163 42 5MB
German Pages 188 [192] Year 1970
STUDIEN ZUR D E U T S C H E N LITERATUR
Herausgegeben von Richard Brinkmann, Friedrich Sengle und Klaus Ziegler
Band 22
KARL MENGES
Kritische Studien zur Wertphilosophie Hermann Brochs
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1970
MEINEN ELTERN
ISBN 3 4 8 4 1 8 0 1 7 X
© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1970 Alle Rechte vorbehalten. Printed in Germany Herstellung: Bücherdruck Helms K G Tübingen Einband von Heinr. Koch Tübingen
I N H A L T
EINLEITUNG ERSTER T E I L : APORIEN DER ONTOLOGIE KAPITEL I: STRUKTURANALYSE EINES WIDERSPRUCHS
I Ausgangspunkt: eine metaphysische Enttäuschung 7 II Zur historischen Situation 9 - Alternativen 12 III Ein „konstruktiver Aspekt" 14 - Zur „Konstruktion des Absoluten" bei Hegel 15 - Dagegen: dualistischer Idealismus bei Broch 18 IV Analyse im Detail 20 V Dualismus als aufgehobene Entfremdung? Oder: Projektionen und Aporien 27
KAPITEL II: ANMERKUNGEN ZUR LOGIK
I Der Wahrheitsbegriff : transzendental oder empirisch? 33 - Das „Wahrheitsgefühl" 40 - Tautologische Definitionen 41 II Der Wertbegriff: Überblick 43 - Wahrheit und Wert als abstrakte Identität 44 III „Non-Ich" und „Außenwelt" 46 - Wertproduktion als Triebintention 47 - Zusammenfassung 49 IV Zur „Verifikation" des werttheoretischen Modells: „Ekstase" und „Panik" 50 - Der „Begriff des Ekstatischen" und der Schopenhauersche „Wille" j i - Der Riickfall hinter Schopenhauer 53 V Das .System als Weltbewältigung'5 5 - Systemzwang j 6 - „offene" und „geschlossene Systeme" und die Ambivalenz des Unendlichen 59 - Dogmatismus 61 - Das Beispiel der „Romantik" 61 - Zur Kritik der Varianten: „offenes" und „geschlossenes System" als abstrakte Identität 66 VI Geschichtsphilosophische Exemplifikation 68 - Das MittelalterBild 71 - Zur Kritik des Begriffs Säkularisierung 73 - Das Mittelalter als Modell 76 - ,Geschichtsgesetz und Willensfreiheit' 77 Brochs Kritik des historischen Mittelalters 79 - Das Erbe, und nochmals: Aporien der Ontologie 81
K A P I T E L III: D E R SYSTEMATISCHE G E D A N K E UND SEINE E N T F A L T U N G
83
I Das Problem der „historischen Einheit" 83 - Das „Prinzip der ,Setzung der Setzung'" 87 - Der Anspruch auf Totalität: deduktive und induktive Determination 88 - Kritik und Konsequenzen 90 - Philosophie und Theologie oder: dualistischer Idealismus 91 I I Zum Selbstverständnis der „Setzung der Setzung" 92 - Schopenhauer und Broch 94 - Brochs Kritik der Willensmetaphysik 97 Die „Setzung der Setzung" und die Schopenhauersche ästhetische Konstruktion 99 I I I Zur Entfaltung des systematischen Gedankens 102 - Die Relativitätstheorie als Vorbild 103 - Mathematische Spekulationen 104 Rechtsphilosophische Spekulationen 10 j - Die ästhetische Verwirklichung der „Setzung der Setzung" in den „Schlafwandlern" 109 Einwände 1 1 3 UBERLEITUNG
121
Dunkle Philosophie: Sachzwang oder Verdrängung? 1 2 1 - Zur Phänomenologie des historischen Irrtums, angedeutet am Beispiel Nietzsches und Husserls 122 - Das Dunkel als signifikantes Produkt 125
Z W E I T E R T E I L : GESELLSCHAFTSKRITIK UND U T O P I E K A P I T E L I V : A S P E K T E DER MASSENPSYCHOLOGIE
I „Normales" und „abnormales" Verhalten und der Rückgriff auf die „Erkenntnistheorie" 129 - Polarisierung und die Multiplikation im Kollektiv 130 - „Gemeinschaftserlebnis" bei „Masse" und „Gemeinschaft" 1 3 1 - Zum Begriff „Masse" 132 - „Masse" und „Politik" 133 - Der „dämonische Demagoge" 136 - Zusammenfassung: logische Brüche 136 I I „Dogmen" und „Demagogen" als Feindprojektion 137 - Konkretisierung, dargestellt an der Alternative: „Bauer" und „Fabrikarbeiter" 138 I I I Kritische Parenthese 141 I V Der antisozialistische A f f e k t 146 - Verinnerlichung und Polemik 149 - Das „Dogma" des Sozialismus 1 5 1 V Dagegen: ökonomische „Eigengesetzlichkeit" i j 2 - Apologie des Kapitalismus 152 - Abstrakte Antithesen und Brochs Idee einer „konkreten Utopie" 155— Das Problem ihrer Realisation 156 VI
129
KAPITEL Ν: „GROSSE PROPHETIE" UND „TOTALE DEMOKRATIE": ZUR STRUKTUR EINER ALTERNATIVE I Der „Führer" als Alternative zum „Demagogen" 157 - Und damit zusammenhängend: „echte" und „falsche Prophetie" I J 9 - Falscher Messianismus 160 I I Ansichten zum Faschismus 1 6 1 - Die Idee einer „totalen Demokratie" 164 - Totales Recht 165 - „Die demokratische Totalität als Überwinderin ihrer faschistischen V o r f o r m " 167 - Brochs metaphorischer Antifaschismus 167 - Die „Sehnsucht nach dem Heilsbringer" und die „Setzung der Setzung" oder: zur Einheit von theoretischer und praktischer Philosophie 169 - Der „politische Mensch" und das Problem der Gewalt 170 NACHWORT Hermann Broch im geistigen Horizont seiner Zeit 1 7 1
EINLEITUNG
Eine Arbeit, die wie die folgende um die Philosophie Hermann Brochs sich bemüht, bedarf der Legitimation, denn sie spricht von scheinbar Bekanntem. Bekannt ist - und dies schon kraft ihrer unmittelbaren Aussage - , daß Brochs Philosophie nichts Geringeres enthält als eine weitgespannte Theorie des gegenwärtigen Zeitalters. Bekannt ist ferner, daß die Theorie in vielfältiger Transformation in der Dichtung wiederkehrt, derart, daß diese aus einer bestimmten philosophischen Idee sich entfaltet. Bekannt ist schließlich die Tendenz der Theorie als einer zunächst pessimistischen Existenzanalyse, die gleichwohl die Hoffnung auf eine veränderte Zukunft nicht verliert. Unter all diesen bekannten Aspekten des philosophischen Selbstverständnisses scheint dieser letztere der wesentliche zu sein, indem er die praktische Intention des Theoretikers Broch erhellt. - Theorie jedenfalls, die auf Veränderung zielt, ist niemals nur Theorie allein; vielmehr erscheint sie noch in den abstraktesten Passagen als ein Denken, das korrekt und präzise an der Praxis sich orientiert, aus dem Bewußtsein, daß ebendiese Praxis der Korrektur und Präzisierung bedarf. Insofern ist Theorie kritisch und - im besonderen Fall Brochs - auch in einem besonderen Sinn revolutionär. Solche Intention wird greifbar in den verschiedensten Formen des Ausdrucks: Philosophie, Dichtung und später auch die Massenpsychologie, sie alle figurieren in ihrer wesentlichen Bestimmung als Medien der Enthüllung und des veränderten Entwurfs, und sie werden von Broch ergriffen und verworfen, je nach dem subjektiven Schein ihrer Effektivität. Konstant bleibt indes hinter all diesen wechselnden Formen der Erscheinung die Intention einer Alternative zur bestehenden Realität; und es ist eben diese Intention, welche oft mit leidenschaftlichem Pathos sich ausspricht, die dem Werk Brochs eine zuweilen eigentümliche Faszination verleiht. — Präzise Intellektualität im Dienste eines humanen Engagements: dies ist die bekannte, quasi transzendentale Einheit der Wirklichkeit Brochs. Solcher Einheit aber hat eine Arbeit sich zu stellen, die über die Wirklichkeit ihres Gegenstandes noch etwas Richtiges sagen zu können hofft. ι
Walter Jens hat auf Broch den Begriff des „poeta doctus" angewandt, 1 und es ist nicht schwer zu sehen, daß dieser als Allgemeinbegriff tendenziell weite Bereiche der Forschung erfaßt. So schreibt etwa Erich Kahler in seiner Studie über ,Die Philosophie Hermann Brochs': » . . . sein [Brochs] größter, seltenster Ruhm ist die menschliche Eigenschaft: die Tatsache, daß dieses ganze Werk aus einem einzigen menschlichen, einem moralischen Antrieb entsprungen ist und bis ins letzte auf die Rettung des Absoluten abgezielt war". 2 Kahler nennt Broch auch einen „echten, schöpferischen Denker", 3 rühmt seinen „Sinn für schärfste Exaktheit", 4 und stellt nochmals fest: „Worauf er es durchweg abgesehen hat, das ist die Rettung des Absoluten." 5 - Hannah Arendt sagt Ähnliches mit einer Betonung der praktischen Implikation von Erkenntnis: „Dies jedenfalls ist es, worauf die Erkenntnis letzten Endes hinzielt: sie will die Tat." Und weiter: „Brochs zentrales Anliegen ist immer Erlösung, Erlösung vom Tode, und um Erlösung geht es ihm in seiner Politik nicht weniger als in seiner Erkenntnistheorie oder in seiner Dichtung." 8 - Wolfgang Rothe nennt Broch einen „Dichter-Denker", 7 eine „kontemplative Natur", 8 auch einen „glühenden Demokraten", 8 während Ernst Schönwiese schreibt: „Welchen der drei Wege geistiger Wirkungsmöglichkeiten, den theoretischen, ästhetischen oder praktischen, Broch jeweils mit seinem Werk beschritten hat, immer geht es ihm um jenes Sichauftun des Unendlichen, jene geheimnisvolle Begegenung mit dem Absoluten . . ."10 Diese wahllos herausgegriffenen Äußerungen ließen sich beliebig vermehren. Deutlich wird in ihnen eine oft irrationalistisch-positive Auffassung 1
W . J e n s : Statt einer Literaturgeschichte. Pfullingen 4 1 9 6 0 , S. m . E . Kahler: Die Philosophie von Hermann Broch. Tübingen 1962, S. i f . Diese Arbeit, in der zum ersten M a l versucht wurde, Brochs Philosophie darzustellen, ist wenig brauchbar, indem sie sich allzusehr auf eine Paraphrasierung der Brochschen Gedanken beschränkt. Einzig als vordergründige Information hat sie einen gewissen Wert. Was ihr indes nicht gelingt, ist eine systematische Analyse ihres Gegenstandes, obgleich Kahler über Broch sagen zu können meint, dieser sei „der letzte" gewesen, „der noch ein richtiges System ausgebaut [habe] . . . " (S. 5.) — Kahler allerdings verzichtet auf eine Ausfaltung dieses Systems. 2
3
E . Kahler, a.a.O. S. 2. E . Kahler, a.a.O. S. 4. s E . Kahler, a.a.O. S. 5. • H . A r e n d t : ,Einleitung' zu den Essaybänden, Gesammelte Werke, Bd. 6. S. 40. Im folgenden wird die Züricher Werkausgabe stets in dieser Abkürzung zitiert: G W 1 - 1 0 . 4
7 8 9 10
2
W . R o t h e : G W 9 , 8. ,Einleitung* zur .Massenpsychologie'. W . R o t h e : G W 9, 20. W . R o t h e : G W 9 , 29. E . Schönwiese: G W 10, 1 1 . , E i n l e i t u n g ' zu ,Die unbekannte Größe'.
jener einheitlichen Wirklichkeit Brochs, die auf der Grundlage eines scheinbar exakten Kalküls sich um die Veränderung von Seiendem bemüht. Dabei treten die Äußerungen mit einer meist kategorischen Bestimmtheit auf, welche - vielfach nur unter Berufung auf Broch selbst ein Unbestreitbares bezeichnen zu können meint, das sich zusammenfaßt in den Aspekten Gelehrsamkeit und Humanität. Dies also ist eine Wirklichkeit Brochs, eine solche, deren eigentümliche Bekräftigung durch die Forschung Beda Allemann einmal folgendermaßen umschreibt: „Es kann heute . . . der Fall eintreten, daß ein Autor wie Hermann Broch - dessen rein schriftstellerischer Rang wohl noch der genauen Abklärung bedarf - in erster Linie das literarische Interesse auf sich zieht, weil er den Typ des poeta doctus zu verkörpern scheint."11 - Die Frage, warum dem so ist, warum der wie immer begründete Schein eines gelehrsamen Dichters die Forschung fast nur zur Akklamation bewog, weist freilich über das Phänomen hinaus. Sie wäre zu richten an die Methodik jener Forschung, was hier aus sachlichen Gründen unterbleibt. Dafür aber ist die Tatsache festzuhalten, daß man Broch zustimmt, und daß ferner das positive Bild, das man von ihm entwirft, weitgehend konvergiert mit des Dichters Verständnis seiner selbst. - Mit anderen Worten: es existiert bislang keine gebrochene, distanzierte, das heißt aber kritische Betrachtung der unmittelbaren philosophischen und dichterischen Wirklichkeit Brochs. Mit dieser hat daher die folgende Studie zu beginnen. Sie tut dies, indem sie dieselbe zu begreifen versucht, jenseits der Unmittelbarkeit ihrer Existenz. Das heißt: indem sie sie zu erfassen sich bemüht als ein historisches Phänomen, das aus sich selbst heraus sich realisiert. Insofern aber ist mit eben dieser unmittelbaren Wirklichkeit als einem Negativen zu beginnen, nämlich dem Resultat eines Geschehens, das auf ein anderes, auf eine bedingende, und damit dem Gegenstand substantielle Realität verweist. Diese andere, mögliche Wirklichkeit indes ist nur zu erfahren durch eine prinzipielle Enthaltung von der Unmittelbarkeit ihres Seins, also der Unmittelbarkeit dessen, was Broch sagt und was die Forschung zum großen Teil davon hält. Oder anders gewendet: sie ist nur zu erfahren durch eine radikale Ernstnahme Brochs, freilich im steten Hinblick auf den wesentlichen Impuls, der seine Äußerungen in ihren verschiedenen Formen bedingt. Diese Methode, das sei nicht verschwiegen, ist an Hegel geschult. Wenn sie hier, auf dem Gebiet der Literaturwissenschaft, angewandt wird, so 11
B. Allemann: Dichter über Dichtung. In: Definitionen. Essays zur Literatur. Hg. von Adolf Frisé, Frankfurt 1963, S. 30.
3
aus dem Bemühen, Brochs weitgespanntem Begriff von Literatur gerecht zu werden. Denn für ihn war Dichtung in ihrer wesentlichen Funktion niemals gleichbedeutend mit einer subjektiven Imagination. Er forderte vielmehr eine „erkenntnisgesättigte" Dichtung, eine exakt konstruierte, erkenntnistheoretisch fundierte und darum auch allgemein verbindliche literarische Produktion; man könnte sagen: Broch verlangte nach einer Transzendentalpoesie des zo. Jahrhunderts. Von der Sache her ist es mithin durchaus gerechtfertigt, mit philosophischen Kategorien zu arbeiten; denn Broch selbst verstand sich in seinem dichterischen Schaffen auch und gerade als Philosoph. Ebendieses philosophische Verständnis aber soll überprüft werden auf seinen substantiellen Gehalt, das heißt auf seine, wie sich vermuten läßt, noch nicht explizite Realität. Dies geschieht zunächst in einem behutsamen Anlauf : die Arbeit beginnt mit dem Selbstverständnis Brochs, stellt dessen Zeitkritik vor und das Programm seiner Alternativen und analysiert sodann — beispielhaft und auf begrenztem Raum - die Möglichkeiten ihrer Realisation. Dabei bricht sehr bald ein Widerspruch auf, eine ontologische Aporie. Dieser zunächst hypothetischen Ausweglosigkeit wird nachgegangen im zweiten Kapitel, das eine Analyse des Wahrheitsbegriffes und der allgemeinen Brochschen Systembegründung enthält. Dabei gewinnt der Widerspruch Konturen: er erreicht seinen systematischen Ort in einem erkenntnistheoretischen „Prinzip", um dessen Darstellung und Entfaltung sich das dritte Kapitel bemüht. Eine Uberleitung dient sodann der Verbindung des ersten theoretischen Teils mit dem zweiten, der Brochs praktisch-politischer Philosophie gilt. Dieser Teil ist ungleich kürzer als der erste, doch nicht aus Gründen des etwa fehlenden Materials. Dieses ist reichlich verhanden und wird auch ausführlich zitiert, jedoch nur insoweit, als es erforderlich scheint, die substantielle Dynamik sichtbar zu machen, die Brochs theoretische Philosophie mit der praktischen verbindet. Das heißt aber, die es schließlich ermöglicht, Brochs im weitesten Sinne historischen Ort näher zu bestimmen. Worum es der Arbeit also geht, ist die kontinuierliche Entfaltung einer bestimmten, am Gegenstand gewonnenen Idee. Zur Verifikation dieser Idee aber scheint es sinnvoll, sich im Hegeischen Sinne an die Unmittelbarkeit der Sache zunächst zu entäußern, um von hier aus in einer immanenten Rekonstruktion deren Wesen im Begriff zu erinnern.
4
ERSTER
APORIEN DER
TEIL
ONTOLOGIE
KAPITEL I
STRUKTURANALYSE
EINES
WIDERSPRUCHS
I D a ß Philosophie ihres spekulativen Auftrags als „Konstruktion des A b soluten" 1 selbst sich begeben habe, gehört zu den „ersten Erfahrungen" des jungen Broch. A m Anfang steht damit eine metaphysische Enttäuschung: „Als ich 1906 die Wiener Universitätsstadt bezog, um Mathematik und Philosophie zu studieren", heißt es in einem späten autobiographischen Fragment, „erfuhr ich - wie so viele andere - bestürzt und enttäuscht, daß ich nicht berechtigt sei, irgendeine all der metaphysischen Fragen zu stellen, mit denen beladen ich gekommen war; ich erfuhr, daß es keine Hoffnung auf irgendeine Beantwortung gab." ( G W 9, 37.) Mit diesen nüchternen Worten notiert Broch aus der Rückschau ein Erlebnis, das zum Angelpunkt seines Denkens ward: die Erfahrung eines Seins- und Identitätsverlustes als der nicht nur persönlichen Reaktion auf eine Zeit ohne metaphysischen Grund. Hoffnungen werden enttäuscht nicht durch die Unmöglichkeit erst der Beantwortung existentieller Fragen, sondern dadurch bereits, daß die Fragen selbst nicht mehr zeitgemäß sind. Sie sind schlechterdings nicht mehr zu stellen. — Und dennoch stehen sie an, verstummen nicht dadurch, daß sie nicht mehr „berechtigt" sind, sondern verlangen zumindest nach einer Erklärung ihrer Ungleichzeitigkeit, mithin ihrer selbst sowohl, wie der Zeit, die die Antwort verweigert. Dabei aber zeigt sich, daß sich beide bedingen. „Es war die erste Blütezeit des .wissenschaftlichen' Positivismus", fährt Broch fort und erläutert: die Zeit einer Denkhaltung, der es „nicht mehr um die inhaltlichen Wissenschaftsergebnisse [ging], sondern um die Wissenschaftsmethoden, . . . um die Ausschaltung aller rein spekulativen, . . . aprioristischen Elemente aus dem philosophischen Bereich, . . . auf daß nach Beendigung solcher Purifizierung ein einwandfrei gesicherter Realitätsbestand der Philosophie übrigbleibe". ( G W 9, 37.) Der Gegenstand von Philosophie hat sich mithin verschoben, derart, daß gerade das erhoffte, metaphysisch-spekulative Denken als nicht mehr G . W . F. Hegel : D i f f e r e n z des Fichte'schen und Schelling'schen Systems der Philosophie. H a m b u r g 1962, S. 17. 1
7
programmgemäß erscheint. Stattdessen dominiert ein Interesse, welches einhält bei der Beschreibung von Empirisch-Mannigfaltigem, sich begnügt mit gesicherten Beständen von Realität und gerade in solcher Beschränkung f ü r Broch z u m Symptom eines allgemeinen „Absolutheitsverlustes" (ebd.) wird. Das offizielle Denken selbst bedingt also die private Enttäuschung, und um die Verflochtenheit beider Positionen in den Blick zu bekommen, bedarf es der Reflexion auf ihre Entwicklung. Broch sieht diese im wesentlichen in einem „Verlust jener Letztaxiome, welche f ü r hunderte Jahre als unangreifbare Basis f ü r sämtliche D e n k - und Lebenseinstellungen gegolten hatten". Gemeint sind damit „die Axiome der christlichen Lebensform", die „während des i 8 . u n d 19. Jahrhunderts ihre Unbedingtheit eingebüßt" hätten ( G W 9 , 3 8 ) , wodurch das „Problem" eines „Relativismus" entstanden sei, „ f ü r den es keine absolute Wahrheit, keinen absoluten Wert und sohin auch keine absolute Ethik" mehr gebe ( G W 9, 37), was aber gleichbedeutend sei mit dem Beginn einer allgemeinen Entzweiung. Diese Entzweiung aber habe zunächst in der rein theoretischen Scheidung von „Naturwissenschaften" u n d „GeistesWissenschaften" „erst wohl schüchtern und versteckt" sich offenbart, sei „bald jedoch mit aller nur wünschbaren O f f e n h e i t " zutage getreten, durch die Tatsache nämlich, d a ß „die Wahrheit und damit die E t h i k . . . zur pragmatistischen Funktion des praktischen Lebens gemacht" worden seien. (GW38.) Philosophie als die spekulative Anstrengung des Begriffs h a t demnach f ü r Broch sich gewandelt z u einem „relativistischen" „Positivismus", welcher der Frage nach dem „Absoluten" als der allgemeinen Wahrheit von Seiendem konsequent sich verschließt. Mehr noch: indem Philosophie entgegen ihrem ursprünglichen Selbstverständnis als Wissenschaft der W a h r heit letztere nunmehr zur „pragmatistischen Funktion des praktischen Lebens" verengt, fungiert sie als falsche Theorie einer falschen Wirklichkeit, die in ihrer Totalität als verdinglichte, zerrissene Welt erscheint. Eben diese praktische Konsequenz eines positivistisch-unmittelbaren Denkens aber h a t Broch im Blick, wenn er im folgenden feststellt: „ . . . bei näherem Zusehen wurde e s . . . offenkundig, d a ß es sich hier [bei der Auseinandersetzung zwischen N a t u r - und Geisteswissenschaften] nicht um bloß universitäre Schulstreitigkeiten handelte, sondern d a ß diese geistige Zerrissenheit ein erschreckend getreues Spiegelbild des äußern Weltbildes in sich barg: das erste J a h r z e h n t des 20. Jahrhunderts w a r bereits von all der Spannung und Zerrissenheit erfüllt, die 1914 ihren blutigen Ausdruck finden sollten; nationale, ökonomische, staatliche, soziale Interessen überkreuzten sich allenthalben und standen allenthalben in gegenseitigem Widerspruch, jedes von ihnen mit der Forderung 8
nach Alleingeltung seiner Wertsetzungen, und nirgends war eine Handhabe zu finden, um diesen Wertrelativismus unter eine objektiv ausgleichende höhere Instanz zu stellen. Und wenn die Jugend - dies war ja gerade ihre metaphysische und ethische Not - bei der Philosophie Rat einholen wollte, so erklärte sich die Philosophie selber in diesen Fragen als unzuständig." (GW 9, 3 8f.) II In der Tat hatten „viele andere" ähnliche Erlebnisse, und Broch steht nicht allein mit seiner Diagnose einer ortlosen, zerrissenen Zeit. Nicht er allein vergleicht und schaut zurück zu früheren Epochen, die ein Absolutes noch kannten, und dies nicht in der theoretischen Spekulation allein. Vielmehr wird in seiner Position eine Problematik deutlich, die allenthalben um die Jahrhundertwende ins Bewußtsein rückt und die zunächst in zögernden Formulierungen sich offenbart. Man spürt Einschnitte, Akzentverschiebungen im geistigen Raum und reagiert vielfach betroffen auf eine plötzlich unüberschaubar gewordene soziale Totalität. Eine „geheimnisvolle Zeitkrankheit" 2 hat sich ausgebreitet, und ihre Auswirkungen sind unübersehbar: die Welt ist fremd und fragwürdig geworden und mit ihr die Stellung des Menschen als ihr einstiges bestimmendes Prinzip. - Die Folgen sind Kommunikationsschwierigkeiten, Sprachkrisen, ähnlich der Art, wie sie Hofmannsthal als einer der ersten im Brief des Lord Chandos beschreibt: indem die Dinge sich emanzipiert haben, nicht mehr Teile eines Ganzen sind, sondern zu selbständigen Größen zerfielen, versagt der gewohnte Zugriff einer präzisen begrifflichen Bestimmung. Urteile treffen nicht mehr ihre Objekte, und eine naive, unproblematische, gleichsam mythologische Beziehung zur Welt ist nicht mehr möglich. Man sieht sich als Zeitgenosse einer - im Schillerschen Sinne - sentimentalisch-historischen Epoche, spricht von „progressiver Zerebration" und einer „Auflösung" des Gefühls, 3 erläutert den gegenwärtigen Zustand als das Resultat einer „dissociation of sensibility" 4 oder erklärt in kühner geschichtsphilosophischer Diktion: „Wir haben die Produktivität des Geistes erfunden: darum haben die Urbilder für uns ihre gegenständliche Selbstverständlichkeit unwiederbringlich
2
R. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Hamburg i960, S. j6ff. G.Benn: Nach dem Nihilismus. In: Gesammelte Werke 3, Essays und A u f sätze. Wiesbaden 1968. 4 T . S . E l i o t : The metaphysical Poets. In: Selected Essays. N e w York 1932, S. 247. 3
9
verloren und unser Denken geht einen unendlichen Weg der niemals voll geleisteten Annäherung."® „Die Produktivität des Geistes" - dieser Topos meint also nicht nur in Lukács' berühmtem Buch die Problematik einer Subjektivität, die ihren Anspruch auf Welterklärung mit dem Verzicht auf eine intuitive, quasi präexistente Kommunikation erkaufte. Er impliziert vielmehr generell das Bewußtsein der objektiven Entfremdung von Sein in einem historischen Kontinuum, dessen unendliche Weiträumigkeit das erkennende Subjekt in Einsamkeit hinter sich ließ. An die Stelle unmittelbar evidenter Totalität ist eine diskursive Systematik getreten, die jedoch selbst in ihrer dialektischen Historisierung ihrer Objekte in Wirklichkeit niemals ganz habhaft zu werden vermochte. Diese entwanden sich ihr sowohl in der rein geistigen Bestimmung einer Identität von Subjekt und Substanz, wie vor allem in dem praktischen Postulat einer aufzuhebenden Entfremdung. Solche Aufhebung wurde nie Realität; sie bestand immer nur als utopisches Programm. Dennoch, oder gerade deshalb, aber bleibt das Problem nicht nur philosophisch aktuell. Es bemächtigt sich anderer Bereiche, besonders des ästhetischen, der in einer problematisch gewordenen Welt nach einer neuen, wesenhaften Bestimmung verlangt. Indem das Dasein gekennzeichnet ist von Melancholie und Abstraktion, findet es seinen adäquaten künstlerischen Begriff letztlich nur noch im Trauerspiel, wie Benjamin gezeigt hat, oder mit Lukács in der Prosa des Romans. Letzterer bemüht sich, „gestaltend die verborgene Totalität des Lebens aufzudecken", und seine Helden sind daher „Suchende",' - Figuren, deren geschichtsphilosophische Bestimmung das Schicksal ihrer Autoren reflektiert. - Man sucht, und dunkel sind daher sehr oft die Programme: ein „neues Pathos" wird proklamiert, das den Willen enthalten soll, nicht mehr „zu einem feinen ästhetischen Wohlgefühl..., sondern zu einer Tat". 7 Der Expressionismus übernimmt diesen Aufruf und versteht ihn als „Antwort auf eine Wirklichkeit, die anzuschauen, der sich hinzugeben unmöglich geworden ist. Entscheidung lebendiger Persönlichkeit gegen das blinde Rasen sinnfremder Gewalten, das", so heißt es, „ist die Seele des Expressionismus".8 Und gleichzeitig formuliert Ernst Bloch im Geist der Utopie: „In unsere
G . Lukács : Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. Neuwied 2i