sche 47 Gumbrecht, Hans Ulrich: Production of Presence. What Meaning Cannot Convey. Stanford / California 2004. 48 Ebd., 80–85. Für eine frühere, noch nicht vollständig ausgearbeitete Version siehe Ders.: Ten Brief Reflections on Institutions and Re / Presentation. In: Melville, Gert (Hg.): Ins titutionalität und Symbolisierung. Verstetigungen kultureller Ordnungsmuster in Vergangenheit und Gegenwart. Köln u. a. 2001, 69–75. 49 Bei einigen dieser Parameter ergeben sich Berührungspunkte mit dem mythischen Bewusstsein, das Jurij Lotman und Boris Uspenskij beschrieben haben (Lotman / Uspenskij: Mif – imja – kul᾽tura). Zu den Vorteilen von Gumbrechts Typologie siehe weiter unten im Fließtext.
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Zeichenkonzeption besitzt Gültigkeit. Die Menschen möchten die Welt verändern. Beziehungen werden über die Kategorie Zeit ausgedrückt. Die sichtbare Ausübung von Gewalt wird nicht toleriert. Veränderungen sind grundsätzlich positiv besetzt, die Konzepte Fiktion und Spiel sind bekannt. Präsenz- und Sinnkulturen sind als Idealtypen konzipiert, die per definitionem nicht in Reinkultur vorkommen.50 Je geringer der Abstand zur Gegenwart, desto mehr Merkmale einer Präsenzkultur sind zu erwarten, doch das schließt das Vorhandensein von Merkmalen einer Sinnkultur nicht aus, und umgekehrt. Dadurch hat die Typologie den Vorteil, ohne Hierarchisierung zwischen »primitiven«, »archaischen« oder »abergläubischen« Kulturen auf der einen Seite und »modernen« oder »rationalen« Kulturen auf der anderen Seite auszukommen. Weil jede Gesellschaft sowohl Merkmale einer Präsenzkultur, als auch einer Sinnkultur aufweist, wird damit kein lineares Fortschrittsparadigma bedient. Es bleibt genug Raum für Grauschattierungen und Paradoxa. Gumbrecht verdeutlicht den Unterschied zwischen Präsenzkulturen und Sinnkulturen an der Eucharistie im katholischen und im protestantischen Verständnis. Aus katholischer Sicht werden Hostien und Wein bei der Wandlung zu Leib und Blut Christi. Theologisch ist von der Realpräsenz Christi die Rede, was bereits deutlich macht, dass hier präsentisches Denken zugrunde liegt. Aus protestantischer Sicht erinnern Brot und Wein lediglich an das Letzte Abendmahl, ohne ihre Substanz zu verändern. Sie beziehen sich nicht auf sich selbst, sondern auf etwas anderes – sprich, sie repräsentieren etwas. Repräsentation bildet den Kern der Saussure’schen Zeichenkonzeption, weil Signifikant und Signifikat einander willkürlich zugewiesen werden. Sie ist für Sinnkulturen typisch.51 Das historisch jüngere protestantische Verständnis der Eucharistie entstand im 16. Jahrhundert, und wohl nicht zuletzt deswegen setzt Gumbrecht hier den Zeitpunkt an, ab dem Merkmale einer Sinnkultur allgemein über Merkmale einer Präsenzkultur überwogen. Die Wahl des Beispiels zeigt, dass er dabei Zentraleuropa im Blick hatte, denn das Moskauer Reich wurde nicht von der Reformation erfasst. Für die Ostkirche ist eine andere Chronologie anzunehmen. Insgesamt scheint das Moskauer und Russländische Reich länger mehr Elemente einer Präsenzkultur beibehalten und den Übergang von mehrheitlich Merkmalen einer Präsenzkultur zu mehrheitlich Merkmalen einer Sinnkultur später erlebt zu haben als zentral- und westeuropäische Länder. Die Indizien für diesen Befund werden erst durch die mögliche Erklärung bedeutsam, sodass die Erklärung zuerst kommt. 50 Gumbrecht: Production of Presence, 79. 51 Ebd., 29 f.
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Anhaltspunkte für die Ursachen der Langlebigkeit präsentischen Denkens sind in Donald Ostrowskis schmalem Band zum »intellektuellen Schweigen« der Rus᾽ zu finden. Das Schlagwort vom »intellektuellen Schweigen« bezieht sich darauf, dass die Rus᾽ zwar eine vielfältige und hochstehende Kultur besaß, die Zeitgenossen aber allem Anschein nach kein größeres Bedürfnis hatten, sich theoretisch und systematisch über sie zu äußern. Ostrowski zufolge liegt das daran, dass Ost- und Westkirche unterschiedliche Schlussfolgerungen aus den für das Christentum insgesamt bedeutenden Postulaten des Neoplatonismus zogen. Im Neoplatonismus gilt die Welt als Emanation des Einen (Gottes in der christlichen Variante), und das Eine wird als Mysterium betrachtet. In der Westkirche setzte sich die Position durch, dass die Welt der Schlüssel sei, um das Mysterium Gottes zu erfassen, da sie von Ihm ausgehe. So bestand ein Anreiz, die Welt zu erforschen, das Wissen über sie zu systematisieren und die Methoden zur Wissensgewinnung zu verfeinern. Die ostkirchliche Schlussfolgerung aus dem Neoplatonismus lautete hingegen, da die Welt von dem Mysterium Gott ausgehe, sei sie ebenfalls ein Mysterium. Also habe es keinen Sinn, irgendetwas erforschen zu wollen. Alle theoretischen Konstrukte und Systematisierungsversuche führten nur von der Wahrheit weg.52 Aus ostkirchlicher Sicht war die Wahrheit nur aus der Bibel und den Schriften der Kirchenväter erfahrbar, weil diese als unmittelbare Offenbarung von Gottes Wort galten.53 Die ostkirchliche Interpretation des Neoplatonismus erklärt nicht nur das »intellektuelle Schweigen« der Rus᾽, sondern auch die Langlebigkeit präsentischen Denkens. Eine hohe Wertschätzung für offenbartes Wissens ist typisch für eine Präsenzkultur, und möglicherweise bildet die Festlegung, welche Art von Wissen allgemein anerkannt und für eine Gesellschaft als erforderlich betrachtet wird, überhaupt den Kern dessen, was eine Präsenz- oder Sinnkultur jeweils ausmacht. Beispielsweise ist es möglich, die Präsenzkulturen eigene Skepsis gegenüber Neuerungen als Folge davon zu betrachten. Aus christlicher Sicht endete die Epoche unmittelbarer Offenbarungen von Gottes Wort mit den Aposteln. Wenn nur diese Offenbarungen als wahr gelten, führt das zu einer Orientierung an der Vergangenheit und zu einer Ablehnung aller Veränderungen, die von dem vergangenen, als ideal gedachten Zustand wegführen. Auch das Zeichenverständnis von Präsenzkulturen ergibt sich daraus. Wie bei Aristoteles werden Form und Inhalt (Zeichen und Bezeichnetes) als wechselseitig aufeinander bezogen verstanden, sodass das eine nicht verändert werden kann, ohne auch das andere zu verändern. Bei Offenbarungen verbietet sich jede Veränderung, weil sonst ihr Gehalt verloren geht oder es unmöglich 52 Ostrowski, Donald: Europe, Byzantium, and the »Intellectual Silence« of Rus᾽ Culture. Leeds 2018, 70 f. 53 Ebd., 53.
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wird, diesen Gehalt jemals zu begreifen. Dieses Verbot wird auf alle anderen Zeichen ausgedehnt. Auch die Hinweise dafür, dass präsentisches Denken im Moskauer und Russländischen Reich länger erhalten blieb als in Zentral- und Westeuropa hängen vorrangig damit zusammen, wie Wissen generiert, systematisiert und vermittelt wird und daher auch mit der Frage, welche Art von Wissen akzeptiert wird. Die erste Universität im Russländischen Reich wurde erst 1755 gegründet. So zentrale Bereiche wie Medizin, Recht und die Geisteswissenschaften erlebten erst ab Peter I. eine Professionalisierung, die sich über das gesamte 18. Jahrhundert hinzog.54 An einer Universität ausgebildete Juristen gab es überhaupt erst nach den Großen Reformen.55 Im Moskauer Reich dürften die Merkmale einer Sinnkultur ab der Mitte des 17. Jahrhunderts überwogen haben, wobei das etwas vereinfacht ist. Auf diese Verschiebung deuten Prozesse hin, die über das gesamte Jahrhundert hinweg an Deutlichkeit gewannen und sich auch im 18. Jahrhundert noch nicht lückenlos durchgesetzt hatten. Die Hinweise häufen sich aber in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, sodass die Mitte eine brauchbare Orientierung darstellt. Stefan Plaggenborg stellte fest, dass die Zeit der Wirren das bis dahin vorherrschende kosmologische Weltbild erschüttert habe.56 In Gumbrechts Begrifflichkeit übersetzt bedeutet kosmologisch, dass sich die Menschen als Teil der sie umgebenden Welt betrachten. Das ist ein Merkmal einer Präsenzkultur, während sich die Menschen in Sinnkulturen als von der Welt getrennte Subjekte begreifen. Wenn Plaggenborg schreibt, während der Smuta hätten die BewohnerInnen des Moskauer Reiches begonnen, sich nicht mehr ergeben in jeden Unbill zu fügen, sondern versucht, selbst etwas dagegen zu unternehmen und dabei auch begriffen, dass das herrschende Elend durch Menschen herbeigeführt wurde,57 lässt sich das durchaus als Subjektwerdung interpretieren. In dieselbe Richtung geht ein im 17. Jahrhundert neu entstandenes Interesse in der Literatur an der individuellen Darstellung der ProtagonistInnen, während zuvor lediglich die immer gleichen Schablonen reproduziert wurden.58 Am besten lassen sich die Verschiebungen in Richtung Sinnkultur aber an den Unterschieden zwischen GegnerInnen und BefürworterInnen der Nikonianischen Reformen zeigen. Die folgenden Überlegungen sollen nicht als Rückkehr zu überholten Deutungen der Kirchenspaltung verstanden werden, denen zufolge sie ausschließlich aus der Ablehnung an sich bedeutungsloser Details der Liturgie resultierte. Stattdessen geht es um Folgendes: Selbst wenn 54 55 56 57 58
Kollmann: Crime and Punishment, 28. Ebd., 49. Plaggenborg: Pravda, 276. Ebd., 276–278. Zhivov: Religious Reform, 189.
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unter anderem ökonomische Interessen, die Entscheidung persönlicher Konflikte zum eigenen Vorteil und das Streben nach Machterhalt einzelner local strongmen als Faktoren berücksichtigt werden, die jemanden dazu bringen konnten, dem »alten Glauben« die Treue zu halten,59 bleibt die Feststellung, dass Gläubige die Nikonianischen Reformen zum Teil ablehnten, weil sie meinten, eine Veränderung der Liturgie bedeute unweigerlich eine Veränderung des Glaubens. In dieser Haltung kommt zum einen eine für Präsenzkulturen typische Skepsis gegenüber Neuerungen zum Ausdruck, zum anderen das Aristotelische Zeichenverständnis, das Form und Inhalt fest aneinanderbindet. Zu erklären, warum die konkreten Veränderungen den Zeitgenossen geradezu als Teufelswerk erschienen, ist Aufgabe der Semiotik.60 Umgekehrt besaß für die Befürworter einer Reform wie Aleksej Michajlovič und Patriarch Nikon offenbartes Wissen einen geringeren Stellenwert und sie betrachteten den Zusammenhang zwischen Form und Inhalt als willkürlich festgelegt (de Saussure’sche Zeichenkonzeption). So konnten sie selbst liturgische Bücher als etwas Menschengemachtes begreifen, das vor Fehlern nicht gefeit war und mitunter einer Korrektur bedurfte.61 In dem Punkt, dass die Reformen nicht etwas ganz Neues hervorbringen, sondern auf einen vorgestellten Urzustand zurückführen sollten, steckt allerdings wiederum ein Teil präsentisches Denken. Wie die bereits angeführten Beispiele zeigen, wies das Moskauer bzw. Russländische Reich aber auch nach dem 17. Jahrhundert mehrere Merkmale einer Präsenzkultur auf, und samozvanstvo ist ein Beispiel dafür. Nun soll über einen Vergleich mit drei westeuropäischen Beispielen für das Auftreten falscher Herrscher und Herrschersöhne gezeigt werden, dass die Aneignung einer fremden Identität in Westeuropa im Unterschied dazu der Logik einer Sinnkultur folgte. Den Kern dieses Unterschieds bildet erneut die Frage, welche Art von Wissen allgemein akzeptiert wird. Die Beispiele decken den Zeitraum vom 14. bis zum 16. Jahrhundert ab. Bei jüngeren Fällen wäre gemäß Gumbrechts allgemeiner Chronologie von Präsenz- und Sinnkulturen zu erwarten, dass Merkmale einer Sinnkultur überwiegen. Tun sie das auch bei Fällen vor 1600, tritt der Unterschied zum Moskauer bzw. Russländischen Reich deutlicher hervor und das Argument erhält mehr Gewicht.
59 Dazu siehe Michels, Georg Bernhard: At War with the Church. Religious Dissent in Seventeenth-Century Russia. Stanford / California 1999. 60 Dazu siehe Uspenskij; B. A.: Raskol i kul᾽turnyj konflikt XVII veka. In: Ders.: Izbrannye trudy Tom I Semiotika istorii. Semiotika kul᾽tury. 2. Aufl. Moskva 1996, 333–367. 61 Dass die Nikonianischen Reformen anders als beabsichtigt keineswegs einen »ursprünglicheren«, »korrekteren« Zustand wiederherstellten, sondern sich mit der zeitgenössischen griechischen Liturgie de facto eine jüngere Entwicklungsstufe zum Vorbild nahmen, ändert nichts daran.
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Das erste Beispiel stammt aus dem 14. Jahrhundert und hat die französische Krone zum Gegenstand. Ludwig X . der Streitbare von Frankreich hinterließ bei seinem Tod 1316 eine schwangere Frau. Die verwitwete Königin brachte im selben Jahr einen Sohn (Johann I. Postumus) zur Welt, der jedoch wenige Tage nach der Geburt starb. Die Krone ging an seinen Onkel Philipp V. den Langen und danach an dessen Cousin Philipp VI. In der Regierungszeit Philipps VI. brach 1337 der Hundertjährige Krieg wegen der Frage aus, wer den größeren Anspruch auf den Thron hatte – Eduard III. von England, der enger mit Ludwig X ., Johann I. und Philipp V. verwandt war, aber einer weiblichen Linie entstammte, oder Philipp VI., der entfernter mit seinen Vorgängern verwandt war, aber einer männlichen Linie entstammte. In der ersten Phase des Hundertjährigen Kriegs tauchte Giannino di Guccio auf, der sich für Johann I. Postumus von Frankreich ausgab.62 Laut eigenen Angaben hatte ihn dazu der römische Politiker Cola di Rienzo angestiftet. Hätte Johann noch gelebt, hätte er einen stärkeren Anspruch auf den Thron gehabt als Philipp VI. und Eduard III. und der Anlass für den Hundertjährigen Krieg hätte sich in Luft aufgelöst. Bezeichnend ist, wann der vermeintliche König jeweils verstärkt aktiv wurde. Die Begegnung mit di Rienzo soll 1354 stattgefunden haben, doch Giannino verließ erst 1356 seine Heimatstadt Siena, um Unterstützung zu sammeln. In diesem Jahr kam es zur Schlacht bei Poitiers, bei der Johann II. der Gute von Frankreich in englische Gefangenschaft geriet. Die französische Monarchie befand sich am Rand des Abgrunds, und viele Zeitgenossen waren für das Argument empfänglich, dass Johanns Gefangenschaft zeige, dass er nicht der »richtige« König sei. Giannino ging aber erst 1360 endgültig von bloßen Vorbereitungen wie dem Anwerben von Söldnern und Klinkenputzen an mehreren Höfen dazu über, sich an den Kampfhandlungen zu beteiligen. Auch das war kein Zufall. 1360 wurde der Frieden von Brétigny geschlossen, der Johann II. die Heimkehr ermöglichte. Mit dem König zurück in Frankreich hätte Giannino kaum Chancen gehabt, Unterstützung zu gewinnen. Im Verlauf der sechs Jahre fand Giannino mehrere Unterstützer, von denen zumindest anzunehmen ist, dass sie die vermeintliche Rückkehr des totgeglaubten Königs nutzten, um ihr eigenes politisches Süppchen zu kochen. Das beginnt bei dem angeblichen Anstifter di Rienzo und setzt sich unter anderem mit Angehörigen des in Misskredit geratenen Templerordens und
62 Für einen Überblick siehe Bercé, Yves-Marie: Le roi caché. Sauveurs et imposteurs. Mythes politiques populaires dans l᾽Europe moderne. Paris 1990, 343 f. Die folgenden Ausführungen basieren auf Di Carpegna Falconieri, Tommaso: The Man Who Believed He Was King of France. A True Medieval Tale. Chicago, London 2008.
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Parteigängern von König Karl II. dem Bösen von Navarra fort, einem weiteren Prätendenten um die französische Krone. Das zweite Beispiel betrifft die wahrscheinlich bekanntesten falschen Thronprätendenten in England. Nach dem Tod Eduards IV. 1483 folgte ihm zunächst sein zwölfjähriger Sohn als Eduard V. nach. Jedoch machte der Erzbischof von Canterbury wenig später publik, dass Eduard IV. Elizabeth Woodville geheiratet hatte, als seine erste Frau Eleanor Talbot noch am Leben gewesen war. Dadurch wurden sämtliche Kinder aus der zweiten Ehe illegitim und die Söhne verloren das Recht zur Thronfolge. Die Krone ging an Richard III., einen Bruder des verstorbenen Königs, und Eduard (V.) wurde Ende April in den Tower gebracht. Anderthalb Monate später musste ihm sein jüngerer Bruder Richard dorthin folgen. Die Vereinigung der Brüder im Tower ist das letzte gesicherte Ereignis in beider Leben. Wie John Ashdown-Hill gezeigt hat, ist es zwar möglich, bei einem sorgfältigen Abgleich aller vorhandenen Quellen den Schluss zu ziehen, dass Eduard im Laufe des Sommers 1483 starb und Richard noch am Ende des Jahrzehnts am Leben und im Tower war,63 doch das ändert nichts am Fehlen eindeutiger Angaben. Sobald sich die Buben im Tower befanden, war für Außenstehende nicht mehr erkennbar, was mit ihnen geschah. Typischerweise kamen Gerüchte auf, um diese Lücke zu schließen. Sie behaupteten mehrheitlich, die Buben seien ermordet worden.64 Von Mord sprachen zum einen bevorzugt GegnerInnen des neuen Königs Richard III. Zum anderen waren die Brüder zu diesem Zeitpunkt von der Thronfolge ausgeschlossen, sodass es keinen politischen Grund gab, ihr Überleben und ihre Befreiung zu wünschen. Die Thronbesteigung Heinrichs VII. 1485 veränderte die Gegebenheiten erneut. Heinrich wollte Elisabeth von York, die älteste Tochter Eduards IV., heiraten, um die Häuser Lancaster und York zu verbinden und die blutigen Auseinandersetzungen zwischen ihnen ein für alle Mal zu beenden. Die Frau eines Königs musste aber ehelich geboren sein, sodass Heinrich VII. die Erklärung des Parlaments, welche die Kinder Eduards IV. illegitim gemacht hatte, noch 1485 widerrief. Ab diesem Zeitpunkt war nicht nur Elisabeth von York eine standesgemäße Braut, sondern deren Brüder gewannen auch das Recht zur Thronfolge zurück.65 Erst danach traten drei falsche Thronprätendenten auf: Lambert Simnel 1487, Perkin Warbeck 1490–1497 und Ralph Wilford 1498/1499. Warbeck gab sich für Richard von York aus, Simnel und Wilford hingegen für Eduard von Warwick, einen Cousin der »Prinzen im Tower«.
63 Ashdown-Hill, John: The Dublin King. The True Story of Edward, Earl of Warwick, Lambert Simnel and the ›Princes in the Tower‹. Stroud 2015, 51. 64 Wroe, Ann: The Perfect Prince. New York 2003, 70 f. 65 Ashdown-Hill: The Dublin King, 18 f.
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Jeder der drei hätte einen stärkeren Anspruch auf den Thron gehabt als Heinrich VII., sofern er am Leben und in Freiheit gewesen wäre.66 Das letzte Beispiel stammt wiederum aus Frankreich. 1584 starb François von Anjou, der jüngere Bruder und Thronfolger von Heinrich III. Heinrich III. war damit der letzte König aus dem Haus Valois, aber es war nicht geregelt, welche Nebenlinie nach seinem Tod zum Zug kommen würde. Zu den offenen Fragen gehörte zum einen, ob das Salische Gesetz, das Frauen und Nachkommen aus einer weiblichen Linie von der Thronfolge ausschloss und während des Hundertjährigen Kriegs erfunden worden war, um den Thronanspruch Eduards III. von England abzuwehren, angewandt oder ignoriert werden sollte. Zum anderen ging es um die Frage, ob das Prinzip der Primogenitur befolgt werden sollte, was Heinrich von Navarra einen Vorteil verschaffte, oder ob der Verwandtschaftsgrad (Konsanguinität) zum gegenwärtigen König ausschlaggebend sein sollte, was dessen Onkel Kardinal Charles von Bourbon einen Vorteil von einem Grad verschaffte.67 Alle aussichtsreichen Prätendenten engagierten Juristen, und am Ende setzten sich die Rechtsvertreter von Heinrich von Navarra durch: Das Salische Gesetz sollte ignoriert und gleichzeitig das Prinzip der Primogenitur angewandt werden.68 Tyler Lange meint, Frankreich sei am Ende des 15. und am Anfang des 16. Jahrhunderts eine monarchy of jurists gewesen, weil es Juristen waren, welche die grundlegenden Regeln formulierten, was möglich war und was nicht.69 In Hinblick auf die Thronfolgereglung stimmte das auch noch am Ende des 16. Jahrhunderts, und diese prominente Rolle eigener Rechtsspezialisten gehört zu den Merkmalen einer Sinnkultur. Bei Heinrich von Navarra stellte sich aber auch das Problem der Konfession. Das Selbstverständnis der französischen Monarchie war so stark vom Katholizismus geprägt, dass ein Protestant wie Heinrich als König undenkbar erschien. Wie hätte er Skrofeln durch die Berührung seiner Hände heilen sollen, wenn davon auszugehen war, dass er selbst nicht an die Wirksamkeit dieses Rituals glaubte?70 66 Bei Warwick ist das nicht ganz sicher. Sein Vater, der Duke of Clarence, war 1478 wegen Hochverrats hingerichtet worden. Demnach hätten sämtliche seiner Nachkommen von der Thronfolge ausgeschlossen werden müssen. Doch diese Meinung teilten nicht alle Zeitgenossen, was schon alleine daran erkennbar ist, dass gleich zwei falsche Thron prätendenten unter Warwicks Identität auftraten. Heinrich VII . hatte in diesem Punkt kein Risiko eingehen wollen und darum den echten Warwick kurz nach seiner Thronbesteigung inhaftieren lassen. 67 Greengrass, Mark: France in the Age of Henri IV. 2. Aufl. London, New York 1995, 38 f. 68 Bercé: Le roi caché, 328–339. 69 Lange, Tyler: Constitutional Thought and Practice in Early Sixteenth-Century France. Revisiting the Legacy of Ernst Kantorowicz. In: Sixteenth Century Journal 42/4 (2011), 1003–1026, hier 1019. Ich danke Angela Rustemeyer für diesen Literaturhinweis. 70 Greengrass: France, 40.
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Allerdings galt in Frankreich der Grundsatz, dass nicht einfach irgendjemand zum König bestimmt werden könne, sondern derjenige König sein müsse, dem dieses Amt von Rechts wegen zustand. Die Vorzüge oder umgekehrt Mängel eines konkreten Prätendenten spielten dabei keine Rolle.71 Dass die Zeitgenossen diesen Grundsatz durchaus akzeptierten, ist am Vorgehen der Katholischen Liga erkennbar. Diese stand zwar seit ihrer Gründung 1584 in Fundamentalopposition zum jeweiligen König und hatte nach der Thronbesteigung Heinrichs IV. 1589 auch keine Skrupel, einen Bürgerkrieg vom Zaun zu brechen. Sie maßte sich also durchaus an, den König abzulehnen, der für rechtmäßig befunden worden war. Diese Ablehnung kaschierten die Anhänger der Liga jedoch, indem sie stets einen Prätendenten unterstützen, dessen Anspruch sie für stärker hielten bzw. für stärker erklärten. Als Prätendent diente zuerst Kardinal Charles von Bourbon, der 1590 starb, dann sein jüngerer Verwandter gleichen Namens bis 1594. Erst 1592 nahm Heinrich IV. Paris ein und versprach, erneut zum Katholizismus überzutreten, was er im folgenden Jahr einlöste. Ebenfalls 1592 trat erstmals François La Ramée auf, der sich für François von Valois ausgab, einen fiktiven Sohn von Karl IX .72 Wie schon bei den anderen Beispielen ist sowohl bezeichnend, welche Identität sich La Ramée aneignete, als auch, wann seine Aktivitäten jeweils ihren Höhepunkt erreichten. La Ramées erstes Auftreten fiel in das Jahr, in dem Heinrich IV. militärisch die Oberhand über die Liga gewann. Am umtriebigsten war er jedoch im Zeitraum 1595/1596, wofür drei Umstände ausschlaggebend waren: 1593 war Heinrich IV. konvertiert, 1594 hatte er sich krönen lassen. Als König saß er damit endgültig fest im Sattel. 1594 war außerdem der jüngere Charles von Bourbon gestorben, der letzte Prätendent der Liga. Die Liga leistete 1595/1596 noch militärischen Widerstand, aber dabei handelte es sich nur mehr um Rückzugsgefechte, die am Ausgang des Bürgerkriegs nichts änderten. Unter diesen Voraussetzungen war La Ramée das fleischgewordene Wunschszenario der Liga. Hätte es einen Sohn Karls IX . gegeben, hätte kein Zweifel bestanden, dass dessen Legitimität größer war als die Heinrichs IV. Noch dazu galt Karl IX . den Anhängern der Liga als letzter »wahrhaft« katholischer König, weil er im Unterschied zu seinen Brüdern Franz II. und Heinrich III. nicht zu Zugeständnissen an die Hugenotten bereit gewesen war.73 Wenn es nun um Gemeinsamkeiten zwischen diesen Beispielen74 und ihre Unterschiede zum Moskauer bzw. Russländischen Reich geht, ist hervorzu71 72 73 74
Bercé: Le roi caché, 146. Zu ihm siehe ebd., 156–175. Ebd., 174. Die Gemeinsamkeiten beschränken sich nicht auf die angeführten Beispiele. Für die falschen Sebastians von Portugal siehe Kapitel 4.1. Für weitere Beispiele, die zum Teil über den bisher angelegten räumlichen und zeitlichen Rahmen hinausgehen, siehe: Antonsson,
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heben, dass in Westeuropa die Regelung der Thronfolge zentral war. Diese entstand zwar nicht durch Beobachtung bzw. die Interpretation von Beobachtungen, was laut Gumbrecht allgemein anerkanntes Wissen in Sinnkulturen auszeichnet.75 Die Thronfolgeregelung war aber ebenfalls menschengemacht anstatt offenbart und ihre Lücken konnten es erforderlich machen, die bestehenden Regeln zu interpretieren. Falsche Prätendenten tauchten auf, wenn die ununterbrochene Abfolge von Herrschern ins Stocken geriet, weil entweder eine Dynastie ganz ausstarb oder zumindest der bis dahin an der Macht gewesene Zweig und es alles andere als eindeutig war, an welche Familie die Krone nun gehen sollte. Kurz, falsche Thronprätendenten waren die Folgeerscheinung einer dynastischen Krise. Auf gewisse Weise glichen sie die Unzulänglichkeiten der Regeln aus, da sie die Zeit scheinbar bis zu jenem Punkt zurückdrehten, an dem die Thronfolge zuletzt eindeutig gewesen war. Letzteres ist bezeichnend: Niemand versuchte, die Regelung zu manipulieren oder ganz zu umgehen. Westeuropäische samozvancy gaben sich zielsicher für jenes Mitglied der früheren Dynastie aus, welches der Regelung bestmöglich entsprach, weil es objektiv den größten Anspruch auf den Thron gehabt hätte. Sehr deutlich wird das bei dem englischen Beispiel. Warbeck wurde nicht als Reaktion auf das Verschwinden der Brüder als Richard von England aufgebaut, sondern als Reaktion darauf, dass sie wieder das Recht zur Thronfolge besaßen. Das Auftreten von Simnel und Wilford als Earl von Warwick war von derselben Prämisse abhängig und zudem von der Annahme, dass beide Brüder tot seien. Dass die Thronfolgeregelung sogar bei so einem abenteuerlichen Vorhaben wie samozvanstvo Buchstabe für Buchstabe befolgt wurde, zeugt von einer starken Verbindlichkeit dieser Regelung und davon, dass menschengemachtes Wissen generell wertgeschätzt wurde. Samozvanstvo im Moskauer und Russländischen Reich zeigt hingegen die hohe Wertschätzung von Präsenzkulturen für offenbartes Wissen. Auch dort existierten selbstverständlich Regeln für die Thronfolge, die im Normalfall befolgt wurden. Diese Regeln waren allerdings weniger formalisiert als in Westeuropa. Das petrinische Thronfolgegesetz von 1722 war die erste schriftlich niedergelegte Regelung der Nachfolge. Bis dahin basierte das Vorgehen auf Gewohnheit; Änderungen im Prozedere waren das Ergebnis bestimmter Umstände, nicht von langfristigen Planungen, und die (Groß-)Fürsten schufen Haki: Insigne crucis. A European Motif in a Nordic Setting. In: Liszka, Thomas / Walker, Lorna E. M. (Hg.): The North Sea World in the Middle Ages. Studies in the Cultural History of North-Western Europe. Portland 2001, 15–32, hier 28 f.; Bercé: Le roi caché, 328–339; Morgan, Philip: Henry IV and the Shadow of Richard II . In: Archer, Rowena E. (Hg.): Crown, Government and People in the Fifteenth Century. Stroud, New York 1995, 1–31, hier 9 f. 75 Gumbrecht: Production of Presence, 80.
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Fakten statt Regelwerke. Im 14. Jahrhundert löste bei den Daniloviči, dem Moskauer Zweig der Rurikiden, die Primogenitur de facto das Senioritätsprinzip ab, weil es zu dieser Zeit aufgrund biologischer Zufälle nur wenige männliche Mitglieder der Dynastie gab. Bald zeigten sich die Vorteile der Primogenitur gegenüber dem Senioritätsprinzip, dessen Regeln so kompliziert waren, dass sie regelmäßig zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen nahen Verwandten führten. Großfürst Vasilij II. ging deswegen dazu über, die Zahl der Konkurrenten um die Macht künstlich klein zu halten, indem er sie töten, einsperren oder verstümmeln ließ.76 Allerdings wurde weder die Seniorität jemals formal abgeschafft, noch die Primogenitur jemals formal eingeführt. Peter I. war der Erste, der ein Gesetz über die Thronfolge erließ, legte aber paradoxerweise einen regelfreien Zustand fest: Der Kaiser / die Kaiserin konnte völlig frei entscheiden, wer ihm / ihr nachfolgen würde. Die üblichen Kriterien wie Abstammung / Verwandtschaftsgrad, Geschlecht und Religion / Konfession sollten keine Rolle spielen. Erst das 1797 von Paul I. erlassene Familiengesetz der Romanovy führte den nur in einer Sinnkultur denkbaren Grundsatz ein, dass ein Gesetz festlegte, wer die Thronfolge antreten würde.77 Die vergleichsweise schwache Regelung der Thronfolge lässt sich auch an der Nachfolge von Frauen illustrieren. Katharina I. war die erste Frau, die in ihrem eigenen Namen regierte und stellte als solche für viele Zeitgenossen ein unerhörtes Novum dar. Nichtsdestoweniger waren Frauen vor 1722 nicht explizit von der Thronfolge ausgeschlossen. Solange die Nachfolge über eine männliche Linie möglich war, wurde eine Herrscherin zwar nicht in Erwägung gezogen, doch unter außergewöhnlichen Umständen eröffneten sich für sie alle Möglichkeiten. Zar Fedor Ivanovič machte beispielsweise seine Frau Irina zur Mitregentin. Nach seinem Tod leisteten die Untertanen den Treueeid auf sie, und Irina regierte ein paar Tage lang eigenständig mit allen Befugnissen, über die auch ein Mann verfügt hätte. Dann allerdings machte sie den Weg für ihren Bruder Boris Godunov frei, indem sie sich ins Kloster zurückzog, sodass sie im Nachhinein nur mehr als Lückenbüßerin wahrgenommen wurde.78 Erst das Familiengesetz der Romanovy von 1797 schloss Frauen explizit von der Thronfolge aus, aber auch diese Bestimmung galt nur, solange eine männliche Linie existierte. Zweitens spielten die Regeln für die Thronfolge, ihre Lücken und dadurch hervorgerufene dynastische Krisen für das Auftreten von samozvancy und samozvanki eine wesentlich geringere Rolle als bei den westeuropäischen 76 Martin, Russell E.: A Bride for the Tsar. Bride-Shows and Marriage Politics in Early Modern Russia. De Kalb / Illinois 2012, 108 f. 77 Ebd., 239. 78 Dunning: Russia᾽s First Civil War, 92.
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Beispielen. Das Auftreten von samozvancy und samozvanki war nicht an eine dynastische Krise gebunden, sondern sie konnten jederzeit in Erscheinung treten. Das folgt allein schon aus ihrer großen Anzahl. Wäre samozvanstvo rein ein (dynastisches) Krisenphänomen, hätten sich das Moskauer und Russländische Reich von 1602 bis mindestens 1861 nahezu durchgehend in der Krise befunden. Eine solche Behauptung kann kaum als seriös bezeichnet werden. Zudem eignete sich die Mehrheit der samozvancy zwar auch im Moskauer und Russländischen Reich die Identität eines verstorbenen Herrschers oder Thronfolgers an, sodass das Recht zur Thronfolge keineswegs irrelevant war. Allerdings gibt es daneben genügend Beispiele für samozvancy und samo zvanki, die als Mitglieder der Dynastie auftraten, die entweder von der Thronfolge ausgeschlossen waren oder praktisch keine Aussichten hatten, den Thron jemals zu besteigen. Ersteres gilt für Frauen sowie außerehelich geborene Kinder außerhalb des Zeitraums 1722–1796. Beispiele sind die Nonne Devora, die sich 1717 für eine Schwester Peters I. ausgab, und der falsche Sohn Katharinas II. Nikolaj Petrov, der 1815 auftrat.79 Bei Petrov ist allerdings nicht klar, ob er eine eheliche oder außereheliche Geburt für sich beanspruchte und ob er der erstgeborene oder ein jüngerer Sohn sein wollte. Zweiteres gilt für jüngere Söhne, deren ältere Brüder am Leben geblieben waren. Ein Beispiel sind die gemeinsam auftretenden samozvancy Larion Starodubcev (Peter Petrovič) und Timofej Truženik (Aleksej Petrovič; zu ihnen siehe Kapitel 3.3). Aus der Perspektive der Thronfolge war einer von ihnen überflüssig, auch wenn im konkreten Fall gar nicht so einfach zu bestimmen ist, wer. Die unterschiedliche Bedeutung der Thronfolgeregelung lässt sich auf einen ähnlichen Hintergrund zurückführen wie das »intellektuelle Schweigen« der Rus᾽. Es ist davon auszugehen, dass in westeuropäischen Monarchien wie auch im Moskauer und Russländischen Reich der Anspruch lautete, mithilfe der Thronfolgeregelung jene Person zu identifizieren, die nach Gottes Willen über das Reich herrschen sollte. Die Meinungen gingen aber dahingehend auseinander, wie gut das menschengemachte Regelwerk diesen Willen abbildete. In westeuropäischen Monarchien war das diesbezügliche Vertrauen in die menschengemachte Thronfolgeregelung groß, und wenn sich doch einmal Unklarheiten einschlichen, gab es mit den Juristen eine eigene Berufsgruppe, um sie durch geschickte Argumentation auszuräumen. Das ist ungefähr die gleiche Einstellung wie die Welt als Schlüssel zum Mysterium Gottes aufzufassen. Im Moskauer und Russländischen Reich war das Vertrauen in die vorhandenen Regeln, gleich ob für Seniorität oder Primogenitur, prinzipiell auch vorhanden, aber enden wollend. Im Normalfall und was die echten Mitglieder 79 Judin: Samozvanec XIX-go stolětija.
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der Dynastie betrifft, genügten die vorhandenen Regeln. Aber es bestand ein grundsätzlicher Zweifel, dass mit ihnen immer und in jedem Einzelfall der von Gott gewünschte Herrscher gefunden werden könnte. Das ist ungefähr die gleiche Einstellung wie die Welt und Gott als undurchdringliches Mysterium zu betrachten. Über jeden Zweifel erhaben war nur eine direkte Offenbarung von Gottes Willen,80 und das ist der Knackpunkt bei samozvanstvo. Eine solche Offen barung war selbstverständlich nicht an irgendwelche Regeln gebunden; sie konnte jederzeit jede beliebige Person zum Herrscher / zur Herrscherin machen.81 Das brachte samozvancy und samozvanki eine Art Vertrauensvorschuss ein, weil es von vornherein nicht unplausibel erschien, dass sie tatsächlich die Person seien, die sie zu sein behaupteten. Die Offenbarung des mutmaßlich von Gott erwählten Herrschers ging so vonstatten, dass er unter seinen Untertanen erschien. Nicht ein abstraktes Regelwerk fungierte als Beweis seiner Erwähltheit, sondern der Körper. Tatsächlich beschrieben die Zeitgenossen das unerwartete Auftauchen eines (vermeintlichen) Mitglieds der Dynastie in ihrer Mitte auf dieselbe Weise, wie sie eine religiöse Offenbarung beschrieben hätten (siehe Kapitel 5.2). Anders als Ingerflom meint, war es also weniger eine im Vergleich mit Westeuropa andere Vorstellung vom Verhältnis zwischen Amt und Person des Herrschers, welche den Körper des Herrschers für samozvanstvo so wichtig machte, sondern die hohe Wertschätzung für offenbartes Wissen samt ihren gerade dargelegten Auswirkungen. Nichtsdestoweniger ist es wichtig, die Frage zu stellen, wie das Verhältnis zwischen Amt und Person im Moskauer und Russländischen Reich gedacht wurde, sowie, ob und inwieweit sich daraus die Zuschreibung besonderer Eigenschaften an den Herrscherkörper ableiten lässt, die eine weitere Erklärung für dessen Unversehrtheit bietet. Darum geht es im nächsten Abschnitt. Der Herrscherkörper und Sakralität
In den westeuropäischen Monarchien entstanden während des Mittelalters oder am Beginn der Frühen Neuzeit Metaphern, die eine Unterscheidung zwischen der Person und dem Amt des Herrschers zum Ausdruck brachten.82 Am 80 Usenko: Psichologija social᾽nogo protesta III, 42; Živov, V. M. / Uspenskij, B. A.: Car᾽ i Bog. Semiotičeskie aspekty sakralizacii monarcha v Rossii. In: Uspenskij, B. A. (Hg.): Jazyki kul᾽tury i problemy perevodimosti. Moskva 1987, 47–153, hier 59. 81 Ingerflom: Le tsar c᾽est moi, 219. 82 Für einen Überblick über die unterschiedlichen europäischen Lösungen siehe Monod, Paul Kléber: The Power of Kings. Monarchy and Religion in Europe 1589–1715. New Haven, London 1999, Kapitel 2, 33–80.
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bekanntesten ist zweifellos die Formel von den zwei Körpern des Königs.83 Englische (Kron-)Juristen der Tudor-Zeit erfanden sie als Argumentationshilfe in Prozessen, bei denen die Eigenschaften des Königs als Träger der Königswürde für die Entscheidungsfindung zentral waren. Sie unterschieden den politischen Körper des Königs (body politic), der als unsterblich und keinerlei Einschränkungen unterworfen galt, von seinem biologischen Körper (body natural), der sterblich und in jeder denkbaren Hinsicht fehlbar ist.84 Dabei betrachteten sie die beiden Körper als zwei voneinander getrennte Entitäten, die einander nur in bestimmten Situationen beeinflussen. Derartige Konzeptionen hatten auf lange Sicht den Effekt, dass das Amt (die Herrscherwürde) zusehends als abstrakte, eigenständige Entität aufgefasst wurde, die gegenüber dem konkreten Träger / der konkreten Trägerin der Würde in den Vordergrund trat. Mit der Zeit wurde aus dem Amt als eigenständige Entität der Staat in unserem modernen Verständnis. In England spielte der physische Körper des jeweiligen Königs beispielsweise kaum eine Rolle, sobald sich die Vorstellung von der Existenz eines politischen Körpers durchgesetzt hatte.85 Im Moskauer Reich waren an sich Ansätze zu einer derartigen Unterscheidung vorhanden, wurden jedoch nicht voll entwickelt. Seit dem 12. Jahrhundert waren in der Rus᾽ Auszüge aus den Werken des byzantinischen Diakons Agapētos (6. Jahrhundert) bekannt. Mehrere Autoren übernahmen daraus Zitate, etwa den Satz, der Herrscher sei von seiner Natur her menschlich, von seiner Würde her aber Gott gleich.86 Genaugenommen spricht Agapētos nur von einem Körper, der unterschiedliche Eigenschaften aufweist, je nachdem, ob er als Träger der Herrscherwürde oder Physis eines Individuums gemeint ist. Diese Grundlage hätte aber in eine tatsächliche Trennung von Amt und Person weiterentwickelt werden können, zumal auch die englische Formel von den zwei Körpern des Königs eine jahrhundertelange Vorgeschichte hatte. Allerdings handhabten die meisten Autoren in der Rus᾽ und im Moskauer Reich Agapētos᾽ ohnehin nur in Ansätzen vorhandene Unterscheidung von Amt und Person des Herrschers unsauber, sodass sie zunehmend an Bedeutung verlor.87 Die Tendenz ging dahin, die menschliche Seite des Körpers unerwähnt zu lassen und sie letzten Endes unter die Herrscherwürde zu sub83 Kantorowicz, Ernst: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters. München 1990. 84 Ebd., 31. 85 Ebd., 42; Ingerflom: Le tsar c᾽est moi, 173. 86 Val’denberg, V.: Nastavlenie pisatelja VI v. Agapita v russkoj pis’mennosti. In: Vizantijskij vremennik 24 (1923–1926), 27–34, hier 31; 33. 87 Ingerflom, Claudio Sergio: Les représentations collectives du pouvoir et l᾽»imposture« dans la Russie des XVIIIe-XXe siècles. In: Boureau, Alain / Ingerflom, Claudio Sergio (Hg.): La royauté sacrée dans le monde chrétien. Paris 1992, 157–164, hier 161.
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sumieren. Ivan Timofeev schrieb etwa am Beginn des 17. Jahrhunderts, dass die Würde des Zaren dessen Körper transformiere.88 Was aber war mit der vermeintlichen Transformation des Herrscherkörpers gemeint? Bis vor kurzem äußerten nur wenige HistorikerInnen Zweifel an der Sakralität der Zarenwürde. Unter anderem für Ingerflom, Lukin und Usenko ist es eine Tatsache, dass der Zar nicht nur als sakral dargestellt wurde, sondern ihn seine Untertanen tatsächlich für sakral hielten. Ausgehend von dieser Prämisse ist es nur naheliegend, dass auch die von der Würde nur unsauber getrennte Person des Herrschers als sakral betrachtet wurde. Im Licht der jüngeren Forschung verlangt diese Annahme aber eine Modifizierung. Bislang setzten sich Viktor Živov und Boris Uspenskij am ausführlichsten mit der Sakralisierung des Herrschers auseinander, die sie vom 16. bis zum 19. Jahrhundert nachzeichnen.89 Sie gehen davon aus, dass bis zur Regierungszeit Ivans IV. eine Unterscheidung zwischen dem Körper als Physis eines Individuums und Träger der Herrscherwürde im Sinn von Agapētos üblich gewesen sei. Uspenskij meint, infolge der Krönung Ivans zum Zaren sei erstmals die Person des Herrschers als sakral betrachtet worden, weil der Titel seit jeher als sakral gegolten habe. Die verstärkte Hinwendung zu byzantinischen Vorbildern unter Aleksej Michajlovič sowie die Kirchenreform unter Peter I., insbesondere die nicht mehr erfolgte Einsetzung eines Patriarchen, hätten diese Entwicklung verstärkt. Ihre Vollausprägung habe die Sakralisierung aber erst im 19. Jahrhundert erreicht, als sie auf sämtliche Mitglieder der kaiserlichen Familie ausgedehnt worden sei. Nach dem gegenwärtigen Stand der Forschung sind die Ausführungen von Živov und Uspenskij im Großen und Ganzen weiterhin als gültig anzusehen, dürfen aber nicht unhinterfragt übernommen werden. Ein grundsätzlicher Einwand ergibt sich aus Stefan Plaggenborgs Analyse des Begriffs pravda. Dessen Grundbedeutung lautete ›Gerechtigkeit‹, er konnte aber auch ›Recht, Weisheit, Wahrheit, gerechtes Handeln, sinnvolle Weltordnung‹ meinen.90 In Texten aus dem Zeitraum vom 11. bis zum 16. Jahrhundert, die pravda behandeln, erscheint der Begriff als ganzheitliches Konzept, das alle genannten Bedeutungsschattierungen umfasst und für die von Gott gewollte und bereits bestehende beste Ordnung der Welt steht. Plaggenborg arbeitete heraus, dass diese Ordnung als sakral galt, nicht aber der Herrscher. Der Herrscher war der Garant der Ordnung und nahm als solcher eine Mittlerposition zwischen seinen Untertanen und Gott ein. Um diese Funktion erfüllen zu können, stand er zwar über allen anderen Menschen, musste selbst aber nicht als sakral be88 Ders.: Entre le mythe et la parole: l᾽action. Naissance de la conception politique du pouvoir en Russie. In: Annales. Histoire, Sciences sociales 51/4 (1996), 733–757. 89 Živov / Uspenskij: Car᾽ i Bog. 90 Plaggenborg: Pravda, 4.
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trachtet werden.91 Plaggenborg wies am Beispiel Ivans IV. nach, dass eine Sakralisierung des Herrschers vor dem 17. Jahrhundert tatsächlich unterblieb.92 Die Reichweite der explizit pravda gewidmeten Texte war begrenzt, und wie immer bei Produkten der Schriftkultur lassen sich weder die Wege noch die Weite ihrer Diffusion nachvollziehen. Es ist jedoch davon auszugehen, dass es nicht erforderlich war, bestimmte Schriften zu rezipieren, um die darin vertretene Sichtweise zu teilen. Plaggenborg weist etwa auf eine große Nähe zwischen dem Denken von Aufständischen im 17. Jahrhundert und der mit dem Begriff pravda umrissenen Ordnungsvorstellung hin.93 Allerdings begann sich ebenfalls im 17. Jahrhundert jenes Ordnungsverständnis zu verändern, und folglich auch die Rolle, die dem Zaren zugeschrieben wurde. Dabei handelte es sich um einen längeren Prozess, der selbstverständlich nicht mit dem Jahr 1699 abgeschlossen war.94 Unter den ersten Romanovy erlebte das Moskauer Reich eine enorme territoriale Expan sion mit einem entsprechenden Bevölkerungszuwachs, und auch die Bevölkerungsverluste der Zeit der Wirren im Kernland dürften relativ bald wieder ausgeglichen gewesen sein. Um das gewachsene Reich administrativ zu erschließen und unter die Kontrolle des Zentrums zu bringen, wurde die Verwaltung stärker rationalisiert und zentralisiert als das bis dahin der Fall war. Eine Begleiterscheinung war die Depersonalisierung der Herrschaft; so zog sich Aleksej Michajlovič zunehmend von direkten Kontakten mit seinen Untertanen zurück.95 Die Darstellung der Rolle des Zaren musste angepasst werden, damit er weiterhin als zentral für das Wohlergehen des Reiches erschien, obwohl sein Anteil an der Regierung für Außenstehende nunmehr weniger ersichtlich war.96 Živov und Uspenskij hoben die Bedeutung byzantinischer Vorbilder für Aleksej Michajlovič hervor,97 allerdings begann sich das Moskauer Reich in seiner Regierungszeit auch den absoluten Monarchien Zentral- und Westeuropas anzunähern.98 Zu einer Sakralisierung der Person des Herrschers konnte 91 92 93 94 95
Ebd., 280; 341 f. Ebd., 153–175. Ebd., 283–311. Ebd., 303. Dunning, Chester: The Legacy of Russia᾽s First Civil War and the Time of Troubles. In: Torke, Hans-Joachim (Hg.): Von Moskau nach St. Petersburg. Das russische Reich im 17. Jahrhundert. Wiesbaden 2000, 133–155, hier 149. 96 Plaggenborg: Pravda, 303. 97 Živov / Uspenskij: Car’ i Bog, 66–68. 98 Dunning: The Legacy, 152. Ich verwendete statt Absolutismus absolute Monarchie als neutralen und in Westeuropa schon in zeitgenössischen Quellen bekannten Begriff (dazu siehe Reinhard, Wolfgang: Zusammenfassende Schlußüberlegungen. In: Schilling, Lothar (Hg.): Der Absolutismus – ein unersetzliches Forschungskonzept? Eine deutsch-französische Bilanz. München 2008, 229–238, hier 234; Rustemeyer: Dissens und Ehre, 18.). »Absolutismus« steht nur dort, wo ältere Forschungsmeinungen referiert werden.
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es im Moskauer Reich erst kommen, als das mit pravda assoziierte Ordnungsdenken an Bedeutung verlor und gleichzeitig westeuropäische Vorbilder für die Darstellung des Zaren zur Verfügung standen. Diese Voraussetzungen waren in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts erfüllt, sodass nicht nur die Sakralisierung der Person des Herrschers, sondern auch die Sakralisierung seines Amtes eine Entwicklung dieser Zeit gewesen wäre. Darauf deutet auch Živovs Einwand gegen die oben skizzierte Entwicklung der Sakralisierung hin, dass das Kirchenslawische erst nach der Zeit der Wirren als heilige Sprache überhöht worden sei.99 Er zeigt, dass im 17. Jahrhundert mehr Entitäten als sakral gelten konnten als es bis ins 16. Jahrhundert der Fall gewesen war, was wiederum nur mit einer Verschiebung in der Konzeption des Sakralen möglich war. Ausgehend von der gegenüber Živov und Uspenskij modifizierten Chronologie spricht nichts dagegen, dass die Sakralisierung der Person des Zaren ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zu dessen Außendarstellung gehörte. Das ändert jedoch nichts an einem Problem, auf das Angela Rustemeyer aufmerksam gemacht hat: Es ist sehr schwierig bis unmöglich, nachzuweisen, inwieweit die breite Bevölkerung den Zaren als sakral wahrnahm, da die Überhöhung seiner Person (zunächst) innerhalb der Hochkultur erfolgte.100 Bei einer Annäherung an dieses Problem ist zu berücksichtigen, dass es sich bei der Sakralisierung des Herrschers / der Herrscherin um einen längeren Prozess handelte, in dessen Verlauf der Kreis der als sakral geltenden Mitglieder der Dynastie erweitert wurde und die Zuschreibungen an diese in zunehmendem Maß wörtlich anstatt metaphorisch verstanden wurden. Nichts anderes als einen Prozess beschrieben Živov und Uspenskij, wenngleich dieser Aspekt in der Auseinandersetzung mit ihrer Untersuchung nicht immer ausreichend Berücksichtigung findet. Das bedeutet, dass auch die Rezeption der Sakralisierung jenseits der Hochkultur nicht zu jedem Zeitpunkt gleich wahrscheinlich war und gleich stark gewesen sein kann. Zunächst handelte es sich um einen nur für den Hof bestimmten Aspekt der Außendarstellung des Zaren, der erst später Breitenwirkung entfaltete. Ruste meyer kommt anhand von Quellen aus dem späten 16. und dem 17. Jahrhundert zu dem Schluss, dass die Sakralisierung der Person des Zaren zwar Teil von dessen Selbstdarstellung gewesen, der Bevölkerung aber nicht vermittelbar gewesen sei.101 Es lässt sich aber auch festhalten, dass sich das irgendwann änderte, denn Živov und Uspenskij sowie Orlando Figes und Boris Kolonickij haben ausgehend von Beispielen aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert keinen Zweifel, dass die Untertanen die Person des Kaisers für sakral 99 Zhivov: Religious Reform, 187. 100 Rustemeyer: Dissens und Ehre, 117 f. 101 Ebd.
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hielten.102 Die vier Autoren schätzen vielleicht die Verallgemeinerbarkeit solcher Beispiele als zu groß ein, doch die Quellen als solche lassen sich nicht abtun. Mit diesen Anhaltspunkten ergibt sich ein ziemlich großes Zeitfenster: Für das 17. Jahrhundert ist noch nicht von einer Rezeption der Sakralisierung der Person des Herrschers jenseits des Hofes auszugehen, für das späte 19. Jahrhundert schon. Es kann mithilfe des Quellenkorpus dieser Monografie sowie der explizit religiösen Verehrung eines Herrschers bei Skopzen und napeole onovcy verkleinert werden. Mehrere samozvancy des 18. Jahrhunderts verwendeten Selbstbezeichnungen, die üblicherweise mit der Sakralisierung des Herrschers in Zusammenhang gebracht werden. Der falsche Aleksej Petrovič Timofej Truženik kündigte 1732 an, könnte er seine Pläne umsetzen, würde er »Zar und Gott« werden.103 Für ihn bestand offenbar ein enger Zusammenhang zwischen den beiden »Ämtern«. Der falsche Peter III. Anton Aslanbekov bezeichnete sich 1764 gegenüber Anhängern als »irdischer Gott« (zemnoj bog).104 Der falsche Paul Petrovič Nikolaj Sorokin (alias Šljapnikov), der 1782 auftrat, gebrauchte diese Bezeichnung gegenüber seiner Geliebten Irina,105 und die Skopzen verwendeten sie für Selivanov.106 Bei samozvancy aus dem 17. Jahrhundert kommt sie hingegen nicht vor.107 Der Ausdruck zemnoj bog ist seit der Regierungszeit Ivans IV. nachweisbar, wurde aber erst ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts regelmäßig verwendet und dann oft wörtlich verstanden.108 Daran ist erkennbar, dass aus der Hochkultur stammende Begriffe und mit ihnen verbundene Konzepte die breite Bevölkerung durchaus erreichten. Im Fall von zemnoj bog erfolgte die Rezeption nicht einmal zeitverzögert, weil die angeführten Beispiele zeitlich mit der stärkeren Verbreitung des Begriffs zusammenfallen. Allerdings ist völlig unklar, was die Betroffenen jeweils unter einem »irdischen Gott« verstanden und ob dieses ihr Verständnis mit dem ursprünglichen, aus der Hochkultur stammenden übereinstimmt. Auch die explizit religiöse Verehrung eines Kaisers bei Skopzen und napole onovcy hat ihre Wurzeln in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Die Skopzen setzten Selivanov mit Peter III. und Jesus gleich und verehrten ihn als ihren Erlöser (iskupitel᾽). Wie bereits erwähnt, dürfte Selivanov schon längere Zeit als Jesus gegolten haben, als er sich zusätzlich die Identität Peters III. aneignete. 102 Figes / Kolonitskii: Interpreting the Russian Revolution, 138; Živov / Uspenskij: Car᾽ i Bog, 47–49. 103 RGADA , f. 6, o. 1, d. 187, l. 7. 104 RGADA , f. 349, o. 1, d. 7086, l. 204. 105 RGADA , f. 6, o. 1, d. 541, l. 3 ob. 106 [Nadeždin]: Issledovanie, 74. 107 Lukin: Narodnye predstavlenija, 109. 108 Živov / Uspenskij: Car᾽ i Bog, 84 f.
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Die napoleonovcy gehören zu den obskursten heterodoxen Gruppen des Russländischen Reiches. An Quellen zu ihnen gibt es nur ein paar Berichte von Beamten aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, die mit ihrer Überwachung betraut waren.109 Dementsprechend schwierig ist es, Aussagen über ihr Weltbild zu machen bzw. die vorhandenen Informationen zu interpretieren. Das Alleinstellungsmerkmal der napoleonovcy bestand darin, dass sie vor (zu?) einer Büste Napoleons I. beteten und Lieder religiösen Inhalts sangen. Von Napoleon selbst glaubten sie, er befinde sich gegenwärtig im Himmel, werde aber wiederkehren.110 Letzteres deutet darauf hin, dass die napoleonovcy Napoleon mit Jesus gleichsetzten oder zumindest zentrale Momente der Heilsgeschichte wie die Himmelfahrt Jesu und seine Wiederkehr zum Jüngsten Gericht auf den Kaiser der Franzosen übertrugen. Hier ergibt sich eine Analogie zu Selivanov als Jesus + Peter III. bei den Skopzen.111 Möglicherweise waren die Skopzen als die ältere der beiden heterodoxen Gruppen das direkte Vorbild der napoleonovcy. In jedem Fall koexistierten für die Mitglieder beider Gruppen ein Kaiser und der Sohn Gottes ohne Spannungen in einem Körper, bzw. betrachteten sie es nicht als Profanisierung des Göttlichen, dass es sich im Körper eines Herrschers manifestierte. Es ist kaum vorstellbar, dass Skopzen und napoleonovcy Jesus eine rein menschliche Natur zuschrieben. Damit bleibt nur die Möglichkeit, dass der jeweils verehrte Kaiser an Jesu Göttlichkeit teilhatte, also Skopzen und napoleonovcy als sakral galt. Um meinen Zugang zum Thema Sakralisierung der Person des Herrschers im Moskauer und Russländischen Reich zusammenzufassen, ist zunächst festzuhalten, dass ich sie nicht für eine Legende der Geschichtswissenschaft halte, ihre Bedeutung aber anders fasse als es in anderen Publikationen der Fall ist. Die Sakralisierung dürfte sich nicht aus der nur schwach ausgeprägten Unterscheidung von Amt und Person des Herrschers entwickelt haben, sondern auf Anleihen an ausländischen Vorbildern unter Aleksej Michajlovič zurückgehen. Ab der Mitte des 18. Jahrhunderts begann eine breitere Rezeption der Sakralisierung, die bei der Interpretation von Quellen zu berücksichtigen ist. Es ist aber nicht davon auszugehen, dass die gesamte Bevölkerung des Russländischen Reiches um 1750 den Kaiser / die Kaiserin als sakral betrachtet hätte. Dasselbe gilt für das Ende des 19. Jahrhunderts, auch wenn vielleicht mehr Menschen diese Sichtweise teilten als rund 150 Jahre vorher. 109 Pančenko: Christovščina i skopčestvo, 196. 110 Liprandi: O sektě Tatarinovoj, 50, Fußn. 33. 111 Darauf machte Ivan Liprandi, der für die Dritte Abteilung arbeitete, schon 1853 aufmerksam (Ders.: Kratkoe obozrěnie sušestvujuščich v Rossii raskolov eresej i sekt kak v religioznom, tak i v političeskom ich značenii; s někotorymi po semu predmetu priměčanijami. In: Kel’siev, V. (Hg.): Sbornik pravitel᾽stvennych svědenij o raskol᾽nikach. Vypusk vtoroj. London 1861, 93–169, hier 135.
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Voraussetzungen der Performanz
Ich gehe davon aus, dass die Sakralisierung der Person des Herrschers wichtig ist für das kulturelle Umfeld, in dem sich samozvancy und samozvanki bewegten und sie im 18. Jahrhundert ein Teil des Archivs wurde. Darauf werde ich in Kapitel 3.2, 5.2 und 5.3 zurückkommen. Allerdings teile ich zwei gängige Thesen nicht. Die Sakralisierung kann weder erklären, warum samozvanstvo als solches im Moskauer Reich aufkam, noch, warum sich im Laufe der Zeit so viele Personen für ein Mitglied der Dynastie ausgaben. Zudem bringt sie auch kein Licht in die Frage, warum der Herrscher in Gerüchten sämtliche Gefahren unbeschadet übersteht. Wie schon im Forschungsstand angemerkt, lässt sich aus den Quellen nicht vernünftig belegen, dass sich samozvancy und samozvanki in erster Linie die Sakralität der Herrscherwürde angeeignet hätten. Sie versuchten zweifellos, ihre eigene Autorität zu erhöhen und ihren Handlungsspielraum zu vergrößern, aber sie mussten den Herrscher / die Herrscherin oder ein anderes Mitglied der Dynastie nicht als sakral betrachten, um sich aus diesem Grund deren Identität anzueignen. Eine Verbindung zwischen der Sakralisierung und entweder dem Aufkommen von samozvanstvo oder der Unversehrtheit des Herrscherkörpers herzustellen führt auf eine zeitliche Diskrepanz. Die samozvancy der Zeit der Wirren waren aktiv, bevor nach aktuellem Forschungsstand von einer Sakralisierung der Person des Herrschers ausgegangen werden kann. Wie gesagt, betraf die Sakralisierung Živov und Uspenskij zufolge zunächst nur den Herrscher selbst und wurde erst ab dem 18. Jahrhundert schrittweise auf die übrigen Mitglieder der kaiserlichen Familie ausgedehnt. Doch bereits der erste falsche Dmitrij als Dmitrij Ivanovič beanspruchte, ein Zarensohn zu sein, der jeder Gefahr entgeht, und die Zeit der Wirren brachten mehr als ein Dutzend weiterer vermeintlich geretteter Zarensöhne hervor.
3.2 Der carevič in der Säule In diesem Kapitel wird die Vermittlung des Archivs durch Gerüchte behandelt. Es werden acht Gerüchte untersucht, die sich bis auf zwei Ausnahmen auf Peter II. beziehen und im Zeitraum 1751–1761 nachweisbar sind. Dazu kommt das fiktive Selbstzeugnis des falschen Peter II. Iov Evdokimov aus dem Jahr 1763, welches ebenfalls folgende Fabel aufweist: Ein Zar oder Zarensohn ist gefangen; der Ort seiner Gefangenschaft kann ein Gefängnis, eine Säule, ein Turm oder eine Mauer sein. Falls nähere Angaben dazu gemacht werden, befindet sich das Gefängnis in einem fernen Land. Ein Kaufmann entdeckt dort den Gefangenen und bringt eine Nachricht von ihm zu Elizaveta Petrovna nach Moskau oder St. Petersburg. Inhaltliche Ausschmückungen über diese
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Fabel hinaus beinhalten Kommentare zur Regierungszeit von Peter II. oder Elizaveta Petrovna. Diese Gerüchte befinden sich seit dem 19. Jahrhundert im wissenschaft lichen Umlauf. Ein längeres Zitat aus einem von ihnen wurde erstmals 1875 als Teil eines Extraktes über Fälle von »ungehörigen Worten« aus der Regierungszeit Elizaveta Petrovnas publiziert, der 1762 für Peter III. oder Katharina II. zusammengestellt worden war.112 Der anonyme Herausgeber des Extraktes beschränkte sich auf ein Zitat, weil er bemerkt hatte, dass die darin angeführten Gerüchte über Peter II. einander sehr stark ähneln.113 Allerdings sah er keinen Anlass, sich näher mit dieser Ähnlichkeit zu befassen. Auch später behandelten HistorikerInnen die Gerüchte mit dieser Fabel nur oberflächlich. Čistov führt sie ohne jeden Ansatz von Analyse als Nachweis für die Existenz einer »Legende« über Peter II. an.114 Poberežnikov beschränkt sich ebenfalls darauf, die Gerüchte und Evdokimovs Selbstzeugnis zu erwähnen.115 Usenko behauptet, die Gerüchte seien ein Beleg für eine eschatologische Stimmung unter der Bevölkerung und die Menschen hätten die Rückkehr eines früheren Herrschers als Messias oder Erlöser erwartet116 ‒ was zu viel an Interpretation ist. Bislang hat noch niemand versucht, die Gerüchte als Einheit zu begreifen und zu analysieren. Das mag daran liegen, dass sie auf den ersten Blick wie die Nacherzählung eines Märchens wirken und nicht wie etwas, das ernsthafte Forschung lohnen würde. In Wahrheit sind die Gerüchte nicht nur interessantes Quellenmaterial, sondern auch wertvolles, weil acht Einzelnachweise für dasselbe historische Gerücht ausgesprochen viele sind. Das erlaubt es, in diesem Kapitel folgende Themenbereiche zu behandeln: Zunächst werden Herkunft und Bedeutung sowohl der gesamten geschilderten Fabel, als auch des wichtigsten Motivs, der Gefangenschaft an einem ungewöhnlichen Ort, ermittelt. Letztere wird mit Vorstellungen über sakrale Herrschaft in Zusammenhang gebracht, die einen nicht allzu großen, aber nichtsdestoweniger ernstzunehmenden Bestandteil des Archivs von samozvanstvo bildeten. Zuletzt wird anhand eines Vergleichs mit Evdokimovs Selbstzeugnis der Zusammenhang zwischen Gerüchten und samozvanstvo untersucht. Meistens lässt sich ein solcher Zusammenhang nur indirekt und hypothetisch herstellen. Durch die räumliche, zeitliche und inhaltliche Nähe von Evdokimovs Selbstzeugnis zu den Gerüchten ist es hier aber möglich, systematischer vorzugehen. Die Gerüchte und Evdokimovs Selbst112 Tajnaja kanceljarija v carstvovanie imperatricy Elizavety Petrovny 1741–1761. In: RS 12 (1875), 523–539, hier 532 f. Das Zitat stammt aus dem Akt RGADA , f. 349, o. 1/č.1, d. 5708, l. 7 ob.–8, auch wenn das Gerücht im Extrakt auf 1749 und nicht auf 1754 datiert ist. 113 Tajnaja kanceljarija, 532. 114 Čistov: Russkie narodnye social’no-utopičeskie legendy, 130 f. 115 Poberežnikov, I. V.: Sluchi v social᾽noj istorii. Tipologija i funkcii. Ekaterinburg 1995, 8 f. 116 Usenko: Psichologija social’nogo protesta III, 40.
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zeugnis beziehen sich zweifellos auf denselben Ausschnitt aus dem Archiv, aber es gilt herauszufinden, ob Evdokimov eines der Gerüchte gekannt und sich unmittelbar daran orientiert haben kann. Die verwendeten Quellen
Die folgende Übersicht enthält in chronologischer Reihenfolge alle Gerüchte, die in diesem Kapitel analysiert werden sowie Evdokimovs Selbstzeugnis. Bei einem allgemeinen Verweis auf eines oder mehrere davon wird im Weiteren im Fließtext nur die jeweilige Nummer angegeben; Verweise auf konkrete Passagen im jeweiligen Akt sind wie sonst auch mit Fußnoten belegt. Nr.
Jahr
Ort
Protagonist
Akt
1
1751
Bronickij jam [östl. von Novgorod am Fluss Msta]
Peter II .
RGADA , f. 7, o. 1, d. 1423
2
1751
[nicht bekannt, da Anfang des Aktes fehlt]
Peter II .
RGADA , f. 7, o. 1, d. 1457
3
1752, März
[nicht bekannt, da Akt stark beschädigt]
carevič
RGADA , f. 7, o. 1, d. 1538
4
1754, April
Zilantov-UspenskijKloster [Kazan’]
Peter II .
RGADA , f. 349, o. 1/č. 1, d. 4645
5
1754, August
Orenburg und nähere Umgebung
Peter II .
RGADA , f. 349, o. 1/č. 1, d. 5708
6
1754, Dezember 1755, Dezember 1756, Februar
Orenburg und nähere Umgebung
Aleksej Petrovič
RGADA , f. 7, o. 1, d. 1728
7
1757, Juni
Nerčinsk
Peter II .
RGADA , f. 7, o. 1, d. 1797
8
1760, Dezember
Kloster der Heiligen Dreifaltigkeit [Kirensk]
Peter II .
RGADA , f. 7, o. 1, d. 1989
1763, Februar
Wälder bei Pošechon’e der falsche Peter II . Iov Evdokimov
Peter II .
RGADA , f. 6, o. 1, d. 403.
Bei allen folgenden Überlegungen ist es wichtig, die Ausschnitthaftigkeit der zur Verfügung stehenden Angaben im Hinterkopf zu behalten. Bei der räumlichen Anordnung macht sie sich dadurch bemerkbar, dass aus der Verbreitung der Gerüchte nur bedingt ein Muster ablesbar ist, zumal bei zweien die Ortsangabe fehlt. Die bekannten Orte sind, grob gesagt, auf den gesamten
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europäischen Teil des Russländischen Reiches und einen kleinen Teil Sibiriens verteilt. Annäherungsweise lassen sich zwei Regionen beschreiben, denen mehrere Gerüchte mit obiger Fabel zugeordnet werden können, auch wenn die reale Entfernung zwischen den Orten selbst da relativ groß ist. Eine Region beschreibt ein Dreieck zwischen Ural, Volga und Steppenregion mit Orenburg als Schwerpunkt, die zweite wird durch die Orte Nerčinsk und Kirensk definiert. Der Nordosten des europäischen Teils des Russländischen Reiches ist zwar durch das Dorf Bronickij jam erfasst, aber die beiden Hauptstädte fehlen. Heißt das nun, die Gerüchte sind als Erscheinungen der Peripherie anzusprechen? Ja und nein. Das zu tun würde verdecken, dass sie nicht auf die äußersten Grenzregionen beschränkt waren und in regionalen Zentren wie Kazan’ und Orenburg nachweisbar sind. Es ist auch nur bedingt aussagekräftig, dass Moskau und St. Petersburg fehlen. 1749 kursierte in Moskau ein Gerücht, das in der obigen Liste nicht vorkommt, weil ihm wichtige Motive fehlen. Die Grundaussage ist aber ähnlich genug, um als Beleg dafür zu dienen, dass zumindest in einer der beiden Hauptstädte ein verbannter / gefangener Kaiser Gesprächsstoff war: Peter II. sei in eine nicht näher bestimmte Stadt verbannt worden (zaslan v nekotoroj gorod) und werde bald in Moskau eintreffen, um sich krönen zu lassen.117 Ausgehend von den vorhandenen Quellen ergeben sich die beiden Regionen zufällig aus relativer geografischer Nähe. Sie bilden aber weder zeitliche, noch inhaltliche Zusammenhänge ab. Das lässt sich an zwei Beispielen zeigen: Die »Region« in Sibirien entstand nicht dadurch, dass sich ein Gerücht mit obiger Fabel allmählich vom europäischen Teil des Reiches bis in die Gegend um den Baikal-See ausbreitete. Stattdessen gelangte die Information direkt an die entsprechenden Orte. Im Fall von Kirensk hörten zwei Kaufleute unterwegs, Peter II. sei am Leben und teilten diese Neuigkeit dann mit dem Abt des Klosters der Heiligen Dreifaltigkeit, als sie bei diesem zu Gast waren. Abt Veniamin zeigte sie deswegen an.118 Im Fall von Nerčinsk geht aus dem Akt nicht hervor, wer das Gerücht als Erster wo hörte, aber da es unter Gefangenen kursierte, ist anzunehmen, dass ein solcher bzw. dessen Angehörige es aus dem europäischen Teil des Reiches mitgebracht hatte. Eine Weitergabe des Gerüchts direkt von Nerčinsk nach Kirensk lässt sich also nicht nachweisen und war auch nicht notwendig, damit es an beide Orte gelangte. Gleichwohl könnte es sein, dass zusätzlich zu den gerade erwähnten unterschiedlichen Kanälen der Weitergabe eine gemeinsame Quelle existierte. Gerücht 7 und 8 berichten übereinstimmend, Elizaveta Petrovna habe angeordnet, das Grab Peters II. zu öffnen, um die Nachricht des Gefangenen zu 117 RGADA , f. 349, o. 1/č. 1, d. 3405, l. 9; 17 ob. 118 RGADA , f. 7, o. 1, d. 1989, l. 4 ob.
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Voraussetzungen der Performanz
überprüfen. Im Grab habe sich eine Figur aus weißem Wachs befunden.119 Das Motiv der Wachsfigur, die einen Toten ersetzt, kam wiederholt in Gerüchten über verstorbene Herrscher vor (siehe Kapitel 5.2). In den hier untersuchten Gerüchten sowie insgesamt in Gerüchten über Peter II. ist es aber auf die beiden genannten Beispiele beschränkt, was auf einen gemeinsamen Ursprung hindeuten könnte. Das zweite Beispiel ist die Herkunft des Kaufmanns. In Gerücht 1, 5 und 6 wird er allgemein als russländischer Kaufmann (rossijskij kupec) beschrieben. In Gerücht 4 stammt er aus Moskau (Moskovskij kupec),120 in Gerücht 8 handelt es sich um Kaufmann Wulf (Vul’f), der sich gerade in Peterhof aufhält.121 Es ist durchaus möglich, dass die Variante mit einer präzisen Ortsangabe von Kazan’ aus ostwärts wanderte und sich dabei der Ort veränderte, weil die Herkunft des Kaufmanns nicht zum relevanten Teil der Botschaft, dem Überleben Peters II., gehörte. Gerücht 8 ist jedoch nur bedingt aussagekräftig. Der Akt ist stark beschädigt, sodass der innere Zusammenhang teilweise verloren gegangen ist. Die listy 4–9 enthalten die eben besprochene Variante des Gerüchts mit Wulf, der Peter II. in eine Säule eingemauert entdeckt. Ab list 12 wird die häufigste Variante der Fabel wiedergegeben, in der ein russländischer Kaufmann in einem fernen Land ein Gefängnis besucht. Anhand der erhalten gebliebenen Teile der Blätter lässt sich nicht mehr rekonstruieren, ob in Kirensk ungefähr gleichzeitig beide Varianten kursierten oder ob die gängige Variante aus einem anderen Grund, etwa zur Hintergrundinformation für die zuständigen Beamten, beigeheftet wurde. Auf der Ebene der Zeit macht sich die Ausschnitthaftigkeit der Quellen dadurch bemerkbar, dass Gerücht 1 aus der Liste keineswegs das erste mit dieser Fabel gewesen sein muss, das jemals kursierte. Wie bereits in Kapitel 2.2 ausgeführt, ist anzunehmen, dass sich nur Aufzeichnungen jener Gerüchte erhalten haben, deren MittlerInnen angezeigt wurden. Angezeigt wiederum wurden sie eher dann, wenn ihre GesprächspartnerInnen zu dem Inhalt eine andere Einstellung hatten als sie selbst. Gerüchte, die innerhalb von Gleichgesinnten kursierten, zogen wahrscheinlich keine Anzeige nach sich und wurden daher nicht verschriftlicht. Das unbekannte erste Gerücht mit der hier untersuchten Fabel kann theoretisch bald nach dem Tod Peters II. 1730 aufgekommen und bis zu 20 Jahre 119 RGADA , f. 7, o. 1, d. 1797, l. 17; RGADA , f. 7, o. 1, d. 1989, l. 9. 120 RGADA , f. 349, o. 1/č. 1, d. 4645, l. 5 ob. 121 RGADA , f. 7, o. 1, d. 1989, l. 9. Dieser Kaufmann Wulf war allem Anschein nach ein stock character für ungewöhnliche Begegnungen mit gekrönten Häuptern. Während des Siebenjährigen Krieges – also etwa zur selben Zeit wie Gerücht 8 – kursierte ein Gerücht, dass der König von Preußen als Kaufmann verkleidet Wulf besucht habe und dieser dann in die Geheime Kanzlei vorgeladen worden sei (Rustemeyer: Dissens und Ehre, 209.).
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vor Gerücht 1 kursiert sein. Im Unterschied dazu dürfte das letzte hier erfasste Gerücht dem Zeitpunkt ziemlich nahe kommen, an dem die Fabel in Zusammenhang mit Peter II. abstarb; die Diskrepanz beträgt wahrscheinlich nicht mehr als zwei oder drei Jahre. Der Grund dafür ist leicht ersichtlich: 1762 starb Peter III. und ab 1763 sind Gerüchte nachweisbar, denen zufolge er noch lebte.122 Zwischen 1763 und 1765 standen Peter II., Ivan VI. und Peter III. in etwa gleichwertig nebeneinander, was Spekulationen über ihr Überleben bzw. im Falle Ivans VI. den gegenwärtigen Aufenthaltsort angeht. Ab 1766 trat dann Peter III. klar in den Vordergrund. Für Peter II. scheint sich niemand mehr interessiert zu haben; zumindest sind mir keine Quellen bekannt, die darauf hindeuten würden. Ivan VI. blieb länger präsent, aber Verweise auf ihn haben Seltenheitswert. 1774 gab es beispielsweise im Windschatten des Pugačev’schen Aufstandes am Ural Berichte über einen falschen Ivan123 und 1788 reiste der falsche »Prinz Ioann« Timofej Kurdilov mit seinem Anspruch nach Riga.124 Demnach muss Gerücht 8 nicht die allerletzte Gelegenheit markieren, bei der jemals ein Gerücht über Peter II. weitergegeben wurde, aber diese allerletzte Gelegenheit war wohl nicht weit entfernt. Bei den Protagonisten ergibt sich ein eindeutiges Bild. Sechs von acht Gerüchten (75 Prozent) beziehen sich auf Peter II., und der Anteil wird noch größer, wenn auch Evdokimovs fiktives Selbstzeugnis und das erwähnte ähnlich lautende Gerücht von 1749 eingerechnet werden. Je ein Gerücht bezieht sich auf Peters Vater Aleksej Petrovič und einen namenlosen carevič, auf dessen mögliche Identität ich weiter unten zurückkommen werde. Für die Einordnung sind also auch frühere Gerüchte über Aleksej Petrovič und Peter II. relevant. Gerüchte über Peter II. sind nicht allzu häufig, aber zwischen dem Tod des Kaisers 1730 und etwa 1760 regelmäßig nachweisbar. Die hier untersuchten Beispiele können aus drei Gründen als Höhepunkt der Spekulationen über das Schicksal Peters II. bezeichnet werden. Erstens bilden sie rein zeitlich die letzte Phase. Zweitens werden die Abstände zwischen ihnen kürzer. Drittens sind sie detailreicher. Bis etwa 1750 beschränkte sich der Inhalt auf die Versicherung, der Kaiser sei noch am Leben125 und war nur gelegentlich mit Details versehen. Ein nicht identifizierter Soldat meinte 1732 im Dorf Staraja in der Provinz Pošechon’e, das Getreide stehe gut, also müsse Peter noch leben126 − von dieser Schlussfolgerung wird weiter unten noch die Rede sein. Der in Tambov inhaftierte Gur Korobov behauptete 1745, Peter II. gehe in Moskau 122 123 124 125
Siehe dazu genauer Kapitel 4.2. Golubcov (Red.): Pugačevščina III, 172–174. RGADA , f. 6, o. 1, d. 544. RGADA , f. 7, o. 1, d. 1405; RGADA , f. 7, o. 1, d. 1459; RGADA , f. 349, o. 1/č. 1, d. 704; RGADA , f. 349, o. 1/č. 1, d. 3762. 126 RGADA , f. 349, o. 1/č. 1, d. 69.
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Voraussetzungen der Performanz
spazieren.127 In diesen Beispielen geschieht nichts und Peters herausragendste Eigenschaft besteht darin, viele Jahre nach seinem Tod noch am Leben zu sein. Die Verknüpfung von Peter II. mit der obigen Fabel kam wahrscheinlich durch eine Übertragung von Peter I. zustande Wie in Kapitel 3.1 ausgeführt, ist es in der Folklore nichts Ungewöhnliches, dass Motive und Fabeln, die zuerst an eine persona gebunden sind, auf eine zweite mit ähnlichem Profil übertragen werden. Von der Angleichung zwischen Razin und Pugačev war bereits die Rede; ein anderes Beispiel wären Ivan IV. und Peter I.128 Etwas Ähnliches dürfte bei Peter I. und Peter II. der Fall gewesen sein, wobei die Übertragung wahrscheinlich dadurch erleichtert wurde, dass die beiden Kaiser nicht nur Großvater und Enkel waren, sondern auch dieselbe Kombination von Vor- und Vatersnamen aufwiesen. Wie bereits in Kapitel 3.1 erwähnt, besagten zahlreiche Gerüchte nach der Großen Gesandtschaft, Peter I. sei in einem fernen Land gefangen. Von den hier interessierenden Orten der Gefangenschaft wurde die Mauer am frühesten genannt, nämlich 1702.129 Die Säule ist erstmals für 1719 belegt.130 Der wichtigste Aspekt dieser Gerüchte ist Peters Abwesenheit aus Moskau bzw. St. Petersburg, weil sie die Herrschaft eines Doppelgängers ermöglicht. Dem gegenüber verschob sich bei Peter II. der Akzent. Es war wichtig, dass er noch lebte und durch die Nachricht an Elizaveta Petrovna die Möglichkeit zur Rückkehr bestand. Positive Zuschreibungen dürften hingegen unverändert vom Großvater zum Enkel gewandert sein. Pelageja Alefirenko spricht davon, dass um die Mitte des 18. Jahrhunderts viele Bauern und Bäuerinnen Peter I. idealisiert hätten, weil sie der Ansicht gewesen seien, zu seiner Regierungszeit seien die Abgaben niedriger gewesen und gerechter eingehoben worden als das gegenwärtig der Fall sei. In Bittschriften hätten sie ihre Anliegen häufig mit Verweisen auf die petrinische Praxis legitimiert.131 Die Rede von der Idealisierung ist mit Vorsicht zu genießen, weil Alefirenko streng den Vorgaben einer marxistischen Geschichtsschreibung folgt, in der jede Äußerung über einen Herrscher / einen Herrscherin als solche eingestuft wird, die kein unverhohlener Aufruf zur Rebellion ist. Der Kern, dass Peter I. als positives Gegenbeispiel zu seiner Tochter fungierte, kann aber durchaus zutreffen, weil es auch zu seinem Bild in der Folklore passt. Dieses war, anders als die zahlreichen Gerüchte über einen Doppelgänger, Peter als jüdisches bzw. ausländisches / 127 RGADA , f. 349, o. 1/č. 1, d. 1992. 128 Dazu siehe Perrie, Maureen: The Image of Ivan the Terrible in Russian Folklore. Cambridge 1987, 112 f. 129 Golikova: Političeskie processy, 160 f. 130 RGADA , f. 371, o. 1, d. 2045, l. 4 ob. 131 Alefirenko, P. K.: Krest’janskoe dviženie i krest’janskij vopros v Rossii v 30−50-ch godach XVIII veka. Moskva 1958, 296; 305; 313.
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deutsches Kuckuckskind oder Peter als den Antichristen erwarten ließen, nicht durchgehend negativ.132 Nun stellt sich auch die Frage, was das erhöhte Interesse an Peter II. in den 1750er und frühen 1760er Jahren auslöste. Es ist nicht zu übersehen, dass der Fortbestand der Dynastie zu dieser Zeit (wieder einmal) aufs Äußerste gefährdet war. Aus der Perspektive von 1750 betrachtet bestand die kaiserliche Familie neben Elizaveta Petrovna aus ihrem Neffen und Thronfolger Peter Fedorovič, dem zukünftigen Peter III., sowie dessen Frau Katharina Alekseevna, der zukünftigen Katharina II. Peter und Katharina waren seit fünf Jahren kinderlos verheiratet; niemand konnte wissen, ob sich daran noch etwas ändern würde und die Wahrscheinlichkeit nahm eher ab denn zu. Mit der Geburt des zukünftigen Paul I. 1754 besserte sich die Lage, aber niemand hätte sicher sein können, dass er das Erwachsenenalter erreichen und seinerseits Kinder in die Welt setzen würde. Die Gerüchte über Peter II., Aleksej Petrovič und den namenlosen carevič entstanden zum Teil sicher auch aus dem Wunsch heraus, es möge mehr (männliche) Mitglieder der Dynastie geben, damit deren Fortbestand gesichert wäre. Zudem waren Aleksej Petrovič und Peter II. »echte« Romanovy, weil über die männliche Linie mit Peter I. verwandt, während beginnend mit Peter III. alle Kaiser von Peters I. Tochter Anna abstammten. Die persona Aleksej Petrovič fungierte vor allem als Gegenpol zu Peter I. Zu Aleksejs Lebzeiten thematisierten Gerüchte den schwelenden Konflikt mit seinem Vater.133 Posthume Gerüchte, denen zufolge Aleksej noch am Leben sei, sind ausgesprochen selten und reichen nicht über die Regierungszeit Peters I. hinaus.134 Am häufigsten waren Gerüchte mit der Behauptung, Peter habe Aleksej eigenhändig und vorsätzlich getötet, denn sie boten einen Anlass, um sich rechtschaffen über Peter I. zu empören. Igor’ Kurukin fand Belege dafür bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts.135 Der tatsächlich tote Aleksej war in gewisser Hinsicht wichtiger als ein vielleicht noch lebender, von dem nach der Verhaftung des samozvanec Ivan Minickij 1738 nicht mehr die Rede war. Die Ausnahme ist Gerücht 6, welches aus der Kontamination von einem Gerücht über Peter II. mit einem Gerücht über Aleksej Petrovič entstanden sein dürfte. Der in Orenburg einquartierte Dragoner Ivan Kolesnikov erzählte Anton Nikiforov, Hauptmann bei den Grenadieren, dass drei Regimenter aus der Gegend abgezogen worden seien, obwohl zur Niederschlagung des Aufstandes der Baschkiren zusätzliche Truppen benötigt würden. Kolesnikov erklärte den Vorgang damit, dass die Regimenter mit der Suche nach Aleksej beauftragt 132 133 134 135
Perrie: The Image of Ivan the Terrible, 112. Für Beispiele siehe Čistov: Russkie narodnye social’no-utopičeskie legendy, 115–117. RGADA , f. 371, o. 1, d. 1845 [aus dem Jahr 1723]. Kurukin, I. V.: Ėpocha »dvorskich bur’«. Očerki političeskoj istorii poslepetrovskoj Rossii. Rjazan’ 2003, 102.
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seien, weil er im Vorjahr gehört hatte, dass nach dem carevič gesucht werde.136 Diese Erklärung war ihm anscheinend lieber als militärische Fehlentscheidungen oder gar Sabotage in Erwägung zu ziehen. Wahrscheinlich benutzte Kolesnikov ein Gerücht über Peter II., um Nikiforov den Hintergrund der Suchexpedition zu schildern. Gerücht 5 kursierte zur selben Zeit und in derselben Gegend wie Gerücht 6. Inhaltlich stimmen sie bis in die Details überein; der einzige nennenswerte Unterschied besteht darin, dass der Protagonist in Gerücht 5 nicht Aleksej Petrovič ist, sondern Peter II. Aus der räumlichen und zeitlichen Verbreitung der Gerüchte sowie den Protagonisten ergibt sich kein Muster, das für die weitere Analyse relevant wäre. Das hat möglicherweise mit Lücken in der Überlieferung zu tun. Ausgehend vom Vorhandenen bleibt nur festzuhalten, dass die Fabel im gesamten europäischen Teil des Russländischen Reiches bekannt und primär an Peter II. gebunden war. Gerücht 6 mit Aleksej Petrovič dürfte auf eine Kontamination durch den Mittler Kolesnikov zurückgehen, während Gerücht 3 mit dem namenlosen carevič die Ausnahme ist, die die Regel bestätigt. Gefangene Herrscher
Unabhängig vom jeweiligen Protagonisten ist die Gefangenschaft an so ungewöhnlichen Orten wie einer Säule oder einer Mauer jenes Motiv in den Gerüchten, das am auffälligsten ist und am meisten nach einer Deutung verlangt. Der folgende Abschnitt klärt, was es bedeutet, dass der jeweilige Protagonist nicht einfach eingesperrt ist, sondern sich in einer Säule, einer Mauer oder einem Turm befindet. An der Gefangenschaft an ungewöhnlichen Orten sind drei Momente wichtig: Sie ist eine unumstößliche Tatsache, sie kann positiv konnotiert sein oder negativ. Unumstößlich ist die Gefangenschaft an den genannten Orten, weil es im Moskauer Reich mitunter sehr einfach war, aus der Haft zu fliehen. Nancy Shields Kollmann stellte fest: »Prison in Muscovy was […] hardly a foolproof form of confinement.«137 Das lag zum einen daran, dass Gefangene vielfach nicht in eigens errichteten Gebäuden untergebracht wurden, sondern behelfsmäßige Lösungen wie Erdlöcher oder Holzverschläge zum Einsatz kamen. Dort waren die Haftbedingungen übel, aber die Flucht vergleichsweise einfach. Auch Arrest in Privathäusern konnte verhängt werden.138 Zum anderen war es üblich, dass Häftlinge tagsüber das Gefängnis verließen, um um Almosen zu bitten, zu arbeiten oder ein öffentliches Bad aufzusuchen, während umgekehrt 136 RGADA , f. 7, o. 1, d. 1728, l. 5 ob. 137 Kollmann: Crime and Punishment, 83. 138 Ebd., 88 f.
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HändlerInnen und BesucherInnen ohne jede Einschränkung das Gefängnisgelände betreten und mit den Gefangenen in Kontakt treten konnten.139 Die Reformen Peters I. setzten auch bei den Gefängnissen an, aber Beispiele aus dem Quellenkorpus für diese Monografie zeigen, dass sich die Verhältnisse im 18. Jahrhundert keineswegs radikal und flächendeckend änderten. Der falsche Aleksej Petrovič Timofej Truženik konnte sich 1732 ungestört weiter mit seinen Anhängern austauschen, als er bereits in Tambov inhaftiert war (siehe Kapitel 3.3). Der falsche Abgesandte des Senats Fedor Kamenščikov bekam 1764 in der Festung Orenburg häufigen Besuch von Unterstützern, vermittels derer er den Aufstand auf dem Eigengut des Uspenskij-Dalmatov-Klosters leitete. In weiterer Folge halfen ihm diese Männer dabei, aus der Festung zu fliehen (siehe Kapitel 3.1). Ebenfalls 1764 konnte der falsche Peter III. Anton Aslanbekov nicht nur Leon Voronov, in dessen Haus er in Belgorod unter Arrest stand,140 zu einem seiner eifrigsten Anhänger machen, sondern auch wenig später aus Kursk fliehen, weil sich die Wachsoldaten zu den Osterfeiertagen hemmungslos betrunken hatten.141 Der verhinderte falsche Peter III. Petr Chripunov konnte sich 1785 in der Peter-und-Paul-Festung bei Omsk frei bewegen, sofern ihn ein Wachsoldat begleitete. Der Aufpasser hielt ihn nicht davon ab, weiter im Namen Peters III. zu agitieren.142 Demnach bedeuteten die üblichen Formen der Haft auch noch um die Mitte des 18. Jahrhunderts eine weniger strikte Form des Freiheitsentzugs als in einer Wand, in einem Turm oder in einer Säule eingemauert zu sein. Umso besser ließ sich die Befreiung überhöhen und etwa als Fingerzeig göttlicher Gnade deuten. Das wiederum unterstrich, dass es sich bei dem Protagonisten um einen besonderen Menschen handle. Ein Beispiel bietet Evdokimovs Selbstzeugnis (siehe unten). Auch die Gefangenschaft selbst verweist auf die Überhöhung der betroffenen Person, sofern sie in erster Linie dazu dient, jemanden vor Schaden zu bewahren. Letzteres ist mit Vorstellungen über sakrale Herrschaft verbunden. Wegen der inflationären Verwendung des Begriffs sakrale Herrschaft143 muss vor einer genaueren Betrachtung der Quellen und ihrer Einordnung festgelegt werden, was damit gemeint ist.
139 Ebd., 84; 89 f. 140 RGADA , f. 349, o. 1/č.1, d. 7086, l. 203 ob. Arrest in Privathäusern sollte nur bei geringfügigen Straftaten verhängt werden (Kollmann: Crime and Punishment, 82.). Aslanbekov war zu diesem Zeitpunkt noch nicht als samozvanec inhaftiert, sondern weil er Kranke behandelt hatte, ohne die Genehmigung dafür zu besitzen. 141 RGADA , f. 349, o. 1 / č. 1, d. 7086, l. 7 ob. 142 RGADA , f. 7, o. 2, d. 2699, l. 8. 143 Engels, Jens Ivo: Das »Wesen« der Monarchie? Kritische Anmerkungen zum »Sakral königtum« in der Geschichtswissenschaft. In: Majestas 7 (1999), 3–39, hier 37.
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In dieser Monografie ist von zwei Varianten sakraler Herrschaft die Rede, die auch generell die Debatte um sakrale HerrscherInnen prägen. Die eine werde ich im Folgenden als die hochkulturelle Variante bezeichnen, die zweite als die kosmologische.144 Die in Kapitel 3.1 behandelte Sakralisierung des Herrschers im Moskauer und Russländischen Reich ist ein Beispiel für die hochkulturelle Variante. Ihr Ausgangspunkt ist der Versuch, die Autorität des Herrschers zu erhöhen,145 indem er in eine Analogie zu Gott gebracht wird. Die Untertanen sollen dem Herrscher so gehorchen und sich so seinem Willen unterordnen, wie sie Gott gehorchen und sich Gottes Willen unterordnen, während der Herrscher dieselbe unbeschränkte Verfügungsgewalt über seine Untertanen genießt wie Gott über die Menschen. Um diese Analogie zum Ausdruck zu bringen, werden dem Herrscher in panegyrischen Texten, aber auch in bildlichen Darstellungen Attribute verliehen und Redewendungen in Bezug auf seine Person verwendet, die aus der Bibel, der Liturgie oder Heiligenviten stammen. Meistens kann dabei von einer »diskursiven Fiktion« gesprochen werden, weil diese Art der Außendarstellung zwar ihren Zweck erfüllte und den Untertanen Ehrfurcht vor dem Herrscher / der Herrscherin einflößte, aber nicht dazu führte, dass sie ihn / sie als sakral betrachtet hätten.146 Im Moskauer und Russländischen Reich wurden solche Metaphern aber, wovon in Kapitel 3.1 die Rede war, zunehmend wörtlich verstanden und gingen zumindest zum Teil über bloße Fiktion hinaus. Für die Einordnung der Quellen, um die es mir geht, ist aber die kosmologische Variante von sakraler Herrschaft entscheidend. Sie nimmt einen direkten Zusammenhang zwischen dem Herrscher und der umgebenden Welt an, etwa in dem Sinn, dass er für eine gute Ernte, günstiges Wetter und Ähnliches sorge. Bekannt gemacht hat sie vor allem Charles Frazer in seinem Monumentalwerk »The Golden Bough«, das im Laufe der Zeit vielfach kritisiert, ja verdammt wurde, sodass es angebracht ist, ein paar Worte zu seiner Konzeption und den damit verbundenen Problemen zu verlieren.147 Der titelgebende goldene 144 Franz-Reiner Erkens bezeichnet die kosmologische Variante als Sakralkönigtum und betrachtet sie als Untertyp des sakralen Königtums (Erkens, Franz-Reiner: Herrscher sakralität im Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Investiturstreit. Stuttgart 2006, 30 f.). 145 Für Jens Ivo Engels handelt es sich hierbei nicht um sakrale Herrschaft, sondern um Prozesse, die sich mit einer anderen Begrifflichkeit besser beschreiben lassen (Engels: Das »Wesen« der Monarchie?, 8.) – wie hier als Versuch, die herrscherliche Autorität zu erhöhen. Dieser Standpunkt wird durch Erkens᾽ Beschreibung dieses Typs sakraler Herrschaft (Erkens: Herrschersakralität, 29.) vollauf gerechtfertigt. Was Erkens als Merkmale sakraler Herrschaft aufzählt, sind allgemein christliche Herrschertugenden, aus denen sich beim besten Willen keine Überhöhung der Person des Herrschers ableiten lässt. Ich bleibe bei der Begrifflichkeit von Sakralisierung und sakraler Herrschaft, weil anders nicht deutlich würde, wovon die Rede ist. 146 Engels: Das »Wesen« der Monarchie?, 13. 147 Ausführlich dazu siehe Fraser, Robert: The Making of The Golden Bough. The Origins and Growth of an Argument. New York 1990.
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Zweig spielte im antiken Kult der Göttin Diana in Aricia (heute Ariccia) bei Rom eine wichtige Rolle. »The Golden Bough« entstand als Versuch, die zahlreichen Idiosynkrasien dieses Kults zu erklären. Von der ersten Ausgabe von 1890 bis zur dritten und ausführlichsten von 1913 schwoll das Material, das Frazer zu diesem Zweck gesammelt hatte, auf zwölf Bände an. Das lag nicht zuletzt daran, dass er Anhänger der vergleichenden Methode der Ethnologie war. Als Kind des 19. Jahrhunderts hielt er den menschlichen Geist und die menschliche Kultur für etwas Universelles. Er zweifelte nicht daran, dass sich die Menschheit zu immer höheren Stufen von Zivilisation entwickle und diese Stufen überall auf der Welt gleich seien. Wenn ein Beleg nicht ausreichend klar war oder nicht weit genug in die Vergangenheit führte, erschien es Frazer völlig legitim, die Argumentation mit einem zweiten (dritten, vierten) Beleg aus einem völlig anderen zeitlichen und räumlichen Zusammenhang weiterzuführen. Für HistorikerInnen ist an diesem Vorgehen irritierend, dass es ohne jeden Ansatz von Quellenkritik auskommt. Es ist nicht nur irrelevant, auf welche Zeit und welche Weltgegend sich ein Beleg bezieht, sondern Frazer übernimmt beispielsweise auch Berichte europäischer Reisender aus dem 18. und 19. Jahrhundert, ohne darauf einzugehen, wie zuverlässig diese Berichte sind, inwieweit die Autoren das Beobachtete richtig erfasst und eingeordnet haben können. Auch über bewusste Manipulation war Frazer nicht erhaben. Er interpretierte Belege nicht selten so, dass er sie zur Ausdeutung des Diana-Kults verwenden konnte anstatt sie als totes Ende abschreiben zu müssen. In den späteren Ausgaben des »Golden Bough« bezog er sich gerne auf Autoren, die wiederum frühere Ausgaben des Buches als Grundlage für ihre Interpretation benutzt hatten und wurde so indirekt zu seinem eigenen Gewährsmann. Im Folgenden übernehme ich von Frazer nur die Deutung des Säulenmotivs, weil sie die einzige Möglichkeit darstellt, es erstens überhaupt zu erklären und zweitens auf eine Weise, die auch andere rätselhafte Quellenbefunde sowie Aspekte der Performanz von samozvancy und samozvanki erhellt (siehe unten). Hingegen übernehme ich weder Frazers Theorie zur Entstehung der Monarchie, noch die Annahme, dass es sich bei der Bedeutung des Säulenmotivs um seit »grauer Vorzeit« überlieferte Universalien handle. Die Deutung des Säulenmotivs ergibt sich aus Frazers Theorie, dass die ersten Könige aus besonders charismatischen Magiern hervorgegangen seien,148 sodass Monarchen weiterhin Aufgaben bzw. Fähigkeiten von Magiern zuge148 Hierbei handelt es sich um einen der umstrittensten Teile von Frazers Werk, der heute einhellig als widerlegt gilt. Das ändert aber nichts daran, dass ein sakraler Herrscher und ein Magier aus der Sicht einer Präsenzkultur wichtige Gemeinsamkeiten aufweisen (siehe Kapitel 5.3).
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schrieben worden seien. Entweder musste der König aktiv bestimmte rituelle Praktiken ausführen, um beispielsweise für günstiges Wetter oder das Gedeihen der Feldfrüchte zu sorgen. Oder aber sein Befinden repräsentierte den Zustand der Natur – ging es ihm gut, war in der Natur alles in Ordnung; ging es ihm schlecht, geriet die Natur aus dem Gleichgewicht.149 Als Konsequenz war der Herrscher Frazer zufolge einer Reihe von Einschränkungen unterworfen, die sein Wohlbefinden und / oder den Erhalt seiner magischen Fähigkeiten garantieren sollten. Eine gängige Kombination von Verboten bestand darin, dass der Herrscher den Boden nicht berühren, das Tageslicht nicht schauen und sich Fremden nicht zeigen dürfe.150 Die Gefangenschaft in einem Turm, in einer Säule oder in einer Mauer erfüllt diese Voraussetzungen, und wurde von dem sowjetischen Strukturalisten Vladimir Propp für Märchen in Frazers Sinn gedeutet.151 Dem widerspricht auch nicht, dass sich der Protagonist in Gerücht 1, 5 und 6 in einem gewöhnlichen Gefängnis (tjur’ma, temnica) befindet, denn das Gefängnis lässt sich als sekundäre Bildung interpretieren. Der Ausdruck temnica hängt mit dem Adjektiv temnyj ›dunkel‹ zusammen und weist das Gefängnis als einen Ort aus, an dem es dunkel ist. Insofern würde es eine Voraussetzung erfüllen, um ein »Schutzhaus« zu sein. Wenn es nun um den Quellenbestand geht, so sind Gerüchte, die das Prosperieren des Reiches explizit vom Herrscher / von der Herrscherin abhängig machen, selten und stellen eher einen negativen Zusammenhang her. Wie bereits erwähnt, meinte ein Soldat 1732 in der Provinz Pošechon’e, der zweite Kaiser müsse noch am Leben sein, weil das Getreide gut stehe. Eine Bäuerin beklagte, wegen Peter I. wachse das Getreide nicht.152 Der Bauer Michail Alekseev erzählte, während der Regentschaft von Anna Ioannovnas verhasstem Favoriten Ernst von Biron für Ivan VI. sei das Getreide nicht mehr gewachsen (chleb perestal rodit’sja).153 Marita Blattmann zufolge sind Belege aus demsel149 Frazer, James George: The Golden Bough. A Study in Magic and Religion. Part II Taboo and the Perils of the Soul. Reprint der dritten Ausgabe 1913 Hong Kong 1990, 1. 150 Ebd., 120–126. 151 Dazu siehe Propp, V. Ja.: Istoričeskie korni volšebnoj skazki. Leningrad 1986 [erstmals Leningrad 1946], Kapitel II /1, 36–46. 152 Rustemeyer: Dissens und Ehre, 320. 153 Alefirenko: Krest’janskoe dviženie, 308. Erschwert wird die Deutung von Alekseevs Bemerkung dadurch, dass Birons Regentschaft vom 15. Oktober bis zum 6. November 1740 dauerte. Das heißt, sie fiel in eine Zeit des Jahres, in der das Sommergetreide längst geerntet ist und es nicht erstaunlich wäre, hätte sich das Wintergetreide nach den ersten Frösten bereits in der üblichen Wachstumspause befunden. Unkenntnis über das Wachstum von Getreide ist bei einem Bauer auszuschließen. Was stattdessen passiert ist, lässt sich nicht sicher sagen. Entweder wusste Alekseev nicht (mehr), in welcher Jahreszeit Biron Regent gewesen war. Oder aber die Bemerkung war überhaupt nicht herabsetzend gemeint und Alekseev teilte seinem Gesprächspartner einfach mit, dass 1740 die Fröste während Birons Regentschaft eingesetzt hätten.
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ben Zeitraum sowohl für die Vorstellung, dass der Herrscher / die Herrscherin das Wohlergehen des Landes positiv beeinflusse, als auch dafür, dass er / sie es negativ beeinflusse, ein wichtiges Indiz dafür, dass die dahinterstehenden Vorstellungen in der jeweiligen Epoche lebendig gewesen seien.154 Der Kausalzusammenhang zwischen HerrscherIn und Prosperität konnte auch rationalisiert werden. In den späten 1780er Jahren erzählte ein Leibeigener, sein Grundherr habe sich darüber beschwert, dass das Getreide nicht mehr wachse, seit Katharina II. auf ihrer Reise zur Krim durch seine Ländereien gekommen sei. Bis zu diesem Punkt wirkt es, als hätte der Adelige Katharina analog zu den Beispielen mit Peter I. und Biron abgesprochen, die rechtmäßige Herrscherin zu sein und ihr deswegen die miserable Ernte angelastet. In Wahrheit gab er eine objektiv überprüfbare Erklärung: Die Bauern seien dazu verpflichtet worden, für den Besuch der Kaiserin die Straße nach Kiev auszubessern und hätten deswegen ihre Felder nicht richtig bestellen können.155 Häufiger sind Gerüchte, in denen Gefangenschaft unter den bekannten Bedingungen – kein Tageslicht, kein Bodenkontakt, keine Fremden – für Reifung und Vervollkommnung des Herrschers steht. Sie stellen ebenfalls einen Zusammenhang zwischen ihm und dem Wohlergehen des Reiches her. Jedoch werden die dafür notwendigen Kräfte erst hervorgebracht, sodass ihre Auswirkungen noch nicht sichtbar sind. In Gerüchten über Peter I. findet sich die größte Vielfalt diesbezüglicher Motive. Es kommen nicht nur Säule und Turm vor, sondern auch Fass156 und Sarg. Propp zufolge entspricht der Aufenthalt in einem Fass, das ins Meer geworfen wird, dem Aufenthalt im Bauch eines Fisches, der für eine Zeit der Reifung und Vervollkommnung des Protagonisten steht.157 Am bekanntesten ist sicher die biblische Geschichte von Jona. Erst nachdem ihn der Wal verschluckt hat, erlangt Jona die Bereitschaft, Gottes Auftrag zu erfüllen, nach Ninive zu gehen und die Menschen zur Umkehr aufzurufen. Auf Peter I. bezogen ist die persönliche Reifung in einem verschlossenen Raum am deutlichsten in der bereits in Kapitel 3.1 erwähnten Erzählung von Altgläubigen erkennbar, in der der echte Peter lebendig in einem Sarg begraben wird. Der aus Holz bestehende Sarg kann als Äquivalent zu Fisch und Fass verstanden werden. Der Aufenthalt darin ist für den echten Peter explizit eine 154 Blattmann, Marita: ›Ein Unglück für sein Volk‹. Der Zusammenhang zwischen Fehlverhalten des Königs und Volkswohl in Quellen des 7.–12. Jahrhunderts. In: Frühmittelalterliche Studien 30 (1996), 80–102, hier 99, Fußn. 62. 155 Rustemeyer: Dissens und Ehre, 320. 156 Ein Beispiel für Peter I. ist Solov᾽ev, S.: Skazka o Petrě Velikom. In: ČIOIDR 4/1862, čast᾽ 5, 2. Solov’ev publizierte hier vermutlich einen Ausschnitt aus dem Akt RGADA , f. 371, o. 1/č. 1, d. 102. Ich konnte diese Vermutung jedoch nicht überprüfen, weil der Akt stark beschädigt und für die Benutzung gesperrt ist. 157 Propp: Istoričeskie korni, 243 f.
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Zeit der Umkehr und des Lernens im Sinne des alten Glaubens, und am Ende nimmt er als Ergebnis der persönlichen Reifung den Kampf gegen seinen Doppelgänger auf. Die Funktion des Sarges in dieser Geschichte ist ein Hinweis darauf, dass die Bedeutung solcher Motive bekannt war, als die Geschichte Anfang des 18. Jahrhunderts entstand. Für die Lebendigkeit solcher Vorstellungen spricht auch die Performanz von samozvancy. Im 18. Jahrhundert versuchten mehrere von ihnen, ihre Glaubwürdigkeit als Mitglieder der Dynastie dadurch zu erhöhen, dass sie sich zusätzlich als Heiler, Wahrsager oder Magier in Szene setzten. Aus der Perspektive einer Präsenzkultur sind Heiler, Wahrsager, Magier und ein sakraler Herrscher der kosmologischen Variante gleichermaßen in die Gesetzmäßigkeiten der Natur eingeweiht und in der Lage, diese zu manipulieren. Folglich »bewies« ein samozvanec, der Kranke behandelte, die Zukunft vorhersagte oder magische Praktiken ausübte, dass er über jene Art von besonderen Fähigkeiten verfüge, die ein Herrscher aufweisen sollte (dazu genauer siehe Kapitel 5.3). Da diese Strategie erfolgreich war, schrieben die AnhängerInnen dieser samozvancy einem Herrscher ebenfalls solche Kräfte zu, und das wiederum macht es plausibel, dass sie die Gefangenschaft in einer Säule, einem Turm oder einer Mauer als Mittel verstanden, um diese Kräfte zu erhalten. Aus diesem Überblick über die Quellen ergeben sich wichtige Anhaltspunkte für ihre Einordnung. Sämtliche Beispiele stammen aus einem Zeitraum, der sich vom Beginn der selbstständigen Herrschaft Peters I. bis etwa 1785 erstreckt; es sind rund hundert Jahre, die im Folgenden der Einfachheit halber als 18. Jahrhundert bezeichnet werden. Aus dem 17. Jahrhundert ist nichts dergleichen überliefert, aus dem 19. Jahrhundert nur letzte Ausläufer. In den »Moskovskie novosti« kommt etwa das Motiv von der Gefangenschaft in einer Säule zwei Mal vor (siehe Kapitel 4.3), doch anders als bei Gerüchten aus dem 18. Jahrhundert gibt es nicht den geringsten Anhaltspunkt, dass die Säule für Schutz oder Vervollkommnung steht. Selbstredend ist gerade für das 17. und frühere Jahrhunderte mit Quellenverlusten zu rechnen, aber wären solche Vorstellungen weit verbreitet und häufig gewesen, hätte sich wohl irgendeine Spur davon erhalten. Gleich, welcher Hinweis herangezogen wird, er verweist stets auf das 18. Jahrhundert. Relevant ist auch, dass solche Beispiele nicht allzu häufig sind und für ihre geringe Anzahl ziemlich stark variieren. Manchmal geht es um einen Herrscher, der in eine Säule gesperrt ist, manchmal um dessen Einfluss auf die Erntemenge. Manchmal sind rationalisierende Züge enthalten, manchmal nicht. Manchmal enthält ein Gerücht zwar das Säulenmotiv, aber die Fabel lässt es unwahrscheinlich erscheinen, dass der Bezug zu sakraler Herrschaft im Vordergrund steht (siehe unten). Daraus ist der Schluss zu ziehen, dass solche Vorstellungen im Russländischen Reich zwar bekannt, aber nicht allzu weit verbreitet oder gut verankert waren.
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Sowohl der zeitliche Rahmen, als auch die geringe Anzahl der Quellen und ihre Diversität sprechen dafür, dass es sich anders als Angela Rustemeyer meint (und es eine Deutung streng nach Frazer nahelegen würde) nicht um vereinzelte letzte Anklänge an kosmologische Vorstellungen aus früheren Epochen handelt, die im 18. Jahrhundert schon weitgehend abgestorben gewesen seien,158 sondern um eine zu diesem Zeitpunkt rezente Übernahme westeuropäischer Vorstellungen. Wie in Kapitel 3.1 ausgeführt, sind keine Hinweise auf Vorstellungen von sakraler Herrschaft zu erwarten, solange pravda ein wichtiger Bezugspunkt für das Denken der Zeitgenossen war, weil nur die von Gott gewollte Ordnung als sakral galt. Diese Auffassung war ein Ergebnis der Christianisierung der Rus᾽. Durch die Taufe Vladimirs schien die Rus᾽ unmittelbar in den Zustand des Heils eingetreten zu sein und ihre Bevölkerung bereits in gottgewollten Verhältnissen zu leben.159 Die älteste Quelle, die Plaggenborg in Hinblick auf dieses Konzept analysiert, stammt aus dem 11. Jahrhundert;160 der Niedergang der mit pravda verbundenen Vorstellungen machte sich im 17. Jahrhundert bemerkbar. Dazwischen liegen 600 Jahre, in denen wegen der Dominanz von pravda weder Vorstellungen von sakraler Herrschaft neu entstehen hätten oder übernommen werden, noch bereits vorhandene lebendig gehalten werden hätten können. Selbst wenn zufriedenstellend nachgewiesen werden könnte, dass in der vorchristlichen Rus᾽ solche Vorstellungen verbreitet waren (was nicht der Fall ist), wäre es unseriös, zu behaupten, dass nach dem Bedeutungsverlust von pravda ein Zeitraum von mehr als einem halben Jahrtausend einfach so übersprungen und nahtlos an die pagane Rus᾽ angeknüpft werden hätte können. Es ist also anzunehmen, dass nach dem Bedeutungsverlust von pravda um die Mitte des 17. Jahrhunderts nicht nur hochkulturelle westeuropäische Auffassungen von Herrschersakralität ins Moskauer Reich gelangten, sondern auch kosmologische. Dass die angeführten Beispiele auf das 18. Jahrhundert beschränkt sind, dürfte darauf zurückzuführen sein, dass sie tatsächlich am Ende einer Entwicklung angesiedelt sind – aber nicht am Ende einer seit den Anfängen der Menschheit bestehenden Tradition, sondern am Ende eines Abschnitts in der Entwicklung des Herrscherbildes im Moskauer Reich. Um 1800 glaubten immer weniger Menschen, dass der Kaiser / die Kaiserin tatsächlich etwas zum Besseren ändern könne.161 Außerdem stellte Ingerflom fest, dass das Herrscheramt nach 1800 weiterhin als sakral gegolten habe, jedoch Sakralität nicht 158 159 160 161
Rustemeyer: Dissens und Ehre, 320. Plaggenborg: Pravda, 49. Ebd., 46. Baehr, Stephen L.: Regaining Paradise. The »Political Icon« in Seventeenth- and Eigh teenth-Century Russia. In: Russian History / Histoire Russe 11/2–3 (1984), 148–167, hier 164.
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mehr der konkreten Person auf dem Thron zugeschrieben worden sei.162 Beides passte nicht mehr zu der Überzeugung, dass der Herrscher / die Herrscherin unmittelbar für die Prosperität des Reiches verantwortlich sei. Eine derartige Übernahme ist nicht nachweisbar. Von ihr auszugehen ist aber die einzige Möglichkeit, um die in Kapitel 3.1 erarbeitete Chronologie der Sakralisierung der Person des Herrschers mit weiteren Veränderungen der gängigsten Herrscherbilder und dem Quellenbefund aus dem 18. Jahrhundert in Einklang zu bringen. Würde diese Möglichkeit ignoriert, schwebten das Säulenmotiv, die Rezeption des Glaubens an carskie znaki (siehe Kapitel 5.2) und die Strategie von samozvancy, Bezüge zu sakraler Herrschaft zu ihrem Vorteil zu nutzen (siehe Kapitel 5.3), im luftleeren Raum. Sie wären als Besonderheit erkennbar, entzögen sich aber einer Erklärung. An dieser Stelle ist noch einmal festzuhalten, dass sich die Deutung der Beispiele als Hinweise auf Vorstellungen von sakraler Herrschaft nicht verallgemeinern lässt. Das liegt daran, dass im Einzelfall nicht nachweisbar ist, auf welche Variante(n) sich der Mittler / die Mittlerin bezog bzw. welche ihm / ihr bekannt war(en). Ungeachtet dessen, dass in dem Motiv prinzipiell alle Schichten angelegt sind, von denen die Rede war, mag es für verschiedene Menschen Unterschiedliches bedeutet haben und für manche auch gar nichts, sodass sie in einer Säule, einem Turm oder einer Mauer nichts anderes sahen als einen gut verschlossenen Ort. Negativ konnotierte Gefangenschaft ist nichts anderes als Freiheitsentzug. Auch sie lässt sich als eine Art Rationalisierung des Säulenmotivs verstehen, weil sie seine Bedeutung in die Niederungen gewöhnlicher Hofintrigen holt. Dieser Aspekt dürfte in jenen Gerüchten im Vordergrund stehen, die verraten, warum der Protagonist gefangen ist, weil die Begründungen einen Bezug zu realen Strategien aufweisen, um politische Konkurrenten loszuwerden. Solange die Thronfolge in der Rus’, den Teilfürstentümern und dem frühen Moskauer Reich nach dem Senioritätsprinzip geregelt war, suchten die (Groß-)Fürsten nach einem Mittel, um die Anzahl der Bewerber um die Macht möglichst gering zu halten. Sie konnten Konkurrenten töten (lassen). Dagegen stand jedoch das 6. Gebot, das gerade in Hinblick auf nahe Verwandte die Hemmschwelle durchaus erhöhte. Die Alternative bestand darin, sie einzusperren. Dafür gibt es mehrere Beispiele aus der Moskauer Geschichte.163 Im 16. Jahrhundert endete diese Praxis, weil die Daniloviči stark geschrumpft waren, aber das Schicksal Ivans VI., seiner Eltern und Geschwister im 18. Jahrhundert erinnert noch an ein solches Vorgehen. Deren Gefangenschaft lässt 162 Ingerflom: Le tsar c’est moi, 173 f.; 473. 163 Kollmann: The Russian Empire, 148. Für Beispiele aus dem 15. und 16. Jahrhundert siehe auch Dies.: Kinship and Politics. The Making of the Muscovite Political System, 1345–1547. Stanford / California 1987, 156–158.
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sich als Versuch eines Zweiges der Nachkommen von Aleksej Michajlovič beschreiben, den zweiten noch existierenden Zweig dauerhaft von der Herrschaft auszuschließen. In den hier untersuchten Gerüchten geht es nicht um Konkurrenz zwischen Verwandten, weil das mit der eben erwähnten Ausnahme der Braunschweiger Familie den Gegebenheiten des 18. Jahrhunderts nicht mehr entsprach. Stattdessen ist die treibende Kraft die Machtgier von Günstlingen, einflussreichen Adelsfamilien oder nicht näher benannten Verrätern am Hof. An der Motivation der Einmauerung Peters II. ändert sich aber nichts – er soll aus dem Weg geräumt werden, doch die Verantwortlichen schrecken davor zurück, ihn zu töten. Eine solche Konstellation ist in Gerücht 4 und 5 erkennbar. Gerücht 4 schwärzt die Favoriten Peters II. an. Ivan Meteljagin erzählte seinem Großneffen Ivan Berdov, die Dolgorukie hätten den Kaiser entführt, in einen Turm gesperrt und sein Begräbnis inszeniert,164 bezog sich also auf die Ereignisse rund um Peters Tod im Jänner 1730.165 Nichtsdestoweniger lag der Schwerpunkt auf Peters Gefangenschaft in einem fernen Land. Meteljagin erörterte die Machenschaften der Dolgorukie erst, als Berdov Zweifel an der Geschichte äußerte.166 Ivan Dolgorukij hatte dem Hofstaat Peters II. schon vor dessen Thronbesteigung angehört und genoss bald den Status des unumschränkten Favoriten. Die beiden Jünglinge waren geradezu unzertrennlich. Mit der Zeit witterte auch Ivans Vater Aleksej Dolgorukij die Chance, sich eine einflussreiche Position zu sichern. Es gelang ihm, Peter II. dazu zu bringen, sich mit seiner Tochter Ekaterina zu verloben. Die schwere Erkrankung des Kaisers bedeutete einen herben Rückschlag für Vater und Sohn Dolgorukij. Es sah nicht so aus, als würde Peter den Tag seiner Hochzeit erleben, sodass ihre Pläne für eine glänzende Zukunft ernsthaft gefährdet waren. Zuerst versuchten sie, den Kranken dazu zu bringen, ein Testament zugunsten seiner Braut zu unterschreiben. Als sich herausstellte, dass er dazu nicht mehr in der Lage war, fälschte Ivan Dolgorukij kurzerhand die Unterschrift. Diese Tat blieb ohne unmittelbare Folgen. Die übrigen Mitglieder des Obersten Geheimen Rates (Verchovnyj Tajnyj sovet), der für den minderjährigen Peter II. die Regierungsgeschäfte geführt hatte, weigerten sich, bei dem Staatsstreich in statu nascendi mitzuspielen, weil sie es als zu unüblich empfanden, die Verlobte des Kaisers zu dessen Nachfolgerin zu machen. Sonst geschah nichts, und erst mehrere Jahre später kam ans Tageslicht, dass Peters Testament samt Unterschrift ohnehin gefälscht war. 164 RGADA , f. 349, o. 1/č. 1, d. 5708, l. 8. 165 Dazu siehe Lotman, Ju. M.: Besedy o russkoj kul᾽ture. Byt i tradicii russkogo dvorjanstva (XVIII-načalo XIX veka). Sankt-Peterburg 2014, 392–398. 166 RGADA , f. 349, o. 1/č. 1, d. 5708, l. 8.
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Nichtsdestoweniger standen die Dolgorukie in Gerüchten von Anfang an für Hab- und Machtgier, unabhängig davon, ob diese unter Adeligen167 oder jenseits des Hofes kursierten. Beispielsweise besagte ein Gerücht von 1732, Ekaterina Dolgorukaja sei noch rasch mit dem bereits verstorbenen Peter II. getraut worden.168 Es wirkt, als würde es den Mummenschanz um Peters Testament verarbeiten, aber wahrscheinlich handelt es sich um eine zufällige Übereinstimmung, die zum Ausdruck bringen sollte, dass die Dolgorukie bei der Wahl der Mittel keine Skrupel kannten, wenn es darum ging, ihre Macht zu sichern. Gerücht 5 gibt einen Kommentar zur Regierungszeit von Elizaveta Petrovna ab. Der Kaufmann kann die Kaiserin nicht finden und bittet deswegen einen zufällig vorbeikommenden Mann, ihr den Brief des Gefangenen zu geben. Aleksej Razumovskij beobachtet die Szene, bemächtigt sich des Briefes, liest und zerreißt ihn. Der Mann hebt die Fetzen auf und bringt sie zu Elizaveta.169 Über Razumovskij kursierte um 1750 eine ganze Reihe von Gerüchten. Ein Teil von ihnen konzentrierte sich auf Elizaveta Petrovna und war moralisch gefärbt. Die MittlerInnen äußerten sich abfällig darüber, dass die Kaiserin mit Razumovskij das Bett teilte, ohne mit ihm verheiratet zu sein. Daran konnte sich die Meinung anschließen, sie sei ihm hörig und lasse sich in ihren Entscheidungen lenken. In anderen Gerüchten stand Razumovskij selbst im Mittelpunkt. Sie zeichnen ihn als verderbten Parvenu.170 Mitunter wird ihm der zukünftige Peter III. als positiver Gegenpol gegenübergestellt, der über sein Verhalten empört und davon abgestoßen ist. Es hieß sogar, Peter wolle Razumovskij töten, was Ersterem einiges an Sympathie einbrachte.171 Gerücht 5 lässt sich ebenfalls als Abrechnung mit Razumovskij verstehen. Zunächst fällt auf, dass er die Zügel so fest in der Hand hält, dass er für die Kaiserin bestimmte Briefe nicht nur an sich nehmen, sondern auch nach Gutdünken mit ihnen verfahren kann. Bezeichnend ist zudem, dass er den unerwartet wieder aufgetauchten Peter II. vor allem als Konkurrenz wahrnimmt. Käme der frühere Kaiser zurück, müsste Razumovskij seine Machtposition aufgeben, und dazu ist er nicht bereit. Lieber soll Peter im Gefängnis vermodern. Möglicherweise unterstellt das Gerücht Razumovskij auch, um seinen Platz in Elizavetas Bett zu fürchten. Ihr und Peter II. wurden mehr als nur verwandtschaftliche Gefühle nachgesagt; zwischendurch war sogar eine Ehe zwischen Tante und Neffe im Gespräch.172 Im Unterschied zu Elizavetas 167 168 169 170 171 172
Lotman: Besedy, 397. RGADA , f. 6, o. 1, d. 168. RGADA , f. 349, o. 1/č. 1, d. 4645, l. 7. Für Beispiele zu allen Varianten siehe Tajnaja kanceljarija, 529. Ebd., 529 f.; Alefirenko: Krest’janskoe dviženie, 309. Kurukin: Ėpocha »dvorskich bur’«, 147 f.
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Liaison mit Razumovskij ist jedoch nicht klar, ob die Tändeleien zwischen ihr und Peter außerhalb des Hofes bekannt waren. Jedenfalls verhält sich Razumovskij so, wie es kein guter Untertan tun sollte. Er lässt es klar an Respekt vor und Treue zu einem früheren Kaiser fehlen. Insgesamt dürfte es den MittlerInnen von Gerücht 5 wichtiger gewesen sein, Razumovskij in einem möglichst unvorteilhaften Licht erscheinen zu lassen als die Rückkehr Peters II. anzukündigen. Zwar wird die Ursache der Gefangenschaft nicht benannt; Razumovskij ist einfach der Nutznießer einer Situation, die ohne sein Zutun zustande kam, sodass die Gefangenschaft in der Säule durchaus positiv als Schutz verstanden werden könnte. Allerdings fehlt jeder Hinweis auf Peters Rückkehr, was diese Deutung auf ein totes Ende führt. In fünf der acht Gerüchte schickt Elizaveta Petrovna jemanden aus, um den Gefangenen zu holen. Auf diese Weise ist mit dessen Rückkehr zu rechnen, auch wenn davon kein einziges Mal explizit die Rede ist. In Gerücht 2 und 7 wird niemand zum Gefangenen entsandt, aber beide sind so kurz, dass sie wie die Zusammenfassung einer längeren Fabel wirken und die Leerstelle nicht überbewertet werden sollte. Gerücht 5 ist ausführlich, trotzdem wird niemand ausgeschickt, um Peter II. zu holen. Das könnte heißen, dass Peters Rückkehr unwahrscheinlich ist. In jedem Fall impliziert es, dass das für die MittlerInnen nicht die wichtigste Information war. Der Fokus liegt eher auf Razumovskijs Machenschaften. Dazu passt, dass zwar von Elizaveta Petrovna die Rede ist, sie aber im Unterschied zu den übrigen Gerüchten nicht als handelnde Person auftritt. Dabei wäre sie die Einzige, die Razumovskij in die Schranken weisen und Peter II. zu seinem Recht verhelfen könnte. Zusammenfassend kann das Säulenmotiv sehr unterschiedliche Bedeutungs schattierungen annehmen, jeweils abhängig von der Botschaft, welche die Mittler transportieren wollten und wohl auch abhängig davon, was die Säule für sie bedeutete. Die diesbezüglichen Möglichkeiten reichen von einem Verwahrraum für missliebige Kaiser bis hin zum Schutzraum, der die besonderen Fähigkeiten des Herrschers erhalten bzw. zur Vollendung bringen soll. Werden keine Übeltäter benannt, ist anzunehmen, dass es eher um Schutz geht. Eine positive, mit sakraler Herrschaft verbundene Deutung der Gefangenschaft wäre in den von mir untersuchten Quellen noch die nächste Entsprechung zu Čistovs »sozial-utopischen Legenden«. Immerhin erklärte Čistov die Erwartung, dass der »gute Zar« zurückkehren und seine Herrschaft zur Vollendung bringen werde, zum Kern der Legenden und im Weiteren zur Grundlage für samozvanstvo. Kurios ist, dass er selbst diese Dimension weder bei Peter I., noch bei Peter II. erwähnte. Für ihn war eine Säule offenbar nichts anderes als eine Säule, obwohl er als Ethnologe mit dieser Materie vertraut gewesen sein müsste. Daran zeigt sich einmal mehr, dass er die These von der Existenz »sozial-utopischer Legenden« über den »guten Zaren« weniger anhand des Quellenmaterials entwickelte als anhand ideologischer Vorgaben.
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Trotz der Nähe zu Čistovs Konzeption wäre es irreführend, von einer Legende über verstorbene Herrscher zu sprechen, sei sie nun sozial-utopisch, eschatologisch oder etwas anderes. Die Aussicht auf die Rückkehr des Herrschers und deren Implikationen sind dafür selbst in den hier untersuchten Gerüchten zu wenig ausgeprägt, und in anderen Gerüchten noch schwächer. Auch lässt sich nicht verallgemeinern, welche der besprochenen Bedeutungsebenen im Vordergrund steht. Es gibt keine Garantie, dass Gefangenschaft immer positiv gemeint war, wenn sie es prinzipiell sein könnte. Kommen wichtige politische Akteure wie Aleksej Razumovskij oder Aleksej und Ivan Dolgorukij vor, ist es besser, von Gefangenschaft als Freiheitsentzug auszugehen. Einzelne Motive zu betrachten ist für eine Analyse der Gerüchte nicht ausreichend. Aus keiner der möglichen Bedeutungen der Säule erschließt sich, warum sich der Protagonist in einem Land jenseits des Meeres befindet, warum ein Kaufmann sein Retter ist, und so weiter. Von einem möglichen Vorbild für diese Fabel wird im nächsten Abschnitt die Rede sein. Die Herkunft der Fabel
Als Vorbild kommt ein literarischer Text in Frage, der auch mündlich weitergegeben wurde, die »Istorija o Bove Koroleviče« (»Die Geschichte von Bova Korolevič« bzw. »Die Geschichte von dem Königssohn Bova«). Maureen Perrie brachte den Text als Erste mit samozvanstvo in Verbindung. Sie sieht darin ein mögliches Vorbild für die back story des ersten falschen Dmitrij, wie sie die fiktiven Selbstzeugnisse von samozvancy und samozvanki nennt.173 Diese These ist nicht überzeugend; die Parallelen zwischen »Dmitrijs« Selbstzeugnis und der Handlung von »Bova Korolevič« erschöpfen sich darin, dass ein Herrschersohn ermordet werden soll, damit er in Zukunft keinen Anspruch mehr auf die Macht erheben kann, aber gerettet wird und sich als einfacher Diener verdingen muss, ehe seine wahre Identität ruchbar wird. In den Details sind die Unterschiede relativ groß. Übereinstimmungen bestehen auch mit anderen Texten (siehe Kapitel 4.1) und lassen sich zudem bei Bova und Dmitrij mit Konstruktionszwängen erklären. Um vom Tod des echten Dmitrij Ivanovič zu der Behauptung überzuleiten, er habe sich in Wahrheit über all die Jahre versteckt gehalten, konnte er im fiktiven Selbstzeugnis des samozvanec nicht einfach krank gewesen sein oder sich bei einem Unfall verletzt haben. Es musste einen Bösewicht geben, der ihm nach dem Leben trachtete, und dessen Ränke mussten scheitern. Für diese Rolle war Boris Godunov bestens geeignet. Bis zu diesem Punkt ist kein litera-
173 Perrie: Trans-National Representations, 66 f.
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risches Vorbild nötig, um die Fabel des Selbstzeugnisses zu erhalten. Die Umstände von »Dmitrijs« Offenbarung gegenüber Adam Wiśniowiecki sind zwar wahrscheinlich fiktiv (siehe Kapitel 4.1), aber kaum nach »Bova Korolevič« modelliert, weil der Herrschersohn auf unterschiedliche Weise entdeckt wird. Der Hinweis auf Bova ist aber für die hier untersuchten Gerüchte relevant, deswegen werde ich näher auf den Text eingehen. Er stammt aus »Reali di Francia« (»Fränkische Königssöhne«), einer aus einzelnen Poemen bestehenden Geschichte der Vorfahren und Nachkommen Karls des Großen, die in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts entstand und zum ersten Mal 1491 in Modena gedruckt wurde. Auch der fiktive Buovo d’Antona firmiert darin als Verwandter Karls. Das Poem über Buovo war außerordentlich beliebt; es wurde in alle romanischen Sprachen übersetzt, vielfach abgewandelt, und gelangte auch auf die britischen Inseln, wo sich Buovo d’Antona in Bovis of Hampton verwandelte. In allen Ländern galt der Text nicht als literarischer Import, sondern als autochthones Stück Folklore, was auf eine rasche und weite Diffusion hindeutet.174 Eine Übersetzung des italienischen Originals gelangte über südslawische Vermittlung im 16. Jahrhundert ins Moskauer Reich, wo sich der Text ebenfalls großer Beliebtheit erfreute. Das ist etwa daran erkennbar, dass Bova im 17. Jahrhundert als Vorname belegt ist.175 Die Handlung von »Die Geschichte von Bova Korolevič«176 zeichnet sich durch zahlreiche Irrungen und Wirrungen aus: König Gvidon von Sumin heiratet die schöne Prinzessin Militrisa. Sie haben einen gemeinsamen Sohn, Bova, doch Militrisas Herz gehört König Dodon. Bova ist noch ein Kleinkind, als seine Mutter Dodon auffordert, Sumin zu belagern. Als Dodon tatsächlich mit einer Armee anrückt, schickt Militrisa Gvidon vor die Stadt, damit Dodon ihn töten kann. Dodon träumt, dass Bova dereinst eine Gefahr für ihn darstellen werde und möchte auch das Kind töten. Militrisa schreckt davor zurück, ihrem Sohn aktiv Gewalt anzutun und sperrt ihn stattdessen in einen Turm, damit er verhungert. Bova kann fliehen. Kaufleute nehmen ihn auf ihrem Schiff nach Armenien mit, wo sie ihn an König Zenzevij verkaufen. Zenzevijs Tochter Družnevna erkennt an Bovas Schönheit, dass er in Wahrheit ein Königssohn ist und verliebt sich in ihn. Sie ist aber Lukaper versprochen, dem Sohn eines mit Zenzevij verbündeten Königs. Bova muss zahlreiche Abenteuer bestehen, ehe er Družnevna zur Frau nehmen kann. Družnevna bringt Zwillinge zur Welt, doch dann werden die Liebenden noch einmal ge174 Pypin, A.: Očerk literaturnoj istorii starinnych pověstej i skazok russkich. Sanktpeterburg 1857, 245 f. 175 Ebd., 248. 176 Der Text ist zu finden in Rovinskij, D. (Hg.): Russkija narodnyja kartinki. Kniga I Skazki i zabavnye listy. Sanktpeterburg 1881, 77–82 [Kurzfassung]; 84–113 [lange Fassung]. Die Namen der handelnden Personen sind an das Original angelehnt, aber keine Verball hornungen im eigentlichen Sinn.
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trennt und finden erst nach weiteren Prüfungen in Sumin wieder zusammen. Bova rächt seinen Vater, indem er Dodon tötet und erschreckt seine Mutter im wörtlichen Sinn zu Tode. Danach verbringen Bova und Družnevna den Rest ihres Lebens in ungetrübtem Glück. Wie leicht ersichtlich ist, handelt es sich bei den hier untersuchten Gerüchten nicht um eine Kopie von »Bova Korolevič«. Es gibt keine Liebesgeschichte. Elizaveta Petrovna ist – obwohl eine Herrscherin wie Militrisa – in keinem Gerücht der Bösewicht, sondern ahnungslos über das Schicksal ihres Verwandten. Das könnte damit zusammenhängen, dass Elizaveta nicht direkt auf Peter II. folgte und es sehr weit hergeholt gewesen wäre, ihr eine Rolle in dem (ohnehin fiktiven) Komplott anzudichten, das ihn um den Thron brachte. Elizavetas neutrale bis positive Zeichnung in den Gerüchten widerlegt Alefirenkos Behauptung, die Bevölkerung sei ihr als Herrscherin durchwegs ablehnend gegenübergestanden.177 Bovas Geschichte endet mit der Rache des rechtmäßigen Herrschers, während die Rückkehr des Gefangenen in den Gerüchten, wie gesagt, nur als Möglichkeit im Raum steht und deren zu erwartende Konsequenzen ganz ausgespart bleiben. Gleichzeitig gibt es mehrere Übereinstimmungen zwischen den Gerüchten und »Bova Korolevič«, die meiner Meinung nach größer sind als jene zwischen »Bova Korolevič« und dem Selbstzeugnis des ersten falschen Dmitrij und nicht mit Konstruktionszwängen erklärt werden können: Es geht um einen Herrschersohn, der um sein rechtmäßiges Erbe gebracht bzw. von der Macht ferngehalten wird. Er wird in einen Turm gesperrt. Mit der Hilfe von Kaufleuten gelingt es ihm, freizukommen. Vor seiner Rückkehr lebt er mehrere Jahre unerkannt in einem fernen Land jenseits des Meeres. Für eine mögliche Verbindung zwischen »Bova Korolevič« und den hier untersuchten Gerüchten ist auch relevant, wer sich hinter dem namenlosen carevič aus Gerücht 3 verbirgt. Sollte eine reale Person gemeint sein, kommt aus der Perspektive des Jahres 1752 nur einer der Söhne Peters I. in Frage, weil Peter I. zu diesem Zeitpunkt der letzte Zar / Kaiser gewesen war, der Söhne gehabt hatte. Von diesen sind Aleksej Petrovič und Peter Petrovič die wahrscheinlichsten Kandidaten, da nur sie in Gerüchten vorkamen und samozvancy anzogen.178 Der zukünftige Peter III. war ein Herzogssohn, der zukünftige Paul I. noch nicht geboren. Peter II. und Ivan VI. waren selbst Kaiser und brauchten nicht über den Rang des Vaters definiert zu werden. Sollte der carevič fiktiv sein, ist zum einen ein Zusammenhang mit einem Gerücht aus dem Jahr 1730 vorstellbar, das Sergej Solov᾽ev erwähnt. Ihm zufolge wurde Peter II. von Dolgorukij und acht weiteren Bojaren vergiftet, aber es gebe in den Bergen einen carevič (Petr II otravlen Dolgorukim i os᾽m᾽ju 177 Alefirenko: Krest’janskoe dviženie, 297; 308–310. 178 Dazu siehe Kapitel 3.1 und 3.3.
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drugimi bojarami, no est᾽ carevič, živet v gorach).179 Es scheint, als wäre hier weniger wichtig, dem carevič eine konkrete Identität zuzuordnen als zu versichern, dass es auch nach dem Tod Peters II. noch männliche Romanovy gebe. Die Verbindung mit Peter II. könnte erhalten geblieben, aber der Reservecarevič im Laufe der Jahrzehnte von seinem abgeschiedenen Bergdomizil in eine Säule gewandert sein. Zum anderen könnte die Namenslosigkeit des carevič damit zu erklären sein, dass es sich bei Gerücht 3 um eine Zwischenstufe zwischen einem folkloristischen oder literarischen Vorbild und dessen vollständiger Anpassung an die Gegebenheiten im Russländischen Reich zur Mitte des 18. Jahrhunderts handelt. Korolevič und carevič sind beides Herrschersöhne, die sich – die Frage, wer warum ranghöher ist, einmal beiseite gelassen – hauptsächlich dadurch unterscheiden, dass der carevič aus russländischer Perspektive die einheimische, gewohnte Variante und der korolevič ein ausländischer Titel war. Welchen Ursprung die Fabel auch gehabt haben mag, sie wies zum Zeitpunkt der Niederschrift von Gerücht 3 bereits einen eindeutigen Bezug zur Romanov-Dynastie auf, weil der carevič einen Brief an seine Verwandte Elizaveta Petrovna schickt und diese Hilfe entsendet. Sollte »Bova Korolevič« das Vorbild sein, wäre es bereits dahingehend »russifiziert« gewesen, dass der Name entfallen und der Titel der gebräuchlichen Titulatur angepasst worden war. In Gerücht 3 noch nicht erfolgte Anpassungen wären der fehlende Name und der abweichende Stellenwert des Gefängnisses. Bova wird in einen Turm gesperrt; das könnte der Grund sein, warum gerade diese Fabel mit dem Säulenmotiv verbunden wurde. Für Bova ist der Turm aber nur eine Zwischenstation ohne besondere Bedeutung, während in den Gerüchten die Gefangenschaft und die Möglichkeit zur Rückkehr im Zentrum stehen. Für diese Akzentverschiebung war unter Umständen ein weiteres Vorbild bzw. ein weiterer Einfluss verantwortlich, beispielsweise ein Märchen (siehe unten). Die Gerüchte und Evdokimovs Selbstzeugnis
Anders als Čistov andeutet,180 war Evdokimov nicht der einzige falsche Peter II., aber der einzige mir bekannte samozvanec, der sich diese Identität vorsätzlich und im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte aneignete. 1735 bezeichnete sich der minderjährige Schreiber Matvej Kurakin als »zweiter Peter«, bestand aber darauf, spontan und ohne böse Absicht gehandelt zu haben.181 Im April 179 Solov’ev, S. M.: Istorija Rossii s drevnejšich vremen. Kniga X (toma 19–20). Moskva 1963, 661. 180 Čistov: Russkie narodnye social’no-utopičeskie legendy, 131. 181 RGADA , f. 7, o. 1, d. 430, l. 18 ob.
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1765 kam der Bauer Grigorij Vasil’ev in die Kanzlei des Gouvernements Moskau und verlangte, den Namen in seinem Pass zu ändern. Er sei nämlich kein Bauer, sondern der zweite Kaiser.182 Da Vasil’ev nicht von seinem Anliegen abrückte, stuften ihn die Beamten als wahnsinnig ein und verzichteten darauf, die Hintergründe zu untersuchen. Evdokimov wurde in einer persönlich schwierigen Zeit zum samozvanec. Anfang 1762 verbrannte der registrierte Altgläubige Larion, bei dem Evdokimov nach seiner Desertion aus der Armee 15 Jahre lang gelebt hatte, in seiner Hütte. Anscheinend war er in Panik geraten, als Soldaten eine Razzia unter den Altgläubigen in den Wäldern bei Pošechon’e durchgeführt hatten, denn einem Randvermerk im Akt zufolge hatte er sich selbst getötet, während Evdokimov die Schuld an Larions Tod einem gewissen Bucharin gab, der die Soldaten als Sekretär begleitet hatte.183 Larions Tod war für Evdokimov eine doppelte Zäsur, und jeder der beiden Einschnitte trug auf seine Weise dazu bei, dass er sich für Peter II. ausgab. Seine erste Reaktion nach der Razzia war schlicht Trauer und Wut. Larion hatte ihn bei sich aufgenommen, ihm Lesen und Schreiben beigebracht und ihn angeleitet, wie er Geld verdienen konnte, um etwas zu ihrem Lebensunterhalt beizutragen.184 Deswegen ließ Evdokimov den Altgläubigen Stepan Antonov einen Brief an Elizaveta Petrovna schreiben, in dem er verlangte, Bucharin für Larions Tod zu bestrafen. Um seiner Forderung mehr Gewicht zu verleihen, unterschrieb Evdokimov als Peter II.185 Zu diesem Zeitpunkt war Elizaveta Petrovna bereits tot, aber die Nachricht über ihren Tod im Dezember 1761 augenscheinlich noch nicht bis in die Wälder um Pošechon’e gelangt. Evdokimov wusste demnach auch nicht, dass nun Peter III. regierte. Doch selbst wenn er es gewusst hätte, wäre es schwierig gewesen, einen Grund zu finden, warum der frischgebackene Kaiser bei den Altgläubigen Zuflucht suchen hätte sollen. So gesehen ist es ziemlich naheliegend, dass sich Evdokimov Peter II. nannte. Mit größerem Abstand zu Larions Tod rückte für Evdokimov die Erkenntnis in den Vordergrund, dass er nun keine dauerhafte Bleibe mehr hatte und die Siedlungen der Altgläubigen in absehbarer Zeit womöglich ganz verlassen musste. 1762 wechselte er mehrmals den Aufenthaltsort, bis er sich im Februar 182 183 184 185
RGADA , f. 349, o. 1/č. 1, d. 7097, l. 1. RGADA , f. 6, o. 1, d. 403, l. 12 ob.
Ebd., l. 12 ob.; 16. Ebd., l. 12 ob. Warum Evdokimov diesen und einen zweiten Brief nicht selbst schrieb, ist unklar. Möglicherweise war er ausreichend alphabetisiert, um Texte abzuschreiben, aber nicht, um eigenständig einen grammatikalisch und stilistisch (halbwegs) genügenden Brief zu verfassen. Oder aber jemand anderen damit zu beauftragen gehörte zu seiner Performanz als Peter II ., weil ein echter Kaiser ein wichtiges Schreiben nicht selbst aufgesetzt hätte.
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1763 schließlich auch gegenüber anderen Altgläubigen Peter II. nannte, damit diese ihn dauerhaft bei sich aufnahmen. Dabei benutzte er zum ersten Mal das Selbstzeugnis, von dem weiter unten die Rede sein wird. Zusätzlich ließ er Vasilij Lopatkin, bei dem er vorübergehend untergekom men war, einen zweiten Brief an die Kaiserin186 schreiben. Darin ging es nicht mehr um Bucharin, sondern Evdokimov bat als Peter II. darum, als Altgläubiger registriert zu werden und in den Wäldern bei Pošechon’e bleiben zu dürfen. Ihm dürfte damals zwar mittlerweile bekannt gewesen sein, dass Peter III. gestürzt worden war und nun Katharina II. regierte, aber er hätte sich nicht plötzlich eine andere Identität aneignen können, ohne sich verdächtig zu machen. Evdokimovs Wissen, wer gerade die Krone trug, war veraltet, als er zum ersten Mal zum samozvanec wurde. Das alleine erklärt hinreichend, warum er sich gerade für Peter II. ausgab. Den eigentlichen Ausschlag gab aber Larion. Evdokimov sagte aus, Larion habe ihm erzählt, Peter II. sei versteckt und nach wie vor am Leben.187 Falls das stimmt, könnte Larion dieses Gerücht schon Jahrzehnte früher gehört haben. Wie bereits erwähnt, hatte ein Soldat 1732 die Nachricht von Peters angeblichem Überleben in die Provinz Pošechon’e gebracht, wo sie zunächst unter Bauern im Dorf Staraja die Runde machte. Es ist zwar nicht nachweisbar, aber auch nicht auszuschließen, dass das Gerücht in der Gegend weiter verbreitet war als die Untersuchung ans Tageslicht brachte und auf diesem Weg zu Larion gelangte. Anders gesagt, die Information über das Überleben Peters, welche möglicherweise aus den 1730er Jahren stammte, wurde für Evdokimov erst 1762/1763 relevant. Es ist wenig wahrscheinlich, dass Evdokimov nur mit Larion über Peter II. gesprochen hatte. Das klingt nach einer Verteidigungsstrategie, um den Verdacht von »Zusammenrottung und Verschwörung« zu entkräften, zumal offensichtlich ein Puzzlestück fehlt. Theoretisch hätte Evdokimov selbst auf die Fabel für sein Selbstzeugnis kommen, d. h. ohne Zusammenhang mit Peter II. davon gelesen oder gehört haben können. Das scheint aber deswegen nicht sehr plausibel, weil die Ähnlichkeit mit den Gerüchten zu groß ist. Um den Unterschied zwischen der Larion zugeordneten Behauptung, Peter II. sei noch am Leben und der Fabel, er sei in einem fernen Land in einer Säule gefangen zu überbrücken, war hinsichtlich des Detailreichtums ein Quantensprung notwendig, und die Richtung eines solchen Quantensprunges ist per definitio nem nicht planbar. Anders gesagt, es erscheint bei der Vielzahl an gegebenen Möglichkeiten nicht sehr wahrscheinlich, dass Evdokimov unabhängig von jedem äußeren Einfluss sein Selbstzeugnis so gestaltet hätte, wie es im Unter186 Die Kaiserin, an die der zweite Brief adressiert war, wird nicht namentlich genannt. Im Unterschied zum ersten Brief wird sie jedoch nicht als verstorben bezeichnet (Ebd., l. 13.), was nahelegt, dass es sich um Katharina II . handelte. 187 Ebd., l. 13 ob.
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suchungsakt nachzulesen ist. Entweder sagte Larion mehr als Evdokimov im Verhör angab, was allerdings nicht sehr wahrscheinlich scheint, da er einen Toten nicht zu schonen brauchte. Oder aber Spekulationen über das Überleben Peters II. waren in den Siedlungen der Altgläubigen weiter verbreitet und Evdokimov unterschlug dieses Detail, um nicht noch mehr Leute in die Untersuchung hineinzuziehen. Evdokimovs Selbstzeugnis zerfällt in zwei längere und einen kurzen Abschnitt. Der erste Abschnitt verarbeitet den Thronwechsel von Peter II. zu Anna Ioannovna und weist damit Parallelen zu Gerücht 4 auf. Eine Wanderung des Gerüchts von Kazan’ nach Pošechon’e läge durchaus im Bereich des Möglichen, doch die Unterschiede zwischen Gerücht und Selbstzeugnis sind insgesamt zu groß, um indirekt auf eine solche schließen zu können. Der zweite Abschnitt von Evdokimovs Selbstzeugnis klingt wie ein Märchen und der dritte ist an die Bibel angelehnt. Evdokimov behauptete, die Fürsten Golicyn, Ivan Dolgorukij und Münnich hätten ihn / den Kaiser dazu überredet, auf die Jagd zu gehen. Unterwegs sei er an den Pocken erkrankt, weswegen sie ihn entführt hätten.188 Offensichtlich hatte Evdokimov eine Vorstellung von den wichtigsten Akteuren der beiden Regierungszeiten, aber nur eine ungefähre, sodass er die genannten Personen in einer Weise zusammenführte, die nicht den tatsächlichen Gegebenheiten entspricht. Neben den bereits erwähnten Dolgorukie waren die Golicyny im Obersten Geheimen Rat tonangebend. Beide Familien waren außerdem federführend dabei, Anna Ioannovna die Krone anzubieten und von ihr im Gegenzug die Unterzeichnung der »zehn Konditionen« zu fordern, die ihre Macht deutlich eingeschränkt hätten. Aber das heißt nicht, dass zwischen Dolgorukie und Golicyny Eintracht geherrscht hätte oder es ihnen auch nur im Traum eingefallen wäre, gemeinsam ein Komplott gegen Peter II. zu schmieden. Burkhard von Münnich wiederum war zwar schon unter Peter I. in russländische Dienste getreten, sein kometenhafter Aufstieg begann jedoch exakt mit der Thronbesteigung von Anna Ioannovna. Er war weder an der Regierung für Peter II. beteiligt, noch an der Entscheidung, Anna die Krone anzubieten. Mit Peters Erkrankung beginnt der märchenhafte Abschnitt des Selbstzeugnisses. Evdokimov behauptete, Unbekannte hätten ihn / Peter II. nach Italien gebracht und dort an einem Königshof in eine steinerne Säule eingemauert.189 Warum sich die Säule ausgerechnet in Italien befindet, entzieht sich einer leicht ersichtlichen Erklärung. Dazu können drei Thesen formuliert werden, die alle gleich wahrscheinlich sind, weil sich keine belegen lässt. 188 Ebd., l. 17. Die beiden Etappen der angeblichen Verschwörung sind schlecht aufeinander abgestimmt. Zuerst wirkt es, als ob die Genannten Peter II . auf die Jagd gelockt hätten, um ihm etwas anzutun und dann, als ob sie einfach die Gelegenheit genutzt hätten, den Kaiser loszuwerden, die sich durch dessen Erkrankung bot. 189 Ebd.
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Erstens könnte Italien gar keine tiefere Bedeutung haben, sondern die Entsprechung zum Land jenseits des Meeres (za morem) in den Gerüchten sein. Vielleicht war Italien für Evdokimov der Inbegriff von Exotik, ein Ort, an dem auch Dinge geschehen konnten, die zu Hause unmöglich waren. Zweitens könnte Italien auf das Schicksal von Aleksej Petrovič verweisen.190 1716 wurde Peter Petrovič geboren, sodass Peter I. fortan eine Alternative zu seinem ältesten Sohn als Thronfolger besaß. Er zwang Aleksej, eine Erklärung zu unterschreiben, dass er auf seinen Thronanspruch verzichte. Im selben Jahr floh Aleksej mit seiner Geliebten und ein paar Vertrauten ins Ausland. Zunächst fand er in Wien bei Kaiser Karl VI. Unterschlupf, einem angeheirateten Onkel seiner verstorbenen Frau. Karl wagte allerdings nicht, ihn auf Dauer in Wien zu beherbergen, sodass er Aleksej erst nach Tirol und dann in das habsburgisch beherrschte Königreich Neapel schickte. Dort wurde Aleksej 1717 von Petr Tolstoj verhaftet und ins Russländische Reich zurückgebracht. Anfang 1718 begann in St. Petersburg eine Untersuchung wegen Hochverrats gegen ihn, die er nicht überlebte. Wie oben erwähnt, behandelten zahlreiche Gerüchte den Konflikt zwischen Peter I. und seinem Sohn sowie die Umstände von Aleksejs Tod. Mir ist jedoch kein Gerücht bekannt, in dem seine Flucht erörtert wird. So lässt sich nicht klären, ob das Sujet »Aleksej in Italien« außerhalb des Adels bekannt genug war, um als Vorbild für Evdokimovs Selbstzeugnis in Frage zu kommen.191 Drittens könnte der Schauplatz Italien aus einer Überlieferung stammen, der zufolge von dort aus das Ende der Welt und / oder bessere Zeiten anbrechen werden. 1642 wurde der Strelitze Agafon Naumenok verhaftet, weil er angekündigt haben sollte, die Zarin Evdokija Luk᾽janovna so zu verhexen, dass sie sterben werde.192 Naumenok gestand den Plan und legte sich am Ende der umfangreichen Verhöre darauf fest, dass er ihn ganz alleine gefasst habe. Zuvor beschuldigte er allerdings grundlos eine große Anzahl von Personen, mit ihm konspiriert zu haben. Einer von ihnen war der Strelitze Grigorij Kazanec, in dessen Haus mehrere »verdächtige« Objekte beschlagnahmt wurden, darunter verschiedene Heilpflanzen und ein Brief.193 Der Brief gab vor, Neuigkeiten aus dem Ausland zu berichten. Bei der Untersuchung konnte nicht geklärt werden, woher er 190 Ich danke Angela Rustemeyer für diesen Hinweis. 191 Myl᾽nikov behauptet, der König in Evdokimovs Selbstzeugnis werde als rimskij korol᾽ (›römischer König‹) bezeichnet, und damit sei der römisch(-deutsch)e Kaiser Karl VI . gemeint (Myl᾽nikov: Iskušenie čudom, 115.). Im Akt steht aber eindeutig korol᾽ tamošnij (›der dortige König‹; RGADA , f. 6, o. 1, d. 403, l. 17 ob.). 192 Für den Akt siehe: Zercalov, A. N.: K materialam o vorožbě v Drevnej Rusi. Sysknoe dělo 1642–1643 gg. o naměrenii isportit᾽ caricu Evdokiju Luk᾽janovnu. In: ČIOIDR 3/1895, čast᾽ 1, 1–38. 193 Ebd., 29 f.
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ursprünglich stammte. Es ist durchaus möglich, dass der Brief entweder auf reale Personen und Ereignisse oder auf von den Zeitgenossen im Moskauer Reich für historisch gehaltene literarische Werke Bezug nimmt, aber es erscheint unwahrscheinlich, dass er direkt aus dem Ausland gekommen war und aktuelles Geschehen vom Anfang der 1640er Jahre referierte. Er enthält Fehler, die einem Zentraleuropäer eher nicht unterlaufen wären. Zum Beispiel wird Kalabrien als eigenständiges Königreich bezeichnet, das an Spanien und die »Türkei« grenze.194 Ein Absatz des Briefes berichtet über Italien: Der Holländer Vilim Fandoblok sagte: In Kalabrien ist ein neuer Prophet erschienen, und [dieser] hat gesagt, dass er angeblich der vom Himmel herabgestiegene Sohn Christi sei, ich bin der Friedensbringer – ich werde euer Land zur Gänze verteidigen und andere Länder und Gebiete werde ich erobern; und die einfachen Leute verneigen sich vor ihm, und er sagt zu ihnen, dass er sie von allem [Bösen] erlösen wird, und ihr werdet im Diesseits herrschen und ohne Abgaben und Steuern leben und niemand wird euch Leid antun.195
Der Brief behauptet nicht, dass der Prophet echt ist und tatsächlich geschehen wird, was er ankündigt. Doch aus der Möglichkeit könnte im Prozess der Überlieferung Gewissheit geworden sein, weil genau solche Details dazu neigen, sich im Laufe der Zeit zu verändern. In mehreren Gerüchten, die im Umfeld des Pugačev᾽schen Aufstandes kursierten, brechen bessere Zeiten ebenfalls von Italien aus an. Ihnen zufolge hatte Peter III. (Pugačev) zwischen seinem Sturz und dem Beginn des Aufstandes beim Papst gelebt. Mehr noch, er sei überhaupt nur zurückgekehrt und habe sich an die Spitze des Aufstandes gestellt, weil der Papst ihm den Auftrag dazu erteilt habe.196 Auch Pugačev selbst behauptete, beim Papst gewesen zu sein.197 Die positive Zeichnung des Papstes in diesen Gerüchten steht in einem krassen Gegensatz zu den starken Vorbehalten, mit denen ihm die Ostkirche traditionellerweise begegnete. Inspiriert von protestantischen Vorbildern wurde 194 Ebd., 30. 195 Ebd. »Galanskoj němčin Vilim Fandoblok skazal: ob’’javilsja de v Kalabrejskoj zemlě prorok novoj, а skazalsja, čto on budto s nebes syn Christov, ja de mirotvorec – zemlju de vašu vsee [sic] oboronju, i inye strany i zemli poemlju; i prostye de ljudi emu preklonjajutsja, i on de im govorit, čto on ich oto vsego izbavit, i stanete de na sem světě carstvovati i žit’ bespošlinno i bez dani i ni ot kogo de vam obidy ne budet.« 196 RGADA , f. 7, o. 2, d. 2499, l. 4; Dmitriev-Mamonov, A. I.: Pugačevščina v Sibiri. Očerk po dokumentam ėkspedicii generala Dekolonga. In: ČIOIDR 3/1898, čast’ IV izslědovanija, 1–152, hier 110; Orlov, P.: Pugačevščina v Sibiri. In: SO 6/1925, 127–146, hier 144 [gleich mit Dmitriev-Mamonov]; Poberežnikov, I.: Tipy sluchov v tradicionnom obščestve (vostočnye regiony Rossii v XVIII–XIX vv.). In: Narskij, I. V. (Hg.): Sluchi v Rossii XIX–XX vv. Neoficial’naja kommunikacija i »krutye povoroty« rossijskoj istorii. Čeljabinsk 2011, 169–183, hier 171. 197 Myl᾽nikov: Iskušenie čudom, 154.
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der Papst ab dem 17. Jahrhundert sogar häufig als Antichrist dargestellt.198 Belege dafür haben sich auch noch aus dem 19. Jahrhundert erhalten, also aus der Zeit nach dem Pugačev᾽schen Aufstand. Die Gerüchte über Peter III. repräsentieren daher keinen grundsätzlichen Wandel in der Darstellung des Papstes, sondern bilden eine Ausnahme. Die Ausnahme kam vielleicht dadurch zustande, dass sich der Kirchenstaat in Italien befand und die Zeitgenossen Italien mit dem Beginn besserer Zeiten in Verbindung brachten. Zwischen dem Zeitungsbrief und Evdokimovs Selbstzeugnis auf der einen sowie dem Pugačev᾽schen Aufstand auf der anderen Seite liegt ein zu großer Abstand, um einen direkten Einfluss anzunehmen. Aber alle diesen Quellen könnten eine Tradition repräsentieren, die den Anbruch besserer Zeiten mit Italien in Verbindung brachte und vielleicht sogar durch den Zeitungsbrief begründet wurde. Diese Zuschreibung würde erklären, warum sich die Säule bei Evdokimov gerade dort befindet – sie ist der Schutzraum für den Herrscher, der mit allen Missständen aufräumen wird. Neben dem zugegebenermaßen doch hohen Maß an Spekulation wäre gegen diese These einzuwenden, dass sich der Königshof im Selbstzeugnis eher nicht mit einem realen Fürsten oder Monarchen in Italien in Verbindung bringen lässt, sondern aus einem folkloristischen oder literarischen Vorbild übernommen ist. Mehrere russische Märchen enthalten die bereits erläuterten Vorstellungen von kosmologischer sakraler Herrschaft. In ihnen sperren besorgte Eltern (oft Königspaare) ihre Kinder ein, um diese vor den Gefahren der Außenwelt zu beschützen. Die Kinder müssen sich ständig in einem geräumigen Keller oder eben einem Turm aufhalten, manchmal sind sie darin eingemauert. In einem Turm ist es dunkel, wegen seiner Höhe kann die Kinder niemand sehen und solange sie ihn nicht verlassen, berühren sie den Boden nicht.199 Evdokimovs Selbstzeugnis ähnelt solchen Märchen in mehreren Details, die in den bisher analysierten Gerüchten nicht vorkommen: Die Säule gehört zu einem Königspalast, und auch das Gefängnis der Kinder im Märchen ist mit der Wohnung ihrer Eltern verbunden, weil sie nicht bestraft, sondern geschützt werden sollen.200 Der König versorgt Peter II. während der Gefangenschaft. Er reicht ihm Wasser und Brot durch eine kleine Öffnung (okoško). In Märchen erhalten die Kinder Nahrung entweder in Form eines auf mehrere Jahre ausgerichteten Vorrats oder, wie Peter II. bei Evdokimov, durch eine Öffnung. Dass Peter II. nur Wasser und Brot bekommt, ist nicht als stereotype Gefängniskost zu deuten, sondern damit in Verbindung zu bringen, dass die 198 Dazu siehe De Michelis, Cesare G.: I nomi dell᾽avversario. Il »papa-anticristo« nella cultura russa, con un᾽appendice documentaria. Torino 1989. 199 Propp: Istoričeskie korni, 37 f. 200 Ebd.
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eingesperrten Kinder, modern gesprochen, nur eine sehr einseitige Diät zu sich nehmen dürfen, um ihre besonderen Kräfte zu erhalten. Dabei kann es sich um Wasser und Zwieback handeln, aber auch um etwas so Ungewöhnliches wie Schlangenhirne.201 An der Annahme, Evdokimov habe sich an einem Märchen orientiert, ist allerdings problematisch, dass Märchen über eingesperrte Kinder erst im 19. Jahrhundert aufgezeichnet wurden, etwa von Aleksandr Afanas’ev. Aus dem Zeitraum vom 16. bis zum 18. Jahrhundert haben sich keine Belege erhalten.202 Nun muss das nicht zwangsläufig bedeuten, dass die Märchen bedeutend jünger sind als Evdokimovs Selbstzeugnis und daher als Vorbild ausscheiden. Nikolaj Novikov merkt an, dass vor dem 19. Jahrhundert vornehmlich jene Märchen verschriftlicht worden seien, die weniger weit verbreitet, weniger beliebt gewesen seien, weil die beliebtesten den Zeitgenossen so geläufig gewesen seien, dass niemand auf die Idee gekommen wäre, sie vor dem Vergessen bewahren zu müssen.203 Inwieweit diese These stichhaltig ist, kann ich mangels Fachkenntnisse auf diesem Gebiet nicht sagen. Gleich, ob zutreffend oder nicht, mündet sie in Kaffeesudlesen. Dieser Logik zufolge müssten die von Afanas’ev gesammelten Märchen im 18. Jahrhundert allgemein bekannt gewesen sein, aber wie soll man sich auf eine Annahme stützen, für die es keinerlei schriftliche Belege gibt? Genauso gut könnten sie erst im 19. Jahrhundert entstanden sein. Der letzte Abschnitt von Evdokimovs Selbstzeugnis berichtet von Peters Befreiung aus der Säule und seiner Rückkehr ins Russländische Reich. Die Befreiung erinnert an biblische Vorbilder. Evdokimov behauptete, nach vierundzwanzigeinhalb Jahren sei in der Säule von alleine ein Spalt (razsedina) entstanden, der groß genug gewesen sei, um hinauszuschlüpfen. Er erklärte das mit dem Wirken des Heiligen Geistes.204 In der Apostelgeschichte wird Petrus auf ähnliche Weise aus dem Gefängnis befreit. Ein Engel erscheint in seiner Zelle und befiehlt ihm, sie zu verlassen. Petrus’ Fesseln fallen von alleine ab und er geht hinaus (Apg. 12, 7). Nach der Befreiung sei Peter II. neun Jahre205 quer durch Europa gewandert und habe sich als Bettler durchschlagen müssen, 201 Ebd., 38; 40. 202 Das ergibt eine Durchsicht der Märchen in Novikov, N. V.: Russkie skazki v rannich zapisjach i publikacijach (XVI–XVIII veka). Leningrad 1971. 203 Ders.: Russkaja skazka v rannich zapisjach i publikacijach. In: Ders.: Russkie skazki v rannich zapisjach i publikacijach (XVI–XVIII veka). Leningrad 1971, 3–39, hier 17. 204 RGADA , f. 6, o. 1, d. 403, l. 17 ob. 205 24 Jahre Gefangenschaft in der Säule und neun Jahre Wanderung zurück ins Russlän dische Reich ergeben genau die 33 Jahre, die zwischen dem Tod des echten Peter II . und dem Zeitpunkt vergingen, an dem Evdokimov zum ersten Mal sein Selbstzeugnis benutzte. Evdokimov bedachte aber nicht, dass er bereits 16 Jahre bei den Altgläubigen gelebt hatte und Haft und Wanderung dementsprechend verkürzen hätte müssen.
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ehe er das Russländische Reich erreicht habe. Evdokimov schildert die Wanderung als eine Phase der Entbehrung und Armut, wie sie auch in anderen fiktiven Selbstzeugnissen von samozvancy zu finden ist (siehe Kapitel 5.2). Aus der schrittweisen Analyse von Evdokimovs Selbstzeugnis ergibt sich, dass es komplexer zusammengesetzt ist als die Ähnlichkeit mit den zuvor untersuchten Gerüchten im ersten Moment vermuten lässt. Jeder der drei Abschnitte könnte auf einem anderen Vorbild basieren. Die angebliche Verschwörung von den Golicyny, Dolgorukij und Münnich weist Parallelen mit Gerücht 4 auf, geht aber wohl nicht darauf zurück. Der zweite, märchenhafte Abschnitt stimmt mit den zuvor untersuchten Gerüchten darin überein, dass die Gefangenschaft in einer Säule mit Peter II. verknüpft ist, aber in den Details erinnert er mehr an Märchen, in denen Königskinder eingesperrt sind. Zusätzlich kommen Konstruktionszwänge zum Tragen. In der Gegenwart von 1763 lebte Evdokimov mittellos und gerade geduldet in einer Siedlung von Altgläubigen. Er konnte daher nicht behaupten, aus Italien an Elizaveta Petrovna geschrieben zu haben oder von ihr nach Hause geholt worden zu sein. Für die alternative Gestaltung des letzten Abschnitts orientierte er sich am ehesten an der Apostelgeschichte. Aus dem Abgleich zwischen Evdokimovs Selbstzeugnis und den Gerüchten ergibt sich, dass zwei Gerüchte (oder ein Gerücht und ein Selbstzeugnis, ein Gerücht und die Performanz eines samozvanec / einer samozvanka), die sich auf denselben Bestandteil des Archivs beziehen, nicht notwendigerweise einen direkten Zusammenhang aufweisen müssen. Bei derartigen Schlussfolgerungen ist Vorsicht geboten, falls es keine eindeutigen Hinweise im Akt gibt.
3.3 Kudejars Schatz 1732 traten im Gouvernement Tambov zwei samozvancy gemeinsam auf. Timofej Truženik gab sich für Aleksej Petrovič aus, Larion Starodubcev für dessen jüngeren Halbbruder Peter Petrovič. An ihrem Beispiel wird besonders deutlich, dass auf die Zusammensetzung des Archivs nur über individuelles Wissen geschlossen werden kann und das individuelle Wissen wiederum von der sozialen, konfessionellen und regionalen Herkunft (mit-)bestimmt wurde. Die Besonderheiten des Falls, die in diesem Kapitel erläutert werden, ergeben sich etwa daraus, dass Truženik ein altgläubiger Leibeigener aus dem Gouvernement Tambov war. Bei anderen Fällen von samozvanstvo treten solche Einflüsse weniger stark hervor, aber sie sind etwas, das grundsätzlich berücksichtigt werden sollte. Der Akt über Truženik und Starodubcev ist vielleicht das interessanteste Dokument, das je über einen samozvanec entstand. Ganz sicher ist er eines
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der am schwierigsten zu verstehenden und zu deutenden Dokumente. Speziell Truženiks Aussagen wirken auf den ersten Blick durchaus verständlich, werden aber bei längerem Nachdenken zusehends opak und lassen sich nicht auf einen definitiven Sinn festnageln. Das liegt nicht zuletzt daran, dass seine Äußerungen gegenüber AnhängerInnen oft ähnlich konkret ausfielen wie die Ratschläge des Orakels von Delphi. In dieser Kombination aus Originalität und Unverständlichkeit dürfte der Grund dafür liegen, dass Truženik und Starodubcev auf der einen Seite zu jenen samozvancy und samozvanki gehören, die von der Forschung an meisten Aufmerksamkeit erhalten. Sie werden in ziemlich vielen Publikationen erwähnt, darunter auch solchen, die sich nicht vorrangig mit samozvanstvo befassen.206 Auf der anderen Seite hat sich aber noch niemand an die Aufgabe gewagt, ihre Vorstellungswelt einer umfassenden Analyse zu unterziehen, obwohl es sich um außergewöhnlich reiches Material handelt. Die meisten Stellungnahmen sind oberflächlich und / oder behandeln nur Einzelaspekte. Grigorij Esipov brachte den Akt schon 1863 in wissenschaftlichen Umlauf.207 Er publizierte Exzerpte der wesentlichen Passagen, die er auf eine nach heutigem wissenschaftlichem Verständnis unzulässige Weise fiktionalisierte. Beispielsweise schrieb er Starodubcev Gedankengänge und Empfindungen zu, die aus dem Akt so nicht erschließbar sind; die in dem Aufsatz enthaltenen wörtlichen Zitate können aber problemlos verwendet werden. Analytisch interessierte Esipov nur, warum die beiden samozvancy überhaupt auftraten. Er sieht den Grund dafür in einem Manifest von 1731, in dem Anna Ioannovna den Treueeid auf ihren Nachfolger / ihre Nachfolgerin einforderte, ohne eine konkrete Person zu nennen.208 Truženik bezog sich tatsächlich auf das Manifest und deutete an, er sei derjenige, dem der Treueschwur gegolten habe.209 Diese Vermutung dürfte also zutreffen. Wie schon Esipov behandelten auch Čistov 210 und Troickij211 die beiden samozvancy hauptsächlich als Beispiel dafür, wie missverständliche Mitteilungen aus dem Zentrum förderlich für samozvanstvo sein konnten und gingen nicht in die Tiefe. Nina Razorenova setzte sich in ihrem Aufsatz über samozvanstvo in den 1730er Jahren bislang am ausführlichsten mit Truženik und Starodubcev auseinander. Sie legte jedoch einen strikt positivistischen Maßstab an, der den 206 Beispiele sind Alefirenko: Krest᾽janskoe dviženie, 325; Krupp, A. A.: Predanija o vremeni Ivana Groznogo. In: Russkij fol’klor 16 (1976), 208–220, hier 215; Perrie: The Image of Ivan the Terrible, 113. 207 Esipov: Samozvancy careviči. 208 Ebd., 393 f. 209 RGADA , f. 6, o. 1, d. 187, l. 9. 210 Čistov: Russkie narodnye social’no-utopičeskie legendy, 126–128. 211 Troickij, S. M.: Samozvancy v Rossii XVII–XVIII vv. In: VI 44/3 (1969), 134–146, hier 140–142.
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Blick auf den Reichtum dieser Quelle verstellt. Sie weigerte sich beispielsweise, näher auf Truženik einzugehen, weil er nur mit Halbwissen hantierte: Rätselhaft und unverständlich waren Truženiks Reden. Sie belegen aber, dass er etwas über die historische Vergangenheit gehört hatte. Allerdings spricht die fantastische Vermischung von historischen Persönlichkeiten unterschiedlicher Epochen davon, dass der samozvanec [nur] eine schlechte Vorstellung hatte, von wem die Rede war. Alles zuvor Gehörte ergab im Bewusstsein des zweifellos wenig gebildeten Bauern dieses unausgegorene Konglomerat, mit dem er ohne nachzudenken seine Zuhörer überfiel, um den gewünschten Effekt zu erzeugen.212
Starodubcev fand mehr Gnade vor Razorenova. Da er sie aber nur in Hinblick auf die Frage interessierte, an welche benachteiligten Bevölkerungsgruppen er sich wandte und was er ihnen versprach, um Unterstützung zu gewinnen, fällt auch hier vieles unter den Tisch. Als bislang Letzter beschäftigte sich Claudio Ingerflom mit dem Fall. Er stellt am Beispiel von Truženik und Starodubcev die Frage, womit ein samo zvanec / eine samozvanka die angeeignete Identität glaubwürdig machen konnte und wie sich dabei etwa der Glaube an magische Praktiken auswirkte.213 Die Funktion von magischen Praktiken im Rahmen der Performanz ist ein wichtiger Punkt, der aber erst in Kapitel 5.3 behandelt wird. Im vorliegenden Kapitel geht es um jene Passagen, die nicht unmittelbar mit Magie zu tun haben. Die folgenden Ausführungen sind auch als Widerlegung von Razorenovas Standpunkt zu verstehen. Truženik hätte eine Prüfung in Geschichte nicht bestanden, aber das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass er das historische Halbwissen, das er irgendwo aufgeschnappt hatte, und die ihm bekannten mündlich tradierten Texte sehr präzise einzusetzen vermochte, um eine bestimmte Botschaft zu vermitteln. Nicht Truženiks Bildungslücken sollten verächtlich gemacht, sondern sein Geschick im Umgang mit dem vorhandenen Wissen anerkannt werden. Um dieses Geschick sowie die regionale, soziale und konfessionelle Prägung des Archivs deutlich zu machen, werden die Wissenssplitter so weit wie möglich einem Ursprung zugeordnet und herausgearbeitet, warum sich Truženik ihrer bediente und wie sie zusammenhängen. Wegen seiner bereits erwähnten Neigung zu prophetisch angehauchten Reden lassen sich nicht alle Details klären, aber ausreichend viele, um ein aussagekräftiges Gesamtbild zu erhalten.
212 Razorenova: Iz istorii samozvanstva, 56. 213 Ingerflom: Le tsar c’est moi, 283–287.
Voraussetzungen der Performanz
160 Timofej Truženik und Larion Starodubcev
Im Untersuchungszeitraum waren Truženik und Starodubcev die einzigen samozvancy, die ein gleichberechtigtes, koordiniertes Duo bildeten. Starodubcev war der einzige bekannte samozvanec, der als Peter Petrovič auftrat. Truženik als Aleksej Petrovič befand sich hingegen sozusagen auf der Höhe der Zeit. Von den sieben bekannten Aleksei Petroviči traten sechs nach dem Tod des Großfürsten (1718) in den 1720er und 1730er Jahren auf. Andrej Cholščevnikov wurde im Februar 1731 in Arzamas verhaftet 214 und damit nur knapp anderthalb Jahre, bevor Truženik und Starodubcev einander kennenlernten. Bis zum Auftritt des nächsten und letzten bekannten falschen Aleksej verging etwas mehr Zeit; Ivan Minickij wurde im Jänner 1738 verhaftet.215 Nach ihrer ersten Begegnung in der Jamenskaja stanica, Starodubcevs Wohnort, agierten die beiden zwar an verschiedenen Orten, bezogen sich aber weiterhin aufeinander. Truženik schickte etwa regelmäßig jemanden mit Anweisungen zu Starodubcev. Sie gaben sich nicht zuletzt deswegen für (Halb-)Brüder aus, um den jeweils anderen als Gewährsmann für die eigene Geschichte benutzen zu können. Abgesehen von der fraglos engen Kooperation ist es auch deswegen notwendig, Truženik und Starodubcev als Einheit zu behandeln, weil ihre Arbeitsteilung nicht bis in alle Details klar ist. Truženik verweigerte trotz mehrfacher Folter, die seine Gesundheit sichtlich angriff 216 bis auf ein paar Gemeinplätze jede Aussage; bei der Gegenüberstellung bestritt er sogar, Starodubcev zu kennen.217 Starodubcev bemühte sich seinerseits nach Kräften, sich als bloßen Papagei und Strohmann von Truženik darzustellen, der eigentlich gar nicht gewusst habe, was vor sich gehe, nichts selbst geplant und seinem Komplizen alles aufs Wort geglaubt habe – einschließlich der Behauptung, er heiße ja gar nicht Larion, sondern er sei Peter Petrovič.218 Es ist anzunehmen, dass Starodubcevs Bekundungen von Naivität eine Verteidigungsstrategie waren, um möglichst viel Verantwortung auf Truženik abzuwälzen. Nichtsdestoweniger deuten die Umstände ihres Kennenlernens darauf hin, dass die Initiative von Truženik ausging und Starodubcev in erster Linie ein Mitläufer war. Starodubcev hatte als Dragoner gedient, war desertiert und hatte sich in der Jamenskaja stanica am Bug niedergelassen. Dort zog er wiederholt den Unmut der Kosaken auf sich, weil er sich vor der Feldarbeit drückte.219 Als er Truženik kennenlernte, war er gerade wieder einmal aus 214 215 216 217 218 219
RGADA , f. 6, o. 1, d. 186, l. 1. RGADA , f. 6, o. 1, d. 192, l. 4. RGADA , f. 6, o. 1, d. 187, l. 6 ob.; 11 ob.
Ebd., l. 11 ob. Ebd., l. 7 ob.; 11. Ebd., l. 7.
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diesem Grund bestraft worden. Daraus folgt zum einen, dass Truženik im Dorf gezielt denjenigen ansprach, der eine Schwachstelle besaß, die ihn als Strohmann geeignet machte. Zum anderen wäre Starodubcev von sich aus eher nicht auf die Idee gekommen, sich für einen Sohn Peters I. auszugeben. Erst nach Truženiks Verhaftung ist zweifelsfrei erkennbar, was Starodubcev aus eigenem Antrieb tat. Beispielsweise entschied er sich dafür, weiterhin als carevič aufzutreten und aktiv AnhängerInnen anzuwerben anstatt sich unauffällig zu verhalten und zu hoffen, dass ihn niemand im Nachhinein anzeigen würde. Doch selbst in dieser Phase hielt er sich cum grano salis nach wie vor an die Linie, die ihm sein Komplize vorgegeben hatte und berief sich auf diesen, um seine Unternehmungen zu rechtfertigen. Allem Anschein nach war Truženik eine ziemlich charismatische Persönlichkeit – hier nicht streng im Sinne Max Webers, sondern im Alltagsverständnis gemeint – der sich die Zeitgenossen nur schwer entziehen konnten. Dieser Eindruck ergibt sich aus der Lektüre des gesamten Aktes und lässt sich nur bedingt an einer konkreten Passage festmachen. Darauf deutet unter anderem hin, dass sich Starodubcev scheinbar bedingungs- und gedankenlos dem Willen seines Komplizen unterwarf, aber gleichzeitig den großen, außerhalb seiner Reichweite liegenden Wunsch verspürte, sich wieder von dessen Einfluss zu befreien. Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht etwa folgende Aussage gegenüber Anhängern, die durch mehrere Verhöre belegt ist: Auf keinen Fall, liebe Brüder, dürfen wir die Stadt [siehe unten] öffnen fahren, dort werden wir alle untergehen und alle zur Hölle fahren. Und dieser Truženik verführt euch damit, dass er sich carevič nennt, er ist [aber] kein carevič, er ist von einem unreinen Geist besessen, und ihr fahrt nicht zu ihm, und diese Stadt müsste verflucht werden, und wäre dieser Truženik hier, ich würde ihn in Ketten legen.220
Starodubcev fürchtete Truženik zeitweise wie den Leibhaftigen und wandte sich dennoch nie gegen ihn. Das zeugt von der großen Wirkung, die Truženik auf ihn hatte. Ein Teil von Truženiks Charisma war sicherlich performativ erzeugt. Ein vermeintliches Mitglied der Dynastie musste mit Autorität und Selbstvertrauen auftreten und wie selbstverständlich Anordnungen erteilen, damit potenzielle AnhängerInnen ihm diese Autorität tatsächlich zugestanden (siehe Kapitel 5.2). Außerdem ließen die zahlreichen Verweise auf magische Praktiken (siehe Kapitel 5.3) Truženik mächtiger und bedeutsamer erscheinen als er eigentlich war. Er dürfte aber grundsätzlich jemand von nicht alltäglichem 220 Ebd., l. 11–11 ob. »Nepoštode nam, bratcy, ěchat’ vskryvat’ Gorodišča, tam de my vsě propadem i voȝmut de nas vsěch voad. А onoj de Truženik vas prel’ščaet, čto naȝyvaetca carevičem, on de ne carevič, v nem de est’ duch nečistoj, i vy de knemu neěȝdite, i onoe de Gorodišče nadobno prokljast’, i eželibyde ōnoj Truženik ȝděs’ byl, jabyde emu ōkoval ruki i nogi.«
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Format gewesen sein, weil er sich sonst nicht gegenüber allen, die mit ihm zu tun hatten, so gut behaupten hätte können. Über Truženik ist kaum etwas bekannt, da es in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch nicht üblich war, ein Verhör mit grundlegenden Angaben zur Person wie Name, Alter, Wohnort, Religionszugehörigkeit und Beruf zu beginnen.221 Nicht einmal Timofejs vollständiger Name ist überliefert. Zu Strarodubcev sagte er, Gott habe ihm aufgetragen, für Ihn zu arbeiten (Bogu truditca), er sei Sein Arbeiter (truženik).222 Truženik war also ein selbstgewählter Beiname, der den vermeintlichen Auftrag des Trägers in der Welt beschrieb. Truženik dürfte als Leibeigener in einem Dorf geboren worden sein, das zum Eigengut des Neujungfrauen-Klosters in Tambov gehörte, aber einen wesentlichen Teil seines Lebens an anderen Orten verbracht haben. So behauptete er beim Verhör, überhaupt nichts über seine Herkunft zu wissen und sich auch nicht erinnern zu können, wo er sich bereits aufgehalten habe. Irgendjemand habe ihm aber gesagt, er sei ein Leibeigener des Jungfrauen-Klosters.223 Nicht einmal das ist also ganz sicher. Diese Erinnerungslücken könnten echt gewesen sein, falls Truženik beispielsweise früh verwaist und danach in der Verwandtschaft herumgereicht worden wäre oder zu einer Familie entflohener Leibeigener gehört hätte. Oder aber sie waren vorgetäuscht und sollten unerwünschte Fragen nach seiner Vergangenheit von vornherein ins Leere laufen lassen. Wer keine Erlaubnis besaß, den Ort zu verlassen, an dem er registriert war, konnte sich bei der Verhaftung als Landstreicher (brodjaga, ne pomnjaščij rodstva) deklarieren. Der Landstreicher diente im 18. und 19. Jahrhundert als eine Art Ersatzstatus, der zwar keine legale Existenz verschaffte, jedoch gegenüber den Behörden signalisierte, dass es vergebens sei, die Identität der betreffenden Person feststellen zu wollen. Deswegen erklärten sich nicht nur Personen zum Landstreicher, die tatsächlich keine Papiere besaßen, sondern auch solche, die aus dem einen oder anderen Grund daran interessiert waren, ihre Identität zu verschleiern. Unter solchen »Landstreichern« war es üblich, zu beteuern, sie wüssten von nichts und könnten sich an noch weniger erinnern, unabhängig davon, ob das im Einzelfall zutraf oder nicht.224 Der Akt erlaubt den Rückschluss, dass Truženik und Starodubcev Altgläubige waren. Truženik behauptete etwa, Peter I. habe sich einen Bart wachsen 221 Anisimov: Dyba i knut, 319. 222 RGADA , f. 6, o. 1, d. 187, l. 7. Truženik betont eher, dass sich jemand bei seiner Tätigkeit bemüht und anstrengt, während rabočij ›Arbeiter‹ im Sinn einer Berufs- oder Klassenbezeichnung meinen würde. Auf Englisch wäre Truženik Timothy the Toiler und nicht Timothy the Worker. 223 Ebd., l. 5–5 ob. 224 Šumigorskij, E. S.: Iz zapisnoj knižki istorika. Dvě legendy ob Imperatorě Aleksandrě I. In: IV 136 (1914) 293–291; 676–689, hier 687.
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lassen225 und er (Truženik) habe Anna Ioannovna dazu gebracht, die »alten Bücher anzunehmen« (starye knigi podnjat’).226 Die Aufrufe, die Starodubcev schreiben ließ, reproduzieren typische altgläubige Narrative (siehe Kapitel 6.2). Wie in Kapitel 1.3 ausgeführt, war ein von der Orthodoxie abweichendes Glaubensbekenntnis kein Faktor, welcher die Aneignung einer fremden Iden tität begünstigte. Truženik und Starodubcev bilden hier keine Ausnahme. Die beiden eigneten sich die Identität von zwei Söhnen Peters I. nicht an, weil sie Altgläubige waren. Aber neben ihrer geografischen Herkunft aus dem Gouvernement Tambov war es die konfessionelle Zugehörigkeit, welche die Auswahl der Bestandteile aus dem Archiv für das Repertoire der Performanz bestimmte. Die zwei wichtigsten von Truženiks Themen, die Suche nach Kudejars Schatz und nach der Stadt Otkryvon grad, werden im Folgenden genauer besprochen. Mit ihnen ist eine ganze Reihe von Unterthemen verknüpft, die sich nur schwer systematisieren lassen. Das hat zum einen den Grund, dass ein Detail in der Regel mehrere Bedeutungsschattierungen aufweist, die wiederum auf verschiedene andere Details im Akt verweisen. Zum anderen war in Truženiks Vorstellungswelt nicht klar getrennt, was hier als einzelne Themen behandelt wird; es ist ein ständiges Vor- und Zurückverweisen. Kudejars Schatz
Truženik wollte einen Schatz (poklaža) heben und eine Stadt namens Otkry von grad finden. Aus dem Akt geht nicht hervor, ob und wie die beiden Projekte aus seiner Sicht miteinander verknüpft waren. Der Name der Stadt deutet darauf hin, dass sie Truženiks Meinung nach einen Weg oder auch eine Erkenntnis eröffnet und er möglicherweise glaubte, er müsse sie finden, um sich Zutritt zur Schatzhöhle zu verschaffen. Otkryvon hängt mit großer Sicherheit mit russ. otkryvat’ (›öffnen, entdecken‹) zusammen, die Endung -on entspricht aber keiner im Kirchenslawischen oder Russischen gebräuchlichen grammatischen Form. Das von Vladimir Dal’ erstellte einsprachige Wörterbuch führt auch kein derartiges, von otkryvat’ abgeleitetes Substantiv an. Vermutlich handelt es sich um eine Spontanbildung. Grad ist das kirchenslawische Wort für ›Stadt‹. Der Schatz war Truženik so wichtig, dass sein Selbsterhaltungstrieb darunter litt. Schon nachdem er sich mit Starodubcev zusammengetan hatte, zeigte er in der Gouvernementskanzlei von Tambov Slovo i delo an. Die wichtige Angelegenheit, die er zu melden hatte, entpuppte sich als die Information, 225 RGADA , f. 6, o. 1, d. 187, l. 110. 226 Ebd., l. 25 ob.
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dass ihm ein Bauer in der Fastenzeit 1732 erzählt habe, Peter I. sitze in einem Schatz (v sokrovišče).227 Grundsätzlich tat Truženik hier nichts Ungewöhnliches. Im 17. und 18. Jahrhundert war die Suche nach verborgenen Schätzen vor allem unter Bauern und Bäuerinnen eine weit verbreitete Beschäftigung. Dahinter dürfte die Erinnerung an Horte mit Münzen und Schmuck gestanden sein, die während der Zeit der Wirren angelegt worden waren.228 Ein verborgener Schatz war strenggenommen Eigentum des Herrschers / der Herrscherin, sodass das Wissen darüber zum Bereich von Slovo i delo gehörte. Wer seine Untertanenpflichten ernst nahm, teilte daher einen solchen heißen Tipp mit dem Herrscher / der Herrscherin, indem er entweder eine Bittschrift verfasste229 oder, wie Truženik, Slovo i delo mündlich anzeigte. So etwas kam beispielsweise in der Untersuchung zu dem in Kapitel 3.2 erwähnten Gerücht vor, dem zufolge Peter II. in eine nicht näher genannte Stadt verbannt worden war. Der Häftling Michail Dmitriev, der die Anzeige gemacht hatte, berief sich darauf, dass er nur der Kaiserin persönlich mitteilen werde, was er gehört habe. Weil die Beamten aber sofort wissen wollten, was vorlag, befragten sie Dmitrievs Mitgefangene und gerieten zunächst auf eine falsche Spur. Ignatij Semenov meldete einen Schatz als große geheime Sache. Er habe von Petr Malcov gehört, dass es in Sibirien ein Bergwerk voll mit Gold, Perlen und Edelsteinen gebe und ein gewisser Permjakov deswegen schon zehn Jahre im Gefängnis sitze.230 Erst später stellte sich heraus, dass es gar nicht um den Schatz ging, sondern Dmitriev ein Gerücht über Peter II. gehört hatte. Von Truženik war es allerdings ungeschickt, Slovo i delo anzuzeigen, weil er danach dem üblichen Prozedere folgend verhaftet und vernommen wurde. So kam ans Tageslicht, dass er ein samozvanec war. Letztendlich lieferte er sich selbst ans Messer, während er unter anderen Umständen möglicherweise länger unbehelligt geblieben und vielleicht gar nicht verhaftet worden wäre. Sein Unvermögen, einzuschätzen, welche Konsequenzen seine Anzeige haben würde (oder das bewusste Ausblenden der Konsequenzen) zeigt jedoch, wie stark der Schatz seine Gedanken beherrschte. Dem Inhalt der Anzeige nach zu schließen, übernahm Truženik nur die Verbindung von Peter I. mit einer Schatzhöhle von jemand anderem, während der große Rest seine eigene Erfindung war. Über die Schatzhöhle sagte Truženik, in ihr befänden sich drei Kessel (kotly) mit Gold und sie werde von den Verstorbenen Ivan IV., Kudejar und Alexander der Große (Aleksandr 227 Ebd., l. 5 ob.–6. 228 Sokolova: Russkie istoričeskie predanija, 197 f. 229 Für ein Beispiel aus der Regierungszeit von Aleksej Michajlovič siehe Strel’skij, V. I.: Kto že takie Kudejar i kudejary? In: Problemy slavjanovedenija 4 (2002) [verfasst 1973], 400–415, hier 404. 230 RGADA , f. 349, o. 1/č. 1, d. 3405, l. 6 ob.
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Makedonskij) sowie von dem lebenden »alten Kaiser« (Peter I.) bewacht.231 In der slawischen Folklore werden die meisten Schätze bewacht, allerdings sind Truženiks Wächtergestalten ungewöhnlich, wenn nicht einzigartig. Üblicherweise handelt es sich um den »Besitzer« des Schatzes (d. h. um denjenigen, der das Vermögen geraubt hat) oder um einen Dämon, eine weiße Riesenschlange oder andere unheimliche Lebewesen, die verhindern sollen, dass sich jemand seiner bemächtigt. Deswegen war die Annahme verbreitet, es sei notwendig, Schwarze Magie anzuwenden, um sich Zugang zu dem Schatz zu verschaffen, und Schwarze Magie galt als ausgesprochen gefährliches Betätigungsfeld.232 Vermutlich gründete sich Starodubcevs beinahe panische Angst vor seinem Komplizen auch darauf, dass dieser plante, einen Schatz zu heben und Starodubcev glaubte, die Idee könne nur jemandem kommen, der bereits mit unreinen Kräften im Bunde stehe. Nicht alle Überlieferungen über verborgene Kostbarkeiten verrieten etwas über deren Besitzer oder Herkunft, aber wenn sie es taten, ordneten sie sie üblicherweise Räubern oder dem folkloristischen Bild des Räubers angenäherten personae (siehe Kapitel 3.1) zu.233 Zu den am häufigsten genannten Wächtern gehörten Razin und Pugačev,234 aber eben auch Kudejar. So ist es nicht überraschend, dass Truženik Letzteren als Wächter der Schatzhöhle nannte. Die übrigen drei Wächter sind aber ausgesprochen untypisch, sodass zu hinterfragen ist, was er mit den Namen assoziierte. Anders als bei Razin und Pugačev ist nicht sicher, ob Kudejar eine historische Persönlichkeit war. Er könnte gänzlich fiktiv, aus mehreren Vorbildern zusammengesetzt oder an eine einzelne Person angelehnt sein. Fest steht nur, dass ihn die Bevölkerung des Moskauer und Russländischen Reiches im 17. und 18. Jahrhundert für einen realen Räuberhauptmann hielt, der im 16. Jahrhundert gelebt hatte. Daher wurden Kudejar die typischen Attribute eines Räubers zugeschrieben – er soll unverwundbar, ein Magier und Freund der Armen gewesen sein.235 Außerdem wurde ihm nachgesagt, eine sagenhaft große Beute versteckt zu haben,236 die nicht nur bei Truženik Begehrlichkeiten weckte. Zahlreiche von Kudejars Namen abgeleitete Toponyme belegen, dass seine Höhle genau wie Razins Höhle eifrig gesucht und an zahlreichen Orten vermutet wurde. Die meisten dieser Orte liegen in den Gouvernements Tula und Voronež, doch sie sind auch im Gouvernement Tambov zahlreich, in
231 RGADA , f. 6, o. 1, d. 187, l. 6. 232 Ryan, W. F.: The Bathhouse at Midnight. A Historical Survey of Magic and Divination in Russia. Stroud 1999, 190. 233 Sokolova: Russkie istoričeskie predanija, 188. 234 Ebd., 204 f. 235 Ebd., 214. 236 Strel’skij: Kto že takie Kudejar i kudejary?, 410.
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dem Truženik und Starodubcev aktiv waren.237 Das Gouvernement Tambov gehörte außerdem zu jenen Gegenden des Russländischen Reiches, in denen Räuber und Aufständische abwertend als kudejary bezeichnet wurden,238 was ebenfalls bezeugt, wie verbreitet die Überlieferungen über Kudejar in dieser Gegend waren. Doch Kudejar ist nicht nur ein Räuber. In einem Teil der Überlieferungen ist er ein Sohn von Großfürst Vasilij III. aus dessen erster Ehe mit Solomonija Saburova und damit der ältere Halbbruder Ivans IV. Seine Existenz soll geheim gehalten worden sein, weil er erst nach der Scheidung seiner Eltern geboren wurde (genauer dazu siehe Kapitel 4.1). Es ist also vermutlich kein Zufall, dass der zweite Wächter von Truženiks Schatzhöhle Kudejars vermeintlicher Halbbruder Ivan IV. ist, doch wie genau die Kausalität hier wirkte, ist nicht erkennbar. Truženik könnte ursprünglich auf der Suche nach einem Schatz gewesen sein, den er wegen seiner Herkunft aus dem Gouvernement Tambov Kudejar zuordnete und sich wegen Kudejars angeblicher Verwandtschaft mit Ivan IV. für den Zaren als zweiten Wächter entschieden haben. Es könnte aber genau umgekehrt gewesen sein. Er könnte primär an Ivan IV. interessiert gewesen sein und deswegen die Höhle Kudejar zugeschrieben haben. Jedenfalls war Kudejar nicht der einzige Räuber, der als Besitzer des Schatzes in Frage kam. Das legt eine bewusste Entscheidung nahe. In den 1730er Jahren hätte in dieser Gegend jemand ja auch versuchen können, Razins Schatz zu heben. Wie auch immer es gewesen sein mag, Ivan IV. fungierte nicht alleine als Wächter des Schatzes, weil er irgendjemandes Verwandter war. Truženik bewunderte die Methoden, mit denen der Zar scheinbare Verräter bestrafte bzw. hinrichtete. Expertise auf diesem Gebiet war für ihn wichtig, weil er die Adeligen (»Bojaren«) praktisch ausrotten und den wenigen Davongekommenen ein Leben bereiten wollte, das elender sein würde als das der Bauern (mužiki) in der Gegenwart.239 Truženiks Äußerungen gegenüber Anhängern sprechen dafür, dass er sein Wissen über Ivan IV. aus Liedern bezog. Konkret dürfte er das Lied »Ivan Groznyj i syn« (»Ivan der Schreckliche und sein Sohn«, auch bekannt als »Nikite Romanoviču dano selo Preobraženskoe« – »Nikita Romanovič wird das Dorf Preobraženskoe geschenkt«) in einer Version gekannt haben, die der ältesten bekannten schriftlichen Fassung nahe kommt. Letztere ist in einem Brief enthalten, den der Unternehmer Prokofij Demidov 1768 an den Historiker Gerhard Friedrich Müller (russ. Gerard Fridrich Miller) schrieb.240 237 Ebd., 405. 238 Sokolova: Russkie istoričeskie predanija, 210. 239 RGADA , f. 6, o. 1, d. 187, l. 6 ob. 240 Perrie: The Image of Ivan the Terrible, 208 f. Für den Brief siehe Šeffer, P. N. (Hg.): Sbornik Kirši Danilova. Sankt-Peterburg 1901, 195–201.
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Truženik kündigte an, den Adeligen würden Partisanen in den Fuß gesteckt (s protazanami votknja v nogu) wie es unter Ivan Vasil’evič gewesen sei241 und er drohte Starodubcev damit, ihn in einem Kessel zu kochen (svarju v kotle), falls er nicht mache, was er ihm sage.242 In der Version, die Demidov aufschrieb, lässt Ivan IV. seinem Schwager Nikita Romanovič eine Lanze in den rechten Fuß stoßen (kop’e […] t’’knet […] vo pravu nogi [sic!]) und ordnet zusätzlich an, ihn in einem Kessel zu kochen (v kotle svarit’).243 Die Formulierungen sind nicht identisch, aber sehr ähnlich und erzeugen dasselbe geistige Bild. Vermutlich verhängte auch der historische Ivan IV. von Zeit zu Zeit die Strafe, jemandem die Füße zu durchbohren,244 aber bei Truženik ist die Kenntnis von Liedern wahrscheinlicher als von schriftlichen Quellen mit authentischen Informationen. Demidov schrieb den Brief fast 40 Jahre, nachdem Truženik seine Bewunderung für Ivan IV. zum Ausdruck gebracht hatte, allerdings ist der Abstand nicht so groß, dass er das Lied unmöglich kennen hätte können. Der Untersuchungsakt zu Truženik und Starodubcev wäre ein Argument, um den ter minus ante quem für die Entstehung des Liedes ein paar Jahrzehnte zurück zu verschieben. Truženiks Vorhaben, die Adeligen auszurotten, dürfte ihm nicht nur Ivan IV. sympathisch gemacht haben, sondern auch erklären, warum Peter I. der dritte Wächter der Höhle ist. An diesem Peter ist vieles ungewöhnlich. Zunächst überrascht, dass Peter I. bei Truženik uneingeschränkte Zustimmung fand, denn von einem Altgläubigen wäre eher das Gegenteil zu erwarten. Auch Starodubcev verabscheute Peter (siehe Kapitel 6.2). Die Politik des historischen Peter gegenüber Altgläubigen war nicht ausschließlich repressiv. Durch die Einführung der Registrierung 1716 ermöglichte er ihnen erstmals, im Gegenzug für die Entrichtung der doppelten Kopfsteuer zwar nicht ihren Glauben frei auszuüben, aber immerhin eine annähernd legale Existenz zu führen. Zudem war Peter bereit, Gemeinden von Altgläubigen zu tolerieren, falls ihm der Nutzen ihrer beruflichen und wirtschaftlichen Tätigkeit höher erschien als der durch ihren »Irrglauben« verursachte Schaden. Das betraf die Manufakturen am Ural, die Salzgewinnung am Fluss Vyg und die Bevölkerung der Garnisonsstadt Starodub, die wichtig war, um die Grenze mit der Rzeczpospolita zu sichern. Die Altgläubigen, die sich weder registrieren ließen, noch etwas »Nützliches« machten, waren aber nach wie vor Verfolgungen ausgesetzt, und das betraf die überwiegende Mehrheit.245 241 RGADA , f. 6, o. 1, d. 187, l. 6 ob. Eine Partisane ist eine bestimmte Art von Stoßwaffe. 242 Ebd., l. 7 ob. 243 Šeffer (Hg.): Sbornik Kirši Danilova, 200. 244 Perrie: The Image of Ivan the Terrible, 132. 245 Sinjavskij: Ivan-durak, 355 f.
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Selbst Peters eng begrenzte Toleranz dürfte jedoch einen ausreichend starken Kontrast zu den vorhergehenden ausnahmslosen Verfolgungen gebildet haben, um manche Altgläubige denken zu lassen, er sei einer der ihren gewesen. Derlei behauptete etwa 1736 der Verbannte Vasilij Markov.246 Da sich Truženik Peter I. mit einem Bart vorstellte, ist es durchaus wahrscheinlich, dass er solche Gerüchte kannte und glaubte. Truženik wollte Peter I. befreien, damit dieser ein schreckliches Strafgericht über die Adeligen abhalte.247 Das fügt sich harmonisch in das Programm ein, für das die übrigen Wächter der Schatzhöhle stehen. Zum einen sollte das Leben der Armen verbessert werden, was Truženik durch die Verteilung von Kudejars Schatz sicherstellen wollte.248 Zum anderen sollten die Adeligen für die schlechte Behandlung ihrer Leibeigenen bestraft werden. Dazu bevölkerte er die Höhle mit durchsetzungsfähigen Wächtern, die keine Skrupel kannten, mit harter Hand gegen (vermeintliche) Gegner und Missstände vorzugehen. Kudejar ist der Besitzer des Schatzes und als Räuber ohnehin ein Freund der Armen. Ivan IV. steht für die Abrechnung mit dem Adel, und bei dieser spielte auch Peter I. eine Rolle. Als Vollstrecker des Strafgerichts wirkt Peter I. nicht menschlich, sondern eher wie eine Naturgewalt oder ein Ungeheuer. Truženik wollte sich nicht mit Peter verbünden oder beratschlagen, was menschliche Kompetenzen wären, sondern ihn loslassen. Er könnte aus der Folklore die Idee bezogen haben, die Macht über Peter zu erlangen, indem er ihn befreie. In der slawischen Folklore gibt es beispielsweise einen Waldgeist (lešij), der von Dorfbewohnern in eine eiserne Säule gesperrt wird und seinem Befreier aus Dankbarkeit jeden Wunsch erfüllt.249 Unabhängig davon, an welchem Vorbild er sich orientierte, stellte sich Truženik die Befreiung von Peter I. als folgenschweres Ereignis vor. Seinen Worten zufolge würde in diesem Moment die Erde erbeben und der Wagen umkehren (kolesnica povernetsja).250 Beide Ankündigungen sind am ehesten Anleihen aus der Bibel. Laut Matthäus-Evangelium erbebte die Erde in der Todesstunde Jesu (Mt. 27, 51). Das Erdbeben kündete von der Tragweite des Geschehenen. Mit dem Wagen könnte der Feuerwagen (russ. ognennaja ko lesnica) gemeint sein, auf dem der Prophet Elias in den Himmel entrückt wird (2 Kön. 2, 11). Die Umkehr des Wagens könnte in diesem Fall entweder Teil
246 Romanova, Ekaterina: Massovye samosožženija staroobrjadcev v Rossii v XVII–XIX vekach. Sankt-Peterburg 2012, 163. Zu Markov siehe auch Poberežnikov: Sluchi, 9. Ekaterina Romanova zitiert diesen Absatz mit einer falschen Seitenangabe. 247 RGADA , f. 6, o. 1, d. 187, l. 6 ob. 248 Ebd., l. 110 ob. 249 Propp: Istoričeskie korni, 157 f. 250 RGADA , f. 6, o. 1, d. 187, l. 6.
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des Strafgerichts sein, indem sie einen Weltenbrand auslöst, oder aber den Anbruch besserer Zeiten markieren, in denen es nicht mehr nötig ist, jemanden in den Himmel zu entrücken, weil sich das Paradies bereits auf Erden befindet. Beachtung verdient auch, wie Truženik die Aufgabe des losgelassenen »alten Kaisers« beschrieb. Bevor er konkret die Ausrottung der Adeligen ankündigte, sagte er allgemeiner, Peter I. werde über alle Gericht halten, die im Zustand der nepravda seien (i budet ot nego imperatora v nepravde vsem sud).251 Wie Stefan Plaggenborg herausgearbeitet hat, ist nepravda zwar die Verneinung von pravda, geht in der Bedeutung aber über ein reines Antonym hinaus. Pravda als gute Ordnung wird nicht einfach verneint oder pervertiert, sondern ist vollständig abwesend. Die Zeitgenossen führten nepravda auf menschliches Fehlverhalten und menschliche Sündhaftigkeit zurück.252 Truženik machte dafür konkret die Grundbesitzer verantwortlich, die ihre Leibeigenen schlecht behandelten. Die Stelle ist hoch interessant, weil sie der einzige mir bekannte Beleg ist, in dem sich ein samozvanec explizit auf dieses Begriffspaar bezieht, dem insgesamt größere Bedeutung beizumessen ist. Noch dazu stammt er aus dem 18. Jahrhundert und nicht aus dem 17., wo es eher zu erwarten wäre. Daran zeigt sich, dass pravda auch noch im 18. Jahrhundert im Denken der breiten Bevölkerung präsent war. Ungewöhnlich ist auch, dass Peter I. für Truženik explizit noch am Leben ist. Mir ist sonst keine nach dem Tod des Kaisers entstandene Quelle bekannt, die das behauptet. Wie bereits mehrfach erwähnt, erklären die Gerüchte, die Peter in ausländischer Gefangenschaft wähnen, in erster Linie, warum er sich so deutlich von seinen Vorgängern abhob, wenngleich das Säulenmotiv implizit die Möglichkeit einer Rückkehr andeutet. Wichtig ist, dass solche Vermutungen mit Peters Tod 1725 abbrechen, was aufgrund der Dauer seiner Regierungszeit der zu erwartende Normalfall ist. Das veranschaulicht die folgende Tabelle. Sie kombiniert die Dauer der Regierungszeit aller Herrscher und Herrscherinnen der Romanov-Dynastie bis einschließlich Nikolaus I. mit der Anzahl der samozvancy und samozvanki, die unter ihrem Namen auftraten sowie dem Zeitpunkt des Auftretens (vor der Thronbesteigung, während der Regierungszeit, posthum). Thronfolger sowie RegentInnen werden nicht berücksichtigt und kein Unterschied zwischen einer selbstständigen Herrschaft, unselbstständigen Herrschaft oder Doppelherrschaft gemacht.
251 RGADA , f. 6, o. 1, d. 187, l. 6–6 ob. 252 Plaggenborg: Pravda, 265 f.
Voraussetzungen der Performanz
170 Name
Dauer der Regierungszeit
Anzahl der bekannten s amozvancy / samozvanki
Michail Romanov
32 Jahre
0
Aleksej Michajlovič
32 Jahre
0
Fedor Alekseevič
6 Jahre
0
Ivan (V.) Alekseevič
14 Jahre
0
Peter I.
36/41 Jahre
0–3 in den ersten 13 Jahren253
Katharina I.
2 Jahre
0
Peter II .
3 Jahre
3 posthum
Anna Ioannovna
10 Jahre
0
Ivan VI .
1 Jahr
2 posthum
Elizaveta Petrovna
20 Jahre
0
Peter III .
6 Monate
20 posthum
Katharina II .
34 Jahre
0–1 in den ersten sechs Jahren254
Paul I.
5 Jahre
2 als Thronfolger 1 posthum
Alexander I.
24 Jahre
2 als Thronfolger255
Nikolaus I.
30 Jahre
0
253 Alle potenziellen falschen Peter I. sind in ihren Absichten schwer einzuordnen. Timofej Kobylkin nannte sich 1697 Petr Alekseev, Hauptmann des Preobraženskoe-Regiments. Das erzeugt unweigerlich eine Assoziation mit dem Vor- und Vatersnamen von Peter I. (Petr Alekseevič) sowie damit, dass Peter I. gerne das Pseudonym Petr Michajlov benutzte, wenn er den einfachen Untertanen gab. Gleichzeitig behauptete Kobylkin aber, ein Abgesandter Peters zu sein (RGADA , f. 371, o. 2, d. 530, l. 8.) und hatte einen von ihm selbst an Peter adressierten Brief bei sich (Ebd., l. 5–5 ob.). Hätte er sich die Identität des Zaren angeeignet, hätte er sich geradezu schizophren verhalten, weswegen ich ihn eher nicht für einen falschen Peter halte. Nikifor Andreev wollte 1702 seine Nachbarn in betrunkenem Zustand damit beeindrucken, dass er der Zar sei (RGADA , f. 371, o. 2, d. 1098, l. 2.), doch selbst die Behörden stuften diesen Fall nur als ungehörige Worte und nicht als ernstzunehmendes samo zvanstvo ein. Am ehesten ist Terentij Prokof’ev als samozvanec zu werten, der 1690 auftrat (RGADA , f. 159, o. 2/č. 2, d. 4078a.). Bei ihm ist allerdings nicht klar, ob er bei Verstand war bzw. inwieweit er aus eigenem Antrieb handelte. 254 Avdot’ja Zavarzina (RGADA , f. 349, o. 1, d. 7113.) nannte sich nur Souveränin, darum könnte sie ebenso gut Katharina wie eine andere Kaiserin gemeint oder auch einfach sich selbst erhöht haben. 255 Den Einsiedler Fedor Kuz’mič werte ich nicht als samozvanec. Er war zwar nicht völlig unbeteiligt daran, dass er mit Alexander I. in Verbindung gebracht wurde, aber er stellte nie explizit den Anspruch, der Kaiser zu sein und es ist nicht erkennbar, welchen Gewinn er daraus ziehen hätte wollen, sich für diesen auszugeben. Für eine ausführliche Begründung dieser Position siehe meine Masterarbeit: Mathuber, Daniela: Das samozvanstvo und seine Erscheinungsformen vom 17. bis zum 20. Jahrhundert. Masterarbeit, Wien 2016, 62–71.
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Die Tabelle offenbart ein paar klare Muster. Im 17. Jahrhundert waren falsche Herrscher die Ausnahme, im 18. Jahrhundert traten sie schon mit größerer Regelmäßigkeit auf. Im 18. Jahrhundert überwogen falsche Herrscher klar über falsche Herrscherinnen, und unter den falschen Herrschern waren diejenigen in der Mehrzahl, deren Vorbild maximal fünf Jahre regiert hatte. Von den angeführten HerrscherInnen regierte Peter I . mit 36 Jahren (gerechnet ab dem Beginn seiner selbstständigen Herrschaft) bzw. 41 Jahren (gerechnet ab dem Beginn der Doppelherrschaft mit Ivan V.) am längsten. Zudem war er, unabhängig davon, wie ihn jemand im Einzelnen beurteilen mag, kein in irgendeiner Weise farbloser, unbestimmter, unvollendeter, etc. Herrscher. Alles das sind Faktoren, die das Kursieren von posthumen Gerüchten sowie das Auftreten von samozvancy / samozvanki hemmten oder ganz unterbanden. Umso erstaunlicher ist es, dass er für Truženik im Jahr 1732 quicklebendig war. Truženiks Peter ist auch dahingehend eine Ausnahmeerscheinung, dass er mehr den sogenannten sleeping heroes gleicht als anderen Mitgliedern der Dynastie, von denen es nach ihrem Tod hieß, sie seien noch am Leben.256 Im Moskauer und Russländischen Reich gab es keine Überlieferung über einen Herrscher, der wie König Artus, Kaiser Friedrich, der serbische König Marko Kraljević und andere über mehrere Jahrhunderte hinweg als in einer Höhle oder einem Berg schlafend imaginiert und in Notzeiten zurückerwartet worden wäre. Samozvanstvo hat mit solchen Überlieferungen wenig gemein. Erstens können Mitglieder der Dynastie in Gerüchten und den Selbstzeugnissen von samozvancy zwar gefangen sein, aber sie schlafen nicht als möglichst große Annäherung an den Tod, sondern sind wach und aktiv. Zweitens blieb kein Name über einen vergleichbar langen Zeitraum aktuell. Für Gerüchte und die Performanz von samozvancy / samozvanki ist eine bestimmte persona weniger als fünfzig Jahre interessant, meist sogar weniger als 30 – in anderen Worten, nicht mehr als eine bis zwei Generationen. Im Moskauer und Russländischen Reich entsprachen den sleeping heroes am ehesten Protagonisten der Folklore. Stepan Razin wurde immerhin noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts, also rund zwei Jahrhunderte nach seinem Tod, schlafend in einem Berg vermutet und ebenfalls als Notretter vorgestellt. Doch im Unterschied zu den genannten Herrschern war Razins Schlaf nicht frei von Ambivalenz. Manchen Versionen zufolge ruht er nur deswegen in einem Berg, weil sich die Erde aufgrund seiner Verbrechen weigert, ihn aufzunehmen.257
256 Zu diesen siehe Bercé: Le roi caché, 233–237; Field, Louise F.: Sleeping Heroes. In: The Contemporary Review 640 (April 1919), 544–550. 257 Kostomarov: Bunt Sten’ki Razina, 439 f.
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Voraussetzungen der Performanz
Truženiks Peter schläft nicht und seit dem Tod des echten Kaisers waren erst sieben Jahre vergangen, aber er befindet sich wie die sleeping heroes in einer Höhle und wartet darauf, befreit zu werden. Der Grund dafür könnte sein, dass Truženik Peter I. nicht nur als eine Art Naturgewalt betrachtete, sondern auch als Räuber. Über Peter zirkulierten wie über Ivan IV. Geschichten, in denen er Räubern begegnet und mit diesen sogar gemeinsame Sache macht, falls das jeweilige Opfer einen Denkzettel verdient hat.258 Weder der eine, noch der andere Zar galt selbst als Räuber, aber Truženik könnte diese Annäherung konsequent weitergedacht haben. Otkryvon grad
Truženiks zweites großes Vorhaben bestand darin, eine Stadt namens Otkry von grad zu finden. Die Suche nach fiktiven »fernen Orten« (Länder, Inseln, Flüsse, Städte) war im Moskauer und Russländischen Reich zwischen dem 17. und dem 19. Jahrhundert nicht weniger verbreitet als die Suche nach Schätzen; auch hier teilte Truženik also ein zu seiner Zeit weit verbreitetes Interesse. Wegen der Häufigkeit solcher Gerüchte befasste sich Kirill Čistov im zweiten Teil seines Buchs mit solchen Orten. Wie im ersten Teil bei samozvanstvo ging er davon aus, dass über solche Orte sozial-utopische Legenden existiert und die Suche danach motiviert hätten.259 Da sich nur das Land Belovod’e, der Fluss Dar’ja und Ignats Stadt (gorod Ignata) in dieses Schema einfügen lassen, bzw. nur über sie ausreichend Quellen existieren, um Näheres zu sagen, können die Ergebnisse nur schlecht verallgemeinert werden. Gerade einmal zwei Momente an Čistovs Ausführungen helfen bei der Einordnung von Otkryvon grad. Erstens ist davon auszugehen, dass Gerüchte über diese Stadt alles andere als weit verbreitet und allgemein bekannt waren. Čistov erwähnt sie weder bei den bekanntesten fernen Orten, noch in einer Liste mit den weniger bekannten,260 was wohl bedeutet, dass er außer dem Akt über Truženik und Starodubcev keine Quelle fand, in der Otkryvon grad vorkommt. Es ist gut möglich, dass Truženik selbst die Stadt erfand. Dafür spricht eine Reihe von Lücken in den Informationen über sie. Beispielsweise trug Truženik sowohl Starodubcev, als auch einem Teil ihrer Anhänger auf, die Stadt zu finden. Zumindest im Verhör behaupteten alle einhellig, sie hätten zuvor noch nie von Otkryvon
258 Perrie: The Image of Ivan the Terrible, 113. 259 Čistov: Russkie narodnye social’no-utopičeskie legendy, 237. 260 Ebd., 291.
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grad gehört, geschweige denn gewusst, wie sie dorthin gelangen könnten.261 Im Gegensatz dazu gab es für die Reise zu den bekanntesten fernen Orten wie Belovod’e Wegbeschreibungen, die in Gestalt sogenannter Reiseführer (putevoditeli) auch schriftlich festgehalten wurden.262 Solche Reiseführer enthielten auch detaillierte Beschreibungen der Lage der Orte in der Landschaft, der Architektur, der Zusammensetzung der Bevölkerung und der Regelung des Zusammenlebens.263 Truženik wusste hingegen über Otkryvon grad nur zu sagen, dass es dort viele »Heilige« (svjatye, gemeint sind Altgläubige), ein Kreuz, ein Evangelium, eine Ikone der Gottesmutter vom Zeichen (Bogomater’ Znamenie) und die Feldzeichen (znamena) Alexanders des Großen gebe.264 Von den Einzelheiten wird noch die Rede sein; vorerst ist festzuhalten, dass hier nur von der religiösen Infrastruktur von Otkryvon grad die Rede ist. Allerdings könnten Truženiks Anhänger mehr über die Stadt gewusst haben als der Untersuchungsakt verrät. Wie Starodubcevs oben zitierte Äußerung über Truženik als einen von einem unreinen Geist Besessenen zeigt, bezeichnete er Otkryvon grad nicht einfach als Stadt (russ. gorod, ksl. grad), sondern als gorodišče. Gorodišče meint eine Festung, die ihre Verteidigungsfunktion verloren hat. Die dazugehörende Siedlung kann ebenfalls aufgegeben worden sein, sodass es sich um eine Wüstung handelt, sie kann aber auch weiterbestehen.265 Gleich, ob Starodubcev unter gorodišče eine aufgegebene Festung oder eine Wüstung verstand, impliziert der Begriff, dass er etwas über die Vergangenheit der Stadt zu wissen glaubte. Von dieser ist im Akt sonst nicht die Rede. Entweder kombinierte er Truženiks Erzählungen unabhängig von Truženik mit anderen Überlieferungen über untergegangene Städte, oder Truženik hatte ihm mehr erzählt als bei den Verhören zur Sprache kam. Zweitens kursierten Gerüchte über weit entfernte oder verborgene Orte nicht nur unter Altgläubigen, und es waren auch nicht nur Altgläubige, die sich tatsächlich auf den Weg dorthin machten. Aber solche Erzählungen wirkten auf Altgläubige besonders anziehend,266 was wohl darauf zurückzuführen sein dürfte, dass sie damit die Aussicht auf Glaubensfreiheit verbanden oder auch auf einen Flecken Erde, den die Nikonianischen Reformen nicht erreicht hatten. Belovod’e war beispielsweise keine altgläubige Schöpfung, aber Altgläubige erklärten im 19. Jahrhundert die Besiedlung des Landes auf ihre eigene Weise. Ihnen zufolge waren Mönche nach der Niederschlagung des 261 RGADA , f. 6, o. 1, d. 187, l. 8 ob. 262 Čistov: Russkie narodnye social’no-utopičeskie legendy, 240. 263 Für eine Beschreibung von Ignats Stadt siehe ebd., 299 f. 264 RGADA , f. 6, o. 1, d. 187, l. 7; 11. 265 Goehrke, Carsten: Die Wüstungen in der Moskauer Rus’. Studien zur Siedlungs-, Bevölkerungs- und Sozialgeschichte. Wiesbaden 1968, 45. 266 Čistov: Russkie narodnye social’no-utopičeskie legendy, 288.
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Aufstandes auf Solovki aus dem Moskauer Reich dorthin geflohen und hätten dort nach wie vor ihre eigenen Kirchen.267 Ignats Stadt bildet unter den fernen Orten insofern eine Ausnahme, als sie von Altgläubigen erfunden wurde und nur für Altgläubige relevant war. Die Stadt war nach Ataman Ignat Nekrasov benannt, der 1708 auf der Seite des Aufständischen Kondratij Bulavin kämpfte. Nach der Niederschlagung des Aufstandes floh er mit einer nicht mehr ermittelbaren Zahl von Kosaken und deren Familien in den Kuban’, der zu dieser Zeit unter der Oberherrschaft der Krimtataren stand. Dort vermischten sich die nekrasovcy mit den einheimischen Kosaken. 1740 siedelten sie sich in der Dobrudscha an, wo sie sich wiederum mit den schon länger ansässigen Altgläubigen vermischten.268 Für die nekrasovcy war Nekrasov eine Art Übervater. Die schriftlich fixierten Regeln ihres Zusammenlebens bezeichneten sie beispielsweise ehrfurchtsvoll als Ignats Gebote (Zavety Ignata).269 Es ist daher nicht allzu erstaunlich, dass es nach Nekrasovs Tod 1737 hieß, er sei gar nicht gestorben, sondern losgezogen, um für sie alle einen besseren Wohnort ausfindig zu machen.270 Parallel entstanden die ersten Gerüchte über Ignats Stadt, wobei Čistov vermutet, dass diese erst im 19. Jahrhundert die Gestalt annahmen, in der sie heute bekannt sind.271 Als Truženik Otkryvon grad suchte, lebte Nekrasov noch, sodass Ignats Stadt nicht sein Vorbild gewesen sein kann. Nichtsdestoweniger ähneln sich Otkryvon grad und Ignats Stadt als von Altgläubigen bewohnte Städte. Vielleicht haben sie einen gemeinsamen Ursprung in der Folklore der Altgläubigen. In dieser spielten Erzählungen über unsichtbare oder versunkene Klöster und Städte seit ihren Anfängen eine wichtige Rolle.272 Die Verbindung mit Alexander dem Großen ist jedenfalls ein Alleinstellungsmerkmal von Otkryvon grad. Die persona des Makedonenkönigs war in ganz Europa und im Nahen Osten bekannt, sie spielte in den Prophezeiungen aller drei großen Buchreligionen eine wichtige Rolle und die Rezeptionsge267 Ebd., 239. Das Kloster auf Solovki hatte eine längere Vorgeschichte des Ungehorsams und weigerte sich ab 1658, die neuen liturgischen Bücher zu benutzen. Die Situation eskalierte 1667, als sich die Mönche gewaltsam dagegen wehrten, Anordnungen aus Moskau befolgen zu müssen. Ab 1668 belagerten zarische Truppen das Kloster, konnten es aber erst 1676 einnehmen. Die Legende über Belovod᾽e enthält insofern ein Körnchen Wahrheit, als mehrere Mönche von Solovki fliehen konnten und in abgelegenen Gegenden neue kleine altgläubige Klöster gründeten. Zu Vorgeschichte und Niederschlagung des Aufstandes siehe Michels: At War with the Church, 143–147. 268 Čistov: Russkie narodnye social’no-utopičeskie legendy, 286. 269 Kozlov, S. A.: Kavkaz v sud’bach kazačestva (XVI–XVIII vv.). Sankt-Peterburg 1996, 152. 270 Čistov: Russkie narodnye social’no-utopičeskie legendy, 298. 271 Ebd., 295. 272 Mel’nikov, P. I.: Istoričeskie očerki popovščiny. Čast’ pervaja. Moskva 1864, 46 f.; Michels: At War with the Church, 162.
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schichte erstreckt sich von der Antike bis in die Gegenwart. Dementsprechend vielfältig sind die Möglichkeiten, wie Truženik von der persona gehört haben könnte und vor allem, welche Zuschreibungen an sie ihn bewogen haben könnten, sie in Kudejars Höhle und, indirekt über die Feldzeichen, auch in Otkryvon grad zu platzieren. Erschwerend kommt hinzu, dass Alexander der Große im Unterschied zu den anderen Schatzwächtern völlig unbestimmt bleibt. Kudejar ist als Räuber definiert, Ivan IV. wird mit Strafmaßnahmen und Hinrichtungsmethoden in Verbindung gebracht und Peter I. soll den Adeligen das Leben schwer machen. Zu Alexander wird rein seine Anwesenheit vermerkt, sodass Rückschlüsse auf seine Funktion nur aus dem Kontext gezogen werden können. Wie gesagt, schätzte Truženik Ivan IV. und Peter I. wegen ihres Durchsetzungsvermögens, das sich weniger wohlmeinend als übermäßige Grausamkeit beschreiben lässt. Es ist durchaus möglich, dass er auch Alexander den Großen primär als Eroberer, Feldherrn und »großen Herrscher« in Kudejars Höhle platzierte. Als Quelle für sein Wissen kommt in diesem Fall der Alexanderroman in Frage, der im Russländischen Reich sowohl als vollständiger Text, wie auch in Form einzelner Episoden bekannt, schriftlich wie mündlich verbreitet und außerordentlich beliebt war.273 Die Feldzeichen des Königs und die Ikone der Gottesmutter vom Zeichen in Otkryvon grad deuten ebenfalls in diese Richtung. Der Ikonentyp der Gottesmutter vom Zeichen war in der Rus᾽ und im Moskauer Reich weit verbreitet. Seine Beliebtheit hatte er der Assoziation mit Schlachtenglück zu verdanken. Die Urform dieser Ikone befand sich in der Sophienkathedrale von Novgorod. Sie soll den Stadtbewohnern 1170 dabei geholfen haben, einen Sturmangriff von Truppen aus dem Fürstentum Vladimir-Suzdal’ abzuwehren.274 Eine Ikone, die militärisches Glück verheißt, passt zweifellos zu den Feldzeichen eines der erfolgreichsten Eroberer aller Zeiten. Es gibt einen schwachen Hinweis, dass Truženik die Geschichte über die Schlacht von 1170 kannte und die Ikone in Otkryvon grad zu einem ähnlichen Zweck verwenden wollte, denn er sagte zu Starodubcev, sie würden sie in einer Prozession herumtragen (my de ee vynesem).275 Der Überlieferung zufolge gewann die Bevölkerung von Novgorod die Fürsprache der Gottesmutter, weil sie vor dem Angriff der Suzdal’er eine Bittprozession mit der Ikone abgehalten hatte.276 Über die Feldzeichen stellte Truženik eine Verbindung zwischen Schlachtenglück, Herrschaft und (»richtiger«) Religion her. Als Anhänger Starodubcev 273 Ryan: The Bathhouse at Midnight, 16. 274 Rothemund, Boris: Handbuch der Ikonenkunst. Zweite, verbesserte und erweiterte Auflage München 1966, 230. 275 RGADA , f. 6, o. 1, d. 187, l. 7. 276 Rothemund: Handbuch, 230.
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fragten, warum sie denn unbedingt diese Stadt finden müssten, antwortete er, Truženik bräuchte die Feldzeichen Alexanders des Großen, weil sie das Zeichen seien, in dem er herrschen werde.277 Diese Wendung erinnert an den Traum, den Kaiser Konstantin der von Eusebios von Cäsarea verfassten Biografie zufolge vor der Schlacht an der Milvischen Brücke 312 hatte. Darin soll ihm verheißen worden sein, er werde im Zeichen des Kreuzes siegen. Da Kaiser Konstantin in der Ostkirche als Heiliger verehrt wird, könnte Truženik oder Starodubcev diese Episode aus der Liturgie an Konstantins Feiertag (21. Mai) gekannt haben.278 Die Prophezeiung eines Sieges im Zeichen des Kreuzes kommt in den Festtagshymnen vor, während Eusebios’ Biografie als eigenständiger Text im Moskauer Reich vor dem 17. Jahrhundert überhaupt nicht bekannt war.279 Es erscheint eher unwahrscheinlich, dass der Text danach schnell und weit genug mündlich zirkulierte, um Anfang der 1730er Jahre Truženik als Vorbild zur Verfügung gestanden zu haben. Doch selbst wenn die Formulierung keine bewusste Anleihe gewesen sein sollte,280 illustriert sie, dass Truženik auf ganz ähnliche Weise Krieg und Religion verquickte und für sich beanspruchte, ein miles Christianus zu sein, oder jedenfalls ein miles Veteris fidei. Zu Truženiks Selbstdarstellung passt aber auch ein weiterer Aspekt des Alexanderbildes. Wie bereits erwähnt wurde und in Kapitel 5.3 genauer ausgeführt werden wird, inszenierte sich Truženik gegenüber seinen Anhänger Innen als mächtiger Zauberer, und als solcher galt auch Alexander der Große. Schon in den ersten Jahren nach dem Tod des historischen Makedonenkönigs entstanden apokryphe Schriften, die ihn als Mischung aus Heilkundigem, Propheten und Magier darstellten.281 Dieser Rezeptionsstrang fand auch in den Alexanderroman Eingang, war aber besonders im »Secretum secretorum« (russ. »Tajnaja tajnych«) ausgeprägt. Der Autor des »Secretum« lebte wahrscheinlich im 9. oder 10. Jahrhundert in Syrien und schrieb auf Arabisch. Der Text gibt jedoch vor, von Aristoteles verfasste Ratschläge für seinen Schüler, den zukünftigen Alexander den Großen, zu sein. Im Kern handelt es sich um einen Fürstenspiegel, der jedoch auch Themen wie Medizin und Physiognomie behandelt. Die hebräische Version 277 RGADA , f. 6, o. 1, d. 187, l. 11. 278 Zum Einfluss der Liturgie auf die Geschichtsschreibung (und somit zur Liturgie als Wissensspeicher) siehe Griffin, Sean: The Liturgical Past in Byzantium and Early Rus. Cambridge 2019. 279 Ebd., 151; 161. 280 Im Unterschied zu den Chronisten und Hagiografen, die Sean Griffin im Blick hat, stellt sich bei Truženik und Starodubcev die Frage, ob das Kirchenslawische möglicherweise als Verständnisbarriere wirkte. 281 Pfister, Friedrich: Alexander der Große in den Offenbarungen der Griechen, Juden, Mohammedaner und Christen. Berlin 1956, 12.
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des »Secretum«, auf der die russische Übersetzung basiert, enthält zusätzlich eine Reihe von teils sehr ausführlichen Interpolationen unter anderem über Astrologie, Alchemie, verschiedene Methoden der Weissagung und die magischen Kräfte von Edelsteinen.282 Truženik könnte diesen Rezeptionsstrang gekannt und Alexander den Großen in der Schatzhöhle platziert haben, weil er sich ebenfalls als mächtiger Zauberer präsentierte. Insgesamt entsteht der Eindruck, dass die vier Wächter der Schatzhöhle nicht nur Persönlichkeiten waren, die Truženik für historisch hielt und bewunderte oder als hilfreich für seine Vorhaben einschätzte, sondern auch Personifizierungen dessen, was oder wie er selbst sein wollte: Kudejar steht für die Fürsorge um die Armen und Benachteiligten, Ivan IV. und Peter I. stehen für den kompromisslosen Gebrauch der ihnen zustehenden Macht und Alexander der Große steht für magische Fähigkeiten. Paradox ist allerdings, wie wenig das alles mit samozvanstvo zu tun hat. Grundsätzlich »vergaß« Truženik im Eifer der Schatzsuche nicht auf die angeeignete persona, sondern versuchte, als Aleksej Petrovič überzeugend zu wirken. In jenen Situationen, in denen er primär als Aleksej Petrovič und weniger als Schatzsucher auftrat verhielt er sich nicht viel anders als andere samozvancy. Beispielsweise behauptete er, carskie znaki auf seinem Körper zu haben (siehe Kapitel 5.2), versprach, er werde die Abgaben abschaffen und kündigte an, dass zukünftig Münzen mit seinem Konterfei geprägt werden würden.283 Doch über weite Strecken standen in seiner Performanz mit dem Schatz und der Stadt andere Projekte im Vordergrund, und so integrierte er in diese viele Elemente, die in anderen Fällen von samozvanstvo keine Rolle spielten und sich gewissermaßen an die persona des Großfürsten anlagerten, ohne durch diese bedingt zu sein. Bei Starodubcev ist das anders. Er tat zwar, was Truženik ihm sagte, sodass er in die Suche nach dem Schatz und der Stadt involviert war. Für ihn persönlich hatte beides jedoch geringere Relevanz, bzw. hatte er zu viel Angst, wegen diesen direkt zur Hölle zu fahren, sodass er sich stärker auf die Performanz als Peter Petrovič konzentrierte und sich deswegen weniger von den übrigen samozvancy und samozvanki abhob als sein Komplize. Welcher Art die Anlagerungen an die persona Aleksej Petrovič waren, war davon bestimmt, dass Truženik aus dem Gouvernement Tambov stammte und Altgläubiger war. Wäre seine geografische Herkunft nicht bekannt, wäre es nicht möglich, ihn zielsicher dem Gouvernement Tambov zuzuordnen. Doch die Matrix aus dem alten Glauben und der Suche nach Kudejars Schatz ergab sich daraus, dass er von dort stammte. In einer anderen Gegend des Reiches
282 Ryan: The Bathhouse at Midnight, 16 f. 283 RGADA , f. 6, o. 1, d. 187, l. 5 ob–6.
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wäre Truženik nicht weniger fantasiebegabt gewesen, aber er hätte die Schatzhöhle anders gestaltet. Warum sich Truženik dafür entschied, konkret als Aleksej Petrovič auf zutreten, ist durchaus erklärbar. Der echte Aleksej war zwar kein Akolyt des alten Glaubens, aber er wurde seinem Vater Peter I. als derjenige gegenübergestellt, dessen Sympathien dem »ursprünglichen«, von westlichen Einflüssen noch vergleichsweise wenig berührten Moskauer Reich des 17. Jahrhunderts galten. Viele Zeitgenossen dachten, er hätte einige der petrinischen Reformen rückgängig gemacht, wäre er jemals an die Macht gekommen.284 Truženik könnte diese weit verbreitete Ansicht durchaus in dem Sinn interpretiert haben, dass Aleksej auch dem alten Glauben wohlgesonnen war und dessen Identität somit zu ihm passte. Allerdings ist nicht wirklich erkennbar, warum sich Truženik überhaupt eine fremde Identität aneignete und welchen Vorteil er sich davon versprach. Da die Suche nach verborgenen Schätzen und weit entfernten Orten eine gängige, keineswegs elitäre Beschäftigung war, kann er kaum der Meinung gewesen sein, als Großfürst auftreten zu müssen, um Unterstützung zu finden. Selbst seine Ankündigung, er werde »Zar und Gott« sein, sobald er Otkryvon grad gefunden habe,285 erklärt nichts. Sollte er geglaubt haben, die Stadt zu finden werde ihn zum Kaiser machen, hätte ein solcher Vorgang kaum von der Prämisse abhängen können, dass er bereits zuvor ein Mitglied der Dynastie war. Davon abgesehen war Truženik ohnehin nur ein Betrüger, sodass er eine solche Voraussetzung nur zum Schein erfüllt hätte, und das hätte nach den Spielregeln, die normalerweise in der Folklore und in Märchen gelten, sein Scheitern bedeutet. Die Hierarchie von Truženiks unterschiedlichen Projekten und ihr wechselseitiger Zusammenhang ist jener Aspekt dieses Falls von samozvanstvo, der am unverständlichsten bleibt. Bei Truženik und Starodubcev lassen sich ebenso Gemeinsamkeiten mit anderen samozvancy und samozvanki feststellen wie auch Eigenheiten, die sie von den übrigen Fällen deutlich abheben. Doch gerade die Spannung von Allgemeinem und Besonderem macht sie als Ausgangspunkt für ein paar abschließende Überlegungen zu Kapitel 3 geeignet. Erstens veranschaulicht das Beispiel Truženik gut, wie die Auswahl aus dem Archiv von samozvanstvo für das Repertoire der Performanz vor sich ging. Er bezog sich auf Wissen, das aus sehr vielen verschiedenen Bereichen stammte. Abgesehen von Verweisen auf magische Praktiken, von denen in Kapitel 5.3 die Rede sein wird, bediente er sich in erster Linie der Folklore – Räuber folklore, Folklore der Altgläubigen, Überlieferungen über Ivan IV. und Peter I. 284 Monod: The Power of Kings, 296. 285 RGADA , f. 6, o. 1, d. 187, l. 110 ob.
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Dazu kommen popularisierte Versionen des Alexanderromans und / oder des »Secretum secretorum«, Gerüchte über verborgene Schätze und ferne Orte. Zuletzt sind biblische Geschichten, Heiligenviten und Legenden über bestimmte Ikonen zu nennen. In anderen Fällen führt die Auswahl aus dem Archiv nicht zu ähnlich spektakulären und schillernden Ergebnissen. Auch waren nicht alle samozvancy und samozvanki auf so vielen Gebieten beschlagen wie Truženik, aber grundsätzlich gingen sie ebenfalls so vor. Sie verarbeiteten ihr Wissen kreativ und zielorientiert anstatt es einfach zu reproduzieren. An den Eigenheiten des Falls zeigt sich aber auch, dass samozvanstvo eine Anhäufung von Einzelfällen ist. Diese Einzelfälle weisen Ähnlichkeiten auf, die es rechtfertigen, sie zu einem Phänomen zusammenzufassen und gemeinsam zu analysieren. Gleichzeitig sind die Unterschiede in den Details so groß, dass von einem Fall keine sicheren Rückschlüsse auf einen anderen Fall gezogen werden können. Von Truženik und Starodubcev auszugehen würde einige allgemeine Züge zu Tage fördern, aber auch vieles, das sich in keinem anderen Fall finden lässt. Die beiden für repräsentativ zu halten wäre schlicht falsch. Um das Allgemeine vom Besonderen unterscheiden zu können, ist es erforderlich, möglichst viele Fälle zu kennen – selbst wenn der eigentlich behandelte Ausschnitt nur ein sehr kleiner ist. Samozvanstvo kann letztlich nur aus der Gesamtheit heraus verstanden werden. Nachdem dieses Kapitel die Inhalte behandelt hat, um die es in der Performanz von samozvancy und samozvanki gehen konnte, steht im folgenden Kapitel die Weitergabe des Wissens im Mittelpunkt.
4. Die Weitergabe des Wissens über samozvanstvo
Am 2. Dezember 1765 gelang es Gavrila Kremnev, dass die BewohnerInnen der Dörfer Novosoldatskoe, Rassoška, Oskino, Privalovka und Podverlino in der Nähe von Voronež ihm als Peter III. die Treue schworen.1 Wenige Stunden später, am Abend desselben Tages, überzeugte Petr Černyšev den Popen der Kupenskaja sloboda, die nur 15 verst von Oskino entfernt lag, Peter III. zu sein.2 Auch wenn es verlockend erscheint, in Kremnev und Černyšev Komplizen zu vermuten, hatten die beiden nichts miteinander zu tun. Černyšev wurde eigens befragt, ob er Kremnev kenne und vielleicht mit ihm konspiriert habe. Er sagte aus, noch nie etwas von Kremnev gehört zu haben,3 und es gibt keinen Hinweis, dass er gelogen hätte. In anderen Fällen bestanden aber sehr wohl Querverbindungen zwischen verschiedenen samozvancy,4 und im nun folgenden 4. Kapitel wird untersucht, wie das Wissen weitergegeben wurde, das das erst möglich machte. Die Weitergabe wird unter zwei Gesichtspunkten behandelt. Zum einen soll festgestellt werden, welche samozvancy etwas über andere samozvancy wussten, die entweder unter derselben oder einer anderen persona aufgetreten waren, auf welchem Weg sie von ihnen erfuhren, ob und inwieweit dieses Wissen ihre eigenen Aktivitäten beeinflusste. Zum anderen geht es wie schon in Kapitel 3.2 um die Frage, inwieweit sich ein Zusammenhang zwischen Gerüchten und samozvanstvo herstellen lässt. Gerüchte über ein verstorbenes Mitglied der Dynastie kursierten üblicherweise ein paar Monate bis Jahre, bevor sich jemand dessen Identität aneignete. Demnach könnten sie als Vorbild für die performative Darstellung einer persona gedient haben, und dabei wäre ebenfalls eine Form der Weitergabe von Wissen im Spiel gewesen. Ob das der Fall war, soll in groben Zügen überprüft werden. Bislang wurde die Weitergabe des Wissens über samozvanstvo nicht eigens thematisiert. Einzelne markante Beispiele wie Fedot Bogomolov als Vorbild für Pugačev und andere falsche Peter III. (siehe Kapitel 4.2) sind seit längerem 1 2 3 4
RGADA , f. 6, o. 1, d. 402, l. 16 ob. RGADA , f. 6, o. 1, d. 406, l. 3 ob.
Ebd., l. 1 ob. Kapitel 4 behandelt ausschließlich samozvancy, weil es für samozvanki keine geeigneten Beispiele gibt.
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bekannt und werden in der Sekundärliteratur erwähnt. Mehr als das geschah jedoch nicht. Čistov ging davon aus, dass alle »sozial-utopischen Legenden« über verstorbene Mitglieder der Dynastie eigenständig und völlig unabhängig voneinander entstanden seien,5 sodass er sich auch keine Gedanken über die Weitergabe des Wissens zu machen brauchte. Andere HistorikerInnen wie Sivkov 6 nahmen es als gegeben hin, dass sowohl zwischen der Performanz verschiedener samozvancy und samozvanki, als auch zwischen deren Performanz und dem Inhalt von Gerüchten Ähnlichkeiten bestehen. Sie versuchten aber nicht, die Ursachen dafür zu ermitteln, obwohl die Annahme nahe liegt, dass die Übereinstimmungen (unter anderem) auf die Weitergabe von Wissen zurückzuführen sind. Letzteres dürfte auch daran liegen, dass dieser Aspekt zugegebenermaßen nicht einfach zu fassen ist. Nicht jede persona und nicht jeder Fall von samozvanstvo erlaubt Rückschlüsse auf die Weitergabe von Wissen. Keinesfalls soll hier der Standpunkt vertreten werden, alle Fälle seien durch ein Netz an Informationen und Kontakten verbunden gewesen, das es nur aufzudecken gelte. Eine solche Annahme wäre ebenso unrealistisch wie das andere Extrem, jeden Fall als völlig autonom zu betrachten. Dieses Kapitel zeichnet die Wege und Arten der Weitergabe nach, wo und soweit es möglich ist. Für jedes Jahrhundert, das der Untersuchungszeitraum dieser Monografie abdeckt, wurde ein Beispiel ausgewählt, das in Hinblick auf die Weitergabe von Wissen vergleichsweise ergiebig ist. Für das 17. Jahrhundert sind das die samozvancy der Zeit der Wirren, die zwar verschiedene personae verkörperten, aber durch den Kontext des Bürgerkriegs enger aufeinander bezogen waren als viele samozvancy, die sich dieselbe Identität aneigneten. Für das 18. Jahrhundert dienen die falschen Peter III. als Beispiel, für das 19. Jahrhundert die falschen Konstantiny Pavloviči. Durch die Verteilung der Beispiele auf drei Jahrhunderte ist es möglich, allgemeine Entwicklungslinien und Veränderungen zu identifizieren.
4.1 Die samozvancy der Zeit der Wirren Die samozvancy der Zeit der Wirren sind zweifellos gut erforscht, wahrscheinlich sogar am besten von allen, weil die Epoche, in der sie auftraten, nicht behandelt werden kann, ohne ihre Aktivitäten einzubeziehen. Stellvertretend für viele andere seien hier drei Werke genannt. Das Standardwerk zu den samozvancy der Zeit der Wirren stammt von Maureen Perrie.7 Igor’ 5 Čistov: Russkie narodnye social’no-utopičeskie legendy, 223. 6 Sivkov: Samozvančestvo. 7 Perrie: Pretenders and Popular Monarchism.
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Tjumencev befasste sich im Detail mit dem Werdegang des zweiten falschen Dmitrij.8 Auch Chester Dunnings Buch über die Zeit der Wirren als erstem Bürgerkrieg in der »russischen« Geschichte ist bei der Auseinandersetzung mit samozvanstvo hilfreich.9 Die samozvancy der Zeit der Wirren hier dennoch noch einmal zu behandeln ist aus mehreren Gründen gerechtfertigt. Hinweise darauf, was sie voneinander wussten, sind zwar in den verschiedenen Publikationen verstreut, aber noch niemand hat das vorhandene Material unter diesem Gesichtspunkt aufbereitet. Zweitens lässt sich ohne die samozvancy der Zeit der Wirren kaum verstehen, warum die Aneignung einer fremden Identität im Moskauer Reich zum einen so häufig wurde und zum anderen über einen so langen Zeitraum hinweg relevant blieb. Sie bilden die Grundlage, um die anderen beiden Beispiele dieses Kapitels einzuordnen, Konstanten und Veränderungen zu erfassen. Drittens ist es sinnvoll, gut eingebürgerte Annahmen wie die Gleichsetzung des ersten falschen Dmitrij mit Grigorij Otrep᾽ev zu hinterfragen und zu sehen, wie sich das auf die Deutung bestimmter Aspekte auswirkt. Dabei werden drei Etappen berücksichtigt: das Aufkommen von samozvanstvo im Moskauer Reich, die Nachahmung des ersten falschen Dmitrij durch die weiteren samozvancy der Zeit der Wirren und die Weiterentwicklung des Phänomens nach 1613. Die Vorbilder des ersten falschen Dmitrij
Der erste falsche Dmitrij gilt als der erste samozvanec im Moskauer Reich. Die in dieser Formulierung enthaltene Einschränkung rührt daher, dass zu allen Epochen mit Quellenverlusten zu rechnen ist und in Hinblick auf samozvanstvo grundsätzlich nur mit Minimalzahlen operiert wird. Jedoch deuten alle Thesen zu den strukturellen Ursachen von samozvanstvo darauf hin, dass dieses Phänomen auf Voraussetzungen beruht, die erst am Beginn des 17. Jahrhunderts erfüllt waren, nicht aber im 16. Jahrhundert oder sogar noch früher. Stellvertretend für mehrere andere Thesen sollen drei inhaltlich sehr verschiedene kurz umrissen werden. In der Sowjetunion wurde samozvanstvo ursächlich mit der Leibeigenschaft in Verbindung gebracht. Die Unterstützung für den ersten falschen Dmitrij und seine Nachahmer wurde als erstes Aufbegehren gegen die Einführung der Schollenbindung unter Boris Godunov betrachtet. Auch alle späteren
8 Tjumencev, I. O.: Smuta v Rossii v načale XVII veka. Dviženie Lžedmitrija II . Volgograd 1999. 9 Dunning: Russia’s First Civil War.
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samozvancy und samozvanki galten als KämpferInnen gegen die Leibeigenschaft.10 Mittlerweile ist diese These in allen Details widerlegt. Die Details der Schollenbindung unter Godunov sind umstritten, die endgültige Ausbildung der Leibeigenschaft wird nun mit dem Sobornoe Uloženie angesetzt. Die Zeit der Wirren gilt nicht mehr als Bauernkrieg und die Verbindung zwischen samozvanstvo und Leibeigenschaft löst sich bei näherer Betrachtung in Luft auf (siehe auch Kapitel 4.2 und 4.3). Boris Uspenskij machte samozvanstvo von der Zarenwürde abhängig. Er stellte plakativ fest, den ersten samozvanec habe es nicht ohne den ersten Zaren geben können.11 Allerdings verabsäumte er es, zu erklären, warum zwischen der Krönung Ivans IV. zum Zaren 1547 und dem Auftreten des ersten falschen Dmitrij 1602/1603 fast sechzig Jahre vergingen, wenn dieser Zusammenhang so eng war wie von ihm behauptet. Die jüngste These zu den strukturellen Voraussetzungen für samozvanstvo stammt von Stefan Plaggenborg. Er deutet die Zeit der Wirren als jenen Zeitpunkt, an dem die mit dem Begriff pravda verbundenen Gewissheiten über die Welt und ihre Ordnung zunehmend ins Wanken geraten seien. Immer mehr BewohnerInnen des Moskauer Reiches seien zu dem Schluss gekommen, dass die gegenwärtigen Zustände keineswegs gut und auch nicht auf Gottes Willen, sondern auf menschliche Versäumnisse zurückzuführen seien. So erkannten sie ihre eigene Verantwortung für die Situation, wurden sich aber auch der Möglichkeit bewusst, selbst etwas zum Besseren zu verändern. Auf diese Weise sei es möglich geworden, dass verschiedene Akteure ihren jeweils eigenen Zaren ausriefen bzw. den ihnen genehmen Prätendenten unterstützten.12 Zutreffend ist an dieser Überlegung, dass die erfolgreiche Aneignung einer fremden Identität, wie bereits gesagt, voraussetzte, Verhaltensnormen nicht als absolute Wahrheiten zu betrachten, sondern als Konventionen, die sich verändern und gebrochen werden konnten. Unter dem Vorzeichen einer von pravda geprägten Weltsicht war es vielleicht nicht unmöglich, aber doch schwieriger, diesen Schritt zu tun. Die als optimal geltende bestehende Ordnung musste erhalten werden, und das war nur möglich, wenn sich jeder in den Platz einfügte, der ihm zugewiesen war.13 Auch stimmt zweifellos, dass die Zentralmacht in der Zeit der Wirren stark geschwächt war und zahlreiche Akteure versuchten, ihr eigenes Süppchen zu kochen. Dieses eigene Süppchen bedeutete oft genug, einen eigenen carevič / einen eigenen Zaren zu haben, um die jeweiligen Ziele leichter zu erreichen. Insofern besteht durchaus ein Zusammenhang zwischen
10 11 12 13
Čistov: Russkie narodnye social’no-utopičeskie legendy, 28 f. Uspenskij: Car’ i samozvanec, 143. Plaggenborg: Pravda, 277; 284. Ebd., 79; 86.
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eigenverantwortlichem Handeln und samozvanstvo, der zur Vervielfachung falscher Zaren und careviči nach 1606 beigetragen haben könnte. Allerdings ergibt sich für den ersten falschen Dmitrij und auch für Il’ja Korovin, den zweiten samozvanec im Moskauer Reich (siehe unten), ein Problem mit der Kausalität: Die militärische Kampagne des ersten falschen Dmitrij löste die erste Phase jenes Bürgerkriegs aus,14 der die mit pravda verbundenen Gewissheiten so nachhaltig erschütterte. Die Zeitgenossen könnten durchaus schon während der Hungerjahre 1601–1603 empfunden haben, dass die bestehende Ordnung schlecht sei und es keinen Sinn habe, sich einfach immer in die Gegebenheiten zu schicken. Doch falls das so gewesen sein sollte, hätte eine solche Umorientierung nicht wesentlich früher eingesetzt als der erste falsche Dmitrij auftrat. Der zeitliche Abstand wäre zu knapp, um sein Auftreten darauf zurückzuführen. Il’ja Korovin wiederum war zwar vorrangig nach dem Sturz des ersten falschen Dmitrij aktiv, doch er gab sich bereits zu dessen Lebzeiten für einen fiktiven Sohn von Zar Fedor Ivanovič aus (siehe unten). Auch für ihn kann also Plaggenborgs These von eigenverantwortlichem Handeln als Voraussetzung für die Aneignung einer fremden Identität nicht greifen. Dazu kommt, dass für samozvanstvo eine veränderte Sichtweise auf den Herrscher mindestens ebenso wichtig war wie der Verlust der mit pravda verbundenen Gewissheiten. Erstere ergab sich aber erst durch den Sturz des ersten falschen Dmitrij, wovon weiter unten noch genauer die Rede sein wird. Insgesamt ist der Hinweis auf die Bedeutung eigenverantwortlichen Handelns sicher berechtigt und wichtig, aber was samozvanstvo angeht, konnte sie frühestens nach der Zeit der Wirren ihre Bedeutung entfalten und nicht das Aufkommen des Phänomens als solches erklären. Keine der genannten Thesen zu den strukturellen Ursachen von samo zvanstvo oder eine andere kann als allgemein akzeptiert und zufriedenstellend gelten. Nichtsdestoweniger treffen sie sich in dem Punkt, dass samozvanstvo im 16. Jahrhundert noch nicht möglich gewesen sei. Das legt nahe, dass der erste falsche Dmitrij nicht nur der erste bekannte samozvanec im Moskauer Reich ist, sondern tatsächlich der erste samozvanec war. Er führte also etwas Neues ein und hatte im Unterschied zu den samozvancy und samozvanki nach ihm kein offensichtliches Vorbild dafür, sich für den jüngsten Sohn Ivans IV. auszugeben. Mangels anderer Anhaltspunkte wird vor allem sein Lebenslauf für Thesen herangezogen, wann und wie er mit der Aneignung einer fremden Identität in Berührung gekommen sein könnte. Das Problem dabei ist, dass keineswegs so klar ist, wer der erste falsche Dmitrij war, wie es unter anderem bei Maureen
14 Dunning: Russia’s First Civil War, 109.
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Perrie oder auch in den populärwissenschaftlichen Büchern von Ruslan Skrynnikov15 und Gyula Szvák16 den Anschein hat. Der erste falsche Dmitrij war bei weitem nicht der einzige samozvanec, dessen Hintergrund umstritten oder ganz im Dunkeln geblieben ist. In allen anderen Fällen stellt das aber nur ein geringes Problem dar, weil sie sich bereits in einem Kontinuum von »Vorgängern« und »Nachfolgern« bewegten und als Teil davon analysiert werden können. In fast allen Publikationen, die sich mit dem ersten falschen Dmitrij befassen, sind folgende Angaben zu seiner (vermuteten) wahren Identität zu finden: Es habe sich um Jurij Otrep’ev gehandelt, den Sohn eines Hundertschaftsführers (sotnik) bei den Strelitzen, der unter dem Namen Grigorij Mönch im Čudov-Kloster im Moskauer Kreml gewesen sei. Von dort sei er 1602 mit zwei anderen Mönchen Richtung Südwesten geflohen. In der Rzeczpospolita hätten sich ihre Wege getrennt; Otrep’ev habe sich eine Zeit lang in der Sič und in einer polnischen Siedlung von Arianern17 aufgehalten, ehe er in Bragin / Brahin im heutigen Belarus’ in die Dienste des Magnaten Adam Wiśniowiecki getreten sei, dem er sich 1603 als jüngster Sohn Ivans IV. offenbarte. Seit Boris Godunov diese Version im September 1604 zum ersten Mal benutzte, akzeptierte sie die überwiegende Mehrheit der Personen, die sich mit der Frage von »Dmitrijs« Identität befasste. Doch diesem Konsens sollte nicht zu viel Gewicht beigemessen werden. Er könnte auch schlicht deswegen Bestand haben, weil es bis heute niemandem gelungen ist, einen überzeugenden Vorschlag zu machen, wer außer Otrep’ev in die persona Dmitrij Ivanovič geschlüpft sein könnte. Die Alternative scheint zu lauten, entweder »Dmitrij« mit Grigorij Otrep’ev gleichzusetzen oder im Dunkeln zu tappen. Eine Reihe von Widersprüchen und Ungereimtheiten in den vorhandenen Quellen ziehen Godunovs Version in Zweifel. Sie betreffen Details, welche die meisten HistorikerInnen für vernachlässigbar halten. Jedoch ist ihre bloße Existenz ein Hinweis, mit den scheinbaren Gewissheiten vorsichtig umzugehen. Ausführlich auf die Ungereimtheiten und damit verbundene Probleme einzugehen würde zu weit vom Thema dieses Kapitels wegführen. Es werden daher nur zwei Beispiele angeführt, die eine Vorstellung geben, worum es geht. Das erste Beispiel ist Otrep’evs Alter. Der echte Dmitrij Ivanovič wurde 1582 geboren, wäre also rund 20 Jahre alt gewesen, als der erste samozvanec unter seinem Namen auftrat. Der erste falsche Dmitrij war im passenden Alter oder sah zumindest so aus, als könnte er es sein.18 Jacques Margeret zufolge, einem französischen Söldner, der erst Godunov diente und dann zu »Dmitrij« 15 Skrynnikov, R. G.: Samozvancy v Rossii v načale XVII veka. Grigorij Otrep’ev. Novosibirsk 1987; Ders.: Tri Lžedmitrija. Moskva 2003. 16 Szvák, Gyula: False Tsars. New York 2000. 17 Gemeint sind hier Anti-Trinitarier. 18 Dunning: Russia᾽s First Civil War, 129.
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überlief, war der Mönch Grigorij Otrep’ev hingegen rund 15 Jahre älter und sah auch nicht jünger aus. Mehr noch, er soll sich nach dem Sturz und Tod des ersten falschen Dmitrij offen in Moskau aufgehalten haben.19 Eine bewusste Lüge durch Margeret selbst ist unwahrscheinlich, da er überzeugt war, der echte Sohn Ivans IV. sei noch am Leben. Angesichts dessen hatte er es nicht notwendig, »Beweise« zu erfinden. Das bedeutet jedoch nicht, dass seine anonyme Quelle für diese Passage zuverlässig war. Das zweite Beispiel ist die Glaubwürdigkeit des Berichts (izvet), den Varlaam Jackij 1606 nach »Dmitrijs« Sturz für den neuen Zaren Vasilij Šujskij verfasste. Jackij soll einer der beiden Mönche gewesen sein, die mit Otrep’ev aus Moskau geflohen waren. Im Bericht schilderte er Otrep’evs Bewegungen im Jahr 1602 ausführlich, um sich von jedem Verdacht der Konspiration reinzuwaschen. Der izvet lässt keinen Zweifel daran, dass Otrep’ev und der erste falsche Dmitrij ein und dieselbe Person gewesen seien,20 doch seine Zuverlässigkeit ist höchst umstritten. Maureen Perrie folgt Paul Pierling in der Einschätzung, dass Jackij eine Reihe von Details anführt, die er nur aus Autopsie wissen habe können und daher vertrauenswürdig sei.21 Chester Dunning füllte hingegen anderthalb Druckseiten mit Gründen, warum der izvet nicht das Papier wert sei, auf dem er geschrieben steht. Unter anderem kritisiert er, dass eine Verbindung zwischen Jackij und Dmitrij Šujskij, einem Bruder des Zaren, viel zu wenig beachtet wurde.22 Eine weitere Überlegung zur Identität des ersten falschen Dmitrij ergibt sich aus einem Vergleich mit der Enttarnung der englischen impostors Simnel und Warbeck (siehe Kapitel 3.1). Heinrich VII. reagierte auf die Herausforderung in beiden Fällen prompt und auf dieselbe Weise. Er ließ jeweils bekannt machen, wie der impostor in Wahrheit heiße, wer seine Eltern seien, wo sie wohnten, welchen Beruf der Vater ausübe. Allerdings legen ebenfalls in beiden Fällen Ungereimtheiten nahe, dass diese Angaben zumindest zum Teil fiktiv waren – dass also Simnel nicht Simnel hieß, Warbeck nicht Warbeck hieß und beide mit ihrer angeblichen Verwandtschaft nicht das Geringste zu tun hatten.23 Die Motivation hinter einer solchen Mystifikation ist leicht ersichtlich. Heinrichs Anspruch auf den Thron war, wie in Kapitel 3.1 ausgeführt, nicht der stärkste. Er hatte nur auf Richard III. folgen können, weil die Söhne Eduards IV. für tot galten und der Thronanspruch des Earl von Warwick umstritten war. Angesichts dessen hatte Heinrich kaum eine andere Wahl als die Flucht nach vorne anzutreten und seine Konkurrenten zu enttarnen, bevor jemand auf die Idee 19 20 21 22 23
Ders. (Hg.): Jacques Margeret᾽s State, 82. Perrie, Pretenders and Popular Monarchism, 43. Ebd., 50. Dunning: Russia’s First Civil War, 127–129. Zu Simnel siehe Ashdown-Hill: The Dublin King, 162; zu beiden siehe Wroe: The Perfect Prince, 195.
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kam, diese allzu ernst zu nehmen. Dabei war es viel glaubwürdiger, wenn er in allen Details angeben konnte, wer ihm das Leben schwer machte, als wenn er Simnel und Warbeck zwar als Hochstapler diffamiert hätte, jedoch eingestehen hätte müssen, nicht genau zu wissen, mit wem er es eigentlich zu tun hatte.24 Boris Godunov befand er sich in einer vergleichbaren Situation. So wie Heinrich VII. gegenüber einem Sohn oder Neffen Eduards IV. im Nachteil war, war Godunov gegenüber einem Sohn Ivans IV. im Nachteil. Sobald Godunov begriff, dass der junge Mann in der Rzeczpospolita ein ernstzunehmendes Problem für ihn darstellte, verfiel er auf dieselbe Verteidigungsstrategie wie der englische König mehr als ein Jahrhundert früher: Er machte den (vermeintlichen) wahren Namen des falschen Dmitrij publik, nannte seine Verwandten und die bisherigen Stationen seines Lebens.25 Ob die Angaben authentisch waren oder eine Mystifikation spielte eine geringere Rolle als der Effekt, den Godunov damit zu erzielen hoffte. Es ist sogar möglich, ein Szenario zu formulieren, wie eine Otrep’ev-Mystifikation zustande gekommen sein könnte. Der gängigen Version zufolge war Otrep’ev zum Zeitpunkt seiner Flucht aus Moskau Diakon und Sekretär des Patriarchen Iov. Iov wiederum war ein Protegé Godunovs;26 es ist also gut vorstellbar, dass er den Zaren auf seinen abgängigen Sekretär aufmerksam machte und ihm half, diesen mit dem samozvanec in der Rzeczpospolita zu verschmelzen. Die dritte Komponente in »Dmitrijs« offizieller Vorgeschichte, Otrep’evs angebliche Faszination für schwarze Magie und Häresie, zählte am Beginn des 17. Jahrhunderts zum Standardrepertoire für Verleumdungen,27 sodass sehr viele Leute darauf verfallen hätten können. Eine weitere Möglichkeit, die Vermischung des ersten falschen Dmitrij mit Otrep’ev zu erklären, ist in den Erinnerungen des aus Braunschweig stammenden Söldners Konrad Bussow zu finden, der in der Leibgarde des ersten falschen Dmitrij diente. Bussow behauptet, der Mönch Grigorij Otrep’ev sei beauftragt worden, jemanden ausfindig zu machen, der geeignet wäre, in die Rolle des jüngsten Sohnes von Ivan IV. zu schlüpfen. Deswegen habe sich Otrep’ev zur selben Zeit wie der zukünftige samozvanec im Südwesten des Moskauer Reiches aufgehalten und sei später mit diesem verwechselt worden.28 Da Bussow kein Wort über die Hintermänner dieser angeblichen Intrige verliert und die Möglichkeit einer solchen in der Forschung heute nicht mehr ernsthaft erwogen wird, ist Skepsis gegenüber dem Wahrheitsgehalt seiner Aussagen angebracht. Doch es könnte durchaus sein, dass sich die Wege 24 25 26 27 28
Wroe: The Perfect Prince, 195. Perrie: Pretenders and Popular Monarchism, 45. Dunning: Russia’s First Civil War, 91. Ebd., 202; Perrie: Pretenders and Popular Monarchism, 103. Smirnov (Red.): Moskovskaja chronika, 218 f.
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des zukünftigen samozvanec und des Mönchs Otrep’ev rein zufällig im Südwesten des Moskauer Reiches, in der Sič oder in der Rzeczpospolita kreuzten und es dieser Zufall Godunov später erleichterte, so zu tun, als handle es sich um ein und dieselbe Person. Weder das übereinstimmende Vorgehen von Heinrich VII. und Boris Godunov, noch die gerade entworfenen Szenarien sind ein Beweis dafür, dass Grigorij Otrep’ev als Dmitrij ganz oder teilweise eine Fiktion ist. Die Quellen sind nicht wasserdicht und überzeugend genug, um ohne Weiteres davon auszugehen, dass Otrep’ev hinter dem ersten falschen Dmitrij gesteckt habe. Gleichzeitig sind sie nicht ausreichend widersprüchlich und unglaubwürdig, um diese Version rundheraus zu verwerfen. Dem Quellenbefund wird es am ehesten gerecht, diese Frage als eine offene zu betrachten. Der springende Punkt ist ohnehin nicht, wer der erste falsche Dmitrij war oder nicht war, sondern, dass die verschiedenen Thesen, warum er sich für den jüngsten Sohn Ivans IV. ausgab, wer mögliche Hintermänner waren und an welchen Vorbildern er sich orientiert haben könnte, auf der Prämisse beruhen, dass Grigorij Otrep’ev und der samozvanec dieselbe Person waren. Ihre Plausibilität beziehen sie nicht zuletzt daraus, mit Otrep’evs Biografie kompatibel zu sein bzw. eine Brücke von Otrep’ev zu »Dmitrij« schlagen zu können. Da die Prämisse selbst auf unsicherem Grund gebaut ist, sind letztlich nur Spekulationen darüber möglich, warum und auf welchem Weg samozvanstvo ins Moskauer Reich kam. Unter dieser Voraussetzung sollen nun die Thesen zu den Vorbildern des ersten falschen Dmitrij behandelt werden. Sie lassen sich grob in zwei Gruppen unterteilen. Die eine Gruppe führt sein Auftreten auf Gerüchte über den echten Dmitrij Ivanovič zurück. Ihr wichtigster Proponent ist Čistov.29 Wie bereits ausgeführt, deutete er das Auftreten eines falschen Mitglieds der Dynastie als Reaktion auf Gerüchte über das Vorbild. Diese hätten zukünftigen samozvancy und samozvanki die Gelegenheit geboten, mithilfe der Aneignung einer fremden Identität ein Ziel zu erreichen, das sie schon länger angestrebt hatten.30 Grundsätzlich ist es völlig plausibel, dass ein zukünftiger samozvanec oder eine zukünftige samozvanka von Gerüchten auf die Idee gebracht wurde, sich eine fremde Identität anzueignen. Die falschen Peter III. Petr Černyšev und Nikolaj Kretov planten ihr Vorgehen als Kaiser beispielsweise anhand von Gerüchten, die sie in Gasthäusern gehört hatten,31 und bei mehreren anderen samozvancy ist etwas Ähnliches anzunehmen. In Hinblick auf Gerüchte über Dmitrij Ivanovič ist ein solches Szenario jedoch unwahrscheinlich. 29 Čistov: Russkie narodnye social’no-utopičeskie legendy, 35–37. 30 Ebd., 26. 31 RGADA , f. 6, o. 1, d. 406, l. 56 ob; RGADA , f. 6, o. 1, d. 535, l. 51.
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Die Quellenlage sieht folgendermaßen aus: Aus dem Zeitraum 1591–1598 sind keine Gerüchte bekannt, die behaupten, Dmitrij sei noch am Leben. Zwischen 1598 und dem Auftreten des ersten samozvanec sind ein paar wenige belegt. Maureen Perrie wies allerdings schon 1982 nach, dass die überlieferten Gerüchte nur in einem sehr engen Kreis zirkulierten, beispielsweise unter Höflingen, die Godunov ablehnten. Demnach hatten sie keinen Einfluss auf die Handlungen und Erwartungen von Personen ohne Verbindungen zum Hof. Davon abgesehen lässt sich nicht feststellen, ob Gerüchte, denen zufolge Dmitrij noch am Leben war, schon vor dem Auftreten des ersten samozvanec ausreichend verbreitet waren, um Čistovs These zu stützen.32 Dass eine mögliche Rückkehr Dmitrijs zwischen 1591 und 1603 also allem Anschein nach kaum jemand für wünschenswert erachtete, führen Dunning, Perrie und viele andere HistorikerInnen darauf zurück, dass er nach dem Buchstaben des Kirchenrechts unehelich geboren worden sei.33 Dieser Zusam menhang ist aber nicht so eindeutig wie es scheint. Der byzantinische Nomokanon und seine slawische Bearbeitung, die Kormčaja kniga, gestatten eine zweite sowie dritte Ehe nur in Ausnahmefällen und begleitet von Bußauflagen, während eine vierte Ehe völlig ausgeschlossen ist. Marija Nagaja, die Mutter von Dmitrij Ivanovič, war die siebente Ehefrau Ivans IV., ihre Verbindung demnach unkanonisch und ihr Sohn unehelich. Russell Martin weist allerdings darauf hin, dass nicht alleine die Bestimmungen des Kirchenrechts zählen, sondern auch ihre Anwendung. Ivan IV. erreichte es, auch mit seiner zweiten bis siebenten Frau ordnungsgemäß von einem Priester getraut zu werden. Dieser Umstand ist gleichbedeutend mit einer kirchlichen Heiratserlaubnis, sodass alle Ehen des Zaren als kanonisch anzusehen sind und alle Kinder, die aus ihnen hervorgingen, als ehelich geboren.34 Der Hauptgrund, warum Dmitrij keine Rolle in politischen Planungen spielte, dürfte also darin zu sehen sein, dass zu Lebzeiten von Fedor Ivanovič zumindest eine minimale Chance bestand, dass der Zar noch eigene Kinder haben würde. Zu berücksichtigen ist auch, dass es wohl nicht wenige Zeitgenossen gab, welche die zahlreichen Ehen Ivans IV. ungeachtet der faktischen kirchlichen Erlaubnis als skandalös empfanden und eine Nachfolge über diese Linien nicht gutgeheißen hätten. Später stieß das Angebot des ersten samozva nec auf viel Resonanz, weil zum einen das Aussterben der Rurikiden die Gegebenheiten verändert und zum anderen Godunovs Ruf als fähiger Herrscher durch die Hungersnot 1601–1603 gelitten hatte, sodass seine Legitimität wieder verstärkt angezweifelt wurde.35 32 33 34 35
Perrie: »Popular Socio-Utopian Legends«, 227. Dunning: Russia’s First Civil War, 65. Martin: A Bride for the Tsar, 164. Dunning: Russia’s First Civil War, 106.
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Insgesamt scheint sich der erste samozvanec eher nicht an Gerüchten orientiert zu haben, dass Dmitrij Ivanovič 1591 vor einem Attentat gerettet worden sei. Das bedeutet, die zweite These zu seinen Vorbildern ist wahrscheinlicher: Er habe sich an falschen Thronprätendenten orientiert, die außerhalb des Moskauer Reiches aktiv waren. Im letzten Viertel des 16. Jahrhunderts traten in mehreren Ländern solche Prätendenten auf. Ein Beispiel ist François La Ramée in Frankreich, von dem in Kapitel 3.1 die Rede war. Er kommt aber nicht als Vorbild für »Dmitrij« in Frage, weil er keine über Frankreich hinausgehende Bekanntheit erlangte. Stattdessen werden in der Sekundärliteratur zwei andere mögliche Vorbilder genannt. Perrie, Dunning und Ingerflom machten auf das Fürstentum Moldau aufmerksam.36 Seit dem Ende des 15. Jahrhunderts versuchten dort mehrere Prätendenten, ihre Chancen auf den Thron zu erhöhen, indem sie sich als naher Verwandter eines früheren Hospodaren ausgaben.37 Die meisten Moldauer Prätendenten traten in den 1580er Jahren auf, also nicht einmal zwanzig Jahre vor dem ersten falschen Dmitrij, und auch ihre geografische Nähe zum Moskauer Reich ist nicht zu bestreiten. Die Zaporožer Kosaken, bei denen sich Otrep’ev / der erste falsche Dmitrij eine gewisse Zeit aufgehalten haben soll, unterstützten selbst mehrere Prätendenten, sodass er durch Erstere von Zweiteren erfahren haben könnte.38 Zudem tauchen zwei Familien in beiden Kontexten auf. Konstantin / Vasilij Ostrožskij (ukr. Ostroz᾽kyj) protegierte 1578 einen Prätendenten namens Alexandru und soll als Voevode von Kiev zu den frühesten Unterstützern des ersten falschen Dmitrij gehört haben – letztere Annahme ist aber von der Gleichsetzung mit Otrep’ev abhängig. Dymitr Wiśniowiecki, ein Verwandter von Adam Wiśniowiecki, hatte sich in den 1560er Jahren selbst als Prätendent in der Moldau versucht.39 Die Aktivitäten der Familien Ostrožskij und Wiśniowiecki wären nur dann relevant, falls der erste falsche Dmitrij nicht aus eigenem Antrieb gehandelt hätte, sondern jemandes Marionette in einer politischen Intrige gewesen wäre. In diesem Fall hätte entweder Ostrožskij oder Wiśniowiecki bei den eigenen Erfahrungen mit einem falschen Prätendenten angesetzt und jemanden gesucht, der eine solche Rolle spielen könnte. Ihr Vorgehen hätte dem von Bussow geschilderten Szenario geähnelt. Offiziell aber hatte der erste falsche Dmitrij bereits beschlossen, sich für den jüngsten Sohn Ivans IV. auszugeben, ehe er Wiśniowiecki damit konfrontierte. Zudem war zwar Wiśniowieckis Grundbesitz bei Grenzstreitigkeiten zwischen der Rzeczpospolita und dem Moskauer 36 Perrie: Pretenders and Popular Monarchism, 39 f.; Dunning: Russia’s First Civil War, 124; Ingerflom: Le tsar c’est moi, 58–64. 37 Zu ihnen siehe Ingerflom: Le tsar c᾽est moi, 59–63. 38 Dazu siehe Perrie: Fugitive Tsars, 583. 39 Ingerflom: Le tsar c’est moi, 60 f.
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Reich in Mitleidenschaft gezogen worden, sodass er auf Godunov nicht gut zu sprechen war.40 Ihm lässt sich aber genauso wenig ein Komplott nachweisen wie Ostrožskij, darum dürften die Familienbeziehungen irrelevant sein. Perrie verwies auch auf die falschen Sebastians als mögliches Vorbild für den ersten falschen Dmitrij.41 Portugal war vom Moskauer Reich denkbar weit entfernt, doch diese falschen Herrscher erlangten zu ihrer Zeit europaweite Bekanntheit,42 sodass diese Möglichkeit prinzipiell gegeben ist. 1578 wurde König Sebastian von Portugal in der Schlacht bei Alkazar-Quibir in Marokko getötet. Sein Gefolge konnte den Leichnam erst Tage später bergen und nur unter erheblichen Zweifeln identifizieren. Derlei war für Schlachten in der Frühen Neuzeit (und den meisten anderen Epochen) beileibe nichts Ungewöhnliches, dennoch zirkulierten bald Gerüchte, dass Sebastian nur verwundet worden sei und nach seiner Genesung zurückkehren werde. Auf Sebastian folgte als König zunächst sein Onkel, Kardinal Heinrich. Heinrich starb aber bereits 1580 und hatte bis dahin weder den Papst darum ersucht, vom Zölibat entbunden zu werden, noch einen Nachfolger bestimmt. Somit hatten alle von Sebastians zahlreichen Cousins Anspruch auf den spanischen Thron. Am Ende setzte sich Philipp II. von Spanien (als König von Portugal Philipp I.) durch. Eine als protonational anzusprechende Empörung darüber, dass nun ein Spanier Portugal regieren würde, verlieh Gerüchten über Sebastians Rückkehr neuen Auftrieb und bereitete den Boden für die falschen Sebastians. Der erste präsumtive Sebastian, der sogenannte Einsiedler von Peñamacor, trat 1584 auf, und somit ein Jahr, nachdem Philipp II. von Spanien endgültig die portugiesische Krone angenommen hatte. Marco Tulio Catizone, der letzte falsche König, trat 1598 in Venedig auf und wurde erst 1602 endgültig verhaftet – also in dem Jahr, in dem die Anfänge des ersten falschen Dmitrij liegen. Es ist belegt, dass mit Papst Clemens VIII., dem päpstlichen Nuntius in Krakau Claudio Rangoni und dem polnischen König Sigismund III. ein paar frühe Unterstützer des ersten falschen Dmitrij über die falschen Sebastians Bescheid wussten.43 Wie schon bei den Prätendenten in der Moldau wäre das Wissen von »Dmitrijs« Umgebung aber nur dann ausschlaggebend gewesen, falls er mit seinen Unterstützern schon bekannt gewesen wäre, bevor er ihnen offiziell zum ersten Mal begegnete, weil er zum Beispiel die Marionette einer Verschwörung mit dem Ziel gewesen wäre, das Moskauer Reich katholisch zu machen. In der Forschung galt der erste falsche Dmitrij lange Zeit tatsächlich 40 41 42 43
Perrie: Pretenders and Popular Monarchism, 40. Dies.: Trans-National Representations, 54. Für einen Überblick siehe Bercé: Le roi caché, 17–81. Pierling, Paul: La Russie et la Saint-Siège. Études diplomatiques III . Paris 1901, 41; Perrie: Fugitive Tsars, 583.
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als Geschöpf entweder der Polen oder der Jesuiten, jeweils in enger Kooperation mit dem Papst, doch für solche Thesen gibt es keine stichhaltigen Belege, sodass sie als überholt zu bewerten sind.44 Weder in Hinblick auf die Prätendenten in der Moldau, noch auf die falschen Sebastians gibt es einen Anhaltspunkt, ob der erste falsche Dmitrij selbst über sie Bescheid wusste und falls ja, wann, wo und von wem er von ihnen erfahren hatte. Angesichts der Unwägbarkeiten hinsichtlich der Identität des ersten falschen Dmitrij erscheint es sinnvoller, von Vorbildern auszugehen, die er kennen konnte, ohne auf Hintermänner wie die Wiśniowieckie, Ostrožskie oder wer da sonst noch in Frage käme angewiesen zu sein. Daher sind die Prätendenten in der Moldau ein plausibleres Vorbild als die falschen Sebastians. Wie gesagt, kann sich der erste falsche Dmitrij auch dann länger in der Sič aufgehalten haben, falls er nicht Otrep’ev war und dort von den Prätendenten gehört haben. Hingegen ist es wenig wahrscheinlich, dass er von den falschen Sebastians erfahren hätte können, ohne hochrangige Kontakte im / ins Ausland zu haben. Auch die Arianer in der Rzeczpospolita waren dafür wohl nicht ausreichend vernetzt. Unter der Voraussetzung von selbst erworbenem Wissen ist ein weiteres mögliches Vorbild in Betracht zu ziehen: die Überlieferungen über den Räuber Kudejar als Halbbruder Ivans IV.45 Von Kudejar war bereits in Kapitel 3.3 die Rede. Wenn es um den ersten falschen Dmitrij geht, ist aber nicht seine Schatzhöhle interessant, sondern, wie er als unbekannter Bruder Ivans IV. gelten konnte. 1525 ließ sich Großfürst Vasilij III. wegen Kinderlosigkeit von seiner Frau Solomonija Saburova scheiden, indem er sie in das Maria-Schutz-Kloster in Suzdal’ schickte. Die verstoßene Ehefrau wurde im Nachhinein auf zweifache Weise überhöht. Zum einen zeichneten offizielle Darstellungen Solomonija als Heilige, um zu verdecken, dass sie gegen ihren Willen zur Nonne gemacht worden war.46 Zum anderen kursierten sehr bald Gerüchte, Solomonija sei zum Zeitpunkt der Scheidung von ihrem Mann schwanger gewesen und habe im Kloster einen Buben zur Welt gebracht, den sie Georgij genannt habe. Solomonija könnte diese Gerüchte gefördert oder sogar selbst in Umlauf gebracht haben, um zu betonen, dass die Scheidung unrechtmäßig und sie sehr wohl in der Lage (gewesen) sei, Vasilij III. den ersehnten Nachfolger zu gebären.47 44 Dunning: Russia’s First Civil War, 124. 45 Usenko erwähnt die Überlieferung, schließt sie aber als Vorbild für den ersten falschen Dmitrij aus, weil er sich Čistovs Konzeption uneingeschränkt anschließt und bei Kudejar keinen sozial-utopischen Gehalt ausmachen kann (Usenko: Psichologija social’nogo protesta III, 39.). 46 Thyrêt, Isolde: Between God and Tsar. Religious Symbolism and the Royal Women of Muscovite Russia. DeKalb / Illinois 2001, 35–39. 47 Ebd., 35.
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Noch im 16. Jahrhundert erlebten diese Gerüchte eine folkloristische Erweiterung. Diese besagte, Solomonija habe um das Leben ihres Sohnes gefürchtet, weil dieser den Thronanspruch Ivans IV. gefährdet habe, und ihn deswegen in den Süden des Reiches geschickt. Dort sei Georgij in tatarische Gefangenschaft geraten und habe sich mit der Zeit in den Räuber Kudejar verwandelt.48 Der Reiz dieser Geschichte besteht darin, dass sie wie eine Vorstufe zu samozvanstvo wirkt. Sie berichtet über einen Fürstensohn, dessen Existenz unbekannt und dessen Leben in Gefahr ist, weil er einen stärkeren Anspruch auf den Thron hat als der gegenwärtige Herrscher. Nach allem, was bekannt ist, nutzte niemand diese Gelegenheit und trat als Georgij Vasil’evič / Kudejar auf. Es blieb bei der reinen Möglichkeit – was einmal mehr darauf hindeutet, dass im 16. Jahrhundert die Zeit für samozvanstvo noch nicht reif war. Nichtsdestoweniger hätte der zukünftige erste falsche Dmitrij durch Kudejars Geschichte erkennen können, dass im Tod von Dmitrij Ivanovič das Potenzial für eine »Rückkehr« steckte, sofern er den Ereignissen in Uglič 1591 eine entsprechende Wendung verlieh. Wird Solomonija Saburova durch Marija Nagaja ersetzt, die verstoßene erste Ehefrau gegen die umstrittene siebente, Suzdal’ durch Uglič, Georgij durch Dmitrij, Ivan IV. bzw. dessen Regenten durch Boris Godunov, ändert sich das Setting, nicht aber die Fabel. In beiden Fällen geht es um einen Thronanwärter, der ein Kind mit größerem Anspruch fürchtet und dieses loszuwerden versucht. Und in beiden Fällen gelingt es der Mutter des Kindes, die selbst schlecht behandelt wurde, diese Pläne zu durchkreuzen. Kudejar als Vorbild ist genauso wenig nachweisbar wie die Prätendenten in der Moldau oder die falschen Sebastians. Da samozvanstvo jedoch insgesamt stark aus der Folklore schöpfte (siehe Kapitel 3), sollte eine solche Möglichkeit auch bei den Anfängen des Phänomens im Moskauer Reich nicht außer Acht gelassen werden. Der erste falsche Dmitrij als Vorbild
Sobald der erste falsche Dmitrij beschlossen hatte, sich für den jüngsten Sohn Ivans IV. auszugeben und mit diesem Anspruch bei Adam Wiśniowiecki auf offene Ohren gestoßen war,49 musste er in der Lage sein, zu erklären, wie es ihm gelungen sei, 1591 Godunovs Häschern zu entkommen und wie er die in der Zwischenzeit vergangenen Jahre verbracht habe. Wie Paul Pierling heraus48 Strel’skij: Kto že takie Kudejar i kudejary?, 401; 403. 49 Wie genau diese Begegnung und noch mehr die Offenbarung als Dmitrij vonstatten ging, muss offen bleiben. Die beiden existierenden Versionen sind gleichermaßen unglaubwürdig und dürften das Resultat späterer Überformungen sein (Perrie: Pretenders and Popular Monarchism, 37 f.).
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gefunden und Perrie bestätigt hat, gehen sämtliche Versionen dieses Selbstzeugnisses auf einen Brief zurück, den Wiśniowiecki an Rangoni schrieb. Rangoni wiederum gab den Inhalt in einem Brief an Papst Clemens VIII. wieder, der sich erhalten hat.50 Ihm zufolge war Marija Nagaja schon länger über Pläne Godunovs informiert gewesen, Dmitrij töten zu lassen, um sich selbst die Macht zu sichern und hatte Vorkehrungen für seine Sicherheit getroffen. Sie habe einen zweiten Buben in ihren Haushalt aufgenommen, der ungefähr gleich alt gewesen sei wie Dmitrij, mit ihm erzogen worden sei und im selben Bett geschlafen habe. Dieser Bub sei es auch gewesen, der ermordet und als Dmitrij begraben worden sei. Dmitrij sei von seinem Lehrer aus Uglič fortgebracht worden und habe mit diesem mehrere Jahre lang abgeschieden im Norden des Moskauer Reiches gelebt. Nach dem Tod des Lehrers sei er in ein Kloster eingetreten.51 Wiśniowiecki zufolge hatte ihm das alles der erste falsche Dmitrij selbst erzählt.52 Es ist unmöglich, festzustellen, ob das stimmt. Wie Maureen Perrie gezeigt hat, ist die Geschichte nicht gleichmäßig ausgearbeitet. In einigen Punkten wie den Namen der Helfer oder »Dmitrijs« Aufenthaltsorten nach der Flucht aus Uglič ist sie so vage, dass sie einer kritischen Nachfrage nicht standhalten würde. Der Aufenthalt in Uglič wird hingegen detailreich sowie im Großen und Ganzen wahrheitsgetreu geschildert.53 Diese Unregelmäßigkeiten ließen sich zum einen damit erklären, dass der erste falsche Dmitrij aus irgendeinem Grund über die Vorfälle in Uglič recht gut informiert war, ihm aber die Zeit oder die Fantasie fehlte, um den Rest ähnlich ausführlich zu gestalten. Sie könnten zum anderen darauf zurückgehen, dass der erste falsche Dmitrij durchgehend kryptisch blieb, aber jemand anderer die Geschichte mit mehr Substanz versah, der zufällig gut über die Geschehnisse in Uglič informiert war. Wie auch immer es gewesen sein mag, diese Geschichte wurde die offizielle Version von »Dmitrijs« Schicksal und erlangte so eine Vorbildfunktion für die weiteren samozvancy der Zeit der Wirren, wie nun zu sehen sein wird. Diese lassen sich in zwei Gruppen unterteilen. Zur ersten Gruppe gehören alle samozvancy, die als dieselbe persona wie das Vorbild auftraten: der (weitgehend) verhinderte falsche Dmitrij Michail Molčanov, der zweite, dritte und vierte falsche Dmitrij sowie möglicherweise Ataman Ivan Zaruckij, der gemeinsame Sache mit Maryna Mniszchówna, der Witwe des ersten und zweiten falschen Dmitrij, machte. Sie konnten ihre Existenz nur begründen, indem sie die Geschichte des ersten falschen Dmitrij übernahmen und um die Ereignisse 50 Ebd. 51 Pierling: La Russie et la Saint-Siège, 431–444. 52 Ebd., 42. 53 Perrie: Pretenders and Popular Monarchism, 39.
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seit dessen Sturz / seit dem Tod des jeweils letzten samozvanec unter derselben persona ergänzten. Alle Berichte über den Sturz des ersten falschen Dmitrij im Mai 1606 stimmen darin überein, dass in Moskau praktisch sofort Gerüchte aufkamen, er sei vor der Verschwörung gewarnt worden und habe sich retten können. Insbesondere zwei Umstände befeuerten diese Spekulationen: Mehrere Einheimische meinten, der Tote sehe ganz anders aus als der Zar, und maßen dem große Bedeutung bei, obwohl sie wussten, dass er gewaltsam ums Leben gekommen und auch im Tod nicht mit Samthandschuhen angefasst worden war.54 Außerdem hatte jemand angeblich in der Nacht des Umsturzes mehrere Pferde aus den Stallungen des Zaren geholt, die nicht mehr zurückgebracht wurden. Die Annahme lag nahe, dass »Dmitrij« mit einem davon geflohen war.55 Tatsächlich flohen in jener Nacht mehrere Männer aus dem Gefolge des Zaren aus Moskau, unter anderem sein Sekretär Bogdan Sutupov und sein enger Vertrauter Michail Molčanov. Zunächst wollten sie sich nur dem neuen Zaren Vasilij Šujskij entziehen, von dem sie wenig Gutes zu erwarten hatten, doch auf lange Sicht waren sie entschlossen, Šujskij wieder zu stürzen. Dafür brauchten sie jemanden, der den angeblich noch lebenden »Dmitrij« verkörperte. Mehrere Monate lang spielte Molčanov diese Rolle. Auch wenn der Schwerpunkt seiner Aktivitäten als samozvanec in der Rzeczpospolita lag, hatten sie unmittelbare Auswirkungen auf das Moskauer Reich und trugen mehr als jedes Gerücht dazu bei, »Dmitrij« für seine Untertanen wieder lebendig zu machen.56 Molčanov 57 setzte sich in südwestlicher Richtung aus Moskau ab und verkündete unterwegs überall, der Zar habe sich retten können. Falls ihn daraufhin jemand für »Dmitrij« hielt, widersprach er nicht. Nach einem kurzen Aufenthalt in Putivl’ machte er sich auf den Weg nach Schloss Sambor, das »Dmitrijs« Schwiegervater Jerzy Mniszech gehörte. Dort blieb Molčanov bis zum Herbst 1606, unterstützt von »Dmitrijs« Schwiegermutter. Wie schon in Putivl’ fungierte er im Schloss prinzipiell als der Zar und empfing beispielsweise auf einem Thron sitzend Unterstützer wie den Aufständischen Ivan Bolotnikov. Da er als er selbst bekannt war und Šujskij eine detaillierte Personenbeschreibung in die Rzeczpospolita über mittelte,58 fanden solche Audienzen jedoch nur selten statt, und Molčanov wagte nicht, auch außerhalb des Schlosses als Dmitrij aufzutreten. So konnte er die allgemeine Erwartung nicht erfüllen, dass er ein Heer anführen würde. 54 55 56 57 58
Dunning: Russia’s First Civil War, 237 f. Ebd., 250. Ebd., 251. Zu ihm siehe Ebd., 250 f.; 262–264; Tjumencev: Smuta, 69–72. Dunning: Russia᾽s First Civil War, 263.
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Als im Herbst seine Gastgeberin starb, brach er das Experiment ab und tauchte vorübergehend unter. Später schloss er sich dem zweiten falschen Dmitrij an. Im Sommer 1606 stand der Widerstand gegen Šujskij kurz vor dem Zusammenbruch. Je mehr Zeit verging, in der sich Zar Dmitrij nicht öffentlich zeigte, geschweige denn an die Spitze seiner Truppen stellte, desto weniger Menschen waren überzeugt, dass er tatsächlich noch lebe. In dieser Situation taten sich die geflohenen Vertrauten des ersten falschen Dmitrij mit einer Gruppe polnischer Adeliger unter der Führung von Miechowiecki und Zenowicz zusammen.59 Die Rzeczpospolita war 1605 von einer innenpolitischen Krise erfasst worden. Die Adeligen hegten den Verdacht, König Sigismund III. wolle eine absolute Monarchie errichten. Sie planten, ihn in einem Aufstand (poln. rokosz) zu stürzen und dann »Dmitrij« zum König von Polen zu wählen. Der Aufstand scheiterte und der erste falsche Dmitrij wurde gestürzt, aber mehrere oppositionelle Adelige entschlossen sich, die persona Dmitrij gegen Sigismund auf der einen Seite und Šujskij auf der anderen Seite zu unterstützen. Der Schwerpunkt der Verschwörung lag im Moskauer Reich und sie war primär gegen Šujskij gerichtet, doch die polnische Beteiligung ist nicht zu leugnen.60 Das vorrangige Ziel der Verschwörer lautete, jemanden zu finden, der als Dmitrij auftreten konnte, bevor das Momentum vom Mai endgültig verloren ging. Sie entschieden sich für den Mann, der als zweiter falscher Dmitrij oder Bandit aus Tušino in die Geschichtsbücher einging. Es ist nicht klar, wer der zweite falsche Dmitrij war. Beinahe jede Quelle gibt etwas anderes dazu an, aber am weitesten akzeptiert ist die Variante, dass es sich um einen Lehrer aus Šklovsk handelte, der nach dem Verlust seiner letzten Stelle ein Dasein als Landstreicher fristete.61 Sämtliche Versionen über die Herkunft des zweiten falschen Dmitrij legen nahe, dass die Verschwörer jemanden suchten, dessen gegenwärtige Lebenslage möglichst verzweifelt war, damit sie ihn leicht steuern konnten und zugleich völlig unbekannt, damit sich die Probleme mit Molčanov nicht wiederholten. Beim Werdegang des zweiten falschen Dmitrij spielte Wissen über frühere samozvancy eine wichtige Rolle. Er trat zum ersten Mal im Dezember 1606 in Mogilev öffentlich in Erscheinung, konnte die Einheimischen aber nicht so recht von sich überzeugen. Daraufhin versuchte er zu fliehen, aber seine Hintermänner konnten ihn fassen und sperrten ihn ein, um ihn mürbe zu machen. Während seiner Haft arbeiteten die Verschwörer daran, ihn als Dmitrij glaubwürdiger zu machen. Sie zwangen ihn, sich detaillierte Kenntnisse über das Leben des ersten falschen Dmitrij anzueignen und eine überzeugende Schil59 Tjumencev: Smuta, 77. 60 Ebd., 68–70. 61 Dunning: Russia’s First Civil War, 370.
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derung »seiner« Flucht aus Moskau auswendig zu lernen.62 Tjumencev weist darauf hin, dass als Vorbild nur die Geschichte zur Verfügung stand, die der erste falsche Dmitrij über seine »Rettung« aus Uglič erzählt hatte.63 Dadurch kam es zu einer ersten Wiederholung des vorgegebenen Musters, der weitere folgten. Später wurde Molčanov, der 1607 ins Moskauer Reich zurückkehrte, einer der wichtigsten Berater und Informanten des neuen samozvanec.64 Der zweite falsche Dmitrij war bis 1610 aktiv, als er in Kaluga von Tataren aus seinem Gefolge ermordet wurde. In der Zwischenzeit dehnte sich der Bürgerkrieg räumlich erheblich aus, es traten zahlreiche weitere falsche Rurikiden auf und »Dmitrijs« Geschichte verbreitete sich parallel zu den Kämpfen. Der dritte falsche Dmitrij trat 1611 in Novgorod auf, wechselte aber wegen mangelnden Erfolgs nach Ivangorod. Von dort aus gelang ihm die Einnahme Pskovs, weswegen er auch als der »Bandit aus Pskov« (Pskovskij vor) bekannt ist. Schwedische Truppen vertrieben ihn wieder aus der Stadt. Über die Hintergründe des dritten falschen Dmitrij ist praktisch nichts bekannt, doch dem zeitgenössischen schwedischen Historiker Widekind zufolge war er in der Lage, eine detaillierte Schilderung seiner bisherigen Erlebnisse als Dmitrij zu geben.65 Das bedeutet, er ging ähnlich vor wie der zweite falsche Dmitrij (bzw. dessen Hintermänner). Der vierte falsche Dmitrij soll 1612 in Astrachan’ aufgetreten sein, doch es ist nicht sicher, ob er überhaupt existierte.66 Folglich ist auch nichts darüber bekannt, wie er seine Flucht schilderte. Sofern er existierte und etwas über seine Vergangenheit erzählte, hatte er aber kaum eine andere Wahl, als so vorzugehen wie die bisherigen falschen Dmitrii. Zur zweiten Gruppe der Nachahmer gehören samozvancy, die zwar nicht die persona Dmitrij Ivanovič verkörperten, sich aber am Selbstzeugnis des ersten falschen Dmitrij orientierten, um ihre Existenz plausibel zu machen. Sein Beispiel hatte gezeigt, dass ein falscher Rurikide glaubwürdig erscheinen und aus dem Betrug für sich selbst wie für seine Mitstreiter persönliche Vorteile herausschlagen konnte.67 Davon wollten auch andere profitieren. Il’ja Korovin trat bereits 1605 als carevič Peter auf, also noch zu Lebzeiten des ersten falschen Dmitrij.68 Er hatte sich einer Gruppe Terek-Kosaken an62 63 64 65 66 67 68
Tjumencev: Smuta, 80. Ebd., 84. Dunning: Russia’s First Civil War, 264. Perrie: Pretenders and Popular Monarchism, 211–213. Usenko: Novye dannye, 124. Dunning: Russia’s First Civil War, 119. Zu ihm siehe Perrie: Pretenders and Popular Monarchism, 134–144; Tjumencev: Smuta, 54–59. Es gab möglicherweise einen zweiten carevič Peter, auch bekannt als Peter der Bär (russ. Petr Medvedka, poln. Pietr Niedźwiadko). Über ihn berichtet nur eine im Jänner 1607 verfasste Erzählung (Skazanie o Petrě Medvědkě. Zitiert nach: Bodinskij: O poiskach moich v Poznanskoj Publičnoj bibliotekě. In: ČIOIDR 1 (1846), 1–45, hier 3–6.). Sie ist
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geschlossen, denen der Voevode von Astrachan’ die Entlohnung (žalovan’e) für ihre Dienste schuldig geblieben war. Sie wollten sich beim Zaren darüber beschweren und beschlossen, einen von ihnen zum Rurikiden zu machen, um ihre Verhandlungsposition zu stärken. Die Wahl fiel auf Korovin, der sich für einen fiktiven Sohn von Zar Fedor Ivanovič ausgab. Ungefähr auf halber Strecke nach Moskau erfuhren die Kosaken vom Sturz des ersten falschen Dmitrij. Vorübergehend kehrten sie zu ihren Raubzügen zurück, dann holte Fürst Grigorij Šachovskoj, einer der frühesten Unterstützer des ersten falschen Dmitrij, Korovin nach Putivl’, wo er eine Terrorherrschaft errichtete. 1607 schloss er sich schließlich wie Molčanov dem zweiten falschen Dmitrij an.69 Um seinen Anspruch zu belegen, erzählte Korovin, dass Fedors Frau Irina einen Buben (ihn) zur Welt gebracht, diesen aber aus Angst vor ihrem Bruder Boris Godunov mit einem Mädchen (der 1594 verstorbenen realen carevna Feodosija) vertauscht habe.70 Er wiederholte also im Großen und Ganzen das fiktive Selbstzeugnis des ersten falschen Dmitrij: Godunov trachtet Fedors Erben nach dem Leben, doch die Mutter weiß das zu verhindern, indem sie ein anderes Kind unterschiebt. Da sich Korovin für einen fiktiven carevič ausgab, konnte es im Unterschied zum Selbstzeugnis des ersten falschen Dmitrij keine zwei Kinder nebeneinander geben und es reichte nicht, zu erklären, wie er (Peter) gerettet worden war. Er musste auch plausibel machen, warum niemand von seiner Existenz gewusst hatte, während es die kleine Feodosija gegeben hatte. Deswegen machte er aus der Rettung einen Kindertausch in rettender Absicht gleich nach der Geburt. Das Motiv des Kindertauschs war für die weiteren samozvancy der Zeit der Wirren, die nicht als Zar Dmitrij auftraten, überaus wichtig. Bei ihnen handelte es sich um Kosaken, die sich wie Korovin für fiktive Söhne oder Enkel Ivans IV. ausgaben, sodass sie dieselben Punkte zu erklären hatten wie er. Ein regelrechtes Nest von falschen careviči bildete sich im Zeitraum 1606–1608 in Astrachan’ und der näheren Umgebung.71 Pavel Karabuščenko hält sie alle für Strohmänner des Voevoden Ivan Chvorostinin, der als enger Vertrauter des ersten falschen Dmitrij nicht bereit war, Šujskij als neuen Zaren zu akzeptieren. Sicher ist nur, dass nach Chvorostinins Tod 1608 in der Stadt jahrelang keine neuen samozvancy mehr auftraten, falls der vierte falsche Dmitrij real war, oder überhaupt keine, falls es ihn nicht gab.72
69 70 71 72
Korov ins Selbstzeugnis inhaltlich so ähnlich, dass es sich um eine erweiterte, fiktionalisierte Version davon handeln könnte. Gleichzeitig weicht sie von Korovins bekannten Bewegungen ab, sodass die Existenz eines weiteren samozvanec nicht ausgeschlossen werden kann. Perrie: Pretenders and Popular Monarchism, 136. Ebd., 90. Zu ihnen siehe Karabuščenko, P. L.: Astrachanskoe carstvo. Astrachan᾽ 2009, 175–183. Ebd., 176.
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Die Quellen zu den falschen careviči sind spärlich, allerdings dürften die Zeitgenossen durchaus gewusst haben, wer sie waren und woher sie kamen. Von den meisten ist nur der Name bekannt. In einer im April 1608 im Namen des zweiten falschen Dmitrij ausgestellten Urkunde werden Fedor, Klementij, Savelij, Semion, Vasilij, Eroška, Gavrilka und Martinka genannt.73 Der Neue Chronist nennt Avgust, Osinovik und Laver.74 Bis auf Fedor und Vasilij sind die Namen nicht typisch für Rurikiden des 16. Jahrhunderts. Entweder gaben sich die samozvancy keine große Mühe, die von ihnen verkörperte persona glaubwürdig zu gestalten, oder es handelt sich um ihre echten Vornamen. Die letzten drei Namen in der Urkunde des zweiten falschen Dmitrij sind jedenfalls Deminutive, und damit typisch für die Selbstbezeichnung von Bauern und Kosaken zu dieser Zeit. Avgust (auch bekannt als Ivan-Avgust) gab sich der Urkunde des zweiten falschen Dmitrij zufolge für einen Sohn Ivans IV. aus seiner Ehe mit Anna Koltovskaja aus, die in Wahrheit kinderlos geblieben war.75 Näheres ist nicht bekannt, doch könnte Ivan-Avgust seine Existenz ähnlich begründet haben wie es in der Überlieferung über Kudejar der Fall ist, weil auch Koltovskaja kinderlos ins Kloster geschickt wurde. Von den übrigen falschen careviči ist nicht überliefert, wie sie ihre Existenz begründeten, aber angesichts ihrer angeeigneten Identitäten hatten sie kaum eine andere Wahl, als wie Korovin das Motiv des Austauschs gleich nach der Geburt zu benutzen. So war diese Version nicht weniger verbreitet als die Geschichte der fortgesetzten Rettung von »Zar Dmitrij«. Samozvanstvo in der Zeit der Wirren
Von samozvanstvo in der Zeit der Wirren führt keine bruchlose Kontinuität zu samozvanstvo im weiteren Verlauf des 17. Jahrhunderts und darüber hinaus. Im letzten Abschnitt dieses Kapitels wird herausgearbeitet, was das Phänomen in der Smuta kennzeichnete, wie sich das auf die weitere Entwicklung auswirkte, was gleich blieb und was sich änderte. Samozvanstvo in der Zeit der Wirren entspricht ganz dem in Kapitel 3.1 herausgearbeiteten Muster für das Auftreten falscher Herrscher und Herrscher73 Buturlin, Dmitrij: Istorija Smutnago vremeni v Rossii v načalě XVII věka. Čast’ vtoraja. Sanktpeterburg 1841. Priloženija, 56 f. 74 Polnoe sobranie russkich lětopisej 14/1, 89, Paragraf 195. In der Urkunde des zweiten falschen Dmitrij wird Laver / Lavrentij als fiktiver Sohn von Ivan Ivanovič bezeichnet, der Neue Chronist kannte ihn als fiktiven Sohn von Fedor Ivanovič. Es ist nicht klar, ob der samozvanec unterschiedliche Angaben machte, einer der Autoren falsch informiert war bzw. etwas Falsches aufschrieb oder ob es zwei falsche Lavrentii gab. 75 Buturlin: Istorija Smutnago vremeni, Priloženija, 56.
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söhne in Westeuropa. Bei einem Längsschnitt über mehrere Jahrhunderte und mehrere Dutzend Fälle hinweg überwiegen die Unterschiede, darum wurden sie in Kapitel 3.1 auch als solche benannt. Wird jedoch nur die Zeit der Wirren betrachtet und die weitere Entwicklung ausgeblendet, überwiegen die Übereinstimmungen; Unterschiede betreffen höchstens Details. Falsche Herrscher und Herrschersöhne waren eine Folgeerscheinung dynastischer Krisen, sodass ihre Legitimität ihr wichtigstes Attribut war. Die Zeit der Wirren begann mit dem Aussterben der Rurikiden 1598, aber anders als in den westeuropäischen Beispielen wurde Godunovs geringe Legitimität erst während der Hungersnot zu einem größeren Problem. Gleich, ob der erste falsche Dmitrij selbst auf der Flucht vor dem Hunger war76 oder nur den Moment nutzte, er besaß jedenfalls ein feines Gespür für den richtigen Zeitpunkt. Eine Übereinstimmung mit westeuropäischen Beispielen besteht auch darin, dass die samozvancy der Zeit der Wirren im Verdacht stehen, nicht aus eigenem Antrieb aufgetreten zu sein. Wie bereits gesagt, wurde der erste falsche Dmitrij in der Forschung immer wieder mit Intrigen in Verbindung gebracht. Der zweite falsche Dmitrij war das Geschöpf einer Gruppe Adeliger. Die falschen careviči in Astrachan’ könnten von Chvorostinin installiert worden sein. Der dritte und der vierte falsche Dmitrij könnten Marionetten von Zaruckij gewesen sein.77 Mit Ausnahme des zweiten falschen Dmitrij ist die Verstrickung in eine Intrige bei keinem dieser samozvancy beweisbar, jedoch ist bemerkenswert, dass im Unterschied zu späteren Jahrzehnten und Jahrhunderten ein solcher Verdacht überhaupt im Bereich des Möglichen liegt. Demnach stellt sich die Frage, worin samozvanstvo in der Zeit der Wirren trotz dieser Übereinstimmungen von westeuropäischen Beispielen abwich, sodass in den folgenden Jahrzehnten und Jahrhunderten die in Kapitel 3.1 geschilderten Unterschiede in den Vordergrund traten. Die kurze Antwort lautet, dass samozvanstvo in dieser Epoche gewissermaßen omnipräsent war. Aus den nur sieben Jahren zwischen 1605 und 1612 sind 15 sichere und vier fragliche Fälle bekannt. Werden die Aktivitäten aller samozvancy zusammengerechnet, waren von der Aneignung einer fremden Identität weite Teile des Moskauer Reichs betroffen, der Rest des Reiches war durch Hörensagen abgedeckt. Mehrere Städte sahen im Verlauf des Konflikts nicht nur einen, sondern nacheinander mehrere falsche Rurikiden einziehen und ihre Oberherrschaft errichten. Von den in Kapitel 3.1 behandelten westeuropäischen Beispielen sowie den falschen Sebastians lässt sich derlei nicht behaupten. Giannino und La Ramée in Frankreich waren jeweils der einzige falsche Herrscher(sohn). In England
76 Dunning: Russia’s First Civil War, 126. 77 Perrie: Pretenders and Popular Monarchism, 212; Usenko: Novye dannye, 124.
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gab es zur Regierungszeit Heinrichs VII. mit Simnel, Warbeck und Wilford drei falsche Prätendenten. Bercé nennt sechs falsche Sebastians, und es könnte weitere gegeben haben. Allerdings verteilen sie sich auf einen Zeitraum von 15 Jahren und Catizone trat in Italien auf, sodass die Dichte der Abfolge bei weitem nicht an die samozvancy der Zeit der Wirren heranreicht. Den samozvancy der Zeit der Wirren stand mit dem fiktiven Selbstzeugnis des ersten falschen Dmitrij eine erprobte Blaupause zu Verfügung, um ihren Anspruch plausibel erscheinen zu lassen. Indem sie darauf zurückgriffen, trugen sie dazu bei, dass sowohl die Aneignung einer fremden Identität als solche, wie auch das diesbezügliche Vorgehen rasch zu einem Teil des Archivs wurde. Die sehr häufige Wiederholung desselben Musters in sehr kurzer Zeit mit Auswirkungen, die in weiten Gebieten des europäischen Teils des Moskauer Reiches spürbar waren, verankerten samozvanstvo fester als das in anderen Ländern der Fall war. So konnte das Auftreten eines vermeintlichen Mitglieds der Dynastie jederzeit wieder realisiert werden, wurde von den Beteiligten stets verstanden und hatte stets grundsätzlich die Chance auf Erfolg. Speziell der erste falsche Dmitrij war so bekannt, dass er samozvancy auch noch im 18. Jahrhundert mitunter als direkter Bezugspunkt diente. Eines von Pugačevs Manifesten konstruiert mithilfe von »Griška Rasstriga« ein eher schiefes Argument, warum Pugačev der echte Peter III. sei: Der echte Dmitrij sei als Kind gestorben, darum habe der erwachsene falsche Dmitrij erzählen können, was er wolle und sei damit durchgekommen. Peter und Pugačev seien hingegen beide erwachsen und eine Täuschung daher nicht möglich.78 Der verhinderte falsche Peter III. Petr Chripunov träumte hingegen davon, es »Griška Otrep’ev« gleich zu tun.79 Als letzter Punkt ist zu nennen, dass der Sturz des ersten falschen Dmitrij die Sicht der Bevölkerung auf den Zaren auf eine Weise veränderte, welche das Auftreten falscher HerrscherInnen begünstigte. Vasilij Šujskij rechtfertigte den von ihm betriebenen Sturz des ersten falschen Dmitrij damit, dass dieser nicht der sei, für den er sich ausgebe und somit keine Berechtigung zu herrschen habe.80 Dieses Argument war nur ein Vorwand, aber es erschütterte dauerhaft bis dahin bestehende Annahmen über den Zaren. Am Beginn des 17. Jahrhunderts war im Moskauer Reich die Unterscheidung von »wahren« und »falschen« Herrschern seit längerem bekannt. Der wahre Herrscher wurde als pravednyj bezeichnet; das Adjektiv weist darauf hin, dass er derjenige sei, den Gott dazu erwählt habe, den Erhalt von pravda zu garantieren. Ein »falscher« Herrscher hatte sich das Amt im Unterschied 78 Golubcov (Red.): Pugačevščina I, 75. Rasstriga meint einen Mönch, der den geistlichen Stand wieder verlassen hat bzw. dessen wegen eines Vergehens enthoben wurde. 79 RGADA , f. 7, o. 2, d. 2699, l. 55; 59–59 ob. Zu Chripunov siehe Kapitel 4.2. 80 Tjumencev: Smuta, 61.
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dazu kraft der eigenen Willkür angeeignet,81 was pravda verletzte. Diese Zweiteilung ist etwa im »Poslanie na Ugru« (»Sendschreiben an die Ugra«) des Rostover Metropoliten Vassian Rylo aus dem Jahr 1480 zu finden, in dem er den Khan der Goldenen Horde als falschen Herrscher brandmarkt.82 In diesem wie in allen anderen Beispielen, die vor der Zeit der Wirren entstanden, ist der »falsche« Herrscher immer der andere, fremde, während in Moskau wie selbstverständlich der »wahre« Herrscher regiert. Solange die mit pravda verbundenen Vorstellungen Gültigkeit besaßen, wäre etwas anderes gar nicht denkbar gewesen. Der Herrscher konnte sich zwar persönlicher Verfehlungen schuldig machen, aber nicht von vornherein gegen Gottes Willen an die Macht gekommen sein, weil er als Garant der von Gott gewollten Ordnung fungierte. Die Enthüllungen nach dem Sturz des ersten falschen Dmitrij zeigten, dass auch der Zar des Moskauer Reiches ein Betrüger sein konnte und es diesbezüglich keinerlei Sicherheiten gab. Da sich kein Zeitpunkt benennen ließe, an dem dieser Verdacht von einer anderen Sichtweise abgelöst worden wäre, ist anzunehmen, dass er grundsätzlich bis 1917 wirksam blieb, auch wenn er nicht durchgehend deutlich erkennbar ist. Samozvancy und samozvanki konnten, unabhängig davon, ob sie derlei explizit machten oder nicht, nur als Mitglied der Dynastie auftreten, indem sie den regierenden Herrscher zum Usurpator / die regierende Herrscherin zur Usurpatorin erklärten. Sie profitierten davon, dass ein solcher Verdacht seit dem Sturz des ersten falschen Dmitrij ohnehin im Raum stand und die Anschuldigung sehr einfach zu erheben, aber kaum zu widerlegen war. Nach der Zeit der Wirren erörterten mehrere Autoren, welche Lehren aus »Dmitrijs« Regierungszeit zu ziehen seien. Dazu gehörte auch die Frage, ob und wie zukünftig ein Betrüger vom »wahren« Herrscher unterschieden werden könnte. Die Antworten fielen unterschiedlich aus. Ivan Timofeev, der im Auftrag der Romanovy die Thronbesteigung von Michail Romanov legitimieren sollte, vertrat in seinem »Vremennik« (»Zeitbuch«, »Chronik«) den Standpunkt, es gebe keinerlei äußere Anzeichen dafür, ob ein Herrscher von Gott erwählt sei oder nicht. Hingegen vertraten die Fürsten Ivan Chvorostinin und Semen Šachovskoj, zwei der ersten säkularen Autoren im Moskauer Reich, in ihren Geschichtswerken die Ansicht, tyrannisches Verhalten könne durchaus auf einen Betrüger hindeuten.83 Auch später kristallisierten sich zu dieser Frage weder einheitliche, noch in der Praxis belastbare Kriterien heraus. Am weitesten verbreitet war noch die Ansicht, der Erfolg oder Misserfolg eines 81 Uspenskij: Car’ i samozvanec, 146. 82 Ebd., 146; 156. Für den Hintergrund von Rylos Sendschreiben siehe Plaggenborg: Pravda, 62–69. 83 Val᾽denberg, V. E.: Drevnerusskija učenija o prědelach carskoj vlasti. Očerki russkoj političeskoj literatury ot Vladimira Svjatogo do konca XVII věka. The Hague 1966 [Original Petrograd 1916], 366 f.
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Herrschers verrate, ob Gott hinter ihm stehe oder nicht.84 Das bedeutete, solange ein samozvanec / eine samozvanka auf freiem Fuß war, konnten AnhängerInnen nicht restlos ausschließen, dass er / sie tatsächlich die Person war, für die er / sie sich ausgab. Angesichts dessen, dass ihnen auch grundsätzliches Misstrauen entgegenschlagen hätte können, ist das als eine komfortable Ausgangsposition zu werten.
4.2 Die falschen Peter III. Die falschen Peter III. dienen als Beispiel für die Weitergabe von Wissen über samozvanstvo im 18. Jahrhundert. Wie schon im vorhergehenden Unterkapitel zu den samozvancy der Zeit der Wirren steht die Frage im Vordergrund, ob samozvancy, die als dieselbe persona auftraten, voneinander Bescheid wussten und falls ja, wie viel und inwieweit dieses Wissen ihre Performanz beeinflusste. Über Peter III. sind so viele posthume Gerüchte überliefert, dass sich außerdem feststellen lässt, ob die persona in Gerüchten und in der Performanz der falschen Peter III. Übereinstimmungen aufweist. Da Gerüchte in Kapitel 4.1 nur eine marginale Rolle spielten, verändert sich der Aufbau dementsprechend. In den einzelnen Abschnitten wird zuerst herausgearbeitet, welche Eigenschaften der persona Peter III. in Gerüchten zugeschrieben wurden, um diese dann mit der persona zu vergleichen, die samozvancy in ihrer Performanz verkörperten. Zu Gerüchten über Peter III. und den samozvancy unter seinem Namen lässt sich ziemlich viel Sekundärliteratur zusammentragen. Dieses große Interesse ist darauf zurückzuführen, dass mit dem Aufständischen Emel’jan Pugačev und dem Gründer der Skopzen Kondratij Selivanov zwei schillernde Gestalten zu den falschen Peter III. gehörten. Jede Publikation, die sich entweder mit dem Aufstand oder mit den Skopzen befasst, muss die Aneignung einer fremden Identität zumindest erwähnen, wodurch auch ein paar der übrigen falschen Peter III. Aufmerksamkeit erhalten.85 Doch diese Fülle ist nicht gleichzusetzen mit einer systematischen und zufriedenstellenden Behandlung. Vorrevolutionäre Publikationen, die auf die falschen Peter III. Bezug nehmen, hatten vorrangig den Zweck, noch unbekannte Quellen in wissenschaftlichen Umlauf zu bringen. Sie sind daher weitgehend deskriptiv und lassen 84 Usenko: Psichologija social’nogo protesta III, 44. 85 Beispiele sind Engelstein: Castration and the Heavenly Kingdom, 39; Mordovcev: Samo zvancy, 233 f.; Sinjavskij: Ivan-durak, 448 f.; Alexander: Emperor of the Cossacks, 49 f.; Peters, Dorothea: Politische und gesellschaftliche Vorstellungen in der Aufstandsbewegung unter Pugačev 1773–1775. Wiesbaden 1973, 116 f.
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eine klare Fragestellung oder analytischen Tiefgang vermissen.86 Sowjetische AutorInnen wiederum interessierten sich bedingt durch das Klassenkampfschema nur dafür, aus welchen sozialen Schichten die Menschen stammten, die Gerüchte über Peter III. erzählten bzw. sich einem samozvanec anschlossen und womit sie unzufrieden waren. Die persona, um die es ging, war demgegenüber zweitrangig, zumal die Zuschreibungen an sie ohnehin nur als naive Illusionen über den Herrscher aufgefasst wurden.87 Eine positive Ausnahme bildet die Monografie von Aleksandr Myl’nikov.88 Da er sich vorrangig für den echten Peter III. interessierte, schenkte er auch der von ihm abgeleiteten persona Aufmerksamkeit. Jedoch verfiel Myl’nikov wie die übrigen genannten AutorInnen in den Fehler, die persona Peter III. als etwas Ahistorisches zu betrachten. Dieser Fehler äußert sich in zwei Annahmen, von denen alle bisherigen Publikationen über die falschen Peter III. geleitet sind. Eine lautet, die persona Peter III. sei immer dieselbe gewesen – alle Gerüchte hätten von derselben persona berichtet, alle samozvancy hätten dieselbe persona verkörpert. Die zweite Annahme lautet, Gerüchte über Peter III. und das Auftreten der sa mozvancy unter seinem Namen stünden stets in direktem Zusammenhang mit dem echten Kaiser. Die weitverbreitete, unter anderem von Čistov, Dorothea Peters und Myl᾽nikov vertretene These, dass auf der einen Seite Maßnahmen des echten Peter III. und auf der anderen Seite die Umstände seines Todes dazu beitrugen, ihn für Gerüchte interessant zu machen, trifft zweifellos zu. Bauern und Bäuerinnen interpretierten etwa unter anderem die Säkularisierung kirchlichen Grundbesitzes und die Befreiung der Adeligen von der Dienstpflicht als Zeichen für Peters besonderes Wohlwollen gegenüber den Leibeigenen.89 Peter III. starb relativ jung, nach nur sechs Monaten Regierungszeit und unter nicht restlos geklärten Umständen. Das machte ihn zusätzlich zu einem guten Objekt für Spekulationen. Allerdings blieb die persona Peter III. nicht auf dem Status quo vom Juli 1762 stehen, und ihre Weiterentwicklung hatte schon nichts mehr mit dem echten Kaiser zu tun. In diesem Kapitel wird gezeigt, dass der Pugačev᾽sche Aufstand nicht nur die Entwicklung der persona als solche anstieß, sondern auch bestimmte, in welche Richtung sie verlief. Um die Veränderung deutlich
86 Beispiele sind O. N.: Otgoloski Pugačevskago bunta. Po archivnym dokumentam. In: RS 122 (1905), 662–670; Judin, P. L.: K istorii Pugačovščiny. In: RA 5/1896, 5–46; 6/1896, 161–184; Mordovcev: Samozvancy. 87 Beispiele sind Orlov: Pugačevščina v Sibiri; Poberežnikov, I. V.: Massovye vystuplenija krest’jan zapadnoj Sibiri v XVIII veke. Novosibirsk 1989. 88 Myl’nikov: Iskušenie čudom. 89 Peters: Politische und gesellschaftliche Vorstellungen, 106 f.
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zu machen, zerfällt das Kapitel chronologisch in die Zeit vor und nach dem Aufstand. Der fürsorgliche Kaiser (1763–1773)
Es ist nicht eindeutig bestimmbar, wie viel Zeit zwischen dem Tod Peters III. am 6. Juli 1762 und dem Aufkommen der ersten Gerüchte verging, dass er noch am Leben sei. Myl’nikov behauptet, in St. Petersburg habe es bereits Ende Juli 1762 derartige Gerüchte gegeben.90 Das wäre ein bemerkenswert früher Zeitpunkt. Doch in der von Myl’nikov zitierten Quelle steht weder an der angegebenen, noch an einer anderen Stelle etwas davon. Ataman Fedor Krysa machte eine Anzeige, weil die Menschen in »Kleinrussland« im Juli 1762 darüber geredet hätten, dass Peter III. noch am Leben sei.91 Wie sich herausstellte, handelte es sich um eine Falschanzeige. Die Motive dafür waren Geltungsdrang und die Belohnung, die Krysa für eine richtige Anzeige zugestanden wäre.92 So ist fraglich, was mit dieser Information anzufangen ist. Hier gibt es zwei Möglichkeiten, von denen sich keine nachweisen lässt. Krysa meldete zum einen unbestimmt »verschiedenes Gerede in der Bevölkerung« (raznye reči v narode),93 zum anderen bezichtigte er konkret einen gewissen Andrej Gubčič, den Tod Peters III. bezweifelt zu haben. Die Untersuchung konzentrierte sich deswegen auf Gubčič, der die Vorwürfe so lange bestritt, bis Krysa die Falschanzeige gestand. Es könnte aber durchaus sein, dass jemand anderer Gerüchte über Peter III. verbreitet hatte, der durch die Kollektivbezeichnung narod vor einer Verhaftung geschützt blieb. Ebenso denkbar ist, dass Krysa mit seiner Anzeige Gerüchte vorwegnahm, die erst später kursierten. Wie in Kapitel 3.1 ausgeführt, waren Versicherungen, ein verstorbenes Mitglied der Dynastie sei in Wahrheit noch am Leben, nichts Ungewöhnliches. Angesichts dessen hätte sich Krysa mühelos ein Gerücht über Peter III. ausdenken können, das dem gängigen Muster entsprach und etwas später in ähnlicher Form tatsächlich aufkam. Für 1763 ist das Bild klarer. Im Oktober dieses Jahres wurde der spätere samozvanec Anton Aslanbekov, der im Dorf Boškatovo in der Nähe von Sumy lebte, zum ersten Mal sicher mit dem Namen Peters III. in Verbindung gebracht, und das wahrscheinlich ganz ohne eigenes Zutun.94 In der Gegend müssen derartige Gerüchte schon früher kursiert und den Einheimischen 90 91 92 93 94
Myl’nikov: Iskušenie čudom, 109. RGADA , f. 7, o. 2, d. 2065, l. 25. Ebd., l. 30. Zur Belohnung für Anzeigen siehe Anisimov: Dyba i knut, 165. RGADA , f. 7, o. 2, d. 2065, l. 25. RGADA , f. 349, o. 1/č. 1, d. 7086, l. 158.
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glaubwürdig erschienen sein. Andernfalls hätten sie den neu zugezogenen Aslanbekov nicht für den verstorbenen Kaiser gehalten, während er sich selbst völlig unauffällig verhielt. Ab 1763 lässt sich also die persona Peter III. festmachen, und ab diesem Zeitpunkt wurden ihr bestimmte Absichten und Eigenschaften zugeschrieben, die nun herausgearbeitet werden sollen. Die Gerüchte aus dem fraglichen Zeitraum geben zum Teil nur an, dass Peter III. noch am Leben sei.95 Falls sie mehr an Inhalt aufweisen, unterstreichen sie die Fürsorge des Kaisers für seine Untertanen: Peter III. sei bereits seit zwei Jahren als Wachtmeister (vachmistr) verkleidet mit einer Abteilung Dragoner unterwegs und inspiziere »Kleinrussland«.96 1765 erzählte der Soldat Michail Grišin im »kleinrussischen« Dorf Rogozov, Peter III. besuche inkognito alle Regimenter, er befinde sich gegenwärtig in »Kleinrussland«, habe einem Mann Geld gegeben und den Soldaten Unterwäsche und Schuhe gebracht und was sie sonst noch bräuchten. Außerdem werde er im Mai einen Ukaz erlassen97 − was dieser Ukaz beinhalten sollte, sagte Grišin nicht. Ebenfalls 1765 erzählte Fekla Makarova ihrer Bekannten Ustin’ja Zav’jalova im Gouvernement Nižnij Novgorod, Peter III. werde zu Peter und Paul oder zu Maria Himmelfahrt zurückkehren und dann werde es wohl große Veränderungen geben98 − Makarova ließ offen, worin diese Veränderungen bestehen würden. 1767 kursierten bei Nižnij Novgorod Gerüchte, Peter III. werde in Kürze den Thron besteigen und alle Leibeigenen zu Staatsbauern machen.99 Das Los von Staatsbauern galt als leichter als das von Leibeigenen, sodass diese Maßnahme unter Fürsorge fällt. In diesen Beispielen und anderen Gerüchten aus dem fraglichen Zeitraum ähnelt Peter III. dem von Yves-Marie Bercé beschriebenen Typ des roi caché bzw. dem Untertyp des informierten Königs (roi avisé): Er bereist das Reich, um Neues zu erfahren und Gutes zu tun. Ein Herrscher, der seine gewohnte Umgebung verlässt, um selbst zu sehen, wie die Menschen in seinem Reich leben, legt ein gesundes Misstrauen gegenüber Höflingen an den Tag und demonstriert Sorge für das Wohlergehen seiner Untertanen.100 Eine solche Inspektionsreise ist auch die Voraussetzung dafür, dass der Herrscher unmittelbar und persönlich Missstände beseitigen kann.101 Die Darstellung eines Herrschers als roi caché war weder eine Besonderheit des 18. Jahrhunderts, noch des Russländischen Reiches, sondern gehörte zum Grundinventar europäischer Herrscherbilder. Demnach wäre der Schluss 95 96 97 98 99 100 101
Poberežnikov: Massovye vystuplenija, 88. Otgoloski, 664. RGADA , f. 7, o. 2, d. 2192, l. 1–1 ob. RGADA , f. 7, o. 2, d. 2180, l. 1. RGADA , f. 7, o. 2, d. 2241, l. 14. Bercé: Le roi caché, 270. Ebd., 402.
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naheliegend, der echte Peter habe keine Grundlage geboten, um der persona individuelle Züge zu verleihen. Allerdings könnte es sein, dass Peter III. als empereur caché dargestellt wurde, weil seine Maßnahmen als Fürsorge interpretiert werden konnten und dieser Typ am besten zu ihm passte.102 In dieser Hinsicht ist zum einen zu nennen, dass Peter III. Altgläubigen, Muslimen und »Götzenanbetern« die freie Religionsausübung gestattete. Altgläubige bekamen nun nach der eingeschränkten Toleranz, die Peter I. eingeführt hatte (siehe Kapitel 3.3) erstmals eine legale Existenz. Peter III. versuchte auch, behördliche Willkür im Umgang mit den Altgläubigen einzudämmen und Anreize zu schaffen, damit Altgläubige aus der Rzeczpospolita ins Russländische Reich zurückkehren würden. Zum anderen machte die Säkularisierung kirchlichen Grundbesitzes Kirchenbauern und -bäuerinnen zu Staatsbauern und -bäuerinnen. Gemeinsam mit flankierenden Maßnahmen wie der Umstellung von willkürlich festgesetzten Abgaben auf einen festen Zins (obrok) verbesserten sich die Lebensumstände der Betroffenen deutlich.103 Die Säkularisierung spiegelt sich in dem angeführten Gerücht von 1767, während die Ankündigung von unspezifischen Manifesten und Veränderungen darauf zurückzuführen sein könnte, dass Peter III. in seiner kurzen Regierungszeit nur wenige Reformen umgesetzt hatte, die sich aber zum Vorteil seiner Untertanen ausgewirkt hatten. In den angeführten Gerüchten lässt sich aber auch eine Spitze gegen Katharina II. erkennen. Wenn sich Peter III. um seine Untertanen kümmert, entspricht er nicht nur einem Idealbild, sondern es könnte auch bedeuten, dass Katharina unterstellt wurde, derlei zu verabsäumen. Neben der Abwertung Katharinas als Usurpatorin und angeblich a priori zur Herrschaft ungeeigneter Frau könnte die scheinbar mangelnde Fürsorge als ein weiteres Argument gedient haben, warum Peter III. der »richtige« Herrscher sei. Vor Beginn des Pugačev᾽schen Aufstandes traten im Russländischen Reich acht falsche Peter III. auf. Über Grigorij Rjabov104 ist zu wenig bekannt, um bestimmen zu können, welche Eigenschaften er der von ihm verkörperten 102 Für diesen Hinweis und den Literaturhinweis in der nächsten Fußnote danke ich Aleksandr Lavrov. 103 Gonneau, Pierre / Lavrov, Aleksandr / Rai, Ecatherina: La Russie impériale. L᾽Empire des tsars, des Russes et des non-Russes (1689–1917). Paris 2019, 77 f. 104 Oleg Usenko zufolge gab sich Rjabov nicht als Peter III . aus (Usenko: Monarchičeskoe samozvančestvo, 304.). Die einzige bekannte Quelle zu diesem samozvanec ist ein Bericht des Generalgouverneurs von Sibirien Denis Čičerin vom November 1773, der in edierter Form knapp zwei Seiten lang ist (Putincev: Samozvanec Rjabov.). Das wirft naturgemäß das Problem auf, dass einzelne Details verzerrt oder schlicht falsch dargestellt sein könnten und es keine Möglichkeit gibt, das zu überprüfen. Aus Čičerins Text heraus lässt sich jedoch nicht begründen, warum die Angaben zur Gänze falsch sein sollten. Es ist daher angemessener, den Bericht unter Vorbehalten für zuverlässig zu halten als ihn apodiktisch zu verwerfen.
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persona verlieh. Mit Nikolaj Kolčenko, Petr Černyšev, Fedot Bogomolov und Nikolaj Kretov orientierten sich vier samozvancy nicht am fürsorglichen Kaiser. Kolčenko meinte, das Ganze sei nur ein »Scherz« gewesen,105 was wohl bedeutet, dass er sich keine Gedanken gemacht hatte, wofür die persona stehen sollte. Černyšev war stark betrunken, als er sich Peter III. nannte106 und plante gleichfalls nicht voraus. Bogomolov wollte aus dem Gefängnis befreit werden und verließ sich dabei rein auf die Wirkung des Namens Peter III. (siehe unten). Kretov war primär ein moščennik,107 d. h. jemand, der einen Betrug durchführt, um an Geld zu kommen, und daher wenig an der Ausgestaltung der persona interessiert. Die übrigen vier samozvancy brachten unterschiedliche Aspekte von Fürsorge in ihre Performanz ein. Michail Ivanov ist der obskurste von ihnen. Er ließ 1764 bei seinem Quartiergeber Tichon Fedorov einen Schuldschein und einen Zettel mit einem Text zurück. Da Fedorov Analphabet war, bat er seinen Bekannten Nikifor Semenov, den Zettel zu lesen. Semenov charakterisierte den Text im Verhör treffend als »Gefasel über Bienen« (bredni o pčelach).108 Es könnte sich um einen Auszug aus einer Prophezeiung oder aus einem Text handeln, der zur Weissagung benutzt wurde; jedenfalls ist es unmöglich, daraus etwas abzuleiten. Allerdings hatte sich Ivanov notiert, wer in der Umgebung Leibeigene als Arbeiter beschäftigte.109 Damit erweckte er den Anschein, etwas für diese Arbeiter tun zu wollen. Gavrila Kremnev präsentierte sich durch ein Manifest als fürsorglicher Kaiser, dessen Veröffentlichung er zuerst als Abgesandter des Kaisers und dann als Peter III. ankündigte. Rekrutenaushebungen sollten für zwölf Jahre ausgesetzt, das staatliche Monopol auf Alkohol sowie alle Steuern abgeschafft werden.110 Ebenfalls zu diesem Bild passt, dass Kremnev die Einhöfer bedauerte, weil sie allerlei Unrecht erleiden müssten111 und seinen Anhängern befahl, in der Nachbarschaft zu erzählen, die »Hoffnung« Peter III. komme, um die Dörfer zu inspizieren.112 Bei Anton Aslanbekov war die Fürsorge dadurch gegeben, dass er Kranke behandelte.113 Als Arzt zu arbeiten bedeutet, sich um andere Menschen zu kümmern und sich in ihren Dienst zu stellen – das gilt auch, obwohl Aslanbekov seine Dienste nicht aus Nächstenliebe anbot, sondern um Geld zu ver105 106 107 108 109 110 111 112 113
RGADA , f. 6, o. 1, d. 404, l. 5. RGADA , f. 6, o. 1, d. 406, l. 1. RGADA , f. 6, o. 1, d. 535, l. 50. RGADA , f. 349, o. 1/č. 1, d. 7199, l. 4 ob.
Ebd., l. 3. RGADA , f. 6, o. 1, d. 402, l. 8. Ebd., l. 106. Ebd., l. 40 ob. RGADA , f. 349, o. 1/č. 1, d. 7086, l. 6.
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dienen. Ein Herrscher, der anonym kranke Untertanen behandelt, verkörpert den Aspekt der Fürsorge genau genommen sogar besser als der Herrscher, der nur inspiziert und Eindrücke sammelt. Bei Zweiterem ist ja nicht sicher, dass danach auch Verbesserungen erfolgen werden. Bei der Hälfte der Fälle bestand also eine Übereinstimmung zwischen der persona in Gerüchten und in der Performanz von samozvancy, bei der anderen Hälfte war die persona so wenig ausgeprägt, dass sich nichts Bestimmtes über sie sagen lässt. Allerdings verlieh kein samozvanec ihr eine Tendenz, die mit dem fürsorglichen Kaiser nicht vereinbar gewesen wäre. Das ist durchaus bemerkenswert, weil die falschen Peter III. nichts von der Existenz der jeweils anderen wussten, obwohl mit Kolčenko, Aslanbekov, Kremnev und Černyšev vier der ersten fünf samozvancy in großer geografischer Nähe zueinander agierten. Anders ausgedrückt, sie kamen unabhängig voneinander auf übereinstimmende Lösungen. Am kuriosesten in das bereits angeführte Beispiel von Kremnev und Černy šev, die am selben Tag nur wenige verst voneinander entfernt als Kaiser auftraten. Interessant ist an diesem Fall auch, dass beide die Idee, sich für Peter III. auszugeben, von einem Kameraden hatten. Kremnev diente gemeinsam mit einem gewissen Anton Golovin, der ihm zufolge ankündigt hatte, er werde sich Souverän nennen und einen Ukaz schreiben. Wenig später sei Golovin mit anderen Soldaten Richtung Rzeczpospolita aus dem Regiment geflohen. Kremnev beschloss, es ihm gleichzutun.114 Černyšev hatte die Idee von dem Soldaten Savelij Kaširin.115 Weder Golovin, noch Kaširin war verfügbar, um befragt zu werden. Somit ist nicht sicher, ob sich Kremnev und Černyšev tatsächlich von den beiden inspirieren ließen. Die Aussagen der samozvancy erscheinen aber glaubwürdig, weil sie mit dem Verweis auf ihre Kameraden nicht ihre Eigeninitiative und Schuld bestritten. Sich für ein Mitglied der Dynastie auszugeben war anscheinend für ziemlich viele Menschen eine Option, und es könnte mehr falsche Peter III. als die heute bekannten gegeben haben. Nicht nur Kremnev und Černyšev agierten in großer geografischer Nähe zueinander, sondern auch Aslanbekov und Černyšev. Aslanbekov war in der Umgebung von Sumy und in Belgorod aktiv, Kolčenko in dem Gebiet, dessen administratives Zentrum Gluchov (ukr. Hluchiv) war – Näheres geht aus dem Akt nicht hervor. Kremnev und Černyšev traten in der Umgebung von Voronež auf, das heißt, etwas weiter östlich, aber nicht allzu weit von den früheren samozvancy entfernt. Ivanov passt als Einziger nicht in dieses Muster. Sein Quartiergeber Fedorov wohnte in der Nähe von Rjazan’, allerdings ist unbekannt, wo sich Ivanov zuvor aufgehalten hatte.
114 RGADA , f. 6, o. 1, d. 402, l. 185 ob. 115 RGADA , f. 6, o. 1, d. 406, l. 3.
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Voraussetzungen der Performanz
Die gerade umrissene Gegend könnte auch der Ausgangspunkt für eine länderübergreifende Dimension der persona Peter III. gewesen sein. 1766 tauchte in Montenegro Stefan Mali auf,116 den die Einheimischen für Peter III. hielten und der mit der Autorität des Kaisers de facto sechs Jahre lang das Land beherrschte. Es ist nicht klar, wie Stefans richtiger Name lautete und woher er stammte, darum sind nur Spekulationen möglich, wie er auf die Idee kam, sich für Peter III. auszugeben. Sein Gebaren wirkte aber auf viele Zeitgenossen so, als habe er selbst dem geistlichen Stand angehört oder sei zumindest der Diener eines Geistlichen gewesen. Daher stellte Myl’nikov die These auf, Stefan könnte einer der Gesandtschaften angehört haben, die aus Südosteuropa ins Russländische Reich kamen, um liturgische Bücher zu kaufen. Eine solche Gesandtschaft hätte üblicherweise eine Route genommen, die durch genau jenes Gebiet führte, in dem Aslanbekov, Kolčenko, Kremnev und Černyšev aktiv waren. So hätte er unterwegs etwas von den samozvancy und / oder Gerüchte über Peter III. hören können.117 Während diese vier falschen Peter III. nur ein relativ kleines Gebiet abdeckten, sind Gerüchte über den Kaiser im gesamten europäischen Teil des Reiches nachweisbar. Die geografische Nähe der samozvancy lässt sich an einer Landkarte ohne Schwierigkeiten ablesen, allerdings fehlt eine ebenso eindeutige Begründung. Aus sowjetischer Sicht wäre der Fall klar. Die genannten samozvancy agierten an den nördlichen Ausläufern des Schwarzerdegürtels, des wichtigsten Agrargebiets des Russländischen Reiches, wo folglich die Leibeigenschaft stark ausgeprägt war. Falsche Mitglieder der Dynastie waren in der sowjetischen Deutung Kämpfer gegen die Leibeigenschaft und traten dort auf, wo die Unfreiheit besonders drückend war. Während ein Zusammenhang zwischen bäuerlicher Unfreiheit und sa mozvanstvo grundsätzlich nicht auszuschließen ist, lässt er sich bei den falschen Peter III. nicht nachweisen. Kolčenko war Soldat; Ivanov, Kremnev und Černyšev waren Offiziere. Während für das Russländische Reich die Rede vom Soldaten als Bauer in Uniform insgesamt zutreffend ist, passt sie bei diesen falschen Peter III. nicht. Über Ivanovs soziale Herkunft ist nichts bekannt. Kremnev und Černyšev waren Einhöfer, hätten also selbst Leibeigene besitzen dürfen. Da dieses Recht ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal zwischen Einhöfern und freien Bauern darstellte und Einhöfer in der Regel sehr statusbewusst waren, sind sie eher nicht als Gegner der Leibeigenschaft anzusehen. Tatsächlich versprach Kremnev seinen Anhängern, ihnen als Belohnung Dörfer mit Leibeigenen zu schenken.118 Aslanbekov war Zivilist und als Sohn eines armenischen Händlers frei geboren. Kolčenko war als Einziger 116 Zu ihm siehe Jacimirskij, A. I.: Lže-Petr III u černogorcev. In: IV 109 (1907), 515–546; Mordovcev: Samozvancy, 1–71; Myl’nikov: Iskušenie čudom, 117–139. 117 Myl’nikov: Iskušenie čudom, 128 f. 118 RGADA , f. 6, o. 1, d. 402, l. 12 ob.
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in dieser Gruppe sicher als Leibeigener geboren worden. Da also mehrheitlich nicht von Leibeigenen abstammende Militärangehörige und Zivilisten teils in ihren eigenen Regimentern, teils in von EinhöferInnen bewohnten Dörfern auftraten, lässt sich kein Zusammenhang mit einem Kampf gegen die Leibeigenschaft herstellen. Die sich schon bei Kremnev und Černyšev abzeichnende Ostwanderung der persona Peter III. verstärkte sich durch den samozvanec Fedot Bogomolov, der in der Sekundärliteratur auch unter seinem Alias Kazin aufscheint.119 An ihm lässt sich gut nachvollziehen, wie sich Wissen über einen samozvanec verbreitete und auf spätere Fälle auswirkte. Er erregte so viel Aufsehen, dass er zwei späteren falschen Peter III. (Pugačev und Rjabov) als Vorbild diente und die Glaubwürdigkeit eines dritten (Kretov) unterminierte. Der Einfluss auf Pugačev wird in der Sekundärliteratur üblicherweise erwähnt,120 aber hier sollen auch Rjabov und Kretov berücksichtigt werden. Bogomolov war ein Leibeigener, der zu den Don-Kosaken floh und Anfang 1772 unter dem Namen Kazin in die Moskauer Legion des Don-Heeres121 eintrat. Nur Tage später nannte er sich unter Alkoholeinfluss Peter III., was zunächst ohne Folgen blieb. Als nicht weit von Bogomolovs Dienstort Dubovka zwischen Kosaken und ihren Vorgesetzten ein Streit über die Höhe der Entlohnung (žalovan’e) entbrannte, beschlossen mehrere Kosaken, ihn zu holen und »Peter III.« zum Kaiser auszurufen. Im letzten Moment bekamen sie kalte Füße, legten Bogomolov in Ketten und lieferten ihn an die Behörden aus. Er wurde in die Festung von Caricyn gebracht.122 Bogomolovs große Bekanntheit geht auf seine Haft in Caricyn zurück. Als sich die Exekution des Urteils verzögerte, weil der Scharfrichter krank war, versuchte Bogomolov fieberhaft, die Wachsoldaten davon zu überzeugen, dass er wirklich der Kaiser sei, damit er noch vor der Ankunft des Ersatzhenkers fliehen konnte. Zunächst schien der Plan aufzugehen. Bald wusste ganz Caricyn, dass Peter III. in der Festung gefangen sei.123 Im Juli schmiedeten die
119 Die beiden falschen Peter III . namens Bogomolov dürfen nicht verwechselt werden: Gavrila Kremnev nannte sich nach der Flucht aus seinem Regiment Hauptmann Ivan Bogomolov. Fedot Kazin wiederum wurde als Bogomolov geboren, nannte sich aber nach seiner Flucht von den Ländereien des Grafen Voroncov Kazin. Bogomolov ist also das Pseudonym des ersten und der echte Name des zweiten, sodass sich Bogomolov nicht an Kremnev orientiert haben kann. 120 Čistov: Russkie narodnye social’no-utopičeskie legendy, 151; Myl’nikov: Iskušenie čudom, 154. 121 Bei der Moskauer Legion handelte es sich um Regimenter, in denen zwar Kosaken dienten, die sich aber sonst nicht von den übrigen Infanterieregimentern unterschieden. Siehe dazu auch Kapitel 5.1. 122 Dubrovin: Pugačev i ego soobščniki, 106–108. 123 Ebd., 109.
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Kosaken in zwei nahegelegenen Dörfern Pläne, wie sie ihn befreien könnten, doch die Verschwörung wurde aufgedeckt und Bogomolov so rasch wie möglich nach Sibirien geschickt. Er starb unterwegs.124 Grigorij Rjabov war nach Bogomolov und vor Pugačev aktiv; näher lässt sich der Zeitpunkt seines Auftretens nicht bestimmen. Er war ein Räuberhauptmann aus dem Gouvernement Astrachan’, der bei der Zwangsarbeit in Nerčinsk drei von Bogomolovs Anhängern kennen lernte: die Kosaken Stepan Pevčij und Ivan Seredincev sowie den gewesenen Popen Nikifor Grigor’ev.125 Pevčij und Grigor’ev hatten unabhängig voneinander in Caricyn gehört, dass Peter III. in der Festung gefangen gehalten werde, waren Bogomolov besuchen gegangen und hatten sich überzeugen lassen, dass er wirklich der Kaiser sei.126 Danach waren beide in die Vorbereitungen für seine Befreiung verstrickt gewesen. Seredincev hatte in der Tri-Ostrovjanskaja stanica gelebt und war von Ivan Semennikov, einem weiteren von Bogomolovs Anhängern, angeworben worden, um »Peter III.« aus der Festung zu befreien.127 Pevčij, Seredincev und Grigor’ev flohen gemeinsam mit Rjabov aus Ner činsk. Unterwegs nannte sich Rjabov Peter III. und scharte Anhänger um sich, bis er mit seinen Komplizen in Verchotur’e verhaftet wurde. Es ist unbekannt, ob Bogomolovs ehemalige Anhänger Rjabov dazu angestiftet hatten, sich für den Kaiser auszugeben oder ob er durch die Erzählungen der drei selbst auf die Idee gekommen war. Jedenfalls waren es in diesem Fall Anhänger eines früheren samozvanec, die das Wissen über ihn verbreiteten. Rjabov wurde als Kopf der Bande und samozvanec nach Moskau geschickt, Pevčij, Grigor’ev und Seredincev wurden in Tobol’sk inhaftiert. Als die drei dort im September 1773 hörten, dass Pugačev auf Orenburg marschiere, begannen sie erneut, im Namen Peters III. zu agitieren.128 In den Monaten vor dem Beginn des Pugačev᾽schen Aufstandes war Bogo molovs Name unter den Jajk-Kosaken in aller Munde.129 Pugačev erfuhr von seinem Komplizen Ivan Zarubin (alias Čika) von Bogomolov130 und integrierte dessen Geschichte in sein fiktives Selbstzeugnis. Pugačev selbst war 1772 als Deserteur verhaftet und erst nach Simbirsk gebracht, später nach Kazan’ überstellt worden. Dort war ihm nach ein paar Monaten die Flucht gelungen.131 In einer Version seines fiktiven Selbstzeugnisses als Peter III. sagte er wahr-
124 125 126 127 128 129 130 131
Mordovcev: Samozvancy, 96. Putincev: Samozvanec Rjabov, 59. Dubrovin: Pugačev i ego soobščniki, 119; 123. Ebd., 125 f. Putincev: Samozvanec Rjabov, 59 f. Alexander: Emperor of the Cossacks, 56. Myl’nikov: Iskušenie čudom, 154. Mordovcev: Samozvancy, 227.
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heitsgemäß, er sei in Kazan’ inhaftiert gewesen.132 Ein anderes Mal erzählte er allerdings, er sei in Caricyn inhaftiert gewesen und von dort geflohen.133 Pugačev war niemals in Caricyn im Gefängnis; vielmehr tat er so, als wäre Bogomolovs Geschichte die seine. Dadurch erhöhte er die Glaubwürdigkeit seiner Angaben. Wie bereits gesagt, war weit über Caricyn hinaus bekannt, dass »Peter III.« dort in der Festung gewesen sei. Gerüchte wirken glaubwürdiger, wenn sie bereits vorhandene Informationen bestätigen,134 und von demselben Effekt profitierten samozvancy und samozvanki, deren fiktives Selbstzeugnis auf Gerüchte anspielte. Der Offizier Nikolaj Kretov wurde im April 1773 von St. Petersburg nach Orenburg versetzt und gab sich bald nach seiner Ankunft für Peter III. aus. Als Pugačev im September auf Orenburg marschierte, kamen Kretovs wichtigstem Anhänger, dem Kaufmann Andrej Sagajdašnikov, Zweifel an dessen Geschichte, immerhin gab es nun zwei Peter III. zur Auswahl. Er sprach Kretov direkt darauf an. Dieser schimpfte, das sei alles Unsinn (pustoe) und nannte Pugačev einen Schlawiner (plut), konnte aber Sagajdašnikovs Zweifel nicht ganz zerstreuen.135 Kretovs Quartiergeber Christian Kahlow wiederum behauptete im Verhör, er habe Sagajdašnikov gleich gesagt, dass Kretov genauso ein Betrüger sei wie es Kazin (recte Bogomolov) im vergangenen Jahr in Caricyn gewesen sei. Von Bogomolov hatte ihm ein Bewohner von Caricyn erzählt, der nach Orenburg verbannt worden war.136 Kahlow erstattete aber erst Anzeige, als sich Pugačev Orenburg näherte und ihm Befürchtungen kamen, Kretov könnte ebenfalls üble Absichten haben.137 Als Sagajdašnikov und Kahlow diese Aussagen machten, war Kretov nicht mehr am Leben.138 Es gibt also keine Möglichkeit, zu überprüfen, ob Kahlow wegen Bogomolov tatsächlich von Anfang an auf Distanz zu Kretov ging und ob Sagajdašnikov wegen Pugačev tatsächlich an Kretov zu zweifeln begann bzw. wie tief seine Zweifel gingen. Sicherlich zeigten sich beide im Nachhinein besonders kritisch, um den Kontakt mit Kretov möglichst unverdächtig aussehen zu lassen. Es ist aber nachvollziehbar, dass Pugačev bei Kretov ebenso wie bei seinen Anhängern für Irritationen sorgte. Die persona Peter III. während des Aufstandes bedarf keiner näheren Ausführung, weil davon auszugehen ist, dass ihre Aktivitäten für die meisten 132 133 134 135 136 137 138
Golubcov (Red.): Pugačevščina II, 187. Myl’nikov: Iskušenie čudom, 154. Kapferer: Gerüchte, 101. RGADA , f. 6, o. 1, d. 535, l. 5 ob. Ebd., l. 29. Ebd., l. 12 ob. Er starb im Juni 1774 in Haft (Ebd., l. 7.). Die Haftbedingungen bzw. Auswirkungen der Folter sind als Todesursache ebenso wahrscheinlich wie die Folgen von Alkoholmissbrauch.
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Zeitgenossen mit Pugačevs Aktivitäten ident waren. Allerdings ist kurz zu skizzieren, welche Umstände der Erhebung die Entwicklung der persona nach deren Niederschlagung beeinflussten. Wichtig sind hier zunächst die reale Gewalt und Zerstörung, welche gleichermaßen auf das Konto der Aufständischen wie der regulären Armee gingen. Nicht alles davon kann realistischerweise auf Pugačev selbst zurückgeführt werden, aber weil Peter III. als Anführer der Erhebung galt, färbte die Gewalt gewissermaßen auf ihn ab, zumal auch der Inhalt der im Namen von Pugačev als Peter verbreiteten Manifeste zum Teil ausgesprochen blutrünstig ausfiel.139 Zweitens ist die räumliche Ausdehnung relevant. Der von Pugačev angeführte Aufstand erstreckte sich über ein Gebiet, das – vom ersten und zweiten falschen Dmitrij abgesehen – den Wirkungskreis jedes anderen samozvanec im Untersuchungszeitraum übertraf. Zudem bewirkte die durch den Aufstand ausgelöste Staatskrise, dass Pugačevs Name weit über das eigentliche Kampfgebiet hinausgehend praktisch im gesamten Russländischen Reich bekannt war. Außerhalb der vom Aufstand erfassten Gebiete war das Wissen über ihn allerdings schlechter verankert. Das zeigt das Beispiel des Einhöfers Matvej Agafonov aus der Provinz Kursk. Er wurde 1783 verhaftet, weil er erzählt hatte, ein gewisser Popugaj oder Pugač nehme am Don Männer in seinen Dienst.140 Offensichtlich war Pugačev gemeint, doch Agafonov hatte allem Anschein nach keine Ahnung, wer da angeblich Kämpfer anwarb und stellte überhaupt keine Verbindung zu dem Aufstand her, der weniger als zehn Jahre zurücklag. Selbstredend könnte er seine Ahnungslosigkeit nur vorgeschützt haben, doch darauf deutet nichts hin. Wegen Pugačevs großer Bekanntheit war es nie glaubwürdiger als nach dem Aufstand, dass Peter III. in naher Zukunft weitere Lebenszeichen von sich geben würde. Mehrheitlich hatte sich die Bevölkerung davon überzeugen lassen, dass der Kaiser tatsächlich noch lebe und mit einer Armee zurückgekehrt sei, um den Thron zurückzuerobern. Keiner der früheren falschen Peter hatte es geschafft, diesen Nachweis zu erbringen, weil keiner so erfolgreich gewesen war. Drittens waren die Aufständischen für rund ein halbes Jahr überaus erfolgreich. Im Frühjahr 1774 musste Katharina II. sogar befürchten, dass Pugačevs Truppen auf Moskau marschieren und dadurch ihren Thron ernsthaft in Gefahr bringen könnten. Umso rascher war der Niedergang, der mit Pugačevs Verhaftung im Herbst besiegelt wurde. Mit der Niederschlagung des Aufstan139 Peters: Politische und gesellschaftliche Vorstellungen, 108. 140 RGADA , f. 7, o. 2, d. 2630, l. 1–1 ob. Popugaj heißt an sich ›Papagei‹, doch in diesem Fall handelt es sich um eine Spontanbildung, von deren Bedeutung weiter unten die Rede sein wird.
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des entstand ein Spannungsfeld zwischen der Hinrichtung von Pugačev als bis dahin letzte Manifestation des Kaisers und der Erwartung, dass der Kampf in naher Zukunft fortgeführt werden würde. Pugačev, Pugačevs Nachfolger und Peter III. (1775–1827)
In den Gerüchten, die nach Pugačevs Hinrichtung kursierten, sind zwei Strategien erkennbar, damit umzugehen. In der ersten Variante war Pugačev allem Anschein nach weiterhin mit Peter III. ident, wenngleich das Verhältnis zwischen den beiden personae nicht eindeutig bestimmt wird. Die dement sprechenden Gerüchte besagten, Pugačev habe sich retten können und an seiner Stelle sei jemand anderer hingerichtet worden.141 Die möglichen Vorbilder dafür sind die schon mehrfach erwähnte Räuberfolklore und ältere Gerüchte über das Überleben anderer verstorbener Mitglieder der Dynastie wie Aleksej Petrovič oder Peter II. Die zweite Strategie bestand darin, Pugačevs Hinrichtung hinzunehmen, nicht aber die Niederschlagung des Aufstandes. Dazu war es notwendig, einen neuen Anführer zu benennen. Dieser Anführer konnte Peter III. sein, der (wieder) von Pugačev entkoppelt wurde. Schon zu Pugačevs Lebzeiten hatten keineswegs alle, die von der Rückkehr Peters III. überzeugt gewesen waren, geglaubt, der Kosake und der Kaiser seien ein und dieselbe Person. Beispielsweise bezeichnete der Moskauer Dienstbote Vasilij Pustynin Pugačev im Februar 1774 lediglich als Peters Kommandant, der sich am selben (unbekannten) Ort aufhalte wie der Kaiser.142 Pugačev selbst hatte einer derartigen Unterscheidung Vorschub geleistet. Er war vor dem Problem gestanden, dass er die Existenz des Kosaken Emel᾽jan Pugačev als solche nicht leugnen konnte. Er hatte seinen Sohn Trofim zu sich ins Hauptquartier geholt143 und in seiner Heimat am Don kannten ihn zu viele Menschen persönlich, um zu tun, als hätte es ihn nie gegeben. So musste er das Kunststück vollbringen, seine eigentliche Identität in das Dasein als Peter III. zu integrieren und zugleich eine möglichst große Distanz zwischen die echte und die angeeignete Identität zu bringen. Augenfällig ist diese Strategie beim Umgang mit seiner ersten Frau Sof’ja. Als Sof’ja nach Kazan’ gebracht wurde, um ihn zu enttarnen, anerkannte und verstieß Pugačev sie mit demselben Satz. Er erklärte, sie sei tatsächlich die Frau des Kosaken Pugačev, aber nicht seine, denn er sei ja Peter.144 Auf diese Weise konnte Pugačev vermeiden, Sof’ja als 141 142 143 144
RGADA , f. 7, o. 2, d. 2499, l. 4; Judin: K istorii Pugačovščiny, 171. RGADA , f. 349, o. 1/č. 1, d. 7188, l. 1 ob.
Myl’nikov: Iskušenie čudom, 201. Golubcov (Red.): Pugačevščina II, 149.
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Voraussetzungen der Performanz
Lügnerin abzustempeln und zugleich die Verbindung mit ihr leugnen, die ihn unweigerlich in die Zwickmühle gebracht hätte. Diese komplizierten Manöver hatten zur Folge, dass sich während des Aufstandes mutmaßlich nicht nur Peter III. im Russländischen Reich befand, sondern auch der Kosake Pugačev, der irgendetwas mit dem Kaiser zu tun hatte. Diese Konstellation ist recht ungewöhnlich, weil sonst galt, dass ein samozvanec seine wahre Identität so gut wie möglich zum Verschwinden bringen musste.145 In welchem Verhältnis der Kaiser und der Kosake zueinander standen, konnte unterschiedlich interpretiert werden. Es ist nur naheliegend, dass nach Pugačevs Hinrichtung die Version, er sei nicht der Kaiser selbst gewesen, sondern lediglich dessen Feldmarschall oder Abgesandter146 eine weitaus größere Resonanz fand als zuvor. Sie stufte Pugačevs Bedeutung für den Kampf herab. So war auch seine Hinrichtung weitgehend irrelevant, denn der eigentliche Protagonist befand sich ja nach wie vor irgendwo und konnte jederzeit zurückkehren. Die Führung des Aufstandes konnte aber auch einem »Nachfolger« von Pugačev zufallen, das heißt, einer Gestalt, die von ihm und von Peter III. verschieden war. Diese Nachfolger werden in der Sekundärliteratur üblicherweise erwähnt,147 nicht zuletzt wegen eines gewissen Unterhaltungswertes. Dennoch stimmt es nach wie vor, dass eine genaue Untersuchung über sie noch aussteht.148 In diesem Abschnitt soll herausgearbeitet werden, welche Vorbilder diese »Nachfolger« hatten, für welche Ziele sie standen und zuletzt ihr Verhältnis zu den personae Peter III. und Pugačev bestimmt werden. Diese Erkenntnisse sind wichtig, um die Entwicklung der persona Peter III. nachzeichnen zu können, was im nächsten Abschnitt geschehen wird. In einzelnen Gerüchten war Aufruhr sozusagen ein Familienunternehmen. Unter den Baschkiren kursierte im Juni 1775 beispielsweise das Gerücht, dass Pugačev zwei leibliche Brüder habe, die nun statt ihm weitermachen würden.149 Der bereits in Kapitel 3.1 erwähnte Dmitrij Popovič brachte seinen Arbeitskollegen Koz’ma Rybčenko absichtlich mit der Behauptung in Schwierigkeiten, dieser gebe sich für Pugačevs Sohn aus und schare Kämpfer um sich.150 Meistens war der Nachfolger aber eine von Pugačev völlig unabhängige Gestalt. Von diesen ist zweifellos Metelkin am bekanntesten; er wird häufiger in den Quellen genannt als der zweite Nachfolger Železnjak, sein Name ist in 145 Myl’nikov: Iskušenie čudom, 206. 146 RGADA , f. 7, o. 2, d. 2570, l. 1 ob.; Otgoloski, 665; Judin: K istorii Pugačevščiny, 175. 147 Sivkov: Samozvančestvo, 122; Čistov: Russkie narodnye social’no-utopičeskie legendy, 176–178. 148 Čistov: Russkie narodnye social’no-utopičeskie legendy, 176. 149 Golubcov (Red.): Pugačevščina III, 411. 150 RGADA , f. 7, o. 2, d. 2455, l. 1.
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mehr Varianten überliefert und war praktisch im gesamten Reich bekannt. Die Belege reichen von »Neurussland« im Süden über den Ural Richtung Osten nach Sibirien und in die beiden Hauptstädte Richtung Norden. Wie bereits mehrfach erwähnt, galt Metelkin als Nachfolger von Pugačev, das heißt, als eine von ihm verschiedene Person, die den Kampf weiterführen würde. Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass sie keineswegs immer sauber getrennt wurden. Falls beide nicht explizit unterschieden werden oder aus dem Kontext hervorgeht, dass Pugačev nicht mehr lebt, ist nicht sicher, ob mit Metelkin ein zweiter Kämpfer gemeint ist oder eben doch wieder nur Pugačev. Popovič erzählte etwa, Pugačev trete nun unter dem Namen Metla auf.151 Seiner Ansicht nach handelte es sich also um ein und dieselbe Person unter verschiedenen noms de guerre. Wie bereits in Kapitel 3.1 ausgeführt, soll das Vorbild für Metelkin Ignatij Zametaev gewesen sein, der auf der Seite Pugačevs gekämpft hatte. Dagegen spricht allerdings zweierlei: Zum einen spielte Zametaev während des Aufstandes nur eine marginale Rolle. Seine weitere Karriere als Räuberhauptmann war gleichfalls keine Empfehlung für große Popularität. Wie bereits mehrfach angesprochen, wurden Räuber in der Folklore nach der Art von Robin Hood durchwegs positiv dargestellt. Jedoch gibt es keinen Hinweis darauf, dass Zametaev im Einklang mit diesem Bild nur »Geldsäcke« überfallen und ausgeraubt hätte. Seine Opfer suchte er vielmehr wahllos aus.152 Daher ist anzunehmen, dass die Angst und Abscheu vor einem realen Räuber in der Nachbarschaft größer war als die Bewunderung für dessen folkloristisches Alter ego. Zum anderen war Zametaev nachweislich nicht der Einzige, der auf Pugačevs Seite gekämpft hatte und dessen Name ähnlich wie Metelkin klingt. Im AltajGebirge war beispielsweise ein gewisser Pavel Metlin aktiv, der ebenso wie Metelkin in die diversen »Geisterarmeen« integriert wurde, von denen in Kapitel 3.1 die Rede war. Ein Gerücht, das in einer Fabrik in Zmeinogorod im Altaj kursierte, besagte etwa, er kämpfe mit Gromov in der Armee Peters III.153 Daran ist ersichtlich, dass Metlin für die Zeitgenossen im Vergleich zu anderen Kämpfern eine herausgehobene Stellung besaß. Es ist nicht nachweisbar, dass Metlin das Vorbild für Metelkin war – genauso wenig wie nachweisbar ist, dass es Zametaev war. Doch alleine Metlins Existenz ist ein gutes Argument, um die Identifizierung mit Zametaev zu hinterfragen und für Alternativen offen zu sein. Die geografische Entfernung ist kein ausreichendes Gegenargument. Zametaev war am Kaspischen Meer dem Zentrum des Aufstandes zweifellos näher als Metlin im Altaj-Gebirge, aber Metlin war auch im europäischen Teil des Reiches bekannt. Ihn erwarteten die 151 Ebd., l. 4 ob. 152 Für Beispiele siehe Judin: Posle Pugačevščiny, 550–553. 153 Poberežnikov: Tipy sluchov, 171. Über Gromov war nichts Näheres herauszufinden.
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BewohnerInnen des Dorfes Borisoglebsk im Gouvernement Penza.154 Da der Vorname fehlt, ist jedoch nicht eindeutig, ob Metlin hier der Familienname von Pavel ist oder eine weitere Verballhornung von Metelkin. Metelkins Name verrät, wofür dieser angebliche Kämpfer stand. Die mir bekannten Varianten lauten Metla,155 Metëlka,156 Metëlkin,157 Podmetëlkin,158 Pometajla,159 Zametajla160 und Zametajlov.161 Metla bedeutet ›Besen‹, während die übrigen Varianten an das zugehörige Verb metat’ (›kehren, fegen‹) bzw. dessen präfigierte Formen pometat’ und zametat’ erinnern. Auch die Zeitgenossen fassten das so auf. Noch 1827 kursierte eine volksetymologische Deutung der Namen von Pugačev und Metelkin: Pugačev habe die Herren [nur] ein wenig erschreckt, aber Metelkin werde sie hinwegfegen (»Pugačev popugal gospod, a Metelkin pometet ich.«).162 Pugačevs Name wurde schon früh so erklärt, und vermutlich wurde ihm auch bald Metelkin als der eigentlich Durchsetzungsstarke gegenübergestellt. Der Soldat Petr Simonov kannte Pugačev bereits 1774 als Popugaj.163 Popugaj ist hier nicht mit ›Papagei‹ zu übersetzen, sondern annäherungsweise mit ›Wenigschrecker‹. 1780 prahlte der Einhöfer Vasilij Orlov, er sei »mehr ein Schreckerling« als Pugačev (»Pugač pugal, a on de Orlov pušče ego pugnist.«)164 Ein weiteres Beispiel ist der Popugaj, von dem Matvej Agafonov gehört hatte, er nehme am Don Männer in seinen Dienst. Die volksetymologische Herleitung beider Namen verweist auf die Möglichkeit, dass Metelkin nicht auf ein reales Vorbild zurückging, sondern die Gerüchte über ihn aus dem Wunsch entstanden, jemand möge kommen und mit den Adeligen aufräumen, sie gewissermaßen von der Bühne der Geschichte fegen. Diese Tendenz ist auch in einem Gerücht aus dem Jahr 1777 gut erkennbar. Es berichtet, die rossijskaja Metla sammle in ausländischer Kleidung am Fluss Buchtarma eine Armee.165 Die Kleidung und das Sammeln einer Armee an der Peripherie machen hinreichend deutlich, dass Metelkin gemeint ist. 154 Golubcov (Red.): Pugačevščina III, 419. 155 RGADA , f. 7, o. 2, d. 2455, l. 1; RGADA , f. 7, o. 2, d. 2570, l. 1 ob. 156 Lappo, F. I.: Vosstanie odnodvorcev sela Stakanovo v 1776 g. In: IZ 44 (1953), 306–319, hier 310. 157 RGADA , f. 7, o. 2, d. 1452, l. 1. 158 Lappo: Vosstanie, 313. 159 Golubcov (Red.): Pugačevščina III, 83; 409 f. 160 Ebd., 407; 409 f.; Korolenko, V. G.: Pugačevskaja legenda na Urale. In: Ders.: Sobranie sočinenij. Tom vos᾽moj Literaturno-kritičeskie stat᾽i i vospominanija. Istoričeskie očerki. Moskva 1955 [erstmals 1900], 429–449, hier 448. 161 Judin: Posle Pugačevščiny, 548. 162 Sergeev, A.: Gr. A. Ch. Benkendorf o Rossii v 1827–1830 gg. Ežegodnye otčety III otdelenija i korpusa žandarmov. In: KA 6/1929, 138–174; 1/1930, 109–147, hier Teil 1, 152. 163 RGADA , f. 7, o. 2, d. 2382, l. 4 ob. 164 RGADA , f. 7, o. 2, d. 2581, l. 1. 165 Poberežnikov: Massovye vystuplenija, 91.
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Doch grammatikalisch wird etwas anderes vermittelt. Metla als Nachfolger Pugačevs ist vom grammatikalischen Geschlecht her ein Femininum, aber vom natürlichen Geschlecht her ein Mann. Der russländische Metla müsste also rossijskij Metla heißen. Im Gerücht werden aber Adjektiv und Substantiv nach dem grammatikalischen Geschlecht übereingestimmt, sodass sprachgefühlsmäßig nicht (nur) von einer Person namens Metla die Rede ist, sondern (auch) von einem personifizierten Besen. Pugačevs Nachfolger wird auf seine Kernaufgabe reduziert – zu kehren. Dass Metelkin eine Projektion von Erwartungen war, könnte auch der Grund sein, warum er so lange präsent blieb. Im Jahresbericht der Dritten Abteilung für 1827, den wahrscheinlich Benckendorffs Sekretär Michael von Vock verfasste,166 steht, dass die Bauern auf Metelkin warteten »wie auf den Messias«.167 Die Formulierung war zweifellos abwertend gemeint; sie deutet an, die Bauern seien so dumm und / oder so leichtgläubig, auf irgendeinen obskuren Retter zu warten. Mit einiger Wahrscheinlichkeit hatte niemand Metelkin tatsächlich mit dem Messias verglichen. Nichtsdestoweniger ist bemerkenswert, dass Metelkin noch in der zweiten Hälfte der 1820er Jahre so bekannt war, dass von Vock ihn in seinem Bericht erwähnte und den Vergleich für passend hielt. Pugačevs zweiter Nachfolger Maksim Železnjak ist im Vergleich mit Metelkin eine blasse Erscheinung. Ihm wurde die Rolle des Nachfolgers weniger klar zugeschrieben; für eine erste Annäherung ist er am besten als Mitstreiter zu charakterisieren, der einfach länger lebte als Pugačev. Sein Name ist außerdem auf einem wesentlich kleineren Gebiet belegt, das im Westen von Caricyn und im Osten von Ekaterinburg begrenzt wird. Auch wenn kein Zweifel besteht, dass das Vorbild für Železnjak, wie bereits in Kapitel 3.1 erläutert, der gleichnamige Truppenführer der Hajdamaken war, verselbstständigte sich wie bei Metelkin die persona, die von ihm abgeleitet war. Die mir bekannten Varianten des Namens lauten Železnjakov, Železo168 und Železnyj lob (›Eiserne Stirn‹).169 Sie alle hängen etymologisch mit russ. železo (›Eisen‹) zusammen. Das dürfte auch der Grund sein, warum der Name nach Metelkin der populärste war, denn er verhieß eine ähnliche Kraft und ein ähnliches Durchsetzungsvermögen. Železo ist an sich nur eine Abkürzung des eher langen Namens Železnjak bzw. der russifizierten Variante Železnjakov. Gleichzeitig tritt das Metall in den Vordergrund. Auch bei Eiserner Stirn verwandelt sich eine Person aus Fleisch und Blut in eine Gestalt aus Eisen, deren vorrangige Eigenschaft die 166 167 168 169
Sergeev: Benkendorf o Rossii, Teil 1, 139. Ebd., 152. Judin: K istorii Pugačovščiny, 177. RGADA , f. 7, o. 2, d. 2512, l. 1 ob.; Judin: Posle Pugačevščiny, 557.
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Härte des Metalls ist. Eiserne Stirn wirkt weitaus weniger menschlich als das Vorbild Železnjak und verselbstständigt sich wie Metelkin zum Rächer. Das personifizierte Eisen als Anführer war für die Ziele der Aufständischen ebenso günstig wie der personifizierte Besen. Der Name suggeriert eine Gestalt, die mit dem Kopf durch die Wand will und dank ihrer materiellen Beschaffenheit dazu auch in der Lage ist. Sowohl bei Metelkin, als auch bei Železnjak ist ein Changieren zwischen der Unterscheidung von Peter III. und Pugačev und der Gleichsetzung mit zumindest einem von beiden festzustellen. Wie bereits ausgeführt, wurden Pugačev und Peter III. auch nach der Niederschlagung des Aufstandes nicht immer klar voneinander unterschieden, dasselbe gilt für Pugačev und Metelkin. Auch die Nachfolger konnten untereinander verschwimmen; ein Baschkire behauptete etwa 1775, Eiserne Stirn sei ein anderer Name für Metla.170 Peter III. ist unter diesen personae noch am besten abgegrenzt. Obwohl Pugačev sowohl mit ihm, als auch mit Metelkin überlappte, wird Peter in keiner Quelle explizit mit Metelkin (oder auch mit Železnjak) gleichgesetzt. Allerdings gibt es implizite Hinweise, dass eine solche Gleichsetzung nicht völlig ausgeschlossen war. Der bereits erwähnte russländische Metla bzw. russländische Besen trägt ausländische Kleidung. Er kann dieses Attribut nur von Peter III. haben, denn Pugačev trug nie etwas anderes als das Gewand eines Kosaken.171 Demnach waren hier Metelkin und Peter dieselbe Person. Der Soldat Anisim Kolesnikov erzählte, Železnjak habe Zeichen an seinem Körper, die ihn eindeutig als Kaiser auswiesen.172 Kolesnikov setzte Železnjak mit jemandem gleich, mit dem er eigentlich nicht gleich sein sollte; die Frage lautet aber, mit wem. Der erwähnte Kaiser könnte Pugačev sein, der seinen Anhängern solche Zeichen gezeigt hatte, um nachzuweisen, dass er Peter III. sei.173 Auch Peter III. könnte gemeint sein, entweder infolge einer Kontamination mit Pugačev, oder weil der Glaube, dass Mitglieder der Dynastie an Zeichen an ihrem Körper erkennbar seien, in den 1770er Jahren auch ohne Bezug zu samozvanstvo belegt ist (dazu siehe Kapitel 5.2). Die jeweils nicht ganz stabile Gleichsetzung und Unterscheidung der vier personae in sämtlichen Kombinationen könnte auf Nichtwissen, unzuverlässige Weitergabe und Kontamination zurückzuführen sein. Es ist möglich, dass Anfang 1775 alles klar war – Peter III. ist nicht Pugačev, Pugačev ist tot, aber es gibt einen Nachfolger – und die Grenzen zwischen den verschiedenen Personen bzw. personae verwischten, je mehr Zeit verging und je weiter das Gebiet vom Zentrum des Aufstandes entfernt lag. Jemand, der wie Matvej 170 Judin: Posle Pugačevščiny, 552. 171 Usenko, O. G.: Psichologija social’nogo protesta v Rossii XVII–XVIII vekov. Posobie dlja učitelej srednej školy. Čast’ 1. Tver’ 1994, 37. 172 Judin: K istorii Pugačovščiny, 177. 173 Ovčinnikov (Red.): Emel’jan Pugačev na sledstvii, 159.
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Agafonov keine klare Vorstellung (mehr) hatte, wer Pugačev gewesen war, gab mit größerer Wahrscheinlichkeit eine kontaminierte oder verzerrte Version weiter, und Verzerrungen haben die Tendenz, größer zu werden, bis aus ihnen ein ganz neuer Sachverhalt geworden ist.174 Insgesamt ist aber der Schluss zu ziehen, dass der Kampf das Wichtigste war. Die Niederlage sollte nicht endgültig sein. Pugačev sollte nicht der Letzte gewesen sein, der bereit gewesen war, eine Erhebung anzuführen. Katharina II. sollte nicht das letzte Wort gehabt haben. Bei der Weitergabe von Gerüchten erweist sich der wichtigste Inhalt als der stabilste, während Nebensächliches entfallen, ergänzt oder abgeändert werden kann.175 Ob der Kampf durch den Besenmann Metelkin, den Eisenmann Železnjak oder durch Peters Armee (siehe unten) fortgeführt werden würde, war demnach zweitrangig gegenüber der Gewissheit, dass er überhaupt weitergehen würde. Deswegen verschwammen die einzelnen Kämpfer und der Kaiser miteinander, waren manchmal voneinander verschieden und manchmal identisch. Es steckte immer etwas von Peter III. in den übrigen drei personae, und umgekehrt beeinflussten Pugačev, Metelkin und Železnjak, welches Profil Peter III. nach dem Aufstand annahm. Von dieser Entwicklung der persona ist im nächsten Abschnitt die Rede. Der kriegerische Kaiser und sein Sohn (1774–1797)
Wie schon vor dem Aufstand besagten Gerüchte nach dessen Niederschlagung zum Teil nur, dass Peter III. noch lebe.176 Doch meistens teilte er mit Metelkin und Železnjak die Agenda, den Kampf fortzuführen. Der fürsorgliche Peter III. verwandelte sich in einen Rächer und Krieger, sodass sich die ihm zugeschriebenen Aktivitäten und Eigenschaften deutlich vom früheren Bild unterscheiden. Katharina II. blieb dabei der unausgesprochene Bezugspunkt; die persona Peter III. stand zu ihr jedoch nicht mehr in einer moralischen Konkurrenz, sondern der Kampf wurde nach dem Vorbild des Pugačev’schen Aufstandes mit Armeen ausgetragen. Dabei stellt sich die Frage, wie lange das so blieb. Zwischen Pugačevs Hinrichtung und dem Auftreten des letzten bekannten Peter III. vergingen immerhin mehr als 20 Jahre, sodass eine Veränderung durchaus zu erwarten wäre. Die Abkehr von der fürsorglichen persona ist etwa daran erkennbar, dass Peter III. nach dem Aufstand dafür gelobt wurde, sich gegen den Adel zu 174 Taylor Buckner: A Theory of Rumor Transmission, 61. 175 Peterson / Gist: Rumor, 166. 176 RGADA , f. 7, o. 2, d. 2426, l. 1; RGADA , f. 7, o. 2, d. 2478, l. 3; RGADA , f. 7, o. 2, d. 2680, l. 1; Lappo: Vosstanie, 310.
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Voraussetzungen der Performanz
wenden. Bei den ihm jeweils zugeschriebenen Maßnahmen handelt es sich um Echos von Pugačevs Manifesten und mündlichen Ankündigungen. Sibiri sche Bauern erzählten, Peter werde alle Adeligen aufhängen, sobald er den Thron bestiegen habe.177 Popovič zufolge hatte er bereits fünfzig Offiziere hinrichten lassen.178 Der Soldat Jakov Dmitriev behauptete im Februar 1778, Peter III. sammle nur eine Armee, um den Adel mit Stumpf und Stiel auszurotten (vyvest’ ves’ dvorjanskoj koren’), aber wer kein Adeliger sei, habe nichts zu befürchten.179 Die von Dmitriev erwähnte Armee aufzustellen war die wichtigste Tätigkeit der persona Peter III. nach der Niederschlagung des Pugačev’schen Aufstandes. Aus diesem Kontext stammen die bereits in Kapitel 3.1 besprochenen Gerüchte über »Geisterarmeen«. Gehörten ihr bewunderte, aber in den meisten Fällen bereits tote Kämpfer wie Semen Palej, Maksim Železnjak oder Ignat Nekrasov180 an, sollte das eine Art Erfolgsgarantie sein. Die Anwesenheit verstorbener Mitglieder der Dynastie wie Peter Petrovič vermittelte hingegen die Botschaft, dass es genügend männliche Alternativen zu Katharina II. gebe. Die ausführlichste Schilderung von Peters Armee stammt von Petr Chripunov (alias Golovenko), der auf Pugačevs Seite gekämpft hatte.181 Um 1785 beschloss er mit seinem Bekannten Fedor Purgin und dessen Freund Petr Borcov, erneut einen Aufstand loszutreten. Chripunov fiel der Part des Agitators zu. Er erzählte in den Dörfern am Ufer des Irtyš sowie im Altaj-Gebirge, Peter III. habe eine Truppe (komanda) aufgestellt, die 25 verst vom Karasuk-See entfernt Richtung Barnaul auf einer Länge von 80 verst kampiere. Er selbst sei schon dort gewesen und mit einem scharlachroten Gewand (aloe karmazinu plat’e), einem Kosakenpferd mit Geschirr, Munition sowie einer akibka182 ausgestattet worden. Außerdem erhalte jeder Kämpfer 100 Rubel pro Jahr,183 was für damalige Verhältnisse ein geradezu fürstlicher Sold war. Zur Regierungszeit Katharinas II. erhielt ein Soldat der realen Armee nicht einmal ein Zehntel davon, nämlich sieben bis acht Rubel pro Jahr.184 Die Position der Armee konnte vom Aufenthaltsort des Sprechers abhängen. Chripunov lokalisierte sie in einer Gegend, die er selbst gut kannte. 177 Orlov: Pugačevščina v Sibiri, 144. 178 RGADA , f. 7, o. 2, d. 2455, l. 3. 179 RGADA , f. 7, o. 2, d. 2512, l. 1 ob. 180 RGADA , f. 7, o. 2, d. 2477, l. 1. 181 RGADA , f. 7, o. 2, d. 2699, l. 18. 182 Dem Wörterbuch von Vladimir Dal’ zufolge bedeutet akip oder akipka ›Robbenjunges‹ (Dal’, Vladimir: Tolkovyj slovar’ živogo velikorusskago jazyka. Tom pervyj A-Z. Četvertoe ispravlennoe i značitel’no dopolnennoe izdanie Sankt-Peterburg, Moskva 1912, 21.). Chripunov meinte möglicherweise den Pelz einer jungen Robbe. 183 RGADA , f. 7, o. 2, d. 2699, l. 2 ob. 184 Keep: Soldiers of the Tsar, 181.
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Baschkiren verorteten sie gerne in der kirgisischen Steppe.185 Verbannte in Tobol’sk erzählten, Peter III. bewege sich auf die Stadt zu und stehe gerade 60 verst vor Tjumen’.186 Meistens befindet sich Peter III. jedoch unabhängig vom Aufenthaltsort des Sprechers an der Peripherie, entweder gerade noch auf dem Territorium des Russländischen Reiches oder unmittelbar jenseits der Grenze, etwa am Schwarzen Meer,187 auf der Krim188 oder in China.189 Für diese periphere Position gibt es mehrere Erklärungen. Nennen Gerüchte eine konkrete Mannstärke für Peters Armee, war diese, gemessen daran, dass es sich nur um Aufständische handelte, beträchtlich. Der Kosake Gerasim Zav’jalov sprach 1776 von je 12 000 Don-Kosaken und Kalmücken.190 Ein Baschkire wusste von 200 000 Mann am Fluss Ėmba in der kirgisischen Steppe.191 Der Kosake Abdul Smailov sprach 1777 von 100 000 Mann im UralGebirge.192 Selbst wenn konkrete Zahlen fehlen, war die Ankündigung, dass Peter III. eine Armee aufstelle, mit dem Versprechen gleichzusetzen, dass diese groß genug sei, um den Aufstand zu einem erfolgreichen Ende zu bringen. Zum Kampieren wäre also eine Fläche von mehreren Hektar notwendig gewesen und zusätzlich ein gewisser Puffer öden Landes, um nicht sofort von Einheimischen entdeckt zu werden. Eine solche Armee zu »verstecken« war nur jenseits der Grenze oder in den am dünnsten besiedelten, administrativ am schlechtesten erschlossenen Regionen des Reiches möglich – sozusagen in der Peripherie der Peripherie. Eine vergleichbare Abgeschirmtheit suggerieren auch jene Gerüchte, in denen Peters Armee hinter einem natürlichen Hindernis wie einem Gebirge oder Fluss verortet wird.193 Gleichzeitig ist der Herrscher, der sich von der Peripherie oder dem Ausland aus anschickt, seinen Thron (zurück-)zuerobern ein Motiv, das seit dem 17. Jahrhundert in Gerüchten nachweisbar ist und bis ins 19. Jahrhundert produktiv blieb (siehe Kapitel 4.3). Maureen Perrie meint, es könnte auf die Erinnerung an den ersten falschen Dmitrij zurückgehen, der ja 1604 tatsächlich von der Rzeczpospolita aus ins Moskauer Reich einmarschiert war, um den Thron »seiner« Vorfahren in Besitz zu nehmen.194 In jenen Fällen, in denen 185 Judin: K istorii Pugačovščiny, 171; Poberežnikov: Sluchi, 18. 186 RGADA , f. 7, o. 2, d. 2568, l. 4. 187 RGADA , f. 7, o. 2, d. 2455, l. 27; RGADA , f. 7, o. 2, d. 2479, l. 5; Judin: K istorii Pugačovščiny, 175. 188 RGADA , f. 7, o. 2, d. 2455, l. 1 ob.; RGADA , f. 7, o. 2, d. 2512, l. 1 ob; Judin: K istorii Pugačovščiny, 174. 189 RGADA , f. 7, o. 2, d. 2477, l. 3 ob; 4 ob. 190 Judin: K istorii Pugačovščiny, 175 f. 191 Poberežnikov: Sluchi, 18. 192 RGADA , f. 7, o. 2, d. 2477, l. 1. 193 RGADA , f. 7, o. 2, d. 2469, l. 4 [Volga]; RGADA , f. 7, o. 2, d. 2477, l. 1 [Ural-Gebirge]; RGADA , f. 7, o. 2, d. 2570, l. 1 ob. [Don]. 194 Perrie: Fugitive Tsars, 582.
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sich der Herrscher / Thronfolger im Westen befinden soll, mag das zutreffend sein. Perrie beleuchtete etwa die Hintergründe eines Gerüchts, das während des Aufstandes in Pskov 1650 kursierte. Es besagte, Aleksej Michajlovič sei heimlich aus Moskau geflohen und befinde sich nun in Warschau, von wo aus er den entscheidenden Schlag gegen die »bösen Bojaren« führen werde.195 Aus (süd-)westlicher Richtung sollte auch Aleksej Petrovič kommen, von dem es 1723 hieß, er habe ein Heer bei Belaja Cerkov’ (ukr. Bila Cerkva) zusammengezogen und werde demnächst auf Kiev marschieren.196 Insgesamt überwiegen aber die Beispiele, in denen der entscheidende Schlag von Moskau oder St. Petersburg aus betrachtet aus dem Süden, dem Osten oder dem Südosten erfolgen soll: vom Schwarzen Meer, von der Krim, von jenseits der Volga, von jenseits des Don, von jenseits des Ural bzw. aus Sibirien, aus China oder Korea (siehe Kapitel 4.3). Für diese Ostorientierung sind mehrere Erklärungen denkbar. Sie verlieh den Behauptungen einen realistischen Anstrich. Sibirien war größer und dünner besiedelt als der europäische Teil des Russländischen Reiches, die angrenzenden Länder wie China oder Korea erschienen weiter entfernt als Polen oder das Osmanische Reich. Möglicherweise spielte die historische Erinnerung eine Rolle. Die Tataren / Mongolen waren einst aus dem Osten gekommen und hatten die Rus’ unterworfen, während Eroberungszüge aus dem Westen höchstens vorübergehend erfolgreich gewesen waren. Die Himmelsrichtung könnte auch symbolisch gemeint sein. Im Osten geht die Sonne auf, sodass er für einen Neuanfang, unverbrauchte Kraft und einen noch bevorstehenden Höhepunkt steht, während der Westen im Gegenteil mit Niedergang und Absterben verbunden wäre. Im Zeitraum 1774–1797 traten elf falsche Peter III. auf.197 Sechs von ihnen orientierten sich bei ihrer Performanz an Gerüchten über den kriegerischen Kaiser, fünf nicht. Demnach ist im Vergleich mit dem Zeitraum 1763–1773 eine etwas höhere Übereinstimmung zwischen der persona Peter III. in Gerüchten und in der Performanz von samozvancy festzustellen. Der Zuwachs bedarf jedoch einer genaueren Betrachtung und Differenzierung. Als kriegerischer Kaiser traten Iov Mosjakin, Ivan Nikiforov, Maksim Chanin, Dmitrij Popovič, Petr Chripunov und Nikita Senjutin auf. Mosjakin markiert den Übergang vom fürsorglichen zum kriegerischen Kaiser. Er trat noch während des Aufstandes auf, allerdings im Gouvernement Tambov und damit außerhalb des von den Kämpfen erfassten Gebietes. Zuerst machte er sich als Peter III. dadurch plausibel, dass er Kranke behandelte und seine 195 Ebd., 581. 196 RGADA , f. 371, o. 1, d. 1845, l. 3 ob. 197 Nicht berücksichtigt wird Gerasim Savelov, den Sivkov (Sivkov: Samozvančestvo, 125.) und Čistov (Čistov: Russkie narodnye social’no-utopičeskie legendy, 180.) zu den falschen Peter III. rechnen. Er bezeichnete sich jedoch stets nur als Souverän, und damit hätte auch der zukünftige Paul I. gemeint sein können.
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Frömmigkeit demonstrativ zur Schau stellte. Sobald Mosjakin aber ein paar AnhängerInnen gewonnen hatte, begann er, von mehreren Truppen unter seinem Befehl zu erzählen und stellte für diese »Tagesbefehle« aus.198 Pugačev wird im Untersuchungsakt kein einziges Mal erwähnt, doch es ist anzunehmen, dass Mosjakin etwas von ihm gehört hatte und deswegen auf die Behauptung Wert legte, über eigene Truppen zu verfügen. Chanin, Popovič und Chripunov hatten auf Pugačevs Seite gekämpft und knüpften dort an, wo sie 1775 aufgehört hatten. Nikiforov reiste mit gefälschten bzw. gestohlenen Papieren im gesamten europäischen Teil des Reiches herum, um ehemalige Kämpfer von Pugačev ausfindig zu machen.199 Senjutin kündigte an, bald mit einer Armee zurückzukehren.200 Kondratij Selivanov, Il’ja Fedorov, Ivan Kolyčev (alias Vasilij Bunin), Petro Nesterenko (alias Taran) und Semen Peterikov stellten sich nicht als kriegerischer Kaiser dar. An dieser Gruppe sind mehrere Details auffällig. Selivanov ist ein Sonderfall. Seinen eigenen Angaben zufolge hatte ihn Pugačev auf die Idee gebracht, sich für Peter III. auszugeben;201 nichtsdestoweniger wurde die von ihm verkörperte persona nicht durch den Aufstand geformt, sondern durch den Umstand, dass er zu diesem Zeitpunkt bereits der Anführer einer heterodoxen Gruppe war. Gleich, ob er als Jesus, Peter III. oder beide zugleich auftrat, Selivanov war in erster Linie der Erlöser (iskupitel’) der Skopzen und entzieht sich als solcher einer Einordnung als fürsorglicher oder kriegerischer Kaiser. Bei der zeitlichen Verteilung ist zu beachten, dass diese samozvancy mit Ausnahme von Fedorov erst nach 1785 auftraten.202 Der kriegerische Peter III. blieb bis ungefähr zur Mitte der 1780er Jahre aktuell. Spätere Gerüchte über den Kaiser beschränken sich auf die Versicherung, dass er noch lebe und bedeuten darum einen Verlust an Komplexität. Ebenfalls in der Mitte der 1780er Jahre trat mit Senjutin der letzte samozvanec auf, der sich auf die Rückkehr mit einer Armee bezog. Geografisch ist auffällig, dass keiner dieser samozvancy auf dem Gebiet agierte, das unmittelbar vom Aufstand betroffen war. Weiters befanden sich unter ihnen keine ehemaligen Aufständischen. Im Gegenteil hatte sich Fedorov zufällig gerade in Kazan’ befunden, als Pugačev auf die Stadt marschiert war. Er hatte geholfen, Kazan’ gegen die Aufständischen 198 RGADA , f. 6, o. 1, d. 528, l. 7. 199 RGADA , f. 6, o. 1, d. 537, l. 2. 200 RGADA , f. 6, o. 1, d. 544a, l. 1 ob. 201 Selivanov erzählte, seine Wege hätten sich mit Pugačev gekreuzt, als Pugačev nach Moskau zur Hinrichtung und er selbst in die Verbannung nach Sibirien gebracht worden sei. Die Episode ist sicher fiktiv, doch der Kern – Pugačev als Ideengeber – dürfte authentisch sein ([Nadeždin]: Issledovanie, 73; Sinjavskij: Ivan-durak, 450.). 202 Bei Selivanov ist die Chronologie unsicher. Er dürfte sich erst während der Verbannung in Irkutsk für Peter III . ausgegeben haben, die allerdings von 1775 bis etwa 1795 dauerte (Sinjavskij: Ivan-durak, 447.). Eine nähere Eingrenzung ist nicht möglich.
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zu verteidigen und war von diesen gefangen genommen worden.203 Seine Sympathien für deren Sache waren wohl gering. Das dürfte erklären, warum er den kriegerischen Kaiser nicht verkörperte, obwohl er bereits 1782 auftrat. Zusammengenommen ergibt sich, dass Peter III. als kriegerischer Kaiser bis etwa 1785, d. h. ein Jahrzehnt nach der Niederschlagung des Pugačev’schen Aufstandes, aktuell war. Gerüchte über ihn sowie das Auftreten von Kolyčev, Nesterenko, Selivanov und Peterikov belegen zwar, dass auch danach noch von ihm die Rede war, doch war mit seiner persona keine bestimmte Agenda mehr verbunden. Er scheint im Zeitraum 1785–1797 allmählich verblasst zu sein. Letzteres könnte nicht nur mit dem zunehmenden zeitlichen Abstand zum Aufstand zusammenhängen, sondern auch mit Peters Sohn, dem zukünftigen Paul I. Eine wichtige Komponente von Pugačevs Performanz als Peter III. war es gewesen, ein inniges Verhältnis zu »seinem« Sohn zu demonstrieren. Er vergoss Krokodilstränen darüber, dass er Paul zuletzt als Kind gesehen habe und dieser nun schon erwachsen sei, brachte Trinksprüche auf Paul und dessen erste Frau Natal’ja Alekseevna aus, hängte Porträts des Paares in seinem Hauptquartier auf, versäumte keine Gelegenheit, seinen väterlichen Stolz zum Ausdruck zu bringen, bekam angeblich Geschenke von Paul und behauptete, mit ihm in ständigem Briefkontakt zu stehen.204 Pugačevs Ziel war es, durch diese Demonstration von Zuneigung Peter III. so ähnlich wie möglich zu sein,205 aber er dürfte auch dazu beigetragen haben, Paul bei den Aufständischen als jemanden einzuführen, der ihrer Sache gewogen war und so die personae Peter III. und Paul Petrovič eng miteinander zu verknüpfen. Es fällt auf, dass keine Gerüchte belegt sind, denen zufolge Paul Petrovič wegen des Konflikts mit seiner Mutter St. Petersburg freiwillig verlässt oder von dieser aus dem Weg geräumt wird, obwohl es für beide Szenarien einen Anlass und Vorbilder gegeben hätte, zum Beispiel den von den Dolgorukie entführten und in eine Säule eingemauerten Peter II. (siehe Kapitel 3.2). Auch die falschen Pauls spielten nicht auf den Konflikt zwischen Mutter und Sohn an. Stattdessen steht stets die Beziehung zwischen Vater und Sohn im Vordergrund, die direkt auf Pugačev als Vorbild verweist. Ganz wie es Pugačev vormachte, ist Paul in Gerüchten der Helfer seines Vaters und deswegen Nachstellungen ausgesetzt. Paul soll seinem Vater geholfen haben, nach der Niederschlagung des Aufstandes zu entkommen.206 Grigorij Orlov, einer von Katharinas Liebhabern, soll versucht haben, Paul mit einem Säbel niederzuschlagen.207 Der Kosake Dem’jan Čebotkov (alias Gargarutin), 203 RGADA , f. 7, o. 2, d. 2608, l. 3 ob. 204 Čistov: Russkie narodnye social’no-utopičeskie legendy, 169. 205 Pugačev konnte nicht wissen, dass die Gefühle des echten Peter III . gegenüber Paul ausgesprochen unterkühlt gewesen waren, weil er ihn für ein Kuckuckskind gehalten hatte. 206 RGADA , f. 6, o. 1, d. 542, l. 5 ob.; Judin: K istorii Pugačovščiny, 171. 207 Poberežnikov: Massovye vystuplenija, 89.
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der behauptete, Pugačev (und damit Peter III.) zu sein, erzählte 1777, Paul habe ihn in St. Petersburg erkannt und sich um ihn gekümmert.208 Auch der falsche Paul Grigorij Zajcev folgte diesem Muster, als er sagte, »sein« Vater Peter III. sei noch am Leben und befinde sich gegenwärtig in Cherson.209 Aus dem Pugačev’schen Aufstand leitet sich also nicht nur der kriegerische Peter III. ab, sondern auch sein Sohn Paul Petrovič, der mit ihm eines Herzens und eines Sinnes ist. Dennoch standen Vater und Sohn in einem Konkurrenzverhältnis zueinander. Wie oben ausgeführt, waren nach der Niederschlagung des Aufstandes die Erwartungen groß, dass Peter III. bald mit einer Armee zurückkehren und den Aufstand neu aufflammen lassen würde. Dann vergingen die Jahre und nichts geschah. Manch einer begann sich zu fragen, ob der Kaiser überhaupt noch lebe und / oder verlagerte seine Sympathien auf Paul, der ganz offiziell am Leben war und sich in St. Petersburg befand. Schon 1777 meinte Grigorij Kotel’nikov, ein Soldat im Ruhestand, falls Peter III. nicht komme, sei auch Paul in Ordnung (kogda on [Peter III.] ne budet, to i gosudar’ Pavel Petrovič laden).210 Außerdem ergab sich bei Peter III. und Paul Petrovič die Konkurrenz zwischen einem alternden Vater und seinem jungen, unverbrauchten Sohn. Diese gewinnt auf Dauer immer der Sohn, weil er für frische Kraft und Neubeginn steht.211 Insgesamt ist es wohl kein Zufall, dass die persona Peter III. endgültig verschwand, als Paul I. den Thron bestieg. Der letzte falsche Peter III. Semen Peterikov trat 1797 auf und damit im ersten Jahr von Pauls Regierungszeit, jedoch ist bei ihm nicht sicher, ob er sich überhaupt für Peter III. ausgab.212
4.3 Die falschen Konstantiny Pavloviči Zu den falschen Konstantiny Pavloviči, die als Beispiel für die Weitergabe von Wissen über samozvanstvo und den Zusammenhang zwischen Gerüchten und dem Auftreten falscher Mitglieder der Dynastie im 19. Jahrhundert dienen, existiert bislang keine eigenständige Publikation. Ol’ga Kaštanova legte 2000 als (unveröffentlicht gebliebene) Kandidatendissertation eine Biografie des echten Großfürsten Konstantin vor,213 in deren zweiten Teil sie sich mit den
208 RGADA , f. 7, o. 2, d. 2469, l. 3–3 ob. 209 RGADA , f. 6, o. 1, d. 542, l. 5 ob. 210 RGADA , f. 7, o. 2, d. 2480, l. 2. 211 Bercé: Le roi caché, 315. 212 RGADA , f. 6, o. 1, d. 554, l. 4. 213 Kaštanova, Ol’ga: Velikij knjaz’ Konstantin Pavlovič (1779–1831 gg.) v političeskoj žizni i obščestvennom mnenii Rossii. Dissertacija na soiskanie učenoj stepeni kandidata
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Voraussetzungen der Performanz
Meinungen der Zeitgenossen über ihn auseinandersetzt. Sie berücksichtigt Angehörige des Hofs und ausländische Diplomaten ebenso wie Gerüchte (unter Einbeziehung der falschen Konstantiny) und Volkslieder. Das Kapitel über Gerüchte bietet jedoch kaum Neues; es ist weitgehend deskriptiv gehalten und der Aufbau eng an Čistov angelehnt. Kaštanovas wichtigste These, dass sich die persona Konstantin in jedem Jahrzehnt gegenüber dem vorhergehenden verändert habe,214 überzeugt schon alleine deswegen nicht, weil sich historische Entwicklungen selten an runde Jahreszahlen wie 1830, 1840 und 1850 halten. Sonst werden die falschen Konstantiny in Werken zu samozvanstvo berücksichtigt, die den entsprechenden Zeitraum abdecken. Kubalov erforschte das Auftreten falscher Mitglieder der Dynastie in Sibirien im 18. und 19. Jahrhundert. Den Grund, warum das Phänomen auch in diese Region kam, sieht er durchgehend in den Besonderheiten der dortigen Gesellschaft und den harten Lebensbedingungen.215 Auf diese Weise treten die falschen Konstantiny nicht eigens hervor. Čistov stellt Konstantin in den Kontext einer »Bauern- und Befreiungsbewegung« in den letzten Jahrzehnten vor der Aufhebung der Leibeigenschaft.216 Das ist nur bedingt zu halten, wie noch zu zeigen sein wird. Ingerflom widmet den falschen Konstantiny einen eigenen Abschnitt, der jedoch recht kurz ausfällt, eine besondere Botschaft vermissen lässt und auch nicht in die übergeordnete Argumentation eingebunden ist.217 Um über Gerüchte über Konstantin Pavlovič schreiben zu können ist es notwendig, einen kleinen und sehr speziellen Teil der Historiografie über Alexander I. einzubeziehen. Seit den 1880er Jahren wird vorwiegend in einem journalistischen oder populärwissenschaftlichen Umfeld mithilfe von einmal mehr, einmal weniger wissenschaftlichen Ansprüchen genügenden Argumenten die Frage erörtert, ob er 1825 wirklich gestorben sei oder nicht vielmehr seinen Tod vorgetäuscht habe.218 Alle Quellen, die irgendeinen Bezug zum Lebensende Alexanders I. aufweisen und zeitnah (d. h. 1825 oder 1826) entstanden, werden benutzt, um einen der beiden Standpunkte zu untermauern. Das gilt auch für die wichtigste Quelle zur Genese der persona Konstantin Pavlovič, eine Liste mit 51 Gerüchten unter dem Titel »Moskovskie novosti« (»Moskauer Neuigkeiten«), von der weiter unten genauer die Rede sein wird.
214 215 216 217 218
istoričeskich nauk. Moskva 2000. Ich danke Ekaterina Boltunova dafür, dass sie mir die Dissertation zugänglich gemacht hat. Ebd., 345; 350; 354. Kubalov, B. G.: Sibir’ i samozvancy. Iz istorii narodnych volnenij v XIX veke. In: SO 3/1924, 152–177, hier 171–176. Čistov: Russkie narodnye social’no-utopičeskie legendy, 198–219. Ingerflom: Le tsar c’est moi, 399–404. Den Beginn dieser Debatte markiert der fehlerhafte und irreführende Beitrag Dolgoru kov, V.: Otšel᾽nik Aleksandr (Ḟ eodor) v Sibiri. In: RS 56 (1887), 217–220.
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Die Liste kam als Quelle über Alexander I. in den wissenschaftlichen Umlauf 219 und wird bis heute überwiegend als solche benutzt. Problematisch daran ist, dass die AutorInnen, die zu der Frage Stellung nehmen, was 1825 geschehen sei, in der Regel größere Zusammenhänge außer Acht lassen.220 Sie befassen sich weder mit den Besonderheiten von Gerüchten als Quellen, noch mit der bisherigen Forschung zu samozvanstvo und sind daher nicht in der Lage, beispielsweise dem Faktum Rechnung zu tragen, dass Gerüchte über verstorbene Mitglieder der Dynastie aus dem 18. Jahrhundert oft sehr ähnlich lauten wie jene über Alexander I. von 1825/1826.221 Aufgrund solcher Übereinstimmungen ist es nicht möglich, die Gerüchte ausschließlich aus dem realen Geschehen abzuleiten, wie es in Bezug auf Alexander I. aber meist geschieht. Analoge Fehler betreffen auch die Einordnung der Gerüchte über Konstantin Pavlovič. In diesem Kapitel werde ich daher zuerst zeigen, wie die Darstellung der personae Alexander I., Konstantin Pavlovič und Nikolaus I. in den »Moskovskie novosti« motiviert ist, um eine verlässliche Grundlage für die weitere Analyse zu erhalten. Zum anderen werde ich zeigen, dass die persona Konstantin den Übergang von einem langen 18. Jahrhundert des samozvanstvo zum 19. Jahrhundert repräsentiert. Dieses lange 18. Jahrhundert begann mit der Regierungszeit Peters I., in der erstmals mehrere Fabeln und Motive in Gerüchten feststellbar sind, die bis ins frühe 19. Jahrhundert regelmäßig vorkommen, und endete 1826, als die Formierung der persona Konstantin abgeschlossen war. Das Übergangshafte an der persona Konstantin äußert sich auf der einen Seite darin, dass sie der persona Peter III. stark ähnelt. Der Enkel beschäftigte die Gemüter nicht weniger als der Großvater ein paar Jahrzehnte früher. Teilweise kursierten über sie die gleichen Gerüchte, die sich lediglich darin unterscheiden, dass sie an die Protagonisten, Schauplätze und Ereignisse der jeweiligen Zeit angepasst sind. 219 Nikolaj Šil’der machte als Erster davon Gebrauch. In dem Aufsatz »Pochoronnyj god« (»Das Begräbnisjahr«) von 1897 zitiert er mehrere der Gerüchte und leitet damit vom Tod Elizaveta Alekseevnas zu Fedor Kuz’mič über (Šil’der, N. K.: Pochoronnyj god. In: RS 90 (1897), 5–25, hier 21–23.). Der Aufsatz nimmt inhaltlich das Ende des vierten Bandes von Šil᾽ders Biografie über Alexander I. vorweg, der 1898 erschien. Darin erwähnt Šil᾽der lediglich, dass es Gerüchte gab (Šil᾽der, N. K.: Imperator Aleksandr I. Ego žizn᾽ i carstvovanie. Tom IV. Sankt-Peterburg 1898, 445.). 220 Das gilt für so gut wie alle wissenschaftlichen wie populärwissenschaftlichen Biografien für Alexander I. sowie für Aufsätze und Monografien, die sich speziell mit der Frage befassen, ob er 1825 gestorben ist oder nicht und die »Moskovskie novosti« zitieren. Eine detaillierte Aufzählung würde zu viel Raum beanspruchen. 221 Eine lobenswerte Ausnahme bildet Aleksandr Archangel᾽skij, der sowohl ältere Gerüchte, als auch samozvanstvo einbezieht (Archangel’skij, Aleksandr: Pervyj i poslednij: Starec Feodor Koz’mič i Aleksandr I. Roman ispytanija. In: Novyj mir 11 (1995), 183–210.). Allerdings geht er mit seinen Schlussfolgerungen nicht weit genug.
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Zum anderen weisen die falschen Konstantins Merkmale auf, die bei den falschen Peter III. noch nicht zu beobachten sind, sich aber das gesamte 19. Jahrhundert hindurch verstärkten: Es gab weniger falsche Konstantiny als falsche Peter III., wie insgesamt die Zahl der samozvancy und samozvanki nach 1800 deutlich zurückging. Nach den falschen Konstantiny traten kaum mehr falsche Mitglieder der Dynastie auf; sie machten falschen Schauspielern, Schriftstellern und Mönchen Platz.222 Außerdem war die Performanz der samozvancy und samozvanki im 19. Jahrhundert weniger ausgefeilt und aufwändig als im 17. und 18. Jahrhundert (siehe auch Kapitel 5.2). Zuletzt ähneln sich die personae Peter III. und Konstantin Pavlovič auch darin, dass die Zuschreibungen an sie von jeweils einem Einzelereignis bestimmt waren. Dieser Umstand ist bei Peter III. leichter zu erkennen. Wie im vorhergehenden Kapitel gezeigt, stellen Gerüchte den Kaiser im ersten Jahrzehnt nach seinem Tod als fürsorglicher Herrscher vom Typ des roi caché dar. Eine spezifische Prägung in Form des kriegerischen Kaisers erhielt er erst durch den Pugačev’schen Aufstand. Zwischen dem Tod des echten Kaisers und dem entscheidenden Ereignis lag in diesem Fall also ein gutes Jahrzehnt. Im Unterschied dazu fallen bei Konstantin Pavlovič der Auslöser für die Gerüchteproduktion als solche und das prägende Ereignis zeitlich zusammen. Wie weiter unten noch ausführlicher erläutert werden wird, war die Ereigniskette aus dem Tod Alexanders I., dem sich daran anschließenden Interregnum, Konstantins (erneutem) Thronverzicht, der Thronbesteigung Nikolaus’ I. und dem Dekabristenaufstand auf der einen Seite dafür verantwortlich, dass über Konstantin Gerüchte jener Art kursierten, die sonst von verstorbenen Mitgliedern der Dynastie handelten, und auf der anderen Seite dafür, welche Eigenschaften dieser persona zugeschrieben wurden. Nach 1826 veränderte sich die persona Konstantin selbst nicht mehr, sie wurde aber im Laufe der Zeit in unterschiedliche politische Zusammenhänge eingeordnet. Nach der Niederschlagung des Novemberaufstandes 1831 brachten die Zeitgenossen sie mit polnischen Interessen in Verbindung, was nicht von ungefähr kam. Konstantin Pavlovič hatte als Oberbefehlshaber der polnischen Armee seit 1815 in Warschau gelebt und scheint sich irgendwann stark mit seiner neuen Heimat identifiziert zu haben. So soll er einmal gesagt haben, in seinem Herzen sei er ganz und gar Pole.223 Ob diese Aussage authentisch ist oder nicht sei dahingestellt; jedenfalls trat Konstantin Pavlovič bis zu seinem Lebensende nachdrücklich dafür ein, dass Polen ein eigenständiges Königreich innerhalb des Russländischen Reiches bleiben solle.224 Das 222 Ingerflom: Le tsar c’est moi, 340–350; Korolenko: Sovremennaja samozvanščina, 273–315. 223 Pienkos, Angela T.: The Imperfect Autocrat. Grand Duke Constantine Pavlovich and the Polish Congress Kingdom. Boulder 1987, 62. 224 Ebd., 60.
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brachte ihn in Widerspruch zu seinen Brüdern Alexander I. und Nikolaus I. und machte ihn zu einem naheliegenden Vertreter polnischer Interessen, nachdem die Niederschlagung des Aufstandes das Ende der polnischen Autonomie gebracht hatte.225 Diese neue Perspektive ist etwa daran erkennbar, dass Frankreich, das Zentrum der durch den Aufstand ausgelösten sogenannten Großen Emigration (poln. Wielka emigracja), am häufigsten als Aufenthaltsort von Konstantin Pavlovič genannt wird.226 Durch den Novemberaufstand erlangten Gerüchte über den Großfürsten neue und zusätzliche Aktualität, ohne dass der vermeintliche Gegensatz zu Nikolaus I. an Bedeutung verloren hätte. Auch kam es nicht zu einer Neubestimmung der persona wie es bei Peter III. nach dem Pugačev’schen Aufstand der Fall gewesen war. Konstantin wurden keine Absichten oder Ansichten zugeschrieben, die nicht schon im Zeitraum 1825–1831 erkennbar gewesen wären. Zwei weitere Gründe sprechen dagegen, Konstantins polnische Färbung, so interessant sie ist, in einer Gesamtbetrachtung der Gerüchte zu stark zu betonen: Erstens bewirkte der Novemberaufstand keine Partikularisierung des AdressatInnenkreises und / oder des Inhalts. Im Gegenteil legt das Beispiel Sibirien nahe, dass solche Gerüchte weder auf die Elite beschränkt, noch ausschließlich für MittlerInnen interessant waren, bei denen von vornherein anzunehmen ist, dass sie einer Autonomie oder völligen Unabhängigkeit Polens positiv gegenüberstanden. Die Erwartung von Konstantins Rückkehr war zwar in den 1830er Jahren in Sibirien am intensivsten, wohin nach dem Novemberaufstand viele Polen verbannt wurden. Diese Verbannten waren naheliegenderweise besonders empfänglich für Gerüchte über den Großfürsten.227 Kubalov kommt aber zu dem Schluss, dass deren Erzählungen dazu beitrugen, Konstantins Namen unter den russischsprachigen Einheimischen bekannt(er) zu machen und ihn als jemanden einzuführen, der sich für deren Belange einsetze.228 Wenn die Beamten der Dritten Abteilung zweitens den Ursprung eines Gerüchts über Konstantin ermitteln konnten, lag er zwar mehrheitlich in Kongresspolen, in den Gouvernements, die vor den Teilungen Polens zur Rzecz 225 Bei dem Bild von Konstantin als Freund Polens fiel unter den Tisch, dass Widerstand gegen eine seiner Anordnungen den Aufstand überhaupt erst ausgelöst hatte und er beinahe zu den ersten Opfern gehört hätte. Konstantin wollte polnische Soldaten nach Brüssel entsenden, um dort bei der Niederschlagung der Unruhen zu helfen. Offiziere verweigerten den Befehl und stürmten Konstantins Residenz, Schloss Belvedere in Warschau. Er kam nur mit dem Leben davon, weil ihm als Frau verkleidet die Flucht gelang (Figes, Orlando: Krimkrieg. Der letzte Kreuzzug. Darmstadt 2011, 136.). 226 GARF, f. 109, 1 ėksp. 1835, o. 10, d. 198, l. 8 ob.; GARF, f. 109, 1 ėksp. 1839, o. 14, d. 326, l. 3 ob. 227 Kubalov: Sibir’ i samozvancy, 171. 228 Ebd.
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pospolita gehört hatten oder bei Personen, die aus diesen Gebieten stammten. Diese Beispiele sind aber nicht ohne Weiteres als repräsentativ anzusehen, da beim Großteil der Gerüchte eine Rückverfolgung nicht möglich war oder jedenfalls nicht in den vorhandenen Akten dokumentiert wurde. Zudem ist der, vereinfacht gesagt, polnische Ursprung eines Gerüchts nicht mit einem rein polnischen Verbreitungsweg gleichzusetzen. Mit der Zeit verblasste auch die Assoziation der persona Konstantin mit Polen. Beginnend in den 1840er und besonders in den 1850er Jahren wurde sie verstärkt mit der für die nächste Zukunft erwarteten Aufhebung der Leibeigenschaft in Verbindung gebracht. Da es keine Zäsur in der Entwicklung der persona Konstantin Pavlovič gibt, liegt der Schwerpunkt dieses Kapitels auf dem Zeitraum 1825/1826. Zuerst werden die Ereignisse geschildert, die Konstantin Pavlovič ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückten und die Popularität der nach ihm benannten persona begründeten. Dann werden in der gewohnten Weise die Eigenschaften der persona in den Gerüchten herausgearbeitet, um zuletzt festzustellen, inwieweit die samozvancy unter Konstantins Namen diesen Zuschreibungen folgten. Die »Moskovskie novosti« als Quelle
Die ersten Gerüchte über Konstantin Pavlovič sind außergewöhnlich gut dokumentiert. Ende Dezember 1825 begann Fedor Fedorov, ein leibeigener Lakai im Moskauer Haus des Adeligen Zambulatov (auch Zimbulatov), alle Gerüchte aufzuschreiben, die er in der Stadt hörte. Seinen eigenen Angaben zufolge tat er das nur, um später überprüfen zu können, welche wahr und welche falsch gewesen waren.229 Er gab seiner Liste den Titel »Moskovskie novosti, ili novye pravdivye i ložnye sluchi« (»Moskauer Neuigkeiten, oder neue wahre und falsche Gerüchte«) und führte sie bis Ende Mai 1826.230 Fedorovs Quellen waren Zambulatov selbst, dessen Familie, Besucher im Haus und seine eigenen Bekannten, die überwiegend als Dienstboten in anderen Haushalten arbeiteten. Die insgesamt 51 Gerüchte in der Liste beziehen sich nicht nur auf Konstantin Pavlovič, sondern auch auf Alexander I., sonstige Mitglieder der Dynastie und wichtige Ereignisse in diesem Zeitraum wie den Aufstand der Dekabristen. Sie sind thematisch so vielfältig, dass Fedorov alles aufgeschrieben haben dürfte, was ihm zu Ohren kam. 229 Syroečkovskij: Moskovskie »sluchi«, 79. 230 Für die vollständige Liste siehe Ebd. Es ist bemerkenswert, dass es für Fedorov selbstverständlich war, dass Gerüchte gleichermaßen wahr wie falsch sein können, während dieser Umstand in der modernen wissenschaftlichen Literatur eigens hervorgehoben werden muss.
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Dass die »Moskovskie novosti« erhalten sind, ist einem Zufall zu verdanken. Das Original gehört zum Untersuchungsakt über die Soldaten Michajlo K rutikov und Dmitrij Medvedev. Diese waren zum Wachdienst vor dem Moskauer Archiv des Innenministeriums eingeteilt und unterhielten sich Ende April 1826 darüber, dass mehrere Attentate gegen die kaiserliche Familie geplant würden. Der bei dem Wortwechsel ebenfalls anwesende Soldat Marko Okarenko erzählte dem Kammerdiener von Michail Pavlovič, dem jüngsten Bruder von Alexander I., Konstantin Pavlovič und Nikolaus I., davon. Der Kammerdiener ging damit zu seinem Herrn, und Großfürst Michail war über das Gerede der Soldaten so beunruhigt, dass er eine Untersuchung anordnete.231 Wenig später eskalierte ein Konflikt zwischen Fedorov und Zambulatov. Fedorov zeigte Zambulatov an, weil dieser ihn schlecht behandle, immer wieder verprügle und ihm kürzlich auch noch den Georgsorden weggenommen habe, der ihm für seine militärischen Verdienste in den Jahren 1812–1815 verliehen worden war. Zambulatov versuchte seinerseits, Fedorov anzuschwärzen, indem er die »Moskovskie novosti« an sich nahm und als Beweis für eine aufrührerische Gesinnung seines Lakaien vorlegte.232 Der Generalgouverneur von Moskau Dmitrij Golicyn war über beide Untersuchungen informiert. Er brachte Generalmajor Gueroi (russ. Gerua), der die Untersuchung gegen Medvedev und Krutikov leitete, Anfang Juli 1826 die »Moskovskie novosti« als Anschauungsmaterial, welche Gerüchte gerade in der Stadt kursierten. Gueroi legte sie dem Akt bei, als dessen Teil sie erhalten blieben.233 Sowohl die inhaltliche Vielfalt der »Moskovskie novosti«, als auch die zeitliche Nähe zwischen Ereignis und Gerücht sind bemerkenswert. Deswegen darf aber nicht übersehen werden, dass auch diese Quelle nur einen kleinen Ausschnitt eines unbekannten Gesamtbildes abdeckt und daher möglicherweise ein verzerrtes Bild vermittelt. Es ist nicht feststellbar, ob 1825/1826 tatsächlich außergewöhnlich viele Gerüchte kursierten oder ihre große Anzahl nur daraus resultiert, dass vergleichbare private Aufzeichnungen zu einem früheren Zeitpunkt nicht existierten bzw. sich nicht erhalten haben. Die Liste deckt die Stadt Moskau gut (wenngleich keinesfalls vollständig) ab, aber es sind keine Belege für Gerüchte aus demselben Zeitraum und zu denselben Themen aus anderen Städten bzw. Gegenden des Reiches bekannt. Nur bei Gerücht 18 (Konstantin Pavlovič sei inkognito auf einer Hochzeit erschienen) vermerkte Fedorov, ein gewisser Moisej habe es aus Borovsk mitgebracht.234 Es ist also 231 232 233 234
Ebd., 65. Ebd., 79. Ebd., 61 f. Ebd., 81 f.
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nicht rekonstruierbar, wie bekannt solche Gerüchte außerhalb Moskaus waren, in welche Richtung und wie schnell sie sich verbreiteten. Ein Abgleich mit späteren Gerüchten über Konstantin Pavlovič zeigt aber, dass die Art und Weise, wie die persona in den »Moskovskie novosti« gezeichnet wird, mit späteren Quellen übereinstimmt, und somit für den gesamten Zeitraum repräsentativ ist, in dem sie Gesprächsthema war. Deswegen werden die meisten Schlussfolgerungen in diesem Kapitel die »Moskovskie novosti« als Ausgangspunkt nehmen. Die persona Konstantin nimmt Gestalt an (1825/1826)
Dieser Abschnitt hat das Ziel, zu erklären, wie die Popularität von Konstantin Pavlovič zustande kam und welche Eigenschaften der persona warum zugeschrieben wurden. Dazu müssen die Gerüchte über Konstantin im Wechselverhältnis mit dem Rest der »Moskovskie novosti« betrachtet werden. Da der »Rest« drei Viertel der Liste ausmacht, sollte das eigentlich selbstverständlich sein, war es aber in der bisherigen Forschung nicht. Konstantins Popularität geht, wie bereits angedeutet, auf das Interregnum zwischen dem Tod Alexanders I. am 19. November 1825 und der Thronbesteigung Nikolaus’ I. am 12. Dezember zurück. Alexander I. starb so, wie er 1801 den Thron bestiegen hatte: ohne lebende Nachkommen. Da kein Sohn als Nachfolger zur Verfügung stand, harrte dieses Problem während seiner gesamten Regierungszeit einer Lösung. 1797 hatte Paul I. die Primogenitur wieder eingeführt; demgemäß hätte auf Alexander sein nächstältester Bruder Konstantin Pavlovič folgen sollen. Alexander I. hegte allerdings eine tiefe Skepsis gegenüber der Primogenitur, weil sie automatisch den ältesten Sohn bzw. Bruder zum Thronfolger machte, ohne dessen Befähigung oder persönliche Wünsche zu berücksichtigen. Er ging nicht so weit wie Peter I., der mit dem Thronfolgegesetz von 1722 das Prinzip einer von bestimmten Regeln geleiteten Nachfolge innerhalb derselben Familie ganz aufgegeben hatte. Aber er behielt sich vor, aus dem Kreis seiner Brüder und möglicherweise noch geboren werdender Söhne denjenigen zum Thronfolger zu machen, den er für den geeignetsten hielt. Bei den Feierlichkeiten anlässlich seiner Krönung 1801 nahm er seinen Verwandten das Versprechen ab, dass sie seine Entscheidung akzeptieren würden, gleich, wie sie dereinst ausfallen würde.235 So kam es, dass Konstantin Pavlovič während der gesamten Regierungszeit von Alexander I. als Thronfolger galt und als solcher behandelt wurde, es aber strenggenommen nicht war, weil ihn Alexander I. nie formal dazu ernannt 235 Šumigorskij: Iz zapisnoj knižki, 285 f.
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hatte.236 Außerhalb des engsten Hofkreises weitgehend unbemerkt rückte allmählich der dritte Bruder Nikolaus Pavlovič an Konstantins Stelle. Dessen Erziehung und Ausbildung waren seit den 1800er Jahren darauf ausgerichtet, ihn als Thronfolger aufzubauen.237 Parallel entwickelte sich das Privatleben von Konstantin Pavlovič auf eine Weise, die ihn als Thronfolger weniger geeignet machte, weil das Problem der Nachfolge mit ihm als Kaiser nicht dauerhaft gelöst worden wäre. Er lebte seit 1800 von seiner ersten Frau getrennt; die Ehe war kinderlos. 1820 gab der Synod die Zustimmung zur Scheidung und einer zweiten Heirat mit Joanna Grudzińska (ab da Fürstin von Łowicz). Grudzińska entstammte jedoch keiner regierenden Familie, sodass die Ehe morganatisch war und darin geborene Kinder von der Thronfolge ausgeschlossen gewesen wären.238 Die sich schon länger abzeichnende Änderung in der Thronfolge kam erst 1822/1823 zum Abschluss.239 Im Jänner 1822 teilte Konstantin Pavlovič Alexander I. in einem formellen Schreiben mit, dass er auf sein Recht zur Thronfolge verzichte. In Rücksprache mit ihrer Mutter akzeptierte Alexander I. die Entscheidung. Im Sommer 1823 ließ er ein Manifest schreiben, in dem Nikolaus Pavlovič erstmals explizit als Thronfolger genannt wurde. Der Kaiser sah jedoch davon ab, das Manifest öffentlich zu machen. Entgegen der in älteren Publikationen vorherrschenden Meinung bedeutete das nicht, dass der Inhalt des Manifests geheim gewesen wäre. Ihn kannten nicht nur die Mitglieder der kaiserlichen Familie, sondern auch alle Würdenträger, die an seiner Abfassung und Hinterlegung beteiligt gewesen waren.240 Die unterbliebene Veröffentlichung ließ allerdings offen, was nach dem Tod von Alexander I. zu tun war, um einen reibungslosen Übergang zu gewährleisten, welche Schritte legitim waren und welche nicht. Konstantin Pavlovič und Nikolaus Pavlovič vertraten diesbezüglich entgegengesetzte Ansichten,241 und es dauerte zwei Wochen, bis sie sich verständigt bzw. in ihrer Korrespondenz einen toten Punkt erreicht hatten, sodass Nikolaus I. den Thron besteigen konnte. Infolge der unterbliebenen Veröffentlichung des Manifests von 1823 sah es für Außenstehende so aus, als wäre Nikolaus I. ein Usurpator. Konstantins Popularität hatte keine Vorgeschichte,242 sondern ist darauf zurückzuführen, 236 Ebd. 237 Andreeva, T. V.: Tajnye obščestva v Rossii v pervoj treti XIX v. Pravitel᾽stvennaja politika i obščestvennoe mnenie. Sankt-Peterburg 2009, 547 f. 238 Auch die zweite Ehe von Konstantin Pavlovič blieb kinderlos. 239 Die einzelnen Schritte sind im Detail nachzulesen bei Andreeva: Tajnye obščestva, 539– 578. Im Folgenden werden nur Aussagen mit Fußnoten belegt, die vom älteren Konsens der Forschung abweichen. 240 Ebd., 544. 241 Ebd., 569. 242 Angela Pienkos zufolge erfreute sich Konstantin nach Anfangsschwierigkeiten in der polnischen Armee tatsächlich großer Beliebtheit (Pienkos: The Imperfect Autocrat, 61; 87.).
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dass er in den Augen der meisten Zeitgenossen schlicht und ergreifend der rechtmäßige, »natürliche« Thronfolger war, den sein Bruder verdrängt hatte. Wie wichtig Legitimität war, zeigt sich auch an Gerücht 6 der »Moskovskie novosti«, das ein weiteres Familienmitglied ins Spiel bringt: Paul I. Dem Gerücht zufolge entdeckte Konstantin Pavlovič seinen Vater in Jerusalem in eine Säule eingemauert. Paul habe ihm ein Dokument gegeben, mit dem er gegenüber Nikolaus I. zweifelsfrei belegen könne, dass er der nächste Kaiser sein solle.243 Von der Fabel her erinnert es stark an jene Gerüchte, die in den 1750er Jahren über Peter II. kursierten (siehe Kapitel 3.2). Ebenfalls mit diesen vergleichbar kommt in den »Moskovskie novosti« auch die sehr knapp gehaltene Variante (Nr. 42) vor, dass sich Paul I. in »Griechenland« in einem Gefängnis (v Grečeskoj zemle v temnice) befinde.244 Ein wichtiger Unterschied zu den Gerüchten aus dem 18. Jahrhundert besteht darin, dass Paul I. weder befreit werden soll, noch selbst Anspruch auf den Thron erhebt, sondern lediglich für seinen zweiten Sohn Partei ergreift. Entweder handelt es sich um eine Weiterentwicklung des Motivs oder um eine Anpassung an die Gegebenheiten des 19. Jahrhunderts, die darin bestand, dass niemand Pauls Rückkehr auf den Thron wünschte. Jedenfalls ist klar, dass Konstantins Position durch das väterliche Eingreifen gestärkt wird, Nikolaus aber auf verlorenem Posten steht. Gerüchte erklärten die vermeintlich unrechtmäßige Thronbesteigung Nikolaus᾽ I. auf erwartbare Weise: Konstantin wäre ein Kaiser des »Volkes« geworden, aber die Adeligen hätten lieber einen Kaiser gewollt, der ihre eigenen Interessen vertreten würde und darum Nikolaus I. auf den Thron gehievt. An der Bruchlinie zwischen »Volkskaiser« und »Adelskaiser« wurde ein Gegensatz zwischen den Brüdern konstruiert, der zu einem wesentlichen Teil bestimmte, welche Eigenschaften ihnen jeweils zugeschrieben wurden. Die von Konstantin Pavlovič abgeleitete persona erhielt ihre Eigenschaften nicht von dem echten Großfürsten, sondern infolge der Wahrnehmung von Nikolaus I. als Usurpator. Analog ist das von Nikolaus I. gezeichnete Bild – zumindest in Gerüchten, die ihn Konstantin gegenüberstellen – nicht auf die Ansichten des echten Kaisers zurückzuführen, sondern auf die zwischen den Brüdern aufgespannte Opposition legitimer Herrscher – Usurpator. Bei Nikolaus I. besitzen die so zustande gekommenen Zuschreibungen zufällig einen realistischen Anstrich, weil es für ihn tatsächlich nicht in Frage kam, eine Verfassung einzuführen und er zwar das Los der Leibeigenen mit kleinen Maßnahmen zu verbessern versuchte, jedoch nicht daran dachte, die Doch das ist nicht auf den Rest des Russländischen Reiches übertragbar. Im Gegenteil ist anzunehmen, dass er gerade in St. Petersburg ein politisch wie auch sonst unbeschriebenes Blatt war. Zu diesem Befund kommt auch Kaštanova (Kaštanova: Velikij knjaz’ Konstantin Pavlovič, 330.). 243 Syroečkovskij: Moskovskie »sluchi«, 81. 244 Ebd., 84.
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Leibeigenschaft gänzlich aufzuheben. Bei Konstantin Pavlovič passen die Zuschreibungen ebenso zufällig nicht, denn er hielt sowohl eine Verfassung, als auch die Abschaffung der Leibeigenschaft für gefährlich. Von seinen politischen Ansichten her wies er mehr Gemeinsamkeiten mit Nikolaus I. als mit Alexander I. auf. Dessen ungeachtet sahen die »Moskovskie novosti« Konstantin eines Sinnes mit Alexander. Über Alexander I. und Konstantin Pavlovič wurde am Beginn des Zeitraums, der für die Entwicklung der persona Konstantin relevant ist, gleich viel geredet. In Fedorovs Liste beziehen sich 13 Gerüchte auf das Schicksal von Alexander I. (1, 3, 8, 10, 11, 20, 21, 25, 30, 32, 38, 40, 43).245 Wie die Nummern verraten, blieb das Thema in dem Zeitraum, in dem Fedorov seine Aufzeichnungen führte, durchgehend aktuell. Acht Gerüchte berichten über die Aktivitäten von Konstantin Pavlovič (7, 18, 23, 24, 28, 42, 48, 51) und fünf weitere erörtern speziell die Frage, warum er nicht den Thron bestieg (2, 4, 5, 6, 27). Zusammengenommen ergibt das ebenfalls 13 Gerüchte. Die große Anzahl und inhaltliche Vielfalt der Gerüchte über Alexander I. in Fedorovs Liste ist in Hinblick auf die weitere Entwicklung aber nur ein Strohfeuer. Während Gerüchte über Konstantins Aktivitäten in den 1830er und, bereits mit abnehmender Intensität, in den 1840er Jahren nachweisbar sind, datiert das letzte in den Beständen der Dritten Abteilung festgehaltene Gerücht, dass Alexander I. noch am Leben sei, von 1831.246 Auch andere bekannte Quellen ergeben kein anderes Bild. Nach 1831 waren Gerüchte über Alexander I. erstens sehr selten und besagten zweitens, er sei ermordet worden. Ein Beispiel stammt aus dem Jahr 1845 aus dem Gouvernement Orenburg.247 Da die Täter immer die »Herren« (Adeligen) sind, deuten solche Spekulationen darauf hin, dass Alexander I. ganz wie Konstantin Pavlovič als »Volkskaiser« galt, der in einem Gegensatz zum Adel steht. Ein zweifellos Toter, weil Ermordeter, ist allerdings nicht als Projektionsfläche für in die Zukunft gerichtete Hoffnungen geeignet. 245 Diese Zählung basiert auf der Prämisse, dass jede Nummer ein eigenständiges Gerücht repräsentiert. Das ist analytisch dadurch gerechtfertigt, dass über den Ursprung und die Verbreitung eines Gerüchts nichts bekannt ist, bevor Fedorov es in seine Liste aufnahm. Somit fehlen belastbare Anhaltspunkte, um Varianten sicher als solche zu identifizieren, voneinander abzugrenzen und eine richtige Gesamtzahl zu ermitteln. Die kleine Unschärfe gewährt, überhaupt Schlussfolgerungen aus der Verteilung ziehen zu können. Realistischerweise sind inhaltlich sehr ähnliche Gerüchte aber wohl Varianten, die Fedorov von unterschiedlichen Personen und zu unterschiedlichen Zeitpunkten hörte. Diese Annahme ist etwa bei den Gerüchten 3 und 8 naheliegend (Ebd., 80 [Gerücht 3]; 81 [Gerücht 8].). In beiden wird das Gesicht des toten Alexander I. von einer Maske aus Wachs bedeckt, um zu vertuschen, dass er ermordet wurde. Sie unterscheiden sich nur in der Todesart. In Gerücht 3 wird der Kaiser erstochen bzw. mit einem Dolch brutal zugerichtet, in Gerücht 8 vergiftet, wodurch sich sein Gesicht schwarz verfärbt. 246 GARF, f. 109, 1 ėksp. 1831, o. 6, d. 545, l. 1. 247 Kazochanin: Samozvanec Kalugin, 170.
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Darüber hinaus deutet der räumliche und zeitliche Ursprung der Gerüchte über Alexander I. darauf hin, dass sie nichts mit Alexander I. zu tun hatten. Sie sind nicht die Spekulationen darüber, was in Taganrog geschehen oder eben nicht geschehen ist, für die sie üblicherweise gehalten werden, sondern stehen mit dem bereits behandelten angeblichen Gegensatz zwischen dem »Volkskaiser« Konstantin und dem »Adelskaiser« Nikolaus in Zusammenhang.248 Die immerhin 13 Gerüchte über das »wahre Schicksal« Alexanders I. in den »Moskovskie novosti« ziehen die offiziellen Berichte über die letzten beiden Wochen seines Lebens in Zweifel, unabhängig davon, ob sie den Kaiser zu einem Mordopfer erklären oder im Gegenteil behaupten, er habe seinen Tod vorgetäuscht. Naheliegend wäre also, dass diese Gerüchte in Taganrog aufkamen, wo Alexander I. gestorben war und sich von dort aus verbreiteten. Auch ein Auslöser für derartige Spekulationen ließe sich benennen, da die letzte Krankheit des Kaisers zehn Tage lang geheim gehalten und erst bekannt gegeben wurde, als keine Hoffnung mehr bestand.249 Typischerweise wären Gerüchte aufgekommen, um den nicht absehbaren und abrupten Wechsel von scheinbarer Normalität zur Bekanntgabe einer tödlichen Krankheit zu erklären. Doch das war nicht der Fall. Das recht umfangreiche Quellenkorpus zur letzten Krankheit und zum Tod von Alexander I. enthält nur einen einzigen Hinweis auf derartige Spekulationen. Er stammt aus den Memoiren des Chirurgen Dmitrij Tarasov, des Assistenten von Alexanders Leibarzt James Wylie, der den Trauerzug begleitete. Tarasov schreibt, es habe unterwegs unsinnige Gerüchte über den Tod des Kaisers (nelepye tolki […] naščet končiny imperatora) gegeben.250 Leider sagt er weder Näheres zum Inhalt der Gerüchte, noch gibt er an, wann und wo er sie gehört hatte. Die Chronologie der Ereignisse schränkt die diesbezüglichen Möglichkeiten allerdings so weit ein, um daraus Rückschlüsse auf die Hintergründe ihrer Genese zu ziehen. Der Trauerzug verließ Taganrog erst am 29. Dezember251 – vier Tage, nachdem Fedorov in Moskau begonnen hatte, seine Liste mit Gerüchten zu führen. 248 Etwas Ähnliches war in England nach dem Tod Elisabeths I. der Fall. Wie Kerstin Weiand gezeigt hat, war das positive posthume Bild der Königin kein Reflex einer Popularität zu Lebzeiten, sondern eine Reaktion auf die politischen Umstände gleich nach ihrem Tod und das Programm ihres Nachfolgers Jakob I. (Weiand: Herrscherbilder, 21; 30.). 249 F. I. Martos an I. I. Martos, 11. November 1825. Zitiert nach: Poslědnie dni žizni imperatora Aleksandra I. In: IV 63 (1896), 471–499, hier 486; Briefe eines anonymen Mitglieds der Familie Šachmatov an Bruder und Mutter, 19. und [23.] November 1825, zitiert nach: Nikolaj Michajlovič, Velikij knjaz’: Legenda o končině Imperatora Aleksandra I v Sibiri v obrazě starca Ḟ eodora Koz᾽miča. In: IV 109 (1907), 5–40, hier 24; 26. 250 Tarasov, A. D.: Vospominanija moej žizni. Zapiski početnago lejb-medika D. K. Tarasova 1792–1866. In: RS 4 (1871), 223–261; 597–648; 5 (1872), 355–388; 6 (1872), 99–143, hier 134. 251 Šil’der: Imperator Aleksandr I, 433. Tarasov nennt ein falsches Datum (Tarasov: Vospominanija, 132.).
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Das bedeutet, Gerücht 3 der »Moskovskie novosti« ist der früheste sichere Beleg für Spekulationen, dass Alexander I. keines natürlichen Todes gestorben sei und Gerücht 10 für Spekulationen, dass er seinen Tod vorgetäuscht habe. Beide Gerüchte sind eindeutig nach der Thronbesteigung Nikolaus’ I. zu datieren. Die zeitliche Abfolge deutet zum einen darauf hin, dass sich die Gerüchte, die Tarasov hörte, nicht, wie bisher in der Forschung angenommen, entlang der Route des Trauerzugs von Süden nach Norden ausbreiteten, sondern es genau umgekehrt war: Es ist anzunehmen (wenngleich nicht nachweisbar), dass sie in einem Zentrum wie Moskau oder St. Petersburg als Teil des Bemühens entstanden, den Machtwechsel zu erklären bzw. Nikolaus I. zu delegitimieren und sich nach Süden ausbreiteten, bis sie irgendwann den Trauerzug erreichten und dort für Unruhe sorgten. Daraus folgt, dass die Gerüchte über Alexander I. analog zu den Gerüchten über Konstantin Pavlovič weder mit Ereignissen in den letzten zwei Wochen seines Lebens, noch mit einer besonderen persönlichen Popularität zu erklären sind.252 Das ausschlaggebende Kriterium ist vielmehr, dass Nikolaus I. aus der Sicht seiner Untertanen nicht nur im Vergleich mit Konstantin Pavlovič der weniger legitime Herrscher war, sondern es auch neben einem noch lebenden Alexander gewesen wäre.253 Bis 1831 teilten sich die personae Alexander I. und Konstantin Pavlovič die Funktion des legitimen Gegenpols zu Nikolaus I. Danach trat Alexander I. deutlich in den Hintergrund. Das ist keineswegs Zufall, sondern kann mit zwei Ereignissen in diesem Jahr erklärt werden. 1831 wurde der Novemberaufstand endgültig niedergeschlagen und infolgedessen die Autonomie des Königreichs Polen im Verband des Russländischen Reiches aufgehoben. Wie bereits geschildert, war die persona Konstantin ein naheliegender Anwalt polnischer Interessen. Alexander I. war das nicht. Zwar war das sogenannte Kongresspolen 1815 auf seine Initiative hin entstanden, aber spätestens ab 1820 nahmen die Friktionen zwischen ihm und dem Sejm zu, sodass er die Rechte des Sejm zunehmend beschnitt. Es ist eher zweifelhaft, dass die polnische Autonomie langfristig bestanden hätte, hätte seine Regierungszeit länger gedauert. Zweitens starb 1831 der echte Konstantin Pavlovič, sodass nunmehr beide legitimen, positiv besetzten Gegenpole zu Nikolaus I. tot waren. Dadurch wurde die Anomalie beseitigt, dass ein noch lebendes Mitglied der Dynastie so ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückte, wie es normalerweise nur bei 252 Am unmittelbaren Beginn seiner Regierungszeit war Alexander I. bei seinen Untertanen zweifellos beliebt, doch seine Popularität nahm nach 1815 rapide ab und war nach 1820 praktisch nicht mehr vorhanden. Auch darin lassen sich Parallelen zu Elisabeth I. von England im letzten Jahrzehnt ihrer Regierungszeit ziehen. Zu Elisabeth I. siehe Weiand: Herrscherbilder, 56–66. 253 Dazu siehe Archangel’skij: Pervyj i poslednij, 197 f.
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verstorbenen der Fall war. Für Konstantin Pavlovič hieß das, dass er der Vorstellungskraft der Bevölkerung uneingeschränkt zur Verfügung stand. Gerüchte konnten ihn sich an jedem beliebigen Ort aufhalten, alles Denkbare tun und planen lassen, weil die Aktivitäten des echten Großfürsten solche Behauptungen nicht mehr unplausibel machen konnten. Da Konstantin nun ganz zur Verfügung stand, dürfte stärker als zuvor ins Gewicht gefallen sein, dass Alexander I. denkbar ungeeignet war, um mittels Gerüchten Erwartungen auf ihn zu projizieren und, was potenzielle samozvancy angeht, seine Identität zu benutzen. Wie bereits in Kapitel 3.3 ausgeführt, weist samozvanstvo ein paar Gesetzmäßigkeiten in Hinblick darauf auf, welche Mitglieder der Dynastie sich besser dafür eigneten, unter ihrer Identität aufzutreten und welche weniger gut: Samozvancy / samozvanki eigneten sich häufiger die Identität eines Thronfolgers als die eines Herrschers / einer Herrscherin an sowie häufiger die Identität eines Herrschers / einer Herrscherin mit kurzer Regierungszeit als mit langer. Dieselben Kriterien werden auch bei der Frage wirksam, welche Mitglieder der Dynastie sich als Protagonisten in Gerüchten (d. h. als positive Projektionsfläche für in die Zukunft gerichtete Erwartungen) eigneten und welche nicht. Sie sprechen eindeutig gegen Alexander I. und ebenso eindeutig für Konstantin Pavlovič. Alexander I. regierte ein knappes Vierteljahrhundert, seine Herrschaft war nicht zuletzt durch den Kampf gegen Napoleon ereignisreich und profiliert. Zusätzlich war seit 1820 klar, dass es mit ihm als Kaiser keine tiefgreifenden Reformen mehr geben würde. Alles das sprach dagegen, dass die nach ihm benannte persona nach 1825 auf Dauer jene Funktion erfüllte, die der persona Konstantin zukam. In Übereinstimmung damit traten zwei falsche Alexander auf, als er noch Thronfolger war,254 während aus seiner Regierungszeit und posthum kein solcher Fall bekannt ist. Konstantin Pavlovič hatte im selben Zeitraum als Thronfolger gegolten, ohne für die breite Bevölkerung erkennbare politische Konturen anzunehmen. Zudem lebte er seit 1815 in Warschau, was ihn auch räumlich im Abseits platzierte. Passend dazu trat eine durchaus beachtliche Anzahl von samozvancy unter seinem Namen auf. Von ihnen wird im nächsten Abschnitt die Rede sein.
254 Die samozvancy waren 1797 Kirill Bornjakov (RGADA , f. 6, o. 1, d. 553.) und 1798 Boris Sočnev (RGADA , f. 7, o. 2, d. 3302.). Beide suchten einen Ausweg aus einem finanziellen Engpass.
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Die falschen Konstantiny Pavloviči (1826–1883/1884)
In den »Moskovskie novosti« wie auch in späteren Gerüchten weist die persona Konstantin Pavlovič eine große Ähnlichkeit mit der persona Peter III. auf. Die Gemeinsamkeiten sind weitaus größer als beispielsweise zwischen Peter II. und Peter III. Wie sein Großvater erschien Konstantin auf der einen Seite als fürsorglicher Herrscher (in spe), der um das Wohlergehen seiner (zukünftigen) Untertanen besorgt ist. Ein Gerücht von 1836 berichtet, er fahre abgemagert und unrasiert in einer Berline durch das Reich. Er habe eine goldene Feder hinter dem Ohr stecken, um Missstände jederzeit aufschreiben zu können.255 Konstantin wurde auch als geheimnisvoller Wanderer vorgestellt, der ständig seinen Aufenthaltsort wechsle, aber nur gegenüber wenigen Auserwählten sein Inkognito lüfte oder beispielsweise als Kaufmann verkleidet sei und darum unerkannt bleibe.256 Auf der anderen Seite verkörperte auch Konstantin den kriegerischen Kaiser (in spe), der eine Armee sammle, um für sein Recht auf den Thron zu kämpfen (siehe unten). Ein wichtiger Unterschied zwischen den personae besteht darin, dass der fürsorgliche und der kriegerische Kaiser bei Peter III. zwei klar getrennten Phasen zuzuordnen sind. Bei Konstantin Pavlovič konnten zwischen 1825 und etwa 1855 jederzeit beide Varianten aktualisiert werden. Es lässt sich kein Zeitpunkt festmachen, an dem die eine persona die andere verdrängt hätte oder ein Grund, warum ein Gerücht die eine Variante bedient und ein anderes die zweite. Die Verteilung dürfte sich rein aus den Interessen der MittlerInnen ergeben. Ungeachtet der parallelen Existenz des fürsorglichen und des kriegerischen Kaisers in spe lassen sich Zweiterem mehr Gerüchte zuordnen. Das dürfte damit zusammenhängen, dass an der Thronbesteigung Nikolaus’ I. ebenso wie an der Niederschlagung des Novemberaufstandes nur mit Waffengewalt etwas zu ändern gewesen wäre. Allerdings besagen bei weitem nicht alle Gerüchte explizit, Konstantin werde demnächst mit einer Armee ins Russländische Reich kommen. Angesichts des Motivs von dem »wahren« Herrscher, der sich von der Peripherie aus anschickt, gegen »Verräter« vorzugehen (siehe Kapitel 4.2), liegt die Annahme nahe, dass Konstantins Aufenthalt im Ausland auf einen bevorstehenden militärischen Schlag verweist, doch ohne expliziten Verweis auf eine Armee ist das nicht sicher. Auch sonst entwickelte sich dieses Motiv im Vergleich mit dem 17. und 18. Jahrhundert weiter. Konstantin wurde sowohl von Osten, als auch von Westen kommend erwartet. Die Ostorientierung hatte er zum einen mit Peter III. gemeinsam. Wie 255 Mordovcev: Odin iz Lže-Konstantinov, 170 f. 256 Ebd., 170–172; Narodnye tolki o Cesarevičě Konstantině Pavlovičě. In: RS 23 (1878), 135–140, hier 139; Ingerflom: Le tsar c’est moi, 403.
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sein Großvater sollte Konstantin mit dem Kaiser von China verbündet sein,257 aber auch Korea wurde als sein Aufenthaltsort genannt.258 Peter III. und Konstantin Pavlovič verbindet weiters der Bezug auf fiktive »ferne Orte« wie den Fluss Dar’ja und das Land Belovod’e, die nach allgemeiner Ansicht gleichfalls im Osten lagen (siehe Kapitel 3.3). Während Peter III. nur mit einer Armee die Dar’ja entlanggezogen sein soll,259 wurde Belovod’e als von Konstantin regiertes Reich imaginiert.260 Das unterstreicht den Status von Belovod’e als utopischer Sehnsuchtsort, an dem alles bereits so ist, wie es nach Ansicht der Zeitgenossen sein sollte. Zum anderen lässt sich die Verortung im Osten damit erklären, dass die nach Sibirien verbannten Polen Konstantin am sehnsüchtigsten erwarteten. Sie nahmen an, er würde erst sie befreien, sich dann seinen Bruder vorknöpfen und Polen zur Unabhängigkeit führen. Unter ihnen kursierte etwa das Gerücht, vor Kamčatka liege eine aus zwölf Schiffen bestehende Flotte mit polnischer Besatzung unter Konstantins Kommando vor Anker.261 In westlicher Richtung wurde Konstantin nachgesagt, sich in »Rumänien«,262 der Moldau,263 Griechenland,264 der »Türkei«,265 Preußen,266 England,267 Frankreich oder den USA268 aufzuhalten. Der angebliche Aufenthalt in den USA ist möglicherweise die Variante eines Gerüchts vom Februar 1826, das Alexander I. dort vermutete.269 Wie in Kapitel 4.2 ausgeführt, wurde die Armee von Peter III. in Gerüchten entweder in den entlegensten Gegenden des Russländischen Reiches oder unmittelbar jenseits der Grenze lokalisiert, weil es dort realistischerweise möglich war, unbemerkt Kämpfer zusammenzuziehen. Dieselbe Überlegung könnte dafür verantwortlich sein, dass sich auch Konstantin im Osmanischen Reich oder dessen (ehemaligen) Provinzen befinden sollte. Allerdings wurde Konstantin im Unterschied zu Peter auch in Ländern verortet, die nicht an das Russländische Reich grenzten und hielt sich nicht 257 Kubalov: Sibir’ i samozvancy, 173. 258 Čistov: Russkie narodnye social’no-utopičeskie legendy, 218. 259 RGADA , f. 7, o. 2, d. 2699, l. 81 ob. 260 Liprandi: Kratkoe obozrěnie, 145. 261 Kubalov: Sibir’ i samozvancy, 173. 262 GARF, f. 109, 1 ėksp. 1831, o. 6, d. 545, l. 1 ob. 263 Narodnye tolki, 138. 264 Rachmatullin, M. A.: Legenda o Konstantine v narodnych tolkach i sluchach 1825–1858 gg. In: Janin, V. L. (Red.): Feodalizm v Rossii. Sbornik statej i vospominanij, posvjaščennyj pamjati akademika L. V. Čerepnina. Moskva 1987, 298–308, hier 303. 265 Ebd., 304. 266 Ebd., 301. 267 GARF, f. 109, 1 ėksp. 1834, o. 9, d. 289, l. 3 ob. 268 Kaštanova: Velikij knjaz᾽ Konstantin Pavlovič, 354. 269 Extrait d’une lettre au Baron Mérian à Paris en 1826. In: Œuvres choisies de la princesse Zénéide Volkonsky née princesse Beloselsky. Paris, Carlsruhe 1865, 221–231, hier 230.
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immer bei einer Armee auf. Deswegen dürften sich seine Aufenthaltsorte daraus ergeben, dass er mit wichtigen politischen Themen der Regierungszeit von Nikolaus I. in Verbindung gebracht wurde. Eine solche Lesart setzt voraus, dass zumindest ein Teil der MittlerInnen hinreichend über die europäische Politik informiert war. Das ist nicht direkt nachweisbar, aber auch nicht von vornherein auszuschließen und wäre eine Weiterentwicklung gegenüber dem 18. Jahrhundert. Bei Gerüchten über Peter III. ist kein Bezug zur europäischen Bündnisarchitektur oder zu Konfliktlinien der Regierungszeit Katharinas II. erkennbar. Die einzige Ausnahme wäre Peters angebliches Bündnis mit dem Sultan während des bis dahin letzten russisch-türkischen Krieges (1787–1791). Dabei könnte die Maxime der Feind meines Feindes ist mein Freund schlagend geworden sein. Ein solches Einzelbeispiel besitzt im Gesamtbild aber kaum Gewicht. Die Aufenthaltsorte Preußen, England und Frankreich könnten sich auf den Novemberaufstand beziehen. Nach dem Aufstand flohen rund 20 000 Polen nach Preußen, wo sie entgegen ihrer Erwartungen inhaftiert wurden.270 Die persona Konstantin fand dort also gleichermaßen Unterstützer wie zu Unrecht verfolgte Patrioten, denen er zu ihrem Recht verhelfen konnte. Fürst Adam Czartoryski, der nach dem Beginn des Aufstandes Chef der provisorischen Regierung gewesen war und später die Exilregierung leitete, hielt sich von 1830–1832 in London auf, ehe er wegen mangelnder konkreter Unterstützung nach Paris wechselte.271 Paris war, wie erwähnt, das Zentrum der Großen Emigration und Frankreich in Gerüchten Konstantins am häufigsten genannter Aufenthaltsort. Außerdem verband sich nur Frankreich mit der Ankündigung, dass er Truppen sammle.272 Das Osmanische Reich und seine (ehemaligen) Provinzen könnten unter dieser Perspektive für die »orientalische Frage« stehen. Die Verbindung mit Konstantin wäre durch den schillernden Begriff der Freiheit gegeben. Konstantins Popularität war 1825/1826 auch daraus entstanden, dass er mit Freiheit im Sinn von Aufhebung der Leibeigenschaft in Verbindung gebracht wurde (er wolle sie abschaffen, Nikolaus nicht). Die Assoziation mit dem Novemberaufstand ab 1831 verweist, aus polnischer Perspektive betrachtet, auf Freiheit in einem nationalen Sinn (und dadurch auf Freiheit vor Unterdrückung), und möglicherweise auf Freiheit in einem konfessionellen bzw. religiösen Sinn. Forderungen nach nationaler und religiöser Freiheit begleiteten auch die orientalische Frage, selbst wenn die eigentlichen Beweggründe machtpolitischer Natur waren. Wenn die persona Konstantin für die Freiheit Polens eintritt, kann sie auch für die Freiheit Griechenlands, »Rumäniens«, etc. eintreten. 270 Figes: Krimkrieg, 137. 271 Ebd., 141 f. 272 GARF, f. 109, 1 ėksp. 1835, o. 10, d. 198, l. 8 ob.; GARF, f. 109, 1 ėksp. 1839, o. 14, d. 326, l. 3 ob.; Narodnye tolki, 136; Rachmatullin: Legenda, 302.
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Wie fügen sich nun die falschen Konstantins in das Bild ein? Neun sa mozvancy sind gesichert, die Existenz eines zehnten ist fraglich. Im Frühjahr 1826 kursierte in der Provinz Uman᾽ des Gouvernements Kiev das Gerücht, Konstantin reise mit einem Begleiter in einer fünfspännigen Kutsche herum. Die Untersuchungsbeamten konnten nicht ermitteln, ob es sich um ein reines Gerücht handelte oder ob tatsächlich ein falscher Konstantin in einer Kutsche unterwegs war.273 Dieser Fall wird im Weiteren nicht berücksichtigt. Von den neun sicheren samozvancy traten acht im Zeitraum 1826–1861 auf. Der neunte starb 1883 oder 1884 in St. Petersburg, aber es ist nicht bekannt, wann er sich zum ersten Mal diese Identität aneignete. Dazu kommen zwei falsche Großfürsten Konstantin, die in den 1850er Jahren auftraten. Bei ihnen ist wegen des fehlenden Vatersnamens nicht klar, ob sie sich für Konstantin Pavlovič oder dessen Neffen Konstantin Nikolaevič, den zweiten Sohn von Nikolaus I., ausgaben,274 darum werden sie im Folgenden nicht berücksichtigt. Konstantin Nikolaevič galt als gebildet und liberal, und war zum Teil beliebter als sein Bruder Alexander II. Ab 1856 sind Gerüchte belegt, die Konstantin Nikolaevič in einer ganz ähnlichen Rolle sehen wie seinen Onkel und ihn etwa als jemanden zeigen, der sich für die Abschaffung der Leibeigenschaft einsetzt.275 Zeitlich waren die samozvancy zwischen 1826 und 1848 relativ gleichmäßig verteilt. Mitte der 1830er Jahre war speziell unter den verbannten Polen die Erwartung, dass Konstantin bald mit einer Armee zurückkommen werde, so groß, dass sich der spätere Generalgouverneur von Sibirien Semen Bronevskij veranlasst sah, die Maßnahmen zum Erhalt der inneren Ruhe zu verschärfen und insbesondere Vaganten genau unter die Lupe zu nehmen.276 Diese Erwartungshaltung hatte jedoch keine erkennbaren Auswirkungen auf das Auftreten von samozvancy. Nach 1848 waren die Abstände zwischen den gesicherten Fällen deutlich größer, was darauf hindeutet, dass die persona ihre Anziehungskraft verlor277 bzw. durch Konstantin Nikolaevič Konkurrenz bekam. Sechs der neun samozvancy traten auf einem Gebiet auf, das im Norden von Penza, im Osten von Orenburg, im Süden von Saratov und im Westen von Tambov begrenzt wird. Bei den verbleibenden drei handelt es sich um 273 Kaštanova: Velikij knjaz᾽ Konstantin Pavlovič, 342. 274 Čistov: Russkie narodnye social’no-utopičeskie legendy, 213. 275 Rachmatullin: Legenda, 304. 276 Kubalov: Sibir’ i samozvancy, 173 f. 277 Čistov behauptet, in den 1840er Jahren lasse sich eine große Intensität der Gerüchte über Konstantin Pavlovič nachweisen (Čistov: Russkie narodnye social’no-utopičeskie legendy, 207.). Der Großfürst war zweifellos Gesprächsthema, weil sowohl Gerüchte, wie auch samozvancy nachweisbar sind. Um von einer großen Intensität zu sprechen, gibt es jedoch zu wenige Belege. Vermutlich musste Čistov das schreiben, um die Vitalität der »Bauern- und Befreiungsbewegung« des 19. Jahrhunderts zu bestätigen.
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einen östlichen (die Umgebung von Krasnojarsk) sowie zwei westliche Ausreißer (Moskau278 und St. Petersburg). Wie schon bei Peter III. deckten die Gerüchte ein größeres Gebiet ab als die entsprechenden samozvancy: Sie sind im gesamten europäischen Teil des Russländischen Reiches einschließlich beider Hauptstädte nachweisbar und auch in Sibirien. Ausgehend von den Gerüchten über Konstantin weist die geografische Verteilung der samozvancy außerdem zwei interessante Lücken auf: In Kongresspolen trat überhaupt kein samozvanec auf und in Sibirien nur einer, obwohl dort die Gerüchteproduktion besonders intensiv gewesen war. Nun lässt sich auch in diesem Fall nicht quantifizieren, wie sehr Quellenverluste oder bislang unbeachtet gebliebene Akten das Bild verzerren. Doch auch so ist sicher, dass es in diesen Gebieten keine mit Konstantin Pavlovič assoziierte Episode von sa mozvanstvo gab, die entweder großes Aufsehen erregt hätte oder folgenschwer gewesen wäre. Ebenso wenig kam es zu einer Häufung solcher Episoden, sonst hätten sich Hinweise auf zumindest ein paar erhalten. Nicht zuletzt befindet sich unter den bekannten falschen Großfürsten keiner, der einen polnischen Familiennamen getragen hätte. Es hat ganz den Anschein, als wären die Gerüchte, so intensiv sie zum Teil zirkulierten, viel weniger oder gar nicht in samozvanstvo umgesetzt worden, wo ethnische Polen involviert waren. Über drei samozvancy ist zu wenig bekannt, um Aussagen zu machen, inwieweit sie der in Gerüchten festgelegten persona folgten. Einer trat 1831 im Gouvernement Tambov auf, der zweite 1848 in Moskau und der dritte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in St. Petersburg. Zeitgleich mit der Verhaftung des anonymen Moskauer samozvanec kursierte das Gerücht, Nikolaus I. habe sich sehr gefreut, als er erfahren habe, dass sein Bruder noch am Leben sei und versprochen, er werde ihm zu Ehren den gesamten Weg in die Hauptstadt mit Samt auslegen lassen. Konstantin habe erwidert, es wäre ihm lieber, die Straße mit den Köpfen der Adeligen gepflastert zu sehen und falls Nikolaus das mache, werde er ihn gerne besuchen kommen.279 Sollte dieses Gerücht ein Echo von Ankündigungen des Moskauer samozvanec gewesen sein, hätte er die kriegerische persona bedient. Doch das ist unwahrscheinlich, da ein sehr ähnliches Gerücht bereits 1845, drei Jahre zuvor, im Gouvernement Kiev kursiert war. Es unterscheidet sich vom Moskauer Gerücht nur darin, dass Nikolaus die Straße mit Marmor pflastern will und Konstantin die Köpfe von Polen [sic!] und Geistlichen als Bodenbelag fordert.280
278 Ebd., 211. 279 Ebd. 280 Rachmatullin, M. A.: Krest’janskoe dviženie v velikorusskich gubernijach v 1826–1857 gg. Moskva 1990, 137. Anscheinend zirkulierte dieses Gerücht unter »KleinrussInnen«, deren antipolnischer Groll so stark war, dass sie vom üblichen Konstantinbild abwichen.
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Der dritte samozvanec, starec Avraamij,281 befand sich auf ewiger Pilgerschaft und dürfte sich nur für Konstantin Pavlovič ausgegeben haben, um sich unterwegs eine Unterkunft zu sichern. Dazu war es nicht notwendig, der persona ein klares Profil zu verleihen. Davon abgesehen trat er wahrscheinlich erst nach dem Tod von Nikolaus I. auf, nachdem der scheinbare Bruderzwist ein natürliches Ende gefunden hatte und die Leibeigenschaft aufgehoben worden war. Angesichts dessen wirkte ein falscher Konstantin wie aus der Zeit gefallen, woran weder eine fürsorgliche, noch eine kriegerische Ausrichtung etwas ändern hätte können. Bei zwei samozvancy, Danila Naumov und Aleksandr Rodionov,282 lässt sich keine Übereinstimmung mit einer persona in Gerüchten feststellen. Die übrigen vier falschen Konstantins zeigten sich als fürsorglicher Herrscher (in spe). Nikolaj Prokop᾽ev, der 1835 in der Nähe von Krasnojarsk auftrat, hatte kein besonders ausführliches Programm, versprach aber, die Steuern zu senken.283 Die drei verbleibenden samozvancy zeigten sich jeweils selbst als fürsorglicher Herrscher (in spe), legitimierten dadurch aber Ungehorsam der Einheimischen gegenüber der Obrigkeit. Der anonyme samozvanec,284 der 1826/1827 im Gouvernement Saratov aktiv war, kündigte den BewohnerInnen des Dorfes Romanovka an, er werde neue, »leichte« Steuern einführen und versprach, mit dem Gouverneur werde er schon fertig werden (»Ja vašego gubernatora v baranij rog sognu.«).285 Er ermutigte sie, den Zins (obrok) nicht zu entrichten. Die Situation spitzte sich zu, bis sich der lokale Polizeibeamte (ispravnik) nicht mehr anders zu helfen wusste als militärische Unterstützung anzufordern. Ein Blutbad konnte buchstäblich in letzter Minute verhindert werden. Konstantin Kalugin trat 1845 im Dorf Gorochovaja im Gouvernement Orenburg auf. In der Nähe hatte es zwei Jahre zuvor einen Aufstand gegeben und Situation war nach wie vor angespannt. Kalugin richtete eine Art Beschwerdestelle für die Einheimischen ein und ermutigte sie gemeinsam mit zwei Komplizen, in Bittschriften Missstände aufzuzeigen.286 Indem er die Botschaft vermittelte, dass Beschwerden gerechtfertigt seien und er sich darum kümmern werde, legitimierte er auch aktiven Ungehorsam. 281 Zu ihm siehe Borodin: Vokrug legendy. 282 Rodionov scheint in der Sekundärliteratur auch unter dem Familiennamen Aleksandrov auf. Er darf nicht mit Aleksej Rodionov verwechselt werden, der sich 1722 für Aleksej Petrovič ausgab. 283 Kubalov: Sibir᾽ i samozvancy, 176. 284 Čistov nennt ihn Ivan Korneev (Čistov: Russkie narodnye social’no-utopičeskie legendy, 204.). Korneev war aber nur einer der beiden Komplizen des samozvanec und von den dreien der Einzige, der verhaftet werden konnte. Er behauptete, nicht zu wissen, mit wem er sich eingelassen hatte (Mordovcev: Odin iz Lže-Konstantinov, 159; 163 f.). 285 Ebd., 132. 286 Kazochanin: Samozvanec Kalugin, 168.
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Leontij Egorcev fuhr im Frühjahr 1861 von Dorf zu Dorf, erklärte den vormaligen Leibeigenen, was das Manifest vom 19. Februar genau bedeutete und ermutigte sie, die »volle Freiheit« einzufordern. Generalmajor Drenjakin führte Egorcevs Agitation darauf zurück, dass er als Molokane von einem besonderen religiösen Eifer angetrieben werde.287 Inwieweit das zutrifft oder ein Vorurteil gegenüber Mitgliedern einer heterodoxen Gruppe ist, muss offen bleiben. Bei Egorcev ist nicht eindeutig, ob er sich selbst für Konstantin Pavlovič ausgab. Dem Jahresbericht der Dritten Abteilung für 1861 zufolge tat er das.288 Major Laks berichtete hingegen, dass die Bevölkerung Egorcev für Konstantin halte und ihn dementsprechend respektvoll behandle,289 er also selbst nichts zu diesem Ruf beigetragen habe. Laks ist glaubwürdiger, weil er sich vor Ort aufhielt und zeitnah schrieb, während der Jahresbericht im Nachhinein von Unbeteiligten zusammengestellt wurde. Demnach ist über drei falsche Konstantins zu wenig bekannt, um festzustellen, inwieweit sie sich an der persona in Gerüchten orientierten. Von den verbleibenden sechs samozvancy lassen zwei überhaupt kein Programm erkennen, und vier inszenierten sich als fürsorglicher Kaiser (in spe). Hier ergibt sich ein Gegensatz zu den Gerüchten, in denen die kriegerische persona überwog. Diesem darf aber aus zwei Gründen nicht allzu viel Gewicht beigemessen werden. Erstens machen die vier fürsorglichen falschen Konstantins weniger als die Hälfte der bekannten und sicheren samozvancy aus. Zweitens waren die beiden Varianten der persona weniger klar voneinander geschieden als noch bei Peter III. Als eine Art Mischform ist etwa anzusehen, dass nicht jeder Aufenthalt Konstantins im Ausland mit dem Sammeln einer Armee verbunden ist und umgekehrt drei samozvancy die fürsorgliche persona einsetzten, um die Bevölkerung in Aufruhr zu versetzen. Im Unterschied zu den samozvancy der Zeit der Wirren und den falschen Peter III. wusste kein falscher Konstantin über einen anderen Bescheid, sodass sie sich auch nicht aneinander orientieren konnten. Möglicherweise agierten sie dafür räumlich zu verstreut. Das Gebiet, auf dem sie aktiv waren, lässt sich zwar gut eingrenzen, ist aber deutlich größer als jenes, das die falschen Peter III. im Zeitraum 1763–1765 abdeckten (siehe Kapitel 4.2). Mangels direkter Kontakte dürften Gerüchte bei Konstantin Pavlovič noch wichtiger als bei Peter III. gewesen sein, um eine einheitliche Version der persona hervorzubringen und aufrecht zu erhalten. Allerdings zeigt sich, dass die vereinheitlichende 287 Okun’, S. V. / Sivkov, K. V. (Red.): Krest’janskoe dviženie v Rossii v 1857 – mae 1861 gg. Sbornik dokumentov. Moskva 1963, 428. Die Molokanen feierten die Eucharistie mit Milch (russ. moloko). 288 Morochovec, E. A. (Hg.): Krest’janskoe dviženie 1827–1869. Vypusk II . Moskva, Leningrad 1931, 7. 289 Okun’/Sivkov (Red.): Krest’janskoe dviženie, 423.
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Wirkung von Gerüchten begrenzt war, weil die Übereinstimmung zwischen der persona Konstantin in Gerüchten und der Performanz der samozvancy im Vergleich zu Peter III. abnahm. Möglicherweise sind die Übereinstimmungen auch weniger die Folge der Weitergabe von Gerüchten über die persona Konstantin als der Erinnerung an die persona Peter III. Die Ähnlichkeiten zwischen den personae sind zum Teil frappierend und jedenfalls groß genug, um anzunehmen, dass Konstantin ausgehend von Peter imaginiert worden sein könnte. Für einen direkten Einfluss von Peter auf Konstantin spricht etwa das Motiv von dem (zukünftigen) Herrscher, der sich von der Peripherie aus anschickt, gegen »Verräter« vorzugehen. Wie in Kapitel 4.2 ausgeführt, ist dieses Motiv seit der Mitte des 17. Jahrhunderts bekannt und könnte seine Ursprünge in der Zeit der Wirren haben. Jedoch war Peter III. – nach der Niederschlagung des Pugačev᾽schen Aufstandes – die erste persona, mit der es wiederholt und regelmäßig verknüpft wurde. Alle früheren Beispiele stehen jeweils alleine, während das Motiv auch bei Konstantin wiederholt und regelmäßig vorkommt. Zwischen dem letzten bekannten Gerücht über Peter III. und dem Interregnum von 1825 lagen nur knapp 30 Jahre, etwas mehr als eine Generation. Das ist keine unüberwindliche Zeitspanne, zumal Metelkins noch 1827 erwartete Rückkehr belegt, dass zumindest ein Teil der Gerüchte, die aus dem Pugačev’schen Aufstand resultierten, die Jahrzehnte mühelos überdauerte. Das könnte auch bei anderen Aspekten der Fall gewesen sein, allerdings ist nirgends explizit belegt, dass irgendjemand Konstantin nach Peter III. modelliert hätte. Zuletzt ist Bilanz über das gesamte Kapitel 4 zu ziehen. Jedes der drei Beispiele für die Weitergabe des Wissens über samozvanstvo weist Besonderheiten auf, die bei den anderen beiden fehlen, aber nicht jede Besonderheit kann als Weiterentwicklung gegenüber dem vorhergehenden Beispiel betrachtet werden. Zum Teil sind die Eigenheiten auf die jeweiligen Zeitumstände zurückzuführen, die sich so nicht wiederholten und darum nicht verallgemeinerbar sind. Die Punkte, die sehr wohl eine Entwicklung abbilden, sollen noch einmal genannt werden. Als Erstes ist festzuhalten, dass Gerüchte kontinuierlich an Bedeutung gewannen, um der jeweiligen persona Gestalt zu verleihen und die Performanz der einzelnen samozvancy zu vereinheitlichen. Für die Zeit der Wirren lässt sich derlei noch gar nicht nachweisen. Zwar trugen Gerüchte über »Dmitrijs« Flucht aus Moskau in Verbindung mit Molčanovs Aktivitäten maßgeblich dazu bei, die Bevölkerung davon zu überzeugen, dass sich der Zar erneut retten habe können. Zumindest bei den überlieferten Gerüchten beschränkt sich der Inhalt aber auf die Versicherung, dass »Dmitrij« noch lebe. Allfällige Ergänzungen betreffen nur die Umstände der Flucht oder seinen gegenwär-
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tigen Aufenthaltsort, während ihm keinerlei Eigenschaften oder Aktivitäten zugeschrieben werden. Im Vergleich mit Peter III. und Konstantin besteht hier eine Leerstelle, die damit zu erklären sein dürfte, dass samozvanstvo in der Zeit der Wirren im Moskauer Reich neu war und sich noch kein Schema herausgebildet hatte, wie ein samozvanec Unterstützung gewinnen konnte. Die Leerstelle verweist aber auch auf die Gemeinsamkeiten zwischen den samozvancy der Zeit der Wirren und falschen Herrschern und Herrschersöhnen in Westeuropa. Letztere begründeten ihre Legitimität ausschließlich damit, dass sie einen größeren Anspruch auf den Thron hätten als der gegenwärtige Herrscher. Auch in der Zeit der Wirren war entscheidend, dass ein Sohn oder Enkel Ivans IV. mehr Anspruch auf den Thron hatte als Godunov oder Šujskij und nicht, wofür der vermeintliche Rurikide als Herrscher stehen würde. Peter III. und Konstantin Pavlovič galten zwar auch als der rechtmäßige Herrscher im Vergleich mit Katharina II. bzw. Nikolaus I., aber das alleine scheint nicht mehr ausgereicht zu haben, um ihnen die Unterstützung der Bevölkerung zu sichern. Wenn Gerüchte die Fürsorge für ihre Untertanen oder ihren Kampf gegen Unrecht betonten, sollte möglicherweise die mobilisierende Wirkung der persona erhöht werden. Mit der zunehmenden Bedeutung von Gerüchten, um einer persona eine einheitliche Gestalt zu verleihen korrespondiert die gegenläufige Bewegung einer schwächer werdenden Verbindung zwischen den samozvancy, welche dieselbe persona verkörperten. Die samozvancy der Zeit der Wirren nahmen ausnahmslos an demselben bewaffneten Konflikt teil. Dadurch war gewährleistet, dass sie voneinander Bescheid wussten, gleich, ob sie einander als Konkurrenz begriffen oder zusammenarbeiteten. Zumindest kannten sie die Geschichte des ersten falschen Dmitrij als ihr gemeinsames Vorbild. Das Ergebnis war, wie in Kapitel 4.1 gezeigt, eine bemerkenswerte inhaltliche Stabilität, die allerdings mit der Geschichte von »Dmitrijs« Rettung einen rein äußeren Ereigniszusammenhang betrifft und nicht die Darstellung einer bestimmten persona. Alle samozvancy, die nach der Zeit der Wirren unter derselben persona auftraten, waren a priori nicht miteinander verbunden. So gesehen war es alles andere als selbstverständlich, dass sie etwas voneinander erfuhren und einander als Vorbild benutzen konnten. Umso mehr verdienen die bestehenden Verbindungen, hervorhoben zu werden. Am deutlichsten ist die Kette, die von Bogomolov zu Kretov, Rjabov und Pugačev führte. Zwei Faktoren dürften diese Verbindungen ermöglicht haben: Die falschen Peter III. der Jahre 1763–1765 agierten auf einem relativ kleinen Gebiet. Ab 1770 verteilten sich die samozvancy weiter, jedoch war der Pugačev’sche Aufstand ein derart einschneidendes Ereignis, dass der Faktor Raum nahezu bedeutungslos wurde. Pugačev war praktisch überall und überall auf dieselbe Weise bekannt.
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Voraussetzungen der Performanz
Bei den falschen Konstantiny Pavloviči waren die Voraussetzungen andere. Konstantin Pavlovič zog viel Interesse auf sich und Gerüchte über ihn kursierten praktisch im gesamten Reich. Nichtsdestoweniger fehlte ein Ereignis von der Tragweite der Zeit der Wirren oder des Pugačev’schen Aufstandes, das den Zeitgenossen eine bestimmte Darstellung der persona eingeprägt und so die räumliche Verstreutheit der samozvancy wettgemacht hätte. Bei Peter III. und Konstantin Pavlovič zeigt sich gleichermaßen, dass bei der Darstellung der persona von Gerüchten zu samozvanstvo hin stets eine Einengung stattfand und manchmal auch eine gegenteilige Bewegung, was inhaltliche Schwerpunkte betrifft. Die persona, die in den Gerüchten vorherrschend war, musste keinesfalls auch in der Performanz der samozvancy im Vordergrund stehen. Alle Gerüchte über eine persona zusammengenommen decken jeweils ein größeres Gebiet ab als die Aktivitäten der samozvancy und weisen eine größere inhaltliche Vielfalt auf als sich dann in der Performanz der samozvancy feststellen lässt. Es gibt keine Formel oder Erklärung, um diese Verschiebungen zu erfassen, aber sie deuten darauf hin, dass ausgehend von der Gesamtheit aller Möglichkeiten, einen (zukünftigen) Herrscher zu imaginieren eine immer stärkere Selektion der Optionen stattfand. Auch waren die Kriterien wohl jeweils andere, je nachdem, ob es um Gerüchte oder die Performanz von samozvancy ging. Als letzte Weiterentwicklung gegenüber dem 18. Jahrhundert ist zu nennen, dass der fürsorgliche Konstantin AnhängerInnen zum Ungehorsam anstacheln konnte. Die Anwesenheit eines samozvanec bot im gesamten Untersuchungszeitraum eine Möglichkeit, um Unzufriedenheit auszudrücken (siehe auch Kapitel 6.2). Daraus folgt aber nicht, dass ihr Auftreten stets von Un ruhen begleitet gewesen wäre oder das Ziel gehabt hätte, solche auszulösen. Im Gegenteil blieb es normalerweise ruhig; die samozvancy der Zeit der Wirren und Pugačev sind die großen Ausnahmen, die die Regel bestätigen (siehe dazu auch Kapitel 5.1). So lässt sich die pauschale sowjetische Diagnose von samozvanstvo als Aufbegehren gegen die Leibeigenschaft nur bei drei Beispielen aus dem 19. Jahrhundert bestätigen: bei dem anonymen samozvanec von 1826/27, Konstantin Kalugin und Leontij Egorcev. Das Klassenkampfschema als solches passt allerdings schon nicht mehr, weil Kalugin ein Adeliger war. Davon abgesehen bilden drei Beispiele einen verschwindend geringen Anteil der Gesamtzahl an Fällen, der keine Verallgemeinerung zulässt. Sie verdeutlichen keinen Grundzug von samozvanstvo, sondern ein zeitspezifisches Phänomen: Bauernaufstände nahmen unter Nikolaus I. massiv zu, und später erfüllte das Manifest vom 19. Februar nicht alle Wünsche.
III. Samozvanstvo als Performanz
5. Die performative Erzeugung von Glaubwürdigkeit
1765 lag Nikolaj Kolčenko in Priluki (ukr. Pryluky) in der Küche des dort stationierten Regiments auf einer Bank und sagte zu seinem Bekannten Vasilij Filonenko, er sei Peter III. Filonenko ließ sich mit der Bemerkung auf dieses Szenario ein, er habe ihm (Peter III.) im »Preußischen Feldzug« (dem Siebenjährigen Krieg) das Leben gerettet. Kolčenko zeigte daraufhin seinen nackten Fuß und behauptete, dort Narben von einer Verwundung aus diesem Krieg zu haben.1 An dieser Begebenheit ist bemerkenswert, dass Kolčenko und Filonenko Realität zur Gänze performativ erzeugten. Der echte Peter III. hatte nicht am Siebenjährigen Krieg teilgenommen, sodass er dort auch nicht verwundet worden war. Aber auch Kolčenko selbst hatte keine Narben am Bein. Dennoch verständigte er sich mit Filonenko mühelos darüber, was sie beide »erlebt« hatten und vor sich »sahen«. Das nun folgende 5. Kapitel ist der Frage gewidmet, was samozvancy und samozvanki sagen und tun konnten, um unter der angeeigneten Identität akzeptiert zu werden – aber auch, wodurch sie scheiterten. Dabei geht es nicht nur um die Vorgehensweise selbst (hier der Abgleich von Narben), sondern auch um die Wirkungsweisen, im obigen Beispiel also darum, wie ein Fantasieprodukt wie Kolčenkos Narben Beweiskraft erlangen konnte. Die Grundlage der Analyse bildet ein Aufsatz des Ethnologen Edward Schieffelin.2 Er bestimmte anhand einer Geistheilungs-Séance der auf NeuGuinea lebenden Kaluli acht Kategorien, die bei der Analyse einer Performanz berücksichtigt werden sollen: Autorität (authority), Emergenz (emergence), Agenda (agenda), Form (form), Mittel (means), Strategie (strategy), Verkörperung (embodiment) und Geschichtlichkeit bzw. Kontingenz (historicity bzw. contingency). Gemeinsam ergeben sie die Merkmale einer konkreten Performanz, die sie von anderen Performanzen unterscheiden und es zugleich ermöglichen, verschiedene Performanzen zu vergleichen.3 Samozvanstvo kann kaum erforscht werden, ohne ein paar Fragen zumindest zu streifen, die in Schieffelins Kategorien enthalten sind. Daher sind 1 RGADA , f. 6, o. 1, d. 404, l. 5. 2 Schieffelin, Edward: On Failure and Performance. Throwing the Medium out of the Séance. In: Laderman, Carol / Roseman, Marina (Hg.): The Performance of Healing. New York, London 1996, 59–89. 3 Ebd., 64.
Samozvanstvo als Performanz
254
viele der verwendeten Beispiele bereits in älteren Publikationen zu finden. Das vorliegende Kapitel ist jedoch der erste Versuch, das Vorgehen von samozvancy und samozvanki konsequent unter einer Überschrift und mit einem einheitlichen begrifflichen Instrumentarium zu analysieren. Wichtig sind hier nicht so sehr die einzelnen Beispiele, sondern Aufschlüsse darüber, welche Informationen aus den Untersuchungsakten gezogen werden können und wie sich die Gruppendynamik zwischen den an der Performanz Beteiligten gestaltete. Beides bildet den Hintergrund für Kapitel 6. Schieffelins Kategorien können für samozvanstvo nahezu unverändert übernommen werden. Körperlichkeit und Geschichtlichkeit werden im Folgenden nicht eigens behandelt. Da dies im Unterschied zu Schieffelins Aufsatz eine geschichtswissenschaftliche Publikation ist, muss die Zeitgebundenheit ohnehin immer berücksichtigt werden. Körperlichkeit ist zum einen ein Grundmerkmal von Performanz als solcher, zum anderen wurde bereits in Kapitel 3.1 erläutert, in welcher Hinsicht der Herrscherkörper für samozvanstvo relevant ist. Das macht es obsolet, beide Aspekte hier eigens hervorzuheben. Die verbleibenden sechs Begriffe werden anhand ihrer inhaltlichen Nähe zu drei Unterkapiteln gruppiert, welche erst Agenda, dann Form und Mittel sowie zuletzt Autorität, Strategie und Emergenz behandeln. Die Reihenfolge orientiert sich am Verlauf einer Performanz. Die Agenda ergibt sich bereits, bevor sie beginnt, beeinflusst aber auch ihren Ablauf. Form und Mittel sind während der gesamten Dauer wichtig. Dasselbe gilt für Autorität, Strategie und Emergenz. Da die drei Begriffe jedoch für die Frage nach den Ursachen für Erfolg oder Scheitern einer Performanz stehen, sind sie eher dem Ende als dem Anfang zuzuordnen. Jedes Unterkapitel beginnt mit Schieffelins Definition der jeweiligen Begriffe sowie einer Erläuterung, ob und inwieweit sie für samozvanstvo abgeändert werden muss und auf welche Aspekte des Auftretens eines falschen Mitglieds der Dynastie davon ausgehend besonders geachtet werden soll. Darauf folgen Beispiele aus dem 17. bis 19. Jahrhundert, auf denen die weiterführenden Schlussfolgerungen basieren. Die Beispiele sollen so gleichmäßig wie möglich über den gesamten Untersuchungszeitraum verteilt werden, doch es ist nicht zu leugnen, dass sich aus der Quellenlage ein Schwerpunkt auf dem 18. Jahrhundert ergibt.
5.1
Motive und Ziele: die Agenda
Der Begriff Agenda meint die Absichten der Beteiligten – was sie sich von einer Performanz erwarten oder erhoffen, warum sie an ihr mitwirken und einen Beitrag dazu leisten, dass sie erfolgreich ist. Schieffelin geht davon aus,
Die performative Erzeugung von Glaubwürdigkeit
255
dass jeder und jede Anwesende eine eigene Agenda hat. Es nehmen also stets mehrere unterschiedliche Agenden auf den Verlauf einer Performanz Einfluss, die zueinander durchaus im Widerspruch stehen können.4 Für samozvanstvo bedeutet das, dass die Intentionen der samozvancy und samozvanki ebenso berücksichtigt werden müssen wie die ihrer Anhänger Innen. Ebenso wichtig ist es, Agenden, die der Ausführung der Performanz zeitlich wie kausal vorgelagert sind, von solchen zu unterscheiden, die ihr immanent sind. Unter den der Performanz vorgelagerten Agenden sind die Motive zu verstehen, aus denen heraus sich samozvancy und samozvanki für ein Mitglied der Dynastie ausgaben und ihre AnhängerInnen bereit waren, sie als solche zu akzeptieren. Es handelt sich um den »eigentlichen« Hintergrund des Geschehens, der allerdings über die Untersuchungsakten kaum bis gar nicht zugänglich ist. Unter der Performanz immanenten Agenden sind die nach einer gedachten Thronbesteigung umzusetzenden Vorhaben zu verstehen, die samozvancy und samozvanki während der Performanz gegenüber ihren AnhängerInnen nannten, um deren Unterstützung zu gewinnen. Sie leiten sich aus der Form der Performanz ab (siehe Kapitel 5.2). Schieffelin nimmt keine vergleichbare Differenzierung vor, weil sie sich aus den Besonderheiten von samozvanstvo ergibt und möglicherweise für keine andere Art von Performanz relevant ist. Die Agenden der Beteiligten waren in der bisherigen Forschung zu samo zvanstvo stets ein wichtiges Thema, weil sie die naheliegendsten Anhaltspunkte sind, warum das Phänomen im Moskauer und Russländischen Reich so häufig und langlebig war. Sowjetische HistorikerInnen berücksichtigten allerdings die oben genannten Differenzierungen nicht, wobei dahingestellt sei, ob sie diese nicht erkannten oder lediglich aus ideologischen Gründen nicht benennen konnten. Sie gingen von einer Übereinstimmung der Agenda sowohl zwischen einem einzelnen samozvanec / einer einzelnen samozvanka und den jeweiligen AnhängerInnen, als auch zwischen sämtlichen samozvancy und samozvanki aus, die jemals aufgetreten waren. Diese gemeinsame Agenda ordneten sie dem Klassenkampf zu und benannten sie meist konkret als das Bestreben, die Abschaffung der Leibeigenschaft zu erwirken. Eine vorsichtige Differenzierung war durch den Hinweis auf einzelne »AbenteurerInnen« und »Glücksritter« möglich, die sich individuelle Vorteile verschaffen wollten.5 Solche Bezeichnungen implizieren aber, dass es sich um politisch unreife Individuen gehandelt habe, die nicht in der Lage gewesen seien, den »eigentlichen« Zweck der Aneignung einer fremden Identität zu erkennen. Dadurch wurde die Bedeutung dieser Fälle für das Gesamtbild sofort wieder nivelliert.
4 Ebd., 65. 5 Sivkov: Samozvančestvo, 89.
256
Samozvanstvo als Performanz
Nach dem Zerfall der Sowjetunion widerlegten westliche HistorikerInnen die Verknüpfung von samozvanstvo und Klassenkampf rasch mit den entsprechenden Gegenbeispielen (siehe unten). Sie brachten aber nichts wirklich Neues in die Debatte ein. Erst 2015 konnte Claudio Ingerflom eine neue Perspektive eröffnen. Er machte darauf aufmerksam, dass samozvancy und samo zvanki häufig andere Agenden verfolgten als ihre AnhängerInnen und dass die Agenden Letzterer auch die Agenden Ersterer beeinflussen konnten.6 Er nahm nicht nur eine wichtige Differenzierung vor, sondern zeigte die Agenden auch als etwas Dynamisches, das sich abhängig von den Umständen veränderte. In diesem Unterkapitel wird ausgehend von Schieffelin und Ingerflom gezeigt, dass die Agenda ein bestenfalls unzuverlässiger Anhaltspunkt für die Funktion von samozvanstvo ist, weil das performative Geschehen nicht einfach mit dem »eigentlichen« Hintergrund gleichgesetzt werden kann. Mehr als Schieffelins übrige Kategorien erfordert es die Agenda, sich darüber Gedanken zu machen, worüber die Untersuchungsakten Aufschluss geben und worüber nicht. Diese Überlegungen sind auch für Kapitel 6 relevant. Der Performanz vorgelagerte Agenden bei samozvancy und samozvanki
Wurde ein falsches Mitglied der Dynastie verhaftet, sollte bei der Untersuchung unter anderem geklärt werden, ob es zu einer größeren Verschwörung gehörte. Die zuständigen Beamten befragten samozvancy und samozvanki daher explizit zu ihren Motiven, doch gerade das macht die Hintergründe verhältnismäßig schwer zugänglich. In der Regel waren die Beweggründe, die samozvancy und samozvanki in den Verhören nannten, nur insoweit Bestandteil der Performanz gewesen, wie sie mit der ihr immanenten Agenda übereinstimmten, und oft auch gar nicht. Da die zwei Arten von Agenden in unterschiedlichen Kommunikationssituationen mit unterschiedlichen Erfordernissen zur Sprache kamen, kann von der einen nicht unmittelbar auf den Anteil an Aufrichtigkeit oder Berechnung in der anderen geschlossen werden. Eine diesbezügliche Einschätzung muss sehr vorsichtig erfolgen. Samozvancy und samozvanki nannten in den Verhören ein buntes P otpourri von Zielen, denen gemeinsam ist, dass ihre Auswirkungen begrenzt waren. Sie betrafen außer dem jeweiligen falschen Mitglied der Dynastie selbst höchstens eine Handvoll Menschen und besaßen keine Relevanz für die »große« Geschichte. Die Ziele als solche hätten den echten Herrscher / die echte Herrscherin nicht weiter beunruhigen müssen, hätte nicht die damit verbundene Aneignung der Identität eines Mitglieds der Dynastie eine inakzeptable Herausforderung bedeutet. 6 Ingerflom: Le tsar c’est moi, 170.
Die performative Erzeugung von Glaubwürdigkeit
257
Bezeichnend ist etwa der Fall des Einhöfers Gerasim Savelov. 1779 warb sein Vater für ihn erfolgreich eine Braut (svatat’), aber Savelov hatte kein Geld, um die Hochzeit zu bezahlen und in diesem Punkt konnte oder wollte sein Vater ihm nicht helfen. Anis’ja Arež’eva, die zur Brautwerbung mitgefahren war, riet ihm, zu den wohlhabenderen der in der Gegend ansässigen Einhöfer zu gehen, sich dort Souverän zu nennen und Geld von ihnen zu verlangen.7 Arež’evas Überlegung, der sich Savelov nach kurzem Zögern anschloss, lautete, dass es sich die wohlhabenderen Einhöfer ohne Weiteres leisten konnten, die Hochzeit zu bezahlen, aber Savelov als ihm selbst niemals einfach so Geld gegeben hätten. Im besten Fall hätten sie ihm etwas geborgt, aber dann hätte er wieder das Problem etwaiger Zinsen oder sonstiger Verbindlichkeiten gehabt, die in einem dörflichen Umfeld schnell aus einer Gefälligkeit entstehen. Beim Souverän höchstpersönlich würde hingegen niemand lange fragen und schon gar keine Zinsen verlangen. Dass Savelov am Ende enttarnt wurde, bevor er als »Souverän« auch nur eine einzige Kopeke lukriert hatte, ändert nichts an diesem Gedankengang und daran, dass eine vergleichbare Konstellation auch in vielen anderen Fällen zu beobachten ist. Der Deserteur Iov Evdokimov nannte sich 1763 Peter II., damit ihn die Altgläubigen in den Wäldern bei Pošechon’e dauerhaft bei sich aufnahmen (siehe Kapitel 3.2). Avdot’ja Zavarzina nannte sich 1768 Souveränin, damit ihre Schwiegermutter sie nicht mehr verprügelte.8 Der falsche Peter III. Petr Černyšev trat in der Verbannung in Nerčinsk erneut als Kaiser auf, damit ihm die Einheimischen Almosen brachten und bei einem zukünftigen Fluchtversuch behilflich sein würden. Den Kosaken Tarskij, einen seiner Anhänger, wies er sogar an, gezielt bei den Wohlhabenderen um Unterstützung zu werben, damit der Ertrag größer wäre.9 Der Landstreicher Nikita Golovačev bezeichnete sich 1779 als Abgesandter Peters III., damit er ein Nachtquartier und etwas zu essen bekam.10 Die Offiziere Nikolaj Kretov und Kirill Bornjakov eigneten sich eine fremde Identität an, weil ihnen das Geld ausgegangen war: Kretov gab sich 1774 für Peter III. aus, Bornjakov 1797 für Alexander Pavlovič, den zukünftigen Alexander I. Aus demselben Motiv gab sich der Registrator Boris Sočnev 1798 ebenfalls für Alexander Pavlovič aus.11 Der Veteran Nikolaj Prokop’ev gab sich 1835 für Konstantin Pavlovič aus, damit er kostenlos essen und trinken konnte.12 Weitere Beispiele folgen weiter unten und sind unter anderen Überschriften auch in anderen Kapiteln zu finden. 7 8 9 10 11 12
RGADA , f. 6, o. 1, d. 535, l. 4 ob. RGADA , f. 349, o. 1/č. 1, d. 7113, l. 2.
Maksimov: Sibir’ i katorga, 451. RGADA , f. 7, o. 2, d. 2544, l. 3 ob. RGADA , f. 6, o. 1, d. 535, l. 2; RGADA , f. 6, o. 1, d. 553, l. 23; RGADA , f. 7, o. 2, d. 3302, l. 4. Kubalov: Sibir’ i samozvancy, 175.
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Samozvanstvo als Performanz
Die genannten samozvancy und samozvanki stellten es im Verhör so dar, als hätten sie aus einer persönlichen Notlage heraus ganz alleine den Entschluss gefasst, sich für ein Mitglied der Dynastie auszugeben. Eine solche Konstellation hat denkbar wenig mit dem pauschal auf ihnen lastenden Verdacht zu tun, einer großen Verschwörung anzugehören – und im Übrigen auch mit der sowjetischen Interpretation, die samozvanstvo in das Klassenkampfschema einordnete. Es könnte also sein, dass die Betroffenen die oben angeführten Beweggründe erfanden, um ihr Vergehen möglichst geringfügig aussehen zu lassen. Ebenso denkbar wäre eine Manipulation durch die Beamten, um die Herrschaft des jeweiligen Herrschers / der jeweiligen Herrscherin unbedroht aussehen zu lassen.13 Das nicht zu berücksichtigen wäre kurzsichtig. Nichtsdestoweniger deuten zwei Umstände darauf hin, dass die Angaben der samozvancy und samozvanki in der Mehrheit der Fälle der Wahrheit durchaus nahekommen und deren Ziele tatsächlich recht unspektakulär waren. Erstens sind die kleinen Agenden mit dem sonstigen Verhalten der samo zvancy und samozvanki konsistent. Sie hielten sich bedeckt und lebten auch nachdem sie als Mitglied der Dynastie akzeptiert worden waren im Prinzip weiter wie zuvor. Es gibt kein Beispiel dafür, dass jemand etwa behauptet hätte, lediglich auf der Suche nach einem Schlafplatz gewesen zu sein, aber die Zeugenaussagen ergeben hätten, dass er in Wahrheit Kämpfer für einen Aufstand anwarb. Genau das spricht auch gegen umfangreiche Änderungen durch die Beamten. Dass Letztere Verhörprotokolle in ihrem Sinn »korrigierten«, kam, wie in Kapitel 2.1 gesagt, vor. Um aber die Bedrohung durch samozvanstvo herunterzuspielen, hätte es nicht genügt, da und dort einen Satz zu streichen oder hinzuzufügen, sondern die Beamten hätten in einer großen Anzahl von Fällen den Akt zur Gänze neu konzipieren müssen. Das erscheint doch etwas zu viel an Aufwand, zumal die vorhandene Forschung zur Verfolgung von Majestätsverbrechen und zur Rechtskultur im Moskauer und Russländischen Reich im Untersuchungszeitraum14 nicht die Annahme zulässt, dass entweder der Untersuchungsbeamte selbst oder der Voevode bzw. Gouverneur mit Konsequenzen rechnen hätte müssen, wären »zu viele« Verschwörungen aufgedeckt worden. Was das Verhalten der samozvancy und samozvanki betrifft, geht auch die Gegenprobe auf: Wer einen Umsturz plant, muss irgendwann anfangen, in größeren Maßstäben zu operieren, sich aktiv und konsequent um Unterstützung bemühen. Genau das taten die samozvancy der Zeit der Wirren, Pugačev und auch der weniger bekannte falsche Aleksej Petrovič Ivan Minickij, der 1738 auftrat. Minickij sagte aus, Jesus sei ihm im Traum erschienen und habe ihm (auf Kirchenslawisch) aufgetragen, sich für Aleksej auszugeben und die 13 Ich danke Eva-Maria Walther und Daniel Schrader für diesen Hinweis. 14 Anisimov: Dyba i knut; Kollmann: Crime and Punishment; Rustemeyer: Dissens und Ehre.
Die performative Erzeugung von Glaubwürdigkeit
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Rzeczpospolita orthodox zu machen.15 Ob dieser Traum authentisch ist, sei dahingestellt, doch Minickij dürfte tatsächlich antikatholische Ressentiments gehegt und sich für ein Mitglied der Dynastie ausgegeben haben, um diese ausleben zu können. Seinen Anhängern stellte er in Aussicht, er werde einen ewigen Frieden mit dem Osmanischen Reich schließen und dann mit ihnen nach Kiev ziehen. Von dort aus würden sie die Rzeczpospolita in Schutt und Asche legen (vsju zemlju ognem žeč’ i mečem rubit’), um das Land anschließend zur Orthodoxie zu bekehren.16 Das Grüppchen aus Kosaken und Soldaten, das Minickij bis zu seiner Verhaftung rekrutiert hatte, war viel zu klein, um dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen; nichtsdestoweniger stimmen Ziel und Vorgehen überein. Der Performanz vorgelagerte Agenden bei (potenziellen) AnhängerInnen
AnhängerInnen konnten eine klarere und umfassendere Agenda haben als die samozvancy und samozvanki selbst. Das zeigen Fälle, bei denen ein samozva nec / eine samozvanka eine fremde Agenda übernahm oder sogar übernehmen musste. Gemeint ist damit nicht Manipulation im in Kapitel 1.3 erläuterten Sinn, also Personen, denen jemand von frühester Kindheit an erzählt hatte, sie seien ein Mitglied der Dynastie und die deswegen von sich selbst keine andere Vorstellung hatten. Die folgenden Beispiele betreffen Erwachsene, die wussten, wer sie waren, aber mit ihrem Auftreten als Mitglied der Dynastie fremde Interessen entweder mitbedienten oder sich ausschließlich diesen verschrieben. Für diejenigen, die die Agenda setzten, ist die Bezeichnung Anhänger oder Anhängerin nicht ganz passend. Sie waren mehr, nämlich KomplizInnen, Frauen und Männer im Hintergrund. Bereits beim ersten falschen Dmitrij lässt sich von einer Übertragung der Agenda sprechen. Wie in Kapitel 4.1 erwähnt, gibt es keine ernstzunehmenden Belege dafür, dass er eine Marionette beispielsweise der Romanovy oder der Jesuiten gewesen wäre. Das unbenommen konnte er Boris Godunov nur herausfordern, weil verschiedene Personen bereit waren, sein Vorhaben zu unterstützen. Doch die Unterstützung kam nicht kostenlos. Der erste falsche Dmitrij musste sie mit Zusagen erkaufen, und diese Zusagen waren gleichbedeutend damit, dass er sich den Interessen seiner Unterstützer verpflichtete. Seinem Schwiegervater in spe Jerzy Mniszech versprach er eine erkleckliche Summe Geld, sobald er den Thron bestiegen haben würde, und als Gegenleistung für die Verlobung mit Maryna die Oberherrschaft über einen Teil des Moskauer Reiches. Um Sigismund III. auf seine Seite zu ziehen musste er (zumindest 15 RGADA , f. 6, o. 1, d. 192, l. 2 ob. 16 Ebd., l. 72–72 ob.
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Samozvanstvo als Performanz
zum Schein) zum Katholizismus übertreten und stellte wahrscheinlich auch die Konversion des gesamten Moskauer Reiches in Aussicht.17 Diese Zusagen mögen im Einzelnen weder das Endziel des ersten falschen Dmitrij beeinflusst haben, noch, wie er sein Auftreten gestaltete. Nichtsdestoweniger setzten sie ihn dem Druck aus, immer weiter zu machen. Er konnte nicht mehr zurück, nur mehr scheitern oder tatsächlich den Thron besteigen. Größere Folgen hätten die übernommenen Agenden erst gezeitigt, hätte der erste falsche Dmitrij länger regiert, weil sie ihn unter anderem darin einschränkten, wie er das Verhältnis zur Rzeczpospolita gestaltete und zu einem ständigen Spagat zwischen katholischer Kirche und Orthodoxie zwangen. Beim zweiten falschen Dmitrij ist offensichtlich, dass er gezwungen wurde, sich eine fremde Agenda anzueignen, da er, wie in Kapitel 4.1 ausgeführt, die Galionsfigur einer Verschwörung von Vertrauten des ersten falschen Dmitrij und polnischen Adeligen war. Auch ist ersichtlich, dass er deren Agenden nicht sofort verinnerlichte, da er nach dem gescheiterten ersten öffentlichen Auftritt in Mogilev versuchte, sich seinen Hintermännern durch Flucht wieder zu entziehen. Sobald er aber in seiner Rolle gefestigt war, ließen seine Aktivitäten nicht mehr erkennen, dass er gezwungen worden war, eine Sache zu vertreten, die nicht die seine war. Er machte Šujskij so oder so rund drei Jahre lang nach Kräften das Leben schwer. Eine ähnliche Anpassung hätten auch die Kosaken-careviči und die zwei weiteren falschen Dmitrii durchlaufen, sollten Karabuščenko und Usenko Recht haben und hinter ihnen eine Verschwörung von Gegnern Šujskijs gestanden sein. Der falsche Aleksej Petrovič Andrej Cholščevnikov, der 1730 auftrat, sagte aus, die Altgläubige Mar’ja Grigor’eva, bei der er eine nicht näher bestimmte Zeitspanne in den Wäldern am Fluss Kerženec gelebt hatte, habe ihm in Aussicht gestellt, sie werde aus ihm einen guten (wohlhabenden? angesehenen?) Menschen machen (ona ego […] postavit v dobrye ljudi), falls er sich Aleksejs Identität aneigne.18 Ob das den Tatsachen entsprach, muss offen bleiben. Grigor’eva selbst wurde aus unbekannten Gründen nicht als Zeugin befragt und Cholščevnikov neigte dazu, den Untersuchungsbeamten etwas vorzuflunkern, um seine Schuld geringer aussehen zu lassen.19 Sollte Cholščevnikov hier die Wahrheit gesagt haben, verbirgt sich die Agenda in seinem Verhältnis zu Grigor’eva. Grigor’eva dürfte generell großes Ansehen genossen haben, weil sie Bauern in der Umgebung im alten Glauben unterrichtete. Bezeichnend ist, dass der Bauer Michail Kuznecov Grigor’eva um Erlaubnis fragte, bevor er Cholščevnikov zu einem Kirtag im 17 Perrie: Pretenders and Popular Monarchism, 41; Dunning: Russia’s First Civil War, 135. 18 RGADA , f. 6, o. 1, d. 186, l. 14. 19 Beispielsweise behauptete er zunächst, Bauern hätten ihn dazu angestiftet, als Aleksej Petrovič einen Aufstand anzuzetteln (Ebd., l. 13 ob.).
Die performative Erzeugung von Glaubwürdigkeit
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Dorf N ikol’skoe mitnahm.20 Diese Art Rücksichtnahme ist nicht selbstverständlich. Wie sich abgesehen davon Cholščevnikovs Verhältnis zu Grigor’eva gestaltete, lässt sich allerdings nicht bestimmen: War er mit ihr verwandt? Hatte sie ihn vielleicht, gleich ob verwandt oder nicht, großgezogen bzw. als Erwachsenen bei sich aufgenommen? Bei Cholščevnikov selbst sind keine Motive erkennbar, warum er sich für Aleksej Petrovič ausgab. Möglicherweise hatte er als Großfürst tatsächlich keine Agenda, sondern wollte sich Grigor’evas Wohlwollen erhalten. Er war ein guljaščij čelovek,21 d. h., er hatte keinen festen Wohnsitz und wohl auch keine feste Verdienstquelle. Das alleine wäre schon ein hinreichender Grund, warum er Grigor’eva nicht gegen sich aufbringen wollte. Auch hinter dem falschen Peter III. Ivan Kolyčev (alias Vasilij Bunin) stand mit Mar’ja Tjumeneva eine Frau. Tjumeneva lebte als Pilgerin im Kiever Frolovskij-Frauenkloster. In der Stadt lernte sie im Herbst 1787 den Offizier Kolyčev kennen, der kurz zuvor aus osmanischer Gefangenschaft zurückgekehrt war. Sie behauptete, er sei ihr Bruder,22 brachte ihn zeitweise heimlich in ihrer Klosterzelle unter und führte sonst mit ihm ein ausschweifendes Leben in einer schäbigen Absteige in der Stadt. Als Kolyčev bei ihr im Kloster lebte, begann sie das Gerücht zu verbreiten, er sei niemand Geringerer als Peter III. Kolyčev spielte die Rolle des Kaisers bestenfalls halbherzig; die treibende Kraft war Tjumeneva. Allerdings geht aus dem mehr als 800 listy umfassenden Untersuchungsakt nicht hervor, was sie damit bezweckte. Die einzige halbwegs greifbare Erklärung besteht darin, dass Tjumeneva ein großes Geltungsbedürfnis auszeichnete. Im ersten Verhör behauptete sie, unter Elizaveta Petrovna Kammerjungfer und Hoffräulein gewesen zu sein, und ihrem Diener Mochin hatte sie erzählt, sie sei unter Peter III. Staatsdame gewesen. Später gestand sie, dass nichts davon stimmte.23 Möglicherweise dachte sie, als Wohltäterin Peters III. bekannt zu werden würde ihr eigenes Ansehen steigern. Welche Wirkkraft dieser Name entfalten konnte, war ihr zweifellos 20 Ebd., l. 4. 21 Ebd., l. 13. 22 Das Verwandtschaftsverhältnis von Tjumeneva und Kolyčev ist unklar. Zuerst behauptete Tjumeneva, er sei ihr Bruder, was er bestritt. Später meinte sie, sie seien nicht verwandt, sie habe es nur geglaubt, weil sie Kolyčevy in ihrer Verwandtschaft habe. Am Ende legte sie sich darauf fest, dass Kolyčev zu ihr ein vnučatyj brat sei, sie aber nicht wisse, auf welcher Seite der Familie (RGADA , f. 7, o. 2, d. 2744, l. 167.). Vnučatyj brat ist ein anderer Ausdruck für trojurodnyj brat und bedeutet entweder ›Cousin eines Cousins‹, ›Enkel eines Großvaters / einer Großmutter‹ oder ›Sohn eines Cousins / einer Cousine‹ (Kazačenko, B. N.: Russkoe rodstvo. Prošloe i nastojaščee. Moskva 2010, 237.). Die Verwandtschaft zwischen Tjumeneva und Kolyčev war jedenfalls eine weitschichtige, und sie dürften keinen Kontakt gehabt haben, bevor sie einander in Kiev begegneten, sodass die Verwandtschaft nicht der Grund war, warum sie zusammenarbeiteten. 23 RGADA , f. 7, o. 2, d. 2744, l. 24; 54 ob.; 65.
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Samozvanstvo als Performanz
bewusst, da sie mehrere Gerüchte über Peter III. bzw. Pugačev als Peter III. kannte (siehe Kapitel 4.2). Grigor’eva und Tjumeneva sind als Frauen, die hinter einem samozvanec standen, mit samozvanki vergleichbar, die sich nicht nur selbst eine fremde Identität aneigneten, sondern sich auch auf einen bekannteren samozvanec (oder eine persona oder Gerüchte über eine persona) beriefen, um von der Assoziation mit ihm zu profitieren. Ein Beispiel ist die falsche Marija Pavlovna Marianna Šimanovskaja, die im Namen der persona Konstantin Pavlovič agitierte (siehe Kapitel 5.3). Ein anderes Beispiel ist die Kaufmannstochter Anis’ja Nazarova, die sich erst 1761 für eine Tochter von General Krasnoščekov und dann in der Verbannung in Nerčinsk für ein in Ungnade gefallenes Hoffräulein Katharinas II. ausgab, ehe sie 1769 Peter III. (d. h. den ebenfalls dorthin verbannten samozvanec Petr Černyšev) zu ihrem Bruder erklärte und sich dadurch die dritte falsche Identität zulegte.24 Die Anzahl derartiger Fälle ist zu gering, um daraus eine spezifisch weibliche Strategie abzuleiten, die eigene Agenda umzusetzen. Sie zeigen allerdings, dass Frauen zu dem Schluss gelangen konnten, es sei effektiver, einen samozvanec für die eigenen Belange einzuspannen als sich selbst eine fremde Identität anzueignen bzw. die eigene angeeignete Identität durch den Verweis auf eine männliche persona zu stärken anstatt sich nur auf die eigene Performanz zu verlassen. Auch zwischen dem falschen Aleksej Petrovič Timofej Truženik und dem falschen Peter Petrovič Larion Starodubcev fand eine Übertragung von Agenden statt. Truženik war für Starodubcev Hintermann, Komplize und Gewährsmann für die angeeignete Identität in einer Person. Wie bereits in Kapitel 3.3 ausgeführt, wäre Starodubcev ohne Truženik wohl kaum auf die Idee gekommen, sich für Peter Petrovič auszugeben. Ursprünglich hatte er also keine Agenda als Großfürst, aber sobald er sich mit Truženik zusammengetan hatte, übernahm er zumindest teilweise die Anliegen seines Komplizen. Von einer nur teilweisen Übertragung zu sprechen ist notwendig, weil Truženiks Agenda in der Vielfalt seiner Projekte nicht eindeutig fassbar ist. Er wollte Kudejars Schatz heben, Otkryvon grad finden, ein furchtbares Strafgericht unter den Adeligen abhalten und den Thron besteigen (siehe Kapitel 3.3). Das alles sind einzelne Pläne, die sich nicht zu einer Gesamtheit fügen. Es ist anzunehmen, dass sie für Truženik nicht alle gleich wichtig waren und dass das erst recht für Starodubcev gilt. Gleichzeitig hatte Starodubcev seine Gründe, warum er sich darauf einließ, sich auf Truženiks Geheiß für einen Sohn Peters I. auszugeben. Kurz bevor er seinen Komplizen kennen gelernt hatte, hatten ihn die anderen Kosaken bestraft, weil er seinen Teil der Feldarbeit nicht erledigt hatte (siehe Kapitel 3.3). Später wurde er aus der stanica weggewiesen, weil er behauptete, 24 Usenko: Lžemonarchi v Sibiri, 105 f.
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als Großfürst nicht arbeiten zu können. Im Verhör sagte Starodubcev aus, er habe sich Truženik angeschlossen, weil er geglaubt habe, dass dieser ihn reich machen würde.25 Alles das deutet darauf hin, dass er ein Leben ohne Sorgen und Mühen führen wollte und dafür bereit war, alles zu akzeptieren, was ihm Truženik über sie beide erzählte. Auch Pugačev machte sich eine fremde Agenda zu eigen. Bei ihm ist es allerdings besonders kompliziert, diese von seinen eigenen Zielen zu trennen. Angesichts seiner Rolle als Anführer eines Aufstandes ist fraglich, ob ihn irgendetwas vor der Hinrichtung retten hätte können. Nichtsdestoweniger versuchte er, die Hauptverantwortung auf seine Mitstreiter abzuwälzen. In den ersten Verhören stellte er es so dar, als hätten die Jajk-Kosaken schon vor seiner Ankunft jemanden gesucht, der als Peter III. eine Erhebung anführen könne und als habe er nur mitgemacht, weil er zu diesem Zeitpunkt keine andere Zukunftsperspektive gehabt habe. In späteren Verhören wurden seine Ausführungen nüchterner und er gestand mehr Eigeninitiative ein.26 Dessen ungeachtet sollte der Einfluss der Jajk-Kosaken auf Pugačevs Agenda und seinen Werdegang als Peter III. nicht unterschätzt werden. Unter Katharina II. wuchs langsam, aber sicher die Unzufriedenheit sämtlicher Kosaken. Die Kaiserin erließ mehrere Verordnungen, die nicht direkt ihre Rechte beschnitten, aber die von ihnen geschätzte Lebensweise veränderten. So bekamen sie ab 1767 nicht mehr Pulver und Blei, um ihre Munition selbst herzustellen, sondern fertige Kugeln, die noch dazu gar nicht zu ihren Waffen passten. Unmut erregte auch 1770 die Gründung der Moskauer Legion des Don-Heeres, weil die in ihr dienenden Kosaken in gewöhnliche Regimenter eingegliedert wurden und wie Soldaten glattrasiert sein mussten.27 Speziell die Jajk-Kosaken lagen im Konflikt einerseits mit der Verwaltung des Gouvernements Orenburg, andererseits mit ihren eigenen staršiny, die auf der Seite der Zentralmacht standen. In Jajck kam es im Februar 1772 zu gewalttätigen Ausschreitungen, bei denen General Michael von Traubenberg getötet wurde, der in die Stadt entsandt worden war, um die Ursachen für den Ungehorsam der Kosaken zu ermitteln. Mit Ivan Zarubin (alias Čika), Maksim Šigaev und Timofej Mjasnikov waren drei der frühesten Unterstützer von Pugačev an den Unruhen beteiligt. Wie viele andere Kosaken warteten diese drei nur auf eine Gelegenheit, um sich erneut zu erheben.28 Ihre Agenda nahm also unabhängig von Pugačev Gestalt an. 25 RGADA , f. 6, o. 1, d. 187, l. 7–7 ob. 26 Čistov: Russkie narodnye social’no-utopičeskie legendy, 148; Alexander: Emperor of the Cossacks, 14 f. 27 Peters: Politische und gesellschaftliche Vorstellungen, 47–50; Alexander: Emperor of the Cossacks, 35. 28 Alexander: Emperor of the Cossacks, 43.
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Zu Pugačevs eigenen Absichten ist zweierlei festzuhalten. Zum einen dürfte er schon erwogen haben, sich für Peter III. auszugeben, bevor er am Jajk mit seinen späteren Mitstreitern zusammentraf. In der älteren Literatur wurde als Beleg dafür gerne folgende Episode angeführt: 1770 – das heißt, bevor Pugačev zum ersten Mal desertierte und sich die Probleme einhandelte, die ihn zwei Jahre später an den Jajk führten – soll er vor Kameraden unter Alkoholeinfluss damit geprahlt haben, ein Patenkind von Peter I. zu sein und ihnen als Beweis seinen Säbel gezeigt haben.29 Pugačev war eindeutig nicht Peters Patenkind, weil er erst 1742, d. h. 17 Jahre nach dem Tod des Kaisers, geboren wurde. Nichtsdestoweniger zeigt die Episode keine Neigung zu samozvanstvo, wie etwa Mordovcev meinte.30 Als sich Pugačev als Patenkind Peters I. bezeichnete, deutete er mitnichten an, mit dem Kaiser verwandt zu sein, was in Hinblick auf seine Performanz als Peter III. nicht unwesentlich ist. Kaiser und Kaiserinnen hatten üblicherweise eine ganze Reihe von Patenkindern – mit ihnen verwandte wie nicht mit ihnen verwandte, adelige wie nichtadelige. Es waren so viele, dass sie nicht zu allen eine enge persönliche Beziehung unterhalten konnten, wie es eine Patenschaft eigentlich vorsieht. Mit den meisten verband sie nicht mehr als die Nennung ihres Namens im Taufeintrag.31 Pugačev selbst nannte in den späteren Verhören eine andere Begebenheit, die ihn auf die Idee gebracht haben soll, sich für Peter III. auszugeben: Als er Anfang 1772 von der Rzeczpospolita ins Russländische Reich zurückkehrte, soll ein Soldat zu ihm gesagt haben, er sei dem Kaiser wie aus dem Gesicht geschnitten.32 Auf samozvanstvo zurückzugreifen kam Pugačev also durchaus selbst in den Sinn, doch das war nicht seine einzige Option. Er hatte auch überlegt, sich Krasnoščekovs Truppen anzuschließen und am Krieg gegen das Osmanische Reich teilzunehmen (siehe Kapitel 3.1). Zum anderen hätte als Peter III. aufzutreten nicht zwingend bedeutet, dass seine Agenda darin bestand, einen bewaffneten Aufstand anzuführen. Das zeigen die bereits angeführten Beispiele mit kleinen Anliegen. Es ist Pugačev durchaus zu glauben, dass es für ihn am wichtigsten war, seine unsichere Existenz als Deserteur und entflohener Häftling wieder zu stabilisieren. Er stellte eine ähnliche Überlegung an wie der falsche Peter II. Iov Evdokimov gut zehn Jahre früher: Evdokimov hatte sich Peter II. genannt, damit ihm die Altgläubigen dauerhaft Unterschlupf gewährten, und Pugačev wollte sich ursprünglich nur Peter III. nennen, damit ihn die Jajk-Kosaken bei sich aufnahmen. Vor diesem Hintergrund verständigte er sich mit ihnen auf eine 29 Ovčinnikov (Red.): Pugačev na sledstvii, 58. 30 Mordovcev: Samozvancy, 218. 31 Für ein Beispiel mit Alexander I. als Taufpate siehe Judin, P. A.: Carskij krestnik. In: IV 41 (1890), 707–709. 32 Mordovcev: Samozvancy, 221 f.
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gemeinsame Unternehmung und machte sich deren Ziele zu eigen. Das war problemlos möglich, weil sich Pugačevs Agenden und die der Kosaken nicht ausschlossen, sondern ergänzten. Sie nahmen ihn als Peter auf und versorgten ihn. Im Gegenzug stellte er sich als Anführer des Aufstandes zur Verfügung, wobei ihm die Anliegen der Jajk-Kosaken sicher nicht fremd waren, da, wie gesagt, unter Katharina II. alle Kosaken eine Verschlechterung ihrer Situation beklagten. Es war ein wechselseitiges Geben und Nehmen. Auch während des Aufstandes selbst waren die Agenden und Interessen von Pugačev und seinen Mitstreitern eng miteinander verzahnt. Pugačev war weder eine reine Marionette, noch ganz allein für alles verantwortlich, was geschah. Ob die Tendenz mehr in die eine oder in die andere Richtung ging, hing von der konkreten Situation ab und konnte sich schnell ändern. Grundsätzlich ist anzunehmen, dass Pugačev jene Entscheidungsfreiheit für sich beanspruchte, die ihm ebenso als Anführer des Aufstandes wie als (vermeintlichem) Kaiser zustand und nicht vor jeder Anordnung Rücksprache mit seinen wenigsten Truppenführern hielt. Allerdings konnte er nur so weit nach eigenem Ermessen schalten und walten, wie es die Interessen seiner Mitstreiter nicht verletzte. Andernfalls wären sie vielleicht auf die Idee gekommen, Pugačev den Behörden auszuliefern und durch einen anderen samozvanec zu ersetzen. Wenn er sich als Peter III. nicht halten konnte, war nicht nur der Aufstand gefährdet, sondern auch er selbst. Aber auch Außenstehende bedeuteten mitunter eine Gefahr. Während des Aufstandes versuchten Katharina II., ihre Generäle, aber auch Individuen, die sich bereichern wollten (für Beispiele siehe unten und Kapitel 5.2), Pugačevs Glaubwürdigkeit als Kaiser zu unterminieren. Es lag nicht in seiner Macht, diese Störgeräusche gänzlich zu unterbinden, aber er musste tun, was er konnte, damit sie nicht irgendwann zu laut wurden und auf seine UnterstützerInnen glaubwürdig wirkten. Daraus folgt, dass er punktuell erpressbar war und seine Entscheidungsfreiheit gänzlich einbüßte. Drohte jemand, ihn zu enttarnen, hatte er kaum eine andere Wahl als zu tun, was dieser von ihm verlangte. In allen angeführten Beispielen sind Abhängigkeitsverhältnisse erkennbar. Die samozvancy befanden sich in einer verwundbaren Position. Entweder brauchten sie fremde Unterstützung, um als Mitglied der Dynastie überhaupt eine Chance auf Erfolg zu haben wie der erste falsche Dmitrij. Oder aber sie befanden sich in einer schwierigen Lage wie der zweite falsche Dmitrij, Cholščevnikov, Pugačev und Kolyčev. Wenn sie daran etwas ändern oder eine bereits eingetretene Verbesserung nicht gefährden wollten, blieb ihnen kaum eine andere Wahl, als sich die Agenda ihrer Hintermänner oder Hinterfrauen zu eigen zu machen. Letztere machten sich die Autorität zunutze, die ein (vermeintliches) Mitglied der Dynastie genoss, um die eigene Agenda voranzubringen, indem sie gegenüber dem samozvanec diese Abhängigkeit ausspielten.
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Samozvanstvo als Performanz
Die Bedeutung der Agenden der AnhängerInnen zeigt sich nicht nur, wenn sie diese auf einen samozvanec oder eine samozvanka übertrugen, sondern auch daran, dass im Vorhinein bestehende Meinungen, Wünsche, etc. Einfluss darauf hatten, ob sie ein vermeintliches Mitglied der Dynastie akzeptierten oder eher auf Distanz gingen. Der Deserteur Nikolaj Sorokin (alias Šljapnikov) fand 1782 Unterschlupf am Don, wo er eine Affäre mit Irina Trofimova begann, der Frau eines Kosaken. Irinas Mann scheint noch am Leben gewesen zu sein, lebte aber aus unbekannten Gründen nicht mit ihr zusammen. Sorokin versuchte, Irina dazu zu bringen, mit ihm an die Volga zu fliehen. Davon versprach er sich ein besseres und vor allem freies Leben. Irina wollte nicht mitgehen, weil sie meinte, Sorokin dürfe als Soldat (Deserteur) seinen Aufenthaltsort nicht einfach so verlassen. Sie hatten darüber mehrere ergebnislose Auseinandersetzungen. Am Ende sagte Sorokin, er sei Paul Petrovič, der irdische Gott.33 Daraufhin war Irina tatsächlich bereit, mit ihm zu gehen, doch die Gründe dafür dürften andere gewesen sein als Sorokin glaubte. Er hatte damit gerechnet, Pauls Name werde ihm die nötige Autorität verschaffen, um Irina seinen Willen aufzuzwingen, nachdem er mit Fragen und Bitten nichts erreicht hatte. Sobald er sich Irina als Paul offenbart hatte, begann sie auf einmal davon zu sprechen, dass das Leben am Don nun sehr schlecht und früher alles besser gewesen sei, es aber an der Volga noch echte Freiheit gebe.34 Es ist davon auszugehen, dass Irina diese Erkenntnis nicht plötzlich kam, sondern sie schon länger dieser Ansicht gewesen war. Sie dürfte Sorokins Plänen also nicht zugestimmt haben, weil sie meinte, einem Großfürsten unbedingt gehorchen zu müssen. Entweder fühlte sie sich durch die Anwesenheit des vermeintlichen Paul ermutigt, ihren Groll über die nach dem Pugačev’schen Aufstand über alle Kosaken hereingebrochenen Strafmaßnahmen in Worte zu kleiden. Oder sie glaubte, dass ihr die Flucht mit einem Großfürsten eher gelingen könnte als mit einem Deserteur, bzw. dass sie mit einem Großfürsten gar nicht zu fliehen brauchte, sondern ganz offen gehen konnte, wohin sie wollte. Auch Dmitrij Popovič profitierte davon, dass die Nachwehen des Puga čev’schen Aufstandes zahlreiche Unzufriedene zurückgelassen hatten. Er wurde im Herbst 1782 aus der Zwangsarbeit in Taganrog entlassen, die er verbüßt hatte, weil er 1778 Gerüchte über Peter III. und Pugačev erzählt hatte (siehe Kapitel 3.1). Danach fand er in der stanica Alekseevka am Don Unterschlupf, wo er bald die Information streute, er sei Peter III. Nicht alle Einheimischen glaubten Popovič oder waren bereit, ihn als Kaiser zu akzeptieren, aber er scharte ein kleines Grüppchen überzeugter AnhängerInnen um sich, die ihm mit besonderer Achtung begegneten. Sie tranken auf seine Gesundheit 33 RGADA , f. 6, o. 1, d. 541, l. 3–3 ob. 34 Ebd., l. 3 ob.
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(d. h. die von Peter III.), machten ihm Geschenke wie Taschentücher oder den Stoff für ein neues Hemd und der Schuster Gončarenko feuerte aus seinem Gewehr einen Salutschuss ab.35 Grigorij Sinica, einer von Popovičs Anhängern, meinte, falls Peter III. auf den Thron zurückkehre, werde die Sič’ genau so wiedererrichtet werden, wie sie bis zu ihrer Zerstörung 1775 gewesen war.36 Wie Irina Trofimova sehnte er sich nach einer vermeintlich besseren Vergangenheit zurück. Es ist anzunehmen, dass Sinica nicht der Einzige war, der so dachte und Popovič sein Winterquartier vor allem solchen Empfindungen zu verdanken hatte. Nach dem Pugačev’schen Aufstand war die persona Peter III. als kriegerischer Kaiser auf eine Weise festgelegt, die den Kosaken in Aussicht stellte, es würden tatsächlich bessere Zeiten anbrechen, falls sie ihn unterstützten. Der Performanz immanente Agenden
Unter die der Performanz immanente Agenda fallen die Versprechen, die samozvancy und samozvanki ihren AnhängerInnen machten, um Unterstützung zu gewinnen. Ihr gemeinsamer Tenor lautet, sobald sie erst den Thron bestiegen hätten, würde schlagartig alles besser werden. Beispielsweise kündigte der falsche Peter III. Gavrila Kremnev unter anderem an, er werde die Rekrutenaushebungen aussetzen und alle Steuern und Abgaben abschaffen (siehe Kapitel 4.2). Der falsche Aleksej Petrovič Timofej Truženik versprach nicht nur, Kudejars Schatz an die Armen zu verteilen und den Adel auszurotten, sondern auch, die verhasste Landmiliz abzuschaffen.37 Die in Pugačevs Namen verfassten Manifeste enthalten umfassende Kataloge mit Belohnungen und »Freiheiten«, die bei potenziellen Kämpfern keinen Wunsch offen lassen sollten.38 Samozvancy und samozvanki mussten den Eindruck erwecken, solche Versprechen aus tiefster Überzeugung zu machen. Berechnung widersprach den gängigen Herrscherbildern so stark, dass sie einzugestehen die Performanz selbst in dem Fall zum Scheitern gebracht hätte, wenn allen Beteiligten klar gewesen wäre, dass sie es mit einem Betrüger / einer Betrügerin zu tun hatten. Pugačev betonte dieses Moment, als er behauptete, er (Peter III.) sei nur deswegen schon vor Ablauf einer ihm angeblich gesetzten 15-jährigen Frist zurückgekehrt, weil er das Leiden seiner Untertanen nicht mehr ertragen 35 36 37 38
RGADA , f. 7, o. 2, d. 2455, l. 27 ob.–28. Ebd., l. 27. RGADA , f. 6, o. 1, d. 187, l. 84. Für eine Edition der Manifeste siehe Golubcov (Red.): Pugačevščina I; Ovčinnikov (Red.): Dokumenty stavki.
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habe.39 Dadurch zeigte er sich als Herrscher, der sich so sehnlich wünschte, die Lebensbedingungen seiner Untertanen zu verbessern, dass er dafür sogar den Willen Gottes in den Wind schlug. Eine für das Verständnis von samozvanstvo zentrale Frage lautet, was sich aus derartigen Versprechen ablesen lässt. Der sowjetische Zugang bestand darin, sie für bare Münze zu nehmen und, wie bereits angeschnitten, als unterschiedliche Ausdrucksformen einer im Kern uniformen, auf den Klassenkampf ausgerichteten Agenda zu betrachten. Es lässt sich nicht a priori ausschließen, dass ein Teil der samozvanki und samozvancy daran interessiert war, Missstände zu beseitigen. Wenn der falsche Aleksej Petrovič Timofej Truženik ankündigte, den Adel ausrotten, zu diesem Zweck den »alten Kaiser« aus der Schatzhöhle befreien und nebenbei Kudejars Schatz an die Armen verteilen zu wollen (siehe Kapitel 3.3), klingt das wie eine engagierte Ansage zur Beseitigung von Missständen und besitzt gleichzeitig so viel individuelles Kolorit, dass das alles durchaus sein aufrichtiger Wunsch gewesen sein mag. Allerdings ist nicht nachweisbar, dass die Mehrheit oder auch nur eine relevante Minderheit der samozvancy und samozvanki vergleichbare Ziele verfolgte. Im Gegenteil ist Truženik nicht zuletzt deswegen so bemerkenswert, weil er einer der ganz wenigen samozvancy ist, bei denen es durchaus passend ist, sie avant la lettre als Klassenkämpfer zu bezeichnen. Er konstruierte einen scharfen Gegensatz zwischen Adeligen und Bauern und meinte, solange es die Ersteren gebe, würden Zweitere niemals ein anständiges Leben haben. Die Unterdrückung von Motiven der Berechnung und Planung macht die der Performanz immanente Agenda zu einem unzuverlässigen und tendenziell irreführenden Indiz, um Rückschlüsse auf die Funktion von samozvanstvo zu ziehen. Samozvancy und samozvanki befanden sich in der komfortablen Position, das Blaue vom Himmel versprechen zu können, weil sie nicht zu befürchten brauchten, dass sie in die Verlegenheit kommen würden, ihren Worten Taten folgen lassen zu müssen. Im Rahmen der Performanz war alles, was sie sagten oder behaupteten sofort Realität, während es im Normalfall ihre Möglichkeiten überstieg, die tatsächlichen Verhältnisse zu beeinflussen. Das bedeutet, es gibt keine Taten, an denen ihre Worte gemessen werden könnten und das macht die Worte zu einem schlechten Indiz für Absichten und Ansichten. Wie bereits in Kapitel 4.2 kurz angesprochen, stellte der falsche Peter III. Gavrila Kremnev einem seiner Anhänger als Belohnung für seine Dienste ein Dorf mit Leibeigenen in Aussicht. Abgesehen davon, dass das nicht nach Klassenkampf, sondern nach dem Erhalt der bestehenden Ordnung klingt, konnte Kremnev leicht Leibeigene verteilen, wenn er über keinen einzigen 39 Čistov: Russkie narodnye social’no-utopičeskie legendy, 163.
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Bauern reale Verfügungsgewalt besaß. Daher war es irrelevant, ob er persönlich die Leibeigenschaft guthieß oder verurteilte. Angesichts solcher Unwägbarkeiten ist es am besten, die Versprechen der samozvancy und samozvanki als eine Art Wahlversprechen anzusehen. Um Unterstützung zu gewinnen, erzählten sie den Leuten, was diese hören wollten und was nach allgemeiner Vorstellung einen Herrscher auszeichnete. Jeder Mensch weiß zumindest im Groben, welche Beschwerden, Gründe für Unzufriedenheit es in seiner geografischen und / oder sozialen Umgebung gibt. Das kann er sich zunutze machen, ohne diese Meinung selbst teilen zu müssen. Für die bei einer Performanz gemachten Versprechen gilt das umso mehr, weil deren Ausführende nicht als sie selbst sprachen und handelten, sondern als eine bestimmte persona möglichst glaubwürdig wirken wollten.40 Für eine solche Deutung sprechen auch die folgenden beiden Umstände: Erstens passten zumindest ein paar samozvancy ihre Versprechen an das jeweilige Publikum an. Der falsche Peter Petrovič Larion Starodubcev wandte sich mit seinen Aufrufen zielgerichtet an altgläubige sogenannte golutvennye kazaki und burlaki (›Lohnarbeiter‹), welche die kosakische Unterschicht bildeten und im Gegensatz zu den materiell besser gestellten staršiny standen (siehe Kapitel 6.2). Die im Namen Pugačevs erlassenen Manifeste verließen zwar einen spezifisch kosakischen Standpunkt nie ganz,41 variierten im Inhalt aber abhängig davon, ob sie an andere Kosaken, Tataren, Baschkiren, etc. gerichtet waren. Kremnev befürwortete möglicherweise selbst die Leibeigenschaft, doch er stellte Leibeigene in erster Linie deswegen als Belohnung in Aussicht, weil er seine Anhängerschaft in mehrheitlich von statusbewussten Einhöfern bewohnten Dörfern sammelte. Zweitens ist auch erkennbar, dass samozvancy mitunter von einer vorgegebenen Grundlinie bzw. bereits gemachten Versprechen abwichen, um sich Unterstützung zu sichern. Pugačev führte einen Aufstand im Namen der Freiheit an, schenkte aber einem Kaufmann aus Perm’ zwei Bauern als Leibeigene, als dieser ihn darum ersuchte.42 Seine Bereitschaft, der Bitte nachzukommen, lässt sich sicher (auch) darauf zurückführen, dass er es vermeiden musste, jemanden gegen sich aufzubringen, der ihn enttarnen konnte. Wäre er allerdings kategorisch dagegen gewesen, Leibeigene zu verschenken, hätte er sich auf die fürsorgliche Seite der persona Peter III. beziehen und entsprechende Argumente finden können, warum das nicht ging. So bleibt die Möglichkeit, dass Pugačev Freiheit und Freiheit für alle womöglich gar nicht so wichtig waren, bzw., dass er diese Schlagworte nicht so universell verstand wie jene HistorikerInnen, die ihn im Nachhinein zum Klassenkämpfer stilisierten. 40 Myl’nikov: Iskušenie čudom, 203. 41 Usenko: Psichologija social’nogo protesta I, 30. 42 Ders.: Psichologija social’nogo protesta III, 51.
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Gruppenspezifischen Anliegen potenzieller AnhängerInnen entgegenzukommen war ein einfacher Weg, sich deren Wohlwollen zu sichern. So vorzugehen zeugt vorrangig von Klugheit und der Fähigkeit, vorausschauend zu planen. Vor Einhöfern die Leibeigenschaft als das größte aller Übel anzuprangern wäre ebenso kontraproduktiv gewesen wie vor Leibeigenen vermeintliche Vorzüge ihrer Abhängigkeit hervorzuheben. Allerdings zeigen diese Programme auch, dass samozvancy und samozvanki nicht immer und schon gar nicht vorrangig ihren eigenen tiefsten Überzeugungen folgten, sonst wären solche Konzessionen nicht möglich gewesen. Sie waren weder Klassenkämpfer noch Idealisten, sondern Pragmatiker, die genau verstanden, an welchen Stellschrauben sie drehen mussten, um der Umsetzung ihrer Agenda näherzukommen. Unter der Überschrift Agenda nicht nur die Motive aller samozvancy und samozvanki zu versammeln, sondern sie als eigenständigen Faktor beim Verlauf der Performanz aufzufassen, ermöglicht zwei Beobachtungen. Dadurch wird die Aufmerksamkeit dafür geschärft, dass sich jede Äußerung und jede Handlung der Beteiligten entweder nach den Gesetzmäßigkeiten der Realität oder der Performanz orientierte. Je nachdem, welchem der beiden Bereiche sie zuzuordnen ist, verändert sich auch ihre Aussagekraft. Was aus unterschiedlichen Kontexten stammt, sagt über das jeweils andere nichts aus, sodass Verallgemeinerungen wie jene ausgeschlossen sind, samozvanstvo pauschal zum Klassenkampf zu erklären. Die Unterscheidung der verschiedenen Arten von Agenda ergibt, dass die Mehrheit der samozvancy und samozvanki Ziele verfolgte, deren potenzielle Auswirkungen äußerst begrenzt waren. Erhebungen unter der Führung eines vermeintlichen Mitglieds der Dynastie fanden nicht nur selten statt, sie waren auch selten geplant. Die samozvancy und samozvanki, die tatsächlich den Thron anstrebten, dürften an einer Hand abzuzählen sein, obwohl alle im Rahmen der Performanz diesen Anspruch zumindest implizit erheben mussten. Um ihre kleinen Agenden umzusetzen, nahmen samozvancy und samozvanki allerdings ein unverhältnismäßig großes Risiko auf sich. Auf dieses Paradox wird in Kapitel 6 zurückzukommen sein.
5.2 Der Nachweis der angeeigneten Identität: Form und Mittel Der Begriff Form steht bei Schieffelin für die gleichbleibenden Elemente einer Performanz, die den Beteiligten zeigen, was sie zu erwarten haben. Da der Ablauf einer Performanz unterschiedlich stark vorgegeben ist, kann sich Form auf relativ große Einheiten wie das Genre beziehen, aber auch auf kleinere wie die Anordnung der Beteiligten im Raum oder den Gebrauch bestimmter
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Phrasen. Bei einem Gottesdienst ist beispielsweise jedes Detail geregelt, während der Ablauf der von Schieffelin erforschten Geistheilungs-Séancen auf Neu Guinea weitgehend frei ist. Die Form begrenzt die Wahlmöglichkeiten der Beteiligten in Hinblick auf Mittel und Strategie.43 Unter den Begriff Mittel fällt alles, was die Beteiligten einsetzen, um der Form entsprechende Effekte zu erzielen. Dazu gehören etwa Verhaltensweisen, sprachliche Ausdrucksformen und Objekte.44 Form und Mittel sind also durch die Frage verbunden, wie ein vermeintliches Mitglied der Dynastie auf potenzielle AnhängerInnen plausibel wirken konnte. Bei samozvanstvo gibt es keine feststehenden Abläufe. Alle weiter unten behandelten Mittel können in der Performanz eines samozvanec / einer samo zvanka vorkommen, doch sie müssen es nicht. Auch sagt weder die Auswahl, noch die zeitliche Anordnung der Mittel als solche etwas darüber aus, ob sie erfolgreich ist oder nicht. Daher bezieht sich Form in diesem Kapitel auf den groben Rahmen, sozusagen den kleinsten gemeinsamen Nenner aller samo zvancy und samozvanki. Was als dieser kleinste gemeinsame Nenner anzusehen ist, wird im ersten Abschnitt erläutert. In der Forschung hat die Form der Performanz noch keine Beachtung gefunden; der erste Abschnitt betritt völliges Neuland in der Deutung. Bei den Mitteln ist das anders. Fast alle AutorInnen kommen irgendwann auf die Frage zurück, wie ein falsches Mitglied der Dynastie die angeeignete Identität für AnhängerInnen plausibel machte. Typischerweise besteht die Antwort darin, verschiedene Mittel aufzuzählen. Einzelne AutorInnen schenkten diesem Aspekt auch mehr Aufmerksamkeit und versuchten, einen systematischen Überblick zu geben.45 Insofern sind viele der folgenden Beispiele schon aus der vorhandenen Literatur bekannt und werden hier auch nicht radikal anders interpretiert. Der Performanzbegriff ermöglicht es jedoch, genauer als bisher zu bestimmen, welche Funktion der Einsatz eines bestimmten Mittels erfüllt und warum die Beteiligten offensichtliche Tricks für bare Münze nahmen. Dadurch werde ich immer wieder in der Lage sein, scheinbar selbstverständliche Annahmen wie jene zu hinterfragen, dass sich die Identifizierung einer Person anhand von Merkmalen wie Haarfarbe, Augenfarbe oder ungefähre Größe grundlegend von der Identifizierung anhand fiktiver Zeichen an der Hautoberfläche unterscheide.
43 Zum Begriff Strategie siehe Kapitel 5.3. 44 Schieffelin: On Failure and Performance, 65. 45 Beispiele sind Usenko: Psichologija social’nogo protesta III, 42–52; Obuchova: Fenomen monarchičeskich samozvancev, 18 f., 21 f.
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Die Form der Performanz: Das Auftreten eines vermeintlichen Herrschers
Bei samozvanstvo ist der feste Rahmen der Performanz nicht die Aneignung einer fremden Identität. Das würde bedeuten, dass sich jemand nicht tatsächlich eine fremde Identität aneignet, sondern eine andersartige Situation performativ so gestaltet wird, als wäre das der Fall. Diese Gleichung geht nicht auf. Vielmehr ist die Aneignung einer fremden Identität der Performanz vorgelagert. Jemand trifft die Entscheidung, sich für ein Mitglied der Dynastie auszugeben. Diese Entscheidung bestimmt, welche Form die Performanz annimmt und welcher Mittel sich die Beteiligten bedienen, aber sie selbst kann nicht Teil der Performanz sein, weil die Einbeziehung der Entscheidung zum Betrug den Betrug offensichtlich machen würde. Die Form der Performanz ist bei samozvanstvo das plötzliche und unerwartete Auftreten eines Mitglieds der Dynastie. Mordovcev machte bereits im 19. Jahrhundert darauf aufmerksam, dass die Zeitgenossen ein solches Ereignis mit Verben wie projavit’sja und ob’’ javit’sja (›ans Tageslicht kommen, sich offenbaren‹) beschrieben, Wendungen wie byt’ bzw. stat’ javen (›offenbar sein‹ bzw. ›offenbar werden‹)46 verwendeten oder berichteten, es habe ein javlenie (›Erscheinung‹)47 gegeben. Diese Ausdrücke wurden nicht nur für das plötzliche Auftreten eines Mitglieds der Dynastie verwendet, sondern auch für religiöse Offenbarungen und Erscheinungen.48 Dieser Hinweis fand in der Forschung nur wenig Beachtung; Ingerflom war nach langer Zeit einer der wenigen, die ihn aufgriffen.49 Für Ingerflom ist die Gleichsetzung des Auftretens eines Mitglieds der Dynastie mit einer Offenbarung ein weiterer Beleg dafür, dass die Zeitgenossen Mitglieder der Dynastie für sakral hielten. Mordovcev äußert sich nicht dazu, aber er kann ohne Weiteres derselben Ansicht gewesen sein. Es ist nicht auszuschließen, dass die Wortwahl bei einem Teil der Zeitgenossen tatsächlich so motiviert war, aber wie in Kapitel 3.1 ausgeführt, ist erst ab der Mitte des 18. Jahrhunderts von einer breiteren Rezeption der Sakralisierung der Person des Herrschers / der Herrscherin auszugehen, und auch dann wäre es unseriös, diese Einstellung zu verallgemeinern. Die Gleichsetzung des Auftretens eines (vermeintlichen) Mitglieds der Dynastie mit einer Offenbarung besitzt insofern ein genuin religiöses Moment, als im Moskauer und Russländischen Reich die direkte Offenbarung von Gottes Willen als einziges sicheres Kriterium galt, um den »wahren« Herrscher zu bestimmen (siehe Kapitel 3.1). Aber das bedeutet nicht, dass die in diesem Amt offenbarte Person selbst als sakral wahrgenommen worden sein muss. 46 47 48 49
RGADA , f. 6, o. 1, d. 187, l. 66 ob. RGADA , f. 6, o. 1, d. 192, l. 59 ob.
Mordovcev: Odin iz Lže-Konstantinov, 176. Ingerflom: Le tsar c’est moi, 26; 39.
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Stattdessen werde ich die Gleichsetzung des unerwarteten Auftretens eines vermeintlichen Mitglieds der Dynastie mit einer religiösen Offenbarung als Versuch interpretieren, das Geschehen auf eine bestimmte Art und Weise einzuordnen und zu strukturieren, die gleichermaßen den samozvancy und samozvanki wie auch ihren AnhängerInnen entgegen kam. Entscheidend ist dabei, welche Merkmale Offenbarungen aufweisen, die sie von anderen Ereignissen unterscheiden, und wie sich die an einem solchen Ereignis Teilhabenden verhalten. Die folgenden Überlegungen basieren auf Beispielen aus der Religion, weil diese am besten bekannt sind, doch das heißt nicht, dass die daraus gewonnen Schlüsse nur auf einen religiösen Kontext anwendbar sind. Eine Offenbarung kommt unerwartet; sie erfolgt ohne Intention und Erkenntnisinteresse der Anwesenden.50 Wer einer Offenbarung teilhaftig wird, kann sich entscheiden, das Erlebte zu glauben oder von sich zu weisen. Er kann es aber weder auf der Grundlage rationaler Kriterien analysieren, noch einzelne Aspekte akzeptieren und den Rest verneinen. Wird eine Offenbarung in Teilen verändert, verliert sie als Ganzes ihren Sinn. Es gilt das Prinzip ganz oder gar nicht. Religiöse Offenbarungen werden von denen, die ihrer teilhaftig werden, normalerweise geglaubt (und häufig auch nur von diesen). Für das Auftreten eines vermeintlichen Mitglieds der Dynastie war nicht zu glauben ebenfalls keine ernsthafte Option. Falls potenzielle AnhängerInnen eines samozvanec / einer samozvanka nicht sicher waren, ob sie es mit einem Mitglied der Dynastie zu tun hatten, war es besser, wenn sie sich den Anschein gaben, überzeugt zu sein. Nur so hielten sie sich die Möglichkeit offen, von den Vorgängen zu profitieren. Ähnliches gilt für diejenigen, denen klar war, dass sie es mit einem Betrüger / einer Betrügerin zu tun hatten. Sobald sie beschlossen, ihn / sie zu akzeptieren, um ihre eigene Agenda umzusetzen, mussten sie die aus der Form resultierenden Spielregeln einhalten, um die Performanz nicht zu gefährden. Die Gleichsetzung des Auftretens eines Mitglieds der Dynastie mit einer Offenbarung senkte die Anforderungen an die Glaubwürdigkeit des Erlebten (performativ Gebotenen). Aus der christlichen Tradition ist bekannt, dass sich bei Offenbarungen nahezu immer etwas ereignet, was rational oder der eigenen Erfahrung nach eigentlich nicht sein kann, aber nichtsdestoweniger tatsächlich geschieht und wahr ist. Nüchtern betrachtet war es unwahrscheinlich, dass ein Mitglied der Dynastie einfach so in einem x-beliebigen Dorf auftauchte, und das umso mehr, als es meistens um Verstorbene ging. Die Gleichsetzung mit einer Offenbarung erleichterte es, den Anspruch eines samozvanec / einer samozvanka zu akzeptieren, weil bei Offenbarungen immer das Unwahrscheinliche Realität wird.
50 Gumbrecht: Production of Presence, 80 f.
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Außerdem verhinderte diese Gleichsetzung, dass die Ähnlichkeit zwischen Herrscher und Untertanen so groß wurde, dass sie nicht mehr voneinander unterschieden werden konnten. Ein samozvanec, der unerwartet in der Mitte seiner »Untertanen« auftauchte, verkörperte das Ideal des Herrschers, der sich unmittelbar ein Bild von den Lebensumständen seiner Untertanen macht. Dadurch hob er sich vorteilhaft von der Person auf dem Thron ab. Doch das war nur möglich, wenn er anonym herumreiste und zwangsläu fig das harte Leben seiner Untertanen teilte. Auf diese Weise kam es zu einer äußerlichen Angleichung zwischen Herrscher und Untertanen. Diese hätte als Ausweis von »Volksnähe« oder als Buße interpretiert werden können und daher zugunsten des samozvanec sprechen können. Für vermeintliche Mitglieder der Dynastie war es aber in der Regel weniger günstig, wenn sie nicht auf den ersten Blick als derjenige zu erkennen waren, der sie zu sein vorgaben. Dann blieb zu viel Raum für Zweifel, und Zweifel gefährdete den Erfolg der Performanz (siehe auch Kapitel 5.3). Trat ein vermeintliches Mitglied der Dynastie im Rahmen einer Offenbarung auf, wurde es automatisch als außergewöhnlich markiert, sodass es viel weniger ins Gewicht fiel, wenn es bestimmten Erwartungen wie guter Kleidung nicht entsprach. Zuletzt machte das Auftreten eines Mitglieds der Dynastie als Form das Merkmal Fremdheit unproblematisch. In Kapitel 1.3 war davon die Rede, dass Mobilität oder zumindest die Möglichkeit, sich an Orten aufzuhalten, an denen regelmäßig mobile Teile der Bevölkerung zusammenkamen, eine wichtige Voraussetzung war, damit sich jemand erfolgreich eine fremde Identität aneignen konnte. Dadurch erwarben samozvancy und samozvanki das Wissen, das sie brauchten, um plausibel zu wirken. Die Prämissen Fremdheit und Mobilität bei samozvanstvo stehen in einem starken Kontrast zu Valerie Kivelsons Ausführungen zu Hexerei und Zauberei im Moskauer Reich im 17. Jahrhundert. Im Unterschied zu Zentral- und Westeuropa wurden mehrheitlich Männer der Zauberei beschuldigt. Kivelson führt das darauf zurück, dass nicht Geschlecht die Kategorie gewesen sei, die vermeintliche Hexen und Zauberer hauptsächlich bedrohlich erscheinen ließ, sondern eine Kombination von Merkmalen, die zwar grundsätzlich Frauen wie Männer aufweisen konnten, jedoch bei Männern deutlich häufiger vorgekommen seien: Hexen und Zauberer waren mobiler als der Bevölkerungsdurchschnitt und boten ihre Dienste daher nicht in den Ortschaften an, aus denen sie stammten. Außerdem waren sie in vielen Fällen keine »RussInnen«. Solange sie zur Zufriedenheit ihrer KlientInnen arbeiteten, spielte das keine Rolle. Sobald es einen Grund zur Klage gab, wirkten sich diese Merkmale zu ihren Ungunsten aus.51 51 Kivelson: Male Witches and Gendered Categories, 621 f.
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Die ethnische Herkunft fiel bei samozvanstvo nicht ins Gewicht. Zwar waren mehrere samozvancy und samozvanki keine »RussInnen«, jedoch lässt sich an keinem einzigen Fall zeigen, dass dieser Faktor irgendwelche Auswirkungen gehabt hätte, gleich ob positiv oder negativ. Dafür spielten die anderen beiden von Kivelson genannten Merkmale eine umso größere Rolle. Wie gerade gesagt, mussten samozvancy und samozvanki sowohl fremd, als auch mobil sein, um eine intakte Chance zu haben, als Mitglied der Dynastie akzeptiert zu werden. Es stellt sich die Frage, wie das zusammenpasst. Wie kann ein Merkmal in derselben Gesellschaft zu etwa derselben Zeit für eine Gruppe der Schlüssel für (vorübergehenden) Erfolg sein und für die andere ein Damoklesschwert, das oft genug tatsächlich zum Verhängnis wurde? Kivelson beschäftigte sich in ihrem Aufsatz nur mit dem 17. Jahrhundert, in dem im Moskauer Reich die Verfolgung von Hexen und Zauberern den Höhepunkt erreichte, doch Misstrauen gegenüber Personen mit den drei genannten Merkmalen bestand auch im 18. Jahrhundert, sodass die Diskrepanz für den gesamten Untersuchungszeitraum relevant ist. Die einzig denkbare Erklärung lautet, dass im Rahmen der Performanz eine Art von Fremdheit durch eine zweite überlagert wurde, die nicht negativ konnotiert war. Dieser Effekt ist in erster Linie auf die Form der Performanz zurückzuführen. Für fast alle BewohnerInnen des Moskauer und Russländischen Reiches waren die Mitglieder der Dynastie Fremde. Das galt vor den petrinischen Reformen insofern mehr, als die Abschottung im Alltag stärker war, aber Distanz bestand immer. Bei ihnen wirkte Fremdheit aber nicht bedrohlich, sondern selbstverständlich. Die Form bewirkte, dass die sonst problembehaftete Ankunft eines Fremden im Dorf neutral bis positiv bewertet werden konnte. Das zeigt sich am Beispiel von Andrej Krekšin. Er gab sich 1712 unter anderem deswegen für Aleksej Petrovič aus, weil er das Dorf Borcovo sonst verlassen hätte müssen und ihm wegen seines illegalen Aufenthalts bereits die Verhaftung drohte.52 Sowohl die Form als solche, wie auch die Gleichsetzung des Auftretens eines Mitglieds der Dynastie mit einer Offenbarung erzeugte also einen Rahmen, der es allen Beteiligten erleichterte, sich über das Erlebte zu verständigen und es als das zu akzeptieren, was es der Performanz nach war. Sie half den AnhängerInnen, etwas Außergewöhnliches und nicht unbedingt Realistisches als gegeben hinzunehmen. Samozvancy und samozvanki erhielten einen gewissen Schutz vor sofortiger Verhaftung, weil Merkmale wie unzureichende Kleidung, Fremdheit und Mobilität vorübergehend in den Hintergrund traten. Sie bekamen die Möglichkeit, mithilfe der Mittel der Performanz und einer angemessenen Strategie ihre Botschaft unterzubringen und so längere Zeit vor 52 RGADA , f. 371, o. 1/č. 1, d. 788, l. 64.
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einer Anzeige geschützt zu bleiben oder dieser auch ganz zu entgehen. Beide Seiten gewannen dadurch Zeit, um sich über die Agenden zu verständigen, wegen derer sie sich auf die Performanz eingelassen hatten. Die gerade umrissenen Effekte der Form waren nicht im gesamten Untersuchungszeitraum gleich relevant. Wie in Kapitel 1.3 ausgeführt, wurde die Ortsbindung ab dem Ende des 16. Jahrhunderts schrittweise ausgeweitet. Das Sobornoe Uloženie brachte sie 1649 zum Abschluss, da sie fortan für den gesamten steuerpflichtigen Teil der Bevölkerung galt. Je mehr sich die Ortsbindung zum Normalfall entwickelte, desto bedrohlicher wirkte das durch Mobilität erzeugte Merkmal Fremdheit, weil es ungewohnt erschien. Kosak Innen betraf die Ortsbindung nicht, und die Ankunft Fremder blieb in ihren Dörfern ein gewöhnlicher Vorgang. Die Untersuchungsakten im Quellenkorpus dieser Monografie deuten jedoch darauf hin, dass auch für KosakInnen das Merkmal Fremdheit problematisch war, falls es eine Abweichung von den Regeln ihres Zusammenlebens bedeutete. Unterwarfen sich Neuankömmlinge diesen Vorschriften, konnten sie problemlos integriert werden. Verstießen sie dagegen und brachten sie Unruhe in das Dorf, wurden sie nicht mehr geduldet (siehe auch Kapitel 5.3). Das Problem mit Fremdheit ist nur ein Beispiel dafür, dass die Form der Performanz bei samozvanstvo mit Entwicklungen in der Mitte des 17. Jahrhunderts korrespondiert. Daher stellt sich die Frage, ob ein darüber hinausgehender Zusammenhang zwischen der Form und der zeitlichen Verteilung der Fälle von samozvanstvo bestand. In der zeitlichen Verteilung lassen sich mehrere Abschnitte unterscheiden. Wie in Kapitel 4.1 ausgeführt, gab es in der Zeit der Wirren sehr viele samozvancy, was jedoch mit der Schwäche der Zentralmacht im Bürgerkrieg zu erklären und darum nicht weiter bemerkenswert ist. Zwischen der Wahl Michail Romanovs zum Zaren 1613 und etwa 1670 waren fast alle bekannten samozvancy außerhalb des Moskauer Reiches aktiv. Sie traten in der Rzeczpos polita und im Fürstentum Moldau auf, und die meisten von ihnen wurden als Botschaft an den Zaren aufgebaut, den Gegensatz mit der Rzeczpospolita nicht allzu groß werden zu lassen.53 Nach etwa 1670 verlagerten sich die Fälle mehrheitlich in das Moskauer bzw. Russländische Reich. Samozvancy und später auch samozvanki traten regelmäßiger und in größeren Zahlen auf, bis zur Regierungszeit Katharinas II. der Höhepunkt erreicht war. Gleichzeitig können sie nur mehr in Einzelfällen mit politischen Intrigen in Verbindung gebracht werden, sodass ihr Auftreten auf die Anliegen und Ansichten der nicht-privilegierten Bevölkerung zurückgeführt werden kann. Nach 1800 ging die Zahl der Fälle wiederum stark zurück.
53 Zu diesen samozvancy siehe Perrie: Pretenders and Popular Monarchism, 229–232.
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Ins Auge fällt hier vor allem die Lücke zwischen 1613 und etwa 1670. Sie könnte dadurch entstehen, dass in den Archiven noch Akten zu unbekannten Fällen liegen. Die mageren Ergebnisse der bislang jüngsten Versuche, unbekannte / vergessene samozvancy des 17. Jahrhunderts aufzuspüren, sprechen allerdings dagegen. Pavel Lukin arbeitete für seine Dissertation umfangreiche Quellenbestände des RGADA durch, die in Hinblick auf samozvanstvo noch kaum berücksichtigt wurden. Er fand zwar sehr viele Fälle, bei denen sich jemand etwa metaphorisch mit dem Zaren verglich, jedoch keinen neuen samozvanec. Oleg Usenko durchsuchte unter anderem den gesamten, sehr umfangreichen Bestand des Razrjadnyj prikaz.54 Im hier interessierenden Zeitraum 1613–1670 fand er nur einen einzigen samozvanec, der tatsächlich auf Moskauer Gebiet aktiv gewesen und nicht nur dort verhaftet worden war. Eine zweite mögliche Ursache für die Lücke zwischen 1613 und 1670 könnte der Verlust von früher einmal vorhanden gewesenem Quellenmaterial sein. Wie hoch der Anteil an Verlusten ist, lässt sich nicht exakt messen, jedoch gibt es Hinweise, dass er für samozvanstvo nicht allzu groß zu veranschlagen ist. In den Bestandsverzeichnissen des Razrjadnyj prikaz aus dem 17. Jahrhundert sind ganze zwei Fälle von samozvanstvo angeführt, die in der Forschung nicht vorkommen. 1632 bezeichnete sich ein gewisser Matvej als carevič.55 Dieser Akt dürfte heute nicht mehr existieren, weil Usenko ihn sonst berücksichtigt hätte. 1657 zeigte der inhaftierte Kosake Fedor Levont’ev seine Mithäftlinge an, weil sie ihn dazu angestiftet hätten, sich für den Zaren auszugeben, damit sie alle freikämen. Da ein Sekretär vermerkte, sie seien freigelassen worden, dürfte sich die Anschuldigung als haltlos entpuppt haben.56 In diesen alten Verzeichnissen sind nicht alle Akten einzeln angeführt. Häufig kommen Sammelbezeichnungen wie vsjakie dela (›Vermischtes‹) vor. Da samozvanstvo ein so gravierendes Verbrechen war, erscheint es aber nicht wahrscheinlich, dass solche Akten unter ferner liefen eingeordnet worden wären. Zumindest für diesen Fond sind Verluste als gering zu veranschlagen. Zuletzt müsste sich die Lücke zwischen 1613 und etwa 1670 einer Erklärung entziehen, wäre hauptsächlich Verlust dafür verantwortlich, dass aus dem genannten Zeitraum praktisch keine Fälle bekannt sind. Das trifft aber nicht zu. Die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts unterschied sich von der zweiten Hälfte und vom 18. Jahrhundert durchaus auf eine Weise, die für samozvanstvo förderlich war. Die Regierungszeit von Michail Romanov gilt als durch und durch konservativ und restaurativ.57 Er vermittelte die Botschaft, unter ihm sei alles 54 55 56 57
Für die Ergebnisse siehe Usenko: Novye dannye. Petrov, K. V. (Hg.): Opisi archiva Razrjadnogo prikaza XVII v. Sankt-Peterburg 2001, 151. Ebd., 576. Dunning: Russia’s First Civil War, 454; Plaggenborg: Pravda, 290.
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so, wie es immer schon gewesen sei und die Zeit der Wirren nur eine kurze Unterbrechung in einem sonst makellosen Kontinuum gewesen.58 Das war selbstredend kein Abbild der Realität. Es war nicht möglich, die Zeit vor 1605 oder gar vor 1598 zurückzudrehen oder die Verhältnisse an einem bestimmten Punkt einzufrieren. Eine nähere Auseinandersetzung mit der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts würde im Vergleich zum 16. Jahrhundert einiges an Wandel zu Tage fördern. Nichtsdestoweniger dürften Michails Untertanen im Großen und Ganzen der Meinung gewesen sein, ihr Leben verlaufe tatsächlich wieder in den altgewohnten Bahnen. Beispielsweise kam es erst unter Aleksej Michajlovič zu größeren Aufständen, die als Reaktion auf reale oder nur subjektiv wahrgenommene Verschlechterungen zu deuten sind. Das machte einen samozvanec als Alternative zu dem regierenden Zaren wenig attraktiv. Wie bereits in Kapitel 4.1 erläutert, gewann eine solche Alternative um die Jahrhundertmitte an Bedeutung, weil unter Aleksej Michajlovič eine Abkehr vom Status quo begann, die sich unter Peter I. noch deutlich verstärkte. Damit sich die nunmehr geringere Sichtbarkeit des Zaren nicht negativ auf dessen Autorität auswirkte, wurde die gottzentrierte pravdaistische Außendarstellung des Zaren durch eine herrscherzentrierte nach westeuropäischem Vorbild ersetzt.59 Der Zar wurde zur politischen Ikone stilisiert, wie es Stephen Baehr nannte. Das bedeutet, es wurde hervorgehoben, dass er der Einzige sei, der seine Untertanen zu einem glücklichen Leben und Wohlstand führen könne. Wer das Paradies auf Erden errichten wolle, müsse ihn als das Abbild des himmlischen Paradieses nachahmen.60 Die Stilisierung des Zaren zur politischen Ikone war außerhalb einer schmalen Elite kaum bekannt; unter der breiten Bevölkerung war weiterhin das von pravda abhängige Herrscherbild verbreitet. Allerdings ähneln sich beide Herrscherbilder stark, obwohl sie von unterschiedlichen Voraussetzungen ausgehen. Unter dem Vorzeichen von pravda galt die bestehende Ordnung bereits als die beste und der Zar als ihr Bewahrer. Ab der Regierungszeit von Aleksej Michajlovič galt die beste Ordnung (das irdische Paradies) offiziell als etwas, das erst in Zukunft erreicht würde, und zwar nur unter Anleitung des Zaren. Möglicherweise war die Stilisierung des Zaren zur politischen Ikone der bewusste Versuch, die früheren Gewissheiten unter veränderten Voraussetzungen aktiv zu propagieren, um ihre Bindekraft weiterhin nutzbar zu machen. Jedenfalls machte es in Hinblick auf den Herrscher keinen großen Unterschied, ob jemand die politische Ikone rezipierte oder an dem mit pravda verbundenen Herrscherbild festhielt. Beide unterstrichen, wie wichtig der Zar sei, damit es dem Reich und seinen BewohnerInnen gut gehe. 58 Plaggenborg: Pravda, 277. 59 Dunning: The Legacy, 152. 60 Baehr: Regaining Paradise, 150.
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Die neue starke Überhöhung des Zaren in Verbindung mit einer wachsenden Distanz zum realen Herrscher begünstigte samozvanstvo. Sich dem Zaren anzuschließen war enorm wichtig, um zu einem guten Leben zu gelangen, aber niemand konnte mehr sicher sein, dass der Herrscher in Moskau auch jenes zu befolgende Vorbild war. Im Gegenteil, dieses Vorbild konnte überall sein und jede Gestalt annehmen.61 Außerdem bedienten samozvancy und samozvanki als vermeintliche Mitglieder der Dynastie das weiterhin vorhandene Bedürfnis nach direktem Kontakt zwischen HerrscherIn und Untertanen. Sie waren sichtbar, sie kannten das Leben »ihrer« Untertanen und versprachen Abhilfe gegen die größten Missstände. Samozvanstvo wäre demnach über längere Zeit hinweg als Gegenbewegung zu und Antwort auf die zunehmende Distanz zwischen Herrscher und Untertanen zu interpretieren. Der starke Rückgang von samozvanstvo nach 1800 könnte damit zusammenhängen, dass die Vorstellung von der zentralen Rolle des Herrschers / des Herrscherin für das Wohlergehen des Reiches zunehmend erodierte. Stephen Baehr arbeitete eine solche Entwicklung für die politische Ikone heraus,62 und es ist gut möglich, dass das auch das von pravda abgeleitete Herrscherbild betraf, das schon seit dem 17. Jahrhundert in einem langsamen Niedergang begriffen war. Demnach wären samozvancy und samozvanki in jenem Zeitraum am häufigsten aufgetreten, in dem pravda für die Herrschaftspraxis keine Rolle mehr spielte, doch nach wie vor zum Herrscherbild der breiten Bevölkerung gehörte. Die Mittel der Performanz
Die Mittel der Performanz zeichnen sich bei samozvanstvo durch eine große Vielfalt aus, darum werden sie der Übersichtlichkeit halber in einzelne Abschnitte gruppiert. Wichtig zu beachten ist, dass ungeachtet der Unterteilung alle Mittel mit dem Körper verbunden bzw. von diesem abhängig sind. Es handelte sich um äußerliche Merkmale des Körpers, um von ihm hervorgebrachte verbale Äußerungen oder um Objekte, die am Körper getragen werden oder von einem Körper präsentiert werden mussten, um in die Performanz integriert zu werden. Der Einstieg in die Performanz erfolgte über die Sprache, darum stehen sprachliche Mittel am Beginn. Im Normalfall brachte ein samozvanec / eine samozvanka den Anspruch, ein Mitglied der Dynastie zu sein, mündlich vor und setzte erst im nächsten Schritt »Beweise« (weitere Mittel) ein, um das Gesagte zu untermauern. Zu den sprachlichen Mitteln gehören zum einen 61 Ingerflom: Le tsar c’est moi, 219. 62 Baehr: Regaining Paradise, 164 f.
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Aussagen, die als für Mitglieder der Dynastie typisch galten bzw. diesen aufgrund ihres Rangs vorbehalten blieben, zum anderen fiktive Selbstzeugnisse. Für Mitglieder der Dynastie typische Aussagen sollten anzeigen, dass der Sprecher63 über jene Autorität und Macht verfügte, die ihm der angeeigneten Identität zufolge zukam. Dazu gehörten Befehle, die Zuteilung von Belohnungen, Beförderungen, die Verhängung von Strafen und Ähnliches. Es konnte sich um Sprechakte handeln, doch das war keineswegs zwingend. Der falsche Peter III. Gavrila Kremnev beförderte beispielsweise Sergeant im Ruhestand Luk’jan Tibekin zum Oberleutnant und stellte ihm ein Dorf mit Leibeigenen als Belohnung für seine Dienste in Aussicht.64 Die Beförderung war ein Sprechakt, da sie eine neue soziale Realität erschuf, die Schenkung des Dorfes nicht. Aber beides wies Kremnev als Kaiser aus. Auch nur angekündigte und nicht tatsächlich erteilte Befehle sind zu diesen Äußerungen zu rechnen, weil sie vom Vertrauen des Sprechers zeugen, die erforderliche Autorität zu besitzen. Der falsche Aleksej Petrovič Ivan Minickij verlangte 1738 von Kosaken, mit ihm nach Kiev zu ziehen. Als Ataman Kučakovskij bezweifelte, dass sie unterwegs ausreichend verpflegt werden würden, entgegnete Minickij, er werde eben die Anordnung erteilen, sie zu verpflegen.65 Paradox ist dabei, dass ein samozvanec die Autorität eines Mitglieds der Dynastie nur gewinnen konnte, indem er sie wie selbstverständlich ausübte und zum Beispiel Befehle erteilte, obwohl es alles andere als selbstverständlich war, dass ihm jemand gehorchte. Die Verhängung von Strafen erfordert eine genauere Betrachtung und Differenzierung. Samozvancy, die Urteile aussprachen oder ankündigten, bald Gericht zu halten, demonstrierten, dass sie der oberste Richter seien und für Gerechtigkeit sorgen wollten. Der falsche Peter III. Dmitrij Popovič kündigte in der sloboda Alekseevka, in der er für den Winter 1782/1783 untergekommen war, an, er werde einen Galgen errichten und Köpfe abschlagen (lupit’ golovy), um im Dorf aufzuräumen.66 Auch wenn er diese Ankündigung nicht wahr machte, setzte er sich performativ als Herrscher in Szene, der für Gerechtigkeit sorgen würde. Zusätzlich bezog er sich auf die persona Peter III., für die er 1778 agitiert hatte, um eine neue Pugačevščina zu entfesseln. Damals hatte er behauptet, Peter habe an verschiedenen Orten schon 50 Offiziere hängen lassen.67 Wenn nun in seinem Winterquartier die Köpfe rollen sollten, gewann er ein weiteres Argument, warum er der Peter III. sei, von dem überall die Rede war. 63 64 65 66 67
Beispiele von samozvanki gibt es nicht.
RGADA , f. 6, o. 1, d. 402, l. 12 ob. RGADA , f. 6, o. 1, d. 192, l. 72 ob. RGADA , f. 7, o. 2, d. 2455, l. 24.
Ebd., l. 3.
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Als Richter betätigte sich auch Kirill Bornjakov, der sich 1797 für Alexander Pavlovič (den zukünftigen Alexander I.) ausgab. Er ordnete an, den Vorsteher (starosta) des Dorfes auspeitschen zu lassen, in dem er die Pferde wechseln wollte, und begnadigte ihn umgehend.68 Damit zeigte er, dass er die unumschränkte richterliche Gewalt besitze und fähig sei, sowohl Härte, als auch Milde walten zu lassen. Neben solchen Beispielen sind in den Untersuchungsakten Begebenheiten zu finden, bei denen ein samozvanec ebenfalls Prügel, den Strick oder andere Sanktionen ankündigte, es sich aber nicht um ein Mittel der Performanz handeln dürfte, sondern um einen Ausdruck von Hilflosigkeit bzw. ein Anzeichen dafür, dass diese samozvancy unter innerem Druck standen. Sie setzten dann das plumpste Argument ein, auf das sie verfallen konnten – die Androhung roher Gewalt. Der Unterschied zwischen Strafen und Drohungen ist dahingehend zu fassen, dass Drohungen die Leute bei der Stange halten und dadurch die Performanz aufrechterhalten sollten, aber selbst nichts dazu beitrugen, einen samozvanec als Mitglied der Dynastie plausibel zu machen. Die Verhängung von Strafen konnte zwar denselben Effekt haben, im Vordergrund stand jedoch die Ausübung der richterlichen Befugnisse, die dem Herrscher zukamen. Wie bereits in Kapitel 3.3 ausgeführt, drohte Timofej Truženik seinem Komplizen Larion Starodubcev, er werde ihn in einem Kessel kochen, falls er nicht tue, was er ihm auftrage. Außerdem drohte er Starodubcev, falls er Otkryvon grad nicht finde, werde er seine Stimme, seine Arme und Beine und den Mund verlieren.69 Truženik sagte nicht, ob das durch Magie geschehen sollte oder durch eine Axt. Starodubcev drohte seinerseits den Kosaken aus seinem Dorf, sie zu verprügeln oder auszupeitschen, falls sie sich nicht dem geplanten Zug nach Moskau anschlössen.70 Ivan Minickij drohte dem Popen Gavriil, er werde ihn verprügeln, falls er nicht für ihn als Aleksej Petrovič einen Gottesdienst feiere.71 Der falsche Peter III. Iov Mosjakin drohte dem Ehepaar Ievlev, er werde sie beide aufhängen lassen, falls sie nicht täten, was er sage.72 Der falsche Souverän Gerasim Savelov drohte dem starosta Afanasij Moiseev, ihn aufhängen zu lassen, falls er ohne seine Erlaubnis Licht mache – Savelov war in seiner eigenen Nachbarschaft aktiv und suchte Moiseev in der Nacht auf, damit dieser ihn nicht sofort erkannte.73 Der falsche Paul Petrovič Grigorij Zajcev drohte Aleksej Dukačev, er werde ihn in Stücke hacken (tebja na vse boki oseku), falls er ihm nicht glaube, dass er der Thronfolger sei. Nach 68 69 70 71 72 73
RGADA , f. 6, o. 1, d. 553, l. 1 ob. RGADA , f. 6, o. 1, d. 187, l. 8.
Ebd., l. 23; 24. RGADA , f. 6, o. 1, d. 192, l. 161 ob. RGADA , f. 6, o. 1, d. 528, l. 6 ob. Ebd., l. 9.
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seiner Verhaftung drohte er, Dukačev in drei Tagen aufs Rad zu flechten und dessen Bruder Ignat, den Vorsteher des Dorfes, zu hängen, falls sie ihn nicht sofort frei ließen.74 Wie sich solche Drohungen auf die Glaubwürdigkeit eines samozvanec auswirkten, ist nicht ersichtlich. Mit der Ausnahme von Zajcev, der trotz oder gerade wegen ihnen nicht mehr freikam, erzielten samozvancy den gewünschten Effekt und die Bedrohten taten, was sie ihnen auftrugen. Auch sagte niemand beim Verhör explizit aus, die Drohung habe ihn auf den Gedanken gebracht, es mit einem Betrüger zu tun zu haben. Fiktive Selbstzeugnisse
Gaben sich samozvancy und samozvanki für Verstorbene aus, mussten sie erklären, warum sie noch am Leben waren. Gaben sie sich für Lebende aus, mussten sie erklären, warum sie sich nicht dort aufhielten, wo sie vermutet wurden. In beiden Fällen mussten sie erklären, warum niemand etwas von dem Betrug bemerkt hatte und was in der Zwischenzeit geschehen war. Zu diesem Zweck dachten sie sich fiktive Selbstzeugnisse aus. Diese enthalten Begebenheiten, die sich weder im Leben des echten Mitglieds der Dynastie, noch im Leben des samozvanec / der samozvanka so zugetragen hatten. Das bedeutet jedoch nicht, dass in die Selbstzeugnisse nicht auch authentische Erfahrungen einfließen konnten. Haft, Verbannung und Armut gehörten zu den realen Biografien mehrerer samozvancy und samozvanki und waren zugleich stereotyper Bestandteil von fiktiven Selbstzeugnissen (siehe unten). Meistens lässt sich aber anhand der Untersuchungsakten Realität nicht eindeutig von Fiktion trennen. Nicht alle samozvancy und samozvanki griffen auf derartige Selbstzeugnisse zurück. Für samozvancy gilt grundsätzlich, dass eine Performanz Zeit brauchte, um sich zu entfalten und komplexer zu werden. Je größer der Abstand zwischen dem ersten Auftritt unter der angeeigneten Identität und der Verhaftung war, desto mehr Mittel der Performanz kamen zum Einsatz. Pugačev ist im Untersuchungszeitraum das Paradebeispiel, wie eine vergleichsweise lange Erfolgsspanne die Mittel zahlreicher und aufwändiger werden ließ. Ihm blieben zum einen zwei Jahre Zeit, um seine Performanz als Peter III. auszubauen. Zum anderen war er als Anführer des Aufstandes so exponiert, dass er unter einem einzigartigen Druck stand, glaubwürdig zu sein und es auch zu bleiben. Er musste den Manifesten Katharinas II. und den Kundmachungen ihrer Generäle ebenso wie Zweiflern unter seinen Mitstreitern immer neue
74 RGADA , f. 6, o. 1, d. 542, l. 7; 8 ob.
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»Beweise« entgegensetzen, dass er tatsächlich Peter III. sei.75 Infolgedessen waren die Mittel seiner Performanz so zahlreich und vielfältig wie bei keinem anderen samozvanec im Untersuchungszeitraum. Es gab aber auch Faktoren, die verhinderten, dass die Performanz eines samozvanec mit zunehmender Dauer komplexer wurde. Das war etwa der Fall, falls er die jeweilige Agenda ohne großen Aufwand umsetzen konnte und sich nicht unmittelbar von der Verhaftung bedroht sah. Dann vergingen mitunter auch Monate oder Jahre ohne Entwicklung. Ein Beispiel ist der falsche Peter II. Iov Evdokimov. Wie in Kapitel 3.2 ausgeführt, ist die Fabel seines fiktiven Selbstzeugnisses sehr detailreich und wohl aus mehreren Versatzstücken zusammengesetzt. Bezeichnend ist aber, dass er erst darauf zurückgriff, nachdem er schon ein Jahr als Peter II. gelebt hatte. Zu diesem Zeitpunkt musste er befürchten, nicht länger bei den Altgläubigen in den Wäldern bei Pošechon’e bleiben zu dürfen. Für ihn war es wichtiger denn je, als Kaiser akzeptiert zu werden, und dementsprechend größer war der Aufwand, den er trieb, um als Peter II. glaubwürdig zu sein. Fiktive Selbstzeugnisse fehlen auch dann, wenn ein samozvanec keine Möglichkeit hatte, sein Vorgehen zu planen. Das war der Fall, wenn er zu betrunken war, um zusammenhängend zu denken wie der falsche »erste Kaiser« (Peter I.) Prokop Galuška,76 nur im Fieberdelirium von einer fremden Identität sprach wie der falsche Aleksej Petrovič Andrej Obudin77 oder direkt bei einer Behörde erschien, um den Anspruch kundzutun wie der falsche Peter II. Grigorij Vasil’ev.78 Für samozvanki gilt, dass ihre Performanz generell weniger ausgefeilt war als die der samozvancy. Das zeigt etwa das Beispiel der falschen Marija Pavlovna Marianna Šimanovskaja. Sie agitierte 1833 in Sibirien im Namen »ihres« Bruders Konstantin Pavlovič. Wie in Kapitel 4.3 ausgeführt, kursierten in den 1830er Jahren in Sibirien so viele Gerüchte über Konstantins bevorstehende Rückkehr, dass Šimanovskaja die Botschaft über »ihren« Bruder problemlos ausformulieren konnte. Im Unterschied dazu blieben ihre Angaben überaus vage und dürr, wenn es um sie selbst ging. In einem Bittbrief an den Metropoliten Serafim in St. Petersburg schrieb sie nur, sie sei als Kind »durch Gottes Willen« ihren Eltern weggenommen worden,79 aber sie sagte nicht, wer sie warum entführt oder wie sie die dazwischenliegenden Jahrzehnte verbracht habe. Die vorhandenen fiktiven Selbstzeugnisse sind alle nach einem ähnlichen Muster gestrickt, da sie denselben Zweck erfüllen sollten. Der erste Abschnitt erklärt, wie es dazu kam, dass der Protagonist ein anderes Schicksal erlitt als 75 76 77 78 79
Čistov: Russkie narodnye social’no-utopičeskie legendy, 167. RGADA , f. 7, o. 2, d. 2577. RGADA , f. 349, o. 1/č. 1, d. 213. RGADA , f. 349, o. 1/č. 1, d. 7097. Kubalov: Sibir’ i samozvancy, 169.
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offiziell behauptet. Darauf folgt die Beschreibung, wie er die Jahre bis zur »Rückkehr« verbracht hatte. Gerüchte, denen zufolge ein verstorbenes Mitglied der Dynastie noch am Leben sei, geben Antworten auf dieselben Fragen, sodass eine Reihe von Motiven sowohl in Gerüchten, als auch in den fiktiven Selbstzeugnissen von samozvancy vorkommt. Dessen ungeachtet weisen Gerüchte insgesamt eine größere inhaltliche Vielfalt auf. Keineswegs alle Motive, die in Gerüchten vorkommen, finden sich auch im fiktiven Selbstzeugnis eines samozvanec. Diese Diskrepanz ist bislang unbemerkt geblieben, weil vor allem Sivkov und Čistov Gerüchte und fiktive Selbstzeugnisse undifferenziert zitierten. Anscheinend waren bestimmte Motive für Gerüchte besser geeignet, andere für fiktive Selbstzeugnisse, doch die Gründe dafür sind nicht mehr ersichtlich. Wie bereits in Kapitel 4.1 ausgeführt, war das Selbstzeugnis des ersten falschen Dmitrij das Vorbild für alle weiteren samozvancy, die in der Zeit der Wirren auftraten, und darüber hinaus. Sie übernahmen vor allem die Erklärung, dass mit ihm ein zweiter Bub aufgezogen worden sei, um die von Godunov entsandten Mörder in die Irre zu führen. Il’ja Korovin als carevič Petr führte die wichtige Variante ein, dass der Austausch gleich nach der Geburt erfolgt sei. Das Motiv des Austauschs kam nach der Zeit der Wirren auch in Gerüchten über Mitglieder der Dynastie vor, erfuhr dort aber schon bald eine Wendung ins Negative. Es ging nicht mehr um eine Rettung des (zukünftigen) Herrschers, sondern um eine Intrige und Betrug an den Untertanen. Patriarch Filaret war der Erste, über den Gerüchte kursierten, er sei während seiner Gefangenschaft in der Rzeczpospolita ausgetauscht worden.80 Von Aleksej Michajlovič hieß es, er sei in Wahrheit der Sohn eines Ausländers, und auf Peter I. bezogen sind alle Varianten bekannt – von einer vertuschten niedrigen Herkunft bis hin zur Gefangenschaft im Ausland. Derjenige, mit dem der Herrscher vertauscht wird, war gerade in den Gerüchten über Peter I. von einer Herkunft, welche die Zeitgenossen als minderwertig einstuften: Er war unter anderem ein Ausländer, der Sohn einer Dirne, oder überhaupt der Antichrist. Im 18. Jahrhundert erklärten auch samozvancy ihr Schicksal mit einer Verschwörung, Entführung oder politischen Intrige. Der falsche Peter Petrovič Larion Starodubcev erzählte etwa, am Hof habe es einen Bojarensohn gegeben, der ihm (Peter) überaus ähnlich gesehen habe. Als dieser erkrankt und gestorben sei, sei er (Peter) für tot erklärt, in Wahrheit aber entführt worden.81 80 Bachrušin, S. V.: Političeskie tolki v carstvovanie Michaila Fedoroviča. In: Ders.: Trudy po istočnikovedeniju, istoriografii i istorii Rossii ėpochi feodalizma. Naučnoe nasledie. Moskva 1987, 87–118, hier 98. Filaret war Patriarch, aber er durfte den an sich dem Zaren vorbehaltenen Titel Souverän (gosudar’) führen, verfügte über umfassende Vollmachten und bestimmte den politischen Kurs weit stärker als sein Sohn, der Zar. 81 RGADA , f. 6, o. 1, d. 187, l. 25 ob.
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Von der Entführung Peters II. in Evdokimovs Selbstzeugnis war bereits in Kapitel 3.2 die Rede. Pugačevs Sekretär Jakov Počitalin sagte aus, Pugačev habe erzählt, er (Peter III.) sei während einer Bootsfahrt auf der Neva von »Verrätern« überwältigt und ohne Ruder ausgesetzt worden.82 Eine Entführung ohne Austausch bedeutete, dass es keine Leiche gab, um ein Begräbnis abzuhalten. Diese musste an anderer Stelle beschafft werden. Nur in Gerüchten kommt das Motiv vor, dass der Kaiser im letzten Moment von einem Anschlag auf sein Leben erfährt und jemand bereit ist, mit ihm das Gewand zu tauschen und sich an seiner Stelle töten zu lassen, damit er unerkannt entkommen kann. Das freiwillige Opfer wird dann als Herrscher bestattet. Es konnte sich um einen Diener (Lakai83) oder einen militärischen Subalternen (Soldat,84 Offizier,85 Adjutant86) handeln. Samozvancy blieben eher vage, wenn es um den fehlenden Leichnam ging. Starodubcev konstruierte, wie gerade oben geschildert, eine angebliche Verschwörung um einen Bojarensohn als Doppelgänger. Der falsche Peter III. Nikolaj Kretov erzählte, statt ihm sei jemand anderer begraben worden.87 Mar’ja Tjumeneva, die treibende Kraft hinter dem falschen Peter III. Ivan Kolyčev, erzählte, statt dem Kaiser sei ein Soldat begraben worden.88 Bei Tjumeneva ist davon auszugehen, dass sie sich an Gerüchten orientierte, die ein paar Jahre zuvor über Pugačev bzw. Pugačev als Peter III. kursiert waren. Von diesen kannte sie nachweislich mehrere; unter anderem erzählte sie, Pugačev sei nur Peters Feldmarschall gewesen und Peter habe die ganze Welt durchwandert.89 Zudem existierte die Möglichkeit, die fehlende Leiche durch eine lebensgroße Nachbildung aus Wachs zu ersetzen. Pugačev benutzte dieses Motiv in einer der Versionen seines fiktiven Selbstzeugnisses.90 Sonst kommt es nur in Gerüchten vor.91 Das Motiv der Wachsfigur ist nur im 18. und 19. Jahrhundert belegt. Es fehlt im 17. Jahrhundert, weil es im Fall eines Austauschs nicht notwendig war, eigens einen Leichnam zu beschaffen. Nichtsdestoweniger könnte es bereits in der Zeit der Wirren entstanden sein. Der niederländische Kaufmann Isaac Massa berichtet von Gerüchten nach Godunovs Tod, denen 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91
Golubcov (Red.): Pugačevščina II, 195. RGADA , f. 7, o. 2, d. 2568, l. 4. Syroečkovskij: Moskovskie »sluchi«, 81; 84. Ebd., 83. RGADA , f. 7, o. 1, d. 2180, l. 1. RGADA , f. 6, o. 1, d. 535, l. 5. RGADA , f. 7, o. 2, d. 2744, l. 1 ob. Ebd., l. 23. Čistov: Russkie narodnye social’no-utopičeskie legendy, 154. RGADA , f. 6, o. 1, d. 535, l. 51; RGADA , f. 7, o. 1, d. 1789, l. 9; RGADA , f. 7, o. 1, d. 1797, l. 17; RGADA , f. 7, o. 1, d. 1789, l. 9; Poberežnikov: Massovye vystuplenija, 90; Syroečkovskij: Moskovskie »sluchi«, 80; Narodnye tolki, 138.
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zufolge dieser nicht gestorben sei, sondern sich als Kaufmann verkleidet mit einem beträchtlichen Vermögen nach England abgesetzt habe. Er erklärt auch, wie es zu diesen Gerüchten gekommen sei: In the great tumult, some of the rioters discovered an angel carved in wax, the model for a statue which the late tsar had planned to have cast in fine gold, with twelve statues of the Apostles, for the projected church of the Holy of Holies. Those who brought this statue out, never having seen such an object, cried: ›Look! See what we have found in the coffin where they said Boris was laid! It is now quite certain that he has fled!‹92
Ob sich diese Episode so zugetragen hat, ist nicht sicher, weil nur Massa sie erwähnt. Selbst wenn der Bericht authentisch sein sollte, ist nicht nachweisbar, dass der Vorfall im Weiteren mündlich verbreitet wurde. Er ist aber erwähnenswert, weil Materialität, Gestalt und Funktion der Figuren übereinstimmen: Eine lebensgroße Figur aus Wachs in menschlicher Gestalt dient als Ersatz für einen vermeintlichen Toten. Der zweite Abschnitt der fiktiven Selbstzeugnisse schildert die schwierigen Lebensumstände des Protagonisten bis zur »Rückkehr«. Er ist entweder gefangen oder gezwungen, jahrelang heimatlos herumzuirren und zu betteln. Das Motiv der Gefangenschaft kommt vorrangig in Gerüchten vor, das Motiv der Wanderung vorrangig in fiktiven Selbstzeugnissen. Beispiele für Gefangenschaft sind die in Kapitel 3.2 behandelten Gerüchte über einen gefangenen Aleksej Petrovič, Peter II. und namenlosen carevič. Ein Gerücht über Alexander I. von 1826 besagte, er sei in ausländische Gefangenschaft verkauft worden93 und ein anderes von 1831 vermutete ihn in einem Moskauer Kloster.94 Der falsche Aleksej Petrovič Ivan Minickij betonte, er habe viele Jahre in Armut gelebt.95 Der falsche Peter III. Nikolaj Kretov erzählte, er habe sich für einen minderjährigen Adeligen (nedorosl’ iz dvorjan) ausgegeben und sei jahrelang herumgewandert, erst in Sibirien, dann im europäischen Teil des Reiches.96 Auch er hob die Entbehrungen hervor, die er habe erleiden müssen.97 Wie bereits in Kapitel 4.2 kurz angesprochen, behauptete der falsche Peter II. Iov Evdokimov, er sei nach der Befreiung aus der Säule neun Jahre lang von Italien ins Russländische Reich zurückgewandert. Zeitweise habe er betteln müssen, um nicht zu verhungern.98 Die ausführlichste Beschreibung der Wanderung stammt zweifellos von Pugačev. Er wollte sich in Ägypten, Jerusalem, 92 93 94 95 96 97 98
Orchard (Hg.): Massa’s Short History, 106 f. Syroečkovskij: Moskovskie »sluchi«, 81. GARF, f. 109, 1 ėksp. 1831, o. 6, d. 545, l. 1. RGADA , f. 6, o. 1, d. 192, l. 9. RGADA , f. 6, o. 1, d. 535, l. 5. Ebd., l. 24. RGADA , f. 6, o. 1, d. 403, l. 17 ob.
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Konstantinopel und noch etlichen anderen Orten aufgehalten haben und insgesamt zwölf Jahre lang unterwegs gewesen sein. Myl’nikov vermutet, Pugačev könnte die Orte aus Heiligenviten oder byliny übernommen haben, in denen häufig Pilgerreisen mit einer solchen Route vorkommen.99 Das Motiv der Gefangenschaft erklärt sehr einfach und einleuchtend, warum niemand weiß, dass das jeweilige Mitglied der Dynastie noch am Leben ist. Wer in einen geschlossenen Raum gesperrt ist, ist den Blicken Fremder entzogen und kann sich selbst nur eingeschränkt oder gar nicht bemerkbar machen. Auf einer Metaebene kann die Gefangenschaft mit Vorstellungen von sakraler Herrschaft zusammenhängen, falls die Bedingungen auffallend ungewöhnlich sind (siehe Kapitel 3.2). Sie lässt sich aber auch als Möglichkeit interpretieren, durch Entbehrung Buße zu tun. Buße wiederum wäre eine Voraussetzung dafür, dass sich nach der Rückkehr des Mitglieds der Dynastie tatsächlich alles zum Besseren wandeln würde. Auf diesen Aspekt spielte der falsche Peter III. Petr Černyšev an. Er brach in Tränen aus und meinte, er habe sich schwer versündigt. Er habe mit Elizaveta Voroncova zusammengelebt und einen Erzpriester ins Gesicht geschlagen.100 Diese Reue war ein erster Schritt zur scheinbar bevorstehenden erfolgreichen Fortsetzung seiner Herrschaft. Auch jahrelange Wanderschaft bedeutet schwierige Lebensbedingungen und kann darum eine Form von Buße sein. Ein Vorbild dafür waren die sogenannten stranniki. Sie befanden sich auf permanenter Pilgerschaft, weil sie davon ausgingen, dass ständiger Ortswechsel die Menschen davon abhalte, sich zu versündigen. Anders als Gefangenschaft ermöglicht die Wanderung dem Protagonisten, sich ein Bild von den Lebensumständen der Bevölkerung zu machen und noch im Verborgenen Gutes zu tun. Wie gesagt, waren das wichtige Züge des »wahren« Herrschers. Das mag ein Grund sein, warum samozvancy in ihren Selbstzeugnissen eher auf dieses Motiv zurückgriffen. Sowohl Gefangenschaft, als auch Wanderung konnten sich mit dem Hinweis verbinden, der Protagonist habe erst nach einer bestimmten Frist befreit werden können bzw. zurückkehren dürfen. Der falsche Peter Petrovič Larion Starodubcev verkündete, seine Jahre (d. h. die ihm vorgegebene Frist) seien um, er habe im Geheimen gelebt und werde nun offenbar werden.101 Pugačev erzählte seinen Mitstreitern, Gott habe ihm (Peter III.) aufgetragen, 15 Jahre unerkannt durch die Lande zu ziehen. Das Elend der Menschen habe ihn jedoch bewogen, sich schon nach zwölf Jahren zu erkennen zu geben. Hier wollte er vor allem seine Fürsorge unterstreichen, doch nach der Niederschlagung des Aufstandes deuteten viele Menschen seinen angeblichen Ungehorsam gegenüber Gott als Grund für den Misserfolg.102 99 100 101 102
Myl’nikov: Iskušenie čudom, 156. RGADA , f. 6, o. 1, d. 406, l. 12–12 ob. RGADA , f. 6, o. 1, d. 187, l. 66 ob. Čistov: Russkie narodnye social᾽no-utopičeskie legendy, 163.
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Carskie znaki
Mit den sogenannten carskie znaki (Zarenzeichen) verband sich die Vorstellung, die Berufung einer Person zur Herrschaft sei ihrem Körper aufgeprägt oder eingeschrieben. In der Theorie handelt es sich um angeborene Veränderungen der Hautoberfläche mit einer eindeutig erkennbaren und bedeutungs trächtigen Form. Das Vorhandensein auf einem bestimmten Körper und die Form weisen sowohl für sich genommen, als auch in Kombination unzweifelhaft nach, dass es sich bei der fraglichen Person um ein Mitglied der Dynastie handelt. Maureen Perrie veröffentlichte 2010 einen Aufsatz, in dem sie den Glauben an die Existenz solcher Zeichen im Moskauer und Russländischen Reich untersucht und in einen transnationalen Zusammenhang stellt.103 Der Aufsatz bildet die Grundlage der weiteren Ausführungen, kann aber in einzelnen Punkten präzisiert und ergänzt werden. Der Glaube, dass Mitglieder einer Dynastie an solchen Zeichen zu erkennen seien, ist sehr alt und aus allen europäischen Monarchien bekannt.104 Haki Antonsson weist aber darauf hin, dass er einen atemporalen (epochen- und raumübergreifenden) und einen temporalen (historisch konkreten) Aspekt aufweise.105 Das bedeutet, obwohl der Glaube an solche Zeichen sehr alt und weit verbreitet ist, muss genau untersucht werden, warum und in welcher Form er zu einer bestimmten Zeit und in einer bestimmten Gegend feststellbar ist. Maureen Perrie stellte dazu zwei wichtige Thesen auf. Sie kam zu dem Schluss, dass im Moskauer und Russländischen Reich zwar zahlreiche sa mozvancy behaupteten, carskie znaki an ihrem Körper zu haben, im Unterschied zu westeuropäischen Monarchien jedoch kein von samozvanstvo unabhängiger Glaube existiert habe, Mitglieder der Dynastie seien an solchen Zeichen erkennbar.106 Damit ist gemeint, dass beispielsweise niemand behauptet hätte, der echte Aleksej Petrovič sei mit einem Zeichen auf seinem Körper geboren worden, das ihn als Großfürst ausweise. Allerdings behaupteten unter anderem die falschen Aleksei Petroviči Andrej Cholščevnikov und Ivan Minic kij,107 solche Zeichen zu haben, und in beiden Fällen akzeptierten Anhänger Innen diese Zeichen als Beweis ihrer Identität. Auch sind keine Begebenheiten überliefert, dass jemand den echten Aleksej Petrovič, um bei diesem Beispiel zu bleiben, für einen Betrüger gehalten hätte, weil er nicht in der Lage war, Perrie: »Royal Marks«. Bloch: Die wundertätigen Könige, 279 f.; Bercé: Le roi caché, 379. Antonsson: Insigne crucis, 25. Perrie: »Royal Marks«, 538. Für westeuropäische Beispiele für einen solchen eigenständigen Glauben siehe Bloch: Die wundertätigen Könige, 276–278. 107 RGADA , f. 6, o. 1, d. 186, l. 1; RGADA , f. 6, o. 1, d. 192, l. 10 ob.
103 104 105 106
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Zeichen an seinem Körper zu zeigen.108 Analoges gilt für die übrigen echten Mitglieder der Dynastie und die samozvancy unter ihrem Namen, die in dieser Monografie vorkommen. Perries zweite These lautet daher, der Glaube an die Existenz von solchen Zeichen sei im Moskauer Reich gegen Ende des 17. Jahrhunderts aus Westeuropa übernommen worden.109 Im Großen und Ganzen ist Perrie zuzustimmen, aber nicht in allen Details. Es trifft wohl zu, dass keine systematische Vorstellung von besonderen körperlichen Merkmalen der Mitglieder der Dynastie existierte und der Glaube an deren Existenz erst ab dem 18. Jahrhundert eindeutig nachweisbar ist. Frühere Belege aus dem Moskauer Reich gibt es nur aus der Zeit der Wirren, und diese sind nicht eindeutig. Von keinem samozvanec, der während der Smuta auftrat, ist überliefert, dass er selbst auf Zeichen an seinem Körper verwiesen hätte wie das samozvancy im 18. und frühen 19. Jahrhundert taten. Allerdings geben Quellen vereinzelt an, der erste und der zweite falsche Dmitrij seien an solchen Zeichen erkannt worden. Perrie nennt als Beispiel das Tagebuch von Martyn Stadnicki. Meines Erachtens ist nicht sicher, ob Stadnicki tatsächlich carskie znaki meinte. In der russischen Übersetzung ist von »einigen Zeichen am Körper« (někotorye znaki na tělě)110 die Rede, anhand derer »Dmitrij« identifiziert worden sei. Znak kann auch für gewöhnliche Spuren von Krankheiten oder Verletzungen, d. h. Narben, stehen.111 Diese Bedeutung scheint hier naheliegender zu sein, weil es in dem Absatz nur um individuelle Merkmale wie »Dmitrijs« Gesichtszüge oder die Art, wie er sprach und sich bewegte, geht. Eindeutiger ist Elias Herckmans. Er schreibt, der erste falsche Dmitrij habe einen roten Fleck von der Form eines Adlers auf der Brust gehabt.112 Die Chronik von Barkulabovo, die zu einem nicht näher bestimmbaren Zeitpunkt 108 Für ein solches Beispiel siehe Bloch: Die wundertätigen Könige, 276. 109 Perrie: »Royal Marks«, 545. Auch Pavel Lukin fand für das 17. Jahrhundert keine Belege für carskie znaki (Lukin: Narodnye predstavlenija, 106.). 110 Der Text wird mit Stadnicki einem der Polen zugeschrieben, die 1606 anlässlich der Hochzeit des ersten falschen Dmitrij mit Maryna Mniszchówna nach Moskau kamen. Diese Zuordnung ist nicht ganz sicher. Für Stadnickis Tagebuch in russischer Übersetzung siehe Istorija Dmitrija carja Moskovskago i Mariny Mnišek, dočeri Sendomirskago voevody. In: RA 5/1906, 129–174; 6/1906, 177–222, zu dem Zeichen 133. 111 Für ein Beispiel siehe unten das Zitat über die Entdeckung von Pugačevs »Zeichen«. 112 Skazanija Massy i Gerkmana, 289. Diese Stelle dürfte Perrie übersehen haben, da sie sie in ihrem Aufsatz nicht erwähnt, obwohl sie den Text von Herckmans kennt. Isaac Massa schreibt, der erste falsche Dmitrij sei nach seiner Ermordung unter anderem durch ein Muttermal auf der linken Seite der Brust identifiziert worden (Orchard (Hg.): Massa’s Short History, 156.). Es war wohl jenes Muttermal, das Herckmans als carskij znak kannte. Der Unterschied zwischen dem Muttermal bei Massa und dem besonderen Zeichen bei Herckmans ist typisch für die Art von Ausschmückung, die Herckmans’ Text in zahlreichen Details von anderen zeitgenössischen Quellen unterscheidet.
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im 17. Jahrhundert verfasst wurde, berichtet, der zweite falsche Dmitrij sei an carskie znaki (po carskim znakam) als der echte Zar erkannt worden.113 Perrie stuft diese Verweise auf carskie znaki als nachträgliche Überformungen aus einer Zeit ein, in der der Glaube an ihre Existenz bereits im Moskauer Reich Fuß gefasst hatte. Doch es könnte noch ein anderer Faktor ausschlaggebend gewesen sein: Keine der Quellen wurde von einem Bewohner des Moskauer Reiches verfasst. Selbst wenn Stadnickis Tagebuch nicht das sein sollte, was es zu sein vorgibt und vorausgesetzt, der Verfasser meinte carskie znaki, schrieb er auf Polnisch und stammte aus der Rzeczpospolita. Barkulabovo lag in der Rzeczpospolita. Herckmans war Holländer. Es ist durchaus möglich, dass die Autoren in ihrer Heimat von der Existenz von carskie znaki gehört hatten, und das ohne das Zutun Einheimischer auf die samozvancy des Moskauer Reiches übertrugen. Für Perries These, dass der Glaube an die Existenz von carskie znaki gegen Ende des 17. Jahrhunderts aus Westeuropa übernommen worden sei, spricht die Beliebigkeit der carskie znaki im Moskauer und Russländischen Reich. Die mittelalterliche Urform solcher Zeichen war ein Kreuz zwischen den Schulterblättern.114 Sie leitete sich möglicherweise davon ab, dass Könige bei der Krönung an dieser Stelle gesalbt wurden. Da solche Zeichen in mittelalterlichen Quellen erst ab dem 12. Jahrhundert erwähnt werden, ist ein weiterer denkbarer Ursprung das Kreuz, mit dem Kreuzfahrer ihre Kleidung markierten.115 Im Unterschied dazu konnten sich carskie znaki im Moskauer und Russländischen Reich praktisch am ganzen Körper befinden und neben dem Kreuz andere Formen aufweisen, wovon weiter unten noch genauer die Rede sein wird. Wenn etwas mit einer ursprünglich begrenzten und klar festgelegten Verwendung in der Form wie im Kontext beliebig wird, ist das ein Indiz dafür, dass entweder die Erinnerung an den ursprünglichen Kontext verloren gegangen ist oder dass etwas von außen übernommen wurde. Letzteres träfe auf carskie znaki im Moskauer und Russländischen Reich zu. Nichtsdestoweniger ist es falsch, dass kein von samozvanstvo unabhängiger Glaube an die Existenz solcher Zeichen existierte. Er ist nur für das 18. Jahrhundert nachweisbar, sodass er sich erst entwickelt haben dürfte, als carskie znaki in Verbindung mit samozvanstvo bereits besser bekannt waren. Auch blieb er schwach ausgeprägt; mir sind nur vier Beispiele bekannt. Die ersten beiden Beispiele gehören zu den relativ häufigen Gerüchten über den echten Peter I., der im Ausland gefangen ist und dem Doppelgänger, der statt ihm in Moskau bzw. St. Petersburg regiert. Es gibt aber keinen Zusammenhang mit samozvanstvo. 1724 wurde der Deserteur Ivan Gomozin in der 113 Polnoe sobranie russkich lětopisej 32, 192. 114 Antonsson: Insigne crucis, 18 f.; 24 f. 115 Ebd., 26–28.
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Nähe von Arzamas verhaftet. Er berief sich auf Slovo i delo und berichtete, jemand habe gesagt, dass Peter I. in Stockholm in eine Säule eingemauert sei und in Moskau statt ihm ein Schwede regiere. Der echte Peter habe ein znamja auf der Brust und ein Kreuz auf jeder Schulter.116 Znamja dürfte hier ›Wappen‹ oder ›Siegel‹ bedeuten. Bis zum Ende der Untersuchung änderte Gomozin mehrmals seine Aussage, von wem, wo und wann er dieses Gerücht gehört habe. Das deutet darauf hin, dass er versuchte, mit der Anzeige eines fiktiven Slovo i delo der Strafe wegen Desertion zu entgehen. Jedenfalls sprach er von carskie znaki wie aus dem Lehrbuch, sodass sie ihm unabhängig von dem Auftreten eines falschen Mitglieds der Dynastie bekannt gewesen sein müssen. 1725 kursierte ein sehr ähnliches Gerücht, dem zufolge der echte Peter I. ein Kreuz auf der Brust, der falsche aber an jedem Fuß sechs Zehen hatte.117 1778 erstattete Fähnrich Timonov Anzeige, weil einer der Söhne von Semen Guzeev aus dem Dorf Suzemna im Kreis Trubčevsk erzählt haben sollte, dass Alexander Pavlovič (der zukünftige Alexander I.) mit einem Stern und einem Kreuz [auf dem Körper] sowie mit einer Getreideähre in jeder Hand geboren worden sei.118 Timonov verwickelte sich in Widersprüche, sodass er sich das Gerücht ausgedacht haben dürfte. Aber wie schon bei Gomozin zählt weniger, ob Timonovs Angaben korrekt waren, als dass er carskie znaki ohne Verbindung mit samozvanstvo kannte. Das letzte Beispiel ist ein Gerücht, das während des Pugačev’schen Aufstandes kursierte. Es besagte, Peter III. sei mit einer Armee die Volga entlanggezogen und habe seine Identität nachgewiesen, indem er seine Schultern entblößt und auf jeder ein Kreuz gezeigt habe.119 Dieser Beleg ist weniger aussagekräftig als die übrigen, weil nicht klar ist, ob Peter III. hier mit Pugačev gleichgesetzt wird und ob Erzählungen über Pugačevs carskie znaki in das Gerücht eingeflossen sind. Perrie nennt keinen Grund für die Übernahme des Glaubens an die Existenz von carskie znaki. Allem Anschein nach betrachtet sie diese als zufällige Folge der Kontakte mit Westeuropa. Antonsson zufolge gibt es dabei aber keine Zufälle, sodass nun ein paar Überlegungen angestellt werden sollen, wie der Zeitpunkt zu erklären ist. Grundsätzlich entspringt der Glaube an die Existenz besonderer Zeichen am Herrscherkörper aus der Logik einer Präsenzkultur. Zum einen stellen sie sicher, dass Äußeres (die markierte Oberfläche des Körpers) und Inneres (die Erwählung einer Person zur Herrschaft) übereinstimmen. Zum anderen war die Performanz eines falschen Mitglieds der Dynastie insofern präsentisch, als sie nur die unmittelbar Anwesenden 116 117 118 119
RGADA , f. 371, o. 1/č. 1, d. 2045, l. 4 ob.
Rustemeyer: Dissens und Ehre, 331. RGADA , f. 7, o. 2, d. 2509, l. 3. Čistov: Russkie narodnye social’no-utopičeskie legendy, 163.
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erreichte (siehe dazu genauer Kapitel 6). In der direkten Begegnung ist der Körper das wichtigste Kommunikationsmittel;120 wie Rudolf Schlögl anmerkt, ist dessen Kommunikation aber nicht eindeutig. Aussagen und Gesten können falsch verstanden oder übersehen bzw. ignoriert werden, sodass eine andere Botschaft empfangen wird als intendiert. Wer sichergehen will, richtig verstanden zu werden, muss sich genau überlegen, wie er sich performativ in Szene setzt.121 Für einen samozvanec / eine samozvanka war die Uneindeutigkeit körperlicher Kommunikation am Beginn ein Vorteil, denn sie bedeutete, dass sich ein potenzieller Anhänger oder eine potenzielle Anhängerin zu fragen begann, ob dieser Soldat, dieser Händler, diese Nonne nicht womöglich jemand anderer sei. An diesem Punkt konnten sie ansetzen und den Zweifel mit ihren performativen Handlungen verstärken. Fragte sich ein Anhänger / eine Anhängerin allerdings später, ob es sich wirklich um ein Mitglied der Dynastie handle, bedeutete das einen Nachteil, weil die beigebrachten »Beweise« nicht überzeugend oder eindeutig genug waren. Insofern lassen sich carskie znaki als Möglichkeit interpretieren, der vagen Körperkommunikation Eindeutigkeit zu verleihen. Schon ihre mutmaßliche Existenz als solche reduzierte die Anzahl der denkbaren Szenarien, da nach gängiger Vorstellung nur Mitglieder der Dynastie solche Zeichen aufwiesen. Da aber der Glaube daran auch in einer Präsenzkultur wie dem Moskauer Reich nicht einfach gegeben war, ist dieser Aspekt zwei anderen Voraussetzungen nachgeordnet, die beide in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts erfüllt waren. Die erste Voraussetzung lautet, dass es für die Zeitgenossen nichts Ungewöhnliches sein durfte, wenn bestimmte Gruppen an körperlichen Merkmalen bzw. Markierungen erkennbar waren. Der innere Herrschaftsausbau im Moskauer Reich des 17. Jahrhunderts brachte unter anderem eine verstärkte Verhaltensnormierung mit sich. Normen sind körpergebunden, da sie unter anderem vorgeben, welche Handlungen ein Mensch (= Körper) ausführen darf oder nicht, an welchen Orten welche und / oder wie viele Menschen zusammenkommen und was sie dort tun oder nicht tun dürfen. Dasselbe gilt für Strafen bei Verstößen gegen diese Normen; sie betreffen den Körper entweder mittelbar durch die Bewegungseinschränkung bei Haft oder werden direkt an ihm vollzogen. Markierungen durch Körperstrafen sind etwa unbeabsichtigte, aber unvermeidliche Folgen davon, etwa Narben von Hieben mit der Knute. Oder es handelt sich um integrale Bestandteile der Strafe; dazu zählen Verstümmelungen, aufgeschlitzte Nasenlöcher oder ins Gesicht gebrannte Buchstaben. 120 Schlögl, Rudolf: Anwesende und Abwesende. Grundriss für eine Gesellschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit. Konstanz 2014, 40; 56. 121 Ebd., 57 f.
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Das Sobornoe Uloženie war nicht nur der bis dahin umfangreichste Gesetzeskodex im Moskauer Reich, sondern verlagerte auch den Schwerpunkt bei den Typen von Sanktionen. Zuvor waren Körperstrafen auf die gravierendsten Verbrechen beschränkt gewesen, sodass insgesamt Geldbußen überwogen.122 Das Uloženie sah Körperstrafen auch bei relativ geringfügigen Vergehen vor, sodass sie an mehr Menschen vollstreckt wurden.123 Außerdem führte es die Möglichkeit ein, die Todesstrafe durch Verbannung zu ersetzen. Auch so vermehrten sich markierte Körper, denn bei schweren Straftaten ging Verbannung mit Verstümmelung einher, damit verurteilte VerbrecherInnen eindeutig erkennbar waren.124 Gleichzeitig wuchs in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts das Interesse der Obrigkeit daran, die Arbeitskraft der Verbannten zu erhalten, sodass Verstümmelungen zum einen weniger drastisch ausfielen, zum anderen zunehmend durch Brandmarkungen und Entstellungen im Gesicht ersetzt wurden.125 Unter Peter I. verstärkten sich alle geschilderten Tendenzen. Sowohl der Kriegsartikel (Voennyj artikul, 1715), als auch das Marinestatut (Morskoj ustav, 1720) bedeutete einen höheren Grad an Regulierung und somit eine Ausweitung von Körperstrafen. Ersterer wurde allerdings nicht auf ZivilistInnen angewandt, Zweiteres nur selten.126 Angesichts der zahlreichen Bauprojekte Peters I. gewann die Arbeitskraft Verbannter noch größere Bedeutung, sodass die Todesstrafe vermehrt durch Entstellungen und Brandmarkungen ersetzt wurde.127 Zudem wurden unter Peter I. nicht mehr nur verurteilte VerbrecherInnen gekennzeichnet, sondern auch Soldaten. Um Desertionen vorzubeugen wurde Rekruten an der Innenseite der Handgelenke ein Kreuz eingebrannt.128 Beispiele für carskie znaki mit und ohne samozvanstvo sind erst ab den letzten Jahren der Regierungszeit Peters I. regelmäßig überliefert, also ab einem Zeitpunkt, an dem körperliche Markierungen bereits etwas weithin Gewohntes waren. Die zweite Voraussetzung für den Glauben an die Existenz von carskie znaki lautet, dass der Herrscher qua Amt als so aus der Masse seiner Unter122 123 124 125 126 127 128
Kollmann: Crime and Punishment, 205; 207. Ebd., 225 f. Ebd., 242; 245. Ebd., 253. Ebd., 264. Ebd., 265. Perrie: »Royal Marks«, 553. Perrie meint, diese Kreuze könnten das unmittelbare Vorbild für carskie znaki abgegeben haben und dabei mehr als Symbol der Staatsgewalt denn als religiöses Symbol wahrgenommen worden sein. Da das Kreuz im christlichen Europa länderübergreifend die älteste und am weitesten verbreitete Form solcher Zeichen war, erscheint mir das nicht recht wahrscheinlich. Die Vermutung, die Markierung von Soldaten habe dazu beigetragen, die Markierung bestimmter Gruppen als gewöhnlichen Vorgang erscheinen zu lassen, hat hingegen viel für sich.
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tanen herausgehoben imaginiert wurde, dass es nicht verwunderlich erschien, wenn sich angeblich auch seine Physis von der anderer Menschen unterschied. Anhand seines Aufkommens im europäischen Mittelalter lässt sich nachvollziehen, dass der Glaube an die Existenz von carskie znaki mit einer spezifischen Erhabenheit korrespondierte, nämlich mit der Vorstellung, dass die Person des Herrschers sakral sei. Es handelte sich um eine kosmologische Antwort auf eine hochkulturelle Konzeption von Herrschersakralität. Im 12. Jahrhundert, aus dem die ersten mittelalterlichen Erwähnungen solcher Zeichen stammen, waren Vorstellungen von der Sakralität des Herrschers so verbreitet wie seit dem Ende der Antike nicht mehr. Anders als vor dem Investiturstreit waren die Vorstellungen in den einzelnen Ländern nicht mehr ident, resultierten aber zum Teil in einer besonders starken Überhöhung des Monarchen. Die angeblich wundertätigen Könige von England und Frankreich sind die deutlichsten Beispiele dafür.129 Es ist wohl kein Zufall, dass im mittelalterlichen Westeuropa der Glaube an die Existenz von carskie znaki gerade dann aufkam, als Vorstellungen von der Herrschersakralität einen Höhepunkt erreichten. Der Glaube an die Existenz von carskie znaki ist also mit einer Sakralität der Person des Herrschers kompatibel, nicht aber mit der pravdaistischen Sakralität der Ordnung. Folglich konnte er sich im Moskauer Reich erst dann stärker verbreiten, als der Zar auf eine Weise überhöht wurde, die westeuropäischen hochkulturellen Vorstellungen von Herrschersakralität entsprach. Wie bereits erläutert, war das ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts der Fall, was jedoch nicht bedeutet, dass später jeder, der an die Existenz von solchen Zeichen glaubte, sie selbst oder deren TrägerIn als sakral betrachtet hätte. Gegen eine universelle Verbindung von carskie znaki mit Sakralität spricht auch die Vielfalt ihrer Formen im Moskauer Reich. Unter ihnen befanden sich solche, die nicht zwingend oder gar nicht als sakral interpretiert werden können: Die Zeichen waren geformt wie ein Kreuz,130 ein Wappen bzw. Siegel131 oder wie ein Halbmond und Sterne.132 Dazu kommen singuläre Varianten. Der falsche Aleksej Petrovič Timofej Truženik behauptete etwa, er habe auf 129 Erkens: Herrschersakralität, 223. 130 Der falsche Aleksej Petrovič Aleksej Rodionov (1722; RGADA , f. 371, o. 1/č. 1, d. 1843, l. 14 ob.), der falsche Aleksej Petrovič Timofej Truženik (1732; RGADA , f. 6, o. 1, d. 187, l. 9.), der falsche Aleksej Petrovič Ivan Minickij (1738; RGADA , f. 6, o. 1, d. 192, l. 10 ob.), der falsche Peter III . Gavrila Kremnev (1765; RGADA , f. 6, o. 1, d. 402, l. 34 ob.), der falsche Peter III . Fedot Bogomolov (1772; Dubrovin: Pugačev i ego soobščniki, 109; 120.), der falsche Peter III . Iov Mosjakin (1774; RGADA , f. 6, o. 1, d. 528, l. 6.), der falsche Paul I. Afanasij Petrovič (1800er Jahre; Kubalov: Sibir’ i samozvancy, 166.), der falsche Konstantin Pavlovič Konstantin Kalugin (1845; Kazochanin: Samozvanec Kalugin, 171.). 131 Der falsche Aleksej Petrovič Aleksej Rodionov (1722; RGADA , f. 371, o. 1/č. 1, d. 1843, l. 14 ob.). 132 Der falsche Peter Petrovič Larion Starodubcev (1732; RGADA , f. 6, o. 1, d. 187, l. 25 ob.).
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dem Oberschenkel einen »angeborenen Degen« (na ledvee rodimaja špaga).133 Anders als bei samozvancy, die außerhalb des Moskauer und Russländischen Reiches auftraten,134 gibt es keine sicheren Belege, dass Schriftzüge als carskie znaki dienten. Samozvancy und samozvanki hatten solche Zeichen auf der Brust,135 dem Rücken,136 dem Kopf,137 den Armen bzw. Händen,138 den Beinen bzw. Füßen139 oder an mehreren Stellen gleichzeitig.140 Form und Position der Zeichen wurden aber nicht immer präzisiert, da schon der Hinweis »Zeichen am Körper« reichte, um den Anwesenden zu vermitteln, was gemeint war. Wie in Westeuropa war im Moskauer und Russländischen Reich das Kreuz das häufigste Zeichen. Die von Bloch und Antonsson herausgearbeiteten Hintergründe dürften dort aber nicht geläufig gewesen sein. Die Häufigkeit kreuzförmiger Zeichen ist eher damit zu erklären, dass carskie znaki sichtbar machen sollten, dass Gott genau diese Person (oder etwas allgemeiner, die Familie, der diese Person angehörte) zur Herrschaft erwählt habe. Insofern ist es naheliegend, diese Erwählung durch das zentrale christliche Symbol sichtbar zu machen. Ein Wappen oder Siegel kann als säkulare Entsprechung zum Kreuz gedeutet werden. Es verweist nicht auf die Erwählung zur Herrschaft als solche, sondern entweder auf das beherrschte Reich oder die Familie, die dort regiert. Auch Truženiks Degen geht in diese Richtung, ist aber allgemeiner als ein Wappen, weil alle Adeligen das Recht besaßen, Waffen zu tragen. Die Deutung von Mond und Sternen bereitet Probleme. Perrie kann dazu nur die Vermutung anbieten, dass sie auf einen außergewöhnlichen Menschen hindeuten.141 Eine andere Möglichkeit wäre, an Astrologie zu denken. Im 133 RGADA , f. 6, o. 1, d. 187, l. 5. 134 Für Beispiele siehe Perrie: »Royal Marks«, 543 f. 135 Die falsche persische Prinzessin Luker᾽ja Michajlova (1747; Usenko: Gendernyj aspekt, 243.); der falsche Peter III . Fedot Bogomolov (1772; Dubrovin: Pugačev i ego soobščniki, 109; 120.), der falsche Konstantin Pavlovič Konstantin Kalugin (1845; Kazochanin: Samozvanec Kalugin, 171.). 136 Der falsche Aleksej Petrovič Ivan Minickij (1738; RGADA , f. 6, o. 1, d. 192, l. 10 ob.), der falsche Paul I. Afanasij Petrovič (1800er Jahre; Kubalov: Sibir’ i samozvancy, 166.). 137 Der falsche Peter III . Dmitrij Popovič (1782/1783; RGADA , f. 7, o. 2, d. 2455, l. 29 ob.). 138 Der falsche Aleksej Petrovič Aleksej Rodionov (1722; RGADA , f. 371, o. 1/č. 1, d. 1843, l. 14 ob.). 139 Der falsche Peter III . Gavrila Kremnev (1765; RGADA , f. 6, o. 1, d. 402, l. 34 ob.). 140 Der falsche Aleksej Petrovič Andrej Cholščevnikov (1732, Hände und Brust; RGADA , f. 6, o. 1, d. 186, l. 1), der falsche Aleksej Petrovič Timofej Truženik (1732, Rücken und Oberschenkel; RGADA , f. 6, o. 1. d. 187, l. 9.), der falsche Peter Petrovič Larion Starodubcev (1732, Brust und Rücken; RGADA , f. 6, o. 1, d. 187, l. 25 ob.), der falsche Peter III . Emel’jan Pugačev (1772, Brust und Schläfen; Ovčinnikov (Red.): Emel’jan Pugačev na sledstvii, 159.), der falsche Peter III . Iov Mosjakin (1774, Hände, Brust, Rücken, Schläfen; RGADA , f. 6, o. 1, d. 528, l. 6.). 141 Perrie: »Royal Marks«, 553 f.
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Moskauer Reich waren astrologische bzw. astronomische Almanache und Horoskope zwar kaum verbreitet, doch die ihnen zugrunde liegende Auffassung, dass die Position der Gestirne das Schicksal eines Menschen verrate, war seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts auch über die dünne Schicht hinaus bekannt, die an westeuropäischer Gelehrsamkeit Anteil hatte.142 Der Verweis auf carskie znaki war sehr geschlechtsspezifisch. Nur eine samozvanka, die falsche persische Prinzessin Luker᾽ja Michajlova, behauptete, sie habe Flecken (pjatna) auf dem Oberkörper.143 Das Zögern der samozvanki, dieses Mittel einzusetzen, dürfte darauf zurückzuführen sein, dass das Entblößen des Körpers oder einzelner Körperteile bei Männern und Frauen unterschiedlich bewertet wurde. Wenn ein Mann kurz einen Ärmel oder ein Hosenbein hochkrempelte oder seinen Oberkörper entblößte, um »Zeichen« zu zeigen, die sonst von der Kleidung bedeckt waren, hatte das nichts Anstößiges. Hätte eine Frau zu viel von ihren Beinen gezeigt oder gar ihre Bluse ausgezogen, hätte dieser Verstoß gegen die Anstandsregeln womöglich den Effekt zunichte gemacht, den die Zeichen hervorrufen sollten. Bei Michajlova galt das unter Umständen nicht, weil sie vorgab, Perserin zu sein. Das Reich im Osten könnte mit größerer körperlicher Freizügigkeit assoziiert worden sein, sodass die Bereitschaft sich zu entblößen ihre Performanz eher noch stützte. Carskie znaki verlangten von den Beteiligten eine besonders große Bereitschaft, sich auf die Performanz einzulassen. Niemand wird mit Sternen, einem Wappen oder was auch immer auf dem Körper geboren. Demnach konnten die Beteiligten nicht das sehen, was sie zu sehen glaubten oder zu sehen vorgaben. Die Zeichen entstanden erst durch die Performanz und existierten nur in ihrem Rahmen. Ungeachtet dessen geht nur aus wenigen Untersuchungsakten hervor, welche reale Grundlage für carskie znaki vorhanden war. Um ein möglichst vollständiges Bild zu bieten, werden daher ausnahmsweise auch Beispiele von außerhalb des Moskauer / Russländischen Reiches herangezogen. Die einzige Ausnahme zur gerade formulierten Regel, dass nicht zu sehen war, was zu sehen sein sollte, lautet, dass ein samozvanec die Zeichen im Vorhinein fälschte. Ivan Vergunenok, ein von Tataren als Sklave auf die Krim verkaufter Kosake, ließ sich 1646 von einer Frau mit einem heißen Eisen einen Halbmond und Sterne zwischen die Schulterblätter brennen. Die dafür notwendigen Formen hatte sie zuvor in seinem Auftrag von einem Schmied 142 Ryan: The Bathhouse at Midnight, 400 f. 143 Zu Michajlova siehe Usenko: Gendernyj aspekt, 242–244. Ingerflom schreibt, die falsche Marija Nikolaevna Marija Šan’gina (geb. Bočkareva) habe 1927 carskie znaki benutzt (Ingerflom: Le tsar c’est moi, 441 f.), doch das ist irreführend. Ein Anhänger der falschen Großfürstin behauptete, er habe sie an einem carskij znak erkannt. Dieses »Zeichen« war keine reale oder performativ erzeugte Veränderung der Hautoberfläche, sondern entpuppte sich als goldenes Medaillon mit Monogramm (Alekseev / Nečaeva: Voskresšie Romanovy? I, 21.).
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anfertigen lassen.144 Erst danach ging er zu seinem Arbeitgeber und stellte sich als Sohn von »Zar Dmitrij« vor. Der falsche Peter III. Iov Mosjakin wählte 1774 einen weniger schmerzhaften, aber auch weniger dauerhaften Weg, um carskie znaki zu erzeugen. Er legte sich Metallkreuze auf Brust, Hände und Rücken und fixierte diese so straff mit Bandagen, dass sie beim Abnehmen rote Abdrücke hinterließen. Zwei weitere Kreuze presste er sich gegen die Schläfen. Danach fühlte er sich anscheinend noch immer nicht ausreichend markiert, da er sich zusätzlich Stoff aus der Aussteuer der Frau seines Quartiergebers Ievlev kreuzförmig um den Oberkörper schlang.145 Eine weitere Möglichkeit, carskie znaki zu fälschen bestand darin, etwas auf die Haut zu schreiben oder zu zeichnen. Diese Methode könnte 1730 der falsche Aleksej Petrovič Andrej Cholščevnikov benutzt haben, doch die Beschreibung seiner Zeichen lässt zu viel Interpretationsspielraum, um sicher zu sein. Als er in Arzamas einzog, wollte ein Teil der Anwesenden gesehen haben, dass er auf der Brust und den Händen etwas mit roter Tinte podpisano habe.146 Da sie nicht sagten, was genau sie gesehen hatten, könnte podpisano ebenso meinen, dass er etwas geschrieben hatte, wie, dass er etwas gezeichnet hatte. Andere Anwesende wollten hingegen je ein Kreuz auf Cholščevnikovs Brust und Rücken gesehen haben.147 Da die Position der Zeichen nicht übereinstimmt, dürfte Cholščevnikov überhaupt nichts auf seinem Körper gehabt haben, denn sonst hätten alle dasselbe sehen müssen. Falls ein samozvanec Veränderungen an der Hautoberfläche wie Narben, Spuren überstandener Krankheiten oder Pigmentstörungen aufwies, bildeten diese eine gute Grundlage für die Behauptung, er habe carskie znaki. Diese wiesen wohl nur selten eine ungewöhnliche Form auf, geschweige denn, eine von den komplexen und klar abgezirkelten Formen, von denen oben die Rede war. Aber immerhin war objektiv etwas zu sehen, das im Rahmen der Performanz zu carskie znaki umgedeutet werden konnte. Semen Vorob’ev, der 1671 in der Sič als Simeon Alekseevič auftrat, hatte weiße Flecken von der Größe eines Fingerabdrucks auf Brust und Schultern.148 Seine Anhänger erzählten, er habe auf der rechten Schulter und auf einer Hand eine Zarenkrone bzw. er habe auf den Schultern eine Zarenkrone, einen doppelköpfigen Adler und einen Mond mit Sternen.149 Pugačev gab Narben einer früheren Skrofulose-Erkrankung auf der Brust und an den Schläfen für carskie 144 145 146 147 148
RGADA , f. 149, o. 1, d. 72, l. 2. RGADA , f. 6, o. 1, d. 528, l. 6–6 ob. RGADA , f. 6, o. 1, d. 186, l. 1.
Ebd., l. 2. Kostomarov, N.: Samozvanec Lže-carevič Simeon. Istoričeskij razskaz. In: IV 1 (1880), 1–25, hier 17. 149 Ebd., 5; 9.
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znaki aus.150 Seine Anhänger erzählten, er habe einen doppelköpfigen Adler auf der Brust, doch er selbst bestritt bei seinem ersten Verhör vehement, etwas Derartiges behauptet zu haben.151 Der falsche Peter III. Dmitrij Popovič hatte der Aussage des Kosaken Andrej Urazovskij zufolge borodavoč’nyja znaki (von russ. borodavka ›Warze‹) im Gesicht, die für Zaren typisch seien (takie znaki byvajut u carej).152 Popovič dürfte also Warzen im Gesicht gehabt haben, die Urazovskij zu carskie znaki umdeutete. Höher waren die Anforderungen an die Vorstellungskraft potenzieller AnhängerInnen, falls der Körper an der bezeichneten Stelle überhaupt keine Besonderheiten aufwies. Von drei samozvancy ist bekannt, dass sie nackt ausgezogen und untersucht wurden, nachdem ZeugInnen ihre carskie znaki erwähnt hatten. Bei den falschen Aleksei Petroviči Andrej Krekšin und Aleksej Rodionov fand sich überhaupt nichts Auffälliges an der Hautoberfläche.153 Die AnhängerInnen des falschen Konstantin Pavlovič Konstantin Kalugin erzählten, seine Brusthaare wüchsen kreuzförmig, was seine Zugehörigkeit zur Dynastie belege. Die Untersuchungsbeamten stellten fest, dass der Umriss von Kalugins Brustbehaarung an den griechischen Buchstaben Ypsilon (Υ) erinnere;154 somit war eine Art unvollständiges Kreuz tatsächlich vorhanden. Die Beispiele sind zu wenige, um feststellen zu können, ob samozvancy überwiegend Pigmentstörungen, Spuren von Krankheiten und Verletzungen als Grundlage für carskie znaki benutzten oder ob sie diese mehrheitlich ohne reale Grundlage heraufbeschworen. Allerdings ist ersichtlich, dass bei einer realen Grundlage für carskie znaki die Grenze zu individuellen physischen Merkmalen verschwamm, um die es im nächsten Abschnitt gehen wird. Zuvor ist noch der Umgang mit den »Zeichen« genauer zu beleuchten. Jurij Lotman sprach an einer Stelle von einem »festen Glauben« (tverdaja vera) an die Existenz von carskie znaki.155 Die angeführten Beispiele lassen aber eine Diskrepanz zwischen Anspruch und Realität erkennen, die auf etwas anderes hindeutet. Offensichtlich hatten die samozvancy ebenso wie ihre AnhängerInnen gehört, dass ein Mitglied der Dynastie an »Zeichen« am Körper erkennbar sei, andernfalls hätten diese in der Performanz keine Rolle gespielt. Ein Teil der AnhängerInnen mag auch durchaus davon überzeugt gewesen sein, dass Mitglieder der Dynastie mit einem Kreuz, einem Halbmond oder was auch immer auf dem Körper geboren würden.
150 151 152 153 154 155
Ovčinnikov (Red.): Emel’jan Pugačev na sledstvii, 159. Ebd., 74. RGADA , f. 7, o. 2, d. 2455, l. 29 ob. RGADA , f. 371, o. 1/č. 1, d. 788, l. 31; RGADA , f. 371, o. 1/č. 1, d. 1843, l. 15. Kazochanin: Samozvanec Kalugin, 172. Lotman, Ju. M.: O Chlestakove. In: Ders.: Izbrannye stat’i. Tom I Stat’i po semiotike i tipologii kul’tury. Tallinn 1992, 337–364, hier 358.
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Allerdings stellten die Beteiligten häufig nur geringe Ansprüche, um die ihnen präsentierten »Zeichen« als solche zu akzeptieren. Sie gaben sich mit einem Muttermal hier und einer Narbe dort zufrieden. Es ist nicht anzunehmen, dass die Zeitgenossen nicht in der Lage waren, Narben und Muttermale als das zu erkennen, was sie waren – etwas ganz Banales. Sie hätten möglicherweise einer Veränderung der Hautoberfläche, die mit ein wenig Fantasie eine der oben angeführten Formen aufwies, eine besondere Bedeutung zugeschrieben. Diese Erklärung scheidet jedoch aus, weil kein einziges derartiges Beispiel überliefert ist. Das alles passt nicht zu einem »festen Glauben«, sondern zeugt von einem Umgang mit solchen »Zeichen«, der es verdient, pragmatisch genannt zu werden. Er ergibt sich aus der Form der Performanz. Der Form zufolge erschien ein Mitglied der Dynastie unerwartet unter seinen Untertanen. Wenn unter dieser Voraussetzung ein samozvanec vermeintliche carskie znaki herzeigte, mussten seine AnhängerInnen diese Sichtweise akzeptieren, wenn sie die Performanz nicht gefährden wollten. Umgekehrt musste ein samozvanec, den jemand aufforderte, seine Zeichen zu zeigen, mit irgendetwas aufwarten, wenn er seine Aussicht auf Erfolg nicht zerstören wollte. In beiden Fällen war es wichtiger, auf den Anspruch bzw. die Forderung einzugehen als der allgemeinen Vorstellung von solchen Zeichen hundertprozentig zu entsprechen. Eine Verweigerung hätte das unmittelbare Ende der Performanz bedeutet, während Unzulängliches einfach ignoriert oder umgedeutet werden konnte und damit unproblematisch war. Das alles ist besonders gut bei der »Entdeckung« von Pugačevs carskie znaki erkennbar: Und, nachdem er bei Eremina Kurica [recte Stepan Oboljaev] zwei Tage verbracht hatte, rief jener ihn, Emel’ka, ins Bad, und er sagte zu ihm: ›Ich habe kein Hemd.‹ Und Eremina Kurica sagte: ›Ich gebe dir ein Hemd von mir.‹ Und dann gingen nur sie zwei ins Bad. Und als sie das Bad betraten und er, Emel’ka, sich auszog, sah Eremina Kurica auf der Brust unter den Brustwarzen Narben [znaki], die ihm, Emel’ka, von den Wunden der Krankheit zurückgeblieben waren, und fragte ihn, Emel’ka: ›Was hast du da, Pugačev, auf der Brust?‹ Und er, Emel’ka, erriet natürlich, dass P’janov ihm [Oboljaev] erzählt hatte, dass er, Pugačev, […] sich am Jajk für Peter III. ausgegeben hatte, da sagte er zu Eremina: ›Das sind die Zeichen des Souveräns [znaki gosudarskija].‹ Und Eremina Kurica sagte, als er das hörte: ›Wenn das so ist, ist es gut.‹156 156 Ovčinnikov (Red.): Emel’jan Pugačev na sledstvii, 159. »I, pobyv u Ereminoj Kuricy dva dni, onoj posval evo, Emel’ku, v banju, i on emu skazal: ›U menja rubaški net.‹ I Eremina Kurica skazal: ›Ja-de svoju rubašku dam.‹ I potom pošli tol’ko dvoe v banju. А kak vzošli v banju, i on, Emel’ka, razdelsja, to uvidel Eremina Kurica na grudi pod tit’kami posle byvšich u nego, Emel’ki, ot bolezni ran znaki, i sprosil evo, Emel’ki: ›Što u tebja ėto takoe, Pugačov, na grudi-ta?‹ I on, Emel’ka, dogadalsja, čto, konečno, emu P’janov о tom, čto on […], Pugačov, byvši na Jaike, nazyval sebja Petrom Tret’im, skazal, to on, Emel’ka, skazal Ereminoj: ›А ėto znaki gosudarskija.‹ I Eremina Kurica, uslyša onoe, skazal: ›Chorošo, kali tak.‹«
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Diese Beschreibung stammt aus Pugačevs Verhör in Simbirsk. Von der »Entdeckung« seiner Zeichen existieren zwei weitere Varianten, sodass nicht klar ist, ob sich eine davon so zugetragen hat und falls ja, welche. Wichtiger als die Authentizität des Wortwechsels ist hier aber seine Subtilität. Sollte er erfunden sein, wäre er hervorragend komponiert. Pugačev und Oboljaev verstehen, worauf der jeweils andere hinauswill, und tragen dem mit ihrer Reaktion Rechnung. Auf diese Weise können sie sich über die carskie znaki und noch mehr über den Hintergrund – Pugačev als Peter III. – verständigen, obwohl beide genau wissen, dass auf Pugačevs Brust nur gewöhnliche Narben zu sehen sind. Sie wechseln ständig zwischen der Logik der Performanz und der Realität hin und her. Letzteres dürfte auch für die übrigen samozvancy gelten, die carskie znaki zeigten, obwohl von keinem ein vergleichbarer Dialog überliefert ist. Individuelle physische Merkmale
Individuelle körperliche Merkmale dienten seit den Anfängen von samo zvanstvo im Moskauer Reich als Beweis für die angeeignete Identität. Das hat zunächst weniger mit Performanz zu tun als mit einem Mangel an Alterna tiven. Vor der Entdeckung der Fingerabdrücke war der Abgleich von Merkmalen wie der Körpergröße, dem ungefähren Alter, der Statur, der Farbe von Augen und Haaren oder auch den bereits erwähnten Narben und Pigmentstörungen die einzige Möglichkeit, um jemanden zu identifizieren. Insofern trifft Maureen Perries Beobachtung zu, die Identifizierung eines samozvanec als die Person, die er zu sein behauptete, sei nach rationalen Kriterien erfolgt.157 Allerdings wurden auch individuelle Merkmale performativ überformt oder überhaupt erst erzeugt, sodass der rationale Abgleich von Vorhandenem oft nur eine Beschreibung der der Performanz immanenten Realität ist, nicht aber dessen, was Außenstehende gesehen hätten. Das hat mit einer wichtigen Prämisse zu tun: Im Moskauer Reich des 17. Jahrhunderts waren naturgetreue Herrscherporträts noch die Ausnahme,158 im gesamten Untersuchungszeitraum dieser Monografie gab es keine Massenmedien, schon gar nicht solche mit Bildreproduktionen, und von keinem der echten Mitglieder der Dynastie, um die es hier geht, existierte eine Fotografie. Folglich hatte die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung überhaupt keine oder nur eine schwammige Vor 157 Perrie: Pretenders and Popular Monarchism, 241; 246. Perrie spricht hier auch von wissenschaftlichen (scientific) Kriterien, was übertrieben ist. 158 Zu Porträts im 17. Jahrhundert siehe Hughes, Lindsey: Images of the Elite. A Reconsideration of the Portrait in Seventeenth-Century Russia. In: Torke, Hans-Joachim (Hg.): Von Moskau nach St. Petersburg. Das russische Reich im 17. Jahrhundert. Wiesbaden 2000, 167–185.
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stellung davon, wie ein bestimmtes Mitglied der Dynastie aussah, und kaum bis keine Möglichkeiten, in dieser Hinsicht etwas Gesichertes herauszufinden. Das versetzte samozvancy und samozvanki in die durchaus komfortable Lage, dass eine fehlende (aber auch eine bestehende) Ähnlichkeit unbemerkt bleiben und fiktive Merkmale zur Identifizierung herangezogen werden konnten. Eine bestehende und den Beteiligten bewusste Ähnlichkeit war selbstverständlich von Vorteil, und umgekehrt konnte sich eine fehlende und bewusste Ähnlichkeit nachteilig auswirken, aber mangels der Möglichkeit zur Überprüfung sind für beides Beispiele aus dem Untersuchungszeitraum überaus rar. Viele Zeitgenossen ließen sich davon überzeugen, dass der erste falsche Dmitrij der echte Dmitrij Ivanovič sei, weil er wie dieser rötliches Haar, eine Warze neben der Nase und unterschiedlich lange Arme hatte.159 Umgekehrt sah Michail Molčanov unter anderem deswegen davon ab, auch außerhalb von Schloss Sambor in »Dmitrijs« Rolle zu schlüpfen, weil er dem ersten falschen Dmitrij nicht im Geringsten ähnelte.160 Pugačev war eher kleingewachsen und untersetzt, hatte braune Augen und Haare und wurde trotzdem als exakte Kopie des großgewachsenen, dünnen, blonden und blauäugigen Peter III. ausgegeben. Wie gerade erwähnt, scheute Molčanov vor dem letzten Schritt zu samozvanstvo zurück, weil er dem ersten falschen Dmitrij nicht ähnelte. Kurze Zeit später wurde allerdings ein Landstreicher zum zweiten falschen Dmitrij auserkoren, der seinem Vorbild genauso wenig ähnelte. Der entscheidende Unterschied bestand darin, dass Molčanov auch als er selbst bekannt war, während der zweite falsche Dmitrij eine völlig obskure Persönlichkeit war. Nikolaj Kretov war großgewachsen und dünn wie der echte Peter III.,161 doch niemand wies auf diese Übereinstimmung hin, um ihn als Kaiser plausibel zu machen. Vermutlich waren sich ihr weder Kretov, noch seine Anhänger bewusst. Sagajdašnikov wollte »Peter III.« hingegen an einer Narbe auf Kretovs linker Wange identifizieren,162 die dem echten Kaiser gefehlt hatte. Der falsche Konstantin Pavlovič Aleksandr Rodionov hatte am linken Daumen nur zwei Glieder. Diese Verstümmelung präsentierte er als unleugbaren Beweis dafür, der Großfürst zu sein.163 Der bereits erwähnte falsche Konstantin Pavlovič Konstantin Kalugin führte selbst nicht die Form seiner Brusthaare als »Beweis« seiner Identität 159 Perrie: Pretenders and Popular Monarchism, 42 f. So lautet die gängige Version. Es hat sich aber noch niemand die Mühe gemacht, zu überprüfen, ob eine sicher vor 1602 entstandene und im Weiteren nicht mehr bearbeitete Quelle den echten Dmitrij mit diesen Merkmalen beschreibt. Deswegen ist nicht auszuschließen, dass das Aussehen des ersten samozvanec nachträglich auf ihn projiziert wurde. 160 Dunning: Russia’s First Civil War, 263. 161 RGADA , f. 6, o. 1, d. 535, l. 18. 162 Ebd., l. 33 ob. 163 Korolenko: Sovremennaja samozvanščina, 318.
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an, sondern zeigte Narben an seinem Unterschenkel, die angeblich von einer Verwundung stammten, die er (Konstantin Pavlovič) 1812 erlitten habe.164 Rodionov wie Kalugin berief sich auf eine Verletzung, die der echte Konstantin nicht erlitten hatte. Diese Beliebigkeit beim Verweis auf individuelle Merkmale hat nicht nur mit fehlendem Wissen zu tun, sondern auch mit einer zweiten wichtigen Prämisse: Äußere Ähnlichkeit war unabdingbar, damit jemand die Person sein konnte, für die er sich ausgab. Fehlende Ähnlichkeit direkt zu thematisieren und zu »begründen« barg einiges an Risiko, weil die samozvancy und samo zvanki die Aufmerksamkeit potenzieller AnhängerInnen erst recht auf etwas gelenkt hätten, das sie eigentlich unter den Teppich kehren wollten. Die beste Strategie bestand darin, eine »große Ähnlichkeit« stereotyp zu beschwören, unabhängig davon, inwieweit sie in Wahrheit gegeben war oder nicht. Falls dann niemand offen widersprach, reichte die bloße Behauptung, damit die »große Ähnlichkeit« im Rahmen der Performanz zum Faktum wurde. Nur der falsche Peter III. Nikolaj Kretov versuchte, seine fehlende Ähnlichkeit mit dem Vorbild schlüssig zu begründen. Er meinte, der Gouverneur von Orenburg Reinsdorp kenne ihn (Peter III.), schließlich habe er ihn auf diesen Posten befördert. Doch durch jahrelange Entbehrungen sei er abgemagert und sehe nicht mehr so gut aus wie früher, sodass Reinsdorp ihn nicht wiedererkennen würde.165 Das dürfte eine akkurate Beschreibung von Kretov als er selbst gewesen sein. Seine Bekannten Sagajdašnikov und Kahlow sowie sein Offiziersbursche Lavrent’ev sagten übereinstimmend aus, dass Kretov nahezu durchgehend getrunken und fast sein gesamtes Geld für Alkohol ausgegeben habe. Dementsprechend wenig feste Nahrung habe er zu sich genommen.166 Derartiger Alkoholmissbrauch kann sich nur nachteilig auf das äußere Erscheinungsbild auswirken. Um zu erklären, warum Kretov sich selbst als Peter III. nicht ähnle, war es allerdings ein schlechtes Argument, weil zu umständlich konstruiert. Carskie znaki und individuelle physische Merkmale waren keineswegs einander ausschließende und diametral entgegengesetzte Möglichkeiten, eine Person zu identifizieren. Sie konnten fließend ineinander übergehen, was am besten erkennbar ist, wenn Narben oder Pigmentstörungen zu carskie znaki umgedeutet wurden. Eine Narbe alleine reicht nicht, um eine Person zweifels frei zu identifizieren, doch gemeinsam mit anderen Merkmalen verweist sie auf ein Individuum und eben nicht wie carskie znaki auf die Zugehörigkeit zu einer Gruppe (hier: zu einer Dynastie). Kalugins angeblich kreuzförmig wachsendes Brusthaar steht genau in der Mitte zwischen diesen beiden Formen der 164 Čistov: Russkie narodnye social’no-utopičeskie legendy, 211. 165 RGADA , f. 6, o. 1, d. 535, l. 24. 166 Ebd., l. 22.
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Identifizierung. Brusthaar ist etwas ganz Banales, und selbst wenn es in einer ungewöhnlichen Form wüchse, könnte es nur auf ein Individuum verweisen. Allerdings war es das Wissen um carskie znaki, das der scheinbaren Kreuzform ihre Bedeutungsschwere verlieh. Es ist kein Zufall, dass das Beispiel mit Kalugin aus dem 19. Jahrhundert stammt. Der letzte samozvanec, von dem gesichert ist, dass er auf carskie znaki in der herkömmlichen Form verwies, war der falsche Paul I. Afanasij Petrovič. Sein Anhänger Starcev schrieb 1822 in einem Brief an Alexander I., Petrovič habe ein Kreuz auf dem Rücken.167 Da Petrovič praktisch die gesamte Regierungszeit von Alexander I. hindurch aktiv war, könnte er die »Zeichen« schon wesentlich früher zum ersten Mal hergezeigt haben. Nach Petrovič wurden Verweise auf carskie znaki seltener und entfernten sich deutlich von den bisherigen Ausführungen. Ein Beispiel ist Kalugins Brusthaar, bei dem carskie znaki und individuelle Merkmale ineinander übergehen. Ein anderes Beispiel sind die »Zeichen« des Junkers Ippolit Zavališin. Zavališin versuchte 1826, seine Karriere durch falsche Denunziationen zu beschleunigen, wurde am Ende aber selbst zur Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt. Zu dieser Zeit wurde individuellen physischen Merkmalen größere Bedeutung für die Identifizierung beigemessen als noch im 18. Jahrhundert und diese daher präziser erfasst. Zavališin bestand bei seiner Verhaftung darauf, dass unter dem Punkt besondere Merkmale vermerkt werde, er habe auf der Brust ein Muttermal in der Form einer Krone und auf jeder Schulter ein Muttermal in der Form eines Szepters.168 Wie Kalugins AnhängerInnen vermischte er carskie znaki und individuelle Merkmale, da er von Muttermalen mit besonderen Formen sprach. Auffällig ist jedoch vor allem, wie sinnlos diese Volte war. Zavališin war ein Denunziant und Provokateur, aber nicht einmal in der weiten Bedeutung des russischen Begriffs ein samozvanec. Außerdem war seine Verhaftung die letzte Situation, in der ihm irgendjemand abgenommen hätte, dass er solche Zeichen aufweise. Diese Eigentümlichkeiten dürften nicht mit Zavališins Persönlichkeit zu erklären sein, wie Lotman meinte,169 sondern sie sind typisch für das zweite Viertel des 19. Jahrhunderts. Aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind dann überhaupt keine Beispiele für carskie znaki mehr überliefert. Ab der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert ist also eine Entwicklung zu beobachten, die innerhalb von ein paar Jahrzehnten erst zur Aufweichung und dann zum Verschwinden von carskie znaki führte. Diese Entwicklung bedarf einer Erklärung. Wie bereits ausgeführt, kann die Identifizierung durch carskie znaki oder individuelle Merkmale nicht zwei klar voneinander abgegrenzten und aufei167 Kubalov: Sibir’ i samozvancy, 166. 168 Lotman: O Chlestakove, 357 f. 169 Ebd., 358.
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nander folgenden Phasen zugeordnet werden. So ist es nicht sinnvoll, das allmähliche Verschwinden von carskie znaki auf eine lineare Entwicklung hin zu mehr Rationalität zurückzuführen. Ausschlaggebend war nicht die Einsicht, dass solche Zeichen nicht existieren, sondern, dass die Zeitgenossen um 1800 sich selbst und andere Menschen in erster Linie als Individuen wahrnahmen und nicht mehr als Angehörige eines Kollektivs. Angela Rustemeyer deutet die Zunahme von Äußerungen sowohl über das Privatleben der KaiserInnen, wie auch über deren angebliche körperliche Defekte im 18. Jahrhundert als Anzeichen, dass die Untertanen sie zunehmend als Individuen wahrgenommen hätten. Um 1800 sei dieser Prozess abgeschlossen gewesen.170 Es ist naheliegend, dass am Ende dieser Entwicklung Menschen auch anders identifiziert wurden. Der Körper eines Individuums unterscheidet sich von allen anderen Körpern, während der Körper eines Gruppenmitglieds den Körpern der anderen Gruppenmitglieder zumindest in einem entscheidenden Merkmal – den carskie znaki – gleicht. Das Beispiel mit Kalugins Brusthaar lässt sich dahingehend interpretieren, dass der Glaube an die Existenz von carskie znaki und das Wissen über deren typische Formen um die Mitte des 19. Jahrhunderts nach wie vor präsent waren, jedoch bereits einer – wohl unbewussten – Tendenz wichen, jemanden nicht nur als Mitglied der Dynastie, sondern als konkrete Person zu identifizieren. Die Bestätigung durch ZeugInnen
Da im Untersuchungszeitraum Fotografien fehlten, um körperliche Merkmale abzugleichen, konnte jemand nur durch eine Person identifiziert werden, die ihn schon einmal gesehen hatte bzw. im Idealfall seit längerem kannte. Diese Anforderungen erfüllten Angehörige am besten. Maryna Mniszchówna, die Witwe des ersten falschen Dmitrij, wurde im Herbst 1608 von Gefolgsleuten des zweiten falschen Dmitrij entführt und in dessen Hauptquartier nach Tušino gebracht. Sie erkannte sehr schnell, dass dieser »Dmitrij« nicht derjenige war, den sie geheiratet hatte, doch sie erklärte sich nach zähen Verhandlungen und für eine entsprechend hohe Summe bereit, so zu tun, als wäre das der Fall. Dieser Schritt überzeugte viele Zeitgenossen davon, es mit dem echten Dmitrij zu tun zu haben.171 Noch größeres Gewicht als das Zeugnis der Ehefrau besaß das Zeugnis der Mutter. Die Annahme lautete, eine Mutter erkenne ihr Kind unter allen Umständen und selbst nach einer jahrelangen Trennung. Gleichzeitig konnten sich viele Leute wahrscheinlich nicht vorstellen, dass eine Mutter in Hinblick auf 170 Rustemeyer: Dissens und Ehre, 330–332. 171 Dunning: Russia’s First Civil War, 394.
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ihr Kind lügen bzw. eine Entscheidung nur im Sinn ihrer eigenen Interessen treffen würde. Dass das sehr wohl der Fall sein kann, zeigte sich an Marija Nagaja. 1605 willigte sie, nunmehr als Nonne Marfa, in eine rührende Szene der »Wiedervereinigung« vor den Toren Moskaus ein.172 Während seiner kurzen Regierungszeit bezeugte der erste falsche Dmitrij »seiner« Mutter demonstrativ den gebührenden Respekt und ging sie regelmäßig besuchen. Nicht zuletzt half Marfa »Dmitrij«, indem sie seine Braut Maryna bis zur Trauung unter ihre Fittiche nahm. Mit dieser Geste unterstrich sie nicht nur einmal mehr, dass er ihr Sohn sei, sondern zeigte auch, dass es selbst aus der Sicht einer Nonne akzeptabel sei, wenn der Herrscher des Moskauer Reiches eine Katholikin zur Frau nehme.173 Nach dem Sturz des ersten falschen Dmitrij wechselte Marfa erneut die Seiten. Sie schrieb aus eigenem Antrieb einen Brief an den neuen Zaren Šujskij, in dem sie sich eindeutig von ihrem vermeintlichen Sohn distanzierte. Bald darauf verlangte Šujskij von ihr, öffentlich zu bezeugen, dass ihr Sohn 1591 in Uglič gestorben sei und es sein heiligenhaft unversehrter Leichnam sei, der nun nach Moskau gebracht werde. Marfa spielte auch diese Rolle.174 Aus Marfas Sicht ist dieses Vorgehen nachvollziehbar. Indem sie über ihren Sohn jeweils erzählte, was der erste falsche Dmitrij und Šujskij von ihr verlangten, konnte sie nicht nur das ihr verhasste Kloster verlassen, sondern auch einen Teil des Handlungsspielraums und der Relevanz zurückgewinnen, die sie verloren hatte, als Godunov sie gezwungen hatte, den Schleier zu nehmen. Das ändert aber nichts daran, dass sie innerhalb eines knappen Jahres für zwei Versionen des Schicksals ihres Sohnes ihren Namen hergab, die auch beim besten Willen nicht kompatibel waren. Aus naheliegenden Gründen konnten samozvancy und samozvanki kaum je auf echte Verwandte der Person zurückgreifen, für die sie sich ausgaben. Selbst deren erweitertes Umfeld war schwer zugänglich. Den Skopzen gelang der Coup, einen früheren Kammerdiener des echten Peter III. namens Kobylev zu bekehren, der danach bereitwillig überall erzählte, Selivanov sei niemand anderer als sein Herr.175 Ein möglicher Ersatz für das echte Umfeld waren sekundäre samozvancy und samozvanki. Darunter sind BegleiterInnen eines samozvanec / einer samo zvanka zu verstehen, die zwar auch unter einer falschen Identität auftraten, aber nicht eigenständig agierten und keine andere Aufgabe hatten, als den eigentlichen samozvanec / die eigentliche samozvanka glaubwürdiger erscheinen zu 172 173 174 175
Smirnov (Red.): Moskovskaja chronika, 239. Thyrêt: Between God and Tsar, 110 f. Perrie: Pretenders and Popular Monarchism, 106. Usenko: Psichologija social’nogo protesta III, 57.
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lassen. Der falsche Peter III. Gavrila Kremnev zwang zwei Leibeigene, ihn zu begleiten. Den einen bezeichnete er abwechselnd als General Rumjancev und General Krasnoščekov, den anderen abwechselnd als General Puškin und seinen Kutscher.176 Der falsche Peter III. Petr Černyšev war mit einem Soldaten unterwegs, von dem er behauptete, er sei früher General Černyšev gewesen.177 Auf ähnliche Weise behauptete der falsche Konstantin Pavlovič, der 1826/1827 im Gouvernement Saratov auftrat, die Soldaten, die ihn begleiteten, seien verkleidete Generäle.178 Pugačev machte seine wichtigsten Truppenführer zu bekannten Höflingen. Ivan Zarubin (alias Čika) war Graf Černyšev, Andrej Ovčinnikov Graf Panin, Maksim Šigaev Graf Voroncov und Fedor Čumakov Graf Orlov.179 Bei den Skopzen gab es nicht nur Kondratij Selivanov als Peter III. und Akulina Ivanovna als Elizaveta Petrovna. Aleksandr Šilov, der dritte Anführer, war gleichzeitig Johannes der Täufer und General Černyšev. Eine Skopzin, über die sonst nichts bekannt ist, nannte sich Fürstin Daškova.180 Sekundäre samozvancy und samozvanki beanspruchten die Autorität, den jeweiligen Herrscher / die jeweilige Herrscherin sicher zu erkennen. Außerdem vermittelten sie die Botschaft, dass sich zum Beispiel eine Fürstin Daškova, ein Graf Černyšev oder ein General Puškin selbstredend nur dort aufhalten werde, wo die echte Elizaveta Petrovna, der echte Peter III. sei. Diese hochgestellten Persönlichkeiten mit allgemein bekanntem Namen würden sich niemals einem Betrüger / einer Betrügerin zur Verfügung stellen. Auf diese Weise verliehen sie dem Anspruch des primären samozvanec / der primären samozvanka zusätzliches Gewicht und zeigten zugleich, dass es rechtens sei, den Treueeid gegenüber Katharina II. zu verletzen. Am häufigsten waren aber »Wiedererkennungen« durch Personen, die als ZufallszeugInnen bezeichnet werden können. Sie waren nicht allgemein bekannt und nicht näher mit dem jeweiligen Mitglied der Dynastie verbunden, hatten es aber zufällig einmal gesehen – oder behaupteten das zumindest. Jeder, der sich einmal in Moskau oder St. Petersburg aufgehalten hatte oder bei der Armee diente, eignete sich für diese Rolle. Solche ZeugInnen konnten bewusst platziert werden, wie es wahrscheinlich bei den verdächtig zahlreichen »Wiedererkennungen« des ersten falschen Dmitrij181 der Fall war, sofern diese überhaupt stattgefunden haben. Sie konnten sich aber auch unaufgefordert in die Performanz einbringen. In diesem Fall ist anzunehmen, dass sie sich davon Vorteile erhofften. 176 RGADA , f. 6, o. 1, d. 402, l. 9; 117. 177 RGADA , f. 6, o. 1, d. 406, l. 17 ob. 178 Mordovcev: Odin iz Lže-Konstantinov, 131. 179 Myl’nikov: Iskušenie čudom, 194 f. 180 [Nadeždin]: Issledovanie, 62. 181 Perrie: Pretenders and Popular Monarchism, 42 f.
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Lev Evdokimov, der Pope des Dorfes Novosoldatskoe, in dem Kremnev zuerst als Peter III. auftrat, bezeugte aus eigenem Antrieb, Kremnev sei der echte Kaiser und er wisse das ganz genau, weil er ihn schon als Kind gekannt und auf dem Arm getragen habe.182 Diese Geschichte war mehr als unrealistisch. Der echte Peter III. war erst mit 14 Jahren nach Russland gekommen und vorher evangelisch getauft in Kiel aufgewachsen. In seiner Kindheit hätte er kaum ein Naheverhältnis zu einem orthodoxen Popen haben können. Auch wäre es erklärungsbedürftig gewesen, warum sich ein gewöhnlicher Dorfpope regelmäßig in St. Petersburg aufgehalten und auch noch Zutritt zum Hof gehabt haben sollte. Doch diese Einwände dürften jenseits des Wissenshorizonts von Kremnevs AnhängerInnen gelegen sein, sodass Evdokimovs Behauptungen für ihn sehr wertvoll waren. Nach seiner Verbannung nach Nerčinsk leistete Evdokimov dem falschen Peter III. Petr Černyšev einen ähnlichen Dienst, indem er behauptete, ihn wiederzuerkennen.183 Černyšev wurde in Nerčinsk auch von zwei anderen Verbannten bestätigt. Ivan Karpov behauptete, den Kaiser gesehen zu haben, weil er im Gefolge des georgischen Thronfolgers Georgij in Moskau gewesen sei. Kuz’ma Firsov wollte ihn in St. Petersburg in der Geheimen Kanzlei gesehen haben.184 Ob diese Begegnungen mit Peter III. grundsätzlich authentisch sind ist unklar. Die behauptete Ähnlichkeit zwischen dem Kaiser und Černyšev war eher fiktiv. Pugačev wurde immer wieder von Soldaten aufgesucht, die den echten Peter III. gesehen hatten und anboten, ihn entweder zu bestätigen oder zu enttarnen. Er hatte keine andere Wahl, als diese Prüfungen über sich ergehen zu lassen und so zu tun, als könnte er sich an seine Gäste erinnern.185 Das brachte durchaus realen Nutzen. Die Festung Osa ergab sich nur deswegen den Aufständischen, weil ein Gardesoldat im Ruhestand Pugačev als Peter III. bestätigte.186 Abgesehen von den Soldaten diente sich ihm der Kaufmann Astafij Dolgopolov aus Rževsk an. Er ließ sich eines Tages von Baschkiren in Pugačevs Hauptquartier bringen und führte Waren mit sich, die er für Geschenke von Paul Petrovič ausgab. Außerdem behauptete er, früher als Proviantmeister bei der Armee gedient und dort Peter III. gesehen zu haben. Dolgopolov hoffte, Pugačev werde ihn für seine Dienste so gut entlohnen, dass er seine Schulden begleichen könne.187
182 RGADA , f. 6, o. 1, d. 402, l. 41. 183 Maksimov: Sibir’ i katorga, 450. 184 Ebd. 185 Čistov: Russkie narodnye social’no-utopičeskie legendy, 168. 186 Usenko: Psichologija social’nogo protesta III, 43. 187 Čistov: Russkie narodnye social’no-utopičeskie legendy, 170.
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Samozvanstvo als Performanz
Weitere Mittel der Performanz
Unter dieser Überschrift sind Objekte versammelt, die eine Nähe zu der Person suggerieren sollten, deren Identität sich ein samozvanec / eine samozvanka aneignete oder zumindest zu deren angestammtem Umfeld. Sie waren im Vergleich mit carskie znaki, individuellen physischen Merkmalen und dem Verweis auf ZeugInnen weniger verbreitet, weil es vergleichsweise schwierig und / oder teuer war, sie zu beschaffen. Daher gibt es jeweils nur wenige Beispiele. Pugačev war im Untersuchungszeitraum der einzige samozvanec, der sich möglichst prächtig kleidete, um schon von weitem als Kaiser erkennbar zu sein. Allerdings versuchte er nicht, höfische Kleidung zu imitieren, sondern trug ein neues Kosakengewand aus gutem Stoff zu Lederstiefeln. Sein einziges Zugeständnis an die höfische Kleiderordnung war eine blaue Schärpe als Imitation des Andreas-Ordens.188 Der erste falsche Dmitrij besaß ein mit Diamanten und Edelsteinen besetztes Kreuz, das ihm angeblich »sein« Pate Fürst Miloslavskij zur Taufe geschenkt hatte.189 Ein (Tauf-)Kreuz zu beschaffen war grundsätzlich weder teuer, noch schwierig. Doch außer dem ersten falschen Dmitrij verfügte im Untersuchungszeitraum wohl nur Pugačev über das Geld, um ein Kreuz zu kaufen, das den Ansprüchen des Hochadels genügt hätte. Pugačev besaß ein goldenes Kreuz, das er allerdings nicht um den Hals trug, sondern an seiner Kopfbedeckung befestigt hatte.190 Die falsche Marija Pavlovna Marianna Šimanovskaja nähte ein Kreuz aus billigem Material auf den Gürtel ihres Kleides und ein zweites in Brusthöhe auf das Kleid selbst. Sie behauptete, das Kreuz an ihrem Gürtel von »ihren« Eltern, d. h. Paul I. und Marija Fedorovna, bekommen zu haben. Sowohl die Form der Objekte, als auch ihre Platzierung auf dem Kleid deuten darauf hin, dass Šimanovskaja mit den Kreuzen Orden imitieren wollte.191 Annen- und Katharinenorden standen jeder Großfürstin von Geburt an zu, den Ehefrauen der Großfürsten und Kaiser ab der Verlobung. So waren beide Orden eng mit der Dynastie verbunden, obwohl sie für besondere Verdienste an alle Adeligen verliehen werden konnten. Teure Objekte konnten durch alles ersetzt werden, was in irgendeiner Weise mit der Person zu tun hatte, deren Identität angeeignet wurde. Solche Dinge 188 Ebd., 167. 189 Smirnov (Red.): Moskovskaja chronika, 220. In Wahrheit war Bogdan Bel’skij der Pate von Dmitrij Ivanovič (Dunning: Russia’s First Civil War, 61.). Es ist nicht klar, ob sich der samozvanec beim Namen des Taufpaten irrte oder ob Konrad Bussow über dieses Detail falsch informiert war. 190 Čistov: Russkie narodnye social’no-utopičeskie legendy, 167. 191 Kubalov: Sibir’ i samozvancy, 168.
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waren für sich genommen kein Identitätsbeweis, nicht zuletzt, weil sie in einer relativ großen Stückzahl vorhanden waren. Allerdings erschufen sie um den samozvanec gewissermaßen eine Atmosphäre, die von der angeeigneten Identität durchdrungen war. Die Skopzen sammelten alle Porträtstiche und Münzen mit dem Konterfei Peters III. sowie alle gedruckten Exemplare von ihm erlassener Ukaze und Manifeste, derer sie habhaft werden konnten.192 Der falsche Alexander Pavlovič Kirill Bornjakov führte eine kurze Mitteilung mit sich, die er selbst verfasst hatte, aber angeblich von »seinem« Vater Paul I. stammte und nachweisen sollte, dass er wirklich Alexander sei.193
5.3 Erfolg und Scheitern: Autorität, Strategie und Emergenz In diesem Unterkapitel werden Autorität, Strategie und Emergenz bei samo zvanstvo analysiert. Schieffelin stellt unter dem Stichwort Autorität die Frage, warum und wodurch jemand kompetent erscheint, eine Performanz auszuführen. Er selbst arbeitete anhand des Materials, das er bei seinen Feldforschungen zusammengetragen hatte, heraus, warum die bei der Séance anwesenden Kaluli dem einen Medium die Heilung zutrauten und dem anderen nicht.194 Diese Begriffsbestimmung lässt sich auf samozvanstvo nicht übertragen, da ein samozvanec / eine samozvanka nicht beanspruchte, bestimmte Fähigkeiten zu haben. Auch jene AnhängerInnen, die wussten, dass sie es mit einem Betrüger / einer Betrügerin zu tun hatten, dachten nicht in Kategorien von vorhandenen oder fehlenden Kompetenzen. In diesem Kapitel soll Autorität daher ausgehend von der in Kapitel 5.2 getroffenen Feststellung verstanden werden, dass samozvancy und samozvanki die Autorität eines Mitglieds der Dynastie nur erlangen konnten, indem sie diese einfach ausübten, obwohl es nicht selbstverständlich war, dass jemand den Anordnungen tatsächlich Folge leistete. Daraus ergibt sich die Frage, was sie tun konnten, bzw. welche Umstände ihnen dabei halfen, dass ihnen jemand gehorchte und so ihre Autorität als Mitglied der Dynastie akzeptierte oder überhaupt erst entstehen ließ. Strategie bezieht sich darauf, wie die Mittel der Performanz eingesetzt werden, um der Form zu entsprechen und die Umsetzung der Agenda zu begünstigen. Die Strategie ist zum Teil durch die Form vorgegeben, weil diese bestimmt, welche Mittel für die jeweilige Performanz in Frage kommen. Zugleich steht der Begriff dafür, dass in einer Performanz mitunter etwas geschieht, was nicht unmittelbar aus der Form ableitbar ist.195 192 [Nadeždin]: Issledovanie, 73. 193 RGADA , f. 6, o. 1, d. 553, l. 1 ob. 194 Schieffelin: On Failure and Performance, 80. 195 Ebd., 66.
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Emergenz schließlich ist laut Schieffelin der Effekt der Performanz – das, was durch sie (by virtue of ) geschieht. Wenn die Beteiligten die durch die Kombination von Form, Mitteln und Strategie geschaffene Realität akzeptieren, kommt es zu Emergenz und die Performanz ist erfolgreich. Akzeptieren sie die neue Realität nicht, bleibt Emergenz aus und die Performanz scheitert.196 Der Begriff Emergenz weist eine große Nähe zu refusion im Sinn des Soziologen Jeffrey Alexander auf. Alexander geht davon aus, dass jede Performanz aus einer Vielzahl einzelner Komponenten zusammengesetzt ist. Damit das Publikum die aus diesen Komponenten erschaffene Realität glaubt, dürfen sie nicht als Einzelteile erkennbar sein, sondern müssen wie ein organisches Ganzes wirken. Kurz gesagt, eine Performanz darf nicht als Performanz erkennbar sein, um erfolgreich zu sein.197 Refusion steht für den Prozess des nahtlosen Zusammenfügens und ist daher als Vorstufe von Emergenz zu betrachten. Das Gegenteil ist defusion. Der Begriff bedeutet, dass die einzelnen Komponenten der Performanz als solche erkennbar bleiben und ihre Zusammenfügung künstlich wirkt. In »Krieg und Frieden« erlebt Nataša bei ihrem ersten Opernbesuch defusion, weil sie nur arrangierte Kartonstücke und seltsam herumhüpfende Menschen auf einem Bretterboden sieht, die sich für sie nicht zu einer Handlung zusammenfügen.198 Ob es zu refusion und im Weiteren zu Emergenz kommt, hängt nicht allein von der Ausführung der Performanz ab. Nataša sieht die Kartonstücke und herumhüpfenden Menschen nicht, weil die Aufführung miserabel gewesen wäre – tatsächlich fehlt ein auktorialer oder personaler Kommentar zu deren Qualität – sondern weil sich Anatol’ Kuragin just an diesem Abend angeschickt hat, ihr den Kopf zu verdrehen. Dadurch ist sie nicht in der Lage, als Zuseherin ihren Teil zum Gelingen der Vorstellung beizutragen. Auch bei samozvanstvo spielten vergleichbare äußere Einflüsse eine Rolle. Sie sollen so weit wie möglich in die Analyse einbezogen werden, doch es versteht sich von selbst, dass das von der Quellenlage her schwieriger ist als bei der Protagonistin eines Romans mit auktorialer Erzählperspektive. Von äußeren Einflüssen abgesehen ist das Entstehen oder Ausbleiben von Emergenz eine Folge der Entscheidung, welche Bestandteile des Archivs im Repertoire einer Performanz verwendet werden. Wie in Kapitel 2.3 ausgeführt, definiert Diana Taylor das Archiv als Gesamtheit der Kultur in einem bestimmten Land und in einer bestimmten Epoche. Es bildet eine Basis für die 196 Ebd., 64. 197 Alexander: Cultural Pragmatics, 32. 198 In der Literaturwissenschaft gilt Natašas erster Opernbesuch als Paradebeispiel für das Verfahren der Verfremdung (otstranenie). Das ist kein Widerspruch, denn Tolstoj vermittelt über die Verfremdung, dass die Performanz aus der subjektiven Perspektive der Protagonistin scheitert.
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wechselseitige Verständigung der Beteiligten, weil seine Inhalte zumindest theoretisch für alle Menschen gleich und gleich zugänglich sind. Die Form einer Performanz steht zwischen Archiv und Repertoire, weil mit ihrer Festlegung eine erste Auswahl aus der Gesamtheit des Archivs getroffen wird. Dadurch werden die Anforderungen an die Beteiligten geringer, sodass diese das Geschehen einfacher durchdringen können. Nicht umsonst versteht Schieffelin die Form einer Performanz als Orientierungshilfe.199 Aber selbst dann bleiben die Auswahlmöglichkeiten vielfältig und sind zudem keinen Regeln unterworfen. Es gab also keine Garantie, dass die Mittel und Strategien, auf die ein samozvanec / eine samozvanka zurückgriff, zu den Erwartungen, Ansichten, etc. der potenziellen AnhängerInnen passten, obwohl beide Seiten von derselben Form ausgingen. Ergab sich hier eine Diskrepanz, blieb Emergenz aus. Alle drei in diesem Kapitel behandelten Begriffe führen auf die Frage nach den Faktoren für Erfolg oder Scheitern eines samozvanec / einer samozvanka. Wie schon bei den Mitteln der Performanz ist es kaum möglich, über samo zvanstvo zu schreiben, ohne das eine oder andere Beispiel anzuführen, das diese Frage berührt und vielleicht eine Bemerkung zu machen. In Hinblick auf den ersten falschen Dmitrij und Pugačev ist das Interesse daran sogar recht groß.200 Es hat aber noch niemand versucht, Gemeinsamkeiten zwischen Einzelbeispielen festzustellen und eine Erklärung dafür zu finden. Autorität, Strategie und Emergenz sind eng miteinander verflochten und bei der Analyse kaum sauber zu trennen. Gelingt es samozvancy und samo zvanki nicht, die Autorität eines Mitglieds der Dynastie auszuüben, scheitern sie. Wählen sie die falsche Strategie, scheitern sie ebenfalls. Zudem kann ein Faktor, der unter bestimmten Umständen zum Erfolg einer Performanz beiträgt, sie unter anderen Voraussetzungen zum Scheitern bringen. Dieses Kapitel gliedert sich daher in vier nicht aufeinander aufbauende Abschnitte. Zwei von ihnen beziehen sich auf einen Faktor, der sowohl zum Erfolg, als auch zum Scheitern der Performanz beitragen kann (Erwartungshaltungen, soziale Beziehungen), die anderen zwei auf einen Faktor, der jeweils nur auf Erfolg (Vorstellungen von Sakralität) oder Scheitern (harte Fakten) führt. Zuletzt ist noch zu klären, was Erfolg in Zusammenhang mit samozvanstvo bedeutet. Dem üblichen Verständnis nach wäre ein samozvanec / eine samo zvanka erfolgreich, falls er / sie die Performanz so lange aufrechterhalten konnte wie er / sie wollte. Dann wäre es allerdings nicht möglich, ein Kapitel über Erfolg und Scheitern zu schreiben, weil kein Material vorhanden wäre. Im Untersuchungszeitraum könnte nur der erste falsche Dmitrij als erfolgreich 199 Schieffelin: On Failure and Performance, 65. 200 Für den ersten falschen Dmitrij siehe Uspenskij: Car’ i samozvanec, 161–165; für Pugačev Čistov: Russkie narodnye social’no-utopičeskie legendy, 172–174.
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gelten. Ihm gelang es, den Thron zu besteigen und er wurde nicht gestürzt, weil er ein samozvanec war, sondern weil er sich in seiner kurzen Regierungszeit zu viele Feinde gemacht hatte. Die übrigen bekannten samozvancy und samozvanki scheiterten in diesem Sinn. Ein paar samozvancy gelang es, unterzutauchen, ehe die Behörden ihrer habhaft werden konnten. Damit retteten sie zwar ihr Leben, mussten aber davon Abschied nehmen, ihre Agenda umzusetzen, sodass es auch bei ihnen angemessener ist, von Scheitern zu sprechen. Erfolg soll stattdessen bedeuten, dass ein samozvanec / eine samozvanka nicht sofort verhaftet wurde, wenn er / sie den Anspruch erhob, ein Mitglied der Dynastie zu sein, sondern mindestens einen Anhänger / eine Anhängerin gewinnen konnte.201 Dieses Kriterium erfüllen die meisten. Ein solcher Erfolg war zugegebenermaßen äußerst begrenzt, nichtsdestoweniger kam es zumindest ein Mal zu refusion und Emergenz, sodass die Frage nach den Gründen dafür gestellt werden kann. Erfüllte und unerfüllte Erwartungen
Ein samozvanec / eine samozvanka stellte ebenso Erwartungen an potenzielle AnhängerInnen, wie umgekehrt potenzielle AnhängerInnen Erwartungen an ein vermeintliches Mitglied der Dynastie stellten. Wurden sie erfüllt, kam es zu Emergenz. Wurden sie nicht erfüllt, stellte sich auf Seite der AnhängerInnen defusion ein und jemand entschied sich zur Anzeige. Der falsche Aleksej Petrovič Andrej Cholščevnikov stellte zu hohe Erwartungen an die Bereitschaft der Bevölkerung von Arzamas, ihn als carevič zu akzeptieren und setzte sich dadurch einem unverhältnismäßigen Risiko aus, verhaftet zu werden. Er plante 1730, in die Stadt einzuziehen. Dabei wollte er von dem Voevoden und der Bevölkerung mit allen Ehren empfangen werden und schickte einen Boten mit entsprechenden Anweisungen voraus. Er tat und erwartete zweifellos etwas, was ein echter Sohn Peters I. in ähnlicher Form erwartet und getan hätte. Jedoch war es von Cholščevnikov kurzsichtig, davon auszugehen, dass er damit durchkommen würde. Er hätte schon sehr viel Glück haben müssen, um in Arzamas einen Voevoden vorzufinden, der aus irgendeinem Grund gegen die Kaiserin so aufgebracht gewesen wäre, um einen falschen Großfürsten gewähren zu lassen. Stattdessen kam es, wie es kommen musste: Der Voevode ging zum Schein auf den Befehl ein und schickte eine Abteilung Soldaten aus, um Chol’ščevnikov nach Arzamas zu eskortieren. 201 Mindestens einen Anhänger / eine Anhängerin zu gewinnen ist bei Oleg Usenko das Kriterium, um von samozvanščina zu sprechen (Usenko: Monarchičeskoe samozvančestvo, 302.). Ich übertrage es hier auf die Frage nach Erfolg und Scheitern, die bei Usenko implizit mitschwingt, aber keine gesonderte Rolle spielt.
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Sobald sie in der Stadt angekommen waren, verhafteten ihn die Soldaten entsprechend den Instruktionen, die ihnen der Voevode zuvor gegeben hatte.202 Expliziten Aufforderungen von AnhängerInnen konnte ein samozvanec / eine samozvanka relativ einfach nachkommen, darum stellten sie für den Erfolg der Performanz eine eher geringe Bedrohung dar. Bald nachdem Stepan Oboljaev Pugačevs carskie znaki »entdeckt« hatte (siehe Kapitel 5.2), diskutierten mehrere Kosaken die Echtheit von Peter III. Denis Karavaev sagte zu Pugačev, falls er der Kaiser sei, müsse er Zeichen am Körper haben. Pugačev ging prompt darauf ein und öffnete sein Hemd über der Brust, damit alle die »Zeichen« sehen konnten.203 Den Kosaken war wohl nicht anders als Pugačev selbst und Oboljaev bewusst, dass das mitnichten besondere »Zeichen« waren, sondern die Spuren einer überstandenen Krankheit. Allerdings lag es in ihrem Interesse, dass der in ihrer Mitte aufgetauchte »Kaiser« echt war, während es umgekehrt in Pugačevs Interesse lag, als Peter III. akzeptiert zu werden. Nur unter diesen Voraussetzungen konnten beide Seiten ihre Agenden, die jeweils mit der persona Peter III. verbunden waren, umsetzen. Deswegen fanden sie einen ähnlichen Kompromiss wie zuvor Pugačev und Oboljaev: Zuerst meldete Karavaev (berechtigte) Zweifel an der Echtheit des Kaisers an, dann aber goutierten er und die übrigen Anwesenden nicht so sehr die Beschaffenheit der Zeichen als Pugačevs Bereitschaft, der Form Genüge zu tun. Auf diese Weise erhielt er seine Performanz als Peter III. aufrecht und abhängig davon blieb die Chance gewahrt, dass die Kosaken ihre Agenda umgesetzt sehen würden. Für die Belange der Kosaken war das viel sinnvoller als zu hohe Ansprüche an die Erfüllung der Form zu stellen. Implizite Erwartungen potenzieller AnhängerInnen waren schwieriger zu erfassen und wirkten sich daher tendenziell zu Ungunsten des samozvanec / der samozvanka aus. Sie ergaben sich etwa aus Vorstellungen, wie ein Adeliger und noch konkreter ein Mitglied der Dynastie aussehe, sich verhalte und kleide, welchen moralischen Ansprüchen es gerecht werde. Viele Zeitgenossen waren der Ansicht, ein Adeliger, der nicht so sei, wie sie sich ihn vorstellten, könne auf keinen Fall echt sein. Ausgehend von den fiktiven Selbstzeugnissen der samozvancy voller Entbehrungen und materieller Not (siehe Kapitel 5.2) wäre ein zerlumpter, abgemagerter Herrscher wesentlich glaubwürdiger gewesen als einer, der geschniegelt und gestriegelt inmitten seiner Untertanen aufgetaucht wäre. Doch die Zeitgenossen erwarteten eine Übereinstimmung zwischen dem äußeren Erscheinungsbild und der inneren Verfasstheit, wie sie sich diese vorstellten. Eine Diskrepanz ließ hingegen zu viel Raum für Zweifel. Das schadete dem falschen Aleksej Petrovič Andrej Krekšin, der 1712 auftrat. Sein zunächst sehr eifriger Anhänger Emel’jan begann an ihm zu zwei202 RGADA , f. 6, o. 1, d. 186, l. 1–1 ob. 203 Ovčinnikov (Red.): Pugačev na sledstvii, 161 f.
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feln, weil er schlecht gekleidet war. Er besaß nur geflochtene Bastschuhe (lapti) und hüllte sich in einen Hammelpelz, der offenbar schon bessere Tage gesehen hatte.204 Emel’jan bemerkte gegenüber Krekšin, wäre er der Großfürst, hätte er gute Kleidung.205 Anisim Zavel’ev, der Krekšin für eine Nacht ein Quartier gegeben hatte, kam zu dem Schluss, er könne nicht der echte Aleksej sein, weil sein gesamtes Auftreten nicht zu einem Adeligen passe (i person ego nimalo nepriličen znatnoj).206 Das gleiche Argument führte Christian Kahlow gegen den falschen Peter III. Nikolaj Kretov ins Feld. Um den Kaufmann Sagajdašnikov zu überzeugen, dass sie es mit einem Betrüger zu tun hatten, erzählte er ihm von dem falschen Peter III. Bogomolov. Außerdem sagte er, er habe den echten Kaiser in St. Petersburg gesehen und wisse, dass Kretov ihm nicht ähnle. Kahlows letztes – und daher aus seiner Sicht wohl gewichtigstes – Argument, warum Kretov nicht Peter III. sein könne, lautete aber, dass dieser kein anständiger Mensch sei (da i postupki de ego nechoroši).207 Für Kahlow besaßen die Erwartungen an die moralische Integrität eines Kaisers offenbar größeres Gewicht als die harten Fakten, die er Sagajdašnikov zuvor präsentiert hatte. Kirill Bornjakov, der sich 1797 für Großfürst Alexander Pavlovič, den zukünftigen Alexander I., ausgab, ordnete an, den gewählten Amtsträger (vybornyj)208 des Dorfes auspeitschen zu lassen, in dem er seine Pferde wechselte.209 Damit wollte er zeigen, dass er die richterliche Gewalt besitze und ihm daran gelegen sei, für Gerechtigkeit zu sorgen. Doch genau dieser Schritt ließ ihn auffliegen. Der Untersuchungsakt liefert weder Anhaltspunkte für einen Konflikt zwischen dem vybornyj und den Einheimischen, noch darauf, dass er Bornjakovs Anordnungen in irgendeiner Weise zuwidergehandelt hätte. Selbst als Bornjakov zehn Rubel von ihm verlangte, händigte er das Geld anstandslos aus. So gab es weder einen Anlass für die angeordnete Auspeitschung, noch jemanden, der dem vybornyj eine ungerechtfertigte Strafe gegönnt hätte. Die Einheimischen fassten Bornjakovs Anordnung deswegen als Willkürakt auf, und Willkür widersprach ihrem Herrscherbild. Obwohl der falsche Großfürst den vybornyj begnadigte, bevor das Urteil vollstreckt wurde, hatte er sich bereits so verdächtig gemacht, dass er bald darauf verhaftet wurde.
204 RGADA , f. 371, o. 1/č. 1, d. 788, l. 65. 205 Ebd., l. 18 ob. 206 Ebd., l. 64 ob. 207 RGADA , f. 6, o. 1, d. 535, l. 21 ob. 208 Den vybornye wurden unterschiedliche Aufgaben übertragen, welche die öffentliche Ordnung und Sicherheit aufrechterhalten sollten (Kollmann: Crime and Punishment, 66.). 209 RGADA , f. 6, o. 1, d. 553, l. 1 ob.
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Genutzte und gestörte soziale Beziehungen
AnhängerInnen zu gewinnen gestaltete sich für samozvancy und samozvanki einfacher, wenn sie nicht nur auf die Überzeugungskraft ihrer Performanz setzten, sondern auch die an ihrem Aufenthaltsort bestehenden horizontalen wie vertikalen sozialen Beziehungen für sie arbeiteten. In diesem Fall konnte sich ein regelrechtes Schneeballsystem zur Anwerbung von AnhängerInnen entwickeln. Von einem solchen profitierten der falsche Aleksej Petrovič Timofej Truženik und sein Komplize, der falsche Peter Petrovič Larion Starodubcev, sowie der falsche Peter III. Petr Černyšev. Truženik und Starodubcev bemühten sich selbst aktiv darum, Unterstützung zu gewinnen. Starodubcev scheint sich gegenüber allen als Großfürst offenbart zu haben, die sich zu dem aufgegebenen Weideland (jurt) verirrten, auf dem er sich mit seiner Familie niedergelassen hatte.210 Mehr Anhänger – Frauen spielten bei diesem Fall von samozvanstvo nur eine marginale Rolle – gewann er aber zweifellos dadurch, dass seine neu rekrutierten Gefolgsleute ihren Bekannten von ihm erzählten und sie zum Teil explizit aufforderten, sich ihm anzuschließen. Ein solcher Viervielfältiger war der Bauernsohn Efrem Chudjakov. Er selbst schloss sich Starodubcev an, weil ihn ein Arbeiter (burlak) dazu aufgefordert hatte. Danach verteilte Chudjakov Starodubcevs Aufrufe und brachte den Bauernsohn Gerasim Polubojarov sowie die entflohenen Leibeigenen Ignat Makrušin und Ivan Skopin dazu, zu dem samozvanec zu gehen.211 Später warb er noch den Kosakensohn Foka Chochlačev an.212 Jeder dieser Männer erzählte wiederum anderen von Starodubcev. Bei Černyšev gestaltete sich die Ausgangslage anders. Er wurde zur Zwangsarbeit in Nerčinsk verurteilt, weil er sich im Dezember 1765 für Peter III. ausgegeben hatte (siehe Kapitel 4.2). Tagsüber arbeitete er in der DučarFabrik (Dučarskij zavod), in der Nacht war er als Sondergefangener (sekretnyj arestant) in einem eigenen Gebäude in einer Einzelzelle untergebracht. Die verschärften Haftbedingungen weckten das Interesse der übrigen Gefangen, der freien Arbeiter und der Einheimischen, die in der Fabrik zu tun hatten. Auf Nachfrage gab sich Černyšev weiterhin bzw. wieder für Peter III. aus, weil er sich davon Vorteile wie Almosen und Hilfe bei einer möglichen Flucht erhoffte. Bald wurde auch der gewesene Pope Lev Evdokimov auf ihn aufmerksam, welcher der wichtigste Anhänger des falschen Peter III. Gavrila Kremnev gewesen und deswegen ebenfalls nach Nerčinsk geschickt worden war (siehe unten). Er machte es zu seiner Aufgabe, möglichst vielen Leuten in der Fabrik 210 RGADA , f. 7, o. 1, d. 187, l. 8 ob.–9 ob. 211 Ebd., l. 21–21 ob. 212 Ebd., l. 26 ob.
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zu erzählen, dass Černyšev niemand anderer als Peter III. sei. Ausgehend von Evdokimov bildete sich rund um Černyšev ein Netzwerk aus Unterstützern, das bald über die Fabrik hinausreichte und wie bei Starodubcev auch aus Personen bestand, die ihm noch nicht persönlich begegnet waren, sondern sich von den Versicherungen ihrer Freunde und Bekannten überzeugen ließen.213 Wenn samozvancy und samozvanki AnhängerInnen über bestehende soziale Beziehungen gewannen, wirkten sich zwei Mechanismen zu ihren Gunsten aus. Hörte jemand, am Ort X sei jemand, der dieses oder jenes von sich behaupte, dieses oder jenes mache, dieses oder jenes Kennzeichen aufweise, der die Information (noch) nicht durch eigene Erfahrungen einordnen konnte, beeinflussten Faktoren seine Einschätzung, die auch alle anderen Gerüchte glaubwürdig oder unglaubwürdig erscheinen lassen: Von Bekannten Erzähltes wird eher geglaubt als von Fremden Erzähltes, und eine Information wirkt umso glaubwürdiger, je öfter sie jemand von unterschiedlichen Personen erhält.214 Je mehr Leute zu Starodubcev kamen, desto mehr konnten hinterher von dem vermeintlichen carevič in den jurty erzählen. Alleine durch die wachsende Anzahl solcher Berichte hörte es sich wahrscheinlicher an, dass sich dort tatsächlich ein Sohn Peters I. aufhielt. Je mehr Arbeiter und Gefangene in der Fabrik hörten, dass Černyšev kein gewöhnlicher Mensch sei, desto mehr klang das wie ein Faktum. Zweitens akzeptierte jemand die angeeignete Identität nicht aufgrund der Performanz des samozvanec / der samozvanka, sondern aufgrund des durch eine langjährige Bekanntschaft, womöglich Freundschaft aufgebaute Grundvertrauen zwischen den GesprächspartnerInnen. Weil potenzielle Anhänger Innen den MittlerInnen des Gerüchts vertrauten, vertrauten sie auch dem Inhalt der Nachricht und damit dem samozvanec / der samozvanka. Das wechselseitige Vertrauen durch persönliche Bekanntschaft war nicht Bestandteil der Performanz, weil solche Gespräche ohne den Auftrag und ohne das Wissen des samozvanec / der samozvanka stattfinden konnten. Starodubcev dürfte derlei kaum oder gar nicht gefördert haben. Černyšev allerdings verlangte von seinen Anhängern explizit, sie sollten bekannt machen, dass er Peter III. sei.215 In beiden Fällen bewirkte das Schneeballsystem, dass Menschen den jeweiligen samozvanec aufsuchten, die schon dahingehend voreingenommen waren, ihn für echt zu halten. Bei Starodubcevs Anhängern ist zusätzlich eine gewisse Denkfaulheit zu beobachten. Dem staršina Vasilij Trofimov genügte die bloße Information, in den jurty sei ein carevič, um hinzugehen und sich in das Register von Starodubcevs
213 Maksimov: Sibir’ i katorga, 450 f. 214 Taylor Buckner: A Theory of Rumor Transmission, 60. 215 Maksimov: Sibir’ i katorga, 451.
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Gefolgsleuten eintragen zu lassen216 – wie nach dem Motto, wenn alle das machen, wird es damit schon etwas auf sich haben. Kritischere Geister hakten zumindest noch einmal nach. Ignat Sedov wollte von Ivan Popov wissen, ob Starodubcev denn echt sei. Popov antwortete, es scheine so (kažetca).217 Diese Antwort ist nicht gerade überzeugend zu nennen, nichtsdestoweniger gab sich Sedov damit zufrieden und akzeptierte Starodubcev als Peter Petrovič. Bislang war von horizontalen sozialen Beziehungen die Rede, doch auch die vertikalen Beziehungen konnten den samozvancy und samozvanki zuarbeiten. Sobald sie die dörflichen Autoritätspersonen wie den Popen, die jeweiligen gewählten Amtsträger (vybornye) und Hundertschaftsführer (sotniki) auf ihrer Seite hatten, waren die übrigen BewohnerInnen relativ einfach dazu zu bringen, sich ihrem Willen zu unterwerfen. Ähnlich autoritativ konnte auch die Auskunft einer Hexe oder eines Zauberers wirken, obwohl diese eher eine Außenseiterposition innehatten. Der falsche Peter III. Gavrila Kremnev hatte 1765 das große Glück, dass der Pope Lev Evdokimov ihn nicht nur als Kaiser akzeptierte, sondern auch nach Kräften unterstützte. Auch Evdokimovs Frau und deren Bekannte Ukolova wirkten als Multiplikatorinnen. Ohne Evdokimovs Vermittlung wären die Geistlichen in den umliegenden Dörfern nicht so leicht dazu zu bewegen gewesen, Kremnev feierlich zu empfangen und den Einheimischen den Treueeid auf ihn abzunehmen. Auch die vybornye wie Stepan Černoj in Oskino218 fügten sich den Anordnungen des Popen. Zu ihren Aufgaben gehörte es unter anderem, dafür zu sorgen, dass sich alle BewohnerInnen des jeweiligen Dorfes einfanden, um den Treueeid auf Kremnev als Peter III. zu leisten. Auf diese Weise musste Kremnev selbst gar nicht viel tun, damit ihm die BewohnerInnen von fünf Dörfern die Treue schworen. Allerdings waren die wenigsten seiner neu vereidigten Untertanen von sich aus zu ihm gekommen und wussten, was da eigentlich vor sich ging. Die meisten küssten nur seine Hand und schworen ihm die Treue, weil sie den Befehl dazu erhalten hatten. So sammelte Kremnev zwar eine respektable Zahl von AnhängerInnen, doch diese waren nur sehr lose an ihn gebunden und wären im Ernstfall eher nicht für ihn eingestanden.219 Truženiks Beispiel zeigt, dass auch ein Zauberer als Autoritätsperson in Frage kam. Er rechnete offenbar von vornherein damit, dass seine Beteuerungen alleine nicht ausreichen würden, um als Aleksej Petrovič akzeptiert zu 216 217 218 219
RGADA , f. 6, o. 1, d. 187, l. 67 ob. Ebd., l. 78. RGADA , f. 6, o. 1, d. 406, l. 14. Kremnev wurde nicht in einem der fünf Dörfer verhaftet, sondern auf dem Weg nach Voronež, wo er sich zum Kaiser ausrufen wollte. Die Treue seiner neuen Untertanen stand also nie auf dem Prüfstand.
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werden. Er schlug vor, einen Zauberer (znajuščij, wörtl. ›Wissender‹) zu befragen, der mit Wasser wahrsagen (v vodu smotret’) könne.220 Dieser Schachzug ist bemerkenswert, weil ihm ein unkalkulierbares Risiko innewohnte. Was immer der Zauberer im Wasser sah, hatte Gewicht. Gab er eine Auskunft in Truženiks Sinn, war das ein schwerwiegendes Argument zugunsten des sa mozvanec. Aber nicht minder gravierend wäre es gewesen, hätte er das Gegenteil gemacht und Truženik entlarvt. Naheliegend wäre die Annahme, dass Truženik mit dem Zauberer unter einer Decke steckte, doch der Akt gibt keine Hinweise auf eine derartige Absprache, und es ist schwer vorstellbar, wie er derlei bewerkstelligen hätte sollen. Truženik befragte nämlich nicht nur einen Zauberer, sondern gleich vier, was den konspirativen Aufwand ziemlich groß gemacht hätte: Martin Solodilov, Išejka (Nachname unbekannt), Ivan Čirka und Evsej (Nachname unbekannt). Der Tatare Išejka dürfte ausschließlich von der Zauberei gelebt haben, während die übrigen drei Bauern waren, die auf Nachfrage auch ein paar Zaubersprüche beherrschten. Alle vier spielten mit und sagten genau das, was Truženik hören wollte. Offenbar hielten sie es für günstiger, ihn in allem zu bestärken – was er hören wollte, war aus der Formulierung seiner Fragen ersichtlich – als ihre »Kräfte« dadurch zu demonstrieren, dass sie ihn als Betrüger entlarvten. Das hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass ihr Geschäftsmodell auch sonst darin bestand, ein großes Brimborium zu veranstalten, um am Ende genau das zu sagen, was die Ratsuchenden von Anfang an hatten hören wollen. Išejka gab im Verhör unumwunden zu, er kenne keinerlei Zaubersprüche, er betrüge einfach die Weiber, die zu ihm kämen.221 Diese Aussage ist als Verteidigungsstrategie zu verstehen. Da die Zeitgenossen an die reale Existenz von Magie, Hexen und Zauberern glaubten, hätte sich Išejka enorme Schwierigkeiten eingehandelt, wäre er in den Verdacht geraten, (Schwarze) Magie zu praktizieren. Er war bei weitem nicht der einzige Zauberer, der bei Kontakt mit den Behörden bestritt, irgendetwas über Magie zu wissen. Nichtsdestoweniger erweckt die Passage den Eindruck, als habe sich Išejka nicht nur als Betrüger dargestellt, um seine Haut zu retten, sondern als sei ihm ohnehin klar gewesen, dass er nur faule Zauber anbot und als habe er damit ungewollt tief in seine Geschäftspraktiken blicken lassen. Interessant ist, dass Truženik bzw. seinen Anhängern ein Zauberer nicht genügte, sondern sie so lange immer neue Bestätigungen des Gehörten suchten, bis sie alle in der Umgebung ansässigen Zauberer befragt hatten. Es scheint, dass Truženik und seine Anhänger zwar grundsätzlich an Magie und an mächtige Zauberer glaubten, den konkreten vier Zauberern jedoch nicht allzu viel Vertrauen entgegenbrachten. 220 RGADA , f. 6, o. 1, d. 187, l. 5 ob. 221 Ebd., l. 85 ob.
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Die bestehenden sozialen Beziehungen in einem Dorf konnten aber auch gegen samozvancy und samozvanki arbeiten. Wenn sie diese zu sehr störten oder das Gefüge zu stark zu verändern drohten, mussten sie mit einer raschen Anzeige rechnen. Avdot’ja Zavarzina bezeichnete sich im Herbst 1768 gegenüber ihrer Schwiegermutter Domna als Souveränin, weil diese sie schlecht behandelte und immer wieder verprügelte. Da die beiden Frauen einander seit Jahren kannten und in einem gemeinsamen Haushalt lebten,222 schenkte Domna diesen Behauptungen keine Aufmerksamkeit. Als Avdot’ja jedoch auch in der Nähe einquartierten Soldaten (und damit Fremden in aller Öffentlichkeit) erzählte, sie sei die Souveränin, zeigte Domna ihre Schwiegertochter an.223 Zuerst dürfte Domna versucht haben, unnötiges Aufsehen zu vermeiden und geglaubt haben, ihrer Schwiegertochter würden die Flausen schon wieder vergehen. Dann aber trug Avdot’ja den familieninternen Konflikt nach außen und brachte so den gesamten Haushalt in Gefahr. Hätte ein Außenstehender Anzeige erstattet, wäre Domna sofort in den Verdacht geraten, Avdot’jas Komplizin zu sein. Indem Domna selbst zu den Behörden ging, baute sie einem solchen Szenario samt allen Konsequenzen vor. Wie bereits in Kapitel 5.1 geschildert, hatte der falsche Paul Petrovič Nikolaj Sorokin (alias Šljapnikov) 1782 eine Affäre mit der Kosakin Irina, deren Mann aus einem unbekannten Grund abwesend war. Das Verhältnis erregte durchaus die Missbilligung der übrigen DorfbewohnerInnen, doch diese verhielten sich zunächst passiv. Sie unternahmen weder etwas gegen Sorokin als Ursache von Ehebruch, noch gegen ihn als samozvanec. Auch wenn sie offenbar nicht bereit waren, ihn zu unterstützen, dürften sie an seinem Verhalten auch nicht so viel Anstoß genommen haben, um ihn an die Behörden auszuliefern, wie sie es eigentlich hätten tun müssen. Das änderte sich erst, als Sorokin Irina dazu überreden konnte, mit ihm an die Volga zu fliehen und sich das Paar tatsächlich auf den Weg machte.224 An diesem Punkt überschritten sie eine rote Linie, wenngleich nicht klar ist, welche genau. Bestand das Problem darin, dass hier eine Frau ihr Schicksal selbst in die Hand nahm oder darin, dass Sorokin mit Irina nicht nur eine Affäre hatte, sondern sie dauerhaft aus ihrem Dorf wegbringen wollte? Oder ging es darum, dass Sorokin und Irina durch ihre Flucht das gesamte Dorf in Schwierigkeiten brachten? Jedenfalls war Sorokin als samozvanec anzuzeigen die wirkungsvollste Methode, um Irina wieder zurückzubringen und die ursprünglichen Verhältnisse wiederherzustellen. 222 Domnas Sohn und Avdot’jas Ehemann Vasilij hatte die Familie aus unbekannten Gründen Jahre zuvor verlassen. 223 RGADA , f. 349, o. 1/č. 1, d. 7113, l. 1–1 ob. 224 RGADA , f. 6, o. 1, d. 542, l. 114 ob.
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Ähnlich war die Situation bei dem falschen Peter III. Dmitrij Popovič. Wie in Kapitel 5.1 geschildert, fand er nach der Entlassung aus der Zwangsarbeit im Herbst 1782 in der stanica Alekseevka am Don Unterschlupf. Während des Winters verbreitete sich im Dorf allmählich die Kunde, dass er sich Peter III. nenne und der jungen Kosakin Ul’jana Urazovskaja eingeredet habe, sie sei seine Tochter, d. h., eine Zarentochter.225 Zunächst ging für Popovič alles gut, weil er sich außerhalb des kleinen Kreises von AnhängerInnen, der ihm sein Winterquartier sicherte, unauffällig verhielt. Je mehr Zeit verging, desto stärker stieg allerdings Ul’jana ihr neuer Status als Zarentochter in den Kopf. Sie gab damit an und redete zu viel über Dinge, die ihr und anderen zum Verhängnis werden konnten. Beispielsweise kündigte sie einen unmittelbar bevorstehenden Besuch ihrer »Mutter« Katharina II. an.226 Diese Prahlerei war verantwortlich dafür, dass Popovič angezeigt wurde. Was Popovič tat, betrachteten die meisten Einheimischen wohl als seine Sache, solange er nicht zu viel Aufsehen erregte. Ul’janas Verhalten aber störte zum einen die sozialen Beziehungen, in die sie als Einheimische eingebettet war, zum anderen verhielt sie sich wesentlich unvorsichtiger als ihr vermeintlicher Vater. Mit ihrem Gerede brachte sie das ganze Dorf in Gefahr, darum musste Popovič als Ursache des Ärgers und Fremder weg. Sakrale Herrscher
Mehrere samozvancy gaben sich nicht nur für ein Mitglied der Dynastie aus, sondern erhoben zusätzlich den Anspruch, ein Heiler, Prophet / Wahrsager oder Zauberer zu sein, bzw. konnte jemand nur deswegen für ein Mitglied der Dynastie gehalten werden, weil er eine dieser Tätigkeiten ausübte. 1690 wurde in Vjaz’ma ein Landstreicher namens Ivan Vasil’ev verhaftet, weil er behauptete, Ivan Ivanovič (der Sohn Ivans IV.) zu sein.227 Er wurde von einer relativ großen Schar AnhängerInnen begleitet, die ihn in erster Linie deswegen achteten, weil er als Prophet auftrat. Selbst bei den Verhören blieben seine Aussagen nebulös und bedeutungsschwer.228 Der falsche Peter III. Anton Aslanbekov war ursprünglich Händler, musste aber vor seinen Gläubigern fliehen und lebte im letzten Jahr vor seiner Verhaf-
225 226 227 228
RGADA , f. 7, o. 2, d. 2455, l. 23; 24.
Ebd., l. 32; 33. Zu ihm siehe Zenbickij: Sumasšedšij samozvanec. Pančenko: Christovščina i skopčestvo, 122 f. Vasil’evs unzusammenhängende Reden waren der Grund, warum ein dreiköpfiges Ärztekonsilium einberufen wurde, um seinen Geisteszustand zu prüfen. Es erklärte ihn einstimmig für wahnsinnig (Zenbickij: Sumasšedšij samozvanec, 155 f.).
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tung von seiner Tätigkeit als lekar’.229 Er benutzte Heilkräuter mithilfe eines medizinischen Almanachs (lečebnik) in seiner Muttersprache Armenisch,230 ließ seine PatientInnen zur Ader231 und verteilte Arzneien, die er fertig in den Städten kaufte.232 Wegen seiner Heiltätigkeit achteten die Einheimischen Aslanbekov so sehr, dass sie ihm nur deswegen zur Flucht verhalfen, als er nach seiner Verhaftung von Belgorod nach Moskau überstellt werden sollte.233 Nicht zuletzt waren es Aslanbekovs Behandlungserfolge, welche die Menschen auf den Gedanken brachten, er sei Peter III.234 Der falsche Peter III. Iov Mosjakin ging extrem geschickt dabei vor, wie er sich als Kaiser in Szene setzte. Er war ein Zauberer (koldun), der Kranke mit besprochenem Wasser behandelte. Als er im Sommer 1774 zu einem kranken Buben gerufen wurde, übernachtete er auf dem Rückweg im Haus eines gewissen Ievlev. Der Pope des Dorfes kam und bat Mosjakin, seine Frau zu behandeln. So wussten die Ievlevs, dass sie es mit einem Heilkundigen zu tun hatten. Nach der Rückkehr vom Popen sprach Mosjakin für alle Mitglieder von Ievlevs Haushalt deutlich vernehmbar seine Gebete vor einer Ikone; dadurch bekundete er, dass nicht der Teufel den Erfolg seiner Behandlungen gewährleiste, sondern Gott.235 Beim anschließenden Abendessen ließ er die Anwesenden wissen, dass er Peter III. sei. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er Schritt für Schritt um sich einen Nimbus geschaffen, der es plausibel machte, dass er der Kaiser war. Er erzeugte eine Klimax der Achtbarkeit, die von einem Heilkundigen über einen Heilkundigen mit Gottes Segen hin zum Kaiser verlief. Mosjakin platzierte seinen Anspruch, Peter III. zu sein in dem Moment, in dem alle durch sein bisheriges Verhalten schon dahingehend vorbereitet waren, seine Mitteilung zu glauben. Mosjakin unterstrich seinen vermeintlichen hohen Rang zusätzlich, indem er behauptete, da er der Kaiser sei, dürfe sein Badewasser nicht weggeschüttet werden, sondern jemand müsse es trinken.236 Er berief sich damit weder auf 229 Lekar’ bedeutet ›Arzt‹, jedoch ist zu berücksichtigen, dass Aslanbekov keinerlei medizinische Ausbildung oder Lehrzeit absolviert hatte. 230 RGADA , f. 349, o. 1/č. 1, d. 7086, l. 158. Aslanbekov erzielte einige Behandlungserfolge, was für die Qualität des Buches spricht. Lečebniki enthielten jedoch auch Kapitel über Astronomie / Astrologie und Zauberei (Ryan: The Bathhouse at Midnight, 400.), wodurch die Nähe dieser Gebiete einmal mehr bestätigt wird. 231 RGADA , f. 349, o. 1/č. 1, d. 7086, l. 54 ob. 232 Ebd., l. 157 ob. 233 Ebd., l. 206 ob. 234 Ebd., l. 2. 235 Auch andere Heiler wandten diese Taktik an. Siehe Levin, Eve: Supplicatory Prayers as a Source for Popular Religious Culture in Muscovite Russia. In: Baron, Samuel H. / Koll mann, Nancy Shields (Hg.): Religion and Culture in Early Modern Russia and Ukraine. DeKalb / Illinois 1997, 96–114, hier 106. 236 RGADA , f. 6, o. 1, d. 528, l. 6–6 ob.
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etwas, das tatsächlich zu den Gebräuchen der HerrscherInnen des Moskauer oder Russländischen Reiches gehört hätte, noch etwas, das ein in anderen Quellen zu findender Aspekt des Herrscherbilds im Russländischen Reich gewesen wäre. Nichtsdestoweniger brachten seine Forderungen zum Ausdruck, seine Person sei so besonders, so ungleich allen anderen, dass auch alles, was mit ihr in Berührung komme, besonders sei und eine Sonderbehandlung erhalten müsse. Truženik bewegte sich ständig im Umkreis von Magie und Prophetie. Nahezu alle seine Äußerungen, die im Untersuchungsakt überliefert sind, entsprechen dem Sprachgestus eines Propheten. Sie sind im Inhalt gleichzeitig möglichst bombastisch und möglichst nebulös, das Tempus ist oft das Futur. Von sich selbst sagte er beispielsweise, er sei ein Adler von einem Adler, eine Dohle werde von einer Dohle geboren, ein Bauer komme von einem Bauern und werde stets einen Bauern hervorbringen (ja […] ot orla de orel, a ot galki galka roditca, a ot mužika de mužik budet i do věku skončaetsja mužikom).237 Ein anderes Mal sagte er, sein Vater sei eine Krücke und eine Tasche seine Mutter (otec moj kostyl’, a suma matuška).238 Das alles klingt halb verständlich, halb nicht und ist damit ausreichend opak, um wie eine höhere Weisheit zu wirken. Wie oben beschrieben, konsultierte Truženik vier Zauberer, um sich als Aleksej Petrovič bestätigen zu lassen und / oder zu erfahren, ob er Kudejars Schatz heben werde. Obwohl er sich in der Position des Ratsuchenden befand, verstand er es, gleichzeitig den Eindruck zu erwecken, eigentlich sei er selbst der mächtigste Zauberer weit und breit. Išejka benutzte ein Kopekenstück und einen Becher Wasser, um wahrzusagen. Obwohl das Ergebnis das von Truženik gewünschte war, bestand er darauf, dass Išejka ein paar Klumpen Erde, die er mitgebracht hatte, in den Becher streute und damit noch einmal wahrsagte.239 Dadurch vermittelte er, besser über die Wahl der Methode Bescheid zu wissen als Išejka. Išejka und Evsej sagten, der Schatz werde von drei Geistern von Verstorbenen bewacht, nämlich von Kudejar, Ivan IV. und Alexander dem Großen (siehe Kapitel 3.3). Außerdem sahen sie einen lebenden Geist, den sie nicht identifizieren konnten.240 Truženik wusste hingegen, dass es sich um Peter I. handle241 und stellte sich dadurch als ihnen überlegen dar. Der Bäuerin Ustin’ja Romanova kündigte Truženik an, sobald er den Schatz gehoben habe, werde er einen Teil des Goldes an einer Wegkreuzung ver 237 RGADA , f. 6, o. 1, d. 187, l. 60 ob. 238 Ebd., l. 110. 239 Ebd., l. 86. 240 Ebd., l. 86; 109. 241 Ebd., l. 86; 110.
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streuen.242 Er sagte nicht, was er damit zu bewirken hoffte, aber da Kreuzun gen im Moskauer und Russländischen Reich neben Badehäusern als die potentesten magischen Orte überhaupt (und deswegen als besonders gefährlich) galten,243 steht außer Frage, dass er einmal mehr andeutete, selbst ein mächtiger Zauberer zu sein. Eine ähnliche Botschaft vermittelte eine fiktive Episode, die wohl Truženik selbst in die Welt gesetzt hatte. Nachdem er Slovo i delo angezeigt hatte, weil er gehört hatte, dass Peter I. in einem Schatz sitze und sich herausgestellt hatte, dass er ein samozvanec war (siehe Kapitel 3.3), wurde er zur weiteren Untersuchung in die Geheime Kanzlei nach Moskau gebracht. Er saß dort also ganz banal im Gefängnis. Seinem Komplizen Starodubcev ließ er jedoch etwas ganz anderes ausrichten: Truženik sei nach Moskau gefahren, um mit der Kaiserin Anna zu sprechen. Er habe dort zu Epiphanie (6. Jänner) eine Messe besucht, der auch Anna Ioannovna beigewohnt habe. Den »Bojaren« habe das gar nicht gefallen. Sie hätten ihn ins Gefängnis geworfen, doch ein Wachsoldat habe ihn freigelassen. Truženik sei zur Mittagsmesse erschienen und habe die Bojaren ausgelacht. Daraufhin hätten sie ihm das Beil weggenommen, das er hinter den Gürtel gesteckt trug, und in den iordan244 geworfen. Er sei in das Eisloch gestiegen, um das Beil zu holen und unter dem Eis geblieben, bis die Gläubigen in die Kirche zurückgekehrt seien. Als er dann Stunden später in der Kirche tropfnass vor der Kaiserin erschienen sei, habe das Anna Ioannovna überzeugt, dass er kein gewöhnlicher Mensch sei und sie habe prompt die »alten Bücher« angenommen.245 Annas angebliche Reaktion verrät, dass Truženik mit seiner Performanz als Aleksej Petrovič insgesamt und speziell mit der ständig hervorgehobenen Nähe zur Magie bei potenziellen AnhängerInnen einen ähnlich tiefen Eindruck hinterlassen wollte. Der Bericht ist bemerkenswert gut komponiert, weil er mit einer an sich simplen Fabel mehrere Botschaften gleichzeitig vermittelt. Er bedient das Stereotyp vom guten Zaren und den bösen Bojaren. Es sind die Adeligen, denen das Auftreten des »wahren« Herrschers nicht behagt, weil sie es bevorzugen, eine (vermeintlich) leicht lenkbare Frau als Kaiserin zu haben, die dem nikonianischen Glauben anhängt. Anna Ioannovna selbst wird positiv gezeichnet, weil sie in dem Moment, in dem sie erkennt, wer Truženik ist, sofort die »richtigen« Konsequenzen zieht. Gleichzeitig präsentiert sich Truženik als außergewöhnlicher Mensch, weil er stundenlang die Luft angehalten und völlig unbeschadet in einem Fluss überlebt haben wollte, dessen Wasser zu dieser Jahreszeit nur wenige Grad 242 Ebd., l. 110 ob. 243 Ryan: The Bathhouse at Midnight, 54. 244 Als iordan wird das Loch bezeichnet, das am 6. Jänner ins Eis geschlagen wird, damit das Wasser gesegnet werden kann. 245 RGADA , f. 6, o. 1, d. 187, l. 25–25 ob.
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warm ist. Zudem weist der Bericht mehrere Bezüge zu magisch bedeutsamen Materialien, Orten und Tagen auf. Es ist nicht klar, inwieweit Truženik das Setting mit Absicht so gestaltete und inwieweit es sich um Zufälle handelt. Aber da er sich auch sonst als Magier in Szene setzte, sollte diese Ebene nicht außer Acht gelassen werden. Epiphanie galt als magischer Tag, dem Wasser aus dem iordan wurden magische Eigenschaften zugeschrieben.246 Der Bericht lenkt die Aufmerksamkeit auf Truženiks Beil, weil die Adeligen beim zweiten Mal nicht mehr versuchen, ihn selbst loszuwerden, sondern ihm gezielt das Beil wegnehmen. Das deutet darauf hin, dass es mehr als ein Werkzeug ist, und tatsächlich galt Eisen als magischer Stoff.247 Die Inszenierung als Heiler, Zauberer oder Prophet wird hier als Strategie interpretiert, performativ Fähigkeiten zu demonstrieren, welche den Zuschreibungen an einen sakralen Herrscher der kosmologischen Variante ähneln. Auf diese Weise erschienen samozvancy, die einer der drei Tätigkeiten nachgingen, auch als Mitglied der Dynastie glaubwürdiger. Das verlangt einige Präzisierungen. Die hier einzeln aufgezählten Tätigkeiten eines Heilers, Propheten und Magiers waren aus der Sicht der Zeitgenossen nicht scharf getrennt. Heiler steht für jemanden, der Kranke behandelt. Die Bezeichnung ist möglichst allgemein gewählt, weil die Bandbreite an Therapien (und dahinterstehenden medizinischen Kenntnissen) groß war. Sie erstreckte sich von einem Zauberer, der Wasser besprach und es seinen PatientInnen entweder zu trinken gab oder sie damit wusch, bis zu jemandem, der Heilkräuter mit realem Nutzen einzusetzen verstand. Im ersten Fall ist der Ablauf der Behandlung nicht von anderen magischen Praktiken zu unterscheiden. Am anderen Ende des Spektrums besteht eine Nähe zu Ärzten in unserem heutigen Verständnis, auch wenn solche Heilkundigen in der Regel keinerlei Unterweisung oder gar formale Ausbildung genossen hatten. Auch Zukunftsvorhersagen lassen sich in unterschiedliche Kontexte einordnen. Zukünftiges Geschehen konnte jemandem durch eine Erscheinung oder Offenbarung mitgeteilt werden, wie es in der Bibel und Heiligenviten oft der Fall ist. Ein solches Ereignis zeigt die besondere Nähe des / der Betroffenen zu Gott und Gottes auf ihm / ihr ruhende Gunst. Daneben gab es im Moskauer und Russländischen Reich unzählige Methoden zur Weissagung,248 die nahtlos in andere Formen von Magie übergingen. Zusammengefasst konnte ein Zauberer heilen oder die Zukunft vorhersagen, und umgekehrt war jemand, der heilte oder die Zukunft vorhersagte, oft nicht klar von einem Magier zu unterscheiden. Der Grund dafür ist, dass die Welt in Präsenzkulturen als geschlossener Kosmos vorgestellt wird, in dem 246 Ryan: The Bathhouse at Midnight, 286. 247 Ebd., 189. 248 Im Detail siehe dazu ebd.
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alles mit allem regelhaft zusammenhängt. Der Glaube an Magie ergibt sich aus der Annahme, dass es nicht nur möglich sei, diese Regeln aufzudecken, sondern auch, sie ebenso zum Vorteil wie zum Schaden anderer zu benutzen.249 Wer die Zukunft vorhersagt, stellt den Anspruch, dass die bestehenden Gesetzmäßigkeiten in die den Menschen umgebende Welt eingeschrieben sind, dort gelesen und verstanden werden können. Dieses Prinzip ist bei Sterndeutung (Astrologie) besonders gut ersichtlich. Der Zusammenhang zwischen der Behandlung von Kranken und dem jeweiligen Weltverständnis erschließt sich nicht unmittelbar. Zahlreiche seit Jahrhunderten zu Heilzwecken eingesetzte Pflanzen(-bestandteile) und andere Substanzen besitzen eine wissenschaftlich nachgewiesene Heilwirkung und sind in modernen Medikamenten enthalten, sodass ihre Anwendung auf Erfahrung zurückgeht und nicht auf ein bestimmtes Weltbild. Einzelne Details der Krankenbehandlung können jedoch von demselben Grundprinzip wie Magie geleitet sein, der Manipulation der bestehenden Gesetzmäßigkeiten. Ein Beispiel wäre, wenn die Gabe einer Arznei (unabhängig von ihrer tatsächlichen Wirkung) nach Ansicht der Zeitgenossen von Beschwörungen begleitet werden musste, sie nur in einer bestimmten Phase des Mondzyklus zubereitet werden durfte und Ähnliches. Ein anderes Beispiel wäre, dass einer Pflanze ausschließlich aufgrund der Form ihrer Blätter, Blüten oder Wurzeln eine heilende Wirkung auf ein bestimmtes Organ oder Körperteil zugeschrieben wurde.250. Demnach waren Heiler, Wahrsager und Zauberer im Verständnis von Präsenzkulturen gleichermaßen in die inneren Geheimnisse der Welt eingeweiht und verstanden es, sich diese entsprechend ihren Absichten zunutze zu machen. Ihre Methoden ähnelten einander häufig. Aus der Perspektive einer Sinnkultur besteht zwischen ihnen hingegen keine Gemeinsamkeit. Die Menschen begreifen sich nicht mehr als Teil der sie umgebenden Welt und meinen daher auch nicht mehr, die Welt unmittelbar manipulieren zu können. Der Glaube an Magie und magisch begründete Heilkunst geht allmählich (wenn auch nicht vollständig) verloren, monarchische Herrschaft und Medizin werden in andere Zusammenhänge eingeordnet und neu begründet. In der kosmologischen Variante sakraler Herrschaft ist der Herrscher auf dieselbe Weise in die Geheimnisse der Welt eingebunden und in der Lage, die bestehenden Zusammenhänge zu manipulieren. Entweder gehört die Durchführung magischer Praktiken oder die Heilung von Kranken zu seinen Aufgaben, oder seine Person dient als Ansatzpunkt, um auf den Zustand der Welt einzuwirken: Geht es ihm gut, fällt zum Beispiel die Ernte reich aus.
249 Gumbrecht: Production of Presence, 82. 250 Für Beispiele aus dem Moskauer Reich siehe Levin: Supplicatory Prayers, 108.
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Wenn also samozvancy Kranke behandelten, magische Praktiken anwandten oder die Zukunft vorhersagten, übten sie Tätigkeiten aus bzw. schrieben sie sich Fähigkeiten zu, die ihren AnhängerInnen vor Augen führten, dass sie tief in die sie umgebende Welt eingebunden seien und deren innere Gesetze kannten. Das machte es glaubwürdiger, wenn sie gleichzeitig oder etwas zeitverzögert auch beanspruchten, ein Mitglied der Dynastie zu sein. Allzu harte Fakten
In dieser Monografie ist viel von Herrscherbildern, von Zuschreibungen und von personae anstatt von Personen die Rede. Diese Wortwahl soll zum Ausdruck bringen, dass in Gerüchten wie auch in der Performanz von samozvancy und samozvanki kein realistisches Abbild einer bestimmten Person vermittelt wurde, sondern unterschiedlich stark von diesem Vorbild abweichende Fiktionen. Die Bandbreite reicht von verzerrenden Interpretationen bis zu vom Vorbild gänzlich unabhängigen Projektionen. Wie in Kapitel 5.2 gezeigt, konnten selbst vermeintlich unhintergehbare Tatsachen wie körperliche Merkmale performativ umgeformt oder überhaupt erst erzeugt werden. Dessen ungeachtet gibt es Beispiele, dass harte Fakten die Glaubwürdigkeit von samozvancy und samozvanki unterminierten, sofern sie bekannt genug waren und ein Verstoß dagegen den Zeitgenossen als ausreichend schwerwiegend erschien. Zu dieser Art Fakten gehört die Bildung von Mitgliedern der Dynastie. Die meisten samovzancy und samozvanki konnten weder lesen, noch schreiben, doch es war allgemein bekannt, dass Mitglieder der Dynastie eine Bildung genossen, die weit über dieses Minimum hinausging. Wie sehr die Zeitgenossen Bildung bei Mitgliedern der Dynastie als gegeben voraussetzten, zeigt das Beispiel des falschen Aleksej Petrovič Andrej Krekšin, der 1712 auftrat. Von ihm hieß es, er beherrsche mehrere Fremdsprachen.251 Das passte wohl zu einem Sohn Peters I., aber Krekšin verfügte in Wahrheit über keinerlei Fremdsprachenkenntnisse und behauptete derlei auch nicht von sich. Tatsächlich dürfte er Analphabet gewesen sein.252 Der falsche Peter III. Petr Černyšev war Analphabet, prahlte aber in Sibirien damit, neben Russisch Deutsch und Latein zu beherrschen.253 Auch er hielt Bildung für ein unabdingbares Attribut eines Kaisers. 251 RGADA , f. 371, o. 1, d. 788, l. 10. 252 Dem Akt ist das Original eines Briefs beigeheftet, den Krekšin einen Diakon verfassen hatte lassen (Ebd., l. 57.). Er besteht aus willkürlich aneinander gereihten Bögen und Linien, die an keiner einzigen Stelle einen Buchstaben ergeben. Vermutlich war der Diakon selbst Analphabet. Hätte Krekšin lesen können, wäre ihm das aufgefallen. 253 Maksimov: Sibir’ i katorga, 451.
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Da auch die AnhängerInnen von samozvancy und samozvanki mehrheitlich nicht lesen und schreiben konnten, spielte Bildung als Beweis für die Echtheit eines Mitglieds der Dynastie nur selten eine Rolle. Aber wo sie es tat, schuf sie ein Problem, das mit einiger Spitzfindigkeit umgangen sein wollte. Als Stepan Pevčij von dem falschen Peter III. Fedot Bogomolov eine Quittung für das Geld verlangte, das er ihm ins Gefängnis gebracht hatte, redete sich Bogomolov damit heraus, dass er in seiner Zelle weder Papier noch Tinte habe, um sie auszustellen.254 Pugačev betrieb einigen Aufwand, um sein Analphabetentum zu verbergen. Der Kosake Ivan Tvorogov, der in Pugačevs Imitation des Kriegskollegiums als Richter diente, sagte aus, Pugačev habe behauptet, er könne nichts (unter-) schreiben, weil er seine Handschrift nicht zu früh zeigen dürfe, um den Aufstand nicht zu gefährden. Ein anderes Mal habe er bedeutungslose Kringel auf ein Blatt Papier gemalt und behauptet, das sei Deutsch. Manchmal habe er auch einen Text angeschaut und dabei die Lippen bewegt, als würde er ihn stumm lesen.255 Zusätzlich traf er Vorkehrungen, damit aus seinem engsten Kreis nicht nach außen drang, dass er weder lesen noch schreiben konnte. Er drohte, jeden aufzuhängen, der das verriet.256 Weil aber Pugačev Peter III. mehr als zwei Jahre lang verkörperte und mit sehr vielen verschiedenen Menschen zu tun hatte, sickerte trotzdem irgendwann durch, dass er Analphabet war, und das schadete seiner Glaubwürdigkeit massiv.257 Für diejenigen, die Pugačev als Analphabeten erkannten, war glasklar, dass er nicht Peter III. sein konnte. Das gilt etwa für den gerade erwähnten Tvorogov. Er meinte, Peter müsse doch Deutsch und Russisch schreiben können.258 Auch der Kaufmann Ivan Trofimov erkannte den samozvanec am Analphabetentum. Für ihn war aber noch gewichtiger, dass Pugačev in der mündlichen Rede nicht gewandt war, sondern sich umgangssprachlich und ungeschliffen ausdrückte.259 Eine ähnliche Taktik wie Pugačev benutzte der falsche Peter III. Iov Mosjakin. Ihn fragte niemand, ob er lesen oder schreiben könne. Stattdessen gab er von sich aus vor, schriftliche Tagesbefehle für die angeblich unter seinem Befehl stehenden Truppen auszustellen. Da er Analphabet war, malte er bedeutungslose Kringel auf einen Zettel.260 Die AnalphabetInnen in seiner Um gebung bemerkten den Bluff nicht.
254 Dubrovin: Pugačev i ego soobščniki, 122. 255 Golubcov (Red.): Pugačevščina II, 151 f. 256 Ebd., 223. 257 Čistov: Russkie narodnye social’no-utopičeskie legendy, 173. 258 Golubcov (Red.): Pugačevščina II, 151. 259 Ebd., 223. 260 RGADA , f. 6, o. 1, d. 528, l. 7.
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Ein zweites hartes Faktum, das einen samozvanec enttarnen konnte, war das Heiratsverhalten insbesondere von Thronfolgern und Kaisern. Peter I. hatte seine Kinder und sonstigen Verwandten beiderlei Geschlechts konsequent mit Mitgliedern ausländischer Fürstenhäuser verheiratet; daraus wurde schnell eine nahezu ausnahmslose Regel. Nur Peter II. verlobte sich beide Male mit einer russischen Adeligen. An diesem Maßstab wurden samozvancy gemessen, die planten, ihren Familienstand zu ändern. Der falsche Peter III. Anton Aslanbekov hatte schon länger ein Verhältnis mit der Kaufmannstochter Alena Pereverzeva, als er in Schwierigkeiten geriet, weil er ohne Approbation Kranke behandelt hatte. Nachdem er in Kursk aus der Haft geflohen und untergetaucht war, bat er seine Helfer, Alena als seine »Haushälterin« zu ihm zu bringen. Später willigte sie ein, mit ihm in die Rzeczpospolita zu fliehen.261 Unterwegs hatten sie eine heftige Auseinandersetzung, über deren Gegenstand nichts Näheres bekannt ist. Um Alena zu besänftigen, versprach Aslanbekov, er werde sie so bald wie möglich heiraten. Er besiegelte dieses Versprechen, indem er eine Ikone küsste und forderte Alena auf, dasselbe zu tun. Im Verhör sagte Alena aus, in diesem Moment sei ihr klar geworden, dass er unmöglich der echte Peter III. sein könne, weil der Kaiser das niemals getan hätte.262 Leider präzisierte sie nicht, was »das« war. Hätte Peter III. ihrer Meinung nach nie ein einfaches Mädchen geheiratet? Dachte sie, er wäre nie eine zweite Ehe eingegangen, während seine erste Frau noch lebte? Oder glaubte sie, er hätte sein Heiratsversprechen nie mit einem Schwur besiegelt? Oder war alles gemeinsam ausschlaggebend? Sicher ist nur, es war ein Aspekt von Aslanbekovs Heiratsplänen, den seine Verlobte als unvereinbar mit seiner angeeigneten Identität auffasste. Pugačev beging neben anderen kleineren Schnitzern263 den kapitalen Fehler, im Fasching 1774 die Kosakentochter Ustin’ja Kuznecova zu heiraten. Diese seine zweite Ehe hatte zunächst überhaupt nichts mit der Performanz als Peter III. zu tun. Jajk-Kosaken hatten Pugačev zugeredet, sich eine Frau zu nehmen, weil sie es leid waren, dass er ihren Ehefrauen und Töchtern nachstellte. Er hatte sich überzeugen lassen und für Ustin’ja entschieden.264 Nach der Trauung musste Ustin’ja als »Kaiserin und Souveränin« bezeichnet und entsprechend behandelt werden. Auf diese Weise wurde sie Teil der Performanz, denn Pugačevs Mitstreiter konnten ihre neue »Kaiserin« nicht ignorieren. Sie 261 RGADA , f. 349, o. 1/č. 1, d. 7086, l. 8–8ob. 262 Ebd., l. 142. 263 Beispielsweise soll er sich einmal auf den Geistlichen vorbehaltenen Thron in einer Kirche gesetzt haben, als wäre er ein Kaiserthron. Diese Begebenheit könnte allerdings erfunden sein, da sie mit mehreren Orten in Verbindung gebracht wird (Pančenko. A. M.: Russkaja kul’tura v kanun Petrovskich reform. Leningrad 1984, 20.). 264 Čistov: Russkie narodnye social’no-utopičeskie legendy, 173.
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bewerteten die Ehe dahingehend, ob sie sich für den echten Peter III. geziemt hätte. Da das aus ihrer Sicht nicht der Fall war, machten sich massive Zweifel an Pugačevs Echtheit breit. Der Grundfehler bestand darin, dass Pugačev überhaupt heiratete. Gleich, wie jemand die Sache drehte und wendete, er tat das, als seine erste Frau noch am Leben war (pri živoj žene) und machte sich damit sehenden Auges zum Bigamisten. Für diejenigen, die überzeugt waren, dass Pugačev Peter III. sei, war Katharina II. seine rechtmäßige Ehefrau. Hätte er sich mit Ustin’ja verlobt, aber die Hochzeit pro forma aufgeschoben, bis er die Möglichkeit haben würde, Katharina wie angekündigt ins Kloster zu schicken,265 hätte der Schritt weniger Aufsehen erregt. So aber handelte Pugačev allen Gepflogenheiten zuwider, und das schadete ihm, obwohl Katharina II. bei den Aufständischen nicht gerade beliebt war. Diejenigen, die wussten, dass Pugačev nur ein Kosake war, ihn aber trotzdem als Kaiser akzeptierten, waren sich hingegen darüber im Klaren, dass er mit Sof’ja verheiratet war, neben der er genauso wenig eine zweite Frau haben durfte wie Peter neben Katharina. Außerdem war die Wahl der Braut ein Fehler. Wie gesagt, ging Pugačev die Ehe mit Ustin’ja nicht ein, um als Peter III. glaubwürdiger zu erscheinen. Eine Adelige oder gar eine ausländische Prinzessin zu heiraten, die seine Performanz gestützt hätte, überstieg ohnehin seine Möglichkeiten. Aus naheliegenden Gründen konnte er nicht mit seiner ersten Frau Sof’ja zusammenleben, und Ustin’ja dürfte ihm gefallen haben. Das war alles. Seinen Mitstreitern war allerdings klar, dass ein echter Kaiser niemals eine Kosakentochter zur Frau genommen hätte, und das machte sie misstrauisch. Die Hochzeit mit Ustin’ja scheint die nachhaltigsten Zweifel an Pugačevs Echtheit gesät zu haben, mehr noch als seine diversen Fauxpas und die fehlende formale Bildung. Die am wenigsten unfreundliche Meinung lautete, es sei frivol und verantwortungslos von ihm, Hochzeit zu feiern, während seine wichtigste Aufgabe darin bestehe, den Aufstand anzuführen.266 Der Kosake Timofej Podurov sagte aus, sobald er von der Hochzeit erfahren habe, sei ihm klar geworden, es mit einem samozvanec zu tun zu haben, weil der echte Kaiser keine zweite Ehe eingegangen wäre, solange seine erste Frau noch lebte.267 Sogar Ustin’ja selbst dachte, ihr Mann könne nicht der echte Peter III. sein, wenn er die Tochter eines Kosaken heirate.268 An den zwei Beispielen ist interessant, dass die Partnerwahl von Aslanbekov wie auch von Pugačev rein danach bewertet wurde, inwieweit sie mit dem Heiratsverhalten der ihnen zeitgenössischen Romanovy übereinstimmte, obwohl 265 Mordovcev: Samozvancy, 258. 266 Golubcov (Red.): Pugačevščina II, 144. 267 Ebd., 188. 268 Ebd., 198.
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Samozvanstvo als Performanz
sie (mit Ausnahme von Pugačevs Bigamie) den Gepflogenheiten vor Peter I. eher entsprochen hätte. Zwischen 1505 und 1689 kamen die Großfürsten und Zaren zu einer Ehefrau, indem für sie eine oder mehrere Brautschauen abgehalten wurden.269 Die Theorie dahinter lautete, dass sich der Herrscher völlig unabhängig von Parametern wie der sozialen Herkunft von allen Jungfrauen seines Reiches jene aussuchte, die ihm am besten gefiel. Die Bräute von Aslanbekov und Pugačev hätten so gedeutet werden können, dass »Peter III.« zum Prinzip der freien Wahl im eigenen Land zurückkehrte und sich dadurch positiv von seinen Vorgängern abhob. Doch das war nicht der Fall. Ein möglicher Grund wäre, dass die (potenziellen) AnhängerInnen beider samozvancy nur über ein kurzes historisches Gedächtnis verfügten. Wahrscheinlicher erscheint aber, dass die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis der Brautschauen zu groß war, als dass den beiden samozvancy ihre Partnerwahl zum Vorteil gereichen hätte können. Russell Martin zufolge wurden Brautschauen im Moskauer Reich eingeführt, um kostspielige Heiraten mit ausländischen Prinzessinnen zu vermeiden. Das machte es aber erforderlich, darauf zu achten, dass eine Hochzeit das fragile Machtgleichgewicht zwischen den Bojarenfamilien am Hof nicht störte. Folglich wählte der Herrscher seine Braut nicht frei, sondern ihm wurden Kandidatinnen mit passenden Verwandtschaftsbeziehungen vorgestellt. In der Regel stammten die jungen Frauen aus adeligen Familien, deren männliche Mitglieder in der Provinz dienten bzw. in Moskau keine nennenswerte Karriere gemacht hatten, oder aus unbedeutenden Seitenlinien der großen Bojarengeschlechter. Sehr selten wurde im ganzen Reich systematisch nach Kandidatinnen gesucht, nie wurde eine Tochter eines Bauern, Popen oder Kosaken zu einer Brautschau eingeladen.270 Die Brautschauen des 16. und 17. Jahrhunderts hätten nur in das Archiv von samozvanstvo eingehen können, falls die Untertanen des Großfürsten bzw. Zaren immer wieder mit den lokalen Vorbereitungen für die Entscheidung in Moskau in Berührung gekommen wären oder es das reale Beispiel einer Bauerntochter gegeben hätte, die den Aufstieg zur Zarin geschafft hatte. Da beides nicht der Fall war, stand dieser Maßstab nicht zur Verfügung, und Aslanbekov und Pugačev konnten nicht davon profitieren. Kapitel 5 erbrachte viele Detailergebnisse, die sich schwer verallgemeinern lassen. Zusammenfassend möchte ich daher nur zwei Momente kurz festhalten. Das Geschehen im Rahmen der Performanz und das Geschehen außerhalb davon (in der »Realität«) gehorchten unterschiedlichen Logiken und stellten 269 Dazu siehe Martin: A Bride for the Tsar. 270 Dazu siehe ebd., 54; 65. Für eine Darstellung und Analyse des Prozederes siehe speziell ebd., Kapitel 2, 57–94.
Die performative Erzeugung von Glaubwürdigkeit
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die Beteiligten vor unterschiedliche Erfordernisse. Das bedeutet nicht, dass beide Bereiche stets scharf getrennt waren.271 Einzelne Eingeweihte konnten sich insofern in einer Grauzone bewegen, als sie sich weder allzu sehr in die Performanz einbrachten, indem sie aktiv ein vermeintliches Mitglied der Dynastie unterstützten, noch ihren Untertanenpflichten durch eine Anzeige nachkamen, sondern sich neutral, abwartend verhielten. Auch kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Ziele der samozvancy und samozvanki sowohl in der Realität, als auch im Rahmen der Performanz übereinstimmten. Aber die Quellen erlauben nicht, solche Übereinstimmungen nachzuweisen, und weil die tatsächlichen Beziehungen der Beteiligten untereinander ein anderes Vorgehen verlangten als die Form der Performanz, können die Ergebnisse der Analyse des einen Bereiches nicht auf den anderen übertragen werden. Daher sind die Schlussfolgerungen begrenzt, welche aus den Verhörprotokollen gezogen werden können. Dieser Umstand wurde hier in Hinblick auf die Agenden der Beteiligten festgehalten, aber er wird auch im folgenden Kapitel relevant sein. Durchgehend sichtbar war auch der pragmatische Umgang der Beteiligten mit dem Auftreten eines vermeintlichen Mitglieds der Dynastie. Um Emergenz zu erzeugen, ließen sie sich nicht rein von Überzeugungen oder Impulsen leiten. Nun mag sich dieser Eindruck auch deswegen ergeben, weil Überzeugung aus den Quellen nicht ablesbar ist und es somit nur Zeugnisse für diesen Pragmatismus gibt. Aber in jedem Fall entsteht ein Gegengewicht zu der Annahme, samozvancy und samozvanki hätten die Unterstützung ihrer Anhängerschaft rein deren blinden und naiven Glauben an einen guten Herrscher zu verdanken gehabt. Das Moment des kühlen Abwägens sollte bei samozvanstvo generell stärker in den Vordergrund gerückt werden.
271 Ich danke Eva-Maria Walther für diesen Hinweis.
6. Die Funktion von samozvanstvo
Das ist des selbstherrschenden allrussischen Kaisers Peter Fedorovič usw. usw. usw. mein persönlicher Ukaz an den Kommandanten der Festung Krasnogorsk und die Kosaken von Sakmar und die Leute jeglicher Stände Mein persönlicher Befehl: Wie eure Großväter und Väter gedient haben, sollt auch ihr mir, dem großen Souverän, treu und unausgesetzt bis zum letzten Tropfen Blut dienen. Zweitens: Wenn ihr meinen persönlichen Befehl befolgt, werdet ihr dafür mit Kreuz und Bart [der Altgläubigen] belohnt, mit Fluss und Land, Wiesen und Meeren, und mit Geld, mit einem Getreidevorrat, mit Pulver und Blei und mit ewiger Freiheit. Und ihr sollt meinen Befehl eifrig ausführen; kommt zu mir, und ihr werdet euch meine uneingeschränkte monarchische Gunst euch gegenüber erwerben können. Und wenn ihr euch meinem Befehl widersetzt, sollt ihr in Kürze meinen gerechten Zorn auf euch spüren. Der Macht unseres allerhöchsten Schöpfers und meinem Zorn könnt ihr nicht entkommen: Niemand kann dich vor unserer starken Hand verteidigen. Der große allrussische Souverän Peter der Dritte.1
Das ist einer der Aufrufe, die im Namen von Pugačev als Peter III. verbreitet wurden. An Schriftstücken dieser Art, die auch in anderen Fällen von samo zvanstvo Anwendung fanden, sind mehrere Details interessant: Sie imitierten die Kommunikation zwischen HerrscherIn und Untertanen, waren aber auch ein probates Mittel, um besonders viele Menschen zu erreichen. Nach dem Prinzip Zuckerbrot und Peitsche brachten sie Argumente vor, warum sich jemand einem samozvanec anschließen sollte. Nicht zuletzt handelte es sich um öffentliche Kommunikation, denn ein Schriftstück zog bedeutend weitere
1 Zitiert nach: Golubcov (Red.): Pugačevščina I, 32. »Samoderžavnago imperatora Petra Feodoroviča vserossijskogo: i pročaja, i pročaja, i pročaja. Sej moj imjannoj ukaz Krasnogorskoj kreposti komendantu i Sakmarskim kazakam i vsjakogo zvanija ljudi [sic!]. Imjannoe moe povelenie: Kak dedy i otcy vaši služili, tak i vy poslužite mne, velikomu gosudarju, verno i neizmenno do poslednej kapli krovi. Vtoroe: kogda vy ispolnite moe imjannoe povelenie, i za to buditě žalovany krestom i borodoju, rekoju i zemleju, travami i morjami, i denežnym žalovaniem, i chlebnym proviantom, i svincom, i porochom, i večnoju volnostiju [sic!]. I povelenija moe [sic!] ispolnjati s userdiem, ko mne priezžajte, to soveršenno ot menja za onoe priobresti možite k sebe moju monaršeskuju milost᾽. A eželi vy moemu ukazu protivitca budite, to v skorosti vosčustvovati na sebja pravednyj moj gnev. Vlasti vsevyšnjago sozdatelja našego i gneva moego izbegnut᾽ ne možet [sic!]: nikto tebja ot sil᾽nyja našeja ruki zaščiščat᾽ ne možet. Velikij gosudar᾽ Petr tretij vserossijskij.«
Die Funktion von samozvanstvo
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Kreise als ein persönliches Gespräch zwischen einem vermeintlichen Mitglied der Dynastie und seinen AnhängerInnen. Wenn nun abschließend nach der Funktion von samozvanstvo gefragt wird, werden sämtliche dieser Aspekte Berücksichtigung finden. Funktion bezieht sich hier darauf, dass es einen Grund (oder mehrere Gründe) gegeben haben muss, warum nicht nur immer wieder neue samozvancy und samozvanki auftraten, sondern auch grundsätzlich alle eine Chance hatten, als Mitglied der Dynastie akzeptiert zu werden. Ihr Scheitern ist mit dem Ausbleiben von Emergenz zu begründen oder mit äußeren Faktoren wie Trunkenheit, die ein zielgerichtetes, planmäßiges Vorgehen erschwerten. Hingegen lässt sich kein Zeitpunkt benennen, ab dem falsche Mitglieder der Dynastie nur deswegen keine Unterstützung gefunden hätten, weil sich das Phänomen als solches überlebt hätte und sie gewissermaßen einen Anachronismus dargestellt hätten. Demnach müssen die samozvancy und samozvanki, aber wohl noch mehr ihre potenziellen AnhängerInnen in der Konstellation, die sich durch samo zvanstvo ergab, einen Gewinn und Vorteil gesehen haben, der nicht unbedingt materiell zu verstehen ist, die damit verbundenen Risiken aufwog und Ende des 17. Jahrhunderts ebenso zu erlangen war wie Anfang des 19. Jahrhunderts. Es sei daran erinnert, dass im Untersuchungszeitraum sowohl die Aneignung einer fremden Identität strafbar war, als auch jede Ansammlung von Menschen, die keinem unmittelbar erkennbaren und der Obrigkeit genehmen Zweck diente. Das Ziel dieses Kapitels lautet, bei der Bestimmung der Funktion mehr zu leisten als nur das sowjetische Klassenkampfschema zurückzuweisen. Aus diesem Grund steht die Kommunikation zwischen den samozvancy / samozvanki und ihren AnhängerInnen im Rahmen der Performanz im Mittelpunkt. Es wird erörtert, ob diese Kommunikation unter Bedingungen und über Inhalte erfolgte, die es möglich machen, davon zu sprechen, dass durch die Anwesenheit eines falschen Mitglieds der Dynastie eine Form von Öffentlichkeit entstand. Die Bedingungen der Kommunikation zwischen falschen Mitgliedern der Dynastie und ihren AnhängerInnen waren in der Forschung noch kein Thema, wenngleich einzelne Überlegungen in diese Richtung gingen. Zu erwähnen ist etwa Usenkos umfangreiche quantifizierende Untersuchung zu den samozvancy und samozvanki, die im Zeitraum 1762–1800 auftraten.2 Parameter wie die Anzahl der AnhängerInnen erlauben zwar Rückschlüsse auf die Reichweite der Kommunikation, jedoch begnügte sich Usenko damit, anhand ihrer Verteilung die Unterschiede zwischen den von ihm definierten drei Typen der ReformerInnen, AbenteurerInnen und Törichten festzustellen. Wenn 2 Usenko: Monarchičeskoe samozvančestvo.
Samozvanstvo als Performanz
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sowjetische Publikationen wie der Aufsatz von Nina Razorenova3 die soziale Zusammensetzung der Anhängerschaft untersuchten, sind darin auch Hinweise auf die Reichweite enthalten, nur galt dieser nie das primäre Interesse.
6.1
Der Öffentlichkeitsbegriff
Allgemeines
Den folgenden Ausführungen liegt ein Verständnis von Öffentlichkeit zugrunde, das diese Sphäre zum einen als komplexes, stets aus mehreren Öffentlichkeiten zusammengesetztes Gebilde betrachtet. Zum anderen wird bei der Analyse berücksichtigt, dass in einer Öffentlichkeit unter spezifischen Voraussetzungen kommuniziert wird. Entgegen diesen Prämissen leidet der Öffentlichkeitsbegriff nicht selten unter einer starken Einengung. Dafür steht paradigmatisch Jürgen Habermas’ erstmals 1962 publizierte Habilitation »Strukturwandel der Öffentlichkeit«.4 Habermas’ Ansicht nach konnte Öffentlichkeit erst entstehen, als der Absolutismus im Niedergang begriffen war, also grob gesprochen im 18. Jahrhundert.5 Allerdings deutet er bereits Veränderungen in der Struktur von Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert als Verfallserscheinungen.6 In dieser Engführung lässt sich auf Zentral- und Westeuropa bezogen nur für wenige Jahrzehnte überhaupt davon sprechen, dass Öffentlichkeit existiert habe. Hier zeigt sich, wie normativ der Öffentlichkeitsbegriff häufig aufgeladen ist. Habermas und andere AutorInnen haben eine sehr präzise Vorstellung davon, welche Merkmale Öffentlichkeit aufweisen soll und lassen alle Formen der Meinungsbildung außer Acht, die nicht exakt dem so gebildeten Idealtypus entsprechen. Das macht es schwierig, insbesondere 3 Razorenova: Iz istorii samozvanstva. 4 Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt am Main 1990. 5 Habermas erwähnt am Ende der Einleitung eine »plebejische Öffentlichkeit« (Ebd., 52.). Diese interessierte ihn nicht, darum führte er nicht näher aus, was darunter zu verstehen sein und welche Merkmale sie aufweisen könnte. Doch dass er überhaupt davon spricht, ist ein Hinweis, dass er »die« Öffentlichkeit nicht so monolithisch verstand wie es in der Rezeption seiner Habilitation üblich wurde. 6 Für jüngere Kritik an Habermas siehe Hirschi, Caspar: Die Erneuerungskraft des Anachronismus. Zur Bedeutung des Renaissance-Humanismus für die Geschichte politischer Öffentlichkeiten. In: Kintzinger, Martin / Schneidmüller, Bernd (Hg.): Politische Öffentlichkeit im Spätmittelalter. Ostfildern 2011, 385–431, hier 389–392. Für jüngere zustimmende Beiträge siehe Mah, Harold: Phantasies of the Public Sphere. Rethinking the Habermas of Historians. In: The Journal of Modern History 72 (2000), 153–182; McKeon, Michael: Parsing Habermas᾽s »Bourgeois Public Sphere«. In: Criticism 46/2 (2004), 273–277.
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die Vormoderne zu untersuchen, in der diese Merkmale nicht oder nur mit Abstrichen erfüllt waren. Während normative und sehr enge Setzungen des Begriffs nach wie vor in der wissenschaftlichen Literatur zu finden sind, arbeiten viele WissenschafterInnen mittlerweile mit einer breiteren und flexibleren Definition von Öffentlichkeit. In den ausgehenden 1980er und frühen 1990er Jahren verbreitete sich in verschiedenen Disziplinen die Einsicht, dass die Gesellschaften der Gegenwart viel zu komplex seien, um noch von »der« Öffentlichkeit im Singular zu sprechen. Im öffentlichen Raum ist stets eine Vielzahl von Stimmen vertreten, die nicht notwendigerweise miteinander in Einklang gebracht werden können.7 Eine Möglichkeit, diesen Befund theoretisch zu fassen, ist der Begriff Ge genöffentlichkeit, den die Philosophin Nancy Fraser und die Literaturwissenschafterin Rita Felski mit einem feministischen Impetus prägten. Er setzt allerdings die Existenz einer pluralistischen, keinen Einschränkungen unterworfenen Öffentlichkeit voraus, und ist darum für die Vormoderne nicht geeignet. Als Gegenöffentlichkeiten werden Gruppen bezeichnet, die in der Öffentlichkeit wenig bis gar nicht präsent sind und aktiv versuchen, sich dort ihren Platz zu erobern.8 Die Soziologen Jürgen Gerhards und Friedhelm Neidhart benutzten keine binären Kategorien, sondern unterschieden mehrere unterschiedlich große und komplexe Ebenen von Öffentlichkeit.9 Auf Gerhards und Neidhart aufbauend entwickelte die Kommunikationswissenschafterin Elisabeth Klaus das Drei-Ebenen-Modell von Öffentlichkeit.10 Die unterste Ebene bilden einfache Öffentlichkeiten, die Gerhards und Neidhart auch als Encounter-Öffentlich7 Winter, Carsten: Kulturelle Öffentlichkeiten? Kritik des Modells bürgerlich-liberaler Öffentlichkeit. In: Faulstich, Werner (Hg.): Konzepte von Öffentlichkeit. 3. Lüneburger Kolloquium zur Medienwissenschaft. Bardowick 1993, 29–46, hier 29. 8 Zu Gegenöffentlichkeiten siehe Asen, Robert: Seeking the »Counter« in Counterpublics. In: Communication Theory 10/4 (2000), 424–446; Warner, Michael: Publics and Counterpublics. New York 2005. 9 Gerhards Jürgen / Neidhardt, Friedhelm: Strukturen und Funktionen moderner Öffentlichkeit. Fragestellungen und Ansätze. In: Müller-Doohm, Stefan / Neumann-Braun, Klaus (Hg.): Öffentlichkeit Kultur Massenkommunikation. Beiträge zur Medien- und Kommunikationssoziologie. Oldenburg 1991, 31–89. 10 Klaus, Elisabeth: Öffentlichkeit als gesellschaftlicher Selbstverständigungsprozeß. In: Imhof, Kurt / Schulz, Peter (Hg.): Kommunikation und Revolution. Zürich 1998, 131–149 sowie wiederholt in Dies. / Wischermann, Ulla: Öffentlichkeit als Mehr-Ebenen-Prozess. Theoretische Überlegungen und empirische Befunde am Beispiel der Frauenbewegungen um 1900. In: Zeitschrift für Frauenforschung und Geschlechterstudien 26/3+4 (2008), 103–116 und Dies.: Öffentlichkeit als gesellschaftlicher Selbstverständigungsprozess und das Drei-Ebenen-Modell von Öffentlichkeit. Rückblick und Ausblick. In: Dies. / Drüeke, Ricarda (Hg.): Öffentlichkeiten und gesellschaftliche Aushandlungsprozesse. Theoretische Perspektiven und empirische Befunde. Bielefeld 2017, 17–37.
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Samozvanstvo als Performanz
keiten bezeichnen.11 Sie entstehen spontan, sind unstrukturiert und kurzlebig, sodass sich unter den Beteiligten keine Funktionen ausdifferenzieren. Für die Entstehung reicht es, wenn sich beispielsweise zwei Personen unterhalten, die in einer Warteschlange angestellt sind oder ihre Kinder auf dem Spielplatz beaufsichtigen.12 Das Kriterium, um von einer einfachen Öffentlichkeit und nicht von einem bloßen Wortwechsel zu sprechen, ist das behandelte Thema. Es muss für mehr Personen als die Anwesenden relevant sein; je mehr, desto besser. Eine Klage über schlechtes Wetter konstituiert keine einfache Öffentlichkeit, sehr wohl aber eine Klage über einen Mangel an Kinderbetreuungsplätzen. Sobald die GesprächspartnerInnen wieder auseinander gehen, hört eine einfache Öffentlichkeit zu bestehen auf. Eine derartige ungeplante, einmalige Begegnung kann allerdings der Anstoß für weitere Treffen sein, um über dasselbe Thema zu sprechen. Werden diese Treffen allmählich durch gewisse Regeln und Verbindlichkeiten strukturiert und übernehmen die TeilnehmerInnen unterschiedliche Funktionen, entsteht eine mittlere Öffentlichkeit. Infolge der Ausdifferenzierung von Rollen ist die Existenz eines Publikums das Hauptmerkmal mittlerer Öffentlichkeiten. Einfache Öffentlichkeiten sind zu klein und kurzlebig für funktionale Differenzierungen, während komplexe Öffentlichkeiten (siehe unten) zu groß sind, um noch von einem Publikum sprechen zu können. Mittlere Öffentlichkeiten bestehen aus mehr als zwei Personen, stellen aber überschaubare Personengruppen dar, deren Mitglieder einander in der Regel persönlich kennen. Es ist sogar möglich, dass sie alle miteinander freundschaftlich verbunden sind. Üblicherweise kommen die Mitglieder mittlerer Öffentlichkeiten in Versammlungen zusammen,13 sodass ihre typische Organisationsform der Verein ist. Allerdings könnten auch adelige wie bürgerliche Salons, Geheimgesellschaften, Burschenschaften oder Freimaurerlogen unter diesem Begriff analysiert werden. Die relativ geringe Anzahl an Mitgliedern bedeutet, dass die Reichweite mittlerer Öffentlichkeiten beschränkt ist, aber sie können etwa durch die Verbreitung von Flugblättern oder Zeitschriften versuchen, ihre Anliegen breiteren Kreisen bekannt zu machen. Komplexe Öffentlichkeiten entstehen in Anbindung an Massenmedien oder politische (Massen-)Parteien und umfassen mehr Menschen als einander persönlich kennen und sich gleichzeitig an einem Ort aufhalten können. Sie existierten in der Vormoderne noch nicht und werden darum im Weiteren nicht berücksichtigt. 11 Gerhards / Neidhart: Strukturen und Funktionen, 50. 12 Klaus, Elisabeth: Kommunikationswissenschaftliche Geschlechterforschung. Zur Bedeu tung der Frauen in den Massenmedien und im Journalismus. Aktualisierte und korrigierte Neuauflage Wien 2005, 106 f. 13 Klaus: Öffentlichkeit, 138.
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Ähnlich wie Felski und Fraser gehen Gerhards und Neidhart sowie Klaus von gegenwärtigen Gesellschaften aus und somit implizit von der Annahme, Öffentlichkeit als Raum für den Meinungsaustausch müsse bereits bestehen, ehe sie sich ausdifferenziere. Im Unterschied zum Konzept der Gegenöffentlichkeiten eignet sich die Annahme, dass »die« Öffentlichkeit aus mehreren vertikalen wie horizontalen Segmenten zusammengesetzt ist, aber auch, um die historische Entwicklung von Öffentlichkeit nachzuzeichnen. Das Nebeneinander mehrerer Öffentlichkeiten ist nicht nur konstitutiv für gegenwärtige demokratische Gesellschaften, sondern auch für vormoderne. Harold Mah und Ernst Opgenoorth weisen voneinander unabhängig darauf hin, dass vormodernen Öffentlichkeiten jener Universalitätsanspruch gefehlt habe, der modernen Öffentlichkeiten eigen ist.14 Das Verhältnis zwischen den Ebenen kann unter zwei Blickwinkeln betrachtet werden. Zum einen bilden sie den Status quo zu einem bestimmten Zeitpunkt ab. In gegenwärtigen (demokratischen) Gesellschaften gibt es etwa unzählige Encounter-Öffentlichkeiten, sehr viele mittlere und einige komplexe Öffentlichkeiten, die alle gleichzeitig bestehen und sich zum Teil aufeinander beziehen. Zum anderen bilden die Ebenen eine zeitliche Entwicklung ab, wobei es wiederum zwei Möglichkeiten gibt. Bei einem konkreten Beispiel kann die Entwicklung einer einfachen Öffentlichkeit zu einer mittleren und vielleicht weiter zu einer komplexen Öffentlichkeit nachgezeichnet werden.15 Allgemein gefasst bringen die drei Ebenen zum Ausdruck, dass es einfache Öffentlichkeiten gibt, bevor es mittlere Öffentlichkeiten gibt, und dass es einfache sowie mittlere Öffentlichkeiten gibt, bevor es komplexe Öffentlichkeiten gibt. Die Entstehung von Öffentlichkeit ist also keine Frage von Entweder-Oder, kein Sprung von Null auf Hundert, sondern ein allmählicher Prozess. In der historischen Forschung wird Öffentlichkeit aber vielfach erst wahrgenommen, wenn sie die mittlere Ebene erreicht, beispielsweise in Gestalt der bereits genannten Vereine, Salons oder Geheimgesellschaften. Alles, was an Komplexität darunter und chronologisch davor anzusetzen ist, gerät leicht aus dem Blick. Das Drei-Ebenen-Modell wirkt dem entgegen. Klaus’ Modell hat außerdem den Vorteil, dass sich weder eine einfache Öffentlichkeit zu einer mittleren weiterentwickeln muss, noch eine mittlere zu einer komplexen, damit die Bezeichnung Öffentlichkeit jeweils gerechtfertigt ist. Das ist wichtig, um vormoderne Verhältnisse zu erfassen. Zum Beispiel 14 Mah: Phantasies, 165 f.; Opgenoorth, Ernst: Publicum – privatum – arcanum. Ein Versuch zur Begrifflichkeit frühneuzeitlicher Kommunikationsgeschichte. In: Sösemann, Bernd (Hg.): Kommunikation und Medien in Preußen vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. Stuttgart 2002, 22–44, hier 40. 15 Für eine Grafik zu Internet-Öffentlichkeiten, die beispielhaft beide Aspekte veranschaulicht, siehe Klaus: Öffentlichkeit als gesellschaftlicher Selbstverständigungsprozess, 31, Abb. 3.
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waren die technischen Voraussetzungen für die Herausbildung einer komplexen Öffentlichkeit erst ab dem 19. Jahrhundert gegeben, oder die Entstehung mittlerer Öffentlichkeiten wurde beispielsweise durch Zensurverordnungen oder Versammlungsverbote gehemmt. Einzig die Entstehung einfacher Öffentlichkeiten ist so niederschwellig, dass sie von äußeren Faktoren so gut wie unberührt bleibt. Sobald offenere Definitionen von Öffentlichkeit wie die gerade beschriebenen zur Verfügung standen, interpretierten HistorikerInnen immer mehr schriftliche wie mündliche Zeugnisse als Ausdruck von Öffentlichkeit.16 Dementsprechend wandten sie ihre Aufmerksamkeit erst der Frühen Neuzeit zu, dann dem Mittelalter, und so weiter.17 Während es zweifellos zu begrüßen ist, dass auf diese Weise auch vormoderne Kommunikation unter dem Aspekt Öffentlichkeit untersucht werden kann, besteht die Gefahr, dass die zeitliche wie mediale Ausweitung des Begriffs in seine Unschärfe bis Beliebigkeit mündet. Wenn scheinbar jede Äußerung unter den Öffentlichkeitsbegriff subsumiert werden kann, ist nicht mehr ersichtlich, wie sich Öffentlichkeit in einer bestimmten Gesellschaft im Unterschied zu anderen Gesellschaften konstituiert und welche Funktionen sie erfüllt.18 Rudolf Schlögl schlug als Lösung für dieses Problem vor, Öffentlichkeit ausgehend davon zu bestimmen, wie in einer bestimmten Gesellschaft über Macht und den Geltungsbereich des Politischen kommuniziert wird und wie die Zeitgenossen diese Kommunikation wiederum beobachten. Jede Öffentlichkeit besitzt demnach eine spezifische mediale und kommunikative Logik, die nicht nur von Gesellschaft zu Gesellschaft variiert, sondern auch innerhalb einer bestimmten Gesellschaft von sozialer Formation zu sozialer Formation.19 Ob samozvanstvo als Form von Öffentlichkeit eingestuft werden kann oder nicht, wird darum im Folgenden davon abhängig gemacht, wie sehr es auf der einen Seite der in den nächsten beiden Abschnitten zu bestimmenden kommunikativen Matrix im Moskauer und Russländischen Reich entspricht und auf der anderen Seiten allgemeinen Merkmalen von Öffentlichkeit, die Klaus und andere WissenschafterInnen festlegten.
16 Schlögl: Anwesende und Abwesende, 313. 17 Moos, Peter von: Die Begriffe »öffentlich« und »privat« in der Geschichte und bei den Historikern. In: Saeculum 49/1 (1998), 161–192, hier 162 f. 18 Schlögl: Anwesende und Abwesende, 313. 19 Ebd., 314.
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Die Herausbildung von Öffentlichkeit im Moskauer und Russländischen Reich
Nach wie vor dominiert in der Forschung die Meinung, im Russländischen Reich sei Öffentlichkeit erst nach den Großen Reformen entstanden,20 aber dieser Standpunkt ist zu holzschnittartig. Im Russländischen Reich fehlte zwar mit dem Bürgertum jene gesellschaftliche Schicht, die Habermas als Trägerin einer räsonierenden Öffentlichkeit ausmachte.21 Dessen ungeachtet entstanden im Gefolge der petrinischen Reformen auch dort jene Institutionen und Medien der Geselligkeit, welche die Foren für derartiges Räsonnement bildeten: Salons, Theater, Freimaurerlogen, Zeitungen und Zeitschriften. Das geschah ungefähr gleichzeitig wie in Habermas᾽ Beispielen England, Frankreich und »Deutschland«, sodass in diesem Bereich auch nicht von einer verspäteten oder nachgeholten Entwicklung im Russländischen Reich die Rede sein kann. Mehrere HistorikerInnen, darunter Paul Bushkovitch, Nicholas Riasanovsky, Ingrid Schierle und Douglas Smith, halten es deswegen für unproblematisch, den Öffentlichkeitsbegriff auf das Russländische Reich im 18. Jahrhundert anzuwenden.22 Bushkovitch weist lediglich darauf hin, dass die Öffentlichkeit am Ende dieses Jahrhunderts sehr klein und gerade erst im Entstehen begriffen gewesen sei.23 Nancy Shields Kollmann ist skeptischer, ohne die Verwendung des Öffentlichkeitsbegriffs völlig abzulehnen. Sie betont, dass die Institutionen der Geselligkeit in den allermeisten Fällen staatlich organisiert und offen kritische Äußerungen über die Autokratie die absolute Ausnahme gewesen seien. Die meisten Adeligen seien mit ihrer Situation zufrieden und stolz auf das Russländische Reich gewesen.24 Kollmanns Einwand ist wichtig, denn im Unterschied zu Westeuropa wurde die Entwicklung mittlerer Öffentlichkeiten tatsächlich immer wieder eingeschränkt und unterbrochen. Katharina II. war zwar daran gelegen, die mehr als überschaubare publizistische Landschaft des Reiches zu vergrößern, indem sie die Gründung privater Zeitschriften 20 Andreeva: Tajnye obščestva, 130. 21 Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, 87 f. 22 Bushkovitch, Paul: A Concise History of Russia. Cambridge 2012, 130; Riasanovsky, Nicholas V.: A Parting of Ways. Government and the Educated Public in Russia 1801–1855. Oxford 1976, 22–28; Schierle, Ingrid: Semantiken des Politischen im Russland des 18. Jahrhunderts. In: Steinmetz, Willibald (Hg.): »Politik«. Situationen eines Wortgebrauchs im Europa der Neuzeit. Frankfurt, New York 2007, 226–247, hier 228; 239; 243; Dies.: ›Syn otečestva‹: Der ›wahre Patriot‹. In: Thiergen, Peter (Hg.): Russische Begriffsgeschichte der Neuzeit. Beiträge zu einem Forschungsdesiderat. Köln u. a. 2006, 347–367, hier 365; Smith, Douglas: Freemasonry and the Public in Eighteenth-Century Russia. In: Eighteenth-Century Studies 29/1 (1995), 25–44. 23 Bushkovitch: A Concise History, 130. 24 Kollmann: The Russian Empire, 445; 447.
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und den Betrieb privater Druckereien ausdrücklich förderte. Gleichzeitig verbot sie Periodika, sobald deren inhaltliche Linie zu stark von ihrer eigenen Sicht der Dinge abwich. Auch andere Maßnahmen liefen der Entwicklung von Öffentlichkeit zuwider. Katharina II. erließ die erste Zensurregelung des Russländischen Reiches25 sowie ein Verbot der Freimaurerlogen. 1788 untersagte die Kaiserin, beispielsweise in der Börse, in Klubs oder Gasthäusern »unbegründete Meinungen« über Politisches zu äußern.26 Die unzähligen Anzeigen wegen »ungehöriger Worte« im Untersuchungszeitraum zeigen, dass auch einfache Öffentlichkeiten vor den Großen Reformen existierten und die KaiserInnen ihnen mit demselben Misstrauen begegneten wie den wenigen mittleren Öffentlichkeiten. Nikolaus I. kam etwa nach dem Dekabristenaufstand zu dem Schluss, dass das Gerede auf der Straße die tatsächliche Meinung der Bevölkerung repräsentiere und überwacht werden müsse, um frühzeitig Anzeichen für einen Aufstand zu erkennen. Zu diesem Zweck richtete er die Dritte Abteilung ein. Die Existenz einer solchen Meinung erschien ihm allerdings nicht als begrüßenswert. Wie viele andere Adelige sprach er der breiten Bevölkerung ebenso die Berechtigung wie die Fähigkeit ab, sich eine Meinung zum Zeitgeschehen zu bilden.27 Erst unter Alexander II. beschleunigte und intensivierte sich die Entwicklung von Öffentlichkeit.28 Beispielsweise entstanden erstmals Vereine29 sowie Tageszeitungen, die für den Massenmarkt bestimmt waren.30 Doch auch nach den Großen Reformen konnten Öffentlichkeiten nicht als vermittelnde Kraft zwischen Obrigkeit und Bevölkerung agieren. Das lag nicht zuletzt daran, dass die Kaiser nicht bereit waren, der Öffentlichkeit diese Funktion zuzugestehen.31 Sowohl die gehemmte Entwicklung von Öffentlichkeit, als auch die enge Verbindung mit dem Adel spiegelte sich im Lexikon. Das Russische besaß lange kein klares Äquivalent zu Öffentlichkeit im Deutschen. Wie die übrigen europäischen Sprachen nahm es lat. publicus als Lehnwort auf. Das Substantiv publika und das Adjektiv publičnyj sind seit der Regierungszeit Peters I. ge25 McReynolds: The Press, 22; Plambeck, Petra: Publizistik im Rußland des 18. Jahrhunderts. Analyse der Aufrufe zur Zeit des Pugačev-Aufstandes 1773–1775. Hamburg 1982, 46–48. 26 Schierle: Semantiken, 244. 27 A. Ja. Bulgakov an K. Ja. Bulgakov, 7. Februar 1826. Zitiert nach: Iz pisem Aleksandra Jakovleviča Bulgakova k ego bratu. 1826-j god. In: RA 105 (1901), 339–437, hier 363; Rachmatullin: Krest’janskoe dviženie, 130 f.; Pis’mo nadvornago sovětnika Kristina k grafu A. I. Morkovu iz Moskvy ot 18-go janvarja 1826 goda. In: Šil᾽der, N. K.: Imperator Aleksandr I. Ego žizn᾽ i carstvovanie. Tom IV. Sankt-Peterburg 1898, 586–587, hier 587. 28 Renner, Andreas: Russischer Nationalismus und Öffentlichkeit im Zarenreich 1855–1875. Köln 2000, 137. 29 Ebd., 145. 30 McReynolds: The Press, 18. 31 Renner: Russischer Nationalismus, 146.
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bräuchlich, besetzten aber nie dasselbe semantische Feld wie Öffentlichkeit im Deutschen. Publika meinte und meint ›Publikum‹ im Sinn von ›Zuseherschaft‹; im 18. Jahrhundert konnte es etwas spezifischer auch den Adressatenkreis von Erlässen bezeichnen. Publičnyj meinte und meint ›öffentlich‹ rein in im Sinn von ›allgemein zugänglich‹ oder ›staatlich betrieben‹, etwa in publičnaja biblioteka (›öffentliche Bibliothek‹).32 Dem deutschen Substantiv Öffentlichkeit entspricht im heutigen Russisch obščestvennost’. Der Begriff entstand bereits im 18. Jahrhundert, diente aber noch um 1800 als Übersetzung von frz. social und nicht von frz. public. Beispielsweise konnte obščestvennost’ zu dieser Zeit ›Neigung zu einem geselligen Leben‹ bedeuten.33 Die Übersetzung von frz. public wiederum war noch nicht stabil, was bedeutet, dass sich das Verständnis von Öffentlichkeit erst entwickelte. Katharina II. verwendete in ihrem »Nakaz« (»Instruktion«) für die Gesetzgebende Kommission für ›öffentlich‹ etwa das Adjektiv gosudarstvennyj mit der Grundbedeutung ›staatlich‹.34 Am häufigsten stand für public aber obščestvo.35 Dessen Grundbedeutung lautete ›Gesamtheit von Menschen‹,36 sodass es für sehr unterschiedliche Formationen verwendet werden konnte, darunter die Gesellschaft, gesellschaftliche Vereinigungen, (nicht-orthodoxe) Glaubensgemeinschaften, Erziehungsanstalten sowie ab 1785 die neu geschaffenen Repräsentativverbände des Adels und der Stadtgemeinde. Im Unterschied zu den Stadtgemeinden galt der Adel als in sich homogen; die Standesvertretung (dvorjanskoe sobranie) wurde mit dem Stand als solchem gleichgesetzt.37 Deswegen war mit obščestvo im Sinn von ›die Gesellschaft‹ am Beginn des 19. Jahrhunderts nur mehr der Adel gemeint, und da häufig nur die gebildete, politisch interessierte Minderheit der Adeligen.38 Erst unter Alexander II. wurde obščestvennost’ als Bezeichnung für Öffentlichkeit gebräuchlich und signalisierte die Erweiterung sowohl der Teile der Bevölkerung, die mit Gesellschaft gemeint waren, als auch der von dieser Gesellschaft getragenen Öffentlichkeit.39 Um das bisher Gesagte zu rekapitulieren, ab dem 18. Jahrhundert entwickelten sich im Russländischen Reich mittlere Öffentlichkeiten. Diese waren 32 Schierle: Semantiken, 305; Vasmer: Russisches etymologisches Wörterbuch, 458. 33 Sorokin, Ju. S.: Razvitie slovarnogo sostava russkogo literaturnogo jazyka 30–90e gody XIX veka. Moskva, Leningrad 1965, 107. 34 Schierle: Semantiken, 240 f. 35 Ausführlich zu den Bedeutungsschattierungen siehe Dies.: Zur politisch-sozialen Begriffssprache der Regierung Katharinas II . Gesellschaften und Gesellschaft: »Obščestvo«. In: Scharf, Claus (Hg.): Katharina II ., Russland und Europa. Beiträge zur internationalen Forschung. Mainz 2001, 275–306. 36 Ebd., 305. 37 Ebd., 301. 38 Andreeva: Tajnye obščestva, 141. 39 Renner: Russischer Nationalismus, 149.
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allerdings in ihrer Entwicklung gehemmt, bzw. handelte es sich teilweise um »staatliche Veranstaltungen«, nicht um zivilgesellschaftliche Zusammenschlüsse. Auch war Öffentlichkeit vorwiegend eine Sache des Adels, und hier nur eines kleinen Teils davon. Samozvanstvo hatte unmittelbar nichts mit den adeligen Foren des Meinungsaustauschs zu tun; das bislang Gesagte ist aber insofern relevant, als deren Einschränkungen und Möglichkeiten Aufschluss über die kommunikativen Gepflogenheiten geben, die eine potenzielle Öffentlichkeit in Schlögls Sinn formten. Diese Gepflogenheiten werden im folgenden Abschnitt erläutert, weil sie der Ausgangspunkt sind, um zu begründen, warum samozvanstvo als Form von Öffentlichkeit eingestuft werden kann oder nicht. Es geht dabei also noch nicht um Öffentlichkeit, sei es in Habermas᾽ oder in Klaus᾽ Sinn, sondern um die vorgelagerte Stufe: die Bedingungen, unter denen die Kommunikation zwischen Herrscher und Untertanen unter Anwesenheit Dritter stattfand. Die folgenden Überlegungen gehen vom 17. Jahrhundert aus, werden aber auf das 18. Jahrhundert ausgedehnt. Die Matrix öffentlicher Kommunikation
Kommunikation war im Moskauer Reich ein wesentlicher Bestandteil der Herrschaftsausübung. Ab dem 16. Jahrhundert betonten die Herrscher ihre Bedeutung, indem sie die Botschaft vermittelten, wissen zu wollen, welche Klagegründe es im Reich gab und versprachen, sich darum zu kümmern. Ihre Untertanen gewöhnten sich daran, dass sie das Recht hatten, ihre Anliegen durch Bittschriften zum Ausdruck zu bringen und sahen den Zaren in der Pflicht, sich um diese zu kümmern.40 Ein weiteres Forum gemeinsamer Kommunikation bildeten die sobory, welche die Zaren einberiefen, um über schwierige Fragen mit ihren Untertanen Rat zu halten. Diese Begegnungen des Ratschlags und der Bitte besaßen einen ebenso präsentischen wie performativen Charakter: Was Suppliken angeht, nahm ein einzelner Bittsteller oder eine ganze Gruppe die Reise auf sich, zum Teil über beträchtliche Entfernungen,41 um für sich zu sprechen und übergab dazu einen Text, der entsprechend ehrerbietig formuliert war. Der Zar wiederum nahm die Schrift huldvoll entgegen. Anders gesagt, beide Seiten traten so auf wie es die andere erwartete, sodass die wechselseitige Beobachtung zur Zufriedenheit der Anwesenden ausfiel. Auf diese Weise wurde das hierarchische Verhältnis
40 Kivelson, Valerie: Muscovite »Citizenship«. Rights without Freedom. In: Journal of Modern History 74 (2002), 465–489, hier 473. 41 Trefilov: Proof of Sincere Love, 474.
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zwischen den Beteiligten ebenso bestätigt wie die aus diesem Verhältnis erwachsenden wechselseitigen Verpflichtungen. Ähnlich war es bei den sobory, welche das Ideal der Beratung verkörperten. Der Zar fragte performativ um Rat bei einem bestimmten Problem, und Vertreter seiner Untertanen versammelten sich, um diesen Rat zu geben.42 Die performativen Akte von Bitte und Beratung waren nicht bloße Schauspiele, sondern hatten reale Konsequenzen. Eine Bittschrift konnte zum Beispiel jemandem eine finanzielle Zuwendung oder einen Posten einbringen oder die Untersuchung eines mutmaßlichen Verbrechens einleiten. Auch wenn die sobory keine Ständeversammlungen zentraleuropäischen Zuschnitts waren, schon gar keine modernen Parlamente, besaßen ihre Meinungen Gewicht. Der Zar konnte sich dagegen entscheiden, eine solche Versammlung überhaupt einzuberufen, aber sobald er es tat, wäre er schlecht beraten gewesen, die Entscheidungen einfach zu ignorieren.43 Diesen performativen Akten der öffentlichen Kommunikation fehlten allerdings drei Merkmale, die wichtige Hinweise auf die Besonderheiten von Öffentlichkeitswerdung im Moskauer Reich des 17. Jahrhunderts, sowie, darauf aufbauend, auch im 18. und frühen 19. Jahrhundert geben: Sie waren vom Herrscher abhängig, sie traten ihm nicht gleichberechtigt gegenüber und Kritik zu üben gehörte nicht zu ihren Aufgaben. Die fehlende Unabhängigkeit vom Herrscher zeigt sich bei den sobory darin, dass sie nur dann ohne Einladung des Herrschers zusammentreten konnten, wenn es, wie in der Zeit der Wirren 1610–1613, keinen Monarchen gab. Die vorhandenen Quellen legen außerdem nahe, dass die Zaren vor allem in schwierigen Zeiten und in einer Position der Schwäche auf Beratungen zurückgriffen. Aus dem 16. Jahrhundert sind etwa nur wenige sobory bekannt, während Michail Romanov, der wenig durchsetzungsstarke Begründer einer neuen Dynastie, seine Untertanen häufig um Rat fragte. Um eine Bittschrift abzufassen war keine Erlaubnis nötig, aber weder war der Zar verpflichtet, Gelegenheiten für die Übergabe zu schaffen, noch dazu, jeder einzelnen Supplik Aufmerksamkeit zu schenken. Zeigte sich der Zar nicht, konnten seine Untertanen nicht erwirken, eine Schrift zu platzieren (oder eine andere Möglichkeit zu bekommen, ihre Anliegen zu formulieren), und ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts war die Übergabe ohnehin immer wieder und für zunehmend längere Zeit verboten. Die Obrigkeit vermittelte, dass das Recht auf Mitteilung existierte, die Untertanen nahmen es als existierend an, und wenn die Performanz dieses Rechts unterblieb, konnte das 42 Schlögl: Anwesende und Abwesende, 318. 43 Zu den sobory siehe ausführlich Bushkovitch, Paul: The Tsar and the Sobor: Russia 1613– 53. In: Ders. (Hg.): The State in Early Modern Russia. New Directions. Bloomington / Indianapolis 2019, 134–161.
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das Vertrauen in die Obrigkeit unterminieren.44 Aber das Recht war nirgends verbrieft und konnte nicht geltend gemacht werden. Letzteres gilt für alle Untertanenrechte im Moskauer Reich, die Kivelson in einem Aufsatz analysierte:45 Sie existierten nicht schriftlich, sondern nur in ihrer performativen Anwendung, und wenn die Performanz nicht stattfinden konnte, gab es keine Möglichkeit, sie als abstrakte Entität geltend zu machen. Das hat weniger mit einem Streben nach autokratischer Machtfülle zu tun als mit der präsentischen Prägung des Moskauer Reiches, weil sich an diesem Umstand zeigt, dass körperliche (performative) Aktivitäten und deren Beobachtung gegenüber abstrakten Konzeptionen in überzeitlichen Texten bevorzugt wurden. Wo aber das performative Handeln anwesender Körper im Vordergrund steht, ist Meinungspluralismus unerwünscht. Jede Art von Dissens gefährdet das Ziel, über die Zusammenkunft eine eindeutige Botschaft zu vermitteln, etwa jene, den Status quo zu bestätigen.46 Daraus ergibt sich das zweite und dritte Merkmal des Austauschs zwischen Zar und Untertanen, das hierarchische Gefälle und die Abwesenheit von Kritik. Da die bestehende Hierarchie performativ durch den Gestus des Bittens sowie die entsprechenden sprachlichen Formeln wie die Selbstbezeichnung als Waisen, Sklaven, etc. in der Begegnung bestätigt wurde, folgt daraus automatisch, dass es in diesem Forum keine Kritik geben konnte, weil nicht vorgesehen war, dass von Gleich zu Gleich gesprochen wurde. Bittschriften konnten auf individuelle Notlagen oder auf mutmaßliche Verbrechen aufmerksam machen, die sonst nicht zur Kenntnis des Zaren gelangt wären, aber nicht grundsätzlich werden, indem sie ihm zum Beispiel schlechte Herrschaft vorwarfen. Sobory berieten über Fragen, deren Relevanz nicht zu bestreiten ist, etwa die Entscheidung über Krieg und Frieden bzw. die Finanzierung von Feldzügen. Die Teilnehmer hätten diese Themen aber nicht als Ausgangspunkt benutzen können, um die Herrschaft einer Person oder das Herrschaftssystem als solche anzuzweifeln. Selbstverständlich waren sowohl sprachliche Demutsgesten, als auch die Abwesenheit von Kritik in erster Linie die Konventionen einer spezifischen kommunikativen Situation, die eingehalten werden mussten, damit der eigene Beitrag überhaupt Beachtung fand. BittstellerInnen befanden sich immer in der untergeordneten Position, und selbst Rebellen pflegten eine Rhetorik, die sie dem Zaren unterstellte und die Treue ihm gegenüber betonte. Das bedeutet nicht, dass echte Kritik nicht gedacht, individuelle Interessen und Wünsche 44 Am Beginn des Moskauer Aufstandes von 1648 stand die Weigerung von Aleksej Michaj lovič, eine Bittschrift anzunehmen. 45 Kivelson: Muscovite »Citizenship«. 46 Schlögl: Anwesende und Abwesende, 316.
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nicht verfolgt werden und Aufständische ihre Zarentreue nicht innerlich überwinden konnten. Es bedeutet aber, dass derartige Haltungen in der öffentlichen Kommunikation zwischen Herrscher und Untertanen nicht gutgeheißen wurden und darum kein Raum für sie zur Verfügung stand. Die gerade beschriebenen Merkmale öffentlicher Kommunikation verwandelten sich später in die Probleme, mit denen mittlere Öffentlichkeiten im 18. Jahrhundert zu kämpfen hatten: Entstanden sie von selbst, ohne herrscherliche Erlaubnis, waren sie ständig in ihrer Existenz bedroht. Andere Öffentlichkeiten entstanden als staatliche Veranstaltung und hatten es danach doppelt schwer, sich vom Kaiser / von der Kaiserin zu emanzipieren. Das ist ein Zeichen dafür, dass Pluralismus und Kritik schwierige Konzepte blieben, auch wenn die Monarchie im 18. Jahrhundert nicht mehr die des 17. Jahrhunderts war – oder gerade, weil eine Weiterentwicklung stattgefunden hatte. Infolge der Angleichung an die absoluten Monarchien Zentral- und Westeuropas bestanden beispielsweise immer weniger Gelegenheiten, um die performativen Akte von Bitte und Beratung auszuüben. Es kam aber nicht zum Ausgleich, indem etwa neue Formen von Meinungsäußerung oder Partizipation etabliert worden wären. So blieben die Untertanen auf Bittschriften und Rebellion verwiesen, falls sie ihrem Unmut Luft machen wollten.47 Um das Auftreten falscher Mitglieder der Dynastie als Öffentlichkeit bezeichnen zu können, müsste diese kommunikative Matrix zumindest teilweise durchbrochen worden sein.
6.2 Samozvanstvo und Öffentlichkeit Die Frage der Reichweite: samozvanstvo und Publizität
Falls ein samozvanec / eine samozvanka nicht sofort nach der ersten Offenbarung als Mitglied der Dynastie angezeigt und verhaftet wurde, weisen die Begegnungen zwischen ihm / ihr und potenziellen AnhängerInnen mehrere Merkmale einer mittleren Öffentlichkeit auf: Der Einstieg in die Aneignung einer fremden Identität konnte eine Unterhaltung mit Fremden über Missstände sein. Die so angestoßene Performanz verteilte sich auf mehrere Begegnungen zwischen samozvancy / samozvanki und (potenziellen) AnhängerInnen. Ihrer Form entsprechend gruppierten sich die Beteiligten in das jeweilige Mitglied der Dynastie und dessen Untertanen (in spe), sodass das Merkmal der Ausdifferenzierung unterschiedlicher Rollen erfüllt war. Dabei erteilte das vermeintliche Mitglied der Dynastie Anordnungen, die alle Übrigen zu 47 Kivelson: Muscovite »Citizenship«, 474.
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befolgen hatten.48 Eine weitere Differenzierung ergab sich daraus, dass sich nicht alle AnhängerInnen gleich stark in die Performanz einbrachten. Ein Teil unterstützte grundsätzlich das falsche Mitglied der Dynastie und unternahm nichts, was der Performanz ein rasches Ende gesetzt hätte, investierte aber auch nicht besonders in deren Erfolg. Ein paar wenige unterstützten den samozvanec / die samozvanka tatkräftig und scheuten dafür weder Mühen, noch allfällige Kosten. Das sind aber nicht alle Merkmale mittlerer Öffentlichkeiten. Sie zeichnen sich des Weiteren dadurch aus, dass die Zahl ihrer Mitglieder begrenzt ist, diese aber versuchen, weitere AdressatInnen zu erreichen und von ihren Anliegen zu überzeugen. Samozvanstvo kann also nur in diese Kategorie eingeordnet werden, falls samozvancy und samozvanki versuchten, AnhängerInnen über den Personenkreis hinaus zu gewinnen, mit dem sie unmittelbar zu tun hatten. In diesem Abschnitt wird unter der Überschrift Publizität erörtert, ob das zutrifft. Ein grundlegendes Problem der möglichen Öffentlichkeitswerdung von samozvanstvo lässt sich veranschaulichen, indem die Kommunikation zwischen den samozvancy / samozvanki und potenziellen AnhängerInnen während der Performanz als Interaktion beschrieben wird. In der Soziologie wird Interaktion als Kommunikation unter Anwesenden definiert. Alle Beteiligten nehmen einander wahr (sehen, hören einander) und wissen, dass sie ihrerseits wahrgenommen werden.49 Daraus folgt, dass eine Interaktion nicht mit einer beliebig großen Zahl Anwesender möglich ist. Je mehr Leute da sind, desto weniger von ihnen können sich aktiv in die Kommunikation einbringen, und desto mehr verfolgen das Geschehen passiv.50 Auch zeitlich ist eine Interaktion nicht beliebig ausdehnbar. Sie endet, sobald die Beteiligten auseinandergehen. Zwar können dieselben Personen am selben Ort und zum selben Zweck, aber zu einem anderen Zeitpunkt erneut zusammenkommen, aber dann handelt es sich schon um eine neue Interaktion.51 Der Kommunikation über Interaktion wohnt also insofern eine Beschränkung inne, als nur die Anwesenden erreicht bzw. einbezogen werden. Die Abwesenden bleiben außen vor und werden oft als irrelevant erachtet.52 Um 48 Wie in Kapitel 5.1 ausgeführt, konnten die tatsächlichen Autoritäts- und Abhängigkeitsverhältnisse zwischen den Beteiligten dem genau entgegengesetzt sein. 49 Kieserling, André: Kommunikation unter Anwesenden. Studien über Interaktionssysteme. Frankfurt am Main 1999, 15. In der Geschichtswissenschaft erklärte Rudolf Schlögl die Kommunikation unter Anwesenden zum wesentlichen Merkmal frühneuzeitlicher Gesellschaften. Siehe dazu Schlögl, Rudolf: Kommunikation und Vergesellschaftung unter Anwesenden. Formen des Sozialen und ihre Transformation in der Frühen Neuzeit. In: Geschichte und Gesellschaft 34/2 (2008), 155–224; Ders.: Anwesende und Abwesende. 50 Kieserling: Kommunikation unter Anwesenden, 44. 51 Ebd., 15 f. 52 Ebd., 17.
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samozvanstvo als mittlere Öffentlichkeit einzustufen, müssten die Beteiligten aber sowohl den Willen, als auch die Möglichkeit gehabt haben, die Abwesenden zu erreichen. Dem standen pragmatische Überlegungen entgegen. Sich für ein Mitglied der Dynastie auszugeben war mit dem Risiko behaftet, angezeigt und verhaftet zu werden. Wer verhaftet wurde, musste damit rechnen, am Ende der Untersuchung zum Tode verurteilt zu werden. Dieses Grundrisiko ließ sich im Einzelfall kaum kalkulieren. Wie in Kapitel 1.3 ausgeführt, war samozvanstvo im Normalfall eine Interaktion mit Fremden. Dadurch war gewährleistet, dass samozvancy und samo zvanki nicht alleine deswegen scheiterten, weil sie als sie selbst erkannt wurden. Allerdings konnten sie bei Fremden nicht wissen, ob diese sich überzeugen lassen bzw. bereit sein würden, sie als Mitglied der Dynastie zu akzeptieren oder im Gegenteil ihre Untertanenpflicht zur Anzeige suspekter Vorgänge ernst nahmen. Kam ein künftiger samozvanec wie Pugačev in eine Gegend, die sich an der Schwelle zum Aufstand befand und hatte er die Absicht, davon zu profitieren, setzte er sich einer vergleichsweise geringen Gefahr aus, angezeigt und verhaftet zu werden. Doch nicht einmal Pugačev hätte sich im Vorhinein ganz sicher sein können, dass er nicht an Kosaken geraten würde, die auf der Seite der Zentralmacht standen. Es ist praktisch nichts darüber bekannt, dass zukünftige samozvancy und samozvanki versucht hätten, dieses Risiko zu senken, indem sie vor der Offenbarung als Mitglied der Dynastie in einer Ortschaft Erkundigungen anstellten, wer aufgrund seiner Lebenssituation oder Persönlichkeit eher für ihre Geschichte empfänglich sein würde. Nur der falsche Aleksej Petrovič Timofej Truženik könnte sich in der Jamenskaja stanica umgehört haben, bevor er Larion Starodubcev zum Komplizen auserkor. Es ist verdächtig, dass er mit Starodubcev zielsicher jenen Dorfbewohner ansprach, der aufgrund seiner Konflikte mit den anderen Kosaken besonders einfach dazu zu bringen war, den Großfürsten zu geben. Truženik könnte aber auch zufällig an diese Information gelangt sein, denn als die beiden später AnhängerInnen anwarben, sind keinerlei Vorsichtsmaßnahmen erkennbar. Dasselbe gilt für andere Fälle von samozvanstvo. Da solche Erkundigungen also kaum stattfanden, konnten samozvancy und samozvanki das Risiko für ihr eigenes Leben nur verringern, indem sie die Zahl der MitwisserInnen (AnhängerInnen) möglichst gering hielten und Publizität weitgehend vermieden. Wie bereits in Kapitel 5.1 ausgeführt, bestand ein Zusammenhang zwischen der Agenda der samozvancy und samozvanki und der ungefähren Zahl ihrer AnhängerInnen. Eine große Anhängerschaft war keine Voraussetzung, um als Mitglied der Dynastie erfolgreich zu sein. Das Beispiel des falschen Paul Petrovič Nikolaj Sorokin zeigt deutlich, wie sich der Kreis der Mitwissenden abhängig davon erweiterte, welches Ziel er gerade verfolgte. Zuerst gab er sich nur gegenüber seiner Geliebten Irina Trofimova als Groß-
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fürst aus, damit sie sich bereiterklärte, mit ihm an die Volga zu fliehen (siehe auch Kapitel 5.1). Sobald er auf diesem Weg Irinas Einverständnis erreicht hatte, trug er ihr auf, sie solle ihren Verwandten erzählen, wer er sei – wohl in der Annahme, als Großfürst werde ihm zugestanden, tun und lassen zu können, was immer er wolle. Kurz bevor sich die beiden schließlich auf den Weg machten, drängte Sorokin Irina dazu, so vielen BewohnerInnen der stanica wie möglich zu erzählen, dass er Paul sei, damit sie nichts gegen die Flucht unternehmen würden.53 Auch an diesem Punkt strebte Sorokin nur eine begrenzte Publizität an, dennoch waren alle DorfbewohnerInnen schon wesentlich mehr Mitwissende als nur seine Geliebte am Beginn. Korrespondierend damit hatte das Vorhaben, Irina zur Flucht an die Volga zu bewegen einen anderen Maßstab als der Versuch, eben jene Flucht abzusichern. Der erste falsche Dmitrij, der Boris Godunov herausforderte, wäre mit einem, zwei oder auch fünf Anhängern zum Scheitern verurteilt gewesen. Er brauchte nicht nur ein schlagkräftiges Heer, sondern auch möglichst viele Menschen, die seine Geschichte kannten und tatsächlich glaubten oder aus pragmatischen Gründen akzeptierten. Deswegen ließ er Aufrufe mit seiner Version des Geschehens verbreiten. Ähnliches galt für Pugačev: Damit der Aufstand erfolgreich war, brauchte er möglichst viele Kämpfer und möglichst breiten Rückhalt unter der Bevölkerung der vom Aufstand betroffenen Gebiete. Danach richteten sich Inhalt, Anzahl und Adressatenkreis der in seinem Namen verfassten Manifeste. Der Zwang zur Publizität machte Pugačev allerdings auch verwundbar, weil ihn jeder x-Beliebige enttarnen hätte können. Im Gegensatz zu diesen Beispielen verfolgten die meisten samozvancy und samozvanki kleine Agenden (siehe Kapitel 5.1), für deren Umsetzung tatsächlich ein, zwei oder fünf AnhängerInnen ausreichend waren. Deswegen und zum Teil auch wegen einer rasch erfolgten Verhaftung war eine geringe Zahl von AnhängerInnen die Regel und nicht die Ausnahme. Usenko berechnete für die samozvancy und samozvanki, die im Zeitraum 1762–1800 auftraten, wie viele AnhängerInnen sie jeweils hatten. Er ging von 60 Fällen aus;54 diese Zahl ist zu hoch für die Auswahlkriterien der vorliegenden Monografie, weil Usenko unter anderem auch falsche Heilige und biblische Gestalten einbezieht. Relevant sind also nicht die Zahlen, sondern die ungefähren Größenverhältnisse, die sie repräsentieren. Von diesen 60 samozvancy und samozvanki gewannen Usenko zufolge nur 26 überhaupt AnhängerInnen. Von diesen 26 Personen gewannen sieben mehr als zwanzig AnhängerInnen. Am häufigsten (acht Fälle) war eine Zahl von drei bis zehn AnhängerInnen.55 Hier bestätigt sich der Eindruck, dass eine Handvoll AnhängerInnen der Normalfall war. 53 RGADA , f. 6, o. 1, d. 541, l. 3 ob; l. 5. 54 Usenko: Monarchičeskoe samozvančestvo, 305. 55 Ebd., 321.
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Usenko scheint die geringe Anzahl von AnhängerInnen auf ein Defizit an Überzeugungskraft, Intelligenz oder Planung bei den samozvancy und samozvanki zurückzuführen, weil er schreibt, dass sie nicht mehr Menschen von sich überzeugen konnten, und diesen Umstand mit ne sumeli ausdrückt anstatt mit ne smogli.56 Es stimmt, dass einige samozvancy und samozvanki ihre Handlungen nicht durchdachten, weil sie zum Beispiel stark alkoholisiert waren. Aber insgesamt ist eine geringe Zahl von AnhängerInnen darauf zurückzuführen, dass sie gar keinen größeren Kreis von UnterstützerInnen brauchten. Das lässt sich an zwei Umständen beobachten. Zum einen gaben sich samozvancy und samozvanki häufig nicht an öffentlichen Orten zum ersten Mal für ein Mitglied der Dynastie aus, sondern in Privathäusern, wo die Zahl der Anwesenden und somit potenzieller MitwisserInnen beschränkt war. Der erste vorsichtige Vorstoß konnte bald in ein Streben nach größerer Publizität übergehen, sodass dieser Umstand nicht ins Auge springt. Er ist aber wichtig. Sobald Pugačev von den ersten wenigen Kosaken akzeptiert worden war, verbreitete sich beispielsweise am Jajk die Nachricht von der Ankunft »Peters III.« sehr schnell. Der falsche Aleksej Petrovič Aleksej Rodionov offenbarte sich 1723 gegenüber dem Leibeigenen Evsej Osipov und dessen Frau Praskov’ja in deren Haus.57 Der falsche Peter III. Gavrila Kremnev offenbarte sich 1765 im Haus des Popen von Novosoldatskoe.58 Pugačev offenbarte sich zwei Mal in Privathäusern und ein Mal in einem privaten Badehaus, als außer ihm nur Stepan Oboljaev anwesend war. Der falsche Peter III. Nikolaj Kretov offenbarte sich 1773 gegenüber dem Kaufmann Andrej Sagajdašnikov in seiner Wohnung.59 Der falsche Peter III. Iov Mosjakin offenbarte sich 1774 im Haus seines Quartiergebers Ievlev den Angehörigen des Haushalts.60 Der falsche Sohn Katharinas II. Osip Šurygin offenbarte sich 1785 gegenüber seinen Quartiergebern, dem Bauer Osip Kongurov und dessen Frau, in deren Haus.61 Der oben erwähnte Sorokin offenbarte sich gegenüber Irina zwar im Freien, aber außer Hörweite von Dritten. Diese Beispiele ließen sich vermehren. Zum anderen lässt sich immer wieder die eigentümliche Konstellation beobachten, dass samozvancy und samozvanki nur in einem Teil eines größeren Ganzen (eines Dorfes, eines Klosters und so fort) aktiv waren. Bei diesen Fällen erstaunt immer wieder aufs Neue, wer nicht Bescheid wusste und dass das möglich war. Nachdem der falsche Peter Petrovič Larion Starodubcev verhaftet 56 Ebd. 57 RGADA , f. 371, o. 1, d. 1843, l. 4. 58 RGADA , f. 6, o. 1, d. 402, l. 34. 59 RGADA , f. 6, o. 1, d. 535, l. 5. 60 RGADA , f. 6, o. 1, d. 528, l. 6. 61 RGADA , f. 7, o. 2, d. 2681, l. 3 ob.
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worden war, sagte seine Frau aus, sie habe nicht gewusst, dass er sich für den Großfürsten ausgegeben habe. Er habe nur gesagt, sie würden nach Moskau gehen. Starodubcevs Stieftochter sagte aus, sie habe Bescheid gewusst, weil ein Kosake sie auf der Straße scherzhaft Zarentochter genannt habe, doch nichts von Starodubcev selbst erfahren.62 Im ersten Moment erscheint es kaum glaubwürdig, dass die beiden Frauen nicht bemerkt hätten, was das Familienoberhaupt und mehrere ihrer NachbarInnen umtrieb, doch angesichts dessen, dass samozvancy und samozvanki bestrebt waren, den Kreis der MitwisserInnen möglichst klein zu halten, könnten sie durchaus die Wahrheit gesagt haben. Der falsche Peter III. Petr Černyšev gewann seine Anhänger in der Verbannung in Sibirien durch ein Schneeballsystem (siehe Kapitel 5.1), sodass er auf der einen Seite nicht kontrollieren konnte, wer von ihm erfuhr und wer nicht. Auf der anderen Seite weihte sein Komplize, der gewesene Pope Lev Evdokimov, nur diejenigen ein, die er für besonders vertrauenswürdig hielt.63 Auf diese Weise verbreitete sich die Kunde von der Anwesenheit »Peters III.« zwar weit über die Dučar-Fabrik hinaus, in der Černyšev seine Zwangsarbeit verrichtete, gehörte aber gleichzeitig in der Fabrik selbst zu den bestgehüteten Geheimnissen. Der falsche Peter III. Dmitrij Popovič gewann unter den BewohnerInnen der stanica Alekseevka einige überzeugte AnhängerInnen, aber die Mehrheit verhielt sich gleichgültig, und er versuchte auch nicht, diese Mehrheit für sich zu gewinnen, weil er mit einem sicheren Winterquartier sein vordergründiges Ziel bereits erreicht hatte. Wie in Kapitel 5.3 beschrieben, wurde ihm zum Verhängnis, dass seiner vermeintlichen Tochter Ustin’ja Urazovskaja ihr neuer Status als »Zarentochter« zu Kopf gestiegen war. Der falsche Peter III. Ivan Kolyčev fand wochenlang in der Zelle des Kiever Frolovskij-Klosters Unterschlupf, in der seine Verwandte und Anstifterin Mar’ja Tjumeneva lebte. Obwohl es sich um ein Frauenkloster handelte, blieb sein Aufenthalt dort unbemerkt. Lange wusste außer Tjumeneva nur die Nonne Piora über ihn Bescheid. Erst ein anonymer Brief, der Monate später in der trapeznaja des Klosters hinterlegt wurde, brachte eine Untersuchung ins Rollen.64 Der anonyme falsche Konstantin Pavlovič, der 1826 im Gouvernement Sara tov auftauchte, vermied Publizität besonders konsequent. Von der Fastenzeit bis zum Sommer 1827 hielt er sich im Dorf Romanovka auf. In dieser Zeit ging er so gut wie nicht vor die Tür, sodass seine Anwesenheit für viele Einheimische nur ein Gerücht war und von der Obrigkeit gänzlich unbemerkt blieb. 62 RGADA , f. 6, o. 1, d. 187, l. 26–26 ob. 63 Maksimov: Sibir’ i katorga, 450. 64 RGADA , f. 7, o. 2, d. 2744, l. 1. Trapeznaja kann sowohl das Refektorium eines Klosters meinen, als auch einen niedrigen Anbau an der Westseite einer Kirche.
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Im Frühjahr zeigten die Einheimischen allerdings eine auffällige Neigung zum Ungehorsam. Der für den Bezirk zuständige Polizeibeamte (ispravnik) versuchte zunächst vergeblich, der Ursache auf den Grund zu gehen und die Wogen zu glätten. Schließlich wusste er sich nicht mehr anders zu helfen als Truppen zur Hilfe zu rufen. Bei deren Ankunft brach der Widerstand sofort zusammen und eine Untersuchung der Vorfälle konnte beginnen. Erst da stellte sich heraus, dass sich die ganze Zeit über ein falscher Konstantin im Dorf aufgehalten und die Einheimischen zum Ungehorsam ermuntert hatte. Bis der Befehl erging, »Konstantin« zu verhaften, waren er und seine beiden Komplizen längst über alle Berge.65 Nur wenige samozvancy und samozvanki waren der Meinung, eine möglichst große Bekanntheit sei ihrer Sache dienlich und verbargen ihre Ankunft in einem Dorf oder einer Stadt nicht. Der gerade erwähnte falsche Konstantin kam in den letzten Tagen des Jahres 1826 in Ošmetovka an, und verhielt sich dort ganz anders als ein paar Wochen später in Romanovka. Er fuhr in einem mit einer Trojka bespannten Schlitten mitten am Tag im Dorf ein und sorgte dafür, dass alle Einheimischen erfuhren, dass Konstantin zu ihnen gekommen sei. Durch sein geradezu provozierend selbstbewusstes Auftreten gelang es ihm, den Dorfvorsteher so zu überrumpeln, dass sich dieser nicht dazu durchringen konnte, die Behörden zu verständigen.66 Aber wie später aus Romanovka verschwand der falsche Konstantin auch aus Ošmetovka gewissermaßen von einem Moment auf den anderen und ohne Hinweise auf seinen Verbleib zu hinterlassen. Wie in Kapitel 5.3 geschildert, plante der falsche Aleksej Petrovič Andrej Cholščevnikov seinen feierlichen Einzug in Arzamas vor den Augen des Voevoden und der gesamten Bevölkerung. Ein anderer falscher Aleksej Petrovič, Ivan Minickij, ging ähnlich vor. Als ersten Schritt ließ er den Popen des Dorfes Jaroslavec zu sich rufen, der allen verkünden sollte, dass er Aleksej sei. Später feierte der Pope auf Minickijs Geheiß eine Messe, während der die anwesenden Gläubigen den Treueeid auf ihn leisten sollten. Über die Vermittlung des Popen stellte er Publizität her, und durch die Vereidigung trat Minickij formal mit allen anwesenden Gläubigen in eine engere Beziehung. Der falsche Peter III. Petro Nesterenko bestürmte seinen Bekannten Vasilij Forostjanko, »allen« zu erzählen, dass er der Kaiser sei. Forostjanko zufolge bestand Nesterenkos einziges Anliegen darin, dass möglichst viele Leute über ihn als Peter III. Bescheid wissen sollten. Er versuchte aber nicht, die Eingeweihten enger an sich zu binden und AnhängerInnen aus ihnen zu machen.67
65 Mordovcev: Odin iz Lže-Konstantinov, 135 f.; 142; 148; 152. 66 Ebd., 130 f. 67 RGADA , f. 6, o. 1, d. 544a, l. 2; RGADA , f. 7, o. 2, d. 2807, l. 16.
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Aus diesen Beispielen ergibt sich, dass eine möglichst große Publizität grundsätzlich nicht das Ziel der samozvancy und samozvanki war. Wie viele Menschen sie um sich scharten, hing nicht zuletzt von der Agenda ab. Prinzipiell galt, je weniger MitwisserInnen, desto besser, weil so das Risiko einer Verhaftung sank. Der Impuls, so verdeckt als möglich zu agieren, war größer als der Wunsch, bekannt zu werden. Zwar lässt sich diese Tendenz nicht zu einem Kennzeichen von samozvanstvo schlechthin erheben, weil sie nicht bei allen samozvancy und samozvanki feststellbar ist. Nichtsdestoweniger ist die geringe Publizität in vielen Fällen der Grund, warum das Auftreten eines falschen Mitglieds der Dynastie keine mittlere Öffentlichkeit begründete. Das wiederum bedeutet, dass die Entstehung von Öffentlichkeit nicht als allgemeines Merkmal von samozvanstvo identifiziert werden kann. Im nächsten Abschnitt wird untersucht, ob sich dieser Befund bestätigt oder widerlegt wird, wenn die Offenheit des Zugangs über den Adressatenkreis schriftlicher Aufrufe untersucht wird. Die Frage des Adressatenkreises: Kontaktaufnahme über Aufrufe
Versuchten samozvancy und samozvanki, die Kommunikation mit potenziellen AnhängerInnen über den Rahmen der Interaktion hinaus auszudehnen, hatten sie die Möglichkeit, über ein Schneeballsystem persönliche Kontakte zu knüpfen (für Beispiele siehe Kapitel 5.1) oder schriftliche Aufrufe verbreiten zu lassen. Letzteres ist für die Frage nach der Einstufung von samozvanstvo als mittlere Öffentlichkeit besonders wichtig, weil die Auftraggeber oder Verfasser von Aufrufen etwas taten, was für die Mitglieder mittlerer Öffentlichkeiten typisch ist: Sie versuchten, weitere Gleichgesinnte zu gewinnen, indem sie ihre Sicht der Dinge, Forderungen und Ideen in schriftliche Form bringen ließen. Unabhängig von dem Drei-Ebenen-Modell gilt als wichtiges Merkmal von Öffentlichkeit, dass die Beteiligung im Prinzip allen Menschen offenstehen muss, auch wenn in der Praxis nicht alle anwesend sein und sich aktiv beteiligen können.68 Ein Ausschluss darf weder durch die soziale Zugehörigkeit, noch durch das Geschlecht, allfälliges Fachwissen oder aufgrund eines anderen Kriteriums erfolgen.69 Ob samozvanstvo eine mittlere Öffentlichkeit begründete, hängt also auch davon ab, wie falsche Mitglieder der Dynastie bei der Ausweitung des Adressatenkreises konkret vorgingen – wen sie einluden, sich ihnen anzuschließen und ob die Bekanntmachungen so formuliert waren, dass sie möglichst viele Menschen ansprachen. Das ist das Thema dieses Abschnitts. 68 Gerhardt, Volker: Öffentlichkeit. Die politische Form des Bewusstseins. München 2012, 37. 69 Gerhards / Neidhardt: Strukturen und Funktionen, 45 f.
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Selbstverständlich ist der universelle Zugang zu Öffentlichkeit eine Ideal setzung, die zwar ausgehend von gegenwärtigen demokratischen Gesellschaften formuliert wurde, aber nicht einmal in diesen vollständig erfüllt sein dürfte. Der springende Punkt ist also nicht, ob samozvanstvo diesem Merkmal hundertprozentig entsprach, sondern, wie stark sich die kommunikativen Gepflogenheiten des Moskauer und Russländischen Reichs auswirkten, die zu diesem Idealbild in offensichtlicher Spannung stehen. Die zuvor skizzierte performative Kommunikation der Bitte und des Ratschlags funktionierte, wie die Gesellschaftsordnung insgesamt, über vertikale Bindungen. Ein Untertan, eine Familie, ein Kloster, etc. wandte sich an den Zaren um Hilfe, während sich normalerweise nicht mehrere Gruppen gemeinsam gegenüber dem Zaren als Gesellschaft organisierten.70 Es war unüblich, weil nicht notwendig, jene Universalität und Inklusion herzustellen, die Öffentlichkeit im besten Fall auszeichnet. Ob es gerechtfertigt ist, samozvanstvo als mittlere Öffentlichkeit einzu stufen, hängt des Weiteren davon ab, welche Funktion der Verbreitung von Aufrufen im Rahmen einer Performanz im Vordergrund stand. Erstens handelte es sich bei den Aufrufen um Mittel der Performanz. Mit dem Verfassen und Verteilen solcher Texte imitierten samozvancy und samozvanki die Art und Weise, wie sich HerrscherInnen an die Masse ihrer Untertanen wandten. Sie legten ebenso »herrschertypisches« Verhalten an den Tag als wenn sie einen Gottesdienst bestellten oder eine Strafe verhängten. Dabei übernahmen sie nicht nur ein bestimmtes Medium, sondern auch die Art und Weise, wie über dieses Medium kommuniziert wurde. Ausgehend von der ursprünglichen Situation handelte es sich um einseitige Mitteilungen entlang eines hierarchischen Gefälles, die keinen wechselseitigen Austausch vorsahen und nicht die Merkmale einer Öffentlichkeit aufweisen. Diese Gegebenheiten müssten bei samozvanstvo durchbrochen worden sein, um von der Entstehung von Öffentlichkeit sprechen zu können. Äußerlich müsste Gleichheit zwischen echten und falschen Mitgliedern der Dynastie bestehen, inhaltlich, bzw. von der Gestaltung der Kommunikation her ein Unterschied. Zweitens waren schriftliche Mitteilungen das probateste Mittel, um die bei der Interaktion Abwesenden zu erreichen. Unter diesem Gesichtspunkt fällt ihr Gebrauch unter das Stichwort Strategie. Angesichts des geringen Anteils an Lesefähigen wurden Aufrufe im Moskauer und Russländischen Reich auf öffentlichen Plätzen verlesen. Danach teilten die Anwesenden die Neuigkeiten mit den Abwesenden. Das war für samozvancy und samozvanki günstig, da die Nachricht durch diese Zwischenstufe an Glaubwürdigkeit gewann. Sie war nicht mehr der Inhalt eines offiziellen Papiers, sondern die Mitteilung
70 Kivelson: Muscovite »Citizenship«, 470.
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Samozvanstvo als Performanz
eines Bekannten, und Bekannte waren tendenziell vertrauenswürdiger als offizielle Kanäle. Den größten Kreis an AnhängerInnen versuchten die samozvancy der Zeit der Wirren, der falsche Peter Petrovič Larion Starodubcev sowie Pugačev zu gewinnen. Alle Genannten benutzten zu diesem Zweck Aufrufe. Gemessen an der Gesamtzahl der Fälle sind das wenige, was wohl damit zusammenhängt, dass samozvancy die Kontrolle über das Geschehen abgaben, wenn sie Aufrufe benutzten. Die jeweiligen dörflichen Autoritäten bestimmten, ob das überhaupt möglich war und steuerten danach die Rezeption des Gehörten. Kam dem Dorfvorsteher der Inhalt verdächtig vor, konnte er die Verlesung unterbinden und sogar all jene verhaften lassen, die ein Exemplar besaßen oder an der Verbreitung beteiligt gewesen waren.71 Wenn etwas verlesen werden durfte, verband sich das hingegen automatisch mit der Botschaft, das auch zu glauben und sich danach zu richten. Der Pope besaß keine derartigen Befugnisse, aber wenn er öffentlich Zweifel anmeldete, konnte das ebenfalls die Einstellung der Anwesenden beeinflussen.72 Auf die Aufrufe, die der erste falsche Dmitrij und Pugačev verbreiten ließen, werde ich nicht näher eingehen, weil das schon an anderer Stelle ausführlich geschehen ist.73 Stattdessen werde ich die im Vergleich dazu wenig beachteten Aufrufe des falschen Peter Petrovič Larion Starodubcev74 in Hinblick auf die Reichweite des Inhalts und die Bedingungen der Kommunikation untersuchen. Nur Nina Razorenova hat diesen Quellen bislang nähere Aufmerksamkeit geschenkt.75 Sie interessierte sich für vor allem für die soziale Zusammensetzung des Adressatenkreises. Daraus ergeben sich zwar auch Rückschlüsse auf die Reichweite und die Bedingungen der Kommunikation, aber Razorenova hob diese Punkte nicht hervor. Wie in Kapitel 3.3 erwähnt, musste Starodubcev nicht lange nach Truženiks Verhaftung die Jamenskaja stanica verlassen, weil er sich mit der Begründung 71 RGADA , f. 6, o. 1, d. 187, l. 77. 72 Ebd., l. 73. 73 Zum ersten falschen Dmitrij siehe Perrie: Pretenders and Popular Monarchism, 63–66; zu Pugačev siehe Čistov: Russkie narodnye social’no-utopičeskie legendy, 155–162 und Plambeck: Publizistik, 66–143. 74 Starodubcev selbst bezeichnete sie als jarlyki (in seinem Dialekt erlyki; RGADA , f. 6, o. 1, d. 187, l. 13.). Damit waren ursprünglich Urkunden gemeint, die den Fürsten der Rus’ bestätigten, ihren Tribut an den Khan der Goldenen Horde entrichtet zu haben. Starodubcev verstand darunter wohl allgemein ein im Namen des Herrschers ausgestelltes Dokument. Heute bedeutet jarlyk ›Etikett‹. Die Untersuchungsbeamten bezeichneten die Schreiben als podmetnoe pis’mo. Dieser Begriff wird üblicherweise als ›aufrührerischer Brief‹ übersetzt, verweist wörtlich aber vor allem auf die Art seiner Verbreitung (von podmetat’ ›kehren, fegen‹). Allgemein von einem Aufruf zu sprechen ist ein Kompromiss zwischen diesen beiden entgegengesetzten Sichtweisen auf dieselben Schriftstücke. 75 Razorenova: Iz istorii samozvanstva, 58–61.
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zu arbeiten geweigert hatte, er als Großfürst Peter Petrovič könne (umet’) es nicht.76 Er ließ sich mit seiner Frau, seiner Stieftochter und zwei treuen Anhängern auf brachliegendem Weideland (pustye jurty) der Kosaken nieder. Von dort aus bemühte er sich aktiv, weitere AnhängerInnen zu gewinnen. Die Chronologie deutet darauf hin, dass Letzteres nicht das Ergebnis gezielter Planung, sondern eine Improvisation aus der Not heraus war. Starodubcev hätte versuchen können, in einer anderen stanica unterzukommen, sich dort aber ebenso den Regeln der Kosaken wie Beteiligung an der Feldarbeit unterwerfen müssen, und das hatte er schon vor der Begegnung mit Truženik nur halbherzig getan. So verlegte er sich darauf, von seinem Unterschlupf aus einen festen und möglichst großen Stock von Anhängern aufzubauen. Im Verhör gab er an, dass er davon ausgegangen sei, je mehr Leute ihn als Peter Petrovič unterstützten, desto besser sei er vor einer Verhaftung geschützt.77 Diese Version klingt völlig plausibel. Zum einen gibt es keinen Hinweis, dass Starodubcev Anhänger um sich geschart hätte, um einen Aufstand vom Zaun zu brechen. Zum anderen ging der falsche Peter III. Anton Aslanbekov rund drei Jahrzehnte später ähnlich vor. Er gab sich für den Kaiser aus, damit ihn seine Bekannten, die ihm die Flucht vor den Behörden ermöglicht hatten, weiterhin unterstützten und ihm halfen, in die Rzeczpospolita zu gelangen.78 Starodubcev gewann neue Anhänger zum einen durch das in Kapitel 5.1 beschriebene Schneeballsystem, mit dem er vorwiegend die Jamenskaja stanica selbst abdeckte. Zum anderen benutzte er die erwähnten Aufrufe. Sie sollten in weiter entfernt gelegene stanicy und sogar nach Čerkassk, die Hauptstadt der Don-Kosaken, gebracht werden. Das Medium des Aufrufs deutet ebenso wie das geplante Verbreitungsgebiet darauf hin, dass Starodubcev eine möglichst große Anzahl Menschen erreichen wollte. Wären die Aufrufe, wie vorab festgelegt, nicht nur in alle stanicy an den Flüssen Medvedica, Ust’-Medvedica und Buzuluk,79 sondern auch nach Čerkassk gelangt und hätten sie dort die erwünschte Wirkung erzielt, hätte Starodubcev nach den samozvancy der Zeit der Wirren und Pugačev die meisten AnhängerInnen gewonnen. So betrachtet operierte er in großen Maßstäben, aber es stellt sich die Frage, inwieweit sich dieser Eindruck auf der inhaltlichen Ebene bestätigt. An der Abfassung der Aufrufe wirkten mehrere Hände und wohl auch mehrere Köpfe mit. Da Starodubcev Analphabet war, brachten seine Anhänger sie zu Papier. Einer von ihnen war Ivan Popov, der in der Funktion eines Sekretärs eine Liste mit den Anhängern führte und den ersten Aufruf ver76 77 78 79
RGADA , f. 6, o. 1, d. 187, l. 12.
Ebd., l. 8 ob.
RGADA , f. 349, o. 1/č. 1, d. 7086, l. 204. RGADA , f. 6, o. 1, d. 187, l. 74 ob.
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Samozvanstvo als Performanz
fasste. Daneben gab es mindestens einen weiteren Schreiber, denn Starodubcev sagte, der burlak Gavrila habe die Aufrufe geschrieben.80 Es ist nicht klar, ob Starodubcev die Aufrufe mehr oder weniger im Wortlaut diktierte oder ob er Popov bzw. Gavrila nur ungefähr sagte, was er gerne hätte und diese bei Formulierung und Inhalt einen relativ großen Ermessensspielraum besaßen. Starodubcev gab an, den ersten Aufruf nur verfasst zu haben, damit seine Anhänger ihn nicht verließen. Das dürfte heißen, dass der Inhalt auf ihn zurückgeht. Zum zweiten Aufruf sagte Starodubcev, er sei zwar nach seinen eigenen Worten geschrieben, er habe aber alles zuvor von Truženik gehört und wisse nichts Näheres dazu.81 Das ist nicht glaubwürdig, weil Peter I. in allen Aufrufen negativ dargestellt wird, Truženik den Kaiser aber bewunderte (siehe Kapitel 3.3). Wahrscheinlich war Truženik an keinem der beiden Aufrufe beteiligt. Der Untersuchungsakt über Truženik und Starodubcev enthält die Abschrift von sechs Aufrufen. Der zweite wurde in der Alekseevskaja stanica beschlagnahmt, der dritte in der Luk’janovskaja stanica; zu den übrigen ist nichts vermerkt. Aus den Verhören geht hervor, dass Abschriften auch in die Kiževskaja, Durnovskaja und Urjupinskaja stanica gelangten. Laut Untersuchungsakt wurde jeweils das Original des zweiten und des dritten Aufrufs von derselben Person geschrieben, sowie das Original des ersten und vierten Aufrufs.82 Der Schreiber des ersten und vierten Aufrufs könnte Popov gewesen sein, der des zweiten und dritten Aufrufs Gavrila. Zur Handschrift der Abschriften fünf und sechs ist nichts vermerkt. Inhaltlich zerfallen die Aufrufe in zwei Blöcke. Die erste, vierte, fünfte und sechste Abschrift wurden von dem ersten Aufruf gemacht. Er enthält Starodubcevs fiktives Selbstzeugnis als Peter Petrovič und beklagt sonst die Zerstörung des alten Glaubens durch Peter I. Der zweite Aufruf (zweite und dritte Abschrift) handelt ebenfalls vom alten Glauben, ergreift aber auch Partei für die kosakische Unterschicht (golutvennye ljudi, burlaki) gegenüber der Oberschicht (atamany, staršiny). Beide Versionen verbindet ein Lob des alten Glaubens und der Kosaken als Stütze des Zaren. Die Passagen über den alten Glauben sind von einer Verherrlichung der »guten alten Zeit« geprägt, für welche die Wendung pri otce i dede steht. Ebenfalls recht häufig ist ein Verweis auf die väterlichen und großväterlichen Gesetze bzw. Bräuche (otcovskie i dedovskie zakony). Es ist nicht klar, ob sich diese Phrasen unspezifisch auf die Vergangenheit beziehen oder ob sie konkret auf Starodubcevs (Peter Petrovičs) »Vater« Peter I. und seinen »Großvater«
80 Ebd., l. 76 ob. 81 Ebd., l. 12. 82 Ebd., l. 76; 80.
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Aleksej Michajlovič verweisen. Zweiteres würde allerdings einiges an historischer und innertextlicher Verwirrung bedeuten, immerhin kam es unter Aleksej Michajlovič zum Raskol, und Peter I. ist im Rest des Textes keineswegs positiv besetzt. Peter I., der nur unter der Bezeichnung Kaiser (imperator) aufscheint,83 wirft Starodubcev vor, die alten Bräuche und den alten Glauben zugrunde gerichtet zu haben:84 Er habe Kirchen und Kapellen niedergerissen, Kinder verkehrt herum (opoko) getauft,85 Männer in Frauen verwandelt86 und Ähnliches mehr. Im Zentrum von Starodubcevs fiktivem Selbstzeugnis steht die Versicherung, er sei für den Glauben mehrere Jahre im Gefängnis gesessen. Er sei auch bereit gewesen zu sterben, aber vor diesem sinnlosen Tod gerettet worden.87 Ungewöhnlich ist das Motiv der Gefangenschaft in einem fiktiven Selbstzeugnis, da es sonst fast ausschließlich in Gerüchten vorkommt (siehe Kapitel 5.2). Möglicherweise dienten Starodubcev Altgläubige wie der Erzpriester Avvakum oder dessen Schülerin Feodosija Morozova als Vorbild, die sich geweigert hatten, die Reformen anzunehmen, deswegen ins Gefängnis gesteckt und schließlich hingerichtet worden waren. Im Unterschied dazu gibt es zum Motiv der Wanderschaft keine Entsprechung im altgläubigen Kanon. Die Kombination von einer Phase der Entbehrung und der Ankündigung der Rückkehr ist aber auch in den fiktiven Selbstzeugnissen anderer samozvancy zu finden. Die soziale Komponente der Aufrufe schließlich äußert sich darin, dass Starodubcev zum Ausgleich zwischen den wohlhabenderen und mächtigeren Kosaken und der kosakischen Unterschicht aufruft. Den Atamanen und Kosaken trägt er auf, golutvennye ljudi und burlaki nicht auszubeuten, nicht aus ihren Häusern zu vertreiben und vor Erniedrigung und Bedrängung zu schützen.88 An wen richtet sich ein solcher Aufruf und wer kann sich angesprochen fühlen? Die Adressaten sind Kosaken, die anhand des Gebiets, in dem Starodubcevs Aufrufe verteilt werden sollten und zum Teil tatsächlich verteilt 83 Starodubcevs Aufrufe sind ein Beispiel dafür, dass imperator als Fremdwort negativ, car’ aber positiv besetzt ist. Das kann aber nicht verallgemeinert werden, weil auch Truženik Peter nur als imperator bezeichnete, ihm aber positiv gesinnt war. 84 RGADA , f. 6, o. 1, d. 187, l. 74. 85 Starodubcev bezieht sich hier auf ein Detail der Liturgie, dass durch die nikonianischen Reformen verändert wurde. Vor den Reformen umrundete der Priester den Altar während der Messe »mit der Sonne« (d. h. im Uhrzeigersinn), nach den Reformen »gegen die Sonne« (d. h. gegen den Uhrzeigersinn). 86 Peter I. ordnete an, dass mit Ausnahme von Geistlichen und Bauern alle Männer glattrasiert sein und westeuropäische Kleidung tragen müssten. Ein Adeliger ohne Bart, der eine lange Allongeperücke und die farbenfrohe, üppig verzierte Barockmode trug, wirkte auf Bauern und Bäuerinnen wie eine Frau. 87 RGADA , f. 6, o. 1, d. 187, l. 15. 88 Ebd., l. 74 ob.
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Samozvanstvo als Performanz
wurden, genauer als Don-Kosaken bestimmt werden können. Allerdings hätte sich genauso gut ein Kosake vom Jajk oder Terek oder aus der Sič’ angesprochen fühlen können, hätte er sich zufällig gerade in dieser Gegend aufgehalten. Anderen Bevölkerungsgruppen mochten zwar Themen wie Schutz für die Bedrängten und Rechtlosen ein Anliegen sein, jedoch verwendete Starodubcev (bzw. verwendeten die Verfasser der Aufrufe) spezifisch kosakische Begriffe wie golutvennye ljudi, burlaki oder atamany, die außerhalb der Kosaken auf eher wenig Resonanz gestoßen wären. Innerhalb der Kosaken wandte sich Starodubcev formal an die Oberschicht, de facto an die Unterschicht. Die Atamane hätten in der Praxis wenig Freude gehabt, wenn sich auf einmal irgendein Hampelmann für Peter Petrovič ausgab und ihnen Vorschriften machte, wie sie sich zu verhalten hätten. Golut vennye ljudi oder burlaki könnten hingegen Befriedigung empfunden haben, dass sich endlich jemand für sie einsetzte. Doch Starodubcev wandte sich nicht einmal unterschiedslos an alle golut vennye ljudi. Nicht-christliche Kosaken hätte das Gezerre zwischen Altgläubigen und Nikonianern nicht interessiert, orthodoxe Kosaken hätten einen altgläubigen Kaiser als Zumutung empfunden. Der Raskol zog zwar in den ersten Jahren besonders viele Kosaken an, und der Anteil von Altgläubigen an den Kosaken blieb insgesamt hoch, aber die Gleichung Kosake = altgläubig wäre zu jedem Zeitpunkt falsch gewesen. Insgesamt fällt es schwer, zu behaupten, dass Starodubcevs Aufrufe möglichst inklusiv formuliert gewesen wären; somit fehlt die allgemeine Zugänglichkeit einer mittleren Öffentlichkeit. Zwar lässt sich von der Textebene her nicht sagen, er hätte von vornherein jemanden ausgeschlossen, aber der Inhalt ist so formuliert, dass sich nur ein begrenztes Publikum (altgläubige, arme Kosaken ohne Einfluss) angesprochen fühlen hätte können. Nun ist die Reichweite einer mittleren Öffentlichkeit immer begrenzt. Starodubcev unternahm allerdings nicht einmal den Versuch, seine Botschaft so zu formulieren, dass sich nicht nur ein bestimmter Teil der Kosaken davon angesprochen fühlen konnte, sondern zum Beispiel auch Leibeigene oder von Grundherren bedrängte Einhöfer. Trotz der relativ großen Publizität bewegte sich Starodubcev in einer sehr kleinen Nische. Anders gesagt, die geografische Reichweite der Aufrufe war viel größer als die inhaltliche. Ein Grund dafür könnte sein, dass es ihm nur darum ging, möglichst schnell möglichst viele AnhängerInnen zu gewinnen und er sich dorthin wandte, wo er sich seines Erfolgs relativ sicher sein konnte. Im Prinzip richtete er sich nur an Menschen mit demselben Hintergrund wie er selbst, die er nicht erst überzeugen musste, um die er sich nicht bemühen musste, sondern die er nur dazu bringen musste, sich auf den Weg zu ihm zu machen. Er war altgläubig, hatte sich nach der Desertion aus der Armee den Don-Kosaken angeschlossen, und weil er ein Neuankömmling war, besaß er weder nennens-
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werten Einfluss, noch war es ihm bis dahin gelungen, in der Hierarchie der Jamenskaja stanica aufzusteigen. Das Denken in gruppenspezifischen Schubladen war allerdings typisch für die öffentliche Kommunikation zwischen HerrscherIn und Untertanen. Der Performanz nach sprach Starodubcev als (zukünftiger) Kaiser, der sich an alle Menschen in seinem Reich wenden konnte. Praktisch war er selbstverständlich nach wie vor ein Kosake, der es gewohnt war, seine eigenen Anliegen bzw. die seiner sozialen Gruppe auszuformulieren und vielleicht gar keine Notwendigkeit sah, auch andere einzuschließen. Mit diesem Impetus war er nicht alleine, wie ich schon in Kapitel 5.1 in Zusammenhang mit den »Wahlversprechen« der samozvancy ausgeführt habe: Kremnev formulierte seine Versprechungen so, dass sie für Einhöfer attraktiv waren, Pugačevs Manifeste variierten im Inhalt abhängig davon, an welche Gruppe sie sich richteten. Der Adressatenkreis war nicht universell, weil es dafür keine Vorbilder gab. Das Verharren in den eingeübten Kommunikationsstrukturen ist auch daran erkennbar, dass Starodubcevs Aufrufe sehr paternalistisch formuliert sind. Das ist an sich nicht anders zu erwarten, weil es bei einem Aufruf eines echten Herrschers / einer echten Herrscherin nicht anders gewesen wäre. Für das Verständnis der Kommunikationssituation ist dieses Detail jedoch wichtig. Starodubcev maßt sich auf der Textebene an, die Friktionen zwischen kosakischer Ober- und Unterschicht mit einem einfachen Aufruf sich zu vertragen zu beseitigen. Bei streitenden Kleinkindern wäre der Zugang nicht viel anders. Am Ende des ersten Aufrufs steht explizit, alle sollen Peter Petrovič / Starodubcev glauben und keine Angst haben, wenn sie dementsprechend handelten (vam vsemu našemu gosudarstvu vseju černeju semu našemu erlyku věrit’, i postupat’ smělo neopasaja sebja ničego).89 Als Mittel der Performanz ist der Aufruf eine Ansammlung von Argumenten, warum die Menschen, die ihn verlesen bekommen, Starodubcev als Peter Petrovič akzeptieren und unterstützen sollen (er ist altgläubig, er beschützt die Schwachen und Rechtlosen, er ist der legitime Herrscher und so fort), doch unmittelbar auf der Textebene fordert er entsprechend der Form der Performanz einfach Gefolgschaft ein. Auch sonst verlangte Starodubcev Gehorsam und war nicht bereit, irgendjemandes Ratschläge anzunehmen oder Einwände zu berücksichtigen.90 Das bedeutet nicht, dass die ZuhörerInnen nur eine Möglichkeit gehabt hätten, wie sie mit dem Gehörten umgingen. Sie konnten den Inhalt akzeptieren oder zurückweisen, sie konnten eine andere Botschaft mitnehmen als vom Verfasser intendiert war. Allerdings war kein Austausch vorgesehen, kein fortgesetzter Kommunikationsprozess – und tatsächlich erhebt sich die Frage, ob es überhaupt einen samozvanec gab, der solche Rückmeldungen wünschte, 89 RGADA , f. 6, o. 1, d. 187, l. 15 ob. 90 Ebd., l. 23 ob–24.
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Samozvanstvo als Performanz
auch wenn die Kommunikationssituation die einer Interaktion war. Wenn Cholščevnikov in Arzamas einzog, Minickij und Kremnev die Einheimischen zum Treueeid versammelten, sollten die Anwesenden tun wie ihnen geheißen. Aus der Sicht der Performanz war der passive Gehorsam durchaus ein aktiver Schritt, weil er dazu beitrug, sie aufrecht zu erhalten. Aber das ändert nichts daran, dass die Unterordnung den stärkeren Eindruck hinterlässt. Wenn die ersten beiden falschen Dmitrii, Starodubcev und Pugačev ihre Aufrufe verteilen ließen, wollten sie Unterstützung gewinnen, Gleichgesinnte anziehen, aber keine Diskussion über Inhalte. Wie bereits angesprochen, richtete sich Pugačev nach den Interessen seiner Truppenführer und konnte auch den Forderungen, Bitten, etc. von Personen, die nicht zu seinem engsten Kreis gehörten, nicht von vornherein ablehnend begegnen. Aber das geschah eben nicht, weil er meinte, dass ein Kaiser sich so verhalten solle, sondern weil seine delikate Position als imperiumsweit bekannter Betrüger kein anderes Vorgehen zuließ. Er war von seinem Umfeld abhängig, und er konnte auch nicht riskieren, dass sich Fremde offen gegen ihn stellten. Am ehesten war eine eigenständige Auslegung des Geschehens durch AnhängerInnen noch bei den mit samozvanstvo verbundenen Erhebungen möglich. Die samozvancy der Zeit der Wirren und Pugačev boten eine Erzählung an, die als gemeinsames Dach für sehr unterschiedliche Gründe fungieren konnte, um aufzubegehren. Demnach ist auch aus dem Adressatenkreis der schriftlichen Aufrufe und aus ihrem Gebrauch der Schluss zu ziehen, dass samozvanstvo keine mittlere Öffentlichkeit begründete. Angesprochen wurden vor allem Gleichgesinnte, die außerdem auf der Ebene der Performanz keine eigene Meinung äußern, sondern nur als Unterstützung zur Verfügung stehen sollten. Die Frage des Inhalts: Samozvanstvo und Herrscherkritik
In den meisten Fällen war die Publizität nicht groß genug, um samozvanstvo als mittlere Öffentlichkeit zu bezeichnen, und dort, wo samozvancy versuchten, den Rahmen der Interaktion zu überwinden, verharrten sie zu sehr in dem Denken, als Teil einer bestimmten Gruppe mit einer in der Hierarchie höher stehenden Person zu sprechen, um für diese Zuordnung ausreichend inklusiv zu sein. Nun bleibt zu untersuchen, ob die an samozvanstvo Beteiligten jene Kritik übten, die in der öffentlichen Kommunikation gemeinhin fehlte. Im allgemeinen Sprachgebrauch hat sich die Wendung »kritische Öffentlichkeit« eingebürgert, die impliziert, eine Öffentlichkeit sei zwingend kritisch eingestellt. Diese Meinung spiegelt sich auch in wissenschaftlichen Arbeiten. Für Habermas entstand die bürgerliche Öffentlichkeit genau dann, als die Beteiligten vom Meinungsaustausch über Literatur, Theaterstücke und Ähnliches
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dazu übergingen, die bestehenden Verhältnisse zu kritisieren.91 Passend dazu betrachten Volker Gerhardt, Elisabeth Klaus und Carsten Winter Öffentlichkeit als Kommunikationsraum, in dem sich eine Gesellschaft über sich selbst verständigt. In einer Öffentlichkeit wird nicht nur Bilanz über den gegenwärtigen Zustand gezogen und dieser bewertet, sondern es wird auch erörtert, wie die zukünftige Entwicklung aussehen soll. Die behandelten Themen betreffen nicht nur die tatsächlich Anwesenden, sondern eine möglichst große Gruppe, im Idealfall die gesamte Gesellschaft.92 Um eine solche Aufgabe zu erfüllen, ist es zweifellos nötig, Kritik zu üben. Es ist nicht zu bestreiten, dass samozvancy / samozvanki und ihre AnhängerInnen im Rahmen der Performanz Themen ansprachen, die allgemeine Relevanz besaßen und unter anderen Rahmenbedingungen als den oben erläuterten ein wichtiges Indiz für die Entstehung von Öffentlichkeit wären. Die Unterstützung für ein vermeintliches Mitglied der Dynastie als solche lässt sich als Stellungnahme zu der Frage verstehen, wer der legitime Herrscher sei. Welche Antwort darauf gegeben wurde, war für das gesamte Reich relevant. Die falschen Rurikiden der Zeit der Wirren fanden Unterstützung, weil sie als Nachkommen Ivans IV. eine größere Legitimität für sich beanspruchen konnten als Boris Godunov und später Vasilij Šujskij. Die samozvancy, die im 18. Jahrhundert in der Regierungszeit einer der vier Kaiserinnen auftraten, profitierten davon, dass viele Zeitgenossen meinten, Frauen seien zum Regieren nicht geeignet. Die falschen Konstantiny Pavloviči profitierten von der Wahrnehmung von Nikolaus I. als Usurpator. Andere Themen, die wiederholt in der Interaktion zwischen den samo zvancy und samozvanki und ihren AnhängerInnen vorkamen, betrafen im Unterschied dazu nicht die gesamte Bevölkerung, aber die jeweils einbezogenen Gruppen waren erstens von relevanter Größe, und zweitens hätten Veränderungen in diesen Bereichen Auswirkungen auf das gesamte gesellschaftliche Gefüge gehabt. Dazu zählten in erster Linie die Abschaffung der Leibeigenschaft, die Senkung oder Abschaffung von Steuern und die Aussetzung der stets für das gesamte Dorf belastenden Rekrutenaushebungen. Eher begrenzte Breitenwirkung hätten Anliegen der Altgläubigen sowie der Kosaken gehabt. Nun stellt sich die Frage, ob samozvanstvo einen Weg darstellte, den letzten Schritt von der Verhandlung allgemein relevanter Themen hin zur Kritik an den Verantwortlichen zu gehen. Bei näherer Betrachtung zeigt sich rasch, dass diesbezüglich aus dem performativen Geschehen andere Schlüsse zu ziehen sind als aus dem tatsächlichen, und auch die Analyse der Performanz zu unterschiedlichen Ergebnissen führt, abhängig davon, welcher Aspekt 91 Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, 87 f. 92 Winter: Kulturelle Öffentlichkeiten?, 29; Klaus: Öffentlichkeit, 136; Gerhardt: Öffentlichkeit, 26; 133.
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Samozvanstvo als Performanz
betrachtet wird. Wie bereits gesagt, besteht ein Grundzug von samozvanstvo darin, dem Herrscher / der Herrscherin die Legitimität abzusprechen, und zwar unabhängig davon, ob jemand eine Agenda verfolgte, die Pläne zu einem Umsturz einschloss. Das konnte explizit geschehen, indem samozvancy und samozvanki die Person auf dem Thron konkreter Verfehlungen wie Usurpation bezichtigten. Es konnte aber auch nur implizit geschehen, durch ihr Auftreten selbst. Es wäre sinnlos gewesen, unter der Prämisse aufzutreten, dass ohnehin alles in bester Ordnung sei. Dieses konfrontative Moment war ein Teil der Performanz und wurde durch sie bedingt. Es in den Vordergrund zu rücken bedeutet, die Funktion des Phänomens aus der der Performanz immanenten Agenda abzuleiten. Allerdings kann, wie in Kapitel 5.1 ausgeführt, nicht ohne Weiteres angenommen werden, dass diese Art von Agenda den »eigentlichen« Hintergrund des Geschehens abbildet. Demnach sollte ihr nicht zu viel Gewicht beigemessen werden. Eine andere Möglichkeit besteht darin, von den einander wechselseitig bedingenden Kategorien Form und Mittel sowie zu einem gewissen Grad von der Strategie auszugehen. Ihnen ist gemeinsam, dass sie auf eine möglichst vollständige Imitation eines Mitglieds der Dynastie abzielen. Das Ergebnis ist somit konträr zu jenem, wenn die der Performanz immanente Agenda als Ausgangspunkt dient. Wie in Kapitel 2.3 festgehalten, müssen die Bedeutungszuschreibungen im Repertoire nicht mit den Bedeutungszuschreibungen im Archiv deckungsgleich sein, und auch die Form der Performanz kann durchbrochen werden, etwa in provokativer Absicht.93 Beim unerwarteten Auftreten eines vermeintlichen Mitglieds der Dynastie handelte es sich aber um eine Form, die sich für solche Experimente nicht eignete. Welche Agenda auch immer die samozvancy und samozvanki verfolgten, sie konnten sie nur umsetzen, wenn sie als Mitglieder der Dynastie glaubwürdig wirkten. Glaubwürdig waren sie dann, wenn sie den gängigen Herrscherbildern so weit wie möglich entsprachen. Das bedeutet, selbst wenn einzelne samozvancy und samozvanki in der Lage gewesen wären, beispielsweise eine Alternative zur Monarchie zu denken, hätten sie das nicht in die Performanz einbringen können. Ein falscher Peter III. hätte nicht behaupten können, bei seinen jahrelangen Wanderungen auch in der Eidgenossenschaft gewesen zu sein, dort die Vorzüge der Demokratie kennengelernt zu haben und nun im Russländischen Reich so bald wie möglich eine Republik ausrufen zu wollen. Abgesehen davon, dass es fraglich ist, ob so ein Programm im Russländischen Reich im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts überhaupt nennenswerte Unterstützung gefunden hätte, hätte es nicht
93 Schieffelin: On Failure and Performance, 65.
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zu den im Archiv vorhandenen Erwartungen an einen Herrscher gepasst und daher das Scheitern der Performanz herbeigeführt. Wird aber das Bestehende, Bekannte reproduziert, lässt sich dieser Vorgang nicht als Kritik lesen, sondern nur als Bejahung der gegenwärtigen Verhältnisse. Dieser Mechanismus wird etwa an dem Anspruch von samozvancy und samozvanki deutlich, mit ihrem Auftreten die Distanz zwischen HerrscherIn und Untertanen zu überbrücken. Das brachte ihnen Sympathie ein, aber auf diese Weise vermittelten sie – wahrscheinlich, ohne sich dessen bewusst zu sein – dass die Gegebenheiten so seien, wie sich das viele Untertanen vorstellten: Sobald der Herrscher / die Herrscherin nur erst von den Missständen im Land erfahre, werde er / sie diese umgehend beseitigen. Auf diese Weise stützten sie die im Moskauer und Russländischen Reich vorherrschende stark personalisierte Sichtweise auf die Monarchie. Individuen wurden sowohl als das Problem (die »bösen Bojaren«, andere »Verräter«), als auch als die Lösung (der grundsätzlich wohlgesonnene Herrscher / die grundsätzlich wohlgesonnene Herrscherin) identifiziert. Auf diese Weise konnte im Rahmen von samozvanstvo gar nicht zur Sprache kommen, dass die Probleme des Reiches vielleicht struktureller Natur waren und / oder komplexere Lösungen erforderten als den bloßen Austausch von Köpfen. Wichtig ist, dass eine solche indirekte Bestätigung des Status quo genauso wenig über die Intentionen der Beteiligten aussagt wie die der Performanz immanente Agenda. Der Einsatz von Mitteln und Strategie war darauf ausgerichtet, Emergenz zu erzeugen, und nicht darauf, persönliche Überzeugungen zum Ausdruck zu bringen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass samozvancy und samozvanki gemäß ihren Überzeugungen handelten, aber das geht aus den Quellen nicht hervor. Solange aber die sich aus der Form ergebende Bejahung der bestehenden Verhältnisse der einzige Anhaltspunkt ist, bleibt die Kritikfähigkeit der an samozvanstvo Beteiligten gering. Gegen eine solche Einordnung als Instrument für Herrscherkritik spricht auch, dass die im Rahmen der Performanz geäußerten Beschwerden nicht dem eigentlichen Adressaten / der eigentlichen Adressatin zu Gehör gebracht werden sollten. Von der Form der Performanz her gedacht stellten samozvancy und samozvanki, welche ihren AnhängerInnen konkrete Versprechen machten, selbstverständlich auch in Aussicht, dass sie diese so bald wie möglich verwirklichen würden. Um diesem Anliegen performativ Nachdruck zu verleihen hätten sie behaupten können, nicht selbst den Thron anzustreben, aber vor dem Herrscher / der Herrscherin im Namen der Untertanen sprechen zu wollen und in Richtung Hauptstadt aufzubrechen. Eine andere Möglichkeit wäre gewesen, konkrete Schritte zu setzen, um den Thron zu erobern. Die Beispiele dafür, dass ein Aufruf zum Umsturz tatsächlich mit den entsprechenden Vorbereitungen einher ging, wurden in Kapitel 5.1 behandelt. Sie sind spärlich, und das gilt auch für Ankündigungen, direkt mit dem Herr-
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Samozvanstvo als Performanz
scher / der Herrscherin sprechen zu wollen. Bei diesen samozvancy ist davon auszugehen, dass sie zwar ihr Vorhaben auf eine Art und Weise formulierten, die zur Form der Performanz passte, es aber anders motiviert war, sodass sie nicht ernsthaft planten, die jeweilige Kaiserin zu konfrontieren. Starodubcev wollte seine Anhänger nach Moskau zur Kaiserin führen. Sein Komplize Truženik befand sich bereits dort – real als Gefangener, seinen eigenen Mitteilungen zufolge als Mitregent seiner »Cousine« Anna Ioannovna. So gesehen gehörte es zur Logik der Performanz, wenn Starodubcev ankündigte, seinen Platz als zweiter Mitregent einnehmen zu wollen. Seine eigentlichen Beweggründe waren möglicherweise ganz andere. Im Verhör behauptete er, er habe tatsächlich nach Moskau ziehen wollen, aber nur, um sich der Kaiserin zu Füßen zu werfen und sie für seine Missetaten um Verzeihung zu bitten.94 Ob das stimmt, sei dahingestellt. So oder so verließ er nie das brachliegende Weideland, auf dem er sich nach dem Rauswurf aus der Jamenskaja stanica niedergelassen hatte. Auch der falsche Peter III. Anton Aslanbekov wollte mit seinen Anhängern nach Moskau ziehen.95 Die zweite Hauptstadt in Besitz zu nehmen lässt sich als Anspruch auf Herrschaft verstehen, aber in diesem Fall nicht als Konfrontation mit der Kaiserin, denn Anfang 1764 hielt sich Katharina II. in St. Petersburg auf. Im Verhör behauptete Aslanbekov, er habe nur nach Moskau gehen wollen, um Geld für die Entlohnung seiner Fluchthelfer aufzutreiben.96 Das könnte durchaus stimmen, weil dort seine Verwandten lebten. Aslanbekovs Schwager war Seidenfabrikant97 und hätte ihm höchstwahrscheinlich mit Geld aushelfen können. Nicht nur in diesen Beispielen, sondern allgemein ist der Herrscher / die Herrscherin bei samozvanstvo gewissermaßen der weiße Elefant im Raum, dessen Anwesenheit allen bewusst ist, von dem aber niemand spricht. Der falsche Aleksej Petrovič Ivan Minickij wollte einen ewigen Frieden mit dem Osmanischen Reich schließen und die Rzeczpospolita vernichten. Anna Ioannovna kam dabei nicht vor. Der falsche Peter III. Gavrila Kremnev machte seinen AnhängerInnen mehrere Versprechen für Verbesserungen und kündigte an, in Voronež die Krone anzunehmen. Katharina II. kam dabei nicht vor, als wäre die Macht zu diesem Zeitpunkt buchstäblich auf der Straße gelegen. Es hat den Anschein, als hätten samozvancy und samozvanki nicht nur tendenziell Publizität vermieden, sondern überhaupt den Eindruck, zu sehr bei der Obrigkeit anzustreifen.
94 95 96 97
RGADA , f. 6, o. 1, d. 187, l. 10. RGADA , f. 349, o.1/č. 1, d. 7086, l. 147.
Ebd., l. 166. Ebd., l. 155–155 ob.
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Es wäre zu viel gesagt, dass samozvanstvo einen klar erkennbaren herrschaftsstabilisierenden Effekt gehabt hätte. Noch weniger könnte behauptet werden, dass ein solcher Effekt von den Beteiligten intendiert gewesen wäre. Allerdings trifft das Gegenteil genauso wenig zu. Das Phänomen war in fast allen Fällen weder von der Intention, noch von den realen Auswirkungen her subversiv.98 Wie in Kapitel 5.3 ausgeführt, lässt sich, abgesehen von der Zeit der Wirren und dem Pugačev᾽schen Aufstand, nur bei drei falschen Konstantiny Pavloviči ein kausaler Zusammenhang zwischen samozvanstvo und Unruhen herstellen. Das sind erstens zu wenige Fälle, um als repräsentativ erachtet zu werden, und zweitens war der samozvanec jeweils nicht die Erstursache der Unruhen. Das Dorf Romanovka, das der anonyme falsche Konstantin 1827 aufwiegelte, hatte eine längere Vorgeschichte des Ungehorsams,99 über die Mordovcev allerdings nichts Näheres sagt. Womöglich ist diese Besonderheit darauf zurückzuführen, dass in Romanovka überwiegend »KleinrussInnen« lebten, denn in der linksufrigen Ukraine wurden Bauern und Bäuerinnen erst unter Katharina II. an die Scholle gebunden. Sie hätten sich noch Erinnerungen an die Zeit der Freizügigkeit bewahren können. Kalugin wiederum war in einer Gegend aktiv, in der es zwei Jahre zuvor zu Unruhen gekommen war und sich die Gemüter noch nicht beruhigt hatten. Er brauchte nicht viel Überzeugungsarbeit zu leisten, bzw. ist nicht eindeutig erkennbar, inwieweit er gezielt einen Aufstand auszulösen versuchte und inwieweit er dadurch eine Eigendynamik auslöste, dass er die Beschwerden der Einheimischen entgegennahm. Von den dreien agitierte Egorcev als Einziger absichtlich, aber er tat das rund zwei Monate nach der Veröffentlichung des Manifests vom 19. Februar 1861 über die Aufhebung der Leibeigenschaft unter gewesenen Leibeigenen, sodass er sich in einer Zeit und in einem Umfeld bewegte, in dem die Enttäuschung über die nicht verkündete »volle Freiheit« auch ohne sein Zutun groß war. In dieses Bild passen die bereits genannten Gründe, warum samozvanstvo nicht als mittlere Öffentlichkeit eingestuft werden kann: Samozvancy und samozvanki strebten nur geringe Publizität an, sammelten gerade so viele AnhängerInnen wie für die Umsetzung ihrer Agenden erforderlich waren und suchten kaum je tatsächlich die Konfrontation mit dem Herrscher / der Herrscherin. Samozvanstvo blieb also bei der Entstehung von Öffentlichkeit ungefähr auf halbem Weg stehen. Ansätze dazu waren vorhanden, aber sie waren entweder nur schwach ausgeprägt oder traten in Kombination mit nicht 98 Das war selbstredend nicht die Sicht der Obrigkeit. Alleine, dass es jemand wagte, sich für ein Mitglied der Dynastie auszugeben, galt als eines der schwersten Verbrechen. Diese Sichtweise ist aber davon zu unterscheiden, was tatsächlich passierte, wenn ein vermeintliches Mitglied der Dynastie auftauchte. 99 Mordovcev: Odin iz Lže-Konstantinov, 135.
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erfüllten Merkmalen auf, sodass diese Zuordnung letztlich nicht gerechtfertigt ist. Die Situation ist gar nicht so unähnlich wie bei den besprochenen adeligen mittleren Öffentlichkeiten. Ihnen ist gemein, dass sie die Regeln der mündlichen Kommunikation entweder nicht durchbrechen konnten, weil sie im vertrauten Rahmen operierten, oder das zwar wollten und versuchten, aber allzu schnell einen Riegel vorgeschoben bekamen, weil die Obrigkeit nicht bereit war, weitere Freiräume zuzugestehen oder für den Verlust alter Kommunikationsforen neue zu erlauben. Insgesamt bestimmten die kommunikativen Gepflogenheiten der Zeit durchaus stark, was samozvanstvo sein konnte und was nicht.
6.3 Die Funktion von samozvanstvo Da samozvanstvo innerhalb der bekannten Kommunikationsregeln verblieb und die Beteiligten im Normalfall keine große Publizität anstrebten, ist es an der Zeit, sich von allen Deutungen zu verabschieden, die dem Phänomen generell Radikalität und / oder große Auswirkungen zuschreiben. Wie in Kapitel 5.1 erläutert, galt das Auftreten eines falschen Mitglieds der Dynastie in der Sowjetunion als Möglichkeit, um von passiver Unzufriedenheit zu aktivem Widerstand überzugehen. Wie ebenfalls bereits erläutert, wurde diese Interpretation seit 1991 modifiziert oder gänzlich zurückgewiesen. Nichtsdestoweniger dominieren nach wie vor Deutungen in der Forschung, die dem Phänomen eine subversive Absicht zuschreiben, wie auch immer diese konkret benannt wird. Das dürfte nicht nur ein Erbe der sowjetischen Deutung sein, sondern auch mit einer verzerrten Perspektive zu tun haben. Die bekanntesten samozvancy, die im Untersuchungszeitraum auftraten, sind der erste falsche Dmitrij und Pugačev. Beide wirkten zweifellos als Katalysatoren einer herrschaftsbedrohenden Erhebung mit hohem Gewaltpotenzial. Boris Godunov entging dem Sturz durch seinen plötzlichen Tod, aber sein Sohn und Nachfolger Fedor wurde von Unterstützern des ersten falschen Dmitrij getötet. Katharina II. entging diesem Schicksal, musste im Frühjahr 1774 aber ernsthaft den Verlust ihres Throns fürchten. Viele HistorikerInnen scheinen den Fehler zu begehen, davon auszugehen, dass samozvanstvo bei diesen Beispielen genau so gewirkt habe wie es wirken sollte – und das, obwohl die Quellen klar zeigen, dass der erste falsche Dmitrij und Pugačev nicht die Regel sind, sondern die Ausnahme. Tatsächlich deutet alles darauf hin, dass falsche Mitglieder der Dynastie und ihre AnhängerInnen insgesamt eine geringe Bereitschaft zur Konfrontation zeigten. Das lässt sich nicht nur mit den spezifischen Umständen erklären, unter denen sie auftraten, sondern auch ganz grundsätzlich damit, dass samozvanstvo performativ war. Erin Striff hob hervor, dass nicht jede
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Performanz (im engen Sinn) die bestehende Ordnung hinterfrage.100 Dieser Hinweis ist notwendig, weil stillschweigend oft das Gegenteil angenommen wird. Wer von performance art in ihren verschiedenen Ausprägungen ausgeht, liegt sicher richtig damit, dass diese den Anspruch stellt, Machtstrukturen sichtbar zu machen, allgemein akzeptierte Deutungen zu hinterfragen, das Publikum aufzuwühlen, vielleicht gar zu schockieren und Ähnliches mehr. Nur ist das eben nicht verallgemeinerbar, schon gar nicht auf samozvanstvo. Das hat zwei Gründe. Zum einen ist samozvanstvo, wie in Kapitel 2.3 ausgeführt, dem weiten Performanzbegriff näher als dem engen, auch wenn gerade die in Kapitel 5 durchgeführte Analyse der Interaktion zwischen falschen Mitgliedern der Dynastie und ihren AnhängerInnen nicht möglich gewesen wäre, ohne vom engen Begriff auszugehen. Der weite Performanzbegriff bezieht sich auf alltägliche, nicht hinterfragte und den Beteiligten oft gar nicht bewusste Rollenspiele. Was so selbstverständlich erscheint, dass es nicht hinterfragt wird, kann schwer disruptiv oder subversiv sein. Zum anderen war zwar die Form der Performanz als unerwartetes Auftreten des »wahren« Herrschers / der »wahren« Herrscherin potenziell subversiv, aber dieses Potenzial entfaltete sich nur, wenn es von tatsächlichen Vorbereitungen zu einer Erhebung flankiert wurde. Da das kaum je der Fall war, ist die Erwartungshaltung der AnhängerInnen ausschlaggebend, um zu bestimmen, welche Qualität der Performanz zukam. Diese Erwartungshaltung bestand, wie gesagt, darin, dass der samozvanec / die samozvanka den gängigen Herrscherbildern entsprach. Zu stark zu experimentieren hätte die Chancen zunichte gemacht, dass das gelingen würde, also konnte gar nichts anderes geschehen als das Vorhandene zu wiederholen. Es ist möglich, dass den AnhängerInnen der samozvancy und samozvanki die genannten Beschränkungen nicht bewusst waren und sie sich etwas anderes erhofften. Sie könnten sich einem falschen Mitglied der Dynastie angeschlossen haben, weil sie sich sehr wohl großangelegte Handlungen wie einen Umsturz erwarteten. Wenn zum Beispiel KosakInnen von der Wiedererrichtung der Sič᾽ träumten und sich deswegen einem falschen Peter III. anschlossen, ist eine solche Annahme sogar recht naheliegend. Nichtsdestoweniger ist festzuhalten, dass sich AnhängerInnen normalerweise in die Konstellation fügten, welche die samozvancy und samozvanki schufen: Hielten sich diese bedeckt, taten sie es ebenfalls. Schmiedeten diese größere Pläne, unterstützten sie diese. Sie versuchten nicht, einen bei der Umsetzung ihrer Anliegen müßigen samozvanec dazu zu drängen, tätig zu werden, falls er nicht von selbst die Initiative ergriff. Demnach dürfte es auch für die AnhängerInnen nicht
100 Striff: Introduction, 5.
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die oberste Priorität gewesen sein, dass Ankündigungen und Versprechen um jeden Preis wahrgemacht wurden. Im Normalfall war samozvanstvo demnach nicht nach außen gerichtet, zielte also nicht darauf ab, Unterstützung für eine bestimmte Position zu gewinnen oder entsprechend derselben zu handeln. Das bedeutet, es richtete sich nach innen, an die Beteiligten, und für diese war das performative Geschehen selbst wichtiger als seine Auswirkungen auf die Realität. Aus der Form der Performanz folgte nicht nur, welche Erwartungen die Beteiligten hegten und welchen Nutzen sie sich davon versprachen, sondern diese Erwartungen erfüllten sich auch bereits durch das performative Geschehen selbst. Die Hinwendung nach außen war gar nicht mehr notwendig. Damit stellt sich die Frage, wie die Hinwendung nach innen und ihr Gewinn für die Beteiligten zu fassen ist. Der performative Nutzen
Valerie Kivelsons Monografie »Desperate Magic« bietet hier nützliche Anhaltspunkte. Im 8. Kapitel101 stellt und beantwortet sie eine Frage, die auch für samozvanstvo relevant ist: Was erschien den Zeitgenossen im Moskauer Reich des 17. Jahrhunderts an Magie so gefährlich, dass sie deren Ausübung zu den schwersten Verbrechen rechneten, strikt verfolgten und ebenso sehr fürchteten?102 Der Hintergrund dazu ist, dass sich Anschuldigungen wegen Hexerei im Moskauer Reich, anders als in Zentral- und Westeuropa, fast immer als mundan beschreiben lassen. Weder die Untersuchungsbeamten, noch die Beschuldigten selbst bezogen sich auf große Narrative wie einen Pakt mit dem Teufel, eine breite Verschwörung gegen das Gute und Ähnliches mehr. Stattdessen ging es um Gegenmittel gegen alltägliche Ärgernisse wie schlechte Ehen, ungerecht behandelte oder gar misshandelte Dienstboten oder um den Wunsch, zwischenmenschliche Beziehungen in verschiedenen Konfigurationen zu verbessern. Auch bei samozvanstvo ist durchaus auffällig, dass die Aneignung einer fremden (Herrscher-)Identität zu den schwersten Verbrechen zählte, obwohl noch mehr Fälle als in Kivelsons Sample keine nennenswerte Bedeutung erlangten und einige Fantasie nötig ist, um darin eine Bedrohung für den Herrscher / die Herrscherin zu erkennen. Kivelson findet eine Erklärung für diese Diskrepanz, die sich sowohl generell für samozvanstvo fruchtbar machen lässt, als auch speziell für die hier interessierende Funktion des Phänomens. An dieser Stelle ist anzumerken, dass Magie und samozvanstvo zwar einige Berührungspunkte aufweisen, die in der zukünftigen Forschung größere Be101 Kivelson: Desperate Magic, 233–255. 102 Ebd., 233.
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achtung finden sollten, diese beiden Praktiken aber nicht gleichgesetzt werden können. Zum Teil erklären bereits die Unterschiede zwischen ihnen hinlänglich, warum samozvanstvo als so gefährlich galt. Der wichtigste Unterschied ergab sich dadurch, wie die Anschuldigung wegen des jeweiligen Delikts erhoben wurde. Was Magie angeht, wurden zwar viele Personen dabei ertappt, dass sie eine Beschwörungsformel benutzten, sich eine verdächtige Substanz besorgen wollten oder besorgt hatten und Ähnliches mehr, weil sie den festen Vorsatz hatten, sich Zauberkräfte zunutze zu machen. Kivelson zeigt aber auch, dass mindestens ebenso häufig ein Corpus delicti fehlte. Stattdessen ergab sich zufällig eine Konstellation, die dem im Moskauer Reich des 17. Jahrhunderts vorherrschenden gesellschaftlichen Idealbild zuwiderlief, und die Zeitgenossen meinten, hier müsse Magie im Spiel sein, weil es anders die Abweichung von der Norm oder vom Ideal nicht geben könne. Der Vorwurf wirkte dabei vergleichbar einer Nebelgranate, die es den Beteiligten ersparte, sich mit heiklen Fragen oder unliebsamen Fakten befassen zu müssen. Zum Beispiel erlitt eine Frau eine Fehlgeburt und das Dienstmädchen wurde beschuldigt, ihr eine magisch potente Substanz in die Suppe gemischt zu haben, um den unerwünschten Zustand anhaltender Kinderlosigkeit zu erklären.103 Oder bei einer Rebellion wie dem Strelitzenaufstand wurde den Rädelsführern vorgeworfen, magische Praktiken auszuüben, damit eine Begründung zur Verfügung stand, wie sie auf die Idee kommen konnten, eine Erhebung gegen den Zaren anzuzetteln.104 Eine Beschuldigung wegen Magie konnte aber auch die Manifestation von schlechtem Gewissen sein. Zum Beispiel behandelte ein Ehepaar sein Gesinde nicht so wie es sein sollte und zog bei der geringsten Merkwürdigkeit den Schluss, jemand benutze Magie, um sich zu rächen.105 Da im Moskauer Reich des 17. Jahrhunderts und noch weit darüber hinaus eine Mehrheit der Zeitgenossen an die reale Wirksamkeit magischer Praktiken glaubte, fand sich bei einem dementsprechenden Verdacht auch stets »belastendes Material«, und seien es gewöhnliche Küchenkräuter, die auf einmal überaus sinister wirkten. Bei samozvanstvo gab es keine derartige Nebelgranate. Eine Untersuchung wurde aufgenommen, weil sich tatsächlich jemand als Mitglied der Dynastie bezeichnet hatte, so wenig durchdacht dieser Schachzug mitunter auch war. Außerdem sollte bei samozvanstvo nicht vergessen werden, dass das subversive Potenzial des Phänomens schon beim allerersten Fall im Moskauer Reich deutlich hervorgetreten war: Der erste falsche Dmitrij war nicht die tiefere Ursache, aber der Auslöser für die erste Phase des Bürgerkriegs in der Zeit der Wirren. Es gelang ihm tatsächlich, den Thron zu besteigen. Nach seinem Sturz setzten 103 Ebd., 185 f. 104 Ebd., 243. 105 Ebd., 169–171.
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Gerüchte über sein Überleben die zweite Phase des Bürgerkriegs in Gang, und die restlichen samozvancy der Zeit der Wirren trugen wesentlich dazu bei, den Konflikt zu verlängern und räumlich auszudehnen. Pugačev bewies dann, dass samozvanstvo auch noch im 18. Jahrhundert eine reale Bedrohung für den Kaiser / die Kaiserin darstellen konnte. Es ist also nachvollziehbar, warum selbst der ungeschickteste und unambitionierteste samozvanec die Obrigkeit nervös machte. Nichtsdestoweniger trifft auch auf die Aneignung einer fremden Identität die Beobachtung zu, dass die Zeitgenossen etwas Harmloses in Zusammenhänge einordneten, die so gar nicht harmlos waren. Das wiederum legt die Annahme nahe, dass die wahrgenommene Gefährlichkeit nicht nur mit der Erfahrung der Zeit der Wirren zu tun hatte, sondern auch mit einem grundlegenden Mechanismus des performativen Geschehens. Kivelson begründet die unterstellte Gefährlichkeit von Alltagszauberei und Küchenmagie damit, dass sie dazu dienten, soziale Beziehungen zu stören oder gar auf den Kopf zu stellen. Damit bedrohten sie letztlich die gesamte Gesellschaftsordnung, denn diese setzte sich aus unzähligen persönlichen Beziehungen zusammen.106 Jeder und jede hatte in der Gesellschaft jemanden über und jemanden unter sich. Dem Ideal nach sollten die jeweiligen hierarchisch Höheren ihren Untergebenen mit Freundlichkeit begegnen, was oft nur bedeutete, von Exzessen abzusehen und die Grenzen des akzeptierten Verhaltens nicht zu überschreiten.107 In Wahrheit kam es häufig vor, dass eine Person vor den Übergeordneten katzbuckelte und zum Ausgleich auf Untergebene eintrat – figurativ, aber auch wörtlich. Innerhalb dieses Rahmens diente die Anwendung magischer Praktiken dazu, entweder die Schattenseiten der unmittelbaren hierarchischen Beziehungen abzufedern oder diese wieder in einen Zustand zu versetzen, in dem die wechselseitigen Verpflichtungen von beiden Seiten eingehalten wurden. Umgekehrt kam der Verdacht von Magie auch dann auf, wenn dieses Verhältnis gestört wurde, bzw. vorgefallene Grenzüberschreitungen Grund zur Annahme gaben, dass sich die Machtlosen rächen wollten. Genau das erschien den Zeitgenossen so gefährlich daran. Zum einen verließ jemand über die Ausübung von Magie den ihm / ihr zugewiesenen Platz, während im Moskauer Reich die Maxime galt, dass jeder in der gesellschaftlichen Position bleiben müsse, die ihm / ihr von Gott zugewiesen sei, um die Ordnung insgesamt nicht zu gefährden. Zum anderen äußerte sich darin die individuelle Einschätzung einer Situation, ein individueller Wunsch nach einer bestimmten Veränderung, und selbst dieses Minimum an Individualismus galt den Zeitgenossen als exzessiv. Das Ideal der Gemeinschaft wurde 106 Ebd., 169; 234. 107 Ebd., 170.
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verletzt.108 Die Obrigkeit dachte hier also gemäß dem Slippery-Slope-Prinzip: Eine vergleichsweise kleine Affäre wie merkwürdige Kräuter in der Suppe konnte bereits das Fanal für folgenschwere Umwälzungen sein. Wie war es um eine potenzielle soziale Bedrohung durch samozvanstvo bestellt? Auch die Aneignung einer falschen (Herrscher-)Identität setzte hierarchische Verhältnisse außer Kraft bzw. wies jemandem einen neuen Platz in der Hierarchie zu. Ein Vagabund avancierte beispielsweise zum gern gesehenen und hofierten Gast, sobald er sich als Kaiser zu erkennen gab. Anders als bei Magie ging es aber nicht darum, auf die unmittelbaren persönlichen Abhängigkeitsverhältnisse einzuwirken. Samozvancy und samozvanki traten in der Regel außerhalb ihres gewohnten Umfelds auf und somit unter Fremden, mit denen sie keine Rechnung offen haben konnten. Wo samozvanstvo entgegen aller Praktikabilität aber doch im häuslichen Umfeld stattfand, wirkte es auf dieselbe Weise wie Magie. Ein Beispiel macht das besonders deutlich: Avdot᾽ja Zavarzina, welche die Prügel ihrer Schwiegermutter Domna leid war, entschied sich dafür, sich als Souveränin auszugeben. Sie hätte aber auch versuchen können, Domna mithilfe von Kräutern oder Beschwörungen milde zu stimmen. Hier waren Magie und samozvanstvo gewissermaßen als Methode austauschbar, aber das ist die Ausnahme. In diesem Sinn lässt sich anhand von samozvanstvo das Gesamtbild besser studieren, etwa, wie die Gesellschaft auf den Herrscher / die Herrscherin hingeordnet war, welche Herrscherbilder in der Bevölkerung verbreitet waren und welche Möglichkeiten es gab, um Unzufriedenheit zu äußern. Kleinteilige soziale Beziehungen bildeten, wie in Kapitel 5.3 erläutert, den Hintergrund von Erfolg oder Scheitern eines konkreten falschen Mitglieds der Dynastie, aber sie waren nicht der Boden, dem die Aneignung einer Identität entsprang. Dementsprechend ist das Untergraben der direkten Beziehungen kein Hauptmerkmal des Phänomens. Ungleich wichtiger war die Möglichkeit, mittels samozvanstvo den individuellen Handlungsspielraum und die individuellen Handlungsmöglichkeiten zu erweitern. Das geschah tatsächlich und ist als Motivation der Beteiligten anzusehen. Samozvancy und samozvanki eigneten sich eine fremde Identität an, um ein Ziel zu erreichen, das, so klein es im Einzelfall auch gewesen sein mag, außerhalb ihrer Reichweite lag, wenn sie als sie selbst agierten. Sie erhöhten ihre Autorität gegenüber ihren Mitmenschen und damit ihren Handlungsspielraum, weil ihnen nun mehr Freiheiten zugestanden wurden. Solange sie als Mitglieder der Dynastie glaubwürdig erschienen, veränderte sich für samozvancy und samozvanki also durchaus die Realität jenseits der Performanz. Ob jemand ein Dach über dem Kopf hatte oder nicht, hungrig oder satt schlafen ging, bei Schwierigkeiten auf sich alleine gestellt war oder auf 108 Kivelson: Muscovite »Citizenship«, 485.
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Unterstützung zählen durfte, machte einen konkreten Unterschied. Wenn falsche Mitglieder der Dynastie begrenzte Anliegen wie die oben genannten verfolgten, beschränkte sich der Effekt der Performanz auf ihre persönliche Situation. Erreichten sie ihr eigenes Ziel, bedeutet das nicht zwingend, dass sich für ihre AnhängerInnen ebenfalls etwas Greifbares veränderte. Aus der Perspektive der AnhängerInnen kann die Entscheidung, ein falsches Mitglied der Dynastie zu unterstützen, als Investition auf die Zukunft bezeichnet werden. Vielleicht würde die Sič’ wiedererrichtet werden, vielleicht würde die Leibeigenschaft abgeschafft werden – unmittelbar änderte sich am Alltag und der Lebenssituation der AnhängerInnen gar nichts außer dem Gefühl, an etwas Bedeutsamem beteiligt zu sein.109 Beförderungen, die ein samozvanec aussprach oder Belohnungen, die er in Aussicht stellte (siehe Kapitel 5.2) waren zwar performativ sofort wirksam, aber ob sie auch jenseits der Performanz jemals Gültigkeit erlangen würden, lag im Ungewissen. Statt eines unmittelbaren und konkreten Gewinns konnten sich für AnhängerInnen zusätzliche Kosten ergeben, etwa für die Unterbringung und Verköstigung eines vermeintlichen Mitglieds der Dynastie oder für Geschenke an es. Daraus folgt, dass AnhängerInnen den Nutzen stärker als die samozvancy und samozvanki aus der Performanz selbst zogen. Mitunter dürfte dieser auf der psychologischen Ebene angesiedelt gewesen sein und ist darum für HistorikerInnen bestenfalls zu erahnen. Eine solche Annahme erscheint immer dann plausibel, wenn sich einzelne AnhängerInnen auffallend stark für die Sache eines samozvanec oder einer samozvanka engagierten, aber keine handfeste Motivation erkennbar ist. Der Pope Lev Evdokimov ist ein gutes Beispiel. Erst leistete er 1765 einen wesentlichen Beitrag dazu, dass nicht nur sein eigenes Dorf Novosoldatskoe dem falschen Peter III. Gavrila Kremnev die Treue schwor, sondern auch vier weitere Ortschaften. Deswegen wurde er aus dem geistlichen Stand ausgeschlossen und nach Sibirien verbannt. Diese Erfahrung hinderte ihn aber nicht darin, in der Dučar-Fabrik ebenso tatkräftig und erfolgreich für den falschen Peter III. Petr Černyšev um Unterstützung zu werben. Ohne Evdokimov hätte Černyšev weniger Almosen bekommen, nicht den Kontakt zu zwei tungusischen Fürsten herstellen können und keinen (zweiten) Fluchtversuch unternommen. Bemerkenswert ist, dass Evdokimov unbelehrbar war, was das Engagement für einen falschen Peter anging. Beide Male ergriff er kurzerhand die Initiative, und beide Male verdiente er sich wohl die Dankbarkeit des samozvanec, verlangte aber keine Belohnung oder Gegenleistung. Bei der Zusammenarbeit mit Černyšev ist denkbar, dass er hoffte, er würde am Ende auch selbst aus der Zwangsarbeit befreit werden, wenn er sich um die Sache des vermeintlichen 109 Die Ausnahme sind die Unterstützer der samozvancy der Zeit der Wirren und von Pugačev, die zu den Waffen griffen.
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Kaisers annahm. Doch es erscheint rätselhaft, warum er als Pope von Novosoldatskoe alles auf Spiel setzte, um Kremnev, einem barfüßigen Deserteur, dabei zu helfen, als Peter III. anerkannt zu werden. Sein Verhalten könnte in seiner Persönlichkeit begründet liegen, aber auch in der Vorgeschichte, die er mit seiner Gemeinde hatte. Der Untersuchungsakt gibt keinerlei Aufschluss über einen Konflikt, aber da Popen allgemein stark von den Gläubigen abhängig waren, die sie anstellten, bezahlten und eben auch wieder entlassen konnten, waren ihre Handlungsfähigkeit und ihr Durchsetzungsvermögen oft real eingeschränkt. Bei Evdokimov ist ein solcher Hintergrund zumindest in Erwägung zu ziehen. Durch Kremnev könnte er die Ellbogenfreiheit gegenüber seinen Schäfchen erlangt haben, die ihm zuvor verwehrt geblieben war. Sein Ansporn könnte auch darin bestanden haben, dass er als Organisator und Netzwerker zu Höchstform auflief, aber seine Talente im Alltag als Dorfgeistlicher nicht ausleben konnte. Bei den AnhängerInnen anderer samozvancy und samozvanki mag es ähnlich gewesen sein, auch wenn sie sich nicht so exponierten wie Evdokimov. Insgesamt scheint aber die plausibelste Annahme zu sein, dass die Performanz ihnen ermöglichte, ihre Meinung zu aktuellen Themen zu äußern, ihre Beschwerden gehört zu machen und durch die tatkräftige Unterstützung eines falschen Mitglieds der Dynastie das Gefühl zu bekommen, dass sie selbst über das Geschehen bestimmten oder es zumindest mitgestalteten.110 Gleichzeitig sorgten die Beschränkungen der Performanz dafür, dass sie die idealisierten Herrscherbilder nicht aufgeben oder die bestehende Ordnung in Frage stellen mussten. Samozvanstvo und Magie verbindet also, dass sie aus Sicht der Obrigkeit gefährlich wirkten, weil sie performativ das soziale Gefüge veränderten und das aus einer subjektiven Wahrnehmung heraus geschah – ein Wunsch sollte erfüllt, ein Missstand aufgezeigt und aus der Welt geschafft, eine gestörte Beziehung repariert werden. Das individuelle Moment dürfte zugleich auf potenzielle AnhängerInnen anziehend gewirkt haben: Sie wurden von ihren eigenen Problemen bzw. der subjektiven Wahrnehmung genereller Missstände dazu motiviert, ein vermeintliches Mitglied der Dynastie zu unterstützen. Womöglich lag bei samozvanstvo der Akzent sogar etwas stärker als bei Magie auf eigenverantwortlichem und eigenständigem Handeln, für das das vermeintliche Mitglied der Dynastie als Feigenblatt diente. Magie sollte in individuellen Notlagen Abhilfe schaffen, deren Beseitigung wurde aber letztendlich unpersönlichen Kräften überlassen, die jemand anzuzapfen vermochte oder
110 Pavel Lukin kommt in Hinblick auf falsche Zaren zu demselben Schluss. Er meint, sie hätten sich das Recht zurückgeholt, ihre Probleme selbst zu lösen (Lukin: Narodnye predstavlenija, 150.).
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auch nicht, abhängig davon, wie genau jemand Anweisungen befolgte und sich diese Kräfte gewogen zu machen vermochte. In diesem Zusammenhang ist nicht uninteressant, dass beide Phänomene bei den Fallzahlen für das 17. Jahrhundert parallele Verlaufskurven zeigen. Beide waren in der ersten Hälfte keineswegs unbekannt, aber selten. In der zweiten Hälfte nahmen die Zahlen merklich zu.111 Das deutet darauf hin, dass die Zeitgenossen individuelle Abhilfe gegen die Härten der Gesellschaftsordnung in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts stärker und häufiger als zuvor als notwendig empfanden. In der Regierungszeit von Aleksej Michajlovič kam es zu mehreren bereits behandelten Veränderungen, die sich als ein Verlust von Mitspracherecht aufseiten der Untertanen interpretieren lassen und daher als Ursache dafür in Frage kommen. Dazu zählen die zunehmend depersonalisierte Ausübung von Herrschaft und die damit einhergehende Einschränkung des Rechts, Bittschriften dem Zaren persönlich zu übergeben, oder die zunächst seltener werdende und schließlich nach 1682 gar nicht mehr erfolge Einberufung eines sobor. Vielleicht liegt Boris Mironov mit der These richtig, dass den BewohnerInnen des Moskauer Reiches mit dem Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert das Gefühl abhandenkam, Subjekte von Herrschaft zu sein. Dafür spricht etwa, dass das Recht, Bittschriften an den Zaren zu übergeben unter zwei Gesichtspunkten betrachtet werden kann. Es in Anspruch zu nehmen bedeutete ja nicht nur, den Herrscher auf Missstände aufmerksam zu machen, damit dieser sie in bester paternalistischer Manier beseitigte. Dem Abfassen einer Bittschrift war der geistige Schritt vorgelagert, einen Vorgang oder Zustand als unrecht einzustufen und das zu begründen. Jemand musste außerdem die eigenen Belange als ausreichend wichtig empfinden, um den Weg der Beschwerde an höchster Stelle zu beschreiten. Waren Bittschriften nicht erlaubt, ging nicht nur die direkte Kommunikation zwischen HerrscherIn und Untertanen verloren, sondern auch die in der Erlaubnis implizit enthaltene Ermutigung, für sich selbst zu sprechen und für sich selbst Recht einzufordern. Dass Letzteres im Verlauf des 17. Jahrhunderts größere Bedeutung erlangte, zeigt sich auch in einer Gegenüberstellung von samozvanstvo und Magie auf der einen Seite sowie jurodstvo auf der anderen Seite. Jurodivye (Gottesnarren / Gottesnärrinnen, Narren und Närrinnen in Christo) galten im Moskauer Reich als wichtige Instanz der Herrscherkritik; ihre Popularität verdankten sie in erster Linie diesem Umstand. Allerdings dürfte es sich dabei vor allem um nachträgliche Zuschreibungen handeln, nicht um eine Beschreibung der Gegebenheiten. Eigentlich ist es nur möglich, über diesen Topos und andere Zuschreibungen zu sprechen, aber kaum über die Realität dahinter. Es wird sich wahrscheinlich nie klären lassen, wie viele jurodivye in welchem Zeitraum 111 Für Magie siehe Kivelson: Desperate Magic, 238.
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tatsächlich so lebten und dachten wie es ihre Viten beschreiben. Für sie war Herrscherkritik wahrscheinlich viel weniger wichtig als es die literarischen Zeugnisse über sie glauben machen. Darum verdient weniger Beachtung, dass jurodivye mit Herrscherkritik in Verbindung gebracht werden, sondern, wie sich die Zeitgenossen den Vorgang des Kritisierens vorstellten. Dabei zeigt sich ein wichtiger Unterschied zu samozvanstvo und, in geringerem Maß, zu Magie. Unter der Bezeichnung saloi waren Gottesnarren und -närrinnen bereits im Byzantinischen Reich bekannt. Dieser Heiligentyp zeichnete sich vorrangig durch die Gabe der Prophetie aus, welche unter Heiligen keineswegs selten ist. Andere Merkmale setzten sie allerdings deutlich von allen übrigen Heiligen ab. Jurodivye stellten sich absichtlich dumm und verletzten sämtliche nur denkbaren Verhaltensnormen. Sie beschimpften ihre Mitmenschen, sagten oder taten Obszönes, nahmen sich von Marktständen einfach etwas zu essen und Ähnliches mehr. Äußerlich waren sie an der Geringschätzung ihres eigenen Körpers erkennbar. Sie hüllten sich in spärliche Lumpen oder gingen ganz nackt, schützten sich weder vor Hitze, noch vor Kälte, pflegten Haar und Bart nicht.112 Für ihr Verhalten gibt es unterschiedliche Begründungen mit jeweils leicht voneinander abweichenden Schwerpunkten. Einer Deutung zufolge versuchten die jurodivye, durch Selbsterniedrigung das Seelenheil zu erlangen. Die Selbsterniedrigung diente auch dem Lob Gottes, weil selbst die tiefste und umfassendste menschliche Weisheit neben der Weisheit Gottes nur wie Dummheit wirkt. Gleichzeitig galten jurodivye als Spiegel der sie jeweils umgebenden Gesellschaft. Durch ihre Verhaltensauffälligkeiten machten sie sich zum öffentlichen Ärgernis, wurden vielfach verspottet und beschimpft. Ihr Anspruch lautete aber, dass ihre scheinbar rechtschaffenen Mitmenschen eigentlich diejenigen seien, die sich ständig versündigten und abstoßend verhielten.113 Die historische Realität hatte mit diesem Bild wahrscheinlich recht wenig zu tun. Die gerade angeführte Begründung für das elende Dasein der jurodivye war wohl kein im Vorhinein formuliertes Programm, sondern eine Zuschreibung in der Rückschau, um ihr absonderliches Verhalten zu rationalisieren, bzw. eine Begründung für ihre heiligenmäßige Verehrung zu geben. Nur wenige Selbstzeugnisse ermöglichen einen Einblick in ihre persönlichen Beweggründe. Sie stammen aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts und sind damit relativ spät, sodass sie vielleicht nicht allzu aussagekräftig sind. Jedenfalls findet sich darin keine der oben genannten Begründungen dieses Lebensstils.114 112 Lichačev, D. S. / Pančenko, A. M.: Smechovoj mir Drevnej Rusi. Leningrad 1976, 150. 113 Ebd., 139. 114 Dazu siehe Lavrov, Aleksandr S.: »Um seine Seele zu retten«. Die Verhöre der Gottesnarren als religiöse Autobiographien, 1699–1740. In: Torke, Hans-Joachim (Hg.): Von Moskau nach St. Petersburg. Das russische Reich im 17. Jahrhundert. Wiesbaden 2000, 187–201.
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Ähnlich verhält es sich mit der Darstellung von jurodivye als KritikerInnen des Zaren. Darin ist in erster Linie ein hagiografischer Topos zu sehen, über dessen Ursprung in realen Begebenheiten wenig Konkretes gesagt werden kann.115 Viele Viten von jurodivye entstanden erst Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte nach deren Tod, sodass sie kaum authentische Begebenheiten enthalten können. Umgekehrt ist bei jenen jurodivye, von denen nur der Name mit ungefähren Lebensdaten und vielleicht ein Feiertag überliefert ist, nicht klar, aufgrund welcher Eigenschaften sie dieser speziellen Gruppe Heiliger zugerechnet wurden.116 Spekulationen sind schwierig, weil jurodivyj oder jurodivaja mitunter nur ein Synonym für ›ProphetIn‹ war, während die anderen Kriterien nicht erfüllt sein mussten.117 Bestimmte Motive kommen in mehreren Viten vor, um die Zugehörigkeit der jeweiligen Person zu dieser Gruppe Heiliger anzuzeigen, sagen aber wenig bis gar nichts über deren tatsächliches Verhalten aus. Einzelne Episoden wie die Ermahnung Ivans IV. durch Nikola von Pskov während der Strafexpedition des Zaren gegen Pskov 1570 wurden mit der Zeit immer mehr ausgeschmückt, sodass die Rolle des jurodivyj wichtiger, seine Worte konkreter und eindringlicher erschienen.118 Auch sollte im Auge behalten werden, dass jurodivye nicht einmal auf topischer Ebene speziell für Herrscherkritik zuständig waren. Sie brachten ihre Missbilligung gegenüber allen zum Ausdruck, die sich ihrer Ansicht nach nicht wie gute ChristInnen verhielten, unabhängig von Vermögen oder Einfluss der betreffenden Person. Bemerkenswert ist aber, dass sie sich nicht scheuten, den Zaren einzubeziehen und ihn grundsätzlich nicht anders behandelten als alle anderen.119 In diesem Sinn standen jurodivye nicht für Veränderung, sondern für die strikte Einhaltung der christlichen Gebote und auf diese Weise für die Bewahrung der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung. Dmitrij Lichačev und Aleksandr M. Pančenko meinen, sie seien nichts weiter als konservative Moralisten gewesen.120 Zuletzt wäre es fehlgeleitet, anzunehmen, die Position der jurodivye als KritikerInnen der Reichen und Mächtigen sei einfach oder gesichert gewesen. Nur in einer historisch relativ kurzen Periode, den Regierungszeiten von Ivan IV. und Fedor Ivanovič, dürften jurodivye tatsächlich das Wohlwollen des Zaren genossen haben.121 Aber nicht einmal da waren sie völlig geschützt. Den bekanntesten von ihnen wie Vasilij dem Törichten (russ. Vasilij Blažennyj) und Nikola von Pskov geschah tatsächlich nichts, aber sozusagen die zweite 115 116 117 118 119 120 121
Lichačev / Pančenko: Smechovoj mir, 139. Ivanov, Sergey A.: Holy Fools in Byzantium and Beyond. Oxford 2006, 270. Ebd., 312. Lichačev / Pančenko: Smechovoj mir, 176–178. Ebd., 159. Ebd., 156. Ivanov: Holy Fools, 285 f.
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und dritte Garnitur durfte sich keineswegs sicher fühlen. Giles Fletcher, der sich im Dienst der Russia Company 1588/1589 in Moskau aufhielt, vermerkte, jurodivye, die sich zu freimütig äußerten, würden diskret beseitigt (made away in secret).122 Auf weniger drastische Weise ließ sich Abhilfe schaffen, indem allzu offenherzige jurodivye für tatsächlich geisteskrank erklärt wurden, damit ihre Mahnungen unbegründet erschienen.123 Der hier relevante Unterschied zu samozvanstvo und Magie ergibt sich aus der Position, die jurodivye gegenüber der Gesellschaft einnahmen und aus der heraus sie Kritik übten. Das Verhältnis der jurodivye zu ihren Mitmenschen war komplex und nicht frei von gewissen Widersprüchen. In der Theorie sollten sie sich ausschließlich um ihr Seelenheil kümmern, nicht um die Meinung anderer. In der Praxis brauchten sie ein Publikum, damit ihre Botschaft auf fruchtbaren Boden fallen konnte.124 Bis in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts hatten sie in der Regel keine dauerhafte Bleibe, nahmen aber Einladungen in die Häuser ihrer WohltäterInnen an und quartierten sich mitunter selbst bei wohlhabenden Familien ein. Unter den ersten Romanovy lebten auch einzelne jurodivye am Zarenhof.125 Generell gilt aber, dass sie sich ihrem Anspruch nach innerlich aus der Gesellschaft verabschiedet hatten, auch wenn sie weiterhin inmitten von ihr lebten, um SünderInnen tadeln zu können. Zeigten sie Fehlverhalten auf, setzten sie sich nicht über Grenzen hinweg, weil diese für sie von vornherein nicht mehr galten.126 Deswegen haftete an jurodivye kein grundsätzlicher Verdacht, aufrührerisch zu agieren, auch wenn bei weitem nicht alle von ihnen bei den Zeitgenossen gut gelitten waren. Zudem fällt es schwer, in der Kritik der jurodivye Zeichen von Individualisierung zu erkennen. Selbstverständlich war es ihre eigene Entscheidung, diesen besonderen Lebensstil zu wählen und ebenso blieb es ihnen überlassen, ob sie Unrecht oder Sünden anprangerten oder für sich behielten. Allerdings orientierten sie sich für die Formulierung ihres Tadels an den christlichen Geboten, die den Status einer objektiven, unangreifbaren Wahrheit genossen. Jurodivye waren in diesem Sinn keine Agenten in eigener Sache. Vorteile gewannen sie durch ihre Auftritte nicht, sondern mussten im Gegenteil damit rechnen, in Schwierigkeiten zu geraten, falls sie einem Mächtigen oder Wohl-
122 Bond, Edward A. (Hg.): Russia at the Close of the Sixteenth Century. Comprising, the Treatise »Of the Russe Common Wealth« by Dr. Giles Fletcher; and The Travels of Sir Jerome Horsey, Knt., now for the First Time Printed entire from His Own Manuscript. Reprint New York 1965 [Original 1856], 119. 123 Lichačev / Pančenko: Smechovoj mir, 138. 124 Ebd., 154. 125 Ebd., 138; 144; 156; 164. 126 Ebd., 153.
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habenden zu nahe traten. Nicht zuletzt beförderten sie keinen wie immer gearteten Partikularismus. Was sie sagten, sollte dazu beitragen, dass alle Menschen ein gottesfürchtiges Leben führten und das kam wiederum allen zugute, weil so Gottes Zorn nicht erregt wurde. Mit gruppenspezifischen Interessen hatte das nichts zu tun. Aufgrund dieser Merkmale korrespondiert das Verhalten der jurodivye mit dem bis ins 16. Jahrhundert dominierenden Ordnungsverständnis: Die bestehende Ordnung repräsentiere bereits den Idealzustand und müsse darum unverändert erhalten werden. Das erfordere von jeder und jedem, an dem ihm / ihr zugewiesenen Platz zu bleiben. Wenn jurodivye Kritik übten, verstießen sie nicht gegen diese Ansicht, weil sie der Gesellschaft den Rücken gekehrt hatten. Gleichzeitig ermunterten sie niemanden, der noch in die Gesellschaft eingebunden war, den zugewiesenen Platz zu verlassen und dem Herrscher gegenüber ungehorsam zu sein. Auf gewisse Weise brachten sie stellvertretend für andere Tadel an, auch wenn sie keinen expliziten Auftrag dazu erhalten hatten und sich niemandem verpflichtet fühlten. So stützten sie die Ordnung von zwei Seiten: Der Zar wurde an seine Verfehlungen gemahnt und seine Untertanen bekamen keinen Anlass, ihren Gehorsam ihm gegenüber aufzukündigen. Die Anwendung magischer Praktiken und das Auftreten falscher Mitglieder der Dynastie basierte hingegen implizit auf der Annahme, dass in der Gegenwart (noch) nicht alles zum Besten stehe und es deswegen gerechtfertigt sei, selbst etwas gegen Missstände zu unternehmen, also zumindest temporär den eigenen Platz in der Gesellschaftsordnung zu verlassen. Beide Standpunkte gelten als Neuerungen des 17. Jahrhunderts, was erklären würde, warum sie bei jurodstvo keine Rolle spielten. Aleksej Jakovlev bestimmte schon 1909 in einem Aufsatz die Zeit der Wirren als jenen Zeitpunkt, zu dem die Zeitgenossen das Bewusstsein entwickelt hätten, dass die gegenwärtigen Zustände nicht immer gottgewollt und gut seien, sondern auch menschengemacht und schlecht sein könnten. Die Schlussfolgerung daraus habe gelautet, jeder sei für die herrschenden Missstände verantwortlich, aber es könne auch jeder etwas dagegen unternehmen.127 Was Jakovlev postulierte, lässt sich schwer bis gar nicht belegen, dennoch sollte seine These nicht einfach verworfen werden. Sie bietet einen guten Ansatzpunkt, um mehrere Beobachtungen zu ordnen und zueinander in Beziehung zu setzen. Es ist plausibel, dass eine pessimistische Sicht auf die Gegenwart bei den Zeitgenossen die Hemmschwelle senkte, bei Missständen 127 Jakovlev, Aleksej: »Bezumnoe molčanie«. Pričiny Smuty po vzgljadam russkich sovremennikov eja. In: Sbornik statej, posvjaščennych Vasiliju Osipoviču Ključevskomu ego učenikami, druz’jami i počitateljami ko dnju tridcatilětija ego professorskoj dějatel’nosti v Moskovskom Universitetě. Moskva 1909, 651–678.
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selbst aktiv zu werden, weil ihnen die bestehende Ordnung nicht denselben Respekt abnötigen konnte wie ein angeblicher Idealzustand. Solche Entscheidungen etwa zur Revolte sind ein weiterer Hinweis darauf, dass individuelle Meinungen und Wünsche im 17. Jahrhundert größeres Gewicht gewannen. Wer Magie praktizierte, sich für ein falsches Mitglied der Dynastie ausgab oder ein solches unterstützte, handelte, wie oben ausgeführt, aufgrund von individuellen Motiven und zum angestrebten persönlichen Nutzen. Diese Überlegungen sind nicht als Erklärung für den Niedergang von jurodstvo im 17. Jahrhundert gedacht. Für diesen waren hauptsächlich zwei andere Ursachen verantwortlich. Zum einen erstreckten sich die verstärkten obrigkeitlichen Regulierungsbemühungen, die ihren deutlichsten Ausdruck im Sobornoe Uloženie fanden, auch auf den Bereich der Religion. Reformorientierte Geistliche aller Hierarchiestufen versuchten etwa, Überreste von »Aberglauben« und »Volksreligiosität« aus den Frömmigkeitspraktiken zu tilgen.128 Die Unterstützung der Gläubigen dafür war zwar endend wollend, aber jurodivye gerieten fortan schneller ins Visier der geistlichen wie weltlichen Behörden, weil die Kirche ihnen ungeachtet der Kanonisierung Einzelner durchgehend skeptisch gegenüberstand. 1636 warnte Patriarch Iosif beispielsweise in einem Erlass über angemessenes Verhalten in einer Kirche vor falschen jurodivye. Sein Anliegen war eigentlich nur, Betrug an den Gläubigen einen Riegel vorzuschieben, aber der Erlass wirkte wie eine Einladung, sämtliche jurodivye als BetrügerInnen abzustempeln und sie den entsprechenden Sanktionen zu unterwerfen.129 Zum anderen trugen die jurodivye selbst zu ihrer Marginalisierung bei, als sich die meisten von ihnen nach dem Raskol auf die Seite der Altgläubigen schlugen und damit denselben Verdächtigungen und Verfolgungen ausgesetzt waren wie diese.130 Den Abschluss der Marginalisierung von jurodstvo erfolgte durch den wohlgeordneten Policeystaat Peters I., in dem sie starker Verfolgung ausgesetzt waren.131 Diese Überlegungen sollen auch nicht implizieren, dass samozvanstvo ju rodstvo verdrängt hätte. Vielmehr lautet die Botschaft, dass die gerade erörterten Unterschiede zwischen jurodstvo einerseits, Magie und samozvanstvo andererseits darüber Aufschluss geben, warum die beiden letztgenannten Phänomene ab der zweiten Hälfte das 17. Jahrhunderts ihren Aufschwung 128 Dazu siehe etwa Plaggenborg: Pravda, 313 f.; Roždestvenskij, N. V. (Hg.): K istorii bor’by s cerkovnymi bezporjadkami, otgoloskami jazyčestva i porokami v russkom bytu XII v. Čelobitnaja nižegorodskich svjaščennikov 1636 goda v svjazi s pervonačal’noj dějatel’nost’ju Ivana Neronova. In: ČIOIDR 2/1902, čast’ IV Směs’, 1–31; Rumjanceva, N. S.: Narodnoe anticerkovnoe dviženie v Rossii v XVII veke. Moskva 1986. 129 Lichačev / Pančenko: Smechovoj mir, 138. 130 Ebd., 180. 131 Dazu siehe Lavrov, A. S.: Jurodstvo i »reguljarnoe gosudarstvo« (konec XVII‒pervaja polovina XVIII v.). In: Trudy otdela drevnerusskoj literatury 52 (2001), 432–447.
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Samozvanstvo als Performanz
nahmen. Was sie gleichermaßen kennzeichnete, für die Praktizierenden (bei Magie) bzw. Beteiligten (bei samozvanstvo) zunehmend attraktiv machte und aus der Sicht der Obrigkeit gefährlich erscheinen ließ, war die Kombination aus einem kreativen Umgang mit der Gesellschaftsordnung und den ihr innewohnenden Beschränkungen sowie eine individuelle, subjektive Motivation hinter diesen kreativen Lösungen.
IV. Abschließende Überlegungen
Bei der Erforschung von samozvanstvo muss stets ein Gleichgewicht gefunden werden zwischen der Einsicht, dass große Ähnlichkeiten zwischen den unterschiedlichen Fällen bestanden und der Einsicht, dass die Übereinstimmungen mit einer großen Vielfalt koexistierten. Das bedeutet, dass sich die vielen Detailergebnisse nur schlecht bündeln lassen. Um eine langatmige Aufzählung von Einzelheiten zu vermeiden, werde ich abschließend nur jene Aspekte aufgreifen, die sich zusammenfassen lassen, zentral sind und Anknüpfpunkte für weiterführende Forschungen bieten. Der Faktor Performanz
Der Performanzbegriff leistet dreierlei für die Analyse von samozvanstvo: Erstens und wie schon in Kapitel 2.3 ausgeführt, ermöglicht er es, das in Themenwahl und Fragestellung enthaltene Ausgangsproblem zu lösen und die nicht beabsichtigte, nicht zielgerichtete Weitergabe von Wissen beschreib- und analysierbar zu machen. Aus der Perspektive der einzelnen samozvancy und samozvanki betrachtet gab es nach der Zeit der Wirren keine ununterbrochene Kette der Weitergabe von Wissen in dem Sinn, dass b von a gehört hatte und a nachahmte, c wiederum von b gehört hatte und b nachahmte, und so weiter. Nach dem Quellenbefund zu schließen, traten im 17. Jahrhundert nach 1613 zu wenige samozvancy auf, um eine solche Kette zu erzeugen. Im 18. Jahrhundert lässt sich die Weitergabe besser verfolgen, zudem gleichen die Kontakte teilweise einem Netz, wie es bei den falschen Peter III. Bogomolov, Kretov, Pugačev und Rjabov der Fall war. Doch auch diese Verbindungen sind insgesamt zu wenige, um samozvanstvo sozusagen vom 17. zum 19. Jahrhundert zu transportieren. Methodisch ist eine derart diffuse Weitergabe von Wissen nur fassbar, wenn sie als Ineinandergreifen zweier Wissensbestände beschrieben wird, wobei der eine weitgehend unverändert bleibt und allgemein zugänglich ist, und der andere durch spontane Auswahl aus dem festen Bestand entsteht. Dafür steht das hier verwendete Begriffspaar Archiv und Repertoire. So lässt sich erklären, warum einerseits auch ohne direkte Kontakte Ähnlichkeiten zwischen den verschiedenen Fällen von samozvanstvo bestehen konnten, aber andererseits kein Fall die exakte Kopie eines anderen war. Den Performanzbegriff zu verwenden bedeutet zweitens, davon auszugehen, dass die Handlungen der Beteiligten nicht zufällig erfolgten, sondern
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Abschließende Überlegungen
einem bestimmten Zweck dienten. Im Fall von samozvanstvo richteten sie sich nach dem Bemühen, Emergenz zu erzeugen, damit am Ende die Agenden umgesetzt werden konnten. Das wäre unmöglich gewesen, hätten sich die Beteiligten nur von ihren innersten Überzeugungen und von Willkür leiten lassen. Ein gewisses Maß an Planung und Pragmatismus war für den Erfolg der Performanz notwendig, und ist bei der Analyse der Interaktion zwischen einem falschen Mitglied der Dynastie und seinen AnhängerInnen auch erkennbar. So ist es nicht haltbar, speziell das Verhalten der AnhängerInnen eines falschen Mitglieds der Dynastie rein auf Rückständigkeit oder Naivität zurückzuführen und zu behaupten, sie hätten selbst den größten Unsinn blind geglaubt. Wohl hat samozvanstvo etwas mit Idealisierung zu tun. Idealisierung ist der Grund dafür, warum potenzielle AnhängerInnen die Anwesenheit eines (vermeintlichen) Mitglieds der Dynastie für notwendig erachteten, um ihre eigenen Vorhaben zu legitimieren oder HerrscherInnen ausschließlich gute Absichten zuschrieben. Aber um Emergenz zu erzeugen agierten sie pragmatisch, den jeweiligen Anforderungen entsprechend, wie es besonders gut bei ihrem Umgang mit carskie znaki erkennbar ist. Drittens ergaben sich aus der Form der Performanz dahingehend Beschränkungen, welche Botschaft samozvancy und samozvanki vermitteln konnten. Diese sind wichtig, um die Funktion des Phänomens zu bestimmen. In einem ersten Schritt erweiterte das Auftreten eines falschen Mitglieds der Dynastie die Handlungsspielräume aller Beteiligten. Die AnhängerInnen gestanden den samozvancy und samozvanki als vermeintlichen Mitgliedern der Dynastie mehr Rechte und Freiheiten zu als diese aufgrund ihres eigentlichen sozialen Status besessen hätten. Sobald ein samozvanec / eine samozvanka als Mitglied der Dynastie akzeptiert war, legitimierte seine / ihre Anwesenheit Aktivitäten, die unter anderen Umständen verboten gewesen wären und verhalf somit auch den AnhängerInnen zu einem größeren Handlungsspielraum. Allerdings ergaben sich aus dem Bestreben, Emergenz zu erzeugen, dahingehend Einschränkungen, welche Botschaft durch das Auftreten eines vermeintlichen Mitglieds der Dynastie vermittelt werden konnte. Die unterschiedlichen Herrscherbilder im Moskauer und Russländischen Reich ähnelten einander im Untersuchungszeitraum in zentralen Punkten so sehr, dass alle samozvancy und samozvanki sie fast gleich performativ umsetzten. Die Monarchie als solche genoss hohe Akzeptanz und wurde kaum je in Frage gestellt. Zudem verstanden die meisten Zeitgenossen die Monarchie hochgradig personalisiert. Angesichts dessen konnten samozvancy und samozvanki nur für einen Köpfetausch stehen, während die Monarchie selbst nicht angetastet wurde, und das lief auf eine Bejahung der bestehenden Verhältnisse hinaus. Der Mechanismus, dass die Form der Performanz zugleich Möglichkeiten schafft und sie begrenzt, könnte auch für andere Arbeiten interessant sein, welche den Performanzbegriff benutzen.
Abschließende Überlegungen
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Doch auch der Selbsterhaltungstrieb der samozvanki und samozvancy sollte als Einschränkung nicht unterschätzt werden. Wer im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte als Mitglied der Dynastie auftrat, wusste, dass er sich eines schweren Verbrechens schuldig machte. Dieses Risiko gingen samozvancy und samozvanki ein, versuchten aber üblicherweise, es möglichst klein zu halten. Nur in Ausnahmefällen setzten sie sich darüber hinweg, wie Cholščevnikov bei seinem Einzug im Arzamas. Die meisten samozvancy und samozvanki scharten nur wenige AnhängerInnen um sich und beließen die Konfrontation mit dem Herrscher / der Herrscherin auf einer rein performativen Ebene. Die der Form der Performanz innewohnenden Beschränkungen und das Bestreben der samozvancy und samozvanki, sich möglichst unauffällig zu verhalten, lassen es nicht gerechtfertigt erscheinen, samozvanstvo als Form von Öffentlichkeit einzuordnen, obwohl einige Argumente dafür sprechen. Die Funktion des Phänomens lag nicht in einer wie auch immer gearteten Außenwirkung, sondern darin, was im Rahmen der Performanz geschah: Die AnhängerInnen wollten performativ erfahren, dass sie selbst entscheiden konnten, was geschah, ihre Meinung wichtig war und sie ihre Anliegen bei den Mächtigen gehört machen konnten. Warum gab es so viele samozvancy und samozvanki?
Es war kein vorrangiges Ziel dieser Monografie, ja nicht einmal ein nachgeordnetes, die alte Frage zu beantworten, warum falsche Mitglieder der Dynastie im Moskauer und Russländischen Reich so viel häufiger auftraten als in allen anderen Ländern. Das liegt daran, dass ich es im Vorhinein nicht für möglich gehalten hätte, eine Erklärung zu geben, die ohne obskure Parameter wie »nationale Eigenarten« oder die »russische Seele« auskommt. Gewissermaßen als Nebenprodukt meiner Recherchen haben sich wider Erwarten ein paar vielversprechende, aber im Text verstreute Anhaltspunkte ergeben. Weil diese Frage keineswegs nebensächlich ist, werden sie hier noch einmal systematisch zusammengefasst. Das Auftreten falscher Mitglieder der Dynastie folgte im Moskauer und Russländischen Reich der Logik einer Präsenzkultur, in Zentral- und Westeuropa der Logik einer Sinnkultur. Dieser grundlegende Unterschied vermag nicht nur zu erklären, warum der Körper des Herrschers unterschiedlich vorgestellt wurde, wie in Kapitel 3.1 erläutert, sondern wirkte sich auch auf die Häufigkeit der Fälle aus. Der Unterschied zwischen Präsenzkulturen und Sinnkulturen bezieht sich beim Auftreten falsche Mitglieder der Dynastie vor allem darauf, wie allgemein anerkanntes Wissen generiert wird. In Sinnkulturen ist es menschengemacht. Die Thronfolgeregelung galt in westeuropäischen Monarchien als so
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Abschließende Überlegungen
verbindlich, dass sich sogar falsche Thronprätendenten an dieses menschengemachte Regelwerk hielten. Sie eigneten sich die Identität desjenigen Prätendenten an, der objektiv einen größeren Anspruch auf den Thron gehabt hätte als der gegenwärtige Monarch, wäre er am Leben und in Freiheit gewesen. Zu einem bestimmten Zeitpunkt erfüllten nur wenige Identitäten diese Anforderungen. Heinrich VII. von England konnte von drei personae herausgefordert werden (Eduard V., Richard von York, Eduard von Warwick), Heinrich IV. von Frankreich ebenfalls von drei (ein Sohn von Karl IX ., Franz II. oder Heinrich III.), Philipp II. von Spanien von einer (Sebastian von Portugal) und den Anlass des Hundertjährigen Krieges hätte auch nur eine persona aus der Welt schaffen können (Johann I. von Frankreich). Die große Autorität der Thronfolgeregelung beschränkte nicht nur die Anzahl der Identitäten, die sich falsche Prätendenten aneignen, sondern auch die der Situationen, in denen sie auftreten konnten. Für sie war der Zeitpunkt immer dann günstig, wenn eine durch das Aussterben der zuletzt regierenden Dynastie hervorgerufene Krise eigentlich überwunden schien, weil sich ein neuer Herrscher durchgesetzt hatte, aber viele Zeitgenossen nicht bereit waren, die gefundene Lösung zu akzeptieren. Dynastische Krisen sind, gleich von welchem Land und von welcher Epoche die Rede ist, eine seltene Erscheinung. Im Moskauer und Russländischen Reich wurde, wie für Präsenzkulturen typisch, offenbartem Wissen eine höhere Autorität zugeschrieben als menschengemachtem Wissen. Die Zeitgenossen gingen nicht davon aus, dass mithilfe der Thronfolgeregelung der gottgewollte Herrscher in jedem einzelnen Fall mit abschließender Sicherheit identifiziert werden könne. Als unumstößlich galt nur eine direkte Offenbarung von Gottes Willen, die an keinerlei äußere Parameter gebunden war. So konnten sich samozvancy und samozvanki die Identität jedes beliebigen Mitglieds der Dynastie aneignen, und ihr Auftreten war nicht an krisenhafte Zustände gebunden. Mehr theoretische Möglichkeiten, dass ein falsches Mitglied der Dynastie auftrat, bedeuteten zweifellos auch mehr samozvancy und samozvanki in der Praxis. Je nach Untersuchungszeitraum sind weitere Faktoren zu berücksichtigen, welche das Auftreten falscher Mitglieder der Dynastie begünstigten oder hemmten. Die regierenden Kaiserinnen des 18. Jahrhunderts waren etwa mit besonders vielen falschen männlichen Romanovy konfrontiert. Der herausgearbeitete Zusammenhang zwischen der Bevorzugung von offenbartem oder menschengemachtem Wissen und dem Auftreten falscher Mitglieder der Dynastie gilt für das Moskauer bzw. Russländische Reich auf der einen und Westeuropa sowie Skandinavien auf der anderen Seite. Andere Regionen Europas (und erst recht außereuropäische Monarchien) zeigten möglicherweise andere Muster, die zu identifizieren Gegenstand zukünftiger Forschungen sein könnte. Dort sind vielleicht andere Unterscheidungskriterien von Präsenz- und Sinnkulturen relevant, oder auch Faktoren, die nicht in
Abschließende Überlegungen
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Gumbrechts Typologie aufscheinen. Zu denken ist etwa an die Prätendenten im Fürstentum Moldau, die sich gleichermaßen von den Moskauer / russländischen Beispielen, wie auch von den westeuropäischen unterschieden, weil der neue Hospodar nicht durch Erbfolge bestimmt wurde. Die Wertschätzung für offenbartes Wissen begünstigte samozvanstvo, aber alleine damit lässt sich nicht erklären, warum es im Moskauer und Russländischen Reich tatsächlich so viele falsche Mitglieder der Dynastie gab. Die historischen Ursachen dafür liegen zum einen in der Zeit der Wirren, zum anderen in der Regierungszeit von Aleksej Michajlovič. Drei Merkmale von samozvanstvo in der Zeit der Wirren sorgten dafür, dass das Phänomen wesentlich tiefer und fester im Archiv des Moskauer Reiches verankert war als es in anderen Ländern der Fall war und daher jederzeit wieder aktualisiert werden konnte: die im Vergleich mit Westeuropa extrem hohe Zahl von samozvancy in extrem rascher Abfolge, die Größe des von ihren Aktivitäten erfassten Gebiets sowie der Umstand, dass alle samozvancy in dieser Epoche den ersten Dmitrij so weit wie möglich nachahmten, also dasselbe Muster in sehr kurzer Zeit sehr oft wiederholt wurde. Eine Alternative zum regierenden Zaren erschien besonders attraktiv, sobald die Diskrepanz zwischen der Idealvorstellung von einem Herrscher und der Regierungspraxis zu wachsen begann. Die unter Aleksej Michajlovič verstärkte Rationalisierung der Verwaltung verringerte die Möglichkeiten der Untertanen, direkt mit dem Zaren in Verbindung zu treten, obwohl diese das weiterhin für notwendig erachteten, um zu ihrem Recht zu kommen. Davon profitierten samozvancy und samozvanki, solange nahezu alle Zeitgenossen glaubten, dass Gerechtigkeit und Prosperität nur von dem Zaren, dem Kaiser oder der Kaiserin kommen konnten. Nach 1800 war das nicht mehr der Fall, darum ging die Zahl der Fälle von samozvanstvo stark zurück. Die Bedeutung des 17. Jahrhunderts
Insgesamt kann die Bedeutung des 17. Jahrhunderts für samozvanstvo kaum überschätzt werden. Dieser Punkt ist in der bisherigen Forschung noch nicht beachtet worden, vielleicht, weil der erste Eindruck der einer starken Gleichförmigkeit ist: Im Untersuchungszeitraum gab es immer viele samozvancy und samozvanki, und diese vielen gingen stets ähnlich vor, um plausibel zu erscheinen. Keine einzige Zäsur ist augenfällig. Außerdem lädt Čistovs überaus einflussreiches Konzept der sozial-utopischen Legenden dazu ein, den langen Zeitraum in so kurze Abschnitte zu teilen, dass weder Kontinuitäten, noch Brüche erkannt werden können. Čistov zufolge enttäuschte ein Herrscher nach dem anderen seine Untertanen, die ihre Enttäuschung mit einer Legende über den »guten Zaren« nach der anderen kompensierten. Bei diesem Modell gibt
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Abschließende Überlegungen
es keine langen Linien und keine Einflüsse, nur die endlose Wiederholung von Schema X . Wie im vorhergehenden Abschnitt deutlich geworden sein dürfte, ist mit dem 17. Jahrhundert nicht nur zu erklären, warum samozvanstvo im Archiv des Moskauer und Russländischen Reiches tiefer verankert war als in anderen Ländern, sondern auch, warum die bestehende Möglichkeit zur Aneignung einer Herrscheridentität so häufig realisiert wurde. Die Auswirkungen davon zeigten sich erst im 18. Jahrhundert, das für samozvanstvo in zweierlei Hinsicht als ein langes Jahrhundert definiert werden kann. Im Zeitraum von etwa 1670 bis 1800 nahm die Zahl der Fälle kontinuierlich zu, um danach rasch zu sinken. Außerdem waren die Motive in den fiktiven Selbstzeugnissen von samozvancy wie auch in Gerüchten über verstorbene Mitglieder der Dynastie im Zeitraum zwischen dem Beginn der selbstständigen Herrschaft Peters I. und 1825 bemerkenswert stabil. Es könnte lohnend sein, zu überprüfen, ob auch andere Entwicklungen diesem Zeitrahmen folgen. Das 17. Jahrhundert prägte samozvanstvo zudem hinsichtlich der Bedeutung eigenverantwortlichen Handelns. Den AnhängerInnen der samozvancy und samozvanki ging es darum, selbst Entscheidungen zu treffen und ihre Meinung als wichtig zu erleben. Der Form der Performanz gemäß unterwarfen sie sich ganz der Autorität eines (vermeintlichen) Mitglieds der Dynastie und rührten keinen Finger ohne dessen Zustimmung, aber die tatsächlichen Beziehungen zwischen den Beteiligten konnten ganz anders aussehen. Mitunter war ein sa mozvanec nur ein Feigenblatt für ganz unabhängig von ihm bestehende Pläne. Das ist auf der einen Seite eine Weiterentwicklung gegenüber jurodstvo, das als Modell verstanden werden kann, wie Herrscherkritik möglich ist, wenn niemand seinen von Gott zugewiesenen Platz verlassen darf und alle Menschen zuallererst ihren Oberen gehorsam sein müssen, damit die Ordnung erhalten bleibt. Auf der anderen Seite korrespondiert das Verhältnis zwischen samo zvancy / samozvanki und ihren AnhängerInnen mit jenen Anführern von Aufständen, die im 17. und 18. Jahrhundert zu ihrer Rechtfertigung die Interessen des Herrschers / der Herrscherin anführten. Sie hätten so oder so stattgefunden, aber sie wurden mit einem akzeptabel scheinenden Feigenblatt versehen. Allerdings lässt sich dieses Ergebnis nicht auf alle Zeitgenossen verallgemeinern. Die AnhängerInnen eines samozvanec oder einer samozvanka machten im Normalfall nur einen Teil der Bevölkerung zum Beispiel eines Dorfes aus. Das hatte selbstverständlich etwas mit dem nur schwach ausgeprägten Streben nach Publizität zu tun, aber Beispiele wie das von Dmitrij Popovič zeigen, dass selbst bei entsprechender Bekanntheit eine Mehrheit Zurückhaltung übte. Das kann bedeuten, dass sie keine Agenden hatten, für welche die Unterstützung eines samozvanec die Lösung zu sein schien oder dass sie das damit verbundene Risiko zu sehr scheuten. Möglich ist aber auch, dass es ihnen nicht wichtig war, selbst tätig zu werden.
Abschließende Überlegungen
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Die Wechselwirkung zwischen Gerüchten und samozvanstvo
So stark auf Gerüchte als Quelle zurückzugreifen wie ich es in dieser Arbeit getan habe, folgt einer gewissen Tradition in der Erforschung von samozvanstvo, die ihren Höhepunkt bei Sivkov und Čistov erreichte. Aber der Rückgriff auf Gerüchte war auch dem Anliegen geschuldet, die Sinnhaftigkeit eines solchen Vorgehens zu überprüfen. Bislang hat sich in Publikationen über samozvanstvo, die Gerüchte über verstorbene Mitglieder der Dynastie zitieren, niemand Gedanken darüber gemacht, wie ein Gerücht zu definieren ist oder welche Eigenheiten Gerüchte als Quelle aufweisen. Bar eines solchen theoretischen Hintergrunds nahmen die entsprechenden AutorInnen einfach an, wenn ein Gerücht und das fiktive Selbstzeugnis eines samozvanec / einer samozvanka dieselben Motive oder dieselbe Fabel enthalten, müsse zwischen beiden ein direkter Zusammenhang bestehen. Dem wollte ich etwas Belastbareres entgegensetzen. Gerüchte waren zweifellos wichtig dafür, dass samozvancy und samozvanki überhaupt auftraten sowie dafür, wie sie ihre Performanz gestalteten. Der falsche Peter III. Nikolaj Kretov wurde nicht nur durch Gerede in Gasthäusern auf die Idee gebracht, sich für den Kaiser auszugeben, sondern er achtete auch darauf, sich bei seiner Performanz eng an das Gehörte zu halten, um so die Glaubwürdigkeit zu erhöhen. Die Kosakin Agaf᾽ja Grigor᾽eva glaubte Nikolaj Sorokin, dass er Paul Petrovič sei, weil sie gehört hatte, dass Peter I. Schiffe gebaut habe. Dadurch lag für sie ein anonym herumziehendes Mitglied der Dynastie im Bereich des Möglichen.1 Solche direkten Hinweise sind die Ausnahme. Im Normalfall sind entweder nur gut begründete Thesen möglich, wie beim Einfluss der Gerüchte über Peter II. auf das Selbstzeugnis des falschen Peter II. Iov Evdokimov (siehe Kapitel 3.2). Oder ein Einfluss von Gerüchten auf samozvanstvo ist nur deswegen zu vermuten, weil es wie bei den falschen Konstantiny Pavloviči keine andere Erklärung dafür gibt, dass einer bestimmten persona stets ähnliche Eigenschaften zugeschrieben werden. Entscheidend sind hier aber zwei Dinge. Erstens bedeuten Übereinstimmungen keineswegs zwingend einen direkten Zusammenhang. Stimmten Motive oder die Fabel in einem Gerücht mit dem fiktiven Selbstzeugnis eines samozvanec / einer samozvanka überein, bezogen sich die MittlerInnen des Gerüchts und das jeweilige falsche Mitglied der Dynastie auf denselben Ausschnitt aus dem Archiv, aber dazu mussten sie sich nicht unmittelbar aneinander orientieren. Davon abgesehen lassen sich solche Zusammenhänge mit dem Quellenbestand normalerweise nicht ausreichend gut nachweisen. 1 RGADA , f. 6, o. 1, d. 541, l. 107 ob. Dass Peter I. als einfacher Handwerker Schiffe baute, ist ein Faktum. Aus Grigor᾽evas Perspektive war diese Information wohl ein Gerücht – durchaus wahrscheinlich, aber nicht gesichert.
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Abschließende Überlegungen
Zweitens gestaltete sich die Wechselwirkung zwischen Gerüchten und samozvanstvo wesentlich komplexer als es die Beispiele mit Kretov und Grigor᾽eva suggerieren. Es handelte sich nicht um eine Übertragung im Verhältnis eins zu eins. Bestimmte Motive kommen sowohl in Gerüchten über verstorbene Mitglieder der Dynastie, als auch in den Selbstzeugnissen von samozvancy vor. Aber deswegen muss ihre Verteilung nicht gleich sein. Bestimmte Motive sind entweder in Gerüchten oder in Selbstzeugnissen häufiger, was so weit gehen kann, dass sie auf eine der beiden Arten von mündlicher Mitteilung beschränkt sind. Allem Anschein nach existierten Auswahlprinzipien oder Faktoren, aufgrund derer sich eine bessere Eignung für eine der beiden Arten von mündlicher Kommunikation ergab; diese Prinzipien lassen sich allerdings nicht näher bestimmen. Außerdem scheinen zumindest einzelne Motive abwechselnd Phasen größerer und geringerer Aktualität durchlaufen zu haben. Eine große Ähnlichkeit ergab sich einerseits zwischen Gerüchten über Peter I. und Peter II., andererseits zwischen Gerüchten über Peter III. und Konstantin Pavlovič; das bedeutet, die jeweiligen Motive übersprangen gewissermaßen eine Generation. Die inneren Mechanismen der genannten Verteilungen sind für HistorikerInnen nicht ersichtlich; um ihnen auf den Grund zu gehen, wäre wahrscheinlich eine interdisziplinäre Zusammenarbeit mit der Literaturwissenschaft erforderlich. Dasselbe gilt für den Abgleich der Darstellung einer persona in Gerüchten und in der Performanz von samozvancy. Sie kann übereinstimmen, aber wiederum die Häufigkeit variieren. Gerüchte über eine bestimmte persona lassen sich grundsätzlich auf einem Gebiet nachweisen, das größer ist als jenes, das die samozvancy abdeckten, die sich die fragliche Identität aneigneten. Folglich fand auch eine räumliche Verengung statt, die sich einer so einfachen Erklärung wie dem Abgleich mit Gebieten, in denen die Leibeigenschaft besonders ausgeprägt war, entzieht.
V. Abkürzungen
ČIOIDR CSSH GARF IV IZ
Čtenija v Imperatorskom obščestvě istorii i drevnostej Rossijskich Comparative Studies in Society and History Gosudarstvennyj archiv Rossijskoj Federacii Istoričeskij věstnik Istoričeskie zapiski K Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History KA Krasnyj archiv RA Russkij archiv RGADA Rossijskij gosudarstvennyj archiv drevnich aktov RS Russkaja starina RV Russkij věstnik SO Sibirskie ogni VI Voprosy istorii VMU Vestnik Moskovskogo universiteta WG WerkstattGeschichte
VI. Bibliografie
Archivdokumente Gosudarstvennyj archiv Rossijskoj Federacii (GARF) Fond 109 Tret’e otdelenie Sobstvennogo Ego Imperatorskogo Veličestva kanceljarii Rossijskij gosudarstvennyj archiv drevnich aktov (RGADA) Fond 6 Razrjad VI. Ugolovnye dela po gosudarstvennym prestuplenijam Fond 7 Razrjad VII. Preobraženskij prikaz, Tajnaja kanceljarija i Tajnaja ėkspedicija Fond 149 Dela o samozvancach i pis’ma Lžedmitrija Fond 159 Prikaznye dela novoj razborki Fond 349 Moskovskaja kontora tajnych rozysknych del, g. Moskva Fond 371 Preobraženskij i Semenovskij prikazy, g. Moskva
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VII. Register
Kursiv gesetzte Verweise beziehen sich auf Fußnoten.
Personenregister Agafonov, Matvej, Einhöfer 214, 218, 220 f. Agapētos, Diakon 120 f. Akulina Ivanovna, Anführerin der Skopzen 98, 306 Aleksandrov, Aleksandr siehe Rodionov, Aleksandr Alekseev, Michail, Bauer 138 Aleksej Michajlovič, Zar von Moskau 53, 73 f., 111, 121 f., 125, 143, 170, 224, 278, 284, 344, 357, 374, 385 Aleksej Petrovič, Sohn Peters I. 59, 104, 128, 131, 133 f., 148, 153, 157, 160, 177 f., 215, 224, 258, 260 f., 286, 288 Alexander I., Kaiser von Russland 59, 61, 74, 98, 170, 228–235, 237–240, 242, 286, 291, 303 Alexander II., Kaiser von Russland 14, 244, 340 f. Alexander III. der Große, König von Makedonien 164 f., 173–177, 322 Alexandru, Thronprätendent in der Moldau 190 Anderson, Anna siehe Schanzkowska, Franziska Andreev, Ivan, samozvanec 33 Andreev, Nikifor, mutmaßlicher samozvanec 170 Anna Ioannovna, Kaiserin von Russland 43, 59, 152, 158, 163, 170, 323, 364 Anna Petrovna, Tochter Peters I. 133 Antonov, Stepan, Altgläubiger 150
Arakčeev, Aleksej, Günstling Alexanders I. 36 Arež᾽eva, Anis᾽ja, Bekannte Savelovs 257 Aristoteles, Philosoph 176 Artem᾽ev, Evstifij, samozvanec 34 Aslanbekov, Anton, samozvanec 47, 124, 135, 205 f., 208–210, 320 f., 328–330, 355, 364 Augustinus von Hippo, Kirchenvater 60 Avgust siehe Ivan Avgust Avraamij, samozvanec 34, 246 Avvakum Petrovič, Anführer der Altgläubigen 357 Bandit von Pskov siehe falscher Dmitrij, dritter Bandit von Tušino siehe falscher Dmitrij, zweiter Bel᾽skij, Bogdan, Bojar 308 Benckendorff, Alexander von, Chef der Dritten Abteilung 219 Berdov, Ivan 64 f., 143 Biron, Ernst von, Günstling Anna Ioannovnas 138 f. Bočkareva, Marija siehe Šan᾽gina, Marija Bogomolov, Fedot, samozvanec 34, 180, 208, 211–213, 249, 294 f., 314, 327, 381 Bogomolov, Ivan siehe Kremnev, Gavrila Bolotnikov, Ivan, Aufständischer 195
408 Borcov, Petr, Bekannter von Ivan Chripunov 222 Borjatinskij, Michail, Fürst 100 Bornjakov, Kirill, samozvanec 240, 257, 281, 309, 314 Bourbon, Charles von (der Ältere), Thronprätendent 114 f. Bourbon, Charles von (der Jüngere), Thronprätendent 115 Bronevskij, Semen, Generalgouverneur von Sibirien 244 Bucharin, Sekretär 150 f. Bulavin, Kondratij, Aufständischer 174 Bunin, Vasilij siehe Kolyčev, Ivan Bussow, Konrad, Söldner 187, 190, 308 Carevič 128, 131, 133 f., 148 f., 286 Catizone, Marco Tulio, falscher Thronprätendent 191, 201 Čebotkov, Dem᾽jan, Kosake 226 f. Černjaj, Gefolgsmann Železnjaks 102 Černoj, Stepan, vybornyj 317 Černyšev, Petr, samozvanec 29, 34, 180, 188, 208–211, 257, 262, 287, 306 f., 315 f., 326, 350, 372 Chanin, Maksim, samozvanec 34, 224 f. Chochlačev, Foka, Kosakensohn 315 Chol᾽ševnikov, Andrej, samozvanec 27, 46, 160, 260 f., 265, 288, 295, 297, 312 f., 351, 360, 383 Chripunov, Ivan, verhinderter samozva nec 135, 201, 222, 224 f. Chudjakov, Efrem, Bauernsohn 315 Chvorostinin, Ivan, Voevode von Astrachan᾽ 198, 200, 202 Čičerin, Denis, Generalgouverneur von Sibirien 207 Čika, Ivan siehe Zarubin, Ivan Čirka, Ivan, koldun 318 Clemens VIII., Papst 191, 194 Čumakov, Fedor, Truppenführer Pugačevs 306 Czartoryski, Adam, Fürst 243 Demidov, Prokofij, Unternehmer 166 f.
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Deržavin, Gavrila, Dichter 102 Devora, samozvanka 42, 96, 118 Di Rienzo, Cola, römischer Politiker 112 Dirikov, Ivan, mutmaßlicher samozvanec 34 Dmitriev, Jakov, Soldat 65, 222 Dmitriev, Michail, Häftling 164 Dmitrij Ivanovič, Sohn Ivans IV. 54, 185, 188–190, 193 f., 301, 308 Dolgopolov, Astafij, Kaufmann 307 Dolgorukaja, Ekaterina, zweite Verlobte Peters II. 143 f. Dolgorukij, Aleksej, Vater von Ivan Dolgorukij 143, 146 Dolgorukij, Ivan, Günstling Peters II. 143, 146, 152, 157 Domna, Schwiegermutter von Avdot᾽ja Zavarzina 67, 257, 319, 371 Drenjakin, Generalmajor 247 Dubenec, Andrej, Kanonier 100 Dukačev, Aleksej 281 Dukačev, Ignat, Dorfvorsteher 282 Duke of Clarence, Vater von Eduard von Warwick 114 Eduard III., König von England 112, 114 Eduard IV., König von England 113 Eduard V., König von England 113, 384 Eduard von Warwick, Neffe Eduards IV. 113, 114, 186, 384 Egorcev, Leontij, mutmaßlicher samo zvanec 247, 250, 365 Einsiedler von Peñamacor, falscher Thronprätendent 191 Elias, Prophet 168 Elisabeth I., Königin von England 238 f. Elisabeth von York, Tochter Eduards IV. 113 Elizaveta Alekseevna, Frau Alexanders I. 98, 229 Elizaveta Petrovna, Kaiserin von Russland 43, 98, 126 f., 129, 132 f., 144 f., 148–151, 157, 170, 261, 306
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Emel᾽jan, Anhänger Krekšins 313 f. Eremina Kurica siehe Oboljaev, Stepan Eroška, samozvanec 199 Eusebios von Cäsarea, Kirchenhistoriker 176 Evdokija Luk᾽janovna, zweite Frau von Michail Romanov 153 Evdokimov, Iov, samozvanec 46, 126– 128, 131, 149–153, 155, 156, 157, 257, 264, 283, 285 f., 387 Evdokimov, Lev, Pope 307, 315–317, 349 f., 372 f. Evsej, koldun 318, 322 Falscher Dmitrij – der erste, samozvanec 11, 14, 20 f., 25, 31 f., 39–42, 47, 54, 100, 105 f., 126, 146 f., 182–187, 190–193, 195, 197 f., 200–202, 214, 223, 248 f., 259 f., 265, 284, 289, 301, 304–307, 308, 311 f., 348, 354, 360, 366, 369 f., 385 – der zweite, samozvanec 42, 46, 47, 100, 106, 182, 194, 196–200, 214, 260, 265, 289 f., 301, 304, 360 – der dritte, samozvanec 42, 47, 100, 194, 197, 200, 260 – der vierte, samozvanec 100, 194, 197 f., 200, 260 falscher Konstantin Pavlovič aus dem Gouvernement Saratov, samozvanec 34, 246, 250, 306, 350 f., 365 Fedor, samozvanec 199 Fedor Alekseevič, Zar von Moskau 170 Fedor Ivanovič, Zar von Moskau 117, 189, 198, 376 Fedor Kuz᾽mič, Einsiedler 98, 170, 229 Fedorov, Fedor, Lakai 232 f., 237 f. Fedorov, Il᾽ja, samozvanec 65, 225 f. Fedorov, Tichon, Quartiergeber Michail Ivanovs 208 f. Feodosija, Tochter von Zar Fedor Ivanovič 198 Filaret, Patriarch von Moskau 284 Filonenko, Vasilij, Bekannter Kolčenkos 253
409 Firsov, Kuz᾽ma, Verbannter 307 Fletcher, Giles, Angestellter der Moscow Company 377 Fomenko, Denis, Onkel von Ivan Fomenko 67 Fomenko, Ivan, samozvanec 67 Fomenko, Trofim, Bruder von Ivan Fomenko 67 Forostjanko, Vasilij, Bekannter von Petro Nesterenko 351 François von Anjou, Bruder Heinrichs III. 113 Franz II., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches 32 Franz II., König von Frankreich 115, 384 Friedrich II., König von Preußen 130 Galuška, Prokop, samozvanec 64, 66, 283 Gargarutin, Dem’jan siehe Čebotkov, Dem’jan Gavriil, Pope 281, 351 Gavrila, burlak 356 Gavrilka, samozvanec 199 Georgij, Kronprinz von Georgien 307 Georgij Vasil’evič, angeblicher Sohn Vasilijs III. 192 f. Godunov, Boris, Zar von Moskau 15, 105, 117, 146, 182 f., 185, 187–189, 191, 193, 200, 249, 259, 284–286, 305, 348, 361, 366 Godunov, Fedor, Zar von Moskau 366 Godunova, Irina, Frau von Zar Fedor Ivanovič 117, 198 Golicyn, Dmitrij, Generalgouverneur von Moskau 233 Golovačev, Nikita, samozvanec 257 Golovenko, Ivan siehe Chripunov, Ivan Golovin, Anton, Soldat 209 Gomozin, Ivan, Deserteur 290 f. Gončarenko, Schuster 267 Grigor᾽ev, Ivan, Bauer 17 Grigor᾽ev, Nikifor, Pope 212 Grigor᾽eva, Agaf᾽ja, Kosakin 387 f.
410 Grigor᾽eva, Mar᾽ja, Altgläubige 260–262 Grigor᾽eva, Mavra, Dienstbotin 64 Grišin, Michail, Soldat 206 Gromov, Unterstützer Pugačevs 217 Grudzińska, Joanna, zweite Frau von Konstantin Pavlovič 235 Gubčič, Andrej, falsch Beschuldigter 205 Guccio, Giannino, samozvanec 112, 200 Gueroi, Generalmajor 233 Guzeev, Semen 291 Heinrich, Kardinal und König von Portugal 191 Heinrich III., König von Frankreich 114 f., 384 Heinrich IV., König von Frankreich 114 f., 384 Heinrich VII., König von England 113 f., 186–188, 201, 384 Herckmans, Elias, Kaufmann 289 f. Ievlev, Familie, Quartiergeber von Mosjakin 281, 297, 321, 349 Ignat᾽ev, Tichon, Leibeigener 11 Iosif, Patriarch von Moskau 379 Iov, Patriarch von Moskau 187 Išejka, koldun 318, 322 Ivan IV., Zar von Moskau 14, 25, 121 f., 132, 164, 166–168, 172, 175, 177 f., 183, 189, 192 f., 199, 322, 376 Ivan V. Alekseevič, Zar von Moskau 170 f. Ivan VI., Kaiser von Russland 131, 138, 142, 148, 170 Ivan Avgust, samozvanec 199 Ivan Dmitrievič, Sohn des zweiten falschen Dmitrij 66 Ivanov, Ivan, Sergeant 65 Ivanov, Michail, samozvanec 208–210 Jackij, Varlaam, Mönch 186 Jakob I., König von England 238 Jesus Christus 124 f., 258
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Johann I. Postumus, König von Frankreich 112, 384 Johann II. der Gute, König von Frankreich 112 Jona, Prophet 139 Kahlow, Christian, Verbannter 213, 302, 314 Kailing, Ellen, samozvanka 39 Kalugin, Konstantin, samozvanec 29, 34, 246, 250, 294 f., 298, 301–304, 365 Kamenščikov, Fedor, samozvanec 103, 135 Karasev, Sevast᾽jan 75 Karavaev, Denis, Kosake 313 Karl der Große, Kaiser 147 Karl II. der Böse, König von Navarra 113 Karl VI., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches 153 Karl IX ., König von Frankreich 115, 384 Karpov, Ivan, Verbannter 307 Kaširin, Savelij, Soldat 209 Katharina I., Kaiserin von Russland 117, 170 Katharina II., Kaiserin von Russland 20 f., 25 f., 43, 50, 59, 61, 65 f., 73, 103, 127, 133, 139, 151, 170, 207, 214, 221 f., 226, 243, 249, 262 f., 265, 276, 282, 306, 320, 329, 339–341, 364–366 Kazanec, Grigorij, Strelitze 153 Kazin, Fedot siehe Bogomolov, Fedot Klementij, samozvanec 198 Kleopin, Ivan, mutmaßlicher samo zvanec 66 f. Kobylev, Kammerdiener Peters III. 305 Kobylkin, Timofej, samozvanec 38, 170 Kolčenko, Nikolaj, samozvanec 208–210, 253 Kolesnikov, Anisim, Soldat 220 Kolesnikov, Ivan, Dragoner 133 f. Koltovskaja, Anna, vierte Frau Ivans IV. 199 Kolyčev, Ivan, samozvanec 34, 225 f., 261, 265, 285, 350
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Kongurov, Osip, Bauer 349 Konstantin der Große, Kaiser des oströmischen Reiches 176 Konstantin Nikolaevič, Großfürst 244 Konstantin Pavlovič, Großfürst 74, 81, 227–250, 262, 283, 302, 388 Korneev, Ivan, Soldat 246 Korobov, Gur, Häftling 131 Korovin, Il᾽ja, samozvanec 184, 197 f., 284 Korsakova, Aleksandra, samozvanka 66 Kotel᾽nikov, Grigorij, Veteran 227 Krasnoščekov, Aleksej, General 95, 102, 264 Krasnoščekov, Ivan, General 262 Krekšin, Andrej, samozvanec 38, 275, 298, 313 f., 326 Kremnev, Gavrila, samozvanec 26, 34, 180, 208, 210 f., 267–269, 280, 294 f., 306 f., 315, 317, 349, 359 f., 364, 372 f. Kretov, Nikolaj, samozvanec 188, 208, 211, 213, 249, 257, 285 f., 301 f., 314, 349, 381, 387 f. Krutikov, Michajlo, Soldat 233 Krysa, Fedor, Ataman 205 Kučakovskij, Ataman 280 Kudejar, Räuber 164–166, 168, 175, 177, 192 f., 199, 322 Kurakin, Matvej, samozvanec 149 Kurdilov, Timofej, samozvanec 131 Kurpekov, Grigorij, Kosake 65 Kuznecov, Michail, Bauer 260 Kuznecova, Ustin᾽ja, zweite Frau Pugačevs 328 f. Laks, Major 247 La Ramée, François, falscher Thron prätendent 115, 190, 200 Larion, Altgläubiger 150–152 Laver, samozvanec 199 Lavrent᾽ev, Bursche Kretovs 302 Lavrentij, samozvanec 199 Lenin, Vladimir, Anführer der Bol᾽ševiki 31
411 Levont᾽ev, Fedor, Kosake 277 Litvincov, Ivan, upravitel᾽ 40 Lopatkin, Vasilij, Altgläubiger 151 Łowicz, Fürstin von siehe Grudzińska, Joanna Ludwig X. der Streitbare, König von Frankreich 112 Makarova, Fekla 64, 73, 206 Makrušin, Ignat, Läufling 315 Malcov, Petr, Häftling 164 Manuel, mutmaßlicher samozvanec 15 Marfa, Nonne siehe Nagaja, Marija Margeret, Jacques, Söldner 185 f. Marija Fedorovna, zweite Frau Pauls I. 235, 308 Markov, Vasilij, Verbannter 168 Martinka, samozvanec 199 Massa, Isaac, Kaufmann 285 f., 289 Matvej, samozvanec 277 Mazepa, Ivan, Hetman 102 Medvedev, Dmitrij, Soldat 233 Meteljagin, Ivan, ehemaliger Kanzleidiener 64 f., 143 Metel’ka siehe Metelkin Metelkin, »Nachfolger« Pugačevs 11, 95, 101–103, 216–221, 248 Metla siehe Metelkin Metlin, Pavel, Unterstützer Pugačevs 217 f. Michail Pavlovič, Großfürst 233 Michajlova, Luker᾽ja, samozvanka 295, 296 Miechowiecki, Hintermann des zweiten falschen Dmitrij 196 Miloslavskij, Fürst 308 Minickij, Ivan, samozvanec 27, 42, 133, 160, 258 f., 280 f., 286, 288, 294 f., 351, 360, 364 Mjasnikov, Timofej, Unterstützer Pugačevs 263 Mniszchówna, Maryna, Frau des ersten und zweiten falschen Dmitrij 194, 259, 289, 304 f.
412 Mniszech, Jerzy, Schwiegervater des ersten und zweiten falschen Dmitrij 195, 259 Mochin, Diener Tjumenevas 261 Moiseev, Afanasij, Dorfvorsteher 281 Mojsej, Bekannter von Fedor Fedorov 233 Molčanov, Michail, Vertrauter des ersten falschen Dmitrij 15, 100, 194–198, 248, 301 Mordvinov, Aleksandr, Neffe Korsakovas 66 Morozova, Feodosija, Schülerin Avvakums 357 Mosjakin Iov, samozvanec 34, 224 f., 281, 294 f., 297, 321 f., 327, 349 Müller, Gerhard Friedrich, Historiker 166 Münnich, Burkhard von, Günstling Anna Ioannovnas 152, 157 Nagaja, Marija, siebente Ehefrau Ivans IV. 189, 193 f., 305 Napoleon I., Kaiser der Franzosen 98, 125, 240 Natal᾽ja Alekseevna, erste Frau Pauls I. 226 Naumenok, Agafon, Kosake 153 Naumov, Danila, samozvanec 34, 246 Nazarova, Anis᾽ja, samozvanka 262 Nekrasov, Ignat, Kosake 174, 222 Nesterenko, Petro, samozvanec 225 f., 351 Nikiforov, Anton, Hauptmann 133 f. Nikiforov, Ivan, samozvanec 224 f. Nikita Romanovič, Schwager Ivans IV. 167 Nikola von Pskov, Gottesnarr 376 Nikolaus I., Kaiser von Russland 59, 111, 169 f., 229–231, 233–239, 241, 243–246, 249 f., 340 Oboljaev, Stepan, Anhänger Pugačevs 299 f., 313, 349 Obudin, Andrej, mutmaßlicher samo zvanec 283
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Okarenko, Marko, Soldat 233 Orlov, Grigorij, Favorit Katharinas II. 226 Orlov, Vasilij, Soldat 218 Osinovik, samozvanec 199 Osipov, Evsej, Leibeigener 349 Osipova, Praskov᾽ja, Frau von Evsej Osipov 349 Ostrožskij, Konstantin, Unterstützer des ersten falschen Dmitrij 190 f. Otrep᾽ev, Grigorij (Jurij), Mönch 47, 105, 182, 185–188, 190, 192 Ovčinnikov, Andrej, Truppenführer Pugačevs 306 Ovdeev, Danilka, Kanonier 100 Palej, Semen, Kosake 95, 101 f., 222 Paul I., Kaiser von Russland 50, 81, 117, 133, 148, 170, 224, 226 f., 234, 236, 266, 307–309 Pereverzeva, Alena, Verlobte Aslan bekovs 328 Permjakov, Häftling 164 Peter I., Kaiser von Russland 16, 25, 40, 43 f., 48, 50, 58 f., 102–104, 110, 117, 121, 132 f., 135, 138 f., 145, 148, 152 f., 162, 164 f., 167–172, 175, 177 f., 207, 229, 234, 264, 268, 278, 284, 290 f., 293, 322 f., 328, 330, 356 f., 379, 386–388 Peter II., Kaiser von Russland 59, 65, 126–134, 138, 143–145, 148–152, 155–157, 164, 170, 215, 226, 236, 264, 286, 328, 388 Peter III., Kaiser von Russland 11, 16, 25 f., 43, 50, 58 f., 65, 73, 75, 95, 103 f., 106, 124, 127, 131, 133, 144, 148, 150 f., 154 f., 170, 201, 203–207, 210, 212–217, 220–223, 226 f., 229–231, 241–243, 245, 247–250, 253, 261–265, 267–269, 280, 285, 287, 291, 301 f., 305–307, 309, 314, 327–329, 332, 388 197 Peter der Bär, samozvanec Peter Petrovič, Großfürst 103, 148, 153, 157, 160, 222
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Peterikov, Semen, mutmaßlicher samo zvanec 225–227 Petrov, Nikolaj, samozvanec 21, 34, 118 Petrovič, Afanasij, samozvanec 294 f., 303 Petrus, Apostel 156 Pevčij, Stepan, Kosake 212, 327 Philipp II., König von Spanien 191, 384 Philipp V. der Lange, König von Frankreich 112 Philipp VI., König von Frankreich 112 Piora, Nonne 350 P᾽janov, Denis, Anhänger Pugačevs 299 Plechanov, Georgij, Bol’ševik 25 Počitalin, Jakov, Anhänger Pugačevs 285 Podmetelkin siehe Metelkin Podurov, Timofej, Anhänger Pugačevs 329 Polubojarov, Gerasim, Bauernsohn 315 Pometajla siehe Metelkin Popov, Ivan, Sekretär von Starodubcev 317, 355 f. Popovič, Dmitrij, samozvanec 95, 101 f., 104, 216 f., 222, 224 f., 266 f., 280, 295, 298, 320, 350, 386 Prokof᾽ev, Terentij, samozvanec 38, 170 Prokop᾽ev, Nikolaj, samozvanec 246, 257 Pugačev, Emel᾽jan, samozvanec 11, 21, 33, 40, 46, 62, 95, 101–103, 105 f., 132, 154, 165, 201, 203, 211–221, 225–227, 249 f., 258, 262–265, 267, 269, 282 f., 285–287, 291, 295, 297–301, 306–308, 311, 313, 327–330, 332, 347–349, 354 f., 359 f., 366, 370, 372, 381 Pugačev, Trofim, Sohn Pugačevs 215 Purgin, Fedor, Bekannter von Ivan Chripunov 222 Pustynin, Vasilij, Dienstbote 215 Rangoni, Claudio, päpstlicher Nuntius 191, 194 Razin, Stepan »Sten’ka«, Aufständischer 21, 53, 73, 104–106, 132, 165, 171
413 Razumovskij, Aleksej, Favorit Elizaveta Petrovnas 26, 144–146 Reinsdorp, Johann von, Gouverneur von Orenburg 302 Rescov, Michail siehe Kamenščikov, Fedor Richard III., König von England 113, 186 Richard von York, Sohn Eduards IV. 113, 384 Rjabov, Grigorij, samozvanec 33, 207, 211 f., 249, 381 Rodionov, Aleksandr, samozvanec 21, 246, 301 f. Rodionov, Aleksej, samozvanec 29, 246, 294 f., 298, 349 Romanov, Michail, Zar von Moskau 17, 276–278, 343 Romanova, Ustin᾽ja, Bäuerin 322 Romanow, Anastasia siehe Kailing, Ellen Rudolf IV., Herzog von Österreich 32 »russischer Fürst« 26 Rybčenko, Koz᾽ma, Lohnarbeiter 216 Rylo, Vassian, Metropolit 202 Rževskij, Stepan, Festungskommandant 100 Saburova, Solomonija, erste Frau von Vasilij III. 166, 192 f. Šachovskoj, Grigorij, Unterstützer des ersten falschen Dmitrij 198 Šachovskoj, Semen, Schriftsteller 202 Sagajdašnikov, Andrej, Kaufmann 213, 301 f., 314, 349 Šan᾽gina, Marija, samozvanka 296 Savelij, samozvanec 199 Savelov, Gerasim, samozvanec 26, 224, 257, 281 Schanzkowska, Franziska, samozvanka 11, 39 Sebastian I., König von Portugal 191, 384 Sedov, Ignat, Kosake 317 Selivanov, Kondratij, Gründer der Skopzen 18, 34, 98 f., 124, 203, 225 f., 305 f. Semennikov, Ivan, Kosake 212
414 Semenov, Ignatij, Häftling 164 Semenov, Ivaška, Bauer, 100 Semenov, Nikifor, Bekannter von Tichon Fedorov 208 Semikov, Aleksandr, samozvanec 34 Semion, samozvanec 199 Senjutin, Nikita, samozvanec 224 f. Serafim, Metropolit von St. Petersburg 283 Serebrjakov, Cousin Deržavins 102 Seredenko, Praskov᾽ja, samozvanka 41 Seredincev, Ivan, Kosake 212 Šigaev, Maksim, Truppenführer Pugačevs 263, 306 Sigismund III., König von Polen 191, 196, 259 Šilov, Aleksandr, Skopze 306 Šimanovskaja, Marianna, samozvanka 262, 283, 308 Simnel, Lambert, falscher Thronprätendent 113, 116, 186 f., 201 Simonov, Petr, Soldat 218 Sinica, Grigorij, Kosake 267 Skopin, Ivan, Läufling 315 Šljapnikov, Nikolaj siehe Sorokin, Nikolaj Sludnjakov siehe Kamenščikov, Fedor Smailov, Abdul, Kosake 223 Sočnev, Boris, samozvanec 240, 257 Sof᾽ja, erste Frau Pugačevs 215, 329 Sokolov, Ivan, Musiker 80 Sokolov, Ivan, Kleinbürger 103 f. Solodilov, Martin, koldun 318 Sorokin, Nikolaj, samozvanec 124, 266, 319, 347–349, 387 Stadnicki, Martyn, Mitglied des Gefolges von Maryna Mniszchówna 289 f. Stanislaus II. August, König von Polen 102 Starcev, Anhänger von Afanasij Petrovič 303 Starodubcev, Larion, samozvanec 27, 34, 46, 118, 157–163, 165–167, 172 f., 175, 177 f., 262 f., 269, 281, 284 f., 287, 294 f., 315–317, 323, 347, 349 f., 354–360, 364
Register
Stefan Mali, samozvanec 16, 210 Sucharev, Petr, Sergeant 65 Šujskij, Dmitrij, Bruder von Ivan Šujskij 186 Šujskij, Ivan, Zar von Moskau 54, 105 f., 195 f., 198, 201, 249, 260, 305, 361 Šurygin, Osip, samozvanec 45, 65 f., 349 Sutupov, Bogdan, Sekretär des ersten falschen Dmitrij 195 Suvorov, Aleksandr, Feldmarschall 101 Talbot, Eleanor, erste Frau Eduards IV. von England 113 Taran, Petro siehe Nesterenko, Petro Tarasov, Dmitrij, Chirurg 238 f. Tarskij, Kosake 257 Terent᾽ev, Prokofij, samozvanec 38, 170 Tibekin, Luk᾽jan, Sergeant im Ruhestand 280 Timofeev, Ivan, Sekretär 121, 202 Timonov, Fähnrich 291 Tjumeneva, Mar᾽ja, Verwandte Kolyčevs 261 f., 285, 350 Tolstoj, Lev, Schriftsteller 310 Tolstoj, Petr, Weggefährte Peters I. 153 Traubenberg, Michael von, General 263 Trofimov, Ivan, Kaufmann 327 Trofimov, Vasilij, staršina 316 Trofimova, Irina, Geliebte Sorokins 124, 266 f., 319, 347–349 Truženik, Timofej, samozvanec 27, 34, 46, 118, 124, 135, 157–169, 171–173, 175–179, 262 f., 267 f., 281, 294 f., 315, 317 f., 322–324, 347, 354–356, 364 Tvorogov, Ivan, Richter in Pugačevs Kriegskollegium 327 Ukolova, Bekannte von Lev Evdokimov 317 Urazovskaja, Ul᾽jana, falsche Tochter Popovičs 320, 350 Urazovskij, Andrej, Anhänger Popovičs 298 Vasil᾽ev, Grigorij, samozvanec 150, 283
Register
Vasil᾽ev, Ivan, samozvanec 29, 34, 320 Vasil᾽eva, Avdot᾽ja siehe Zavarzina, Avdot᾽ja Vasilij, samozvanec 199 Vasilij, Ehemann von Avdot᾽ja Zavarzina 319 Vasilij II., Großfürst von Moskau 117 Vasilij III., Großfürst von Moskau 166, 192 Vasilij der Törichte, Gottesnarr 376 Veniamin, Abt 129 Vera, genannt Mol᾽čal᾽nica, Einsiedlerin 98 Vergunenok, Ivan, samozvanec 296 f. Vladimir Svjatoslavič, Großfürst von Kiev 141 Vock, Michael von, Stellvertreter Benckendorffs 219 Vorob᾽ev, Semen, samozvanec 297 Voroncov, Graf 211 Voroncova, Elizaveta, Geliebte Peters III. 287 Voronov, Leon, Anhänger Aslanbekovs 135 Warbeck, Perkin, falscher Thronprätendent 113, 116, 186 f., 201 Widekind, Historiker 197 Wilford, Ralph, falscher Thronprätendent 113, 116, 201 Wiśniowiecki, Adam, Unterstützer des ersten falschen Dmitrij 147, 185, 190, 193 f. Wiśniowiecki, Dymitr, Thronprätendent in der Moldau 190
415 Woodville, Elizabeth, zweite Frau Eduards IV. von England 113 Wulf, Kaufmann 130 Wylie, James, Leibarzt Alexanders I. 238 Zajcev, Grigorij, samozvanec 42, 227, 281 f. Zambulatov, Adeliger 232 f. Zametaev, Ignatij, Truppenführer Pugačevs 101, 217 Zametajla siehe Metelkin Zametajlov siehe Metelkin Zarubin, Ivan, Truppenführer Pugačevs 212, 263, 306 Zaruckij, Ivan, Ataman 194, 200 Zavališin, Ippolit, Provokateur 303 Zavarzina, Avdot᾽ja, samozvanka 67, 170, 257, 319, 371 Zavel᾽ev, Anisim, Quartiergeber Krekšins 314 Zav᾽jalov, Gerasim, Kosake 223 Zav᾽jalova, Ustin᾽ja 64, 73, 206 Ždanov, Andrej, Weggefährte Stalins 36 Železnjak, Maksim, Anführer des Haidamaken-Aufstandes 95, 102, 222 Železnjak, »Nachfolger« Pugačevs 216, 219, 221 Železnyj lob siehe Železnjak Železo siehe Železnjak Zenowicz, Hintermann des zweiten falschen Dmitrij 196 Zimbulatov siehe Zambulatov
Geografisches Register Ägypten 286 Alekseevka 101, 266, 280, 320, 350 Alekseevskaja stanica 356 Altaj-Gebirge 217, 222 Arzamas 160, 291, 297, 312, 351, 360, 383
Astrachan᾽ 101, 197 f., 200 Astrachan’ (Gouvernement) 212 Bajkal-See 129 Barkulabovo 290
Register
416 Barnaul 222 Belaja Cerkov᾽ 224 Belgorod 135, 321 Böhmen 26 Borcovo 275 Borisoglebsk 218 Borovsk 233 Boškatovo 205 Bragin 185 Britische Inseln 147 Bronickij jam 128 f. Brüssel 231 Buchtarma 218 Bug 160 Buzuluk 355 Caricyn 211–213, 219 Čebarkul᾽sk 103 Čerkassk 355 Cherson 227 China 223 f. »Deutschland« 339 Dmitrievsk 75 Dobrudscha 174 Don 67, 101, 211, 214, 218, 224, 266, 320 Dreifaltigkeitsfestung 103 Dubovka 211 Durnovskaja stanica 356 Eidgenossenschaft 362 Ekaterinburg 219 Ėmba 223 England 113, 120, 200 f., 242 f., 286, 294, 339 Fastov 81 Frankreich 112 f., 115, 190, 200, 231, 242 f., 294, 339 Gluchov 209 Gorochovaja 246 Idaho 39 Irkutsk 225
Irtyš 222 Italien 152–155, 157, 201 Ivangorod 197 Jajck 263 Jajk 264, 348, 358 Jamenskaja stanica 160, 347, 354 f., 359, 364 Jaroslavec 351 Jerusalem 236, 286 Kalabrien 154 Kaluga 100, 197 Kamčatka 242 Karasuk-See 222 Kaspisches Meer 101, 217 Kazan᾽ 128–130, 152, 212 f., 215, 225 Kerženec 260 Kiel 307 Kiev 81, 102, 139, 224, 259, 261, 280 Kiev (Gouvernement) 244 f. Kirchenstaat 155 Kirensk 128–130 Kirgisische Steppe 223 Kiževskaja stanica 356 Konstantinopel 286 Korea 224, 242 Krasnogorsk 332 Krasnojarsk 245 f. Krim 65, 139, 223 f., 296 Kuban᾽ 174 Kupenskaja sloboda 180 Kursk 135, 328 Kursk (Provinz) 214 London 243 Luk’janovskaja stanica 356 Marokko 191 Medvedica 355 Modena 147 Mogilev 196, 260 Moldau (Fürstentum) 190–193, 242, 276, 385
Register
Montenegro 16, 210 Moskau 11, 58 f., 78, 100, 102, 126, 129–132, 150, 187, 195, 197 f., 202, 212, 214, 224, 225, 232–234, 238 f., 245, 248, 286, 291, 305–307, 321, 323, 330, 350, 364, 377 Moskauer Reich 11, 14–16, 39, 50, 52, 57, 60, 78–80, 106, 111, 118, 120, 122 f., 126, 134, 136, 141 f., 147, 154, 165, 172, 178, 182, 184, 187 f., 190 f., 194 f., 200 f., 223, 255, 260, 272, 275 f., 288–290, 292–296, 300, 323 f., 338, 342, 344, 353, 363, 368–370, 374, 383–386 – Steppenregion 129 Msta 128 Naher Osten 174 Neapel 153 Nerčinsk 102 f., 128 f., 212, 257, 262, 307, 315 Neu Guinea 253, 271 Neva 285 Nikol’skoe 261 Ninive 139 Nižnij Novgorod 206 Nižnij Novgorod (Gouvernement) 206 Novgorod 53, 128, 175, 197 Novosil᾽sk 100 Novosoldatskoe 180, 307, 349, 372 f. Omsk 135 Orel (Gouvernement) 98 Orenburg 128 f., 133, 135, 212 f., 244 Orenburg (Gouvernement) 237, 246, 263 Osa (Festung) 307 Oskino 180, 317 Osmanisches Reich 98, 102, 154, 224, 242 f., 259, 364 – »Griechenland« 236, 242 f. – »Rumänien« 242 f. – »Türkei« 154, 242 Ošmetovka 351 Paris 115, 243
417 Penza 244 Penza (Gouvernement) 218 Perm’ 269 Peterhof 130 Peter-und-Paul-Festung (bei Omsk) 135 Podverlino 180 Polen 224, 230, 232, 239, 242 f. – Kongresspolen 231, 239, 245 – Rzeczpospolita 15, 21, 53, 167, 185, 187 f., 190, 192, 195 f., 207, 209, 223, 231, 259 f., 264, 276, 284, 290, 328, 355, 364 Portugal 191 Pošechon᾽e 128, 150–152, 257, 283 Pošechon’e (Provinz) 131, 138, 151 Preußen 242 f. Priluki 253 Privalovka 180 Pskov 53, 197, 224 Putivl’ 195, 198 Rassoška 180 Riga 131 Rjazan᾽ 209 Romanovka 246, 350, 365 Rus’ 120, 141 f., 224 Russländisches Reich 11, 15 f., 26, 42, 52, 59 f., 77, 79 f., 106, 110 f., 118, 129, 136, 140, 153, 156 f., 165, 172, 206 f., 210, 214, 216, 223, 230, 236, 239, 241, 255, 264, 272, 276, 288, 290, 295 f., 322–324, 338–341, 353, 362 f., 383–386 – »Kleinrussland« 205 f. – »Neurussland« 95, 217 – Schwarzerdegürtel 42, 210 Rževsk 307 Sakmar 332 Sambor 100, 195, 301 Sankt Helena 98 Sankt Petersburg 59, 103, 126, 129, 132, 153, 213, 224, 226 f., 236, 239, 244 f., 306 f., 314, 364 Saratov 244, 283
Register
418 Saratov (Gouvernement) 246 Schwarzes Meer 223 f. Sibirien 98, 102, 129, 164, 212, 217, 224, 225, 228, 231, 242, 245, 283, 286, 303, 326, 350, 372 Sič’ 185, 188, 192, 267, 297, 358, 367, 372 Siena 112 Simbirsk 212, 300 Šklovsk 196 Sowjetunion 15, 22, 24, 33, 182, 366 Spanien 154 Staraja 131, 151 Starodub 167 Stockholm 291 Südosteuropa 210 Sumy 205 Suzdal’ 192 f. Suzemna 291 Syrien 176 Taganrog 101, 238, 266 Tambov 131, 135, 163, 166, 244 Tambov (Gouvernement) 157, 163, 165, 177, 224, 245 Teilfürstentümer 142 Terek 358 Tirol 153 Tjumen᾽ 103, 223
Tobol’sk 212, 223 Tomsk 102 Tri-Ostrovjanskaja stanica 212 Trubčevsk (Kreis) 291 Tula (Gouvernement) 165 Tušino 304 Uglič 193 f., 197, 305 Ukraine 15, 19, 102, 365 Uman’ (Provinz) 244 Ural (Gebirge) 103, 105, 131, 167, 217, 223 f. Urjupinskaja stanica 356 USA 242 Ust’-Medvedica 355 Venedig 191 Verchotur᾽e 212 Virginia 39 Volga 75, 101, 224, 266, 291, 319, 348 Voronež 209, 317, 364 Voronež (Gouvernement) 165 Vyg 167 Warschau 224, 230, 231, 232, 240 Wien 153 Wolhynien 81 Zmeinogorod 217
Sachregister Alexanderroman 175 f., 179 Alphabetisierung 79–81, 326 f. Alter Glaube 46, 111, 162 f., 323, 357 f., 379 – Altgläubige 98, 104, 150, 152, 156, 157, 167 f., 173 f., 207, 257, 264, 283, 361 – Raskol 110 f., 357 f., 379 Antichrist 86, 98, 155, 284 Anti-Verhalten 25, 85 Arakčeevščina 36
Archetypen 76 Aufstände – der Baschkiren 133 – Bolotnikov-Aufstand 33 – der Dekabristen 59, 230, 232, 340 – Hajdamaken-Aufstand 102 – Kupfergeldaufstand 52 – Moskauer Aufstand 344 – Novemberaufstand 230 f., 239, 241, 243 – Pestaufstand 52
Register
– Pugačev᾽scher Aufstand 11, 20, 33, 73, 75, 101, 131, 154 f., 204, 207, 212–214, 220 f., 226, 230 f., 248–250, 265 f., 280, 291, 365 – auf Solovki 174 – Strelitzenaufstand 369 Autorität 161, 265, 280, 309, 311, 371 – (Edward Schieffelin) 254, 309 »Böse Bojaren« 51–54, 73 f., 224, 323, 363 »Bova Korolevič« 146–148 Braunschweiger Familie 142 f. Brautschauen 330 Bylinen 105, 287 carskie znaki 32, 142, 177, 220, 288–300, 302–304, 313, 382 Dekabristen 51 f. Delikte – Majestätsverbrechen 35, 56, 58, 60, 69, 78, 258 und passim – »ungehörige Worte« 25, 27, 43, 57 f., 63, 79 f., 127, 340 – Verrat 56, 58 – Verschwörung 57, 63, 151, 258 Dolgorukie 143 f., 148, 226 Duma 49 Einhöfer 26 f., 42 f., 47, 208, 210, 257, 269 Folklore 132, 171, 178, 193 – Der Altgläubigen 174, 178 – Über ferne Orte 172–174, 178 f., 242 – Lešij 168 – Über Räuber 104–106, 165, 171 f., 178, 215, 217, 317 – Sleeping heroes 171 f. – Über verborgene Schätze 164 f., 172, 178 f. Fremdheit 46, 275 f., 347, 371 Friede von Brétigny 112 Friede von Karlowitz 101
419 Geheimgesellschaften 59, 336 f. Gerüchte 247 f., 285 f., 316, 357 und passim – Definition 76 f. – Funktion 74, 76 – Merkmale 68, 70–73, 127, 130, 157, 213, 221, 229, 236, 237, 238 – Weitergabe 56, 63, 75, 77, 79 f. und passim »The Golden Bough« 136 f. Golicyn, Familie 152, 157 Große Emigration 231, 243 Große Gesandtschaft 103, 132 Große Reformen 14, 61, 110, 339 Guljaščie ljudi 42, 261 Der »gute« Zar 23, 385 und passim Handlungsspielraum 48, 50, 86, 126, 305, 371, 373, 382 Heiler 140, 324 f. Herrscherbilder 47, 53 f., 278, 322, 367, 371, 373, 382 – Distanz zum Herrscher/zur Herrscherin 51, 122, 278 f., 363, 374, 385 – Erwartungen an den Herrscher/die Herrscherin 50, 55, 312–314 – Politische Ikone 278 f. – Zemnoj bog 124, 266 Heterodoxe Gruppen – Molokanen 46, 247 – Napoleonovcy 124 f. – Skopzen 18, 46, 98 f., 124 f., 203, 225, 305 f., 309 Hetmanat der Ukraine 102 Hundertjähriger Krieg 112, 114, 384 »intellektuelles Schweigen« der Rus’ 109, 118 Jurodstvo 374–379, 386 Karnevaleskes Verhalten siehe Anti-Verhalten Katholische Liga 115
Register
420 Klassenkampf 22, 26, 45, 204, 250, 255 f., 258, 268–270, 333 Kommunikation 13, 332 f., 338, 342 f., 345 f., 352–354, 359, 361, 374 und passim – Mündliche 14, 71, 78, 291 f., 344, 366, 388 und passim Kormčaja kniga 189 Kosaken 21, 27, 42 f., 47, 85, 263, 265, 276, 356–358, 361, 367 »Krieg und Frieden« 310 Kulturelles Gedächtnis 91 – Funktionsgedächtnis 91 – Speichergedächtnis 91 Leibeigenschaft 42, 44, 182 f., 210, 243, 250, 269 – Aufhebung der 23, 232, 236 f., 244, 246, 361, 365, 372 – Läuflinge 44 f. – Leibeigene 27, 169, 204 Magie 54, 57, 105 f., 153, 161, 165, 187, 274, 318, 322–325, 368–371, 373 f., 377–380 – Magier 140, 176, 275, 324 Märchen 127, 138, 152, 155–157, 178 Mobilität 43 f., 274–276 und passim »Moskovskie novosti« 78, 140, 228 f., 232–234, 236–239, 241 Motive 77, 104 f., 132, 229, 284, 376, 386–388 – Aufenthalt im Bauch eines Fisches / in einem Fass / in einem Sarg 139 – Doppelgänger 104, 132, 140, 285, 290 – Gefangenschaft in einer Säule / Mauer 126, 129, 132, 134 f., 137 f., 140, 142, 145 f., 152, 155, 169, 236, 286, 291 – »Geisterarmeen« 101–103, 217, 222 – Kindertausch 198, 284 – Rückkehr eines verstorbenen Mitglieds der Dynastie 23, 73, 101, 127, 145 f., 193, 241, 283 f., 286 – Wachsfigur im Sarg 130, 285 f.
Mythische Gleichsetzung 28 Mythisches Bewusstsein 28 »naiver Monarchismus« 31 Napoleonische Kriege 59 Neuer Chronist 199 Nomokanon 189 Oberster Geheimer Rat 143, 152 Offenbarung 109, 119, 272–275, 384 Öffentlichkeit 76, 333–343, 345–347, 352 f., 358, 360 f., 365 f., 383 und passim – Drei-Ebenen-Modell 335–338, 352 – Gegenöffentlichkeit 335, 337 »orientalische Frage« 243 Otkryvon grad 163, 172 f., 178, 262, 281 Performanz 270, 272, 282 f., 291, 296, 300, 302, 310, 313, 326, 330 f., 343 f., 346, 353, 359, 361–364, 366 f., 371– 373, 381–383 und passim – Agenda 254–256, 258 f., 262, 264 f., 267, 270, 273, 276, 283, 312 f., 331, 347 f., 352, 362 f., 382, 386 – Archiv 88–91, 95 f., 126–128, 159, 163, 178 f., 201, 310 f., 330, 362 f., 381, 385–387 – Defusion 310 – Dramatische Realisierung (dramatic realization) 87 – Drehbuch (script) 87, 89 – Emergenz 254, 310–312, 333, 363 f., 382 – Form 254 f., 270–273, 275, 299, 309– 311, 313, 345, 359, 362 f., 367, 382 f. – Hintergrundrepräsentation (back ground representation) 87, 89 – Merkmale 13, 55, 82–87 – Mittel 254, 271 f., 275, 279–311, 353, 359, 362 f. – Performance Studies 81 f. – Refusion 310, 312 – Repertoire 88–91, 163, 178, 310 f., 362, 381
Register
– Restored behavior 88 – Strategie 254, 309–311, 353, 362 f. – Vorderseite (front) 87 »Poslanie na Ugru« 202 Posol᾽skij prikaz 35, 58 Pragmatisches Handeln 55, 63, 270, 299, 331, 382 Präsenzkulturen 106–108, 110 f., 116 f., 137, 140, 291 f., 324 f., 343 f., 383 f. Pravda 121–123, 141, 169, 183 f., 201 f., 278 f., 294 – Nepravda 169 Presse 14, 339 f. Privilegium maius 32 Prophet 324 f., 375 Pugačevščina 36 Razrjadnyj prikaz 35, 58, 277 »Reali di Francia« 147 Rechte der Untertanen 49, 344, 374 – Bittschriften 50, 53, 132, 164, 246, 342 f., 345, 374 Roi avisé 206, 274, 287 und passim Romanov-Dynastie 52, 122, 133, 149, 202, 259, 377 Rurikiden-Dynastie 52, 117, 189, 199 f., 249 – Daniloviči 117, 142 Sakrale Herrschaft 127, 135 f., 141 f., 287 – Hochkulturelle Variante 136, 141, 294 – Kosmologische Variante 136, 138– 141, 155, 294, 324 f. Sakralität 24, 119, 121, 311, 320 – Sakralisierung 53, 99, 121, 123–126, 136, 142, 272, 294 Samozvancy der Zeit der Wirren 31, 33, 40, 47, 100, 126, 181 f., 194, 200 f., 203, 247, 249 f., 258, 284, 354, 360 f., 370, 372, 385 Samozvanstvo – Anzahl der Fälle 30, 39 f., 230, 276, 279, 374 – Begriffsklärung 35–39
421 – Falsche Selbstidentifizierung 28 – Fiktive Selbstzeugnisse 31, 97, 99, 127, 213, 282–287, 313, 356 f., 387 f. und passim – Funktion 333, 365–373, 382 f. und passim – Und Gender 43, 45 f., 96, 97, 261 f., 296 – Und Gerüchte 180, 188, 203, 250, 387 f. – Und der Körper des Herrschers 32, 96, 107, 126, 279, 292 und passim – Merkmale 11 f., 179, 200 f., 373 f., 377–380 und passim – Periodisierung 39, 199, 276 f., 279, 333, 374, 379, 385 f. – Profil der samozvancy und samo zvanki 40–46 – Samozvančestvo 35–38 – Samozvanščina 35–38, 312 – Sekundäre samozvancy und samo zvanki 305 f. – Typologie von Oleg Usenko 30, 333 – Wahl der angeeigneten Identität 169–171, 240 Schlacht bei Poitiers 112 »Secretum Secretorum« 176 f., 179 Siebenjähriger Krieg 253 Sinnkulturen 106–108, 110 f., 114, 116, 325, 383 f. Smuta siehe Zeit der Wirren Sobornoe Uloženie 44, 56–58, 183, 276, 293, 379 – Die ersten beiden Punkte 57 f. Sobory 49 f., 342–344 »sozial-utopische Legenden« 22 f., 31, 145 f., 181, 192, 385 Strafen – Im Kriegsartikel 293 – Körperstrafen 292 f. – Im Marinestatut 293 – Von samozvancy verhängt 280 f., 314 – Todesstrafe 56 f., 293 Stranniki 287
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422 Templerorden 112 Thronfolge – Familiengesetz der Romanovy 117, 234 – Petrinisches Thronfolgegesetz 116 f., 234 – Primogenitur 117, 234 – Salisches Gesetz 114 – Senioritätsprinzip 117, 142 Unsterblichkeit 97–99 Untersuchung von Majestätsverbrechen – Dritte Abteilung 59, 219, 237, 247, 340 – Folter 60 f. – Gegenüberstellung 61 f. – Geheime Abteilung 35, 59, 65 – Geheime Kanzlei (1718–1726) 59 – Geheime Kanzlei (1731–1762) 35, 59, 307, 323 – Geständnis 60–62
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Preobraženskaja kanceljarija 59 Preobraženskij prikaz 35, 40, 58 f. Slovo i delo 56–58, 163 f., 291 Verteidigungsstrategien 62–67, 160, 318
Verfremdung (otstranenie) 310 Wahrsager 140, 322 Warschauer Pakt 26 Wissen 11, 88, 90, 111, 159, 180 f., 196, 274, 381, 383 und passim Ždanovščina 36 Zehn Konditionen 152 Zeit der Wirren 15, 21, 24, 31, 33, 40, 47, 52, 105, 110, 122, 126, 164, 182, 184, 199 f., 202, 248–250, 276, 278, 289, 343, 365, 369 f., 378, 381, 385 Zwei Körper des Königs 120