Hermann Brochs geschichtliche Stellung: Studien zum philosophischen Frühwerk und zur Romantrilogie ›Die Schlafwandler‹ (1914-1932) 9783110917871, 9783484180888


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Abkürzungen
EINLEITUNG
I PHILOSOPHIE ALS THEORIE DER KULTURWISSENSCHAFTEN. Brochs epistemologische Studien als Grundlage seines werttheoretischen und ästhetischen Denkens (1914–1918)
1. Das Prinzip der reduktionistischen Begründung
2. Die Begründung wissenschaftlicher Sätze durch analytische/synthetische Urteile
3. Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft
II ENTWÜRFE ZU EINER FORMALEN WERT- UND GESCHICHTSPHILOSOPHIE. VON DEN FRÜHSCHRIFTEN (1914–1920) zu DEN ›SCHLAFWANDLER‹-EXKURSEN
Die Situation der »anthropologischen Wissenschaften« an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert
1. Der Begriff der Bejahung in der Urteilslehre
2. Die Beschreibung perzeptiver und apperzeptiver Bewußtseinsvorgänge in der Psychologie der Jahrhundertwende
3. Wertphilosophie
4. Formale Geschichtsphilosophie
EXKURS: Weltanschauungstypologie und Stilbegriff
III DIE ANALYSE DES ZERFALLS. Zu den Grundlagen der materialen Geschichtsphilosophie in den Exkursen und dem Epilog der ›Schlafwandler‹-Trilogie
1. Der Wertbegriff in der Philosophie Nietzsches
2. Der Aufbau der neun Exkurse
3. Die Überwindung des Historismus. Grundlinien der literarischen Entwicklung nach dem Ersten Weltkrieg
4. Die Voraussetzungen der Brochschen Geschichtsphilosophie
5. Probleme der Epochentypologie
6. Wert, Gemeinschaft und Leben. Philosophische Aspekte der Kulturkritik
7. Zerfall der Werte. Die neun Exkurse und der Epilog in den ›Schlafwandlern‹
IV WIRKLICHKEITSBEGRIFF UND MÖGLICHKEIT DES ROMANS. Zur Interpretation der ›Schlafwandler‹-Trilogie (1928-1932)
1. Motiv, Symbol, Traum: Strukturelemente der literarischen Gestaltung
2. Verlust der Wertbindungen. Die erzählerische Funktion des Irrationalen
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Hermann Brochs geschichtliche Stellung: Studien zum philosophischen Frühwerk und zur Romantrilogie ›Die Schlafwandler‹ (1914-1932)
 9783110917871, 9783484180888

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STUDIEN ZUR DEUTSCHEN LITERATUR

Band 88

Herausgegeben von Wilfried Barner, Richard Brinkmann und Conrad Wiedemann

Friedrich Vollhardt

Hermann Brochs geschichtliche Stellung Studien zum philosophischen Frühwerk und zur Romantrilogie >Die Schlafwandler (1914-1932)

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1986

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft Die Arbeit wurde 1984 mit dem Förderpreis der Ludwig-Maximilians-Universität München ausgezeichnet.

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Vollhardt, Friedrich: Hermann Brochs geschichtliche Stellung : Studien zum philos. Frühwerk u. zur Romantrilogie »Die Schlafwandler« (1914 - 1932) / Friedrich Vollhardt. - Tübingen : Niemeyer, 1986. (Studien zur deutschen Literatur ; Bd. 88) NE: GT ISBN 3-484-18088-9

ISSN 0081-7236

© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1986 Alle Rechte vorbehalten. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus photomechanisch zu vervielfältigen. Printed in Germany. Satz: Bernhard Walter, Tübingen Druck und Einband: Maisch & Queck, Gerlingen

Inhalt

Abkürzungen EINLEITUNG

I

Ι

P H I L O S O P H I E ALS T H E O R I E DER KULTURWISSENSCHAFTEN

Brochs epistemologische Studien als Grundlage seines werttheoretischen und ästhetischen Denkens (1914-1918) ι. Das Prinzip der reduktionistischen Begründung 2. Die Begründung wissenschaftlicher Sätze durch analytische/synthetische Urteile 3. Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft II

VII

15 22 25 34

E N T W Ü R F E Z U E I N E R F O R M A L E N WERT- U N D G E S C H I C H T S PHILOSOPHIE. V O N DEN F R Ü H S C H R I F T E N ( 1 9 1 4 - 1 9 2 0 ) z u D E N >SCHLAFWANDLERSummaSchlafwandlerSchlafwandlern< IV

161 166 168 175 180 200 210 218

W I R K L I C H K E I T S B E G R I F F U N D M Ö G L I C H K E I T DES R O M A N S

Zur Interpretation der >SchlafwandlerPasenow< b) Die Wirkungen des Zerfalls: >Esch< und >Huguenau
Logischen Untersuchungen Edmund Husserls - , werden in diesem Verzeichnis nicht aufgeführt. O b sich in den angegebenen Büchern Lesespuren oder Marginalien von Brochs Hand finden, konnte bisher nicht nachgewiesen werden. Die Bibliothek Hermann Brochs ist seit kurzem im Besitz der Universität Klagenfurt. Zu Dank verpflichtet bin ich Frau Annemarie Meier-Graefe Broch und Herrn Η . E Broch de Rothermann, die mir die Erlaubnis erteilten, die Nachlaßpapiere Hermann Brochs einzusehen. Frau Dr. Sammons von der Beinecke Rare Book and Manuscript Library stellte mir freundlicherweise die Kopien einiger Dokumente zur Verfügung. Diese in der Yale University Library befindlichen unveröffentlichten Manuskripte werden im folgenden als »Mss. uv. Y U L « abgekürzt und mit einem Hinweis auf die Angaben versehen, die sich in der kommentierten Werkausgabe zu dem betreffenden Nachlaßmaterial finden. Die Werke Brochs werden nach der von Paul Michael Lützeler herausgegebenen >Kommentierten Werkausgabe< zitiert, die im Suhrkamp-Verlag Frankfurt/M. erschienen ist. Die Ausgabe wird im Text als » K W « zitiert, unter Angabe der arabischen Band- bzw. Teilbandnummer und Seitenzahl. Belegstellen aus häufig angeführten Werken erscheinen nach vorheriger Kennzeichnung im Text in runden Klammern ohne Sigle.

VII

Einleitung

Ein Beitrag zur Theorie der literarischen Moderne darf vielleicht, wie im vorliegenden Fall, mit dem Interesse seiner Leser für bestimmte ästhetischphilosophische Fragen rechnen, auf ihre Skepsis wird er zweifellos gefaßt sein müssen. Denn wie exemplarisch kann die Untersuchung zu einem einzelnen Schriftsteller des frühen 20. Jahrhunderts überhaupt sein, vergegenwärtigt man sich die zahlreichen Strömungen und Brüche in der literarischen Entwicklung seit der Jahrhundertwende? Hier wären Linien auszuziehen und Abgrenzungen vorzunehmen, soll über das Werk eines Autors in seiner historischen Stellung mehr gesagt werden, als durch die vordergründige Beschreibung seiner wissenschaftlich-literarischen Quellen und geschichtlichen Voraussetzungen mitgeteilt werden kann. Für eine derart umfassende, auf die gesamte Epoche bezogene Darstellung des Brochschen Werkes konnten in der vorliegenden Arbeit nur erste Ansätze geschaffen werden. Diese erscheinen jedoch tragfähig genug, um eine falsche Lektüre der Frühschriften Brochs in Zukunft auszuschließen. Gerade die wertphilosophischen Abhandlungen des Autors sind in der Forschung völlig konträr gedeutet worden, da man sie - als Grundlage des in der Folge entstandenen literarischen Werkes - in der verschiedensten Weise »exemplarisch« zu lesen versuchte. Die fehlende historische Perspektive ließ dabei weder den denkerischen Anspruch noch die intellektuelle Kontinuität der einzelnen Theoriestränge erkennbar werden, in die sich das Frühwerk Brochs einordnet. Es ergab sich eine falsche Alternative. Während ein Teil der Forschung die philosophischen Entwürfe Brochs lediglich als formale Voraussetzungen seiner literarischen Experimente betrachtete und ihn damit jenem Kreis von genuin modernen Autoren zurechnete, an deren Beispiel man poetologische Probleme wie die »Krise« des Romans erörterte, nahm umgekehrt eine Gruppe jüngerer Forscher die vermeintlich aufklärerischen Traditionen der Moderne für sich in Anspruch, um mittels der inhaltlichen Kritik einiger Aspekte der Brochschen Werttheorie dem Autor jede Fähigkeit zur selbständigen philosophischen und - verbunden mit dem Vorwurf des Obskurantismus - gesellschaftspolitischen Reflexion abzusprechen. Sein Anteil an der Entwicklung der modernen Literatur wurde so grundsätzlich in Frage gestellt. ι

Seither hat sich das Bild erneut gewandelt. Die normativen Begriffe fast aller ästhetischen Debatten der vergangenen Jahrzehnte sind problematisch geworden. Dem Projekt der Moderne - wie immer man es auffassen mag fühlen sich nur noch wenige Autoren verpflichtet, in der populären Kulturkritik gelten ihm ohnehin nur noch resignative oder gar erleichterte Nachrufe. Der avantgardistische Intellektualismus, der die >SchlafwandlerSchlafwandlerKant als Philosoph der modernen Kultur< (Tübingen 1924) sowie August Faust, Heinrich Rickert. In: D V j s 11 ( 1 9 3 3 ) , S. 3 2 9 - 3 3 9 , bes. S. 3 3 8 .

10

Vgl. die zusammenfassende Darstellung bei Franz B ö h m , Ontologie der Geschichte. (Heidelberger Abhandlungen zur Philosophie und ihrer Geschichte, Bd. 2 5 . ) T ü b i n gen 1 9 3 3 , S . 7 8 f f .

5

der Geschichtswissenschaft fruchtbar zu machen, ohne jedoch die mit dieser Vorstellung einer konstruktiven Synthese verbundene theoretische Problematik richtig einschätzen zu können. Die akademische Philosophie und Psychologie der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts war in zahlreiche Schulen zerfallen, zwischen denen sich nur zögernd eine Annäherung ergab. Selbst Kompendien der zeitgenössischen Philosophie 11 konnten hier nur einen vagen Uberblick vermitteln oder lose Zusammenhänge herstellen. Mit der Forderung nach »einer Vereinigung phänomenologischer und kritizistischer Arbeitsweise« (KW 10/2, S. 121) formulierte Broch zwar ein wichtiges Anliegen der philosophischen und geisteswissenschaftlichen Theoriebildung im Umkreis des Neukantianismus, das aber in seiner Zeit kaum in Ansätzen und nur durch ein ausgedehntes Fachstudium zu verwirklichen war; 1 2 da ihm indes, ähnlich wie der in den zwanziger Jahren entstehenden Wissenssoziologie (Karl Mannheim, Alfred Schütz, Ludwik Fleck), vor allem an der Deutung von historischen Prozessen, Epocheneinheiten und Denkstilen gelegen war, für die die Erforschung von Handlungs- und Symbolisierungsvorgängen nur die Grundlage bilden sollte, blieb es bei den fragmentarischen Entwürfen der Frühschriften, auf die sich der Schriftsteller später in verschiedenen Zusammenhängen und oft in sehr verkürzter Form berufen sollte. Theoretische Orientierung konnten sie vielleicht gerade deshalb bieten, weil ihr summarischer Anspruch nur in der poetischen Überformung einlösbar erschien, Literatur und Philosophie für Broch nicht mehr voneinander zu trennen waren. Noch in einem Brief aus seinem letzten Lebensjahr schreibt er über seine philosophischen Anfänge: »Die in die >Schlafwandler< eingestreuten Bemerkungen sind [...] Ergebnisse eines ausgearbeiteten geschichtsphilosophischen Systems [...;] ich wäre froh, wenn ich dieses noch veröffentlichungsreif machen könnte, besonders da ich es - nicht zuletzt unter Husserls Einfluß - in vieler Hinsicht verschärfen möchte.« (KW 13/3, S. 532) Wobei er seine Hoffnung, »daß die Philosophie sich auf einem Weg der Unifikation befindet« (KW 13/3, S. 34), durch die Bemerkung ergänzt, daß diese neben dem neukantianischen und phänomenologischen auch den »positivistischen Standpunkt« einzuschließen hätte. Diese Notiz gibt einen versteckten Hinweis auf Brochs Auseinandersetzung mit dem Neopositivismus, den er während seiner Studienjahre an der

11

Vgl. die dreibändige Untersuchung von Heinrich Maier, Philosophie der Wirklichkeit. Tübingen 1 9 2 6 - 1 9 3 5. - Maier bezieht auch psychologische Ansätze in seine D a r stellung ein. Vgl. v o r allem die Einleitung zu B d . 1 : »Wahrheit und Wirklichkeit< (1926), S. 1 - 9 1 .

"

Vgl. Eugen Fink, Die phänomenologische Philosophie E d m u n d Husserls in der gegenwärtigen Kritik. In: Kantstudien 38 ( 1 9 3 3 ) , S. 3 2 1 - 3 8 3 sowie den Hinweis Brochs auf diesen Text K W 1 3 / 3 , S. 3 3 . - V g l . auch Dieter Henrich, Ü b e r die Grundlagen von Husserls Kritik der philosophischen Tradition. In: Philosophische Rundschau 6 (1958), S. 1 - 2 6 , bes. S. 2f.

6

Wiener Universität (192 5-1930) kennengelernt hatte. Zu seinen Lehrern gehörten hier die Philosophen und Mathematiker des »Wiener Kreises«, vor allem Moritz Schlick und Rudolf Carnap.'J Der Einfluß, den diese Begegnung auf sein Denken ausgeübt hat, läßt sich nur schwer einschätzen; markanter erscheinen ihre biographischen Folgen, denn in diese Zeit fällt die Entscheidung Brochs für die Literatur und gegen eine akademische Laufbahn, die er mit seinem Philosophiestudium ursprünglich hatte einschlagen wollen. Man ist versucht, in der radikalen Metaphysikkritik des Wiener Kreises einen Grund für diesen Schritt zu erkennen, vor allem deshalb, weil Broch in seinen in den dreißiger Jahren entstandenen Essays wiederholt auf das Dilemma einer empirisch-logistischen Philosophie hingewiesen hat, welche mit der überkommenen Ethik und Metaphysik auch die eigentlichen Grundfragen des menschlichen Daseins als wissenschaftlich sinnlos aus ihrem Forschungsbereich ausgeschlossen und den Künsten zur Erfüllung »metaphysischer Bedürfnisse« überantwortet hat. Die Verwissenschaftlichung der Philosophie stellt eine notwendige Entwicklung dar, in deren Folge auch die Literatur neue Bedeutung erhält, nicht als Refugium des Irrationalen, sondern als Medium eines sich selbst verantwortlichen philosophischen Denkens - so lautet das Argument, mit dem Broch in seinen literaturtheoretischen Abhandlungen die in der Programmschrift des Wiener Kreises (»Wissenschaftliche Weltauffassung - der Wiener KreisLogikBegriffsschrift< (1879). Die erste Auflage von Carnaps »Einführung in die symbolische Logik< erschien unter dem Titel >Abriß der Logistik< 1929 in Wien.

14

M o r i t z Schlick, Fragen der Ethik (1930). H g . v. Rainer Hegselmann. Frankfurt/M. 1984, S. 131.

7

äußerst differenziert betrachtet wurde. 1 ' Inzwischen sind einige der vom Wiener Kreis als »sinnleer« verworfenen Problemstellungen reformuliert worden, sowohl im Bereich der Ethik 16 als auch in der mit »abstrakten Gegenständen« befaßten mathematischen Grundlagenforschung, Semantik und Ontologie.17 Die Entwicklung einzelner Fragestellungen und ihre (Wieder-) Aufnahme in der gegenwärtigen Theoriebildung konnten im folgenden jeweils nur angedeutet werden, Aktualisierungen mußten hinter die Darstellung der historischen Zusammenhänge zurücktreten. In den beiden ersten Kapiteln der Untersuchung, die dem philosophischen Frühwerk Brochs gewidmet sind, wurde auf einen möglichst geschlossenen Gedankengang Wert gelegt. Unter den als Quellen nachweisbaren Schriften sind diejenigen ausgewählt worden, die bei der begrifflichen und systematischen Analyse der in sich heterogenen und oft mißverständlichen Aufzeichnungen des Autors den deutlichsten Aufschluß über den Gesamtkontext geben. Was sich aus den zunächst nur undeutlichen Umrissen als Entwurf einer formalen Wert- und Geschichtsphilosophie rekonstruieren läßt, stellt für Broch - ein im 20. Jahrhundert nahezu einmaliger Vorgang - die Basis seiner ästhetischen und literaturtheoretischen Reflexionen dar, auf der die elementaren Fragestellungen der Kunst, ihr Verhältnis zur (gesellschaftlichen) Wirklichkeit und deren ästhetische Wahrnehmung, erörtert werden. Inwieweit eine solche Kunsttheorie der Situation des avantgardistischen Romans in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gerecht zu werden vermag, muß als Frage zunächst offen bleiben; in ihrer Grundintention scheint sie sich jedenfalls mit einem idealistischen Bildungsan-

''

Die Sätze zur Ethik in L u d w i g Wittgensteins >Tractatus logico-philosophicus< ( 1 9 2 1 ) bezeugen die Unsicherheit nicht nur der Zeitgenossen gegenüber den wertphilosophischen Theoremen. S o ist mit B e z u g auf den >Viennese contextTractatus< entstand, Wittgensteins »radical separation of facts from values« als quasi-platonischer Standpunkt beschrieben worden, vergleichbar jenem von Schlick kritisierten Wertabsolutismus neukantianischer oder phänomenologischer Prägung. Vgl. Allan Janik/Stephen Toulmin, Wittgenstein's Vienna. N e w York 1 9 7 3 , S. 1 9 7 sowie die kritische Entgegnung von Ulrich Steinvorth, Wittgenstein, L o o s und Karl Kraus. In : Zeitschrift für philosophische Forschung 33 (1979), S. 7 4 - 8 9 , bes. S. 82. - D e r von Janik/ Toulmin rekonstruierte geistesgeschichtliche Zusammenhang zwischen der Entstehung des >Tractatus< und wichtigen kulturellen Bewegungen im Wien der Jahrhundertwende ist auch für das Verständnis der Brochschen Wertphilosophie hilfreich, vor allem die Hinweise zu dem Literatenkreis um L u d w i g von Ficker, dem Herausgeber des >BrennerKatastrophe< des Ersten Weltkriegs und ihre weit zurückreichenden Ursachen zu erklären. Die literarische Darstellung wird für ihn zu einem Instrument, mit dem sich die Auflösungserscheinungen der Vorkriegsgesellschaft genauer als in den weitverbreiteten »typologischen« Beschreibungen der Kultur- und Geisteswissenschaften, die einen vergleichbaren Anspruch erheben, erfassen lassen. Die Welterfahrungen sollen in ihrer Pluralität zur Sprache gebracht werden, noch in ihren subjektivsten Formen. Denn im menschlichen Erleben bleibt stets ein Motivationsrest, ein »irrationaler« Faktor des Handelns erhalten, dessen anomische Kraft allein die Dichtung begreifbar machen kann. Die in dem Grenzbereich zu verschiedenen Wissenschaften erworbenen Kenntnisse werden diesem Feld immanenter Erklärungsmöglichkeiten der Literatur nur zu-, nicht übergeordnet. Und ähnlich tritt auch der Wertbegriff in den Dienst einer materialen Geschichtsphilosophie, die der Roman in seinen epochenübergreifenden, dabei motivisch eng verklammerten Schilderungen entwirft. Broch hat sie im Sinne geläufiger 9

Säkularisierungsvorstellungen als eine Verfallsgeschichte verstanden, die, anders als in dem romantisch-rückwärtsgewandten Verlustdenken vieler seiner Zeitgenossen, ihr Ziel im offenen Horizont einer neuen Ethik findet, freilich nur als Appell formuliert und metaphorisch verschlüsselt in einem »Epilog«, mit dem die Romantrilogie schließt: das incipit vita nova der expressionistischen Manifeste steht am Schluß einer Chronik des Verfalls, die nur noch eine vage Hoffnung auf die Zukunft zuläßt - man schreibt das Jahr 193 2. Für die um ein historisch gesichertes Verständnis des literarischen Frühwerks bemühte Interpretation ergibt sich die Notwendigkeit, strukturelle Merkmale und Rekurrenzen der Brochschen Gedanken- und Argumentationsfolgen herauszuarbeiten. In den Kapiteln III und IV wird ein solcher Versuch unternommen. Die wiederkehrende Verwendung bestimmter Theoreme in verschiedenen Texttypen - den Exkursen im Roman, dem literaturtheoretischen Essay, dem Brief - zeigt, daß die Darstellungsform dem dargestellten Sachverhalt nachgeordnet ist. Es versteht sich dabei von selbst, daß die Intention des Autors nicht zum Maßstab der philologischen Textexegese erhoben werden darf; es muß aber ebenso deutlich darauf hingewiesen werden, daß eine nur an der Eigenlogik des künstlerischen Verfahrens interessierte Forschung in der Gefahr steht, eine wesentliche Dimension des Romans aus ihrer Betrachtung auszublenden: seinen zeitbezogenen Inhalt. Nun ist über das Verhältnis der Exkurse zur Romanhandlung bereits viel geschrieben und mit Recht immer wieder darauf aufmerksam gemacht worden, daß die theoretischen Einsprengsel selbst nur ein Teil des Romans sind und daß sie ebensowenig wie die Kommentare Brochs als alleiniger Schlüssel der Interpretation gelten dürfen, soll eine zirkuläre Erklärung vermieden werden. Dem Gedanklichen der Exkurse ist man damit nicht gerecht geworden. Läßt sich das Konstruktionsprinzip des Romans nicht doch von der »theoretischen« Erzählebene her erschließen? Broch wollte mit der Trilogie einen literarischen Beitrag zu der in den zwanziger Jahren bedeutsam gewordenen geschichtsphilosophischen Debatte leisten. Wie dieser einzuschätzen ist, läßt sich nur im Blick über den Roman hinaus feststellen. Dabei kann auf eine Reihe sehr sorgfältiger Einzeluntersuchungen zu den >Schlafwandlern< zurückgegriffen werden. Die immanente Interpretation des Romans ist von der Brochforschung mit hohem wissenschaftlichen Anspruch betrieben worden, die vorliegenden Untersuchungen zur Erzähltechnik, Figurenkonstellation und Motiventfaltung können der stärker historisch orientierten Forschung eine sichere Grundlage geben. Im folgenden soll daher vor allem unbekanntes oder bei der Interpretation bisher vernachlässigtes Material herangezogen werden, das zu ergänzenden und zum Teil sehr speziellen Fragestellungen herausfordert, mit denen einer neuen Gesamtinterpretation des Romas vorgearbeitet werden kann. Die literarische Moderne läßt sich in ihren Ambivalenzen nicht durch nachträgliche Abstraktionen, seien sie nun primär ästhetischer oder politischer 10

Natur, zureichend beschreiben. Allein detaillierte

Einzeluntersuchungen

können die scheinbaren Widersprüche und die Vielzahl der >Diskurse< erklären, die das Werk eines Schriftstellers der späten zwanziger Jahre durchziehen. Die Ergebnisse der Quellenforschung ermöglichen den Aufbau einer distanzierten Begriffssprache, die der Interpretation des literarischen Werkes, in diesem Fall der >SchlafwandlerPositivismus< (bzw. was es dafür hält) erringt, verkennt [...], daß der pragmatisch motivierte Anspruch, Leitlinien zur Erfassung der Wirklichkeit zu erstellen, im Internalismus durch das Bemühen ersetzt wird, in sich logisch widerspruchsfreie Regelsysteme zu schaffen, deren »paradigmatisch« konzipierte Anwendbarkeit auf empirische Befunde der Komplexität historischen Erkennens, als einer >Archäologie des Wissenshabet nondum sua principia< - die Formalisierung sei noch nicht genügend fortgeschritten; aber nach Erreichen dieses Stadiums sei die Lösung aller Anwendungsprobleme nur noch Formsache, w o f ü r die empirische Arbeit schon die notwendigen Handlangerdienste leisten werde.« Vgl. auch Karl Eibl, Z u r Funktion hermeneutischer Verfahren innerhalb der Forschungslogik einer empirisch-theoretischen Literaturwissenschaft. In: Studien zur Entwicklung einer materialen Hermeneutik. H g . v. Ulrich Nassen. München 1979, S. 48-61, bes. S. 50. Bedingt durch eine zunehmende »Verknappung der Ressource Sinn«, wie sie sich angesichts der neuen Welle gegenaufklärerischen Denkens konstatieren läßt.

II

hergehe. Max Weber hat beide Motive in seiner These von der Entwicklung der okzidentalen Gesellschaft zusammengefaßt, ohne allerdings die mit der Kategorie der Säkularisierung üblicherweise verbundene Behauptung einer objektiven Kulturschuld (Hans Blumenberg) zu akzeptieren. In seiner betont neutralen Analyse des Rationalisierungsprozesses weist er auf ganz andere Gefahren der unausweichlichen kulturellen Entwicklung hin. Denn je »reiner sich die technisch-wissenschaftliche Zivilisation in ihrer Eigengesetzlichkeit durchsetzt, desto stärker wird der reaktive Wunsch, ihrer Immanenz durch Selbstverpflichtung auf Ziele zu entkommen, die ihr transzendent sind. Im Gegensatz zur inneren Widerspruchsfreiheit des Systems der technisch-wissenschaftlichen Vernunft bilden aber diese Ziele in ihrer Pluralität ein Chaos vermittlungsunfähiger, weil weltanschaulich totaler Gegensätze.« Weber formuliert diese Einsicht auf dem »Hintergrund der Erfahrung, daß im Ersten Weltkrieg die politischen Fronten sich als weltanschauliche Fronten bereits zu interpretieren und zu formieren begonnen hatten [.. .].«2° Dieselbe Erfahrung wird Broch in seiner Romantrilogie literarisch zu gestalten versuchen. Die Vorkriegsgesellschaft (1888-1918) und der in ihr aufbrechende »Widerstreit von Wertgebieten« (Sechster Exkurs; KW 1, S. 498) werden zu einem Studienobjekt bildhafter Ausdrucksmöglichkeiten. Broch weiß sich dabei in der Beurteilung der im Ersten Weltkrieg sichtbar gewordenen »Krisenerscheinungen« mit zahlreichen Schriftstellern einig, so wie er die Vorstellung einer umfassenden Säkularisierung mit der Wissenschaft der zwanziger Jahre teilt; sie findet sich in einer gewissen Schematik sowohl im Spätwerk Sigmund Freuds und Edmund Husserls als auch - mit einem unterschiedlich stark akzentuierten Antimodernismus — bei Karl Jaspers und Karl Mannheim sowie historisch fundierter bei Max Weber und Ernst Troeltsch, um nur einige Beispiele herauszugreifen. In der historischen Rückschau ist man geneigt, das intellektuelle Feld< der zwanziger Jahre anhand wissenschaftlich prominenter oder politisch extremer Autoren zu vermessen, ohne - wie im Fall Brochs - die Bedeutung konkurrierender Theorieansätze wahrzunehmen. Dabei wären in der Typologie des geschichtsphilosophischen Denkens oft überraschende Ubereinstimmungen zwischen den verschiedensten geistigen Bewegungen festzustellen. Kaum einer der Intellektuellen der Weimarer Zeit zweifelte daran, in einer Phase des kulturellen »Umbruchs« zu leben, der durch den Prozeß der Säkularisierung, der »Entzauberung« der Welt durch Wissenschaft bedingt sei. Dieser historische Wandlungsprozeß wird heute wesentlich undramatischer gedeutet, ihm fehlt die teleologische Position des Betrachters. Und ähnlich sind auch die beiden zentralen Motive der Kulturkritik des Jahrhundertanfangs durch die neuere sozialwissenschaftliche Forschung >entmythologisiert< worden: zwi20

12

Hermann Lübbe, Säkularisierung. Geschichte eines ideenpolitischen Begriffs. Freiburg/München 1965, S. 70.

sehen der Säkularisierung der Weltbilder und dem Prozeß der gesellschaftlichen Modernisierung besteht zwar ein struktureller, nicht aber ein ursächlicher Zusammenhang, der die Fragen der Wertorientierung und des Wertverlustes in der Neuzeit entwicklungsgeschichtlich erklären könnte. 21 Die Literatur wird dadurch kaum berührt. Von einem Scheitern der Brochschen Geschichtsphilosophie läßt sich ja nur insofern sprechen, als der Roman als ein Beitrag zur kulturkritischen Debatte der zwanziger Jahre verstanden werden wollte, für die er heute ein literarisches Zeugnis darstellt. Es wäre überdies ein sehr exemplarisches Scheitern, dessen Grund sich letztlich nur paradox formulieren läßt: Brochs Vertrauen in das Vernunftpotential der bürgerlichen Kultur erweist sich als illusionär, da mit dem Verweis auf eine ontologisch-universalistische Wertreflexion dem Prozeß ihrer fortschreitenden Selbstzerstörung allein die Hoffnung auf eine neue gesellschaftsverpflichtende Ethik entgegengesetzt wird. Dieser offene und nur als Frage zu deutende Standort in der Moderne sollte bereits kurze Zeit später eine Revision verlangen. Ihren Ausdruck fand sie in dem Projekt einer Massenpsychologie·, die einen streng methodischen, wertphilosophisch begründeten Aufbau haben sollte. 22 Die Grundlage für diese Arbeiten hatte sich Broch in der Auseinan-

21

22

Vgl. Richard Münch, Theorie des Handelns. Zur Rekonstruktion der Beiträge von Talcott Parsons, Emile Durkheim und Max Weber. Frankfurt/M. 1982, bes. S. 49zff. : »Religiöse Ideen waren nie als solche und schon gar nicht als Produkte von Intellektuellen die Basis der Verbindlichkeit eines Wertsystems.« (S. 496) Unter dem Eindruck der politischen Ereignisse gab es in den vierziger Jahren verschiedene Versuche, die massenpsychologische Forschung zu intensivieren, auch bei den Mitgliedern des ehemaligen Frankfurter Instituts für Sozialforschung. Damit verbunden war jedoch eine äußerst pessimistische Einschätzung der eigenen kulturellen Situation. In der »Dialektik der Aufklärung< (1944), ihrem »schwärzesten Buch« (Jürgen Habermas), haben sich Max Horkheimer und Theodor W. Adorno weit von den interdisziplinären Studien des Frankfurter Institutes entfernt, die ähnlich wie zahlreiche literarische Entwürfe in den zwanziger und dreißiger Jahren - von der Hoffnung auf die immanente Kraft bürgerlich-aufklärerischen Denkens und seiner Freisetzung im sozialen Prozeß geprägt waren. In dem Kulturindustrie überschriebenen Abschnitt der »Dialektik der Aufklärung< heißt es dagegen mit deutlichem Bezug auf jene oben genannten Kategorien bürgerlicher Kulturkritik: »Die soziologische Meinung, daß der Verlust des Halts in der objektiven Religion, die Auflösung der letzten vorkapitalistischen Residuen, die technische und soziale Differenzierung und das Spezialistentum in kulturelles Chaos übergegangen sei, wird alltäglich Lügen gestraft. Kultur heute schlägt alles mit Ähnlichkeit.« Dieses Verdikt trifft nicht allein das kulturkritische Räsonnement der zwanziger Jahre; die Resignation über das Versagen der eigenen normativen Annahmen ist ebenso deutlich spürbar, die kritische Gesellschaftstheorie kann sich ihrer Grundlagen nicht mehr in geschichtlicher Reflexion versichern. Vgl. hierzu Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft. Frankfurt/M. 1981, S. j6of.; Ders., Die Verschlingung von Mythos und Aufklärung. Bemerkungen zur Dialektik der Aufklärung - nach einer erneuten Lektüre. In: IJ

dersetzung mit dem Neukantianismus geschaffen. Diese frühen Studien sollten ihren bestimmenden Einfluß auf das Denken des poeta doctus behalten. Sie bestimmen auch den Rahmen, in dem die Frage nach der historischen Stellung des Autors beantwortet werden kann.

Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion. Hg. v. Karl Heinz Bohrer. Frankfurt/M. 1983, S. 405-431. - Der spekulative Charakter jener kulturkritisch motivierten Geschichtsphilosophien der 20er und 30er Jahre ließ sie selbst bald >historisch< erscheinen, einen empirischen Zugang zu den massenkulturellen Phänomenen fanden sie nur selten, selbst dort nicht, wo ein solcher, wie in Brochs Massenwahntheorie, ausdrücklich intendiert war. Ihre theoretischen Überlegungen scheinen jedoch so bedenkenswert wie die Fragen, von denen sie ausgingen und die in der Wissenschaft seither konsequent ignoriert worden sind. H

I. Philosophie als Theorie der Kulturwissenschaften Brochs epistemologische Studien als Grundlage seines werttheoretischen und ästhetischen Denkens (1914-1918)

Die philosophischen Abhandlungen Hermann Brochs fordern von dem heutigen Leser nicht nur Geduld. Es sind bestimmte philosophiehistorische Kenntnisse erforderlich, ohne die ein adäquates Verständnis der sehr stark von der Zeitdiskussion abhängigen Schriften nicht herzustellen ist. Solche Rekonstruktionen stehen in der Gefahr, beliebig, nicht selten sogar ermüdend zu wirken. Erfahrungsgemäß fällt ja die historische Berichterstattung um so leichter, je genauer und umfassender das vorgegebene Material dokumentiert werden kann. In der folgenden Darstellung sollen Weitschweifigkeiten vermieden werden. Anhand einer frühen Veröffentlichung Brochs, die unter dem programmatischen Titel Zum Begriff der Geisteswissenschaften 1917 in der von Franz Blei herausgegebenen Kulturzeitschrift >Summa< erschienen ist, kann gezeigt werden, von welchen Fragen der Autor ausging und wie er die Grundlagen seines werttheoretischen Denkens systematisch zu bestimmen versuchte. Es entsteht die Momentaufnahme eines Orientierungsversuches, der zugleich den Beginn eines offenen Denkprozesses bezeichnet, welcher sich über mehrere Stufen verfolgen lassen wird, bis hin zur Wertphilosophie im Roman und dem Problem ihrer epischen Integration. Die rein methodologischen Studien, wie sie im folgenden beschrieben werden, sind von Broch in späteren Jahren nicht fortgesetzt und nur selten ausdrücklich zitiert worden. Für den allein an seiner Wertphilosophie interessierten Leser sind sie deshalb von eher geringem Interesse - hier empfiehlt es sich, die Lektüre mit dem zweiten Kapitel zu beginnen - , da die detailgenauen Analysen vor allem dazu beitragen wollen, in dem Streit um die >Philosophie< des poeta doctus formale und inhaltliche Kriterien für eine sachliche Beurteilung bereitzustellen, nachdem die in begriffsloser Identifikation oder ideologiekritischem Ressentiment befangenen Forschungsansätze nur vage Vorstellungen von der historischen Situation zu vermitteln vermochten, auf die sich Broch in seinem Philosophieren bezieht. Der Autor leitet seinen >Summaobjektiven< Geschichte« mit wissenschaftstheoretischen Analysen und Forderungen verbunden: »Der w i s s e n s c h a f t l i c h e Charakter der Geschichte ist allein in der Art, wie sie ihre oft unanschaulichen B e g r i f f e bildet, zu finden, und nur von dem Gesichtspunkt aus, wie sie die Anschauung in Begriffe umsetzt, kann sie logisch verstanden werden. Das formale Prinzip der Geschichte, das sie zur Wissenschaft macht, hat also mit den Prinzipien der künstlerischen Gestaltung nichts zu tun und kann auch nie der bloßen Anschauung entnommen werden.«* Damit wird ein oft zitiertes Grundprinzip historistischer Geschichtsschreibung, daß »die historische Objektivität in einer bloßen Wiedergabe der Tatsachen ohne ein leitendes Prinzip der Auswahl« zu bestehen habe, ausdrücklich abgelehnt. Die Kritik der positivistischen Methode führt bei Broch über den Bereich des Histori-

1

Reinhart Koselleck, Terror und Traum. Methodologische Anmerkungen zu Zeiterfahrungen im Dritten Reich. In: Koselleck, Vergangene Z u k u n f t . Z u r Semantik geschichtlicher Zeiten. F r a n k f u r t / M . (2. A u f l . ) 1984, S. 2 7 8 - 2 9 9 , hier S. 281 ; vgl. auch Dietrich Harth, Rankes ästhetischer Sinn. In: Literaturmagazin 6: Die Literatur und die Wissenschaften. H g . v. Nicolas B o r n und H e i n z Schlaffer. Reinbek 1976, S. $ 8 - 6 9 . - Z u r gegenwärtigen Diskussion über die Frage vgl. Jürgen Kocka u. T h o m a s N i p p e r d e y (Hg.), Theorie und Erzählung in der Geschichte. Beiträge zur Historik B d . 3. München 1979.

2

Vgl. Rainer P r e w o , M a x Webers Wissenschaftsprogramm. Versuch einer methodischen Neuerschließung. Frankfurt/M. 1979, S. 26.

>

Ernst H o f f m a n n , Ü b e r die Problematik der philosophiegeschichtlichen Methode. In: Theoria j ( 1 9 3 7 ) , S. 3 - 3 8 , hier S. 19.

4

^Heinrich Rickert. Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft. Tübingen (4. u. 5. A u f l . ) 1921, S. 88 u. 95.

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sehen hinaus zu einer generellen Beurteilung des Positivismus als philosophisches System, dem zweiten Problemkreis, den er einleitend streift: b) Diltheys Bekenntnis zur positivistischen Methode gibt Anlaß zu der Frage, »wann positivistische Kulturwissenschaft den Charakter reiner Philosophie und deren Geltungswert besitzen könne.« ( K W i o / i , S. 116) Drei Besonderheiten der Formulierung sollten beachtet werden: Broch fragt nicht, dem Kontext entsprechend, nach der Diltheyschen Unterscheidung von »Natur-« und »Geisteswissenschaften«, sondern nach dem von Rickert eingeführten und differenzierter gebrauchten Terminus der »Kulturwissenschaften«; mit dem Begriff der »reinen Philosophie« und dem Neologismus des »reinen Geltungswerts«' reflektiert Broch zwei von der neukantianischen Wissenschaftstheorie an die Philosophie seiner Zeit gestellte Forderungen. Die Art der Fragestellung führt dabei notwendig auf ein drittes Problem: c) Da Broch die Unterlegenheit des Positivismus gegenüber der »reinen Philosophie« voraussetzt, bleibt es unerklärlich, wie »Diltheys Leistung trotz der positivistischen Methode erreicht werden« konnte (ebd.), es sei denn, man erbringt den Nachweis - und diese Möglichkeit wird implizit angedeutet - , daß es auch in der Wissenschaftstheorie möglich ist, Ausnahmen von der zuvor behaupteten strengen Methodenlehre zuzulassen. Dem eigentlichen Beginn der Untersuchung wird nochmals, wohl zur Einstimmung des Lesers, die Behauptung vorangestellt, »daß der Positivismus als solcher das langweiligste philosophische System darstelle«, wofür »nicht neuerdings der Nachweis zu führen« sei. Was folgt, ist eben dieser Nachweis. Die rhetorische Figur kann bei einem 1917 in einer kulturkritischen Zeitschrift erschienenen Text nicht weiter überraschen. Der Sprachgestus der persuasio bleibt jedoch Ausnahme, er wird bis zum Schluß der Untersuchung nicht mehr bemüht, womit nicht gesagt sein soll, daß die Argumentation streng diskursiv verläuft; Ubergänge und Verbindungen werden oft assoziativ hergestellt, was zu logischen Unstimmigkeiten führt. Gleich zu Beginn stellt Broch dem Positivismus, wozu er auch die »phänomenologischen Strebungen« zählt, die »kritische Frage«, »ob der jeweilige ontische Inhalt logisch möglich sein könne«, denn »nur in dieser logischen Ermöglichung« sei die »wissenschaftli5

Die Begriffe »Wert« und »Geltung« werden im Kontext der Rickertschen Philosophie in Kapitel II/3 näher erläutert. - Z u m Gesamtzusammenhang vgl. Helmut Kuhn, Anthropologie Bd. 7 (Philosophische Anthropologie II). H g . v. H . - G . G a d a mer u. P. Vogler. Stuttgart 1 9 7 5 , S. 3 4 } f f . ; A l w i n Diemer, Die Differenzierung der Wissenschaften in die Natur- und die Geisteswissenschaften und die Begründung der Geisteswissenschaften als Wissenschaft. In: Beiträge zur Entwicklung der W i s senschaftstheorie im 19. Jahrhundert. H g . v. A . Diemer. Meisenheim a.G. 1968, S. 1 7 4 - 2 2 4 , bes. S. 191. - Z u r Tradition des Gegensatzes vgl. Isaiah Berlin, Die Trennung der N a t u r - und Geisteswissenschaften. In: Berlin, Wider das Geläufige. A u f sätze zur Ideengeschichte. H g . v. H . Hardy. Frankfurt/M. 1982, S. 1 5 8 - 1 9 5 .

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che Gültigkeit des Positivistischen gelegen [ . . . ] . « ( 117) Wenig später gibt Broch eine Erläuterung des zentralen Begriffs der Wissenschaftlichkeit

und rekurriert

dabei auf Husserl, den zuvor das Verdikt des »Positivistischen« getroffen hatte : Begreifen wir - und damit nehmen wir auch Kants Satz von der Voraussetzung des Begriffes auf - , daß Wissenschaftlichkeit, identifiziert mit rein-logischer Abstraktion und Deduktion, stets nur die logischen Möglichkeiten ontologischer Setzungen, niemals diese selber, also niemals >Wirklichkeit< geben kann, oder, um mit Husserl zu sprechen, daß sie Erkenntnis aus dem (logischen) >GrundeWissenschaftlichkeit< als sie methodische Deduktion, das heißt kritische Analysierbarkeit ihres Gesamt-Begriffes, also ihrer >Axiomatik< zur Sicherung und logischen Ermöglichung ihrer ontologischen Einzelurteile enthalten kann. (S. u8f.) Im Kommentar zur Werkausgabe wird auf den ersten Band der >Logischen Untersuchungen Husserls verwiesen, 6 w o im achten Kapitel das AxiomenProblem behandelt wird; in den Prolegomena ist allerdings nur von der axiomatischen Deduktion im Bereich der »reinen Logik« (mit ihren formal-logischen Begriffen und formal-ontologischen Kategorien) die Rede, während Brochs Ableitung offensichtlich die von Husserl im zweiten Band der l o g i schen Untersuchungen (III/Kap. 1, § 11) und in den >Ideen< (§ 10) getroffene Unterscheidung zwischen der »formalen« und der »materialen Region« und ihren Kategorien voraussetzt. Daß Broch im Anschluß an die Beschreibung der axiomatischen Deduktion die »Diallele« als das grundsätzliche Problem jeder induktiven Schlußweise kritisiert, läßt dagegen an Husserls Argumentation in den Prolegomena denken, w o sich aus dem Aufweis des »reflektiven Zirkels« die Notwendigkeit der Annahme oberster Prämissen ergibt: Die Unzuträglichkeit besteht, wenn wir auf den Grund gehen, darin, daß Sätze, welche sich auf die bloße Form beziehen (das ist auf die begrifflichen Elemente wissenschaftlicher Theorie als solcher), erschlossen werden sollen aus Sätzen eines ganz heterogenen Gehalts. Es ist nun klar, daß die Unzuträglichkeit bei primitiven Grundsätzen, wie dem Satz vom Widerspruch, modus ponens u. dgl., insofern zum Zirkel wird, als die Ableitung dieser Sätze sie selbst in den einzelnen Herleitungsschritten voraussetzen würde - nicht in der Weise von Prämissen, aber in der von Ableitungsprinzipien, ohne deren Gültigkeit die Ableitung Sinn und Gültigkeit verlieren würde. In dieser Hinsicht könnte man von einem r e f l e k t i v e n Z i r k e l sprechen, im Gegensatz zum gewöhnlichen oder direkten circulus in demonstrando, wo Prämissen und Schlußsätze ineinanderlaufen. Diesen Einwänden entgeht von allen Wissenschaften allein die reine Logik, weil ihre Prämissen nach dem, worauf sie sich gegenständlich beziehen, homogen sind den Schlußsätzen, die sie begründen. Sie entgeht dem Zirkel ferner dadurch, daß sie die Sätze, welche die jeweilige Deduktion als Prinzipien voraussetzt, in dieser selbst

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18

KW 10/1, S. 130, Anm. 9.

eben nicht beweist, und daß sie Sätze, welche jede Deduktion voraussetzt, überhaupt nicht beweist, sondern an die Spitze aller Deduktionen als Axiome hinstellt.7 Das »rein logische« Gebiet wird nicht verlassen; »die Subsumtion eines Individuellen« 8 - und darum handelt es sich bei Broch - spielt erst im zweiten Band der L U und in den >Ideen I< eine Rolle. D a Broch in Anlehnung an den »Phänomenologen« Husserl nicht von »ontologischen Urteilssystemen« (s. o.) spricht, kann es als sicher gelten, daß er die Beschreibung der axiomatischen Deduktion im »materialen« Bereich aus Husserls >Ideen< übernommen hat: Gehen wir von der formalen Ontologie (immer als der reinen Logik der vollen Extension bis zur mathesis universalis) aus, so ist sie, wie wir wissen, eidetische Wissenschaft vom Gegenstande überhaupt. Gegenstand ist in ihrem Sinne alles und jedes, und dafür können eben unendlich mannigfaltige, sich in die vielen Disziplinen der Mathesis verteilende Wahrheiten statuiert werden. Sie führen aber insgesamt zurück auf einen kleinen Bestand unmittelbarer oder >GrundAxiome< fungieren.' Broch übernimmt die Husserlschen Definitionen und stellt sie als Bedingung wissenschaftlich »gültiger« Argumentation der Untersuchung des induktiven Verfahrens voran, das er in seiner Widersprüchlichkeit beschreibt, um wieder auf die axiomatische Lösung zurückzukommen; es wird - in umgekehrter Reihenfolge - das Begründungsproblem eines Aussagen-Systems vorgeführt, das Hans Albert als »Münchhausen-Trilemma« beschrieben hat: Wenn man für alles eine Begründung verlangt, muß man auch für die Erkenntnisse, auf die man jeweils die zu begründende Auffassung - bzw. die betreffende AussagenMenge - zurückgeführt hat, wieder eine Begründung verlangen. Das führt zu einer Situation mit drei Alternativen, die alle drei unakzeptabel erscheinen, also [ . . . ] ι. einem infiniten Regreß, der durch die Notwendigkeit gegeben erscheint, in der Suche nach Gründen immer weiter zurückzugehen, der aber praktisch nicht durchzuführen ist und daher keine sichere Grundlage liefert; 2. einem logischen Zirkel in der Deduktion, der dadurch entsteht, daß man im Begründungsverfahren auf Aussagen zurückgreift, die vorher schon als begründungsbedürftig aufgetreten waren, und der, weil logisch fehlerhaft, ebenfalls zu keiner sicheren Grundlage führt; und schließlich: 3. einem Abbruch des Verfahrens an einem bestimmten Punkt, der zwar prinzipiell durchführbar erscheint, aber eine willkürliche Suspendierung des Prinzips der zureichenden Begründung involvieren würde. 10 7

'"Edmund Husserl, Logische Untersuchungen. Erster Band: Prolegomena zur reinen Logik. Hg. v. E. Holenstein (Husserliana Bd. 18). Den Haag 197$, S. Welche Ausgabe der >Logischen Untersuchungen (Sigle: L U ) Broch benutzt hat, ließ sich nicht feststellen. 8 '"Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Tübingen (4. Aufl.) 1980, S. 27. - Broch besaß die >Jahrbücher für Philosophie und phänomenologische Forschung< 1913-1916. s Ebd., S. 22. IO Hans Albert, Traktat über kritische Vernunft. Tübingen ^969, S. 13 (Hervorhebungen im Original wurden nicht berücksichtigt, F.V.).

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Broch entwickelt die dreiteilige Annahme in vergleichbarer Weise. Es ist anzunehmen, daß er dazu dieselbe Quelle benutzte wie später Karl Popper und seine Schüler: die Logik und Methodenlehre Jakob Friedrich Fries', die durch die Fries-Schule in mehreren Neudrucken, von denen Broch einige besaß, wieder zugänglich gemacht worden war; Broch kannte außerdem den wichtigsten Vertreter der älteren Fries-Schule, Ernst Friedrich Apelt, der sich um eine Ausarbeitung der >Theorie der Induktion< bemüht hatte.11 Eine 1911 erschienene Einleitung in die Friessche >ErkenntnislehreDie Wertwirklichkeit der Epoche< veröffentlichten Text um eine Ergänzung des >SummaInduktion< und >Deduktion< führten, keinen erheblichen Anteil mehr genommen. Sie mußte, sobald sie ihr eigenes Verfahren prüfte, begreifen, daß es sich hier um eine falsche und künstliche Trennung von Erkenntnisweisen und Erkenntniswegen handelt, die ihr beide schon

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21 22 23

H

Vgl. Wolfgang Stegmüller, Das Problem der Induktion: Humes Herausforderung und moderne Antworten, Darmstadt 1975, S. jf. ''Christoph Sigwart, Logik. Bd.2. Tübingen 1878, S. 376. Ebd., S. 383 u. 358. Vgl. John Losee, Wissenschaftstheorie. Eine historische Einführung. München 1977, bes. Kap. V I I - X .

in der Festsetzung ihres ursprünglichen Bestandes gleich unentbehrlich sind. « 24 Die starke Betonung des deduktiven Elements, wie sie sich bei Broch findet, kann aus den zu dieser Zeit im Zusammenhang mit der Kritik am Positivismus entstehenden Tendenzen zu einer »deduktivistischen« Wissenschaftstheorie erklärt werden, die sich in den Naturwissenschaften seit Liebig 25 und vor allem seit Pierre Duhems Schrift >La Théorie Physique, son objet et sa structure< (1906), in den Geschichtswissenschaften nach der »Uberwindung« des Historismus, also mit der methodologischen Kritik Ernst Troeltschs u.a. ausbildeten. Troeltsch bemerkt entsprechende Gedankengänge in der neukantianischen Geschichtsphilosophie, deren Theoriebildung von einem »System der Werte« abhängt, »das zwischen einer apriorischen Deduktion aus der autonomen Vernunft und einer Abstraktion aus dem realen Verlauf [der Geschichte] in der Schwebe bleibt [.. .].« 26 Die methodischen Schwierigkeiten der (Rickertschen) Wert- und Geschichtsphilosophie sind nur durch eine »dogmatische Setzung« zu bewältigen: der »Kern des Systems« wird durch »die Autonomie des pflichtmäßig zu bejahenden wissenschaftlichen Wahrheitswillens« des Forschers gebildet. Wie Troeltsch richtig erkennt, läßt sich mit einer so begründeten Methode Geschichte nur als Illustrationsmaterial für ein rationales System der Werte behandeln.2? (Vgl. auch Kap. II/4) Das offene Plädoyer für eine subjektivistische Lösung bleibt in jedem Fall fragwürdig, auch für Broch, der es an dieser Stelle vorzieht, das Begründungsproblem in veränderter Perspektive nochmals aufzugreifen.

2. D i e B e g r ü n d u n g wissenschaftlicher Sätze durch analytische / synthetische Urteile Mit der Skizze zur logischen Methodenlehre hatte Broch zeigen wollen, daß die Wahrheit einer wissenschaftlichen Aussage weder durch eine reduktionistische Letzt- noch durch eine konstruktivistische Erstbegründung gesichert werden kann, da die angenommenen Axiome in keinem Fall beweisbar sind. Das Problem bleibt im Rahmen einer Methodenlehre über das Gegen- oder Ineinander von Induktion und Deduktion unlösbar. Die Reflexion des Begründungsproblems an dieser Stelle einfach abzubrechen, was denkbar wäre, wurde für den Neukantianismus - Brochs Bezugs2

-
Kant-Studien< der Jahre 1914/15 zum Gegenstand einer philosophischen Debatte (zwischen August Messer, Bruno Bauch und Hans Pichler). Doch weitaus aktueller war für Broch sicher ein Aufsatz Arthur Lieberts (>Zu Wilhelm Diltheys Gesammelten SchriftenSummaKant-Studien< erschienen war. Liebert untersucht die Methodik der Geschichtsschreibung unter einem ähnlichen Aspekt wie Broch; es geht um das Werk Diltheys, das Fragment geblieben ist, gerade wegen der genialen Intuition des Autors, denn »auf seine Absicht und Fähigkeit eines möglichst unbegrenzten Nacherlebens [...] der geschichtlichen Vorgänge wird es zurückzuführen sein [...], daß sein Lebenswerk ein Torso geblieben ist.« *Kant-Studien 21 (1916) S. 427-437, hier S.432. - Die Torso-Metapher wurde sehr häufig zur Charakterisierung des Diltheyschen Werkes verwendet. Der Dilthey-Schüler Max Frischeisen-Köhler benutzt sie in einem Nachruf auf seinen Lehrer in der gleichen Weise wie Liebert und Broch zur Beschreibung des Geschichtswerkes als »künstlerischer Schöpfung«. Vgl. F.-K., >Wilhelm Dilthey als Philosopha In: "'Logos 3 (1912), S. 29-59, hier S. 58. 40

II. Entwürfe zu einer formalen Wert- und Geschichtsphilosophie. Von den Frühschriften (1914-1920) zu den Schlafwandler-Exkursen Die Situation der anthropologischen Wissenschaften an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert.

Eine Frage steht im Mittelpunkt der meisten Aufzeichnungen und Formulierungsversuche, die Broch in einem Heft, das er im Jahre 1914 zu führen begann 1 , notierte: wie ist historische Erkenntnis als Analyse der »Wertwirklichkeit« des handelnden Menschen denkbar? Durch die vorausgegangene Kritik am Intuitionismus der Diltheyschen Methode wird der Ubergang zu einer neuen, nun konstruktiven Problemstellung nachvollziehbar. Es geht um die methodologische Fundierung einer sinnverstehenden Geschichts- und Sozialwissenschaft, die ihren Ausgang beim Individuum zu nehmen hat, da hier, im Verhalten des einzelnen, alle für eine »Erkenntnistheorie« der Kultur und Gesellschaft wesentlichen Momente zu isolieren sind. Damit erreicht Broch das Zentrum einer Diskussion, die seit der Jahrhundertwende in zahlreichen, sich immer weiter differenzierenden Disziplinen der Wissenschaft vom menschlichen Denken und Handeln geführt wurde. Zumindest drei dieser Ansätze beanspruchen heute mehr als nur wissenschaftsgeschichtliches Interesse. Gemeint sind die wissenschaftliche Psychologie, und hier vor allem die Definition bzw. Abgrenzung ihrer Aufgaben gegenüber den parallel von der philosophischen Erkenntnistheorie beanspruchten Gebieten; die methodologische Grundlegung einer sinnverstehenden Geschichts- und Sozialwissenschaft und schließlich die Entwicklung einer phänomenologischen Soziologie, Handlungstheorie und Wissenssoziologie. Neben den Problemstellungen blieben auch die Namen einiger Wissenschaftler präsent, deren Werke noch immer als anregend, umstritten oder schlicht kanonisch gelten. Zu nennen wären hier Wilhelm Wundt, Max Weber, Edmund Husserl und Alfred Schütz oder, da die Namen einzelner Schulen vielleicht noch lebendiger sein dürften, die Experimentalpsychologie, Denkpsychologie, der Pragmatismus und Behaviorismus, die Gestalttheorie, geisteswissenschaftliche Psychologie und der Interaktionismus. Die wissenschaftliche Genealogie der einzelnen Richtungen spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle. Entscheidend ist, daß sie sich alle, oft in bewußter Gegnerschaft, an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert aus einem gemeinsamen Problembe'

Ms. uv. Y U L . Vgl. K W 10/2, S. 3o 5 f.

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wußtsein heraus entwickelten. Die Ablösung der Psychologie von der Philosophie und ihre Etablierung als eine »naturwissenschaftliche« Einzeldisziplin war dabei für das Selbstverständnis und die Selbsteinschätzung der Geisteswissenschaften von ganz entscheidender Bedeutung. Als 1913 die Trennung der Disziplinen auch äußerlich, durch die Forderung nach Einrichtung eigener Lehrstühle für »wissenschaftliche Psychologie« 2 , vollzogen schien, hatte die Philosophie längst einige der aktuellen psychologischen Problemstellungen - wie umgekehrt die Psychologie bestimmte philosophische Ansätze - als grundsätzlich wichtig erkannt und für die eigene Systembildung genutzt. Wilhelm Windelband rechtfertigte dies in der Einleitung zu seiner Habilitationsschrift (187j): »Denn welches auch die logischen Formen und die metaphysischen Inhaltsbestimmungen des Erkennens sein mögen, so ist das Erkennen selbst zunächst ein durchaus psychologischer Vorgang, dessen Grenzen, Werth und Berechtigung man füglich an seinen psychologischen Gründen und Zwecken prüfen muß.« 3 Wilhelm Dilthey hat diese Aufgabenstellung aus dem Bereich der Erkenntnistheorie herausgelöst und ins Geschichtliche übertragen, da - seiner Auffassung nach - in der Psychologie von historischen Methoden Gebrauch gemacht werde; seine Forderung, daß umgekehrt aber die Historie auf Psychologie zu gründen sei4, wurde am Ende des 19. Jahrhunderts, nachdem eine Phase vorwiegend experimenteller psychologischer Forschung nicht zu den erwarteten Ergebnissen geführt hatte, zum Leitgedanken der verstehenden Psychologie. Im Anschluß an Dilthey entwickelte sich so eine starke Gegenströmung zu der bis dahin dominierenden objektiven psychologischen Forschung; die verschiedenen Theorien über das >Verstehen aus Motiven< bildeten in der Folgezeit eine zweite wichtige Entwicklungslinie der neuen Wissenschaft. Sie behielt stets enge Berührung mit der zeitgenössischen Philosophie, wie bereits die Aufzählung der Namen ihrer wichtigsten Vertreter - Spranger, Simmel, Jaspers, Scheler, E. Stein' - belegt. Zu einem kritischen Berührungspunkt, darüberhinaus aber auch Schnittpunkt zahlreicher anderer Strömungen und Einflüsse, wurde der Neukantianismus beider Schulen. Während man die aktuellen Fragen der Geschichtswissenschaft in der südwestdeutschen Schule mit einer formalen Werttheorie, durch die sich eine Verbindung zwischen Geschichtsphilosophie und Erkenntnistheorie herstellen ließ, zu beantworten suchte, wurde gleichzeitig in der 1

Vgl. die Forderung der auf A b g r e n z u n g bedachten Philosophieprofessoren: '•''Logos 4 ( 1 9 1 3 ) , S. H j f .

3

'"'Wilhelm Windelband, U e b e r die Gewissheit der Erkenntnis. Eine psychologischerkenntnistheoretische Studie. Berlin 1 8 7 3 , S. 9.

*

Vgl. Wilhelm Hehlmann, Geschichte der Psychologie. Stuttgart (2. Aufl.) 1967, S. 2 5 2 .

'

Vgl. H e i n z M . Graumann, D a s Verstehen. Versuch einer historisch-kritischen Einleitung in die Phänomenologie des Verstehens. In : Heinrich Balmer (Hg.), Die Psychologie des 20. Jahrhunderts. B d . 1 : Die europäischeTradition. München 1976, S. 1 5 9 - 2 7 1 .

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Marburger Schule eine Psychologie »nach kritischer Methode« 6 entwickelt. Daß hier wichtige Anregungen der interdisziplinären Diskussion zwischen Psychologie, Logik, Erkenntnistheorie, Methodenlehre und Geschichtsphilosophie aufgenommen und verarbeitet, aber auch - was es besonders zu betonen gilt - weitergegeben wurden, ist heute, angesichts getrennter Disziplinen mit meist nur geringem Interesse an der eigenen Geschichte, nahezu vergessen. Mit einer Ausnahme: Der Einfluß der Rickertschen Philosophie auf die methodologischen Schriften Max Webers wird in der mittlerweile sehr umfangreichen Sekundärliteratur allgemein, wenn auch meist nur pauschal vermerkt.? Um eine Weiterentwicklung des Rickert-Weberschen Ansatzes hat sich in den 20er Jahren Alfred Schütz bemüht. Entscheidende Impulse erhielt er dabei von der Philosophie Henri Bergsons, wie sich anhand der vor kurzem publizierten Frühschriften nachweisen läßt. Die Phänomenologie Edmund Husserls, über deren Wirkungsgeschichte man bislang noch besser informiert ist als beispielsweise über die des Neukantianismus, hat demnach für die Begründung der Schützschen (Wissens-)Soziologie und Handlungstheorie erst später eine Rolle gespielt.8 Um an die gegenwärtige Bedeutung auch des letzten der drei genannten Ansätze zu erinnern, soll abschließend kurz auf die Theoriebildung in der Psychologie und ihre Stellung zur Tradition eingegangen werden. In einem 1975 erschienenen Aufsatz (»Psychological Explanations and Their Vicissitudesrichtig< ansah. Wir erklären die Handlung also dadurch, daß wir das >Kalkül< rekonstruieren, den Verlauf des praktischen Denkens, auf das der Handelnde sich beziehen würde, würden wir ihn bitten, sein Handeln selbst zu erklären. Damit macht man jedoch etwas grundsätzlich anderes, als wenn man das Vorkommen eines Ereignisses erklärt. [...] Die Tatsache, daß sich Psychologen heute sehr für >Bewußtheitbewußte, willensmäßige Kontrolle«, >Erwartung und Werttheorie« usw. interessieren, läßt vermuten, daß die Psychologie im Begriff ist, sich wieder der Untersuchung der >Seele< zuzuwenden. 11 Inwieweit dies mit den Überlegungen vergleichbar ist, die Broch in seinem Entwurf einer formalen Werttheorie zu entwickeln versucht und in einer ersten Fassung im vierten Band der >Summa< (1918) veröffentlichte, wird in den nächsten Abschnitten genauer auszuführen sein. Die wenigen Hinweise zur Theoriebildung und -entwicklung der H u m a n wissenschaften sollten deutlich gemacht haben, daß der Rekurs auf grundlegende Ansätze und Problemstellungen bestimmter Schulen der Jahrhundertwende von aktuellem Interesse sein kann. Die Ausbildung einzelner Disziplinen im Zwischenbereich von Psychologie, Soziologie und Kulturtheorie, die man im weitesten Sinn als anthropologische^

bezeichnen könnte, erfolgt in

den zwanziger Jahren parallel zu der Begründung einer modernen philosophischen Anthropologie. Wie es in den 20er Jahren zu dieser »anthropologischen Wende« 1 * kam, läßt sich durch die Entwicklung eben dieser Humanwissenschaften erklären: »Der Gedankenkreis der philosophischen Anthropologie 11

Vgl. hierzu Mischel, S. 143-180. Ebd., S. 176/179. "3 Vgl. Hermann Wein, Zur Integration der neuen Wissenschaften vom Menschen. In: H.W., Kentaurische Philosophie. Vorträge und Abhandlungen. München 1968, S. i8 4 ff. 14 M. Landmann, Philosophische Anthropologie, Berlin 2i9Ê4, S. 43. 12

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ist zwar so alt wie die Philosophie selber [...]; aber die eigentümliche Stellung dieser Disziplin zwischen Theorie und Empirie, abzulesen an ihrer Aufgabe, wissenschaftliche Resultate philosophisch zu interpretieren, erlaubt eine genaue Datierung: erst mußten sich die Wissenschaften vom Menschen, von der biologischen Anthropologie bis zur Psychologie und Soziologie, entwickelt haben, damit ein Bedürfnis nach theoretischer Deutung ihrer empirischen Ergebnisse auftrat.« 1 ' Andererseits zeigten sich die »anthropologischen« Einzelwissenschaften in ihrer methodologischen Reflexion vielfach abhängig von der Logik und Erkenntnistheorie der zeitgenössischen Philosophie. Auf die Beziehung Max Webers zu Rickert oder Alfred Schütz' zu Bergson wurde bereits hingewiesen; für die verstehende Psychologie - um wiederum nur diese drei repräsentativen Beispiele zu erwähnen - ließe sich ähnliches nachweisen, die Sozialpsychologie, Wissenssoziologie und verwandte theoretische Ansätze müßten in die Aufzählung einbezogen werden. Das kann an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden, da der Versuch einer auch nur annähernd vollständigen Zusammenfassung der verschiedenen Beiträge zur Diskussion um Mensch und Gesellschaft seit der Jahrhundertwende den Rahmen der Themenstellung weit überschreiten würde. Für die Mehrheit der genannten Ansätze dürfte jedoch zutreffen, was Arnold Gehlen im Rückblick auf die anthropologische Forschung des 20. Jahrhunderts als ihr »Schlüsselthema« bezeichnet hat: die Problematik des menschlichen Handelns. 16 Sie bestimmte bereits die gesamte »pragmatische« Philosophie des ausgehenden 19. Jahrhunderts, wie Helmuth Plessner im Vorwort zur zweiten Auflage seines anthropologischen Hauptwerkes betont. Bereits in der ersten Auflage der >Stufen des Organischem (1928) hatte Plessner die wissenschaftliche Situation umsichtig gedeutet und mit sicherem Unterscheidungsvermögen für das Wesentliche die Richtung der Forschung bestimmt: »Wissenschaftstheoretisch führt [...] die Frage der historischen und systematischen Kulturwissenschaften zu Problemen, deren Bearbeitung nicht einer andern Erfahrungsdisziplin, wie etwa der beschreibenden Psychologie, zusteht, sondern der Philosophie der menschlichen Existenz. Dem Problem der Möglichkeit naturwissenschaftlicher Erkenntnis entsteht so auf natürliche Weise, von der veränderten Situation einer um neue Forschungszweige bereicherten Zeit erzwungen, das Seitenstück der Frage nach der Möglichkeit geisteswissenschaftlicher Erkenntnis.« 17 Plessner kritisiert zwar in demselben Zusammenhang die dualistische Methodenlehre Rickerts und Windelbands, befindet 15

Jürgen Habermas, Philosophische Anthropologie. In: J . H . , Kultur und Kritik.

16

A r n o l d Gehlen, Anthropologische Forschung. Reinbek 1961, S. 17.

17

Helmuth Plessner, D i e Stufen des Organischen und der Mensch. (2. A u f l . ) Berlin

Frankfurt/M. (2. A u f l . ) 1977, S. 8 9 - 1 1 1 , hier S. 91 f.

1 9 7 $ , S. i j i . Vgl. auch Ders., Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes ( 1 9 2 3 ) . In: Plessner, Gesammelte Schriften Bd. III. Frankfurt/M. 1980, S. 7 - 3 1 5 .

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sich aber grundsätzlich, etwa in bezug auf den »Wertaspekt eines Sinn beanspruchenden Lebens«' 8 und dessen Bedeutung für die Erforschung von Kultur und Geschichte, in Ubereinstimmung mit dem Neukantianismus der südwestdeutschen Schule. Das bestätigt erneut die eingangs formulierte These, wonach dem Neukantianismus eine entscheidende Rolle als Vermittler in der zeitgenössischen Diskussion zugesprochen wurde. Indem er zahlreiche Einflüsse aufnahm und verschiedene humanwissenschaftliche Ansätze zu integrieren versuchte, schuf er die geeignete Grundlage für eine weiterwirkende Diskussion, die sich erst in den zwanziger Jahren in einzelne Fächer aufgliedern sollte. Eine oft nur immanent vorgetragene Kritik bewirkte, daß die verschiedenen Ansätze mehr und mehr voraussetzungslos diskutiert wurden, womit ihre gemeinsamen Quellen allmählich in Vergessenheit gerieten. Eben diese spielen in der folgenden Untersuchung eine zentrale Rolle, da sie die Voraussetzung und Grundlage auch des Brochschen Philosophierens bildeten. Von daher läßt es sich dann leicht erklären, warum Brochs fragmentarische Wert- und Geschichtsphilosophie eine an manchen Stellen überraschende Nähe zu den >klassischen< Entwürfen der modernen soziologischen und psychologischen Theorie zeigt. Da er für sein wert- und geschichtsphilosophisches System eine methodologische Basis suchte, fand Broch in der Philosophie seiner Zeit zu Ansatzpunkten, die auch für die allmählich sich entwickelnde Theoriebildung in den einzelnen Humanwissenschaften maßgeblich waren. Dem Tagebuch für Ea von Allesch läßt sich entnehmen, daß Broch - was in diesem Zusammenhang wichtig und aufschlußreich ist - seine Arbeiten in bewußter Konkurrenz zu gleichzeitig entstandenen geschichtsphilosophischen Werken schrieb, für die in den Kant-Studien ein eigenes Diskussionsforum eingerichtet worden war. 1 ? Und obwohl er diese Arbeiten nicht abgeschlossen hat oder wegen ihrer zu breiten Anlage gar nicht abschließen konnte, bilden sie aufgrund der genannten Voraussetzungen doch einen Teil der anthropologischen Diskussion ihrer Zeit; nicht qualitativ, aber intentional, nicht als wissenschaftlich exakte Untersuchung, aber als ein durchaus reflektierter Ansatz, sind Brochs Entwürfe mit den in den zwanziger Jahren sich ausbildenden soziologischen und psychologischen Theorien zu vergleichen. Um es zu wiederholen: Brochs philosophische Arbeiten erreichen nicht das wissenschaftliche Niveau dieser Einzeldisziplinen, sie sind aber in ihrem Ergebnis als ein Nebenzweig jener anthropologischen Diskussion zu betrachten, die zu einem wesentlichen Teil vom Neukantianismus und konkurrieren18

E b d . , S. 7 5 . Vgl. zu dem gesamten Fragenkomplex auch Karl-Siegbert Rehberg, Philosophische Anthropologie und die »Soziologisierung« des Wissens v o m Menschen. Einige Zusammenhänge zwischen einer philosophischen Denktradition und der Soziologie in Deutschland. In: K Z f S S . Sonderheft 23 (Soziologie in Deutschland und Österreich 1 9 1 8 - 1 9 4 5 ) . 1981. S. 1 6 0 - 1 9 8 . Vgl. Broch K W 1 3 / 1 , S.

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43ff.

den philosophischen Strömungen angeregt worden ist. Verfolgt man diesen Weg zurück, dann wird deutlich, was Broch mit dem Anspruch verband, einen erkenntnistheoretischen Roman zu schreiben und so der Literatur eine »kognitive Funktion« zu geben, die ihren Wert wiederum nur im Kreis der Humanwissenschaften hätte einlösen können. Dieser Anspruch erscheint heute fast absurd. In den zwanziger Jahren, als die Begründung bestimmter gesellschaftswissenschaftlicher Disziplinen gerade erst begonnen hatte und das Gespräch mit der Philosophie und anderen Geisteswissenschaften noch nicht abgerissen war, schien für Broch - und mit ihm anderen Schriftstellern seiner Generation die Möglichkeit noch gegeben, der Literatur als einer »Wissenschaft« vom Menschen neue Aufgaben zuzuweisen. So folgerichtig dieser Ubergang auch erscheinen mag, es bleibt zunächst vollkommen offen, wo die Verbindung zwischen den rein formalen wert- und geschichtsphilosophischen Studien und der Arbeit an dem großen zeitgeschichtlichen Roman zu suchen ist. Im Vorgriff soll deshalb an einem konkreten Beispiel gezeigt werden, wie Broch den selbstgestellten Anspruch eingelöst hat. In einer für die Verleger geschriebenen Information über die Anlage des Schlafwandler-Romans, dem sogenannten »methodologischen Prospekt«, hat Broch gleich zu Beginn das problematische Verhältnis von Literatur und Wissenschaft angesprochen: Der Besitzstand der Literatur zwischen dem >Nicht mehr< und dem >Noch nicht< der Wissenschaft ist [...] eingeschränkter, aber auch sicherer geworden und umfaßt den ganzen Bereich des irrationalen Erlebens und zwar in dem Grenzgebiet, in welchem das Irrationale als Tat in Erscheinung tritt und ausdrucksfähig und darstellbar wird. Es ergibt sich daraus die spezifische Aufgabe, aufzuweisen, wie das Traumhafte die Handlung bestimmt und wie auch das Geschehen immer wieder bereit ist, ins Traumhafte umzukippen. [...] Die Schlafwandler zeigen nun, daß diese Durchsetzung mit dem Traumhaften durchaus nicht dort zu suchen ist, wo das Leben im vorhinein irreal gedacht ist, sondern daß im Gegenteil mit dem Abbau alter Kulturfiktionen auch das Traumhafte immer freier wird und daß mit je krasserem realen Geschehen es um so deutlicher und ungebundener mit dem Irrationalen verquickt ist. (KW i, S. 719)

Das Spiel mit den Gegensätzen scheint kalkuliert. Der Leser soll durch Behauptungen überrascht werden, die einen außergewöhnlichen Text und ungewohnte denkerische Einsichten versprechen; denn daß »das Irrationale als Tat in Erscheinung tritt« und »mit der zunehmenden Versachlichung immer mehr ins Unbewußte gerät« (ebd.), ist als Deutung des Geschichtsverlaufs zunächst mehr irritierend als erhellend. Broch behauptet - und an den Protagonisten des Romans wird dies exemplifiziert - , daß das Handeln der Menschen im Verlauf der geschichtlichen Entwicklung immer »sachlicher« werde, zugleich aber das gesamte historische Geschehen immer »irrationaler«. Diese programmatische Formel, die Anklänge an surrealistische Manifeste zu 47

verraten scheint 10 , wird nicht weiter erläutert, sie wird als selbstverständliches Darstellungsprinzip der im Roman geschilderten historischen Etappen eingeführt. Broch läßt bewußt die Konstruktion des Romans für sich sprechen und verzichtet darauf, dieThese systematisch zu entwickeln, wie er es zehn Jahre zuvor im Zusammenhang seiner Studien zu einer formalen Wert- und Geschichtsphilosophie versucht hat. Dort heißt es: Begreift man die Wirklichkeit, die die Zeit erfüllt und sie zur historischen Epoche macht, als die Wirklichkeit des in der Zeit lebenden Menschen, und zwar aus der Autonomie seines Erlebens heraus als seine Wertwirklichkeit, und begreift man, daß diese Wirklichkeit als Wert - sonst wäre sie keine - in jedem Augenblick bejaht werden, also Geltung haben muß, so erscheint es notwendig, jenem lebenserfüllten und wundersamen Akt der Wert-Wirklichkeitssetzung, der Weltsetzung in ihrer ganzen irrationalen Mannigfaltigkeit einen spontan gleichzeitigen der Geltungsverleihung zuzuordnen, als dessen Resultat die Bejahung des Geschehenen und Erlebten erst erfolgt. Dieser Akt der Geltungsverleihung, des >Klarmachens< des Geschehenen wird und kann im allgemeinen als ein >rationaler< gegenüber der Irrationalität des erlebenden Setzens genommen werden [...]. In solcher Verbundenheit der wertsetzenden Aktion mit der kausalierenden Reaktion des Definierenkönnens, in dieser Spontaneität von Erleben und Bewußtsein, die eigentliche Vorbedingung des Menschen und der Geschichte zu sehen, stehen wir nicht an und meinen, daß von hier aus ein Verständnis des Geschichtsproblems zu finden ist. (KW 10/2, S. 45)

Hier werden die »irrationale Handlung« und das »rationale Legitimieren« deutlich als zwei zusammengehörige Elemente eines Vorgangs beschrieben, deren Einheit im Roman bzw. dem »methodologischen Prospekt« aufgelöst wird. Am Beispiel von drei Personen und ihren - der Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse unterworfenen - Handlungsweisen soll gezeigt werden, wie das erste Element, die »irrationale Wert-Wirklichkeitssetzung«, allmählich frei und unabhängig von der normalerweise jede Handlung begleitenden »rationalen Geltungsverleihung« das Verhalten eines Menschen charakterisiert, der ohne Bindung an eine überpersonale Sinn- und Wertordnung lebt. Das Thema des geschichtlichen Wandels, genauer: der Höhepunkt des Säkularisierungsprozesses in der »Moderne« (1888-1918), wird als Zerfall der überkommenen Wertordnungen gedeutet und personifiziert: Pasenow, Esch und Huguenau dokumentieren allein durch ihr Handeln, daß sie drei Generationen angehören, in deren Abfolge der »Zerfall der Werte« seinen Höhepunkt erreicht. Daß dies nur am (fiktiven) Beispiel des »historischen Individuums« gezeigt werden kann, entspricht in letzter Konsequenz der methodologischen Prämisse, die im Zentrum von Brochs frühen Entwürfen zu einer formalen Wert- und Geschichtsphilosophie stand und oben zitiert wurde. Mit einem wichtigen Unterschied allerdings: In den frühen philosophischen Studien war diese Annahme Gegenstand kritischer Uberprüfung und ständiger Neuformulierung, nicht gesicherter Ausgangspunkt der Überlegung, als die sie sich in 10

48

Vgl. etwa Maurice Nadeau, Geschichte des Surrealismus. Reinbek 1965, bes. S. 68.

dem »methodologischen Prospekt« und damit zugleich als poetologische Kategorie des Romanaufbaus und seiner Interpretationen vorstellt. Wie wichtig f ü r Broch die Suche nach einem solchen »Axiom« der Geschichtserkenntnis war, wird die Untersuchung der Texte ergeben, die sich um den zweiten >SummaSummaSumma< erschienenen methodologischen Studie anzusprechen versucht. G a n z anders verfährt er in dem anschließend publizierten Aufsatz zur Theorie der Geschichte, w o im wesentlichen nur ein Gedanke entfaltet wird. Dennoch ergeben sich auch hier Probleme für die Interpretation. Es ist nicht die Fülle des Materials, die dem Leser Schwierigkeiten bereitet, sondern die ambitionierte philosophische Sprache, die den kurzen Aufsatz mit einer oft nur leeren idealistischen Terminologie überlastet und den Gedankengang an vielen Stellen kaum auflösbar verschlüsselt. Wie diese Diktion der angemessenen Darstellung und damit Vermittlung des Gegenstandes entgegenwirkt, wenn nicht verhindert, zeigt ein Vergleich mit Brochs unveröffentlicht gebliebenen Studien und Notizen zu diesem Thema. Wirklich verstehen läßt sich der Entwurf jedoch erst dann, wenn die wertphilosophischen Schriften Heinrich Rickerts und einiger anderer Autoren hinzugezogen werden, die Broch in seinen Manuskripten mehrfach erwähnt, in den veröffentlichten Arbeiten aber nur selten zitiert. In dem bereits erwähnten Notizheft, das Broch ab 1914 geführt hat, findet sich folgende Eintragung: »Keineswegs handelt es sich darum, den Begriff des Wertes zum Mittelpunkt der Erkenntnistheorie zu machen (wie es Rickert tut). Diese wird stets den Begriff der reinen Erkenntnis als Zentralpunkt wählen müssen [...]. Wird aber zum (fiktiven) Subjekt des Philosophierens der Mensch (seiner Idee nach) statt dem reinen Ich gemacht, dann ergibt der Wertbegriff als >Lebensdes Kulturmenschen« in dem Sinne beschränken, daß sie die allen Kulturmenschen gemeinsamen Wertungen feststellt und systematisiert. [...] Es gilt vielmehr, sich zuerst, ganz unabhängig von der Mannigfaltigkeit des historischen Materials, auf das zu besinnen, was notwendig gilt, das heißt was formale Voraussetzung jedes Werturteils ist, das auf mehr als individuelle Geltung Anspruch erhebt. Erst wenn so zeitlos gültige formale Werte gefunden sind, kann man auf sie die Fülle der empirisch zu konstatierenden, in der Geschichte zur Entwicklung gekommenen Kulturwerte beziehen und so eine systematische Anordnung und zugleich kritische Stellungnahme versuchen.«' 0 Es ist allerdings die Frage, »ob die Aufstellung >absoluter< Werte noch zu den Aufgaben der Wissenschaft« gehört, wie Rickert selbst bezweifelt, oder universalgeschichtlichen bzw. teleologischen Spekulationen überlassen bleibt. Die absolut geltenden Werte stehen dennoch, wenn auch nur indirekt, in Verbindung mit dem realen historischen Prozeß. Von dem »Akterlebnis« war oben bereits die Rede. In seiner Erkenntnistheorie definiert Rickert den Zusammenhang unter Berufung auf Kategorien der Logik und Urteilslehre, um zeigen zu können, »daß die Urteilsnotwendigkeit als Richtschnur des Urteilens in der Anerkennung des mit ihr verknüpften Wertes besteht, und wir drücken dies, um sie von jeder Notwendigkeit des Seins zu unterscheiden, am besten dadurch aus, daß wir sie als eine Notwendigkeit des S o l l e n s bezeichnen. In ein Sollen verwandelt sich der zeitlos geltende, vom Akt der Zustimmung unabhängige Wert, sobald er auf ein Subjekt und dessen Wertung bezogen wird.«3' Broch hat den Rickertschen Sollens-Begritt zweifellos gekannt. In den unveröffentlichten Manuskripten aus dem Umkreis des >SummaSummaSystem der Philosophie< kommt Rickert tatsächlich zu ähnlichen Lösungsvorschlägen. Er formuliert sie in dieser relativ spät (1921) erschienenen, daher fast wie eine Zusammenfassung - und zum Teil auch Rechtfertigung - seiner Wertphilosophie wirkenden Schrift präziser als in früheren Arbeiten: Jedes Kunstwerk ist eine Wirklichkeit, und an ihm haftet ein ästhetischer Wert. Von diesem >versteht< man nichts, d.h. macht man nichts zu einem Bestandteil des eigenen Lebens, solange man nur Wirkliches erfaßt. Das ästhetische Verhalten des Subjekts muß seinem Sinn nach ein Akt des Wertens sein. Hier sehen wir daher im Ich, das Kunstwerke in sich aufnimmt, deutlich die drei Reiche: das reale psychische Verhalten, den geltenden vom Kunstwerk ablösbaren Wert und den immanenten Aktsinn des zu ihm Stellung nehmenden ästhetischen »Verstehens«, das in diesem Falle nichts mit dem logischen »Verstand« zu tun hat, sondern inhaltlich ganz vom 37

^Heinrich Rickert, System der Philosophie. Tübingen 1921, S. 3o8f. 57

atheoretischen ästhetischen Wert bestimmt ist. Das dritte Reich zwischen Subjektwirklichkeit und Wettgeltung stellt sich zugleich unzweideutig als ein die beiden andern Reiche verknüpfender Akt dar.^a Selbstverständlich läßt sich hieran vieles kritisieren und zahlreiche der ungelösten Probleme sind auch von der zeitgenössischen Kritik immer wieder zur Sprache gebracht worden, doch das soll erst in einem der nächsten Abschnitte genauer ausgeführt werden. Bemerkenswert ist, daß Rickert an dieser Stelle eine der einfachsten, zugleich aber wichtigsten Fragen übergeht: wie wird der Wert im Kunstwerk überhaupt gegenständlich? Voraussetzung für jeden »wertenden Akt« und jede (Wert-)Überlieferung ist letztlich das »Ding«, an dem der Wert haftet, und hier bleibt zu klären, wie es mit dem Wert ursprünglich in Beziehung steht. Die Lösung kann selbstverständlich nur im Subjektakt gefunden werden und um eben diese Lösung bemüht sich Broch in dem Manuskript zum >Kunststil als Stil der EpocheSummaSummaSummaKunststilHaltung«< des Einzelnen vorhanden sein: »Diese >Haltung< des seienden Menschen, an der sich die überindividuelle Einheit manifestieren soll, ist also sowohl in seiner aktiven als in seiner reaktiven Wertsetzung und dem bewegten Strom des in ihr gegebenen Erlebens manifestiert, also im Bewußtsein seines seienden und ruhenden Ich und dem seines gesetzten und geschaffenen Werkes [...].« (72) Der Begriff, der beidem übergeordnet ist und beides vereinigt, ist der Begriff des Stiles. Notwendig ergibt sich hieraus die Unterscheidung zwischen »Lebensstil« und »Wertstil«, zwischen dem aktiv / reaktiven Wertverhalten und dem gesetzten Wert, die beide von dem habitualisierten Wahrheitsgefühl des Individuums getragen und geprägt werden. Damit ist die entscheidende Frage, wie sich der ethische Wert im einzelnen Kulturgut, besonders aber im Kunstwerk materialisiert, formal beantwortet: durch die Doppelseitigkeit des menschlichen Wertverhaltens und seiner »Haltung«, in der die aktive und kontemplative Seite, die Wertsetzung und der gesetzte Wert, eine homologe Struktur aufweisen sollen. (Der kulturtypologische Aspekt dieser Ableitung wird in einem Exkurs (s.u.) weiterverfolgt; hier geht es in erster Linie um dit formalen Grundlagen der Geschichtsbetrachtung, wie sie Broch in Auseinandersetzung mit der Wertphilosophie der südwestdeutschen Schule entwickelt.) Uberblickt man die formale Ableitung im ganzen, dann wird sofort deutlich, daß Broch von seiner Grundthese, wie er sie noch im >SummaStellungnahme< und damit dem Begriff der >Tat< unterstellt. Und zwar soll sich diese Tat auf die fertige positive oder negative >Urteilsmaterie< beziehen, als ausdrückliches Annehmen oder Verwerfen neu zu ihrem Erlebtsein hinzugismus und Logizismus. In: Kleine Schriften, Bd. 1. Leipzig 1910, S. 511-634; Martin Heidegger, Die Lehre vom Urteil im Psychologismus. Ein kritisch-positiver Beitrag zur Logik (1913). In: Frühe Schriften (Gesamt-Ausgabe Bd.i). Hg. v. F.-W. von Herrmann Frankfurt 1978, S. 63-188; *Emil Lask, Die Lehre vom Urteil. Tübingen 191 z.

60

kommen.«39 Driesch beschreibt hier die von Windelband und der südwestdeutschen Schule vertretene Auffassung, die gegenüber der von Brentano für die Urteilslehre getroffenen Unterscheidung in einem wesentlichen Punkt abweicht. Brentano hatte in seiner >Psychologie vom empirischen Standpunkt (1874/ 1911) in Anknüpfung an englische Logiker, vor allem John Stuart Mill, den Unterschied zwischen Vorstellungen und Urteilen beschrieben, die zwei verschiedene Erlebnisklassen bilden (Benno Erdmann hat in seiner >Logik< (1892) die historische Vermittlung dieses aristotelischen Gedankens über den stoischen Begriff der assensio und Humes Lehre vom belief nachgewiesen 4°). Das Urteilen besteht danach nicht - wie üblicherweise angenommen - in dem logischen Verknüpfen vorhandener Vorstellungen, letztere gehören nur zu den materialen Voraussetzungen des Urteilens; dem bloßen Vorstellen muß als unterscheidendes Merkmal eine intentionale Beziehung hinzutreten: das Urteilen besteht darin, »daß eine Tatsache angenommen oder verworfen wird« 41 , und nur solche psychischen Akte können dann als wahr oder falsch prädiziert werden. Brentano hat diese Annahme sehr ausführlich begründet.4* Diese Begründungen sind selten mit stichhaltigen Argumenten kritisiert worden, bequemer schien die pauschale Ablehnung der gesamten Einteilung, die man leichthin unter den Verdacht des Psychologismus stellte.43 Brentano hat darauf selbst geantwortet, was hier nicht im einzelnen dokumentiert werden soll. Wichtiger erscheint die Darstellung der Einwände Wilhelm Windelbands, der es sich mit der besprochenen Urteilslehre weniger leicht gemacht hat als andere Kritiker Brentanos. Windelband berief sich auf Descartes, um im Urteil - das er ebenso wie Brentano, auch hier einer Unterscheidung Descartes' folgend, von den beiden anderen Grundklassen psychischer Phänomene: den Vorstellungen (ideae) und den Wollungen (voluntates)44 trennte - zwei Elemente voneinander «

" H a n s Driesch, Die Logik als Aufgabe. Tübingen 1913, S. 74.

40

* B e n n o Erdmann, Logik. B d . 1 : Logische Elementarlehre. Halle 1892, S. 2 8 3 f f .

41

* F r a n z Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkt. Bd. 2. H g . v. O .

42

Vgl. ebd., S. 38ff. Einen knappen A b r i ß der Lehre Brentanos bieten: Emil Utitz,

Kraus, H a m b u r g 1959, S. 88. Franz Brentano. In: "Kant-Studien 2 2 (1918), S. 2 1 7 - 2 4 1 ; A n t o n Marty, Untersuchungen zur Grundlegung der allgemeinen Grammatik und Sprachphilosophie. B d . ι. Halle 1908, bes. S. 229ft. passim; A l f r e d Kastil, Die Philosophie Franz Brentanos. München 1951, bes. S. 84ff. So

zum

Beispiel Johannes

Rehmke,

Lehrbuch

der allgemeinen

Psychologie.

H a m b u r g und Leipzig 1894, S. 3 4 9 ^ auch W. M o o g , S . 4 i f . 44

Vgl. Wilhelm Windelband, Beiträge zur Lehre vom negativen Urtheil. In: Strassburger Abhandlungen zur Philosophie ( * F S Eduard Zeller). Freiburg und Tübingen 1884, S. 1 6 $ - 1 9 6 , bes. S. 171 sowie den Aufsatz »Was ist Philosophie?«. In: Präludien. Bd.i.

Tübingen

(9. Aufl.)

1924,

S. 1 - J 4 ,

S. 32

Anm.;

''Franz

Brentano,

Vom

Ursprung sittlicher Erkenntnis. H g . v. O . Kraus. H a m b u r g (4. Aufl.) 1 9 5 5 , S. 17; " B r u n o Bauch, Wahrheit, Wert und Wirklichkeit. Leipzig 1 9 2 3 , S. I54Í; vgl. auch die

61

abzulösen, die im konkreten Urteilsprozeß stets zusammenhängen: »Alle Sätze, in denen wir unsere Einsichten zum Ausdruck bringen, unterscheiden sich trotz der scheinbaren grammatischen Gleichheit in zwei genau voneinander zu sondernde Klassen: die U r t e i l e und die B e u r t e i l u n g e n . In den ersteren wird die Zusammengehörigkeit zweier Vorstellungsinhalte, in den letzteren wird ein Verhältnis des beurteilenden Bewußtseins zu dem vorgestellten Gegenstand ausgesprochen.«'»' Doch diese Scheidung läßt sich nur theoretisch vollziehen, jedes wirkliche Urteilen setzt die Einheit beider Vorgänge voraus, ganz im Sinn der von Brentano beschriebenen intentionalen Beziehung: »Soweit unser Denken auf Erkenntnis, d.h. auf Wahrheit, gerichtet ist, unterliegen alle unsere Urteile sofort einer Beurteilung, welche entweder die Giltigkeit oder die Ungiltigkeit der im Urteil vollzogenen Vorstellungsverbindung ausspricht. Das rein theoretische Urteil ist eigentlich nur in der Frage oder dem sog. problematischen Urteil gegeben, in welchem nur eine gewisse Vorstellungsverbindung vollzogen, aber über ihren Wahrheitswert nichts ausgesprochen wird.«46 Worin unterscheidet sich nun die Windelbandsche Theorie von der Urteilslehre Brentanos, wenn - wie in der eben zitierten Stelle - für den realen Erkenntnisprozeß die Einheit von Urteil und Beurteilung bereits konzediert wurde? Die Differenz ergibt sich aus Windelbands Festhalten an der besonderen Funktion der Beurteilung, die dem auf einen Wahrheitswert zielenden Urteil zwar notwendig zukommt, ihm aber nicht subsumiert werden kann: die Urteile bleiben lediglich »Vorstellungsverbindungen«. Welche Stellung erhalten dann die Beurteilungen? Zwangsläufig geraten sie in die Nähe der dritten für die neukantianische Tradition außerordentlich wichtige Arbeit von Julius Bergmann, G r u n d z ü g e der Lehre v o m Urtheil. M a r b u r g 1 8 7 5 . •s

Wilhelm Windelband, Was ist Philosophie?, S. 29. In der Abhandlung >Vom System der Kategorien< (1900) schrieb Windelband: »Unter K a t e g o r i e n verstehen wir die synthetischen Formen des Denkens oder die Beziehungen, in denen anschaulich gegebene Inhalte durch das zusammenfassende Bewusstsein mit einander verbunden werden. D a s zusammenfassende Denken, welches dabei tätig ist, stellt sich entweder als erkennender Process im U r t e i l oder als fertiges Wissen im B e g r i f f dar. Im ersteren Falle werden die gesonderten Vorstellungsinhalte, die sich sprachlich am einfachsten als Subject und Prädicat aus einander legen, durch die Kategorien in Beziehung gesetzt und der Wahrheitswert dieser ihrer Beziehung z u m Ausdruck gebracht: in der zweiten F o r m wird die bejahte (unter Umständen auch die nur problematisch gedachte) Beziehung der Vorstellungsinhalte als ein fertig in sich verknüpftes Ganzes in weitere Verbindungen eingesetzt. Urteil und Begriff erscheinen danach als nur psychologisch verschiedene Stadien derselben logischen Function: und diese besteht in beiden Fällen wesentlich in der Verknüpfung verschiedener Inhalte durch eine Kategorie. D a s Urteil entscheidet darüber, ob diese Verknüpfung >gelten< soll: der Begriff behandelt sie entweder als eine giltige oder als eine vorläufig angenommene.« Wilhelm Windelband, Vom System der Kategorien. In: ' T S Chr. Sigwart. Tübingen 1900, S. 4 3 - 5 8 , hier S. 4 j f . *Windelband, Was ist Philosophie?, S. 31.

62

Grundklasse psychischer Phänomene, den Gemütsbewegungen. Das hat Brentano strikt abgelehnt. Indem er Windelbands unscharfe Trennung zwischen den Grundklassen kritisierte, begegnete er zugleich den MißVerständnissen, die sich aus seiner eigenen Einteilung ergeben hatten: »Manche - wie z.B. Windelband - geben es auf, das Urteil mit der Vorstellung in e i n e r Grundklasse zu begreifen, glauben es dagegen der Gemütstätigkeit subsumieren zu können. Sie fallen so in den Fehler, den einst Hume bei seiner Untersuchung über die Natur des Glaubens (belief) begangen hatte, zurück. Das Bejahen soll nach ihnen ein Billigen, ein Wertschätzen im Gefühle, das Verneinen ein Mißbilligen, ein Sichabgestoßen-fühlen sein. Trotz einer gewissen Analogie ist die Verwechslung schwer begreiflich. Es gibt Leute, welche die Güte Gottes und die Bosheit des Teufels, das Wesen des Ormuzd und das Wesen des Ahriman mit gleicher Überzeugung anerkennen, während sie doch das Wesen des einen über alles schätzen, von dem des anderen sich nicht anders als abgestoßen fühlen«.* 7 Diese Kritik dürfte über die verschiedenen Brentano-Schulen hinaus kaum gewirkt haben.48 In der neukantianischen Philosophie, und hier vor allem bei Heinrich Rickert und Bruno Bauch, behielt jedenfalls die Windelbandsche Deutung der Urteilslehre und seine Unterscheidung von Urteil und Beurteilung weiterhin ihre Geltung. Mehr noch: für Heinrich Rickert wurde sie zur Grundlage und zum Ausgangspunkt erkenntnistheoretischer Studien, die zugleich das logische Gerüst seiner Werttheorie bildeten. Die umstrittene, gleichwohl aber allgemein als notwendig angenommene Beziehung zwischen logischen und psychologischen Kategorien im Urteils- und Erkenntnisprozeß wird auch hier zum wichtigsten Moment der Theoriebildung. Allerdings in anderer Weise als bei Brentano oder Windelband. Rickert knüpft zwar ausdrücklich an diese Denker an - Brentano erfährt sogar eine für den Neukantianismus ungewohnt ausführliche Würdigung - , überschreitet aber die von Windelband eingenommene logische Position, die die von »Brentano proponine Dreitheilung« 4 ' 47

'"Franz Brentano, V o m Ursprung sittlicher Erkenntnis, S. 5 j f . A n m . 22.

48

Vgl. hierzu O s k a r Kraus, Die Werttheorien. Geschichte und Kritik (Veröffentlichungen der Brentano-Gesellschaft II). Brünn/Wien/Leipzig 1 9 5 7 , S. 2 8 i f f . passim. A u c h die jüngeren Vertreter des Neukantianismus der südwestdeutschen Schule, etwa Emil Lask, hielten den von Windelband beschriebenen Zusammenhang z w i schen theoretischer und praktischer Vernunft »für die befreiende klärende Tat auf dem Gebiet der theoretischen Philosophie«; vgl. * E . L . , G i b t es einen »Primat der praktischen Vernunft« in der Logik? In: Ges. Sehr. Bd. 1. H g . v. E . Herrigel. Tübingen 1923, S. 349. Z u Lask vgl. Konrad H o b e , Zwischen Rickert und Heidegger. Versuch über eine Perspektive des Denkens von E m i l Lask. In: Philosophisches Jahrbuch 78 ( 1 9 7 1 ) , S. 3 6 0 - 3 7 6 . - Vgl. auch die Abhandlung von ' M a x Adler: Kausalität und Teleologie im Streite um die Wissenschaft (Marx-Studien Bd. 1). Wien 1904, S. 1 9 5 - 4 3 3 , bes. S. 34off. Broch war mit dem austromarxistischen Philosophen persönlich bekannt; vgl. K W 1 3 / 1 , S. 51 A n m . 5.

i?

' W i l h e l m Windelband, Beiträge zur Lehre vom negativen Urtheil, S. 174.

63

ablehnte und nur zwei Arten von Bewußtseinsinhalten unterschied: einerseits Vorstellungen und andererseits Urteile / Beurteilungen, die mit den Gemütsbewegungen (voluntates) eine Klasse teilen; diese Annahme ließ es denkbar erscheinen, die Urteilslehre einer formalen Werttheorie einzugliedern, die so zum bevorzugten, in weiterer Ausführung sogar zum alleinigen Gegenstand der Philosophie werden sollte. Den ersten Schritt dazu konnte Rickert mit dem intentionalistischen Charakter der Urteile begründen. Da jedes auf Erkenntnis gerichtete Urteil einer Beurteilung, also einer Bejahung oder Verneinung unterliegt, ist dieser Erkenntnisakt nur als »ein alternatives Stellungnehmen zu einem Werte« zu begreifen, worunter keine Wertung im herkömmlichen Sinn verstanden werden soll, sondern nur - wie Rickert hinzufügt - , »daß der U r t e i l s a k t s e 1 b s t als Bej ahen oder Verneinen seinem Sinn nach dem Stellungnehmen zu einem Wert oder Unwert gleichgesetzt werden muß.«s° Das so verstandene Werten enthält die eigentliche Leistung des Erkennens, Logik und Erkenntnistheorie lassen sich demnach einer philosophischen Werttheorie integrieren. Selbstverständlich sind hier alle Bestimmungen zur transzendenten bzw. objektiv-immanenten Wertsphäre mitzudenken, die oben im Zusammenhang der methodologischen Untersuchungen zitiert wurden. In der hier vollständig entwickelten Erkenntnistheorie verlieren diese Bestimmungen von Wert, Geltung, Wertung, Gut und Sinn (vgl. o. S. 53) allerdings einiges an Plausibilität, da jetzt, im Kontext der Urteilslehre, notwendig die Frage nach dem Kriterium für die Wahrheit eines vollzogenen Urteils auftritt, das seiner neuen Definition nach die Stellungnahme zu einem Wert sein soll. Wodurch wird die Wahrheit dieses psychischen Aktes und der an ihn gebundenen werttheoretischen Begriffe garantiert? Das Kriterium liegt in dem Akt selbst, es besteht - nach Rickert - in der »Gewißheit«, richtig zu (be-)urteilen: »Bei allen unmittelbar gewissen Urteilen sprechen wir von >Evidenz° ^Heinrich Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis, S. 189. Die folgenden Seitenverweise im Text beziehen sich auf diese Ausgabe.

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nen habe.« (206) Rickert bezeichnet dies in »selbstgefälliger Kant-Paraphrasierung«, wie Rainer Prewo bemerkt' 1 , als seinen »>kopernikanischen< Standpunkt«: »nicht um die R e a l i t ä t >dreht sich< das erkennende Subjekt, damit es dadurch theoretisch w e r t v o l l werde, sondern um den theoretischen We r t hat es sich zu >drehensubjektive< Sein eine >transsubjektive< Notwendigkeit verbürgt. Dafür eine >Erklärung< zu verlangen, hat keinen Sinn.« (294^) Offensichtlich gerät Rickert bei der Definition seiner Grundannahmen immer wieder in Beweisnot, wodurch das wertphilosophische System als

H

66

Hans Kaiser, D i e erkenntnistheoretische Entscheidung über das Verhältnis von Philosophie und Psychologie nach Dilthey, Münsterberg und Rickert. (Diss. Masch.) Erlangen 1923, S. 37.

ganzes anfechtbar, wenn nicht unhaltbar erscheint. Der Leser wird spätestens bei dieser erneuten Zirkelbewegung der Argumentation nach der logischen Begründbarkeit und damit nach dem systematischen Anspruch der gesamten Theorie fragen. Die transzendentalpsychologische Analyse war vom realen Urteilsakt ausgegangen, in dem das voluntative Element der Stellungnahme (Bejahen / Verneinen) als auf einen Wert bezogen gedacht wird. Dieser transzendent geltende, nicht wirklich existierende Wert fordert vom Subjekt Anerkennung, auch ohne faktisch anerkannt zu sein. Im Sollen teilt sich dies dem Urteilenden als Notwendigkeit mit und gibt ihm zugleich im Gefühl der Gewißheit (Evidenz) das Kriterium für die Wahrheit seiner Erkenntnis. Das Urteilen bezieht sich demnach nicht auf real vorhandene Dinge, die es in der Vorstellung abbildet und >richtig< miteinander verknüpft, sondern auf ein irreal geltendes Sollen, welches im Urteil als Objektivität verleihender Faktor evident gewußt und bejahend anerkannt wird. Das ist Rickerts so paradox klingender »kopernikanischer« Standpunkt: Wirkliches wird dadurch erkannt, daß man Unwirkliches anerkennt (vgl. a.a.O. S. 223 passim). Um es zusammenzufassen: Rickerts gesamte Theorie beruht auf einer Annahme, die dem gewöhnlichen Urteilsbegriff, der Tatsachen voraussetzt, nach denen sich das Urteil richtet und an denen es überprüft werden kann, völlig konträr gegenübersteht - nicht das Sein bestimmt die Urteilsnotwendigkeit, vielmehr geht diese jenem immer schon voraus. Das läßt sich nur durch die Einführung einer besonderen Hypothese >beweisenGrund< zu finden als die unmittelbare Notwendigkeit des Sollens, das wir urteilend bejahen, indem w i r diesem Inhalt die Form Wirklichkeit beilegen. Es gibt keinen

67

andern >Grund< dafür, und besonders kann man das Sollen nicht irgendwie auf das Seiende oder das Wirkliche zurückführen, d.h. es davon ableiten wollen, daß das Urteil aussagen soll, was wirklich ist, und so das Sollen durch das Sein stützen, denn um zu w i s s e n , welchem Inhalt die Form Wirklichkeit zugehört, muß man bereits geurteilt h a b e n , und um wahr darüber urteilen zu können, kommt man immer wieder auf die Notwendigkeit des durch nichts gestützten, >frei schwebenden< Sollens, das diesen Inhalt mit der Form der Wirklichkeit verknüpft, als auf den l e t z ten, ja den e i n z i g e n M a ß s t a b für die Richtigkeit des Urteils, daß dies wirklich ist, zurück. Es handelt sich hier um einen enthymematischen Schluß, wie leicht nachzuweisen i s t . " Rickerts Ergebnis lautet: der Grund und Maßstab für die Wahrheit des Urteils liegt in der Notwendigkeit des Sollens, und dieses Sollen geht dem Sein voraus. Der Schluß, daß das Sollen nicht auf Wirkliches zurückgeführt werden kann, wird aus nur einer Prämisse gezogen: >um zu wissen, muß man bereits geurteilt habendas Wissen geht dem Sein voraus«;. Die Annahme dieser Prämisse dürfte - folgt man den Rickertschen Definitionen - auf nicht geringere Vorbehalte stoßen als der zu beweisende Schlußsatz, doch um das zu zeigen bedarf es nicht der formalen Vervollständigung des Syllogismus. Von Bedeutung ist hier ein anderes Moment. Der Wortlaut der nachträglich ergänzten Prämisse macht auf den eigentlichen Fehlschluß aufmerksam, der sich aus der Äquivokation des Wortes Wissen ergibt. In der zweiten, von Rickert selbst formulierten Prämisse wird unter Wissen Erkenntnis, also der Besitz wahrer Urteile verstanden. »Wissen« kann allerdings auch das intuitive Bezogensein auf einen Gegenstand umschreiben, und nur wenn man es in dieser Bedeutung nimmt, wird die erste, von Rickert unausgesprochen vorausgesetzte Prämisse überhaupt sinnvoll. D e r Schluß ist damit jedoch ungültig, da der Mittelbegriff in Obersatz und Untersatz nicht derselbe ist. Die Transzendenz des Sollens läßt sich nicht beweisen. Dieses für die Begründung der Erkenntistheorie negative Ergebnis wird durch die genaue logische Analyse nur bestätigt.' 6

"



68

Vgl. hierzu Moritz Schlick, Das Wesen der Wahrheit nach der modernen Logik, S. 398ff. Dieselbe Stelle zitierte - wohl nach dem Vorbild Schlicks - auch *Adolf Lapp : Die Wahrheit. Ein erkenntnistheoretischer Versuch orientiert an Rickert, Husserl und an Vaihingers >Philosophie des Als-ObDer Gegenstand der Erkenntnis««. In: "Zeitschrift für Philosophie und phil. Kritik. Bd. 161, H . 2. Leipzig 1916, S. 160-172. Gegen die Auffassung, daß sich das Erkennen nach einem transzendenten Sollen richtet, wendete sich auch Husserls Kritik an Rickerts Bestimmung der Erkenntnis; vgl. hierzu Iso Kern, Husserl und Kant. Eine Untersuchung über Husserls Verhältnis zu Kant und zum Neukantianismus (Phänomenologica 16). Den Haag 1964, S. 39iff. Noch weitaus massiver waren die Einwände der neufriesschen Schule.

Überblickt man nochmals die gesamte Problemstellung, dann hebt sich von selbst jene Grundfrage ab, an der die erkenntnistheoretische Untersuchung letztlich scheiterte. Es ist das Verhältnis von Psychologie und Logik, das nicht schlüssig erklärt werden konnte. Das Vorhandensein idealer logischer Gebilde in einer transzendenten Weri-Sphäre ließ sich zwar mit guten Gründen behaupten, nicht aber mit den realen psychischen Vorgängen verknüpfen, ohne daß eine petitio principii die Argumentation in einen Zirkel führte. Dem Vorwurf des »Psychologismus« ist Rickert nicht entgangen. Er läßt sich in zahllosen Schriften nachlesen, die zu Anfang des Jahrhunderts - vor allem im Anschluß an Husserls >Logische Untersuchungen ( 1900/1901) - zum Thema Psychologie und Logik erschienen waren und von verschiedenen Standpunkten aus die psychologische Basis der neukantianischen Transzendentalphilosophie kritisierten. Besonders zu erwähnen ist hier die Untersuchung von Adolf Lapp : >Die Wahrheit. Ein erkenntnistheoretischer Versuch orientiert an Rickert, Husserl und Vaihingen (Stuttgart 1913), deren Lektüre man bei Broch voraussetzen darf, da er dieses Buch noch Jahre später seinem Sohn als Einführung in die Erkenntnistheorie empfohlen hat (vgl. den Brief vom 5. März 1928; KW 13/1, S. 76f.). 57 Daneben besaß Broch noch eine Reihe weiterer Einführungen in die zeitgenössische Philosophie, unter denen hier nur die knappe und übersichtliche Studie von Konrad Wiederhold: >Wertbegriff und Wertphilosophie< (Berlin 1920) hervorgehoben werden soll. Die im Verzeichnis der Bibliothek genannten Titel bestätigen den Eindruck, den man bei der ersten Lektüre der frühen Schriften Brochs gewinnt: Ausgangspunkt und Grundlage seines Philosophierens ist die Erkenntnistheorie des Neukantianismus, vor allem der südwestdeutschen Schule. Erinnert man sich der dominierenden Rolle des Wertbegriffs in der philosophischen Diskussion jener Jahre, erscheint dies keineswegs außergewöhnlich, es bleibt jedoch ein Rest von Erstaunen darüber, daß Broch nicht - was zu erwarten wäre - die phänomenologisch orientierten Brentano-Schulen in Osterreich (Meinong, Marty) der Rickertschen Philosophie vorgezogen hat. Probleme der Evidenz und Objektivität von Urteilen behandelte auch Meinong, aber gerade in dieser Frage hält Broch sich eng an die Argumentation der südwestdeutschen Schule. Mehrfach betont er den Formalcharakter seiner Untersuchung (KW 10/2, S. 72 passim), womit der antisubjektivistischen Haltung Rikkerts zugestimmt wird. Das erklärt auch die ablehnende Haltung Brochs gegenüber einer »materialen Wertethik«. Mit der Philosophie Max Schelers hat sich Broch - im Unterschied zu Robert Musil - nicht eingehender befaßt. 57

Neben den Arbeiten von Maier und Moog (s. Anm. 38) wäre hier eine Untersuchung Arthur Lieberts zu nennen, die Broch sehr wahrscheinlich gelesen haben dürfte: s Das Problem der Geltung. Berlin 1914; auf den dort (S. 213) erhobenen Psychologismus-Vorwurf hat Rickert indirekt im Vorwort zur dritten Auflage seines erkenntnistheoretischen Hauptwerkes geantwortet.

69

Die philosophische Beschäftigung mit der Wirklichkeit wird durch die Wertlehre begründet. Ein direkter Einfluß des Neukantianismus macht sich bei der Bestimmung des Zusammenhangs zwischen dem Sollen und der Bejahung des Sollens bemerkbar. Broch führt aus, daß der Begriff der Forderung, wie er sich uns [ . . . ] aus dem der Wertwirklichkeit und ihrer Bejahbarkeit und ihrem Bejahungszwang ergibt, [ . . . ] ein ethischer [ist], sofern wir unter ethischer Forderung eine jede verstehen wollen, die sich auf die formale Reinheit des guten Willens [ . . . ] bezogen wissen will [ . . . ] : denn jene Forderung enthält die unendliche A u f g a b e zu immer reineren Definitionen, sie enthält den unendlichen Regressus, in dem die logische Erkenntnis sich vorwärts zu bewegen hat, und wenn auch im metaphysischen Hintergrund der sich klärenden und zu klärenden Definitionsreihe die platonische Idee des Wertzieles wohnt, so ist die E n t wicklung als solche dennoch ein rein logischer Struktur-Ausbau. ( K W 10/2, S. 4 6 und 30)

Damit wird die Problematik des Rickertschen Sollens-Begriffs zwar angedeutet, eine mögliche Kritik aber durch die etwas vage Formulierung überdeckt. Leonard Nelson hat sie in der oben erwähnten Studie (>Uber das sogenannte ErkenntnisproblemEs soll geurteilt werden..< usw. Die logischen Einwände gegen die Begründung des SollensBegriffs wurden bereits ausführlich erörtert. Broch haben sie offenbar nicht gehindert, den Begriff in systematischer Absicht zu zitieren, dabei mehrfach, wie auch Rickert im Fünften Kapitel seines methodologischen Hauptwerkes (>Die Grenzen der naturwissenschaftlichen BegriffsbildungWerkes um des Werkes willen< fordert [ . . . ] ihrerseits die Feststellung des reinen Geltungsbereiches, auf welchen er sich zu beziehen hat, m.a.W. die Definition des Wertzieles. Ergab sich aus der Autonomie des wertsetzenden Individuums die ethische Forderung als Folgebegriff aus der der kausalierenden Definition des Geschehenen, so kehrt sich von hier aus dieses Verhältnis um, und der Forderungs- und Sollensbegriff verlangt nach der Definition des zu Geschehenden als seine ihm notwendige Strukturkomponente. ( K W 10/2,

S.47)

Es wäre hier noch zu früh, auf den ontologischen Status der Werte einzugehen, wie ihn Rickert und nach ihm Broch zu bestimmen versuchten (»irreales Sein«, »Sollen«, »Logos«); bestimmte Grundlagen der Wertphilosophie müssen bekannt sein, bevor auf den ethischen Wertrealismus - wie er in der zuletzt zitierten Stelle bereits anklingt - und seine metaphysischen Konsequenzen genauer eingegangen werden kann. Nur soviel sei hier bereits bemerkt, daß die Utopie einer durch den »Logos« gestifteten neuen »Wert-

70

Wirklichkeit«, wie sie im Epilog der Schlafwandler-Trilogie aufscheint, direkt auf den Wertbegriff zurückführt, den Broch in der Auseinandersetzung mit der neukantianischen Philosophie entwickelt hat. D o c h zurück zur Urteilslehre. In der Kritik ebenso treffend wie die Untersuchung Nelsons wirkt eine Arbeit des jungen Karl Mannheim, in der die verschiedenen Positionen der zeitgenössischen Schulen argumentativ gegeneinandergeführt werden. Mannheim zeigt, daß für jeden Ansatz bestimmte psychologische, logische oder ontologische

Grundannahmen

gelten, die trotz ihrer

unterschiedlichen

Gewichtung in das jeweils andere System übersetzbar bleiben: »das Erlebnis kann als eine A r t von Sinn, der Sinn als eine A r t von Sein, Sein und Sinn als eine Art von Erlebnis betrachtet werden (das Evidenzerlebnis z.B., das bei dem Urteilen eine so große Rolle spielt, kommt in der logischen Systematisierung als Geltung wieder vor). Darin besteht eben jene formelle Universalität dieser Reihen, daß sie alles Mögliche in sich irgendwie aufnehmen können.«' 8 Das von Mannheim zuletzt angeführte Beispiel - die Rolle des »Evidenzgefühls« - macht nochmals auf die entscheidende Lücke in der Rickertschen Argumentation aufmerksam, w o ein psychologisches Moment als Wahrheitskriterium in den logischen Urteilsakt eingeführt wird. Broch argumentierte hier vorsichtiger. Der Begriff des »Wahrheitsgefühls« wird bei ihm ebensowenig wie der ein intentionales Verhältnis stiftende Begriff der »Bejahung« in eine erkenntnistheoretische Wertlehre eingebunden oder einfach aus ihr herausgelöst. Broch verwendet den Begriff im Kontext seiner im >SummaKunststilwirklich< zu machen. Für die Sphäre des reinen Bewußtseins aber gibt es keine derart letzte fraglose Bejahung. Die logische Reihe löst sich in einen unendlichen Regreß auf [ . . . ] . Anders aber, wenn die Ding-Wirklichkeit akzeptiert wird: hier muß vor der Kategorie der Wirklichkeit jenes J a stehen - ein J a , das es in der reinen Logik nicht gibt, wohl aber in der psychologisierenden gegeben hat: das >Wahrheitsgefühls das beispielsweise noch bei Sigwart eine bedeutende Rolle spielt. ( K W 10/2, S. 68) '8

Karl Mannheim, D i e Strukturanalyse der Erkenntnistheorie (1922). In: Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk. H g . v. Kurt H . Wolff. N e u w i e d (2. Aufl.) 1970, S. 166-245, hier S. 217.

71

Broch steht hier offensichtlich unter dem Eindruck der Psychologismus-Kritik Husserls, der namentlich Sigwart den »Anthropomorphismus« seiner Logik vorgeworfen hatte. Für die »Sphäre des reinen Bewußtseins« - womit die »reine Logik« im Sinne Husserls gemeint sein dürfte - wird das Evidenzgefühl, das sich als überaus problematisch erwiesen hatte, abgelehnt." Nicht jedoch für den psychologischen Akt der Stellungnahme. Hier erhält das »Wahrheitsgefühl« sogar zentrale Bedeutung, da mit diesem der Habitus-üegriíí eingeführt werden kann, an den sich wiederum die Bestimmung des Lebens- bzw. Wertstils knüpft. Mit anderen Worten : das Evidenzgefühl ist im Rahmen der psychologischen Argumentation nicht - wie in der logischen Urteilslehre - ein Wahrheitskriterium, sondern das den individuellen psychologischen Akt prägende überindividuelle Merkmal, durch welches historische Erkenntnis möglich wird. Versteht man wie Broch unter historischer Erkenntnis die erklärende Rekonstruktion individuellen Wertverhaltens, wie es durch die neukantianische Theorie der Wertbeziehung formalisiert wurde, dann ergibt sich die gedankliche Schwierigkeit, einerseits der inividuellen Wertsetzung mehr als nur historisch zufällige, also repäsentative Bedeutung zuzusprechen und andererseits die überlieferten Zeugnisse als materiale »Wertträger« zu interpretieren, obwohl sie faktisch nicht mehr gewertet werden und eine historische Wertung sich unter Umständen nicht nachweisen läßt. Der Begriff des Stiles soll beide Probleme lösen. Broch begründet ihn mit dem im Akt der Bejahung gegebenen (überindividuellen) Evidenzgefühl, das die »geistige Haltung« des Menschen durchdringt und sein Handeln wertorientiert bestimmt, was sich in der Struktur der Handlung und seinem manifesten Ergebnis abbildet und so rückerschlossen werden kann. Der um Verständnis bemühte Interpret wird an dieser Stelle erneut nach den zentralen Begriffen der Brochschen Theorie, ihrem Inhalt und ihrer Rechtfertigung fragen, da sich gezeigt hat, daß diese nicht in ihrer logischen, ursprünglich aus der Urteilslehre und Erkenntnistheorie stammenden Bedeutung genommen werden dürfen (Brentano, Windelband, Rickert), sondern als psychologische Kategorien in einen Bereich übersetzt werden müssen, den man im weitesten Sinn - und hier ist an das in der Einleitung bereits Gesagte zu erinnern - als kulturanthropologischen bezeichnen kann. 60 "

Vgl. ^Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, Erster B a n d : Prolegomena zur reinen Logik. H g . v. E . Holenstein (Husserliana X V I I I ) . D e n H a a g 1 9 7 5 , S. 1 3 1 - 1 4 2 . Husserl bleibt hier allerdings zweideutig, indem er zwischen »realer« (psychologischer) und »idealer« (absolut geltender) E v i d e n z unterscheidet; vgl. ebd. § 50 sowie die Untersuchung von T h e o d o r Elsenhans, Phänomenologie, Psychologie, Erkenntnistheorie. In:

60

;f

Kant-Studien 20 (191$), S. 2 2 4 - 2 7 5 , bes. S. 260.

D e r Begriff ist in seiner philosophisch-geisteswissenschaftlichen Bedeutung zu nehmen, wie er von Erich Rothacker 1942 eingeführt w u r d e (>Probleme der Kulturanthropologie«, Bonn 3. A u f l . 1968); Probleme der Kulturphilosophie bzw. -anthropologie werden seit der Jahrhundertwende v o r allem in Deutschland diskutiert ohne Verbindung zu der ebenfalls seit A n f a n g des Jahrhunderts in Amerika sich ent-

71

Bevor nun im folgenden auch die zweite, »psychologische« Begriffsebene anhand wichtiger Literatur genauer beschrieben wird, soll die zuletzt formulierte These durch einige Hinweise illustriert werden. Broch schafft in seinen frühen philosophischen Schriften die Grundlagen für die theoretischen Arbeiten der 30er und 40er Jahre, der literaturtheoretischen Essays und der Massenpsychologie. Gerade an den zentralen Begriffen seiner Theorie läßt sich das verdeutlichen, ja sie machen es allererst möglich, von einem denkerischen Zusammenhang der zeitlich wie thematisch so unterschiedlichen Schriften zu sprechen. Broch berief sich in fast allen späteren Arbeiten, angefangen bei den Exkursen im >Huguenau< über die Aufsätze >Logik einer zerfallenden Welt< und > Werttheoretische Bemerkungen zur Psychoanalyse< bis hin zur Massenpsychologie, auf bestimmte philosophische Termini, die er bereits vor 1920 seinem Entwurf zu einem wert- und geschichtsphilosophischen System einzugliedern versucht hatte. Dazu gehören: Bejahung, Wahrheitsgefübl, Evidenz, ethisch/ästhetischer Wert, Wahrheit, Sollen und Stil. Das ist selbstverständlich keine vollständige Aufzählung, aber eine Orientierungshilfe, die es erlaubt, anhand weniger Variablen die wesentlichen Kontinuitäten im theoretischen Werk Brochs zu erfragen und nachzuzeichnen. Und diese Kontinuitäten bestehen zweifellos, wenn auch in abfallender Linie: im Frühwerk, vor allem in den beiden >SummaTheorie der Geschichtsschreibung und Geschichtsphilosophie< (1920), werden die Begriffe relativ sorgfältig definiert; in den späteren Arbeiten wird von dieser systematischen Begründung und Einordnung weitgehend abstrahlen, das Zitat der Begriffe wirkt apodiktisch. Aus diesem Grund ist die genaue Analyse der Frühschriften von so großer Bedeutung und Erklärungskraft für alle späteren Texte. Wie bei vielen Autoren, deren Werk stark theorieorientiert ist, wird auch bei Broch in den Frühschriften das >Programm< für die schriftstellerische Lebensarbeit entworfen. Das soll kurz mit einem Beispiel aus dem zuletzt behandelten Problemkreis belegt werden. Broch hatte in dem >KunststilWerte< in den von Menschen geschaffenen Dingen verkörpern - eine der Grundfragen der deutschen Kulturanthropologie seit der Jahrhundertwende - , »vom Neukantianismus völlig verkannt wird.« Bei den konkreten, historisch vermittelten Dingen setzt deshalb seine methodische Untersuchung ein. Die Probleme des »Ästhetischen« - bei Rickert erst im >System der Philosophie« stärker berücksichtigt (vgl. o. S - gewinnen dabei das Hauptinteresse, die Kunsttheorie wird zum Gegenstand wertphilosophischer Erörterungen. »Die historische Erkenntnis muß im Empirischen wurzeln«, heißt es in einem der unveröffentlichten Notizhefte 62 , »sie muß daher vom ästhetischen Wert ausgehen und zwar von dort aus, wo er am >dichtesten< ist: vom Kunstwerk.« (vgl. auch KW 10/2, S. 5of. und 64.) Damit ist noch keine Wende vollzogen. Aber es deutet sich an, in welcher Richtung die logisch / erkenntnistheoretischen Fragen weitergedacht werden können, zunächst im Bereich der ästhetischen Objekte (Kultur), aber auch in dem damit korrelierten psychologischen Bereich der kulturschaffenden Subjekte (Anthropologie). So wird bereits im >KunststilLebensstilesWertstilesTypen< zu begreifen pflegt: erst in dieser Bedeutung hat es Sinn, von dem Einheitsbegriff des >Typus< eines Menschen der Renaissance, der Antike [...] usf. als dem Inbegriff seiner >Haltung< und Summe seiner Handlungen und seiner Werke überhaupt zu reden.« (73; vgl. hierzu den Exkurs am Ende des Kapitels). Genau betrachtet handelt es sich um eine doppelte Typisierung·. zum einen der überlieferten historischen Gebilde (Wertstil), zum anderen bestimmter seelischer Gesamthaltungen (Lebensstil), die eine analoge Struktur aufweisen sollen. Entscheidend ist demnach als drittes Moment die Parallele, die zwischen beiden gezogen wird. »In ihr liegt«, wie Karl Bühler in bezug auf Dilthey bemerkte, »das Verfahren der Interpretation beschlossen. Man wird [...] nie dies dritte, die Zuordnung, als Brücke vom objektiven geistigen Gebilde zu seinem subjektiven Mutterboden oder seiner subjektiven Wirkung, Verwirklichung oder wie sonst diese Beziehung genannt werden 62

74

Ms. uv. Y U L (s. Anm. 1), S. 69.

mag, entbehren können. Auf die Tragfähigkeit dieser Brücke, auf die Gesetzmäßigkeit solcher Zuordnungen wird zu guter Letzt alles ankommen.«6' Weiter ausgeführt hat Broch diese Gedanken erstmals in den philosophischen Exkursen der Romantrilogie. Inwieweit er dabei auf das im Roman Gestaltete bzw. die Prinzipien des gesamten Aufbaus reflektierte - was auf eine Wirkung auch in umgekehrter Richtung, vom fiktiven historischen Geschehen, das gleichsam als »Verifikation«64 der theoretischen Deutung auftritt, schließen lassen könnte: als Ersatz für die von Bühler geforderte »Brücke« - wird in dem Kapitel über die »Schlafwandler« zu besprechen sein; eine genauere Bestimmung der kulturanthropologischen Begriffe von (Wert-, Lebens- und Denk-) Stil kann dann bereits vorausgesetzt werden. Daß die Ästhetik und im speziellen die Kunst- und Literaturtheorie als Organon wert- und geschichtsphilosophischer, kurz: kulturanthropologischer Forschung zu betrachten sind, war jedenfalls ein Gedanke, mit dem sich Broch bereits um 1918 beschäftigte und den er in Ansätzen auch inhaltlich zu entwickeln versuchte. Allerdings führten diese Versuche zunächst noch - wie in dem zitierten Manuskript - zu ihrem Ausgangspunkt, den logischen und psychologischen Grundfragen der Geschichts- und Kulturtheorie zurück.

2. Die Beschreibung perzeptiver und apperzeptiver Bewußtseinsvorgänge in der Psychologie der Jahrhundertwende Erinnert man sich der Grundthese Brochs, wonach die »Spontaneität von Erleben und Bewußtsein« (KW 10/2, S. 45) die eigentliche Vorbedingung jeder, also auch der wissenschaftlichen Erkenntnis sei, dann wird sofort einsichtig, warum die Erkenntnistheorie auf psychologische Erklärungen nicht verzichten kann. Diese zweite Bedeutungsschicht ist für das Verständnis der Grundgedanken der Brochschen Theorie nicht weniger wichtig als ihre Herkunftsbestimmung aus der Urteilslehre. Ein Unterschied ist damit bereits genannt. Denn eben der Zitatcharakter, mit dem Begriffe wie Bejahung, Sollen und Wert / Wahrheit in sprachlicher Evidenz auf einen theoretischen Zusammenhang verweisen, aus dem heraus sie sich erklären lassen, fehlt den psychologischen Termini. Besitzen sie genügend Erklärungskraft, den theoretischen Ansatz auch ohne einen weiteren Bezugsrahmen zu rechtfertigen? Oberflächlich gesehen scheint es so. Broch verwendet zur Beschreibung des aktiv / reaktiven Bewußtseinsvorgangs zumeist klassische Formeln wie das 6

>

Karl Bühler, Die Krise der Psychologie (1927). Frankfurt/M./Berlin/Wien

1978,

S. 24. 64

Eine ähnliche These hat Hartmut Reinhardt in seiner 1972 erschienenen Studie »Erweiterter

Naturalismus.

Untersuchungen

zum

Konstruktionsverfahren

in

Hermann Brochs Romantrilogie >Die Schlafwandler«« vertreten; vgl. dazu Kapitel I V der vorliegenden Arbeit.

75

cartesianische Cogito ergo sum, dessen Teile er auseinander und gegeneinander stellt, um die Wechselbeziehung zwischen der »kausalierenden Reaktion des Bewußtseins« (Cogito/rational) und der »wertsetzenden Aktion des erlebenden Sum« (irrational) zu verdeutlichen. Dieser Grundgedanke - es ist wirklich ein Grundgedanke mit quasi axiomatischer Geltung - wird in zahlreichen Wendungen immer wieder in die Argumentation eingeführt, oft an Stellen, wo ein Neuansatz begründet werden soll. Seine Verwendung ist jedoch nicht immer einheitlich, was eine Folge der zu kurzen, deshalb vieles voraussetzenden Umschreibung des »intuitiv« gewußten psychologischen Vorganges sein dürfte. Hier entstehen nun - bei genauerem Lesen - Schwierigkeiten für die systematische Rekonstruktion. 6 ' Das läßt sich vor allem an einer Stelle des genannten Manuskripts studieren, wo Broch eine Verbindung zwischen den allgemeinen kunsttheoretischen Erwägungen (51-63) und ihren psychologisch/erkenntnistheoretischen Grundlagen herzustellen versucht (64ff.). Letztere bilden dann den Ausgangspunkt für die Ableitung des Stilbegriffs, der ja, wie ausführlich dargelegt wurde, psychologische Kategorien wie »Lebensstil« oder »Haltung« zur Erklärung voraussetzt. Doch das nur zur Orientierung. Kunstwerke sind zunächst nichts anderes als Gegenstände, die wie beliebige Objekte »erlebt« werden. Broch geht von der banalen Tatsache des Dingerlebens aus, das er unkritizistisch und völlig wertfrei verstanden wissen will: neben dem denkenden Ich gibt es ein nur erlebendes >IchIch< erlebt passiv die gegenständliche Wirklichkeit; zugleich aber »verifiziert« es sich »an« dieser Wirklichkeit bzw. »im« Erleben der Objektwelt. Der Begriff der Verifikation ist nun zweifellos unglücklich gewählt, es sei denn 66 , das Gedankenexperiment einer Trennung von »Sum« und »Cogito« sollte bereits mit diesem Satz aufgegeben werden, da auch aus dem Bewußtsein des Sum das (re)aktive Moment des denkenden Ichs nicht auszuschließen ist; das »>ich weiß< ist das > Vehikel·, das alle Kategorien begleitet«, hatte Broch - Kant zustimmend - in der Einleitung zu dem zweiten >Summanaturhaftes Sein« stehen dem verständlichen, weil sinnbezogenen Sein also sowohl seelische naturhafte als physische naturhafte Geschehnisse völlig gleichartig gegenüber.«6? Diesem »sinnbezogenen Sein« wendet sich Broch im folgenden zu. Allerdings auf einem Umweg. Das Sum ist - wie Broch ausführt - keineswegs nur als der passive, gleichsam physisch-sensorische Teil des Gesamterlebens zu denken, vielmehr ist es umgekehrt gerade der »seiende« Mensch, der allein fähig ist, »Ding-Wirklichkeit als Wert-Wirklichkeit zu setzen.« (66) Hier wiederholt sich auf der Ebene der (intentionalen wie realen) Handlung eben der Fehler, der bereits die Erklärung des »passiven Erlebens« so fragwürdig erscheinen ließ. Wenn man annimmt, das Sum sei mehr als nur unterbewußtes Rezipieren, da es zugleich das aktiv nach außen gewendete Handeln bedinge, dann ist kaum einzusehen, wodurch sich menschliches Handeln noch von tierischem Verhalten unterscheiden sollte, da ihm ja das wichtigste Merkmal des Humanen, eben die 68

69

D a ß die aus der A k t i o n resultierende Wirklichkeit der Dinge als eine »irrationale« zu denken ist, heißt zunächst nur, daß sie noch keiner begrifflichen Bestimmung unterliegt. In dieser Weise bezeichnete Rickert die begegnende Wirklichkeit als »irrational« (vgl. * D i e Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, S. 226f.); inwieweit die Handlung selbst als »irrational« im Sinn von >unberechenbar< verstanden werden kann, ist ein Problem, das mit der Lehre von der menschlichen Willensfreiheit zusammenhängt. Vgl. dazu die treffenden Bemerkungen Max Webers in bezug auf >Knies und das IrrationalitätsproblemPhilosophie des Erkennens< (1911), in der die von Wundt - vielleicht nach dem Vorbild Brentanos - getroffenen Unterscheidungen aufgenommen sind. Der Autor analysiert exakt die drei Stufen des Bewußtseinsvorgangs, die Broch in seiner Grundthese zusammenfaßte: »Aufgabe, Ziele und Methode der Erkenntnistheorie ergeben sich aus der Natur des Erkenntniserlebnisses. In ihm lassen sich [ . . . ] drei Bestandteile unterscheiden: Ein vorstellendes Moment: der Erkenntnisinhalt; ein gefühlsmäßiges: das Zwingende der empfundenen Wahrnehmungs-, Anschauungs- und Denknotwendigkeit; und ein reflektierendes: die Auslegung dieser letzteren im Sinne eines Bestimmtwerdens unseres Vorstellens durch Etwas außer ihm und daranschließend der Gedanke seiner Wahrheit oder objektiven Bedeutung. Das ist der Tatbestand, von dem jede Erkenntnislehre auszugehen hat. «77 Auf eine ausgedehntere Materialsammlung oder Problemvertiefung soll hier verzichtet werden - sie käme dem Versuch gleich, eine Geschichte der Psychologie und Erkenntnistheorie der Jahrhundertwende zu schreiben, was vermessen wäre, da selbst die zeitgenössischen Forschungsberichte nur jeweils Ausschnitte der Diskussion erfassen konnten/ 8 Im folgenden sollen nur einige Grundgedanken der Apperzeptionspsychologie skizziert werden, ausgewählt nach den für das Thema wichtigen Gesichtspunkten. Eine der interessantesten Fragen: die nach der Aufnahme und Ausgestaltung des Apperzeptionsbegriffs in der Husserlschen Philosophie, vor allem in den >Logischen Untersuchungen und den >Ideen ISchlafwandlern< und den kultur- und literaturtheoretischen Essays der 30er Jahre. Versucht man diesen Vorgang zu erklären oder - je nachdem - zu diskreditieren, dann bietet es sich an, Verbindungen zu der einflußreichen geistesgeschichtlichen Epochenforschung (Fritz Strich) und ihrer zyklischen Geschichtsdeutung der »Zerfalls-« und »Blütezeiten« (Friedrich Gundolf) oder der konservativen Geschichtsphilosophie (Oswald Spengler) zu suchen bzw. herzustellen.Doch damit ließe sich allenfalls ein Bruch mit dem ernsthaften Philosophieren, nicht aber eine Entwicklung erklären. Sicherlich hatten die genannten kulturphilosophischen Strömungen in den zwanziger Jahren eine enorme Wirkung, die mit dem steigenden Kurs des Wortes »Weltanschauung« entsprechend zunahm; dennoch bildeten sie — was in der ideologiekritischen Rückschau oft übersehen wird - nur einen Teil jener breiten Bewegung in den Geisteswissenschaften, die von der differentiellen Psychologie über die Charakterologie bis zur Soziologie reichte. Ob dies allein als Einwand gelten kann, bleibt zunächst fraglich, da das den >Schlafwandlern< zugrundeliegende Epochenschema eher jenen ideengeschichtlichen Rastern zu entsprechen scheint, die kurzerhand das »Wesen« einer Epoche als »romantisch« oder »sachlich« bestimmten, um unter solche Begriffe die verschiedensten Oberflächenphänomene einer Kultur zu subsumieren und so - in einem Zirkelschluß - ihre Zusammengehörigkeit zu 79

So etwa Dietrich Scheunemann, Romankrise. Die Entstehungsgeschichte der modernen Romanpoetik in Deutschland. Heidelberg 1978, S. 157.

83

»beweisen«. Eine solche Deutung des Brochschen Epochenbegriffs würde jedoch zu kurz greifen, da sie den wesentlichen Unterschied im Methodologischen verkennt, der die kulturtheoretischen Erwägungen Brochs von denen Spenglers, den Historikern des George-Kreises oder anderen »Zeitgeist«-Philosophien trennt. Brochs Wendung gegen einen modischen Intuitionismus, der sich auf die beschreibende Psychologie Diltheys beruft (vgl. unten Exkurs), gibt an, wo dieser Unterschied zu suchen ist, hatte doch gerade die geistesgeschichtliche Epochenforschung die »Intuition« zu ihrem methodischen Prinzip erhoben. 80 Broch verfährt hier wesentlich systematischer. Bei ihm steht am Anfang der Versuch, den vom Intuitionismus ohne weiteres vorausgesetzten modus operandi zu bestimmen, der die Lebens- und Kulturzeugnisse einer Epoche in ihrer Verschiedenheit einigt. Die Analyse des individuellen Denk- und Handlungsakts führt ihn dabei auf die Begriffe Haltung und Lebens- bzw. Wertstil, die den individuellen Akt mit dem überindividuellen Stil der Epoche verbinden. Der Intuitionismus hielt einen solchen Stufengang der Reflexion für überflüssig, was ihn entsprechend angreifbar macht: da er »es allzu eilig hat, das Prinzip zu finden, das die verschiedenen Aspekte der sozialen Totalität vereinigt, überspringt er die einzelnen Stufen und tut so, als könne er sich auf der Stelle - ganz gleich ob es sich darum handelt, verschiedene Gesellschaften oder verschiedene Sub-Systeme einer Gesellschaft zu vergleichen - kraft eines enormen Sprungs in das Zentrum der verschiedenen Strukturen versetzen, ohne sich vorher zu bemühen, die Strukturen aus den verschiedenen Bereichen allererst zu erarbeiten.« Pierre Bourdieu erinnert in seiner Soziologie der symbolischen Formens aus der hier zitiert wurde, an die kunstphilosophischen Schriften Erwin Panofskys, der mit seiner Definition des Habitus eine methodische Verfahrensweise der Stilgeschichte begründete, die »mit der übereilten und unkontrollierten Anschauung des >IntuitionismusGeschlecht und Charakters i 9 ° î ) den Begriff einer »universalen Apperzeption« entwickelte, mit dem das Wesen des (männlichen) Genies definiert wird. Es ergeben sich kaum Analogien zur psychologischen Thematik bei Broch. Eine sorgfältige Analyse der Romantheorie muß hier den Umweg über wissenschaftsgeschichtliche Erörterungen nehmen. a) Die Apperzeptionspsychologie (Wundt, Lipps, Husserl) Wer heute ein gängiges Lehrbuch der Geschichte der Psychologie zu Rate zieht, um etwas über Wilhelm Wundt, den Begründer der modernen wissenschaftlichen Psychologie zu erfahren, wird kaum eine differenzierte Auskunft über dessen Stellung als Kritiker der naturwissenschaftlichen Psychologie des 19. Jahrhunderts erhalten. Die von Wundt eingerichteten psychologischen »Laboratorien« und die von ihm beschriebene experimentelle Methode empirisch-psychologischer Forschung scheinen selbstverständlich in die positivistische Traditionslinie zu gehören, die von der älteren Assoziationspsychologie (Herbart) ausging, sehr bald aber durch Helmholtz und die >Berliner Physikalische Gesellschaft mit der modernen, rein naturwissenschaftlichen Forschung verknüpft wurde.8·> Zum eigentlichen Repräsentanten dieser »Elementenpsychologie« wurde dann auch ein Naturwissenschaftler, der Physiker Ernst Mach, dessen >Beiträge zur Analyse der Empfindungen< (1886; die späteren Auflagen unter dem Titel >Die Analyse der Empfindungen^ wie eine Programmschrift der materialistischen Forschungsrichtung gelesen wurden; der Höhepunkt, den die naturwissenschaftlich-mechanistische Betrachtungsweise

81

Hans Joachim Schröder, Apperzeption und Vorurteil. Untersuchungen zur Reflexion Heimito von Doderers. Heidelberg 1976, S. 63, vgl. auch S. 48-57. 8 3 Vgl. hierzu Mischel (s. Anm. 9), S. i44ff. sowie die betreffenden Abschnitte im zweiten Band von * F. A . Lange, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. Hg. v. A. Schmidt. Frankfurt/M. 1974.

85

mit der Machschen Schrift erreichte, wurde zugleich jedoch zu einem vorläufigen Endpunkt, da ein neuer theoretischer Ansatz die ältere psycho-physikalische Theorie abzulösen begann. Zu den Begründern dieser neuen wissenschaftlichen Richtung gehörte Wilhelm Wundt. Von der Psychologie des 19. Jahrhunderts übernahm Wundt lediglich die naturwissenschaftliche Methode des Experiments, nicht aber - und das ist entscheidend - die an der Physiologie orientierte Axiomatik der Interpretation. Diese Differenz wird heute oft übersehen. Bewußt in den Hintergrund gerückt hatte sie bereits Wilhelm Dilthey, der bei seiner Kritik an der »erklärenden« Psychologie ebenfalls von der Methode ausging, die er als ungenügend und verfehlt betrachtete, soweit sie experimentell und konstruktiv aus elementaren Beobachtungen etwas nachzuweisen suchte, was umgekehrt nur »vom entwickelten Seelenleben«84 aus zu verstehen und zu beschreiben sei. An Diltheys >Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie< (1894) orientierte sich eine Schule der »geisteswissenschaftlichen« Psychologie, die als die eigentliche Gegenbewegung zur naturwissenschaftlichen Psychologie - gleich welcher Richtung - verstanden werden wollte, obwohl Dilthey die von Wundt begründete Forschung selbst keineswegs pauschal ablehnte. 8 ' Als in der Nachfolge Diltheys Eduard Spranger dreißig Jahre später die >Frage nach der Einheit der Psychologie* stellte, war dies noch immer eine Frage nach der psychologischen Methodik, die nun aber eindeutig dualistisch beantwortet wurde. 8Ä Die Entscheidung zwischen einer »geisteswissenschaftlichen« und einer »naturwissenschaftlichen« Psychologie ließ hier bereits keinen Raum mehr für Differenzierungen, wie sie für das Verständnis der Situation der Psychologie um 1890 notwendig sind, einer Situation, in der drei so unterschiedliche Wissenschaftler wie Ernst Mach, Wilhelm Wundt und Wilhelm Dilthey die Grundprinzipien einer sinnesphysiologischen, einer apperzeptionspsychologischen und einer verstehenden Theorie zur Erklärung psychischer Prozesse entwarfen. Bestünde die Sprangersche Einteilung zu Recht - daß dies nicht der Fall ist, hat Karl Bühler ausführlich nachgewiesen 87 - , dann müßte die von Wilhelm Wundt begründete Schulrichtung zu der »geisteswissenschaftlichen« und nicht zur positivistischen Psychologie gerechnet werden. In zahlreichen Veröffentlichungen hat Wundt die »materialistische« Forschung in der Psychologie als »Pseudowissenschaft« abgelehnt, »die ihre die 8


Klarmachens< des Geschehenen«, also Erlebten, bezeichnet, und sie so einerseits von der nachfolgenden, >wertenden< Bejahung wie andererseits von der »irrationalen« (gleichwohl nicht intentionalitätslosen) »Wert-Wirklichkeitssetzung« unterscheidet, dann wird deutlich, wie synkretistisch die verschiedenen Begriffe seiner Theorie der Bewußtseinsakte eingefügt sind (vgl. KW 10/2, S.45). Es wäre falsch, nur einen dieser Aspekte herauszugreifen oder nur einen der maßgeblichen Theoretiker der Zeit als Gewährsmann zur Erklärung der psychologisch-erkenntnistheoretischen Probleme heranzuziehen. Stattdessen sollte stets auf die Breite dieser Diskussion aufmerksam gemacht werden. Für den Begriff der Setzung, den letzten der genannten Begriffe, dessen Erklärung noch aussteht, gilt das jedoch nur in eingeschränktem Maße. Hier genügt es, die Husserlsche Theorie der »objektivierenden« (V. LU) bzw. »thetisch/doxischen« Akte (Ideen I) zu skizzieren, um die phänomenologische Anwendung dieses von der idealistischen Tradition stark belasteten Ausdrucks zu verstehen. 11 ' Von Wertsetzung war zwar in vielen populären philosophischen Traktaten die Rede, doch nirgends wurde diese Vokabel der Weltanschauungen wirklich philosophisch und damit terminologisch so genau festgelegt wie in den beiden ersten großen Schriften Husserls zur Phänomenologie. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß Broch die Formel von der WertWirklichkeitssetzung nicht im Sinn der klassischen idealistischen Systeme, sondern nach dem Vorbild der phänomenologischen Analysen in der Fünften und Sechsten LU und den Ideen I bildete. Seine geschichtstheoretische Fragestellung behielt dabei jedoch stets Vorrang vor einer genauen phänomenologischen Untersuchung der »Spontaneität von Erleben und Bewußtsein« (KW 10/2, S. 45). Es blieb bei dem theoretisch nicht weiter entwickelten Ansatz, der sich in den späteren Schriften zum bloßen Zitat verkürzen sollte. " J Auf andere Autoren der Brentano-Schulen (Meinong, Külpe) kann nicht eingegangen werden. Einige Hinweise zur gegenwärtigen Diskussion der idealistischen Bewußtseinstheorie, etwa in der »Heidelberger Schule«, gibt Ernst Tugendhat in einer Vorlesungsreihe: >Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung. Sprachanalytische Interpretationen*. Frankfurt/M. 1979, bes. S. 62ff. Die »Wertsetzung«, wie sie bei Nietzsche aus dem Prinzip des »Willens zur Macht« erwächst, spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle; vgl. dazu Abschnitt III/1 der vorliegenden Arbeit. 96

Die Verschiedenheit der Intentionen: auf der einen Seite die strenge deskriptiv-psychologische Analyse der Bewußtseinsakte, deren grundlegende Ergebnisse andererseits einer formalen Wert- und Geschichtsphilosophie integriert werden sollten, spiegelt sich in den Äquivokationen des Begriffs der »Setzung« - verstanden als intentionaler Vollzug und zugleich als empirisches Resultat des Akts - , wie ihn Broch verwendete: »neben dem Denkakt besteht der gedachte Gedanke, neben der Funktion besteht das Realisat der Funktion, neben dem wertsetzenden Akt des Handelns besteht auch der gesetzte Wert, die vollzogene Setzung [...], und die Welt wäre nicht die Wertwirklichkeit, die sie ist, unterläge nicht auch sie der Bewertung durch das Wertsubjekt, der sie ihre Setzung verdankt.« (KW 10/2, S. i6of.; vgl. auch ebd. S. 74) Das führt dann auf die bekannte Unterscheidung zwischen »ethischem« Handeln (Setzen) und »ästhetischem« Bewerten (des Gesetzten), letztlich also zum Begriff des Stils, der beides vereinigt und so die Äquivokation aufhebt. Broch erläutert dies in seiner Autobiographie als Arbeitsprogramm< am Beispiel des Wertmodells: »Das Modell ist phänomenologisch und nicht psychologisch konstruiert. Seine erste Verifikation hat jedoch im psychologischen Bereich zu erfolgen.« (201) Diese Verbindung von Phänomenologie und Kulturphilosophie (im Anschluß an die Wert- und Geschichtsphilosophie des Neukantianismus) wird dann weiter damit begründet, »daß jedwede Wissenschaft, welche sich mit >menschlichem Verhalten< beschäftigt, sei es nun Psychologie, Soziologie, Geschichtsphilosophie oder sonst irgendeine Disziplin in dieser Richtung, sich es in Hinkunft nicht mehr wird erlauben dürfen, vom Wertbegriff und seinen Konstituanten keine Notiz zu nehmen oder jene Methodologie zu ignorieren, die ihr von der Phänomenologie des Wertes geliefert wird.« (202) Die autobiographische Schrift, aus der hier nochmals zitiert wurde, ist insofern aufschlußreich, als sie bestätigt, was die Analyse der Texte ergibt: Broch versucht eine umfassende Kulturtheorie gleichzeitig »von den verschiedensten Punkten aus« (203) zu entwickeln. Um es in eine Formel zu fassen: Broch sucht in Orientierung an neukantianischer Wertphilosophie und phänomenologischer Bewußtseinsanalyse nach einer handlungstheoretischen Begründung der Geschichtswissenschaften. In den Voraussetzungen und in der Zielrichtung stimmt er hier - in bezug auf den Neukantianismus - mit Max Weber überein. Wohlgemerkt nur, was den geistesgeschichtlichen Zusammenhang angeht, den Wolfhart Pannenberg untersucht hat: »Als ein Ausweg aus dem Subjektivismus und Relativismus, in den sich Diltheys Ansätze zur Begründung der Geisteswissenschaften verstrickten, konnte sich die von Rickert und Husserl in Verbindung mit ihrer Kritik der geisteswissenschaftlichen Psychologie Diltheys geforderte Unterscheidung der sinnhaften Strukturen des Geistes von der Sphäre der seelischen Akte anbieten. [ . . . ] Eine solche Unterscheidung belastet sich jedoch mit der Frage nach 97

der Realität des Geistes. Sollte diese Frage nicht durch den Rückgriff auf die idealistische Geistmetaphysik beantwortet werden, so boten sich als Alternative nur die transzendentalen Geltungstheorien des Neukantianismus oder die Bewußtseinsintentionalität Husserls an. In beiden Fällen wurde die Sinnerfahrung anders als bei Dilthey auf Akte eines sinngebenden Bewußtseins zurückgeführt. Dabei konnte als >Sinn< der subjektiv vermeinte Gegenstand hinsichtlich seines noematischen Inhalts oder aber die >Wertbeziehung< der erlebten Inhalte verstanden werden. Mit dem Zurücktreten der Überzeugung vom Primat der Erkenntnistheorie, mit der auch die Husserlsche Konstitutionsproblematik des sinngebenden Bewußtseins verblaßte, konnte eine allgemeine Theorie des Handelns als Grundlage der Humanwissenschaften in den Vordergrund ihrer wissenschaftstheoretischen Problematik rücken.« 114 Das ist der Bezugsrahmen, in dem sich bei Broch die Aneignung bestimmter Grundbegriffe der Husserlschen Philosophie vollzieht. Zu ihnen gehörte - als Chiffre der Intentionalitätsproblematik - der Begriff der Setzung, wie er in den L U als Bezeichnung einer bestimmten qualitativen Aktmodifikation eingeführt wird. Wie oben bereits gezeigt, unterschied Husserl innerhalb der »intentionalen Erlebnisse« zwischen bloßen Empfindungen und den sie »beseelenden«, sinnstiftenden Akten der Apperzeption, die das eigentliche Gegenstandsbewußtsein erzeugen. Mit dieser Unterscheidung setzte sich Husserl ab von der Intentionalitätslehre Brentanos, für den es keine »leeren«, intentionalitätslosen Empfindungen gab. 1 1 ' In den wesentlichen Punkten folgte er jedoch der Theorie seines Lehrers, um zu einem Begriff der Erkenntnis zu gelangen, der sich in charakteristischer Weise von demjenigen unterschied, den Rickert im Anschluß an Brentano entwickelte (vgl. o. Abschnitt II/1). Husserls Begriff der Erkenntnis ist nicht kontemplativ, ebensowenig wie der Rickerts, doch umfassender als dieser, da er das Moment des Setzens (bzw. der δόξα), also des seinskonstituierenden Aktes im intentionalen Erlebnis, nicht auf das bejahende oder verneinende Urteil einschränkt. 116 Affirmative oder negative Urteile sind für ihn nur Modifikationen der »Qualität« eines intentionalen Aktes. Um es zu wiederholen: Husserl unterscheidet zunächst den reellen, rein empfindungsmäßigen Inhalt des intentionalen Erlebnisses von dem intentionalen, durch Apperzeption gestifteten gegenständlichen Inhalt; hier differenziert er dann weiter in drei verschiedene Begriffe von intentionalem Inhalt: »den i n t e n t i o n a l e n G e g e n s t a n d des Aktes, seine

114

Wolfhart Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt/M. S. 8if.

"s

Vgl. "'Husserl, L U I I / i , S. 369 und 392.

116

Vgl. hierzu Kern (s. A n m . 56), S. 389ff.

98

1973.

¡ n t e n t i o n a l e M a t e r i e (im Gegensatz zu seiner i n t e n t i o n a l e n Q u a l i tät), endlich sein i n t e n t i o n a l e s W e s e n . « " 7 Der erste Begriff ist relativ leicht zu erklären: schließlich wird in jedem Akt »etwas« als Gegenstand intendiert." 8 Weniger selbstverständlich erscheint bereits die zweite, in diesem Zusammenhang wichtigere Bestimmung des intentionalen Inhalts nach Qualität und Materie. Für Husserl liegt hier der Unterschied »zwischen dem allgemeinen Charakter des Aktes, der ihn je nachdem als bloß vorstellenden, oder als urteilenden, fühlenden, begehrenden usw. kennzeichnet, und seinem >Inhalt2X2=4< und >Ibsen gilt als Hauptbegründer des modernen Realismus in der dramatischen KunstInhaltspsychischen Phänomene< mitbenutzt hat, nämlich daß jedes solche Phänomen, oder in unserer Begrenzung und Benennung, daß j e d e s i n t e n t i o n a l e E r l e b n i s e n t w e d e r eine V o r s t e l l u n g ist, oder auf V o r s t e l l u n g e n als s e i n e r G r u n d l a g e b e r u h t . Genauer ausgeführt, ist der Sinn dieses merkwürdigen Satzes der, daß in jedem Akte der intentionale Gegenstand ein in einem A k t e des Vors t e l l e n e s v o r g e s t e l l t e r Gegenstand ist, und daß, wo es sich nicht von vornherein um ein >bloßes< Vorstellen handelt, allzeit ein Vorstellen mit einem oder mehreren weiteren Akten, oder vielmehr Aktcharakteren, so eigentümlich und innig verwoben ist, daß hierdurch der vorgestellte Gegenstand zugleich als beurteilter, erwünschter, erhoffter u. dgl. dasteht.« (427) Wie nun Husserls detaillierte Untersuchungen ergeben, besitzt der hervorgehobene Satz nur »vermeintliche Evidenz«. Grund dafür ist der Doppelsinn von »Vorstellung«: »In seinem ersten Teil spricht der Satz, richtig verstanden, von 117

Husserl, L U II/1, S. 399. Die folgenden Seitenverweise im Text beziehen sich auf diese Ausgabe. Vgl. e b d . , S . 4 i 2 f .

99

Vorstellung im Sinne einer gewissen A k t art, im z w e i t e n von Vorstellung im Sinne der bloßen [...] A k t m a t e r i e . D i e s e r zweite Teil f ü r sich, also der Satz, >jedes intentionale Erlebnis habe eine Vorstellung zur Grundlage^ wäre, sofern V o r s t e l l u n g als k o m p l e t t i e r t e M a t e r i e gedeutet würde, eine echte E v i d e n z . Der falsche und von uns bekämpfte Satz erwächst, wenn Vorstellung auch hier als Akt gedeutet wird.« (458) Was heißt es nun, daß »Vorstellung« in dem ersten Sinn eine eigene Aktqualität darstellt? Sie wird den anderen Qualitäten nicht gleichgeordnet, sondern gegenübergesetzt: sie enthält nicht, wie alle anderen qualitativen Akte, eine Seins-Stellungnahme (Setzung), sie ist dem Sein der Dinge gegenüber gleichgültig. So kann jeder setzende Akt durch eine bloße Vorstellung als einer qualitativen Aktmodifikation in einen nicht-setzenden überführt werden: »wir verstehen Aussage-, Frage-, Wunschsätze, ohne selbst zu urteilen, zu fragen, zu wünschen. Desgleichen jedes nichtausdrückliche >bloße Vorschwebenhaben< von Gedanken, ohne jedwede >Stellungnahmebloße< Phantasieren usw.« (4j6f.) Der andere Begriff von »Vorstellung« umfaßt die Aktmaterie. Danach ist der Satz Brentanos in seiner zweiten Hälfte ohne weiteres zu akzeptieren; ein »Vorstellig-machen« liegt allen intentionalen, auf einen Gegenstand bezogenen Erlebnissen zugrunde. Durch die Aktmaterie läßt sich zwischen Sätzen differenzieren, die als nominale Akte einen Sachverhalt einfach vorstellen (sich in einer »einstrahligen Thesis« auf ihn richten) und solchen, die in propositionalen Akten eine Aussage über ihn treffen. Diese »mehrstrahligen« (synthetischen) Urteile können stets in eine Thesis umgeformt werden, sie sind »nominalisierbar« (vgl. ebd. S. 474). Damit wären alle wichtigen Kategorien genannt, mit denen Husserl in der V. L U eine umfassende Gattung intentionaler Erlebnisse abgrenzt, »welche all die betrachteten A k t e nach ihrem qualitativen Wesen z u s a m m e n b e f a s s t und den weitesten B e g r i f f b e s t i m m t , den der Terminus Vorstellung i n n e r h a l b der G e s a m t k l a s s e der i n t e n t i o n a l e n E r l e b nisse bedeuten kann. Wir selbst wollen diese qualitativ einheitliche und in ihrer natürlichen Weite genommene Gattung als die der objektivierenden Akte bezeichnen. Sie ergibt, um es klar gegenüberzustellen, ι. durch qualitative Differenzierung die Einteilung in die setzenden Akte die Akte des belief, des Urteils im Sinne Mills und Brentanos - und in die nichtsetzenden, hinsichtlich der Setzung >modifizierten< Akte, die entsprechenden >bloßen Vorstellungen^ Wie weit der Begriff des >setzenden< belief reicht, inwiefern er sich besondert, das bleibe hier offen. 2. Durch Differenzierung der Materie ergibt sich der Unterschied der nominalen und propositionalen Akte [...].« (481) 100

Die seinskonstituierenden Bewußtseinsakte blieben ein zentrales Thema der Husserlschen Philosophie auch nach der vielerörterten »transzendentalen Wende« in den Ideen I (1913). In der Beschreibung hier einfach fortzufahren - was naheliegend wäre - , ist nicht unproblematisch, da die Darstellung jedes Einzelproblems die Berücksichtigung des entwickelten phänomenologischen Standpunkts fordert. Nun kann es nicht Aufgabe dieser Untersuchung sein, eine Einleitung in die phänomenologische Methode der 'εποχή zu geben, wofür auf entsprechende Handbücher oder besser auf Husserl selbst zu verweisen ist; 11 !' entlastend wirkt dabei die Tatsache, daß Broch in seinen Schriften keine phänomenologische Reduktion vollzieht. Er verharrt in der »natürlichen Einstellung« des Cogito, ohne auf die noetisch-noematische Struktur des »reinen« Bewußtseins näher einzugehen. Diese Einschränkung ist im folgenden stets mitzubedenken. Immer vorausgesetzt natürlich, daß Brochs Zitat der husserlschen Begriffe auf deren ursprüngliche Bedeutung zurückweist. Es soll mit einer Reihe von Betrachtungen begonnen werden, bei denen Husserl noch keine phänomenologische 'εποχή voraussetzt. Dazu gehören auch die intentionalen Erlebnisse der LU. Um eine schärfere terminologische Unterscheidung zu ermöglichen und um eindeutige historische Bezüge herzustellen, führt Husserl hier die cartesianischen Begriffe cogito, cogitatio und cogitatum ein. Er beginnt mit einer Analyse des >Bewußtseins überhaupt^ Man darf vermuten, daß Broch von diesem ursprünglichen Philosophieren und seinem umweglosen Ansatz beim eigenen Erleben beeindruckt war; und nicht nur er allein: die Phänomenologie wurde aufgrund ihrer Methode Broch kennzeichnet sie als »positivistisch« - von vielen Jüngeren als »strenge« Wissenschaft und, da sie keine Theorie der Einzelwissenschaften sein wollte, als die eigentliche Gegenwartsphilosophie verstanden. 110 Bei der Erklärung des cogito als intentionalem Erlebnis kann auf bereits Gesagtes zurückgegriffen werden. Husserl schildert diesen »wachen« Bewußtseinsvorgang als einen Akt apperzeptiver Aufmerksamkeit, wobei er sich nicht weit von den psychologischen Deskriptionen Wundts oder Lipps' entfernt (vgl. Ideen I, § 3 j). Die eigentliche »intentio« ist damit jedoch noch nicht verstanden. Sie kann von zweifacher Art sein: Es ist zu beachten, daß i n t e n t i o n a l e s Objekt eines Bewußtseins (so genommen, wie es dessen volles Korrelat ist) keineswegs dasselbe sagt wie e r f a ß t e s Objekt.

120

E. Ströker, Das Problem der epoché in der Philosophie Edmund Husserls. Dordrecht 1970; P. Janssen, Edmund Husserl. Einführung in seine Phänomenologie. Freiburg/München 1976. Vgl. Helmuth Plessner, Phänomenologie. Das Werk Edmund Husserls (18 59—1938). In: Zwischen Philosophie und Gesellschaft. Frankfurt/M. 1979, S. 43-66, bes. S. 57. Max Bense, Die Philosophie (Zwischen den beiden Kriegen Bd. 1). Frankfurt/M. 19JI, S. i32ff.

101

[ . . . ] Einem Dinge freilich können wir nicht anders als in der erfassenden Weise zugewendet sein, und so allen » s c h l i c h t v o r s t e l l b a r e n < G e g e n s t ä n d l i c h k e i ten : Zuwendung (sei es auch in der Fiktion) ist da eo ipso >ErfassungBeachtungSache< und dem v o l l e n i n t e n t i o n a l e n O b j e k t unterscheiden, und entsprechend eine d o p p e l t e i n t e n t i o , ein zwiefaches Zugewendetsein. [ . . . ] I n j e d e m A k t w a l t e t ein M o d u s d e r A c h t s a m k e i t . Wo i m m e r er a b e r k e i n s c h l i c h t e s S a c h b e w u ß t s e i n i s t , wo immer in einem solchen Bewußtsein ein weiteres zur Sache »stellungnehmendes« fundiert ist: da t r e t e n S a c h e u n d v o l l e s i n t e n t i o n a l e s O b j e k t (z.B. »Sache und Wert«), ebenso A c h t e n u n d I m - g e i s t i g e n - B l i c k h a b e n a u s e i n a n d e r . [ . . . ] Wir fügen ferner bei: Im cogito lebend, haben wir die cogitatio selbst nicht bewußt als intentionales Objekt; aber jederzeit kann sie dazu werden, zu ihrem Wesen gehört die prinzipielle Möglichkeit einer » r e f l e k t i v e n « B l i c k w e n d u n g und natürlich in Form einer neuen cogitatio, die sich in der Weise einer schlichterfassenden auf sie richtet. Mit anderen Worten, jede kann zum Gegenstande einer sog. »inneren Wahrnehmung« werden, in weiterer Folge dann zum Objekte einer r e f l e k t i v e n Wertung, einer Billigung oder Mißbilligung usw. 121 Damit wären die beiden wichtigsten Elemente genannt, die den Brochschen Ansatz in entsprechender Modifikation bestimmen. Z u m einen die »WertWirklichkeitssetzung« im intentionalen A k t , der auf einer zweiten Stufe die Reflexion und Bewertung folgt (der intentionale A k t des cogito entspricht in dieser Hinsicht - von dem assertorischen Modus der »Seinssetzung« einmal abgesehen - den psychologischen Ausführungen zum Apperzeptionsbegriff). Diese Stufenfolge wurde auch in der erkenntnistheoretischen Psychologie bei Natorp und Münsterberg betont. 1 2 2 Der höherstufige, »thetische« A k t der Seinssetzung wird von Husserl transzendental gefaßt: »die ganze r ä u m l i c h - z e i t l i c h e W e l t , der sich Mensch und menschliches Ich als untergeordnete Einzelrealitäten zurechnen, (ist) i h r e m S i n n e n a c h b l o ß e s i n t e n t i o n a l e s S e i n , also ein solches, das den bloßen sekundären, relativen Sinn eines Seins f ü r ein Bewußtsein hat. E s ist 121 122

102

^Husserl, Ideen I (s. Anm. 107), S. 66f. Paul Natorp, Husserls »Ideen« zur einer reinen Phänomenologie. In:*Logos 7(1917/ 18), S. 224-246, bes. S. 236; Hugo Münsterberg (s. Anm. 78), S. 50 passim.

ein Sein, das das Bewußtsein in seinen Erfahrungen setzt, das prinzipiell nur als Identisches von einstimmig motivierten Erscheinungsmannigfaltigkeiten anschaubar und bestimmbar - d a r ü b e r h i n a u s aber ein Nichts ist.« (93) Z u dieser Welt intentionalen Seins gehört auch die Region der »Werte«. Mit ihrer Setzung gewinnt die phänomenologische Bewußtseinsanalyse ontologischen Sinn (vgl. Ideen I, § 177). Es muß hier eine offene Frage bleiben, inwieweit sich diese Theorie der Seinsregionen mit der in der Rickertschen Transzendentalphilosophie entwickelten Vorstellung von einem irrealen »Reich der Werte« (vgl. u. S. 129) parallelisieren läßt; I 2 J ein solcher Vergleich könnte erst dann sinnvoll vorgenommen werden, wenn die noetisch-noematische Struktur des reinen Bewußtseins, d. h. die phänomenologische Methode insgesamt erklärt wäre (und hier würde dann der Hinweis auf Freges Sinnbegriff ebenso zwingend erscheinen 124 ). Daß Broch den Aufbau dieser noetisch-noematischen Sinnsphäre nicht ausdrücklich thematisiert hat, wurde bereits erwähnt. Diese Tatsache verwundert um so mehr, als allein durch den im N o e m a gegebenen Sinn eine logische Ableitung des »Geist«-Begriffs möglich erscheint; und das ist ja die eigentliche Grundfrage der Brochschen Untersuchung (vgl. o. S. j8f.). Wenn die dingliche Manifestation des überindividuellen Stils einer Epoche auf das (Wert-)Denken und Handeln einzelner Menschen zurückbezogen und dadurch erklärt werden soll - womit ein geradezu klassisches Problem des Kulturverstehens aufgeworfen w i r d 1 2 ' - , dann kann eine Vermittlung zwischen diesen verschiedenen, aber als homolog strukturiert gedachten Bereichen einer ideell, psychisch und physisch existierenden Kultur nur im Habitus, in der Sinnsphäre des Geistigen gesucht werden. Die Husserlsche Philosophie bietet für die logisch-erkenntnistheoretische Begründung eines solchen Ansatzes nur einen Zugang: über das N o e m a , das zwischen A k t und intendiertem Gegenstand vermittelt. In dieser Sphäre treten die aus der Aktanalyse der L U und der Ideen I bereits bekannten Unterschei-

" 3 Vgl. O . Kraus (s. A n m . 48), S . 2 3 5 . Vgl. Dagfinn Fellesdal, Husserl und Frege. Ein Beitrag zur Beleuchtung der Entstehung der phänomenologischen Philosophie. O s l o 1958. " s U m ein berühmtes Beispiel herauszugreifen: wenn Goethe in seiner frühen Schrift >Von deutscher Baukunst< (1772) zu erklären versucht, warum der gotische Stil ein charakteristisch »deutscher« Stil sei, dann liegt genau dieses kulturphilosophische Problem zugrunde. In >Über die Gegenstände der bildenden Kunst< (1797) wird Stil von Goethe dann genauer als »idealische Darstellung« erläutert, dargestellt wird das »Gesetzliche« der Wirklichkeitsverhältnisse, das die Kunst aus den individuellen Ereignissen zu abstrahieren vermag. Z u r Problematik des daraus erwachsenden Symbolbegriffs vgl. Peter Kobbe, Art. Symbol. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte (2. A u f l . ) Bd. 4 (1984), S. 3 0 8 - 3 3 3 . Z u r Geschichte des Problems und seiner verschiedenen Deutungen, vor allem bei dem ersten »historischen Soziologen«, Justus Moser, vgl. Isaiah Berlin, Die Gegenaufklärung. In: Berlin, Wider das Geläufige. Aufsätze zur Ideengeschichte. F r a n k f u r t / M . 1982, S. 6 3 - 9 2 , bes. S. 78.

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düngen wieder auf. Die intentionalen Erlebnisse sind hier dann entsprechend ihrer noetischen Setzungs- und noematischen Seinscharaktere aufzugliedern (vgl. Ideen I, § 8 4 ff.). Um eine Verbindung zwischen Phänomenologie und Kulturphilosophie auf der skizzierten Grundlage bemühten sich Roman Ingarden und Eduard Spranger.126 Auf Sprangers Schriften zur geisteswissenschaftlichen Psychologie wird an späterer Stelle zurückzukommen sein. Es handelt sich jedoch, wie gleich hinzugefügt werden soll, um eine eher oberflächliche Berührung mit der Phänomenologie. Bei Broch sollten ähnliche Berührungspunkte mit nicht geringeren Vorbehalten genannt werden. Um nur einen herauszugreifen: Brochs Begriff der »Haltung«, der die intentionale Wertsetzung mit der realen derart verknüpfen soll, daß eine homologe Entsprechung entsteht, bleibt nach der Seite der Handlung hin (»Wirklichkeitssetzung«) theoretisch unentwickelt. Dieses Problem soll nun abschließend noch genauer behandelt werden. Gleichzeitig lassen sich damit die komplexen Ausführungen zur Psychologie und Erkenntnistheorie zusammenfassen. Die Psychologie der Jahrhundertwende untersuchte den aktiven Anteil des Subjekts am Wahrnehmungsprozeß, die »sinngebende« Leistung der Apperzeption, die aus rein perzeptiven Empfindungsdaten den eigentlichen Gegenstand im Bewußtsein formt. Damit verbinden sich Begriffe wie Aufmerksamkeit, Selektion und Reflexion, die im Thema der Intentionalitätsanalyse wiederkehren. Von Husserl wurde die »intentio« der Bewußtseinsakte als eine doppelte beschrieben: neben das apperzeptive Erfassen tritt die seinskonstituierende Stellungnahme, die dem Sachbewußtsein das volle intentionale Objekt - z. B. den »Wert« - korreliert (die phänomenologische Reduktion wird hier nicht berücksichtigt). Die Wert-Wirklichkeitssetzung bleibt als Teil der intentionalen Erlebnisse im Bereich phänomenologischer Deskription, das heißt der Bewußtseinanalyse im weitesten Sinn. Diese Grenze wird von Broch überschritten. Es findet sich zwar auch die intentionale Bedeutung des Begriffs der »Wertsetzung«, doch überall drängt die Darstellung des Bewußtseinsvorgangs auf die Verbindung zur realen, nach außen gewendeten Handlung des Individuums, das seine »irrationale Wirklichkeitssetzung« spontan reflektiert und bewertet. Die Aktion geht der Apperzeption voraus. Das Verhältnis kehrt sich dann jedoch wieder um, insofern »die wertsetzende Aktion in ihrer spontanen Gleichzeitigkeit von jener 126

104

Vgl. Eduard Spranger, Zur Theorie des Verstehens und zur geisteswissenschaftlichen Psychologie. In: * F S Volkelt. München 1918, S. 3 $ 7 - 4 0 3 , bes. Kap. 3, S. } 6 i f f . sowie den Hinweis bei Pannenberg (s. Anm. 114), S. 81. Z u Ingarden vgl. die Bibliographie in: Theorien der Kunst. Hg. v. D. Henrich u. W. Iser. Frankfurt/M. 1982, S. 6oif. sowie in der Einleitung »Theorieformen moderner Kunsttheorie« (D. Henrich) die Seiten i8ff.

individuellen Kausalierung< ihrer Re-Aktion nicht unberührt bleiben darf.« (KW 10/2, S.73) Der Mensch handelt habituell seinen intentionalen Wertsetzungen entsprechend. Oder anders gewendet: der Mensch partizipiert als geistiges Wesen an einer Welt ideal geltender Werte (Sollen), nach denen er sein Handeln ausrichtet. Die ideell geltenden und faktisch anerkannten Werte gehören nicht denselben Wertregionen an, teilen aber im Bewußtsein den Ort ihrer Bestimmbarkeit. Davon zu trennen ist die Wirklichkeit der Dinge, in der sich durch die Handlung des Menschen »Werte« realisieren. Doch wie ist dieser Ubergang vorzustellen? Handelt es sich nicht um inkommensurable Wertbereiche, die durch die Kluft zwischen Physischem und Psychischem getrennt werden? Die Frage nach der Materialisierung des Wertes, mit der dieses Kapitel eingeleitet wurde (vgl. o. S. 58) und die den Abschluß der gesamten Theorie bilden sollte, ist bis jetzt unbeanwortet geblieben. Die Verbindung zwischen den beiden verschiedenen Wertbereichen scheint für Broch evident, sie bedarf keiner weiteren Erklärung (vgl. KW 10/2, S. 74Ì·). Fordert man eine solche, dann bleibt allein die »irrationale Wirklichkeitssetzung«, die Handlung, als Verbindungsglied bestehen. Fritz Münch, ein von Broch im Rahmen seiner Rickert-Studien erwähnter Geschichtsphilosoph, formulierte mit deutlichem Bezug auf Fichte, dessen Philosophie in der Rickert-Schule stark rezipiert wurde: »die >Tat< ist die Ueberführung des Wertes aus der Form der bloßen >Gesinnung< (des >GewissensWerk< weiter wirkt. [ . . . ] Die >Tathandlung< schlägt die Brücke zwischen dem Sinnzusammenhang >Welt< und dem Sinnzusammenhang >MenschTheorie des objektiven Geistes < (1923), einem Buch, das in denselben kulturphilosophischen Diskussionszusammenhang gehört - was zugleich heißen soll, daß Freyer hier auf seinen für ihn sonst typischen »dithyrambisch-mystischen« Stil (Lukács) weitgehend verzichtet - , einen Vorschlag gemacht. Freyer versucht den realen Schaffensprozeß aus seinem Vollzug heraus zu verstehen. Die Analyse führt zu der wichtigen, deshalb aber noch keineswegs neuen Einsicht, daß das Ergebnis eines schöpferischen Aktes aus der Wechselwirkung subjektiver und objektiver Bedingungen entsteht. Die dem Individuum gegenübertretenden »Welten« des Objektiven besitzen ihre eigene Logik, die den vermeintlich autonomen Schöpfungsakt prägen. »Nur weil der Mensch in jenen Welten eigne Strukturen vorfindet, kann er rein gegenständliche Sinngehalte mit Bündigkeitswert zusammenfügen oder sich zusammenfü127

Fritz Münch, Vom Sinn der Tat. Eine »subjektstheoretische« Analyse. In: ' L o g o s 6 (1917), S. 41-57, hier S. 53 u. 56. Broch erwähnt Münch in einem uv. Ms. Y U L (s. Anm. 32). 105

gen lassen.« 128 Das Schema der Handlung ist damit noch nicht vollständig. Die nichtaktive Seite im Schaffensprozeß muß durch die Kategorie des formenden Individuellen ergänzt werden. Freyer verweist hier auf die Intentionalität der Vorstellungs- und Denkakte, w o ein ähnliches Wechselverhältnis herrscht. Er formuliert jedoch sehr vorsichtig, daß es sich nur um eine Analogie handle, die sich im Prozeß des Schaffens »in genau entsprechender Umkehrung« zeigt, wobei die Handlung einen ähnlichen Primat erhält wie in der Theorie Münchs oder Brochs: es wird »(damit beginnt das Schaffen) vom lebenden Subjekt zwischen gewissen Inhalten dieser Welt ein gegenständlicher Spannungszusammenhang gesetzt [...]. Auf diese erste, rein aktive Ursetzung [!] erfolgt aber nunmehr sofort die Reaktion der gegenständlichen Welt. Die ganze objektive Struktur dieser Welt macht sich geltend. Was im ersten Schaffensakt an objektiver Spannung gesetzt wurde, wirkt als Kristallisationskern für das Verhältnis der objektiven Inhalte zueinander, die im Sinne der Eigengesetzlichkeit ihres Sachzusammenhangs zusammenschießen.« (9$f.) Das Werk löst sich in einem fortschreitenden Prozeß von dem Handelnden ab, um ihm schließlich als objektive Form gegenüberzustehen. Gleichwohl nicht als »naturhafte«; in dieser Radikalität sollte das Verhältnis von Mensch und Kultur erst von der neueren Wissenssoziologie analysiert werden (das dabei zur Anwendung kommende Verfahren der Rekonstruktion ist nicht unkritisiert geblieben 12 '). Freyer begreift die entstehende Differenz zwischen objektivem Gegenstand und aktivem Gestalten als wesentlich, da sie die Möglichkeit einer verstehenden Interpretation geschaffener Kulturgegenstände begründet: »Das Werk hat durch die opferhafte Selbstentäußerung des schaffenden Geistes etwas erhalten, was ein Gegenstand von sich aus nie hat: nämlich Sinn, eigne Bündigkeit; es ist geistgeladene Materie geworden.« (98) Mit diesen emphatischen Sätzen erschöpft sich auch bei Freyer die Kraft strenger Analyse; denn obwohl der quasi-produktive Anteil des Dinglichen am Schaffensprozeß berücksichtigt wird, ist Freyer der Beantwortung der eingangs gestellten Frage - die er sich übrigens selbst stellte (vgl. a. a. O. S. 89^) - keinen Schritt näher gekommen. Ein Resümee erübrigt sich. Husserl, der in seinem Aufsatz >Philosophie als strenge Wissenschaft (1910) die Problematik einer theoretischen Grundlegung 128

Hans Freyer, Theorie des objektiven Geistes. Eine Einleitung in die Kulturphilosophie (1923). Darmstadt 1973, S. 93. Georg Lukács wurde zitiert aus: Die Zerstörung der Vernunft. Werke Bd. 9. Neuwied 1962, S. 558; zu Freyer vgl. außerdem: René König, Zur Soziologie der zwanziger Jahre. In: Studien zur Soziologie. Frankfurt/ M . 1971, S. 9 - 3 7 ; Elfriede Uner, Jugendbewegung und Soziologie. Wissenschaftssoziologische Skizzen zu Hans Freyers Werk und Wissenschaftsgemeinschaft bis 1933. In: Rainer Lepsius (Hg.), Soziologie in Deutschland und Österreich 1918-1945. K Z f S S Sonderheft 23 (1981), S. 1 3 1 - 5 9 .

129

Vgl. Günter Dux, Die Logik der Weltbilder. Sinnstrukturen im Wandel der Geschichte. Frankfurt/M. 1982, S. $6ñ.

10 6

der Geisteswissenschaften reflektiert hat, formulierte apodiktisch: »Es treten [ . . . ] scharf auseinander: Weltanschauungsphilosophie und wissenschaftliche Philosophie als zwei in gewisser Weise auf einander bezogene aber nicht zu vermengende Ideen.« 1 ! 0 Genau dies: eine systematische Verbindung beider Bereiche, glaubte William Stern mit seiner »personalistischen Psychologie« gefunden zu haben. Die personale Psychologie William Sterns findet auch heute noch Beachtung, selbst in ihrem problematischsten Teil, w o sie als »Charakterologie« in die Nähe einer Wissenschaftsauffassung gerät, die mit einer szientifischen Psychologie unvereinbar scheint. Eben hier verknüpft Stern die Individualpsychologie mit einer Weltanschauungslehre. Seinen im »Personalen« wurzelnden Entwurf hat er in zahlreichen Schriften mit Blick auf die wissenschaftliche Psychologie theoretisch zu begründen versucht, ein Umstand, der die ernsthafte Beschäftigung mit dieser »Psychologie der Weltanschauungen« (Jaspers) und ihrer Grundlage: der differentiellen Psychologie, die die konkrete Fülle des historisch Individuellen systematisch gliedern soll, entsprechend erleichtert. Stern akzeptiert weitgehend die von Wundt und Lipps geschaffenen Grundlagen einer Apperzeptionspsychologie, deren wichtigste Kategorien (strenggenommen Meta-Kategorien) - die des perzipierten Phänomens und seiner bewußten Verarbeitung im A k t - er durch eine dritte, die der Disposition, ergänzt, von der er einschränkend bemerkt, daß sie »sich erst ihr Anrecht auf grundsätzliche Würdigung erkämpfen muß.« 1 ' 1 Im psychischen wie im physischen Erleben verzeichnet Stern eine Stufenfolge verschiedener Schichten, die in beiden Bereichen parallel auftreten. A n der Basis sind es die elementaren Phänomene des Erlebens und Empfindens, die auf einer zweiten, davon völlig getrennten Stufe des Bewußtseins 1 ' 2 als für ein Subjekt gegebene Phänomene erfaßt werden (um nur die psychische Schichtung zu nennen). Dieser A k t der Apperzeption ist ein momentaner psychischer Tatbestand, der in die ununterbrochene Folge subjektiver Bewußtseinserlebnisse eingeht. Doch indem er sich in der Dauer des Erlebens auflöst, hinterläßt er eine Wirksamkeit, aus der andere Akte entstehen, so wie er aus einer Summe gleichgearteter Akte hervorgegangen ist: »>Wenn wir ein Erleben annehmen, müssen wir auch annehmen, daß es Wirkungen hat< und auf das Verhalten weitgehenden Einfluß ausübt. Es muß Verhaltensformen geben, die durch Erleben gewissermaßen reflexiv •3° ^Edmund Husserl, Philosophie als strenge Wissenschaft. Hg. v. W. Szilasi. Frankfurt/M. (2. Aufl.) 1971, S.61. '•>' ^William Stern, Die Psychologie und der Personalismus. Leipzig 1917 (Sonderdruck aus der »Zeitschrift für Psychologie«, Bd. 78, Η. 1 u. 2). 131 Vgl. ebd., S. 20: »Phänomene und Akte gehören zwei verschiedenen Dimensionen an; die Phänomene sind selbst nicht aktiv, die Akte sind nicht selber Bewußtseinsphänomene.« 107

gelenkt werden.« 13 ' Stern nennt diese die »Potentialität« des Handelns, die den spontanen Vollzug der einzelnen Akte in Konvergenz mit der Impuls und Material gebenden Umweltsituation bedingt. Der Begriff der Potenz war auch für Natorp »der eigentlich systembildende Begriff der Psychologie«. Als solcher bezeichnet er das bloße »Stadium der Möglichkeit«, das »von dem des wirklichen Stattfindens des bezüglichen >Aktes«< zu unterscheiden ist. Er hat nichts zu tun mit dem physikalischen oder physiologischen Begriff der Kraft oder Energie als einer »Bedingung«, wie ihn die Naturwissenschaften allgemein annehmen; »Potentialität« soll jedoch ebensowenig - und hier unterscheidet sich Natorp von Stern 1 ' 4 - teleologisch verstanden werden als »Eingestelltsein der Person auf Erreichung bestimmter Lebensziele«. 1 " Diese potentiellen Fähigkeiten prägen, wie Stern ungeachtet rationalistischer Einwände ausführt, als »Dispositionen« das Verhalten des Menschen. Mit der Frage, wie sich die verschiedenen Dispositionen der Denk-, Willens- und Aufmerksamkeitstätigkeiten zueinander verhalten, wird die letzte Stufe der psychischen Schichtung erreicht, in der die jeweiligen Grunddispositionen integriert sein sollen: das Ich (im Physischen: der »Organismus«), das als »Substanz« zu denken ist, »nicht im Sinne des starren einfachen Seelendings, vielmehr im Sinne der unitas multiplex, welche die lebendige Fülle alles Psychischen im Nebeneinander und im Nacheinander einschließt und ihren Zwecken dienstbar macht.« 1 ' 6 Dieser Personbegriff erhält notwendig entelechische Züge. Seine Einzelausstrahlungen sind die »Dispositionen«, die den Habitus des Subjekts bilden. Sie sind nur noch im uneigentlichen Sinne als psychisch zu bezeichnen. » D a m i t e r h e b t s i c h die P e r s ö n l i c h k e i t s l e h r e g r u n d s ä t z l i c h ü b e r die P s y c h o l o g i e ; sie wird zu einer selbständigen philosophischen Disziplin, die als Grundlage nicht nur für die Psychologie, sondern auch für alle anderen Tatsachen- und Normwissenschaften vom menschlichen Individuum zu gelten hat.«"'7 Das steht dahin. Stern konnte sich bei diesem ehrgeizigen Programm einer personalistischen Einheitswissenschaft innerhalb des engeren akademischen Bereiches nur auf wenige Gleichgesinnte berufen. In einem weiteren Kreis gehörten dazu neben Ludwig Klages, dem eigentlichen Begründer der Charakterologie, und den Mitarbeitern an dem von Emil Utitz herausgegebenen Jahr135

Alfred Brunner, Die personale Psychologie William Sterns und die Charakterologie. In : H . Balmer (Hg.), Die Psychologie des 20. Jahrhunderts. Bd. r : Die europäische Tradition. Zürich 1976, S. 2 9 3 - 3 5 3 ; das Zitat stammt aus W. James' »Principles of Psychology«. B d . 2 (1890), S. 571.

134 Vgl. ^ N a t o r p (s. A n m . 70), S. 2 3 2 . Stern (s. A n m . 131), S. 24. E b d . , S. 31 "37 E b d . , S. 45 ; vgl. auch ebd., S. 26.

108

buch (i924ff.), nur der Individualpsychologe Alfred Adler'J 8 und Autoren wie Richard Müller-Freienfels und Walter Strich, auf die im nächsten Abschnitt noch genauer eingegangen wird. Wissenschaftliche oder logische Einwände gegen die Metaphysik des Sternschen Dispositionsbegriffs sollen hier ganz unberücksichtigt bleiben. Bei dem bisher Zitierten handelt es sich ja nicht - das sei hinzugefügt - um einen die Materialbasis erweiternden Exkurs, der eine Sonderentwicklung innerhalb der Wissenschaftsgeschichte der Psychologie festzuhalten versucht - dafür wäre die gebotene Darstellung und Würdigung des Ansatzes ohnehin zu knapp - , sondern um den Aufweis einer theoretischen Fragestellung, die die Verbindung zwischen allgemeiner Psychologie und Geschichtswissenschaft, sofern diese am handelnden Individuum interessiert ist, zum Inhalt hat. Die Analogien zu dem Lösungsversuch Brochs sind unübersehbar. Doch wirklich überraschend wirken die Konvergenzen erst an der Stelle, wo die personalistische Psychologie in eine materiale Kulturphilosophie übergeht. Stern hat eine solche Schrift in dem für kulturphilosophische Fragen sehr aufgeschlossenen Jahr 1915 veröffentlicht. Wenn man jedoch dem Vorwort glauben darf, sind diese »Vorgedanken zur Weltanschauung« bereits um die Jahrhundertwende entstanden. Das ist für das folgende Zitat nicht unwichtig: In ihrem Verhältnis zur Weltanschauungsfrage betrachtet, scheint unsere Zeit (es sei noch einmal daran erinnert, daß als »unsere Zeit< die Zeit der Abfassung dieser Schrift, also der Jahrhundertbeginn, zu verstehen ist) an der Grenzscheide zweier Kulturen zu stehen. Die eine im Abklingen begriffen - wir nennen sie die >letzte< Kultur - hatte ihren Höhepunkt etwa in den 80er Jahren; aber da Kulturepochen nach vielen Jahrzehnten zählen, so ist sie auch heute noch in Blüte, ja für die meisten Menschen immer noch >die< Kultur. Die jüngste Zeit hat aber schon Anzeichen gebracht, daß eine »neue« Kultur sich vorbereitet; und dem geschärften Blick zeigen sich heute allenthalben die Keime dessen, was da erblühen will. D a s Kennzeichen der »letzten« Kultur ist die Weltanschauungslosigkeit, das der neuen der Wille zur Weltanschauung. Die gegenwärtige Ubergangszeit zeigt beides neben- und durcheinander [ . . .]."3»

Viel mehr als die gängigen Schlagworte der Kulturkritik erstaunt die genaue Chronologie, mit der Stern seiner Zeit die Diagnose stellt. Es sind genau die fünfzehn Jahre, die den »Pasenow« der »letzten« Kultur (1888) von »Esch« trennen, der für sich und seine Zeit (1903) eine Weltanschauung sucht. Die Indizien, die der Kulturkritiker nennt, lassen die Analogie auch im Inhaltli138

Stern erwähnt Adler a. a. O . S. 49 A n m . Von den Schriften Adlers sei vor allem ein früher Aufsatz genannt: >Die Individualpsychologie, ihre Voraussetzungen und Ergebnisse«. In: Scientia Bd. 16. Bologna 1914, S. 7 4 - 8 7 ; vgl. außerdem H e i n z L . Ansbacher, Life Style: A historical and systematic Review. In: Journal of Individual Psychology, B d . 23 (1967), S. 1 9 1 - 2 1 2 (mit Bibliographie). E s ist anzunehmen, daß Broch die frühen Schriften des Psychoanalytikers kannte, da er mit Adler, der seinen Sohn behandelte, persönlich verkehrte (vgl. K W 1 3 / 1 , S. j i A n m . 5). William Stern, Vorgedanken zur Weltanschauung. Leipzig 1915, S. 4 7 .

109

chen bestehen. Es sind die Argumente Nietzsches, die Stern in den Satz zusammenfaßt, daß sich die letzte Kultur »in Pessimismus und Décadence« selber überwinde. Und als wäre Bertrand gemeint, fügt er hinzu: »Eine solche Verkümmerung der Aktivität ist aber nur die Eigenschaft einzelner, nicht [ . . . ] die allgemeine Krankheit der Zeit - das beweist ja die letzte Kultur gerade in ihren eigensten Sphären: in ihrer Arbeitsamkeit, ihrem Unternehmertum, ihrer bismärckischen Realpolitik und ihrem sozialen Wirken. An lebendiger Tatkraft gebricht es also nicht: sollte diese sich nicht ebensogut in den Dienst einer neuen Kulturgestaltung und Weltanschauungsschöpfung stellen lassen, wie sie sich in den Dienst der letzten Kultur hat zwingen lassen?«1··0 Doch diese neue Kultur kündigt sich erst an - in einem wiedererwachenden religiösen Verlangen. Der altgewordene Pasenow stellt sich vorerst in den Dienst des alternden Esch, dessen religiöses Schwärmertum nicht mehr verkörpert als den Willen zu einer Weltanschauung. Diesen Willen glaubt Stern »vor allem in der Teilnahme für jene außerhalb der Kirche entspringenden Strebungen religiös-ethischer Natur« erkennen zu können, »die den Glauben im Sinne frommen Erlebens zu verinnerlichen und das Handeln im Sinne echter Sittlichkeit zu reformieren trachten [...]. Schließlich darf sogar eine so wirre Erscheinung wie der Spiritismus nicht unerwähnt bleiben [. ..].« 1 4 1 Was Broch ein Jahrzehnt später mit dem Wissen um den Verlauf des Krieges, der Revolutionen und der politisch schwachen Konsolidierung der neuen Republiken hinzufügt, ist - Gestalt geworden in der Figur des Huguenau - eine Bestandsaufnahme der »neuen« Kultur, die jene Hoffnungen zerstört, die Stern in die beginnende Umwälzung setzen konnte. b) Différentielle Psychologie und Kulturphilosophie Richard Müller-Freienfels und Walter Strich Mit dem Dispositionsbegriff hatte Stern der charakterologischen Typenlehre eine quasi wissenschaftliche Grundlage gegeben. Als »différentielle Psychologie« mußte sie für all jene von Interesse sein, die in dem Zwischenbereich von Psychologie, Ästhetik und Kulturphilosophie nach methodologischen (und zitatfähigen) Ordungsprinzipien suchten, die die Arbeit am historischen Beispiel legitimieren sollten. Diese Funktion erfüllte sie jedenfalls in den zahlreichen und, zieht man die Auflagenzahl in Rechnung, sehr erfolgreichen Arbeiten Richard Müller-Freienfels'; eines dieser Bücher, das 1919 unter dem Titel Persönlichkeit und Weltanschauung. Psychologische Untersuchungen zu Religion, Kunst und Philosophie« erschienen war, wurde selbst wenig später •4° Ebd., S. 63. ^ Ebd. 110

von Praktikern der Geistesgeschichte, wie dem

Literaturwissenschaftler

Oskar Walzel 1 * 2 , als Vorbild zitiert. Wenn im folgenden auf einige Tendenzen dieser populären Kulturphilosophie näher eingegangen wird, dann vor allem deshalb, weil sich am Beispiel von Autoren wie Richard Müller-Freienfels und Walter Strich der Ubergang von rein wissenschaftlichen, psychologisch-bewußtseinstheoretischen Fragestellungen zu lebensphilosophisch-irrationalistischen

Weltdeu-

tungen verfolgen läßt. Diese Ubergänge waren selbst im akademischen Bereich fließend - was ungewöhnlich erscheinen mag, da sich gegenwärtig die Erneuerung lebensphilosophischer und gesinnungsethischer Argumentationen vornehmlich außerhalb der institutionalisierten Wissenschaften vollzieht - , nicht nur zu Beginn des Ersten Weltkrieges und der Phase des geschichtlichen Umbruches zwischen 1917 und 1920, sondern auch in den zwanziger Jahren, w o sich die so paradoxe Wiederentdeckung des Irrationalen in den Wissenschaften mit den verschiedenen Strömungen der Lebensphilosophie, der Konservativen Revolution und einer der Werte des Fortschritts überdrüssigen Hinwendung zum Elementar-Mythischen verband, das kosmischer oder geschichtlicher Natur sein konnte. Der regressive Antiintellektualismus hatte seit der Jahrhundertwende stets an Einfluß gewonnen, auch in der politischen Praxis. Viele angesehene Autoren der Weimarer Republik, von der Linken bis zur liberal und humanistisch gesinnten Mitte, sahen sich deshalb gezwungen, auf das von der populären Kulturkritik geschaffene und getragene Krisenbewußtsein zu reagieren, das in der Vorstellung des in sich tragischen Verlaufs der abendländischen Geschichte und ihrem Ende: der seelenlosen, mechanistischen, kurz »rationalistischen« Zivilisation der Moderne, in der man lebte und die man ablehnte, zum Ausdruck kam. Thomas Mann äußerte sich hierzu in seinen republikanischen Reden, Robert Musil in verschiedenen Essays und dem Roman >Der Mann ohne Eigenschaften^ der eine Kritik jener irrationalistischen Tendenzen enthielt, die bereits in der Vorkriegsgesellschaft vorhanden waren. Die Autoren hatten dabei oft Berührung mit diesen Strömungen oder sie teilten das Bewußtsein der kulturellen Krise, verarbeiteten es jedoch in völlig anderer Weise. Thomas Mann und Robert Musil etwa in der Erinnerung an die »Ideen von

1914«, denen sie selbst mit Sympathie

gegenübergestanden

hatten, oder später in dem Versuch, eine umfassende Epochendeutung und Analyse der existentiellen Situation des Menschen im Roman zu geben, unter Einschluß des Mythischen, das freilich »humanisiert« wurde oder als rein gedankliches Experiment in die Erzählung einging, wie die »taghelle Mystik« in den Roman Musils.

1,2

Vgl. Oskar Walzel, Gehalt und Gestalt im Kunstwerk des Dichters. Berlin 1923, S. 79ff. und i26ff.

III

Bei Broch finden sich am Ende der zwanziger Jahre ganz ähnliche Voraussetzungen für die literarische Arbeit. Der geschichtsphilosophische Essay, den Broch in den letzten Teil der Schlafwandler-Trilogie eingearbeitet hat, ist als Beitrag zu jener kulturphilosophischen Diskussion zu verstehen. Das wird deutlich an den Fragestellungen und Themen, die Broch in den neun Exkursen zum Zerfall der Werte aufgreift: das Problem der neuzeitlichen Säkularisierung, die Zerstörung einer (Wert-)Gemeinschaft und die zunehmende Einsamkeit und Isolation des modernen Menschen, die durch die Identifikation mit dem Beruf, als der allein verbliebenen Wertorientierung, nicht aufgehoben werden kann. Wie die genaue Interpretation der Exkurse im dritten Kapitel der Untersuchung zeigen wird, orientiert sich Broch bewußt an der aktuellen Diskussion, zu deren Fragestellungen er aber, anders als das lebensphilosophisch geprägte Denken, einen möglichst »rationalen« Zugang suchte. In dem nun folgenden Abschnitt soll dagegen der Einfluß des antirationalistischen, »organologischen« Denkens im engeren Bereich der Wissenschaften verfolgt werden. Es ist heute nur schwer vorstellbar, in welcher geschichtlichen und kulturellen Situation sich die Aneignung der zuvor dargestellten philosophischen und wissenschaftlichen Systeme vollzog, welche Ansprüche etwa an die Apperzeptionspsychologie als ein Instrument kulturphilosophischer und geschichtsmorphologischer Deutungen gestellt wurden. Die abstrakten, auch heute noch unverändert diskutierbaren Entwürfe von Brentano, Rickert, Wundt, Lipps oder Husserl bilden ja nur einen Teil, wenn auch den exponierten Teil eines breit geführten akademischen Gesprächs, in dem zeitweise irrationalistische Strömungen bedeutenden Einfluß gewannen; eben dieser Hintergrund der zeitgenössischen Rezeption wissenschaftlicher Ansätze muß in die Darstellung einbezogen werden, will man verstehen, welch unterschiedliche Tendenzen das geistige Leben der 20er Jahre ausprägte, die den Übergang von streng rationalen Argumentationen zu spekulativen geschichtsphilosopbischen Modellen als selbstverständlich erscheinen ließen. Beide Tendenzen lassen sieb auch im Werk Brochs nachweisen. Es geht hier wohlgemerkt nur um die Entwicklungen innerhalb einzelner Fachwissenschaften, die bisher, im Unterschied zu den allgemeinen ideologischen Bewegungen der zwanziger Jahre (vgl. hierzu Kap. III), nur wenig erforscht sind. Mit einer Ausnahme: der akademische Streit, der durch zwei von Max Weber in den Jahren 1917 und 1919 gehaltene Reden (zur genauen Datierung vergleiche die neueren Forschungen von W.J. Mommsen und W. Schluchter) ausgelöst wurde, erregte solche Aufmerksamkeit, daß die dort formulierten Thesen zur Wertfreiheit der Wissenschaft, wie sie Weber vertrat, bzw. ihrer Aufgabe, allgemeine Sinngebung zu leisten, wie es die Gegner Webers forderten, bis zum Ende der zwanziger Jahre von den streitenden Parteien immer wieder aufgegriffen wurden. In einer literaturwissenschaftlichen Untersuchung zum Expressionismus (s. Anm. 159) konnte jüngst gezeigt werden, wie intensiv die 112

Webersche Kritik an den romantisch-irrationalistischen Bewegungen in den Zirkeln der Schrifteller diskutiert wurde. In akademischen Kreisen dürfte das von Weber so kompromißlos ausgesprochene Verdikt über die »Sinnfragen« in der Wissenschaft nicht weniger kontrovers aufgenommen worden sein. Webers Thesen forderten zum Widerspruch heraus. In der 1917 gehaltenen Rede >Wissenschaft als Beruf< kritisierte er schroff die »Virtuosenleistung des >Opfers des Intellekts««, das so viele seiner Zeitgenossen zu bringen bereit waren: »Erlösung von dem Rationalismus und Intellektualismus der Wissenschaft ist die Grundvoraussetzung des Lebens in der Gemeinschaft mit dem Göttlichen: dies oder etwa dem Sinn nach Gleiches ist eine der Grundparolen, die man aus allem Empfinden unserer religiös gestimmten oder nach religiösem Erlebnis strebenden Jugend heraushört. Und nicht nur für das religiöse, nein für das Erlebnis überhaupt. Befremdlich ist nur der Weg, der nun eingeschlagen wird: daß nämlich das einzige, was bis dahin der Intellektualismus noch nicht berührt hatte: eben jene Sphäre des Irrationalen, jetzt ins Bewußtsein erhoben und unter seine Lupe genommen werden. Denn darauf kommt die moderne intellektualistische Romantik des Irrationalen praktisch hinaus. Dieser Weg zur Befreiung vom Intellektualismus bringt wohl das gerade Gegenteil von dem, was diejenigen, die ihn beschreiten, als Ziel darunter sich vorstellen.« Selbst die oben skizzierten Ansätze der Wertphilosophie und Apperzeptionspsychologie wurden in dieser von Weber so treffend charakterisierten intellektuellen Atmosphäre diskutiert, wie die folgenden Beispiele zeigen. Sie machen deutlich, wie eng in der Philosophie der zwanziger Jahre, wo sie in die Breite wirkte, wissenschaftliche und weltanschauliche Motive verflochten sein konnten. Beiden Motiven wird im Werk Brochs nachzugehen sein. Doch zurück zur Ausgangsfrage. Müller-Freienfels ging es um »die Klarlegung der inneren Beziehungen, in denen der künstlerische Stil, die religiöse oder philosophische Weltanschauung eines Menschen zu seiner psychischen Eigenart stehen.« 1 ·" Für diesen Anspruch, den er unter anderem in einer >Psychologie des deutschen Menschen und seiner Kultur. Versuch einer Volkscharakterologie< (München 1922) verwirklichte, lieferten die Schriften Sterns einen wissenschaftlichen Rahmen, der sich an vielen Stellen mit Erkenntnissen der Apperzeptionspsychologie deckte, was ihn gegenüber der Weltanschauungsphilosophie der Dilthey-Schule* 44 überlegen erscheinen ließ. Der Sternsche Personalismus bildete daher auch in der allgemeinen Psychologie und Wertphiloso145

144

R . Müller-Freienfels, Persönlichkeit und Weltanschauung. Psychologische Untersuchungen zu Religion, Kunst und Philosophie. Leipzig/Berlin 1919, S. 7 (vgl. auch S.9). Vgl. den von Max Frischeisen-Köhler hgg. Sammelband >WeltanschauungDas Wertproblem in der Philosophie der Gegenw a r t (1909) ist eine umfassende und sehr gründliche Auseinandersetzung mit fast allen wichtigen Schulen der Psychologie und des Neukantianismus seiner Zeit. In der Frage nach der Psychologie des Wertens vertritt er einen relativistischen Standpunkt. Es ist sinnlos, nach »absoluten« Werten als Kriterien für •s' Vgl. ebd. S. 369. R . Müller-Freienfels, Irrationalismus. Umrisse einer Erkenntnislehre. Leipzig 1922, S. 14 u. i n f f . Vgl. außerdem: R . M.-F., Metaphysik des Irrationalen. Leipzig 1 9 2 7 sowie die Sammelrezension »Kulturphilosophie« in: Literarische Berichte aus dem Gebiete der Philosophie. H g . v. A r t h u r H o f f m a n n , H . 1 5 / 1 6 , E r f u r t 1928, S. 5 - 3 3 .

116

die Beurteilung einzelner Wertungsakte zu suchen. »Nur wenn man Ethik dem Worte nach gleich Kulturpsychologie setzt, gibt es überhaupt eine empirisch psychologische Ethik.« 1 " Worauf er immer wieder rekurriert, ist die universale Bedeutung der Psychologie für alle Wissenschaften vom menschlichen Denken und Handeln in seinen geschichtlich-kulturellen Bezügen. Und Psychologie bedeutet für ihn ausschließlich die moderne Bewußtseinstheorie eines Wundt, Lipps, Münsterberg oder Meinong. 1 ' 4 In einer zweiten Publikation rückt er von diesem schulmäßigen Diskutieren der verschiedenen Standpunkte etwas ab. Seine »Prinzipien der psychologischen Erkenntnis« (Heidelberg 1914) tragen den Untertitel : »Prolegomena zu einer Kritik der historischen Vernunft«. Eigentlich durchgeführt wurde diese »Kritik« erst nach dem Krieg, und dieser historisch so bedeutsame Einschnitt sollte auch für seine wissenschaftliche Entwicklung - wie für die kulturelle Entwicklung allgemein - eine wichtige Rolle spielen. In den Schriften der zwanziger Jahre heißt es zur Begründung der Kulturpsychologie unumwunden und in deutlicher Ablehnung der früher eingenommenen Position, daß die »Idee einer systematischen Geistesgeschichte« die »Begründung der Einheit eines Geistes hinter allen Kulturcharakteren« verlangt. 1 " Der Begriff »Geist« meint die »Sphäre des objektivierenden Bewußtseins, das im Werk oder der Kultur seinen Ausdruck findet und Geschichte begründet. Geist also ist die bewußte Auseinandersetzung mit der Welt und ihre Gestaltung im Werke.« 1 ' 6 Nun vollzieht sich diese Auseinandersetzung zweifellos in individuellen Bewußtseinsprozessen. Diese sind ein Untersuchungsgegenstand der Psychologie, wie Strich ohne weiteres zugibt. Sobald jedoch die Typenlehre, zu der sich die Psychologie in Betrachtung des historischen Lebens entwickelt, auf die allgemeine historische Situation bezogen wird, geht sie notwendig in die Geisteswissenschaft ein. Der Umweg über die Psychologie erweist sich schon allein dadurch als überflüssig, daß sich die »Idee«, die hinter den verschiedenen Objektivationen des Geistes steht und die den »Stil« einer Kultur begründet, auch ohne psychologische Analyse erkennen läßt. Das ist freilich eine Angelegenheit persönlichen Genies, da es auf das richtige »Sehen« ankommt, das die Grundbegriffe der Epochen oder der historischen Prozesse erschließt. Strich verweist auf die Kunstgeschichte, Walter Strich, Das Wertproblem in der Philosophie der Gegenwart. Berlin 1909, S. 46. Zur Aneignung des Apperzeptionsbegriffs vgl. ebd., S. 26. W. Strich. Der irrationale Mensch. Studien zur Systematik der Geschichte. Berlin 1928, S.9. W. Strich, Wesen und Bedeutung der Geistesgeschichte. In: Die Dioskuren. Bd. 1, München 1922, S. 1-34, hier S. 2. In den drei Bänden der von Walter Strich herausgegebenen Jahresschrift erschienen Aufsätze u. a. von Ernst Troeltsch, Thomas Mann, Alfred Bäumler, Ernst Bloch, Fritz Strich, Ferdinand Tönnies, Ludwig Marcuse und Benedetto Croce.

»7

w o mit Wölfflins Analyse der »Grundbegriffe« ein Modell intuitiven und doch methodischen Abstrahierens geschaffen wurde, das auf andere Geisteswissenschaften übertragbar sein soll. 1 '? Der Bruder des Autors, Fritz Strich, hat mit seiner geistesgeschichtlichen Epochenforschung über >Deutsche Klassik und Romantik< (1922) dafür ein Beispiel geliefert. Sie ist das Vorbild für eine Untersuchung über den »irrationalen Menschen«, die bereits in ihrem Titel ankündigt, mit welchen (noch immer) aktuellen kulturkritischen Tendenzen die »systematische« Geistesgeschichte verbunden wird. Das Ergebnis ist ein willkürliches Hantieren mit leeren Worthülsen (»rational« und »irrational«), die den Leitfaden zu einer historischen Typenlehre und Kulturmorphologie abgeben.1?8

's7 Vgl. hierzu Beate Pinkerneil, Selbstreproduktion als Verfahren. Zur Methodologie und Problematik der sogenannten »Wechselseitigen Erhellung der Künstequod erat demonstrandum< wird kraft der Burckhardt-Wölfflinschen Autorität vorausgesetzt, und zwar stillschweigend vorweggenommen [...], ganz unbekümmert um die Bedenken, die gegen die Richtigkeit dieser Diagnose von anderer Seite erhoben worden sind.« A. Schmarsow, Kunstwissenschaft und Kulturphilosophie mit gemeinsamen Grundbegriffen. In: Z À A K Bd. 13 (1918/19), Teil I: S. 165-190, hier S. 175. Hier bestätigt sich, was Eberhard Lämmert über die Literaturwissenschaft in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen - wohl auch mit Blick auf Fritz Strich - ausgeführt hat: die »Spannweite der Germanistik trug ihren besseren Vertretern den Nimbus umfassender Gelehrsamkeit ein, förderte aber ebenso die Scharlatanerie in diesem Fach weit mehr als in den Nachbarphilologien und hinderte das Fach im ganzen, methodische Sicherheit in der Abschätzung und Abgrenzung der eigenen Aufgaben zu entwickeln. So umgab den Germanisten bis weit ins 20. Jahrhundert hinein [ . . . ] die Aura eines Seelsorgers im Gewände der Wissenschaft.« Eberhard Lämmert, Das Ende der Germanistik und ihre Zukunft. In: J. Kolbe (Hg.), Ansichten einer künftigen Germanistik. München (3. Aufl.) 1970, S. 79-104, hier S. 81. Wie gering jedoch die methodischen Fortschritte sind, die die Literaturwissenschaft in den Fragen der Epocheneinteilung (siehe >Klassik< und >RomantikWissenschaftslehre< (1837), und hier insbesondere die Geltungstheorie, wurden erst am Ende des 19. Jahrhunderts in der von Frege und Husserl ausgehenden Psychologismusdebatte wiederentdeckt. Neben Frege waren es vor allem Cantor und Russell, die das Gebiet der Logik und reinen Mathematik in die erkenntnistheoretische - in diesem Fall: logizistische 177 - Fragestellung einbezogen. Wie Mathematik und Logik über ihre >Gegenstände< urteilen, läßt sich nicht in derselben Weise bestimmen wie bei den empirischen Wissenschaften, die Aussagen über wirklich existierende und sinnlich erfaßbare Dinge treffen; in der Wesenheit ihres Gegenstandes besitzt jedoch die mathematische und logische Erkenntnis ebenfalls ein »sachliches« Fundament: »Diese Wesenheit ist nur im Begriff erfaßbar; aber das begriffliche Denken bringt sie keineswegs hervor, sondern es findet sie vor. Auch die reine Form des Mathematischen ist in diesem Sinne jederzeit auf eine bestimmte >Materie< bezogen, wenngleich diese keine sinnliche, sondern eine »intelligible MaterieLogik der SozialwissenschaftenGegenstand der Erkenntnis 190

S. 76Ì.

Ein solcher findet sich in der sonst völlig korrekten Darstellung von H . K r i n g s : A r t . L o g i k , transzendentale, IV: Neukantianismus. In: Hist. W b . Philos. 5, Sp. 477, A n m . 22. Vgl. Habermas, L o g i k (s. A n m . 189), S. 77, A n m . 11. - Ä h n l i c h e Verwechslungen finden sich bereits in der frühen R i c k e r t - R e z e p t i o n ; vgl. Felix S o m l ó , D a s Wertproblem. In: * Z s . f. Philos, u. philos. Kritik 146 (1912), S. 64-100 (Teil II), bes. S. 80. W o Rickert terminologische Korrektheit wahrt, verfahren seine N a c h f o l g e r oft v o l l k o m men sorglos. Fritz M ü n c h setzt die Rickertsche »Geltungsphilosophie« einfach der - v o n ihm so verstandenen - »Transzendentalphilosophie« gleich; vgl. Fritz M ü n c h , D a s P r o b l e m der Geschichtsphilosophie. In: '^Kant-Studien 17 (1912), S. 349-381; vgl. auch A n m . 127; ähnlich w i e H a b e r m a s argumentierten der Sache nach bereits Cassirer und Troeltsch. D e n V o r w u r f , Rickert habe den für die Geschichts- und Sozialwissenschaften relevanten erkenntnispraktischen W e r t b e z u g durch ein Reich »quasi-platonisch und quasi-ontologisch« verstandener Werte ersetzt, hat jüngst n o c h K a r l - O t t o A p e l erneuert: >Die Erklären:Verstehen-Kontroverse in transzendentalpragmatischer SichtÜber Sinn und Bedeutung< ( 1 8 9 2 ) zitiert, sondern aus einer 1918 erschienenen Abhandlung (s.u.); im allgemeinen setzt Frege jedoch »Sinn« und »Gedanke« gleich. - Wie die Arbeiten Freges bei den Neukantianern rezipiert wurden, zeigt eine Schrift B r u n o Bauchs: "'Wahrheit, Wert und Wirklichkeit. Leipzig 1923, bes. S. J 7 f f . und 163ff. (Bauch gehörte zu den Kollegen Freges in Jena.) Vgl. auch Friedrich Kuntze, Wahrheit, Wert und Wirklichkeit. In: "'Kant-Studien 33 (1928), S. 1 3 7 - 1 6 0 . Z u r Verwendung des Begriffs »drittes Reich« in der Philosophie der Mathematik vgl.

i:

Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. B d . 3

(1929). Darmstadt 1977, S . 4 4 é f f . 2

°5 G o t t l o b Frege, D e r Gedanke. Eine logische Untersuchung (1918/19). In: Logische Untersuchungen. H g . v. G . Patzig. Göttingen (2. A u f l . ) 1976, S. 3 0 - 5 3 , hier S. 4 2 / 4 3 .

135

druck >Fassen< ist ebenso bildlich wie >BewußtseinsinhaltSinn< sehr gut auch für den reinen Wert selbst gebrauchen kann, ja bei dem Mangel an Ausdrücken für das Nicht-Wirkliche nicht gern wird entbehren wollen. [...] Der Sinn jedoch, den wir hier meinen, ist nicht der Wert, sondern er steckt in dem Akte, der den theoretischen Wert meint oder versteht, also in dem >Urteilfreischwebend< aus dem historischen Prozeß des Geisteslebens herausgesetzt werden sollen. Als »bloße Richtungspunkte«, so Spranger, »als ewige >Ideen< im alten Sinne, mag man solche Transzendenzen annehmen. Hingegen die Werte, in bezug auf die wir historischen oder kulturellen Sinn >verstehen° Z u r Verwendung dieses locus communis vgl. Heinrich Rickert, V o m A n f a n g der Philosophie. In:

;t

L o g o s 14 ( 1 9 2 5 ) , S. 1 2 1 - 1 6 2 , bes. S. 130; A r t h u r Liebert, M y t h u s und

Kultur. In: *Kant-Studien 2 7 ( 1 9 2 2 ) , S. 3 9 9 - 4 4 5 , bes. S . 4 4 2 . 2

3" Spranger (s. A n m . 126), S. 364 A n m . 1.

2 2

'

2

Spranger, Rickerts System (s. A n m . 224), S. 191.

i> Hans Michael Baumgartner, Kontinuität und Geschichte. Z u r Kritik und Metakritik der historischen Vernunft. Frankfurt/M.

148

1 9 7 2 , S. 143. Vgl. auch Johannes

Das ist der Kernsatz der Kritik, wie sie am deutlichsten und mit nachhaltiger Wirkung von dem Historiker Ernst Troeltsch vorgetragen wurde. Darauf näher einzugehen, ist hier nicht der O r t . 1 ^ Erwähnt werden soll lediglich die Konsequenz, die der Systematiker Troeltsch aus der Kritik an der formalen Geschichtsphilosophie zog. Der Widerspruch zwischen historiographischer Praxis und formaler Theorie findet bei ihm eine denkbar einfache Lösung: Die Geschichtslogik ohne Konstruktion des universalen Prozesses ist ein Torso, lediglich eine logische Theorie der empirischen Historie; die Konstruktion ohne logisch gesicherte Empirie ist ein Haus ohne Fundament, lediglich ein Ideal- und Umrißgebilde der träumenden Seele oder der souveränen Willkür. Beides hängt tatsächlich und psychologisch aufs engste zusammen. Wenn das aber so ist, dann muß auch im wissenschaftlichen und logischen Sinne die materiale Geschichtsphilosophie aus der formalen herauswachsen

Die Darstellung kommt damit zu ihrem letzten und wichtigsten Punkt. Denn dieselbe These, die Troeltsch hier seiner Geschichtsphilosophie voranstellt, liegt auch - und das soll im nächsten Abschnitt gezeigt werden - den Exkursen und damit dem theoretischen Entwurf der >Schlafwandler< zugrunde. Das Ungenügen an der rein formalen Wert- und Geschichtsphilosophie fordert die inhaltliche Deutung der Geschichte und, davon untrennbar, des kulturellen Wandels. Umgekehrt muß jedoch jede Beschäftigung mit einer historischen Epoche wie auch jede Zeitkritik - und das überträgt Broch auch auf den »Zeitroman« - »auf einer [...] Wert- und Geschichtsphilosophie« basieren, »will sie fundiert sein« (KW io/i, S. 49). Broch ist wie Troeltsch der Ansicht, daß die materiale Geschichtsphilosophie nur durch eine formale Theorie zu legitimieren ist. Bei den neun Exkursen des Romans ändert sich zwar die Reihenfolge (die Begründung der Theorie erfolgt erst im neunten Exkurs), was aber didaktische, nicht systematische Gründe haben dürfte. Wie überzeugend dieser Interpretationsansatz auch wirken mag: der aufmerksame Leser könnte sehr bald Zweifel anmelden; denn offenkundig erfaßt diese These nur die oberflächliche Beziehung zwischen den methodologischen und interpretatorischen Textteilen, soweit sich diese überhaupt trennen lassen. An vielen Stellen läßt sich eine solche Trennung kaum vornehmen. Oder es wird, wie in den mittleren >Schlafwandler Γ. (/)υ · - 4H (O s h J j υ* ^ · · • ·—> 4-» Ü 3

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151

drückt (vgl. S. 59). Broch orientierte sich hier offensichtlich an jenen Entwürfen zu einer geschichtlichen Typenlehre, die die Dilthey-Schule entwickelt hatte. Die typologischen Fragen galten den Grundlagen der Kultur, den letzten Bestimmungsgründen des individuellen und kollektiven Lebens. Als Methode einer universalen, »ganzheitlichen« Betrachtung der Geschichte wirkte die Typenlehre weit über die Grenzen der geisteswissenschaftlichen Fächer hinaus auf die populäre Kulturphilosophie, die die Abstraktion »sinnhafter« Grundelemente des geschichtlichen Lebens dazu benutzte, die Gesetzlichkeit der historischen Prozesse, das Entstehen und den Untergang der Kulturen aus ihren typologischen Eigenschaften zu erklären. Die Diskussion um das Werk Spenglers markierte den Höhepunkt dieser Bewegung, wies zugleich aber auch die Grenzen der wissenschaftlichen Bemühung um eine historische Physiognomik auf. Die Intentionen, die Broch mit den Begriffen »Lebens-« bzw. »Wertstil« verband, gingen zweifellos in eine ähnliche Richtung. Von entscheidender Bedeutung war für ihn jedoch die genaue Bestimmung der Kategorie der »Haltung« (des »Habitus«) als logischer Voraussetzung der Kulturanalyse und damit die methodologische Rechtfertigung der typologischen Betrachtungsweise. Ähnlich wie die Neukantianer der südwestdeutschen Schule stellte Broch die formalen Fragen der Geschichtserkenntnis in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Die inhaltliche Beschreibung kultureller Formen (ihre »habituelle« Ausprägung) trat dahinter ganz zurück. Es entwickelte sich so eine Differenz zwischen der ursprünglichen Problemstellung, die auf Kulturtypologisches zielte, und den Ergebnissen der methodologischen Untersuchung, die sich zu einem rein formalen System wertphilosophischer und bewußtseinstheoretischer Erkenntnisse zusammenfügten. Für die Geschichtsphilosophie des Neukantianismus war dies keineswegs ungewöhnlich. Anders als in der Schule Diltheys, fanden sich in der Nachfolge Rickerts nur wenige Historiker und Philosophen, die den werttheoretischen Ansatz zu einer »weltanschaulichen« Theorie weiterentwickelten. Eine Ausnahme bildet - auf hohem wissenschaftlichen Niveau - das Werk Max Webers. »Dessen >Idealtypen< bleiben freilich - auch und gerade wo es zur berühmten Typologie der Herrschaftsformen oder zu der der Städte usf. kommt - heuristische Elemente des Verstehens.«238 Sie werden nicht zu zeitlosen, übergeschichtlichen »Grundtypen« stilisiert. Für das Verständnis der geschichtsphilosophischen Diskussion seit der Jahrhundertwende ist die Kenntnis dieser Zusammenhänge außerordentlich wichtig. Da sie in den vorangegangenen Abschnitten nur den Hintergrund der Darstellung bildeten, selbst aber nicht näher erläutert werden konnten, sollen 2 8

J

152

Odo Marquard, Weltanschauungstypologie. Bemerkungen zu einer anthropologischen Denkform des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts. In: Marquard, Geschichtsphilosophie, S. 107-121, hier S. 112.

in diesem E x k u r s einige der A n d e u t u n g e n präzisiert und durch den Hinweis auf wichtige Literatur ergänzt werden, die das P r o b l e m weiter aufschlüsselt als es hier möglich ist. D e r E x k u r s nimmt insofern eine vermittelnde Zwischenstellung ein, als auch in den folgenden Abschnitten die kulturtypologischen Fragen präsent bleiben, o b w o h l sie in anderer Weise gestellt und beantwortet werden, als es ihre H e r k u n f t aus dem D i l t h e y u m k r e i s zunächst vermuten läßt. D e r »Stil« der E p o c h e n , ihr »Geist« bzw. die »Haltung« der Menschen, in der sich dieses innere Wesen einer Zeit und ihrer Kultur ausspricht, werden von B r o c h in den E x k u r s e n der >SchlafwandlerPhilosophie des Lebens« vereinbaren). B e g r i f f e w i e »Stil« und »Haltung« konnten in den essayistischen Teilen des dritten R o m a n s ungeachtet ihrer methodologischen Fragwürdigkeit A n w e n d u n g finden; die von B r o c h als drängend empfundene Frage nach dem geschichtlichen Standort der eigenen E p o c h e ließ sich anschaulich, in direktem Z u g r i f f zu den »historischen« Phänomenen darstellen. D i e Kulturgeschichtsschreibung auf der Basis typologischer Einsichten, w i e sie in der N a c h f o l g e D i l theys betrieben w u r d e , w a r lediglich in eine andere F o r m der Narration zu überführen. D e r E x k u r s w i r d zu zeigen haben, w o r i n die Alternativen bestanden, die B r o c h auf den R o m a n und damit auf die Erkenntnisleistung der Literatur übertrug. D a s heißt konkret, es w i r d (a) nach Stil- und Typusanalysen in der wissenschaftlichen Literatur zu fragen sein und hier insbesondere danach, was der Habitus-Begriff, den Broch im >KunststilSchlafwandlerWas meinst du mit Verfall?« dann beschreibe ich, gebe Beispiele. Man gebraucht Verfall einerseits, um eine bestimmte Art von Entwicklung zu beschreiben, andererseits, um seine Mißbilligung auszudrücken. [ . . . ] Ich habe es mehr wie einen terminus technicus gebraucht - möglicherweise, aber durchaus nicht notwendigerweise, mit einem herabsetzenden Beigeschmack.« Ludwig Wittgenstein Die philosopischen Exkurse im letzten der drei >SchlafwandlerGröße und Verfall« des Expressionismus (1934) darstellt. Zentrale Motive des späteren Buches sind hier bereits genannt; ebenfalls vorhanden sind bestimmte Einseitigkeiten der Interpretation, die, was die Bewertung des Expressionismus als künstlerische Bewegung angeht, in der folgenden Debatte von Ernst Bloch und Bert Brecht kritisiert wurden: der Expressionismus war nicht nur eine dekadente bürgerliche Erscheinung. Er hat zwar Verbindungen zur Lebensphilosophie und hier vor allem zur Kulturkritik Nietzsches, aber in der Art, wie er diese Einflüsse verarbeitete, ist er nicht eindeutig zu erfassen und als reaktionär abzulehnen, schon gar nicht in den Impulsen, die von ihm ausgingen. Diese reichen bis weit in die zwanziger Jahre hinein und übergreifen die verschiedensten weltanschaulichen und politischen Lager. Broch gehört zweifellos zu den geistigen Erben des Expressionismus. Die Forschung hat auf diesen Zusammenhang wiederholt aufmerksam gemacht. Über die »expressionistische Prosa« schrieb Erich von Kahler 1964 in einem Aufsatz, sie sei »wesentlich ein Nebenprodukt der Bewegung, und obzwar sie wohl einen spezifischen Stil entwickelt hat, ist sie stilistisch kaum jemals unvermischt. Naturalistische Erbschaften mengen sich hinein, und anderer2

Wolfgang Freese, Vergleichungen. Statt eines Forschungsberichts - über das Vergleichen Robert Musils mit Hermann Broch in der Literaturwissenschaft. In: Literatur und Kritik 6 (1971), S. 218-241, S. 233. 163

seits bereitet sich in der Prosa von Gottfried Benn, Alfred Döblin, Ernst Weiss und Ernst Barlach eine dem Expressionismus folgende, den Expressionismus übersteigende Entwicklung der Epik vor, eine Art der erzählenden Darstellung, die ich die existentielle nennen möchte und die im deutschen Raum von Musil und Broch geschaffen worden ist.«3 In einer jüngst erschienenen Studie zum literarischen Expressionismus heißt es dazu lapidar: »Dem Impuls einer Veränderung der bestehenden Verhältnisse folgt vielfach der Versuch, die Epoche in der Deutung zu b e w ä l t i g e n . U n d ein solcher Versuch wird in der Dramatik Brechts, in der Gesellschaftskritik Tucholskys, aber auch, und vor allem, in den großen Romanwerken unternommen, die in den zwanziger Jahren entstehen. Die entscheidenden Beiträge kamen hier von den Brüdern Mann, Alfred Döblin, Robert Musil und Hermann Broch. Um nochmals auf die Uberschrift der Exkurse zurückzukommen: Broch versucht den Zerfall eines ehemals bestehenden Wertverbandes, einer Gemeinschaft, festzuhalten; erst die in den Roman einbezogene kulturgeschichtliche Dimension erklärt die Einsamkeit und Isolation des modernen Menschen, wie sie der Expressionismus, zu dessen Grundthemen die Ichdissoziation, also der Zerfall des Individuums gehörte, bildlich zum Ausdruck gebracht hatte. Der Verfall erscheint nicht mehr als Signal eines utopisch ausgerichteten Erneuerungswillens oder, im Gegensatz dazu, einer nihilistischen Weltverzweiflung beide Extreme sind ja dem Expressionismus eigen* - , sondern durch den Willen zur Deutung vermittelt. Dies als »existentielles Erzählen« zu bezeichnen (Ε. v. Kahler, H . Koopmann), ist vielleicht mißverständlich ; Bruno Hillebrand trifft den Sachverhalt besser, wenn er in Anlehnung an eine andere philosophische Strömung der zwanziger Jahre von der »anthropologischen Verantwortung« des Romans spricht. 6 Entscheidend ist auf jeden Fall die theoretische Reflexion, in die das expressionistische Erbe überführt wird.7 J

Erich von Kahler, Die Prosa des Expressionismus (1964). In: Kahler, Untergang und Ubergang. Essays. München 1970, S. 1 9 8 - 2 2 0 , hier S. 206. Vgl. außerdem: Wolfgang Rothe, Metaphysischer Realismus. Literarische Außenseiter zwischen Links und Rechts. In: D i e deutsche Literatur in der Weimarer Republik. H g . v. W. Rothe. Stuttgart 1974, S. 2 5 5 - 2 8 0 , bes. S. 2 7 0 ; Wolfgang Rothe, Tänzer und Täter. Gestalten des Expressionismus. Frankfurt/M. 1979, S. 1 3 6 ; Hartmut Steinecke, >Die Schlafwandl e r als Zeitroman. In: J . Strelka (Hg.), Broch heute. Bern und München 1978, S. 2 5 4 2 , bes. S. 3 8 ; Helmut Koopmann, Hermann B r o c h : »Die Schlafwandler«. In: D e r klassisch-moderne

Roman

in

Deutschland.

Thomas

Mann,

Alfred

Döblin,

Hermann Broch. Stuttgart 1983, S. 1 1 3 - 1 6 3 . 4

!

Gerhard P. Knapp, Die Literatur des deutschen Expressionismus. München 1 9 7 9 , S.153· Vgl. Klaus Ziegler, Dichtung und Gesellschaft im deutschen Expressionismus. In: H . G . Rötzer (Hg.), Begriffsbestimmung des literarischen Expressionismus. D a r m stadt 1976, S. 3 0 1 - 3 2 6 , bes. S. 3 2 3 ; Michael Stark, Intellektuellendebatte, S. 1 3 3 .

6

Vgl. Bruno Hillebrand, Theorie des Romans. München 1980, Kap. 8.

7

Robert Musil forderte sie unmißverständlich in seinen Theaterkritiken der frühen

164

Das beschränkte sich nicht auf den Roman oder die Kunstentwicklung allgemein. Auch in den verschiedenen Geisteswissenschaften wirkte die Kulturkritik der Vorkriegszeit noch nach - vielleicht sogar stärker und weniger kritisch befragt als in den Künsten (vgl. die Ausführungen zu Richard MüllerFreienfels und Walter Strich in Abschnitt II/2). Die divergierendsten Standpunkte trafen sich noch immer in der Uberzeugung vom pathologischen Gang der modernen Gesellschaft (Tönnies). Dieser weit verbreitete Antimodernismus war der Entwicklung der Demokratie sicher nicht förderlich. Daraus folgt allerdings nicht, daß allein das (liberal-)konservative Geschichtsdenken für die Heraufkunft der faschistischen Ideologie verantwortlich zu machen ist. Jürgen Habermas schreibt dazu in einer Rezension der lesenswerten Studie von Fritz K. Ringer (>The Decline of the German Mandarins», 1969): »Der antimodernistische Affekt, die Verachtung der Massen, das Mißtrauen gegen deklarierte Interessen, eine verblasene Überparteilichkeit, die soziologisch schlicht unbrauchbare Begrifflichkeit der Mandarinenkultur und eine Geistigkeit, die von Anbeginn den Umstand kompensieren mußte, daß jeweils die anderen es waren, die die Macht hatten - das alles hat die Sprangers nicht zu Kriecks und Bäumlers gemacht, aber es hat sie gegenüber den Nazis wehrlos gemacht.«8 Und das gilt, wie zu zeigen sein wird, auch für bestimmte Teile der Brochschen Geschichtsphilosophie. Ein wichtiges Stichwort ist bei der Annäherung an den so vielschichtigen Problemkomplex bisher ungenannt geblieben: die Philosophie Friedrich Nietzsches. Einige Bemerkungen zur Nietzsche-Rezeption sollen an dieser Stelle nachgetragen werden, bevor ein kurzer Überblick den Aufbau und Inhalt der Brochschen Exkurse vorstellt. Daran werden sich zwei Abschnitte anschließen, die den Grundlagen der Brochschen Geschichtsphilosophie nachfragen: zunächst auf einer allgemeineren Ebene dem Reflexivwerden der historistischen Problematik in der Philosophie und Literatur der zwanziger Jahre, die sich konkret in der Werttheorie Brochs, aber auch bei ihm nahestehenden Kulturphilosophen nachweisen läßt, sowohl in einzelnen inhaltlichen Motiven (»Verfall«) wie auch in dem für die Geschichtsphilosophie und Soziologie der 20er Jahre typischen Denken in Kulturkreisen und Kulturepochen. Eine kulturell wichtige Vermittlerrolle erhielten hier bestimmte Zeitschriften des Expressionismus, deren Programm sich mit einigen Namen verband (Franz Blei, Theodor Haecker, Ernst Bloch, Carl Schmitt u. a.), die auch nach

8

zwanziger Jahre: Der Expressionismus wirkte für Musil »nur in der Form bereichernd, während er im geistigen Wesen banal blieb und nicht über die Evokation ohnedies schon bekannter Ideen hinauskam.« Robert Musil, Symptomen-Theater I (1922). In: Gesammelte Werke in neun Banden. Hg. v. A. Frisé, Bd. 8: Essays und Reden. Reinbek 1978, S. 1094-1102, hier S. 1097. Jürgen Habermas, Die deutschen Mandarine (1971). In: Philosophisch-politische Profile. Frankfurt/M. (3., erw. Aufl.) 1981, S.458-468, hier S.465. 165

dem Ende der intellektuell-idealistischen Bewegung? in der Literatur und Publizistik der Zwischenkriegszeit noch großen Einfluß ausübten. Die Ergebnisse dieser Untersuchung werden abschließend in eine detaillierte Interpretation der >SchlafwandlerGenealogie der Moral< geplanten Text heißt es: »Wir haben den Werth der Welt an Kategorien gemessen, welche sich auf eine rein fingirte Welt beziehen.« Mit dem Verlust dieser Kategorien (Zweck, Einheit, Wahrheit) geht die Entwertung der obersten Werte einher, also das, was Nietzsche als die Grundbewegung der Geschichte des Abendlandes beschreibt: der Nihilismus. Der Hinfall wird dann bewußt, wenn die Werte als »Resultate bestimmter Perspektiven der Nützlichkeit zur Aufrechterhaltung und Steigerung menschlicher Herrschafts-Gebilde« erkannt, also »entwerten werden; sie sind »nur fälschlichprojicirt in das Wesen der Dinge.«10 Den Werten wird jeder ontologische Status abgesprochen. »Die Werte sind die vom Willen zur Macht selbst gesetzten Bedingungen seiner selbst.«11 Das steht in deutlichem Gegensatz zur Wertlehre des Neukantianismus. Nicht ohne Grund zählte Rickert zu den schärfsten Kritikern Nietzsches. Dabei kann Nietzsche als der Denker gelten, der am Ende des 19. Jahrhunderts das Reden von »Werten« zuerst geläufig machte: »Der Wert und das Werthafte wird zum positivistischen Ersatz für das Metaphysische. Der Häufigkeit des Redens von Werten entspricht die Unbestimmtheit des Begriffes. Diese ihrerseits entspricht der Dunkelheit der Wesensherkunft des Wertes aus dem Sein.«12 Nietzsche löste dieses Herkunftsproblem durch seine Lehre vom »Willen zur Macht«. Er ist das Prinzip jeder neuen Wertsetzung, also auch der Entwertung überkommener Werte. Wollten wir nun aber Nietzsches Bestimmung des Wesens des Nihilismus, daß er das Wertloswerden der obersten Werte ist, nur nach dem Wortlaut verstehen, dann ergäbe sich diejenige Auffassung vom Wesen des Nihilismus, die inzwischen geläufig geworden ist und deren Geläufigkeit schon durch die Bezeichnung Nihilismus unterstützt wird, daß die Entwertung der obersten Werte offenkundig den Verfall »

Vgl. hierzu generell die Arbeit von Michael Stark, F ü r und wider den Expressionismus.

10

Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 1$ Bänden. H g . v. G . Colli u. M . Montinari. B d . 13. München 1980, S . 4 9 .

"

Martin Heidegger, Nietzsches Wort » G o t t ist tot«. In: H o l z w e g e . F r a n k f u r t / M . (6. Aufl.) 1980, S. 2 0 5 - 2 6 4 , hier S. 2 2 7 . Vgl. auch: S. V i e t t a / H . - G . Kemper, Expressionismus. München 1 9 7 5 , S. 1 3 5 f f . (»Nietzsches historische Nihilismusanalyse«).

"

166

Heidegger, H o l z w e g e , S. 2 2 3 .

bedeutet. Allein, für Nietzsche ist der Nihilismus keineswegs nur eine Verfallserscheinung, sondern der Nihilismus ist als Grundvorgang der abendländischen Geschichte zugleich und vor allem die Gesetzlichkeit dieser Geschichte.

Schon die flüchtigste Bekanntschaft mit Nietzsches Schriften macht zur G e n ü g e deutlich, daß im Mittelpunkt seiner Kulturphilosophie die Diagnose des Verfalls steht. 14 D a s Vorbild f ü r die Brochschen E x k u r s e scheint damit gefunden zu sein. Betrachtet man jedoch den Wertbegriff näher, kann von einer Ubereinstimmung nicht mehr gesprochen werden: f ü r B r o c h sind die Werte keine »Projektion« eines vitalen Selbsterhaltungstriebes, sondern ideale Entitäten einer das Leben übersteigenden Wertregion (vgl. den Schluß des »Erkenntnistheoretischen Gesetzlichkeit

Exkurses«: K W

i, S. 6z}{.).

ist keine der A n t h r o p o l o g i e

D i e hier waltende

oder Biologie, sondern

des

D e n k e n s . 1 ' So w i e der E n t w u r f einer formalen Werttheorie entstammt auch B r o c h s Kritik an der Lebensphilosophie (vgl. K W 10/2, S. 27 passim) neukantianischen Quellen. D i e Wirkung der Nietzscheschen Geschichtsdeutung sollte dennoch nicht unterschätzt werden.' 6 D e r so zeitgemäß erscheinenden D i a g n o s e des Kulturverfalls konnte sich k a u m einer der Generationsgenossen B r o c h s entziehen; o b dabei die G r u n d a n n a h m e n der Nietzscheschen Philosophie akzeptiert w u r d e n oder nicht, spielte keine allzugroße Rolle. O f t waren sie gar nicht bekannt. Von Untergang oder Verfall w a r im U m k r e i s des durch die Lebensphilosophie geprägten Kulturpessimismus und der Literatur des Fin de siècle, aber auch im revolutionären« Expressionismus allenthalben die R e d e , ohne daß Nietzsche ausdrücklich genannt werden mußte. M i t Spenglers »Untergang des Abendlandes* erhielt diese Stimmung der literarischen Décadence nachträglich ihre geschichtliche Rechtfertigung. D i e akademische Forschung kritisierte z w a r bereits k u r z nach Erscheinen des ersten Bandes der »Umrisse einer M o r p h o l o g i e der Weltgeschichte« (1918) Spenglers M e t h o d e des A n a logisierens und die wissenschaftliche Unhaltbarkeit der so

gewonnenen

'Ergebnisse', doch das tat der W i r k u n g des Buches keinen A b b r u c h : es wollte nicht Wissenschaft, sondern Weltanschauung sein und geben. Z u den G r u n d motiven dieser Geschichtsdeutung gehörte der Verfall der abendländischen Kultur, den auch B r o c h , abgewandelt in »Zerfall der Werte«, im Titel seiner geschichtsphilosophischen E x k u r s e führt. Wohlgemerkt: im Titel der ''

E b d . , S. 219. Vgl. auch: Wilhelm Weischedel, D e r G o t t der Philosophen. Grundlegung einer Philosophischen Theologie im Zeitalter des Nihilismus. B d . 1. München 1979, Zweiter Teil, 4. Kapitel.

14

Vgl. Hans Barth, Wahrheit und Ideologie. Frankfurt/M. 1974, S. 2 5 6 .

•s

Vgl. Heinrich Rickert, Philosophie des Lebens. Tübingen 1920, Kap. 8.

16

Vgl. auch Steinecke, Roman, S. 34. Z u r indirekten Wirkung Nietzsches vgl. den Aufsatz von Gunter Martens, Nietzsches Wirkung im Expressionismus. In: N i e t z sche und die deutsche Literatur. H g . v. Bruno Hillebrand. B d . 2. München 1978, S. 3 5 - 8 2 , bes. S. 52ff.

167

Exkurse. Die Ausführungen selbst haben keine Ähnlichkeit mit einer Kulturphilosophie Nietzschescher Prägung. Sie stellen sogar, genauer betrachtet, einen Gegenentwurf dar. Wie ist dann aber die Metaphorik des Zerfalls zu deuten? Das ist die vielleicht wichtigste Frage, die im Zusammenhang mit der Brochschen Geschichtsphilosophie gestellt werden muß. Sie führt in das Zentrum der neun Exkurse zum »Zerfall der Werte«.

2. Der Aufbau der neun Exkurse Die formal schwierigste Aufgabe stellte sich für Broch im Vorfeld der eigentlichen historischen Interpretation mit der Einführung des ersten Exkurses in den bis dahin rein erzählenden Text. Dem Leser konnten zwar ohne weiteres Formexperimente wie die Unterbrechung des Erzählduktus zugemutet werden, doch offen blieb, ob diese in der literarischen Gestaltung seit langem geübte Praxis auch die Grenze so verschiedener Gattungen wie Roman und geschichtsphilosophischem Essay verwischen durfte. Eine alternative Lösung war allenfalls in dem »gebildeten« Gespräch der handelnden Personen gegeben, das Broch aber mit deutlicher Wendung gegen die Stilprinzipien Thomas Manns und Robert Musils für seinen Roman ablehnte (vgl. KW 13/1, S. 148, i j i ) . Andererseits durften die Exkurse nicht vollkommen willkürlich in den Text eingesprengt werden. Ein solcher Eindruck wurde zwar durch die parallelen Erzählstränge, in die Broch den dritten Roman auflöste, gemildert, es blieb aber die Aufgabe bestehen, einen logischen Ubergang zu finden, mit dem sich die Reihe der theoretischen Exkurse an die Romanhandlung anknüpfen ließ. Broch löste dieses Problem überraschend einfach und überzeugend: dem im Roman geschilderten Kriegsalltag, der das Geschick der verschiedenen Personen verbindet, wurde auf einer übergeordneten, abstrakten Ebene die Frage gestellt, wie etwas Wirklichkeit des Lebens und Handelns sein kann, das so gegen jede Logik und damit Begreifbarkeit des Lebens verstößt wie die »gigantische Todesbereitschaft« eines Weltkrieges, den die Menschen in seiner Alogizität als »normal« empfinden, was nur als Zeichen einer »Zerrissenheit« oder des »Wahnsinns« zu deuten ist. Bezeichnenderweise greift Broch hier auf Formulierungen zurück, die er zuerst in einem während des Krieges entstandenen Text verwendet hatte (vgl. den Beginn des ersten Exkurses: KW 1, S.418 und die Anmerkung dazu S. 747). Doch im Unterschied zu der 1917 abgefaßten Studie, wo im Anschluß an den pathetischen Ausruf »Hat dieses verzerrte Leben noch Wirklichkeit? hat diese hypertrophische Wirklichkeit noch Leben?« die Möglichkeiten durchdacht werden, Geschichtserkenntnis methodologisch zu begründen, etwa durch eine Theorie der Wertbeziehung, wird im ersten Exkurs des Huguenau-Romans die Beschreibung des »irrationalen« historischen Geschehens 168

im Ton der Betroffenheit fortgesetzt. Broch ruft in Erinnerung, was die Jahre des Ersten Weltkrieges kennzeichnete: die Begeisterung, den irrationalen Heroismus, die Ideologien, das Entsetzen und die Mitleidlosigkeit - all das Ausdruck der »Zerspaltung« des Menschen und der Zeit.'7 Das Grundmotiv der Gespaltenheit stellt die Verbindung zum zweiten Exkurs her. Korrekt müßte es heißen: der Leser hat diese Verbindung über den Inhalt selbst herzustellen, da, oberflächlich gesehen, der zweite Exkurs eine völlig andere Form und ein anderes Thema besitzt. Er ist abstrakter als der erste Exkurs. Ein Ich-Erzähler reflektiert über ästhetische Fragen und hier vor allem über »eine alte sehr fundierte Erkenntnis«, daß es nämlich »für eine Epoche nichts Wichtigeres gibt als ihren Stil.« (KW i, S. 436) An der Architektur läßt sich ablesen, daß die Gegenwart stillos geworden ist; sie hat jedes einigende Prinzip verloren. In den architektonischen Erlebnissen spiegelt sich so das Entsetzen der Zeit. Das sind zunächst nur subjektive Eindrücke und assoziative Verbindungen, über die der Erzähler nachdenkt und die er für sich zu bewerten sucht: »Nein, ich bin kein Ästhet, war es sicherlich auch niemals, mochte wohl auch manches solchen Anschein erweckt haben, und ebensowenig ist es rücksehnende Sentimentalität, verklärende Rückschau auf vergangene Epochen.« (KW 1, S. 436) Die Einsicht in die Stileigentümlichkeit einer Epoche verdankt sich also weder der Kulturphilosophie Nietzsches noch einem romantischen Konservativismus; fast unbemerkt bleibt hier noch, im zweiten Exkurs, die Anspielung auf den Gegensatz von Renaissance und Mittelalter - chiffriert in dem seit der Jahrhundertwende geläufigen Ausdruck »Ästhet« und dem Gegenbegriff der »rücksehnenden Sentimentalität«, also Romantik im Sinne der soziologischen Theorie der zwanziger Jahre - , aus dem heraus später der Zerfall der Werte gedeutet wird. Im dritten Exkurs wird der Stilbegriff weiter entfaltet: »Stil ist sicherlich nicht etwas, das sich auf das Bauen oder auf die bildende Kunst beschränkt, Stil ist etwas, das alle Lebensäußerungen einer Epoche in gleicherweise durchzieht.« (KW ι, S. 444) Broch nennt dies im vierten Exkurs - der Ich-Erzähler ist wieder verschwunden - den »Denkstil« einer Epoche, dem auch der unbedeutendste Zeitgenosse, etwa Huguenau, in seinem Leben und Handeln unterworfen ist. Am Ende des vierten Exkurses wird damit auf die Beschreibung

17

In seinem E n d e der zwanziger Jahre erschienenen Aphorismenband

»Einbahn-

straße« schrieb Walter Benjamin mit ähnlich visionärem Gestus, daß in »den Vernichtungsnächten des lezten Krieges [ . . . ] den Gliederbau der Menschheit ein Gefühl [erschütterte], das dem Glück der Epileptiker gleichsah.« Benjamin, Einbahnstraße (1928). F r a n k f u r t / M . 1982, S. 126. Z u m A u f b a u der Exkurse, wie er im folgenden beschrieben wird, vgl. auch die Untersuchung von Hartmut Grimrath, Hermann Brochs >Die Schlafwandler«. Die Heilsarmee-Geschichte, der Zerfall der Werte und ihr Zusammenhang mit den erzählerischen Partien des Romans. (Diss. Masch.) Bonn 1 9 7 7 , die im einzelnen zu abweichenden Ergebnissen kommt.

169

des Kriegsalltags zurückgelenkt und die Frage nach der »Logik« (oder Alogik) der Epoche, wie sie sich im ersten Exkurs stellte, teilweise beantwortet. Denken, Handeln und Leben, kurz: der Stil der Epoche ist so »zweckmäßig« und »ornamentfrei« wie ihre Architektur oder die Gedankengänge des Neukantianismus (vgl. KW ι, S. 46iff.); und dieser »Logik« gemäß handelt auch Huguenau. Das ist selbstverständlich keine rationale, einer wissenschaftlichen Kritik standhaltende Analyse historischer Sachverhalte, sondern eher eine Zusammenschau einzelner Phänomene, die als Ausdruck eines verbindenden »Zeitgeistes« verstanden werden sollen. Und mehr ist nicht beabsichtigt, denn damit erfüllen die Exkurse 1 - 4 die schwierige Aufgabe, einen Ubergang von dem erzählenden Text zur theoretischen Reflexion herzustellen; indem sie den Stilbegriff durch konkrete Beispiele, sei es die Architektur moderner Städte oder das Verhalten Huguenaus, einführen und illustrieren, lassen sie den geschichtsphilosophischen Diskurs langsam aus dem fiktiven historischen Geschehen des Romans herauswachsen (dazu gehört auch die Anspielung auf den Ich-Erzähler, der mit Bertrand Müller identisch zu sein scheint). Der Leser wird allmählich an die Frage herangeführt, wie die Erkenntnis eines Epochenzusammenhangs logisch möglich sei; deutlich abgestuft wird dabei die Wahl der Begriffe, die zusehends einen definitorischen Charakter annehmen. Das zunächst verwirrende und widersprüchliche Bild der Kriegszeit (Exkurs 1) wird auf seinen »Stil« befragt (Exkurs 2), was eine Präzisierung des Stilbegriffs erfordert (Exkurs 3), der schließlich als »Denkstil« bzw. »Zeitgeist« seine präzise Form erhält (Exkurs 4). Die ersten Exkurse bleiben jedoch insgesamt im Bereich des anschaulichen, an Beispielen orientierten Denkens. Erst im fünften Exkurs, also genau in der Mitte des in neun Abschnitte geteilten Essays, wechselt Broch abrupt die Darstellungsweise. Das intuitive Reden über den »Denkstil« einer Epoche wird am Begriff des Denkens in seiner reinsten, der mathematisch-logischen Form gemessen : Auch dieses Denken ist bei aller formalen Invarianz nicht zeit- und stillos, sondern von einer der jeweiligen Kosmogonie entsprechenden Axiomatik abhängig. Broch entwickelt diesen Gedankengang vollkommen abstrakt, ohne die an das konkrete historische Beispiel gebundene Anschaulichkeit der ersten Exkurse. Das Niveau der Abstraktion wird in den folgenden Abschnitten beibehalten. Es entsteht so eine zweite Reihe von Exkursen, die das systematische Gegengewicht zu der intuitiven Beschreibung des Anfangs bilden. Im neunten Exkurs werden die verschiedenen Stränge der Argumentation zusammengefaßt. Der Stilbegriff steht neben den erkenntnistheoretischen und methodologischen Erörterungen, und anders als in den frühen philosophischen Studien verbindet sich die formale Werttheorie neukantianischer Prägung mit einer scheinbar konventionellen Kulturkritik, die den historischen Prozeß als Verfallsprozeß deutet. Dem Nachweis des Zerfalls der Werte dienen 170

alle Exkurse, so verschieden die Gegenstandsbereiche von der Logik bis zur materialen Geschichtsphilosophie auch sein mögen. Damit stellt sich erneut und noch drängender als zuvor die Frage, warum für Broch der metaphorische und stark ideologisierte Begriff des Verfalls zum Mittelpunkt der theoretischen Exkurse und die Exkurse zum Kern des Romans wurden. Was ist mit dem »Zerfall der Werte« eigentlich gemeint? Ein erster Hinweis findet sich am Schluß des fünften Exkurses. Beschrieben wird dort die Auflösung der »monotheistischen Kosmogonie«, deren Axiomatik mit der modernen Wissenschaft und Denkweise in Konflikt gerät: »der Urgrund wird aus der >endlichen< Unendlichkeit eines immerhin noch anthropomorphen Gottes in die wahre abstrakte Unendlichkeit hinausgeschoben, die Frageketten münden nicht mehr in dieser Gottesidee, sondern laufen tatsächlich in die Unendlichkeit [...], die Kosmogonie ruht nicht mehr auf Gott, sondern auf der ewigen Fortsetzbarkeit der Frage [ . . . ] : die Kosmogonie ist radikal wissenschaftlich geworden«. (KW i, S. 474Í.) Das ist nicht einfach die Umsetzung des von der Marburger Schule ausgearbeiteten Begriffs des »infiniten Regresses« (vgl. Kapitel I) in eine leicht poetische Sprache, sondern der Versuch, die wissenschaftslogische Kategorie der historischen Interpretation dienstbar zu machen: die von Cohen als zeitlos gültig aufgewiesene Bewußtseinsstruktur wird als »Denkumbruch« geschichtlich lokalisiert. Die Ablösung des mittelalterlichen Ordos im Zeichen der Renaissance und Reformation bedingt den Zerfall einer geschlossenen Wertwelt. Bis zur Gegenwart reicht die Wirkung dieses Epochenbruchs. Die Trennung der einzelnen Wertgebiete, ihre Partikularität, ist für Broch das Ergebnis zunehmender Säkularisierung. Nun ist es zweifellos richtig, daß die neue religiöse Bewegung die Einheit des mittelalterlichen Weltbildes gesprengt hat, was aber nicht einschließt, und das ist auch Broch genötigt festzustellen, daß allein die Reformation des Glaubens für diesen Umbruch verantwortlich ist; die »neue Christlichkeit protestierte nicht nur«, heißt es im siebten Exkurs, »sie reformierte auch«. (KW 1, S. 538) Luther wollte nicht die Neuzeit begründen, sondern das unverfälschte Christentum wiederherstellen. 18 Die neue Konfession begünstigte jedoch zahlreiche Entwicklungen, die sich in der Folgezeit als die eigentlichen Triebkräfte einer sich von der Religion emanzipierenden Moderne erweisen sollten. Für Broch bezeichnet deshalb der Gegensatz von Mittelalter und Reformation/Renaissance eine ideale Grenze, mit deren Überschreitung der Zerfall der Werte einsetzt. Daß sich eine solch statische Epochengrenze historisch nicht verifizieren läßt, dürfte auch Broch gewußt haben. Gleichwohl hält er an dem Epochenschema als dem wichtigsten Indiz für seine Theorie des Verfalls fest. •8

Vgl. Wilhelm Kamiah, Utopie, Eschatologie, Geschichtsteleologie. Kritische Untersuchungen zum Ursprung und zum futuristischen Denken der Neuzeit. Mannheim/ Wien/Zürich 1969, S. 98.

171

Das ist von der Kritik entsprechend moniert worden: was an Brochs »Gedankengang störend wirkt, ist die schon zeitlich irrige Identifizierung von Renaissance und Reformation, die sich doch in Italien kaum mehr berühren und selbst nördlich der Alpen nur wenig überschneiden.« 19 Dieser Einwand besteht zwar zu Recht, er bleibt als solcher aber ohne Aussagekraft, wenn nicht, was in der Brochforschung bisher nur selten versucht wurde, von den leicht nachweisbaren Fehlern im Detail auf das System des Autors rückgeschlossen wird, in dem die faktischen Irrtümer ihre eigene Bedeutung gewinnen. Von »Irrtümern« läßt sich aber im Rahmen einer dezidierten Geschichtsphilosophie nur noch mit Einschränkungen sprechen. Wie dieser Rahmen beschaffen ist, muß vorab erklärt werden, da alle Einzelfragen, etwa zum Begriff des Stils oder zu formalen Kategorien der Rickertschen Wertphilosophie, aber auch der Methodologie, wie sie im neunten Exkurs angesprochen wird, erst dann sinnvoll beantwortet werden können, wenn die Vorentscheidung verstanden ist, die Broch mit der Übernahme des Verfallsschemas getroffen hat. Die geschichtsphilosophische These bildet eine Konstante, die den Zusammenhang zwischen den ursprünglich selbständigen philosophischen und historischen Exkursen neu ordnet. Ihre endgültige Gestalt als Teil der Romantrilogie erhielten die Exkurse um 1930. Zu diesem Zeitpunkt konnte der »Zerfall der Werte« (das heißt: der Säkularisationsprozeß der Neuzeit) durch zwei unterschiedliche historische Ansätze begründet werden. Der eine, man könnte ihn den wissenschaftlichen nennen, versuchte den Zusammenhang zwischen dem religiösen Umbruch und der Entstehung der modernen Gesellschaft im 16. Jahrhundert religions soziologisch zu erklären. Die Schriften Max Webers und Ernst Troeltschs setzten hier Maßstäbe, die ihre Geltung bis zur Gegenwart behalten haben; die Diskussion dieser in der Verarbeitung des umfangreichen historischen Materials wie in der methodischen Reflexion gleich vorbildlichen Arbeiten erreichte gegen Ende der zwanziger Jahre einen ersten Höhepunkt. 20 '9

Robert A . Kann, Hermann B r o c h und die Geschichtsphilosophie. In: Histórica. F S

20

Vgl. etwa H o w a r d Becker, Säkularisierungsprozesse. In: Kölner Vierteljahreshefte

Friedrich Engel-Janosi. Wien 1965, S. 3 7 - 5 0 , hier S . 4 1 . für Soziologie ( 1 9 3 2 ) , S. z83ff. und 4 5 o f f . ; Karl Holl, Die Kulturbedeutung der Reformation. In: Ges. Aufsätze zur Kirchengeschichte. B d . 1. Tübingen 1 9 3 2 ; vgl. außerdem die Beiträge und die »Bibliographie zur Kontroversialliteratur« in dem von Johannes Winckelmann hg. Band: M a x Weber, Die protestantische Ethik II (Kritiken und Antikritiken). Gütersloh (3. A u f l . ) 1978. Vgl. auch Lübbe, Säkularisierung, S. 6off. und die materialreiche Studie von D i r k Käsler, D i e frühe deutsche Soziologie 1909 bis 1934 und ihre Entstehungs-Milieus. Eine wissenschaftssoziologische Untersuchung (Studien zur Sozialwissenschaft B d . 58). Opladen 1984, bes. S. i98ff. - A u f genauere Literaturangaben z u m Säkularisierungsproblem muß hier verzichtet werden. N u r zwei Titel seien stellvertretend genannt: zur älteren Forschungsliteratur Geschichtsbildes.

172

vgl. Werner Kaegi, Voltaire und der Zerfall des In: Historische Meditationen.

Zürich

christlichen

1942, S. 2 2 1 - 2 4 8 ;

zur

Einen ähnlichen Anspruch konnten Brochs Exkurse in keiner Weise erfüllen. Weder im Roman noch in dem gleichzeitig entstandenen Essay »Logik einer zerfallenden Welt« war Raum für eine mit historischen Beispielen und Daten gestützte Argumentation. Die lediglich angedeutete Beschreibung des abendländischen »Rationalisierungsprozesses« läßt sich deshalb nur indirekt auf die Theorie Webers beziehen. 11 Für die gedrängte Beweisführung in den Exkursen zum Zerfall der Werte spielt die religionssoziologische Fragestellung kaum eine Rolle. Das Schema der Interpretation wird hier durch den weltanschaulichen Mittelalter

und Renaissance/Reformation

Gegensatz

von

bestimmt, der seit der Jahrhun-

dertwende zu den gängigen Redefiguren des kulturphilosophischen Essays gehörte; die Beispiele reichen vom Renaissance-Kult der Décadence über den politisch-utopischen Expressionismus und seinem Ideal der (ständischen) »Gemeinschaft« bis hin zu H u g o von Hofmannsthals berühmter Rede über >Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation< (1927), die mit der Voraussage schließt, daß die »Geistesumwälzung des sechzehnten Jahrhunderts« durch eine »konservative Revolution« überwunden werde. 2 2 Das ist mehr Deutung der Gegenwart als der Vergangenheit.

21

"

neueren Literatur vgl. den Aufsatz von Günter Dux, Religion, Geschichte und sozialer Wandel in Max Webers Religionssoziologie. In: Int. Jb. für Religionssoz. Bd. 7 (1971), S. 62-65, 78-93 (wieder abgedruckt in: Seminar: Religion und gesellschaftliche Entwicklung. Studien zur Protestantismus-Kapitalismus-These Max Webers. Hg. v. C. Seyfarth u. W. M. Sprondel. Frankfurt/M. 197}, S. 313-337). In den vierziger Jahren gab Max Horkheimer den Weberschen Thesen zur Entwicklung des Protestantismus/Kapitalismus eine dezidiert kulturkritische Wendung, die in gewisser Hinsicht - was die »Dialektik« des modernen Rationalisierungsprozesses betrifft - mit der Brochs vergleichbar ist; Horkheimer schrieb in seinem Aufsatz >Vernunft und Selbsterhaltung< (1941/42): »Die gesellschaftliche Funktion des Protestantismus vor allem harmoniert mit der Wirksamkeit der zwecksetzenden Vernunft. Der Rationalismus darf sich über Luther ebensowenig beklagen wie über die Logiker von Port Royal. [ . . . ] Der Protestantismus war die stärkste Macht der Ausbreitung der kalten, rationalen Individualität. [ . . . ] Anstelle der Werke um der Seligkeit willen trat das Werk um des Werkes, der Profit um des Profits, die Herrschaft um der Herrschaft willen; die ganze Welt wurde zum bloßen Material.« Horkheimer, Vernunft und Selbsterhaltung. In: H. Ebeling (Hg.), Subjektivität und Selbsterhaltung. Beiträge zur Diagnose der Moderne. Frankfurt/M. 1976, S. 41-75, hier S. j2f. Zu den Problemen der Epochentypologie vgl. unten Abschnitt III/5. Vgl. Wilhelm E. Mühlmann, Max Weber und die rationale Soziologie (Heidelberger Soziologica 3). Tübingen 1966, S. 45 Anm. 4; Mühlmann zitiert eine Stelle aus dem sechsten Exkurs der Schlafwandler-Trilogie Brochs. Vgl. Hugo von Hofmannsthal, Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation. Rede, gehalten im Auditorium Maximum der Universität München am 10. Januar 1927. In: Reden und Aufsätze III (1925-1929). Hg. v. B. Schoeller u. a. Frankfurt/ M. 1980, S. 24-41.

173

Der Gegensatz von Mittelalter und Renaissance/Reformation ist seit der Romantik und dem Aufkommen des Renaissancismus in der Nachfolge Jacob Burckhardts immer wieder neu bewertet worden, meist, wie in der Rede Hofmannsthals, mit direktem Bezug auf die jeweilige geschichtliche Situation. Der Wandel dieser Wertungen vollzieht sich seit der Jahrhundertwende immer rascher. An seinem Ende stehen Geschichtsdeutungen wie die der Konservativen Revolution, aber auch selbständige, nur schwer einzuordnende Entwürfe, zu denen auch Brochs Theorie des Verfalls gerechnet werden muß. Die Eigenständigkeit seines Entwurfes zeigt sich vor allem in der Bestimmung der Gründe, die zu dem angenommenen Wertzerfall geführt haben. Diese erschöpfen sich nicht in der sonst üblichen Aufzählung markanter historischer Personen und Daten (Luther, Kopernikus, die Französische Revolution), sondern versuchen einen Zusammenhang zwischen der leicht rekonstruierbaren Revolution im wissenschaftlichen Denken und dem damit irgendwie in Verbindung stehenden allgemeinen geschichtlichen und gesellschaftlichen Wandlungsprozeß herzustellen. Daher die Rede vom »Denkstil« und vom »Denkumbruch«, wie er in der Scholastik stattgefunden haben soll, wo jene »Umkehr zum Positivismus« vorbereitet wurde, »deren Anfänge bereits in der aristotelischen Formung der Kirche sichtbar waren, deren weiterer Fortgang aber trotz mannigfacher Rettungsversuche von seiten der Scholastik [...] nicht mehr gehemmt werden konnte; an der Absolutierung, an den Unendlichkeitsantinomien mußte sie scheitern, - die Logizität war aufgehoben.« (KW i, S. 53 j) Man könnte auch sagen: das gemeinsame Paradigma ist aufgehoben worden. Wem der Begriff scientific revolution* zur Selbstverständlichkeit geworden ist, wird das obige Zitat, das bei Broch in keinem rein wissenschaftlichen Kontext steht, leicht zu überlesen geneigt sein. Wer es nicht überliest, wird hier vielleicht eine Möglichkeit sehen, die Brochsche Geschichtsphilosophie zu aktualisieren und durch einen Vergleich mit der heutigen Diskussion - man denke zum Beispiel an T. S. Kuhn oder H. Blumenberg - systematisch aufzuschlüsseln und gleichzeitig aufzuwerten. Ein derart unhistorisches Verfahren wird jedoch, so verlokkend es zunächst auch erscheinen mag, sehr schnell an eine Grenze stoßen, wo alle Ubereinstimmungen und Analogien im Detail - wie etwa, um einen Begriff Wolfgang Krohns zu gebrauchen, bei der oben beschriebenen »Transformation des wissenschaftlichen Bewußtseins«,23 der »Revolution des Denkstils«, wie Broch es nennt - , ihre Erklärungskraft verlieren. Denn im >Historischen Exkurs< geht es Broch nur am Rande um die formale Struktur des »Denkumbruchs«, wichtiger ist die inhaltliche Charakterisierung des Epochengegensatzes von Mittelalter und Renaissance/Reformation, der sich von einem be-

Wolfgang Krohn, Die >Neue Wissenschaft* der Renaissance. In: G . Böhme, W. van den Daele, W. Krohn, Experimentelle Philosophie. Ursprünge autonomer Wissenschaftsentwicklung. Frankfurt/M. 1977, S. 1 3 - 1 2 8 , hier S. 25.

174

stimmten Standpunkt aus als der Beginn eines Verfallsprozesses deuten läßt. Brochs Denken erweist sich hier als stark zeitgebunden.

3. Die Uberwindung des Historismus. Grundlinien der literarischen Entwicklung nach dem Ersten Weltkrieg A n Untersuchungen zur Literatur der zwanziger Jahre herrscht kein Überfluß. N o c h weniger als bei anderen Abschnitten der Literaturgeschichte läßt sich hier die Epoche als eine >Einheit< beschreiben; Einzeluntersuchungen erscheinen oft zuverlässiger als die wie immer fragwürdige Gesamtdarstellung der deutschen Literatur zwischen 1918/20 und 1933 (über das definitive Ende des Expressionismus ließe sich zusätzlich streiten). Man hat deshalb auch vorsichtig, den Talmiglanz des Epochenbegriffs abschwächend, von der Literatur der »sogenannten« zwanziger Jahre gesprochen. 14 Einschnitte und Abgrenzungen lassen sich zwar leicht vornehmen, doch die nachträgliche Zuordnung der verschiedenen Strömungen, auf die es ankäme, leistet kein noch so weit gefaßter Begriff. Die oft zitierte Formel der »Neuen Sachlichkeit« erweist sich als zu unbestimmt oder - wie der Untersuchung Helmut Lethens vorgeworfen wurde - als durch negative Wertungen belastet. 2 ' Die hier nur angedeutete Epochenproblematik hat Lothar Köhn in einer 1974 erschienenen Studie ausführlich behandelt. Die dort angekündigte »exemplarische« Geschichte der deutschen Literatur der 20er Jahre steht noch aus. Die »grundlegenden Vorstudien« müssen deshalb vorläufigen Ersatz für die fehlende Darstellung leisten; sie enthalten noch immer gültige Maßstäbe für künftige Untersuchungen, wie Richard Brinkmann in einem 1980 erschienenen Forschungsbericht feststellte. 26 Bereits die Überschrift nennt das Generalthema, unter das Köhn die Literatur der Zwischenkriegszeit gestellt sieht: die »Überwindung des Historismus«. 27 Aus diesem von Ernst Troeltsch übernommenen Schlagwort der geschichtsphilosophischen Debatte entwickelt Köhn eine für die literaturge14

Vgl. Reinhold Grimm/Jost Hermand (Hg.), Die sogenannten Zwanziger Jahre (First Wisconsin Workshop. Schriften zur Literatur Bd. 13). Bad Homburg 1970. 2 s Zu der Arbeit von Helmut Lethen, Neue Sachlichkeit, Studien zur Literatur des »Weißen Sozialismus«. Stuttgart 1970, vgl. Karl Prümm, Neue Sachlichkeit. Anmerkungen zum Gebrauch des Begriffs in neueren literaturwissenschaftlichen Publikationen. In: Zs. f. dt. Philologie 91 (1972), S. 606-616, bes. S. 609; vgl. neuerdings auch Klaus Petersen: »Neue Sachlichkeit«: Stilbegriff, Epochenbezeichnung oder Gruppenphänomen? In: DVjs 56 (1982), S. 463-477. 16 Vgl. Richard Brinkmann, Expressionismus. Internationale Forschung zu einem internationalen Phänomen (Sonderheft der DVjs). Stuttgart 1980, S. 220. 17 Vgl. Lothar Köhn, Überwindung des Historismus. Zu Problemen einer Geschichte der deutschen Literatur zwischen 1918 und 1933. In: DVjs 48 (1974), S. 704-766 (Teil I) und Bd. 49 (1975), S. 94-165 (Teil II). I7S

schichtliche Betrachtung außerordentlich fruchtbare These, die sich allerdings, das sei gleich einleitend bemerkt, etwas zu sehr an der »intellektuellen« Literatur des Jahrzehnts orientiert. So ist denn auch Brochs SchlafwandlerRoman für den Autor »eines der wichtigsten Modelle der Historismus-Problematik«, dem er eine vergleichsweise ausführliche und in vieler Hinsicht zutreffende Interpretation widmet, bei der Fehler und Ungenauigkeiten hätten vermieden werden können. 28 D o c h das ist nicht der Hauptgrund, warum auf die Köhnsche These im folgenden genauer eingegangen wird. Unter Historismus versteht Köhn jene spezifisch moderne Kritik des Uberlieferten, die zur »Auflösung der Metaphysik, Historisierung und Individualisierung

des

Wahrheitsbegriffs

(vor

allem

zunächst

in

bezug

auf

Geschichte und Gesellschaft selbst) und der Wertbegriffe (Handlungs- und Orientierungsnormen

einschließlich religiöser Bindungen)« führte. Köhn

übernimmt hier einen Bestimmungsversuch, den Walter Schulz vorgeschlagen hat: »>Historismus< sei verstanden als die seit dem 18. Jahrhundert zentrale bürgerliche Denkstruktur, inhaltlich relativ weit gefaßt als >der sich radikalisierende

Abbau

überzeitlicher

Normensysteme

und

die

zunehmende

Erkenntnis, daß wir uns als geschichtliche Existenzen verstehen müssen bis in die innersten Zonen unseres Menschseins.Einheit< - in der Vielzahl ihrer widersprüchlichen >Tendenzen und Traditionen (Sengle) natürlich - begriffen werden kann, so geht es nicht primär um den >Einfluß< der Philosophie auf die Literatur, der ja an sich bedeutsam genug ist. Vielmehr vollziehen sich im Bereich der Literatur Wandlungen [...], die als parallele Versuche innerhalb jenes Horizontes zu verstehen sind, der im philosophisch-theoretischen Bereich vielleicht am genauesten faßbar wird.' 1 E s muß als besonderer G l ü c k s f a l l gelten, daß B r o c h von dem theoretischen Bereich ausgeht und die dort entwickelte Philosophie in den R o m a n einbringt. Seine prinzipielle methodologische Kritik am Diltheyschen »Positivismus« begegnete ja bereits im ersten Kapitel der vorliegenden A r b e i t ; sie erhält nun einen kulturkritischen A s p e k t . N i m m t man beide Werkteile

zusammen,

scheint B r o c h als Kulturphilosoph leichter faßbar zu sein als vergleichbare A u t o r e n . A u s diesem G r u n d gehört er f ü r K ö h n zu den K r o n z e u g e n bei der Bestätigung der oben referierten These. N e b e n B r o c h werden genannt: die B r ü d e r M a n n , D ö b l i n , Musil, R o t h u. a. D i e Gegenposition zu diesen Autoren hält f ü r Köhn »nicht der marxistische Brecht [ . . . ] , sondern jener >heroische Realismus«« eines E r n s t Jünger, der »statt der ästhetischen oder phantastischen Distanz zur Wirklichkeit in einer A r t visionärem Positivismus die Identifizierung mit ihr« s u c h t . ' 1 J ü n g e r und Brecht teilen z w a r eine nihilistische G r u n d überzeugung, unterscheiden sich aber erheblich in der weltanschaulichen »Umwertung« des Nietzscheschen Erbes.'3 D i e undialektisch-identifizierende Weltsicht eines J ü n g e r läßt sich mit dem Materialismus Brechts ebensowenig vereinbaren w i e mit den Sinngebungsversuchen der z u v o r genannten Autoren.

31 33

Köhn, Historismus, Teil I, S. 752/61. Ebd., S. 762. Vgl. ebd., Teil I, S. 756f. u. Teil II, S. 127; vgl. auch:H. Kreuzer, Zur Periodisierung der >modernen< deutschen Literatur. In: Veränderungen des Literaturbegriffs. Fünf Beiträge zu aktuellen Problemen der Literaturwissenschaft. Göttingen 1975, S. 41-63, bes. S. 56.

177

Alle intellektuellen Lager treffen sich jedoch in dem - durch den »Historismus« bedingten - kritischen Vorbehalt gegenüber den neuen Republiken, »die so, wie sie waren, niemand anerkennen wollte, auch diejenigen nicht, die sich als überzeugte Republikaner gaben; Republiken im Ubergang also zu etwas anderem, Besserem, Absolutem«. 34 Der republikanische Geist der linken Intelligenz fand sich in der bestehenden Republik ebensowenig bestätigt wie der des neuen Nationalismus. Selbst bei so engagierten Literaten wie Tucholsky findet sich in der Gesellschaftssatire die »Negation des Bestehenden zugunsten eines unbestimmten Positiven«." Bei Autoren wie Broch, Musil, Bloch oder Thomas Mann trägt dieses unbestimmte Positive Züge einer Epiphanie des Absoluten in der Geschichte, die - so Köhn - überwiegend die »im >ErlebenGroßem Mittag< - weithin direkt oder indirekt in den Bereich des Historisch-Politischen eingebracht wird [...]. Wieweit solche Formen der Sinnerfahrung, die man nach 1914 kaum noch als ahistorisch, sondern am ehesten als der Intention nach historisch-überhistorisch verstehen kann - nur daraus ergibt sich ihre politische Stoßkraft, ζ. B. im Nationalsozialismus - gleichsam a priori falsches Bewußtsein< signalisieren, ist angesichts der unterschiedlichen Äußerungen, von Jünger über Musil und Broch zu Heinrich Mann und Benjamin, nicht leicht zu entscheiden.«3á Das ist ein erster, im Kern sicher zutreffender Interpretationsansatz, der es erlaubt, auch dort nach Gemeinsamkeiten zu fragen, wo in der Literatur der 20er Jahre bisher strikt zwischen konservativ-romantischen, modernen, politischen und epigonalen Werken unterschieden wurde. Die Köhnsche These J4

Köhn, Historismus, Teil II, S. 115. J ö r g Schönert, »Wir Negativen« -

Das Rollenbewußtsein

des Satitikers

Kurt

Tucholsky in der ersten Phase der Weimarer Republik ( 1 9 1 8 - 1 9 2 4 ) . In: I. Ackermann (Hg.), Kurt Tucholsky: Sieben Beiträge zu Werk und Wirkung. München

1981,

S. 4 6 - 8 8 , hier S. 86. Vgl. auch: Frank Trommler, Verfall Weimars oder Verfall der Kultur? Z u m Krisengefühl der Intelligenz um 1930. In: T h o m a s Koebner (Hg.), Weimars Ende. Prognosen und Diagnosen in der deutschen Literatur und politischen Publizistik 1 9 3 0 - 1 9 3 3 . Frankfurt/M. 1982, S. 3 4 - 5 6 , bes. S. 3 9 ; Kurt Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933 (1962). München 1978, bes. S. 309; Helmut Mörchen mahnt indessen zur Vorsicht gegenüber der »heute bereits zu einem Topos verfestigte[n] Behauptung, daß die intellektuelle Linke ihre Ziele nicht erreicht habe, sondern im Gegenteil gemeinsam mit ihren rechtsextremen Gegnern die Schuld am Untergang der Republik trage.« Vgl. zur Argumentation im einzelnen H . M . , Schriftsteller in der Massengesellschaft. Z u r politischen Essayistik und Publizistik Heinrich und T h o m a s Manns, Kurt Tucholskys und Ernst Jüngers während der Zwanziger Jahre. Stuttgart 1 9 7 3 , S. 97ff.

178

überzeugt dabei nicht zuletzt wegen ihrer großen Allgemeinheit - um nicht zu sagen: Unbestimmtheit - , die es ausschließt, und wohl auch ausschließen soll, daß sie mit der konkreten Interpretation eines einzelnen Werkes in Konflikt gerät. Immerhin: der Rahmen für solche Einzeluntersuchungen ist gegeben. Er soll im folgenden zumindest in dem Teil, den die Brochsche Geschichtsphilosophie einnimmt, inhaltlich ausgefüllt werden. Die Hoffnungen, die Köhn in Brochs philosophische Schriften setzte, werden dabei enttäuscht: die in den Exkursen und im Roman entwickelte Geschichtsphilosophie findet sich kaum andeutungsweise in den Frühschriften. Köhn ist deshalb auch in seiner 1981 erschienenen Studie auf diese neu edierten Texte (vgl. KW 10/1 und 2, 1977) nicht näher eingegangen. Gemeint ist hier selbstverständlich jene substantielle Geschichtsphilosophie, wie sie sich in der Darstellung des Zerfalls oder dem Dualismus von Mittelalter und Renaissance ausspricht, nicht ihre formale oder methodologische Grundlage, die Broch in seinen Frühschriften ja ausführlich reflektiert hat; einiges ist davon auch in die Exkurse eingegangen, womit sich die eingangs beschriebene Konstellation ergab. Doch das ist eine zweite Frage, die erst im Anschluß an die Erklärung der Brochschen Verfallstheorie beantwortet werden kann. Die Voraussetzungen dieser materiellen Geschichtsphilosophie müssen zuvor erschlossen sein. Da Broch kaum Hinweise auf Vorbilder oder Lektüren gibt, muß der Interpret auf bestimmte biographische Fakten als eine eher unsichere Quelle zurückgreifen. Einige dieser Daten erweisen sich jedoch als überraschend aufschlußreich, so daß mit ihrer Hilfe das von Köhn umrissene Problemfeld systematisch eingegrenzt werden kann. Bei allen Vorbehalten gegenüber einer Argumentation, die sich auf die persönlichen Lebensumstände oder geistigen >Haltungen< des Autors stützt, läßt sich in diesem Fall der Rückgriff auf die Biographie rechtfertigen. Brochs Geschichtsphilosophie soll nicht als beliebiger Ausdruck zeittypischer Tendenzen oder Weltanschauungen der ideologiekritischen Analyse unterworfen, sondern als Ergebnis der »Sedimentierung früherer Erfahrungen« (Alfred Schütz) verständlich gemacht werden.37 Die Zeitgebundenheit des Brochschen Denkens wird damit keineswegs geleugnet. Im Gegenteil, sie tritt bei der Berücksichtigung des individuellen Lebensweges erst eigentlich hervor: der Interpret kann gezielt wichtigen Bezügen nachgehen, ohne sich in dem engen Geflecht der antimodernistischen, utopischen, konservativen und revolutionären Strömungen an vage Spekulationen zu verlieren; am Ende der zwanziger Jahre ist das Ineinander und Gegeneinander der verschiedenen weltanschaulichen Entwürfe von einer



Köhn, Historismus, Teil I, S. 765 A n m . 62.

37

D e r Begriff wird hier »lebensgeschichtlich«

verstanden; vgl. zur

»genetischen

Analyse« : A l f r e d Schütz, Das Problem der Relevanz. H g . v. R . M . Zaner. Frankfurt/ M . 1971, S. m f f .

179

solchen Komplexität - der »Nationalbolschewismus« Ernst Niekischs mag als Stichwort genügen - , daß selbst ein so ausgezeichneter Kenner der historischen Situation wie Karl Dietrich Bracher von einer »verwirrendefn] Szenerie«' 8 gesprochen hat, die es nur in wenigen Fällen erlaubt, Strömungen der konservativ-bürgerlichen Zivilisationskritik - die sich vornehmlich in einer pessimistischen Deutung der abendländischen Geschichte (»Verfall«) und ihrer Zukunft ausdrückte - als ideologische Bewegungen zu deuten, die latent faschistisch gewesen seien. Daß sie sich später von der Doktrin des Führerstaates leicht kanalisieren ließen, ist dagegen kaum zu bestreiten, erklärt aber nicht ihre historische Stellung.

4. Die Voraussetzungen der Brochschen Geschichtsphilosophie Im Jahre 1920 rezensierte Broch in der Modernen Welt ein Buch über >Das Werk Conrad Ferdinand Meyers. Renaissance-Empfinden und Stilkunst< (München 1917) des Windelband-Schülers Franz Ferdinand Baumgarten, das gerade in der zweiten Auflage erschienen war. Nicht nur die Rezension, auch das Buch, über das Broch schrieb, und sein heute so gut wie unbekannter Autor haben etwas mit der Geschichtsphilosophie zu tun, die hier genauer untersucht werden soll. Als Sohn einer wohlhabenden deutsch-ungarischen Familie gehörte Baumgarten in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zu dem Budapester Freundeskreis um Georg Lukács. Durch Baumgarten lernte Lukács Paul Ernst kennen, den Begründer der neuklassischen Bewegung, der in Lukács' Erstlingswerk (>Die Entwicklung des modernen DramasTheorie des Romans< (1920) enthält nicht zufällig ein geschichtsphilosophisches Credo, daß nämlich »die Form des Romans '8

Karl Dietrich Bracher, Stufen der Machtergreifung. Bd. I d. Reihe: Bracher/Schulz/ Sauer, Die nationalsozialistische Machtergreifung. Studien zur Errichtung des totalitären Herrschaftssystems in Deutschland

i'

1933/34.

F r a n k f u r t / M . , Bln., Wien

1979,

Vgl. Ferenc Fehér, A m Scheideweg des romantischen Antikapitalismus. Typologie und Beitrag zur deutschen Ideologiegeschichte gelegentlich des Briefwechsels z w i schen Paul Ernst und G e o r g Lukács. In: Agnes Heller u. a., D i e Seele und das Leben. Studien zum frühen Lukács. Frankfurt/M. 1977, S. 2 4 1 - 3 2 7 , hier S. 249.

180

[...] Ausdruck der transzendentalen Obdachlosigkeit« des modernen Menschen sei.4° Das ist wichtig zu erwähnen, da Broch den Geschichtsphilosophen Lukács in einer Situation kennenlernt, in der er ihm als Konkurrent erscheinen mußte. Lukács war nach dem Scheitern der ungarischen Räterepublik mit einigen Freunden, darunter Béla Bálazs und Karl Mannheim, nach Wien gekommen, wo Broch durch die Vermittlung von Edit Rényi mit ihm zusammentraf (vgl. KW 13/1, S. 44 und 51, Anm. 6). Zur selben Zeit, im Sommer 1920, unternahm Broch den Versuch, seine geschichtsphilosophischen Studien in eine druckreife Fassung zu bringen. Mit Lukács teilt er dabei ein Grundanliegen: die Geschichtsphilosophie soll auf Prinzipien beruhen, die nicht, wie die der Dilthey-Schule, »psychologistisch« fundiert sind. Zu einem engeren Kontakt oder Gedankenaustausch ist es jedoch nicht gekommen, auch nicht zu einer wirklichen Konkurrenz, da Brochs 1920 entstandener Entwurf unveröffentlicht blieb. Ob Lukács' Schriften einen Einfluß auf Brochs damals fast vollständig entwickelte formale Geschichtsphilosophie gehabt haben, läßt sich nicht nachweisen; eindeutige Belege fehlen.41 Doch das ist nicht die entscheidende Frage, wichtiger ist eines der Grundmotive, aus dem heraus der junge Lukács philosophierte, das den Kreis um ihn prägte und das ihn in die Nähe zu Paul Ernst brachte: der romantische Antikapitalismus. Darauf wird später zurückzukommen sein. Hier interessiert zunächst das Buch über Conrad Ferdinand Meyer, das Broch, wohl auf Anregung des Lukács-Kreises,4* zur Renzension vorgelegen hat. Um eine nur lästige Auftragsarbeit kann es sich nicht gehandelt haben, da in dem >Tagebuch< für Ea von Allesch, in dem sich Broch meist sehr kritisch über die verschiedensten Neuerscheinungen äußert, unter dem 23. August 1920 vermerkt wird: »Nachmittags Baumgarten gelesen - nicht schlecht - u. die beiliegende Kritik geschrieben.« (KW 13/1, S. 47) Es ist eine sehr wohlmeinende Kritik. »Wert und Bedeutung des Buches« ergeben sich für Broch aus den »prinzipielle[n] Erörterungen« des Autors. Das Leben und Werk Conrad Ferdinand Meyers sind für diesen nur der »Ausgangspunkt« zu einer geschichtsphilosophischen Untersuchung über das 19. Jahrhundert. Broch refe40

G e o r g Lukács, Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik (1920). Darmstadt u. N e u w i e d (6. Aufl.) 1981,

S· 3 2 · 41

Strukturelle Ähnlichkeiten zwischen der >Theorie des Romans< und dem A u f b a u der Schlafwandler-Trilogie hat Paul Michael Lützeler nachgewiesen: Lukács >Theorie des Romans< und Brochs >Schlafwandlerdienender< Sozial-Moralist und Verkünder entschlossener Menschenliebe ein ErzÄsthet« 44 geblieben war. Er kritisiert ihn in seinen Weltkriegsschriften noch immer als einen »hysterischen Renaissancisten«, wie er es seit der Jahrhundertwende in einer Reihe von Werken getan hatte. Im Anschluß an den Hinweis auf das Buch Baumgartens wird eine Stelle aus >Tonio Kröger< zitiert: >Gott, gehen Sie mir doch mit Italien, Lisaweta! Italien ist mir bis zur Verachtung gleichgültig! D a s ist lange her, daß ich mir einbildete, dorthin zu gehören. Kunst, nicht wahr? Sammetblauer H i m m e l , heißer Wein und süße Sinnlichkeit

[...].

K u r z u m , ich mag das nicht. Ich verzichte. Die ganze bellezza macht mich nervös. Ich mag auch alle diese fürchterlich lebhaften Menschen dort unten mit dem schwarzen Tierblick nicht leiden. Diese Romanen haben kein Gewissen in den

43

Vgl auch H . Rudolph, Kulturkritik und konservative Revolution, S. i ^ Z i . : E s »läßt sich vereinfachend sagen, die Kulturkritik dieser Bewegung richte sich auf das 19. Jahrhundert und die es tragenden Kräfte schlechthin. Die Überzeugung, daß das neunzehnte Jahrhundert überwunden werden müsse, bildet jedenfalls einen der Pfeiler des Selbstverständnisses, das nicht nur die verschiedenen Ausformungen der >ethisch-ästhetischen

Revolution* der Jahrhundertwende,

sondern

darüber

hinaus diese mit ihren politisch-aktivistischen Ausläufern in den zwanziger Jahren verbindet. Sie begreifen durchgängig die Rationalisierung, Intellektualisierung und >Versachlichunggroße Weltenteignungs als »Herrschaft des Andern, des Anderen oder Äußeren* und sehen darin einen geistigen und kulturellen Niedergang.« 44

T h o m a s Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen (1918). In: Reden und Aufsätze 4 (Ges. Werke B d . 12). Frankfurt/M. (2. A u f l . ) 1974, S. 9 - 5 8 9 , hier S. 543.

182

Augen . . . Nein, das war kein Ästhet, dieser Jüngling-Dichter mit dem gemischten Namen und Wesen.-·'

Was Thomas Mann als Motiv literarisch bearbeitete, wird in dem Buch über Conrad Ferndinand Meyers »Stilkunst« kulturgeschichtlich untersucht. Baumgarten fordert dabei vom Leser nicht viel Geduld. Auf den ersten dreißig Seiten faßt er das für ihn Wesentliche zusammen, vor allem den Einfluß Burckhardts und Nietzsches auf die Kulturentwicklung des späten 19. Jahrhunderts. Seine mit interpretatorischem Geschick und einer ungewohnt großen Zahl von Belegen vorgetragene Geschichte des Renaissance-Kultes sichert ihm eine kritische Distanz gegenüber der Burckhardtschen Autorität und macht seine relativ früh erschienene Studie zu einem singulären, die Lücke zwischen Kulturphilosophie und Kulturgeschichtsschreibung ausfüllenden Dokument des Umbruchs, in dem historisch schlüssiger argumentiert wird als beispielsweise in Lublinskis >Bilanz der Moderne< (1904),46 aber noch keine umfassende Bestandsaufnahme des modernen Renaissancismus geboten wird, wie sie Johan Huizinga in deutscher Sprache erst 1930 veröffentlichen sollte (vgl. u. S. 210). Der erste Abschnitt in Baumgartens Studie trägt den in seiner Programmatik bereits vertrauten Titel: Der Historismus. Er bringt in etwa das zum Ausdruck, was Köhn als das Reflexivwerden der historistischen Problematik beschrieben hat.47 Es geht um die »Uberwindung« des Historismus auch und gerade in seinen kulturellen Erscheinungsformen. Dazu gehört nicht zufällig eine der Wahltraditionen des 19. Jahrhunderts, die Renaissance, in der sich die individualistischen und liberalistischen Züge der Epoche historisch spiegeln. Eben diese Tendenzen werden am Beginn des 20. Jahrhunderts von einer jüngeren, sich selbst als idealistisch verstehenden Generation kritisiert: die Renaissance wird nun, in genauer Umkehrung der alten Wertung, zum Symbol für den Beginn des kulturellen Verfalls, den man in der Gegenwart allenthalben zu spüren glaubt. Auch bei Baumgarten findet sich das Beispiel der »stillos« gewordenen Architektur. Die »Atomisierung« und »Mechanisierung« des Lebens und der Wirklichkeitsanschauung, ihre »Partikularität«, sind Stichworte,48 die ebenfalls nicht fehlen dürfen (»das Rationale vermag bloß zu atomisieren«, heißt es im Epilog der Schlafwandler-Trilogie; vgl. «> Ebd., S. 542. 46 Vgl. Samuel Lublinski, Die Bilanz der Moderne (1904), mit einem Nachwort neu hg. v. G . Wunberg. Tübingen 1974, bes. S. ii9ff. (Über Nietzsche und das 19. Jahrhundert). 47 Vgl. zur genaueren Bestimmung dieses Begriffs die Abhandlung von Karl Mannheim, Das konservative Denken. Soziologische Beiträge zum Werden des politischhistorischen Denkens in Deutschland (1917). In: Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk. Hg. v. K. H . Wolff. Neuwied (2. Aufl.) 1970, S. 408-508. 48 Vgl. Franz Ferdinand Baumgarten, Das Werk Conrad Ferdinand Meyers. Renaissance-Empfinden und Stilkunst. München 1917, S. 8ff. 183

KW ι, S. 690). Die historische Untersuchung wandelt sich bei Baumgarten unversehens zum kulturkritischen Traktat. In der zweiten Auflage, die Broch vorgelegen hat, wird dies sogar stärker betont als in der ursprünglichen Fassung. »Der Renaissancismus«, heißt es hier in einem neu hinzugekommenen Abschnitt, »an menschlichem Gehalt unsagbar ärmer als der Klassizismus, stammt aus einem Ressentiment, aus einem Widerwillen gegen die Zeit, weniger aus einer eigenen und großen Gesinnung. Kein eigenkräftiges und herrschaftsfähiges Ideal durchglüht ihn. Sein Heroismus und Vitalismus ist zuletzt doch nur ein pittoreskes, ins Geistige gehobene Abbild der wirtschaftlichen Expansion der Jahrhundertmitte. Mit einem Wort: d e r K l a s s i z i s m u s ist e h t i s c h , d e r R e n a i s s a n c i s m u s n u r ä s t h e t i s c h . « ^ Der unvorbereitete Leser stößt auf eine verwirrende Vielzahl von Epochenbegriffen und Stilbezeichnungen, die sich nur anhand der kulturkritischen Wertungen einander zuordnen lassen. Der Gegensatz zwischen Ästhetik und Moral gehört dabei für Baumgarten zu jenen ganz selbstverständlich gebrauchten Formeln, die »zu einem guten Teil die kulturelle Dialektik« dieser Jahre beherrschten, wie es der im >Doktor Faustus< Rückschau haltende Thomas Mann später ausdrükken sollte. Die Stilisierung einzelner Epochen dient in erster Linie der Verständigung über die eigene historische Situation. Darin liegt auch der Grund für die Neubewertung des Gegensatzes von Mittelalter und Renaissance am Beginn des 20. Jahrhunderts. Der Auflösung traditioneller Werte und Bindungen wird mit dem Mittelalter das Wunschbild einer einheitlichen, das heißt »Stil« und Mittelpunkt besitzenden Epoche gegenübergestellt. Wie sich diese Neubewertung im einzelnen vollzieht, wird später genauer zu besprechen sein. Die geschichtsphilosophische Problematik soll zuvor noch enger eingegrenzt werden. Im April 1932 erscheint der letzte Band der Schlafwandler-Trilogie. Wenige Wochen später, Anfang Juni, schreibt Broch einen Brief an seinen Verleger, in dem er ihn bittet, »einen Huguenau an Professor Dr. Carl Schmitt (den Staatsrechtsordinarius und Rechtsphilosophen der Berliner Universität) zu schikken.« Und begründend fügt er hinzu: »Blei schreibt mir, daß er ihm die beiden ersten Bände gegeben hätte und er sehr begeistert gewesen wäre. Hie und da schreibt er Literarisches in der Frankfurter, wie sie vielleicht bemerkt haben dürften.« (Broch-Brody: Briefwechsel 208) Diese Notiz erscheint zunächst kaum bemerkenswert. Das Verschicken von Rezensionsexemplaren gehört zum Alltag des Literaturbetriebs. In diesem Fall erfordert der Vorgang jedoch Beachtung, da es sich bei dem Empfänger nicht um einen gewöhnlichen Rezensenten von Literatur handelt. Broch ist offensichtlich davon überzeugt, daß der Roman und damit seine Geschichtsphilosophie auch in jenen philoso49

184

Ebd., zit. nach der 2. Aufl. München 1920, S. 2if.

phischen Kreisen mit Zustimmung und Anerkennung rechnen durfte, die Carl Schmitt, der selbst eher ein Einzelgänger war,'° repräsentativ vertrat. Die Vermittlung Franz Bleis kann dabei allein nicht ausschlaggebend gewesen sein, da Broch den konservativen Intellektuellen bereits durch seine frühen Publikationen in der Zeitschrift >Summa< kennengelernt hatte. Daß diese Briefstelle deshalb mehr als eine quantité négligeable darstellt, wird im folgenden deutlich werden. Zuvor ist noch ein weiteres biographisches Detail hinzuzufügen. In einem zwei Jahre später entstandenen Brief, der Adressat ist wiederum der Verleger und Freund Daniel Brody, schreibt Broch: Ich habe jetzt mit ganz besonderem Interesse den Haecker gelesen (»Was ist der Mensch«) und empfehle Ihnen dringend das Gleiche zu tun. Die Parallelität zu meiner eigenen Geschichtsphilosophie wird Ihnen in die Augen springen. A n g e sichts des großen buchhändlerischen Erfolges des Haeckerschen Buches kam mir dabei der Gedanke, ob es nicht ganz ratsam wäre, Ihren alten Gedanken in die Tat umzusetzen, nämlich die zehn geschichtsphilosophischen Kapitel aus dem >Huguenau< herauszuziehen und als eigene Broschüre auf den Markt zu werfen. (BrochB r o d y : Briefwechsel 3 2 2 ; Brief vom 4. April 1934)

Auch hier ließe sich einwenden, daß Broch vor allem geschäftliche, nicht ideelle Zusammenhänge zwischen seiner Geschichtsphilosophie und der des katholischen >HochlandTod des Vergil< kam von Haeckers Buch über den >Vater des Abendlandes< (1931). Es sollen jedoch keine Vergleiche angestellt werden, weder zwischen den Vergil-Büchern noch zwischen den offenbar verwandten Geschichtsphilosophien beider Autoren. Wichtig ist allein das Urteil über andere Werke und Standpunkte in einem Zeitgespräch, das von der Historismus-Problematik geprägt war. Und diese Einschätzung fremder Standpunkte sagt zugleich etwas über Brochs eigene Geschichtsphilosophie und ihre Herkunft aus. Die biographischen Mosaiksteine lassen den Umriß eines Geschichtsbildes erkennen, wie es sich in der Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Denkern gebildet hat. Die oben genannten Namen stehen zunächst für drei Zeitschriften, mit denen Broch in mehr oder weniger enge Berührung gekommen ist: Theodor 50

Vgl. Klaus Fritzsche, Politische Romantik und Gegenrevolution. Fluchtwege in der Krise der bürgerlichen Gesellschaft: D a s Beispiel des >TatBrennerSumma< (die übrigens in demselben Verlag erschien wie die Bücher Haekkers), zu deren Mitarbeitern u.a. Carl Schmitt, Max Scheler und Konrad Weiss gehörten;* 1 Haecker, Blei, Schmitt, Scheler und Weiss publizierten gleichzeitig, Haecker und Schmitt später sogar bevorzugt, in der von Karl Muth herausgegebenen katholischen Zeitschrift >HochlandWeltbühne< schrieb. Diese Namen bezeichnen keineswegs Zufallskonstellationen und -koalitionen, wie sie im literarischen Leben häufig vorkommen. Die Zeitschriften und ihre Autoren stehen vielmehr für ein Programm oder besser: eine Weltanschauung, wie es in der Sprache der Zeit hieß.*2 Entscheidend ist, daß Broch mit den kulturphilosophischen Schriften und Essays einiger dieser Autoren bereits sehr früh, zwischen 1910 und 1920, bekannt wird. Es ist die Zeit des expressionistischen Aufbruchs, in der sich der gemeinsame »Wille zur Erneuerung« noch nicht in einzelne politische und religiöse Lager aufgespalten hatte, obwohl die Tendenz dazu sicherlich schon vorhanden war: »Von Anfang an waren die Expressionisten in zwei Gruppen gespalten: in eine metaphysisch orientierte und eine andere, in der politische Aktion und Zweckmäßigkeit vorherrschten. «'3 Den Impuls gaben aber zunächst nur literarische, im eigentlichen Sinne >weltanschauliche< Schriften, die noch keine politischen oder religiösen Dezisionen enthielten. Erst die späteren Strömungen der Konservativen Revolution, die von Spengler ausgingen und über Moeller van den Bruck bis hin zu Ernst Jünger reichten, kennzeichnen diese politische Entschiedenheit' 4 - so wie das spätere >Hochland< ultramontane Züge - , was sie deutlich 5"

Daß Theodor Haecker nicht in der »Summa« publizierte, ist auf einen literarischen Streit mit Franz Blei zurückzuführen; vgl. Theodor Haecker, Franz Blei und Kierkegaard. In: Der Brenner Bd. 7. H . 10. 1914, S. 457-465 (es handelt sich um die polemische Antwort auf einen in den »Weißen Blättern« erschienenen Beitrag Bleis). Die Replik Bleis wurde in der »Aktion« veröffentlicht; abgedruckt in: Paul Raabe (Hg.), Ich schneide die Zeit aus. Expressionismus und Politik in Franz Pfemferts >Aktion< (1911-1918). München 1964, S. 222-225 (unter dem Titel »Der Krieg und die Führer des Geistes«), s2 Vgl. den von Max Frischeisen-Köhler hgg. Sammelband. » A . D. Klarmann, Expressionismus in der deutschen Literatur. In: Rötzer (Hg.), Expressionismus, S. 365-403, hier S. 381. Vgl. auch: Gunter Martens, Vitalismus und Expressionismus. Ein Beitrag zur Genese und Deutung expressionistischer Stilstrukturen und Motive. Stuttgart 1971, S. 195. s« Die ebenfalls eine, wenn auch extreme, Reaktion auf die Historismus-Problematik darstellt, wie Chr. Graf von Krockow nachgewiesen hat: »Die erste Position bezeichneten wir als die naturrechtliche. Gemeint ist ein Denken, das - wie auch immer - vom Gegebensein einer notwendigen und allgemeinen, idealen Ord186

von der expressionistischen Zeitkritik, mit der sie äußerlich viele Argumente des Antimodernismus teilen, unterscheidet. Brochs Verfallstheorie in den >Schlafwandlern< bleibt dagegen im Kern der frühen Gesamtschau

geschichtsphilosophischen

verbunden, was sie von jenem »heroischen Realismus« trennt,

der, glaubensmäßige Entscheidung fordernd, später zum schen Realismus«

55

»heroisch-völki-

werden sollte. Nicht von einer antiliberalistisch-totalitä-

ren Staatsauffassung fühlt sich der Autor des »Zerfalls der Werte« angesprochen, sondern von einer Deutung der abendländischen Geschichte, wie sie Theodor Haecker in den dreißiger Jahren mit demselben ethischen Grundanliegen vertrat, das bereits in den vom Weltkrieg geprägten Schriften spürbar ist, etwa in einer Spenglerkritik des Jahres 1919. 5 6 Das heißt nicht, daß Broch nur einige frühe Einflüsse bis in die dreißiger Jahre hinein konservierte; es ist durchaus denkbar, daß er neu erschienene Werke wie Karl Mannheims I d e o logie und Utopie< (1929) - das von Ernst Robert Curtius, einem der bekanntesten >HochlandNatur< abfällt und [...] im Maße seines Abfalls »nichtig« wird, erfaßt der Dezisionismus den Menschen umgekehrt so, daß er einer vermeintlichen >Natur< verfällt. Sieht die natürliche Auffassung den Menschen in unzerreißbaren Wesens-Bezügen, so versteht der Dezisionismus die >eigentliche< Existenz, die zugleich als die eigentliche geschichtliche erscheint, als eine radikal unbezügliche und in der Unbezüglichkeit grenzenlos offene »Möglichkeit«.« Chr. Graf v. Krockow, Die Entscheidung. Eine Untersuchung über Ernst Jünger, Carl Schmitt, Martin Heidegger. Stuttgart 1958, S. 129. Vgl. hierzu den Aufsatz von Herbert Marcuse, Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung. In: Zeitschrift für Sozialforschung. Jg. 3. 1934, S. 161-195. Vgl. Theodor Haecker, Einfälle und Ausfälle. In: Der Brenner. Sechste Folge 1. Halbband 1919/20, S. 230-237. Auf das Verhältnis Brochs zu Haecker hat Paul Michael Lützeler aufmerksam gemacht: Hermann Broch und »Der Brenner«. In: W. Methlagl, E. Sauermann, S.P. Scheichl (Hg.), Untersuchungen zum »Brenner«. FS I. Zangerle. Salzburg 1981, S. 218-228, bes. S. 22 jf. Vgl. hierzu in der Untersuchung von H . Lethen (s. Anm. 25) den Exkurs: »»Sachlichkeit< oder >Primat der PolitikBrenner< und der >SummaSchlafwandlerDas Schrifttum als geistiger Raum der Nation< (1927) weithin bekannt wurde.« (Ebd.) Wie wichtig es ist, hier zu differenzieren, wird im folgenden deutlich werden. - Vorsichtiger argumentiert in einem ähnlichen Zusammenhang Wulf Köpke, der die Lektüre von »Ideologie und Utopie« bei Alfred Döblin für wahrscheinlich hält, da auch hier bei einer Analyse der kulturkritischen Schriften Döblins »verblüffende Parallelen« zur Wissenssoziologie Mannheims festzustellen sind; vgl. W. K., Alfred Döblins Überparteilichkeit. Zur Publizistik in den letzten Jahren der Weimarer Republik. In: Koebner (Hg.), Weimars Ende, S. 318-329. Vgl. auch u. Anm. 119. Vgl. etwa Peter Wust: Die Säkularisierung des europäischen Geistes und ihre Uberwindung in der Gegenwart. In: Hochland 33/2 (1926), S. 1 - 1 9 u. 195-213; Abhandlungen wie die eben zitierte unterscheiden sich erheblich, wenn auch nicht auf den ersten Blick deutlich, von dem ideologischen Jargon, wie ihn die Konservativen Revolutionäre verbreiteten - wobei auch diesen mehr die Einheit der »Stimmung« als der Themen und konkreten Ziele kennzeichnet (ähnliches ließe sich von dem im >Hochland< gepflogenen Stil sagen). Darauf kann hier nicht näher eingegangen werden. Pierre Bourdieu hat die Schwierigkeiten beschrieben, welche sich bei der Erfassung der konservativen Kulturphilosophie stellen, die sich aus den unterschiedlichsten Quellen speist, durch die »jenes ideologische Gefüge aus Worten vom Typ mana (vermittelt wird), die wie Exklamationen der Exstase oder Entrüstung funktionieren, und aus neu interpretierten halbgelehrten Themen, >spontanen< Hervorbringungen individueller Erfindungsgabe, die, da auf der Orchestrierung der Habitusformen und der affektiven Übereinstimmung von geteilten Phantasmen gegrün-

einstimmungen oder Unterschieden hier im einzelnen nachzugehen, ist wenig sinnvoll. Die immer wiederkehrenden Motive der Zivilisationskritik - stereotype Reaktionsweisen auf den »Rationalitätsschock«, wie sie sich bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen lassen - sind bereits genannt worden: sie gehören alle in den Bereich der Historismus-Problematik. Dem »zerstörenden« Intellektualismus wurde die irrationale Macht des Lebens, dem Relativismus der Werte die Suche nach Bindung und Ganzheit entgegengestellt, wobei diese Gegensatzpaare ganz unterschiedlich, sowohl bewahrend-konservativ, expressionistisch-visionär

oder völkisch-revolutionär

begründet

und

bewertet

werden konnten. Auf die Besonderheiten der Brochschen Darstellung soll in Abschnitt (7) eingegangen werden. Die neukantianische Grundlage seines Denkens wird dann wieder stärker hervortreten. Festzuhalten bleibt hier zunächst (a) der grundsätzliche Unterschied zwischen den dezidiert politischen, konservativ-revolutionären und zahlreichen anderen weltanschaulichen Strömungen, die eine Überwindung des Historismus anstrebten. Neben romantischkonservativen (Jugendbewegung, Wandervogel etc.), ethisch-humanistischen, linksintellektuellen und sozialistischen Schriftstellern gab es in den zwanziger Jahren eine nicht unbedeutende Gruppe von kritischen Intellektuellen, die sich als Bewahrer des »abendländischen Christentums« verstanden (Blei, Haecker, Schmitt, Curtius, Hugo Ball, zeitweise auch Scheler u.a.; mit den det, objektiv abgestimmt sind und den Anschein ebenso der Einheit wie der grenzenlosen Originalität vermitteln. Freilich bildet die völkische Gestimmtheit und Stimmung auch ein Gesamt von Fragen und Infragestellungen, an Hand derer sich die Epoche selbst bedenkt: Fragen, so verworren wie die seelischen Zustände, doch so bohrend und zwanghaft wie Phantasmen, nach der Technik, den Arbeitern, der Elite, dem Volk, nach Geschichte und Vaterland. [...] Angesichts eines derart monotonen ideologischen Universums, das es einem häufig schwer macht, überhaupt Unterschiede festzuhalten - zumal auf der Ebene der verbreitetsten Autoren - , überkommt einen zunächst der Gedanke [...], eine »Schautafel· der zentralen Gegensätze, sowohl jedes einzelnen Autors wie aller verwandten Autoren, erstellen zu müssen. Tatsächlich würde eine solche formale Konstruktion nur zur Auflösung der diese nebulose Ideologie auszeichnenden Logik führen, die gerade auf der Ebene der Produktionsschemata und nicht der des Produkts liegt.« Pierre Bourdieu, Die politische Ontologie Martin Heideggers. Aus dem Französischen v. B. Schwibs. Frankf./M. 1976, S. 44/5 8; vgl. hierzu die Rezension von Hans-Georg Gadamer, erschienen in: Philosophische Rundschau 25. Jg. H. 1/2 (1978), S. 143-149, die einige der groben Irrtümer des Autors auf philosophischem Gebiet korrigiert; Bourdieu wurde hier nur als ein mit Problemen der Ideologiegeschichte befaßter Sozialwissenschaftler, nicht als Philosophiehistoriker zitiert. - Eine exemplarische Studie über die Entwicklung und Struktur konservativ-revolutionärer Ideologie bei einem repräsentativen Autor der zwanziger Jahre hat Bernhard Jenschke vorgelegt: Zur Kritik der konservativ-revolutionären Ideologie in der Weimarer Republik. Weltanschauung und Politik bei Edgar Julius Jung (Münchner Studien zur Politik 16). München 1971, bes. S. 48ff. 189

Schriftstellern der Renouveau catholique sind sie nur bedingt vergleichbar, eher dagegen mit den religiösen Expressionisten Paris von Gütersloh, der zusammen mit Franz Blei die Zeitschrift >RettungEintrachtKlassik< der Antike und der schönen Wahrung der >Kontinuität< durch den Katholizismus (des Mittelalters und der italienischen Renaissance) erscheint der >Protestantimus< als das Ur- und Grundprinzip der Auflösung und Zersetzung.« 11 * Hier klingen Motive an, die Brochs Exkursen zur Religionsgeschichte entnommen sein könnten. Die Umwertung der stilisierten Epochenbilder hatte noch einen weiteren, handfest wissenschaftlichen Grund: die Ergebnisse der Renaissance-Forschung, die am Anfang des 20. Jahrhunderts einen ersten Höhepunkt erreichte, ließen das historisch wenig fundierte Epochenbild der NietzscheGeneration unhaltbar werden. Die Arbeiten von Burdach, Duhem und Olschki machten deutlich, daß fast alles, was man bis dahin für eine Errungenschaft der Renaissance gehalten hatte, sich in seinen Anfängen und ersten Ansätzen bis weit ins Mittelalter zurückverfolgen ließ. Die Nietzscheschen »Gründerfiguren erlagen der Erosion durch den historischen Fleiß. Was als Selbsterschaffung der Neuzeit erschienen sein mochte, erwies sich schließlich als bloßer Konvergenzpunkt weit aus der Vergangenheit kommender Einflußlinien.« 11 ' Das provozierte die Gegenfrage nach der Eigenart des »mittelalter1,1 1,3

Rehm, Renaissancekult, S. 301. Vgl. Edgar Salin, Vom deutschen Verhängnis. Gespräch an der Zeitenwende: Burckhardt - Nietzsche. Hamburg 1959, S. 9ff. Alfred v. Martin, Die Religion Jacob Burckhardts. Eine Studie zum Thema Humanismus und Christentum. München (2., verm. Aufl.) 1947, S. 177/180. Hans Blumenberg, Aspekte der Epochenschwelle: Cusaner und Nolaner (Erw. u. überarb. Neuausg. v. »Die Legitimität der Neuzeit«, vierter Teil). Frankfurt/M. 1976, S.22.

209

lichen Geistes«, denn ganz wollte man das bewährte Schema der Kulturgeschichtsschreibung nicht aufgeben: Alles, was im Mittelalter lebendig war, hieß am Ende Renaissance. Was blieb dann aber für das Mittelalter übrig? [ . . . ] Es gibt eine Auffassung, welche diesen großen Bruch und jenen fundamentalen Gegensatz zwischen Mittelalter und Renaissance deutlich zu sehen und streng umschreiben zu können meint. Sie wird, soviel mir bekannt ist, nicht in der wissenschaftlichen Literatur der Kultur- und Kunsthistoriker angetroffen, aber sie lebt als fruchtbare Uberzeugung in den Herzen vieler heutiger Künstler." 6 Und tatsächlich waren die Küstler und Literaten mit ihren kulturgeschichtlichen Deutungen nicht zurückhaltend, was sich noch verstärkte, als die so traditionslose Weimarer Republik in eine politische und ökonomische Krise geriet.

6. Wert, Gemeinschaft und Leben. Philosophische Aspekte der Kulturkritik Das Zitat der Epochenbilder steht bei Broch nicht an zentraler Stelle, da das eigentliche Thema die Erkenntnis der Gegenwart ist. Ihr Kennzeichen ist die durch die Katastrophe des Ersten Weltkriegs offenbar gewordene säkulare Krise. Alle gesellschaftlichen Bereiche und Ausdrucksformen, von den Institutionen über den Stil der Künste bis zum wissenschaftlichen und ganz alltäglichen Denken der Menschen, sind von dem erkennbar gewordenen Wandlungs- und Umwertungsprozeß betroffen. Drei Stadien des Zerfalls der alten " 6 Johan Huizinga, Das Problem der Renaissance (1920, dt. 1930). In: Parerga. Hg. v. W. Kaegi. Basel 1945, S. 87-146, hier S. i3if. (Vgl. auch den Hinweis bei Proß, S. 292.) Noch wesentlich kritischer als Huizinga beurteilte Max Weber den Hang seiner Zeitgenossen zum Typologisieren und geschichtsphilosophischen Klassifizieren; in der Abhandlung >Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus< (1920) schrieb er: »Der Ausdruck >Individualismus< umfaßt das denkbar Heterogenste. [ . . . ] Man hat - in einem anderen Sinne des Wortes - das Luthertum >individualistisch< genannt, weil es eine asketische Lebensreglementierung nicht kennt. Wieder in einem ganz anderen Sinne braucht z. B. Dietrich Schäfer das Wort, wenn er [ . . . ] Mittelalter die Zeit ausgeprägter Individualität< nennt, weil für das für den Historiker relevante Geschehen irrationale Momente damals von einer Bedeutung gewesen seien, wie heute nicht mehr. Er hat Recht, aber diejenigen, denen er seine Beobachtungen entgegenhält, vielleicht auch, denn beide meinen etwas ganz Verschiedenes, wenn sie von Individualität« und Individualismus« sprechen. - Jacob Burckhardts geniale Formulierungen sind heute teilweise überholt und eine gründliche, historisch orientierte Begriffsanalyse wäre gerade jetzt wieder wissenschaftlich höchst wertvoll. Das gerade Gegenteil davon ist es natürlich, wenn der Spieltrieb gewisse Historiker veranlaßt, den Begriff, nur um eine Geschichtsepoche mit ihm als Etikette bekleben zu können, im Plakatstil zu >definierenWozu?Schlafwandler< eine überraschende und in ihrem theoretischen Gehalt zunächst kaum richtig 1.7

1.8

Erich v. Kahler, Untergang und Übergang der epischen Kunstform (1952), S. 7-51, hier S. 41. Der Begriff wird in Anlehnung an die »tragische« Kulturtheorie Georg Simmeis gebraucht; vgl. etwa Georg Simmel, Der Krieg und die geistigen Entscheidungen. München und Leipzig 1917, S. yoff. ; Ders., "'Philosophische Kultur. Leipzig 1911, bes. S. 2 joff. Vgl. auch die Untersuchung von Kurt Lenk, Marx in der Wissenssoziologie. Studien zur Rezeption der Marxschen Ideologiekritik. Neuwied u. Berlin 1972, S. i j f f .

211

einzuschätzende Antwort findet, mit der sich Broch von allen konkurrierenden literarischen Programmen und Strömungen bewußt absetzt. Er gibt eine im eigentlichen Sinn des Wortes »geschichtsphilosophische« Anwort, indem er den Rickertschen Wertbegriff aus dem Bereich der philosophischen Spekulation in die Sphäre des historischen Lebens zieht, wo er nicht allein als regulative Idee, sondern als wirkendes Prinzip der Verständigung (vgl. Abschnitt II/4) einen neuen Kosmos schaffen soll, in dem die Zusammenhänge des Daseins wieder einen rational gebundenen Sinn gewinnen. Was bei Rickert nur ein funktionales Verhältnis zwischen der Geltung des Wertes, dem Sollen und seiner Anerkennung bezeichnete, wird bei Broch auf das alltägliche Verhalten der Menschen bezogen. Da er Rickerts erkenntnistheoretischen und wertphilosophischen Ausführungen zustimmt, kann er die Grundannahme des Zusammenhangs zwischen Sollen und Sein, dem nur irreal geltenden Wert - der bewußt einer romantischen Rückkehr zu überlebten religiösen Modellen als rein formale Bestimmung entgegengesetzt wird - und der Anerkennung einer Pflicht, in ein Bild verwandeln, das auf einen neuen Anfang jenseits der Anarchie des jetzigen Weltzustandes hoffen läßt. Das wird noch genauer darzustellen sein. Nimmt man all diese Motive zusammen, kann kein Zweifel daran bestehen, daß Broch mit seinem Roman einen Beitrag zur kulturphilosophischen Diskussion der zwanziger Jahre leisten wollte. Er muß dann gewußt haben, daß seine historischen Exkurse, in die typologische Elemente eingestreut waren, Epochenbilder evozierten, die sich im politischen Denken seiner Zeitgenossen den unterschiedlichsten Positionen zuordnen ließen. Eine »objektive« Kulturgeschichtsschreibung vertraten nur wenige Autoren (Dilthey, Troeltsch, Weber, Rickert). Meist überwogen irrationale Deutungen des geschichtlichen Prozesses, die einem bestimmten politischen Interesse entgegenkamen. Die unkritische Verehrung des Mittelalters ist dafür ein Beispiel. Es gab völkisch-ständische (Paul Ernst), anarchistische (Gustav Landauer), ekklesiale (Hugo Ball) und kulturkonservative Deutungen, aber auch die neue nationale Rechte (Moeller van den Bruck u. a.) machte sich die konservative Vorstellung von einer »organischen Gemeinschaft« zunutze, die man, Zukünftiges meinend, in die Geschichte retrojizierte. Von daher wird es verständlich, daß ein linksintellektueller Kritiker der Republik wie Alfred Döblin in den Verdacht kommen konnte, die Interessen konservativer Lebensphilosophen zu vertreten, wenn er an die Stelle der verachteten Staatsmacht, des Militarismus und der kapitalistischen Hierarchie eine »Gemeinschaft« brüderlicher Individuen setzen wollte. 1 1 ' Hier muß nun konkret auf die Unterschiede eingegangen werden, die Brochs Zerfallstheorie von der populären Kulturphilosophie trennen. Denn 119

Vgl. Döblin, Wissen und Verändern! O f f e n e Briefe an einen jungen Menschen. Berlin 1 9 3 1 ; Ders., Unser Dasein. Berlin 1933.

212

sein Standpunkt ist überparteilich, wie der Döblins, aber ohne gesellschaftliche Utopie; er ist unpolitisch, aber ohne pessimistischen oder »heroischen« Blick in den erwarteten Untergang. Die Art, wie Broch mit den Begriffen Gemeinschaft und Leben umgeht, macht die Eigenständigkeit seines Ansatzes deutlich, den er, was die beiden Reizworte der Diskussion betrifft, offenbar als Gegenentwurf zur gängigen Kulturphilosophie verstanden wissen wollte. An keiner Stelle ist davon die Rede, daß das Ziel einer künftigen Neuordnung der »organische« Zusammenschluß des Volkes oder anderer Gruppen sei. Broch hat sich die Skepsis gegenüber den ideologisierten Massen bewahrt, die man 1918 als eine revolutionäre Gemeinschaft gefeiert hatte, wo ihm »der Übergang von der hohl erregten Masse zum Zweckverband des Plünderns« nur sehr gering erschienen war, da die Masse kein gemeinsames »Werterlebnis« einigte (KW i j / i , S. j i ) . Und zur gleichen Zeit, in der Broch dies in seinem »Offenen Brief« an Franz Blei schrieb, begründete er seinen Vorbehalt gegenüber der Lebensphilosophie auch theoretisch; so heißt es in dem Manuskript zum »Kunststil als Stil der Epoche«, daß nicht gefragt werden dürfe, »was eine Gemeinschaft sei, sondern unter welchen Bedingungen Gemeinschaft von Einzelindividuen möglich sei« (KW 10/2, S. 71). Broch beantwortete diese Frage mit dem Hinweis auf die gemeinsame »Wertwirklichkeit« der Mitglieder eines Kulturkreises oder eines bestimmten Verbandes - es werden dieselben Berufsgruppen aufgezählt, die im sechsten Exkurs als Beispiele für die Wertpartikularität der Moderne erscheinen - , die durch die Verständigung zwischen den Einzelindiviuen erhalten bleibt; und die bloße Möglichkeit der Verständigung erklärt Broch auch an dieser Stelle durch erkenntnistheoretische Annahmen, die der neukantianischen Philosophie entnommen sind (vgl. Abschnitt II/4). Im Roman gestaltet sich die Reflexion über den Begriff der Gemeinschaft sehr viel anschaulicher, aber nicht weniger kritisch. Huguenau erscheint bei den in Kapitel 8 5 geschilderten Novemberereignissen als ein Teil der »revolutionären Masse«, die auf das Gefangenenhaus anstürmt — »Huguenau schmetterte den ersten Kolbenschlag gegen die Bohlen« (KW r, S. 664) - , doch selbst als Exponent dieser Masse kann sich der Vertreter der >Sachlichkeit< die wirkliche Gemeinschaft, »die tiefste Gemeinsamkeit, in die jene tiefste Einsamkeit« umschlagen müßte, nur mit äußerem Zwang verbunden vorstellen: »es würde möglicherweise gestattet sein, ein brüderliches und herzliches Beisammensein zu erzwingen, mit Todesdrohung oder mit Gewalt oder zumindest mit Ohrfeigen die anderen zu zwingen, daß sie ihn aufnähmen und seine bessere Wahrheit hörten, die er doch nicht aussprechen konnte.« (KW S. 711) Huguenau gehört zu den Einzelnen und »Einsamen« einer Generation, die eine Gemeinschaft zersprengt haben, »die es nicht mehr gibt, da sie ohne Kraft, doch voll des bösen Willens sich selbst im Blut ersäuft und in Giftgasen erstickt.« Der Mensch ist nicht mehr imstande, »den Weg zur Wertwirklich-

keit einer ersehnteren Gemeinschaft zu finden. Unwiederbringlich entschwindet ihm das Gewesene, uneinbringlich entweicht ihm das Künftige, und das Dröhnen der Maschinen weist ihm keinen Weg zu dem Ziel, das unerreichbar und küstenlos im Nebel der Unendlichkeit die schwarze Fackel des Absoluten erhebt.« (KW i, S. 713) Die bloße Dynamik eines sinnlos gewordenen Lebens scheint damit an die Stelle höherer Orientierungen des Daseins zu treten. Doch dieser Eindruck täuscht. Wie Broch deutlich hervorhebt, ist das »stumme und eben irrationale Leben« nur das Material für die rationale Wertformung, das »im Urzustand ungeformter Irrationalität bloß die Konstatierung seines anonymen Daseins und darüber hinaus keinerlei Theoretisierung gestattet.« (KW 1, S. 699) Das ist der Standpunkt Rickerts und der neukantianischen Wertphilosophie, auf den Broch sich zurückzieht. Im neunten Exkurs und im Epilog wird die Bindung des Lebens an einen höheren Wert, den Logos, deutlich herausgearbeitet; der Geist der Epoche ist bei aller Wertzersplitterung »wahrhaft ethisch« und die Revolution die »letzte und größte ethische Tat des zerfallenden, erste des neuen Wertsystems.« (KW 1, S. 714) Nicht Gemeinschaft, sondern Wertsystem oder Wertverband: Broch bedient sich einer formalen, fast technischen Bezeichnung für das kommende Neue, dessen Gestalt keine genauere Bestimmung als die eines Ethisch-Allgemeinen, der Pflicht, zuläßt. Broch steht damit in vollkommenem Gegensatz zu allen Entwürfen, die die bürgerlichen Wert- und Normvorstellungen zerschlagen wollten, um eine mythische Instanz, die des Lebens, an die Stelle der zerfallenden Ideale zu setzen. In Ernst Jüngers >Der Arbeiter·«, zur gleichen Zeit wie Brochs Epilog entstanden, heißt es: »Eins der Mittel zur Vorbereitung eines neuen und kühneren Lebens besteht in der Vernichtung der Wertungen des losgelösten und selbstherrlich gewordenen Geistes, in der Zerstörung der Erziehungsarbeit, die das bürgerliche Zeitalter am Menschen geleistet hat. [...] Es kommt nun auf die Erziehung eines Menschenschlages an, der die verzweifelte Gewißheit besitzt, daß die Ansprüche der abstrakten Gerechtigkeit, der freien Forschung, des künstlerischen Gewissens sich auszuweisen haben vor einer höheren Instanz, als sie innerhalb einer Welt der bürgerlichen Freiheit überhaupt wahrgenommen werden kann.«120 Die Mythisierung des Lebens und die Tendenz zum Nihilismus sind dem Werk Brochs fremd. Vielleicht wird hier am stärksten jene Bindung an die Werttheorie des Neukantianismus deutlich, die Broch seit seinen frühen philosophischen Studien bewahrt hat. Sie ist zu einem wesentlichen Teil auch Kritik modischer Weltanschauungen. Rickert scheint als einer der ersten erkannt zu 110

214

Ernst Jünger, Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt (1932). Stuttgart 1982, S. 42Í. Vgl. hier neben der Studie von Krockow auch Georg G . Iggers, Geschichtswissenschaft, S. 316.

haben, »daß die Lebensphilosophie selbst >Leben< nicht als ontisches, sondern vor allem als Wertprinzip vertritt und daß Lebenssteigerungs- und Dekadenztheorien und selbst eine teleologisch verfahrende Biologie alleine keine Axiologie begründen könnten. Darum muß das >LebenDas Vegetieren ist der Güter höchstes nichtbiologistischen ModephilosophieLeben< verwechselt werden darf. Was über die bloße Faktizität des Lebens hinausgeht und sie übersteigt, ist Kultur, die durch Wertbezug überhaupt erst konstituiert wird und dadurch bloßes Leben immer schon hinter sich gelassen hat.«121 Das ist es, was Broch mit der rationalen Wertformung des Lebens als Voraussetzung der Einheit einer Kultur (sichtbar in ihrem »Stil«) meint und was er als Chiffre der Hoffnung in den Epilog seines Romans einbringt. Es wird sofort deutlich, wogegen sich diese Kunstauffassung richtet, erinnert man sich der ästhetischen Verteidiger einer »Ausdruckskunst«, die, wie beispielsweise Gottfried Benn, in der Nachfolge Nietzsches »Stil« auch »auf Kosten der Wahrheit« begründen wollten. Was dort gepriesen wird, »das Verlöschen der Substanz zugunsten der Expression«,122 versucht Broch in einem noch nicht zerstörten, von einer antiintellektualistischen Kulturkritik auch nur schwer erreichbaren >Höheren< aufzuheben: den irreal geltenden Werten. Und das schließt noch ein zweites Moment ein. Denn die oben zitierten Formeln der Ästhetik, die das essayistische Werk Benns durchziehen, korrespondieren in den zwanziger Jahren einer politischen Haltung, die ihren Ausdruck - das Wort erhält an dieser Stelle seine volle Bedeutung - in den Schriften Ernst Jüngers fand, wo das Ästhetische zum Prinzip des Lebenskampfes erhoben wird: »Nicht wofür wir kämpfen, ist das Wesentliche, sondern wie wir

121

122

Schnädelbach, Philosophie 1831-1933, S. zii{. Mit der hier entwickelten Argumentation befinde ich mich im Gegensatz zu der Deutung, die Karl Menges (s. Anm. 103, S. 148) dem Brochschen »Gemeinschaftsdenken« gegeben hat - übrigens unter Auslassung wichtiger Stellen aus dem eben zitierten »Offenen Brief« Brochs an Franz Blei, den auch Menges als Beleg heranzieht. Gottfried Benn, Nietzsche - nach fünfzig Jahren. In: Ges. Werke. Hg. v. D. Wellershoff, Bd. 4: Reden und Vorträge. München 1975, S. 1046-1057, hier S. 1053. Vgl. auch Reinhardt, Erweiterter Naturalismus, S. 59 Anm. 12. - Zu Benns weltanschaulicher Position am Ende der Weimarer Zeit vgl. Jürgen Schröder, Gottfried Benn. Poesie und Sozialisation. Stuttgart u. a. 1978, bes. Kap. III sowie neuerdings Walter Müller-Seidel, Goethes Naturwissenschaft im Verständnis Gottfried Benns. Zur geistigen Situation am Ende der Weimarer Republik. In: Zeit der Moderne. Zur deutschen Literatur von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart. Hg. v. Hans-Henrik Krummacher u.a. Stuttgart 1984, S . 2 J - 5 3 .

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kämpfen.« 1 2 ' Dieser ästhetische, nur noch einer leeren Form gehorchende Dezisionismus scheint ohne weiteres auf die Figur Huguenaus anwendbar zu sein. Doch nur mit der bewußten Einschränkung; denn selbst für Huguenau, dessen Leben durch keinen Wert mehr »geformt« ist und in blanker Irrationalität dahinströmt, besteht noch eine letzte Hoffnung: auch ihm ist die unverlierbare Eigenschaft des Sprachlichen und damit der »Verständigung« gegeben, die eine neue Wertwirklichkeit verheißt. Daß der »Logos« die Möglichkeit einer solchen Verständigung in sich enthält, war der abschließende Gedanke der wertphilosophischen Konstruktion, auf den Broch immer wieder rekurriert, um einer Zeit, die in »Stummheit« unterzugehen droht diese Metapher erscheint zum ersten Mal in den Exkursen, um dann in den Essays der dreißiger Jahre zum festen Bestandteil des zeitkritischen Vokabulars zu werden (vgl. KW 10/1, S. 172, 176, 197; 10/2, S. 167 passim) - , einen utopischen Horizont offen zu halten. Damit ist ein thematischer Block des großangelegten Romanwerkes genannt. Es ist sicher nicht der einzige. Denn trotz der Ablehnung bestimmter, stark ideologisierter Begriffe (Gemeinschaft, Leben), bleibt Brochs Geschichtsphilosophie eng auf die zeitgenössische Diskussion bezogen. Auch er beschreibt den Zerfall der alten Kultur, des alten »Wertverbandes«, wie er im Mittelalter bestanden haben soll; die Renaissance wird dagegen zu einer Epoche stilisiert, in der der moderne Individualismus - eine Triebkraft des Wertzerfalls - seinen Ursprung hat; und daß das Rationale des modernen Geistes nur zu »atomisieren« vermag, klingt schließlich wie eine Banalität der Kulturkritik. Kurz, die alten bürgerlichen Ideale und die liberalen Ideen eines technisch-zivilisatorischen Fortschritts haben auch für Broch ihre Überzeugungskraft verloren. Die im Weltkrieg mit letzter Konsequenz vollzogene Auflösung der alten Ordnungen hat das Bewußtsein der Krise verstärkt, die, als Ursache verstanden, die verschiedensten Phänomene des »Verfalls der Kultur« erklärt. Bestimmte Topoi der Kulturkritik werden von Broch zitiert und in ein System eingefügt, das die formale Geschichtslogik mit dem geschilderten Prozeß des Kulturverfalls zu einer materialen Geschichtsphilosophie verbindet. Auf die Zukunft bezogen, wandelt sich diese Geschichtsphilosophie zur Ethik: 1 1 4 der Anbruch eines neuen »Wertsystems« und einer neuen Mensch12

i Ernst Jünger, Der Kampf als inneres Erlebnis. Berlin 1922, S. 76. Auch diese Mentalität schreibt sich von Nietzsche her. Vgl. im >Zarathustra< das Kapitel »Vom Krieg und Kriegsvolke«. In: Nietzsche, Sämtliche Werke. Bd. 4, S. 58ff. 124 Vgl. hierzu Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme, S. 79ft· sowie Kap. II/4 der vorliegenden Arbeit. Das Vertrauen, das Broch am Ende der Exkurse wie überhaupt in seiner Wertphilosophie in die »normative Kraft« jener überpersonalen, idealen Wertregion setzte, teilt er, in Anknüpfung an Fichte, mit dem Neukantianismus beider Schulen; nicht zufällig wurde die Pädagogik in der Anfangszeit der Weimarer Republik zu einem zentralen Gegenstand der Reformdiskussionen (Spranger, Natorp u.a.). Vgl. hierzu Ringer, The Decline of the German Mandarins, Kap. 7.

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lichkeit wird erwartet. Nicht zufällig erhält die Sprache an diesen Stellen eine besondere Färbung. Das Kommende wird mit expressionistischer Metaphorik, holzschnittartig, zur Darstellung gebracht: die Lichtsymbole häufen sich, es ist von einem »aufbrechenden Himmel« und »aufbrechendem Feuerschein« und endlich von dem »Ruf« die Rede, der die Menschen erneut hoffen läßt incipit vita nova, hieß es im Vorspruch zu Ernst Blochs >Geist der UtopieSchlafwandlern< ist die den neuen Anfang beschwörende Formel an den Schluß gerückt - in Erwartung einer eher ungewissen Zukunft. Wie oben bemerkt, ist der Rückgriff auf expressionistische Sprache und Symbolik am Ende der zwanziger Jahre nichts außergewöhnliches. Auch die von Döblin in den Schriften um 1930 vertretene Utopie der »brüderlichen Gemeinschaft« trägt noch die Züge expressionistischer Geistpolitik. Betrachtet man Brochs Epilog zu der Romantrilogie näher, zeigt sich auch hier eine höchst aufschlußreiche Parallele zur Literatur des revolutionären Jahrzehnts« zwischen 1910 und 1920. Die Erlösung, wie sie am Ende des Romans angedeutet wird, folgt auf den Verfall des ursprünglich geschlossenen Ganzen. Dieses Grundmotiv gnostisch-apokalyptischer Prägung ist im Expressionismus häufig anzutreffen, wie der »dreiphasige Erlösungsrhythmus« (Ernst Topitsch) in der traditionellen Metaphysik und Moraltheorie überhaupt weit verbreitet ist. 12 ' Es darf als erwiesen gelten, daß die expressionistischen Schriftsteller das gnostische Schema des Erlösungs- und Heilsweges gewollt übernahmen, so wie ihre Sprache apokalyptische und mystische Topoi zitiert. 116 Die Suche nach einer mythischen, mystischen oder wie auch immer >transzendierenden< Schicht im Frühwerk Brochs hat an dieser Stelle anzusetzen. Nimmt man nochmals alle genannten Motive zusammen, wird der vielschichtige und komplizierte Aufbau der zehn Exkurse durchsichtig: die formalen Kategorien der Geschichtsbetrachtung (Stil, Wert, Setzung etc.) über125

Vgl. Ernst Topitsch, Marxismus und Gnosis. In: Sozialphilosophie zwischen Ideologie und Wissenschaft. N e u w i e d u. Berlin (3. A u f l . ) 1971, S. 2 6 1 - 2 9 6 , bes. S. 2 7 i f . D a s triadische Geschichtsschema der Romantiker wirkte in der Kulturkritik des 19. und 20. Jahrhunderts fort; vgl. hierzu Hartmut Böhme, A n o m i e und Entfremdung. Literatursoziologische Untersuchungen zu den Essays Robert Musils und seinem Roman

>Der Mann ohne Eigenschaften^ Kronberg/Ts.

1974, S. 5 5 ; vgl.

auch

Hermann Krapoth, Dichtung und Philosophie. Eine Studie zum Werk Hermann Brochs. Bonn 1971, S. i86f. A n m . 2 0 $ . 116

Vgl. Wolfgang Rothe, D e r Mensch vor G o t t : Expressionismus und Theologie. In: Rothe (Hg.), Expressionismus als Literatur S. 3 7 - 6 6 , bes. S. 42Í. Vgl. auch: Klaus Vondung, Geschichte als Weltgericht. Genesis und Degradation einer Symbolik (Postskript: Z u m internationalen und gesellschaftlichen Kontext apokalyptischer Deutungen des Ersten Weltkriegs). In: Κ . V. (Hg.), Kriegserlebnis. D e r Erste Weltkrieg in der literarischen Gestaltung und symbolischen Deutung der Nationen. G ö t tingen 1980, S. 6 2 - 8 9 .

217

nimmt Broch aus den frühen neukantianischen Studien; bei der Darstellung des kulturellen Verfalls reflektiert er den Kulturpessimismus am Ende der zwanziger Jahre; sein Versuch der wertphilosophischen Überwindung der historistischen Problematik führt schließlich auf Darstellungselemente der expressionistischen Literatur zurück.

7. Zerfall der Werte. Die neun Exkurse und der Epilog in den >Schlafwandlern< Die kritische Betrachtung des theoretischen Kerns< der Romantrilogie ist in den vorangegangenen Abschnitten gründlich vorbereitet worden. Das reich ausgebreitete Material kann nun an den Stellen zusammengezogen werden, die grundlegend für die von Broch in den Roman eingearbeitete Geschichtsphilosophie sind. Es kann dabei nur um eine kritische, nicht eine den inhaltlichen Aufbau im einzelnen nachvollziehende Darstellung des Essays gehen. Die vier ersten Exkurse bilden eine gedankliche Einheit. Ihr Thema ist der Stil der im Roman geschilderten Epoche, wie er sich in der Architektur, in Handlungen und im Denken der Menschen ausdrückt. Das Problem eines umfassenden, alle Lebensäußerungen des Menschen durchdringenden Stils und seine logische Erfassung hatten Brochs philosophische Studien von Anfang an begleitet. Die verschiedenen Ansätze und Ergebnisse der theoretischen Reflexion ließen sich jedoch im Zusammenhang der Exkurse allenfalls andeuten, eine Möglichkeit, von der Broch in souveräner Weise Gebrauch macht. Der Hang zum Grundsätzlichen und die Erforschung »geistiger« Grundlagen, wie sie in den Kunst- und Literaturwissenschaften der zwanziger Jahre verbreitet waren, kamen dabei seinem romantechnischen Experiment entgegen. 127 Die Rede von der lebensmäßigen Einheit der Epoche als Voraussetzung eines geschlossenen Stils war längst zur Gewohnheit geworden. Doch das ist nicht der Bezugspunkt für die sehr knappen und präzisen Formulierungen in den Exkursen; Broch zitiert mit dem Begriff des »Kunstwollens« einen terminus technicus der Stilpsychologie, den Alois Riegl und seine Schüler in die wissenschaftliche Diskussion eingeführt hatten. 128 Im 127

Vgl. die Quellendokumentation Kunstwissenschaft.

Methodische

von Jost H e r m a n d : Literaturwissenschaft und Wechselbeziehungen

seit

1900.

Stuttgart

(2.,

verbes. A u f l . ) 1971. 128

Vgl. Ernst H . G o m b r i c h , Ornament und Kunst. Schmucktrieb und Ordnungssinn in der Psychologie des dekorativen Schaffens (aus d. Engl, übertr. v. A . Joseph). Stuttgart 1982, bes. Kap. V I I I : D i e Stilpsychologie, S. 207ff. Vgl. auch: Ernst Bloch, Tübinger Einleitung in die Philosophie 1. Frankfurt/M. 1965, S. 168; Peter Por, E p o chenstil. Plädoyer für einen umstrittenen Begriff. Heidelberg 1 9 8 2 ; Grilles-Gaston Granger, Essai d'une philosophie du style. Paris 1968.

218

Roman erscheint dieser aus der Baumgarten-Rezension bereits vertraute Begriff jedoch absichtlich kontaminiert als Stilwille ( K W i, S. 4 3 6 , 4 6 2 ) , womit auf den später gebrauchten Begriff des »Wertwillens« vorausgedeutet wird. Gemeint ist aber nichts anderes als die Ahnlichkeitsrelation, die die RieglSchule in den Begriff des »Kunstwollens« faßte: Kunstwollen und Zeitstil stehen in engstem Zusammenhang, ohne aber identisch zu sein. Kunstwollen ist der weitere und abstraktere Begriff. Zeitstil ist die phänomenologisch gewonnene Summe der konkreten Gestaltungsprinzipien einer Epoche, für die das Kunstwollen die Voraussetzung und immanente Notwendigkeit bildet. Man hat hier ein ätiologisches Verhältnis anzunehmen: dasjenige, was man Kunstwollen nennt, ist Ausgangspunkt und Grund für einen bestimmten Zeitstil. [...] Stil im allgemeinen, deskriptiven Sinn ist also Produkt eines einheitlichen Kunstwollens. Stil im engeren Wertsinn ist Funktion eines nicht nur einheitlichen, sondern auch noch organischen, wertvollen Kunstwillens. Bei stillosen Epochen ist der den Inhalt des Begriffs Kunstwollen konstituierende immanente Sinn der künstlerischen Phänomene eine durchgreifende Uneinheitlichkeit, ein Pluralismus der Geschmacks- und Schaffensprinzipien. [...] Der Stil der Epoche ist dann - wenn man ein Paradoxon anwenden will - ihre Stillosigkeit."' Damit wird auf die Signatur der eigenen Epoche angespielt, der man gemeinhin das absprach, was andere Epochen so augenfällig kennzeichnete: die Einheit eines Stils. Broch verdeutlicht dies am Beispiel des Ornaments, das nicht mehr, wie früher, als »der differentiale Ausdruck im Kleinen für den einheitlichen und einheitssetzenden Grundgedanken des Ganzen« ( K W 1, S. 4 3 7 ) verstanden wird, sondern als bloßes »Beiwerk« aus der absolut material- und zweckgerechten, aber >seelenlosen< Architektur verschwindet. Denselben Gedanken hatte Broch bereits 1912 in seinen »Notizen zu einer systematischen Ästhetik« entwickelt, hier noch mit deutlichem Bezug auf die Schriften von Adolf Loos (vgl. auch den Aufsatz >Ornamente (Der Fall Loos)Die Rettung< anonym erschienen Beitrages ist, in dem sich die Gedanken zur Architektur und Ornamentik als Ausdruck des Zeitgeistes zusammengefaßt finden, die Ubereinstimmungen mit den Formulierungen in den Exkursen sind jedenfalls frappant."3° Daß Broch bei der Abfassung der Exkurse auf "9 Friedrich Kainz, Vorarbeiten zu einer Philosophie des Stils. In: Z Ä A K 20 (1926), S. 21-63, hier S. 46-48. 130 Vgl. den unter dem Titel >Architekt< erschienenen Beitrag in: Die Rettung. Blätter zur Erkenntnis der Zeit. Hg. v. Franz Blei u. Paris Gütersloh, Jg. 1, No. 7 (17. Jänner 1919), S. 63 : »Architekt. Selbstverständlich ist der ästhetische Standpunkt immer verwerflich, wenn es sich nicht einzig und allein um das Kunsthandwerk und die Erkenntis des Kunsthandwerks handelt. Anderswo wird er zum Standpunkt des Tapezierers. Wenn der erwachsene Tapezierer Van de Velde vom >Feste der modernen 219

ältere Arbeiten zurückgegriffen hat, konnte Theodor Ziolkowski im einzelnen nachweisen, 13 ' was in diesem Fall - die Frage der Autorschaft einmal beiseitegelassen - eine besondere Bedeutung hat. Wie nämlich der zitierte Text belegt, wird in den Exkursen auf eine Diskussion angespielt, die im Jahr 1918, dem Jahr der im >Huguenau< geschilderten Ereignisse, noch von einer gewissen Aktualität gewesen ist. Für die Leserschaft des Romans war dagegen aus den programmatischen Thesen der modernen Architekten längst Realität geworden: die N e u e Sachlichkeit, der Konstruktivismus, die Bauhaus-Architektur und verwandte Strömungen der zwanziger Jahre hatten jenen ornamentlosen Stil geschaffen, der in den Exkursen und im Roman als Signatur der Epoche aufscheint. 1 ' 2 Das Fehlen des Ornaments bringt die Stillosigkeit und damit, in der paradoxen Weise wie Broch dies beschreibt, den »Stil« der Zeit zum A u s druck. Dieses Grundmotiv wird nun mehrfach abgewandelt und auf die verschiedensten Erscheinungen der Zeit bezogen. Selbst wenn ein »Agent von der A r t Huguenaus« in seinem persönlichen Geschmack »sicherlich zinnenbekrönte Villen mit vielen Nippes darin« vorzieht, also keineswegs den Stilwillen der eigenen Epoche anerkennt, zeigt sich in seinem »ornamentlosen« Denken und Handeln doch nichts anderes als Zeitgenossenschaft. E s bedarf keiner komplizierten theoretischen Erörterungen, um den »Zeitgeist« ( K W χ, S. 462) zu beschreiben, den Broch in seinen frühen philosophi-

152

220

Schönheit singt, womit er die ästhetischen Werte des Automobils, der Eisenbahnbrücken und des Hydeparks meint, und dabei wähnt, den Sinn der Moderne als historischer Epoche zu erfassen, so weiß er von dieser genau so viel wie Wilhelm II. vom Mittelalter, wenn er es in Hochkönigsburg-Maskerade inkarniert denkt. Und ebensowenig besteht zwischen den Ornamenten der Van de Veldeschen Architektonik und denen der Butzenscheibenromantik irgend eine nennenswerte Differenz. Aber immerhin läßt sich die ästhetische Abscheu vor den Gräueln der modernen Schönheit, wie sie sich von 1850 bis 1914 etabliert hat, mit dem Entsetzensvollen, das mit 1914 anhob, in einen gewissen Kausalzusammenhang bringen. Denn, so ist mit einer gewissen Berechtigung zu fragen, ist es nicht der gleiche Geist ohne Ehrfurcht, welcher die Schönheit gewachsener Stadtorganismen wie Paris und Wien zerstörte, und der, welcher die Kreatur in den Schützengraben schickte - ist die angebliche >NotwendigkeitExkursen< entwickelten Gedanken, die im folgenden genauer untersucht werden. Vgl. Theodore Ziolkowski, Zur Entstehung und Struktur von Hermann Brochs >SchlafwandlernMonofunktionalismus< in der Architektur der zwanziger Jahre vgl. auch die Einleitung von Elmar Holenstein zu: Roman Jakobson, Poetik: Ausgewählte Aufsätze 1921-1971. Frankfurt/M. 1979, S. 34ff.

sehen Schriften nur im Zusammenhang wert- und geschichtsphilosophischer Erörterungen abstrakt zu bestimmen versucht hatte (Haltung, Geist, fiktives Wertzentrum etc.). Daß der eigenen Zeit etwas fehlt, was andere Epochen besessen haben - das Ornament als Symbol - , daß in ihr etwas zerstört ist, was sich in der Grauenhaftigkeit des Krieges und der kalten Zweckgerichtetheit des Denkens und Handelns der Menschen an der Oberfläche abbildet, kurz: die Verunsicherung und Orientierungslosigkeit, die man als Krise der Kultur empfand, ließ sich auch durch Bilder ausdrücken. Doch diese Möglichkeit wird im fünften Exkurs wieder in Frage gestellt. Sie erklärt offenbar zu wenig. Die Einsichten bleiben vage und intuitiv, sie haben nichts von der Eindeutigkeit wissenschaftlicher Ergebnisse. Was zuvor möglich schien, wird nun bezweifelt: kann doch das logische Denken als der Zeit enthoben vorgestellt werden, damit unwandelbar und frei vom Einfluß eines »Denkstils«. Um dies nachzuprüfen, führt Broch einige Beispiele aus der Logik und Methodologie an, die sich im Stil und in der Sprache deutlich von den eher assoziativen, aber anschaulichen Gedankenreihen der ersten Exkurse unterscheiden. 1 » Zunächst wird festgestellt, daß auch die Logik auf axiomatischen, also weltbezogen-inhaltlichen Grundlagen aufbaut. Wann eine Fragekette abgebrochen wird, ist letztlich Sache des intuitiv-psychologischen »Wahrheitsgefühls«, das eine bestimmte Axiomatik anerkennt. Es ist natürlich auch denkbar, daß die Frageketten nicht abgebrochen werden, was einen regressus ad infinitum zur Folge hätte. Doch diese Möglichkeit wird nur am Rande erwähnt. In der Regel sind es die »Axiome der geltenden Kosmogonie« (KW ι, S. 472), die den logischen Systemen als Grundlage dienen. Mit dem zuletzt zitierten Satz verläßt Broch den logisch-methodologischen Diskurs. Was zunächst wie eine Anknüpfung an frühere Studien erschien (die Verwendung der Begriffe Axiom, Wahrheitsgefühl, Evidenz etc. spricht für sich), wandelt sich zu einer die Logik übergreifenden weltanschaulichen Betrachtung. Denn wenn es die »Axiome der geltenden Kosmogonie« sind, die selbst die formale Logik in ihrem »Stil«, auch in ihrer Veränderbarkeit bestimmen, dann ist der Einfluß der Weltbilder (der »Kollektiworstellungen«, wie sie die Anthropologie der Zeit bereits nannte) auf das Denken und Leben der Menschen von kaum zu überschätzender Bedeutung. Broch greift hier einen Gedanken auf, den Lucien Lévy-Bruhl in seinen Schriften zur Ethnologie entwickelt hatte - deutlich etwa in dem Vergleich der logischen Struktur der Sprachen, den Broch von Lévy-Bruhl übernommen Daß Broch die Strategie seiner Argumentation mit dem fünften Exkurs wechselt, ist ein Faktum, das Karl Menges in seiner Darstellung absichtlich übergeht, um ein »Feld von Äquivokationen« ausmachen zu können, »deren Signum eine totale Umkehrbarkeit ist.« Genau das ist - bis zum vierten Exkurs! - das Anliegen Brochs, nicht das Versagen seines unreflektierten, intuitiven Stilbegriffs. Vgl. Menges, S. 28.

221

haben dürfte 1 ' 4 - , daß nämlich die Kosmogonie der Primitiven von äußerster Kompliziertheit sei, da alle Dinge der Welt, also unendlich viele, ein beseeltes Eigenleben führen, während in den monotheistischen Kosmogonien jede Fragekette zuletzt auf einen einzigen Urgrund, Gott, zurückführt: »die Axiomenanzahl (ist) von unendlich auf Eins herabgesunken.« ( K W i, S. 4 7 3 ) Damit

wird

eine

überraschende

und

außerordentlich

interessante

Wendung der Argumentation eingeleitet. Es verändert sich, wenn auch kaum merklich, der Stil und die Darstellungsweise, indem auf ein Bild zurückgegriffen wird, das nicht, wie im Fall der Architektur und dem »ornamentlosen« Handeln und Denken Huguenaus, der Alltagswelt entnommen ist: bei gewissen geometrischen Konstruktionen wird der unendlich ferne Punkt willkürlich innerhalb der endlichen Zeichenebene angenommen, und dann wird so konstruiert, als würde dieser fiktive Unendlichkeitspunkt wirklich der unendlich weit entfernte sein. Die Lage der einzelnen Konstruktionsglieder zueinander bleibt in einer solchen Konstruktion die gleiche, als würde jener Punkt wirklich unendlich weit entfernt sein; bloß haben sich alle Maße verzerrt und zusammengeschoben. Und so ähnlich darf man sich die Veränderungen vorstellen, welche die logischen Konstruktionen erleiden, wenn der logische Plausibilitätspunkt aus dem Unendlichen ins Endliche und Irdische gerückt wird: die formale Logik als solche, ihre Schlußweise, ja sogar ihre inhaltlichen Assoziationsnachbarschaften bleiben bestehen, - was sich ändert, sind ihre >MaßeStiIendlichen< Unendlichkeit eines immerhin noch anthropomorphen Gottes in die wahre abstrakte Unendlichkeit hinausgeschoben, die Frageketten münden nicht mehr in dieser Gottesidee, sondern laufen tatsächlich in die Unendlichkeit (sie streben sozusagen nicht mehr nach einem Punkt, sondern haben sich parallelisiert), die Kosmogonie ruht nicht mehr auf Gott, sondern auf der 134

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Broch besaß die fünfte Auflage des Buches >Les fonctions mentales dans les sociétés inférieurs< (Paris 1922) von Lucien Lévy-Bruhl; vgl. in der deutschen Ausgabe: Das Denken der Naturvölker, übers, v. P. Friedländer, hg. u. eingeh v. Wilhelm Jerusalem. Wien u. Leipzig (2. Aufl.) 1926, bes. Teil I, Kap. 1 und Teil II, Kap. 4; vgl. auch Wilhelm Jerusalem, Einleitung in die Philosophie. Wien und Leipzig (7. u. 8. Aufl.) 1919, S. 29 j f f . Das Buch Lévy-Bruhls war in den zwanziger Jahren - dank der Bemühungen Jerusalems - auch im deutschen Sprachraum sehr bekannt; Robert Musil hat ihm wichtige Anregungen für seinen Roman entnommen. Vgl. hierzu Renate von Heydebrand, Die Reflexion Ulrichs in Robert Musils Roman »Der Mann ohne Eigenschaften«. Ihr Zusammenhang mit dem zeitgenössischen Denken (Münstersche Beiträge zur deutschen Literaturwissenschaft 1). Münster 1966, S. 105ff. - Vgl. auch Dux, Die Logik der Weltbilder, S. i4iff. und Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 1, S. 74f.

ewigen Fortsetzbarkeit der Frage, auf dem Bewußtsein, da£ nirgends ein Ruhepunkt gegeben ist, daß immer weiter gefragt werden kann, gefragt werden muß, daß weder ein Urstoff noch ein Urgrund aufzuweisen ist [...]: die Kosmogonie ist radikal wissenschaftlich geworden und ihre Sprache und ihre Syntax haben ihren >Stil< abgestreift, haben sich zum mathematischen Ausdruck gewandelt.

Scheinbar mühelos, fast assoziativ, verknüpft sich hier das über die »kosmogonischen Axiome« Gesagte mit dem geometrischen Bild zu einer Aussage, die das eigentliche Zentrum der Exkurse bildet. Die Auflösung der monotheistischen Kosmogonie wird als Grund und treibende Kraft des Wertezerfalls geschildert und später durch historische Beispiele belegt. Doch die scheinbare Mühelosigkeit, mit der Broch diese Erklärung gibt, täuscht über die Anstrengung der philosophischen Begriffsbildung hinweg. Die zitierte Stelle läßt noch deutlich jene schematische Gliederung der Werte und Güter durchscheinen, die Heinrich Richert in seinem >System der Philosophie< entwickelt hatte (vgl. den Schluß von Abschnitt II/4). Bis in Einzelheiten hinein orientiert sich Broch an diesem Schema, das sich im Rahmen der Exkurse freilich nicht philosophisch ableiten ließ, sondern nur durch wenige, genau auf das Zentrum der Aussage hinführende Thesen und Bilder vorbereitet werden konnte. Die verschiedenen »Wert-Stufen der Vollendung«, wie Rickert sie unterschieden hatte, erhalten bei Broch eine historische Dimension: Aus der »endlichen« Unendlichkeit eines immerhin noch anthropomorphen Gottes (bei Rickert: der der Religion und Mystik zugeordneten vollendlichen Totalität der Ewigkeitsgüter) wird die wahre abstrakte Unendlichkeit der ewig fortsetzbaren Frage (bei Rickert: die der Logik zugeordnete unendliche Totalität der Zukunftsgüter). So wie bei Rickert die unendlichen Zukunftsgüter in das Gebiet der Logik gehören, deren »Gut« die Wissenschaft ist, werden auch bei Broch die in die »abstrakte Unendlichkeit« führenden Frageketten zum Inbegriff einer Kosmogenie, die »radikal wissenschaftlich« geworden ist. Doch bei Rickert war dieser Wert-Stufe noch ein zweites Gebiet zugeordnet: die Ethik. Bei Broch wird diese Alternative erst im Epilog angedeutet. Dort erscheint es denkbar, daß der einer »abstrakten Unendlichkeit« (Rickert: der unendlichen Totalität) ausgelieferte Mensch aus der ihm gegebenen Autonomie heraus zu einer neuen Ethik und »Gemeinschaft freier Personen« (Rickert) findet. Dem stehen jedoch jene Wirkungen des Wertezerfalls entgegen, die im sechsten Exkurs in einer langen Reihe von Beispielen vor Augen geführt werden. Jeder bürgerliche Beruf, selbst der des Künstlers, zwingt den Menschen in ein partikulares Wertgebiet und damit unter die Herrschaft eines einzelnen Wertes, der sein Denken und Tun in einem geschlossenen, das heißt: gegen andere Weltbilder abgeschlossenen Wertsystem bestimmt. Die einzelnen Wertsysteme stehen isoliert nebeneinander, ohne Austausch, aber mit dem Willen, sich gegenseitig zu vernichten. Hierin glaubt Broch die »Logik« einer 223

zerfallenden Welt zu erkennen; die einzelnen Wertgebiete haben sich getrennt, sie sind nicht mehr fähig, »einen gemeinsamen Wertkörper zu bilden« : gleich Fremden stehen sie nebeneinander, das ökonomische Wertgebiet eines >Geschäftemachens an sich< neben einem künstlerischen des l'art pour l'art, ein militärisches Wertgebiet neben einem technischen oder einem sportlichen, jedes autonom, jedes >an sichentfesseltKonkurrenz im Gebiete des GeistigenDie Schlafwandler. Tübingen 1966, S. 183, Anm. 16. "37 Ebd., S. 184. Vgl. Karl Robert Mandelkow, Hermann Brochs Romantrilogie »Die Schlafwandler«. Gestaltung und Reflexion im modernen deutschen Roman (1962). Heidelberg 1975, mit einem Nachwort zur 2. Aufl.: S. 185-211, hier S. I97f. •'» Th. W. Adorno/M. Horkheimer, Vorurteil und Charakter. In: Th. W. Adorno, Ges. Sehr. 9.2. Frankfurt/M. 1975, S. 360-373, hier S. 367. " 7

während es ihm in den letzten Wochen des Krieges ebenso opportun erscheint, Kontakt mit den Sozialisten zu pflegen (439, 65if.). Ihn beeindrucken weder inhaltliche Argumente noch einzelne Personen: allein der Mechanismus der Macht hat für ihn Gültigkeit. »So bezog Huguenau seine Stellung in dem beginnenden Kampf zwischen Oben und Unten.« (652) Für Huguenau ist die Gesellschaft nur noch ein Orientierungsrahmen, in dem er sich bewegt, ohne ethische Maßstäbe für sein Handeln zu besitzen. Die schließlich hervorbrechende Destruktivität ist nur der extreme Ausdruck der vollkommen versachlichten Beziehungen, in denen er lebt. Zu den auffälligsten Merkmalen der autoritätsgebundenen Charaktere gehört ihre Beziehungslosigkeit, »die Flachheit ihres Empfindens, auch den ihnen angeblich nächsten Menschen gegenüber. So normal sie sich gebärden und im Sinne eines gewissen praktischen Wesens tatsächlich auch sind, so tief beschädigt erscheinen sie zugleich. Die Fähigkeit, überhaupt lebendige Erfahrungen zu machen, ist ihnen weithin abhanden gekommen. [ . . . ] Während sie >veräußerlicht< sind in dem schon angedeuteten Sinne, [ . . . ] sind sie zugleich, ohne es zu ahnen, Gefangene ihres eigenen geschwächten Ichs, im tiefsten unfähig zu allem, was über das beschränkte eigene Interesse oder das ihrer Gruppe hinausgeht.«' 40 Sie sind, wie Huguenau, »affektiv erfroren«. Ohne Motiv schlägt die Langeweile, die Huguenau ständig spürt - auch als bewaffneter Posten der Bürgerwehr überlegt er sich, »ob er nicht ins Bordell rübergehen sollte« (663) - in Gewalttätigkeit und Destruktivität um. 141 Dieses Verhalten ist wie der dafür anfällige Charakter das Produkt gesellschaftlicher Entwicklungen. Die Sozialpsychologie hat den geschichtlichen Vorgängen, die die totalitären Massenbewegungen des 20. Jahrhunderts begünstigten, entsprechend große Aufmerksamkeit geschenkt. 142 Dem kulturgeschichtlichen Rahmen kommt eine erklärende Funktion zu, wie auch Broch in seinem methodologischen Prospekt zum Roman andeutet, wo es heißt, daß die »Durchsetzung mit dem Traumhaften durchaus nicht dort zu suchen ist, wo das Leben im vorhinein irreal gedacht ist, sondern daß im Gegenteil mit dem Abbau alter Kulturfiktionen auch das Traumhafte immer freier wird und daß mit je krasserem realen Geschehen es um so deutlicher und ungebundener mit dem Irrationalen verquickt ist.« (KW 1, S. 719) Ergänzt wird diese Deutung durch eine Reihe von Beispielen, die sich auf die Ursache 140

E b d . , S. 369. - Vgl. auch: Joseph F. Schmucker, A d o r n o - L o g i k des Zerfalls (problemata 67). Stuttgart-Bad Canstatt 1977, S. i i 2 f .

141

Vgl. Erich F r o m m , Anatomie der menschlichen Destruktivität (übers, v. L . u. E . Mickel). Reinbek 1977, bes. S. 2 7 9 f f .

142 Vgl. etwa Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. 3. Bde. F r a n k f . / M . , Berlin, Wien 1 9 7 5 ; Karl Dietrich Bracher, D i e deutsche Diktatur. E n t stehung,

Struktur,

Folgen des Nationalsozialismus.

Frankf./M.,

(6. A u f l . ) 1979 (mit umfangreicher Bibliographie); vgl. auch A n m . 38.

228

Berlin,

Wien

des Wertzerfalls in der Gegenwart beziehen und die nur im Zusammenhang des kulturellen Prozesses zu verstehen sind, ein Thema der Exkurse, auf das gleich zurückzukommen ist. Wie nun im Epilog betont wird, nimmt Huguenau an der beschriebenen »Situation des europäischen Geistes« nur »wenig Anteil«, gleichwohl drückt sich in seinen Handlungen der »Geist der Zeit« auf das genaueste aus (bei Einführung des Stilbegriffs erschien dieses Paradoxon zum ersten Mal). Er wird deshalb als der Angehörige des kleineren, radikaleren, weil wertmäßig ungebunderen Verbandes zum »Henker einer Welt«, derjenigen Eschs und Pasenows, »die sich selbst gerichtet hat«. Denn: »je weiter die Zerschlagung des Gesamtsystems fortschreitet, je entfesselter die Vernunft der Welt wird, desto sichtbarer, desto wirkender wird das Irrationale, - das Gesamtsystem der Religion macht die von ihr ergriffene Welt rational, die Entfesselung der Vernunft muß in gleicher Weise die Stummheit alles Irrationalen freimachen.« (KW i, S. 702Í. u. 692) Hier sind jene Motive knapp zusammengefaßt, die oben an Beispielen erläutert wurden. Der Zusammenhang von irrationaler Setzung und rationaler Geltungsverleihung, den Broch in seinem philosophischen Studien exakt zu bestimmen versuchte, hat im Roman poetische Gestalt gewonnen. Dabei mußte das formale Schema inhaltlich ausgefüllt werden, ohne an Systematik zu verlieren. Broch hat deshalb eine typologische Ordnung geschaffen, in der sich die Protagonisten der drei Romane und ihre rational/ irrationalen Denk- und Handlungsweisen einander zuordnen lassen. Für die inhaltliche Erklärung dieser drei Stufen der (historischen) Freisetzung des Irrationalen muß nochmals auf das Rickertsche Schema zur Gliederung des Systems der Werte und Güter verwiesen werden: an den höheren Stufen der »Voll-Endung« haben der »Romantiker« Pasenow und der »Anarchist« Esch nur noch in defizienter Form teil - Pasenow durch seine lose Bindung an die Religion und Esch als Erotiker mit einem Hang zur Mystik; der Erotik wird in Rickerts Schema eine mittlere Stufe zugewiesen, sie strebt als »Gegenwartsgut« die »voll-endliche Partikularität« an, darin der Ästhetik vergleichbar, die dieselbe Stufe einnimmt; im Roman ist es Bertrand, der als Gegenspieler Eschs diese Wertstufe vertritt. Huguenau hat dagegen die unterste, »erste« Ebene erreicht: sein Handeln ist von der Logik des Egoismus geprägt, dem auf derselben Stufe nurmehr die Hoffnung auf eine neue Ethik gegenübersteht, während Erotik, Ästhetik, Mystik und Religion für Huguenau in gleicher Weise unerreichbar geworden sind - der Zerfall dieser Wertordnungen ist nicht mehr aufzuhalten (vgl. auch Brochs brieflichen Kommentar zum Aufbau der >SchlafwandlerGemeinschaftFührung< projizieren - eine von Broch als durchaus legitim empfundene Sehnsucht. Das ist der offene und in seiner sprachlichen Ungeschütztheit zugleich bedenkliche Schluß der Romantrilogie.

236

IV. Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans Zur Interpretation der >SchlafwandlerHuguenau< und Brochs frühen Schriften zur Philosophie des Neukantianismus herzustellen, was die nachfolgende Interpretation des Romans aber gleichzeitig mit einer Hypothek belastet. Muß sich die Betrachtung nicht zwangsläufig auf die (wert-)philosophischen Aspekte einengen, die man in der Erzählung wiederzuentdecken glaubt? Je intensiver das Frühwerk Brochs untersucht wird, desto deutlicher werden auch die Konturen seines wertphilosophischen Denkens hervortreten, die den Aufbau und den Inhalt der Trilogie in wesentlichen Teilen bestimmen, wenn nicht gar determinieren, womit die Fragwürdigkeit dieses Rückschlußverfahrens deutlich benannt ist. Die Gefahr jeder >Schlafwandlergroßen Romane< der zwanziger Jahre. Dieser Anspruch hat gerade dort, wo man die über das Werk hinausgehenden philosophischen und ästhetischen Reflexionen zur Interpretation heranzieht, den Autoren - so auch Broch - den Vorwurf eingebracht, ihre Werke seien mit Theorie überfrachtet, d. h. künstlerisch fragwürdig. Was kritisiert wird, ist der »Essayismus« im Roman. Doch diese oft traditionsgebundene Kritik bleibt vordergründig, sie trifft nicht das eigentliche Problem der Künstler, das, zugespitzt formuliert, gerade darin besteht, daß ihre Werke gegen den Anspruch der eigenen Intention zu wenig reflektiert sind. Mit den Worten Adornos: »An den Kunstwerken ist es, so wie es in ihren größten modernen Leistungen geschah, das reflexive Element durch abermalige Reflexion der Sache selbst einzuverleiben, anstatt sie als stofflichen Uberhang zu tolerieren.«3 Damit ist eine wichtige Grundspannung des Brochschen Werkes genannt, das in dieser Hinsicht als repräsentativ für einen Teil der modernen Literatur gelten kann. Nicht mehr Probleme des Realen und seiner Abbildung bzw. der Sprache stehen im Mittelpunkt des Interesses, sondern, sehr viel grundsätzlicher, die Frage nach dem Verhältnis von wissenschaftlicher Erkenntnis und literarästhetischer Erfassung der Welt. Nachdem die >Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung< (Rickert) bestimmt worden waren, konnte 2

}

Dieter Henrich, Kunst und Kunstphilosophie der Gegenwart (Überlegungen mit Rücksicht auf Hegel). In: W Iser (Hg.), Immanente Ästhetik - Ästhetische Reflexion. Lyrik als Paradigma der Moderne (Poetik und Hermeneutik II). München 1966, S. 1 1 - 3 2 , hier S. 13. Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie (Ges. Sehr. 7). Frankfurt/M. 1970, S. 226.

239

wieder nach den Möglichkeiten einer »Gesamterkenntnis« (KW 13/1, S. 186) gefragt werden, die, wie Alfred Döblin es ausdrückte, »in die Realität einzudringen« und ihre Oberfläche »zu durchstoßen« 4 habe, die durch die avantgardistischen Kunstbewegungen der Moderne, vom >wissenschaftlichen< Naturalismus bis zur dadaistischen Collage, im Werk direkt greifbar geworden war. Gerade dieser Objektbezug, das Befragen und Auseinanderbrechen der gegebenen Wirklichkeit und die Stifung neuer Zusammenhänge aus ihren materialen Fragmenten, hatte den Künsten den Charakter der Modernität verliehen. Hier ein Gesamtbewußtsein zur Darstellung bringen zu wollen, hieß im Gegenzug zur Tendenz der modernen Kunstformen ihre Partialität negieren. Daß Broch für den »polyhistorischen« Roman der Gegenwart den Bildungsbegriff Goethes als vorbildlich zitiert, erscheint deshalb weniger konsequent als problematisch. Die Kunst steht hier in der Gefahr, »eine reichere Wirklichkeit, die schon vergangen ist, kraftlos zu beschwören und somit aus der Dimension der Kunst in die der Belletristik und des Kunstgewerbes hinüberzugleiten. Gemeistert werden kann sie nur durch entwickelte Reflexion und ausgedehnte historische Bildung. Diese bringen aber in einem Werk, das phänomenale Wirklichkeit in ihrem eigenen Zusammenhnag darbieten will, wiederum die andere Gefahr mit sich, die Einheit einer Formgestalt zu zerstören oder das Werk über die Grenze hinauszudrängen, die Kunst von Wissenschaft trennt.«* Genau dieses Problem, das Ineinander von theoretischer Reflexion und künstlerischer Gestaltung, wird an verschiedenen Stellen der folgenden Analyse auftreten. Es ist ein Problem der Literatur überhaupt, soweit sie sich in der Annäherung an die Philosophie die »Transparenz der Welt« (Max Bense) zur erzählerischen Aufgabe werden läßt und dabei ihre Reflektiertheit als Werk der Moderne nicht verliert: den Bereich des Gesellschaftlichen übersteigend, wird der Roman zum bevorzugten Medium existentieller und geschiehtsphilosophischer Fragestellungen. Broch schreibt dazu in einem Brief, der während der Arbeit an der Trilogie entstand, daß in den >Schlafwandlern< etwas angedeutet sei, »das nicht in der Richtung Joyce liegt (etwas, das mir im Schrecken über Joyce abhanden gekommen war), nämlich der >erkenntnistheoretische Roman< statt des psychologischen, d. h. der Roman, in dem hinter die psychologische Motivation auf erkenntnistheoretische Grundhaltungen und auf die eigentliche Werklo•» A l f r e d Döblin, D e r Bau des epischen Werks (1929). In: H . M a y e r (Hg.), Deutsche Literaturkritik. Vom Kaiserreich bis zum E n d e der Weimarer Republik (1889—1933). F r a n k f u r t / M . 1978, S. 5 4 8 - 5 8 0 , hier S. 552. Z u m Begriff der »Moderne« in der Literatur vgl. die Einleitung von Karl Richter u. J ö r g Schönert zu: Klassik und Moderne. Die Weimarer Klassik als historisches Ereignis und Herausforderung im kulturgeschichtlichen Prozeß (FS Walter Müller-Seidel). H g . v. K . Richter u. J . Schönert. Stuttgart 1983, S. V I I - X X X I . s

240

Henrich, Kunstphilosophie, S. 27.

gik und Wertplausibilität zurückgegangen wird, genau so wie es die Aufgabe der Philosophie gewesen ist, sich vom Psychologismus frei zu machen.« (KW 13/1, S. 93) Wichtiger als die Anspielung auf die Psychologismus-Debatte, mit der, bezeichnend genug, die Literaturtheorie der Grundlagendiskussion logischphilosophischer Disziplinen assoziiert wird (vgl. Abschnitt II/1), ist der Anspruch auf »Erkenntnis«, den der reflektierende Autor an sein Werk stellt. Hans Blumenberg hat in einem Aufsatz, dem die Überschrift dieses Kapitels entliehen ist, die Tradition zu bestimmen versucht, in die sich Broch mit seiner Berufung auf die >epistemologische< Funktion der Literatur einordnet. »Thema der Kunst«, heißt es dort, »wird in letzter Konsequenz der formale Wirklichkeitsausweis selbst, nicht der materiale Gehalt, der sich mit diesem Ausweis präsentiert.«6 Und Broch reagiert, als erkenne er die ganze Tragweite dieser Forderung, indem er die Heterogenität der gesellschaftlichen Wirklichkeit, den »Zerfall« einer ehemals geschlossenen Wertwelt, im Spiegel der Literatur, in die die Exkurse integriert werden, beschreibt und erklärt. Die Kunst wird zur Hermeneutik der Erfahrungswelt, die von den rationalen Wissenschaften nicht so konkret begriffen werden kann, wie sie real erlebt wird. Hinter dem >Schicksal< der geschilderten Personen werden objektive Zusammenhänge sichtbar.? Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans·, für Broch bedeutet dies, Aufschluß über einen historischen Prozeß zu gewinnen, der durch zwei gegenläufige Bewegungen gekennzeichnet ist, nämlich der fortschreitenden Rationalisierung und Spezialisierung des wissenschaftlichen und beruflichen Denkens einerseits und der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung andererseits, die sich einem Zustand der Anomie nähert, in dem Ausbrüche des »Irrationalen« - der Erste Weltkrieg als Beispiel - nicht mehr berechenbar erscheinen. Die Exkurse zum »Zerfall der Werte« enthalten Ansätze zu einer kulturgeschichlichen Untersuchung des Vorgangs, die das >wissenschaftlich< nicht faßbare Phänomen des Irrationalen eo ipso ausschließen; der Roman als Erzählwerk hebt diese Grenzziehung auf und eröffnet die Möglichkeit, das einer wissenschaftlichen Bearbeitung Unzugängliche im Bild darzustellen und durch die abstrakte Form des symbolischen Bezugs der theoretischen Gesamtaussage der Trilogie zu integrieren. 6

H a n s Blumenberg, Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans. In: H . R . Jauß (Hg.), N a c h a h m u n g und Illusion (Poetik und Hermeneutik I). München 1964, S. 9 - 2 7 , hier S. 21. Vgl. auch M . Bense, Philosophie ( 1 9 5 1 ) , S. 4 3 . Die Einwände U l f Eiseies verfehlen den Zusammenhang von Wirklichkeits- und Literaturbegriff, den Blumenberg

konstruiert;

vgl.

Eisele,

Die

Struktur

des

modernen

deutschen

Romans. Tübingen 1984, S. 21. 7

Vgl. J ö r n Rüsen, Ästhetik und Geschichte. Geschichtstheoretische Untersuchungen zum Begriffszusammenhang von Kunst, Gesellschaft und Wissenschaft. Stuttgart 1976, S. 2 2 ; Richard Brinkmann, Wirklichkeit und Illusion. Studien über Gehalt und Grenzen des Begriffs Realismus für die erzählende Dichtung des neunzehnten Jahrhunderts. Tübingen (2. Aufl.) 1966, S. 3 2 6 f f .

241

Von dieser These wird die Werkanalyse ausgehen. Sie wirkt - notgedrungen - etwas schematisch dort, wo gegenüber der Theorie der Exkurse das ästhetische Eigengewicht der Dichtung betont werden sollte. Die Interpretation scheint sich nicht ohne weiteres aus dem Bannkreis jenes vielzitierten Kommentars lösen zu können, den Broch als Begleitinformation zusammen mit der ersten Fassung der Trilogie an verschiedene Verlage gesandt hat. In diesem »methodologischen Prospekt«, der die Intention und den Aufbau des Werkes erklären sollte, hieß es gleich zu Beginn, »daß die Literatur mit jenen menschlichen Problemen sich zu befassen hat, die [ . . . ] von der Wissenschaft ausgeschieden werden, weil sie einer rationalen Behandlung überhaupt nicht« oder noch nicht »zugänglich« seien (719; vgl. auch S.47 dieser Arbeit). Und das sind für den Autor, ganz pauschal, die Probleme des »Irrationalen«. Broch hat in zahlreichen Kommentaren zu seinem Werk, vor allem in den in den dreißiger Jahren entstehenden Essays, darauf hingewiesen, welche Forderungen sich für die Literatur aus den von der Wissenschaft ignorierten Fragestellungen ergeben. Im Medium der Dichtung sollen Bereiche des Denkens und Erlebens angesprochen werden, die aus der Wissenschaft und einer sich als Wissenschaft verstehenden Philosophie ausgegrenzt worden sind. Das läßt sich leicht auf den >SchlafwandlerSchlafwandler< geehrt werden sollte, es werde »immer merkwürdig bleiben, wie hier einer sein eigenstes«, und das waren für Canetti die Gestalten des Romans, »unter einem Berg von Angedachtem zu verstecken suchte.«8 In der Folgezeit ist dann offener gefragt worden, ob der Aufwand an theoretischer Reflexion nicht das künstlerische Gelingen des Romans verhindert habe oder ob sich umgekehrt das Ungenügen des geschichtsphilosophischen Denkens nicht an der Fiktivität der Theorie zeige. Auffallend ist, daß sich beide Standpunkte, sowohl der zustimmende, der in dem Roman ein notwendiges und konsequentes Experiment moderner Erzählkunst verwirklicht sieht, wie auch der kritische, für den das Verhältnis von theoretischem Anspruch und erzählerischer Gestaltung unausgeglichen bleibt, auf die von Broch behauptete Komplementarität von Wissenschaft und Literatur als Maßstab der Beurteilung beziehen. Den Selbstaussagen wird in beiden Fällen zu großes Gewicht beigelegt. Broch hat den Begriff des »Irrationalen«, der das Gebiet der Literatur ja nur sehr vage umschreibt, in mehrdeu8

242

Elias Canetti, Hermann Broch. Rede zum 50. Geburtstag (Wien 1936). In: Das Gewissen der Worte. Essays. München 1978. S.9—22, hier S. 13.

tiger Weise gebraucht. Entsprechend den unterschiedlichen Verwendungsweisen des Begriffs lassen sich im Roman verschiedene Schichten unterscheiden, in denen das »Irrationale« eine jeweils andere Bedeutung gewinnt. Brochs Kommentare sollten nicht ungeprüft zitiert werden; viele Arbeiten werden dadurch bereits im Ansatz um ihren Erfolg gebracht. In einem Vortrag, den Broch als Einleitung zu einer Lesung aus dem >EschDie Wissensformen und die Gesellschaft< ähnlich wie B r o c h , zog aber f ü r die Situation der »Metaphysik« die umgekehrten Schlußfolgerungen: »Die positive Wissenschaft hat gerade die eminente Bedeutung auch f ü r die Metaphysik, daß sie das metaphysische Fragegebiet immer genauer umgrenzt, indem sie die «icèi-metaphysischen Fragen immer genauer und sicherer herausstellt gemäß dem großen Prinzip, alle Fragen auszuscheiden, die durch mögliche B e o b achtung und Messung zufälliger Wirklichkeiten und formal mathematische Operationen prinzipiell unbeantwortbar sind. Die positive Wissenschaft ersetzt daher nie die Metaphysik oder macht sie überflüssig - wie der Pragmatismus meint - , sondern 2

43

punkt des Neopositivismus diente wohl eher als Argument für die eigenen Bemühungen um den modernen Roman und seine Poetik, die sich so mit vollem Recht auf die intellektuelle Situation des »rationalistisch« denkenden Menschen und seine damit in Widerspruch stehenden »metaphysischen« Bedürfnisse beziehen ließen. Das Problem war zweifellos aktuell, aber nicht neu. Broch mußte es sich bereits beim Studium der Rickertschen Schriften gestellt haben, und von hier läßt es sich bis zu Friedrich Albert Lange, einem Anreger der neukantianischen Philosophie, zurückverfolgen.11 Die neukantianischen Schulen hatten ja gerade »die Irrationalität der Materie, im logische Sinne, als >letzte< Tatsache« der erkenntnistheoretischen und damit wissenschaftlichen Bemühung um das empirisch Gegebene herausgearbeitet (vgl. o. S. 78f.; um die genaue Bestimmung dieser »Grenze« hatte sich Broch in seinen frühen Schriften bemüht). Wo dann der »Versuch einer Systematisation« unternommen wurde, kam »das unerledigte Irrationalitätsproblem im Problem der Totalität zum Vorschein. Der Horizont, der das hier geschaffene und schaffbare Ganze abschließt, ist bestenfalls die Kultur (d. h. die Kultur der bürgerlichen Gesellschaft) als Unableitbares, als schlechthin Hinzunehmendes, als >Faktizität< im Sinne der klassischen Philosophie.« 12 Und diese Kultur, die für Rickert noch selbstverständliche Vorausetzung und Gegenstand des Philosophierens sein konnte (Kulturwissenschaft auf wertphilosophischer Grundlage), war für Broch und die Angehörigen seiner Generation zutiefst fragwürdig geworden. In den >Schlafwandlern< wird die Frage nach den Gründen des »Zerfalls« ihrer Werte zum Thema. Der Niedergang, wie er in der Retrospektive des Romans erscheint, war bereits in der Kulturkritik der Jahrhundertwende, am eindringlichsten wohl in der Literatur kurz vor dem Ersten Weltkrieg diagnostiziert worden. Hier kommt nun eine zweite Bedeutung des »Irrationalen« ins Spiel, die mit dem sachlichen Abgrenzungsversuch einer wissenschaftlich orientierten Philosophie gegenüber metaphysischen Problemstellungen nichts zu tun hat. Das

11

12

244

setzt durch einen zunehmenden Ausschluß der metaphysischen Fragen und vor allem der Wesensfragen aus ihrem Bereich das Problemgebiet der Ontologie und der Metaphysik erst frei - in ähnlicher Weise wie Physik und Chemie der Vorgänge und Einrichtungen des Organismus die spezifisch >biologischen< Fragen erst freisetzen.« (S. 234) Vgl. Friedrich Albert Lange, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. Zweites Buch: Geschichte des Materialismus seit Kant (1866). Hg. u. eingel. v. A . Schmidt. Frankfurt/M. 1974, S. 988; vgl. auch Arthur Liebert, Die geistige Krisis der Gegenwart. Berlin 1923, S-46ff. Georg Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein (1923). Amsterdam 1967, S. 133 (Reprint der Originalausgabe). Zur zeitgenössischen Diskussion um das »Irrationale«, vor allem im Neukantianismus, vgl. auch F. Keller, Das Problem des Irrationalen im wertphilosophischen Idealismus der Gegenwart. Berlin 1931.

»Irrationale« war für die expressionistischen Schriftsteller ein Leitbegriff, der die verschiedenen Motive der Kultur- und Zivilisationskritik prägnant zusammenfaßte. Im Namen des Lebens, der Vision und des Gefühls wurden die erstarrten, »rationalen« Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft kritisiert. Der Weltkrieg machte jedoch bald mit Erschrecken bewußt, wie ambivalent diese ekstatischen Formeln waren, mit denen - im Sinne eines >negativen< Vitalismus - der Krieg als »Aufbruch« zu einer neuen nationalen Gemeinschaft verherrlicht werden konnte. In den Lazarettgeschichten des >Huguenauwie prachtvoll besoffen wir August vierzehn warenScheler. Genius des Krieges . . . kein gutes Buch.Die Überwindung des Expressionismus« noch einmal auf, wobei er die Beziehung zu den Irrationalismen der frühen Jugendbewegung hervorhob; was hier vorherrschte, war »der Kampf gegen das bloß Intellektuell-Verständige, die beseligende Hingabe an Trieb und Gefühl, die Abneigung gegen das Zivilisatorische, die Flucht in die Natur, in das Ursprüngliche, der Hang zum Mythos und zur Legende, ja auch das Ekstatische und Intuitive, sowie die Radikalität der gesamten Lebenshaltung.«Die proklamierte Irrationalität und die revolutionäre Heilserwartung wurden als abweichende Bewegungen innerhalb einer rational organisierten Gesellschaft selbst zum Problem des »Irrationalen«. Broch hat dieser Spielart der Lebensphilosophie, dem »sterilefn] Zurückgreifen ins Mystische« (KW 13/1, S. 97), stets mit Skepsis gegenübergestanden; in der Romantrilogie reflektiert er ihre Bedeutung als Verfallssymptom im Motiv der religiösen Sektiererei. Wie bemerkt, übten allein die intellektualistischen, nicht bei der Regression im Gefühl verharrenden Strömungen der Kulturkritik einen spürbaren Einfluß auf Brochs geschichtsphilosophische und literarische Arbeiten aus. Der Zugriff blieb aber auch hier allzuoft an der Oberfläche, wenn nicht der Sprache, so doch der Phänomene, an deren Beschreibung man den >Untergang< der alten Kultur festmachte. Wer wie Broch den Gründen des Verfalls '>

Emil Utitz, Die Überwindung des Expressionismus. Charakterologische Studien zur Kultur der Gegenwart. Stuttgart 1927, S. 167; vgl. auch Stark, Intellektuellendebatte, S. 227. 2

4i

nachfragen wollte, mußte versuchen, den historischen Prozeß geschichtsphilosophisch zu rekonstruieren. Die formale Werttheorie des Neukantianismus bot hierfür zwar das logische Instrumentarium (vgl. Kap. II u. III), leistete aber bei der inhaltlichen Deutung kausaler Zusammenhänge keinen Ersatz für die Schlagworte der Kulturkritik. Broch löste dieses Problem auf der Darstellungsebene des Romans durch die Einführung symbolischer Handlungskomplexe. Hier ist nun mit einer dritten Bedeutung des »Irrationalen« zu rechnen, die für die Interpretation des Romans von entscheidender Wichtigkeit ist. Im Mittelpunkt steht nun das geschilderte Erlebnis des Irrationalen, wie es in der Sexualität, dem religiösen Bedürfnis, dem Traum, der Vision oder selbst der menschlichen Begegnung wie sie etwa Hanna Wendling erfährt (481) - wirksam ist, ohne daß damit schon eine mythisierende Transposition des profan Erzählten gegeben wäre. Die persönlichen, spontanen Empfindungen haben dennoch symbolische Bedeutung, sie weisen über sich und die Personen hinaus, die das Erlebnis des Irrationalen teilen. Denn dieses Erlebnis wird von den Menschen nur deshalb so bedrängend erfahren, weil die »Werte« nicht (mehr) existieren, an die es sich rückbinden und mit Sinn erfüllen ließe. Die eigentliche Handlungsebene des Romans wird auf subtile Weise mit der theoretischen Ebene verknüpft. Je weiter die Auflösung des gesellschaftlichen Normengefüges fortschreitet, desto ungebundener tritt das Irrationale in Erscheinung: in den persönlichen Erfahrungen spiegelt sich der anonym verlaufende historische Prozeß. Vorläufiger Höhepunkt des Wertzerfalls ist der Krieg. Das Irrationale, das mit ihm freigesetzt wird, erscheint auf der Darstellungsebene des Romans an die Figur Huguenaus gebunden, der moralisch völlig indifferent und damit der Situation gemäß handelt (vgl. Kap. III/7). Als Deserteur und gleichzeitig Kriegsgeschäfte betreibender Kaufmann hat er weder Angst vor dem Verlust überkommener Konventionen (Pasenow) noch versucht er seinem Leben in einem neuen Ethos Halt und Sinn zu geben (Esch), sondern nutzt die Lage allein zu seinen ökonomischen Gunsten aus, wobei der Mord an Esch zu einem Teil seines (ir)rationalen Kalküls wird. In dieser Handlungsweise verdichtet sich der »Stil« der Zeit, ihr Wirk lieh keitsbe griff der über die paradoxe Rationalität des Geschehens keine ethische Rechenschaft mehr abzulegen weiß. Der »Zerfall der Werte« kann mit den Möglichkeiten des Romans nicht vollständig erklärt werden, er läßt sich aber in sachlich-rationaler Weise beschreiben und als gesellschaftliches Problem der Gegenwart bestimmen. Das neopositivistische Verdikt über die wissenschaftliche Unhaltbarkeit ethischer Untersuchungen wird damit ebenso umgangen wie die philosophisch noch weitaus fragwürdigeren Deutungen des Verfalls durch die »weltanschaulichen« Bewegungen seit der Jahrhundertwende, die in meist polar strukturierten »geistigen« Kräften und Tendenzen die Ursachen des geschichtlichen Wandels in der Neuzeit zu entdecken glaubten. 246

Broch gehörte wie Musil zu jener Generation expressionistischer Autoren, für die die Krise der Kultur ein unbestreitbares, die literarische Tätigkeit notwendig bedingendes Phänomen darstellte; es galt nur, jenseits der sich in engen Grenzen bewegenden wissenschaftlichen Weltbetrachtung den Standpunkt erkennender Reflexion zurückzugewinnen, von dem aus sich die Frage nach den Gründen der kulturellen und gesellschaftlichen Desintegration der Vor- und Nachkriegszeit neu stellen ließ, in bewußter Distanz zu der irrationalistischen Gebärde der populären Kulturkritik. Es scheint selbstverständlich, daß Broch hier seine Studien zur formalen Wert- und Geschichtsphilosophie zugrundelegte, die aus dem Impuls heraus entstanden waren, eine rationale Theorie der Geschichtserkenntnis auf der Basis der Rickertschen Untersuchungen zu begründen, das hieß : streng methodologisch zu begründen. Darin lag der entscheidende Mangel der Rickertschen Theorie, deren »Formalismus« die Kritiker, oft in Personalunion als Historiker und Sozialwissenschaftler, aufzuheben versuchten (vgl. Kap. II/4). Sollte der »Wert« als Zentrum der kulturwissenschaftlichen Begriffsbildung beibehalten werden - das stand für Broch außer Frage - , mußte das System der Werte und Güter, wie es Rickert allein formal skizziert hatte, auf den realen Geschichtsprozeß bezogen werden. Dieser Prozeß war für Broch mit dem der neuzeitlichen Säkularisierung identisch (vgl. Kap. III), entsprechend jener in den 20er Jahren zum Allgemeingut gewordenen Deutung der abendländischen Kulturentwicklung, die sich - systematisch betrachtet - in der Mitte zwischen empirischer Historie und formaler Geschichtslogik hielt und so zum Kern einer materialen Geschichtsphilosophie werden konnte.1* Damit war ein theoretisches Modell der Geschichtsbetrachtung gegeben, das bei seiner Anwendung auf die Literatur exakt dasselbe Problem aufwerfen mußte, das sich jeder historischen Beschreibung implizit mit der Frage nach der Zuordnung von theoriegeleiteter Erkenntnis, Narrativität und Geschichte stellt. Es war bereits ganz zu Anfang in der Abhandlung >Zum Begriff der Geisteswissenschaften< (vgl. Kap. I) von Broch anhand der klassischen Unterscheidung von resfictae als Reich der Dichtung und res factae als Gegenstand der Historie theoretisch behandelt worden; es stellte sich nun neu für den Bereich der Poesie. Dieses Verhältnis läßt sich einerseits als ein allgemein literaturtheoretisches, andererseits als ein zeitbedingtindividuelles näher bestimmen. Zum einen kann hier auf Ergebnisse neuerer Narrativik-Forschungen hingewiesen werden, soweit sich damit bestimmte Fragestellungen präzisieren lassen, ohne auf der anderen Seite den Bezug zu jenem tragischen Kulturbewußtsein< zu verlieren, das Autoren wie Hermann Broch, Robert Musil u. a. in ihrem Versuch beeinflußte, dem Roman als Medium der Epochendeutung neue Geltung zu verschaffen. 14

Vgl. E. Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme, S. 78 sowie o. Kap. II/4 u. III/6. 2

47

Der Hinweis auf Musil will mehr besagen als eine nur beiläufige Anmerkung zur Gattung des modernen Romans. Die >Schlafwandler< und der >Mann ohne Eigenschaften haben nicht nur Ähnlichkeit in ihrer Themenstellung; als mit Problemen der Geschichte befaßte Literaturwerke weisen sie auch eine Ubereinstimmung in der formalen Konstruktion auf, die mit dem theoriegeleiteten Erzählen zusammenhängt. Das wird später genauer zu zeigen sein, wobei auch die bestehenden Unterschiede zwischen den Autoren Erwähnung finden. Mit den Vorarbeiten zum >Mann ohne Eigenschaften bewegte sich Musil auf einer Ebene mittlerer Allgemeinheit. Die Essays der 20er Jahre lassen deutlich werden, wie sich sein Interesse für die Situation des kulturellen Umbruchs entwickelte, unabhängig von einer weit ausgreifenden Kulturtheorie oder einer formalen Geschichtslogik, in direktem Zugriff zu den »Symptomen« der Zeit. In der Diagnose stimmt er dabei mit Broch weitgehend überein. Der »ideologische Zustand« der Zeit ist für Musil »ungeheuer partikularistisch, ja individualistisch. [ . . . ] Man erklärt dies damit, daß Bindungen, die einst vorhanden waren oder vorhanden gewesen sein sollen, durch die Entwicklung zerstört wurden [...]. Die hauptsächliche Bindung ist heute der Beruf. Mit der Berufsbezeichnung und einem kleinen Zusatz vermag man heute das Wichtigste über einen Menschen zu sagen. [ . . . ] Er hat (außerhalb dieser) keine selektiven und leitenden Ideen.« Mit dem Ersten Weltkrieg ist der Prozeß der gesellschaftlichen Desintegration offenbar geworden: »Welcher Ausschreitungen in Grausamkeits- wie Eigentumsvergehn nicht nur versteckte Neuropathen, sondern auch gute Durchschnittsmenschen fähig sind, haben uns allen, wie ich glaube, die letzten 9 Jahre unsres Lebens gelehrt.« 1 ' Musil schreibt dies 1923, in dem Fragment >Der deutsche Mensch als Symptoms das eine Vorstudie zu dem großen Romanwerk bildet. Doch stärker als Broch in seinem Epilog rät Musil zu »einer positiven Bewertung dieses chaotischen Zustands«. ri Immer wieder betont er den Charakter des Ubergangs, den die Zeit besitzt und für den sie neue, nicht die alten ideologischen Lösungen verlangt. Im Roman zeigt er die suggestive Wirkung jener regressiven ideologischen Strömungen der Jahrhundertwende.'7 '!

Robert Musil, Der deutsche Mensch als Symptom (1923). In: Ges. Werke 8 (s. Kap. III. Anm. 244), S. 1353-1400.

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Ebd., S. 1363. Im Jahr 1921 schrieb Musil einen glänzenden Essay über Spengler: >Geist und Erfahrung. Anmerkungen für Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind«, der im Unterschied zu den wissenschaftlich-papierenen Widerlegungsversuchen verschiedener Fachvertreter genau das Zentrum des Spenglerschen Anliegens traf: »Das sind [ . . . ] die Paradefälle des Kampfes gegen den engen wissenschaftlichen Geist, Intellektualismus, Rationalimus usw. Aber natürlich führt jede Geistesart ihren Troß von Karikaturen mit sich und jener der Gegenseite ist unendlich viel größer. Sieht man im Empiristen nur den von Gott in die Tiefe gebannten Luzifer, so möge man doch nicht vergessen, was das Hauptargument für ihn ist: die

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248

D i e Reflexion im R o m a n sollte den kulturellen »Zerfall« bewußt machen, mit dem Ziel einer grundsätzlichen Neuorientierung des gesellschaftlichen Wertgefüges. D i e expressionistische Kulturkritik hatte dies nicht zu leisten vermocht. Die Destruktion der bürgerlichen N o r m - und Wertvorstellungen hob das >Leiden< an der Gesellschaft nicht auf, sondern verstärkte nur das G e f ü h l der Orientierungslosigkeit, dem man real nichts entgegenzusetzen wußte. 1 8 D a s hing zum Teil mit den literarischen Formen zusammen, die der Expressionismus entwickelt hatte, die er bevorzugte oder von denen er - w i e im Fall der Prosa - nur wenig Gebrauch machte. D i e traditionellen Handlungsromane boten den in der Reflexion über die modernen künstlerischen Formen geschulten Autoren nur wenige A n k n ü p fungspunkte. Sie waren »Erzählungen moralischer Irritationen bei vorausgesetzten, zwischen A u t o r und Leser fraglosen Welt- und Leitbildern. W o diese selbst zerstört sind«, w i e es Broch und Musil mit dem Ersten Weltkrieg als gegeben ansehen, »muß der R o m a n prinzipiell werden: d. h. auf der tieferen Stufe der Begründungsfähigkeit von Werten und N o r m e n operieren.« 1 9

ι. Motiv, Symbol, Traum: Strukturelemente der literarischen Gestaltung D i e Erzähltechnik des Autors ist in der Forschungsliteratur zu den >Schlafwandlern< häufig am Beispiel der Vorspielszene erläutert w o r d e n , die den G a n g des alten Pasenow durch Berlin beschreibt. E s ließen sich mühelos andere Textabschnitte finden, an denen ähnliches gezeigt werden könnte, doch

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•»

Unzulänglichkeit aller philosophischen Engel. Z u r Ehre eines Höheren einen solchen, so gut ich es vermag, in teilweise gerupftem Zustand zu zeigen, nahm ich Spengler als Beispiel.« Musil, a. a. O . S. 1042-1059, hier S. 1049. N o c h in den dreißiger Jahren notiert Musil im Tagebuch: »Ich hole die HauptmißVerständnisse nach, wie ich sie vorfinde«, womit konkret ein 1932 (dem Jahr der >Schlafwandler< und der Fortsetzung des >Mann ohne Eigenschaften^ veröffentlichter Aufsatz von Friedrich Franz v. Unruh - einem jüngeren Bruder des expressionistischen Dichters gemeint ist; Musil exzerpierte sich einige typische Stellen aus diesem konservativrevolutionären Traktat über Nationalistische J u g e n d c auch dies, noch immer, Material zum ideologischen Horizont der »Parallelaktion«. Vgl. Robert Musil, Tagebücher. H g . v. A . Frisé. Reinbek 1976, S. 9j6f. Vgl. Ernst Bloch, Erbschaft dieser Zeit (193 5). Erw. Ausg. Frankfurt/M. 1962, S. 271. Hartmut Böhme, Theoretische Probleme der Interpretation von Robert Musils Roman »Der Mann ohne Eigenschaften«. In: M. Brauneck (Hg.), Der deutsche Roman im 20. Jahrhundert. Bd. 1. Bamberg 1976, S. 181-208, hier S. 190. Vgl. auch D . Scheunemann, Romankrise, S. I46f. - Eine genauere Bestimmung des in der Zeitdiskussion häufig gebrauchten Schlagworts vom »Irrationalen« (vgl. Il/zb) hat Scheunemann nicht vorgenommen, gleichwohl dient ihm die bloße Verwendung des inkriminierten Begriffs bei Broch zur Abwertung des romantheoretischen Anliegens. 249

hat es seinen Grund, warum die Forschung immer wieder die ersten Seiten des umfangreichen Romanwerkes interpretiert: die Erzählweise läßt sich nicht schematisch bestimmen, der dauernde Wechsel der Perspektiven fordert entsprechend flexible Deutungen und läßt selbst für ein einzelnes Textbeispiel konkurrierende Interpretationen zu. Da kein Erzähler im eigentlichen Sinn vorhanden ist, scheint den wechselnden Ebenen und Ansätzen der Beschreibung, durch die der Leser in den Roman eingeführt wird, jedes integrative Moment zu fehlen. Indem der Schriftsteller als Erzähler von objektiven Tatbeständen zurücktritt, erscheint fast alles, was gesagt wird, »als Spiegelung im Bewußtsein der Personen des Romans« (Erich Auerbach). 20 Diese indirekte Form des Erzählens ist von einer hohen Komplexität, sie vermittelt kein einheitliches Bild der Realität, sondern nur die Gedankenreihen, mit denen die verschiedenen Personen über das reflektieren, was ihnen jeweils als Realität entgegentritt. Da es mehr als nur einen Standpunkt gibt, von dem aus die Wirklichkeit beschrieben werden kann, steigert sich für den Leser, der die unterschiedlichen Realitätsbilder zu korrelieren hat, der »Realismus« der Darstellung. 21 Es wird so ein Querschnitt durch das Leben der Epoche gelegt. Der Polyperspektivismus der Erzählweise ist jedoch nicht der einzige Gesichtspunkt, unter dem sich die Eingangsszene des Romans analysieren läßt. Es finden sich weitere Strukturmerkmale, die so etwas wie eine »Lenkungs- und Vermittlungsinstanz« 12 hervortreten lassen, die man traditionsgemäß als »Erzähler« bezeichnen könnte. Die Bemerkung etwa, daß »mit einem Gleichnis noch nichts erklärt ist« 23 - was ironisch wirkt, da die bildliche Sprache bereits auf den ersten Seiten des Romans bestimmenden Einfluß hat—, scheint auf eine souveräne Erzählerposition hinzuweisen. Diese bleibt anonym, sie muß nicht mit der des Ich-Erzählers identisch sein, der im letzten Teil der Trilogie eingeführt wird. Die Rolle des Bertrand Müller, der die Geschichte des Heilsarmeemädchens erzählt, sollte nicht überbewertet werden ; mit der Figur des Bertrand aus den beiden ersten Teilen der Trilogie hat sie nur wenig zu tun. 2 * 20

Erich Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Bern/München (4. A u f l . ) 1967, S. 496. Vgl. auch den Hinweis bei Mandelkow, S.73Í·

21

Ein solches Romankonzept hat später Elias Canetti am Beispiel der >BlendungDie Schlafwandlern (Diss. Masch.) München 1967, S. 7 5 .

22

D . R . Midgley, Entfremdete Erzählhaltung. Z u r Funktion des fiktiven Erzählers in Hermann Brochs >Schlafwandlerauf das Nichts gerichtet< ist. Es finden sich noch weitere Hinweise auf die »Geschäftigkeit« des Ganges und die dahinter verborgene Lebenshaltung »so geht keiner, der Ernsthaftes beabsichtigt«. (12) Doch mit der Bemerkung, Mi

daß man solche charakterologische Studien schließlich »bei den meisten Menschen versuchen« kann (13), wird den gleichnishaften Anspielungen wieder einiges an Tiefe genommen. Gleichwohl ist der Leser mit der symbolischen Sinnwelt des Romans bereits vertraut gemacht worden. Das Motiv des Ganges, die »harten geradlinigen« Schritte des Herrn von Pasenow (47), werden im folgenden noch häufiger erwähnt und von Joachim sogar mit der »halbschrägen Kurrentschrift« (67) verglichen, mit der der Vater seine immer gleichlautenden Mitteilungen an den Sohn richtet. Scheinbar beiläufig erwähnte Eigenschaften verdichten sich so zu Merkmalen eines starren Habitus. Teil einer noch strengeren Motivführung wird der bedeutungsvoll als >dritter Fuß< eingeführte Stock. Am Anfang des zweiten Romans verfolgt der Gewerkschafter Geyring, »die Fußspitze des verkürzten Beines gegen das Holz gepreßt« und sich (als der bewußte Dreifuß) »in aller Eile zwischen den beiden Krücken« einherschwingend, Esch, der »gerne seines Weges weitergeschritten« wäre, »auf die Gefahr hin, mit den Krücken eins über den Schädel zu kriegen« (183). Esch wird dann zwar nicht mit einer Krücke ermordet (dieses den Stock ablösende Requisit spielt in den Parallelgeschichten des letzten Teils der Trilogie eine eigene Rolle 2 '), doch überlegt Huguenau einen Moment, »sollte er ihn mit dem Kolben erschlagen?« (677), bevor er Esch das Bajonett in den Rücken stößt, nachdem er zuvor noch gesprächsweise mitgeteilt hatte: »ich stoße keinen von rückwärts nieder wie andere Leute.« (661) Die Motivkette ist damit längst nicht ausgeschöpft. Es ließen sich noch zahlreiche Bezüge nennen, über die sich der Roman auch inhaltlich aufschlüsseln ließe, was im Zusammenhang mit den hier untersuchten Strukturelementen nicht weiter verfolgt werden soll. Anhand zweier versteckter Motive, durch die die oben zitierten Textstellen noch enger miteinander verknüpft werden, läßt sich die Funktion der symbolischen Sprache und des durch sie geschaffenen signitiven Gefüges im einzelnen bestimmen. Hieß es von dem Gang des behinderten (!) Gewerkschafters, daß der Versehrte »die Fußspitze des verkürzten Beines gegen das Holz« der Krücke gepreßt hielt, so war umgekehrt an der Erscheinung des alten Pasenow zu bemerken, daß die Fußspitze »etwas zu weit nach aufwärts« strebte, »als wollte sie in Verachtung der Entgegenkommenden ihnen die Schuhsohle zeigen.« Wie tief der Symbolwert dieser Anspielungen ist, braucht hier nicht entschieden zu werden, fraglos handelt es sich um kontextuelle und habituelle Signale, die sehr genau der Leitmotivtechnik des Autors gehorchen. Das läßt sich an einer der Traumsequenzen des zweiten Romans überprüfen, wo das 2

> Vgl. Hartmut Reinhardt, Erweiterter Naturalismus. Untersuchungen zum Konstruktionsverfahren in Hermann Brochs Roman trilogie >Die Schlafwandler (Kölner Germanistische Studien Bd. 7). Köln/Wien 1972, S. 52 Anm. 96.

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Motiv der Fußspitze wiederkehrt. Die Fahrt Eschs nach Badenweiler wird zu einer symbolischen Fahrt, zur Lebensfahrt schlechthin, für die alle Sicherheiten des alltäglichen Reisens, wie das Unterwegssein, die Ankunft am Ziel und vor allem das Wissen um den Sinn des Vorhabens, ihre Geltung verloren haben. Das Reisen ist nur der Anstoß, den Bereich des >realistischen< Erzählens mit dem des >reflexiven< zu vertauschen. So heißt es von den Mitreisenden im Zug, daß »ihre Fußspitzen sorgsam nach vorne gerichtet« sind, womit sie, die Reisenden, »auf die zu verfolgenden Geschäfte (deuten). Denn in den Geschäften, die sie betreiben, liegt ihre Gemeinschaft. Eine Gemeinschaft ohne Kraft, doch voller Unsicherheit und voll des bösen Willens.« (331) Damit verliert das Motiv seine O f fenheit, den Charakter des nur assoziativen Andeutens und Verknüpfens. Waren die Fußspitzen des alten Pasenow >auf das Nichts gerichtet^ während die Geyrings einfach an das Holz der sich vorwärtsbewegenden Krücke gepreßt blieben, weisen die Fußspitzen der Reisenden > auf die zu verfolgenden Geschäftes mit denen sie eine letzte Form von >Gemeinschaft< aufrechterhalten, die voller >Unsicherheit und voll des bösen Willens< ist. Dem Leser wird damit - etwas unvermittelt - der symbolische Verweisungszusammenhang erschlossen. Die vollständige Erklärung bleibt allerdings den Exkursen und dem Epilog vorbehalten, wo die Gründe für den »Zerfall der Werte« und die Auflösung der Gemeinschaft in Verbände mit partikularen Interessen - »Geschäft ist Geschäft« (496) - ausführlich dargelegt werden (vgl. Kap. 111/6,γ). Diese Erklärung wird in die erzählerischen Teile des Romans als ein Motiv übernommen, wie etwa im dreizehnten Abschnitt der Heilsarmee-Geschichte, wo das Reisen, das hier eindeutig auf den Geschäftsmann Bertrand bezogen ist, 26 wiederum auf die verlorene >Gemeinschaft< hindeutet (617). Das Bewegungsgesetz der motivischen Anspielungen und Verknüpfungen scheint damit gefunden zu sein: die aus dem Fluß des Geschehens herausgehobenen Elemente werden als Motive im Text mehrfach variiert, schließlich als Symbole gedeutet und im Kontext der Theorie erklärt. Die Exkurse erhalten die Funktion einer Enzyklopädie, die den Zugang zu den bis dahin dunklen Stellen des Romans erschließt. Die Erwartungshaltung des Lesers wird nicht - wie so oft bei modernen Kunstwerken - enttäuscht, da am Schluß des Romans die hermetischen Motivketten und sprunghaften Ideenassoziationen in eine Wert- und Geschichtsphilosophie eingehen, von der her die strenge Architektonik und der gedankliche Aufbau der Trilogie durchschaubar werden. Den Formexperimenten der französischen Symbolisten scheint so die eigentliche Radikalität genommen: Broch benutzt offenbar nur die Technik der assoziativen, fast >magischen< Anspielungen und Verknüpfungen, um die Oberfläche des Realen zu durchbrechen, er läßt jedoch die Bedeutung dieser 26

Vgl. Mandelkow, S. i5of. - Mandelkow gibt keinen Hinweis auf die motivische Verknüpfung der beiden Szenen. 253

vom Kunstwerk erschlossenen Symbolwelt nicht völlig offen. Die Exkurse geben dem Werk einen Rahmen, in dem die Chiffren der Wirklichkeit eine Bedeutung gewinnen, die selbst wieder über das Werk hinaus und auf die eigentliche« Wirklichkeit hinweist, die als »heterogenes Kontinuum« (Rikkert) von einem nur betrachtenden Standpunkt aus weder mit künstlerischen noch mit wissenschaftlichen Mitteln direkt erreichbar ist: » an der Unausführbarkeit eines auf genaues Abbilden gerichteten Erkenntnisstrebens bringen wir uns die Unübersehbarkeit des Wirklichen zum Bewußtsein.« 2 ? Durch die Wiederholung einzelner Motive ergeben sich Gliederungen und Einschnitte in dem vom Künstler geschaffenen >KontinuumEschGute N a c h t , RuzenaSchlafwandler< dieser neuen Sprache bedient, nicht, wie in der symbolistischen Lyrik, in klanglicher oder lautmalerischer Weise, sondern in der A r t der Motiventfaltung. D e r Leser soll durch bloße Anspielungen und Assoziationen, nicht durch unmittelbare Aussagen verstehen; die Andeutungen können sogar offen bleiben: »das Erkennen wird nicht mehr erzwungen.« 2 ' Die Parallele besteht jedoch eher im Formalen, da die Bilder und Motive bei aller abstrakten Konstruktion in den experimentellen Partien des Romans einen - wenn auch keineswegs eindeutigen - inhaltlichen Sinnbezug bewahren.' 0 Broch hat durch »fortgesetzte Verstrebungen« das »Gesamtgerüst« des Romans zu stützen versucht: der theoretische Rahmen ermöglicht vielfache Bezugnahmen und das Anfügen einzelner Elemente, so wie umgekehrt die Einzelheiten den Rahmen deutlicher hervortreten lassen (vgl. K W

13/1,

S. 187). Die Ideenassoziationen der handelnden Personen laufen nicht ins Leere, da ihr gesamtes Verhalten, auch ihre psychischen Reaktionen, nur als der exponierte Teil einer geschichtlichen Bewegung erscheinen, die im Roman festgehalten werden soll - die formalen Möglichkeiten des Erzählens bleiben an diese Intention gebunden, die angewandten »Kunstgriffe« beruhen daher nicht »auf der puren assoziativen Magie des Wortes, des Klanges oder des weißen Raumes um den Satz, wie es bei Mallarmé der Fall war: der Kunstgriff f u n k t i o n i e r t e wenn das suggestive Faktum eine >Richtung< besitzt, d. h., wenn die einmal ins Spiel gebrachte Suggestion durch das allgemeine Bezugsschema 29

Hugo Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik. Erw. Neuausg. Hamburg 1970, S. 121. Es herrscht verständlicherweise Uneinigkeit darüber, auf welchem Weg man sich den hermetischen Gedichten Mallarmés am sinnvollsten, d. h. mit der größten Aussicht auf interpretatorischen Erfolg nähern sollte; fast notwendig kommt es zu einseitigen, jeweils ergänzungsbedürftigen Deutungen. Als >literatursoziologische< Alternative zu den >ontologischen< Analysen Hugo Friedrichs vgl. den Versuch von Peter v. Zima, Krise des Subjekts als Krise des Romans. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 1 (1978), S. 54-77, bes. S. 58f. - Zum »Symbolismus« bei Broch vgl. auch Bruno Markwardt, Geschichte der deutschen Poetik, Bd. V: Das zwanzigste Jahrhundert. Berlin 1967, S. 394, 459 passim. 3° Vgl. Wolfram, Der Stil Hermann Brochs, S. 90.

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gestützt wird. >Richtung< heißt nicht Eindeutigkeit: das Bezugsschema immobilisiert nicht die Suggestion, so als ob sie ein präzises referentielles Zeichen wäre : der Bezug bleibt mehrdeutig, die Bedeutung vielfach ; dennoch bietet das Bezugsschema ihr ein Suggestivitätsfeld, fügt sie ein in den Rahmen einer gegebenen Reihe von möglichen Richtungen.«' 1 Das ist grundlegend für die Motivtechnik des Autors. Die einzelnen Elemente können im Text »offen« verwendet oder an dieTheorie der Exkurse rückgebunden werden, in beiden Fällen bleiben sie Teil der erzählerischen Gesamtbewegung, die das Sinngefüge des Romans aufbaut. »Das Werk als Ganzes stellt ex novo die sprachlichen Bedingungen auf, auf denen es beruht, und wird zum Schlüssel seiner Chiffren. «32 Die Forschung hat die Entwicklung und Verstrebung der einzelnen Motivreihen ausführlich untersucht. An die Ergebnisse dieser Arbeitend läßt sich anknüpfen, ohne daß die verschiedenen inhaltlichen Komplexe, etwa das ParkSchloß-Motiv, die religiöse Symbolik, das Symbol der Uniform oder der Maschine, die zahlreichen Reise- und Inselbilder, die Entfaltung des Amerikamotivs oder der von Huguenau erlebte Ausnahmezustand des Krieges (»Ferien«), nochmals referiert werden müßten; die Untersuchung wird sich auf einige erzählerische Probleme beschränken, die sich einer eindeutigen Interpretation bislang entzogen haben, obwohl sie auf das Zentrum des Werkes hinführen: gemeint sind die Traumsequenzen und die von den handelnden Personen als »Schlafwandler« erlebten Zustände eines höheren Wissens, das »Irrationale« in der oben zuletzt genannten Bedeutung. Die ausgewählten Szenen werden erkennen lassen, wie konsquent Broch die künstlerischen Möglichkeiten des Romans genutzt hat, um seine theoretische Intention zu verwirklichen. N u r kurz erwähnt sei noch eine weitere symbolische Ebene der Erzählung, die im Werk als Zitat erscheint, also nicht selbst durch die Handlung eingeführt wird. Es ist die Figurenkonstellation Joachim/Bertrand/Ruzena, mit der Broch offensichtlich auf die Faustsage anspielt, wie sie Goethe im ersten Teil seiner Tragödie gestaltet hat.

a) Mythische Erzählstrukturen im modernen Roman Broch verwendet den Stoff ironisch, von einem Faustschicksal ist im PasenowRoman nichts mehr zu spüren.' 4 Allenfalls die Sphäre des Dämonischen, die 3" 32

33

Umberto Eco, Das offene Kunstwerk (1962). Übers, v. G . Memmert. Frankfurt/M. 1977, S. 378. Ebd., S. 364 (Hervorhebungen im Original wurden nicht berücksichtigt, F. V.). Hier wären vor allem die Interpretationen von Mandelkow (1962, 2.Aufl 1975), Kreutzer (1966), Reinhardt (1972), Lützeler (1973) und Koopmann (1983) zu nennen.

34 Vgl. hierzu die Studie von Lützeler, Lukács und Broch (1980). 2jé

der Versucher, der »Mephisto« (139) Bertrand um sich verbreitet, scheint die Anspielung zu rechtfertigen. Hier wird sogar ein Motiv des Volksbuches zitiert, um das Teuflische im Wesen Bertrands direkt vorstellbar zu machen durch die fühlbare Kälte, die von ihm ausgeht oder durch die bloße Nennung seines Namens hervorgerufen wird. Elisabeth sagt über ihn in einem Gespräch mit Joachim: »>Es ist ein unruhiger und deshalb wohl auch ein beunruhigender MenschEsch< mit der Figur Bertrands verbunden bleiben. Die Faust-Symbolik hat hier etwas von ihrer Kraft bewahrt, die sich bei den anderen Figuren, wie etwa bei dem Animiermädchen Ruzena, der 'verführten* Margarete, ganz in das ironische Spiel mit dem mythischen Grundmuster auflöst. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Perspektivtechnik der Erzählung: es ist Joachim, dem Bertrand wie ein Verführer erscheint und es ist dessen Rationalität, die der »Romantiker« als Bedrohung der - von ihm bereits in Zweifel gezogenen - gesellschaftlichen Norm- und Wertvorstellungen empfindet. Auf der anderen Seite wird der Schutz, den ihm die Konvention noch gewährt, durch das »Irrationale« und gleichzeitig Unstandesgemäße in der Begegnung mit Ruzena fragwürdig. Beide Erfahrungen verbinden sich für den jungen Pasenow zu dem bedrohlichen Gefühl, ins »Gleiten« geraten zu seines Im zweiten Roman sind es die wirren Erlösungsgedanken Eschs, die Bertrand zum Gegner und schließlich zum »Antichrist« (268) erheben. Für den modernen Roman scheint der bewußt reduzierende und das Vorbild umformende Symbolbezug, soweit er als Motivationsstruktur in das einzelne Werk eingegangen ist, typisch zu sein. Thomas Mann hat den Fauststoff in vergleichbarer Weise bearbeitet. Natürlich spielt in seinem Roman der legendäre Teufelspakt eine größere Rolle als in den >SchlafwandlernSchlafwandlernUlysses< von James Joyce verwiesen, der als das eigentliche Muster des symbolischen Romans in der Moderne gelten kann. Die Forschung hat sich hier eingehend mit dem antiken Vorbild und seiner modernen Adaption befaßt, ohne jedoch Schlüssiges über deren Beziehung mitteilen zu können. Bei Broch stellt sich die Frage in etwas anderer Weise, obwohl - oder besser gesagt: weil bei ihm ursprünglich ähnliche Intentionen wie bei Joyce vorhanden waren; die erste Fassung des Huguenau-Romans hatte Broch durch einen Odysseus-Rahmen eingeleitet, den er J6

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38

z58

Vgl. Gunilla Bergsten, Thomas Manns Doktor Faustus. Untersuchungen zu den Quellen und zur Struktur des Romans. Tübingen (2. Aufl.) 1974, S. 5 yff. ; D. Assmann, Thomas Manns Faustus-Roman und das Volksbuch von 1587. In: Neuphilol. Mitteilungen 68 (1967), S. 130-139. Vgl. Käte Hamburger, Anachronistische Symbolik: Fragen an Thomas Manns Faustus-Roman. In: H . Koopmann (Hg.), Thomas Mann (Wege der Forschung C C C X X X V ) . Darmstadt 1975, S. 384-413, bes. S.406. (Erstdruck des Aufsatzes 1969 in der F S Fritz Martini.) Vgl. Erich Kahler, Säkularisierung des Teufels. Thomas Manns Faust (1948). In: Die Verantwortung des Geistes. Ges. Aufs. Frankfurt/M. 1952, S. 143-162, hier S. 154. Vgl. auch Manfred Frank, »Kaum das Urthema wechselnd«. Die alte und die neue Mythologie im »Doktor Faustus«. In: Fugen. Deutsch-Französisches Jahrbuch für Text-Analytik. Hg. v. M . Frank, F. A . Kittler, S. Weber. Ölten u. Freiburg 1980, S . 9 42·

später, nach der Joyce-Lektüre, aus einsichtigen Gründen aufgegeben hat. 39 Im Anschluß an die folgenden Überlegungen zur Funktion mythischer Erzählstrukturen im modernen Roman soll eine Vermutung darüber angestellt werden, wodurch der ursprünglich geplante Odysseus-Rahmen in den umgearbeiteten Fassungen der Trilogie ersetzt worden ist oder genauer: was ihn überflüssig machte. Wolfgang Iser hat in einer Untersuchung zum >Ulysses< (>Der Archetyp als Leerfonrx, 1971) auf eine merkwürdige Korrespondenz hingewiesen: dem Nichterscheinen der homerischen Figuren in Ulysses scheint die aus ihrer hergebrachten Funktion entlassene Detailfülle des Romans zu entsprechen; dem Ausbleiben des Odysseus stehen die sich selbst präsentierenden, unstrukturierten Materialien gegenüber. 3 '"

Womit der Blick auf die »Appellstruktur« des Romans gelenkt wird, der vom Leser die Integration der unstrukturierten Details verlangt. Das ist eine plausible Deutung des Verhältnisses von antikem und modernem Epos, wenn auch nicht die einzig mögliche. Umberto Eco hat in seiner Interpretation des >Ulysses< (vgl. Anm. 31) zu zeigen versucht, wie unentbehrlich der mythische Rahmen für das Verständnis der Joyceschen Erzählung ist. Die symbolischen Beziehungen im Roman werden durch die dem antiken Muster folgende Zuordnung sinnvoll, sie bleiben nicht dem intellektualistischen Vermögen des Lesers und seiner Kombinationsgabe überlassen (ähnliches ließe sich auch zu den Exkursen und ihrem Verhältnis zu den drei Schlafwandler-Romanen sagen). Mit Iser stimmt Eco jedoch darin überein, daß das Wiedererkennen und Gruppieren der verschiedenen Elemente vom Leser ein hohes Maß an Aktivität verlangt, das konstitutiv wird für das Lesen und Verstehen des Romans. Der Leser erweckt »die Schattenrisse der Anspielungen >zum LebenabzugrenzenSetzung der SetzungErzählers als Idee< an seine Erkenntnistheorie« anschließt, doch dieses Versäumnis erscheint Kreutzer so gering, daß er es mit dem Hinweis auf Brochs Äußerungen zur Relativitätstheorie im Joyce-Aufsatz selbst ausgleicht. 62 Der Analogieschluß 58

" 60

6

'

61

Kreutzer, S. $6f. (Hervorhebungen im Original wurden nicht berücksichtigt, F.V.). Midgley, S. 209. Beeindruckt von der These Kreutzers zeigten sich zuletzt noch Scheunemann (s. K a p . II. A n m . 7 9 , S. i j j f f . ) und R ö h n (s. K a p . III. A n m . 6 1 , S . 6 0 7 ) ; Reinhardt (1972), Lützeler (1973) und M a n d e l k o w ( N a c h w o r t 1975) haben der These K r e u t zers widersprochen. Kreutzer, S. 30. E b d . , A n m . $.

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läßt sich damit allein nicht rechtfertigen. Um ihn überhaupt plausibel zu machen, muß Kreutzer von dem ursprünglichen Gehalt des Prinzips der »Setzung der Setzung« ganz absehen. Broch hatte diesen Begriff als Teil seiner wertphilosophischen Theorie, mit deutlichem Bezug auf den »Logos« (das Reich der irreal geltenden Werte) und die »Verständigung« (das methodologische Prinzip der Wertbeziehung etc.) eingeführt; diese Grundgedanken der Brochschen Wertphilosophie lassen sich keinesfalls von dem erst später entstandenen Joyce-Essay her deuten (es hätte Kreutzer auffallen müssen, daß sich auch in dem Beitrag zu dem von Frank Thieß herausgegebenen Sammelband kein Hinweis auf die Relativitästheorie findet, die Broch, wie der rekonstruierende Interpret vermutet, zu seinen erkenntnistheoretischen Einsichten verholfen haben soll). Der Begriff des »fiktiven Wertzentrums«, den Kreutzer von dem des (methodologisch gleichrangigen) »effektiven Wertzentrums« trennt und fälschlich mit dem »Erzähler als Idee« gleichsetzt, bleibt als terminus technicus der Rickertschen Wertphilosophie unerkannt (vgl. Kap. II/4 und III/7). Wie wichtig die Kenntnis und die richtige Einordnung der Brochschen Frühschriften für das Romanwerk ist, zeigt die fehlgegangene Interpretation Kreutzers sehr deutlich. Die von Broch im Rahmen seiner Wertphilosophie entwickelten Begriffe sind für den Interpreten nicht frei verfügbar, sie lassen sich nicht als Grundlage einer - vom Autor so nicht intendierten - Romantheorie neu definieren. Gegen die Ableitung dieser Theorie sprechen zudem andere, naheliegendere Gründe: indem die Erzählung des Romans von vornherein als unter dem Diktat der Theorie stehend begriffen wird, bleibt als einzige Aufgabe des Interpreten, die jeweilige Stimmigkeit von Theorie und ihrer erzählerischen Verifikation nachzuweisen. [ . . . ] Die Betonung des Modellcharakters dieses Erzählens ist sicher richtig, die schroffe Trennung von Abbildfunktion und Modellfunktion verfehlt jedoch [ . . . ] gerade eine der wesentlichsten Erkenntnisleistungen der Trilogie, durch A u f h e b u n g der Unmittelbarkeit realistischer Widerspiegelung zur Wesenserfassung genau fixierter historischer Realität vorzudringen. 6 ^

Karl Robert Mandelkow bleibt jedoch seinerseits den Nachweis schuldig, wie der Interpret das vom Autor so kunstvoll umkleidete historische Substrat erreichen könne - ein nicht weniger schwieriges Problem als die Frage nach dem theoriegeleiteten Erzählen selbst. Daß diese Fragen in einer etwas ermüdenden Weise immer wieder neu formuliert werden müssen, liegt zum Teil in den Versäumnissen der Forschung begründet. Daran hat auch die ausgezeichnete Untersuchung von Hartmut Reinhardt nur wenig ändern können, obwohl sie eine schlüssige Darstellung der konstruktiven Prinzipien des Romanaufbaus liefert. In einem entscheidenden Punkt bleibt jedoch auch Reinhardt in seiner sonst sehr genauen und 6

3

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Mandelkow, S. 193.

detailkritischen Argumentation befangen. Ähnlich wie Kreutzer findet er keinen Zugang zu der im letzten Exkurs entwickelten wertphilosophischen Theorie. Die angebliche »Tautologie des Erkennens« und damit die »Fiktivität« der philosophischen Theoreme werden dem Denker Broch als Mangel an diskursivem Vermögen ausgelegt. Was Mandelkow als eine genuine Leistung der Reinhardtschen Arbeit hervorhebt, »daß hier die mögliche Infragestellung des philosophischen und ästhetischen Anspruchs der Trilogie als Erkenntnisimpuls zu ihrem Verständnis wirksam wird«, da die »Identifikation mit den Voraussetzungen des untersuchten Werkes [...] eine nur noch hypothetische« 64 sei, erweist sich in Wirklichkeit als ein Nachteil für die Untersuchung, da auch die »hypothetische« Identifikation mit den Voraussetzungen des untersuchten Werkes den Zirkel der Immanenz nur durchschaut, nicht aber aufhebt. Für die Einschätzung des Verhältnisses von Erzählung und gedanklicher Konstruktion hat dies direkte Konsequenzen. Denn wo das Scheitern der philosopischen Ambitionen konstatiert wird, läßt sich die Dichtung als Reflexionsform der ungelösten theoretischen Problematik begreifen, »wenn anders das Innewerden seiner eigenen Fiktivität die konkrete Bestimmtheit ist, welche dieses Denken zur Dichtung hindrängt, der innere Beweggrund dafür, daß es seine Erkenntnisvorgänge in Erzählvorgänge aufgehen läßt.« Und Reinhardt folgert weiter: »Das Gedankliche liegt somit dem Erzählen voraus, aber es erscheint in ihm nicht als bloße Umsetzung, die interpretatorisch wieder rückgängig zu machen wäre, sondern in einer perspektivischen Erweiterung, in der sich seine eigene Problematik spiegeln kann.« 6 ' Dem Schluß läßt sich in gewisserWeise zustimmen, sieht man von den Voraussetzungen ab, auf die er sich stützt. Die im Roman entwickelte Wertphilosophie hat sich ja in ihrem Bezug auf die zeitgenössische Diskussion - die historische Perspektive verdient Beachtung - als diskursfähig erwiesen (vgl. Kap. Π/3,4 u. III/6,7), sie stellt folglich mehr dar als nur das »problematische«, an seinem Gegenstand scheiternde Denken Brochs, das lediglich als negative Folie der Dichtung zitierbar ist. Damit fällt eine Grundannahme der Reinhardtschen These, die als Ganze jedoch eine gültige Formulierung für jenen Verweisungszusammenhang enthält, in dem die Theorie zur Erzählung steht: es ist der einer perspektivischen Erweiterung, die das Gedankliche der Exkurse durch die Erzählung gewinnt. Broch mußte sich bei der Konzeption des Romans die Frage stellen, wie die Figuren der Handlung jenen »Zerfall der Werte« erleben sollten, der als geschichtsphilosophische Theorie dem fiktiven Geschehen vorausliegt, es gleichzeitig aber motiviert und so, nach dem Willen des Theoretikers Broch, an die realen historischen Vorgänge rückbindet. Äußerlich konnten Pasenow und Esch, die Protagonisten der beiden ersten Romane, den >Zerfall< kaum 't 6 >

Ebd., S. 199. Reinhardt, S. 84.

271

spüren, die bürgerliche Welt des ausgehenden 19. Jahrhunderts war materiell und gesellschaftlich zu gefestigt, um deutliche Krisensymptome zu zeigen; diese mußten ins Innere, in die Psyche der Personen verlegt werden. Und hier trat für Broch die Erzählung in ihr eigentliches Recht, da die geschilderten Erlebnisse des »Irrationalen«, Sexualität, Tod, Wahnsinn und Traum, die den Menschen den Verfall der alten Wertorientierungen in dem Gefühl der eigenen Haltlosigkeit bewußt werden lassen, »keinerlei Theoretisierung« gestatten (699), mit den Möglichkeiten des Romans aber erfaßt werden können. Was sich auf der Ebene kulturphilosophischer Erörterungen (im Roman) nicht gesetzmäßig beweisen läßt, wird in seiner Wirkung gezeigt: dem Denken und Handeln der Menschen, wie es sich mit dem Verlust überkommener Wertbindungen verändert. Daß damit wirklich eine perspektivische Erweiterung gegenüber dem theoretischen Entwurf gegeben ist, zeigen die Traumsequenzen des zweiten Romans sehr deutlich. Das Erzählen scheint sich hier am weitesten von jener »ideellen Linie« (Simmel) einer diskursiven historischen Anschauungsform zu entfernen, die sich mit Hilfe der theoretischen Exkurse in die Handlung der Romane einzeichnen ließe. Erst die genaue Interpretation der Szenen macht deutlich, wie eng die narrativen Strukturen auf das theoretische Erklärungsmodell bezogen sind - als erweiterndes und zugleich komplementäres Element der >historischen< Erkenntnis und ihres Wirklichkeitsbegriffs. Der Abstand zur wissenschaftlichen Historiographie ist dabei stets zu beachten. Das fiktive Werk erhält seinen theoretischen Status nicht als Funktion einer zu erfassenden Realität, sondern einer Poetik 66 ; diese ist zwar, wie die Analyse der Exkurse gezeigt hat, an bestimmten Mustern der wissenschaftlichen Geschichtsbetrachtung orientiert, sie unterwirft die Erzählung aber nicht deren Kriterien des referentiellen Bezugs, sondern schafft einen eigenen Erfahrungsraum, in dem sich das vorausgesetzte oder auch nur in Fragen gefaßte >Wissen< über den historischen Prozeß unmittelbar vergegenständlicht, in einer Weise, wie dies im außerfiktionalen Bereich gar nicht möglich wäre. Dieser Verweisungszusammenhang ist der Schlüssel zum Verständnis der Reflexion im Roman und ihrer epischen Integration. c) Die Schichtenkonstruktion des Romans. Theoretische Probleme der Interpretation bei Broch und Musil Nicht ohne Grund ist der Darstellung des Gedanklichen in seiner Bedeutung für die Interpretation des Romans so viel Raum gegeben worden, handelt es 66

Vgl. Karlheinz Stierle, Erfahrung und narrative Form. Bemerkungen zu ihrem Zusammenhang in Fiktion und Historiographie. In: Jürgen Kocka und T h o m a s N i p p e r d e y (Hg.), Theorie und Erzählung in der Geschichte (Beiträge zur Historik B d . 3). München 1979, S. 8 5 - 1 1 8 , bes. S. 98f. u. 109; Ders., Geschehen, Geschichte, Text der Geschichte. In: R . Koselleck u. W . - D . Stempel (Hg.), Geschichte - Ereignis und Erzählung (Poetik und Hemeneutik V ) . München 1 9 7 3 , S. 5 3 0 - 5 3 4 .

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sich doch um ein Verhältnis, dessen Bestimmung für den Literaturwissenschaftler von besonderem Reiz ist. Die Forschung hat ihm entsprechend große Aufmerksamkeit geschenkt. Damit ist freilich nicht alles über den Aufbau der Trilogie gesagt. Der zuletzt beschriebene Zusammenhang von Theorie und Narration diente vor allem der Abwehr extremer Deutungsversuche; für sich genommen, enthält er eine nur oberflächliche Beschreibung des Strukturaufbaus, mit der sich vielleicht die Modernität des Werkes, seine Reflektiertheit, nicht aber sein erzählerischer Reichtum erfassen läßt. Zwischen dem geschichtsphilosophischen Essay einerseits und dem scheinbar theoriefernen, dunkel-anspielungsreichen Traumbericht der Begegnung zwischen Bertrand und Esch andererseits, also zwischen den »rationalen« und »irrationalen« Elementen der Erzählung, entfaltet sich in mehreren Schichten die eigentliche Handlung des Romans (vgl. KW 13/1, S. 15if.). Die Geschichtsphilosophie steht dabei in der Klammer des Fiktiven. Der Leser kann dennoch leicht erkennen, daß jene Fragen, die der Autor am Anfang des ersten theoretischen Exkurses stellt und später wiederholt: die Fragen nach den Ursachen des Krieges und des völligen Zerfalls der bürgerlichen Wertordnungen, sein Denken auch über den Zusammenhang der epischen Epochenschilderung hinaus bestimmt haben. Bemerkenswert ist, daß Broch nicht, wie andere Autoren 6 ?, seine Arbeit an dem Roman in kulturkritischen Essays vorbereitet und kommentiert hat, wozu ihm die in den zwanziger Jahren vieldiskutierte »Krise des Romans« durchaus Gelegenheit geboten hätte. So hat zum Beispiel Robert Musil in verschiedenen Essays und einem 1926 geführten Werkstattgespräch Auskunft über seinen Roman gegeben. Bereits 1920 notierte er: »Die Zeit: Alles, was sich im Krieg und nach dem Krieg gezeigt hat, war schon vorher da. [...] Alles muß man submarin auch schon in dem Vorkriegsroman zeigen.« Und in einer späteren Selbstdarstellung heißt es: »Daß Krieg wurde, werden mußte, ist die Summe aller widerstrebenden Strömungen und Einflüsse und Bewegungen,

67

Vgl. die Ausführungen D. Scheunemanns zu Otto Flake, Thomas Mann, Robert Musil u.a. S. 109: »Es handelt sich hier um die signifikante Umkehr des Folgeverhältnisses von literarischer Theorie und literarischer Praxis, das in den Schriften Heinrich Manns und Döblins im Jahrzehnt zuvor zu beobachten war. Dort bildete der theoretische Vortrieb alternativer Romankonzeptionen das notwendige Geländer, um eine von den weltanschaulichen Dispositionen des Bildungsromans abgehobene erzählerische Praxis auszubilden. Hier dagegen dienten kulturkritische Essayistik und die Romane selbst als Sondierungsfelder, auf denen die als problematisch erfahrene Bildungstradition einer vergleichenden Ubereinsicht mit den antibürgerlichen und demokratischen Kulturauffassungen ausgesetzt wurde; die nachgetragenen Diagnosen zur Romankrise dienten dann vorzüglich zur Absicherung der in verhaltenen Traditionsumbildungen gewonnenen gattungspoetischen Einstellungen und Schreibweisen.«

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die ich zeige.«68 Die Intentionen, die Musil mit dem Roman verband, sind hier in einer knappen Formel zusammengefaßt. Sie überschneiden sich mit dem Vorhaben Brochs, den »Zerfall« der bürgerlichen Welt am Beispiel verschiedener, in ihrer Wertorientierung auseinanderstrebender gesellschaftlicher Gruppen der (Vor-)Kriegszeit zur Darstellung zu bringen. Musil hat das zunächst abstrakt gestellte Thema nicht direkt in symbolische Handlungsvorgänge umgesetzt, sondern im Roman eine »Ebene mittlerer Allgemeinheit« 6 ? eingeführt, die jene »Bewegungen«, »Strömungen« und »Einflüsse«, also Institutionen, Ideologien und Rollen umfaßt, die unabhängig von der Charakterzeichnung der Personen und ihrer Handlungen das Geschehen dirigieren. Im Salon Diotimas treffen die Repräsentanten verschiedener gesellschaftlicher Interessengruppen aufeinander, die unter der äußerlich gewahrten Form der Verständigung und dem »gemeinsamen« Anliegen, der Parallelaktion, den tatsächlichen Verfall des gesellschaftlichen Konsensus, die Morbidität und die »verheimlichte historische Ungleichzeitigkeit«? 0 der Vorkriegsgesellschaft voreinander verbergen. Die bloßen »Sachzusammenhänge«, die eine »Welt von Eigenschaften ohne Mann« bilden (vgl. Kap. 39 des ersten Buches), sind Ausdruck der generellen Normenlosigkeit einer Gesellschaft, die sich in isolierte Funktionskreise aufgespalten hat, welche den einzelnen zum Opfer seiner Rolle werden lassen.?1 Den Widerspruch zwischen den gesellschaftlichen Institutionen, ihren Wertsetzungen und der tatsächlich gelebten »Moral« der Menschen hat Broch vor allem im ersten Teil seiner Trilogie gestaltet. Joachim zweifelt daran, ob er die Ansprüche, die die militärische Ordnung, die Konvention des preußischen Landadels und die Kirche an ihn stellen, erfüllen kann, ja ob diese Ansprüche überhaupt zu Recht bestehen oder ob nicht Bertrand beizupflichten war, der den militärischen Dienst und darüber hinaus die Politik des Reiches, des höch-

68

Musil, Tagebücher, S. 3 5 3f. ; Ders., Was arbeiten Sie? Gespräch mit Robert Musil (1926). In: G e s . Werke 7, S. 9 3 9 - 9 4 2 , hier S . 9 4 1 . - E s ließen sich aus den Tagebüchern und Notizheften Musils zahlreiche ähnliche Stellen zitieren; stellvertretend sei hier nur eine Bemerkung aus dem E x p o s é zum zweiten Band des >Mannes ohne E i g e n s c h a f t e n wiedergegeben: »Wenn ich an die Kritiken des I. Bdes. denke, so bemerke ich immer wieder als etwas ihnen Gemeinsames die Frage, was denn nun wohl oder eigentlich im II. B d . geschehen werde. Die A n t w o r t ist einfach: Nichts oder der beginnende Weltkrieg.« Ges. Werke 5, S. 1844. - Vgl. hierzu auch den grundlegenden Aufsatz von Hartmut B ö h m e (s. A n m . 19). B ö h m e (s. A n m . 19), S. 186.



Ebd.

71

»Mindestens 100 Figuren aufstellen, die Haupttypen des heutigen Menschen: den Expressionisten, die Courts-Mahler, den Schieber, den Psychopädagogen, den Steinerianer usw. Diese Figuren dann durcheinanderbewegen. Psychologisch informieren, wie man es macht, daß die Figuren nicht im Gedächtnis des Lesers verschwimmen.« Musil, Tagebücher, S. 3 5 6 .

2

74

sten Garanten der von Pasenow akzeptierten Ordnung, als »Romantik« und »Spaß« abtat (32). Im Unterschied zu Musil führt Broch zwischen die Ebene der Personen und Handlungen und der ihnen übergeordneten der Institutionen und Rollen noch eine weitere Schicht des Erzählens ein, die den genannten Widerspruch zu einem »erlebten« werden läßt: das Irrationale, wie es Joachim in der Liebe zu Ruzena, dem Tod seines Bruders, der im Duell stirbt, und der Vereinsamung seines Vaters begegnet, die in den Wahnsinn führt. Jede dieser Erfahrungen ist an bestimmte gesellschaftliche Konventionen gebunden (Moral- und Ehrbegriffe, Familie), die sich als unzeitgemäß oder in ihrer Form als überlebt erweisen. Das Erfahrene kann von dem jungen Pasenow nicht bewältigt werden. Das Irrationale tritt im zweiten Roman stärker in den Vordergrund, womit die gesellschaftlichen Institutionen entsprechend an Bedeutung verlieren. Esch fühlt sich zwar auch von der Sphäre der »Uniform« angezogen, doch die »Ordnung«, die sie für ihn garantiert, ist zur Farce geworden: im Hafengebiet, wo er arbeitet, gilt es, das »angeschlagene Rauchverbot zu achten« (196Í.). Institutionen bieten Esch keine feste Orientierung mehr. Arbeitsverhältnisse sind für ihn so austauschbar wie die Städte und die menschlichen Beziehungen, die er dort zufällig knüpft. In den Zielsetzungen einzelner gesellschaftlicher Gruppen kann er sich nicht wiedererkennen. Die Gewerkschaften, die Heilsarmee und Lohbergs vegetarische Vereine sind ihm gleichgültig, er sieht keine Unterschiede zwischen ihnen, da auch hier alles austauschbar ist: »es gibt viel zu viele Vereine«. »Esch sagte: >Wenn es gerecht zuginge, brauchte man Ihre albernen Vereine nicht für die Erlösung, ... ja, ja, wundern Sie sich nur .. .< er schrie fast, >keine Heilsarmee brauchte man, wenn die Polizei die Leute einsperren würde, die es verdienen ... statt Unschuldigem« (239) Die humanen und individuellen Aspekte von Schuld und Opfer lassen sich nicht gesellschaftlich delegieren, ja nicht einmal auf die Gesellschaft beziehen: » nein, nicht mehr nach guten und bösen Menschen, sondern nach irgendwelchen guten und bösen Kräften war die Welt zu ordnen.« (270) Als einzelner unternimmt Esch den Versuch, »Ordnung und Gerechtigkeit« neu zu errichten (33if.); die Zusammenkunft mit anderen in einem Bibelkreis kommt als Orientierung an einer »Gemeinschaft« für Esch zu spät - mit Huguenau ist ihm ein überlegener Gegner erwachsen, der sich den Realitäten anzupassen weiß. Huguenau beherrscht die Sprache der Zeit, da er mit >traumwandlerischer< Sicherheit begreift (438), in welchem Stadium der geschichtlichen und gesellschaftlichen Krise er lebt. Im Begriff der Anomie findet dieser Zustand seine genaueste Bezeichnung. Hochentwickelte, arbeitsteilige Gesellschaften bergen die Gefahr der sozialen Auflösung in sich, die allein durch den Erhalt der für jeden Konsensus unerläßlichen Kollektivnormen abzuwehren ist. Wo das Fehlen solcher Normen und moralischen Leitlinien spürbar wird, etwa in 2

7i

Perioden raschen sozialen Wandels, werden Traditionen und gesellschaftliche Kontrollmechanismen außer Kraft gesetzt. Sind die Bindungen des einzelnen an die Gesellschaft geschwächt, gehen dieser die Möglichkeiten verloren, auf das Verhalten des Individuums einzuwirken. Damit ist ein Stadium der gesellschaftlichen Desintegration erreicht, das Emile Durkheim als Anomie bezeichnete. »Selbst wenn man dem Individualismus in der modernen Gesellschaft einen noch so großen Raum läßt, gibt es doch keine Gesellschaft ohne Disziplin, ohne Einschränkung der Wünsche und ohne Mißverhältnis zwischen dem Streben des einzelnen und der Möglichkeit, seine Bedürfnisse zu b e f r i e d i g e n . E i n e solche Einschränkung der Wünsche kennt Huguenau nicht. Er ist »verstimmt« (543), sobald seine wirtschaftlichen Manipulationen, die er skrupellos und ohne Bedenken in der Wahl seiner Mittel durchzusetzen weiß, auf den geringsten Widerstand stoßen. Ins religiöse gewendet, bedeutet dies die Rückkehr zu einer moralisch indifferenten, »magischen« Weltsicht. Mit dem Verlust der normativen Bindungen ist die Distanz zur Gesellschaft unüberbrückbar geworden. Huguenau lebt in völliger Einsamkeit und »ethischer Autonomie«, er verkörpert die letzte »Zerspaltungseinheit im Wertzerfall«: »Denn mochte er sich auch im Gehaben und in der Lebensführung kaum von jenen anderen unterscheiden, [...] mochte es also auch ein sehr fleischliches, ja massives Leben sein, das hier seinem Tode entgegenrollte, so schien es in einer gewissen Beziehung trotzdem gehobener und luftiger, da er sich mit jedem Tage ausgeschlossener und einsamer fühlte und doch nicht mehr darunter litt: abgegrenzt von der Welt und doch in ihr, rückten ihm die Menschen in stets weitere und ersehntere Fernen, aber er unternahm keinen Versuch, die Ferne zu durchmessen« (Epilog 711). Das auf der Ebene der Handlung Gestaltete wird in den Exkursen und im Epilog theoretisch reflektiert. Die verschiedenen Schichten des Romans sind streng aufeinander bezogen: die oberste, >rationale< Schicht bildet der geschichtsphilosophische Essay; eine mittlere Ebene umfaßt die abstrakte, von den Personen abgelöste Welt der Institutionen, Ideologien und Rollen; wie sich bei den Individuen allmählich eine Distanz gegenüber diesem gesellschaftlichen Norm- und Wertgefüge entwickelt, zeigt die Zwischenschicht des irrationalen Erlebens; der Zerfallsprozeß wird schließlich auf der Ebene der Handlung narrativ gestaltet, am sinnfälligsten dort, wo er seinen Endpunkt 71

R a y m o n d A r o n , Hauptströmungen des soziologischen Denkens, B d . 2 (übers, v. F. Becker). Köln 1971, S. 68. Vgl. auch T h o m a s Luckmann, Lebenswelt und Gesellschaft. Grundstrukturen und geschichtliche Wandlungen. Paderborn 1980, S. 184. W i e aktuell die von Broch aufgeworfenen Fragen nach dem Verlust der Wertbindungen im Zusammenhang mit der Veränderung (»Säkularisierung«) religiöser und anderer gesamtgesellschaftlicher Ordnungssysteme sind, zeigen Untersuchungen zur Religionssoziologie; vgl. etwa Rainer Döbert, Systemtheorie und die E n t w i c k lung religiöser Deutungssysteme. Z u r L o g i k des sozialwissenschaftlichen Funktionalismus. Frankfurt/M. 1 9 7 3 , bes. S. i j i f f .

176

erreicht und die gesellschaftlichen Institutionen ihre bindende Macht verloren haben: im anomischen Verhalten Huguenaus. Musil hat denselben Sachverhalt in anderer Weise erzählerisch realisiert. Was Broch gleichnishaft in der Figur Huguenaus zusammenfaßt, ist bei Musil in die Reflexion Ulrichs eingegangen: »Ulrich, der ausgesprochen handlungsmotiviert ist, ist zugleich extrem handlungsgehemmt, weil sich in ihm das Bewußtsein zusammenzieht, in den Formen vorfabrizierter Rollen nicht mehr sich selbst repräsentieren zu können. Rollenhandeln ist für ihn Entfremdung schlechthin.«73 Die Distanz gegenüber den Normen und Werten einer menschlichen Gemeinschaft, die das Verhalten Huguenaus rein äußerlich kennzeichnet, ist bei Ulrich Gegenstand ausgedehnter Reflexionen über Moral, Psychologie und Gesellschaft. Die Grundfrage ist auch hier der »Zerfall der Werte«, der Isolationismus und Partikularismus im gesellschaftlichen Leben der Menschen, kurz das Problem der Anomie: »Das verselbständigte Unter-System zweckrationalen Handelns weiß sich nicht länger mehr von einer kommunikativen >Ethik< in Dienst genommen, im Hinblick auf welche die Individuen als über die tragenden Werte ihres Zusammenlebens übereinkommen, um auf dieser axiomatischen Grundlage ihre Vereinigung zur Gemeinschaft zu vollziehen.«74 Diese Zusammenhänge nicht nur darzustellen - das hatte die moderne Literatur bereits in den verschiedensten Formen geleistet - , sondern begretfbar zu machen, wird für Broch und Musil zur eigentlichen Aufgabe der Dichtung. Die Ethik ist für Musil »das Heimatgebiet des Dichters, das Herrschaftsgebiet seiner Vernunft.« In der in der >Summa< erschienenen Abhandlung >Skizze der Erkenntis des Dichters< (1918) wird dieser Grundsatz eingehend erläutert: Man versteht das Verständnis des Dichters zur Welt am besten, wenn man von seinem Gegenteil ausgeht: Das ist der Mensch mit dem festen Punkte a, der rationale Mensch auf ratioidem Gebiet. Man verzeihe die Scheußlichkeit des Wortversuchs [...]. Dieses ratioide Gebiet umfaßt - roh umgrenzt - alles wissenschaftlich Systematisierbare, in Gesetze und Regeln zusammenfaßbare, vor allem also die physische Natur; die moralische aber nur in wenigen Ausnahmefällen des Gelingens. [...] Die Tatsachen unterwerfen sich nicht auf diesem Gebiet, die Gesetze sind Siebe, die Geschehnisse wiederholen sich nicht, sondern sind unbeschränkt variabel und individuell. Es gelingt mir nicht, dieses Gebiet besser zu kennzeichnen als darauf hinweisend, daß es das Gebiet der Reaktivität des Individuums gegen die Welt und die anderen Individuen ist, das Gebiet der Werte und Bewertungen, das der ethischen und ästhetischen Beziehungen, das Gebiet der Idee. [...] Dieses ist das Heimatgebiet des Dichters, das Herrschaftsgebiet seiner Vernunft. Während sein Widerpart das Feste sucht und zufrieden ist, wenn er zu seiner Berechnung so viel Gleichungen 75 74

Böhme (s. Anm. 19), S. 194. Manfred Frank, Auf der Suche nach einem Grund. Über den Umschlag von Erkenntniskritik in Mythologie bei Musil. In: Karl Heinz Bohrer (Hg.), Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion. Frankfurt/M. 1983, S. 318 362, hier S. 347.

277

aufstellen kann, als er U n b e k a n n t e vorfindet, ist hier v o n vornherein der U n b e k a n n ten, der G l e i c h u n g e n u n d der L ö s u n g s m ö g l i c h k e i t e n kein E n d e . D i e A u f g a b e ist: i m m e r neue L ö s u n g e n , Z u s a m m e n h ä n g e , Konstellationen, Variable z u entdecken, P r o t o t y p e n v o n Geschehensabläufen hinzustellen, lockende Vorbilder, w i e man M e n s c h sein kann, den inneren M e n s c h e n

erfinden.

Ich h o f f e , diese Beispiele sind

deutlich g e n u g u m jeden G e d a n k e n an >psychologisches< Verstehen, E r f a s s e n u. dgl. auszuschließen. 7 5

Musil hat an diesen Bestimmungen festgehalten. Noch in einer der Vorbemerkungen zu seinem »Nachlaß zu Lebzeiten« (1935) findet sich die Notiz: D i c h t u n g ist lebendiges E t h o s . G e w ö h n l i c h eine Schilderung moralischer A u s n a h men. A b e r v o n Z e i t z u Z e i t auch eine Z u s a m m e n f a s s u n g der A u s n a h m e m o r a l . 7 6

Doch mit welchem Recht beruft sich der Autor in diesen und anderen Kommentaren zu seinem Werk so nachdrücklich auf die Erkenntnisleistung der Dichtung? In den vorangegangenen Abschnitten ist diese Frage bewußt übergangen worden, obwohl sie sich indirekt auch dort stellte, wo Formprobleme der Erzählung, etwa das Verhältnis von theoretischer Reflexion und epischer Gestaltung, erörtert wurden. Abschließend soll nun direkt gefragt werden, ob es sachliche Gründe gibt, die den Anspruch auf »wissenschaftliche« Erkenntnis rechtfertigen, den Broch und Musil an ihre literarischen Arbeiten stellten. Beide Autoren haben das »Problemgebiet des Ethischen« (Broch) als das »Heimatgebiet des Dichters«, mehr noch: als das »Herrschaftsgebiet seiner Vernunft« (Musil) beansprucht, in dem mit literarischen (»nicht-ratioiden«) Mitteln (wie der Darstellung und Abgrenzung des »Irrationalen«) Erkenntnisse zu gewinnen seien, die anders den Wissenschaften verschlossen blieben. Prüft man diese Annahme unvoreingenommen, wird sich herausstellen, daß die Moral tatsächlich dasjenige Wissensgebiet ist, das dem dominanten Prinzip des Stabilisierens und Weiterentwickelns funktionsspezifischer Errungenschaften im Zuge der neuzeitlichen Wissenschafts- und Gesellschaftsentwicklung in eigentümlicher Weise kontrastiert. Zwar hat auch die Moral »eine spezifische Funktion im sozialen System der Gesellschaft, aber sie läßt sich gleichwohl nicht als Teilsystem der Gesellschaft ausdifferenzieren. Ihre Funktion liegt dafür zu tief, sie ist zu sehr mit den Prozessen der Bildung sozialer Systeme verquickt, als daß sie einem Sozialsystem zur besonderen Pflege übertragen werden könnte. [...] Die Moral läßt sich, mit anderen Worten, nicht aus der Gesellschaft herausziehn, auch nicht [...] nach dem Muster von Staat und Kirche oder Produktionsbetrieb, auf die die gesamte Gesellschaft sich direkt oder indirekt bezieht, wenn immer ein Bedarf für moralische Kommu7

'

R o b e r t M u s i l , S k i z z e der Erkenntnis des D i c h t e r s ( 1 9 1 8 ) . I n : G e s . Werke 8, S. 1 0 2 5 -

76

R o b e r t M u s i l , Fallengelassenes V o r w o r t z u : N a c h l a s s z u L e b z e i t e n - Selbstkritik u.

1 0 3 0 , hier S. I 0 2 6 f f . - Biogr. ( 1 9 3 5 ) . I n : G e s . Werke 7 , S. 9 7 1 .

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nikation auftritt. «77 Daraus folgt umgekehrt, daß nur dann Aussagen über die Bedrohung oder den Verfall eines kulturellen Wertgefüges getroffen werden können, wenn man die gesamte Gesellschaft in ihrer Wirklichkeit zu erfassen und zu beschreiben versucht, eine Aufgabe, die auch künstlerisch mit den Möglichkeiten des Romans gelöst werden kann. 2. Verlust der Wertbindungen. Die erzählerische Funktion des Irrationalen a) Der Beginn des Zerfalls: >Pasenow< Die Erzählweise des Autors verändert sich mit den einzelnen Teilen der Trilogie, sie wird der geschilderten Epoche und dem für sie typischen Milieu angeglichen. Der erste Roman erscheint konventioneller als die beiden folgenden, die Welt des preußischen Offiziers und des märkischen Landadels wird in realistischer Weise beschrieben. »Es ist eine möglichst harmlose Erzählung«, wie Broch selbst erläutert, »von gleichmäßigem Tempogefälle und fast ungebrochener naturalistischer Färbung.« (724) Doch damit ist nur die Oberfläche der Erzählung erfaßt. Der Stil ist Teil eines komplizierten epischen Gefüges, dessen Parabolik im folgenden an einigen Beispielen entschlüsselt werden soll. Die Figurenkonstellation und die angedeuteten gesellschaftlichen Konflikte erinnern, wie der Stil des Erzählens, nur äußerlich an die Romane Fontanes, in Wirklichkeit sind sie das Modell eines tiefgreifenden geschichtlichen Wandels. Der zweite Abschnitt gibt ein knappes Porträt der Hauptfigur des Romans. Der Besuch des Vaters ruft in Joachim Erinnerungen an die Familie, seine Kindheit und die erzwungene militärische Karriere wach; er hält es rückblickend für eine »lächerliche Einrichtung, daß der Erstgeborene«, sein Bruder Helmuth, »zum Landwirt, der Jüngere aber zum Offizier bestimmt werden mußte.« (14) Doch das sind zunächst nur beiläufige Gedanken und Assoziationen des Leutnants, der sich den Konventionen seines Standes ganz selbstverständlich unterworfen hat. Der nächste Abschnitt scheint zur eigentlichen Handlung überzuleiten. Vater und Sohn Pasenow unternehmen den obligaten Lokalbummel. Es kommt zu der Begegnung mit Ruzena im Jägerkasino und zu einer etwas peinlichen Szene vor dem Verlassen des Nachtlokals, die den Abstand und die Entfremdung zwischen Vater und Sohn spürbar werden läßt. Etwas unvermutet wird dieser gerade erst angeknüpfte Strang der Erzählung durch eine eingeschobene Reflexion unterbrochen. Die kulturgeschichtlichen Überlegungen zum Thema der »Uniform« (2jff.) lassen sich keiner der Personen eindeutig zuordnen, nicht einmal Bertrand, der »alle 77

Niklas Luhmann, Soziologie der Moral. In: N . Luhmann u. S. H . Pfürtner (Hg.), Theorietechnik und Moral. Frankfurt/M. 1978, S. 8-166, hier S. δ^ί.

279

Ursache« hätte, »über diese Probleme nachzudenken, hatte er doch ein f ü r alle Male die Uniform abgelegt und sich für das Zivilkleid entschieden.« (25) Anders Joachim. Ihm ist das Soldatenkleid »schon wie ein Nessushemd« eingewachsen: »die Uniform (war ihm) Symbol f ü r mancherlei geworden; und er hatte sie im Laufe der Jahre mit so vielen Vorstellungen ausgefüttert und ausgepolstert, daß er, in ihr geborgen und abgeschlossen, sie nicht mehr hätte missen können, abgeschlossen gegen die Welt und gegen das Vaterhaus.«

(2ji.)

D o c h w o v o r schützt ihn die Uniform? Sie ist das Symbol, mehr noch: die sichtbare >Form< einer Ordnung, die fähig ist, das »Verschwimmende und Verfließende« des Lebens aufzuheben: Denn unheimlich war es, daß jeder das Anarchische, das allen gemeinsam ist, unter dem Rocke mit sich herumträgt. Vielleicht wäre die Welt völlig aus den Fugen geraten, wäre nicht im letzten Augenblick die steife Wäsche, die das H e m d in ein weißes Brett verwandelt und einer Unterkleidung unähnlich macht, für die Zivilisten erfunden worden. Joachim entsann sich des Erstaunens seiner Kindheit, als er auf dem Porträt des Großvaters feststellen mußte, daß der kein Stärkhemd, sondern ein Spitzenjabot getragen hatte. Allerdings haben die Menschen damals einen innigeren und tieferen Christenglauben besessen, und sie mußten den Schutz vor der Anarchie nicht anderwärts suchen. (S. 26)

D e r große kulturgeschichtliche Rahmen, in den die Handlung der drei Romane später eingefaßt wird, ist damit bereits angedeutet. Die Anspielungen auf den »Zerfall« einer überkommenen Wertordnung werden im Gang der Handlung immer wieder auftauchen, in Gesprächen oder einzelnen Assoziationen, aber auch an Stellen wie der eben zitierten, die aus dem Fluß der Erzählung

herausgehoben

werden

und

wie

kleine

Kommentare

oder

geschichtliche Reminiszenzen wirken. Im ersten Kapitel des Romans sind es die Reflexionen zur »Uniform«, im zweiten wird es die Beschreibung des Gastzimmers in Stolpin (9iff.) und im dritten Kapitel der breit geschilderte Besuch des »Kaiserpanoramas« ( i 6 j f f . ) sein, die die Aufmerksamkeit des Lesers von der eigentlichen Handlung ablenken und damit Gelegenheit geben, das Geschehen in größerer Distanz, eben »geschichtlich«, zu betrachten. Die Beschreibung des »Jägerzimmers«, in das Bertrand bei seinem Besuch in Stolpin einquartiert wird, zeigt dies sehr deutlich. Es handelt sich um eine f ü r die Interpretation des Romans sehr wichtige Stelle, in der Motivzusammenhänge aufgenommen werden, die dem Leser bereits aus der im ersten Kapitel geschilderten Beerdigungszeremonie vertraut sind. Broch hat hier auf wenigen Seiten verwirklicht, was in seinen frühen Schriften Gegenstand theoretischer Überlegungen gewesen war: die kulturgeschichtliche Beschreibung des »Lebensstiles« einer Epoche am Beispiel des »ruhenden Wertstiles« ( K W 10/2, S. 73) der von ihr überlieferten kulturellen Zeugnisse (vgl. Kap. II). Das große Kruzifix, das noch ganz selbstverständlich zur Einrichtung des herrschaftlichen Raumes gehört, erinnert daran, daß seine Bewohner einst »in einem Hause christlicher Gemeinschaft« lebten (92); 280

Joachim betrachtet dieses Haus als seinen »Besitz«, er empfindet sogar, stärker als früher, ein »Heimatgefühl« (84), als er nach dem Tod seines Bruders das G u t besucht. D o c h hierin zeigt sich nur die Schwäche und die Sehnsucht nach Geborgenheit, wie sie Joachim ähnlich mit dem Symbol der »Uniform« verbindet. D a er nicht mehr jenen >innigen und tiefen Christenglauben wie seine Vorfahren besitzt (s.o.), bewegt er sich in den von ihnen hinterlassenen Gütern (dem Haus, den Möbeln, der Uniform, aber auch der militärischen Konvention und den moralischen Normen) wie ein Fremder, der die Formen achtet, ohne ihnen einen Inhalt geben zu können. Bertrand hat dies erkannt. In dem der Beschreibung des Zimmers unmittelbar vorausgehenden Abschnitt teilt er seine Beobachtungen mit: Joachim und Ruzena schienen ihm Wesen, die nur mit einem kleinen Stück ihres Seins in die Zeit, die sie lebten, in das Alter, das sie besaßen, hineinreichten und das größere Stück war irgendwo anders, vielleicht auf einem anderen Stern oder in einer anderen Zeit oder auch nur bloß in der Kindheit. Bertrand fiel es auf, daß überhaupt so viele Menschen verschiedener Zeitalter zugleich miteinander lebten, und sogar gleichaltrig waren: deshalb wohl ihrer aller Haltlosigkeit und die Schwierigkeit, sich miteinander rational zu verständigen; merkwürdig nur, daß es trotzdem so etwas wie eine menschliche Gemeinschaft und überzeitliche Verständigung gibt. (S. 90)

Auch hier finden sich Vorausdeutungen auf ein Thema, das erst im dritten Roman näher behandelt wird. Für Bertrand ist es vorerst ein ungelöstes Problem, wie es eine »überzeitliche Verständigung« geben kann, auf die sich »menschliche Gemeinschaft« gründet; diese Frage wird zum Mittelpunkt der Wertphilosophie in den Exkursen des »Huguenau« (vgl. Kap. H/3,4 u. III/7), nachdem der Weltkrieg die letzten Grundlagen der alten Gesellschaft zerstört hat. D e m Leser ist jedoch bereits an der zitierten Stelle bewußt, worin die Ungleichzeitigkeit besteht, die das Leben Joachims in Widerspruch zur Realität bringt, da es auf Wertvorstellungen beruht, die vom einzelnen nicht mehr eingelöst werden können. Der Zerfall hat bereits begonnen. In der zum kulturgeschichtlichen Traktat erweiterten Beschreibung des Gastzimmers wird auf diese Tatsache angespielt, wenn es von den früheren Jagdgästen heißt, daß sie bereit waren, ihr Leben »jederzeit für die Ehre des Vaterlandes oder zum Ruhme Gottes zu opfern,« wodurch es einen Sinn bekam und der Tod ohne Furcht hingenommen wurde (92f.). Das Duell, in dem der Bruder Joachims stirbt, macht den Widerspruch deutlich: sein Tod ist sinnlos, die »Ehre«, f ü r die er angeblich einsteht, existiert nicht mehr, das »Opfer« ist zu einer leeren Form geworden. D e r Bruder, Joachim nennt ihn den »Weidman« (46), womit der Zusammenhang zu der eben zitierten Stelle motivisch hergestellt wird, hatte dies selbst geahnt. D e r erste Satz seines Abschiedsbriefes lautet: »Ich weiß nicht, ob ich aus dieser etwas überflüssigen Angelegenheit lebend herauskomme.« (46) Bertrand drückt es im Gespräch mit Joachim noch schärfer aus: »>Das Merkwürdigste ist es doch, daß man in einer Welt von Maschinen und Eisenbahnen lebt und daß zur nämlichen Zeit, in der die Eisenbahnen fahren 281

und die Fabriken arbeiten, zwei Leute einander gegenüberstehen und schießen.Wir nehmen es ruhig hin, daß zwei Menschen [ . . . ] an einem M o r g e n einander gegenüberstehen und schießen. In welcher Konvention des Gefühls müssen die beiden befangen sein und wie sehr sind w i r es selber, daß wir es ertragen können ! Das G e f ü h l ist träge und daher so unverständlich grausam. Die Welt ist von der Trägheit des Gefühls beherrschte« (S. 60) - Die Moral als Bestimmungsgrund des menschlichen Handelns steht im Widerspruch zu den realen gesellschaftlichen Verhältnissen : das Grundthema des Romans wird hier neu variiert.

282

In Joachim ist etwas aufgebrochen, das er rational nicht mehr zu bewältigen vermag. Der Widerspruch, den er in sich spürt und den er in Gedanken >beiseite schiebt< (27), wird durch die äußeren Ereignisse manifest. Der Text bringt dies klar zum Ausdruck. In »harter Fügung« 7 ' folgt auf die Darstellung der Liebesnacht mit Ruzena die Nachricht vom Tod des Bruders und der Bericht von der Beerdigung. War dort das »Futteral« der Uniform abgestreift worden (44), herrscht hier steife Konvention; hatte Joachim in der Begegnung mit Ruzena das »Mysterium der Einheit« erfahren, so fühlt er sich in der angeblichen »Gemeinschaft« der Trauernden 80 fremd und einsam. Vor allem die Schilderung des erotischen Verlangens (42ff.) macht den Gegensatz deutlich, der zwischen der Welt der starren Konventionen und jener Sphäre des irrationalen Erlebens besteht, in die Joachim sich hineingerissen fühlt (die Sphäre des Sinnlich-Elementaren, des »Lebens« selbst, wie es Ruzena verkörpert, wird von Joachim später durch religiöse Vorstellungen und Symbole ersetzt, die in ähnlicher »Absolutheit« erlebt werden; in dieser Doppelheit beherrscht das Irrationale dann die Handlung des zweiten Romans). Die Sprache verändert sich, es werden Bilder gebraucht, die die Auflehnung gegen eine Kultur umschreiben, welche die Freiheit und das sinnliche Glück der Individuen durch die - in Zweifel gezogenen - Gesetze ihrer Moral und Religion unterdrückt, statt diese im Sinne eines >Realitätsprinzips< für das subjektive Empfinden zu legitimieren. »Es genügt, die hierher gehörenden Urbilder aufzuzählen, um die Dimension zu umschreiben, der sie verhaftet sind: die Erlösung der Lust, der Stillstand der Zeit, das Ende des Todes, Stille, Schlaf, Nacht, Paradies - das Nirwanaprinzip nicht als Tod, sondern als Leben.« 8 ' Es sind Bilder der Statik und des erfüllten, aus dem Flttß des Geschehens herausgehobenen Augenblicks. Broch führt sie als Momente des Irrationalen dort in den Text ein, wo sie den Personen plötzlich etwas zu Bewußtsein bringen, das ihre Lage, die vom »Zerfall der Werte« bestimmt ist, verändert und den Widerspruch in ihrem Leben ahnen läßt. Zunächst findet Joachim in der Liebe zu Ruzena jene Geborgenheit, die er auch in der »Uniform« oder seinem »Besitz« gesucht hat. Doch das erotische Erlebnis ist, wie ihm selbst bewußt wird, nur eine Flucht vor dem »unfaßbare[n] Netz des Zivilistischen« (71), das ihn umgibt, das er nicht versteht und das er fürchtet wie die Zweifel und die Rationalität Bertrands: 79 8

°

81

Kreutzer, S. 99; vgl. auch Reinhardt, S. 112. Der Todesfall hat auch eine geschäftliche, also durchaus egoistische Seite: das Erbe. Als ihn der Freiherr Baddensen begrüßt, »wurde Joachim von dem zornig abgelehnten Gedanken ergriffen, es könnte dieser Herr den nunmehrigen Alleinerben Stolpins als erwünschten Schwiegersohn betrachten und er schämte sich für Elisabeth.« (S.48) Herbert Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud (1955). Frankfurt/M. 1968, S. 163. - Marcuse zitiert Beispiele aus den Dichtungen des Novalis, Rilkes, Baudelaires, Valérys und Gides. 283

schön wäre es, von all dem nichts zu wissen und mit Ruzena durch einen stillen Park und an einem stillen Teich zu wandeln. Er stand vor der Börse. Er sehnte sich nach dem Lande. Der Verkehr toste um ihn herum; oben donnerte die Stadtbahn. Er blickte die Passanten nicht mehr an, wußte er auch, daß sie fremdartig und unheimlich aussahen. E r wird diese Gegend fortab vermeiden. Gerade und steif hielt sich Joachim v. Pasenow mitten im Gewoge vor der Börse. Er wird Ruzena sehr lieben. (S. 58) War es bei der Beerdigung der Gedanke an Ruzena, der sich Joachim als »unzüchtig« aufdrängte, ist derselbe Gedanke hier nur Ausdruck der Hilflosigkeit und der Hoffnung, eine Zuflucht zu finden; die Konvention erweist sich jedoch als stärker, da Joachim »die N ä h e der Garnisonskapelle« sucht, die ihm »Kraft und Schutz vor dem Bösen«, also mehr als nur das flüchtige Gefühl der Zusammengehörigkeit gewähren soll (57). Auch Ruzena gehört zu jenem »Zivilistischen«, das für Joachim nur Unsicherheit bedeutet. Die Liebe wird für ihn zu einem »angstvollefn]«, »unheimliche[n]« und schließlich »hoffnungslose[n] Spiel« (i27f.): zwischen dem Freund und der Geliebten, unzuverlässig sie beide, zwischen diesen beiden Zivilisten, fühlte er sich wie zwischen zwei Mühlsteine der Taktlosigkeit geraten und hilflos vermählen. Es roch nach schlechter Gesellschaft, und manchmal wußte er nicht, ob Bertrand ihm Ruzena zugeführt hatte oder ob er durch Ruzena zu Bertrand gelangt war, bis er erschrocken gewahr wurde, daß er der verschwimmenden und verfließenden Masse des Lebens nicht mehr habhaft zu werden vermochte und daß er immer rascher und immer tiefer in irre Hirngespinste glitt, und alles war unsicher geworden. A l s Ausweg bleibt ihm nur die Rückkehr in die Werte und Konventionen seines Standes, die Aufhebung aller Zweifel und irritierenden Erfahrungen, die ihm dieses Erbe entfremdet haben: »Es war ihm recht, daß er am Sonntag Kirchendienst hatte.« (128) Während der »militärischen Kulthandlung« wiederholt sich das Erlebnis des Irrationalen, ein Moment des Statisch-Visionären, das Joachims Entscheidung gegen Ruzena zu bestätigen scheint: das religiöse Erlebnis Stelle des erotischen,82

tritt an die

N o c h am selben Tag vollzieht der Leutnant v. Pasenow

den ersten Schritt der auferlegten »Prüfung« (130, 139, i$8), welche zur Trennung von Ruzena und zur Heirat Elisabeths führt, die von ihm zu einer »Heiligen Handlung« stilisiert wird. N u r so lassen sich die Schuldgefühle aufheben, die sein Verstoß gegen die überlieferte Wertordnung erzeugt hat. 82

284

Vgl. Reinhardt, S. ii6f.: »Die hier erwachende >Religiosität< wird so als eine Fluchtposition kenntlich, deren angeblich doch >überirdische< Wahrheit sich nur aus »irdischen« Requisiten zusammensetzt. Das Mittel, diese Flucht in eine neue Fiktion vor der Realität abzuschirmen, wird der Gedanke sein, die Kontraste zwischen Vorstellung und Wirklichkeit als eine »Prüfung« zu nehmen, die um der »kommenden Gnade< willen bestanden werden muß. Aber der Roman reißt diese Kontraste immer wieder auf und legt so im Durchbrechen der »romantischen« Stilisierung gleichermaßen ihre realen Bedingungen wie ihre Irrealität frei.«

Die Handlungsweise Joachims läßt sich nicht als individuelle Reaktion auf frühere Erfahrungen >ontogenetisch< erklären. Solche Zusammenhänge werden bei Broch allenfalls angedeutet, nicht aber psychologisch motiviert (das Erlebnis des Irrationalen setzt diese Motive), sondern auf komplexe kultursoziologische Gründe zurückgeführt. Auch in dieser Hinsicht muß man das IV. Kapitel des Romans in seiner immanent-poetologischen Bedeutung ernstnehmen, denn tatsächlich erklären die »Materialien zum Charakteraufbau« (179) nicht das Individuum Joachim v. Pasenow, sondern lösen es als Konstrukt auf; sein »Charakter« erscheint als Manifestation überindividueller, geschichtlicher Mechanismen. Damit wird eine der stärksten ideologischen Befestigungen der modernen Kultur - die Vorstellung von der Autonomie des einzelnen - untergraben. Was hier zum Niederschlag kommt, in den Assoziationsfolgen und schlafwandlerischen Erlebnissen, die das Individuum in seinem Verhalten festlegen, ist das Ergebnis langer historischer Prozesse, deren Ursprüngen wert- und geschichtsphilosophisch nachgefragt wird, am fiktiven Beispiel typischer Grundhaltungen oder »Lebensformen« (735) - als Strukturen der Wertverwirklichung im kulturellen und individuellen Leben - , wie Broch in Anlehnung an Eduard Spranger formuliert (vgl. Exkurs u. Kap. III/7). Das schließt nicht aus, daß das Irrationale in der beschriebenen Epoche für die Lebensorientierung der Menschen tatsächlich eine Rolle gespielt hat, mehr noch: zu einem kulturellen Phänomen wurde, wie die geistesgeschichtlichen Strömungen der Zivilisationskritik, Lebensphilosophie, Agrarromantik und einer allgemeinen Mythophilie bestätigen. Auf diese zweite Bedeutung des Begriffs im Werk Brochs wurde eingangs hingewiesen; in den beiden folgenden Teilen der Trilogie ist diese Bedeutungsebene, die vom Autor im Motiv der »Sektiererei« mit ironischer Distanz in den Roman eingeführt wird, stärker zu berücksichtigen. In andererWeise kennzeichnet auch die Begegnung zwischen Bertrand und Elisabeth, die das Verhältnis Joachims zu Ruzena spiegelt, das Erlebnis des Irrationalen, den aus dem Ablauf der Ereignisse herausgehobenen Moment des Statischen. Er ist nur - der Charakterzeichung der Personen entsprechend - >reflektierterErlösungOrdnung muß gemacht werden. D e r eine sitzt unschuldig und der andere läuft frei herum; umbringen müßte man ihn, oder sich selber müßte man

290

umbringen.< [ . . . ] Wenn Martin ohne Überzeugung und ohne besseres Wissen und niemandem zu Danke sich opferte und Rüben fraß, so tat er es wohl um des bloßen Opfers willen. Vielleicht mußte man sich erst opfern, damit - wie sagte doch dieser Idiot in Mannheim? - damit man die G r ö ß e der Erlösung erfahren könne. A b e r dann brauchte vielleicht Ilona auch die Messer um des puren Opfers willen; wer mochte sich da auskennen [ . . . ] . (S. 2 3 9 / 2 6 5 )

Diese Gedanken entstehen beiläufig und wie zufällig werden sie sich später zu dem Plan zusammenschließen, Bertrand zu ermorden, da nur so »das Chaos, in dem alles leidend verstrickt war, in dem Freund und Feind verbissen und doch kampflos ineineinanderlagen« (273), durchdrungen und erlöst werden kann. Doch was wie ein Stenogramm wirrer Assoziationen erscheint, beruht auf der strengen erzählerischen Kalkulation des Autors. Nichts ist hier »zufällig«. Broch hat den Mechanismus des Symboldenkens bei seiner Hauptfigur genau zu erfassen und zu gestalten versucht. Dort, wo sich aus dem »anarchischen« Denken und Erleben mythische Grundstrukturen (Opfer, Erlösung etc.) herauszulösen beginnen, dringen sie ereigniserzeugend in das >reale< Geschehen ein. Schließlich werden fast alle Handlungsstränge von Eschs religiös-irrationalen Impulsen gelenkt und vorangetrieben. Das äußere Geschehen wird zwar - stärker sogar als im >Pasenow< - milieugetreu geschildert, doch mit dieser realistischen, auf genauer Beobachtung beruhenden Beschreibung werden die in der Handlung des Romans abstrakt angelegten Gegensätze und Paradoxien nur noch stärker herausgearbeitet: Esch, der sich nach einer universalen Ordnung sehnt, ist in seinem eigenen Handeln von einer ungesteuerten Impulsivität, die ihn zu einem Teil jener Tendenzen macht, die zur Auflösung fester Orientierungen beitragen; die »Opfer«, die er bringt, scheinen oft mehr Zweck als Mittel zur »Erlösung« zu sein, wenn er etwa die Mannheimer Stellung kündigt, um sich »mit seiner eigenen Person« (243) in den »Dienst« der Damenringkämpfe zu begeben, durch die Ilona, die »Gekreuzigte«, aus den »Fängen Korns« (232) und des Messerwerfers befreit werden soll und die mit der geplanten Reise nach Amerika seiner Hoffnung auf Erlösung ein visionäres Ziel geben. Broch hat diese banalen Vorgänge und wirren Phantasien deshalb so genau protokolliert, weil sie ein überzeugendes Bild von dem historischen Stadium geben, das der Wertzerfall - den geschichtsphilosophischen Prämissen zufolge - im Jahr 1903 erreicht hat. Esch empfindet den Verlust der Wertbindungen, ohne, wie Pasenow, an einer vorgegebenen Ordnung Halt finden zu können; die Suche nach Orientierung findet Ersatz in mythischen Bildern und Vorstellungen. Das ist das Grundthema des Romans. Der Autor hat jedoch zweifellos mehr beabsichtigt als nur die erzählerische Gestaltung einer geschichtsphilosophischen These. Der reale Zeithintergrund wird hier aus dem Roman keineswegs ausgeschlossen, er ist, wie oben bemerkt, hier sogar eher spürbar als in den zitathaften Vorgängen des 291

>Pasenowautonomes< Individuum, das sein organisierendes Zentrum verloren hat. Die sehr dichten und suggestiven Milieuschilderungen, die Kneipe und die Figur Mutter Hentjens, die Wohnung des Geschwisterpaares Korn und der Varietébetrieb, gehören dabei zu den künstlerisch gelungensten Teilen der Trilogie. Die Schilderung des Milieus läßt die moralischen und religiösen Irritationen Eschs, die durch den Verlust der Wertbindungen hervorgerufen werden, nur noch glaubhafter erscheinen. Die theoretische Ebene der Erzählung wird auch hier mit der narrativen eng verbunden. Die Parabolik der Handlung tritt vor allem an den Stellen klar hervor, wo die Grundlinie der Erzählung auf die Traumsequenzen, den Höhepunkt des Romans, hinführt. Nachdem Esch sich in den Dienst des Ringkampfunternehmens gestellt hat, erkennt er plötzlich bei einem Besuch des Hafens, der ihn an seine alte Arbeitsstelle bei der »Mittelrheinischen« erinnert, den eigentlichen Urheber aller Un-Ordnung in der Welt; denn dort, beim Anblick der »verhaßtefn] Firmenaufschrift«, erhob sich hoch über all dem dreckigen Gesindel der kleinen M ö r d e r eine Gestalt, vornehm und überlebensgroß, die Gestalt eines hochanständigen Menschen, kaum Mensch mehr zu nennen, so weit und hoch war sie entrückt, und dennoch Gestalt des Ubermörders, unvorstellbar und drohend erhob sich das Bild Bertrands, des schweinischen Präsidenten dieser Gesellschaft, des warmen Bruders, der Martin ins Gefängnis gebracht hatte. U n d diese vergrößerte und eigentlich unvorstellbare Gestalt schien die der beiden kleineren Schächer in sich aufzunehmen, und manchmal war es, als müßte man bloß diesen Antichrist treffen, um auch alle geringeren Mörder der Welt zu vernichten. [ . . . ] U n d während Esch den Kai entlang streunte und ihm die Tafel der Mittelrheinischen Reederei A G . wieder entgegenblickte, sagte er laut und deutlich: >Entweder er oder ich.< (S. 268)

Die wenigen Eindrücke und Andeutungen, die Esch von der Person und der Macht Bertrands bisher erhalten hat (durch Geyring, den Portier im Vorzimmer des Präsidenten, den sozialdemokratischen Redakteur und die durch die Polizei aufgelöste Gewerkschaftsversammlung), genügen ihm, um die derart erhöhte und unerreichbar erscheinende Gestalt Bertrands als den eigentlichen Gegner, den »Antichrist« auszumachen, hinter dem die Person Nentwigs und die des Ehemannes von Mutter Hentjen verschwinden. Esch besucht 292

die »Lokale der gleichgeschlechtlichen Liebe« (294), um mehr über Bertrand, den »warmen Bruder«, zu erfahren. Und dort, im Gespräch mit Harry, der von Bertrand mit denselben Worten spricht, die im >Pasenow< zwischen Elisabeth und Bertrand gefallen sind, reift in Esch der Entschluß, den Präsidenten der Schiffahrtsgesellschaft zu töten: Also auch das Leben dieses Knaben hatte jener zerstört; er wollte Harry etwas zuliebe tun und sagte unvermittelt: >Wir wollen diesen Bertrand erschießen.< (297)

Gegenüber Lohberg und Geyring (}ΐ6ί.) bestärkt sich Esch in dem Vorhaben, ein >endgültiges< Opfer zu bringen: »»Entweder er oder ichLiebe< zu Mutter Hentjen - in einer Engführung auf den Punkt der >Begegnung< zwischen Esch und Bertrand gerichtet.«86 In dem Vorspruch zur zweiten Traumsequenz wird dann der Grund genannt, warum Esch diese (ir)reale Begegnung sucht: Daß einer komme, der den Opfertod auf sich nimmt und die Welt zum Stande neuer Unschuld erlöst: aufsteigt solch ewiger Wunsch des Menschen bis zum Morde, aufsteigt solch ewiger Traum bis zur Hellsichtigkeit. Zwischen geträumtem Wunsch und ahnendem Traum schwebt alles Wissen, schwebt das Wissen vom Opfer und vom Reich der Erlösung. (S. 333)

Broch hat hier konsequent die vielen Einzelelemente des irrationalen Erlebens, die Erlösungs- und Opfersehnsüchte seines Protagonisten, zum Endpunkt eines mythischen Schemas geführt; nur in dem archaischen Ritual des Mordes können sich jene auf die Wiederherstellung der Ordnung gerichteten religiösen Ur-Ideen Eschs erfüllen. Der von dem Roman immer wieder thematisierte Zusammenhang zwischen dem Verlust der tradierten Wertbindungen und dem gesteigerten Verlangen des Individuums nach Orientierung, welche sich nur in dunkel-anspielungsreicher Symbolik zu artikulieren vermag, erreicht hier ihre äußerste Zuspitzung; was die Erzählung dabei an Realismus einbüßt, gewinnt sie an Gedanklichkeit zurück, indem sie die mythische Interdependenz so genau wie möglich bezeichnet - im Bild des Opfermords. Die klassische anthropologische Soziologie (zu Lévy-Bruhl vgl. o. III/7) spricht dem Opfervorgang eine doppelte Funktion zu, »nämlich Gewaltcharakter zu haben und zugleich Steuerung zu sein. Denn der Opfervorgang markiert jenen Grat, von dem das Soziale und das Symbolische ihren Ausgang nehmen: das Thetische, das die Gewalt lokalisiert und aus ihr einen Signifikanten macht. Weit davon entfernt, Gewalt zu entfesseln, zeigt der Opfervorgang vielmehr, daß sie durch Repräsentation aufgehalten und in eine 86

Kreutzer, S. 144.

293

Ordnung überführt werden kann; zugleich zeigt er, daß jedwede Ordnung auf Repräsentation beruht. Doch es kommt nicht zum Mord, sondern nur zu einem vertrauten »traumhaften« Gespräch zwischen Esch und Bertrand, in dem sich Bertrand erneut, wie im ersten Teil der Trilogie, als »Arzt« und Ratgeber bewährt. Seine Voraussagen, die hier zum ersten Mal die in den Exkursen und im Epilog entwickelte Geschichtsphilosophie auf das Geschehen im Roman beziehen, deuten die Handlung des folgenden Teils. Bertrand sagte leichthin, gleichsam als Nebenbemerkung: >Viele müssen sterben, viele müssen geopfert werden, damit Platz für den erkennenden liebenden Erlöser geschaffen werde. Und erst sein Opfertod erlöst die Welt zum Stand der neuen Unschuld. Vorher aber muß der Antichrist kommen, - der Wahnsinnige, der Traumlose. Erst muß die Welt luftleer werden, ausgeleert wie unter einem Vakuumrezipienten, . . . das Nichts.« [...] Bertrands Hand machte eine kleine, etwas verächtliche, hoffnungslose Bewegung. >Keiner sieht den andern im Dunkel, Esch, und die fließende Helligkeit ist nur ein Traum. Du weißt, daß ich dich nicht bei mir behalten kann, so sehr du die Einsamkeit fürchtest. Wir sind ein verlorenes Geschlecht, auch ich kann bloß meinen Geschäften nachgehen. [...] Ja, Esch, - ans Kreuz geschlagen. Und in letzter Einsamkeit von der Lanze durchbohrt und mit Essig gelabt. Und dann erst mag jene Finsternis hereinbrechen, in welche die Welt zerfallen muß, damit es wieder licht und unschuldig werde, jene Finsternis, in der keines Menschen Weg den Weg des andern findet [.. .].< (S. 3 3 8f.)

Eschs Versuch scheitert, die Ordnung in der Welt und in seinem Leben durch die Tat zu erzwingen. Er kehrt zurück und »fürchtet die Stärke seines Traumes, der vielleicht nicht zur Tat, wohl aber zu neuem Wissen geworden ist.« (340) In der Traumbegegnung hat sich die Sehnsucht nach einer neuen Welt zu dem Bewußtsein geklärt, »daß diese erst im vollständigen Durchschreiten der Destruktionsphase erstehen kann, als welche der dritte Roman die >Sachlichkeit< darstellt.«88 Der Mord, die eigentliche Intention der Reise Eschs, kommt als die Tat eines einzelnen mit dem Ziel, ein Zeichen zur Erneuerung der Ordnung zu setzen, zu früh·, sie widerspricht dem Ablauf der geschichtlichen Ereignisse, die vom Wertzerfall bestimmt sind und sich, der geschichtsphilosophischen Konstruktion gemäß, erst im Krieg und der Revolution, also in der Tat Huguenaus erfüllen werden. Deshalb kann sich der Mord im zweiten Roman gar nicht ereignen. An seine Stelle tritt die prophetische Voraussage, die in das Dunkel des Traumberichts und seiner abundanten religiösen Sprache verhüllt wird. Dieses Traumgespräch hat eine doppelte Funktion: zum einen erfüllt es die irrationalen Antriebe Eschs, die einem mythischen Schema entsprechend 87

88

Julia Kristeva, Die Revolution der poetischen Sprache (übers, v. R. Werner). Frankfurt/M. 1978, S. 83Í. Vgl. auch Claude Lévi-Strauss, Das wilde Denken (1962). Übers, v. H . Naumann. Frankfurt/M. 1973, S. 2 J 7 f f . Reinhardt, S. 192 Anm. 144.

294

zum »Mord« hätten führen sollen, nun aber in der vagen Erkenntnis, »daß im Realen niemals Erfüllung sein könne« (379), enden; zum anderen wird durch die Prophezeihungen Bertrands ein Bogen zur Handlung des dritten Romans gespannt, welcher nicht nur das Geschehen in den Traumsequenzen des >Esch< - rückblickend auf den Roman - erklärt, sondern auch einen Umriß der geschichtsphilosophischen Konstruktion gibt, die - über das erzählerische Mittel der Vorausdeutung - die Neugier des Lesers weckt, den Ablauf der von ihr bestimmten Ereignisse zu erfahren, die hier nur ganz unbestimmt, eben »traumhaft«, angedeutet werden. Über die Handlung des >Huguenau< bleibt nur wenig hinzuzufügen. Die Zwischenschicht des irrationalen Erlebens, die im Mittelpunkt dieses Interpretationsversuches stand, spielt im dritten Roman nur eine untergeordnete Rolle. Huguenau handelt losgelöst von allen Normen und Werten in einem Zustand gesellschaftlicher Anomie (vgl. IV/ic); für ihn existiert kein »Irrationales«, das den Verlust der Wertbindungen (Esch) oder den Abstand spüren läßt, den das Individuum gegenüber den Konventionen seines Standes und seiner Kultur eingenommen hat (Pasenow). Bei Huguenau setzt sich das Irrationale im Handeln selbst frei, da der Handelnde keinerlei Wertbindungen mehr besitzt. Die Gewalt, die im Opfergang als symbolische Repräsentation einer Ordnung gebunden ist (so im Duell, wie es im ersten Roman beschrieben wird bzw. in den Mordplänen Eschs im zweiten), wird hier entfesselt als eine in sich sinnlose Tat (vgl. III/7). Huguenau agiert nicht, er reagiert nur auf die Verhältnisse, die er vorfindet und mit denen er sich - allein seine egoistischen Interessen verfolgend fraglos abfindet. Die geschichtliche Entwicklung wird im Endstadium des Wertzerfalls zum eigentlichen Antrieb der Handlung, Huguenau zu ihrem zerstörerischen Werkzeug. Das Irrationale ist nur noch ein Moment der (erzählerischen wie geschichtsphilosophischen) Konstruktion, es wird nicht mehr als psychologisches Motiv der Romanhandlung integriert: »Die Schiene, auf der Huguenau das Objekt des >Hasses< findet, den ihm der belgische Pfarrer in der >Prüfungszeit< eingepflanzt hat, bewegt sich im Dunkelreich des >IrrationalenHenkersPfarrersNeue< (vgl. o. Abschnitt III/7) besteht nur für den Landwehrmann Gödicke, der durch den Tod (den Mord Huguenaus) bereits hindurchgegangen ist. -

9

°

Ebd., S. 153. Vgl. Koopmann, S. 159: »Auch hier handelt es sich um Schlafwandelnde, die allein von ihrer Beziehung zum Einst hier noch zu leben imstande sind. Und diese Parallelgeschichten erfüllen das, was Broch sich von ihnen versprach, als er seinen Roman mit ihnen als begleitende, das eigentliche Geschehen spiegelnde und widerspiegelnde Erzählungen ausstattete. [...] Sie ergeben, für sich genommen, keinen Sinn, sondern erhalten diesen erst durch ihre Beziehung zur Hauptgeschichte und zu den übrigen Parallelgeschichten, so wie sie diesen wiederum erst von sich aus eigentliche Bedeutung geben.«

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Literaturverzeichnis

Es wird kein Anspruch auf wissenschaftlich vollständige Erfassung der angesprochenen Sachbereiche erhoben. Eine umfassende Broch-Bibliographie mit allen bis 1971 erschienenen Titeln hat Klaus W. Jonas zusammengestellt (vgl. u. >Broch-Brody: Briefwechsel·); eine Bibliographie der seither veröffentlichten Sekundärliteratur wird in dem Sammelband: »Hermann Broch. Neue Studien und EssaysKW< zitiert, unter Angabe der (arabischen) Band- bzw. Teilbandnummer und Seitenzahl. Häufig verwendete Abkürzungen bedeuten: KW ι : Die Schlafwandler. Eine Romantrilogie KW 9/1 : Schriften zur Literatur / Kritik KW 9/2 : Schriften zur Literatur / Theorie KW 10/1 : Philosophische Schriften / Kritik KW 10/2 : Philosophische Schriften / Theorie K W 1 3 / 1 : Briefe (1913-1938) Der Briefwechsel zwischen Hermann Broch und Daniel Brody wird zitiert nach: Berthold Hack und Marietta Kleiß (Hg.), Hermann Broch - Daniel Brody: Briefwechsel 1930-1951. Mit einer Vorbemerkung von Herbert G. Göpfert und einer Broch-Bibliographie von Klaus W. Jonas. Frankfurt/M. 1971. Abkürzung: »Broch-Brody : Briefwechsel·. II. Quellentexte a) zu Philosophie, Psychologie, Wert- und Geschichtstheorie Ach, Narziß: Über die Erkenntnis a priori insbesondere in der Arithmetik (Teil I). Leipzig 1913. Adler, Max: Kausalität und Teleologie im Streite um die Wissenschaft (Marx-Studien Bd. 1). Wien 1904. Apelt, E.F.: Die Theorie der Induction. Leipzig 1854. Barth, Paul: Die Philosophie der Geschichte als Soziologie. Leipzig (2. Aufl.) 1915. Bauch, Bruno: Studien zur Philosophie der exakten Wissenschaften. Heidelberg 1911. - Wahrheit und Richtigkeit, In: Festschrift Volkelt. München 1918, S. 40-57. - Wahrheit, Wert und Wirklichkeit. Leipzig 1923.

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Mannheim, Karl 6, 12, 71, 154, 156-158, 177, 181, 187, 188, 195, 198, 224 Marcuse, Herbert 187, 283 Marcuse, Ludwig 117 Markwardt, Bruno 2 f f Marquard, Odo 4, 142, i¡2, 154, i f f , 267 Martens, Gunter 167, ι86 Martin, Alfred von 197t, 209 Marty, Anton 61, 69 Mayer, Dieter 190 Mechler, W. 20 Meinong, Alexius von 69, 96, 117 Meja, Volker if6 Menges, Karl 2, 135, 20f, 221 Messer, August 40 Meyer, Conrad Ferdinand 180-183, 2 ° 9 Michelet, Jules 208 Midgley, D . R. 2fo, 269 Mill, John Stuart 23, 61, 100 Misch, Georg 113 Mischel, Theodore 43, 44, 8f Mises, Richard von 243 Möhler, Armin 190 Mommsen, W.J. 112 Moog, Willy s 9 Mörchen, Helmut 178 Moser, Justus 103 Mosse, George L. 191 Muchembled, Robert 206 Mühlmann, Wilhelm E. 173 Müller, Adam 197 Müller-Freienfels, Richard 83, 85, 109III, H3Í, 165 Müller-Seidel, Walter 21 f Münch, Fritz 33, i05f, 130, 138, 143, 148 Münch, Richard 13 Münster, Arno 193 Münsterberg, Hugo 82, 91, 92, 102, 114, "7 Münzer, Thomas 193 Musil, Robert 9, 69, i n , 158, 164, 168, 177Í, 193, 201, 222, 2 3 9 , 2 4 3 , 247-249, 261, 272-275, 277Í Muth, Karl 186 Muth, Wulfried C. 20f Nadeau, Maurice 48 Nassen, Ulrich 11 Natorp, Paul 43, 78, 81, 102, 108, 216 Nelson, Leonard $6, 70, 71 Neurath, Otto 126, 159, 243

Newton, Isaac 24, ΐ γ ί Niekisch, Ernst 180, 190 Nietzsche, Friedrich 96, n o , 139, 156, 165-169, ιγγί, i 8 j , 201, 204, 2o8f, 211, 215, 216 Nipperdey, Thomas 16 Nohl, Hermann 155, 157 Novalis 203Í, 28} Olschki, L. 209 Osterkamp, Ernst 196 Osterie, Heinz D. 3, 187 Pannenberg, Wolfhart 97t Panofksy, Erwin 84, 154, 157 Perpeet, Wilhelm 156 Petersen, Klaus 175 Pichler, Hans 40 Pikulik, Lothar 208 Pinkerneil, Beate 118 Piaton 128, 139t Plessner, Helmuth 45, ¡01, 193, 202 Poincaré, Henri 30 Popper, Karl Raimund 20, 27, 128, 130 Prewo, Rainer 16, 43, 65 Proß, Wolfgang 11, 205, 210 Prümm, Karl 17j, 196 Quine, Willard van Orman 28, 126, 128 Raabe, Paul 186 Ranulf, Svend 119 Rasch, Wolfdietrich 192, 20J Rathenau, Walther 201 Rehberg, Karl-Siegbert 46 Rehm, Walter 118, 208 Rehmke, Johannes 61 Reinach, Adolf 27 Reinhardt, Hartmut js, 215, 234, 2¡2, 254, 2}6f, 262, 267, 269, ιγοί, 28jf, 289 Reininger, Robert 82 Rényi, Edit 181 Richter, Karl 240 Ricken, Heinrich 3 , 5, 7, i6f, 25, 31-39, 43. 45. 49. 5if> 5J-58. 63-72. 74. 77. 9of, 94, 97f, 103, 112, 120, 122-124, 129-138, 140-146, 148, 150-153, 159, 166, 167, 172, 206, 212, 2L4Í, 223, 229, 232-235, 239, 243Í, 247, 254, 270 Riegl, Alois 1 5 4 , 1 5 6 ^ 2 1 8

Riehl, Alois 27, 29, 34, 3 7 , 3 9 Riha, Karl 84 Rilke, Rainer Maria 230,283 Ringer, Fritz K . 4, 165, 176, 206, 216 Ritzel, H . 28 Rothacker, Erich 72, 124, 154-157, 176 Rothe, Wolf gang 164, 200, 217 Rudolph, Hermann 161, 182 Rüsen, Jörn 241 Russell, Betrand 126, 128 Rütte, Heiner 233 Salin, Edgar 209 Salomon, Gottfried 204 Sautermeister, Gert 261 Schäfer, Dietrich 210 Scheler, Max 42, 69, 119, 143, 158, 186, 196, 204,243 Schelling, F. W.J. 142,154 Scheunemann, Dietrich 83, 249, 269, 273 Schiller, Friedrich 207 Schlant, Ernestine 3, 128 Schlegel, Friedrich 204 Schleiermacher, F. D. E. 26,28 Schlick, Moritz 7, 34, 38f, 40, ¡6, 68, 87, 128, 243 Schluchter, W. 112 Schmarsow, August 118 Schmitt, Carl 124, 165, 184-186, 189, 191, 196-198 Schmucker, Joseph F. 228 Schnädelbach, Herbert $6, 87, 128, 132, 176,21s Scholz, Heinrich 23, 76, 127 Schönert, Jörg 178, 240 Schröder, Hans Joachim 8$ Schröder, Jürgen 215 Schulz, Walter 176 Schumacher, Joachim 195 Schütz, Alfred 6, 41, 43, 45, 179 Sengle, Friedrich 177 Seyfarth, C . 43 Siemsen, Hans 192 Sigwart, Christoph 23f, 28f, 71 f Simmel, Georg 42, 113, 129, 1 5 3 , 2 / / Smith, Harry 122 Solé, Jacques 206 Somló, Felix 130 Sontheimer, Kurt 178 Sorge, Reinhard Johannes 190 Spalek, John M. 190

31S

Spengler, Oswald 4, 83t, i2of, 152, 154, 156, 158-160, 167, 177, 183, 187, 196, 201, 204, 248, 261 Spranger, Eduard 34, 42, 54, 74, 86, 94, 104, 113, 119, 121, 145-148, 155, 165, 216, 233-235, 285 Srubar, lija 43 Ssalagoff, Leo 12$ Stark, Michael 7/9, 164, 166, 192/ Stegmüller, Wolfgang 24, 128 Stehr, N . i ; 6 Stein, E. 42 Steinecke, Hartmut 161, 164, i6j, i8j Steinvorth, Ulrich 8, 132 Stern, Fritz 79/ Stern, William 74, 81, 107-110, 113 Sternberg, Kurt 28, 34 Stierle, Karlheinz 272 Strauss, Leo 52, ιγ6 Strich, Fritz 83, ιιγ, n8 Strich, Walter 83, 85, 109-111, n 6 f , 1 1 9 121, 137, 165 Ströker, E. 101 Stumpf, Carl 92 Taubes, Jacob 18 f Thieß, Frank 190, 270 Tonelli, Giorgio 27 Tönnies, Ferdinand ιιγ, 165 Topitsch, Ernst 217 Toulin, Stephen 8 Trendelenburg, Adolf 32, 154 Troeltsch, Ernst 12, 25, 40, 51, ;2, ιιγ, 119, I 2 0 > I 2 I > I 3°> VJ> 153, 172, I7Î-Ï77» 2 I 2 > 2 i 6 > 2 3 2 > 247 Trommler, Frank ij8, 191 Tucholsky, Kurt 164, 178 Tugendhat, Ernst 96 Üner, Elfriede 106 Unruh, Friedrich Franz von 249 Utitz, Emil 61, 74, 108, 245 Vaihinger, Hans 69, 116 Valéry, Paul 283 Vasari 207 Venzlaff, Hubertus 92 Vietta, S. 166 Vischer, F. Th. 16 Vondung, Klaus 217

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Wagner, Richard 209 Waismann, Friedrich 30 Walzel, Oskar m Wassermann, Jakob 230 Weber, Max 5, 12, 16, 41, 43, 45, 52-54, 77,97, ii2f, 1 1 9 - 1 2 1 , 1 2 4 , 1 3 1 , 1 3 2 , 1 4 5 , 148, I52Í, I72Í, 197, 206,2/0, 212, 232 Weierstraß, Karl 126 Wein, Hermann 44 Weininger, Otto 85, 146 Weischedel, Wilhelm 167 Weiss, Ernst 164 Weiß, Johannes 43 Weiss, Konrad 186 Weltsch, Felix 79 Wentscher, Max 88 Werfel, Franz 190 Werner, Renate 208 Weyl, Hermann 126 Whewell, William 24 Wiederhold, Konrad 69 Wiener, Norbert 128 Wiese, Benno v. 118 Windelband, Wilhelm 26, 28f, 40, 42, 45, 54, 61-63, 7 2 Wittenberg, Erich 119 Wittgenstein, Ludwig 8, 161 f Wölfflin, Heinrich 118 Wolfram, ErnaW. 2 0 ; , 255 Worringer, Wilhelm 219 Wundt, Wilhelm 23, 41, 44, j g , 80-82, 85-92, 101, 107, 112, 114, 117, 123 Wust, Peter 188 Wuthenow, R.-R. 260 Zech, Paul 190 Ziegler, Klaus 164 Zima, Peter v. 2 5 ; Ziolkowski, Theodore 20¡, 2 2 0 , 2 / 9 Zmegac, Viktor 3 Zocher, Rudolf 129

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