Kritik der Hirnforschung: Neurophysiologie und Willensfreiheit 9783050061528, 9783050045016

Da das Gehirn naturkausal determiniert ist, ist der Mensch in seinen Handlungen nicht frei. Das ist der populärste und u

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German Pages 222 [224] Year 2008

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Kritik der Hirnforschung: Neurophysiologie und Willensfreiheit
 9783050061528, 9783050045016

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Christine Zunke

Kritik der Hirnforschung Neurophysiologie und Willensfreiheit

Christine Zunke

Kritik der Hirnforschung Neurophysiologie und Willensfreiheit

Akademie Verlag

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Gesellschaftswissenschaftlichen Instituts Hannover www.gi-hannover.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-05-004501-6 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2008 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Lektorat: Mischka Dammaschke Einbandgestaltung: Petra Florath, Berlin Satz: Francisco Gomez Rieser, Oldenburg Druck: MB Medienhaus, Berlin Bindung: Norbert Klotz, Jettingen-Scheppach Printed in the Federal Republic of Germany

Inhalt

Vorsatz

8

Einleitung: Das Gehirn - ein symbolisch kontaminiertes Organ Ich denke, also bin ich mein Gehirn?

9 10

1.

Es gibt keinen empirischen Beweis der Freiheit Weder im empirischen Material ... noch in der empirischen Subjektivität

15 16 21

2.

Vom Problem der Neurobiologie, das Phänomen Bewusstsein zu erfassen Samuel Thomas Soemmerring, Ueber das Organ der Seele Die Bestimmungen von Ich und Bewusstsein bei Gerhard Roth . . . .

32 33 37

3.

Das Subjekt unserer Handlungen: Kann der Mensch, wie er will oder will er, wie er muss? Das Gehirn - Subjekt ohne Subjekt

44 47

„There's more to the picture / Than meets the eye" Der prinzipielle Fehler eines Menschenbildes Umwelt und Anlage Die Würde des Menschen ist nicht Erscheinung Demuts- und Machbarkeitsphantasien Naturwissenschaftliche Definition und moralischer Appell

56 59 61 63 66

4.

5.

Der Wille als Gefühl: Zur Architektonik einer funktionalen Lüge Hirnforschung erklärt die menschliche Natur (als) der kapitalistischen Produktionsweise gemäß Denken und Fühlen Der Hirnstoffwechsel und die Psyche Bewertung ohne wertendes Subjekt? Ideologisches Bewusstsein

. . .

68 68 71 73 79 86

6

6.

7.

8.

9.

INHALT

Das Verhältnis von Hirnforschung und Psychologie Erste Person, Dritte Person und transzendentale Einheit der Apperzeption Zwei Perspektiven - worauf? Die Nichtreduzierbarkeit Hinter den zwei Perspektiven steckt das Leib-Seele-Problem Bewusstes und Unbewusstes Subjektives und Objektives Freiheit, Ich und Zeit: Das Libet-Experiment Freiheit als Bedingung a priori von Naturwissenschaft überhaupt Freiheit ist kein Gegenstand empirischer Wahrnehmung Grund und Ursache

.

.

. .

.

91 93 97 100 103 106 110 112 117 124

Freiheit und Erkenntnis Neuroepistemologie als Verirrung zwischen Innen und Außen . . . . Konstruktivismus als Umschlag von Materialismus in Idealismus . . Selbstbewusstsein ist notwendig frei Ohne Freiheit ist keine Erkenntnis möglich

129 133 142 144

Geistevolution Das Urprinzip Die Wissenslücke Die Evolution Die kulturelle Evolution

145 146 148 150 160

10. Freiheit und Herrschaft Freiheit in der bürgerlichen Gesellschaft Die Wendung der Freiheit nach Innen Die Verkehrung von Freiheit in Herrschaft Freiheit ist Grund und Legitimation moderner Herrschaft

.

165 166 174 181

11. Das Gehirn als Material und Idee Von der schlechten Unendlichkeit neuronaler Verknüpfungen unter der Idee der synthetischen Vollständigkeit menschlichen Denkens . . . Die Antinomie von Gehirn und Geist Die Emergenztheorie Die Antinomie von Gehirn und Geist ist konstitutiv für das Menschsein . . Der Widerspruch ist praktisch vermittelt in der Arbeit

190 195 196 201 205

12. Schluss: Widerlegt die moderne Hirnforschung die Willensfreiheit? .

207

.

.

Literaturliste

212

Verzeichnis der Namen

220

Das limbische System umfasst auf unterster Ebene Zentren für elementare, d. h. lernunabhängige affektive Zustände (Wut, Furcht, Lust, reaktive Aggression bzw. Verteidigung, Flucht usw.). Sie rufen in uns die bekannten vegetativen Reaktionen und die damit verbundenen emotionalen Zustände hervor. Zu diesen Zentren gehört der mediale Hypothalamus, das Zentrale Höhlengrau, der Zentralkern der Amygdala und Teile des mesolimbischen Systems, die alle in engem Zusammenhang mit dem vegetativen Nervensystem stehen. Diese Ebene ist nur schwer bewusst zu steuern, und die in ihr ablaufenden Prozesse stellen zu einem guten Teil das dar, was wir Persönlichkeit nennen. Gerhard Roth, Fühlen, Denken, Handeln Das Zentrale Höhlengrau ist neben dem Hypothalamus und dem Zentralkern der Amygdala das wichtigste Zentrum für angeborene affektive Zustände und Verhaltensweisen. Gerhard Roth, Wie das Gehirn die Seele macht Alle Menschen denken sich dem Willen nach als frei. Daher kommen alle Urteile über Handlungen als solche, die hätten g e s c h e h e n s o l l e n , ob sie gleich n i c h t g e s c h e h e n s i n d . Gleichwohl ist diese Freiheit kein Erfahrungsbegriff, und kann es auch nicht sein, weil er immer bleibt, obgleich die Erfahrung das Gegenteil von denjenigen Forderungen zeigt, die unter Voraussetzung derselben als notwendig vorgestellt werden. Auf der anderen Seite ist es eben so notwendig, daß alles, was geschieht, nach Naturgesetzen unausbleiblich bestimmt sei, und diese Naturnotwendigkeit ist auch kein Erfahrungsbegriff, eben darum, weil er den Begriff der Notwendigkeit, mithin einer Erkenntnis a priori, bei sich führet. Aber dieser Begriff von einer Natur wird durch Erfahrung bestätigt, und muß selbst unvermeidlich vorausgesetzt werden, wenn Erfahrung, d. i. nach allgemeinen Gesetzen zusammenhängende Erkenntnis der Gegenstände der Sinne, möglich sein soll. Daher ist Freiheit nur eine I d e e der Vernunft, deren objektive Realität an sich zweifelhaft ist, Natur aber ein V e r s t a n d e s b e g r i f f , der seine Realität an Beispielen der Erfahrung beweiset und notwendig beweisen muß. Ob nun gleich hieraus eine Dialektik der Vernunft entspringt, da in Ansehung des Willens die ihm beigelegte Freiheit mit der Naturnotwendigkeit im Widerspruch zu stehen scheint, und, bei dieser Wegescheidung, die Vernunft in s p e k u l a t i v e r A b s i c h t den Weg der Naturnotwendigkeit viel gebahnter und brauchbarer findet, als den der Freiheit: so ist doch in p r a k t i s c h e r A b s i c h t der Fußsteig der Freiheit der einzige, auf welchem es möglich ist, von seiner Vernunft bei unserem Tun und Lassen Gebrauch zu machen; daher wird es der subtilsten Philosophie eben so unmöglich, wie der gemeinsten Menschenvernunft, die Freiheit wegzuvernünfteln. Diese muß also wohl voraussetzen: daß kein wahrer Widerspruch zwischen Freiheit und Naturnotwendigkeit ebenderselben menschlichen Handlungen angetroffen werde, denn sie kann ebensowenig den Begriff der Natur, als den der Freiheit aufgeben. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten

Vorsatz

Die Hirnforschung hat lange versucht, die in der Philosophie behandelte Freiheit des Menschen mit einer neuen Grundlage zu versehen. Den Grund für die Freiheit des Menschen möchte sie als physiologische Ursache im Gehirn finden, um hiermit erklären zu können, was menschliche Freiheit eigentlich sei. Doch die Hirnforscher bemerken zunehmend, dass sie das, was sie suchen, mit ihren Methoden nicht finden. Und so stellt sich bei ihnen mehr und mehr die Vorstellung ein, dass es menschliche Freiheit gar nicht gäbe. Aus der Philosophie wissen wir, dass Freiheit und kausale Determination sich ausschließen. Folglich lässt sich Freiheit nicht aus kausaler Determination ableiten. Dies bedeutet, dass sich a priori sagen lässt, dass Freiheit nicht in den naturkausalen Funktionen des menschlichen Gehirns lokalisiert werden kann. Aus dem Zentralen Höhlengrau fuhrt kein Weg zum metaphysischen Ort menschlicher Freiheit. Der hier aufgezeigte Weg zur Erkenntnis menschlicher Freiheit beginnt ebenfalls bei den Resultaten der Hirnforschung, jedoch nicht, um die Freiheit als eine determinierte Organfunktion festmachen zu wollen - was immer ein Widerspruch ist - sondern um auf die Bedingungen zu reflektieren, die solche Resultate überhaupt erst ermöglichen. In der Reflexion über die Fragen und die Forschungsergebnisse der modernen Neurophysiologie erweist sich zum einen die Freiheit als deren notwendige Bedingung. Zum anderen wird mit dem Erkennen dessen, was Freiheit ist, deutlich, was genau diejenigen verpassen, welche die Freiheit zunächst im Cortex suchten und sie verwarfen, als sie sie dort nicht finden konnten. Sie verpassen das Aufzeigen der Möglichkeit einer freien Menschheit, deren Freiheit sich gesellschaftlich realisierte. Der Weg über die Reflexion der Bedingungen der These vom unfreien Willen zeigt so auch deren politische Implikationen: Wer die Freiheit des Menschen als abstrakte leugnet, verhindert zugleich ihre Verwirklichung. Diesen Weg der Reflexion von der Hirnforschung zu ihren Bedingungen und Implikationen zu gehen ist die Aufgabe des vorliegenden Textes; er ist damit keine bloße Analyse, sondern Kritik der Hirnforschung.

Einleitung Das Gehirn - ein symbolisch kontaminiertes Organ „Die moderne Hirnforschung verdankt ihre jüngeren Impulse weniger großen Entwicklungssprüngen ihrer Theorienbildung als vielmehr bedeutenden technischen Entwicklungen."

Seit das Gehirn als Denkorgan identifiziert wurde, entlädt sich an ihm der ideologische Gehalt der Gesellschaft. Anthropologische Grundsatzfragen nach Freiheit und Autonomie werden seit dem Beginn moderner Hirnforschung im Hinblick auf die neuronale Beschaffenheit unseres Gehirns diskutiert. Dabei betätigt sich die Naturwissenschaft als kulturelle Praxis, wenn sie, indem sie neues Wissen hervorbringt, zugleich ethische Werte modifiziert. An die auf der durchgehenden Naturkausalität der Hirnvorgänge basierenden Annahme, der Mensch habe keinen freien Willen, knüpfen sich dann aktuelle Debatten über moderne Pädagogik oder das Strafrecht und die prinzipielle Schuld(un)fähigkeit des Menschen. Das menschliche Gehirn steht aufgrund seiner Funktion als Denkorgan repräsentativ für die gesamte Persönlichkeit des Menschen und als Gesamtheit aller Gehirne für die Gesellschaft. Es ist somit in besonderem Maße Träger einer ethischen und ideologischen Konnotation. Der Umfang der Untersuchungen genialer, krimineller, weiblicher, wahnsinniger, terroristischer, ausländischer oder debiler Gehirne während der letzten zweihundert Jahre ist deutliches Indiz für die biopolitische Bedeutung der Hirnforschung. Weil alles Denken nichts ist als sein gedachter Inhalt, kann auch ein Denkorgan nicht jenseits dieses bestimmten Inhalts, nicht jenseits des Gedachten, untersucht werden. Indem dasjenige, was es repräsentieren soll - nämlich das menschliche Selbstbewusstsein - nicht in dem neuronalen Material erscheint, aber als dessen Wirkung begriffen werden soll, enthält das Gehirn für den Naturforscher immer ein unverstandenes Moment. Dieses unverstandene Moment des Gehirns schlägt leicht um in die Überhöhung dieses Organs zum Sinnbild alles dessen, was den Menschen ausmacht. So pathetisch wie im Pantheon der Gehirne in Moskau 2 wird das Cerebrale im 21. Jahrhundert zwar bislang nicht zelebriert, aber derselbe sakrale Gehalt liegt in der Geste, mit der auch der

1 „Psychologie im 21. Jahrhundert", in: Gehirn & Geist 7/8, 2005. 2 In den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurde dort neben anderen Gehirnen vor allem das Lenins (als Nachbildung) ausgestellt, dessen ,Genialität' sich nicht nur in seinem Wirken als Staatsmann, sondern auch noch posthum durch eine Besonderheit der Pyramidenzellen in der dritten Rindenschicht seines Gehirns beweisen lassen musste.

10

EINLEITUNG

Laie die bunten Abbildungen ,des Denkens' aus dem Tomographen mehr bestaunt als sein eigenes, ihm allgegenwärtiges Bewusstsein. Der Forschungsgegenstand ,Gehirn' ist aufgrund seiner besonderen Natur immer auch Projektionsfläche für Theorien über gesellschaftliche Zustände. Da diese aufprojizierten Theorien nicht von dem naturwissenschaftlichen Sachverhalt getrennt werden und nicht getrennt werden können, ändern sich mit dem gesellschaftlichen Wandel auch die Funktionszuschreibungen des Gehirns. Das Wissen um diese Geschichtlichkeit des Gehirns als Gegenstand der Naturwissenschaften hilft dabei, die heutige gesellschaftliche Rolle der Hirnforschung und ihre politischen Implikationen zu begreifen. Schon der unmittelbare Vorgänger der modernen Hirnforschung hat den Kopf betrachtet und dabei über den Geist sinniert. Seit der Schädellehre, die sich aus den Vermessungen des Kopfes Rückschlüsse auf den Charakter oder das Talent erhoffte, hat sich an der Struktur der Theoreme nicht viel geändert. Die modernen technischen Verfahrensweisen haben es lediglich ermöglicht, den Fokus heute unter die Schädeldecke zu verlagern. Der Erkenntnisfortschritt im Material ist enorm, aber bezogen auf das Begreifen der Vermittlung zwischen neuronaler Aktivität und Denken hat kein Fortschritt stattgefunden. So kann die Philosophie heute auf moderne Hirnforscher avanciert damit antworten, dass sie klassische Autoren wie Immanuel Kant heranzieht, die an metaphysischen Gegenständen wie der Freiheit oder der Einheit des Selbstbewusstsein das expliziert haben, was bei deren Behandlung durch die Hirnforschung implizit mitgetragen wird, aber unverstanden bleibt. Hierbei erweist sich, dass die Reflexion über den ideologischen Gehalt der Projektionen geistigen Vermögens auf das Gehirn die Probleme der zeitgenössischen Hirnforschung nicht vollständig fasst. Denn trotz der Berechtigung aller Ideologiekritik ist das Gehirn das Organ, mit dem wir denken - und damit muss es symbolisch kontaminiert sein, nämlich mit allem gedachten Inhalt. Dieser Inhalt des Bewusstseins ist nicht Teil der neuronalen Struktur, aber ohne den Rekurs auf ihn kann das Gehirn in seinen Funktionen nicht begriffen werden.

Ich denke, also bin ich mein Gehirn? Das Gehirn ist das Organ, mit dem wir denken. Dieser Satz birgt die gesamte philosophische Problematik der Hirnforschung: Das Leib-Seele Problem, die Möglichkeit oder Unmöglichkeit eines freien Willens, die Bedeutung und Funktion unseres Selbstbewusstseins. Der Begriff Organ geht auf das griechische Organon zurück, was Werkzeug bedeutet. Ein Werkzeug wird über die Funktion bestimmt, geeignetes Mittel zu einem bestimmten Zweck zu sein. Wenn das Gehirn das Organ ist, mit dem wir denken, heißt dies, dass das menschliche Gehirn zum Denken da ist. Es ist aufgrund seiner materiellen Beschaffenheit in spezifischer Weise darauf ausgerichtet, Denken zu erzeugen. Das

ICH DENKE, ALSO BIN ICH MEIN GEHIRN?

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Denken wäre so eine Wirkung des Gehirns. Wird jedoch zugleich Denken als Intelligibles begriffen, das gerade n i c h t m a t e r i e l l und damit n i c h t o r g a n i s c h ist, dann beinhaltet schon der Begriff,Denkorgan' einen Widerspruch. Denn ein Intelligibles kann nicht die Wirkung eines Materiellen sein, da physische Ursachen physische Wirkungen zeitigen. Dieser Widerspruch lässt sich offenbar nicht vermeiden. Denn obwohl die Inhalte des Bewusstseins nicht materiell im Organ erscheinen,3 kann der Begriff des Gehirns das Intelligible nicht ausschließen, da dieses Organ sonst (zumindest teilweise) der Zuschreibung zu seiner Funktion beraubt wäre und damit unverstanden bliebe. Eine Folge hiervon für neurophysiologische Theoreme ist, dass Subjekt und Objekt der Erkenntnis zu verschmelzen drohen. Wenn wir erkennen, dass das Gehirn das Organ ist, mit dem wir denken, und man also gemäß bekannter Kausalgesetze davon ausgeht, dass unser Bewusstsein durch das Gehirn generiert wird, dann sind wir die Produkte dieses Werkzeuges, das wir bedienen, um seine Funktion zu erkennen. Das Selbstbewusstsein wird hiermit zugleich als Ursache und als Wirkung der Gehirntätigkeit, die sein Denken ist, vorgestellt. Der Widerspruch perpetuiert sich. Die Projektion des Selbstbewusstseins auf ein Organ und materielle Prozesse führt in ein logisches Desaster. Um dem zu entgehen, modifizieren einige Hirnforscher und Philosophen den obigen Satz zu: Das Gehirn ist das Organ, das uns denkt. Doch auch mit dieser Umkehrung von Subjekt und Objekt entkommt man dem Widerspruch nicht. Man könnte in dieser Cerebralisierung zunächst eine bloße Verdoppelung des menschlichen Charakters sehen. Statt eines bestimmten Charakters habe jemand nun eben ein bestimmtes Gehirnprofil, welches Ursache seines Charakters sei. Diese Verdoppelung ändert jedoch die Qualität der Aussage wesentlich, da das Subjekt der Aussage nicht mehr die Person ist, sondern diese als bloße Wirkung ihres neuronalen Substrats erscheint. Hiermit wird das Subjekt aus dem Bewusstsein heraus in das Gehirn verschoben; so kehrt der obige Widerspruch dann wieder. Der Widerspruch wird nicht gelöst, sondern verlagert. Durch diese Verlagerung des Widerspruches in eine Ebene jenseits des selbstbewussten Subjekts verliert der Mensch dann seine Freiheit und seine Autonomie. Mit der Annahme, er sei sowohl individuell als auch in den Formen der Organisation seiner Gesellschaft bloß eine Wirkung eines natürlichen Organs, gibt der Mensch die Möglichkeit auf, sich zum autonomen Subjekt seiner Gesellschaft zu machen. Denn wenn unsere Handlungen nicht selbstbestimmt aus Gründen erfolgen können, weil sie aus natürlichen Ursachen in unserem Gehirn folgen, dann ist alles Gesellschaftliche die Wirkung einer Naturursache und damit nicht von uns gemacht, sondern uns gegeben. Hierin steht die Hirnforschung der Sache nach (die sich nicht mit der Intention der Forscher decken muss) in der reaktionären Tradition, der Natur das anzulasten, was den Menschen von Politik und Ökonomie angetan wird. Die vorliegende Arbeit zeigt auch, inwiefern solche Haltung, den Menschen als Funk-

3 Was im Gehirn messbar erscheint, sind neuronale Aktivitäten, die den Bewusstseinsinhalten zeitlich korrelieren, nicht diese Inhalte selbst.

12

EINLEITUNG

tion eines hinter seinem Bewusstsein agierenden Subjekts zu betrachten, einem zeitgenössischen Reflex auf politische und ökonomische Verhältnisse entspricht. Die sich hier bietenden ideologischen Möglichkeiten der Naturalisierung gesellschaftlicher Missstände erklären einen Teil der öffentlichen Präsenz der modernen Hirnforschung und der ihr zufließenden Gelder. Populär ist die moderne Hirnforschung darüber hinaus auch durch ihre unbefangene Art, sich als allgemeinverständlich zu präsentieren. Bei der Beschäftigung mit der Arbeit von Hirnforschern und der Art und Weise der Präsentation ihrer Forschungsergebnisse fällt die große Nähe zur Populärwissenschaft auf. Anders als bei den Erkenntnissen der modernen Physik und Chemie besteht eine große Ähnlichkeit zwischen den Resümees in Fachpublikationen und der Präsentation von Forschungsergebnissen in Publikumszeitschriften oder anderen Medien. Mit der Zeitschrift Gehirn & Geist haben Neurophysiologen in Deutschland sogar ihr eigenes populärwissenschaftliches Medium, das sie mit dem Abdruck eines ,Manifest' 4 auch gebührend als solches in Szene setzten. Nun ist es sicher eine seltene und schöne Tugend im Wissenschaftsbetrieb, die Forschungsergebnisse einer breiteren Öffentlichkeit in verständlicher Form präsentieren zu wollen. Doch während heutzutage jeder die Formel E=mc2 kennt und einige auch noch angeben können, dass diese Formel irgendetwas mit Materie, Energie und Lichtgeschwindigkeit zu tun hat, kann nur ein Physiker diese Formel auch verstehen. Und jeder Physiker weiß, dass Einsteins Relativitätstheorie nicht einmal unzureichend mit dem Satz „Alles ist relativ" beschrieben werden kann. Physikbücher unterscheiden sich so grundlegend von Artikeln in Populärmagazinen über Astrophysik oder Quantenmechanik, dass sie im Gegensatz zu letzteren einem Laien viel Arbeit abverlangen oder weitgehend unverständlich bleiben. Dies ist nicht primär die Schuld der didaktischen Unfähigkeit von Physikern, sondern verdankt sich dem Sachverhalt, dass ein Mensch, der schon in der Schule die binomischen Formeln zwar auswendig gelernt, aber nicht verstanden hat, von einem Physiker oder Mathematiker nicht erwarten darf, dass er ihm seine Forschungen verständlich präsentieren solle. Denn ihm fehlen die Grundlagen dieser Wissenschaft, die Einsicht in die Prinzipien und gesetzmäßigen Zusammenhänge, welche das System der Wissenschaft begründen. Doch warum gilt dies offenbar nicht im selben Maße für die moderne Hirnforschung? Warum fällt es vielen Hirnforschern erstaunlich leicht, einem breiten Publikum, das noch nicht einmal eine Ahnung davon zu haben braucht, wie durch inhibitorische Synapsen die Folge von Aktionspotentialen bei der Übermittlung auf andere Nervenzellen verändert werden kann, ihre Theorien über Bewusstsein und Willensfreiheit ohne Fachchinesisch anschaulich zu vermitteln? Weil die von Hirnforschern wie Gerhard Roth oder Wolf Singer aufgestellten Theorien über menschliches Bewusstsein und Gesellschaft gar keine Naturdinge zum Gegenstand haben, weshalb ihre Behandlung auch nicht einer biologischen Abhandlung gleicht. Vielmehr werden Gemeinplätze 4

Gehirn & Geist 6, 2004.

ICH DENKE, ALSO BIN ICH MEIN GEHIRN?

13

aufgestellt, die als philosophische und teilweise auch psychologische Urteile erscheinen, aber nicht argumentativ entwickelt werden, sondern stattdessen mit biologischen Daten verknüpft und hierüber dann empirisch belegt werden sollen. So ist es zu erklären, dass die Publikationen der Hirnforscher einen dem Alltagsbewusstsein gemäßen ideologischen Gehalt aufweisen. Die aufgestellten Urteile über den Geist werden weder aus dem neurologischen Material noch aus philosophisch zu entwickelnden Prämissen abgeleitet, sondern entspringen den Vorurteilsstrukturen der sie aufstellenden Wissenschaftler oder einer empirisch gegebenen und darum allgemein bekannten gesellschaftlichen Wirklichkeit. Dass die so entstandenen Thesen sich mit den Vorstellungen vieler Bürgerinnen und Bürger decken und darum oft intuitiv plausibel erscheinen, macht vermutlich einen weiteren Teil ihrer Popularität aus. In diesem Zusammenhang lässt sich auch begründen, dass Philosophinnen über Neurophysiologie schreiben dürfen. Die vorliegende Arbeit ist keine neurophysiologische Abhandlung und maßt sich nicht an, die Methoden und die experimentelle Exaktheit der Hirnforschung in Frage zu stellen. Vielmehr handelt es sich um eine philosophische Reflexion auf diese Wissenschaft, in der ihre Fragestellungen und Interpretationen der Forschungsergebnisse einer kritischen Betrachtung unterzogen werden. Sowohl die Neurophysiologie als auch die Philosophie zählen das Verhältnis von Denken und Handeln zu ihrem Gegenstandsbereich. Die Neurophysiologie untersucht den elektrochemischen Prozess, in dem auf neuronale Impulse im Gehirn Muskelbewegungen, Erinnerungen und Gefühle folgen. Diesem Vorgang wird eine kausale Gesetzmäßigkeit der Natur unterstellt, die mit experimentellen und statistischen Methoden untersucht wird. Während die Neurophysiologie so die nicht-reflexiven Methoden der Naturwissenschaften auf das Gehirn anwendet, bildet die traditionelle Philosophie ihre Begriffe aus der Reflexion des Denkens auf sich. Was die Einheit des Selbstbewusstseins und was ein freier Wille ist, worin sich wahre und falsche Gedanken unterscheiden und was die menschliche Vernunft ausmacht, entspringt hiernach nicht der Bestimmtheit des Materials, sondern lässt sich nur durch Bestimmungen des reflexiven Denkens begreifen. Nun knüpft sich jedoch gerade an die moderne Hirnforschung die Vorstellung, sie sei geeignet, das Denken zu verstehen - während dies doch seit 2.500 Jahren der Gegenstandsbereich der Philosophie ist, nicht der Naturwissenschaften. Ein Naturwissenschaftler ohne zureichende geisteswissenschaftliche Ausbildung betritt hier also Neuland, was dazu führt, dass Fehler gemacht werden, Fehler, welche in der Philosophiegeschichte schon lange bekannt und bearbeitet sind, weshalb die vorliegende Arbeit sich in ihrer Kritik auf klassische Texte der Philosophie und insbesondere auf Immanuel Kant stützen kann. Dies nötigt zu einem Geständnis: Eine Dissertation soll einen Fortschritt in der Wissenschaft leisten. Doch viele Argumente, die in der vorliegenden Arbeit geführt werden, sind der philosophischen Tradition entnommen und lediglich neu arrangiert, indem sie auf die moderne Hirnforschung und ihre Rezeption bezogen werden. Es kann nicht im strengen Sinne als ein Fortschritt der philosophischen Disziplin angesehen werden, bei-

14

EINLEITUNG

spielsweise die Verknüpfung von Selbstbewusstsein und Freiheit als zwingend notwendig darzustellen; die Unmöglichkeit eines unfreien Bewusstseins wird hier folglich im Rekurs auf die klassischen Texte der Transzendentalphilosophie lediglich nachgezeichnet. Die Aktualität dieser Arbeit liegt also nicht in einem durch mich geleisteten Fortschritt der Ideengeschichte, sondern sie verdankt sich allein denjenigen, die heutzutage ein menschliches Bewusstsein als empirisches Faktum hinnehmen und diesem zugleich die Freiheit absprechen. Wenn die aktuelle Debatte von Hirnforschern und Philosophen über Belange des menschlichen Geistes so weit hinter einen einst erreichten Stand der Wissenschaft zurückfällt, dass einige Vertreter ernsthaft und öffentlich die menschliche Willensfreiheit anzweifeln können, dann erschöpft sich der wissenschaftliche Fortschritt zunächst leider darin, auf einen einst schon erreichten, avancierteren Stand der Wissenschaft erneut zu verweisen. Die Hirnforschung macht mit dem Versuch, das Organ Gehirn in Bezug auf seine ideellen Funktionen zu bestimmen, alles Geistige implizit zu ihrem Gegenstand. So äußert sie sich zu einer Vielzahl philosophischer Fragen wie Was ist Freiheit? Was ist Bewusstsein? Was bestimmt unsere empirischen Handlungen? Was sind Gefühle? Was ist Denken? Sind objektive Erkenntnisse möglich? Wie bildet sich Gesellschaft? Was vermittelt Gedankliches und Stoffliches? Ich habe in dieser Arbeit versucht, die notwendigen inhaltlichen Verknüpfungen dieser Themen aufzuzeigen, um so darzulegen, dass es nicht widerspruchsfrei möglich ist, beispielsweise ein Bewusstsein anzunehmen, aber seine Freiheit als Täuschung zu behaupten, oder Wissenschaft zu betreiben, aber die Erkenntnisfähigkeit des Menschen aus seinen organischen Bedingungen erklären zu wollen. In der inhaltlichen Verbindung jener Themen, die in der öffentlichen Debatte als bloßes Sammelsurium erscheinen, zeichnet sich dann zunehmend ab, wie sich aus dem unreflektierten Umgang mit metaphysischen Gegenständen ein reaktionärer politischer Gehalt entwickelt, der der modernen Hirnforschung innewohnt.

1. Es gibt keinen empirischen Beweis der Freiheit „Der Wille in der Erscheinung (den sichtbaren Handlungen) ist dem Naturgesetze gemäß und sofern nicht frei."1 „Geist fügt sich in die Natur ein, er sprengt sie nicht." 2

In der philosophischen Tradition wird eine Ursächlichkeit aus Freiheit angenommen. Kausalität aus Freiheit steht im Gegensatz zur Kausalität nach Gesetzen der Natur. Die so bestimmte Freiheit kann ihren Ursprung nicht im Material haben, also nicht aus naturkausalen nervösen Prozessen des Gehirns entspringen. Mit dieser philosophischen Bestimmung der Freiheit lässt sich sagen, dass Freiheit mit naturwissenschaftlichen Methoden, die Naturkausalität untersuchen, nicht nachweisbar sein kann. Der Freiheitsbegriff, welchen Gerhard Roth, Wolf Singer u. A. unterstellen und nach welchem sie öffentlich diskutieren, ob man nach den neuesten Erkenntnissen der Hirnforschung im herkömmlichen Sinne von einem freien Willen des Menschen ausgehen dürfe, ist ein anderer, denn hier soll die Freiheit sich im Material erweisen - was sie nicht tut. In der aktuellen Debatte um die Willensfreiheit wird also kein Beweis gegen den freien Willen des Menschen geführt, sondern es wird ein neuer Freiheitsbegriff eingeführt und dann gezeigt, dass diesem neuen Begriff keine Realität zukommt. Zeitgenössische philosophische Versuche von Habermas, Bieri u. Α., Freiheit und Determinismus im empirischen Subjekt zu vereinen, fuhren oft zu unbefriedigenden Ergebnissen. Da der Begriff einer unbedingten Freiheit zu abstrakt erscheint, um ihn auf ein stets empirischen Bedingungen unterliegendes Subjekt wenden zu können, wird er durch handlungstheoretische Konzepte ersetzt. Diese fuhren zur Annahme einer bedingten Freiheit des Menschen, was begrifflich jedoch einen Widerspruch darstellt. Allerdings ist mit dem Aufzeigen des Scheiterns dieser Freiheitsbegriffe noch nicht geklärt, ob der Mensch einen freien Willen hat, oder nicht - und wie, wenn ja, dieser freie Wille mit den naturkausalen Prozessen vereinbar ist bzw. zusammenhängt, die von Neurowissenschaftlern untersucht werden. Die wohl provokanteste These aus dem Bereich der modernen Hirnforschung lautet: Es gibt keinen freien Willen. Alle Hirnprozesse unterliegen naturkausaler Gesetzmäßigkeit, und so muss auch unser Wille als naturkausal bestimmt angenommen werden. Von einem freien Willen im traditionellen Sinne dürfen wir also nicht länger ausgehen, denn 1 Rudolf Eisler, „Freiheit", in Kant-Lexikon, Hildesheim, Zürich, N e w York, 1994, 161 (vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Frankfurt a. M. 1997, Β X X V i l i ) . 2 Gerhard Roth, Fühlen, Denken, Handeln, Frankfurt a. M. 2001, 253.

16

ES GIBT KEINEN EMPIRISCHEN BEWEIS DER FREIHEIT

die Ergebnisse der Hirnforschung liefern nicht den kleinsten Hinweis darauf, dass irgendwelche Hirnprozesse durch anderes als durch Naturgesetze bestimmt werden könnten. Die vorliegende Kritik der Hirnforschung beginnt, indem sie ihr in einem zentralen Punkt zustimmt: Es gibt keinen empirischen Beweis der Freiheit; es kann ihn nicht geben.

Weder im empirischen Material... Die These, der Mensch habe keinen freien Willen, erregt einigen Widerstand, insbesondere bei Geisteswissenschaftlern und Theologen. Als Gegenreaktion wird oft auf die Folgen verwiesen, die eine solche Annahme der menschlichen Unfreiheit für unsere Gesellschaft habe. So ist die Annahme, dass ein Straftäter schuldfahig und somit freier Verursacher seiner Handlungen ist, der die begangene Straftat auch hätte unterlassen können, ein zentraler Bestandteil unserer Rechtsordnung und Bedingung für den Strafvollzug. Entsprechend unabsehbar seien die Folgen, wenn die Grundannahme der Willensfreiheit wegfallen sollte. Die politischen Folgeszenarien können gruselig ausgemalt werden und dabei doch kein Argument ersetzen. Hinter dem Ruf, dass nicht sein könne, was nicht sein dürfe, verbirgt sich argumentative Hilflosigkeit. Doch auch die schlimmsten Szenarien eines totalitären Strafvollzugs der Zukunft, dessen Ziel nicht Einsicht, sondern eine wörtlich verstandene Gehirnwäsche ist, können die Ergebnisse der modernen Hirnforschung nicht widerlegen - weshalb Neurophysiologen auch nicht mit mehr als einem Schulterzucken auf die ,was-wäre-wenn-Beispiele' ihrer Kontrahenten eingehen müssen, um dann auf die Fakten ihrer Forschungsergebnisse zu verweisen. Diese belegen, dass bereits einige Bruchteile von Sekunden, bevor eine Versuchsperson sagt, sie habe jetzt eine Willensentscheidung gefällt, im limbischen System charakteristische Prozesse ablaufen, welche diese Entscheidung' vorbereiten und erst zeitlich nachgeordnet ein Gefühl entsteht, welches als freier Wille empfunden wird.3 Damit sei dargelegt, so argumentieren Roth, Singer und Andere, dass die Willensfreiheit eine Illusion sei, die das Gehirn, welches die eigentlichen Entscheidungen treffe, 4 uns vorspiegele. In den populärwissenschaftlichen Medien trumpfen die Vertreter einer Determiniertheit des Willens zumeist damit auf, dass die Gegenseite der empirischen Beweislast nichts entgegensetzen könne. Denn der bloßen Empörung darüber, dem Menschen sein Freiheitsvermögen abzusprechen, stehen die Fakten einer exakten empirischen Forschung gegenüber. Mit dem Augenschein - etwa dem Hinweis darauf, dass ich meinen Arm nach freiem Belieben willentlich heben und senken könne - lässt sich hier nicht 3 Zur genauen Analyse des Libet-Experiments vgl. Kapitel 7. 4 Zur Problematik der Verschiebung des Subjekts der Handlungen vom Ich der Person in deren Gehirn vgl. Kapitel 3.

W E D E R IM EMPIRISCHEN MATERIAL .

17

argumentieren, denn alle Handlungen sind körperliche Regungen, die durch Nervenimpulse ausgelöst werden, welche dem Gehirn entspringen. So lassen sich alle Handlungen eines Menschen - auch seine Willensäußerungen - auf neuronale Prozesse des Gehirns zurückführen. Als Wirkungen in der Welt unterliegen Handlungen vollständig den Naturgesetzen. Darum blamieren sich die Vertreter der Position, es gebe einen freien Willen, beim Vorbringen empirischer Beispiele für freies Handeln. Die handlungssteuernden neuronalen Gehirnprozesse mögen in ihrer Komplexheit noch unvollständig erforscht sein, aber Freiheit lässt sich in ihnen offenbar nicht antreffen. „Trotz intensiver Erforschung des Gehirns hat man auch keinerlei Hinweis darauf gefunden, dass es so etwas wie eine ,rein geistige' (oder ,mentale') Verursachung gibt. Jeder Willensakt, jede sonstige geistige Tätigkeit ist untrennbar an physiologische Vorgänge gebunden, die ihrerseits bekannten chemischen und physikalischen Gesetzmäßigkeiten gehorchen." 5 Dieser Hinweis von Roth ist sehr aussagekräftig, was den Freiheitsbegriff anbelangt, der in der derzeitigen Debatte um die Willensfreiheit des Menschen vorherrscht. Freiheit wäre hiernach eine „rein geistige (oder ,mentale') Verursachung", die sich empirisch im Gehirn messen lassen müsste. Roth sucht nach einer akausalen Wirkung im Gehirn, ähnlich wie Libet oder jene Wissenschaftler, die Willensfreiheit über Quantenphänomene oder chaostheoretische Überlegungen zu erklären versuchen. Dieser Suche nach akausalen Wirkungen im Gehirn liegt eine Definition von Freiheit als einem indeterministischen neuronalen Prozess zugrunde. Willensfreiheit wäre folglich die Möglichkeit, sich unter gleichen oder ähnlichen Umständen aufgrund einer akausalen Varianz im neuronalen Geschehen auch anders verhalten zu können. Im Gegensatz zu Roth und Singer erscheinen einigen Wissenschaftlern indeterministische Prozesse im Gehirn durchaus als möglich. Diese Möglichkeit wird so interpretiert, dass eine Willensfreiheit des Menschen - zumindest in bestimmten Bereichen - naturwissenschaftlich zu begründen sei. Eine Möglichkeit indeterministischer Hirnprozesse als Chance für die Willensfreiheit wurde schon 1934 von Pascal Jordan in seiner ,Verstärkertheorie' formuliert. 6 Er postulierte akausale Mikroprozesse im Gehirn, die durch noch zu entdeckende Mechanismen so verstärkt werden sollten, dass sie sich auch makroskopisch auswirken könnten. Heute wird mit der Rolle von Quantenphänomenen im Gehirn auf ähnliche Weise für die Möglichkeit einer Willensfreiheit argumentiert. Stuart Hameroff und Roger Penrose stellten mit ihrem Orch-OR-Modell die These auf, dass in bestimmten Zellstrukturen, den Mikrotubuli, Quantenkohärenz mit Superstrahlung auftrete. 7 Hieraus folge eine

5 Gerhard Roth, Fühlen, Denken, Handeln, 244. 6 Vgl. Pascal Jordan, „Die Quantenmechanik und die Grundprobleme der Biologie und Psychologie", in: Naturwissenschaft 33, 1946, 537-545. 7 Zum Orchestrated Objective Reduction (Orch-OR) Modell vgl. Roger Penrose, Shadows of the Mind: A Search for the Missing Science of Consciousness, Oxford, 1994.

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E S GIBT KEINEN EMPIRISCHEN BEWEIS DER FREIHEIT

Nicht-Algorithmizität, ähnlich wie bei Modellen der Quantengravitation. Die NichtAlgorithmizität menschlichen Denkens sei über dieses Phänomen erklärbar. Einen anderen an die Ergebnisse der Quantentheorie angelehnten Ansatz, weshalb die Freiheit im Gehirn nicht messbar sein könnte, liefert Uwe Kasper. Er zieht die Möglichkeit in Betracht, dass jede Messung des Hirngeschehens in dieses in einer Weise eingreife, die das Auftreten freiheitlicher Strukturen während der Messung verhinderten. 8 Doch ob das Denken durch naturkausale Prozesse neuronaler Netzwerke determiniert ist, wie neurobiologisch argumentierende Gegner des Orch-OR-Modells einwenden, oder ob das Denken durch Quantenphänomene bestimmt wird, die sich nicht durch Algorithmen ausdrücken lassen - für einen philosophischen Begriff der Willensfreiheit sind beide Modelle unpassend. Denn auch solche Quantenphänomene sind eine dem Selbstbewusstsein äußere Ursache, durch die der Wille heteronom bestimmt wäre. Aus demselben Grund muss die Theorie von Henrik Walter, 9 der im Versuch, Kants Transzendentalphilosophie mit der Neurobiologie zu verbinden, das Phänomen des ,Sichunter-fast-gleichen-Bedingungen-anders-entscheiden-zu-Können' mit der chaotischen Struktur zentralnervöser Vorgänge zu erklären und hierüber eine begrenzte „natürliche Autonomie" als neurobiologisch fundierte Variante der Willensfreiheit postuliert, ebenfalls als inkonsistent angesehen werden. Bei Kant besteht Autonomie darin, sich selbst das Gesetz zu geben und nach durch die Vernunft gesetzten Prinzipien handeln zu können. Walters Autonomiebegriff ist dagegen der eines chaotischen Automaten, nicht eines selbstbewussten Subjekts. Regelhaftes Verhalten sowie die Möglichkeit der Abweichung von der Regel sollen in Walters Theorie der „natürlichen Autonomie" durch die chaotische Struktur neuronaler Hirnfunktionen analog zur Chaostheorie erklärt werden, derzufolge ein chaotisches System sich zugleich unberechenbar und doch regelhaft verhalten kann. „Damit ist es möglich, den scheinbaren Widerspruch zwischen der Fähigkeit, anders entscheiden zu können, und dem Handeln nach Prinzipien aufzulösen." 10 Als Prinzipien des Handelns werden bei Walter empirisch zu beobachtende, regelhafte Wiederholungen des Verhaltens bezeichnet. Als solche sind die Prinzipien des Handelns dann zwar einer empirischen Erforschung zugänglich, aber sie sind damit zugleich nicht als durch den Willen gesetzte Maximen zu begreifen und haben insofern nichts mehr mit den Kantischen Begriffen zu tun, auf welche Walter sich zu beziehen glaubt. Denn der Grund der Prinzipien ist bei Walter ein empirischer, bei Kant dagegen ein transzendentaler, d. i. ein Begriff, der als jede Erkenntnis ermöglichende Bedingung erschlossen wurde. Damit ist die Freiheit des Willens bei Walter nicht der Grund unse8 Vgl. Uwe Kasper, „Kann die Quantentheorie den Hirnforschern helfen, Probleme zu verstehen?", in: Hans-Peter Krüger (Hg.), Hirn als Subjekt? Deutsche Zeitschrift für Philosophie Sonderband 15, Berlin 2007, 151-157. 9 Henrik Walter, „Minimale Neurophilosophie", in: Hubig, Poser (Hg.) Cognitio humana, Leipzig 1996, 1515-1522. 10 Henrik Walter, „Minimale Neurophilosophie", 1521.

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rer Prinzipien des Handelns in dem Sinne, dass der Mensch sich hierin selbst bestimme, also autonom sei. Das Phänomen, das gemeinhin als Willensfreiheit bezeichnet wird, soll nach Walter naturwissenschaftlich erklärbar sein. Darum nennt er Autonomie n a türlich', d. i. nicht aus Vernunft, sondern aus Naturursachen und damit heteronom begründet. Hiermit wird die allgemeine Vorstellung dessen, was ein freier Wille sei, von Walter als falsch zurückgewiesen: „Im Falle der Willensfreiheit führt dies dazu, daß der starke Begriff der Willensfreiheit fur den Menschen als nicht existent kritisiert wird. Für die verschiedenen Komponenten lassen sich aber abgeschwächte oder veränderte Revisionen formulieren, die mit unserem Wissen über das Gehirn verträglich sind." 11 Doch abgeschwächte oder veränderte - ζ. B. chaostheoretisch oder quantenmechanisch argumentierende - Revisionen der Willensfreiheit haben den Mangel, dass sie der Begriffsbestimmung von Freiheit widersprechen, indem sie Freiheit, das Nicht-Determinierte, als durch welchen natürlichen Faktor auch immer determiniert begreifen. Freiheit - traditionell gegen die Kausalität, der die Natur unterworfen ist, bestimmt - soll sich als natürliches Phänomen entpuppen und damit als unfrei. Was als Schwächung oder Veränderung ausgegeben wird, steht in Wahrheit im Widerspruch zu demjenigen, das abgeschwächt' wird. Die Differenz zwischen Selbstbestimmung (Autonomie) und Bestimmtsein durch äußere Faktoren ^natürliche Autonomie', was in Wahrheit Heteronomie bedeutet) ist nicht graduell, sondern diametral; es ist eine Differenz ums Ganze. Als Gegensatz zu Notwendigkeit und Determiniertheit werden bei Walter Zufälligkeit und Indeterminiertheit verstanden, welche dann als Merkmale der Freiheit gelten sollen. Doch das relevante Gegensatzpaar ist nicht Notwendigkeit und Zufall oder Chaos, es ist Natur und Vernunft. 12 Determinismus und Indeterminismus fallen gleichermaßen unter die Erscheinungen der Natur, Freiheit und Herrschaft können dagegen nur Bestimmungen der Vernunft sein. Ein Indeterminismus ist sowenig frei, wie ein Naturgesetz despotisch. Eine Theorie, die diese Differenz missachtet und auf in sich widersprüchlichen Konzepten von „natürlicher Autonomie" oder „akausal determinierter Freiheit" aufbaut, bleibt inkonsistent und damit untauglich. Unter diese Kritik fallen auch alle anderen Überlegungen, die die Freiheit als in einem Naturstoff begründet annehmen. Aus der großen Komplexität neuronaler Systeme, aus Quantenphänomenen, aus chaostheoretisch beschreibbaren Strukturen oder aus sonstigen natürlichen Quellen der Indétermination solle irgendwie' Freiheit resultieren. Hier wird der Zufall bzw. eine nicht-lineare Dynamik zur Freiheit erhoben. Frei wäre dann nicht der Mensch, sondern die Quanten oder die neuronalen nicht-algorithmischen Prozesse u. Ä. Die Formen der chaotischen, nicht-linearen Naturphänomene sind nicht selbstbewusst, sind ohne Vernunft, begründen keine Moral etc. Etwas, das chaotisch oder zufallig ist, mit Freiheit zu betiteln, hieße, Freiheit zum Synonym für Unschärfe

11 Ebd. 12 Vgl. Kapitel 9.

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oder Unberechenbarkeit zu machen. Die Fähigkeit des Menschen zur Moral und seine Würde folgen jedoch nicht aus seiner Unberechenbarkeit, sondern aus der Möglichkeit, seinen Willen nach einem selbst gegebenen Gesetz moralisch zu bestimmen, d. i. aus seiner Autonomie und gerade nicht aus einem Naturmechanismus. Die Freiheit als Spontaneität der Selbstbestimmung bedeutet dem Begriff nach, dass ihre Ursache keine natürliche, keine heteronome sein kann. Da Freiheit nicht kausal bestimmt gedacht werden kann - denn dann wäre sie durch ein ihr Äußeres bestimmt und darum keine Freiheit - kann sie ihren Grund nur in sich selbst haben, d. h. sie muss ohne Ursache gedacht werden. Darum lässt Freiheit sich im Gehirn nicht finden, weil sie schon dem Begriff nach gegen die Naturkausalität bestimmt ist. Alles, was naturkausal erfolgt, geschieht nicht aus Freiheit. Dies bedeutet aber nicht, dass, wenn es Freiheit gäbe, diese als „rein geistige Verursachung" (Roth) - also als nach Naturgesetzen unerklärliche Verursachung - im Gehirn auffindbar sein müsste. Wenn Roth also schreibt, dass man „trotz intensiver Erforschung des Gehirns" keine Hinweise auf nicht-naturkausale neuronale Vorgänge gefunden hat, so ist das mit Sicherheit richtig. Falsch ist es allerdings, wenn er hieraus schließt, dass es keine Freiheit des Menschen gebe. Denn dies würde einen Freiheitsbegriff implizieren, nach dem Freiheit eine nicht-physische Ursache wäre, die nicht-kausale Wirkungen im Naturmaterial erzeugte. Damit gäbe es dann neben naturwissenschaftlich fassbaren Vorgängen im Naturmaterial auch solche Vorgänge, die naturwissenschaftlich unerklärliche Phänomene aus Freiheit hervorbrächten. Hiermit aber wären Naturgesetze dann keine Gesetze mehr. Um eine solche Freiheit zu widerlegen, müsste niemand in das Gehirn des Menschen schauen; das Faktum der technischen Anwendbarkeit von erkannten gesetzmäßigen Naturzusammenhängen reicht zur Widerlegung einer solchen Freiheit aus. Alles Suchen nach der Freiheit als einer empirischen Gegenmacht innerhalb naturkausaler Gesetzmäßigkeit fuhrt in die Irre. Freiheit ist zwar logisch gegen die Kausalität der Natur bestimmt, aber das bedeutet nicht, dass sie eine wirkliche Gegenmacht darstellt, die gegen die Naturgesetze anwirkt - wie Roth es offenbar versteht, wenn er nach akausalen Wirkungen im Gehirn sucht und aus deren Fehlen schließt, dass es keine Freiheit gebe. Wäre die Freiheit eine solche Gegenmacht, gäbe es keinen zwingenden Grund, warum ihr Wirken sich auf die menschlichen Gehirne beschränken sollte. Eine solche empirisch im Material nachweisbare Freiheit würde nicht nur Neuronen von der Determiniertheit durch die Naturgesetze befreien können, sondern sie müsste in Bezug auf jedes Material eine spontane Wirkung ohne naturkausale Ursache erzeugen können, da sie unabhängig von jedem bestimmten Material existierte. Die Möglichkeit zu Fliegen wäre dann für den Menschen keine Frage des technischen Fortschritts, sondern des bloßen Wollens, wenn unser Wille über diese Art der Freiheit verfugte. Was von Roth vergeblich im Gehirn gesucht und schließlich dem Menschen als Vermögen abgesprochen wird, ist der Sache nach jene ,Macht des Geistes', an welche die Esoterik glaubt und welche durch Wände hindurch Löffel zu biegen vermag - nicht jedoch der Freiheitsbegriff der philosophischen Tradition. In letzter Konsequenz mündet

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dieser Gedanke einer Formung des Materials jenseits der Naturgesetzmäßigkeit durch den Geist in der Vorstellung göttlicher Allmacht. Diese Vorstellung findet sich in der Bibel, wo Gott als Schöpfer mit dem Wort zugleich den Gegenstand selbst setzt. Dass der Mensch als endliches Sinnenwesen nicht über eine solche Macht verfugt, ist unbestritten. Entsprechend wenig verwundert es, dass sich eine solche Macht auch nicht im Gehirn des Menschen finden lässt; es gibt keinen physiologischen Vorgang, der nicht den physikalischen Gesetzen gehorchte. Der Freiheitsbegriff, den Roth u. A. hier annehmen, beruht offenbar auf einem Missverständnis. Die Philosophie bestimmt Freiheit traditionell gegen die Kausalität der Natur; aber das bedeutet nicht, dass Freiheit wider die Naturgesetze im Material wirksam sei. Freiheit ist keine Gegenmacht, keine Kraft, die in Raum und Zeit gegen die Naturgesetze wirken können soll. Sie ist vielmehr wirksam in dem menschlichen Vermögen, erkannte Naturgesetze zielgerichtet zu nutzen, um innerhalb der Natur gemäß ihren erkannten Gesetzen diese nach selbst gesetzten Zwecken zu formen. Das Setzen eigener Zwecke ist es, was nicht in der Natur aufgeht, sondern auf die menschliche Vernunft verweist. Wenn der Mensch eigene Zwecke im Naturmaterial realisiert, indem er den Naturstoff zielgerichtet formt, geschieht im Naturzusammenhang des Materials nichts Übernatürliches. Doch die Reflexion auf das zugrunde liegende Vermögen des Menschen, sich Zwecke zu setzen und die Naturzusammenhänge soweit zu erkennen, dass er gezielt in sie eingreifen kann, verweist auf etwas, das nicht in der Natur aufgeht, weil es gerade nicht im Naturstoff als besondere Eigenschaft erscheint, sondern vielmehr die Bedingung dafür ist, dass besondere Eigenschaften des Naturstoffes erkannt werden können. Freiheit ist keine Materialeigenschaft - und also auch keine Eigenschaft des Gehirns eines Wesens mit Selbstbewusstsein. Freiheit hängt keinem Material an, sondern ist ein Reflexionsbegriff der Vernunft.

... noch in der empirischen Subjektivität In seinem Artikel Freiheit und Determinismus entwickelt der Philosoph Jürgen Habermas einen „Begriff bedingter, in Organismus und Lebensgeschichte verwurzelter Freiheit". 13 Dieser Freiheitsbegriff macht stark, dass unser Wille durch andere Faktoren bedingt sei, als physikalische Gegenstände. So sei unser Wille nicht ,unbedingt frei', sondern unterliege den Bedingungen unserer körperlichen und psychischen Verfasstheit. Anders als in einer naturkausalen Determiniertheit liege in der Bedingtheit des Willens jedoch zugleich auch Freiheit, weil der Wille sich mit seinen Bedingungen identifiziere und sich erst hierüber als unser eigener, individueller Wille konstituiere.

13 Jürgen Habermas, „Freiheit und Determinismus", in: Hans-Peter Krüger (Hg.), Hirn als Deutsche Zeitschriftßir Philosophie Sonderband 15, Berlin 2007, 108.

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„Auch rationale Handlungserklärungen gehen davon aus, dass Aktoren bei ihren Entscheidungen in Kontexte eingebettet und in Lebensumstände verwickelt sind. Die Handelnden stehen, wenn sie ihren Willen von dem, was in ihren Kräften steht und was sie für richtig halten, bestimmen lassen, nicht außerhalb der Welt. Sie sind vom organischen Substrat ihres Könnens, von Lebensgeschichte, Charakter und Fähigkeiten, von der gesellschaftlichen und kulturellen Umgebung, nicht zuletzt von aktuellen Gegebenheiten und Handlungssituationen abhängig. Aber alle diese Faktoren macht sich der Handelnde gewissermaßen so zu eigen, dass sie nicht länger wie externe Ursachen auf die Willensbildung einwirken und sein Bewusstsein der Freiheit irritieren können." 14 Habermas grenzt seinen Freiheitsbegriff gegen einen Begriff unbedingter Freiheit ab. Zwar mag die Vorstellung einer bedingten Freiheit irritierend sein, insofern es sich um einen in sich widersprüchlichen Begriff handelt, aber das empirische Bewusstsein einer solchen bedingten Freiheit werde nach Habermas durch diese Bedingtheit gerade nicht irritiert, sondern konstituiere sich erst über seine Bedingungen, indem es sich vollständig mit ihnen identifiziere. Die Spontaneität der Handlung wird so nicht als Vermögen verstanden, sich aus Freiheit von der Bedingtheit zu lösen, sondern als bloße Erfahrung der Subjektivität, die sich als Summe ihrer Bedingungen begreife. Darum seien unsere Handlungen jenseits der Frage, ob diese Handlungen bedingt sind, dadurch frei, dass wir sie als uns zugehörig und uns als das Subjekt der Handlungen erleben. „Die in der Selbsterfahrung gegenwärtige Spontaneität des Handelns ist keine anonyme Quelle, sondern ein Subjekt, das sich ein ,Können' zuschreibt." 15 Die als Spontaneität des Handelns erfahrene Freiheit ist hier nicht nur von diversen psychologischen und physikalischen Umständen abhängig, sondern wird vielmehr durch diese erst möglich, weil die bedingenden Umstände insgesamt, wenn sie als bestimmte individuelle Abhängigkeiten erfahren werden, das Subjekt ausmachen. Habermas findet den Ausgangspunkt für dieses Konzept der bedingten Freiheit 16 darin, dass wir nicht im luftleeren Raum handeln, sondern in spezifischen, gegebenen Situationen; wir handeln nicht bloß als vernunftbegabte, sondern immer auch als Sinnenwesen, als empirische Individuen mit jeweils besonderen Eigenschaften und Dispositionen. Dadurch ist das empirische Selbstbewusstsein notwendig mit seinem Körper verknüpft und sein Körper wird hierdurch zugleich durch mehr bestimmt als durch bloße Organfunktionen. „Die Eingeweide und Organe werden in der Physiologie als Momente nur des animalischen Organismus betrachtet, aber sie bilden zugleich ein System der Verleiblichung des Geistigen und erhalten hierdurch noch eine ganz andere Deutung." 17 Nach

14 Ebd. 15 Jürgen Habermas, „Freiheit und Determinismus", 107. 16 Auch der Philosoph Peter Bieri entwickelt ein Konzept bedingter Freiheit, das jedoch deutlich psychologischer Ausgerichtet ist. Vgl. Kapitel 10, Die Wendung der Freiheit nach Innen. 17 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie III, Frankfurt a. M. 1986, 102.

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Hegel wird durch diese Verleiblichung die Differenz zum Tier qualitativ. Auf dieser untrennbaren Verknüpfung von empirischem Subjekt und dessen Körperlichkeit baut Habermas einen Begriff von Subjektivität auf, nach dem wir durch unsere Leiblichkeit nicht bloß in unseren Handlungen beeinflusst werden und unsere Möglichkeiten und Grenzen finden, sondern durch sie in unserer Subjektivität bedingt sind, indem diese sich erst über die Identifikation mit unseren Bedingungen herstellt. Habermas' Begriff der bedingten Freiheit macht dabei die subjektive Empfindung von Freiheit stark, in der sich der Handelnde als Aktor erfährt. „Der Handelnde kann sich von einem organischen Substrat, das als Leib erfahren wird, ohne Beeinträchtigung seiner Freiheit .bestimmen' lassen, weil er seine subjektive Natur als Quelle des Könnens erfährt. Aus der Perspektive dieser Leiberfahrung verwandeln sich für den Handelnden die vom limbischen System gesteuerten vegetativen Prozesse - wie auch alle anderen aus der neurologischen Beobachterperspektive u n b e wusst' ablaufenden Prozesse des Gehirns - aus kausalen Determinanten in ermöglichende Bedingungen. Insofern ist Handlungsfreiheit nicht nur durch Gründe ,bedingte', 18 sondern auch ,naturbedingte' Freiheit." Diese Verwandlung von kausalen Determinanten in ermöglichende Bedingungen einer bedingt-freien Handlung vollzieht sich durch die Perspektive des Subjekts, das die kausalen Determinanten als seine eigenen Bedingungen erfährt und sich dergestalt mit ihnen identifiziert, dass es sich als nichts anderes als die Einheit seiner Bedingungen weiß. Habermas nimmt hier das Hegeische Argument der Notwendigkeit einer Verleiblichung des Geistes auf, durch die allein sich ein einzelnes Subjekt in der Welt konstituieren kann. Doch wo bei Hegel die Freiheit als logischer Grund der Verleiblichung vorausgesetzt werden muss, ist sie bei Habermas bloß empirisch vorgefundenes Resultat. Bei Hegel muss die Freiheit logisch vorausgesetzt sein als Bedingung, unter der das Subjekt seinen Leib sich zusprechen kann, mit dem als seinem Leib die Freiheit des Subjekts dann wirklich ist. Habermas entwickelt dagegen die Freiheit nicht begrifflich als ermöglichende Voraussetzung von Verleiblichung, sondern findet sie erst als empirisches Resultat im mit seinem Leib identischen Subjekt. Abgetrennt von der begrifflichen Genese wird die wirkliche Freiheit im empirischen Subjekt dann zu einer bloßen Empfindung. Die Freiheit in der bedingt-freien Handlung bestehe laut Habermas also vornehmlich darin, dass die spezifischen Bedingungen meine eigenen sind und ich mich einzig in ihnen erlebe. Wenn das Subjekt sich als „Quelle des Könnens erfährt", tritt laut Habermas noch etwas hinzu, was nicht in den Bedingungen aufgeht: Das Subjekt muss sich aktiv zu seinen eigenen Bedingungen wiederum verhalten. Aber dieses sich-verhalten stellt sich ausschließlich affirmativ dar, in der Identifikation mit der eigenen Bedingtheit. Dies sei die „Spontaneität des Handelns", die für Habermas die Differenz setzt, dass die Handlung nicht durch ihre Bedingungen verursacht wurde, sondern von einem Subjekt auf18 Jürgen Habermas, „Freiheit und Determinismus", 107.

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grand seiner Bedingungen ausgeführt wurde. Diese „Spontaneität" sei „in der Selbsterfahrung gegenwärtig", und damit kein empirisch greifbares physikalisches Faktum, sondern eine Empfindung im empirischen Subjekt. Auf diese Weise versucht Habermas, die Willensfreiheit als Handlungsfreiheit gegen die deterministischen Ansichten aus der Hirnforschung zu verteidigen. Die Perspektive des Subjekts - und damit seine Freiheit - sei den Methoden der Hirnforschung nicht zugänglich. Doch indem Habermas die Leiblichkeit nicht als „die Äußerlichkeit als Prädikat, in welchem das Subjekt sich nur auf sich bezieht", 19 begreift, sondern andersherum das Subjekt als Prädikat seines Leibes versteht, ist die Freiheit des Subjekts durch die Leiblichkeit bedingt. Das Ich ist immer an den Leib gebunden - nicht nur naturwissenschaftlich, sondern auch begrifflich. Hier geht Habermas über die von Roth und anderen Hirnforschern formulierten Vorstellungen des Verhältnisses von Körper und Geist hinaus, indem der eine notwendige Verbindung aufzeigt, die nicht kausal zu fassen ist. Jedoch entwickelt Habermas diese Verbindung nicht eindeutig als begrifflich notwendige, sondern wandelt sie in eine Empfindung um. Das Bewusstsein als dasjenige, in das alle Vorstellungen des Subjekts fallen, wird bei Habermas zur Eigenwahrnehmung des Subjekts von sich, die gleichfalls in das Bewusstsein fällt. Das Verhältnis zwischen Eigenwahrnehmung, in der ich mich innerlich wahrnehme, und Bewusstsein, in das die Wahrnehmung meiner selbst fällt, erscheint insofern als paradox, als ich mich selbst als Objekt wahrnehmen muss, um mich als Subjekt zu wissen. 20 Bei Habermas klingt diese Differenz an, wenn es um die aktive Seite des Verhaltens des Subjekts zu sich geht, wird jedoch wieder für einerlei erklärt, wenn er das begriffliche Ich in die Selbstempfindung auflöst. Wenn Habermas diese Spontaneität als eine Selbstempfindung aus dem Raum der Möglichkeiten in den Raum der Bedingungen zurückholt, verwandeln sich die aktiven Bestimmungen des Ich, die in seiner Spontaneität gefasst werden, wieder zur bloß passiven Affektation, die als passive nur affirmativ sein kann. So kommen Habermas' Überlegungen zwar von anderen theoretischen Grundannahmen her, als die von Roth, aber er landet dennoch bei Handlungserklärungen, die in der Beschreibung ihrer inneren und äußeren Bedingungen den Ausführungen von Roth sehr nahe kommen. Nach Roth ist die Selbsterfahrung als freies Subjekt am stärksten bei solchen Handlungen, die wir nicht im Affekt oder unter starken Emotionen ausführen, sondern bei wohlüberlegten, langfristigen, rationalen Entscheidungen, die von dem Bewusstsein begleitet sind, dass wir gute Gründe für die Handlung haben und dass wir auch aus freien Stücken eine andere Entscheidung hätten treffen können. Hier ist, wie Habermas es ausdrücken würde, die Selbsterfahrung der Spontaneität gegenwärtig, indem das Subjekt ein Können sich zuschreibt. Roth spricht diesem Zustand allerdings keine Freiheit zu, auch keine ,bedingte' oder ,naturbedingte' Freiheit.

19 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie III, 192. 20 Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β 152 f.

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„Es wäre jedoch eine Illusion, dies für den Zustand tatsächlicher Freiheit zu halten. Das rationale Abwägen geschieht nämlich nicht weniger determiniert als das affektivemotional bestimmte Entscheiden; wir erleben es nur anders. Ob wir überhaupt in schwierigen Situationen unseren Verstand oder unsere Gefühle walten lassen und in welchem Ausmaß wir vor einer Entscheidung in ein rationales Abwägen eintreten, hängt zu allererst von unserem Temperament, unserer Persönlichkeit, unserer Erziehung und unseren bisherigen Erfahrungen ab. [...] Ich kann mich vor einer wichtigen Entscheidung hinsetzen und die Alternativen und Konsequenzen genau erwägen, ich kann mich von Experten beraten lassen, Bücher lesen usw. - es gilt doch: Wie auch immer das Resultat rationalen Abwägens lauten mag, es unterliegt der Letztentscheidung des limbischen Systems, denn es muss emotional akzeptabel sein. [...] Emotionale Verträglichkeit bedeutet im Normalfall also nicht Irrationalität, sondern Abwägen und Handeln im Lichte der gesamten bisherigen Erfahrung. [...] Diese Gesamterfahrung bestimmt die Art, wie wir uns zu uns selbst und unserer Umwelt verhalten." 21 Gerade weil das Subjekt sich individuell aufgrund seiner Erfahrungen und äußerer Umstände bestimmen lässt, gilt es Roth als durch diese determiniert. Weil Habermas die Ergebnisse seiner als begrifflich begonnenen Analyse als empirische wieder finden will, landet er in unmittelbarer Nähe von Roth, nämlich bei einem Begriff bedingter Freiheit, wo Roth von einer Freiheitsillusion spricht. Die im Entscheidungsprozess subjektiv erfahrene Freiheit hält Roth dabei für eine notwendige Illusion, die allein die gedanklichen Prozesse des Abwägens ermögliche, aber objektiv betrachtet eine Illusion genannt werden müsse. Für Habermas ist diese ,Illusion', die im empirischen Bewusstsein empfundene Freiheit, ihre tatsächliche Form. 22 Ob ein Mensch tatsächlich anders handeln könnte, als er es jeweils tut, lässt sich empirisch schlechterdings nicht erweisen. In einem Punkt muss man Roth allerdings zustimmen: Eine ,bedingte' oder ,naturbedingte' Freiheit ist streng genommen keine Freiheit, weil der Zusatz ,bedingt' dem begrifflichen Gehalt von ,Freiheit' widerspricht - möge das Subjekt es auch noch so sehr als Freiheit erleben, sich mit seinen Bedingungen zu identifizieren. Habermas geht nicht nur davon aus, dass unsere Umwelt und individuelle Lebensgeschichte unsere Handlungen beeinflussen - was schon deswegen richtig ist, weil Umwelt die Voraussetzung für die Möglichkeit einer Handlung überhaupt ausmacht, denn ohne den zu behandelnden Stoff könnte gar keine Handlung stattfinden. Er geht von einer unsere Handlungen bedingenden (wenn auch nicht naturkausalen) Determination aus, die jedoch aus der Perspektive des Subjekts niemals als solche erfahren werden könne, weil sie konstitutiv für das Subjekt sei und damit zugleich konstitutiv dafür, dass

21 Gerhard Roth, Fühlen, Denken, Handeln, Frankfurt am Main 2001, 526 ff. 22 Sowohl Roth als auch Habermas sprechen sich in gleicher Weise dagegen aus, unser Selbstbewusstsein und seine empfundene Freiheit sei ein bloßes Epiphänomen. Vgl. Jürgen Habermas, „Freiheit und Determinismus", 109 f und Gerhard Roth, Schnittstelle Gehirn, Bern 1996, 47 f.

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das Subjekt sich als freies erfahre. „Leib, Charakter, Lebensgeschichte werden solange nicht als kausale Determinanten wahrgenommen werden, wie sie als eigener Leib, eigener Charakter und eigene Lebensgeschichte das ,Selbst' definieren, das Handlungen zu unseren Handlungen macht." 23 Der Leib wird als notwendig für Subjektivität erkannt und muss darum dem Ich zu Eigen gemacht werden. Aus dieser Erkenntnis, die sich auch bei Hegel findet, wird in der Habermas'sehen Theorie die Affirmation aller empirischen Bedingtheiten. Indem die Spontaneität des Subjekts bei Habermas nur affirmativ gefasst wird, nur als Identifikation mit den Bedingungen des Subjekts als seinen Bedingungen, verkürzt sich die Freiheit bei ihm zur bloßen Selbstaffirmation. Vergleicht man seine Darstellung mit der in der Hegeischen Enzyklopädie, bleibt Habermas bei der Entwicklung des Begriffes des subjektiven Geistes im Abschnitt über die Empfindung stehen, der den Übergang zur fühlenden Seele bildet. Das Bewusstsein entwickelt Hegel begrifflich erst im Weiteren, und zwar durch die Negation des Unmittelbaren. Weil „in der Existenz alles Bewußtsein eines anderen Gegenstandes Selbstbewußtsein ist", 24 wäre gar kein Selbstbewusstsein, wenn die Inhalte, die allesamt meine Vorstellungen und Empfindungen sind, nicht zugleich als außer mir vorgestellt werden würden. Subjektivität - und auch die von Habermas angeführte Identifikation des empirischen Selbstbewusstseins mit seiner Bedingtheit - hat die Negation als logische Voraussetzung. Identität ist nur unter der Bedingung der Negation möglich, weil der Akt, sich seine Bedingungen zu Eigen zu machen, es erfordert, dass die eigenen Bedingungen dem Subjekt zugleich als äußere gegenüberstehen. Die Subjektivität macht zwar ihre Bedingungen sich zu Eigen, hebt im Selbstbewusstsein aber zugleich die Bedingtheit auf, indem es sich nicht bloß als mit seinen Bedingungen identisch erlebt, sondern sich zugleich als mit ihnen nichtidentisch ihnen entgegensetzt. Nur dort, wo die denkende Reflexion über das bloße Empfinden hinausgeht, ist die Freiheit, mit der das Subjekt sich seinen Bedingungen stellt, anstatt sie bloß zu affirmieren. „Die reine abstrakte Freiheit für sich entläßt ihre Bestimmtheit, das Naturleben der Seele, als ebenso frei, als selbständiges Objekt, aus sich, und von diesem als ihm äußeren ist es, daß Ich zunächst weiß, und ist so Bewußtsein. Ich als diese absolute Negativität ist an sich die Identität in dem Anderssein;" 25 Bei Habermas wird die Bestimmtheit der Seele nicht entlassen; er hält sie in der blossen Identifikation des Ich mit seiner Bestimmtheit fest. So fragt sich nicht nur, wo die Freiheit - und sei sie auch bloß Empfindung - herkommt, sondern streng genommen fragt sich auch, wie das Bewusstsein, das Ich, begrifflich bestimmt werden können soll. Da die begriffliche Bestimmung des Selbstbewusstseins von Habermas so nicht geleistet werden kann, braucht er den Rückgriff auf das empirisch im Subjekt vorzufindende

23 Jürgen Habermas, „Freiheit und Determinismus", 119. 24 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie III, 213. 25 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie III, 199.

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Bewusstsein; da er die Freiheit ebenso wenig begrifflich entwickeln kann, muss er auch sie finden: als Empfindung im Subjekt. Da ihm die Negativität fehlt, die allein das Subjekt konstituieren kann, indem es alles, was sein gedachter Inhalt ist und es so selbst ist, zugleich dem Selbstbewusstsein als Anderes gegenüberstellt, kommt er hier theoretisch nicht weiter und sucht sein Heil in der Empirie. Dort gesellt er sich dann den Hirnforschern bei, die zu kritisieren er ausgezogen war. So wichtig es ist, die Identität von empirischer Leiblichkeit und bewusster Subjektivität zu betonen, so wenig lässt sich aus der Identifikation mit der eigenen Leiblichkeit Freiheit erklären oder begründen. Im Gegenteil ist die Freiheit vielmehr Bedingung jedes Bewusstseins und damit auch Bedingung der Identifikation des Ich mit dem eigenen Leib und nicht ihr Resultat. Denn um sich mit sich identifizieren zu können, muss Subjektivität schon gegeben sein. Das aktive Moment eines Prozesses aus Freiheit findet sich zwar bei Habermas im Begriff der Spontaneität, erscheint jedoch zugleich als passiv, als eine aus den Bedingungen des Subjekts erwachsene Folge. Um zu begreifen, was Freiheit ist, reicht die bloß fühlende Introspektion des Subjekts nicht hin. Es bedarf vielmehr der Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit von Subjektivität, um den Begriff von Freiheit zu bilden. Dieser Begriff von Freiheit ist der Tatsache empirischer Subjektivität logisch vorausgesetzt. Denn was das Subjekt nach Habermas als seine Identität erlebt, ist seine Bedingtheit, d. i. seine Grenzen und Abhängigkeiten als Schranken seiner Möglichkeiten. Aber die Freiheit des Subjekts liegt nicht in der Identifikation mit seinen Bedingtheiten, sondern darin, dass es sich zu sich selbst ins Verhältnis setzen kann, was ein Moment der Nicht-Identität erfordert. Die Tatsache empirischer Subjektivität beweist allein dadurch, dass sie sich selbst als frei erlebt, noch keine Freiheit. Dieses Erleben für sich genommen könnte tatsächlich, wie Roth es darstellt, eine durch nicht-erlebbare Ursachen erzeugte Täuschung sein. Erst die Reflexion auf die Bedingungen, unter denen Subjektivität allein möglich ist, führt auf einen Begriff von Freiheit. Weil ohne Freiheit kein Subjekt wäre, beweist Subjektivität Freiheit - die Freiheit entspringt nicht umgekehrt der Subjektivität. Nicht die heteronomen Bedingungen des Subjekts bedingen die Freiheit, sondern die Freiheit bedingt das Subjekt, das sich dann als empirisches unter heteronomen Bedingungen findet. Als vorgefundenes Konzept, das sich perspektivisch als frei empfindet, ist die von Habermas postulierte Freiheit kaum mehr als die Rothsche Freiheitsillusion. Darum muss er sie eine bedingte Freiheit nennen. Die Freiheit schrumpft zur Wahrnehmung von Freiheit zusammen. Die Differenz zu Roth, der diese Wahrnehmung eines freien Willens eine bloße Illusion nennt, liegt allein in der von Habermas durchgehaltenen Nichtreduzierbarkeit der subjektiven Perspektive auf ein neuronales Korrelat, während Roth zwar auch eine Nichtreduzierbarkeit behauptet, jedoch zugleich eine Reduzierung in seiner Theorie durchführt, wenn er die Freiheit als ,Illusion' entlarvt, indem er der Perspektive des sich als frei empfindenden Subjekts die objektive Perspektive auf das neuronale Material entgegenhält. Als Konzept einer empirisch sich als leiblich und frei

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wahrnehmenden Subjektivität kann Habermas den Hirnforschern Roth und Singer also durchaus etwas entgegensetzen. Einen konsistenten Begriff von Freiheit muss er damit allerdings aufgeben; denn eine Freiheit, die von heteronomen Bedingungen abhängt, ist nicht frei. Was bleibt, wenn die bedingte Freiheit als Unfreiheit entlarvt wurde? Nur „der überanstrengte idealistische Begriff einer ursprungslos-unbedingten Freiheit, die die Kraft haben soll, neue Kausalreihen ins Leben zu rufen", 26 von dem Habermas sich explizit distanziert. Um einen konsistenten Begriff von Freiheit zu entwickeln, muss sie insofern als ursprungslos angenommen werden, als sie nicht aus einer nicht-freien Ursache als deren Folge entwickelt werden kann. Denn erstens kann aus Unfreiheit begrifflich keine Freiheit folgen und zweitens hinge die Freiheit dann logisch von etwas ab, was sie nicht selbst wäre und was sie in ihrer Form bedingte, womit die Freiheit nicht als frei begriffen werden könnte. Ursprungslos bedeutet jedoch nicht, dass die Freiheit als eine aus dem Nichts kommende Entität für sich selbst in irgendeiner Form existiert, sondern sie ist nur als die und in der Spontaneität des reflektierenden Subjekts. Dieser Begriff geht auf die Transzendentalphilosophie zurück, welche die Freiheit als notwendige Bedingung der Möglichkeit von Subjektivität und damit von Naturwissenschaft und Moral erschloss, anstatt sie empirisch im Material oder im Selbstempfinden des Subjekts zu suchen. Er allein scheint mir geeignet, eine umfassende Kritik der Debatte um die Willensfreiheit zu leisten. Nach diesem Begriff ist die Freiheit kein empirischer Gegenstand und deswegen empirisch nicht zu fassen - weder im Material, noch im empirischen Bewusstsein als ein Erleben von Freiheit. Als ermöglichende Bedingung von Subjektivität und Naturerkenntnis ist die transzendentale Freiheit nur begrifflich zu fassen. Als seine ermöglichende Bedingung ist sie auch dann untrennbar mit dem empirischen Bewusstsein verknüpft, wenn dieses sich selbst als unfrei erlebt. Nach Kant sind die Begriffe ,freier Wille', ,Vernunft' und ,Einheit des Selbstbewusstseins' untrennbar miteinander verbunden. Ein vernünftiges Wesen ist nur als ein sich selbst bewusstes Wesen mit freiem Willen denkbar; ein freier Wille kann nur der eines sich selbst bewussten, vernünftigen Wesens sein. In ihren Handlungen sind Menschen unbedingte Ursachen von Kausalketten nach Naturgesetzen, insofern sie ihren Willen frei zu Handlungen bestimmen. Jedem vernünftigen Wesen ist notwendig ein freier Wille eigen, weil die Vernunft in ihrer Reflexion sich selbst als Urheberin ihrer Prinzipien erkennt und dabei den Willen, der das Handeln nach Prinzipien ist, als eigenen Willen bestimmt und zugleich voraussetzt. Wären die Handlungen eines Wesens nicht durch selbst gegebene Maximen des eigenen Willens, sondern durch heteronome Ursachen vollständig bestimmt - und zu diesen Ursachen zählen auch die gesamte Erfahrung und die aus ihr erwachsene psychische Disposition - könnte das Wesen in seinen Handlungen nicht seiner eigenen Vernunft folgen und wäre also kein

26 Jürgen Habermas, „Freiheit und Determinismus", 106.

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vernünftiges Wesen. Ein Wesen ohne Vernunft ist zu keiner Handlung nach einer Maxime fáhig, sondern verhält sich bloß nach heteronomen Gesetzen, ist also unfrei. Dass der Mensch aus Freiheit handeln kann und sich nicht nur nach Naturnotwendigkeit verhält, sieht man jedoch den Handlungen selbst als Erscheinungen nicht an, denn als Handlungen in der Welt unterliegen sie den Gesetzmäßigkeiten der Natur. Deshalb kann die Freiheit des Willens nicht empirisch vorgefunden und nachgewiesen werden. So sind die Handlungen des Menschen stets ein Doppeltes: Empirisch sind Handlungen Erscheinungen, die mit anderen Erscheinungen nach Naturgesetzen im Zusammenhang stehen; dass dieselben Handlungen zugleich frei sind, also auf autonom gesetzte Zwecke gerichtet sind, lässt sich in der Erscheinung nicht greifen, sondern ist nur zu denken. Dies erweist sich dann nicht als ein Dualismus oder als eine Theorie von zwei Perspektiven, wenn die Handlung als empirische nur über ihre zu denkende Intention zu begreifen ist.27 Der „überanstrengte idealistische Begriff einer ursprungslos-unbedingten Freiheit" ist dabei nicht, wie Habermas vermutet, „von allen empirischen Zusammenhängen abgeschnitten", 28 er ist nur nicht durch diese bedingt. Nur unabhängig von empirischer Bedingtheit durch Erfahrungen etc. ist der Mensch frei, sich seine Gesetze und Maximen selbst zu geben und so nach Bedingungen zu handeln, die seine eigenen sind, nicht, weil er sich mit seinem Körper und seiner Geschichte als eigener vollständig identifizierte, sondern weil er sie sich selbst unabhängig von spezifischen Erfahrungen geben kann. Allein hierin liegt die Möglichkeit zur Emanzipation von empirischen Bedingungen, seien es Naturgegebenheiten oder innere Gegebenheiten des Subjekts. Diese Emanzipation findet nur in der Auseinandersetzung mit empirischen Bedingungen statt, ist also niemals jenseits von ihnen. Nur hierdurch ist der Mensch frei, moralisch und politisch die Verantwortung für seine Handlungen zu tragen oder Naturgesetze zu erkennen und deren Resultate technisch für sich zu nutzen. Diese Freiheit - die nicht mit einem Gefühl des Freiseins verwechselt werden darf - steht unter keiner Bedingung der Sinnlichkeit und ist, aus der Vernunft entspringend, wie diese zeitlos. Die Handlungen folgen zwar zeitlich auf Ereignisse der Natur, aber sie erfolgen nicht kausal aus ihnen. So kann ein empirischer Gegenstand zwar der Anreiz für eine Handlung sein, nicht jedoch ihre hinreichende Ursache. Die hinreichende Ursache einer menschlichen Handlung kann, wenn sie nicht naturkausal bestimmt ist, nur eine freie sein. Als dem freien Willen zugrunde liegend muss Kant zufolge darum eine Kausalität aus Freiheit gedacht werden, als „das Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen, deren Kausalität also nicht nach dem Naturgesetze wiederum unter einer anderen Ursache steht, welche sie der Zeit nach be-

27 In diesem Sinne ist es schlicht falsch, Kant als Dualisten zu bezeichnen. 28 Jürgen Habermas, „Freiheit und Determinismus", 108.

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E S GIBT KEINEN EMPIRISCHEN BEWEIS DER FREIHEIT 29

stimmte." Eine Kausalität nicht nach dem Naturgesetz wäre somit als eine Kausalität außerhalb einer Zeitkette zu denken und gerade nicht als erster oder unabhängiger Beweger. Die Freiheit ist darum logisch (und nicht physisch, nicht als Entität, nicht als eigene Welt!) gegen die Kausalität der Natur bestimmt, als die andere Verursachung zur Verursachung nach Naturgesetzen. Für die Handlungen freier Sinnenwesen heißt das: Jede ihrer Bewegungen unterliegt als Wirkung vollständig den Gesetzen der Natur. Aber als letzte Ursache dieser Wirkung muss die Freiheit des Willens als Bedingung der Möglichkeit (d. i. als transzendentale Ursache) der zielgerichteten Veränderung des Materials gedacht werden, weil die zielgerichtete Veränderung des Materials in einer Handlung nur über das Ziel der Handlung zu begreifen ist - und dieses liegt als gedachtes jenseits von allem Material. Eine solche transzendentale Ursache ist als Bedingung der Subjektivität auch Bedingung der Gefühle des empirischen Subjekts und kann darum, weil sie aller inneren Empfindung logisch vorausgesetzt ist, nicht in der von Habermas dargestellten Weise ,erlebt' werden. Eine solche transzendentale Ursache kann auch im Gehirn - oder in sonst einem Material - niemals in der von Roth geforderten Weise sichtbar sein. Denn Freiheit wird als Anderes zur Natur vorgestellt als eine Ursache, die n i c h t g e g e n die Gesetze, denen das Materielle unterliegt, s o n d e r n a u ß e r h a l b dieser steht. Hiermit ist noch nichts darüber gesagt, ob diese Freiheit möglich oder sogar wirklich ist. In diesem Kapitel soll nur so viel gezeigt sein: Die Freiheit nach dem traditionellen Begriff der Transzendentalphilosophie kann nicht mit empirischen Methoden bewiesen werden. Als das Andere zur Natur lässt sie sich naturwissenschaftlich weder beweisen noch widerlegen. Denn sie ist auch dann keine physikalische Kraft, wenn eine Handlung aus Freiheit verändernd auf physikalisches Material wirkt. Wenn Freiheit im Material wirklich wird etwa als gesellschaftlicher Reichtum 30 - dann erscheint sie nicht als äußere Macht gegen die Naturgesetze, sondern in Form des Erkennens und des gezielten Anwendens der Naturgesetze für Zwecke, deren Ursprung nicht in der Natur selbst liegt. Da Freiheit nicht als unmittelbare Macht gegen die Naturgesetze, sondern nur in der gezielten Formung von Natur gemäß der Naturgesetze erscheinen kann, muss sie für den Naturwissenschaftler unsichtbar bleiben. Freiheit ist dem Begriff nach gegen die Kausalität der Natur bestimmt. Mit empirischen Methoden werden kausale Zusammenhänge der Natur erfasst. Freiheit ließe sich mit einem solchen Instrumentarium nur dann erfassen, wenn sie entweder selbst ein naturkausal durchgängig bestimmtes Phänomen wäre (dann wäre sie unfrei), oder aber reine Willkür unter den Naturerscheinungen herrschte, an denen das Instrumentarium der empirischen Wissenschaften scheitern müsste - sprich, wenn Naturgesetze ohne

29 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β 561. Kants Freiheitsbegriff wird ausführlicher in den Kapiteln 6 und 7 entfaltet. 30 Vgl. Kapitel 10-11.

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mögliche Angabe von Naturgründen spontan (aus Freiheit) ihre Geltung verlören; in diesem Falle wäre die Natur selbst frei und Naturwissenschaft unmöglich, da sich spontane Naturbewegungen nicht gesetzmäßig begreifen und nach Prinzipien und Regeln ordnen ließen. W ä r e ein naturwissenschaftlicher Beweis der Freiheit möglich, gäbe es e n t w e d e r keine Freiheit oder k e i n e N a t u r w i s s e n s c h a f t . Die Frage, ob der Mensch frei ist, kann darum grundsätzlich nicht mit den Methoden empirischer Forschung untersucht werden, weder im Gehirn noch in Handlungstheorien; denn wenn es Freiheit gibt, lässt sie sich empirisch nicht nachweisen. Freiheit bezieht sich als Eigenschaft nicht auf einen Naturstoff, sondern auf das Bewusstsein, mit dem sie als notwendig verbunden gedacht werden muss - und zwar unabhängig davon, ob ein Subjekt sich als frei oder als unfrei erlebt. Da das Bewusstsein zumindest soweit empirisch zugänglich ist, dass es nicht wie die Freiheit von der Neurobiologie geleugnet werden kann (denn auch die Vorstellung, wir seien unfrei, fällt in ein Bewusstsein), ist hier der Hebelpunkt, von dem aus die Freiheit als metaphysische Realität zu beweisen ist: als transzendentaler Begriff, die als notwendig erschlossene Bedingung der Möglichkeit von Bewusstsein. Schon bei der Bestimmung, was Bewusstsein sei, treten in der Neurobiologie theoretische Probleme auf. Denn dasjenige, was Bewusstsein dem Inhalt nach ist, kommt in den neuronalen Prozessen des Gehirns nicht vor.

2. Vom Problem der Neurobiologie, das Phänomen Bewusstsein zu erfassen

In der aktuellen Debatte um die Willensfreiheit treten Aporien zutage, die in der Philosophie seit über 200 Jahren bekannt sind. Darum brauchen die Argumente nicht neu erfunden zu werden; es genügt, sie neu zu arrangieren. Da die Differenzen zwischen Naturwissenschaftlern, denen nur empirische Begriffe als wahr gelten, und Philosophen, welche die Notwendigkeit und Wahrheit spekulativer Vernunftbegriffe behaupten, hinreichend bekannt sind, soll hier bei einer begrifflichen Gemeinsamkeit angesetzt werden, die empirische und transzendentale Momente vereint. Der Hebelpunkt zur Klärung der Frage nach der Willensfreiheit ist der Begriff des Selbstbewusstseins. Zwar entzieht sich die Freiheit notwendig der Erfassung durch die empirischen Methoden der Naturwissenschaften, zugleich aber ist sie untrennbar mit dem Selbstbewusstsein des Menschen verknüpft. Auch die Hirnforschung stößt ständig auf das Phänomen des empirischen Bewusstseins, das sie weder leugnen noch mit ihren Methoden erfassen kann. Am Selbstbewusstsein erweist sich die Notwendigkeit transzendentalphilosophischer Begriffe. Zwei neurobiologische Forschungsarbeiten und ihre Thesen über das menschliche Bewusstsein sollen hier verglichen werden: Die 1796 veröffentlichte Schrift Ueber das Organ der Seele von Samuel Thomas Soemmerring und die Abschnitte über Ich und Bewusstsein aus Fühlen, Denken, Handeln von Gerhard Roth, das 2003 erschienen ist. In der Entwicklung der Neurobiologie und insbesondere der Kenntnisse über Anatomie und Funktionsweise des menschlichen Gehirns hat die Wissenschaft seit den Forschungen von Soemmerring am Ende des 18. Jahrhunderts Fortschritte zu verzeichnen, die bis zur Erschließung neuer Bereiche der Wissenschaft reichen. Die technische Verbesserung der M e t h o d e n zur Gewinnung empirischer Daten über neuronale Funktionsweisen machte den Schritt von der Hirnanatomie zur Neurophysiologie möglich. Aber zugleich zeichnet sich ein Stillstand in der Reflexion auf die philosophische Dimension der Frage nach der Beschaffenheit des menschlichen Bewusstseins ab. Wenn heutige Neurowissenschaftler das alte Leib-Seele-Problem fur gelöst erklären, dann zumeist deshalb, weil sie es nicht verstehen. Die Frage nach der Vermittlung zwischen Körper und Geist scheint gelöst, wenn ,Geist' mit,Gehirnprozessen' synonym gesetzt wird. Das System der Informationsbearbeitung zwischen Hirn- und Körperzuständen ist zumindest soweit erkannt, dass der Zusammenhang zwischen Reaktionen

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des Körpers und neuronalen Impulsen des Gehirns als grundsätzlich vollständig erklärbar angenommen werden kann. Der Widerspruch zwischen Materiellem und Ideellem scheint sich so zur Seite des Materials hin aufzulösen. Doch das Denken, das nach allen heutigen Erkenntnissen seine notwendige Bedingung in bestimmten neuronalen Strukturen und Funktionsweisen des Gehirns hat, lässt sich nicht hinreichend durch diese erklären - heute sowenig wie vor zwei Jahrhunderten. Dennoch bemüht sich die Forschung nach wie vor darum, das Organ der Seele zu lokalisieren.

Samuel Thomas Soemmerring, Ueber das Organ der Seele Soemmerring hatte insbesondere während des ersten Koalitionskrieges 1793 Gelegenheit, viele Gehirne auch junger Menschen in frischem Zustand zu sezieren. Seine Forschungen stellten einen großen Fortschritt in der Hirnanatomie dar. Sie ermutigten zu neuen Theorien über die organischen Grundlagen des menschlichen Bewusstseins. Insbesondere untersuchte Soemmerring den Verlauf der Nervenbahnen, welche die Sinnesorgane mit dem Gehirn verbinden. Er fand, dass diese Nervenbahnen an verschiedenen Stellen im Hirn enden und sich nicht berühren. Da jedoch alle Wahrnehmung in e i η Bewusstsein fallt, die verschiedenen Reize in einem ,Ich' oder in einer menschlichen ,Seele' zusammenfallen, suchte Soemmerring nach einer verbindenden Struktur dieser Nervenbahnen; denn dieser gemeinsame Empfindungsort (sensorium commune), so seine Hypothese, könne nur der Sitz des Bewusstseins oder das Organ der Seele sein. Doch blieb diese Suche nach der alle Sinnesnerven verbindenden Substanz in den von Soemmerring untersuchten Gehirnen erfolglos; die Nervenenden schienen in oder an den Wänden der Hirnhöhlen zu enden, führten also gewissermaßen in Sackgassen, anstatt sich miteinander zu verbinden. Dies machte den Forscher in seiner Suche ratlos, bis er der bisher wenig beachteten Hirnflüssigkeit seine Aufmerksamkeit widmete. Diese Flüssigkeit - welche beim Sezieren ausläuft und hirnanatomisch bedeutungslos schien, weil sie keine organisierte Struktur aufweist - füllt die verschiedenen Höhlen des Gehirns und stellt auch unter ihnen eine Verbindung dar. Alle Nervenextreme, die an den Wänden der Hirnhöhlen enden, berühren also mehr oder weniger deutlich die Flüssigkeit in den Hirnhöhlen. Wenn nun, so Soemmerring, jede äußere Stimulation der Nerven dieser Flüssigkeit mitgeteilt werde, dann lasse sich annehmen, dass jede sinnliche Empfindung - als gewusste Empfindung, nicht als bloßer Reiz - in der Flüssigkeit der Hirnhöhlen entstehe. Der gemeinschaftliche Empfindungsort der Sinne müsse folglich in dieser Flüssigkeit zu finden sein.1

1 Vgl. Samuel Thomas Soemmerring, „Ueber das Organ der Seele" (1796), bearbeitet und herausgegeben von Manfred Wenzel, in: Samuel Thomas Soemmerring Werke, Bd. 9, Basel 1999, §§ 16 ff.

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Soemmerrings These lautete darum: Die Flüssigkeit der Hirnhöhlen ist das Organ des sensorium commune, das Organ der Seele. 2 Nachdem Soemmerring diese These aufgestellt hatte, schien sie sich durch hirnanatomische Daten stützen zu lassen. So enden ζ. B. die menschlichen Seh- und Hörnerven direkt an der Hirnhöhlenwand, so dass sie dort mit bloßem Auge sichtbar sind und in direktem Kontakt mit der Hirnflüssigkeit stehen, während der Riechnerv im Inneren der Wand verdeckt liegt. Bei Hunden und anderen Tieren, die sich stark über den Geruch orientieren, fand Soemmerring den umgekehrten Fall. Wenn das Bewusstsein in der Hirnflüssigkeit liege, werde hierüber verständlich, warum Auge und Ohr diejenigen Sinnesorgane sind, welche dem Menschen die sensibelsten und eindringlichsten Empfindungen verschaffen, während bei anderen Tieren andere Sinne, wie der Geruchssinn, die ausgeprägtesten sind. Dass Tiere kleinere und vor allem anders geformte Hirnhöhlen besitzen als der Mensch, nahm Soemmerring als Ursache ihrer schlichteren Seele. 3 Doch auch beim Menschen glaubte er eine Korrelation zwischen quantitativen Unterschieden der Hirnflüssigkeit und quantitativen Differenzen der Geistesleistung festgestellt zu haben. Je mehr Flüssigkeit im Gehirn angetroffen werde, so seine These, desto beweglicher sei der Geist. So will Soemmerring in den Gehirnen von klugen und begabten Menschen mit schneller Auffassungsgabe mehr Flüssigkeit und auch ein insgesamt weicheres Gehirn gefunden haben, wogegen langsame Gemüter sich durch eine eher feste Hirnmasse mit wenig Flüssigkeit auszeichneten. Man mag heute darüber lachen, aber diese These ist nicht weniger plausibel als beispielsweise jene, welche Schnelligkeit im Denken auf eine besonders große Anzahl neuronaler Verknüpfungen zurückfuhren will. Die Flüssigkeit des Gehirns als zusammenhängende Einheit, in der alle Sinnesnerven münden und von der alle motorischen Nervenbahnen ausgehen, sei nach Soemmerring das Vermittelnde zwischen allen Nervenreizen und den Empfindungen des Bewusstseins. In den weiteren Ausführungen und Thesen Soemmerrings wird diese Hirnflüssigkeit zu einem Doppelten: Einerseits zum bloßen Naturstoff, der mechanisch/physikalisch auf die eintreffenden Reize mit naturkausalen Rückwirkungen reagiere; zugleich jedoch solle dieser Naturstoff auch ein ideeller Stoff, nämlich Bewusstsein oder Geist, sein oder einen solchen stiften, denn er stelle die Einheit des Bewusstseins dar, in die alle gefühlten Reize fallen, und zwar als einheitlicher Stoff, in den alle Sinnesnerven münden. Soemmerring sucht ein erstes Prinzip, auf das alle Nerven hinfuhren und das ihr gemeinsames Drittes sei, in der Hirnflüssigkeit. Im sensorium commune sollen die Gefühle und Empfindungen entstehen, die als mit den Nervenreizen verbunden vorgestellt werden, aber zugleich etwas ganz anderes, nämlich Subjektives und Gewusstes, seien. Soemmerring sieht seine These, dass dieses Organ der Seele kein festes Substrat wie die Nervenbahnen, sondern eine Flüssigkeit sei, dadurch gestützt, dass die Verschiedenheit

2 Vgl. Samuel Thomas Soemmerring, „Ueber das Organ der Seele", § 28. 3 Vgl. Samuel Thomas Soemmerring, „Ueber das Organ der Seele", § 45.

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von Reiz und Empfindung analog zur Verschiedenheit von festem Substrat und Flüssigkeit sei. „Es blieb mir immer unbegreiflich, wie man dies Sensorium commune in einem sogenannten soliden Theile, besser, einem starken, rigiden Theile des Hirns suchen konnte; da ja dann schlechterdings kein Grund vorhanden wäre, wie so etwas von der durch den Nerven erfolgenden Bewegung Verschiedenes, als eine Empfindung ihrem Wesen nach seyn muß, alsdann entstehen könnte? [...] Nehme ich hingegen an: Die durch den Nerven nach dem Hirne zu erfolgende Bewegung bleibe bis zu seiner Hirnendigung die nämliche (denn warum sollte man eine Aenderung in der Wirkung annehmen, so lange man im Baue des Nervens gar keine Veränderung bemerkt?), theile sich nun aber, wo der Nerv aufhört, der Hirnhöhlenfeuchtigkeit mit: so wird wenigstens begreiflich, daß nun etwas sehr Verschiedenes - eine Empfindung nämlich - entstehen kann; ungeachtet man weder das, Was geschieht, noch die Art, Wie es geschieht, anzugeben vermag." 4 Soemmerring schwankt in seiner Theorie zwischen zwei Positionen, die heute als Dualismus und Identitätstheorie bekannt sind. Zuerst geht er davon aus, dass die Hirnflüssigkeit die Seele i s t , ein eigentümlich flüchtiges, weil flüssiges Organ. 5 Doch da er nicht erklären kann, wie Empfindungen entstehen und was genau die Bewusstheit des Menschen ausmacht, zögert Soemmerring später, die Hirnflüssigkeit selbst das eigentliche Bewusstsein oder die Seele zu nennen. Sie sei vielmehr nur ihr Organ, was bedeute, dass sie die Schnittstelle zwischen Materiellem und Ideellem sein solle. Soemmerring nimmt damit einen Gedanken auf, der vor ihm vor allem von Descartes 6 und später von Eccles und Popper 7 ausgeführt wurde: Die These, das Gehirn sei ein Organ, welches vom Ich als Werkzeug gebraucht werde, um sich mit der materiellen Welt zu vermitteln (durch Handlungen, Sprache etc.). Ohne dieses Werkzeug sei keine Betätigung des Ich möglich - und ohne Subjekt, das sich seiner bediene, liege das Hirn gleichsam brach.

4 Samuel Thomas Soemmerring, „Ueber das Organ der Seele", § 31, 35 f (197 f)· 5 Wie Blut oder Lymphflüssigkeit auch, was auch beim damaligen Wissensstand zeigt, dass die Besonderheit nicht durch die flüssige Form, sondern durch die angenommene Bedeutung der Hirnflüssigkeit gestiftet wird. 6 Der organische Ort der Wechselwirkung zwischen Körper und Geist ist bei Descartes die Zirbeldrüse (Epiphyse). Dieses Organ sei durch beide zu bewegen (nach mechanischen Bewegungsgesetzen), wobei jede Bewegung durch den Körper sich dem Geist mitteile und der Geist wiederum durch gezielte Bewegung der Zirbeldrüse die ihr ausströmenden Animalgeister in die verschiedenen Nervenbahnen lenken könne und so auf den Körper einwirke (vgl. René Descartes, Oeuvres XI, 172-179, 354f).

7 Vgl. Karl R. Popper und John C. Eccles, Das Ich und sein Gehirn (The Self and it's Brain), München, Zürich 1989, insbesondere Kapitel P2, 61 ff. Hiernach ist das Ich der „Steuermann", der „irgendwie" („somehow") auf das Gehirn als ganzes einwirke und so eine Vermittlung zwischen „Welt 1" (Körper) und „Welt 2" (Geist) herstelle. Hierdurch lebe der Mensch als Gattung in der von ihm erschaffenen „Welt 3" (Gesellschaft).

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Die liquide Form der Materie, in der auch schwache Impulse verschiedener Art (elektrische, chemische, mechanische) deutlich weitergeleitet werden können, was in fester Materie so nicht möglich wäre, sei nach Soemmerring das geeignete Medium, um zwischen Bewusstsein und Hirnmasse zu vermitteln. Die physischen Eigenschaften einer Flüssigkeit werden als geeigneter vorgestellt, sich mit dem Nichtphysischen zu vermitteln, als die Eigenschaften fester Materie. Andersherum soll auch eine außerphysische Kraft leichter auf flüssige als auf feste Materie einwirken können, weil Flüssigkeiten einen guten Leiter auch für kleinste Impulse darstellten. 8 Zwei grundlegende Fehler sind in diesen identitätstheoretischen Überlegungen zu finden: Zum einen ist ein Gefühl von einer festen wie von einer flüssigen Masse gleichermaßen unterschieden. Empfindungen sind weder fest noch flüssig - sie sind als subjektive Zustände immer ideell und kennen keine Aggregatzustände. Zum anderen folgt Soemmerring, wenn er wie Thaies 9 ein erstes Prinzip in der Flüssigkeit annimmt, auch dessen Fehlern: Wenn diese übergeordnete Einheit alle Impulse des Materials vereinen soll, um sie zu einem Bewusstsein zusammenzufügen, muss auch die Hirnflüssigkeit selbst mit allen ein- und ausgehenden Impulsen unter diese Einheit fallen. Es bedürfte also wiederum einer höheren Einheit, welche die Hirnflüssigkeit unter sich fasste und so fort. Ein empirisches Material kann nicht zugleich Prinzip des empirischen Materials sein, da es selbst dann zugleich Material und sein eigenes Prinzip sein müsste, was sich widerspricht. Dieses Problem des infiniten Regresses umgeht Soemmerring später, wenn er die Hirnflüssigkeit nicht zur Seele selbst, sondern zur Vermittlungsinstanz zwischen Leib und Seele erklärt. Aber bei dieser dualistischen Auffassung stellt die Annahme, Nervenimpulse liefen in der Hirnflüssigkeit zu andersartigen Impulsen zusammen, keinen Erklärungsfortschritt dar. Denn die Art der Vermittlung zwischen Bewusstsein und dem Hirnmaterial wird durch die Annahme eines anderen Materialzustandes mit anderen Eigenschaften keinen Deut klarer, da Bewusstsein hier als ideell begriffen wird - und darum nicht einer Materialeigenschaft ähnlicher sein kann als einer anderen. Das Ideelle ist als Nichtmaterielles dem Flüssigen in gleichem Maße unverwandt wie dem Gasförmigen oder dem Festen. Soemmerring verlagert hier also lediglich den Ort des Problems. Soemmerrings Theorie über die Hirnflüssigkeit mag vom heutigen Stand der Wissenschaft aus absurd wirken. Aber der Versuch der Lokalisation des Ideellen im Material des Gehirns ist auch heute ein aktuelles Thema. Der Sitz des Ich, des Bewusstseins und des freien Willens im Gehirn wird weiterhin gesucht und gilt teilweise als gefunden. Der theoretische Ansatz hat sich hierbei seit Soemmerring nicht wesentlich verändert, wie sich im Folgenden an der Theorie des Bewusstseins von Gerhard Roth zeigen wird.

8 Vgl. Samuel Thomas Soemmerring, Ueber das Organ der Seele, 75. 9 Thaies (etwa 624-546 v. Chr. nach dem antiken Chronologen Apollodor) nahm als erstes Prinzip des Seins, als Urgrund aller Dinge, das Wasser an (vgl. Aristoteles, Metaphysik, Buch I, Kapitel 3, 983 b).

ICH UND BEWUSSTSEIN BEI GERHARD ROTH

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Die Bestimmungen von Ich und Bewusstsein bei Gerhard Roth Roth widmet in seinem Buch Fühlen, Denken, Handeln dem Ich und dem Bewusstsein zwei verschiedene Kapitel (Kapitel 7: Das Bewusste und das Unbewusste und Kapitel 11: Die Bildung des Ich und der Persönlichkeit). Doch inhaltlich sind beide nicht voneinander abgegrenzt. „Ich und Bewusstsein hängen phänomenal und funktional eng miteinander zusammen, sind aber nicht identisch. [...] Es gibt Bewusstseinszustände wie allgemeine Wachheit (Vigilanz), die nicht mit einem deutlichen Ich-Gefühl verbunden sind. [...] Umgekehrt ist es vernünftig, von unbewussten Ich-Zuständen auszugehen, wie Freud dies tut. Ich und Bewusstsein entwickeln sich aber weitgehend parallel und verbinden sich meist aufs Engste." 10 Sowohl ,Ich' als auch ,Bewusstsein' treten bei Roth als bewusste und als unbewusste auf. Beide werden von ihm in acht unterschiedliche Zustände aufgeteilt, bei beiden sollen diese verschiedenen Zustände in einem Empfindungs-Strom verbunden werden. Zudem werden Ich und Bewusstsein laut Roth weitgehend in denselben Hirnarealen verortet. Darum ist nicht einsichtig, warum er sie dennoch „nicht identisch" nennt. Da sie bei Roth der Sache nach Synonyma sind, werden in der folgenden Darstellung von Roths Theorie Ich und Bewusstsein synonym behandelt. Roth unterscheidet das Ich in folgende acht Zustände: 1. Das Körper-Ich 2. Das Verortungs-Ich 3. Das perspektivische Ich 4. Das Ich als Erlebnis-Subjekt 5. Das Autorschafts- und Kontroll-Ich 6. Das autobiographische Ich 7. Das selbst-reflexive Ich 8. Das ethische Ich (Gewissen) 11 Die von ihm unterschiedenen Bewusstseinszustände sind den verschiedenen Ich-Zuständen weitgehend analog. Erstere unterteilt er in ein Hintergrundbewusstsein (1-5), das normalerweise konstant ist (dies ist mein Körper, ich bin es, der handelt u. s. w.), und ein Aktualbewusstsein (6-8), in das die ständig wechselnden Sinneseindrücke und Inhalte des Denkens fallen. „Beide [das Hintergrundbewusstsein und das Aktualbewusstsein; C. Z.] zusammen bilden den charakteristischen Strom des Bewusstseins, [...] der nur im Tiefschlaf und

10 Gerhard Roth, Fühlen, Denken, Handeln, 379. 11 Vgl. Gerhard Roth, Fühlen, Denken, Handeln, 379 f.

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bei Bewusstlosigkeit unterbrochen ist. [...] Es gibt also nicht das Bewusstsein schlechthin, sondern eine Vielzahl von ganz verschiedenartigen Bewusstseinszuständen, die eben nur die beiden Merkmale gemeinsam haben, dass sie bewusst erlebt und sprachlich berichtet werden können." 12 Da es eine Tautologie ist, dass Bewusstsein bewusst erlebt werden kann, wird hier im Folgenden nur von einem Merkmal ausgegangen, nämlich von der sprachlichen Berichtbarkeit von Bewusstseinszuständen. 13 Doch zunächst zu der Frage, wie diese verschiedenen Zustände zu einem gemeinschaftlichen Strom verbunden werden sollen. Und davor steht logisch die Frage danach, wodurch die einzelnen Bewusstseinszustände überhaupt getrennt sind. Die Trennung der einzelnen Ichs bei Roth folgt nicht streng einer Trennung in verschiedene Hirnareale, an denen sie verortet werden, vielmehr gibt es hier Überschneidungen. So ordnet er Körper-Ich und Verortungs-Ich dem hinteren und unteren Parietallappen zu und sowohl perspektivisches-Ich als auch Erlebnis-Subjekt sollen in ihrer Aktivität u. A. an den rechten unteren Temporallappen gebunden sein. Zudem lässt sich von Hirnarealen nicht auf Ich-Zustände schließen. Ihre Trennung sei nach Roth das Ergebnis psychiatrischer Forschungen, denn erst bei Erkrankungen und/oder Verletzungen werde deutlich, welche Ich-Zustände voneinander unterschieden werden könnten und welchen Arealen sie entsprechend zuzuordnen wären. „Man unterscheidet diese verschiedenen Ich- und Bewusstseinszustände vor allem deshalb, weil sie bei Hirnerkrankungen bzw. nach Hirnverletzungen unabhängig voneinander beeinträchtigt sein können." 14 Roth gewinnt seine verschiedenen Ich-Zustände also aus der Vorstellung, bei psychischen Krankheiten würden ein oder mehrere IchModule ausgeschaltet bzw. eingeschränkt. Aus dem sich ergebenden Krankheitsbild könne dann negativ ein Ich-Zustand von anderen geschieden werden. Ebenso wie diese Zustände empirisch als unterscheidbare aufgefunden wurden, ist auch ihre Einheit für Roth ein vorgefundenes Phänomen. 15 Ein Phänomen, dessen einzelne Zustände bezeichnenderweise nur im Krankheitsfall aufgefunden werden können. Empirisch kommen die abgetrennten Ich-Zustände Roth zufolge im gesunden Menschen nicht als unterscheidbare vor. Das reguläre Ich durch das Zusammenbinden nega12 Gerhard Roth, Fühlen, Denken, Handeln, 197 f. 13 Bei Descartes, auf den Roth sich implizit oft bezieht, werden tatsächlich zwei Merkmale für Bewusstsein genannt: 1. Sprache, die nicht nur einzelne Worte enthält, sondern zugleich auf deren Bedeutung ausgerichtet ist; 2. Einsicht, durch die Handlungen nicht bloß stereotype Verrichtungen sind, sondern ein vernunftgeleitetes technisch-praktisches Vermögen zeigen. Vgl. Descartes, Von der Methode, Hamburg 1960, 91 ff. 14 Gerhard Roth, Fühlen, Denken, Handeln, 380. Im Gegensatz zu großen Teilen der psychiatrischen Forschung kommen psychische Erkrankungen bei Roth nur als Ausfalle bestimmter Himleistungen vor, nicht als Produktionen. 15 Und nicht etwa logische Notwendigkeit wie das ,Ich denke', das all meine Vorstellungen begleiten können muss, die ursprünglich-synthetische oder transzendentale Einheit der Apperzeption bei Kant. Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β 131 f.

ICH ÜND BEWUSSTSEIN BEI G E R H A R D R O T H

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tiv gewonnener Einzelzustände aus Beobachtungen an Krankheitsfällen konstruieren zu wollen, ist ein höchst spekulatives Vorgehen; die zugrunde liegende Vorstellung eines modularen Ichs ist durch den Bezug auf psychische Erkrankungen nicht zu beweisen, sondern sie ist lediglich eine bestimmte Deutung der Erkrankungen. Hierauf wird dann Roths Hypothese vom Zusammenbinden der Ich-Zustände im gesunden Selbstbewusstsein aufgebaut, jedoch in keiner Weise erklärt. „Wir erleben diese vielen ,Ich-Zustände' in aller Regel als ein einheitliches Ich. [...] Wie dieses Zusammenbinden zustande kommt, ist ebenso rätselhaft wie bei dem sehr verwandten und viel diskutierten Problem des Zusammenbindens der verschiedenen Bewusstseinsinhalte" 16 Zwei Möglichkeiten, wodurch diese Einheit gestiftet werden mag, führt Roth an. Erstens könnten die „Inhalte aus unterschiedlichen Hirnarealen in das präfrontale Arbeitsgedächtnis ,hineingeladen' und dort zu einer vorübergehenden lokalen Netzwerkeinheit zusammengefügt werden". 17 Über diesen gemeinsamen Ort, dessen Inhalte wechseln, könnte Roth immanent den ständigen Wechsel der Inhalte des Aktualbewusstseins erklären. Allerdings müssten die Inhalte des Hintergrundbewusstseins dann permanent im präfrontalen Arbeitsgedächtnis vorhanden sein, was Roths Annahme widerspräche, dass dieses Areal ein Kurzzeitgedächtnis sei, welches nur das enthalte, woran es gerade ,arbeitet'. Die zweite Möglichkeit besteht darin, dass die „Inhalte nicht wirklich örtlich vereinigt werden, sondern über langreichweitige Synchronisationen ein ,virtuelles cortikales Netz' bilden." 18 Mit dem Begriff der Synchronizität haben der Psychologe C. G. Jung und der Physiker W. Pauli versucht, eine Brücke zwischen ihren Disziplinen zu schlagen. „Als synchronistisch wird ein Ereigniskomplex bezeichnet, in dem verschiedene Komponenten sinnvoll zusammentreffen, ohne dass zwischen ihnen ein kausaler oder als notwendig erkennbarer Zusammenhang besteht. Synchrone Ereignisse können nur psychologisch festgestellt werden, da der Sinnbegriff physikalisch nicht fundiert ist." 19 Roth unterschlägt hier, dass Synchronizität dem Begriff nach schon eine psychologische Interpretation eines Phänomens als .sinnvoll' impliziert und fasst die synchronisierten Prozesse im Gehirn als rein physikalische Tatsache auf. Doch auch immanent verleiht dies seiner Theorie keine Konsistenz, da diese Annahme der ,langreichweitigen Synchronisationen' wiederum eine Trennung in Aktual- und Hintergrundbewusstsein schwierig macht, weil alle synchronisierten Areale wohl gleichermaßen ins Bewusstsein kommen müssten. Auch wäre das subjektiv erlebte Nacheinander von Bewusstseinszuständen des Aktualbewusstseins im ,Strom des Bewusstseins' hierüber schwer zu er-

16 Gerhard Roth, Fühlen, Denken, Handeln, 17 Ebd. 18 Ebd.

381.

19 Reinhard Oliver, „Grundzüge einer Gehirntheorie", in: Hans-Peter Krüger (Hg.), Hirn als Deutsche Zeitschrift für Philosophie Sonderband 15, Berlin 2007, 396.

Subjekt?,

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klären, da alle synchronisierten Inhalte gleichzeitig bewusst sein müssten. Wenn man hingegen annimmt, dass die Synchronisationen mit den Inhalten des Bewusstseins wechselten, wird das Problem, wodurch eine Einheit im Wechsel gestiftet werden soll, lediglich verlagert. Über diesen immanenten Problemen bei der Suche nach der materiellen Einheit des Bewusstseins steht die Frage, was Bewusstsein Roth zufolge überhaupt ist. Bewusstsein definiert Roth als empirisch messbares Phänomen, dessen Indikator die sprachliche Berichtbarkeit sei. Bewusstsein ist bei Roth also kein Reflexionsbegriff, sondern ein empirischer Begriff, der durch empirische Methoden erkannt werden könne. Durch die „Darstellung des komplizierten Verhältnisses von neuronalen Prozessen und mental psychischen Erlebniszuständen" 20 sei die Einheit des Bewusstseins vollständig erfassbar. Was bei Soemmerrings identitätstheoretischen Überlegungen die Hirnflüssigkeit war, ist bei Roth das präfrontale Arbeitsgedächtnis oder das synchronisierte Netzwerk, nämlich diejenige Gehirnfunktion, in der sich die Empfindungs- und Denkprozesse vereinen und die so die Einheit des Bewusstseins stifte, das Ich im Wechsel seiner Zustände. Das Leib-Seele-Problem, das sich bei Soemmerings dualistischen Auslegungen, in denen er mit dem philosophischen Begriff von Bewusstsein als Reflexionsbegriff arbeitete, in dem Ringen mit der Frage nach der Vermittlung von Mentalem und Organischem stellte, taucht so bei Roth nicht mehr explizit auf. Er sieht kein grundsätzliches Vermittlungsproblem, sondern nur ein „kompliziertes Verhältnis" zweier Materialeigenschaften. Hirnprozesse und Erlebniszustände lassen sich Roth zufolge grundsätzlich mit naturwissenschaftlichen Methoden ineinander überfuhren, weil sie beide empirisch wirklich seien und dies nur als Wirkungen des Materials sein könnten. Wo Soemmerring aus einem Materiellem ein Ideelles machte, ist Roth konsequenter und erklärt ein Transzendentales zu einem Empirischem. Dennoch bleiben Roth Schwierigkeiten in der Erklärung des Phänomens Bewusstseins, die er durch einen nichtreduktionistischen Anteil in seiner Theorie zu lösen versucht. Er nennt seine Theorie den „nichtreduktionistischen Physikalismus". Nichtreduktionistisch, weil er nicht davon ausgeht, „man könne alles Mentale bzw. Psychische vollständig auf physische bzw. neurobiologische Geschehnisse reduzieren. [...] Gegen einen ontologischen Reduktionismus spricht, dass es in den Neurowissenschaften bisher nicht gelingt, die Eigenschaften des Mentalen bzw. Psychischen aus den Eigenschaften neuronaler Erkenntnisse logisch zwingend abzuleiten." 21 Physikalismus, weil Roth zugleich davon ausgeht, dass „es gar keine Einwirkung nichtphysischer Ereignisse auf physische Geschehen geben [kann]." 22

20 Gerhard Roth, „Worüber Hirnforscher reden dürfen", Deutsche Zeitschrift fiir Philosophie Band 52, Berlin 2004, 233. 21 Gerhard Roth, Fühlen, Denken, Handeln, 242. 22 Gerhard Roth, Fühlen, Denken, Handeln, 244.

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Roth weiß, dass die Zuordnung bestimmter Bewusstseinszustände zu neuronalen Prozessen nicht aus diesen Prozessen selbst heraus möglich ist, sondern dass eine solche Zuordnung schon immer das Wissen um bestimmte Bewusstseinszustände voraussetzt. „Erst nachdem ich eine verlässliche Korrelation zwischen mentalen bzw. psychischen Zuständen einerseits und neurobiologischen Ereignissen andererseits festgestellt habe, kann ich, sofern ich dies für sinnvoll halte, statt ,er empfindet jetzt große Lust' sagen: ,in seinem limbischen System werden gerade endogene Opiate ausgeschüttet'". 23 Eine Korrelation - auch eine verlässliche Korrelation' von nahezu 1 - stellt selbst keine Kausalität dar. Dass der eine Zustand die Ursache des anderen sei, ist eine Interpretation. Diese Interpretation setzt einen bestimmten Begriff von Bewusstsein voraus. Bewusstsein sei ein empirisches Phänomen, das sich an einzelnen Menschen mittelbar beobachten lässt, wenn diese von ihren Bewusstseinszuständen berichten. Bewusstsein kann auf diese Weise gar nicht anders denn als empirisches Phänomen begriffen werden - doch zugleich erscheint es nicht als Materialeigenschaft, sondern nur als Bewusstsein. Das Leib-Seele-Problem ist durch diese Auffassung von Bewusstsein als einer Wirkung des Gehirns nicht gelöst - es wird vielmehr gar nicht erst als Problem begriffen und zeigt sich doch in dem Rothschen Widerspruch, dass Bewusstsein als rein physikalischer Prozess verstanden wird, dessen Resultat nicht auf diesen Prozess reduzierbar sein soll. Indem Bewusstsein als Phänomen, also nur als Erscheinung, gefasst werden soll, kann die „neurophilosophische" Theorie von Roth nur feststellen, d a s s es ist, aber nicht begreifen, w a s es ist - weil Bewusstsein, wie Roth selbst sagt, n i c h t l o g i s c h a u s dem, sondern n u r z e i t l i c h a u f das Feuern bestimmter neuronaler Zentren folgt. Es lässt sich nicht annähernd angeben, w i e aus neuronalen Aktivitäten Bewusstseinsphänomene wie Angst, Wünsche, politische Einstellungen oder kulturelle Vorlieben entstehen können. Dass sie hieraus entstehen sollen, erschließt sich für Roth aus der starken Korrelation zwischen mentalen Zuständen und neurobiologischen Erscheinungen. Doch weil die Art des inhaltlichen Zusammenhangs prinzipiell nicht bestimmt werden kann, folgt aus diesen Korrelationen keine ursächliche Erklärung für einen bestimmten Inhalt des Denkens. Neben der Korrelation gibt es einen stärkeren Hinweis auf den ursächlichen Zusammenhang von Geistestätigkeit und Gehirntätigkeit. Man kann schon lange negativ zeigen, dass geistige Fähigkeiten eingeschränkt werden, wenn Gehirnfunktionen gestört sind, und man kann neuerdings auch positiv zeigen, wenngleich nur in begrenzter Weise, dass bestimmte Gefühle oder Halluzinationen auf elektrische Reizungen bestimmter Hirnareale folgen. Ersteres zeigt, dass die neuronale Aktivität notwendige Bedingung geistiger Tätigkeit ist; letzteres lässt vermuten, dass sie auch hinreichende Bedingung sein kann. Hierauf stützt sich Roths Physikalismus, wenn er z. B. die Freiheit des Willens leugnet. Wie Bewusstsein begreift Roth auch Freiheit als einen empiri-

23 Gerhard Roth, Fühlen, Denken, Handeln, 242 f.

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VOM PROBLEM DER NEUROBIOLOGIE

sehen Begriff. Da alle Hirnprozesse - zumindest im Prinzip - naturwissenschaftlich erklärbar sind und kein Material sich gegen die Naturgesetze verhalten kann, unterliege auch das Gehirn in seinen Aktivitäten und damit zugleich alle Bewusstseins- und Willensinhalte diesen Gesetzen vollständig. „Trotz intensiver Erforschung des Gehirns hat man auch keinerlei Hinweis darauf gefunden, dass es so etwas wie eine ,rein geistige' (oder ,mentale') Verursachung gibt. Jeder Willensakt, jede sonstige geistige Tätigkeit ist untrennbar an physiologische Vorgänge gebunden, die ihrerseits bekannten chemischen und physikalischen Gesetzmäßigkeiten gehorchen." 24 Freiheit zu beweisen hieße demnach für Roth, nichtkausale Naturphänomene mit empirischen Methoden im Gehirn nachzuweisen. Da dies nicht möglich ist, 25 gibt es nach Roth keine Freiheit. Dass es dennoch ein Bewusstsein gibt (ein Bewusstseins ohne Freiheit, was philosophisch betrachtet einem Dreieck ohne Seiten gleicht) lässt sich so zwar nicht erklären, aber deutlich empirisch feststellen: Menschen können von ihren Bewusstseinszuständen berichten und auch der Hirnforscher kann sein eigenes Bewusstsein deutlich wahrnehmen. Und da es korrelierende Himaktivitäten gibt, lässt sich für die Hirnforschung dann zirkulär bestimmen, was das Bewusstsein sei: „Bewusstsein ist unabweislich ein makrophysikalischer Prozess, sonst wäre es mit den gängigen neurobiologischen Registriermethoden gar nicht erfassbar." 26 So ergibt sich ein Widerspruch, dem Roth vergeblich durch das ,Nichtreduktionistische' seiner Theorie zu entrinnen sucht. 27 Bewusstsein kann mit empirischen Methoden nur indirekt als Phänomen, als subjektive Äußerung von Bewusstsein, festgestellt werden, aber begriffen werden kann es mit denselben Methoden nur als physikalischer Prozess - ein Vorgang, der subjektiv unbewusst ist, wie Roth richtig bemerkt. Das Bewusstsein weiß nur seinen Inhalt, die korrelierenden neuronalen Prozesse erschließen sich nicht aus diesem Inhalt. Selbst wenn ich genau wüsste, an welcher Stelle meines frontalen Cortex neuronale Aktivität dem Gedanken an mein limbisches System korrelierte, fallen gedachter Inhalt und neuronales Korrelat nicht in einem Bewusstsein zusammen - sowenig, wie in einer Gehirnaktivität. Das Problem der Neurobiologie, das Phänomen Bewusstsein zu begreifen, besteht somit darin, dass es sich diesem Griff stets entzieht: Es kann mit den „gängigen neuro-biologischen Registriermethoden" nur als dasjenige erklärt werden, was es nicht ist.

24 Gerhard Roth, Fühlen, Denken, Handeln, 244. 25 Vgl. Kapitel 1. 26 Gerhard Roth, Fühlen, Denken, Handeln, 245. 27 Gerhard Roth ist nicht der Einzige, der auf diesen Widerspruch in der Sache mit einer widersprüchlichen Theorie reagiert. So formuliert ζ. B. Wolfgang Detel „die Idee einer nicht-reduktiven Naturalisierung mentaler Eigenschaften". Vgl. Wolfgang Detel, „Forschung über Hirn und Geist", in: HansPeter Krüger (Hg.), Hirn als Subjekt?, Deutsche Zeitschrift für Philosophie Sonderband 15, Berlin 2007, 144.

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Der Grund dieses Widerspruches ist bei Roth derselbe, auf den Kant schon in seinem Kommentar zu Soemmerrings Schrift über das Organ der Seele hinwies: „Nun kann die Seele sich nur durch den inneren Sinn, den Körper aber (es sei inwendig oder äußerlich) nur durch äußere Sinne wahrnehmen, mithin sich selbst schlechterdings keinen Ort bestimmen, weil sie sich zu diesem Behuf zum Gegenstand ihrer eigenen äußeren Anschauung machen und sich außer sich selbst versetzen müßte; welches sich widerspricht." 28 Diesem logischen Widerspruch muss jeder Versuch einer Verortung des Bewusstseins notwendig erliegen.

28 Immanuel Kant, „Aus Sömmering, über das Organ der Seele", in: Wilhelm Weischedel (Hrsg.) Werke Bd. 6: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, Darmstadt 1998, 259. Dieser Widerspruch lässt sich nicht, wie es in oft behauptet wird, in zwei verschiedene Perspektiven, die innere Erste-Person-Perspektive und die äußere Dritte-Person-Perspektive, auflösen. Vgl. Kapitel 6.

3. Das Subjekt unserer Handlungen Kann der Mensch, wie er will oder will er, wie er muss?

Am 08. 01. 2004 erschien in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein Beitrag von dem Hirnforscher Wolf Singer mit dem Titel Keiner kann anders, als er ist und dem Untertitel Verschattungen legen uns fest: Wir sollten aufliören, von Freiheit zu reden. Diese Paarung von strengem Determinismus und gleichzeitigem Appell an die Einsichtsfähigkeit vernunftbegabter Wesen ist bezeichnend für Singers Standpunkt. Im genannten Zeitungsartikel legt Singer seine Position zur Willensfreiheit pointiert dar, was auch ihre Widersprüche in entlarvende Nähe zueinander rückt. Eine gründliche Textexegese dicht am Originaltext wird zeigen, was genau Singer meint, wenn er das Gehirn das „Organ, das unser Wesen ausmacht" 1 nennt, und wie sich die Subjektverschiebung von der Person zum Gehirn und schließlich über die Gesellschaft zur Natur in seiner Theorie vollzieht. Indem sich die Analyse Singers Text anvertraut und all seinen argumentatorischen Windungen folgt, kann sie aufzeigen, wo er seiner immanenten Logik nach hinfuhrt - nämlich dorthin, wo Singer explizit nicht landen will: Seine Thesen fuhren zur Nivellierung der wesentlichen Differenz zwischen Mensch und Tier. „Alles Wissen, über das ein Gehirn verfugt, residiert in seiner funktionellen Architektur, in der spezifischen Verschaltung der vielen Milliarden Nervenzellen." Gleich in diesem ersten Satz des Artikels ist das Gehirn das Subjekt, das über Wissen verfugt und zugleich ist es der Ort, an dem das Wissen residiert. Das Wissen einer Person ist laut Singer nur eine - vermutlich kleine - Teilmenge des Gesamtwissens eines Gehirns. Das Subjekt des Gesamtwissens sei nicht die Person, die nur den bewussten Teil des Wissens weiß, sondern das Gehirn. Dieses verfuge neben dem bewussten Wissen auch über alle unbewussten Teile, die jemals durch Erfahrung erworben oder genetisch in die Gehirnstruktur eingeschrieben wurden. Indem das Gehirn über das Wissen verfüge, mache es aktiven Gebrauch von ihm. Somit ist das Gehirn nach Singer sowohl Ort des Wissens als auch Herr über das Wissen. Als Ort des Wissens benennt Singer die Form des Gehirns; in seiner individuellen Gestalt (die Singer als die spezifische Gestalt bezeichnet) liege sein individuelles (spezifisches') Wissen. Wenn das Gehirn zugleich aktives Sub1 Wolf Singer, „Keiner kann anders, als er ist", Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08 .01. 2004. Alle folgenden nicht gesondert ausgewiesenen Zitate entstammen ebenfalls diesem Artikel.

KANN DER MENSCH, WIE ER WILL ODER WILL ER, WIE ER MUSS?

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jekt im Verfugen über Wissen und Ort des Wissens, also dessen materiale gespeicherte Gestalt sein soll, fallen das Objekt - nämlich das Gehirn als Gestalt des gespeicherten Wissens, auf das zugegriffen wird - und das Subjekt - nämlich das Gehirn als Verfliger über das Wissen, der es einsetzt, um aufgrund möglichst reichhaltiger Datenlage Entscheidungen zu treffen - zusammen. Dies heißt: Das Wissen wendet sich selbst an. Woher kommt nun der Zweck, auf den diese Anwendung des Wissens (die spezifische Gehirngestalt) durch sich selbst (durch das spezifische Gehirn) gerichtet sein soll? Die Antwort liefert der zweite Satz des Artikels: „Auf Grund evolutionärer Anpassung sind Gehirne daraufhin ausgelegt, fortwährend nach den je optimalen Verhaltensoptionen zu suchen." Der Zweck sei hiermit Resultat einer evolutionären Entwicklung. Es kann sich also nur um den Naturzweck handeln, um Zweckmäßigkeit ohne einen durch die Vernunft gesetzten Zweck, 2 die auf die Erhaltung des Organismus, durch den sie ist und der ohne sie nicht wäre, gerichtet ist. Die „optimalen Verhaltensoptionen" wären dann solche, die auf die Erhaltung des Individuums und die Reproduktion der Art zielen. Dieser Mechanismus soll sich dem Organismus evolutionär durch Selektion einschreiben, indem nur Individuen mit erfolgreichen Verhaltensweisen, die sich als geeignete Mittel zur Erreichung des Zweckes erweisen, fortpflanzen und die auf diesen Zweck hin gerichteten Eigenschaften an die nächsten Generationen weitergeben. Darum seien Gehirne auf das Suchen bestmöglicher Mittel zu ihrem Naturzweck ausgerichtet. „Sie [die Gehirne; C. Z.] wenden dabei Verarbeitungsstrategien an, die in ihrer Architektur durch genetische Vorgaben eingeschrieben und/oder durch Erfahrung eingeprägt wurden." Anlage und Umwelt sollen dabei die Art und Weise bestimmen, wie das Wissen angewendet wird. Es finden sich im Gehirn sowohl genetisch eingeschriebene als auch durch Erfahrung eingeprägte Wege, aus dem Wissen des Gehirns eine bestimmte Verhaltensweise folgen zu lassen. Hierbei herrscht laut Singer kein grundsätzlicher Vorrang des einen Faktors gegenüber dem anderen, sondern der Vorrang eines bestimmten Faktors muss im Einzelfall immer erst hergestellt werden. „Um zu entscheiden, stützen sie [die Gehirne; C. Z.] sich auf eine ungemein große Zahl von Variablen: auf die aktuell verfugbaren Signale aus der Umwelt und dem Körper sowie auf das gesamte gespeicherte Wissen, zu dem auch emotionale und motivationale Bewertungen zählen. In Dutzenden räumlich getrennten, aber eng miteinander vernetzten Hirnarealen werden Erregungsmuster miteinander verglichen, auf Kompatibilität geprüft und, falls sie sich widersprechen, einem kompetitiven Prozess ausgesetzt, in dem es einen Sieger geben wird." Hier wird Singer sprachlich so ungenau, dass er die Verwirrung, die es im Diskurs um die Willensfreiheit bezüglich des Subjekts von Entscheidungen und Handlungen gibt, geradezu provoziert. Was er darstellt, ist ein naturkausaler Prozess, der zu einem bestimmten Resultat fuhrt. Dieses Resultat nennt er dann die E n t s c h e i d u n g d e s G e h i r n s und die Faktoren, die in diesem Prozess wirken, nennt er die Variablen, auf

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Vgl. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft,

Hamburg 1990, § 65.

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DAS SUBJEKT UNSERER HANDLUNGEN

die das Gehirn sich bei seiner Entscheidung stützt. Entscheidet sich das Meer aufgrund der Mondanziehung zu Ebbe und Flut? Will ein Stein fallen, nachdem er die Variable der Schwerkraft bedacht hat? Das Reden von einer Entscheidung setzt im Gegensatz zum Resultat eines Naturprozesses zweierlei voraus. Erstens, dass die Entscheidung unter identischen äußeren Bedingungen auch anders hätte ausfallen können. Gerade dies schließt Singer für die Entscheidungen des Gehirns jedoch aus. „Welches der vielen möglichen Erregungsmuster als nächstes die Oberhand gewinnt, ist [...] festgelegt durch die spezifische Verschaltung und den unmittelbar vorausgehenden dynamischen Gesamtzustand des Gehirns." Zweitens ist einer Entscheidung das Subjekt, das sie fallt, vorausgesetzt. Dieses Subjekt darf selbst keine weitere Variable in einem Entscheidungsprozess sein, sondern muss diesem übergeordnet sein, da es die Entscheidung nicht als notwendiges Produkt eines kausalen Prozesses hervorbringt, sondern sie fällt. Dieses Fällen einer Entscheidung ist eine Tat, in der alle Variablen zu Objekten werden, denen das Subjekt sich überordnet. Auch ein solches Subjekt schließt Singer für die Art, wie Gehirne Entscheidungen treffen, aus. „Dieser distributiv 3 angelegte Wettbewerbsprozeß kommt ohne übergeordneten Schiedsrichter aus." Es ist nach Singer also streng genommen nicht so, dass Gehirne anstelle der Personen Entscheidungen träfen. Tatsächlich geht er davon aus, dass überhaupt keine Entscheidungen getroffen werden, dass Handlungen nicht die Folge von Entscheidungen sind, sondern Resultate eines komplexen naturkausalen Prozesses. Im Gegensatz zu Handlungen aus Willkür, die durch Lust oder Unlust bestimmt sind (und in denen der empirische Wille Immanuel Kant zufolge durch einen zur Vernunft heteronomen Grund bestimmt wird, also nicht im strengsten Sinne frei zu nennen ist, sondern zugleich bestimmbar durch die individuelle Beschaffenheit des Begehrungsvermögens), wird in Singers Theorie der Mensch vollständig unter den Zweck einer erfolgreichen Evolution gestellt. Nicht nur kann Vernunft als autonomer Handlungsgrund keine Rolle spielen, auch die Lust oder Unlust kann hier nicht als leitendes Prinzip angenommen werden. Vielmehr ist mit Singer davon auszugehen, dass immer der für die individuelle und artbezogene Reproduktion erfolgreichere Zustand über entsprechende Verhaltensweisen hergestellt wird, soweit das Gehirn dies leisten kann. Die Vorstellung, es könne einen die neuronalen Faktoren bewertenden und in sie einwirkenden „Schiedsrichter" innerhalb oder außerhalb des Gehirns geben, weist Singer zu Recht als „mit den bekannten Naturgesetzen unvereinbar" zurück. Denn ein solcher übergeordneter Schiedsrichter müsste, um im Gehirn wirksam zu werden, selbst eine neuronale Struktur sein und könnte als solche nicht über oder außerhalb neuronaler Strukturen stehen. Außerhalb der Materialbestimmtheit stehen könnte er nur, wenn er immateriell wäre; doch als Immaterielles hätte er keine Möglichkeit, auf das Material

3 distributiv: verteilend auf verschiedene Verknüpfungen; gewöhnlich in dieser Bedeutung für Stromkreisverteiler in der Elekroinstallation gebräuchlich.

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einzuwirken. Mit der Widerlegung der Existenz eines übergeordneten Subjekts im Gehirn glaubt Singer, auch die Existenz der Freiheit widerlegt zu haben, da er sich diese offenbar nur als einen in das neuronale Geschehen eingreifenden „Schiedsrichter", „Steuermann" oder „Dirigenten" des Gehirns vorstellen kann.

Das Gehirn - Subjekt ohne Subjekt Indem Singer das Gesamtwissen des Gehirns als an dem Prozess der Verhaltensfindung beteiligt annimmt, verliert die klassische Trennung der Psychologie in Bewusstes und Unbewusstes an Bedeutsamkeit. „Wenn eingeräumt wird, daß das bewußte Verhandeln von Argumenten auf neuronalen Prozessen beruht, dann muß es neuronalem Determinismus in gleicher Weise unterliegen wie das unbewußte Entscheiden, für das wir dies zugestehen. Dies folgt aus der zwingenden Erkenntnis, daß neuronale Vorgänge in der Großhirnrinde nach immer gleichen Prinzipien ablaufen und daß sowohl bewußte als auch unbewußte Entscheidungen auf Prozessen in dieser beruhen." Die Differenz zwischen bewussten und unbewussten Prozessen liegt laut Singer nicht in einer verschiedenen Qualität hinsichtlich des Treffens von Entscheidungen, da hieran beide Bereiche beteiligt seien und der Umstand, dass nur ein Teil dieser Prozesse bewusst sei, keine Relevanz für das Resultat habe. Die Differenz bestehe nur in der Qualität der Bewusstheit und sei darum nur in nachgeordneter Hinsicht relevant für die Bewertung des Resultats eines Prozesses, der uns im Ergebnis glauben mache, uns in spezifischer Weise entschieden zu haben. Ob neuronale Prozesse diese Qualität der Bewusstheit aufweisen oder nicht, liege zunächst daran, wo sie in der Großhirnrinde verortet seien. Als elektrochemische Prozesse seien von Bewusstsein begleitete Prozesse denjenigen, die uns nicht bewusst werden, gleich. Für das Gehirn existiere diese Differenz zwischen Bewusstem und Unbewusstem nicht, in ihm nähmen alle Inhalte (denn auch Unbewusstes sei dem Gehirn gewusster Inhalt) gleichermaßen an dem Wettbewerbsprozess um die Entscheidungsfindung teil. Deshalb machte Singer zuvor das Gehirn und nicht die Person zum Subjekt der Entscheidung, auch wenn dieses ,Subjekt' sich lediglich als Resultante aus einem Wettbewerb von neuronalen Erregungszuständen erwies. Auch die unbewussten Wissensinhalte wirken nach Singer gleichermaßen wie die bewussten verhaltenssteuernd. Das Wissen wird so in einer Gestalt behauptet, die vom Denken unabhängig sein soll. Als in die Hirnstruktur eingeprägter materieller Zustand erfährt der begriffliche Inhalt eine Verdinglichung. Das Gehirn erscheint wie ein Buch, in dem die Bedeutungen von Begriffen als neuronaler Code niedergelegt wurden. Dieses Buch liest sich offenbar selbst - auch hinter unserem Rücken. Und dieses Buch schreibt sich auch selbst und urteilt über seine Inhalte und Ziele. Doch diese Urteile

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sind, während sie gebildet werden, bereits neuronal festgelegt und beruhen nicht auf Gründen, sondern auf einem Konglomerat aus „emotionalen Bewertungen", „genetischen Vorgaben" und dergleichen heteronomen Variablen, die unser Handeln laut Singer determinieren und es so zum bloßen Verhalten machen. Dieses Verhalten beinhaltet den Glauben, dass wir unsere Handlungen bewusst steuern könnten. Doch laut Singer können wir nicht einmal unsere Aufmerksamkeit bewusst einem bestimmten Gegenstand zuwenden, was die Voraussetzung für bewusstes Handeln wäre. „Generell gilt, daß nur die Sinnessignale bewußt werden, die mit Aufmerksamkeit belegt werden". Als Aufmerksamkeit bezeichnet man es gemeinhin, sein Bewusstsein auf einen Gegenstand zu fokussieren. Doch diese Bedeutung von Aufmerksamkeit kann hier nicht gemeint sein, da die Aufmerksamkeit von Singer als G r u n d angegeben wird, warum etwas überhaupt erst ins Bewusstsein tritt. Die Belegung eines Gegenstandes mit Aufmerksamkeit müsse also erfolgt sein, b e v o r er ins Bewusstsein trat. Das bedeutet, dass nicht das Bewusstsein die Aufmerksamkeit steuere, sondern umgekehrt die Aufmerksamkeit das Bewusstsein. Ob sich die Aufmerksamkeit des Bewusstseins auf einen bestimmten Gegenstand richtet müsse folglich durch unbewusste Prozesse entschieden werden. Auch diese Entscheidung' stellt Singer als determiniertes Resultat eines naturkausalen Prozesses dar, weil es unzulässig sei, ein der Naturgesetzlichkeit immanentes und zugleich übergeordnetes Subjekt anzunehmen. „Die Zuteilung von Aufmerksamkeit unterliegt dabei wiederum einem distributiv organisierten Wettbewerb, der sich in einem weitverzweigten Netzwerk selbst strukturiert und nicht von einem zentralistischen Dirigenten verwaltet wird." Was mit Aufmerksamkeit belegt wird und uns darum zu Bewusstsein kommt, und was nicht, folge also einem Automatismus. Doch so oft Singer auch betont, dass es keinen Dirigenten oder Schiedsrichter gebe, der über die Inhalte nach übergeordneten Kriterien verfugen könne, weil sich im Gehirn kein Zentrum findet in dem alle neuronalen Signale zusammenlaufen, so fällt er doch selbst stets wieder hinter diesen von ihm hartnäckig verfochtenen Wissensstand der Neurobiologie zurück und macht das Gehirn nicht bloß zu dem Organ, in dem ,distributiv organisierte neuronale Wettbewerbe' ablaufen und zu Resultaten führen, die wir dann als unsere Handlungen erleben, sondern er erklärt das Gehirn zugleich zum Subjekt dieser Prozesse. Und damit gerät er in einen Widerspruch. Gleich im folgenden Satz heißt es: „Ein starker oder unerwarteter Reiz zieht Aufmerksamkeit automatisch auf sich, aber das Gehirn setzt Prioritäten auch selbst, und das oft unbewußt." Diese Aussage wirft im immanenten Bezug auf das vorher von Singer Entwickelte einige Schwierigkeiten auf. Dass ein starker Reiz den dezentralen Wettbewerb verschiedener Aktionspotentiale im Gehirn gewinnt und den Status der Aufmerksamkeit erlangt, ist mit dem oben geschilderten Automatismus noch gut vereinbar. Aber schon die Zuordnung des Adjektives ,unerwartet' zu einem bestimmten Reiz hat Voraussetzungen, die über das von Singer aufgestellte Modell der funktionellen Gehirnarchitektonik hinausweisen. Gesetzt ist eine bestimmte Erwartungshaltung, die ein Subjekt voraussetzt, das eine solche Erwar-

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tung hat. Ein Automatismus hingegen reagiert auf alle Variablen, wenn sie auftreten, aber er kann als bestimmte Form des Funktionierens nicht im vornherein bestimmte Variablen, die noch nicht gegeben sind, erwarten und so zwischen erwarteten und unerwarteten Reizen differenzieren. Denn dies setzte das Bewusstsein von einer Gesamtsituation voraus, in der die verschiedenen Inhalte als regelhaft miteinander verknüpft begriffen werden und auf die bezogen eine Erwartung überhaupt erst bestimmt werden kann. Ein solches Bewusstsein wäre dasjenige, welches einer übergeordneten Instanz zukäme, die allein alle Einzelinhalte unter sich fassen und zueinander in Beziehung setzen könnte - und eine solche Instanz schließt Singer aus den oben genannten Gründen aus. Doch genau als diese Instanz erscheint das Gehirn im nächsten Halbsatz, nämlich als dasjenige, was sich Prioritäten auch (also im Gegensatz zum Automatismus der starken oder unerwarteten Reize!) selbst setzen könne. Dieses Setzen von Prioritäten durch das Gehirn geschehe „oft unbewußt", d. h. ohne dass die Person, deren Gehirn die Prioritäten setzt, davon Kenntnis habe. Oben wurde gezeigt, dass, wenn Aufmerksamkeit der Grund für das ins-Bewusstsein-treten eines Gegenstandes ist, das Herstellen von Aufmerksamkeit selbst nicht ins Bewusstsein fallen kann, da es diesem logisch und zeitlich vorausgehen muss. Demnach wäre das Setzen von Prioritäten (als „Aufmerksamkeit") immer unbewusst. Dass es hier lediglich „oft unbewußt" ist, wirft die Frage auf, wie das Bewusstsein sich auf etwas außerhalb seiner selbst lenken könne, um dieses als Priorität zu bewerten und es mit Aufmerksamkeit zu belegen, damit es Gegenstand des Bewusstseins werden könne. Von dieser kleinen Paradoxie abgesehen, die auch dem Bewusstsein den Status eines übergeordneten ,Dirigenten' zuschreibt, erscheint das Gehirn hier der Sache nach als der Schiedsrichter, der außerhalb des neuronalen Spielgeschehens steht und beurteilt, was von Wichtigkeit ist und was nicht. Der „distributiv organisierte Wettbewerb", in dem die Erregungsmuster spezifischer Verschattungen sich gemäß einer naturgesetzlichen Ordnung bewegen und in spezifischen Reaktionen des menschlichen Organismus resultieren, wird unvermittelt zu „dem Gehirn", das „Prioritäten auch selbst" und „oft unbewußt" setzen kann. Dies ist kein sich wiederholender Flüchtigkeitsfehler Singers und auch nicht auf sprachliche Ungenauigkeit zurückzuführen. Vielmehr verweist dies auf einen Widerspruch, in den Singers Theorie (und die vieler anderer Neurobiologen) unweigerlich fuhren muss; denn das als mit den bekannten Naturgesetzen unvereinbar identifizierte übergeordnete Subjekt ermöglicht erst die objektive Naturerkenntnis, welche Singers Theorie zugrunde liegt. 4 Erkenntnisleistungen lassen sich darum prinzipiell nicht ohne den Rekurs auf das erkennende Subjekt erklären und dieses Subjekt geht nicht im Naturmechanismus (dem Objekt der Erkenntnis) auf. Was geschieht nun, wenn Singer von dem Gehirn in einer Form redet, die es als Subjekt der Himtätigkeit darstellt? Zunächst einmal wird das Primat des Gehirns gegenüber dem Bewusstsein herausgestellt. Indem das Gehirn als das eigentliche Subjekt unseres

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Vgl. Kapitel 8.

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Handelns und Denkens erscheint, als dasjenige, was unser Bewusstsein determiniert und in übergeordneter Instanz sogar darüber verfugt, welche Inhalte uns zu Bewusstsein kommen und welche uns vorenthalten werden, wird das klassische Subjekt - die selbstbewusste Person - demontiert. Hierzu weist Singer wiederholt darauf hin, dass die Trennung in Bewusstes und Unbewusstes für das Gehirn nicht existiere; während wir nur auf einen kleinen Teil des Gesamthirnwissens Zugriff haben, verfuge das Gehirn über alle seine Bereiche, inklusive des Bewusstseins. „Bewußte Vorgänge unterscheiden sich von unbewußten also vornehmlich dadurch, daß sie mit Aufmerksamkeit belegt, im Kurzzeitspeicher festgehalten, im deklarativen Gedächtnis abgelegt und sprachlich gefaßt werden können." Durch ihren spezifischen Ort innerhalb der funktionalen Architektur des Gehirns werden Wissensinhalte also explizite Inhalte unseres Bewusstseins. Daneben gebe es jedoch noch zahlreiche „implizite Wissensinhalte, die über genetische Vorgaben, frühkindliche Prägung oder unbewußte Lernvorgänge ins Gehirn gelangten und sich deshalb der Bewußtmachung entziehen". Diese impliziten Wissensinhalte des Gehirns stehen „nicht als Variablen für bewußte Entscheidungen zur Verfügung. Gleichwohl aber wirken sie verhaltenssteuernd und beeinflussen bewußte Entscheidungsprozesse. Sie lenken den Auswahlprozeß, der festlegt, welche von den bewußtseinsfähigen Variablen jeweils ins Bewußtsein rücken, sie geben die Regeln vor, nach denen diese Variablen verhandelt werden, und sie sind maßgeblich an der emotionalen Bewertung dieser Variablen beteiligt." Damit hat Singer die Differenz zwischen Bewusstem und Unbewusstem auch für die Entscheidungsfindung als irrelevant markiert. Dem bewussten Kulturwissen seien wir als selbstbewusste Subjekte ebenso ausgeliefert wie den unbewussten Abwägungsstrategien; beide seien gleichermaßen determinierend und bildeten ein dynamisches System, in dem das, was wir als gewusste Gründe empfinden, nur ein konstitutives Moment eines unbewussten Gesamtprozesses darstelle. So seien nicht die logischen Gründe konstitutives Moment der Entscheidungsfindung, sondern das Empfinden und Abwägen von Gründen sei Ausdruck eines individuellen neuronalen Prozesses, der in die Entscheidungsfindung mit eingehe. Das Gehirn sei als Entscheidungsinstanz dem Bewusstsein übergeordnet, da es zum einen über mehr entscheidungsrelevante Variablen verfuge und zum anderen eine Vorauswahl der Inhalte treffe, die uns zu Bewusstsein gelangen. Da das Unbewusste sich per definitionem unserer Wahrnehmung entziehe, erschienen die Entscheidungen, von deren zugrunde liegenden Variablen zumindest ein Teil bewusst war, uns zwangsläufig als Resultat eines vollständig bewussten Prozesses. Indem der unbewusste Anteil an der Entscheidung sich unserer subjektiven Kenntnis entziehen muss, erscheine das Bewusstsein als einziges Subjekt der Entscheidung und damit als frei. So will Singer die Annahme eines freien Willens als einen zwangsläufigen Fehlschluss des Bewusstseins erkannt haben - einen Fehlschluss, dessen Aufklärung sich ganz den heutigen Erkenntnissen neurobiologischer Forschung verdanke, die eine Beobachtung der nicht dem Be-

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wusstsein zugeordneten Hirnareale ermöglichen, deren Aktivitäten den gewussten Entscheidungen vorhergehen. „Wir beurteilen Entscheidungen als frei, die auf der bewußten Abwägung von Variablen gründen [...]. Die bewußten Motive müssen jedoch keineswegs die entscheidenden gewesen sein, auch wenn es dem inneren Auge, das nur Bewußtes zu sehen vermag, so scheint, als seien die jeweils bewußten Argumente hinreichende und vollständige Begründungen." Auf dem unbewussten Auge ist das Bewusstsein blind. Darum täuschen wir uns laut Singer über unsere Freiheit des Willens. In der Introspektion oder aus der First-PersonPerspektive sei diese Täuschung notwendig und nicht aufzuheben, da unsere Innenperspektive auf die bewussten Vorgänge im Gehirn beschränkt sei. Erst der objektive Blick des Naturwissenschaftlers auf das ganze Gehirn mache von der übergeordneten Position aus, der Third-Person-Perspektive, deutlich: was uns als frei erscheint, sei Resultat eines größtenteils unbewusst ablaufenden naturkausalen Prozesses. Dem bewussten Ich wird so der Subjektstatus als Verursacher seiner eigenen Handlungen abgesprochen, indem auf ein übergeordnetes Subjekt als wahrer Verursacher hinter dem Ich als dessen Grund verwiesen wird, auf das Gehirn. Auch Singers Theorie kommt nicht ohne Subjekt aus. Indem er einen Dirigenten hinter dem Ich behauptet, um letzterem die Dirigentenrolle abzusprechen, und indem er zugleich sagt, es gäbe keinen Dirigenten, weil ein naturkausaler Automatismus herrsche, macht er in letzter Konsequenz den Naturzweck - in seiner Terminologie die Evolution - zum Subjekt unseres Tuns. Freiheit ist damit bestimmt als eine nachträgliche Interpretation bestimmter neuronal determinierter Prozesse. Objektiv existiere Freiheit jedoch nicht, sie sei vielmehr eine bestimmte Erscheinungsform codierter Abwägungsstrategien von im deklarativen Gedächtnis abgelegtem Wissen im Bewusstsein. Dies soll ein bestimmtes Experiment belegen: „Es ist möglich, einer Person Handlungsanweisungen aufzugeben, ohne daß sie sich dieser bewußt wird. Führt die Person die Handlung aus und soll sich dann zu der Aktion erklären, so gibt sie zumeist eine plausible Antwort im intentionalen Format: ,weil ich dies oder jenes wollte'". Hiermit ist nach Singer bewiesen: Selbst wenn eine Person sich mit Gründen für etwas entscheidet und diese Gründe auch anzugeben und zu verteidigen vermag, sei es Schein, dass die G r ü η d e bestimmend fur die Entscheidung gewesen seien. Bewusste Gründe erscheinen bei Singer als „nachträgliche Rationalisierungen" eines deterministischen Geschehens. So sei es gleichgültig, ob die unbewusst ablaufenden Abwägungsprozesse die Oberhand gewinnen oder die bewusst ablaufenden. Auch wenn letzteres der Fall ist, sei nicht das Argument ausschlaggebend, welches die Person auf Nachfrage benennen kann, sondern der deterministische Prozess, der im Bewusstsein nur eine Repräsentation habe. ,Gut' und ,böse' oder das Treffen einer Entscheidung aus Einsicht in das moralische Gesetz wären unter dieser Prämisse dann ebensolche Trugbilder wie die Vorstellung eines freien Willens. Und auch ,richtig' und ,falsch' existierten nur rela-

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tional im Bezug auf den jeweiligen Zweck oder auf eine gelernte Norm (frühkindliche Prägung, kulturelle Vorgaben), nicht absolut als Wahrheit und Falschheit. Doch wozu werden überhaupt Gründe im Bewusstsein angeführt und warum haben sie in unserer Lebenswirklichkeit eine so große Bedeutung, wenn die wahren Ursachen unseres Handelns sich dem subjektiven Bewusstsein entziehen? Welchen evolutionären Sinn kann es haben, eine determinierte Handlung im Nachhinein durch Gründe rationalisieren zu können? „Es scheint, als sei das Gehirn darauf angelegt, Kongruenz zwischen den im Bewußtsein vorhandenen Argumenten und den aktuellen Handlungen beziehungsweise Entscheidungen herzustellen. Gelingt das nicht, weil im Bewußtsein gerade nicht die passenden Argumente aufscheinen, dann werden sie um der Kohärenz willen ad hoc erfunden. Und niemand weiß anzugeben, wie hoch bei den alltäglichen selbst verantworteten' Entscheidungen dieser fiktive Anteil ist." Wir glauben also, nach Gründen zu handeln, weil unser Gehirn darauf angelegt sei, uns glauben zu machen, wir handelten aus Gründen. Argumente würden erfunden, um einen anderswo determinierten Prozess zu rationalisieren. Singer schließt damit aus, dass ein Argument den Willen bestimmen könne - etwa, weil es wahr ist und man es einsehen kann. Obwohl Argumente nicht entscheidungsrelevant, sondern der Entscheidung nachgeordnet sein sollen, scheinen sie Singer zufolge doch eine große Bedeutung zu haben, denn sonst wäre das Gehirn nicht so stark an einer Übereinstimmung zwischen Handlung und angebbaren Gründen für die Handlung interessiert. Dass das Gehirn zur Herstellung dieser Kongruenz sogar extra den Luxus der Phantasie entwickele - was unter Gesichtspunkten der Energieeffizienz sicherlich kaum vor den Gesetzen der Evolution zu verantworten wäre, hätte es keine bedeutsame Funktion - lasse immanent vermuten, dass ein mit den Handlungen des Subjekts kohärentes Bewusstsein von Gründen für die Handlung fur die Erhaltung der Art von immenser Wichtigkeit sei. Doch worin dieser Nutzen bestehen mag, verrät Singer leider nicht. Da das Bewusstsein nicht konstitutiv für die Entscheidungen sei, sind die möglicherweise überlegenen arterhaltenden Verhaltensweisen der Spezies homo sapiens sapiens mit Singer auch nicht durch die Existenz eines Bewusstseins als evolutionärer Vorteil zu erklären. Die Gehirnfunktion der konsistenzstiftenden Einbildung, die „Gründe um der Kongruenz willen ad hoc erfindet" führt in Singers Theorie in einen Zirkel. Die Konsistenz des Zusammenhangs von Gründen und Handlungen ist als gegeben unterstellt, denn hieran muss sich die Phantasie orientieren, wenn sie uns unsere Handlungen und Gründe als miteinander kongruent und so mit einem objektiv begründeten, nicht einfach willkürlich eingerichteten Schema konform vorstellen lassen soll. Dieses objektiv begründete Schema muss für das Gehirn willkürlich sein, sonst bräuchte es die Phantasie nicht, die uns unsere Handlungen „ad hoc" regelhaft begründet erscheinen lässt. Gleichzeitig muss diese objektive Regelhaftigkeit auch von dem Gehirn geschaffen worden sein, da die Phantasie sich zum einen nach diesen Regeln richtet und sie folglich nicht selbst hervorbringen kann und zweitens die Phantasie nach Singer nichts anderes sein kann als

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ein Produkt des Gehirns. An dieser Stelle reproduziert sich das Problem, weil ein distributiv organisierter Wettbewerb von neuronalen Zuständen nicht ,weiß', was ein objektiv begründetes Schema ist. So läuft Singers Argumentation, wir erfanden Gründe für neuronal determinierte Handlungen als nachträgliche Rationalisierungen, zwangsläufig in einen Zirkel, wenn er nicht bestreiten will, dass es überhaupt einen konsistenten Zusammenhang von Gründen und Handlungen gibt. Doch gäbe es diesen Zusammenhang nicht, bliebe das Suchen des Bewusstseins nach Begründungen für unsere Handlungen unbegreifbar. Ungeachtet dieses logischen Zirkels wendet Singer sich den gesellschaftlichen Folgen des uns vermutlich oft fälschlicher Weise kohärent erscheinenden Zusammenhanges von Gründen und Taten zu, nämlich der Annahme, jeder sei für seine Taten, die er aus Gründen begeht, voll verantwortlich. Eine mittelbare Folge der Herstellung einer Kohärenz zwischen einer Tat und ihren Gründen sei das Strafen. Aus Singers Sicht, der Sicht eines Hirnforschers auf das ganze Gehirn, beruhe das Strafen auf demselben Trugschluss wie die Annahme eines freien Willens. „Diese Sicht hat Konsequenzen für die Beurteilung von Fehlverhalten. Ein Beispiel: Eine Person begeht eine Tat, offenbar bei klarem Bewußtsein, und wird für voll verantwortlich erklärt. Zufällig entdeckt man aber einen Tumor in Strukturen des Frontalhirns, die benötigt werden, um erlernte soziale Regeln abzurufen und für Entscheidungsprozesse verfügbar zu machen. Der Person würde Nachsicht zuteil. Der gleiche „Defekt" kann aber auch unsichtbare neuronale Ursachen haben. Genetische Dispositionen können Verschattungen hervorgebracht haben, die das Speichern oder Abrufen sozialer Regeln erschweren oder die sozialen Regeln wurden nicht rechtzeitig und tief genug eingeprägt, oder es wurden von der Norm abweichende Regeln erlernt, oder die Fähigkeit zur rationalen Abwägung wurde wegen fehlgeleiteter Prägung ungenügend ausdifferenziert. Diese Liste ließe sich nahezu beliebig verlängern. Keiner kann anders, als er ist." An der Ausführung dieses Beispiels wird deutlich, dass es so etwas wie eine moralische Willensbestimmung nach Singer nicht geben kann. Es seien Verschattungen in unserem Gehirn, die uns zu einem Verhalten konform mit oder diskonform gegen eine bestimmte Norm bestimmten. Die Formulierung eines Sollens wird dann unsinnig, wenn das Seiende das einzig Bestimmende ist. „Menschen mit problematischen Verhaltensdispositionen als schlecht oder böse abzuurteilen bedeutet nichts anderes, als das Ergebnis einer schicksalhaften Entwicklung des Organs, das unser Wesen ausmacht, zu bewerten." Wie eine solche Bewertung überhaupt möglich sein soll, und welches Gehirn mit Recht - oder auf welcher objektiven Grundlage? - über ein anderes urteilen darf, es sei missraten, lässt sich mit Singers Prämisse dann nicht mehr zureichend erklären. Dennoch soll (und hier postuliert Singer ein Sollen ohne moralischen Imperativ!) und muss nach Singer ein solches Urteil gefällt werden und dennoch müssen Taten, die anderen großen Schaden verursachen, Singer zufolge verhindert werden. Das Subjekt, das zwischen wohlgeratenen und defekten Gehirnen unterscheiden können muss, ist ihm zu-

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DAS SUBJEKT UNSERER HANDLUNGEN

folge die Gesellschaft. Damit reproduzieren sich die Widersprüche der Bestimmungen des Gehirns - nämlich ein urteilendes Subjekt anzunehmen, das gleichzeitig als naturkausal determiniert vorgestellt werden soll - in Singers Bestimmungen der Gesellschaft. Er übergeht die dieses Problem jedoch, indem er die Grundlage, auf der die Gesellschaft urteilen soll, nicht aus ihrem Begriff zu entwickeln versucht, sondern sie in Form ihrer bewährten Methoden des Strafrechts bereits vorfindet und an diese appelliert. „Die Gesellschaft darf nicht davon ablassen, Verhalten zu bewerten." Das Rechtssystem solle entsprechend den Ergebnissen der Hirnforschung zwar reformiert, aber keinesfalls abgeschafft werden. „Die Gesellschaft" begreift Singer als ein dynamisches System, das den Maßstab für die einzelnen neuronalen Systeme der Menschen setzt. Kommt es hier zu bestimmten Differenzen, würden diese ,bewertet' in dem Sinne, dass sie auf Kompatibilität mit dem gesellschaftlichen Durchschnitt und/oder der sich evolutionär entwickelten Bewegungsrichtung gesellschaftlicher Entwicklung hin geprüft würden. Steht ein einzelnes Gehirn in seiner neuronalen Besonderheit der gesellschaftlichen Gesamtdynamik entgegen, können und sollen Singer zufolge die bekannten Strafmaßnahmen gegen das jeweilige Individuum verhängt werden. Das heißt, Singer ist nicht gegen das Strafrecht, sondern er ist gegen eine moralische Begründung des Strafrechts. Die klassische liberale Kritik, unser Strafrecht habe eine bloß normierende Funktion für die Gesellschaft, wird so von Singer zur Forderung erhoben. Denn ihm zufolge gibt es keine Freiheit und kein Gut und Böse, sondern nur die Anpassung an die Regulation einer der evolutionären Naturdynamik folgenden Gesellschaft, deren Entwicklungsrichtung nicht dem menschlichen Willen unterliege, sondern deren Dynamik sich unser Wille gemäß machen müsse. Die Zustimmung zu geltenden gesellschaftlichen Normen sowie die Einsicht in die Richtigkeit bestehender Verhältnisse erweisen sich von diesem Standpunkt aus als Momente des dynamischen Systems unserer Gesellschaft, und nicht als etwas, das einen Grund in Wahrheit oder Falschheit der Sache haben könne. Auch der Kritik am Bestehenden kann so eine Funktion zugeschrieben werden, indem sie die natürliche Dynamik dieses Systems antreibe und zu einem Movens des Fortschritts werden könne; sie dürfe nur die Stabilität des hergestellten Zustands nicht gefährden. Hierzu sei das Strafrecht ein Mittel. 5 Gesellschaft erscheint hier der Sache nach als Natur, nach deren Zwecken die Evolution durch alle tätigen Individuen hindurch eine überindividuelle Gestalt in dem sich selbst stabilisierenden dynamischen System ,Gesellschaft' angenommen hat. Das Subjekt unserer Handlungen seien also nicht wir als selbstbewusste Personen, sei streng genommen auch nicht unser Gehirn als einzelner neuronaler Cortex, sondern sei in höchster Instanz die Entwicklungsbewegung der ,Natur'. ,Natur' wird dabei von Singer verstanden als das Ensemble von Cortices, die untereinander nach denselben Regeln verfahren, welche auch innerhalb eines Cortex gelten. Nachdem Singer das Subjekt

5 Zu der Problematik, dass die gesamte Verfasstheit der bürgerlichen Gesellschaft und also auch das Strafrecht auf der Grundannahme aufbaut, der Mensch habe einen freien Willen, vgl. Kap 5.

DAS GEHIRN - SUBJEKT OHNE SUBJEKT

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unserer Handlungen vom Ich in das Gehirn und vom Gehirn in das gesellschaftliche Ensemble verlagert hatte, verschiebt er es nun ein weiteres Mal in das Prinzip der Organisation naturaler Prozesse. Der sich selbst strukturierende, distributiv organisierte Wettbewerb von neuronalen Zuständen geht im Prinzip der Evolution auf. Mit diesem letzten Schritt seiner Argumentation hat Singer dem Menschen endgültig sein SubjektSein geraubt und ihn einer systemtheoretisch gesteuerten Natur untergeordnet, von der menschliche Gesellschaft bloßer Teil ist. Hiermit geht dann nichts Gesellschaftliches über die Natur hinaus, da die Bewegungsgesetze der Gesellschaft Naturprinzip sind. Der Mensch ist so ohne qualitative Differenz bloßer Teil des Tierreichs und kein Wesen mit dem Vermögen zu Vernunft und Moral - auch wenn Singer diese Konsequenz aus seiner theoretischen Darstellung sicherlich nicht zu tragen bereit ist. Singers These, dass keiner anders kann, als er ist, ist empirisch nicht zu widerlegen denn niemand handelt anders, als er es tut. Doch ein Beweis, dass er nicht anders hätte handeln können, lässt sich empirisch ebenso wenig führen. Die Frage, ob wir bloße Tiere sind, kann darum mit naturwissenschaftlichen Methoden nicht beantwortet werden und ist zugleich mit ,nein' beantwortet, sobald wir sie stellen.

4. „There's more to the picture Than meets the eye"1 Der prinzipielle Fehler eines Menschenbildes

Aus der Vorstellung eines unfreien Menschen, der nicht wesentlich vom Tier unterschieden sei, folgt unmittelbar die Frage, ob wir angesichts der neuen Erkenntnisse aus der modernen Hirnforschung ein neues Menschenbild bräuchten. Insbesondere der Direktor am Max-Planck-Institut fur Hirnforschung Wolf Singer dachte öffentlich darüber nach, wie ein modernes Menschenbild beschaffen sein sollte und welche Folgen es hätte.2 Hierauf kann keine positive Antwort gegeben werden, sondern schon die Frage nach einem Menschenbild muss zurückgewiesen werden, da sie die statische (Natur-) Bestimmtheit des Menschen und damit seine Unfreiheit impliziert. Statt einer positiven Bestimmung des Menschenbildes müssen vielmehr die Menschenbilder kritisch betrachtet werden, welche die Neurobiologie produziert, voraussetzt und fordert. Die Angst von Naturwissenschaftlern, sich der metaphysischen Spekulation verdächtig zu machen, treibt auch hier seltsame Blüten. So entwirft Singer unter Vermeidung des Wesensbegriffs ein Menschenbild, das dem Anspruch nach eine Realdefinition ist, zugleich jedoch ein moralisches Sollen enthält. Wenn unsere Vorstellung des freien Willens sich als unzutreffend herausstellte, dann wäre mit ihr auch unsere Vorstellung von dem, was ein Mensch sei, zu revidieren. Wolf Singer fragt darum weiter: Brauchen wir ein neues Menschenbild, das die neurophysiologischen Erkenntnisse integriert? Singers Frage nach einem Menschenbild lässt sich nicht einfach beantworten, indem ein Menschenbild, das die Freiheit des Menschen enthält, einem anderen Bild, das diese Freiheit negiert, gegenüber gestellt und sich dann für eines der Bilder entschieden wird. Denn schon dem Begriff des Menschenbildes entspricht die Vorstellung, der Mensch sei von Natur aus oder von Gott zu ganz bestimmten, in einem Bild positiv fixierbaren Verhaltens- und Lebensweisen bestimmt. Darum ist schon der Begriff des Menschenbildes ein ideologischer. Interessant ist deshalb nicht die Frage danach, wie das ,richtige' Menschenbild aussähe; interessant ist vielmehr das Verhältnis der Neurobiologie zu ihrem bestimmten Menschenbild, ein Menschenbild, das die Neurobiologie ermächtigt und für kompetent erklärt, uns überhaupt ein Bild vom Menschen zu geben. 1 Neil Young/Jeff Blackburn, My My, Hey Hey (Out of the blue). 2 Vgl. Wolf Singer, Ein neues Menschenbild?, Frankfurt a. M. 2003.

D E R PRINZIPIELLE FEHLER EINES MENSCHENBILDES

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Der Begriff Menschenbild meint nicht das phänotypische Bild, das Aussehen des Menschen, noch meint er seine genetische Struktur oder eine vollständige Beschreibung seiner Organfunktionen. Wenn das neue Menschenbild nach dem Gehirn des Menschen ausgerichtet werden soll, so soll hiermit zugleich mehr als eine bloß beschreibende naturwissenschaftliche Darstellung von Körperfunktionen erfasst werden können. Der Sache nach meint das Reden von einem Menschenbild das Wesen des Menschen, ohne dabei jedoch explizit den Wesensbegriff zu verwenden. „Etwas als Wesen eines Dinges bezeichnen heißt aussagen, daß es sein eigentümliches Sein in nichts anderem habe." 3 Über diese Eigentümlichkeit unseres Seins würden wir uns laut Singer und Roth täuschen, wenn wir annähmen, dass wir einen freien Willen hätten. Die Frage, ob der Mensch aus Freiheit handeln kann, oder nicht, ist für den Begriff des Menschseins wesentlich. Solche wesentlichen inhaltlichen Bestimmungen sind Teil dessen, was Singer in einem Menschenbild gefasst sieht. Und doch sind die Begriffe Menschenbild und Wesen des Menschen nicht gänzlich synonym. Der Wesensbegriff ist in sich notwendig widersprüchlich, denn das Wesen eines Dinges kann nicht erscheinen, weil es dasjenige ist, an dem die Akzidenzien erscheinen - würde es also erscheinen, dann wäre es selbst bloßes Akzidenz und nicht Wesen - andererseits muss das Wesen jedoch erscheinen, wenn es etwas bezeichnen soll, das uns als Gegenstand der Sinne gegeben wird und nicht a priori der reinen Vernunft entspringt. Darum ist das Wesen nicht positiv zu bestimmen, sondern nur negativ, d. i. nur durch Reflexion, über den Mangel jeder affirmativen Realdefinition. Denn diese ordnet die Akzidenzien in einer Hierarchie nach wesentlichen Akzidenzien' und unwesentlichen Akzidenzien', ohne dass sie aus diesen Akzidenzien selbst den Grund dieser hierarchischen Ordnung finden und angeben könnte, denn dieser liegt allein im Wesen. Dieser Mangel jeder Realdefinition macht den Wesenbegriff notwendig, so dass trotz seiner erkannten Widersprüchlichkeit an ihm festgehalten werden muss. 4 Das Menschenbild nun soll zum einen mehr sein als eine bloße Realdefinition, zum anderen jedoch affirmativ bleiben und verharrt so als ein Begriff, dessen immanenter Widerspruch unreflektiert bleibt und der darum stets etwas vages, uneindeutiges hat. Dass der Wesensbegriff für Hirnforscher Probleme aufwirft und sie ihn deshalb meiden, hat also einen Grund in der Sache. Die Schwierigkeit besteht darin, nur aufgrund von dem, was erscheint - von Akzidenzien - eine zugrunde liegende Substanz zu bestimmen, die selbst nicht erscheint und die mehr sein soll, als die bloße Summe der Akzidenzien. Diese Problematik ist dem Wesensbegriff immanent und sie findet sich verklausuliert auch in den Versuchen wieder, aus bloß empirischer Erkenntnis ein Menschenbild zu zeichnen. Darum sind auch die ,neuen' Menschenbilder wie das von

3 Aristoteles, Metaphysik, Hamburg 1995, Buch IV, Kapitel 4, 1007 a. 4 Spätestens seit Hegel wissen wir, dass widersprüchliche Begriffe nicht falsch sein müssen - und zwar genau dann nicht, wenn die Widersprüchlichkeit sich als konstitutiv fur einen notwendig zu denkenden Begriff erweist.

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Singer nur scheinbar Resultate der Naturwissenschaften, tatsächlich erweisen sie sich als Postulate von Naturwissenschaftlern. Wolf Singer postuliert ein neues Menschenbild und rekurriert dabei auf ein ,altes' Menschenbild, das durch die neuesten Erkenntnisse der Hirnforschung zu revidieren sei. Getrennt wird so ein ,neues' biologisch fundiertes Menschenbild von einem ,alten' geistbestimmten Menschenbild. Doch es ist philosophiegeschichtlich schon länger her, dass ein Bild des Menschen gesellschaftlich durchgesetzt war, das den Menschen vom Geist her zeichnete. In der hochmittelalterlichen Philosophie wurde der Mensch als hierarchisch geordnete Einheit von Geist, Seele und Leib verstanden. Der Geist stiftete die Ganzheit dieser Einheit, im Erkennen der Wahrheit war die Universalität des Geistes begründet und er galt als transzendent zum Absoluten, zu Gott. Mit der wachsenden Bedeutung des Nominalismus im Spätmittelalter, der die Universalien für bloße Nomina hielt, denen als Abstraktionen keine Realität zukomme, verlor der Geist auch im mitteleuropäischen Menschenbild seine zentrale Bedeutung und wurde zunehmend zu einem Vermögen neben anderen. Da Übereinzelnem (Allgemeinem) als solchem keine Realität zukomme, wurde dem Geist von Vertretern nominalistischer Theorien zunehmend die Fähigkeit abgesprochen, solches zu erkennen. Die Konsequenz, die diese Annahme für das Denken und für die Wissenschaft hat, zeigt sich heute im Positivismus der Naturwissenschaften und in der analytischen Philosophie: Als Teil der empirischen Vielheit findet der jeweils einzelne Mensch keine Möglichkeit, sie als Einheit zu fassen und sie jemals anders als immer nur vorläufig ordnen zu können. So ist für Singer nicht allein die Annahme eines freien Willens und einer Verantwortung für die eigenen Taten aus neurobiologischer Perspektive nicht haltbar, sondern aus seinem Ansatz folgt auch, dass ein Mensch sich nicht anmaßen dürfe, objektive Wahrheit erkennen zu können. Er fordert: „Wir müssten uns als in die Welt geworfene Wesen betrachten, die wissen, dass sie immer wieder Illusionen erliegen [das zumindest wissen sie anscheinend mit Sicherheit! C. Z.] und keine wirklich stimmigen Erklärungen über ihr Sein, über ihre Herkunft und noch viel weniger über ihre Zukunft abgeben können." 5 Wo es kein ,wahr' und ,falsch' geben kann, da gibt es auch kein ,gut' und ,böse'. Die Annahme, der Mensch sei unfrei, determiniert durch innere und äußere Bedingungen und sein Gefühl der Willensfreiheit sei lediglich eine Täuschung, wird auch im Zusammenhang mit der Pädagogik oder mit dem Strafvollzug heftig diskutiert. Zwar sollen Straftäter zum Schutz der Gesellschaft weggesperrt werden, jedoch sei im klassischen Sinne nicht von einer Schuld zu reden, da die neuronalen Verknüpfungen von Straftätern nun einmal genau so angelegt seien, dass diese straffällig werden. Die letzte Welle dieser Begeisterung für die Schuldunfähigkeit des Menschen wurde in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts durch die Verhaltensforschung ausgelöst. Die Prägung durch den Behaviorismus ist Singers Überlegungen zum Menschenbild noch deutlich

5 Wolf Singer, Ein neues Menschenbild?,

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U M W E L T UND ANLAGE

anzusehen. In dem Standardwerk Science and Human Behavior (1953), Wissenschaft und menschliches Verhalten, von B. F. Skinner heißt es: „Der ,innere' freie Mensch, der für das Verhalten des ,äußeren' biologischen Organismus verantwortlich gemacht wird, ist lediglich ein vorwissenschaftlicher Ersatz für die Arten von Ursachen, die im Verlauf einer wissenschaftlichen Analyse entdeckt werden. All diese alternativen Ursachen liegen außerhalb der Einzelperson. Der biologische Träger selbst wird bestimmt durch vorausgegangene Vorgänge in einem genetischen Prozeß. Andere wichtige Vorgänge findet man in der nichtsozialen Umwelt und in der Kultur der Einzelperson im weitesten Sinne. Dies sind die Dinge, durch die sich die Einzelperson so verhält, wie sie sich verhält. Sie ist für sie nicht verantwortlich, und es ist sinnlos, die Einzelperson für diese Dinge zu loben oder zu tadeln. Es tut nichts zur Sache, wenn die Einzelperson es sich zur Aufgabe macht, die Variablen zu kontrollieren, von denen ihr Verhalten eine Funktion ist, oder, in einem weiteren Sinne, die Planung ihrer eigenen Kultur in Angriff zu nehmen. Sie tut das nur, weil sie das Ergebnis einer Kultur ist, die Selbstkontrolle oder kulturelle Planung als Verhaltensweisen erzeugt. Die Umwelt bestimmt die Einzelperson sogar dann noch, wenn diese die Umwelt verändert." 6 Damit ist der Determinismus als absolut über jede gesellschaftliche Entwicklung gestellt. Seit Skinners Überlegungen sind die technischen Möglichkeiten für die Erforschung von inneren verhaltenssteuernden Faktoren rasant fortgeschritten, wie sich nicht zuletzt in der Hirnforschung zeigt, welche durch bildgebende Verfahren sehr genaue örtliche und zeitliche Messungen des neuronalen Geschehens liefern kann. Die Struktur der Biologisierung des Menschen bleibt dabei unverändert, da die heutige Argumentation auf der ihrer unmittelbaren Vorgänger wie K. Lorenz, B. F. Skinner, G. Vollmer, F. M.. Wuketits u. A. aufbaut.

Umwelt und Anlage Natur und Milieu werden bei der Frage danach, welcher Faktor das menschliche Verhalten bestimme, oft als zweierlei Determinanten des menschlichen Verhaltens verstanden. Obwohl beide Faktoren in der Anlage-Umwelt-Debatte gegeneinander diskutiert wurden, sind sie in der Argumentation aufeinander verwiesen. Nicht nur, weil beide Annahmen - die Umwelt bestimme nachhaltig das Verhalten eines Menschen oder die grundlegenden Verhaltensweisen eines Menschen seien ihm angeboren - einen Determinismus vertreten, sondern vielmehr noch, weil sie sich wechselseitig zu ihrer Begründung negativ aufeinander beziehen müssen. Denn der Beleg dafür, dass eine bestimmte Eigenschaft angeboren sei, findet sich einzig darin, dass die Ursache dieser

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B. F. Skinner, Wissenschaft und menschliches

Verhalten, München 1973, 408 f.

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Eigenschaft nicht in der Umwelt zu finden ist und umgekehrt. So verweist die Zwillingsforschung zum einen auf die Gemeinsamkeiten von Zwillingen, die unmittelbar nach der Geburt getrennt wurden (von denen es weniger gibt, als eine empirische Forschung hoffen dürfte, die auf statistisch relevante Größen im untersuchten Gegenstandsbereich angewiesen ist), um die genetische Anlage dieser gemeinsamen Eigenschaften stark zu machen, und zum anderen auf ihre Differenzen, um den Einfluss der Umweltfaktoren zu demonstrieren. Doch sowohl die Annahme von der prägenden Umwelt als auch die von der vorgeprägten Anlage lassen keinen Raum für die Freiheit und die Willkür vernunftbegabter Wesen. Die Differenzen zwischen gemeinsam aufgewachsenen eineiigen Zwillingen (von denen es mehr gibt, als Vertreter eines milieugeprägten oder genetisch angelegten Charakters des Menschen brauchen können) lassen sich weder mit der genetischen Anlage des Menschen noch durch die ihn umgebende Welt erklären. Darum hat sich heute eine Theorie durchgesetzt, die beide Seiten versöhnt, indem sie - in wechselnden Prozentsätzen von 50:50 bis zu 20:80 oder 80:20 Anlage wie Umwelt auf den Menschen in verschiedenem Maße prägend wirken lässt, um jeweils dasjenige an seinem Verhalten, was eindeutig nicht durch Ursachen in der Umwelt zu erklären zu sein scheint, mit seiner genetischen Anlage erklären zu können und umgekehrt. Auch die Vorstellung, neben den bestimmenden Faktoren von Anlage und Umwelt gäbe es einen gewissen Anteil in den Handlungen von Menschen, der ihrer freien Willkür unterläge (und etwa fünf bis zwanzig Prozent einer Handlung bestimmen könnte), fällt in der Konsequenz in einen vollständigen Determinismus zurück. Denn die Vorstellung, man könnte anteilig bestimmen, wie viel Freiheit in einer empirischen Handlung stecke, ist schon darum falsch, weil man hierzu das Intelligible mit demselben Maß messen muss, wie das naturkausal Determinierte, um es zueinander ins Verhältnis setzen zu können. Hiermit wäre dann aber implizit das Intelligible als ein empirischer Gegenstand begriffen und damit als determiniert und nicht als frei. Dass es sich bei jeder Variante eines Determinismus des menschlichen Charakters, auch wenn er die Umwelt als den maßgeblich prägenden Faktor benennt, letztendlich um einen Biologismus handelt, hat Karl Popper schon in den Siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts festgestellt: „Zu beachten ist jedoch, daß jede erlernte Anpassung in dem Sinne eine genetische Grundlage hat, als die Erblichkeit des Organismus (sein ,Genom') die Befähigung muß gewährleisten, neue Anpassungen zu erlernen." 7

7 Karl R. Popper und John C. Eccles, Das Ich und sein Gehirn, 157.

D I E W Ü R D E DES MENSCHEN IST NICHT ERSCHEINUNG

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Die Würde des Menschen ist nicht Erscheinung Jedes Bild des Menschen, das seine Eigentlichkeit als seine Natürlichkeit fassen will, transportiert einen solchen Biologismus, welcher eine Selbstbestimmung des Menschen aus Freiheit logisch ausschließt. Die Freiheit des Menschen lässt sich zwar deutlich und positiv im Begriff der Menschheit fassen, aber zugleich kann es kein fixiertes positives Bild davon geben, was ein freier Mensch sei und wie er zu leben habe, weil die Freiheit des Menschen zwar ihre Realisierung als gesellschaftliche fordert (als freie Menschheit), aber zugleich in ihrer Realisierung auf keine bestimmte Form festgelegt ist (sonst wäre sie nicht frei, sondern durch diese Form äußerlich festgelegt). Da der Begriff Mensch der positivistischen Wissenschaftsmeinung zufolge nur das Gegebene spiegeln soll als das, was empirisch vorhanden und damit wirklich ist, kann dieser Begriff des Menschen kein moralisches Moment als ein Aufgegebenes, noch wirklich zu machendes, enthalten. Dies zeigt sich in der Begründungsnot, wenn es darum geht, die Existenz und Notwendigkeit von Moral zu erklären, weil Moral darauf geht, wie etwas sein sollte in Differenz zu dem Gegebenen, wie es ist. Wird die Moral als kulturell gewordenes Faktum begriffen, erscheint sie zugleich als ein geschichtlich Relativierbares, Veränderliches. Eine historische Perspektive auf ein unbedingt gültiges Richtig und Falsch wird so unmöglich; an ihre Stelle tritt so im Positivismus unweigerlich die Betrachtung des Nacheinander unterschiedlicher Ethiken. Einer verbindlichen Begründung bestimmter Handlungsmaximen, die überzeitliche Gültigkeit hat, weil sie als richtig erkannt wurde, bleibt dann nur der Rückgriff auf einen offenbarten Gottesglauben, der gänzlich jenseits der positivistischen Weltsicht steht. Darum hat die christliche Position in Fragen um die ethischen Grenzen dessen, was Forschung tun oder fragen darf, ihre sichere Bühne. Wenn die Beziehungen zwischen den Menschen nur durch empirische Erfahrung wirklich wären, nicht durch den Geist, also ausschließlich fühlend und nicht denkend ein Zusammenhang zwischen den Einzelnen hergestellt werden könnte, dann gäbe es keine Menschheit, keinen Begriff einer Gesamtheit aller Menschen als einer Einheit, ohne den es unmöglich ist, die Würde eines einzelnen Menschen philosophisch mit Allgemeinheit und Notwendigkeit zu begründen. Denn diese ideelle Einheit aller Menschen als eine Menschheit ist (anders als die Summe der Exemplare der Art homo sapiens sapiens) kein empirisch Gegebenes. „Wer dem Menschen das (wenn auch edle und hochwertige) Tier zum Bild gibt wie die vergangene Zeit 8 , leugnet den Geist. Dieser hier geleugnete Geist ist aber nicht nur das Universale, das allen Menschen a l l e i n Gemeinsame, da die je besonderen Eigenschaften, Triebe, Wünsche, vitalen Ziele und Interessen ja mehr trennen als verbinden; er ist nicht nur das Integrierende, das den Menschen a l l e i n vor allem anderen welt8 Gemeint ist die Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland.

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lichen Seienden Auszeichnende und durch seine Vollständigkeit zur Ganzheit Erhebende: er ist auch das, was ihm a l l e i n seine eigentliche Würde gibt." 9 Ohne den Begriff des Selbstbewusstseins als einem nicht bloß empirischen und individuellen, sondern als einem, das als Vernunftvermögen allen Menschen gemein ist, also ohne den Begriff der transzendentalen Einheit der Apperzeption, lässt sich keine Würde des Menschen, keine Moral, kein Recht auf Leben als notwendig und allgemeingültig für alle Menschen zu aller Zeit begründen. Denn die Würde des Menschen ist weder eine Organeigenschaft des homo sapiens sapiens noch gründet sie in der empirischen Vernunft eines einzelnen Menschen, sondern Würde hat der Mensch, weil er der Menschheit angehört, die unter dem Sittengesetz stehen kann, d. i. die ein moralisches Ideal hervorbringt, dessen Gesetz allein aus Freiheit, d. i. aus Vernunft entspringt. Nur durch diese transzendentale Bestimmung der Würde ist ,Mensch' nicht bloß ein Artbegriff neben anderen, sondern enthält das Moment eines Unbedingten, weil die Menschen nicht nur in der Reproduktion ihrer Art, sondern als Menschheit zugleich moralisch aufeinander bezogen sind. 10 Da die Würde des Menschen nichts Sinnliches ist, keine Eigenschaft des Menschen, sondern ein Unbedingtes, lässt sie sich nicht als Bild darstellen. Darum kann die Würde des Menschen nicht Teil eines Menschenbildes sein, sondern sie geht ein in den Begriff der Menschheit, der die Menschen in ihrem moralischen Bezug aufeinander als jene fasst, die Würde haben - nicht als biologische Art oder festgeschrieben in bestimmter Form, sondern als Menschheit, in dem Begriff, der seine Realisierung fordert als Realisierung der Freiheit jener Wesen, die sich selbst Zweck sein können und d a r u m auch sein sollen. Nur hierüber lässt sich begründen, warum Menschen niemals bloß als Mittel gebraucht werden dürfen. Die Würde ist über das moralische Gesetz mit der Freiheit des Menschen zweifach verbunden. Zum einen ist das moralische Gesetz nicht aus Natur, sondern aus Freiheit und darum unterliegt ihm kein Mensch physisch (wie einem Naturgesetz), sondern unterliegt ihm nur durch Einsicht der eigenen Vernunft. Zum anderen fordert die Würde des Menschen seine Freiheit; die Freiheit des Menschen soll ihm nicht bloß im Denken zukommen, sondern auch in der Welt für ihn als Sinnenwesen wirklich sein. Darum kann ein den Menschen auf eine Naturfunktion festlegendes Bild des Menschen keine Würde enthalten, weil es keine Freiheit enthält - und damit auch keine Moral. Ein Menschenbild zu haben heißt, die Vorstellung einer gesetzten und determinierenden Natur des Menschen zu haben. Dies verbindet sich gerne mit der reaktionären ,Einsicht', sich unter die gegebenen gesellschaftlichen Missstände schicken zu müssen, weil der Mensch nun einmal so sei, wie er ist. Hoffnungen auf Veränderungen von unmenschlichen Zuständen werden so entweder zu schönen, aber unrealistischen Utopien, weil der Mensch dem Menschen ein Wolf sei, oder zu Hoffnungen auf eine Verände-

9 Max Müller, Die Krise des Geistes, Freiburg 1946, 11. 10 Vgl. das Kapitel „Die Menschheitswürde" in: Christine Zunke, Das Subjekt der Würde, Köln 2004.

NATURWISSENSCHAFTLICHE DEFINITION UND MORALISCHER APPELL

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rung der menschlichen Natur - etwa durch Gentechnik, wie Sloterdijk eine moralische Wende der DNA fordert,11 oder auch durch Anwendung von Methoden, die Mithilfe der Hirnforschung entwickelt werden könnten. In dem Rekurs auf eine Natur des Menschen - sei sie nun ,gut' oder ,böse' - enthält jedes Menschenbild die Abweisung von Freiheit. Kein Menschenbild, sondern ein Begriff der Menschheit in dem Sinne, dass der Mensch begreift, was er ist, also einen überindividuellen Begriff von sich als freiem und moralischem Wesen hat, ist die Voraussetzung dafür, dass die Menschheit ein Bewusstsein von sich selbst erlangt und sich als selbstbewusste Menschheit ihre Zwecke gezielt setzen kann - zu einem gesellschaftlichen Prozess, in dem ihre Würde Wirklichkeit hat. Hierin würde dann kein Bild des Menschen, sondern seine Freiheit wirklich. Nicht die Natur des Menschen gilt es zu verändern, sondern es gilt zu erkennen, dass der Mensch die Verhältnisse, unter denen er lebt, selbst hervorbringt und verändern kann.

Demuts- und Machbarkeitsphantasien Der Terminus Menschenbild geht auf einen Biologismus zurück, welcher den Menschen auf ein bestimmtes natürliches Verhalten festlegen möchte. Doch Menschen verhalten sich nicht, sondern handeln; sie müssen nicht bloß auf die Natur reagieren, wie Tiere es tun, sondern sie können sich ihre Umwelt planvoll erschaffen. 12 Singer zufolge ist unsere Gesellschaft zwar ein Produkt des Menschen - genauer ein Produkt des Zusammenspiels vieler Gehirne - aber keines, das sich planvoll bewusst herstellen und verändern ließe, sondern ein Produkt, von dem wir immer nur Teil sein werden, wie die Biene Teil eines Bienenstocks ist, wie jedes Naturwesen zwar eine Wirkung in der Natur hat, aber niemals eine durch vernünftige Prinzipien oder durch deren Ablehnung dirigierte Wirkung auf die Natur entfalten kann. Darum soll auch das Wissen um unsere Unfreiheit wenig gesellschaftlich wirksame Effekte zeitigen, es soll uns jedoch einer inneren Haltung der Demut näher bringen. Spektrum der Wissenschaft: Wenn sich einmal ihre Erkenntnis durchsetzt, der ,freie Wille' - ähnlich wie das alternative Gefühl, fremdbestimmt zu sein - sei nur in der Erste-Person-Perspektive real, aus Sicht der Naturwissenschaft jedoch nicht existent! Was würde sich in unserem Leben, in unserer Gesellschaft ändern, wenn der Uraltgedanke, die Menschen könnten ihre Entscheidungen ,frei' treffen, sich als hinfällig erweist? Könnten wir dann niemanden mehr zur Verantwortung ziehen?

11 Vgl. hierzu Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, Frankfurt a. M. 1999 oder Wolfram Hogrebe, The real unknown: ein Rückblick auf die Moraldebatte der letzten Jahre, Erlangen (u. a.) 2002. 12 Vgl. Kapitel 9.

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Singer: Ich glaube, dass sich an der Art, wie wir miteinander umgehen, nicht sehr viel ändern würde, wenn wir der naturwissenschaftlichen Sichtweise mehr Bedeutung zumäßen. Wir würden allerdings - und das wäre erfreulich - vermutlich ein wenig tole13 ranter werden, nachsichtiger, verständnisvoller." Das Bild, der Mensch sei wesentlich ein Stück Natur - konkret in der Vorstellung, der Mensch sei sein Gehirn - fuhrt jedoch zu deutlich anderen Resultaten, als Singer sie sich wünscht. Sein biologistisches Bild vom Menschen ist eine Voraussetzung dafür, dass Teile der Hirnforschung schon heute, wo die Grundlagenforschung erst in den Anfängen steckt, die bislang erzielten Resultate (die weniger auf dem Wissen um kausale Zusammenhänge beruhen, als durch das trial-and-error Verfahren gewonnen wurden) aus dem Rahmen der medizinischen Indikation heraus in den privatwirtschaftlichen Bereich der technischen Anwendung, also der Prävention oder Optimierung von Hirnleistungen, überfuhrt werden sollen. Weniger christliche Demut als technische Machbarkeitsphantasien knüpfen sich an das Menschenbild, welches uns die Hirnforschung zeichnet. So werden Sie ein Genie titelte die P.M. einen Artikel über transkranielle Magnetstimulation14 und schrieb weiter: „In Jedem von uns schlummern geistige Potentiale, die wir nicht ausschöpfen können. Das soll sich ändern: Forscher wollen unser Hirn auf Höchstleistung trimmen. Weden wir dann alle zu kleinen Einsteins? Stellen Sie sich vor, Sie stülpen sich eine Art Kappe auf den Kopf - und schon beherrschen Sie mehr als zwanzig Sprachen, rezitieren auswendig aus 10.000 Büchern, rechnen mal eben die Kreiszahl Pi auf 5.000 Stellen nach dem Komma aus und machen das Auffinden von Primzahlen im Telefonbuch zu ihrem Hobby."15 Abgesehen davon, dass hier der Prozess des Lernens mal eben übersprungen wird, und abgesehen von der etwas kuriosen Vorstellung der Hobbys, die ein Genie kennzeichnen, gehen einige Bereiche der Forschung heute durchaus einen Weg, der in Richtung Hirnoptimierung weist. Die etwas seriösere Variante versucht sich unter dem Sammelbegriff des ,Neuro-Enhancement'16 zu etablieren. Die therapeutischen Anwendungen aus der Psychiatrie erstrecken sich teilweise schon in Bereiche, die die Grauzone zwischen Krankheit und Gesundheit eindeutig verlassen. Im Neuro-Enhancement werden neuronale Therapien zur Verbesserung der Gehirnleistung bei Gesunden eingesetzt. Solche Enhancement-Behandlungen sind sicherlich teuer. Die viel versprechende Gewinnspanne erklärt allerdings nur das Angebot, nicht jedoch die Nachfrage nach Behandlungen, in denen gesunde Menschen ihre Gehirne gezielt stimulieren lassen. Das Bild, das die Konsumenten dieser hirnoptimierenden

13 Singer, Ein neues Menschenbild?, 33. 14 Eine Methode, bei der mit starken Magnetfeldern die Neuronen in begrenzten Hirnabschnitten von außen gereizt oder gehemmt werden können. 15 P.M. 9/2006, Η.-Η. Sprado (Hg.), Hamburg, 13. 16 Enhancement; engl.: Steigerung, Übertreibung.

NATURWISSENSCHAFTLICHE DEFINITION UND MORALISCHER APPELL

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Maßnahmen von sich und vom Menschen überhaupt haben, ist ein an das Gehirn als das steuernde Organ aller Lebens- und Denkfunktionen glaubendes. Doch neben diesem Glauben daran, Produkt des eigenen Gehirns zu sein, müssen noch weitere Momente hinzukommen, um Phänomene wie Neuro-Enhancement erklärlich zu machen. Diese Momente entspringen der Funktion des Menschen als Arbeitskraft. Durch die Anwendung neuronaler Therapien soll ein Mangel behoben werden, und zwar ein Mangel im Gehirn eines gesunden Menschen. Rückschließend von der versprochenen Wirkung solcher Maßnahmen muss man annehmen, dass dieser Mangel in der Leistungsfähigkeit liegt. Die Leistungsbereitschaft wird als selbstverständlich vorausgesetzt; die Fähigkeit zur Leistungserbringung soll jedoch auf neuronaler Ebene optimiert werden. Der Maßstab, zu wie viel Leistung ein Mensch fähig sein soll, wird hierbei nicht aus einer Analyse des Gehirns hergeleitet, sondern ist schon von vornherein und wie selbstverständlich in einer ganz anderen Sphäre gesetzt und festgelegt: Beruf, Studium oder Schule stellen Anforderungen, denen der Einzelne sich gemäß machen müsse. In Journalen finden sich Anzeigen die ζ. B. fordern: „Optimieren Sie ihre Leistungsfähigkeit - mit Gehirntraining. Heute sind alle mobil, die Arbeitszeiten flexibel und das Leben schneller: Umso wichtiger ist ein fitter Kopf, der das mitmacht." 17 Was vor einigen Jahren noch ein Markt fur Kräutermischungen und autogenes Training war, wird zunehmend zu einem Anwendungsfeld für technische Verfahrensweisen, die sich auf Ergebnisse aus der Hirnforschung stützen oder ihr sogar originär entstammen. Obgleich die Leistungsanforderungen heteronomen Ursprungs sind, ist der Wunsch nach Verbesserung in den Einzelnen gelegt (der selbstredend auch die Kosten für hirnoptimierende Maßnahmen trägt). Es scheint keiner weiteren Erklärung zu bedürfen, dass Menschen sich optimieren wollen, um sich den Leistungsanforderungen besser gewachsen zu zeigen. Das Bild vom Menschen als guter Arbeitskraft tritt so zum biologistischen Verständnis des Menschen hinzu und zeigt die Richtung der Entwicklung an, wenn es um die technische Anwendung neurowissenschaftlicher Erkenntnisse geht: Die technische Anpassung des Menschen an eine als Natur erfahrene Gesellschaft. Das neue Menschenbild soll so zum einen den statischen Ist-Zustand festhalten, die naturwissenschaftlich geprüfte Wirklichkeit des Menschen sein; es soll jedoch zugleich, wie man es von einem gut bezahlten Portraitmaler erwarten darf, die Mängel ausbügeln. Von diesem geschönten Bild des Menschen geht dann jene Dynamik aus, die den Einzelnen auffordert, sich ihm gemäß zu machen. Diese Dynamik ist es, die Singer in Richtung einer demütigen Haltung gegenüber den gegebenen Zuständen zu bewegen hofft wohl vergeblich, denn die Leistungssteigerung ist bei wachsender Armut unter Bedingungen verschärfter Konkurrenz ein drängenderer Faktor.

17 Text zur Werbung für Dr. Kawashimas

Gehirnjogging,

Software für Nintendo DS, 2007.

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T H E R E ' S MORE TO THE PICTURE / THAN MEETS THE EYE"

Naturwissenschaftliche Definition und moralischer Appell Diese Widersprüche, die sich im Begriff des Menschenbildes finden lassen, wenn die Funktionen, die ein solches Bild haben soll, analysiert werden, weisen auf die Parallelität zum Wesensbegriff hin. Das Menschenbild soll getreues Abbild dessen sein, was erscheint, dabei aber zugleich dasjenige positiv hervorbringen, was nicht Akzidenz, nicht Erscheinung, sondern nur negativ zu haben ist: das Wesen des Menschen. Das Menschenbild geht zum einen auf die positive Realdefinition des Menschen, die durch neuere Erkenntnisse über unsere Art verändert oder ergänzt werden soll. Zugleich meint es aber auch das Wesen des Menschen, die Eigentümlichkeit unseres Seins, die das Bild vom Menschen möglichst getreu wiedergeben und dabei offenbar zugleich auch erst herstellen soll. Singers Forderung war es zunächst, dass das Menschenbild streng auf die Erkenntnisse der naturwissenschaftlichen Erforschung des Menschen und insbesondere seines Gehirns bezogen sein müsse. Dennoch solle das Menschenbild kein bloßer Forschungsbericht sein. Vielmehr solle aus der Reflexion des Menschen auf das, was er eigentlich' sei, eine bestimmte Einsicht folgen, die mehr Toleranz gegenüber den Mitmenschen herbeiführen solle; getragen von dem Grundsatz, dass keiner anders könne, als er ist. Singer verspricht sich also von dem Wissen um die biologische Bestimmtheit des Menschen eine gesellschaftliche Wirkung. Das biologistische Menschenbild will objektives Abbild des Menschen sein und hat dabei zugleich normsetzende Funktion (und soll sie auch haben, ansonsten wäre das Menschenbild keiner öffentlichen Debatte wert), die in einer bestimmten Richtung auf die Verhaltensweisen der Menschen einwirkt. Ob wir ein richtiges oder falsches Bild von uns selbst haben, soll nicht bloß von akademischem Interesse sein, sondern von großem kulturellem und politischem Interesse. Dies kann sich nur über die angenommene Wirkungsmacht des Bildes, das der Mensch von sich hat, erklären. Diese Macht einer bestimmten Wirkung - nämlich einer den Menschen zum Mittel der Gesellschaft bestimmenden Wirkung - kann das neue Menschenbild nur haben, wenn nicht die biologisch oder kulturell festgelegten Strukturen, sondern das freie Bewusstsein des Menschen seine Lebensweisen bestimmen kann. Hinter dem Widerspruch, dass das Menschenbild bei Singer zugleich naturwissenschaftliche Definition und moralischer Appell sein soll, verbirgt sich das metaphysische Moment, eine Ursache hinter der Erscheinung annehmen zu müssen, das die Naturwissenschaften vergeblich als positive Eigenschaft zu fassen suchen, weil dieses metaphysische Moment zwar als positives angenommen werden muss, aber nur negativ entwickelt werden kann. Die Antinomie des Wesensbegriffes, der Akzidenzien und Substanz nur durch einander bestimmen kann, ohne sie in Identität aufgehen lassen zu dürfen, zeigt sich im Begriff der Menschheit als Bezug auf ein historisch tätiges Subjekt, das durch alle gesellschaftlichen Veränderungen hindurch selbst als kein bloß Variables

NATURWISSENSCHAFTLICHE DEFINITION UND MORALISCHER A P P E L L

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gedacht werden muss, sondern als ein Beharrliches im Wandel, um eine historische Perspektive überhaupt zu ermöglichen. So erscheint das Wesen des Menschen als wirkliches Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse und ist diesen zugleich transzendent, indem es sie kritisiert und historisch verändert. Auf eine solche Veränderung zielt auch Singers neurophysiologisch begründetes Menschenbild - und macht sie zugleich unmöglich, indem er das Ausgeliefertsein des Einzelnen an die von den herrschenden gesellschaftlichen Zuständen produzierten Sachzwänge, denen gegenüber er sich als unfrei erfährt, durch seine Hypothese des unfreien Willens affirmiert. Politische und ökonomische Unfreiheit erfahren so eine Doppelung und verfestigen sich, indem der Mensch, der in der kapitalistischen Produktionsweise bloßes Mittel der Produktion von Kapital ist, analog zum Mittel seines Gehirns und damit zum Objekt der Evolution erklärt wird. Damit unterliegt er nicht nur blinden gesellschaftlichen Mechanismen, sondern soll zudem ein entsprechendes Selbstbild annehmen, demzufolge er in seinem Denken und Fühlen von Mechanismen des eigenen Gehirns bestimmt sei, die bestenfalls Experten durchschauen könnten. 18 Wir brauchen kein Menschenbild - auch kein neues, neurophysiologisch orientiertes. Wir brauchen einen avancierten Wesensbegriff, der der Menschheit zu einem neuen Selbstbewusstsein verhilft. Dieser Begriff muss die Dynamik des geschichtlichen Prozesses umfassen und kann darum kein Fixum sein. Das statische Bild legt den Menschen auf eine heteronom bestimmte Funktion fest. Darum kann das Menschenbild nur als Ansatz der Kritik dienen. Wird es als Abbild postuliert - sei es als Ist-Zustand oder als Utopie - erscheint sein repressiver Charakter; im ersten Fall im reaktionären Festschreiben eines gesellschaftlichen Machtverhältnisses als dem eigentlichen oder natürlichen Zustand des Menschen, im letzteren Fall durch eine Hypostasierung des Menschseins: Das Reden von dem wahren Menschen in Differenz zur heutigen Wirklichkeit weckt die Vorstellung, der Mensch könne zu einer geschichtlichen Zeit sein übergeschichtliches Wesen erreichen (oder er habe es gerade im bestehenden gesellschaftlichen Zustand erreicht). Jeder Entwicklungsprozess wird dann vorgestellt als einer, der beim Erreichen des Zieles zu glückseliger Stasis gerinnt. Freiheit ist nur gegen die Anthropologisierung einer fixen Form von Freiheit oder Unfreiheit zu bestimmen. Sobald man ein Menschenbild hat, hat man den Menschen auf seine Funktion festgelegt. Die Freiheit zeigt sich nur im Negativ: Die Menschheit ist nicht das, was sich durch ein Menschenbild festlegen ließe. Kein Bild, sondern das gesellschaftliche Wissen um sich als freies Wesen ist die Voraussetzung dafür, dass der Mensch sich zum selbstbewussten Subjekt seiner Gesellschaft macht.

18 Zur Produktion von ideologischem Bewusstsein durch die Hirnforschung, welche die kapitalistische Produktionsweise als der menschlichen Natur gemäß erscheinen lässt, vgl. Kapitel 5.

5. Der Wille als Gefühl Zur Architektonik einer funktionalen Lüge

Eine kritische Analyse der Äußerungen Gerhard Roths über die Bedeutung der Gefühle des Menschen für die Verhaltenssteuerung kann die gesellschaftspolitischen Implikationen der Darstellung von Forschungsresultaten aus der modernen Hirnforschung stärker beleuchten. Wird der Wille nicht (auch) als Vernunftvermögen, sondern ausschließlich als ein Affekt des Begehrens verstanden, liegt alle Moralität nicht im Einzelnen, sondern - wenn überhaupt - in der Art der gesellschaftlichen Organisation und ist damit dem einzelnen Menschen und seinem Wollen äußerlich. Der anscheinende Konflikt zwischen Gefühl und Vernunft wird aus dem einzelnen Bewusstsein heraus verlagert in das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und den an ihn gerichteten gesellschaftlichen Anforderungen. Dass letztere ,vernünftig' seien und das Primat gegenüber den Begehrungen des Einzelnen haben sollen, kann dabei jedoch nicht durch die menschliche Vernunft begründet sein, sondern nur durch die menschliche Natur, die ihren überindividuellen Ausdruck in der Art der Organisation der Gesellschaft finden soll. Zu einer Organisation von Zwecken, die auf die Verwertung des Wertes gerichtet sind, passt die Annahme der Unfreiheit des Einzelnen, weil jene Verwertung ihn als bloßes Mittel braucht. Der von der Hirnforschung wissenschaftlich unterfütterte Glaube an eine natürliche Unfreiheit affirmiert so einen gesellschaftlichen Zustand der Unfreiheit.

Hirnforschung erklärt die menschliche Natur (als) der kapitalistischen Produktionsweise gemäß Die Annahme, der Mensch habe keinen freien Willen, hat, unabhängig von den persönlichen politischen Haltungen der Hirnforscher selbst, einen gesellschaftspolitischen Gehalt. Aber dieser Gehalt wird in den Veröffentlichungen zum Thema oft nicht direkt ausgesprochen, etwa dann nicht, wenn die politischen Äußerungen mit der dargelegten Theorie im Widerspruch stehen, wie es im vorigen Kapitel bei Wolf Singer gezeigt wurde. Um zwischen Populismus, Provokation und den tatsäch-

HIRNFORSCHUNG ERKLÄRT MENSCHLICHE NATUR DEM KAPITALISMUS GEMÄB

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liehen gesellschaftspolitischen Implikationen des cerebral fokussierten Bildes vom Menschen ohne Freiheit zu unterscheiden ist es wichtig, zu trennen zwischen bloßen Meinungen einerseits und andererseits Thesen, die inhaltlich aus der Annahme es gebe keinen freien Willen direkt folgen. Dass das nicht immer leicht ist, weil die verschiedenen Aspekte sich oft überschneiden und vermischen, soll an folgendem Satz von Gerhard Roth exemplarisch gezeigt werden: „Die gesellschaftliche Natur des Menschen ergibt sich aus seiner (neuro)biologischen Natur und nicht umgekehrt, und deshalb ist die gesellschaftliche Natur des Menschen ohne die (neuro)biologische nicht verständlich."1 Dieser Satz findet sich im Buch Fühlen, Denken, Handeln von Roth nicht nur im Text, sondern ist zudem als Klappentext für die Taschenbuchausgabe gewählt. Daher erscheint es als zulässig, ihn hier auf die Goldwaage zu legen. Der erste Teil: „Die gesellschaftliche Natur des Menschen ergibt sich aus seiner (neuro)biologischen Natur" ist die provokative These, die Roth in seinem Buch belegen will. „[...] ergibt sich aus" bezeichnet einen z u r e i c h e n d e n Grund. Das bedeutet, dass die Art und Weise, in der Menschen sich in Gesellschaften organisieren, vollständig aus der (neuro-) biologischen Natur des Menschen zu erklären und so die Gesellschaft in allen Ausformungen durch diese Natur determiniert sei „[...] und nicht umgekehrt". Umgekehrt würde bedeuten: Die (neuro)biologische Natur des Menschen ergebe sich aus seiner gesellschaftlichen Natur. Diese Umkehrung ist schon deshalb unsinnig, weil man eine gesellschaftliche Natur annehmen müsste, die ν o r der biologischen bestünde, da letztere von ihr abgeleitet wäre. Eine solche Position ist in wissenschaftlichen Kreisen nicht bekannt, weshalb nicht klar wird, wogegen Roth sich hier abgrenzt. „[...] und deshalb ist die gesellschaftliche Natur des Menschen ohne die (neuro-) biologische nicht verständlich." Die Gesellschaft der Menschen als endlichen vernunftbegabten Sinnenwesen mit spezifischen körperlichen und geistigen Bedürfnissen ist sicherlich nicht zu verstehen, wenn man deren biologische Natur nicht beachtet. Die biologische Natur des Menschen ist eine n o t w e n d i g e Bedingung für sein gesellschaftliches Zusammenleben. Erstens, weil sie die Bedingung für das Leben von Menschen überhaupt ist und zweitens, weil ohne die Notwendigkeit eines Stoffwechsels mit der Natur ein solcher Prozess auch nicht gesellschaftlich als Arbeitsprozess organisiert wäre. „[...] und deshalb" bezeichnet jedoch einen Schluss. Roth behauptet also, der zweite Teil des Satzes folge logisch aus dem ersten. Doch aus der falschen Behauptung, Gesellschaft habe ihren zureichenden Grund in der (neuro)biologischen Bestimmtheit des Menschen, folgt nicht die richtige und banale Feststellung, dass in der (neuro)biologischen Beschaffenheit des Menschen eine Bedingung für die Art und Weise seiner gesellschaftlichen Organisation zu finden sei.

1 Gerhard Roth, Fühlen, Denken, Handeln, 555 u. Klappentext.

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Die genaue Analyse dieses einen Satzes soll stellvertretend zeigen, was für den großen Teil der Debatte um die Bedeutung der Erkenntnisse der Hirnforschung bezüglich des menschlichen Geistes symptomatisch ist. Viele Texte argumentieren ungenau; provokante Thesen werden aufstellt und im nächsten Satz abgeschwächt, eingeschränkt oder durch eine widersprechende These aufgehoben. Wenn hierin im Folgenden die Architektonik einer funktionalen Lüge aufgezeigt werden soll, so ist damit nicht unterstellt, anerkannte Wissenschaftler würden in der Absicht zu täuschen bewusst die Unwahrheit sagen. Vielmehr geht es darum, die Struktur einer Ideologie offen zu legen, die sich auch im reaktionären Alltagsbewusstsein findet, die jedoch mit Veröffentlichungen wie Fühlen, Denken, Handeln und ähnlichen Publikationen eine wissenschaftliche Legitimation erfährt, welche sie auf eine Stufe der Seriosität hebt und damit ihre Wirkungsmacht steigert. Hierbei ist der Glaube an das uns steuernde Gehirn entscheidender für die Mächtigkeit der Ideologeme, die sich mit den Fragestellungen und Resultaten der Hirnforschung verknüpfen, als die Stringenz der Argumentation. „Schon lange vor den aktuellen Diskussionen um die Willensfreiheit und lange vor den aus dem Boden sprießenden Bindestrichwissenschaften wie Neurodidaktik, Neuroästhetik oder Neuroökonomie sind die anthropologischen Grundsatzfragen von Freiheit und Notwendigkeit, von Primitivität und Zivilisiertheit, von Autonomie des Subjekts und maschinengesteuerter Kreatur gerade im Hinblick auf das Gehirn diskutiert worden. Es ist keine Neuigkeit, daß das Gehirn ein symbolisch kontaminiertes Organ ist". 2 Diese symbolische Bedeutung des Gehirns ist mit der Hirnforschung aufs Engste verwoben. Die naturwissenschaftliche Praxis produziert nicht bloß Wissen von experimentell gefundenen Sachverhalten, sondern transportiert und festigt auch bestimmte ethische Normen und Werte. Andersherum wird der naturwissenschaftliche Blick auf den Untersuchungsgegenstand Gehirn auch durch ethische Normen und Werte und durch gesellschaftlich existierende Zuschreibungen zu diesem Organ gelenkt und geformt. Hierbei wird der Mensch in all seinen geistigen Eigenschaften biologisiert. Damit geht heute ein reaktionärer Impetus einher. Auch die Materialisten der französischen Aufklärung, auf welche die heutigen Aussagen von Hirnforschern über genuine Gegenstände der Geisteswissenschaften oft historisch bezogen werden, haben das menschliche Freiheitsvermögen naturalisiert - allerdings unter anderen politischen Vorzeichen. Zur Zeit der französischen Revolution wurde Freiheit zu einer natürlichen Grundausstattung des Menschen erklärt, um ihren Ursprung in Gott zu leugnen und damit die ideologische Macht der Kirche und der mit ihr verbundenen feudalen Strukturen zu brechen. Der Widerspruch, der daraus entsteht, Freiheit und Natur unmittelbar identisch zu setzen, zieht sich durch die Schriften von d'Holbach, Diderot, Rousseau u. a. Über einen solchen Freiheitsbegriff wurden die Konstitutionsbedingungen der bürgerlichen Gesellschaft naturalisiert, und darin lag die ideologische Funktion für die bürger-

2 Michael Hagner, Geniale Gehirne, Göttingen 2004, 8.

D E N K E N UND FÜHLEN

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liehen Freiheitskämpfer. Wenn die Welt nicht göttlichen, sondern natürlichen Ursprungs vorgestellt wurde, dann konnte der Mensch die herrschende Ordnung aus Freiheit ändern, ohne sich dabei gegen seinen Schöpfer zu versündigen. Um eine bürgerliche Gesellschaft von Freien und Gleichen zu installieren wurde die Freiheit so zu einer natürlichen Eigenschaft des Menschen erklärt. Das ist heute, wo diese Gesellschaftsform die vorherrschende ist, nicht mehr erforderlich. So ist es im Herzen demokratischer Industrienationen plötzlich möglich, dass ein Theorem Popularität erlangt, welches die Freiheit aus der Grundausstattung des Menschen streichen will. Damit werden die anthropologischen Grundfesten der bürgerlichen Gesellschaft angegriffen, was jedoch (außer in den Diskussionen um das Strafrecht) keine breite Öffentlichkeit zu beunruhigen scheint. Wenngleich systematisch gesehen die französischen Aufklärer mit den heutigen Hirnforschern im Naturalismus übereinstimmen, so muss doch die den unterschiedlichen historischen Bedingungen geschuldete politische Differenz hervorgehoben werden. Mit demselben mechanistischen Menschenbild, mit dem damals die natürliche' Freiheit des Menschen gegen seine gottgewollte Bestimmung verfochten wurde, wird heute seine Freiheit geleugnet zugunsten seiner heteronomen Bestimmtheit durch die Natur, d. i. seiner Bestimmtheit durch die und zu der bestehenden Gesellschaftsform. Während die Aufklärung die Vernunft als oberste Instanz installierte und geradezu verehrte, finden sich bei Gerhard Roth die Vermögen, durch welche der Mensch sich selbst bestimmen kann, nämlich Vernunft und Einsicht, in Anfuhrungszeichen. Wenn Roth von der ,Natur des Menschen' redet, dann meint er gerade nicht das Vernunftvermögen des animal rationale, sondern seine Gefühle als das vermeintlich Unmittelbare und nicht durch die ratio Verfälschte.

Denken und Fühlen Denken und Gefühle sind uns gleichermaßen bewusst und nur durch Introspektion zugänglich, müssen aber in der Diskussion um die Willensfreiheit genau unterschieden werden. Die Gefühle haben zum empirischen Bewusstsein ein Verhältnis, das der Wahrnehmung analog ist: sie werden nicht nach Prinzipien gebildet, sondern durch einen inneren Sinn 3 wahrgenommen und uns somit als etwas dem Denken Äußeres, das irreflexiver Gegenstand des Denkens sein kann, gegeben. Analog werden uns äußere Naturgegenstände nur vermittels der Sinnesaffektation gegeben und können nicht rein aus dem Denken erschlossen werden. 4 In den Gefühlen kann Freiheit darum nicht ihren 3 Zum inneren Sinn und der Trennung in logisches und psychologisches Ich, vgl. Kap. 7. 4 Auch wenn ζ. B. die Existenz einiger Planeten bewiesen werden konnte, ohne dass sie je in einem Teleskop erschienen, indem die Bewegungen anderer Himmelskörper auf eine ablenkende Masse schließen ließen, so ist dieser auf der Grundlage der Theorie der klassischen Mechanik gefundene

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Ursprung haben - auch nicht im emphatischen Gefühl des Freiseins. Denn Gefühle sind als gegebene zufallig. Die Freiheit, sich aus Prinzipien der Vernunft selbst zu bestimmen, ist originär kein Gefühl, kann jedoch gefühlt werden, insofern sie im empirischen Bewusstsein von Gefühlen begleitet wird oder solche hervorbringt. 5 Die Psychologie, welche sich mit dem Verhältnis von Denken, Fühlen und Handeln auseinandersetzt - denn Gedanken erzeugen Gefühle und umgekehrt - , hat die Grauzone zwischen Freiheit und Determiniertheit im empirischen Subjekt zum Gegenstand. Wir sind nicht frei, traurig zu sein oder verliebt oder ängstlich ganz nach der Willkür unseres Gutdünkens, noch können wir nach Prinzipien der Vernunft das passende Gefühl zu einer gegebenen Situation zuordnen oder erzeugen. Wir können nicht aus Prinzipien ableiten, was ein Gefühl sei oder aus Freiheit den Zweck setzen, wozu überhaupt ein Gefühl sei. Nur die Erfahrung lehrt uns, welche Begebenheiten gewöhnlich welche Gefühle hervorrufen. Frei sind wir darin, mit unseren Gefühlen auf bestimmte Weise umgehen zu wollen und auch tatsächlich zu lernen umzugehen. Doch hieraus folgt keine strenge Dichotomie zwischen dem unmittelbaren Gefühl und einer es unterdrückenden oder kanalisierenden Vernunft respektive Verstand. Vielmehr ist alles empirische Denken zugleich vom Fühlen begleitet; auch die mit Verstand geplante gelungene Überwindung eines Impulses ist nicht bloß negativ als Handlung aus Vernunft gegen ein Gefühl zu fassen, sondern fühlt sich ihrerseits spezifisch an. Ob das gute Gefühl, ein Kilo abgenommen zu haben, das gute Gefühl, eine Tafel Schokolade zu essen, überwiegt, lässt sich darum aus Vernunftgründen nicht entscheiden. Nicht nur, wenn sie als Motive im empirischen Subjekt, sondern auch, wenn ihr Verhältnis systematisch bestimmt wird, stellen sich Vernunft und Gefühl nicht als einander ausschließend, sondern als einander notwendig bedingend dar. Denn was kann das Ziel der Vernunft eines Sinnenwesens sein, wenn nicht Glückseligkeit, welche die Verwirklichung der Freiheit der Vernunft in Zuständen des (sinnlichen) Glücks ist? Stünde die Sinnlichkeit der Verwirklichung der Vernunft entgegen, so könnte diese sich nur in der Negation des Sinnlichen finden - d. i. im Tod; doch hierin negierte die menschliche Vernunft als eine, deren Existenz an die endlicher Sinnenwesen geknüpft ist (wie aller Inhalt ihres Denkens an die sinnliche Erfahrung), sich selbst. Menschliche Vernunft ist nicht ohne Fühlen - nicht ohne sinnliche Affektation und nicht jenseits innerer Affekte - möglich, da ihr Ziel und ihr Inhalt an die Sinnlichkeit geknüpft sind. Umgekehrt sind Gefühle beim Menschen (auch) Reaktionen auf die rationale Verarbeitung und Bewertung von Ereignissen; zudem ist ein Gefühl isoliert davon, dass es ein Bewusstsein dieses Gefühls gibt, gar nicht vorstellbar. Nachweis der Existenz eines Planeten doch nicht ohne Messdaten möglich, welche der (durch Messinstrumente enorm verstärkten und ausgeweiteten) sinnlichen Wahrnehmung bedürfen und nicht ausschließlich durch Reflexion zu gewinnen sind. 5 Die Gefühle, die Freiheit hervorbringen kann, sind vernunftgewirkte Gefühle, d. i. moralische Gefühle wie ζ. B. das Gefühl der Achtung vor dem Leben eines Menschen. Vgl. Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunf, A 130 und vgl. Christine Zunke, Das Subjekt der Würde, Köln 2004, 86 ff.

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Doch Vernunft ist nicht Gefühl, auch wenn sich beide unauflöslich im empirischen selbstbewussten Subjekt verquicken. Gefühle werden im empirischen Selbstbewusstsein unmittelbar erlebt, sind aber ihrer logischen Funktion nach subjektive Vermittlung zwischen Empfindung und Subjekt. Hierin sind Gefühle Urteile, allerdings Urteile, die nicht objektiven Regeln folgen, sondern auf einen Zustand des Subjekts gehen. Gefühle können darum nicht wahr oder falsch sein, denn anders als die durch einen Gegenstand äußerer Erfahrung in unserer Vorstellung bewirkte Empfindung hat das Gefühl keinen Grund im Objekt, sondern allein im Subjekt in Ansehung eines Objektes. In der Empfindung bezieht sich das Subjekt auf ein Objekt, in seinen Gefühlen hingegen bezieht es sich auf sich selbst, indem es nicht etwas fühlt, sondern sich. Menschliche Gefühle sind auf Vorstellungen und damit auf das Selbstbewusstsein und das Erkenntnisvermögen bezogen und können darum nicht in einem ausschließenden Verhältnis gegen die Verstandesbegriffe stehen. Sie sind jedoch nicht Teil des Erkenntnisvermögens, sondern das Subjektive einer Vorstellung. Gefühle des Menschen, d. i. Gefühle eines vernünftigen Sinnenwesens, haben das reflexive Moment des SichFühlens und sind hierüber, dass sie die Gefühle eines Subjekts sind, nicht vom Selbstbewusstsein zu trennen. Gefühle sind nur Gefühle für uns, sofern sie von Bewusstsein begleitet werden. Die Existenz von Gefühlen ist also an die Existenz vernunftbegabter Sinnenwesen gebunden und kann darum im strengen Sinne Tieren nicht zugesprochen werden - alle Wesen mit entwickeltem Zentralnervensystem sind zweifelsfrei empfindungsfähig, was jedoch von einem von Bewusstsein begleiteten Gefühl zu unterscheiden ist. Die Vorstellung, Gefühle seien das animalische Erbe des Menschen, welches sich im permanenten Kampf mit der ratio als seinem ewigen Widerpart befände, ist darum falsch. Sie spiegelt eher gesellschaftliche Verhältnisse, in denen der Mensch durch apersonale Herrschaft angehalten ist, sich zum bloßen Mittel von Produktionszwecken zu machen und hierzu die eigenen Bedürfnisse zu unterdrücken - nicht jedoch das logische Verhältnis von Gefühlen zu Verstand und Vernunft. Als subjektiv Vermittelndes zwischen Situation und Subjekt sind Gefühle immer auch kulturell bestimmt und somit gesellschaftliches Resultat. Bei Gerhard Roth hingegen werden sie aufgrund ihrer Unmittelbarkeit für das einzelne empirische Bewusstsein als ein überzeitlicher und ursprünglicher Teil der menschlichen Natur betrachtet.

Der Hirnstoffwechsel und die Psyche Was Roth genau unter Gefühlen versteht, ist dem entsprechenden Kapitel in seinem Buch Fühlen, Denken, Handeln nicht leicht zu entnehmen. Dort heißt es erstens, dass Gefühle durch Aktivitäten des limbischen Systems entstehen. Zweitens seien Gefühle Erlebniszustände, welche durch Erleben entstehen, und drittens seien sie nicht durch

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Umwelteinflüsse veränderbar. 6 Erlebniszustände sind aber nichts anderes als eine Aufnahme und Verarbeitung von Umwelteinflüssen. Und damit wären sie bei veränderter Umwelt durch eben diese veränderbar. Als „Grundzustände des Gefühls" oder so genannte „Basisemotionen" nennt Roth Glück, Überraschung, Verachtung, Trauer und Ärger. Die Verknüpfung dieser Basisemotionen, ζ. B. des Glücks, mit bestimmten Objekten oder Geschehnissen „geschieht vornehmlich in der basolateralen Amygdala unterstützt durch das mesolimbische System, das uns über die Ausschüttung von Belohnungsstoffen (gehirneigenen Opiaten) Lustempfindungen vermittelt, so wie den Hippocampus." 7 Ein Inhalt, der geeignet ist, einen Menschen glücklich zu machen, ist in dieser Darstellung unsichtbar. Das Erlebnis des Glücks wird als eine Folge der Ausschüttung von „Belohnungsstoffen" im Gehirn bestimmt. Dass Glück die Folge des Erlebens eines Inhaltes mit bestimmter Bedeutung sein kann, hat Roth vielleicht zunächst mitgedacht oder mitgemeint. Es ist jedoch symptomatisch, dass dieser Zusammenhang nicht genannt wird. In einer populärwissenschaftlichen Schrift (dass es sich um eine solche handelt, zeigt schon die Verwendung des Terminus „Belohnungsstoffe") darf eine solche Verknüpfung nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Ob das Gehirn spontan reagiere oder ob die Ausschüttung von „Belohnungsstoffen" eine Folge von positiven Erlebnissen sei, bleibt an dieser Stelle bei Roth offen. Später wird das Verhältnis von ihm andersherum bestimmt: Wir erleben etwas als positiv, w e i l das Gehirn Belohnungsstoffe ausschütte. So ist dann das Glück nicht die Folge eines positiven Erlebnisses, sondern die Ursache. Den Grund des Glücks untersucht Roth in den Hirnfunktionen, was für einen Hirnforscher zunächst legitim erscheint. Im Folgenden betrachtet er jedoch nur diese neuronalen Zustände als die Repräsentanten von Glück. Dieses Vorgehen führt dazu, die Frage nach dem Verhältnis von Ursache und Wirkung gar nicht erst zu stellen. Da die äußeren Umstände nicht der Gegenstand sind, auf den Roth sich bezieht und er darum äußere Umstände nicht betrachtet, erscheint der Hirnstoffwechsel als alleinige Ursache der Emotionen. Das Gehirn als Urheber seines neuronalen Geschehens wird so zum Subjekt, das eine „emotionale Bewertung" 8 über ein Geschehnis anstelle. Roth spricht von einer „festen Verkoppelung", also einer neuronalen Verkoppelung in der basolateralen Amygdala, die entstehe, wenn Geschehnisse durch das Gehirn bewertet werden. Hierüber soll erklärbar sein, warum gleiche oder ähnliche Geschehnisse von uns gleich oder ähnlich bewertet werden, also gleichermaßen oder ähnlich als ,angenehm' oder ,unangenehm' eingestuft werden. Dies erklärt aber gar nichts, sondern verlagert lediglich das Problem, das entsteht, wenn die Person als Entscheidungen fällendes Subjekt ausgeblendet wird, denn auch die Einstufung von Erlebnissen als gleich oder ähnlich stellt eine Bewertung dar, die nur denkend in einem Urteil getroffen werden kann.

6 Vgl. Gerhard Roth, Fühlen, Denken Handeln, 549 ff. 7 Ebd. 8 Gerhard Roth, Fühlen, Denken Handeln, 550.

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Folgerichtig erscheinen ,ähnlich' und ,unähnlich' bei Roth nicht als Urteile, sondern als bloße Empfindungen, die unser Gehirn uns serviere. Der Bezug auf rationale Inhalte und Bedeutungen geht bei Roth nicht zuletzt dadurch verloren, dass er sich in seinen Beispielen bevorzugt auf Fälle aus der klinischen Psychiatrie bezieht. Roth führt psychische Erkrankungen bestimmte Störungen im Gehirn zurück. Wenn nun psychische Erkrankungen als Privationen geistiger Vermögen verstanden werden, könne ein geistiges Vermögen der Hirnfunktion zugeordnet werden, die bei der psychischen Erkrankung gestört sei. So bestimmt Roth geistige Vermögen negativ aus einem als Privation verstandenen psychischen Zustand und findet damit die Generalthesis vom Hirngeschehen als der Ursache des Gefühlszustandes immer bestätigt, weil psychische Auffälligkeiten schon per definitionem keine ,normalen' rationalen oder emotionalen Reaktionen auf äußeres Geschehen darstellen. Darum lassen diese Störungen sich auch unabhängig von jedem Kontext neurowissenschaftlich beschreiben und diese Beschreibungen sich dann wiederum kontextunabhängig negativ auf ^ormale' Gehirne übertragen. So untersucht er beispielsweise den Hirnstoffwechsel klinisch depressiver Menschen, um mit den Ergebnissen dann die Gefühle von Trauer, Verzweiflung und Teilnahmslosigkeit ganz allgemein zu erklären. Die Ursache von Depressionen vermutet Roth in einer Störung des Wechselspiels dreier Bewertungssysteme: Aufmerksamkeit, Analyse der Sachlage, emotionale Bewertung. 9 In allen drei Systemen spiele laut Roth nicht etwa das bewusste Ich eine Rolle, vielmehr fungieren Hippocampus, frontaler Cortex und Amygdala als die bewertenden Instanzen (welche der Sache nach so zu Subjekten werden). Diese limbischen Zentren und Zentren des Hippocampus gehören nicht zu den bewusstseinsfähigen vorderen und seitlichen Cortexarealen. Diese ,unbewussten' Zentren haben bei depressiven Personen sowohl einzeln als auch in ihrer Wechselwirkung gewisse Stoffwechseldefizite (Monoaminhaushalt, Serotonin und Noradrenalinhaushalt etc.). Roth beschreibt die Depression als eine reine Stoffwechselstörung des Gehirns, berichtet allerdings zugleich darüber, dass analoge Stoffwechselstörungen bei Versuchstieren durch starke Isolation von natürlicherweise im Sozialverband lebenden Tieren hervorgerufen werden können. 10 Die äußeren Bedingungen wie Einsamkeit spielen bei der Betrachtung der Entstehung von Verlassenheitsgefühlen beim Menschen hingegen in Roths Darstellung keine Rolle, sondern werden lediglich als Mittel zur Erzeugung analoger Gehirnstörungen beim Versuchstier genannt. Die von Roth angeführten Therapiemöglichkeiten erschöpfen sich folglich in der Aufzählung einiger Psychopharmaka, die regulierend in den Hirnstoffwechsel eingreifen. Damit ignoriert Roth konsequent alle bewussten Inhalte, die Gründe für eine Depression sein können. Dass eine Medikamentierung in manchen Fällen wirksam und auch sinnvoll sein kann, soll hier nicht in Zweifel gezogen werden. Doch dass unsere Welt Gründe bieten kann, sich verlassen, verzweifelt oder einsam zu fühlen,

9 Vgl. Gerhard Roth, Fühlen, Denken Handeln, 340. 10 Vgl. Gerhard Roth, Fühlen, Denken Handeln, 337.

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taucht bei Roth nicht einmal in einem Nebensatz auf, weil die Ursachen psychischer Erkrankungen allein im Stoffwechsel des Gehirns ausgemacht werden, der Roths Untersuchungsgegenstand ist. Dass ein eingeschränkter Stoffwechsel auch die F ο 1 g e eines bestimmten Gemütszustandes sein könnte, wird über diesen Ansatz im Resultat ausgeschlossen - und das, obwohl bei Versuchstieren eine analoge Störung des Hirnstoffwechsels durch bestimmte Umweltbedingungen wie soziale Isolation hervorgerufen werden kann. Zugleich verwehrt Roth sich gegen den Vorwurf, er würde Depressionen mit einem niedrigen Serotononinspiegel gleichsetzen - aber nicht, weil die Psyche eines Menschen nicht in seinem Hirnstoffwechsel aufgehe, sondern weil dieser Hirnstoffwechsel viel zu komplex sei, als dass er eine solch vereinfachte Aussage zuließe. „Der normale Umgang mit der Welt und mit uns selbst beruht also auf einer sehr komplizierten Balance zwischen Aufmerksamkeit, subcortikaler und cortikaler emotionaler Bewertung und bewusstcortikaler Analyse der Sachlage. Schon die Beeinträchtigung eines dieser Systeme fuhrt zu massiven Störungen unserer Persönlichkeit. Die genannten neuropharmakologischen Prozesse sind dabei die aus chemischen Signalen bestehenden Botschaften, die zwischen den Systemen ausgetauscht werden, und nicht die eigentlichen Ursachen. Das bedeutet allerdings auch, dass diese Art von Kommunikation innerhalb des gesamten Bewertungssystems nicht nur dadurch gestört wird, dass Teilsysteme ausfallen (aufgrund genetischer Defekte, frühkindlicher Schädigung, Dauerstress oder Verletzungen), sondern auch dadurch, dass die Kommunikationssignale nicht zur Verfugung stehen. In diesem Zusammenhang werden Signal und Botschaft leicht verwechselt, und es kommt zu den Formulierungen wie Repression ist nichts anderes als ein Mangel an Serotonin'. Wir sollten nunmehr in der Lage sein zu verstehen, warum eine solche Formulierung nicht nur faktisch, sondern auch von ihrer Grundaussage her falsch ist." 11 Der Mangel an Serotonin sei Teil der Depression, aber nicht selbst die Ursache, sondern er bewirke eine Kommunikationsstörung zwischen drei Systemen des Gehirns, deren Zusammenwirken überaus komplex sei. Diese Systeme seien in ihrem Zusammenspiel und damit in ihrer Funktion auch dann gestört, wenn gar keine Störung der Systeme selbst vorliege, sondern wenn die „Signale" nicht zur Verfugung stünden, mit denen sie ihre „Botschaften" austauschten. Dies störe die empfindliche Balance zwischen den Systemen; ein „normaler Umgang mit der Welt und mit uns selbst" sei dann nicht mehr uneingeschränkt möglich. Darum sei Depression nicht bloß als ein Mangel an Serotonin zu beschreiben und eine solch vereinfachende Aussage „nicht nur faktisch, sondern auch von ihrer Grundaussage her falsch". Was die Naturalisierung des menschlichen Geistes und die Reduzierung seiner Psyche auf das neuronale Geschehen in seinem Gehirn angeht, ist es einerlei, ob Roth die Ursache beispielsweise von Depressionen im gesenkten Serotoninspiegel oder in „einer sehr komplizierten Balance zwischen Aufmerksamkeit, subcortikaler und cortikaler

11 Gerhard Roth, Fühlen, Denken Handeln, 377.

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emotionaler Bewertung und bewusstcortikaler Analyse der Sachlage" ausmacht. 12 Dass er sich gegen die Reduzierung der Depression auf ein Absinken des Serotoninspiegels verwahrt, hat in Roths Argumentation also nicht die Funktion, sich gegen die Naturalisierung des menschlichen Geistes auszusprechen. Aber es hat die Funktion, zu suggerieren, dass er keine schlichte, keine einfache Reduzierung des menschlichen Geistes auf seine Hirnfiinktionen vornähme. Dies geschieht, indem er der Sache nach sagt, es handele sich nicht um eine einfache, sondern um eine komplexe Reduzierung des menschlichen Geistes auf seine sehr komplizierten Hirnfiinktionen. Doch rhetorisch tut er weit mehr und das obige Zitat kann als Exempel einer sich wiederholenden rhetorischen Figur dienen: Roth beginnt mit einem Gemeinplatz, bei dem er davon ausgehen kann, dass der geneigte Leser ihm zustimmt. Die im Gemeinplatz umgangssprachlich enthaltenen Relationen ,übersetzt' Roth dann in Relationen von hirnphysiologischen Zuständen. Die Zustimmung zu dem Gemeinplatz suggeriert dem Leser dann die Richtigkeit der Rothschen Thesen über die Hirnfunktionen. So werden Richtig und Falsch dann tatsächlich zu etwas Gefühltem: Vernunft und Einsicht tragen ihre Anführungszeichen bei Roth zu Recht. Nachdem er sich beim Thema Depression gegen eine schlichte Naturalisierung verwahrt hat (weil jeder ahnt, dass die Ursachen für Depressionen vielschichtig und dunkel sind), kann er im Weiteren Gang seiner Darstellung neurophysiologischer Erkenntnisse über die Natur des Menschen wieder jene schlichte Naturalisierung dort behaupten, wo das Alltagsbewusstsein sie gerne annimmt. In dem Kapitel über Aggressivität und Gewalttätigkeit werden bestimmte Gehirnzustände nicht als bloß korrelierend, sondern eindeutig als ursächlich für Gewalttaten dargestellt. „Ein normaler bis erhöhter Serotoninspiegel führt nämlich zu Ausgeglichenheit, ruhiger Gelassenheit, zur Zufriedenheit mit den Dingen ,so wie sie sind', ein niedriger Serotoninspiegel dagegen erzeugt ein Gefühl allgemeiner Bedrohung, Unsicherheit und erhöhte Ängstlichkeit." 13 Auch hier sind Roths Ausführungen frei von dem Gedanken, es könnten Ursache und Wirkung verwechselt werden. Der kurze Hinweis darauf, dass der gesenkte Serotoninspiegel bei Primaten in Einzelhaltung auf eine analoge Ursache beim Menschen hindeuten könnte, wird sogleich wieder mit dem Hinweis auf die genetische Disposition zu

12 Die Schwierigkeit, dass mit so etwas wie einer „bewusstcortikalen Analyse der Sachlage" implizit ein Subjekt gesetzt ist, das nicht in einem naturkausalen Geschehen aufgehen kann und in der Annahme einer durchgehenden naturkausalen Bestimmtheit auf Widersprüche fuhrt, wurde weiter oben bereits behandelt. Hier zeigt sich der durch die Trennung von „Signal" und „Botschaft" erzeugte Widerspruch. Ersteres soll bloßes Zeichen für die Bedeutung oder den Inhalt des letzteren und damit von diesem unterschieden sein; zugleich werden beide von Roth als ein naturkausales Hirngeschehen angesehen, d. h. die Botschaft, deren Bedeutung das andere System über das gegebene Signal verstehen können muss, kann zugleich keinen vom Signal getrennten Inhalt haben und damit nichts bedeuten, weil das denkende Subjekt, das allein Bedeutungen zu Zeichen zuordnen kann, nicht auftaucht und doch zugleich implizit in den drei interagierenden Systemen des Gehirns gesetzt ist. 13 Gerhard Roth, Fühlen, Denken Handeln,

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Störungen im Serotoninhaushalt relativiert. „Aggressivität könnte demnach mindesten zwei Ursachen haben, die beide mit einem niedrigen Serotoninspiegel verbunden sind, nämlich erstens ein primäres affektiv-emotionales Defizit, das zu einer generellen Fehleinschätzung von Umweltereignissen führt, und zweitens ein Gefühl der Bedrohtheit und Unsicherheit als Folge frühkindlicher sozialer Isolation." 14 Der Blick auf den Menschen wird über den Blick auf den Affen zu einem Blick auf das Gehirn, was im Resultat das menschliche Verhalten als durch den Hirnstoffwechsel determiniert erscheinen lässt, auch wenn äußere Umstände als verursachende Determinanten hinzutreten mögen. Wenn jedes Verhalten bloße Stoffwechselfunktion ist, wird gesellschaftlich definiertes Fehlverhalten zu einer Krankheit, da korrelierende Hirnprozesse ausmachbar zu sein scheinen. So schreibt Roth im Unterkapitel Aggression, Gehirn und Geschlechtsunterschiede: „Mörder ζ. B. zeigten eine deutlich geringere Aktivierung im Frontallappen und im oberen parietalen Cortex." 15 Hier ist die Schädelmessung, die die Physiognomie des Verbrechers ausfindig machen wollte, bloß ein paar Zentimeter unter die Schädeldecke gerutscht, ohne etwas gelernt zu haben. Den Schluss, Verbrecher aufgrund bestimmter Merkmale des Hirnstoffwechsels präventiv zu internieren, zieht Roth hier zwar nicht, er ist in der Art der Behandlung der Thematik aber durchaus angelegt. Erst hatte die Aggressivität mindestens zwei Ursachen, die mit einem niedrigen Serotoninspiegel verbunden waren, dann war sie eine krankhafte Veranlagung, und schließlich erscheint sie auch noch einmal als bewusste Folge der Erziehung. Verantwortlich fur aggressives Verhalten sei „im wesentlichen die bewusste Erziehung zu Aggressivität, die als geeignetes gesellschaftliches Mittel zur Erlangung von individuellen oder gemeinschaftlichen Zielen [...] angesehen wird", 16 allerdings nur bei den Eipo in WestNeuguinea. Auch in dem Unterkapitel ADHS und Gewalt verknüpft Roth ,gestörten' Hirnstoffwechsel mit Kriminalität. Roth schildert hier zunächst die Symptome von ADHS-diagnostizierten Kindern, 17 wobei Gewalttätigkeit noch gar nicht auftaucht. Die Verknüpfung zwischen Gewalttätigkeit und ADHS wird erst hergestellt, indem Eltern und langjährige Bekannte schwerer Gewaltverbrecher in einer Studie über das Verhalten der heutigen Gewalttätigen als Kinder befragt werden. Dort zeigt sich, dass schwere Gewaltverbrecher oft schon in ihrer Jugend in der Schule auffielen, Konzentrationsschwächen hatten und durch Prügeln oder Schikanieren ihrer Umwelt hervortraten. Letzteres ist nicht unbedingt ein typisches Merkmal, nach dem heutzutage ADHS diagnostiziert wird; doch diese Kennzeichen reichen aus, damit Roth den Gewaltverbrechern nachträglich für ihre Kindheit ein ADHS-Syndrom diagnostizieren kann. 14 Gerhard Roth, Fühlen, Denken Handeln, 346. 15 Gerhard Roth, Fühlen, Denken Handeln, 347. 16 Vgl. Gerhard Roth, Fühlen, Denken Handeln, 355. 17 Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung bei Kindern und Jugendlichen; wird in den letzten Jahren zunehmend häufig diagnostiziert und neuropharmakologisch behandelt; die Symptome lassen nach, sobald die Erziehungsberechtigten die Medikamente regelmäßig einnehmen.

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So kommt er zu dem Schluss: „Dies bedeutet, daß ein erheblicher, wenn nicht gar der größte Teil der Gewalttäter eine krankhafte Veranlagung zur Aggression hat." 18 Zudem hätten ADHS-diagnostizierte Kinder ein deutlich geringeres Hirnvolumen als normale Kinder. 19 Es folgt eine Auflistung der funktionellen Gehirndefizite von ADHS-Kranken, welche die Konzentration erschwerten oder verhinderten. So wird auch ADHS zu einem rein körperlichen Mangel, obgleich Roth selbst bei der Darstellung der Symptome richtig wiedergegeben hat, dass diese Defizite nur unter Druck auftreten und sich nicht auf eigenständiges Lernverhalten oder auf Spielsituationen erstrecken. Das bedeutet, dass die grundsätzliche Fähigkeit zur Konzentration bei diesen Kindern sehr wohl vorhanden ist. Nur in den von außen vorgegebenen Lernsituationen, vor die insbesondere die Schule Kinder stellt, verlieren ADHS-diagnostizierte Kinder ihr Aufmerksamkeits- und Lernvermögen und weichen in auffälliges und störendes Verhalten aus. Diese von Roth geschilderten Symptome passen nicht zu den von ihm gegebenen neuronalen Erklärungen von ADHS, die eine generelle Konzentrationsstörung unterstellten. Sie müssten den empfundenen Druck, der die Konzentrationsfähigkeit der Kinder einschränkt, als eigenständiges Erregungsmuster im Gehirn fassen, um plausibel zu sein. In einer Abbildung findet sich dann auch ein von außen kommender und mit „Stress" betitelter Pfeil, der die Stresssymptome auslöst. Diese Darstellung verkennt jedoch, dass empfundener Stress oder Leistungsdruck kein äußeres Phänomen ist, das analog zu Sinneswahrnehmungen aufgenommen wird. Vielmehr ist empfundener Leistungsdruck immer schon eine spezifische Verarbeitung von Situationen, die in einem gesellschaftlichen Kontext stehen und nur durch diesen zu begreifen sind. Die Konzentrationsfähigkeit als bloßes Vermögen besitzen ADHS diagnostizierte offenbar ebenso, wie andere Kinder. Durch die Suche nach neuronalen Ursachen für Störungen in der Konzentrationsfähigkeit, die dann als ADHS erscheinen sollen, spricht Roth den Betroffenen durch das Diagnostizieren eines neuronalen Defizits eine Fähigkeit ab, die er ihnen eingangs noch attestiert hatte.

Bewertung ohne wertendes Subjekt? Um die bestenfalls marginale Rolle der Vernunft als wirksamer Faktor bei der Entstehung von Verhaltensweisen zu betonen, spricht Roth wiederholt von der Macht der „starken Gefühlszustände". 20 Als diese nennt er Stress, Schmerz, Furcht, Angst, Ag-

18 Gerhard Roth, Fühlen, Denken, Handeln, 349. 19 Wie jeder Himforscher und so auch Roth heutzutage weiß, steht das bloße Hirnvolumen beim Menschen in keinem Zusammenhang mit seinen intellektuellen Fähigkeiten. Vgl. Gerhard Roth, Fühlen, Denken, Handeln, 130 ff. 20 Neben den „starken Gefiihlszuständen" und den oben angeführten „Basisemotionen" teilt Roth die Emotionen nochmals in die „grundlegenden Affekte" ein, als da wären: „Lust, Wut, spontanes An-

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gressivität, Lust, Glück, Verliebtsein und Liebe. Verstand und Vernunft, so seine These, könnten nur in begrenztem Maß auf Emotionen einwirken. „Dies geschieht im Wesentlichen dadurch, dass der orbitofrontale, präfrontale und cinguläre Cortex eine hemmende Wirkung auf Amygdala und mesolimbisches System entfalten und damit eine Impuls- und Fehlerkontrolle ausüben."21 Ein mit Verstand und Vernunft urteilendes Subjekt taucht hier nicht auf, als das national' agierende Subjekt erscheint der Cortex. Verstand und Vernunft werden als Funktionen dargestellt, die vielleicht von Bewusstsein begleitet sein mögen, aber nicht das Urteil als Ursache einer Einwirkung auf das Verhalten geltend machen können. Doch was ein Fehler ist, erschließt sich nur im Urteil. Das Wort „Fehlerkontrolle" suggeriert also bereits einen Blick von Außen, der das emotionale System eines Menschen als korrekt oder fehlerhaft beurteilen kann. Hierfür ist ein Maßstab des ,Richtigen' vorausgesetzt, an dem das zu Beurteilende gemessen werden kann und vor allem ein Subjekt, das über diesen Maßstab verfugt, die Beziehung zwischen dem zu Beurteilenden und dem Maßstab herstellt und dann ersteres in Bezug auf letzteren als abweichend beurteilt. Wie das Gehirn überhaupt dazu kommt, erstmals eine ,Bewertung' abzugeben, und auf welcher Grundlage diese Beurteilung getroffen werden soll, ist unklar. Denn die Bewertung eines Erlebnisses als ,angenehm' kann in Roths Darstellung der Entstehung von Gefühlen nicht immanent aufgrund einer angenehmen Empfindung getroffen werden, weil eben diese - als angenehme - erst durch die Bewertung des limbischen Systems geschaffen werden soll. So mündet seine Erklärung in den Zirkel, dass dasjenige angenehm ist, was zur Ausschüttung von Belohnungsstoffen führt, und dass die Ausschüttung von Belohnungsstoffen veranlasst wird, weil etwas angenehm ist. In seinen Beispielen findet sich dann allerdings nicht nur diese zirkuläre Struktur, nach der jede Bewertung unbegründbar und willkürlich wäre, sondern das bewertende Subjekt wird in einen Naturzweck übertragen, nach dem uns bestimmte Bewertungsmuster angeboren seien, weil sie sich als evolutionär sinnvoll erwiesen hätten. Der logische Bruch dieser Darstellung wird dort besonders deutlich, wo es nicht um unmittelbare Körperzustände geht wie ζ. Β. ,Hunger', der Roth zufolge einem Naturzweck nach als ,unangenehm' empfunden werden soll, um uns zur lebenswichtigen Nahrungsaufnahme anzuhalten, griffs- und Abwehrverhalten, das Bedürfnis nach menschlicher Nähe" und ein vages „usw". Diese Einteilung der Emotionen in „grundlegende Affekte", „Basisemotionen" und „starke Gefuhlszustände" wirkt beliebig. Warum Glück eine Basisemotion, Lust ein grundlegender Affekt und beides wiederum ein starker Gefühlszustand sein soll, wird aus der Darstellung nicht ersichtlich. Schon die Stellung der einzelnen Bereiche dieser emotionalen Dreiteilung untereinander ist ohne systematisch ordnende Gliederung. Stehen sie gleichberechtigt nebeneinander? Gibt es einen Oberbegriff, unter den die anderen subsumiert sind? Nach welchen Kriterien wird eine Emotion dem einen oder anderen Bereich zugeordnet? Gibt es Schnittstellen, oder wie lassen sich sonst die Nennungen einiger Emotionen in verschiedenen Bereichen erklären? Ist ,Lust' als grundlegender Affekt etwas anderes als ,Lust' als starker Gefühlszustand? Roths Vorgehen zeigt hier eher das assoziative Vorgehen eines schlechten Schüleraufsatzes als die Methodik einer wissenschaftlichen Arbeit. 21 Gerhard Roth, Fühlen, Denken, Handeln, 550.

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sondern um psychische Phänomene wie ζ. B. Stress, „etwa eine unangenehme Prüfungssituation". 22 Dass eine Prüfung Stress verursacht, hat insofern keine biologische Ursache, als eine Prüfung nichts Natürliches ist. Der Prüfungsstress entspringt einem nur gesellschaftlich zu erklärenden Leistungsdruck, der Situationen wie Prüfungen erst herstellt. Da dieser Stress sich auch körperlich messbar äußert (und nur hierin Gegenstand der Hirnforschung werden kann), behandelt Roth ihn als ein Naturphänomen. Über die Bewältigung von Stress schreibt er: „Es kommt schließlich auch zu einer Einwirkung cortikaler (besonders prä- und orbitofrontaler) Zustände auf die stressbezogene Aktivität limbischer Zentren, ζ. B. aufgrund der Einsicht, dass ,alles nicht so schlimm' ist." 23 Woher diese Einsicht kommt (als Einsicht mit der gewussten Bedeutung, dass „alles nicht so schlimm" sei, nicht als ein prä- oder orbitofrontaler cortikaler Zustand), bleibt, betrachtet man Roths Ausführungen rein immanent, mehr als rätselhaft. Denn die hemmende Einwirkung auf die Amygdala erzeuge ja erst die Ruhe, so dass auch die ,Einsicht', alles sei ,nicht so schlimm', eine Folge der cortikalen Einwirkung sein müsste. Der Sache nach beschreibt Roth hier die Einsicht als (mentale) Ursache für die neuronalen Reaktionen im Cortex, die den Stressabbau kennzeichnen. Hieraus resultiert dann, dass Roth seine Vorstellung von einem Kampf der Gefühle mit der Rationalität in einem vermeintlich rein neuronalen Geschehen abbildet. „Im Normalfall ergibt sich also in gewissem Sinne ein Kampf zwischen eher beruhigenden kognitiven Aspekten (,Vernunft und Einsicht'), vermittelt durch den Hippocampus und den Cortex, und eher emotionalen Aspekten (,Aufregung') vermittelt durch die Amygdala. Diesen Kampf erleben wir subjektiv als Kampf zwischen ,Aufregung' und ,Ruhe bewahren!'" 24 Es fällt auf, dass die verschiedenen Hirnareale hier auf einmal bloß eine vermittelnde Funktion haben, also nicht länger als Subjekte von „Vernunft und Einsicht" auf der einen und „Aufregung" auf der andren Seite erscheinen, sondern als bloßer Mechanismus des Gegeneinander dieser Aspekte. War das Gehirn im vorhergegangenen Teil selbst dasjenige, was bewertet, gelernt, reagiert, entschieden und eingesehen hat, so tritt es hier plötzlich zurück. Das grammatische Subjekt wird ein vages „wir", das Gehirn hingegen vermittelt, ist Funktion für das Subjekt „wir" und wird ins Passiv gesetzt. Implizit ist hier ein dem Gehirn übergeordnetes Subjekt angenommen, das jedoch nicht explizit genannt wird. Roth konstatiert zwar, dass die individuelle Haltung, die jemand zu einer bestimmten Situation oder einem Objekt hat, deutlichen Einfluss auf die Art der Verarbeitung des Stresses habe. 25 Hier bezieht er sich auf das aus der Psychologie

22 23 24 25

Gerhard Roth, Fühlen, Denken, Handeln, 314. Ebd. Ebd. Vgl. Gerhard Roth, Fühlen, Denken, Handeln, 317.

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bekannte Phänomen, dass etwa der Tod durch Unfall oder Naturkatastrophen von den Hinterbliebenen leichter verarbeitet werden könne als ein grausamer Mord. Von Roths Prämissen ausgehend muss es jedoch verwundern, dass der Verlust eines Familienmitgliedes nicht in genau der gleichen Weise verarbeitet wird, sondern dass neben den bisherigen Erfahrungen, die sich als „feste Verkoppelungen" der Amygdala gebildet haben, auch die äußeren Umstände dieses Verlustes (die er sogleich zu inneren Hirnzuständen erklärt) eine große Rolle bei der Verarbeitung dieses Schocks spielen. Bei der Frage nach dem Ursprung der Gefühle fährt Roth die beliebte Doppelstrategie moderner Verhaltensforschung, zu sagen, einerseits seien grundlegende Gefühle und entsprechende Verhaltensweisen angeboren, 26 andererseits gebe es auch sehr viele Gefühle und daran geknüpfte Verhaltensweisen oder Ausdrücke dieser Gefühle, die kulturell und sozial bedingt seien. 27 „Die Tatsache, daß diese elementaren Affektzustände zur Grundausstattung der Säugetiere einschließlich des Menschen gehören, schließt ihre Veränderbarkeit durch Erfahrung (Lernen, Instruktionen) in engen Grenzen nicht aus. Die Mehrzahl von ihnen ist allerdings nicht völlig unterdrückbar." 28 Indem Roth hier unterstellt, eine Veränderung der Affekte oder der auf sie folgenden Handlungsweisen sei eine Unterdrückung eines natürlichen Zustandes, behauptet er, die kulturelle Ausformung, Entwicklung und gar das Schaffen von Affekten sei gar nicht möglich oder bloßer Schein und in Wahrheit ein Abfall von dem oder ein Zerfall des natürlichen Verhaltens, das jedem Affekt zugrunde liegen soll. Das heißt, bei jeder Kanalisierung von bestimmten Gefühlen oder bei einem kulturell geprägten Umgang mit Gefühlen handele es sich eigentlich um die Unterdrückung eines zugrunde liegenden natürlichen Verhaltens - und damit weder um bewusst gewählte Verhaltensweisen aufgrund von Reflexion noch um gesellschaftlich ausgebildete Varianzen der Bedürfnisbefriedigung. Ein kulturell geprägter Umgang mit Trauer beispielsweise oder die diversen Formen menschlicher Sexualität sind jedoch prinzipiell nicht als natürliche Verhaltensweisen beschreibbar; denn beides sind kulturelle Phänomene. Das Begreifen und Verarbeiten eines Verlustes ist ebenso wenig Natur wie die menschliche Sexualität in Fortpflanzungsfunktionen aufgeht. Viele Gefühle und ihre Verknüpfung mit bestimmten Erscheinungen sind eindeutige Schöpfungen der Moderne, ζ. B. Ekel beim Anblick von Achselnässe. Dies macht es unmöglich, hier sinnvoll von natürlichen Affektzuständen zu reden. Denn Gefühle sind stark an die Bedeutungen von Erscheinungen in bestimmten sozialen Kontexten gebunden. Wegen der neurophysiologischen Definitionen dessen, was eine Emotion sei, lehnt Roth jedoch diejenigen Theorien explizit ab, denen eine kognitive Komponente der

26 Vgl. Gerhard Roth, Fühlen, Denken, Handeln, 286. 27 Vgl. Gerhard Roth, Fühlen, Denken, Handeln, 287. 28 Gerhard Roth, Fühlen, Denken, Handeln, 292.

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Emotion zugrunde liegt. 29 Diese von ihm abgelehnten Theorien besagen, dass Emotionen sich - gleichgültig ob bewusst oder über das Unbewusste - immer auf die Β e d e u t u η g einer Situation oder eines Gegenstandes beziehen. Dass der Gefuhlszustand Folge einer (begriffenen) Bedeutung einer Situation oder eines Gegenstandes sein soll, würde Roths naturalistischer Prämisse widersprechen. Dagegen setzt er die Behauptung der Eigenständigkeit der Emotionen in der Weise, wie sie unsere Befindlichkeit und unser Verhalten beeinflussen. Zwar könne man zwischen kognitiven und affektiven emotionalen Zuständen unterscheiden, doch seien die meisten Emotionen Affekte und damit eher instinktiv als aufgrund einer Bedeutung auf eine Situation gerichtet. 30 Roth führt als Beleg für seine These, die Bedeutung sei im Zusammenhang mit Affekten irrelevant, an, dass Hirnzustände der Sinneswahrnehmung unbewusst stattfanden, wenn die Intensität des Erlebens unter ein bestimmtes Maß sinke. Gerade auch als Komponenten des Unbewussten könnten Gegenstände (angeblich dann ohne Bedeutung!) eine Wirksamkeit haben, die sich in entsprechenden emotionalen Zuständen äußere und handlungsrelevante Größen seien. Er belegt dies mit einem Experiment, in dem „Personen mithilfe eines milden Elektroschocks auf ein bestimmtes Objekt (Spinnen, Schlangen) furchtkonditioniert wurden." 31 Das Ergebnis dieser menschenfreundlichen Versuchsreihe war, dass auch bei einer maskierten Darbietung des Bildes einer Spinne oder Schlange, d. h. einer optischen Darbietung, in der das Objekt so versteckt ist, dass es nicht bewusst wahrgenommen wird, sondern bloß unbewusst vom Gehirn registriert wird, was ζ. B. durch die Kürze des optischen Reizes erreicht werden kann, die Versuchsperson physische Furchtreaktionen zeigte (Veränderung des Hautwiderstandes, des Blutdrucks etc.), obgleich sie den Grund ihrer Angst nicht benennen konnte. 32 Es wird unterschieden zwischen automatisierten Furchtreaktionen als unbewussten Reaktionen, die sich in entsprechenden körperlichen Reaktionen zeigen, und bewusst erlebter Furcht vor einem Objekt, dessen Bedeutung ,gefährlich' ist (weil es mit einem „milden Elektroschock" verbunden wird). Was ,gefährlich' ist, wird hier also nicht über den Begriff der ,Gefahr' bestimmt, sondern wesentlich als ein neuronales Reaktionsmuster gefasst, das dann auch mittels eines harmlosen Elektroschocks konditionierbar ist. Die hirnphysiologische Erklärung zur Differenz zwischen den bewussten und unbewussten Hirnreaktionen lautet, dass ein visueller Reiz zuerst subcortikal verarbeitet werde durch verschiedene Hirnareale, deren Aktivitäten nicht von Bewusstsein begleitet seien. Diese

29 Vgl. Gerhard Roth, Fühlen, Denken, Handeln, 296. 30 Die Trennung zwischen Emotionen und Affekten bleibt bei Roth jedoch undeutlich und wird nicht streng nach einer differierenden Bedeutung durchgehalten. Vgl. Gerhard Roth, Fühlen, Denken, Handeln, 296 f. 31 Gerhard Roth, Fühlen, Denken, Handeln, 298. 32 Ähnliche Resultate erzielten auch andere Experimente zum Blindsehen und Priming. Vgl. D. Vorberg, U. Mattler, A. Heinecke, Τ. Schmidt, J. Schwarzbach, „Invariant time-course of priming with and without awareness". In: Psychological Science 2001', und A. Cowey, P. Störig, „The neurobiologie of blindsight", Trends in Neurosciences 14, 1991 (140-145).

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Reizverarbeitung führe auch unbewusst in den vegetativen Zentren zu einer Reaktion. Das heißt: ganz ohne Bewusstsein könne auf einen Reiz, der Gefahr bedeute (!), eine entsprechende Reaktion wie ζ. B. Flucht eingeleitet werden.33 Der evolutionäre Vorteil liege in der Geschwindigkeit, mit der unbewusst auf einen Reiz reagiert werden könne, während vom Bewusstsein begleitete Prozesse zumeist länger dauerten. Gleichzeitig werde der Reiz auch in andere Hirnareale übertragen, was schon aufgrund der komplexeren Nervenverbindungen etwas länger dauere. „Im Cortex verbinden sich diese neutralen visuellen Erregungen mit deklarativen Gedächtnisinhalten [...] und schließlich werden sie - vermittelt durch die Aktivität von Amygdala und mesolimbischem System und über deren Projektionen in den Cortex mit Inhalten des emotionalen Gedächtnisses verknüpft." 34 So würden erst n a c h einer eventuell stattgefundenen Körperreaktion die Reize mit den Inhalten des Gedächtnisses verknüpft und als ,bekannt' und ,gefährlich' oder ungefährlich' erkannt werden können. Diese zeitlich späteren Hirnaktivitäten liefen u. a. über das vordere Hirnareal, also auch über den Cortex und könnten durch eine Stimulation der vorderen Hirnareale dann auch ins Bewusstsein dringen. „Aufgrund der komplexen Interaktion vieler cortikaler und subcortikaler Zentren entsteht dann in den entsprechenden assoziativen visuellen Arealen die bewußte inhaltsreiche Emotion."35 Hinter dem Wort „komplex" verbirgt sich hier wieder einmal auf wunderbare Weise der Übergang von neuronaler Aktivität zu gedachtem Inhalt, wobei dieser Inhalt, schon b e v o r er gewusst sein kann, auch von Roth als Inhalt mit Bedeutung betrachtet werden muss und betrachtet wird, denn ohne den Rekurs auf eine Bedeutung des visuellen Reizes kann eine Körperreaktion wie ζ. B. ein Fluchtimpuls nicht als stammesgeschichtlich ,sinnvoll' erklärt werden. Roth unterscheidet in seiner Interpretation des Experiments zwischen bewusster und unbewusster Wahrnehmung. Sowohl die bewusste als auch die unbewusste Wahrnehmung führe zu emotional gesteuerten Verhaltensweisen, die beide gleichermaßen für die adäquate Reaktion relevant und beide kausal wirksam seien. Dann differenziert er, dass das furchtauslösende Objekt von den unbewussten Hirnprozessen nur schematisch nach einem groben Muster erkannt werde, wohingegen erst durch das bewusste Erleben die Sachlage adäquat von uns erkannt werden könne und wir dadurch zu einer angemessenen Reaktion in der Lage seien. „Wir erkennen ζ. B., daß es sich bei der Schlange um eine Ringelnatter und nicht um eine Kreuzotter handelt."36 Das Unbewusste sei demnach in der Lage, eine Schlange wahrzunehmen, könne aber nicht zwischen Ringelnatter und Kreuzotter differenzieren, da seine Weise der Wahrnehmung schlichter und mit weniger Informationsgehalt aus-

33 34 35 36

Vgl. Gerhard Roth, Fühlen, Denken, Handeln, 300 f. Ebd. Ebd. Gerhard Roth, Fühlen, Denken, Handeln, 301.

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gestattet sei als die von Bewusstsein begleitete Wahrnehmung, die mit den Inhalten des emotionalen Gedächtnisses verknüpft sei. Hiermit unterstellt Roth, dass unbewusste neuronale Prozesse nicht nur zu einer bestimmten Reaktion auf einen visuellen Reiz hin konditioniert werden können, sondern dass sie auch in der Lage seien, ein visuell dargebotenes Gekringel als ,Schlange' zu erkennen. Doch weder der Begriff der Schlange noch das Wissen um die Giftigkeit oder Ungiftigkeit des wahrgenommen Exemplars liegen in dem visuellen Reiz und der auf ihn folgenden konditionierten Furchtreaktion. Aus den körperlich messbaren Zuständen, die typischerweise mit Angst einhergehen, kann darum nicht geschlossen werden, das Unbewusste erkenne eine Schlange als ein gefährliches Objekt und ihm fehle nur die Differenziertheit der mit Bewusstsein einhergehenden Wahrnehmung, um sie als Ringelnatter und als ungefährlich einzuordnen. Ein Unbewusstes, das gänzlich von bewussten Zuständen, d. i. vom Wissen, abgetrennt wäre, könnte weder eine bestimmte Schlangenart noch eine Schlange überhaupt erkennen. 37 Denn kein Inhalt lässt sich ohne Bewusstsein denken. So kann zwar eine neuronale und körperlich messbare Furchtreaktion stattfinden, aber schon Roths Verknüpfung mit dem visuell maskiert gezeigten Objekt ,Schlange', das gefürchtet wird, geht in der Interpretation zu weit: Diese Verknüpfung ist eine, die nur denkend im Bewusstsein stattfinden kann. Das Nicht-Bewusste hat keine Angst vor der gezeigten Schlange. Es reagiert lediglich gemäß einer Konditionierung, der jede Bedeutung, jede begriffliche Zuordnung äußerlich ist. Darum ist Roths Interpretation, jemand erschrecke vor einer Schlange und erkenne dann, dass es sich um eine Ringelnatter handele, falsch. Gerade bei mit Hilfe von Elektroschocks auf geschwungene Linien furchtkonditionierten Menschen müsste es eher heißen, jemand sehe eine Flusslandschaft und ist darüber irritiert oder beunruhigt, dass ihm dieser Anblick scheinbar grundlos den kalten Schweiß auf die Stirn treibe. Dass wir als herpetologisch ungebildete Mitteleuropäer zunächst beim Anblick einer echten Schlange auf dem Bürgersteig (und nicht im Terrarium) erschrecken und uns dann fragen, ob sie giftig sei, liegt einzig an dem Wissen darüber, dass es giftige Schlangen gibt und dass Schlangen in unserem Lebensraum selten sind. Was Roth mit seiner Interpretation versucht, ist, über einen Gemeinplatz Zustimmung zu erheischen für eine Hypothese, die sich maßlos über ihren eigentlichen Gegenstand überhebt. Roth möchte anhand von antrainierten Furchtreaktionen zeigen, dass eine neuronale Erklärung eine zureichende Erklärung für Phobien und für Ängste im Allgemeinen sei. Doch da insbesondere phobische Angst (und auch rational begründete Angst) Angst v o r e t w a s ist, muss er für seine Interpretation die Bedeutung dessen, was Angst macht, als verstandene Bedeutung in einen nichtbewussten neuronalen Prozess projizieren und das kann widerspruchsfrei nicht gelingen, egal, wie grob und einfach dieses Wahr-

37 Die Psychoanalyse erklärt die Schlangenphobie wie Phobien überhaupt als Resultat einer ins Unbewusste verdrängten bewussten Vorstellung. Die Bedeutungen sind hierbei folglich auch für unbewusst ablaufende Prozesse wesentlich.

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nehmungsschema des Nicht-Bewussten auch von ihm behauptet wird, wenn es nur Gattungen, nicht aber Arten und Unterarten zu erkennen in der Lage sein soll. In dem geschilderten Experiment und seiner Rezeption durch Roth gehen konditioniert', ,gelernt' und ,angeboren' und in Folge auch ,Instinkt' und ,Erkenntnis' durcheinander. Die Furchtreaktion auf B i l d e r von Spinnen und Schlangen wurde den Versuchspersonen durch Stromstoß a n t r a i n i e r t . Aufgrund der Wahl der Objekte Spinne und Schlange, gegen die es häufiger Phobien gibt als gegen Rehe und Hasen kann Roth, fast unmerklich für den Lesenden, zu vorgeblich angeborenen, als evolutionär ,sinnvoll' behaupteten Verhaltensmustern übergehen, denn diese Tiere lösen auch bei vielen Menschen Furcht aus, die keine negativen Erfahrungen mit ihnen gemacht haben. Da einige Arten von Schlangen und wenige Spinnenarten tatsächlich für den Menschen gefährlich werden können, kann eine unbewusste Furcht vor ihnen als evolutionär sinnvoll gedeutet werden (obwohl es weitaus gefährlichere Säugetiere gibt, die evolutionär komplett sinnlos bis grob fahrlässig - von den meisten Menschen auf Bildern als freundlich oder niedlich empfunden werden). Würde die antrainierte Angst sich auf Darstellungen von Gänseblümchen beziehen, verlöre Roths These der Funktionalität dieser unbewussten Furchtreaktionen einiges an Plausibilität.

Ideologisches Bewusstsein Roths Interpretation der Experimente zu Furchtreaktionen fuhrt ihn zu der Frage, warum uns Gefühle überhaupt bewusst werden, wo doch meistens die unbewusste Reaktion die ,richtige' und schnellere sei. Im Umgang mit,natürlichen Situationen', so seine Antwort, arbeite das Unbewusste zuverlässiger und effektiver. Bewusste Gefühle bräuchten wir hingegen im Umgang mit anderen Menschen, in der Gesellschaft. Das Bewusstwerden von Gefühlen habe als wichtige Funktion „das Ermöglichen einer längerfristigen Handlungsplanung, insbesondere in Hinblick auf unsere soziale Umwelt." 38 Diese Handlungsplanung sei nicht im klassischen Sinne als ,rational' misszuverstehen. Da sie aus Affekten stamme, gehe sie auch darin auf, aus einem angenehmen Affekt heraus diesen auch längerfristig zu wollen. Die ,Planung' bestehe so in dem Wissen, mit welchen Umständen das Angenehme von der Amygdala verknüpft wurde und in der Möglichkeit, diese Umstände dann aus einem verstärkten Affekt heraus aufzusuchen. (Dass auch hierzu Urteile nötig sind, wird in Roths Darstellung unterschlagen.) Der Wille, der auf das Angenehme geht, das er will, erscheint so nicht als mit Verstand und Vernunft verbunden, sondern als unmittelbar aus den Affekten entspringend, indem er mit seinen angenehmen Inhalten gleichgesetzt wird - etwas Unangenehmes oder Mo-

38 Ebd.

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raiisches könnten wir mit dieser Erklärung gar nicht wollen. Der Wille wird so selbst zum Affekt, nämlich nach Roth zur „Energetisierung" von angenehmen Affekten. Roth behauptet, dass die Emotionen unsere Gedanken, Vorstellungen und Erinnerungen steuern, und zwar entweder negativ, durch Furcht oder Abneigung, oder aber positiv, als Wille. „Als Wille energetisieren sie [die Emotionen] die einen Handlungen bis zur Ausführung und unterdrücken als Furcht oder Abneigung andere." 39 Der Wille sei demnach eine bestimmte Form, in der als ,angenehm' bewertete Gefühle und die mit ihnen verknüpften Erscheinungen ins Bewusstsein gelangen. Damit kann der Wille dann gar nicht die umstrittene Funktion haben, frei zu sein. Die Handlungen, die er anstößt, sind Affekthandlungen. Folgt man Roths Hypothesen, wird jede bewusste Handlung zur Handlung im Affekt. Hierüber kann Roth dann begründen, was sich auch bei der von ihm dargestellten Verbindung zwischen Kriminalität und krankhaften Störungen im Hirnstoffwechsel andeutet. Wenn jede Handlung Affekt sei und der Wille nicht Ausdruck eines Vermögens aus Freiheit sein könne, sondern selbst ein energetisierter Affekt sei, dann können auch Straftäter prinzipiell nicht im moralischen Sinne schuldig sein. Auch das Gefühl der Schuld, das beim zurechnungsfähigen Menschen im Strafrecht als Indiz der Verantwortlichkeit für die eigenen Taten gilt, sei lediglich eine hemmende Wirkung für bestimmte, als ,unangenehm' bewertete Folgen einer Handlung, nicht jedoch etwas, das seinen Ursprung in einem Bewusstsein von Moralität haben könne. Sehr deutlich äußerte Roth sich hierüber in einem Interview: „Wir haben einen Apparat in unserem Gehirn, das Limbische System, das völlig unbewusst arbeitet. Es entscheidet schon im Mutterleib und das ganze Leben hindurch über das, was wir tun. [...] Straftäter können im moralischen Sinne nichts für das, was sie tun, sondern sie tun das, was das Resultat des komplizierten und höchst individuell verlaufenden Abwägungsprozesses in ihrem Gehirn ist - so abartig dieser Prozess auch ablaufen mag! Das heißt aber nicht, dass sie nicht bestraft werden dürfen. Sie dürfen nur nicht bestraft werden auf Grund der Annahme, dass sie auch anders hätten handeln können, sondern weil die Gesellschaft ihr Verhalten nicht duldet [...]. Der einzelne Mensch ist nicht im moralischen Sinne verantwortlich für sein Tun, aber die Gesellschaft ist sozial verantwortlich für das, was ihre Mitglieder tun." 40 Den einzelnen Menschen von seiner ideell begründeten Verantwortung zu entheben erreicht Roth, indem er den freien Willen zu dem Gefühl eines freien Willens erklärt. Als Gefühl sei er dann nicht aus Vernunft, sondern aus natürlichen Antrieben heraus zu begründen und unterliege wie diese Mechanismen, auf die das Denken keinen Einfluss nehmen könne. So findet sich bei Roth zunächst keine tatsächliche Dichotomie zwischen Gefühl und Vernunft, denn beide seien gleichermaßen nur Repräsentationen neuronaler Zustände. Bloß subjektive Emotionen angesichts eines Objektes und Urteile über ein zu erkennendes Objekt gemäß den Regeln des allgemeinen Verstandes oder gar

39 Gerhard Roth, Fühlen, Denken, Handeln, 291. 40 P. M. 4/2004, Sprado (Hrsg.) 4 ff.

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moralische Urteile entspringend einer sich als autonom begreifenden Vernunft seien als Phänomene subjektive Scheinunterschiede, die sich zwar verschieden anfühlen mögen (weil sie teilweise in verschiedenen Hirnregionen erzeugt würden), die aber für das Gehirn gleichermaßen funktionale Zustände seien. Gefühl und Verstand sind so bei Roth zwar unterschieden, aber nicht wesentlich verschieden. Sie seien Funktionen, die demselben Prinzip folgten, weil sie auf denselben Naturzweck hin gerichtet seien. Die Freiheit sei hierbei ein funktionaler Schein, der zur Motivation von bestimmten Handlungen diene. Dieser Schein könne (und solle) gewusst werden, ohne dass dies das Gefühl in seiner Subjektivität beeinträchtigen würde, müsse oder könne. Das Interessante an dieser Konstruktion ist, dass sich hierdurch an der Verfasstheit unserer Gesellschaft ihrer Erscheinungsform nach gar nichts ändern sollte, müsste oder auch nur könnte. Die von uns als Verantwortung gedachten Konzepte blieben als nützliche Formen des Miteinander bestehen, würden allerdings aufgrund der Erkenntnisse der modernen Hirnforschung im Rothschen Zuschnitt nicht länger auf eine ideelle Instanz bezogen (nämlich auf die in jedem Einzelnen zu achtende Menschenwürde, die dem Menschen als Freiheitswesen zukommt). Verantwortlich ist bei Roth nicht der Einzelne, sondern die Gesellschaft als ein quasi-natürlicher Zusammenhang. Denn die Gesellschaft ist nach Roth zwar ein Resultat des menschlichen Verhaltens, das jedoch nicht in Freiheit gründe und darum prinzipiell kein planbares Produkt sei, sondern ein nach den Mechanismen der Entwicklungsbewegung des Menschen entstandenes Resultat eines Naturprozesses. Dieser Prozess wird dann häufig mit dem sich als widersprüchlich erweisenden Begriff der ,kulturellen Evolution' beschrieben. 41 Was Roth mit seiner These vom unfreien Willen und der gleichzeitigen Funktionalität und darum Notwendigkeit des Scheins von Freiheit für das Subjekt im Zusammenleben der Gesellschaft vom einzelnen Menschen verlangt, ist nicht wenig. Es wird verlangt, dass der Mensch sich einen Schein von Freiheit mache (er könne gar nicht anders - seine Natur, respektive sein Gehirn sei hierauf ausgerichtet), aber er solle zugleich wissen, dass es ein Schein sei und dabei auch wissen, dass dieser Schein gut für ihn sei. Wenn wir uns nicht frei fühlen würden, würde unsere Gesellschaft nicht funktionieren können. So können wir ζ. B. Roth zufolge nur unter dem Schein von Freiheit Verträge schließen, die verbindlich gelten, weil jene bestraft werden können, die sie brechen. Die unangenehmen Folgen bewirkten so im Normalfall der Handlungsplanung ein Verhalten der Vertragseinhaltung. Über den Anschein von Freiheit werde so ein natürlicher Schutzmechanismus für unsere gesellschaftlichen Verhältnisse etabliert. Abgesehen von dem Widerspruch, dass die Täuschung über unsere Freiheit notwendig sei, weil sie einen Effekt habe, der sich nur als Freiheit der Subjekte begreifen lässt und darum keine Täuschung sein kann, ist diese Denkfigur wegen ihrer ideologischen Architektonik bemerkenswert. Sie sagt: Der Betrug meines neuronalen Systems an mir schützt mich. Ich kann ihn ruhig wissen, das entlarvt den Betrug nicht als etwas

41 Zum Begriff der kulturellen Evolution und seiner Widersprüchlichkeit vgl. Kapitel 9.

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Falsches, das sich ändern sollte, sondern festigt ihn vielmehr, weil es mir seinen tieferen Sinn enthüllt. Denn ich erkenne, dass es gut für mich ist, in dieser Weise betrogen zu sein, weil ohne diesen Betrug unsere Gesellschaft nicht funktionieren könnte. Diese Denkungsart stößt auf breite Zustimmung; sie ist modern. Sie lässt sich in analogen Varianten in vielen anderen Bereichen der Gesellschaft finden. So wird von der modernen Arbeitskraft erwartet, dass sie weiß, dass sie bloßes Mittel zur Verwertung des Wertes ist und sich entsprechend dem Arbeitsmarkt konform mache. Sie soll sich jedoch beim Exekutieren fremder Zwänge zugleich fühlen, als verwirkliche sie sich selbst - im gleichzeitigen expliziten Wissen um die Funktion dieser Lüge, denn nur wer sich die Arbeitsanforderungen ganz zu Eigen macht, kann sie erfüllen und sich in der Konkurrenz behaupten. 42 Dies ist der sinngemäße Inhalt einer ganzen Armada von Motivationsratgebern. Er passt insofern genau auf die Rothschen Interpretationen seiner Forschungsergebnisse, als auch hier das Verhältnis zur eigenen Vernunft ein rein instrumentelles ist und die Freiheit, seinen Willen bestimmen zu können, zum bloßen Mittel gemacht werden soll, um sich aktiv aus eigenem Willen unter heteronome Zwänge zu stellen. Die Naturalisierung dieses Willens durch Wissenschaftler wie Roth passt maßgeschneidert auf die moderne kapitalistische Gesellschaft, deren alte ideologische Behauptung, jeder sei selbst für sein Leben verantwortlich oder gar seines Unglücks Schmied, angesichts der Lebenswirklichkeit ihrer Bürgerinnen und Bürger schon lange unglaubwürdig geworden ist. Nicht nur die vormals als Plebs Ausgegrenzten, sondern fast jeder sieht sich oder Angehörige heutzutage von Arbeitslosigkeit und sozialem Abstieg bedroht. Auf diejenigen Strukturen, welche die eigene Lebensweise maßgeblich bestimmen, hat der Einzelne keinen oder bestenfalls geringen Einfluss. Entsprechend überrascht die Botschaft der Hirnforschung nicht wirklich: Die Wissenschaft hat festgestellt, dass es keine Freiheit gibt. Die Empörung gegen diese Forschungsergebnisse verteidigt und sucht oft die Freiheit im kleinsten möglichen Rahmen: 43 Ich kann doch frei meinen Arm heben, den Kopf wenden, eine Zigarette rauchen, Schokolade essen oder all dies nach eigenem Belieben auch sein lassen. Diese Argumentationen gehen auf das pseudoromantische Gefühl des Freiseins, auf den Funken Trotz, das pubertäre Verlangen, sich inmitten heteronomer Zwänge seiner selbst zu vergewissern. Doch da dieses Verlangen bloß gespürt wird, nicht begründet, und da es mit steigender Intensität selbst die Form eines Zwanges annehmen kann, werden die Verfechter dieser minimalistischen Freiheiten schnell über ihren eigenen Exempeln unsicher. 44 Wer hätte nicht schon feste Vorsätze gebrochen, wer könnte beim Heben des Armes eindeutig

42 Ideologie besteht darin, sich in einem Widerspruch einzurichten. Kritik der Ideologie ist, deren zugrunde liegenden und überdeckten Widerspruch offen zu legen und die Ideologie so zu zerstören. 43 So wollte Libet in seinem berühmt gewordenen Experiment die Freiheit des Willens im Beugen eines Fingers finden und fand doch nur Naturkausalität. Vgl. Kapitel 7. 44 Zur Freiheit oder Unfreiheit gegenüber eigenen Bedürfnissen vgl. Kap 10.

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DER WILLE ALS GEFÜHL

zwischen Wille, Willkür und Reflex unterscheiden? Der Impuls, der sagt, ,ich will nicht unfrei sein', kann keinen Beweis der Freiheit liefern, solange er als Impuls verharrt. Den Beweis der Freiheit trägt er in sich, aber dieser erschließt sich erst in der Reflexion auf das, was Freiheit und was Wille ist, welche zugleich eine Reflexion über die realen Bedingungen der Unfreiheit sein muss, in denen der Einzelne tatsächlich kaum eine andere Wahl hat als die, seinen Willen durch äußere Zwecke bestimmen zu lassen. Und so kann die wissenschaftliche Bescheinigung, nicht autonomer Steuermann des eigenen Tuns zu sein, auch mit einer Form der Erleichterung einhergehen, als habe man es im Innersten immer geahnt, dass all die Versuche, frei zu werden, scheitern mussten nicht aus eigenem Versagen, sondern weil es unsere Natur sei, unfrei zu sein. „Je mehr Freiheit das Subjekt, und die Gemeinschaft der Subjekte, sich zuschreibt, desto größer seine Verantwortung, und vor ihr versagt es in einem bürgerlichen Leben, dessen Praxis nie dem Subjekt die ungeschmälerte Autonomie gewährte, die es ihm theoretisch zuschob. Darum muß es sich schuldig fühlen. Die Subjekte werden der Grenze ihrer Freiheit inne an ihrer eigenen Zugehörigkeit zur Natur wie vollends an ihrer Ohnmacht angesichts der ihnen gegenüber verselbständigten Gesellschaft." 45 Darum verschafft die Behauptung, wir seien gar nicht frei oder zumindest nicht so frei, wie wir dächten, Erleichterung, weil sie den Einzelnen einer untragbaren Verantwortung enthebt. Das macht ihre ungeheure Attraktivität und darum ihre Popularität aus. Gestärkt von der Festigkeit empirischer Daten flößt sie Vertrauen ein, indem sie den Freispruch, die Unzurechnungsfähigkeit, das Ende des Prozesses verspricht. So wundert es nicht, dass die radikalen Gegenpositionen vor allem von denen laut werden, die seit jeher ihre Schuld als Zeichen der menschlichen Freiheit zu tragen bereit sind: von den Christen jeder Konfession, die sich darin überbieten, farbige Horrorszenarien einer der Verantwortlichkeit enthobenen Gesellschaft zu malen. „Die Perspektive eines Äußersten wird aufgerissen; ob nicht darin, daß man um der Möglichkeit von Zusammenleben willen Freiheit fordert, ein Paralogismus steckt: damit nicht das Entsetzen sei, müsse Freiheit wirklich sein. Vielmehr ist aber das Entsetzen, weil noch keine Freiheit ist." 46 In ihrem Gefühl des Entsetzens tragen die religiösen Kritiker von Roth und Singer zwar ein fortschrittliches Moment in die Debatte um den freien Willen des Menschen. Das Verharren im bloßen Entsetzen über mögliche moralische Abgründe verhindert jedoch die Reflexion auf die wirklichen. Und so fehlt ihrem Entsetzen das Moment, das nötig ist, um das Denken über gesellschaftliche Verhältnisse hinauszutragen, in denen sich die Behauptung natürlicher Unfreiheit als Befreiung der einzelnen Subjekte von einer Verantwortung feiern lässt, die zu tragen ihnen bis heute vorenthalten wird.

45 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt am Main 1994, 220. 46 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, 217.

6. Das Verhältnis von Hirnforschung und Psychologie Erste Person, Dritte Person und transzendentale Einheit der Apperzeption

In der aktuellen interdisziplinären Diskussion um die Thesen aus der modernen Neurophysiologie wird versucht, das Verhältnis von Hirnforschung und Psychologie über die Trennung von Erster-Person-Perspektive und Dritter-Person-Perspektive in verschiedene Betrachtungsebenen ein und desselben Gegenstandes aufzulösen. Die Frage nach der Ersten-Person-Perspektive und der Dritten-Person-Perspektive ist - neben den Anleihen an das Leib-Seele-Problem - eine erkenntnistheoretische Frage: die Frage nach dem Verhältnis von subjektivem Erleben und objektivem Erkennen. Sie erfordert den Begriff der transzendentalen Einheit der Apperzeption, um die Möglichkeit objektiver Erkenntnisse im Subjekt begreifen zu können. Anlässlich des 150. Geburtstages von Sigmund Freud sind vermehrt Texte zu den neurophysiologischen Grundlagen der Psychologie erschienen, u. a. von Gerhard Roth. Dieser sieht in der Zusammenfuhrung von Forschungsergebnissen aus Hirnphysiologie und Psychologie eine erneute Bestätigung für die Determiniertheit menschlicher Handlungen - nicht nur aufgrund der naturkausalen Wirkung der Neuronen des Gehirns, sondern auch aufgrund der dem Bewusstsein entzogenen Wirkung des Unbewussten, welche als mit den neuronal determinierten Hirnprozessen verquickt angesehen wird. So ergibt sich ein neues Argument für die Unfreiheit des Willens, welches Anleihen bei der Psychologie sucht, indem es den Grund der Unfreiheit in das Unbewusste legt. Dabei erfährt der klassische Begriff des Unbewussten eine Bedeutungsverschiebung und wird zum Nicht-Bewussten. Die Hirnforschung gilt zurzeit als Schlüsselwissenschaft, mit deren Hilfe psychologische und pädagogische Methoden auf einem naturwissenschaftlichen Boden erklärt, bewiesen, widerlegt oder verbessert werden können. Dabei ist die Psyche kein unmittelbarer Gegenstand naturwissenschaftlicher Untersuchungsmethoden, sowenig wie Bewusstsein überhaupt. Der Bezug von Psyche und neuronalem Geschehen kann stets nur ein mittelbarer sein, weshalb in diesem Bereich verstärkt interdisziplinäre Forschung betrieben wird. „Für sich genommen sagen neurowissenschaftliche Einsichten nämlich nichts über den menschlichen Geist, sondern allein etwas über das menschliche Gehirn aus. Aus diesem Grund müssen neurowissenschaftliche Beobachtungen als Beobachtungen kognitiver und emotionaler Zustände und Prozesse i n t e r p r e t i e r t werden, um für psy-

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D A S VERHÄLTNIS VON HIRNFORSCHUNG UND PSYCHOLOGIE

chologische Theorien überhaupt B e d e u t u n g gewinnen zu können. Erst wenn man weiß, dass es sich bei einer bestimmten Hirnaktivität bzw. bei einem bestimmten Aktivierungsmuster zum Beispiel um das neuronale Korrelat einer bewussten Überlegung oder eines Willensaktes handelt, kann man aus Beobachtung des Gehirns Konsequenzen ableiten, die für psychologische Theorien relevant sind." 1 Bevor die Relevanz neurophysiologischer Forschungsergebnisse für die Psychologie näher betrachtet werden soll, gibt die zitierte Aussage Anlass, auf das umgekehrte Verhältnis zu reflektieren: Welche Bedeutung hat die Psychologie für die moderne Hirnforschung? Bestimmte Aktivierungsmuster des Gehirns können zwar festgestellt und ihr neuronales Zusammenwirken über einen bestimmten Zeitraum untersucht werden, um Erkenntnisse ζ. B. über synaptische Stoffwechselvorgänge zu gewinnen, aber diese Vorgänge sagen für sich genommen nichts über mentale Vorgänge des Menschen aus. Das heißt, wie das obige Zitat darlegt, sie müssen erst mit einem korrelierenden mentalen Zustand durch enge zeitliche Verknüpfung in Verbindung gebracht werden, bevor sie in irgendeiner Weise Bedeutung für psychologische Theoreme erhalten können. Aber das heißt auch: Ohne die Interpretation über die Zuordnung zu einem mentalen Korrelat müssten große Teile der untersuchten Himfunktionen unverstanden bleiben. Denn jedes Organ kann zwar als Material mit bestimmten Eigenschaften beschrieben werden, aber begriffen werden kann es nur über seine Funktion im Organismus. Eine Lunge ζ. B. hat die Funktion des Gasaustausches. Nur in Bezug auf diesen Zweck lässt sich ihre spezifische Struktur erklären, denn sie ist sinnvoll hierauf ausgerichtet. Das Problem bei der Erforschung höherer Himfunktionen, die offenbar eng mit dem Bewusstsein verknüpft sind, besteht nun darin, dass ihre spezifische Funktion sich nicht aus der Untersuchung des organischen Materials ableiten lässt. Anders als bei der Lunge, deren Fähigkeit zum Gasaustausch aus ihrer organischen Beschaffenheit geschlossen werden kann, lässt sich allein aus neuronalen Aktivierungsmustern nicht auf eine mentale Funktion wie Denken oder Fühlen schließen. Die Zuordnung dieser Aktivierungsmuster zu einer bestimmten Funktion erfolgt erst über die Korrelation zu zeitgleichen oder zeitnahen mentalen Zuständen. Und nur im Zusammenhang mit einer Interpretation dieser Korrelation als nicht zufällig oder nicht epiphär, sondern als ursächlich können höhere Himfunktionen überhaupt zum Gegenstand der Wissenschaft im engeren Sinne werden. Ohne diese Interpretation der zeitlichen Korrelation als ein Kausalverhältnis bliebe nicht mehr als die bloße Feststellung ,Es gibt da eine neuronale Aktivität im prä- und orbitofrontalen Cortex', ohne dass deren Funktion benannt werden könnte. Da also die Funktion bestimmter neurophysiologischer Phänomene nur über den Bezug auf ein mentales Korrelat erkannt werden kann, braucht die Neurophysiologie die Psychologie notwendig, um überhaupt ihren eigenen Gegenstand bestim-

1 Ralph Schumacher, Was ist Bewusstsein? Erkenntnis- und bewusstseinsphilosophische Implikationen der Hirnforschung, Gutachten für den Deutschen Bundestag vorgelegt dem Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB) 2005, 5; Hervorhebungen C. Z.

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men zu können. Dass bestimmte Aktivierungsmuster in bestimmten Hirnregionen mit dem psychischen Zustand der Angst korrelieren, eröffnet dem Neurophysiologen erst die Möglichkeit, diesbezügliche Experimente durchzuführen. Erst logisch und zeitlich nachgeordnet können die Ergebnisse dieser Forschungsarbeiten dann wiederum eine gewisse Relevanz für die Psychologie erhalten, wenn etwa dauerhafte Angstzustände oder das Fehlen von Angst in objektiv bedrohlichen Situationen auf eine organische Verletzung bestimmter Hirnregionen zurückgeführt werden können. 2 Die Neurophysiologie ist darum zur Bestimmung ihres Gegenstandes notwendig auf die Psychologie verwiesen, was bei der aktuellen Darstellung des Verhältnisses beider Wissenschaft zueinander oft nicht thematisiert wird, da die Frage nach der Relevanz und Nutzbarmachung neurophysiologischer Erkenntnisse für die Psychologie in den Vordergrund interdisziplinärer Forschungsprojekte gestellt wird.

Zwei Perspektiven - worauf? Die unterschiedenen Gegenstandsbereiche von Psychologie und Hirnforschung werden insbesondere von Seiten der Hirnforschung gerne als zwei verschiedene Ebenen der Betrachtung oder verschiedene Perspektiven bezeichnet. Hieraus entstehe das so genannte ,Qualia-Problem': „Phänomenales Bewusstsein zeichnet sich wesentlich durch die perspektivische Gebundenheit an den first-person-account aus, die im neurowissenschaftlichen thirdperson-account nicht darzustellen ist." 3 Die Schwierigkeiten des Verhältnisses von Denken und Gehirn - das AufeinanderVerwiesen-Sein von substantiell Unterschiedenen - gründen im Prinzip in dem LeibSeele-Problem, 4 das sich durch die gesamte Philosophiegeschichte zieht. Von der Hirnforschung wurde dieses Problem wiederentdeckt als die Schwierigkeit, das Phänomen Bewusstsein zu begreifen. 5 Unter der Überschrift Der introspektive Bewußtseinsbegriff und seine Paradoxien6 beschreibt Erhard Oeser dieses Problem folgendermaßen: Das einzelne Bewusstsein ist nur durch Introspektion zugänglich, und zwar nur demjenigen, 2 Solche Fälle sind allerdings äußerst selten. Psychische Zustände haben zumeist psychische Ursachen (Traumata etc.); diese führen u. U. auch zu einer Veränderung des Hirnstoffwechsels. Doch aufgrund dieser Korrelation dann von einem neuronalen Grund bestimmter psychischer Zustände zu sprechen, hieße, Ursache und Wirkung zu verkehren. 3 Kai Thorsten Vogeley, „Die Einheit des Bewußtseins in der Neuroepistemologie", In: Christoph Hubig und Hans Poser (Hg.), Cognitio humana, Dynamik des Wissens und der Werte, WorkshopBeiträge Bd. 2, Leipzig 1996, 956. 4 Vgl. Kapitel 11. 5 Vgl. Kapitel 2. 6 Vgl. Erhard Oeser und Franz Seiteiberger, Gehirn, Bewußtsein 162 ff.

und Erkenntnis,

Darmstadt 1995,

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dessen Bewusstsein es ist - also nur sich selbst. Dies macht es einer naturwissenschaftlichen Untersuchung unzugänglich. Da Oeser nicht davon ausgeht, dass Reflexionsbegriffe Notwendigkeit und Allgemeinheit besitzen und als solche Gegenstand der Philosophie (und nicht der Naturwissenschaften) sind, sondern da Oeser das Bewusstsein als empirisches Phänomen auffasst und untersucht, verstrickt er sich bei dem Versuch, die Möglichkeit wissenschaftlicher Aussagen über das Bewusstsein zu begründen, in Widersprüche, die er als Paradoxien des Phänomens Bewusstsein auffasst. Diese Paradoxien haben einen gemeinsamen logischen Grund: Bewusstsein soll mit empirischen Methoden als ein physikalischer Prozess erfasst werden. Ein physikalischer Prozess ist ein Gegenstand der ä u ß e r e n A n s c h a u u n g und als solcher nicht introspektiv bewusst. Bewusst ist folglich nicht die spezifische Art der Hirnaktivität, sondern ein g e d a c h t e r I n h a l t . Das Denken dieses Inhaltes korreliert zeitlich einem physikalischen Prozess, der neurobiologisch, aber nicht introspektiv erfasst werden kann. Damit begreift die Neurobiologie Bewusstsein immer nur als das, was es nicht ist, und will es zugleich ihrem Gegenstandsbereich zuordnen. Dieser Widerspruch ist ihrer Methodik immanent. Der bekannteste und wohl meistzitierte Aufsatz, der sich von Seiten der Hirnforschung aus mit dem Problem der prinzipiellen Unzugänglichkeit der Introspektion für Dritte befasst, ist How it is like to be a Bat ( Wie es ist, eine Fledermaus zu sein) von Thomas Nagel. Dort heißt es: „Welchen Status Tatsachen bezüglich dessen, wie es ist, ein Mensch, eine Fledermaus oder ein Marsmensch zu sein, auch immer haben mögen, es scheinen Tatsachen zu sein, die an eine besondere Perspektive gebunden sind. [...] Dies ist für das LeibSeele-Problem unmittelbar relevant. Wenn nämlich Erlebnistatsachen - Tatsachen bezüglich dessen, wie es für den Organismus ist - nur einer bestimmten Perspektive zugänglich sind, dann ist es ein Rätsel, wie der wahre Charakter von Erlebnissen in der η

Funktionsweise dieses Organismus entdeckt werden könnte." Dieses Rätsel erscheint in der Trennung von Erster- und Dritter-Person-Perspektive. Durch die Trennung der Perspektiven, und insbesondere dadurch, dass sie als bloß verschiedene Perspektiven bezeichnet werden, die sich also einer impliziten Unterstellung nach auf ein und denselben Gegenstand beziehen sollen, erscheint das Problem formal als enträtselt. Doch indem Zweierlei nebeneinander gestellt wird, ist noch kein Zusammenhang entwickelt; er wird bestenfalls suggeriert. Als diese beiden Perspektiven werden psychologische und hirnphysiologische Betrachtungen dargestellt. Die Psychologie hat hiernach die Erste-Person-Perspektive zum Gegenstand und betrachtet das Bewusstsein und seine Mechanismen, sozusagen die jeweilige Innenansicht des Probanden, während die Neurophysiologie die Gehirnzustände, also die Informationsübermittlung, das Stoffwechselgeschehen und neuronale 7 Thomas Nagel, „Wie es ist, eine Fledermaus zu sein", In: Peter Bieri (Hg.), Analytische phie des Geistes, Königstein/Ts. 1981, 266 f.

Philoso-

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Aktivitäten in ihrem Zusammenwirken untersucht, die durch Korrelationen zu bestimmten mentalen Zuständen als die Außenperspektive zu jener Innenperspektive beschrieben werden können sollen. Die Probleme, die hierbei unweigerlich auftreten müssen, spiegeln sich in widersprüchlichen Bestimmungen des Verhältnisses der beiden Perspektiven. Eigenschaftsdualistische Positionen in verschiedenen Varianten (ζ. B. Supervenienztheorie, nichtreduktionistischer Physikalismus etc.) gehen davon aus, dass mentale und neuronale Zustände verschiedene Typen oder Ebenen von Eigenschaften seien und dass die mentalen Eigenschaften sich dabei grundsätzlich nicht vollständig auf neuronale Eigenschaften reduzieren lassen, sondern eine gewisse Eigenständigkeit gegenüber dem neuronalen Geschehen haben. Diese eigenschaftsdualistischen Positionen grenzen sich dabei zugleich explizit von früheren substanzdualistischen Positionen ab, welche vor allem auf die Descartes'sehe Trennung in res extensa und res cogitans zurückgehen. Die modernen Dualisten wollen die Dilemmata eines Leib-Seele-Dualismus vermeiden, indem sie nicht von getrennten Substanzen, sondern bloß von unterschiedenen Eigenschaften des Neuronalen und des Mentalen ausgehen und so den Reduktionismus von Identitätstheorien vermeiden, ohne sich dabei in unlösbare Aporien oder metaphysische Spekulationen zu verstricken. Doch der Eigenschaftsdualismus ist keine vollständige Theorie und bietet darum auch keine Lösung von Problemen. Ihm fehlt - nicht versehentlich, sondern systematisch - das logische Subjekt seiner Überlegungen: Die Substanz, deren Eigenschaften Mentales und Neuronales sind. Da sie nicht Gegenstand wird, kann auch nicht gesagt werden, ob sie eine ist oder zwei. Eigenschaften sind immer Eigenschaften von etwas, von einer Substanz. Dass eine Eigenschaft einer Substanz nicht auf eine andere Eigenschaft dieser Substanz reduzierbar ist - z. B. Farbe auf Masse - erklärt sich schon durch ihre Verschiedenheit sonst wären es nicht zwei Eigenschaften, sondern eine. Genau das besagt der Eigenschaftsdualismus, wenn man ihn wörtlich nimmt. Aber ein solches Verhältnis von Eigenschaften einer Substanz kann nicht gemeint sein, wenn vom eigenschaftsdualistischen Verhältnis von Mentalem und Neuronalem die Rede ist. Die These lautet vielmehr, dass mentale Eigenschaften sich nicht auf Gehirnaktivitäten reduzieren lassen können sollen, ohne jedoch Eigenschaften einer anderen Substanz als des Gehirns zu sein. Der logische Fehler dieses Eigenschaftsdualismus liegt darin, dass mentale und neurophysiologische Eigenschaften als verschiedene Eigenschaften e i n e s Gegenstandes angenommen werden, wobei sich nur eine dieser Eigenschaften a η diesem Gegenstand finden lässt. Die „neurophysiologische Eigenschaft" lässt sich eindeutig als Eigenschaft, nämlich als Materialeigenschaft, des Gehirns bestimmen, während die andere Eigenschaft, die „mentale Eigenschaft", eine Eigenschaft des Denkens ist. Beide „Eigenschaften" sind streng genommen keine Eigenschaften e i n e s bestimmten Gegenstandes, sondern Chiffren für Gehirn und Geist - also zwei u n t e r s c h i e d e n e Gegenstände, wenn auch nicht zwingend zwei Substanzen im Descartes'sehen Sinne. Dieses wird jedoch verschleiert, indem sie in einzelne empirische Erscheinungsformen

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- in das bestimmte Feuern bestimmter Neuronen und in bestimmte Gefuhlszustände auf bestimmte Reize hin - aufgelöst werden, bevor diese wiederum zu der Abstraktion in den Begriffen „mentale Eigenschaft" bzw. „neurophysiologische Eigenschaft" geführt werden. Dabei wird der Gegenstandswechsel vom Gehirn auf den Geist unterschlagen. Er verschwindet hinter der unterschiedenen Methodik von Neurophysiologie und Psychologie, deren Resultate dann als bloß verschiedene Betrachtungen desselben behauptet werden. Der Aspektdualismus hat also die Probleme des Substanzdualismus nicht überwunden, sondern lediglich übertüncht. In Folge treten dieselben Probleme in verkleideter Gestalt wieder auf. Dass die eine Eigenschaft nicht auf die andere reduzierbar sei, erscheint zunächst plausibel, da die Eigenschaften mental und physikalisch eindeutig verschiedene sind. Was damit jedoch eigentlich gesagt wird, ist weit weniger plausibel, nämlich dass sich die mentalen Eigenschaften nicht (oder nicht hinreichend) auf denjenigen Gegenstand, als dessen Eigenschaft sie angenommen werden, zurückfuhren lassen: auf das Gehirn. Dass ein Gegenstand verschiedene Eigenschaften hat, ist banal. Aber dass die Art der Verbindung einer Eigenschaft eines Gegenstandes mit diesem Gegenstand nicht angegeben werden können soll, die Eigenschaft also „nicht reduzierbar" sein soll auf dasjenige, dessen Eigenschaft sie ist, das lässt doch berechtigte Zweifel daran aufkommen, ob es sich denn hierbei tatsächlich um eine Eigenschaft dieses Gegenstandes handeln könne - und wenn ja, woher man dies wissen kann, wenn die Eigenschaft doch nicht an diesem Gegenstand, sondern offenbar ausschließlich anderswo (nämlich in der ErstenPerson-Perspektive) erscheint. Denn eine Eigenschaft, die sich nicht hinreichend durch einen Gegenstand erklären, also nicht auf diesen reduzieren' lässt, ist offenbar keine Eigenschaft dieses Gegenstandes, sondern verweist allenfalls auf einen Zusammenhang dieses Gegenstandes mit einem anderen Gegenstand, dessen Eigenschaft sie ist. Da jede Eigenschaft Eigenschaft von Etwas sein muss, muss in eigenschaftsdualistischen Theorien folglich von einem Anderen neben dem Gehirn ausgegangen werden, welches ,mentale Eigenschaften' habe. Dieses Andere, das Bewusstsein, als Reflexionsbegriff zu fassen fallt Positivisten offenbar so schwer, dass sie es sich nicht anders denn als zweite Substanz, also als Entität neben dem Gehirn vorzustellen in der Lage sind. Darum kann der Eigenschaftsdualismus den Substanzdualismus von res extensa und res cogitans nicht überwinden, wenn er nur von einer Substanz ,Gehirn' ausgeht, aber zugleich die Nichtreduzierbarkeit mentaler Eigenschaften auf Gehirnvorgänge aufrecht erhalten will.

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Die Nichtreduzierbarkeit Aus der Nichtreduzierbarkeit gedachter Inhalte auf ein neuronales Korrelat soll nach dem Eigenschaftsdualismus nicht folgen, dass das Mentale etwas grundsätzlich anderes als das Gehirn sei, ζ. B. eine nichtstoffliche Substanz im Gegensatz zu einer stofflichen. Die Nichtreduzierbarkeit geistiger Zustände auf neuronale Vorgänge bedeute vielmehr die vielfache Realisierbarkeit geistiger Zustände durch neuronale Korrelate. Geistige Zustände, so lautet die gängige Interpretation heutiger Forschungsergebnisse zum Zusammenhang von mentalen Zuständen und Hirnfunktionen, seien durch eine unbestimmte Anzahl verschiedener neuronaler Zustände realisierbar. Weil ein mentaler Zustand durch eine u n b e s t i m m t e Anzahl verschiedener neuronaler Zustände realisierbar sei, könne man einen bestimmten mentalen Zustand prinzipiell nicht über einen oder mehrere neurophysiologische Zustände definieren, weil man ihn damit auf eine bestimmte Anzahl neuronaler Realisierungen festlegte. Damit aber würde die Möglichkeit zur multiplen Realisierung eines mentalen Zustandes durch unbestimmt viele neuronale Zustände verloren gehen; dies sei eine unzulässige Reduktion. Hieraus folge die Nichtreduzierbarkeit mentaler Zustände auf b e s t i m m t e neuronale Ursachen. 8 Doch diese These, dass ein mentaler Zustand grundsätzlich durch eine unbestimmte Anzahl neuronaler Zustände realisiert werden könne, geht zugleich davon aus, dass jeder mentale Zustand zu einem bestimmten Zeitpunkt bei einer bestimmten Person durch einen bestimmten neuronalen Zustand realisiert sei. Damit wird der mentale Zustand als grundsätzlich hinreichend durch einen bestimmten neuronalen Zustand realisiert vorgestellt und also auch auf diesen Zustand reduzierbar. Dass aufgrund der angenommenen Komplexität und Vielschichtigkeit der Realisierungsweisen mentaler Zustände durch neurophysiologisches Geschehen davon ausgegangen werden muss, dass die Anzahl der Realisierungsweisen auch nur eines mentalen Zustandes - wie beispielsweise das Erkennen eines Musters in einer Zahlenreihe - prinzipiell unbestimmt bleiben müsse, ändert nichts an der hinter dieser Theorie stehenden Prämisse, Mentales sei hinreichend durch ein neuronales Material bestimmt. Folglich handelt es sich bei der Theorie von der mehrfachen Realisierbarkeit geistiger Zustände um einen reduktiven Physikalismus, der zwar die Determinanten nicht hinreichend zu bestimmen vermag, aber doch von der Determination des Mentalen durch Gehirnzustände ausgeht. „Alle Bewusstseinsarten, die sich über ihre kognitiven Funktionen definieren lassen, können nicht nur durch nicht-reduktive Erklärungen im Rahmen der Psychologie, sondern darüber hinaus auch durch reduktive Erklärungen im Rahmen der Neurowissenschaften erschlossen werden." 9 Diese Aussage ist darum inkonsistent, weil der genannte Gegenstand, die Bewusstseinsarten, welcher mit verschiedener Methodik betrachtet werden soll, kein Gegen8 Vgl. Ralph Schumacher, Was ist Bewusstsein?, 25 f. 9 Ralph Schumacher, Was ist Bewusstsein?, 34.

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stand ist, an dem sich die beiden Eigenschaften psychische und neuronale Zustände unmittelbar finden lassen. Vielmehr werden hier der Sache nach die psychologische und die neuronale Ebene durch einander bestimmt, und nicht durch ihren Bezug auf einen in zweierlei Hinsichten betrachteten Gegenstand. So erscheint einmal die Psyche als Eigenschaft des Materials und zum anderen die neuronale Aktivität als Eigenschaft der Psyche. Wenn dies als „alle Bewusstseinsarten" bestimmt wird, so hat man hiermit einen in sich widersprüchlichen Gegenstand definiert, an dem sich sowohl reduktionistische als auch nichtreduktionistische Betrachtungen anstellen lassen, der also sowohl als Material (reduziert) als auch als Mentales (nichtreduziert) gefasst werden soll. Das obige Zitat sagt damit im Klartext: Dasjenige, was sich nicht reduzieren lässt, lässt sich reduzieren. Was auf der einen Ebene nicht-reduktiv - also nicht durch neuronales Geschehen zu erklären - sei, das sei auf der anderen Ebene hinreichend durch neuronales Geschehen zu erklären. So deutlich dieser Widerspruch dem aufmerksam Lesenden auch entgegenspringt - diese These ist weit verbreitet und gilt als avanciert. Als hätte Aristoteles den Satz vom zu vermeidenden Widerspruch10 nie formuliert. Dass an der Nichtreduzierbarkeit trotz allen Bemühens, den Geist als eine Funktion des Gehirns zu begreifen, und ungeachtet aller theoretischer Schwierigkeiten festgehalten wird, liegt nicht zuletzt daran, dass die Neurophysiologie es rein praktisch nicht zu leisten vermag, die Psychologie abzulösen. Auch wenn ein nicht geringer Teil anerkannter Psychiater die schwierige These vom gemeinsamen Gegenstand beider Wissenschaften teilt, weisen gerade sie vehement auf die Nichtreduzierbarkeit hin, wobei das Verhältnis der verschiedenen Ebenen respektive Perspektiven als eines der Emergenz bestimmt wird.11 „Das grundlegende Missverständnis, das dieser Fehleinschätzung [die Hirnforschung sei besser geeignet, Antworten auf die Grundfragen der Psychologie zu geben, als diese selbst; C. Z.] zu Grunde liegt, bezieht sich auf das Verhältnis von Psychologie und Neurowissenschaften. Es besagt in etwa, dass die ,eigentliche' Erklärungsebene für psychische Phänomene auf neurophysiologischer Ebene liege und psychologische Theorien bestenfalls vorübergehende Hilfskonstruktionen seien. Eine solche Auffassung verkennt aber die Tatsache, dass das gesamte Gefuge der Wissenschaften auf der Anerkennung jeweils eigenständiger Analyseebenen beruht. Auch die Psychologie ist eine solche eigenständige Analyseebene. Wie es nicht sinnvoll wäre zu sagen, biologische Theorien seien nur Hilfskonstruktionen, bis man auf der Ebene der Quantentheorie die eigentlichen' Erklärungen gefunden habe, sowenig sinnvoll ist es auch, genuin psychologische Fragen auf neurowissenschaftliche reduzieren zu wollen."12 Diese Analogie zwischen dem Verhältnis von biologischen und quantentheoretischen Theoremen auf der einen und psychologischen und neurophysiologischen Theoremen

10 Vgl. Aristoteles, Metaphysik, Buch IV, Kapitel 3, 1005 b. 11 Zum Begriff der Emergenz und zum Argumentationsgang von Emergenztheorien vgl. Kap 11. 12 „Psychologie im 21. Jahrhundert", in: Gehirn & Geist 7/8, 2005.

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auf der anderen Seite verwechselt unterschiedene Gegenstandsbereiche mit unterschiedenen theoretischen Gegenständen. Die Naturwissenschaften isolieren partikulare Zusammenhänge aus dem Universalzusammenhang aller Materie. Über die Art und Methode der Isolierung definiert sich ihr jeweiliger Gegenstandsbereich, und insofern kann man hier von verschiedenen „Analyseebenen" reden. Diese Ebenen sind in der Tat nicht aufeinander reduzierbar. Die chemischen Bestandteile einer Blume aufzulisten ist etwas anderes, als die organisierten Zusammenhänge ihres Stoffwechsels zu untersuchen oder die aerodynamischen Eigenschaften ihrer Samenkapseln im Windkanal zu testen. Keine dieser „Analyseebenen" ergibt sich aus einer anderen oder lässt sich auf diese reduzieren, doch man kann die verschiedenen Erkenntnisse der Disziplinen in einen Zusammenhang stellen, weil sie zwar aus unterschiedlichen Gegenstandsbereichen der Wissenschaft stammen, sich aber auf denselben materiellen Gegenstand beziehen. Die in den unterschiedlichen Gegenstandsbereichen mit verschiedenen Methoden und Fragestellungen untersuchte Blume besteht darum nicht selbst aus getrennten Gegenständen, sondern es ist e i η materieller Gegenstand. Darum stehen die Erkenntnisse über sie aus verschiedenen Bereichen der Naturwissenschaften auch nicht im Widerspruch zueinander, sondern können einander sinnvoll ergänzen. Doch das Denken ist kein materieller Gegenstand. Damit ist das Denken kein möglicher Gegenstand einer naturwissenschaftlichen Untersuchung und insofern ist das Verhältnis von Psychologie zur Neurophysiologie nicht analog mit den Verhältnissen der Naturwissenschaften untereinander. Weil das Geistige (als ein Nicht-Physikalisches; als etwas, das nicht Erscheinung ist) nicht Gegenstand einer Naturwissenschaft sein kann, ist die Verschiedenheit der Analyseebenen von Natur- und Geisteswissenschaften von ganz anderer Qualität als die Verschiedenheit der Analyseebenen innerhalb der Naturwissenschaften. Die Vermutung, dass es sich tatsächlich nicht um verschiedene Ebenen der Analyse eines Gegenstandes, sondern vielmehr um die Untersuchung unterschiedener theoretischer Gegenstände - eines materiellen Dinges und eines Reflexionsbegriffs, der im physikalischen Sinne gar kein Gegenstand ist - unter einem Namen handelt, findet sich in der Beschreibung des Gegenstandes durch die jeweils eine oder andere Form der Analyse bestätigt: Psychische Phänomene auf der einen, neuronales Geschehen auf der anderen Seite. Dass es sich dabei eigentlich' um ein und dasselbe handele, ist eine Behauptung, die sich darauf stützt, dass jedes psychische Geschehen offenbar an ein neuronales Material gebunden ist. Doch aus dieser Bedingung eine hinreichende machen zu wollen, hieße, die Psyche zu einem materiellen Ding zu erklären. Die sich in jüngerer Zeit herausbildende Disziplin der Neuropsychologie, welche per definitionem die Schnittstelle zwischen Gehirn und Psyche und damit die Art der Vermittlung von den Analyseebenen der Ersten und Dritten Person zum Gegenstandsbereich haben sollte, zeigt in ihren Ergebnissen deutlich, dass stets nur der Schluss vom Mentalen auf ein neuronales Korrelat als dessen empirisch erkannte notwendige Bedingung, jedoch nur nachfolgend in Analogie der Schluss von einer spezifischen Materialeigenschaft auf vermutete psychische Phänomene möglich ist. Ein Schluss allein vom neuronalen

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Material auch nur auf die Existenz irgendeines mentalen Zustandes ist dagegen völlig unmöglich. Denn kein neuronaler Mechanismus kann als hinreichend fur einen psychischen Zustand bestimmt werden, weshalb sich die Psyche des Menschen nicht aus seinem Gehirn begreifen lässt, sondern andersherum Funktionszusammenhänge des Gehirns durch den Bezug auf die menschliche Psyche erst als Funktionen erkannt werden können; jedoch nur von den geistigen Zuständen aus als deren Funktionen, niemals umgekehrt, weil jene durch diese nicht hinreichend bestimmbar sind.

Hinter den zwei Perspektiven steckt das Leib-SeeleProblem Plausibilisiert wird die Trennung in Erste- und Dritte-Person-Perspektive dem Alltagsverstand gerne durch die als analog dargestellte Verschiedenheit von Sinneseindrücken und Messergebnissen, die einen Gegenstand verschieden beschreiben. Was sind Farben? Sind es die Lichtwellen in einem bestimmten Spektrum (Beschreibung der DrittenPerson-Perspektive) oder sind es Rot, Grün Blau, vielleicht sogar ein besonders schönes Blau (Erste-Person-Perspektive)? Offenbar sind Farben genau das, was beide Beschreibungsebenen, die wissenschaftliche und die subjektive, besagen. Die Wahrnehmung widerspricht der Messung nicht und umgekehrt. Auch stellt sich hier kein Vermittlungsproblem in der Form, dass es in irgendeiner Weise nicht zu erklären sei, wie unser Auge Lichtwellen in verschiedenen Spektren wahrnehmen könne. Im Gegenteil erklärt sich gerade hierüber, warum die Farbe Blau nicht weniger objektiv ist als das entsprechende Wellenspektrum des Lichts. Allein der eventuell mit der Wahrnehmung einhergehende emotionale Gehalt einer Sinnesaffektation ist unvermittelbar gegenüber der Messung. Aber dieser ist in gleicher Weise unvermittelbar gegenüber der Farbe, da er allein dem Gemüt entspringt und sich wahlweise auch an andere Erscheinungen knüpfen mag. Emotionen sind als das subjektive der Vorstellungen kein Akzidenz bestimmter Erscheinungen. Anders verhält es sich bei der Betrachtung des neuronalen Geschehens im Gehirn und dem menschlichen Geist, ζ. B. in der interdiziplinären Verknüpfung von Neurophysiologie und Psychologie: Der gemeinsame Gegenstand ist hier zunächst der Glaube, einen gemeinsamen Gegenstand zu haben. Dass es sich um e i n e n Gegenstand handele, der mit verschiedenen Methoden und Verfahren betrachtet werden würde, ist bloß spekulativ. Um diese Arbeitshypothese einzuholen, müsste die Art der Vermittlung aufgezeigt werden. Die Vermittlung ist jedoch eine, die als vollzogene der Erklärung des Verhältnisses von Geist und Gehirn vorausgesetzt werden muss, aber diese zugleich nicht leisten kann, weil die Art und Weise, wie Intelligibles und Material ineinander überfuhrbar sein sollen, prinzipiell nicht erkannt werden kann: weder sinnlich aus dem Material, noch reflexiv aus dem Denken kann das jeweils Andere erkannt oder dedu-

HINTER DEN ZWEI PERSPEKTIVEN STECKT DAS LEIB-SEELE-PROBLEM

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ziert werden. Die Trennung in Erste- und Dritte-Person-Perspektive mündet in die Antinomie des Leib-Seele-Problems, weil es tatsächlich nicht Perspektiven sind, die vermittelt werden müssen, sondern Gegenstände. Darum führt der Versuch einer Vermittlung der zwei Perspektiven auf eine Reduktion des einen Gegenstandes auf den anderen, um hierdurch das Problem zu umgehen. In dem nicht einzuholenden Glauben, nur einen Gegenstand vor sich zu haben, kann die gescheiterte Vermittlung immer als eine noch zu leistende perspektivische angesehen werden, die widerspruchsfrei möglich wäre. Exemplarisch fur den Spagat zwischen gleichzeitiger Nichtreduzierbarkeit und Reduzierung von Geistigem auf das Gehirngeschehen soll hier die Theorie des Philosophen Peter Bieri näher betrachtet werden. Auch Bieri versucht, das materielle Gehirn und das nichtmaterielle Denken als zweierlei Sichtweisen auf ein und denselben Gegenstand zu betrachten. Um dieses Verhältnis von Gehirn und Denken als die Betrachtung aus zwei unterschiedlichen Perspektiven zu verdeutlichen, macht Bieri die Analogie zu einem Gemälde auf: 13 So wie man beim Gemälde die materielle Ebene (Gewicht, chemische Zusammensetzung etc.) und die ästhetische Ebene (Motiv, Ausführung, kunsthistorischer Kontext) beschreiben könne, die beide gleichermaßen wahr oder wirklich seien und hierbei niemand die eine Ebene mit der anderen verwechseln würde - etwa, indem er versuche, durch eine chemische Analyse der Farben herauszufinden, welches Motiv dargestellt wurde - so seien auch Gehirn und Geist zwei unterschiedliche Betrachtungsweisen, zwei Perspektiven. Was in diesem Beispiel zunächst ganz klar und einfach erscheint, birgt bei näherer Betrachtung einige Fallstricke: Zunächst ist das Denken, vergleicht man es mit den Aufnahmen einer Tomographie, keine andere Betrachtungsweise desselben Gegenstandes. Denn abgebildeter Gegenstand der Tomographie oder anderer bildgebender Verfahren der Hirnforschung ist das Gehirn, nicht der Gedanke. Ein grundlegendes Problem der Hirnforschung besteht gerade darin, dass das Denken selbst über bildgebende Verfahren oder andere Messtechniken nicht anschaulich gemacht werden kann. Die gedachten Inhalte lassen sich durch die Analyse des neuronalen Geschehens nicht erfassen. Und zwar aus einem einfachen Grund: Es handelt sich hierbei gar nicht um zwei unterschiedliche Perspektiven auf einen Gegenstand (so wie man einen Teller von oben als Kreis und von der Seite als Balken sehen kann). Genauso wenig wie die kunsthistorische Betrachtung eines Gemäldes bloß eine andere Perspektive auf denselben Gegenstand darstellt als die Analyse der chemischen Zusammensetzung seiner Farben. Eine Perspektive ist etwas Zufälliges, Beliebiges, das von dem jeweils eingenommenen Standpunkt des Betrachters abhängt. Darum sind verschiedene Perspektiven einander äußerlich. Das Gemälde vereint in sich materielle Gestalt und ideellen Gehalt als zwei Momente, die einander entgegengesetzt sind (und so nicht aufeinander reduzierbar oder ineinander überführbar), und die zugleich ihr Verhältnis zueinander in sich ent-

13 Peter Bieri, „Freier oder unfreier Wille?" In: Gestrich, Christof (Hg.), Freier oder unfreier Wille? Handlungsfreiheit und Schuldfähigkeit im Dialog der Wissenschaften, Berlin 2004.

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halten und darum nicht einander äußerlich sind, wie verschiedene Perspektiven. Denn materielle Gestalt und ideeller Gehalt sind als Momente der Erkenntnis des Gemäldes in diesem Erkennen aufgehoben. Warum sich diese Analogie nicht auf das Verhältnis von Gehirn und Denken wenden lässt, liegt also nicht daran, dass sich ein gedachter Inhalt, etwas Ideelles, nicht vermittelt in einem Material anschauen ließe. In einem Gemälde, einem Buch oder einem Kochtopf finden sich im Material vermittelt jene Gedanken, die als Inhalte die Materie in ihnen gemäßer Weise formten. Im Gehirn jedoch, das kein Artefakt, sondern ein bloßer Naturgegenstand ist, finden wir dieses ideelle Moment nicht. Die Anordnungen der Farben, die auf dem Gemälde einen bestimmten Raum einnehmen, erlauben es uns, Formen zu unterscheiden und hierin ein dargestelltes Motiv zu erkennen. Doch das Motiv ergibt sich nicht aus dem Material ohne die Tätigkeit des Verstandes. Beim Betrachten der elektrochemischen Aktivität des Gehirns kann jedoch auch der tätige Verstand keine Inhalte von Gedanken in dem bunten Geflacker sehen, weil kein Bewusstsein sie nach einem Gedanken geformt hat. Er kann nur eine temporäre Korrelation zwischen Hirntätigkeit und Gedachtem angeben, aber dieser Zusammenhang bleibt ebenso äußerlich, wie die These, dass die abgebildete Gehirntätigkeit Gedanken forme, spekulativ bleibt. Denn das Gehirn ist nicht der Gegenstand, aus dessen Betrachtung sich der Inhalt des Denkens erschießen lassen könnte, so wie sich in der (nicht naturwissenschaftlichen) Betrachtung eines Gemäldes sein Inhalt erschließt. Die Betrachtung des Gehirns erschließt sein elektrochemisches Geschehen. Dieses mag einem gedachten Inhalt, einer Bedeutung korrelieren, aber es drückt sie nicht aus, wie Picassos Guernica das Entsetzen am Krieg ausdrückt (auch wenn es nicht unmittelbar dieses Entsetzen i s t , sondern sein bewusst gestalteter künstlerischer Ausdruck), weil die Hirnfunktionen nicht aus Bewusstsein gesetzt sind - auch dann nicht, wenn man annimmt, dass sie Bewusstsein verursachen. Das Denken ist nichts anderes als sein gedachter Inhalt. Und wie jeder Inhalt, jede Bedeutung, kein materieller Gegenstand ist, sondern Gedachtes, so ist auch der Inhalt eines Gemäldes und sein kunsthistorischer Zusammenhang nichts, was dem Material unmittelbar entspränge, sondern etwas, das denkend und bewusst als Symbol in das Material eingeprägt wurde. Darum benutzt Bieri in seinem Beispiel ein Artefakt und keinen Naturgegenstand. Denn in dem von Menschen mit Bewusstsein und Willen gestalteten Artefakt, etwa einem Gemälde, sind materielle Gestalt und ideeller Gehalt ganz deutlich vereint. Der Inhalt geht nicht im Material auf; er wird in der bestimmten Gestaltung des Materials transportiert. Darum kann ein Gemälde explizit die menschliche Freiheit zum ideellen Gegenstand haben und es stört den Kritiker bei der Interpretation dieses Gehaltes nicht im mindesten, dass weder das Holz des Rahmens, noch die Leinwand, noch die Farbpigmente in irgendeiner Weise frei sind, sondern allesamt den Naturgesetzen gehorchen. Hierbei entspringt der ideelle Gehalt nämlich nicht dem Material selbst, sondern dem Geist des Menschen, der das Gemälde schuf und die Farben dem gedachten Inhalt gemäß angeordnet hat. Darum findet sich in einem Artefakt kein Widerspruch

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wie zwischen Geist und Gehirn, sondern im Gegenteil seine Vermittlung. Da sich diese Vermittlung im menschlichen Gehirn als einem Naturgegenstand nicht findet, schließt Bieri, dass die Perspektive auf den freien Menschen sich nicht auf die Perspektive auf das determinierte Gehirngeschehen reduzieren ließe. Bieris neurobiologische Kritiker teilen seine Grundannahme der zwei Perspektiven', nur ziehen sie aufgrund der Forschungsergebnisse auf ihrer Ebene 14 einen anderen Schluss als Bieri, der der psychologischen Perspektive' mehr Gewicht verleiht. So folgt aus derselben Grundannahme bei Bieri, dass es Willensfreiheit gäbe, und bei Roth oder Singer, dass es sie nicht gäbe. Konsequent wäre hier immanent die Annahme, der Mensch sei von der einen Perspektive aus betrachtet frei, von der anderen Perspektive aus gesehen determiniert, die ganze Debatte also überflüssig. Doch spätestens hier scheint jeder zu ahnen, dass diese beiden Perspektiven bezogen auf dasselbe Subjekt nicht zugleich wahr sein können. Wenn es sich tatsächlich um zwei Perspektiven handeln würde, dürften sie bezogen auf dasjenige, worauf sie Perspektiven sind, keinen Widerspruch enthalten. Ein Subjekt kann nicht zugleich frei und unfrei sein, und dies zeigt sich in Bieris Behauptung, diese verschiedenen Perspektiven seien ,unüberbrückbar'. Der Versuch, diesen unvermittelbaren Widerspruch in eine Frage nach der jeweiligen Perspektive aufzulösen und so implizit doch eine Vermittlung zu behaupten, zeigt in seiner Inkonsistenz ein wahres Moment in Bieris Argumentation auf: Die Freiheit des Denkens und die Determiniertheit des Materials schließen einander aus und müssen dennoch im Menschen als einem sinnlichen und denkenden Wesen vermittelt sein. Da diese Vermittlung kein naturwissenschaftlich zu beschreibender Vorgang ist, fallen diese Momente in der Darstellung durch die Hirnforschung auseinander. In Bezug auf die Freiheit kommt die Hirnforschung so zu dem Schluss, dass es sie nicht gäbe. Doch der Widerspruch trägt sich innerhalb der Theorie weiter, nicht nur in der Trennung von Erster- und Dritter-Person-Perspektive, sondern auch in der Darstellung des Verhältnisses von Bewusstem und Unbewusstem.

Bewusstes und Unbewusstes Die klassische Trennung der Psychologie in Bewusstes und Unbewusstes findet die Neurobiologie darüber bestätigt, dass sie das Bewusstsein allein an die cortikalen Gehirnbereiche gebunden sieht; Aktivitäten in allen anderen Bereichen des Gehirns korrelierten nicht mit mentalen Zuständen und seien also unbewusst. „Da Bewusstsein ein Zustand ist, der unabdingbar an cortikale Aktivitäten gebunden ist, können vom Ich die Einflüsse des subcortikalen limbischen Systems grundsätzlich nicht zu diesen Zentren

14 Aus ihrer .Perspektive' ist die psychologische .Perspektive' eine vorläufige, die durch die neurobiologische ersetzt werden wird, wie es beispielsweise Patricia Churchland darstellt.

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zurückverfolgt werden - sie wären ja sonst nicht unbewusst."15 Das Unbewusste sei also Unbewusstes aus einem rein neurologischen Grund; der Ort, an dem es durch das Gehirn realisiert werde, sei dem Bewusstsein nicht zugänglich, da dieses an die cortikalen Bereiche des Gehirns gebunden sei. Alle Aktivierungsmuster in nicht cortikalen Bereichen seien darum nicht bewusst und folglich unbewusst. Dieser Schluss von der Ortsangabe einer neuronalen Aktivität (in nicht-cortikalen Bereichen) auf einen Inhalt (unbewusst) und damit die Verortung und Fixierung des Unbewussten in einem Gehirnbereich unterschlägt, dass in der Psychoanalyse das Unbewusste als Resultat eines Bewusstseinsprozesses begriffen wird. Klassisch ist das Unbewusste Resultat eines Prozesses, in dem Teile des Bewusstseins vergessen und verdrängt werden. Gerade deshalb habe das Unbewusste einen spezifischen Einfluss auf unser Denken und Handeln, weil es ehemaliges Bewusstsein ist, und nicht ein dem Bewusstsein vollständig Äußerliches. Nur als Teil des Bewusstseins, auf das es also immer bezogen sein muss, kann das Unbewusste über das Bewusstsein zugänglich sein, was sich die Psychoanalyse zunutze macht; dies wäre für ein Nicht-Bewusstes unmöglich. Dieses Verständnis des Unbewussten als Nicht-Bewusstem, welches sich u. a. bei Roth findet, geht darum an einem Verstehen der psychischen Dynamik vorbei. So unterschlägt er, dass es der reflektierenden Arbeit des Ichs (Bewusstseins) bedarf, um die verdrängten Inhalte im Unbewussten als solche zu erkennen und wieder ins Bewusstsein zu heben. Indem die Neurophysiologie nicht nur Bewusstsein auf Gehirnaktivitäten reduziert, sondern zugleich Unbewusstes als Nichtbewusstsein begreift und beides auf verschiedene Orte im Gehirn fixiert, muss ihr die psychoanalytische Wirkungsweise im Gegensatz zur pharmakologischen - rätselhaft bleiben. „Allerdings ist aus neurowissenschaftlicher Sicht noch unklar, wie Psychotherapie im Einzelnen wirkt. Wir können davon ausgehen, dass psychische Konflikte mit dem Entstehen bestimmter Netzwerke in der Amygdala (und anderen limbischen Zentren) einhergehen, ζ. B. aufgrund fehlerhafter' emotionaler Konditionierung oder aufgrund traumatischer Erlebnisse, die zu psychischen Leidenszuständen und zu ,Fehlhandlungen' fuhren. [... Eine Erklärung für die Wirkungsweise der Psychotherapie könnte; C. Z.] darin bestehen, dass im Laufe der Therapie aufgrund andersartiger, d. h. positiver emotionaler Erfahrungen in der Amygdala ,Ersatzschaltungen' angelegt werden, die die negativen Schaltungen einkapseln und an ihnen vorbei einen eigenen Zugang zur Handlungssteuerung erlangen. Therapie wäre dann die Induktion der Bildung dieser kompensatorischen Netzwerke. Der für die psychoanalytische Therapie wichtige Prozess der Übertragung und Gegenübertragung könnte hierfür günstige emotionale Bedingungen schaffen in dem Sinne, dass es dabei zu neurochemischen Zuständen kommt, in denen eine Neubildung von kompensatorischen Netzwerken in der Amygdala (und anderswo im limbischen System) ermöglicht wird. Es ist aber nicht auszuschließen, dass es in

15 Gerhard Roth, Fühlen, Denken, Handeln, 437.

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manchen besonders günstig verlaufenden Therapien doch zu einer langfristigen Veränderung in den primär ,erkrankten' limbischen Netzwerken kommt." 16 Dieser Erklärungsversuch für die Wirkungsweise von Psychotherapie hält die Trennung der Ersten- und Dritten-Person-Perspektive konsequent durch: Er versucht, Psychoanalyse so weit als möglich frei von jedem Bezug auf die Psyche (das Subjektive der Ersten-Person-Perspektive) zu begreifen und damit zu erklären, was denn tatsächlich, also objektiv aus der Dritten-Person-Perspektive betrachtet, geschehe, wenn ein Mensch beispielsweise ein Trauma verarbeitet. Wenn die Psychoanalyse behauptet, die Wirksamkeit psychotherapeutischer Behandlungen gründe in der Arbeit des Bewusstmachens von traumatisierenden Erlebnissen, so sei dies eine Illusion des Bewusstseins. Vielmehr gehe es bei der therapeutischen Behandlung darum, objektiv einen Umbau des limbischen Systems zu bewerkstelligen - hierfür könne die bewusste Auseinandersetzung mit traumatischen Erlebnissen dann ein mögliches Mittel sein (wobei Art und Weise dieser Wirksamkeit selbstredend hochkomplex und unzureichend erforscht ist). Die Dritte-Person-Perspektive führt als objektiver Blick auf das tatsächliche Geschehen im Verlauf einer Psychotherapie ins Absurde: Die Erkenntnis, ob eine neuronale Verschaltung im limbischen System ,gesund' oder ,krankhaft' ist, kann ausschließlich im Rekurs auf das Subjekt, also auf die Erste-Person-Perspektive, gewonnen werden. Die Dritte-Person-Perspektive hat in Bezug auf die menschliche Psyche tatsächlich keinen anderen Maßstab als diese selbst, d. h. ihre Objektivität bemisst sich ausschließlich an dem Subjektiven, an der Ersten-Person-Perspektive. Denn die beobachtbaren Aktivierungsmuster des limbischen Systems sind zwar auch ohne diesen Bezug vorhanden, aber sie b e d e u t e n nichts. Anders als in anderen Bereichen der Naturwissenschaften kann hier ein äußerer, materieller Prozess nur als inneres, psychisches Geschehen begriffen werden. Der Versuch, die Psyche in gleicher Weise zu beschreiben wie ζ. B. die Photosynthèse, zeigt in seinem Misslingen das Falsche an der Trennung von Erster- und Dritter-Person-Perspektive auf. Das wissenschaftliche Verfahren, mit dem der Gegenstand Bewusstsein gefunden werden soll, liegt selbst innerhalb dieses Gegenstandes. Darum ist der Zugang nicht empirisch möglich, wie bei äußeren Naturgegenständen, die uns als Erscheinungen gegeben werden, sondern nur und ausschließlich durch Introspektion. Dies gilt, wie Psychoanalyse zeigt, auch für das Unbewusste. Darüber hinaus ist jedes wissenschaftliche Verfahren eines, was als Methode und gedanklich erfasstes System kein dem Bewusstsein Äußeres sein kann; d. h. die Dritte-Person-Perspektive ist immer und notwendig eine Perspektive der Ersten Person, denn wo sie in ein Bewusstsein fällt - und ohne dem wäre sie nicht - fällt sie in ein empirisches Bewusstsein. Die Perspektive, welche von Außen die Introspektion betrachtete, nicht in der Reflexion, sondern als gegebenes Objekt, wäre eine göttliche oder zumindest eine telepathische, aber keine wissenschaftliche.

16 Gerhard Roth, Fühlen, Denken, Handeln, 439 f.

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Subjektives und Objektives Was unter dem Label Erste- und Dritte-Person-Perspektive tatsächlich unterschieden wird, sind Zustände empirischen Bewusstseins und naturwissenschaftliche Erkenntnisse, in denen nicht bloß Erfahrungen aufgeführt, sondern diese in einem System verknüpft werden. Bewusstsein konstituiert sich darüber, dass das Mannigfaltige der Anschauung in ihm verbunden ist. Unter dieser Einheit des Selbstbewusstseins können Anschauungen, Vorstellungen und Erkenntnisse überhaupt nur sein: als Vorstellungen eines Subjekts. Die Einheit des empirischen Bewusstseins ist zunächst stets subjektiv. Alle Vorstellungen, die unter der Einheit meines Bewusstseins stehen, sind meine Vorstellungen. Da Bewusstsein die durchgängige Identität der Person stiftet, welche es als Einheit des Mannigfaltigen der Anschauungen konstituiert, ist es notwendig Eines. Kein empirisches Subjekt hat das empirische Bewusstsein eines anderes Subjektes oder kann es unmittelbar teilen - selbst dann nicht, wenn alle Vorstellungen identisch wären. Dies ist es, was als ,Erste-Person-Perspektive' in der Debatte erscheint. Dieser wird unvermittelt die objektive ,Dritte-Person-Perspektive' gegenübergestellt - als ob die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse nicht in empirisches Bewusstsein fielen und als ob empirisches, subjektives Bewusstsein nicht allgemeine Bedingungen und Regeln voraussetzte, unter denen die Synthesis der Vorstellungen zu Erkenntnis geleistet werden können muss, welche objektive sind. Denn die Einheit des Bewusstseins schafft erst die Verbindung zwischen den Objekten der Erfahrung und dem Erkennen (gemäß den Kategorien). Das Vermögen, welches das Mannigfaltige in einem Bewusstsein verbindet, ist der Verstand. Dieser ist so eine notwendige Bedingung jedes Selbstbewusstseins, denn er enthält die allgemeinen Regeln, nach welchen das Mannigfaltige der Anschauung verbunden werden kann. Was Bedingung des empirischen Selbstbewusstseins ist, erweist sich so zugleich als Bedingung der Möglichkeit von Wissenschaft. Denn die Regeln, nach denen das Mannigfaltige der Anschauung sich unter eine Einheit zusammenfassen lässt, müssen Regeln sein, nach denen sich die Gegenstände der Erfahrung als Objekte der Erkenntnis als Verbundene denken lassen. „Die synthetische Einheit des Bewußtseins ist also eine objektive Bedingung aller Erkenntnis, nicht deren ich bloß selbst bedarf, um ein Objekt zu erkennen, sondern unter der jede Anschauung stehen muß, u m f ü r m i c h O b j e k t z u w e r d e η , weil auf andere Art, und ohne diese Synthesis, das Mannigfaltige sich nicht in einem Bewusstsein vereinigen würde." 17 Dasjenige, was als Erste-Person-Perspektive bezeichnet wird, ist darum zugleich obwohl subjektiv - objektive Bedingung aller Erkenntnis, weil die Synthesis des Mannigfaltigen und die Verknüpfung der Objekte durch Urteile immer schon auf das Allgemeine des menschlichen Verstandes verwiesen ist, welches objektive Erkenntnis ermöglicht.

17 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β 138.

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„Wenn ich aber die Beziehung gegebener Erkenntnisse in jedem Urteile genauer untersuche, und sie, als dem Verstände angehörige, von dem Verhältnisse nach Gesetzen der reproduktiven Einbildungskraft (welches nur subjektive Gültigkeit hat) unterscheide, so finde ich, daß ein Urteil nichts anderes sei, als die Art, gegebene Erkenntnisse zur o b j e k t i v e n Einheit der Apperzeption zu bringen." 18 Mit dem Begriff der transzendentalen Einheit der Apperzeption 19 ist zugleich gefasst, dass Bewusstsein nicht in Perspektiven des Innen und Außen zerfallen kann. Es ist vielmehr die Bedingung der Möglichkeit dafür, äußere Erscheinungen im Zusammenhang zu denken, d. i. sie in der inneren Anschauung zu haben und sie in ihrem regelhaften Zusammenwirken zu begreifen und dadurch zu Objekten der Erkenntnis - also objektiv - zu machen. ,Objektive Realität' und ,Subjektiv Gedachtes' lässt sich nicht in verschiedene (oder sogar unvermittelbare) Perspektiven von Ersterund Dritter- Person trennen, insofern, als jeder Gegenstand als Erscheinung gemäß unserem Erkenntnisvermögen von uns gedacht sein muss, um ein Gegenstand für uns zu sein. Analog zur handwerklichen Tätigkeit eignen wir uns in der Tätigkeit des Erkennens das Material an, welches hierdurch ein ideelles Moment in sich trägt. Die erkenntnistheoretische Reflexion darauf, dass die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung zugleich die Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung sind, und darum alle Naturgegenstände als Gegenstände der äußeren Erfahrung zugleich Gegenstände der inneren Anschauung sind, da sie durch reine Verstandesbegriffe konstituiert sind, fehlt zumeist im naiven Realismus der analytischen Philosophie wie 20

auch der Naturwissenschaften. Hierdurch erscheint ihnen schon der Versuch einer Vermittlung von Ideellem und Materiellem als ,Kategorienfehler' (mehr ein Schimpfwort als eine logische Bestimmung, 21denn mit Kategorien im klassischen Sinne hat dieser so genannte Fehler nichts zu tun ), da ihnen nicht bewusst ist, dass diese Vermittlung im Erkenntnisprozess allgegenwärtig ist. Da ohne diese Vermittlung keine Erkenntnis und keine Produktion von Artefakten möglich wäre, ist es nicht verwunderlich, dass ein solcher ,Kategorienfehler' in der Debatte um die Hirnforschung allenthalben auftritt, wenn es um die (neuronalen) Bedingungen von Erkenntnis oder von menschlicher Gesellschaft und Kultur geht.

18 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β 141. 19 Zum Begriff der transzendentalen Einheit der Apperzeption vgl. auch im Folgenden 111 f. 20 Vgl. Kapitel 8. 21 Dieser etwas unglücklich gewählte Begriff,Kategorienfehler' hat unmittelbar nichts mit der klassischen philosophischen Bedeutung des Begriffs der Kategorie zu tun. In der philosophischen Tradition sind Kategorien 1. nach Aristoteles die verschiedenen Arten von Aussagen, die von einem Gegenstand gemacht werden können (Ort, Zeit, Qualität, Quantität, Wesen, Relation, Leiden, Lage, Habitus und Tätigkeit). 2. nach Kant Gedankenformen, die den logischen Funktionen des Denkens im Urteilen entsprechen, also reine Verstandesbegriffe a priori (vgl. die Kategorientafel in: Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β 106).

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Indem dieser Zusammenhang zwischen der Einheit des Selbstbewusstseins und der Möglichkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse nicht reflektiert wird, verliert die Naturwissenschaft jede Basis, auf welche sich ihre Objektivität stützen könnte. In der Trennung in die Erste- und die Dritte-Person-Perspektive zerfallen Subjektivität und Objektivität zu zwei unvermittelbar getrennten Sphären. Damit wird nicht nur der Psychologie de facto der Anspruch auf Wissenschaftlichkeit abgesprochen,22 sondern die wissenschaftliche Erkenntnis selbst wird vom empirischen Subjekt abgekoppelt, ohne dass ein Begriff entwickelt werden könnte, auf den sich die Objektivität der Erkenntnisse gründen ließe. Beim Reden von ,mentalen Zuständen' werden alle Vorstellungen, Gefühle wie Erkenntnisse, im Subjekt gleichgesetzt, als Erste-Person-Perspektive. In der Dritten-Person-Perspektive geht es dann der Sache nach um allgemeine Urteile nach einem logischen System, also um den Verstand als allgemeine Bedingung von Erkenntnis. Beide teilen die Gemeinsamkeit, dass sie nur über die Introspektion des empirischen Bewusstseins zugänglich sind und sich nicht aus einem neuronalen Korrelat entwickeln oder in ihm aufzeigen lassen. Dennoch sind Gefühle und wissenschaftliche Erkenntnisse deutlich getrennte; die Gefühle sind Gegenstand der Psychologie, die allgemeinen Bedingungen von Erkenntnis sind Gegenstand der Philosophie. Das Gefühl erscheint im Bewusstsein als ein Gegenstand, um dessen Wahrnehmung als meine ich wissen muss, um es als mein Fühlen zu identifizieren und es im Bewusstsein zum Gegenstand zu machen; wie die äußeren Erscheinungen werden uns unsere Gefühle gegeben. Gefühle können nicht deduziert, sondern nur gefühlt werden. Das Bewusstsein als oberste Bedingung aller Erkenntnis hingegen erschließt sich nur sich selbst in der Reflexion. Gefühl kann nur als Gedachtes Gegenstand der Psychologie werden, so wie gewusstes Gefühl immer schon gedachtes Fühlen ist und damit mehr als bloß unmittelbares Fühlen jenseits des Bewusstseins, wie man es vielleicht den Tieren zuschreiben, aber wovon ein denkendes Wesen sich keine Vorstellung bilden kann. Dass das Gefühl als subjektiv Empfundenes mit dem Vermögen der Erkenntnis in der hier kritisierten Argumentation in eins gesetzt wird, liegt nicht allein daran, dass es als innere Erscheinung empirisch nicht als solches zu fassen ist, sondern auch daran, dass sich eine deutliche Verbindung und Wechselwirkung zum Organischen aufzeigen lässt: Gefühle sind bis zu einem gewissen Grad organisch beeinflussbar; Psychopharmaka oder andere Drogen können mehr oder weniger zuverlässig bestimmte Gefühlszustände wie Euphorie herbeiführen, ohne dass sich zugleich ein äußerer Anlass fände, auf welchen sich dieses Gefühl bezöge. Die Wirksamkeit gerade von Psychopharmaka gilt damit als Beleg für den Zusammenhang von Hirnstoffwechsel und mentalem Zustand,

22 Ob die Psychologie im strengen Sinne eine Wissenschaft genannt werden kann, soll hier nicht diskutiert werden. Sie ist allerdings ebenso wie die Biologie in einem Maße auf einen sich stets verändernden empirischen Gegenstand bezogen, dass sie kein geschlossenes, einheitliches System hervorbringen können wird.

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über den dann alles Geistige als auf eine neuronale Basis zurückführbar behauptet werden kann. Doch ein Inhalt, der sich nach Begriffen a priori organisiert, ist vom Haben (im Bewusstsein Haben) eines Gefühls wesentlich durch seine Allgemeinheit in jeder Vernunft unterschieden. Er folgt logischen Gesetzen, die keine Naturgesetze sind, und kann darum selbst nicht Natur sein. Die Euphorie mag dem Dopaminspiegel folgen, aber das Denken in den logischen Formen seiner Urteile kann dies nicht, da es zwar immer als empirisches an ein Subjekt gebunden, aber zugleich stets mehr als bloß Subjektives ist. Alle Objektivität fallt als erkannte in ein empirisches Subjekt. Darum ist die Trennung in eine subjektive Erste- und eine objektive Dritte-Person-Perspektive Unsinn, weil empirisches Selbstbewusstsein immer unter der Bedingung der transzendentalen Einheit der Apperzeption steht.

7. Freiheit, Ich und Zeit Das Libet-Experiment

Das Libet-Experiment, in dem der Willensentschluss zu einer Handlung mit einer halben Sekunde Verspätung auf das im Gehirn messbare handlungseinleitende Bereitschaftspotential folgt, ist der bekannteste neurophysiologische Beleg der Unfreiheit des menschlichen Willens. Hier soll die Inkonsistenz des dem Experiment zugrunde liegenden Freiheitsbegriffs aufgezeigt werden. In dem im Gegensatz hierzu entwickelten philosophischen Begriff von Freiheit wird deutlich, dass auch der Begriff der Naturkausalität auf die freie Spontaneität des tätigen Verstandes notwendig verwiesen ist. Ohne eine Differenz zwischen Ursachen aus Naturkausalität und Gründen der Vernunft gäbe es keine Begründung dafür, eine Verursachung aus Kausalität anzunehmen; die Annahme einer Verknüpfung der Erscheinungen in der Welt nach Ursache und Wirkung wäre unter der naturalistischen Prämisse, dass es keine freie Tätigkeit des Verstandes gäbe, ihrerseits durch nichts zu begründen, sondern bloß verursacht - und damit nicht erkannt und keine mögliche Grundlage einer (Natur-) Wissenschaft. Der Neurobiologe Benjamin Libet gilt als der erste Hirnforscher, dem die zeitliche Verknüpfung von Erster- und Dritter-Person-Perspektive in einem Experiment gelang. Die Versuchspersonen hatten in diesem Experiment die Anweisung, innerhalb eines vorgegebenen Zeitrahmens spontan den Entschluss zu fassen, einen Finger oder eine Hand zu bewegen. Dabei mussten sie sich den genauen Zeitpunkt merken, zu dem sie den Entschluss zur Bewegung fassten. Um diesen Zeitpunkt möglichst genau bestimmen zu können, merkten sie sich die Stellung eines Punktes auf einer OszilloskopUhr, der mit einer Periode von 2,56 Sekunden rotierte. So war eine Bestimmung des Zeitpunktes im Millisekunden-Bereich möglich. Zugleich wurde das symmetrische Bereitschaftspotential im Gehirn als neurophysiologischer Ausgangspunkt der Fingeroder Handbewegung mit einem Elektromyogramm (EMG) aufgezeichnet. 1 Von diesem Experiment versprachen sich Libet und seine Mitarbeiter Aufschluss über den Zusammenhang von freiem Willensentschluss und neuronalem Geschehen im Gehirn: Wenn der Willensentschluss deutlich vor oder zeitgleich mit dem Entstehen des Bereitschaftspotentials zu verzeichnen ist, dann müsse man annehmen, dass der freie 1 Vgl. Libet, Gleason, Wright, Pearl: „Time of conscious intention to act in relation to onset of cerebral activity (readiness-potential)", in: Brain 106, 1983, 623-642.

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D A S LIBET EXPERIMENT

Wille der Testperson die Ursache des Bereitschaftspotentials sei und damit der Wille aus Freiheit die Ursache der ausgeführten Handlung. Auch wenn die Art der Wechselwirkung durch diesen Aufbau des Experiments nicht näher anzugeben sei, so würde die zeitliche Abfolge doch deutlich machen, dass das neuronale Geschehen einem Entschluss des Bewusstseins folge, auch wenn dieser Entschluss den Methoden der Hirnforschung nicht unmittelbar zugänglich sei. Das Experiment zeigte jedoch, dass das Bereitschaftspotential dem auf der Oszilloskop-Uhr gemessenen Zeitpunkt des Willensentschlusses immer vorausging. Es hatte also den Anschein, als folge die neuronale Tätigkeit nicht dem freien Entschluss, sondern ginge diesem deutlich vorher, im Schnitt 550 bis 350 Millisekunden; der geringste gemessene Zeitabstand betrug 150 Millisekunden. Dieses Ergebnis überraschte Libet, war es doch seine Intention, den freien Willen experimentell nachzuweisen. Die einzig mögliche Erklärung für das Ergebnis seines Experimentes war unter seinen Prämissen jedoch, dass der freie Wille nicht als Ursache, sondern als Wirkung des handlungseinleitenden Bereitschaftspotentials angesehen werden musste. Bis heute gilt das LibetΛ

Experiment - das später wiederholt und verbessert wurde - als der empirische Beweis für die Unfreiheit des Willens. Dieses Experiment ist wegen seines Resultates oft kritisiert worden. Das Heben oder Beugen eines Körperteils innerhalb eines gesetzten Zeitrahmens sei doch etwas anderes, als beispielsweise moralisch begründete Entscheidungen zu treffen oder Abwägungen, die erhebliche Konsequenzen für unser weiteres Leben haben. Insbesondere Jürgen Habermas hat aufgezeigt, dass den Körperbewegungen der Probanden im Libet-Experiment jeder Bezug zu den Gründen für eine solche Bewegung fehlt, weshalb diese Körperbewegungen im eigentlichen Sinne gar keine Handlungen seien. „Normalerweise sind Handlungen das Ergebnis einer komplexen Verkettung von Intentionen und Überlegungen, die Ziele und alternative Mittel im Lichte von Gelegenheiten, Ressourcen und Hindernissen abwägen. Ein Design, das die Planung, Entscheidung und Ausführung einer Körperbewegung zeitlich eng zusammenpresst und aus jedem Kontext von weiterreichenden Zielen und begründeten Alternativen herauslöst, kann nur Artefakte erfassen, denen genau das fehlt, was Handlungen implizit erst zu freien Handlungen macht: der interne Zusammenhang mit Gründen. Es ist ein Missverständnis, die Freiheit des So-oder-anders-handeln-Könnens im Buridianschen Esel verkörpert zu sehen. In der ,nackten' Entscheidung, den rechten oder den linken Arm auszustrecken, manifestiert sich so lange keine Handlungsfreiheit, wie der Kontakt zu Gründen fehlt, die beispielsweise einen Fahrradfahrer dazu motivieren können, nach rechts oder nach links abzubiegen." 3

2 Vgl. Haggard, Eimer: „On the relation between brain potentials and the awareness of voluntary movements", in: Experimental Brain Research 126, 1999, 128-133. 3 Jürgen Habermas, „Freiheit und Determinismus", in: Hans-Peter Krüger (Hg.), Hirn als Subjekt?, Deutsche Zeitschrift für Philosophie Sonderband ¡5, Berlin 2007, 103 f.

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FREIHEIT, ICH UND ZEIT

Der einzige Grund für die untersuchten Probanden, den Finger oder die Hand zu bewegen, liegt im Aufbau und den Erfordernissen des Experiments. Er will mit dieser Bewegung nichts anderes, als den Erfordernissen des Experiments gerecht zu werden. Auch ist der Zeitpunkt, den die Testpersonen angeben, zumindest nicht der einzige, an dem die Entscheidung zur Bewegung gefällt wird. Denn alle Probanden haben sich lange vorher entschieden, an dem Experiment teilzunehmen. Sie entscheiden also vorab, dass sie innerhalb eines begrenzten Zeitrahmens, in dem die Messung stattfindet, die Hand beugen wollen - und nicht erst hinterher auf dem Heimweg. Der Rahmen des Experiments setzt also sehr enge Grenzen für das, was als eine Entscheidung des freien Willens gemessen werden soll - so enge Grenzen, dass viele dagegen einwenden, hier sei gar kein freier Wille zu finden. Doch wie berechtigt diese Einwände auch sein mögen, innerhalb des durch das Experiment vorgegebenen Rahmens sind die Ergebnisse der zeitlichen Abfolge - erst Bereitschaftspotential, dann gefühlter Willensentschluss - so eindeutig, wie die empirische Forschung es sich nur wünschen kann. Die Experimente von Libet, Haggard und Eimer zeigen, dass dem bewussten Willensentschluss zu einem spontanen Akt innerhalb eines Zeitfensters ein Bereitschaftspotential im Gehirn vorhergeht und nicht erst darauf folgt. Man muss Roth zustimmen, wenn er sagt, es gebe keinen Grund, an der Korrektheit dieser Experimente und ihrer Durchführung zu zweifeln. 4 Auch hier soll die korrekte Durchführung des LibetExperiments nicht in Frage gestellt werden. Doch gegen seine zugrunde liegende Fragestellung und seine Interpretation, es gebe keinen freien Willen, möchte ich zweierlei anführen. Erstens ist Freiheit als Vermögen der menschlichen Vernunft die notwendige Bedingung dafür, überhaupt Naturgesetze erkennen und empirische Hirnforschung betreiben zu können. Zweitens ist diese Freiheit eine transzendentale und damit kein Gegenstand in Raum und Zeit; sie lässt sich darum nicht einem bestimmten Zeitpunkt zuordnen, auch nicht dem Zeitpunkt, an dem im empirischen Bewusstsein das Gefühl auftritt, eine Entscheidung getroffen zu haben.

Freiheit als Bedingung a priori von Naturwissenschaft überhaupt Der Erste Punkt richtet sich gegen die Vorstellung, dort, wo Erscheinungen als durch Naturgesetze nach einer notwendigen und allgemeinen Regel verknüpft erkannt werden, könne es keine Freiheit geben. Ein Naturgesetz benennt ein bestimmtes Kausalverhältnis in der Natur, also eine Regel, nach der eine Erscheinung auf eine andere mit Notwendigkeit folgt. Wäre die Folge der einen Erscheinung auf die andere bloß zufällig, 4 Vgl. Gerhard Roth, Fühlen, Denken, Handeln, 519.

FREIHEIT ALS BEDINGUNG A PRIORI VON NATURWISSENSCHAFT ÜBERHAUPT

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ließe sich kein Gesetz formulieren, und ohne Regel, die notwendig gilt, ließe sich kein Zusammenhang von Erscheinungen allgemein formulieren, also kein Naturgesetz aufstellen. Da Kausalität die Art ist, nach der Erscheinungen gesetzmäßig miteinander verbunden werden, kann sie nicht aus der Erfahrung stammen. Erfahrbar ist das zeitliche Nacheinander der Erscheinungen, doch ihre kausale Verknüpfung ist eine Verstandesleistung, keine Leistung der Sinne. Hieraus ergibt sich das Problem, wie die kausale Verknüpfung von Erscheinungen überhaupt zu rechtfertigen sei, da die kausale Gesetzmäßigkeit mit ihrer notwendigen Allgemeinheit, die Erkenntnisse der Naturgesetze zur Naturwissenschaft macht, eine bloß gedachte ist. Als Erfahrungssatz ließe sich nur formulieren, dass beispielsweise alle schweren Körper, soweit wir wissen, bislang zu Boden gefallen sind, aber dieser Satz taugt nicht zu einem Gesetz, da er keine Notwendigkeit, sondern bloß komparative Allgemeinheit enthält. Da es jedoch offenkundig möglich ist, Naturwissenschaft zu betreiben und notwendige und allgemeine Naturgesetze zu formulieren (die technische Entwicklungen ermöglichen und sich hierin auch praktisch beweisen), muss die Kausalität, nach der die Erscheinungen als regelhaft verbunden erkannt werden können, einen anderen Ursprung als unsere Erfahrung haben; mehr noch: sie muss die Erfahrung davon, dass Erscheinungen einander nach einer Regel folgen, erst ermöglichen. Wir denken alle Erscheinungen als bestimmt in ihren Relationen mit anderen Erscheinungen. Da diese Verbindung der Erscheinungen in einem Kausalzusammenhang nicht von der Erfahrung abgeschaut werden kann, sondern vielmehr die Art bestimmt, in der uns Dinge erscheinen - nämlich in Relation stehend - muss die Kategorie der Kausalität vor aller Erfahrung unserem Verstand entspringen. Damit gilt für alle möglichen Erscheinungen, dass ihre Verhältnisse durch die Kategorien der Relation (Substanz und Akzidenz, Kausalität und Wechselwirkung) a priori verfasst sind. Es ist darum kein Gegenstand der Erfahrung möglich, für den, wenn er in die Zeitreihe mit anderen gestellt wird, nicht das allgemeinste Naturgesetz von Ursache und Wirkung gelten würde, denn diese Verknüpfung ist eine apriorische Konstitution durch den Verstand, die sich der Spontaneität des Verstandes verdankt. Sie ist konstitutiv fiir die erkannten Objekte und kann dem Verstand nicht erst durch Erfahrung gegeben werden, weil sie die Bedingung der Erfahrung von in bestimmten Relationen verbundenen Erscheinungen ist. Damit ist sie die Bedingung der Erfahrung von bestimmten Erscheinungen überhaupt. Diese Spontaneität des Verstandes, durch reine Verstandesbegriffe a priori Erkenntnis der Natur nach Gesetzen zu ermöglichen, ist eine Verstandestätigkeit, die als Grund der Kausalität nicht ihrerseits wiederum kausal begründet werden kann - denn die Tätigkeit des Verstandes ist selbst keine Erscheinung, sondern aus der Weise, wie uns die Erkenntnis von Erscheinungen möglich ist, erschlossen. Darum fällt die Tätigkeit des Verstandes und damit auch die Kausalität nicht unter die Erscheinungen und kann also nicht durch eine Ursache in den Erscheinungen ihrerseits bewirkt sein, sondern muss als aus Freiheit gesetzt angenommen werden.

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Die Freiheit ist in diesem Sinne ein notwendiger metaphysischer Gegenstand, erschlossen durch transzendentale Reflexion als Bedingung der Möglichkeit der Tätigkeit des Verstandes. Transzendentale Gegenstände sind notwendig zu denken, können jedoch niemals empirische Gegenstände möglicher Erfahrung sein. Sie sind damit keine möglichen Gegenstände der Naturwissenschaften. Sie sind jedoch denknotwendige Gegenstände, d. h. sie sind keine willkürlichen Gegenstände esoterischer oder religiöser Schwärmerei, sondern als Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt notwendige Begriffe der Vernunft und damit auch notwendige Bedingungen der Möglichkeit von Naturwissenschaften. Die Kategorie der Kausalität, nach der alle Erscheinungen verknüpft sind, ist also nicht ohne die Spontaneität des Verstandes, und diese ist keine Erscheinung und nicht Wirkung von Erscheinungen. Wird nun, wie es jede Naturwissenschaft tut, von Naturgesetzen ausgegangen, die für alle Erscheinungen notwendig und allgemein gelten, so ist aus den kausal verknüpften Erscheinungen erschlossen, dass der Tätigkeit des Verstandes eine Verursachung aus Freiheit zugrunde liegen muss, die als Bedingung der kausalen Verknüpfung von Erscheinungen diesen logisch vorgeordnet sein muss und darum nicht selbst wiederum kausal verursacht sein kann. Daraus, dass wir Erscheinungen kausal verknüpfen und damit erst denken und erkennen können, wird auf das Moment der Freiheit im tätigen Verstand geschlossen. Denn als Bedingung der Möglichkeit des durchgängigen Zusammenhangs der Erscheinungen wird die konstituierende Tätigkeit des Denkens erkannt, die selbst keine Erscheinung sein kann und darum nicht Teil des Kausalnexus der Natur als des Inbegriffs der Erscheinungen ist, sondern ihn allererst ermöglicht. Hieran wird deutlich, dass d i e U n i v e r s a l i t ä t d e r N a t u r g e s e t z e d i e F r e i h e i t n i c h t e l i m i n i e r t , s o n d e r n sie im G e g e n t e i l v o r a u s s e t z t , so dass in der Reflexion auf die Bedingung der Möglichkeit von Naturerkenntnis auf das Moment der Freiheit in der Spontaneität des tätigen Verstandes geschlossen werden muss. Das ist allerdings eine andere Bestimmung der Freiheit als der Impuls zu einzelnen raumzeitlichen Handlungen wie dem Beugen des rechten Zeigefingers oder der rechten Hand, was Untersuchungsgegenstand des Libetschen Experiments war. Dieser Schluss auf die Freiheit als eine notwendige Bedingung, die uns das Erkennen von Naturgesetzen erst ermöglicht, zeigt die menschliche Freiheit in einer Abstraktheit, die weit von dem entfernt ist, was Libet in seinem Experiment als subjektiven Impuls des Entscheidens zu einem bestimmten Zeitpunkt messen wollte. Dem Experiment liegt die Vorstellung von Freiheit als etwas zeitlich Konkretem zugrunde, das nicht als Ursprung der Kausalität, sondern vielmehr selbst als Erscheinung in dem Kausalzusammenhang der Natur betrachtet wurde. Das Ergebnis des Experiments präsentierte diesen Impuls, sich zu entscheiden, dann nicht als Ursache, sondern als Wirkung, was nicht weiter verwundert, weil a priori klar ist, dass jede Erscheinung in Raum und Zeit Wirkung einer vorhergehenden Erscheinung sein muss, da sie sonst ohne Relation wäre und damit nicht mögliche Erscheinung.

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Libet selbst stand dem Ergebnis seiner Forschung kritisch gegenüber, war es doch sein ursprüngliches Ziel, zu beweisen, dass es einen freien Willen des Menschen gibt, der auf das Gehirn wirkt. Er hat auch nach seinem Experiment niemals explizit selbst die These vertreten, es gebe keinen freien Willen. Vielmehr hat er problematisiert, dass der Willensprozess unbewusst eingeleitet werde, „und zwar etwa 400 ms bevor die Versuchsperson sich ihres Willens oder ihrer Handlungsabsicht bewusst wird." 5 Trotz des Ergebnisses seines Experiments versuchte Libet in der Interpretation, einen Teil dessen, was gemeinhin unter dem freien Willen verstanden wird, zu retten. „Der bewusste Wille könnte entscheiden, dass der Willensprozess sich vollenden und zu einer motorischen Handlung fuhren soll. Oder er könnte den Prozess blockieren bzw. ein ,Veto' einlegen, so dass keine motorische Handlung stattfindet." 6 Die Möglichkeit, eine Bewegung nach dem Auftreten des Bereitschaftspotentials willentlich zu blockieren, so dass es nicht zu einer motorischen Reaktion kommt, wurde von Libet .nachgewiesen', indem er ein Bereitschaftspotential messen konnte, dem keine motorische Handlung folgte. So seien wir zumindest frei, nicht zu handeln. Dass eine Wirksamkeit des Willens in dieser Konstruktion eines ,Vetos' empirisch nachweisbar sein soll, weil etwas n i c h t geschieht, liegt daran, dass ein Zeitpunkt, der k e i n e r Handlung vorausgeht, nicht mess- oder bestimmbar ist. Darum ist dem ,Veto' auch keine zeitlich vorhergehende neuronale Aktivität zuzuordnen, die als Korrelat des Willens zum Nichthandeln identifizierbar sein könnte. Der Sache nach verlagert Libet hier seine vermeintliche Freiheit lediglich, das Problem der Vorstellung einer raumzeitlichen Einwirkung im Gehirn aus Freiheit bleibt jedoch unverändert bestehen. Dass der Wille auch eine Handlung bewirken (und nicht bloß eine solche verhindern) könne, sei Libet zufolge jedoch empirisch nicht nachzuweisen. Dennoch bemüht er sich, einen Raum zur Spekulation über einen positiv wirkenden freien Willen zu lassen. „Das Gefühl, dass wir die Willenshandlung eingeleitet haben, kann jedoch nicht richtig sein; wir sind uns dessen nicht bewusst, dass der Prozess tatsächlich unbewusst stattfindet. Andererseits ist es möglich, dass der bewusste Wille als ein Auslöser wirkt, um der unbewusst vorbereiteten Initiative zu ermöglichen, zur Hervorbringung der Handlung voranzuschreiten. In diesem Fall würde das bewusste Gefühl, dass wir die Willenshandlung eingeleitet oder hervorgebracht haben, die Wirklichkeit widerspiegeln; es wäre dann keine Illusion." 7 Diese These, dass unser Wille den unbewusst eingeleiteten Handlungen noch zustimmen müsse, bevor sie ausgeführt werden (die Negation des ,Vetos'), lässt sich empirisch nicht überprüfen und bleibt also spekulativ. Sie erhellt jedoch einmal mehr den Freiheitsbegriff, der Libets Forschungen zugrunde liegt: freier Wille als ein Vermögen, das im Gehirn mit neuronalen Prozessen in physikalischer Wechselwirkung steht, ohne

5 6 7

Benjamin Libet, Mind time. Wie das Gehirn Bewusstsein Benjamin Libet, Mind time, 177. Benjamin Libet, Mind time, 185.

produziert,

Frankfurt a. M. 2005, 159.

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dabei selbst jedoch etwas Physisches zu sein; etwas, das in naturkausale Prozesse veränderlich eingreift, ohne jedoch selbst den Naturgesetzen zu unterliegen. Was an Libets Experiment zu kritisieren ist, ist seine besondere Formulierung des Freiheitsbegriffs, auf welche seine Fragestellung und damit das Arrangement des Experiments zurückgeht. Libet ist Dualist, der den freien Geist als eine Entität dachte, ähnlich wie Popper und Eccles es in ihrem gemeinsamen Buch Das Ich und sein Gehirn8 darstellen. Er glaubt an die Existenz einer geistigen Sphäre, in der der freie Wille residiere und welche in Wechselwirkung mit der materiellen Welt stünde, derart, dass dieser Geist aus seiner Sphäre heraus auf das Gehirn einwirken könne. Der Aufbau seines Experiments war darauf ausgerichtet, diese Einwirkung durch ihre zeitlich exakte Verortung zu zeigen. Wenn Libet mit seinem Experiment hätte zeigen können, dass der im Bewusstsein identifizierbare ,Willensruck' dem neuronal messbaren Bereitschaftspotential vorausgeht, wie er es gehofft und wohl auch erwartet hatte, dann, so schreibt Roth, 9 hätten die Verteidiger der Willensfreiheit Grund zum Frohlocken gehabt. Dies ist jedoch nicht richtig. Angenommen, das Libetsche Experiment wäre im gehofften Sinne verlaufen. Das Bewusstsein, eine Willensentscheidung getroffen zu haben, wäre ζ. B. 300 bis 500 Millisekunden vor dem symmetrischen Bereitschaftspotential vorhergegangen, anstatt ihm zu folgen. Die Freiheit wäre dann zu einem bestimmten Zeitpunkt als Wille aktiv geworden und ihre Wirkung wäre anschließend im neuronalen Material als Bereitschaftspotential sichtbar geworden. Der freie Wille, so die neurophysiologische Interpretation, wäre dann die Ursache, die - vielleicht aus einer anderen Dimension heraus, welche entweder prinzipiell unserer Physik unzugänglich ist oder mit den bislang entwickelten physikalischen Verfahren nicht gemessen werden kann - direkt auf das Gehirn wirkt und elektrochemische Zustände beeinflusst. Doch gerade ein solches Ergebnis hätte letztendlich zu dem Schluss fuhren müssen, dass es keine Freiheit im philosophischen Sinne geben könne. Denn ein Ideelles - die Freiheit der Vernunft wäre zumindest indirekt als ein physikalisches Phänomen in kausalen Naturzusammenhängen identifiziert worden. Als Wechselwirkendes wäre es jedoch kein Ideelles, sondern als ein Physikalisches erkannt, das nur als kausal mit den neuronalen Erscheinungen im Gehirn verbunden gedacht werden könnte; Ursachen und Wirkungen müssen notwendig kausal verbunden gedacht werden, sonst macht der Begriff von Ursache und Wirkung keinen Sinn. Was mit anderen Erscheinungen in kausalem Zusammenhang steht, ist jedoch Erscheinung, gehört also zur Natur und ist durch das Kausalverhältnis determiniert, weil es Teil des Kausalverhältnisses ist und so nicht zugleich Bedingung seiner Möglichkeit sein kann. Man hätte mit einem Experiment, das den Willensentschluss vor dem Bereitschaftspotential verortet und dann aufgrund der Zeitabfolge letzteres als kausal aus dem ersteren folgend interpretieren muss, eine Ursache, die in Raum

8 Vgl. Popper/Eccles, Das Ich und sein Gehirn. 9 Vgl. Gerhard Roth, Fühlen, Denken, Handeln, 519.

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und Zeit kausal wirksam wäre (also eine Naturursache), an die Stelle eines ideellen Grundes gesetzt. Damit wären Tätigkeit und Spontaneität der Vernunft für null und nichtig erklärt, denn an ihre Stelle träte ein heteronomer Grund unserer Handlungen, welcher, wäre Libets Experiment in seinem Sinne gelungen, lediglich in anderen - vielleicht unerkennbaren, vielleicht mit heutiger Technik noch nicht messbaren - Naturursachen als den neuronalen Verbindungen unseres Gehirns liegen müsste. Jeder Versuch, die Existenz von Willensfreiheit naturwissenschaftlich zu beweisen, stützt darum die These von Roth, Singer und anderen Hirnforschern, es gäbe keinen freien Willen. Die Willensfreiheit, wenn sie denn ein Gegenstand empirischer Untersuchungen sein soll, wird gleichgesetzt mit Aktionen wie ,die Hand heben', ,vom Stuhl aufstehen' oder ähnlichen Aktionen, die sich im Rahmen eines Experiments kontrolliert wiederholen und durchführen lassen. Hierbei lässt sich notwendig zeigen, dass solche Vorgänge naturkausal determiniert sind, weil sie sämtlich Erscheinungen sind. Die gegenteilige Annahme einer immateriellen, nichtphysischen Ursache, die eine Wirkung in den Erscheinungen (die den Naturgesetzen unterliegen) habe, stellte mit den naturwissenschaftlichen Erklärungen zugleich die Möglichkeit von Naturwissenschaft überhaupt in Frage. 10

Freiheit ist kein Gegenstand empirischer Wahrnehmung Doch was zeigt Libets Experiment, wenn nicht das Verhältnis von der Freiheit des Geistes zu den naturkausalen Prozessen unseres Gehirns? Denn er misst zwei Zustände und er misst die Zeitpunkte ihres Eintretens, wodurch er beide Zustände in ein zeitliches Verhältnis zueinander setzen kann. Der eine Zustand ist das durch eine EMG (Elektromyographie) messbare Bereitschaftspotential, das den Beginn einer Körperbewegung kennzeichnet. Der andere Zustand ist das Gefühl der Versuchsperson, sich jetzt entschieden zu haben, der gemessen wird indem die Versuchsperson sich den Zeitpunkt des Entscheidens auf der Oszilliskop-Uhr merkt und ihn mitteilt. Was soll dieses Gefühl des Sich-entschieden-habens für ein Zustand sein, wenn nicht ein Zustand der Freiheit? Diese Frage führt zu dem zweiten Einwand gegen die gängige Interpretation des Libetschen Experiments: Oben wurde der Begriff der Freiheit negativ gefasst als ein nichtkausal-Bestimmtes; Freiheit wurde als notwendige Bedingung der Kausalität erschlossen. Diese Freiheit ist eine transzendentale und damit kein Gegenstand in Raum und Zeit; sie lässt sich darum nicht einem bestimmten Zeitpunkt zuordnen, auch nicht dem Zeitpunkt, an dem das Gefühl auftritt, eine Entscheidung frei getroffen zu haben. Doch diesen Zeitpunkt gibt es.

10 Vgl. Kapitel 1.

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Was genau wird also in zeitlicher Relation gemessen? Eine neuronale Aktivität, von der man annehmen kann, dass sie den Anfang des nervösen Zustandes darstellt, der eine Bewegung auslöst, und das Gefühl, eine Entscheidung getroffen zu haben, werden in zeitliche Relation gestellt. Das Gefühl, sich entschieden zu haben, ist selbst kein Akt aus Freiheit, sondern stellt sich zunächst als ein diesen Akt begleitendes Gefühl dar. Ein Gefühl wird nicht transzendental erschlossen, es ist auch nicht deduzierbar, sondern es wird unmittelbar wahrgenommen, es wird gefühlt. Es ist damit nicht der Gegenstand selbst, sondern eine Wahrnehmung eines Gegenstandes - im Falle des Entscheidens keine äußere Wahrnehmung, sondern eine Affektation des inneren Sinnes. Wenn Libet implizit oder Popper und Eccles explizit den freien Geist oder das Ich als etwas auffassen, das zwar nicht räumlich, aber eindeutig zeitlich bestimmt ist, dann beziehen sie sich auf den stream of consciousness, den Strom des Bewusstseins, der das Nacheinander der Vorstellungen im empirischen Selbstbewusstsein ist oder die Erste-PersonPerspektive ausmacht. Keine logische Bestimmung der Freiheit, wie sie im Vorhergehenden angeführt wurde, sondern ein psychologischer Zustand des freien Willens sollte in Libets Experiment in seiner zeitlichen Relation zu Gehirnzuständen untersucht werden. Die Erste-Person-Perspektive, in welcher ein Proband in Libets Experiment zu einem bestimmten Zeitpunkt das Gefühl hatte, sich jetzt entschlossen zu haben, den Zeigefinger zu beugen, ist die auf das subjektive Moment reduzierte Perspektive des empirischen oder psychologischen Ich. Das empirische Bewusstsein ist nun in der Tat ein zeitliches. Zeit ist kein Gegenstand der Erfahrung, sie ist eine Form der Anschauung und damit Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung. Zeit ist eine Weise, in der uns alle Erscheinungen gegeben werden: als nacheinander oder zugleich. 11 Dasjenige, was in der Zeit vorgestellt wird, ist Erscheinung. Dies gilt sowohl für materielle Dinge, die uns durch die äußere Wahrnehmung gegeben werden, als auch für Gedanken und Gefühle, die unsere innere Anschauung in zeitlicher Folge erlebt. Wenn die Freiheit keine Erscheinung ist, wie oben dargestellt wurde, dann ist sie auch nicht etwas, das in der Zeit Gegenstand der inneren oder äußeren Anschauung sein kann. Dies bedeutet: Die Freiheit ist nicht nur in der DrittenPerson-Perspektive nicht mit Methoden der empirischen Wissenschaft zu erkennen, sondern die Freiheit ist auch der unmittelbaren inneren Anschauung in der Ersten-Person-Perspektive kein möglicher Gegenstand. Die Zeit wird nicht selbst wahrgenommen, sondern Erscheinungen werden in der Zeit, also durch die Form des Nacheinander- oder Zugleichseins, geordnet. Die Zeit ist nicht Inhalt der Anschauung, sondern ihre Form und als solche Teil oder Moment jeder 11 Die Zeit als wirkliches Ding, als eine ,absolute Realität' zu behaupten, führte auf den Widerspruch, die Zeit als Ding in der Welt zu behaupten und zugleich als dasjenige, was diese vollständig in sich fasst. Die Zeit wäre so doppelt gedacht: Als Ding in der Zeit und als dasjenige, in dem alle Erscheinungen als zeitliche enthalten sind. Diese Vorstellung der Zeit als eines Dinges würde sie zu einem nur widersprüchlich zu denkenden Unding machen. (Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β 56).

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Erscheinung, nicht jedoch eine Eigenschaft an dem angeschauten Gegenstand. 12 Die Zeit ist nicht in der Erfahrung des Gegenstandes zu finden, ist nichts, was wahrgenommen werden könnte wie die Temperatur o. Ä., sondern ist Form der Wahrnehmung. Darum ist ein Chronometer auch kein Messgerät, das einen Zustand des Materials bestimmte, wie ein Thermometer es tut, sondern eine Apparatur, die geeignet ist, Abstände identischer Dauer zu setzen. Die Zeit ist die Form jeder Anschauung, innerer wie äußerer, denn jede Affektation muss als Prozess der Empfindung selbst im Gemüt wahrgenommen, also letztlich durch den inneren Sinn gefasst werden, um für uns zu sein. Jede Vorstellung hat eine Zeit, so wie jeder ausgedehnte Gegenstand einen Ort und eine Zeit hat. Die Anschauung ist immer etwas, was auf uns einwirkt, d. i. unsere Sinne affiziert. Anschauung muss uns gegeben werden. Sie kann nicht erschlossen oder aus anderem abgeleitet werden, sondern sie wird unmittelbar wahrgenommen. Darum ist jede Anschauung, innerer wie äußerer Gegenstände, auf die Sinnlichkeit verwiesen. Wenn wir uns selbst innerlich anschauen - unsere Vorstellungen, Gedanken und Gefühle betrachten - , so kann diese Anschauung keinen Ort haben, weil sie nicht auf Äußeres und damit nicht auf Räumliches gerichtet ist. Da die innere Anschauung aber als Anschauung sinnlich vermittelt ist, hat sie eine Zeit. Alle Anschauungen, auch die des inneren Sinnes, werden in Verhältnissen der Zeit vorgestellt. Der innere Sinn ist die Selbstwahmehmung des Geistes, nota bene nicht als Reflexion, sondern als das Wahrnehmen des Denkens und Vorstellens. Dies heißt, dass Vorstellungen (Gedanken und Gefühle) Gegenstände einer inneren Wahrnehmung sind. Nur weil Gedanken und Gefühle in der Zeit sind, können sie angeschaut werden. Hierbei ist nicht die Seele oder der Geist oder das Bewusstsein als Objekt Gegenstand der Anschauung, sondern seine Zustände. 13 Damit sind diese als die subjektiven Zustände des empirischen Bewusstseins zeitlich bestimmt, nicht jedoch selbst ,der Geist' oder ihre Einheit. Sie sind Zustände im steam of consciousness. „Die Zeit ist also lediglich eine subjektive Bedingung unserer (menschlichen) Anschauung (welche jederzeit sinnlich ist, d. i. so fern wir von Gegenständen affiziert werden), und an sich, außer dem Subjekte, nichts. Nichts desto weniger ist sie in Ansehung aller Erscheinungen, mithin auch aller Dinge, die uns in der Erfahrung vorkommen können, notwendiger Weise objektiv." 14 Zeit ist in Ansehung aller Erscheinungen objektiv, nicht jedoch für die Dinge an sich selbst. Sie ist objektiv, weil sie notwendige und allgemeine Form unserer Anschauung

12 Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, § 4, Β 46. 13 „Vermittelst des äußeren Sinnes stellen wir uns Gegenstände als außer uns, und diese insgesamt im Räume vor. [...] Der innere Sinn, vermittels dessen das Gemüt sich selbst oder seinen inneren Zustand anschauet, gibt zwar keine Anschauung von der Seele selbst, als einem Objekt; allein es ist doch eine bestimmte Form, unter der die Anschauung ihres innem Zustandes allein möglich ist, so, daß alles, was zu den innem Bestimmungen gehört, in Verhältnissen der Zeit vorgestellt wird." Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β 37. 14 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β 51.

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ist. Sie ist nicht Teil unseres Denkens (also auch nichts Konstruiertes oder Ausgedachtes, über das wir uns täuschen könnten), sie ist auch nicht apriorische Form unseres Denkens, sondern Form der Anschauung a priori; sie wird uns m i t dem Gegenstand der Erscheinung gegeben, n i c h t d u r c h den Gegenstand der Erscheinung. Uns kann kein Gegenstand gegeben werden, der nicht zeitlich ist. Denn Gegenstände werden uns durch Affektation der Sinne in der Anschauung gegeben, nicht allein gedacht, und werden uns so als zeitliche, d. i. in der Zeit, gegeben. Darum ist sie etwas Wirkliches (obgleich kein Gegenstand der Anschauung, sondern ihre Form), „nämlich die wirkliche Form der innera Anschauung". 15 Sie ist wirklich, weil sie die Form des Gebens wirklicher Gegenstände ist. Das heißt, Zeit hat transzendentale Idealität: Sie ist nicht wirklich als Objekt, sondern wirklich als die Vorstellungsart meiner selbst als Objekt. Ich erfahre mich selbst nicht unmittelbar, nicht in einem göttlichen Schauen, sondern via Sinnlichkeit. Ich nehme mich durch den inneren Sinn wahr - als etwas, das mir so zugleich in der Anschauung gegeben wird. Meine Bestimmungen meiner selbst können darum nicht anders als zeitlich sein. In der Erfahrung meiner selbst durch den inneren Sinn nehme ich mich selbst wahr, als Objekt. Anders könnte ich mich gar nicht wissen. Menschen erkennen sich als Subjekt nur, indem sie sich als Objekt betrachten. Ich muss mich als Objekt betrachten, um mich als Subjekt bestimmen zu können. Hierbei sind Subjekt und Objekt zugleich als identisch und als unterschieden gesetzt. Das empirische Ich erfindet sich nicht spontan. Es muss (sich) gegeben werden, so wie jeder Gegenstand möglicher Erfahrung gegeben werden muss: durch Sinnlichkeit. 16 Dies bedeutet, dass das Gemüt das Gemüt berühren muss, es muss hierin ein Moment der Passivität, des Affiziertwerdens, geben. Als bloße Aktivität des Geistes: „Ich stelle mich mir vor" könnte ich nicht bestimmen, wie ich mich mir vorstellen sollte, weil sich dann die Vorstellung nicht nach einer Wahrnehmung, also nicht nach einem schon Bestimmten, richten könnte. In meiner Vorstellung von mir muss also eine gewisse Sperrigkeit liegen als ein Gegenstand, der mir erscheint und den ich nicht spontan setzen oder nach meiner Willkür bestimmen kann, sondern der selbst schon eine gewisse Bestimmtheit mir vorgibt, welche mir in der Anschauung des inneren Sinns gegeben werden muss. Darum kann das empirische Subjekt nicht vollständig im Denken aufgehen oder mit ihm identisch sein. Es braucht die Differenz; das Moment der Fremdheit meiner selbst ist eine notwendige Bedingung des Erkennens meiner Selbst als eines empirischen Ichs. So ist es für das empirische Subjekt konstitutiv, sich selbst als Objekt gegenüberstehen zu können und sich sich selbst zu erscheinen. Solcherart Erkennen seines Selbst als eines Zeitlichen begründet zugleich, dass das empirische Bewusstsein nur als Prozess ist. Es ist darum immer in seiner Handlung, im Verbinden aller Vorstellungen als seiner Vorstellungen, nie als bloße Fähigkeit oder Vermögen zur Synthese, sondern es i s t d i e H a n d l u n g d e s S y n t h e t i s i e -

15 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β 53. 16 Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β 68.

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r e η s . Selbstbewusstsein und Selbstwahrnehmung durch einen inneren Sinn sind also nicht ein und dasselbe, sondern Unterschiedene. Das letztere ist in der inneren Anschauung, das erstere ist transzendentale Bedingung des Synthetisierens. Dieses Synthetisieren muss selbst wiederum eine Sperrigkeit enthalten, die Gegenstand der inneren Anschauung sein kann, um als nichtidentisches Moment im Identischen zu ermöglichen, dass Bewusstsein sich auf sich beziehen kann. „Er [der Verstand; C. Z.] also übt, unter der Benennung einer t r a n s z e n d e n t a l e n S y n t h e s i s d e r E i n b i 1 d u n g s k r a f t , diejenige Handlung aufs ρ a s s i v e Subjekt, dessen V e r m ö g e n er ist, aus, wovon wir mit Recht sagen, daß der innere Sinn dadurch affiziert werde." 17 Es ist hierbei nicht nur das Subjekt, das auf sich selbst wirkt. Das Subjekt bestimmt sich über das Vermögen zu synthetisieren und so eine Anschauung als eine und als seine eigene zu fassen. Diese Handlung des Synthetisierens ist durch die Einbildungskraft selbst als ein G e g e η s t a η d zu fassen. Die Anschauung, die hierbei entsteht, ist also nicht bloß Moment im dialektischen Prozess der Identität von Identität und Nichtidentität, sondern Verharrendes, das nicht im Prozess aufgeht und nicht als Moment vollständig in ihn eingeht, sondern sich durchgängig als Eigenständiges behauptet. In der reflexiven Verstandeshandlung fasst die transzendentale Einbildungskraft sich selbst als Vorstellung ihrer selbst zusammen. Diese Vorstellung geht nicht in das Verhältnis und die Bewegung von Aktivität und Passivität ein. Sie beharrt; sie ist permanentes Resultat des Prozesses, aber nicht Teil des Prozesses. Das Selbstbewusstsein des empirischen Subjekts ist hier also nicht leeres Prozessieren, sondern das Herstellen von einer gegen den Prozess eigenständigen beharrenden Vorstellung, etwas zu Erinnerndes, in dem auf den Zustand des Subjekts (nämlich das Resultat des Prozesses) zu einem Zeitpunkt zurückgegangen werden kann. Diese Vorstellung ist ein Gegenstand für den inneren Sinn. Sie kann wahrgenommen werden. Hierdurch bekommt das Subjekt die Bestimmtheit, nach der oben gefragt wurde - eine Bestimmtheit, die mehr enthält als die bloße Identität mit sich selbst. Denn die Selbstvorstellung darf nicht bloß selbstreflexiv sein, sonst wäre sie keine bestimmte Vorstellung, sondern sie muss etwas sein, was als Beharrliches neben dem transzendentalen und für sich nicht wahrnehmbaren Reflexionsprozess wahrgenommen werden kann. Nur dadurch erhält sie einen bestimmten, empirischen Gehalt. Würde unser Selbstbewusstsein nicht selbst wahrnehmungsfähig sein, wären wir uns unserer selbst nicht bewusst, weil das Bewusstsein von uns keinen Inhalt irgendwoher nehmen könnte. Darum ist die synthetische Einheit der Apperzeption nicht mit dem inneren Sinn identisch und kann es nicht sein. 18 17 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β 153 f. 18 Weder die Apperzeption noch der innere Sinn können uns für sich genommen ein inhaltlich bestimmtes Selbstbewusstsein geben. Denn die Apperzeption enthält bloß die Form zur Bestimmung von Objekten überhaupt, der innere Sinn dagegen ist Form der Anschauung. Die Frage war nun, wie zwei Formen einen Inhalt gebären können. An dieser Stelle wurde ein weiteres Vermögen wichtig, das Vermögen der figürlichen Synthesis durch die transzendentale Einbildungskraft. Diese Wendung ist a

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Zentral ist die Einsicht, dass, indem das Bewusstsein der Bestimmung der Anschauung als eine Vorstellung von etwas aus seinen Formen einen es selbst affizierenden Gegenstand schaffen kann, es damit sich als einen eigenständigen, an sich bestimmten Inhalt erzeugt. Nur hierin hat das Selbstbewusstsein etwas, dessen es sich bewusst werden kann. Dass es spürt: Ich denke. Also kann es auf die Handlung seines Synthetisierens nur über seine Sinnlichkeit zurückgreifen. Nur so kann es sich wahrnehmen und sich nur darum als empirisches wissen. Das bedeutet zugleich, dass ihm sein Vermögen der Spontaneität des tätigen Verstandes, sein Vermögen aus Freiheit, nicht unmittelbar bewusst sein kann, sondern nur vermittelt über die innere Anschauung und die Reflexion ihrer Bedingungen. Dies soll keinesfalls die Zeitverzögerung des bewussten Willensentschlusses in Libets Experiment erklären - denn die Vorstellung, dieser theoretisch komplexe Vorgang würde erklären, warum es wohl mindestens eine halbe Sekunde dauert, bis wir unsere eigene Entscheidung aus Freiheit wüssten, enthält den Fehler, die dargestellte Reflexion des Verhältnisses von Anschauen durch den inneren Sinn und Synthesis der Apperzeption ihrerseits zu einem Anzuschauenden machen zu wollen. Hierbei würde ein transzendentales Vermögen hypostasiert zu einer transzendenten Entität, einem Geist als übergeordnetem Akteur jenseits des stream of consciousness. Die entstehenden Probleme einer logischen Unmöglichkeit der exakten zeitlichen Verortung eines Aktes der Freiheit im empirischen Bewusstsein zwingen vielmehr zu der Annahme, dass am Bewusstsein ein transzendentales, logisch vorgeordnetes Moment ist. Aufgrund von empirischen Bedingungen muss so auf etwas geschlossen werden, das selbst nicht phänomenal ist. Dieses etwas kann also nur als transzendentales begriffen werden. Bewusstsein kann nur begriffen werden, wenn es nicht (nur) als Phänomen verstanden wird. Das empirische Bewusstsein beruht als sinnliches Bewusstsein auf einer Affektation. Es ist „insofern etwas Relatives, als es auf ein Affizierendes bezogen ist, das einen Einfluss auf die Sinnlichkeit ausübt. Das aber bedeutet für das Selbstverhältnis, daß sich das Ich in seiner eigenen Tätigkeit nur mittelbar durch eine Wirkung dieser Tätigkeit auf sich selbst, auf seinen inneren Sinn und die darin gegebenen Vorstellungen bekannt ist. Das Bewußtsein auch des tätigen und spontanen Ich kann demnach nicht das Bewußtsein eines Absoluten, d. h. eines Dinges an sich sein, sondern nur das relative, sinnlich bedingte Bewußtsein einer Erscheinung." 19 Die transzendentale Einheit der Apperzeption ist nicht dasjenige, was wir als unser Bewusstsein erfahren, sondern ist als ,ich denke', das alle unsere Vorstellungen begleiten können muss, die Bedingung dafür, dass wir uns als bestimmte selbst erfahren priori durch das Moment der transzendentalen Wahrnehmung zugleich auf die Empirie verwiesen, darum muss Kant an dieser Stelle das Vermögen der Einbildungskraft heranziehen. Ob das Problem bei Kant hiermit gelöst oder nur in dieses andere Vermögen verlagert ist, soll hier nicht erörtert werden. 19 Karin Michel, Untersuchungen zur Zeitkonzeption in Kants Kritik der reinen Vernunft, Berlin, New York 2003, 230 f.

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können. Das reine Ich als bloß intellektuelle Vorstellung hat keine korrespondierende Anschauung und daher auch keine Bestimmtheit in Prädikaten. Es ist darum nicht ein bestimmtes Bewusstsein einer bestimmten Person, sondern die logisch erschlossene Bedingung für jedes empirische Bewusstsein, das sich in der Anschauung seiner in der Zeit gegebenen Inhalte auf sich bezieht und sich hierüber sich selbst als prädikativ bestimmbares Objekt vorstellt. Daraus, dass das empirische Bewusstsein nur als zeitlich bestimmtes ist, erschließt sich seine Phänomenalität. Indem das Denken nur als bestimmtes Denken in seinen Inhalten empirisch wirklich ist, diese Inhalte aber stets als durch den inneren Sinn wahrgenommene etwas Gegebenes sind, ist es durch diese gegebenen Inhalte bestimmt. Die Freiheit ist nicht in diesen Inhalten gegenwärtig und hierüber erfahrbar, sondern durch Reflexion auf die Bedingungen dieser Inhalte e r s c h l o s s e n . Hier wird das Ich nach seiner Funktion als logisches Subjekt bestimmt, das sich als transzendentale Bedingung aller Gedanken unabhängig von allen durch Anschauung gegebenen Prädikaten als Einheit allen Denkens bewusst ist. Dieses inhaltlich unbestimmte, nur formale Bewusstsein ist als transzendentale Einheit der Apperzeption jenseits von Erfahrung denknotwendige Bedingung der Einheit, in die alle bestimmten Vorstellungen und Gedanken als im empirischen Selbstbewusstsein erfahrene fallen können müssen. Es ist so der transzendentale Zusammenhang aller möglichen Inhalte des Bewusstseins; erst über diesen Zusammenhang kann Bewusstsein sich konstituieren. Freiheit beweist sich als praktische durch die Tat, durch das Setzen eines Zweckes aus Freiheit, welcher Grund einer Handlung ist, die sich als Ursache einer Kausalreihe aus Freiheit setzt. 20 Der Grund dieser Tat liegt als Vermögen in der transzendentalen Einheit der Apperzeption, die Resultat der Reflexion und als solche logisch bestimmt ist, nicht aber als zeitlich bestimmbarer Gegenstand der inneren Anschauung im psychologischen Ich oder in der Ersten-Person-Perspektive erscheint. Der Affekt, der gemeinhin als ,Ich fühle mich frei' bezeichnet wird, geht darum auch nicht auf das Vermögen der Vernunft, sich selbst Zwecke zu setzen oder ein Gesetz zu geben, sondern ist gewöhnlich negativ gefasst als ein temporäres Frei-Sein von äußeren Zwängen. Deswegen befällt dieses Gefühl die Menschen vorzugsweise im Urlaub oder an Wochenenden. Nicht dort, wo sie mit wichtigen Entscheidungen ringen, sondern im Gegenteil dort, wo sie ihnen enthoben sind, fühlen Menschen sich frei. Dieses Gefühl im empirischen Bewusstsein darf nicht mit einem entwickelten Begriff von Freiheit als konstitutivem Moment des logischen Subjekts (logischen Ich) verwechselt werden. Diese Freiheit ist die erschlossene Bedingung des psychologischen Ich, welche solche Affekte wie ein sich-frei-fühlen erst ermöglicht, und darum nicht in ihnen erscheinen kann. Ausgangspunkt der neurobiologischen Forschung ist jedoch das Bewusstsein als Phänomen. Ein Phänomen ist etwas in Raum und Zeit. Die Untersuchung dieses Phänomens der Ersten-Person-Perspektive kann so höchsten zu einem kompatibilistischen Freiheitsbegriff führen (wie ζ. B. demjenigen von Hume), über den es bei Kant heißt:

20 Vgl. Immanuel Kant, Kritik der praktischen

Vernunft, Frankfurt a. M. 1997, A 3.

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FREIHEIT, ICH UND ZEIT

,,[W]enn Freiheit unseres Willens keine andere als [...] etwa die psychologische und komparative, nicht transzendentale, d. i. absolute, zugleich [...] wäre, so würde sie im 11

Grunde nichts besser als die Freiheit eines Bratenwenders sein, der auch, wenn er einmal aufgezogen worden, von selbst seine Bewegungen verrichtet." 22 Die Tat des Subjekts im Akt der Handlung wollte Libet in seinem Experiment zur Willensfreiheit untersuchen. Mag diese Tat Ausdruck - oder sogar in der Reflexion auf ihre Bedingungen Beweis - der menschlichen Freiheit sein, als zeitlich bestimmte ist die bewusste Entscheidung zur Handlung innere Erscheinung, und als Erscheinung Gegebenes und damit nicht unmittelbar als spontan aus eigener Freiheit Entspringendes anzunehmen. Als zeitlich bestimmte lässt die Entscheidung sich mit dem von Außen messbaren (nicht empfundenen) Bereitschaftspotential in eine zeitlich bestimmte Beziehung setzen. Das Bereitschaftspotential wiederum ist als äußere Erscheinung räumlich und zeitlich bestimmt und steht damit in notwendigem kausalem Zusammenhang mit anderen Naturgegenständen, erweist sich also auch in der theoretischen Reflexion nicht als frei, sondern als naturkausal bestimmt, wie alles an der Handlung, was äußere Erscheinung ist (naturwissenschaftlich erfassbar und messbar ist), durchgehend naturkausal nach Ursache und Wirkung verknüpft gedacht werden muss. Eine Verbindung zwischen Gehirn und Geist lässt sich nicht als eine Verbindung von Ursache und Wirkung, also als eine Verbindung gemäß der Naturkausalität, darstellen, weil Bewusstsein nicht mit einem raumzeitlichen Phänomen und als Einheit aller Vorstellungen auch nicht mit einem zeitlichen Geschehen im stream of consciousness gleichgesetzt werden kann. Das Verhältnis von Gehirn und Geist zu einem Verhältnis von empirisch bestimmten Ereignissen zu machen, wie Libet es in seinem Experiment versuchte, führt darum zwangsläufig zu mangelhaften Begriffen oder auf Widersprüche.

Grund und Ursache Konsequent ergibt sich aus der Verwechselung des transzendentalen Prinzips der Kausalität mit einer kausalen Bestimmtheit transzendentalen Vermögens eine Auflösung der Differenz von kausal bestimmten Ursachen und durch tätige Vernunft willentlich gesetzten Gründen. Die Ursache ist eine Bestimmung, die auf nach Naturkausalität verknüpfte Erscheinungen zutrifft. Ein Grund dagegen ist aus Freiheit gesetzt. Ursachen sind daher zeitlich bedingt, sie können nicht auf ihre Wirkung folgen, sondern müssen dieser vorhergehen. Gründe stehen dagegen unter keiner Zeitbedingung; wenn sie zwingend sind, sind sie logisch zwingend, nicht kausal notwendig. Durch die Tätigkeit des

21 Ein Bratenwender ist ein Grillspieß mit eingebauter Feder, welcher, wenn die Feder aufgezogen wurde, sich anscheinend von sich und durch sich selbst oder automatisch dreht. C. Z. 22 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A 174.

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GRUND UND URSACHE

empirischen Subjekts kann aus Gründen nach einer Zweckbestimmung eine Kausalkette von Ursachen und Wirkungen angefangen werden, als deren Resultat dann dasjenige erst entsteht, was das Subjekt als Grund veranlasste, jene Kausalkette zu beginnen. Zustände im empirischen Selbstbewusstsein können nun sowohl Ursachen als auch Gründe haben. Euphorie kann sich einem schönen Ereignis verdanken oder einer Stoffwechselstörung des Gehirns. Das Beugen des rechten Zeigefingers kann Reflex sein, Willkürmotorik, oder einen bewusst gesetzten Zweck verfolgen. Die verschiedenen Motivationen lassen sich im empirischen Bewusstsein nicht immer deutlich trennen, doch in ihren Prinzipien sind Ursachen und Gründe eindeutig voneinander unterschieden. Etwas, das Ursache ist, steht innerhalb einer naturgesetzlichen Kausalkette als Gegenstand in Raum und Zeit. Ein Grund (lat. ratio) ist eine Verstandesbestimmung zu einem Zweck. Laut Roth und Singer seien Gründe nachträgliche Rationalisierungen von Handlungen, die tatsächlich aus unbewussten Gehirnvorgängen resultierten. Roth beruft sich dabei auf Donald Davidson und vertritt mit ihm die These, dass Handlungserklärungen Kausalerklärungen seien. Die Differenz zwischen Ursache und Grund ist dann hinfallig, wenn die Ursachen von Handlungen naturkausal determiniert sind und die Gründe nur als nachträgliche Rationalisierungen erscheinen, als die ,bewusste Seite' der Ursachen oder als die Form, in der Ursachen uns subjektiv in der Erste-Person-Perspektive erscheinen. „Es handelt sich [bei Gründen und Ursachen; C. Z.] aus erkenntnistheoretischer Sicht um zwei Seiten desselben Gesamtprozesses, der nach heutigem Wissen deterministisch abläuft." 23 Wenn man Grund und Ursache unmittelbar in eins setzt oder sie als zwei Seiten desselben Gesamtprozesses ausgibt, wird aus einem intelligiblen Grund ein physischer Zustand, der physikalische Wirkungen zeitigt. Gründe und Ursachen haben eine verschiedene logische Struktur, deren Differenz nicht auf kausal verknüpften Erscheinungen abbildbar ist. Das macht eine immanente Argumentation gegen Roth an dieser Stelle schwierig: Denn weder sind Gründe ein empirisch fassbarer Untersuchungsgegenstand, noch kann bei der Ursache von dem ideellen Moment der Verknüpfung, geschuldet der Konstitution durch den Verstand, abgesehen und Kausalität schlicht als wirkliches Verhältnis der Dinge aufgefasst werden, welches das Bewusstsein beim Erkennen bloß abbilde. Bei Roth gehen zudem zwei Arten von Gründen durcheinander: Gründe für die willkürliche Willensbestimmung und Gründe innerhalb einer Argumentation - also ζ. B. auch die Gründe, die er dafür anfuhrt, dass Gründe nachträgliche Rationalisierungen von ursächlich neuronal bestimmten Handlungen seien. Bei der ersten Art ist ,Grund' identisch mit einer neuronalen Ursache, welche auf den Willen wirken soll. Bei der zweiten bedarf es einer weiteren neuronalen Ursache, die bewirkt, dass eine nachträgliche Rationalisierung (ein Grund) hervorgebracht wird. Wenn Gründe im Nachhinein ausgedachte Rationalisierungen sein sollen, dann muss dieses Im-Nachhinein-Aus-

23 Gerhard Roth, „Wir sind determiniert", in: Frankfurter

Allgemeine

Zeitung vom 1.12. 2003.

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FREIHEIT, ICH UND ZEIT

denken nach Roth eine vorhergehende neuronale Ursache haben - und das Erkennen, dass eine nachträgliche Rationalisierung Wirkung einer vorhergehenden Ursache sei, müsste ihrerseits eine nachträgliche Rationalisierung sein und darum eine ihr vorhergehende neuronale Ursache haben. Die Gleichsetzung von ,Grund' mit einer neuronal bestimmbaren Ursache und zugleich die Bestimmung des Grundes als nachträgliche Rationalisierung von ursächlich neuronal bestimmten Vorgängen fuhrt so zu aufschlussreichen Verwicklungen: Das Denken des Grundes - in Rothscher Terminologie die nachträgliche Rationalisierung muss unter naturalistischen Prämissen selbst ein neuronaler Vorgang sein. Dieser muss durch einen zweiten, ihm vorhergehenden, neuronalen Vorgang bewirkt sein, nämlich durch dasjenige, was gerechtfertigt werden soll. Also entsprechen dem Grund z w e i neuronale Vorgänge. In dieser verqueren Gestalt erscheint im Rothschen Naturalismus, was im Begriff des Grundes enthalten ist: Der Grund ist erstens dasjenige, was ein anderes begründet, und ist zweitens d u r c h d i e s e s V e r h ä l t n i s als Grund begründet. D. h. im Begriff des Grundes ist erstens die vorwärts gehende Bewegung enthalten, die auf das aus dem Grund hervorgehende Begründete geht, und zweitens die rückwärts gehende Bewegung, die von dem Begründeten ausgehend den Grund erst als Grund des Begründeten bezeichnet. Letzteres erscheint bei Roth in zur Unkenntlichkeit verdrehter Gestalt als „nachträgliche Rationalisierung". Doch wenn man das, was im Begriff des Grundes in einer Einheit als Momente enthalten ist, auf zwei zeitlich getrennte neuronale Vorgänge zu verteilen sucht, ist man auf der Ebene dieser neuronalen Vorgänge dann nicht in der Lage, die zwei Momente wieder in Einheit zu bringen - und damit verliert sich das, was den Begriff des Grundes ausmacht. So kann das Falsche - die im Naturalismus dem Grund zugeordneten neuronalen Prozesse - in seinen Widersprüchen als verkehrte Gestalt oder Ideologie dessen erkannt werden, was den Grund auszeichnet. Der deutlichste Widerspruch der Rothschen Konstruktion von Gründen als im Nachhinein ausgedachten Rationalisierungen besteht dann, wenn die Gründe nicht als Rechtfertigung einer Handlung zeitlich nachgetragen, sondern zeitlich deutlich vor der Handlung angegeben werden können. Gründe für zukünftige Handlungen oder aber theoretische (logische) Gründe sprengen sein Schema der zwei neuronalen Verursachungen in kausaler und darum streng zeitlicher Folge. Als zusätzliches Argument dafür, dass Gründe nachträgliche Erklärungsversuche von begangenen Handlungen seien, die mit dem ,wahren' Motiv, der neuronalen Ursache, dem Inhalt nach nichts zu tun hätten, nennt Roth die Täuschung. „Hinzu kommt, daß wir uns bei der Rechtfertigung eigener Handlungen systematisch täuschen können, und auch diese Täuschung läßt sich experimentell nachweisen." 24 Wenn die Täuschung erkannt werden kann, muss es eine objektive Sicht geben. Diese objektive Sicht entspricht ihrem Anspruch nach, einen konsistenten Inhalt plausi-

24 Ebd.

G R U N D UND URSACHE

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bei zu machen, genau dem Schema einer Rationalisierung. Eine Grenzziehung zwischen objektiver Erkenntnis und einer Rationalisierung ist dann bei Roth nicht mehr möglich. Als Ursache (oder Grund?) für unseren Drang, unsere Handlungen vor uns und anderen plausibel machen zu können, nennt Roth die erlernte gesellschaftliche Norm, die uns gebietet, zu rationalisieren. „Wir Menschen stehen in einem Erklärungs- und Legitimationszwang unseres Handelns, der uns bereits in der frühen Kindheit vermittelt wird und je nach soziokulturellem Kontext verschieden ausfällt. Wir lernen, wie wir möglichst plausibel unsere Handlungsweisen erklären, und diese Erklärungen müssen nicht mit den tatsächlichen Motiven oder Ursachen unseres Handelns identisch sein (und sind es häufig auch nicht)." 25 Rationalisierungen (und damit das Entstehen von Gründen) seien zeitlich nachgeordnet, d. h. auf andere als die eigentlichen' oder ,natürlichen' Zwecke gerichtet, zu denen unser Gehirn die neuronalen Ursachen unserer Handlungen enthalte. Die Einbildung der Freiheit sei eine Folge der Rationalisierung. Diese bloß nachträglich vorgestellte Freiheit, die uns subjektiv als Grund von Handlungen erscheine, soll nun ihrerseits eine Wirkung auf die Individuen, auf die empirische Welt der Erscheinungen und auf die Gesellschaft haben. Denn Bewusstsein sei nach Roth kein Epiphänomen, sondern habe eine gewisse Eigenständigkeit und damit eine (natürliche) Funktion. Hierin, in ihrer Wirkung, liege der evolutionäre Vorteil des Scheins der Freiheit. Doch die Theorie der nachträglichen Rationalisierung birgt ein Problem: Alle Handlungen sollen vollständig determiniert sein. Zugleich soll Bewusstsein, das sich frei fühle, kein bloßes Epiphänomen sein. Die neuronalen Prozesse, die bewusst sind, sollen funktional sein, da sie Wirkungen haben, die sich einerseits deutlich von den Wirkungen nichtbewusster neuronaler Prozesse unterscheiden lassen (sie bringen immerhin so erstaunliche Dinge wie das Strafrecht hervor), andererseits jedoch sollen sie vollständig naturkausal und damit determiniert sein wie alles Körpergeschehen. Aber dass diese Prozesse im Gegensatz zu anderen bewusst sind, ist dann ein bloßes Epiphänomen, wenn nicht die besondere Qualität des Bewusstseins selbst eine Wirkung erzeugt. Diese müsste dann von den unbewussten neuronalen Vorgängen qualitativ durch die Bewusstheit unterschieden sein; dies wäre sie jedoch nur dann, wenn sie nicht unter dasselbe Prinzip der Naturkausalität fiele wie jene. Wenn Roth sagt, eine solche durch das Bewusstsein gesetzte qualitative Differenz bestehe nicht, sondern alle Gehirnprozesse, bewusste wie unbewusste, folgten demselben Prinzip, dann hat er damit faktisch das Bewusstsein zu einem bloßen Epiphänomen gemacht - egal, wie er es terminologisch fasst. Der Inhalt des Bewusstseins kann dann zufällig sein. Der Inhalt des Bewusstseins muss dann nicht zwingend das Gefühl des Freiseins enthalten, wenn dieses als subjektives Gefühl keine spezifische Wirkung erzeugen könne, sondern vielmehr nur neuronale Folge sei. Der freie Wille wäre dann bloß eine mögliche Form der Rationalisierung neben anderen ζ. B. dem Gefühl des Bestimmtseins durch eine fremde Macht. Aber wenn der natur-

25 Ebd.

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FREIHEIT, ICH UND ZEIT

kausale Zusammenhang notwendig ist, dann kann das Epiphänomen andererseits auch nicht zufällig sein. Roth projiziert hier das ideale Moment der Freiheit in den naturkausalen Prozess hinein, der kein solches ideales Moment haben kann und darf. Aus Freiheit folgt jedoch nicht Beliebiges, sie hat eine bestimmte Folge: die Selbstbestimmung, die sich im Setzen und Realisieren eigener Zwecke in der empirischen Welt findet. Aus Freiheit bestimmt der Mensch beispielsweise Material zu seinen Zwecken. Und eben diese Folge der Freiheit versucht Roth zu begründen, aber gebunden in der Bestimmtheit des Materials, was einen Widerspruch darstellt. Wie der Inhalt des Bewusstseins als bestimmter Inhalt durch die Rationalisierungen neuronaler Prozesse produziert werden und dabei zugleich noch eine Rückwirkung auf seine Ursache haben sollte, kann Roth darum nur widersprüchlich bestimmen. Der Inhalt des Bewusstseins erschließt sich nur aus der so genannten Erste-Person-Perspektive, nicht aus dem neuronalen Geschehen. Dieser Inhalt zeitigt reale Wirkungen, die gesellschaftlich wirksam sind, indem sie die Gesellschaft erst formen und nach bestimmten Zwecken organisieren. Darum betont Roth die Eigenständigkeit des Bewusstseins; alles andere sei realitätsfern. Zugleich betont er, dass der Inhalt nichts anderes als eine naturkausale Folge des neuronalen Geschehens sein könne; damit ist der Inhalt wieder ein bloßes Epiphänomen. Roth versucht, sowohl den Fehlern des Dualismus als auch denjenigen des reduktionistischen Materialismus zu entkommen - und mündet dabei im Widerspruch seiner Theorie des nichtreduktionistischen Physikalismus. Dass alles eine Ursache habe und so kausal im Weltganzen verbunden sei, ist ein transzendentales Prinzip der Erkenntnis a priori. Diesem transzendentalen Prinzip folgt der Gedanke, dass unser Bewusstsein eine Ursache haben müsse und kausal nach Regeln mit dem Gehirn verbunden sei. Dass das Prinzip, welches der Hypothese, unser Denken sei eine Wirkung des Gehirns, zugrunde liegt, ein transzendentales Prinzip a priori sein muss, beweist sich daran, dass die Regeln, nach welchen das Gehirn als Ursache unseres Geistes vorgestellt werden kann, keine sind, welche empirisch gegeben werden könnten; gerade dies, dass sie die spezifische Gesetzmäßigkeit der Verbindung von Gehirn und Geist nicht anzugeben vermag, stellt die zentrale Aporie der Neurophysiologie dar: sie unterstellt für die Verbindung von Gehirn und Geist die transzendentale Konstitution durch Kausalität nach Gesetzen der Natur und macht dann diese Konstitution selbst zum Gegenstand ihrer wissenschaftlichen Untersuchung, kann aber diesen ihren Gegenstand nicht verstehen, weil sie das Erkennen des Grundes fur die kausale Konstitution, die transzendentale Freiheit, qua Methode ausschaltet.

8. Freiheit und Erkenntnis Neuroepistemologie als Verirrung zwischen Innen und Außen

Die oberste Bedingung jeder Erkenntnis ist das Selbstbewusstsein, weil ohne Erkennendes keine Erkenntnis ist. Dieses Selbstbewusstsein bestimmt die klassische Philosophie als frei, wodurch Erkenntnis kein rein rezeptiver, sondern zugleich ein produktiver Prozess ist. Die Neuroepistemologie trennt im Resultat diese beiden notwendigen Momente der Erkenntnis, so dass Erkennen auf der einen Seite als bloßes Abbilden der Welt im Gehirn erscheint und auf der anderen Seite das Bild der Welt nichts mehr als ein neuronales Konstrukt sei. Die Frage nach den biochemischen Grundlagen und Mechanismen des Erkennens ist, dem eigenen Anspruch nach, ein wichtiger Bereich der Neurophysiologie. Um das Erkenntnisvermögen zu erkennen, wird das Erkenntnisorgan untersucht. Die Fortschritte in der neurophysiologischen Forschung sollen in einer Erkenntnis- oder zumindest Erfahrungstheorie systematisch zusammengeführt werden. Diese Theorie nennt sich Neuroepistemologie. Sie stellt eine moderne Wendung der psychologischen Erkenntnistheorie dar. 1 Untersucht werden, im Rückgriff auf das Bewusstsein des Probanden (auf die Erste-Person-Perspektive), aus der Dritte-Person-Perspektive identifizierbare Prozesse, die mit dem Erkennen korrelieren und mit ihm ganz identifiziert werden. Bei diesem Vorhaben stößt eine Erkenntnistheorie, die nach der empirischen Genese bestimmter Erkenntnisse fragt, auf ein Problem, das zunächst ein Problem der Methode zu sein scheint. Um ein korrelierendes Verhältnis zwischen mentalen Phänomenen und elektrischen wie chemischen Impulsen im Gehirn auszumachen, müssen beide in kleinste, isolierte Einheiten zerteilt betrachtet werden. Dadurch, dass mentale Phänomene operationalisiert werden müssen, um sie Hirnfunktionen zuordnen zu können, wird der Geist von der Neurophysiologie als modulares Phänomen betrachtet - analog zu den modularistischen Funktionen neuronaler Netzwerke. Ohne die Atomisierung mentaler Phänomene

1 Kant bestimmt in den Prolegomena (A 87) den Unterschied zwischen psychologischer und philosophischer Erkenntnistheorie. Die psychologische Erkenntnistheorie fragt nach dem Entstehen der Erfahrungen in der Zeit, nach ihrer Genese im empirischen Subjekt. Ihr Mittel ist folglich die Introspektion. Die philosophische Erkenntnistheorie fragt dagegen nach den Prinzipien, die jeder Erkenntnis überhaupt zugrunde liegen. Ihr Mittel ist die transzendentale Reflexion.

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FREIHEIT UND ERKENNTNIS

könnten diese nicht empirisch auf ihren Zusammenhang mit bestimmten Hirnfunktionen hin untersucht werden. Doch mit einer solchen Atomisierung und Modularisierung ist die Einheit des Bewusstseins nicht zu erklären; sie erscheint nicht einmal. Die Einheit des Selbstbewusstseins ist notwendige Bedingung der Möglichkeit aller Erfahrung. „Das: I c h d e n k e , muß alle meine Vorstellungen begleiten können; denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was gar nicht gedacht werden könnte, welches eben so viel heißt, als die Vorstellung würde entweder unmöglich, oder wenigstens für mich nichts sein." 2 Versuche, das Selbstbewusstsein einer bestimmten Hirnstruktur zuzuordnen oder einen die verschiedenen Gehirnaktionen vereinenden Funktionsmechanismus - die neuronale Entsprechung des ,Ich' - zu beschreiben, sind nicht nur bisher immer wieder am Material empirisch gescheitert, sondern würden als Erklärungsmodell unweigerlich auf einen Widerspruch oder einen infiniten Regress führen. Denn das separat nachzuweisende Modul eines Ich-Zentrums, das Einheit aller Hirnfunktionen wäre, müsste zugleich Einheit von allen anderen Hirnfunktionen und sich selbst sein und damit gleichermaßen separat von sich selbst wie von allen anderen Hirnfunktionen sein. Oder aber, wenn das Ich-Zentrum nicht Einheit wäre, müsste es selbst unter ein zweites IchZentrum gefasst werden, das wiederum unter ein drittes Ich-Zentrum fiele usf. Diese Vorstellung führte so in einen infiniten Regress. Zudem erscheint das empirische Bewusstsein nur in dem, was bewusst ist - also nur in seinen vielen, in der Zeit sich ablösenden Inhalten, unter denen selbst jene Einheit nicht zu finden ist. Erst in der Reflexion darauf, dass alle diese Vorstellungen in ein empirisches Bewusstsein fallen, kann auf die Einheit des Bewusstseins geschlossen werden. Die Einheit des Bewusstseins erscheint so nicht selbst, auch nicht in der Ersten-Person-Perspektive, sondern sie ist ein Reflexionsbegriff. Die Einheit des Bewusstseins ist die notwendige Bedingung der Möglichkeit aller Erfahrung und konstituiert sich zugleich durch diese Erfahrung als die eigene Erfahrung. Unter dieser Voraussetzung lässt sich keine psychologische Erkenntnistheorie betreiben, denn das Verhältnis von Erkenntnis zu ihrem Gegenstand ist ein negatives und als solches nur durch Reflexion bestimmbar. Diese Problematik zeigt sich bei Kant im Verhältnis von analytischer und synthetischer Einheit der Apperzeption. „Also nur dadurch, daß ich ein Mannigfaltiges gegebener Vorstellungen in einem Bewußtsein verbinden kann, ist es möglich, daß ich mir die Identität des Bewußtseins in diesen Vorstellungen selbst vorstelle, d. i. die analytische Einheit der Apperzeption ist nur unter der Voraussetzung irgend einer synthetischen möglich", 3 und umgekehrt. Diesen wechselseitigen Bezug übersieht eine Theorie, welche die Einheit des Selbst im

2 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β 133. 3 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β 134.

NEUROEPISTEMOLOGIE ALS VERIRRUNG ZWISCHEN INNEN UND AUBEN

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Gedächtnis des Menschen verorten will, 4 das seinerseits als eine neuronale Einheit beschrieben werden kann. Darin, dass Erkenntnis an das erkennende Subjekt und damit an das Selbstbewusstsein gebunden ist, welches die Neurophysiologie nicht greifen kann, 5 ist auch eine neurowissenschaftlich ausgerichtete Erkenntnistheorie immer an philosophische Begriffe gebunden. Aus diesem Verhältnis hat sich eine neue Disziplin gebildet: Die Neuroepistemologie. „Ziel des Unternehmens ist der Entwurf einer Erkenntnistheorie auf neurologischer Grundlage, die als Neuroepistemologie disziplinaren Charakter in der Philosophie beanspruchen und als Wissenschaftstheorie der Hirnforschung und der Neurologie höherer Hirnfunktionen eingeordnet werden kann. Unter Angabe des Gültigkeitsbereiches bzw. des Abstraktionsniveaus ist eine zwischen Philosophie und [Natur-; C.Z.] Wissenschaften oszillativ nutzbare Begrifflichkeit zu erzeugen." 6 Diese oszillierenden Begrifflichkeiten erweisen sich jedoch als schwammige Begriffe, da sie nichts Eindeutiges bezeichnen. Deutlich wird dies vor allem da, wo ein Begriff wie Selbstbewusstsein nicht nur Verschiedenes bedeuten, sondern zudem noch unterschiedliche Funktionen in getrennten Realitäten haben soll. Kai Vogeley zufolge soll die Neuroepistemologie eine Theorie liefern, die „die in den Neurowissenschaften empirisch und logisch problematische Einheit des Bewußtseins als eine transzendental zu begreifende notwendige Bedingung für Wahrnehmung und ihre zentralnervöse Verarbeitung begreift. Dabei handelt es sich um eine kategoriell verschiedene Ebene gegenüber der empirisch-faktischen Ebene [...darum; C.Z.] ist die Einheit nur isoliert naturwissenschaftlich gesehen tatsächlich eine ,Illusion'." 7 Diese .Illusion' könne sich Vogeley zufolge aber, bezogen auf die Erklärung mentaler Phänomene, durchaus als ,real' im Sinne einer in sich konsistenten Erklärung erweisen. Gleichzeitig sei Bewusstsein im Gegenstandsbereich der Neurophysiologie jedoch nicht real. So wäre in der einen ,geistigen Realität' (auch die Erklärung mentaler Phänomene ist ein mentales Phänomen) die Einheit des Bewusstseins gegeben, aber die Erkenntnisinhalte dieses Bewusstseins würden in die andere (materielle) Realität fallen, nämlich als wahrgenommene materielle Gegenstände und die elektrochemische Verarbeitung der durch sie verursachten Sinnesreize. In dem Versuch, eine Vermittlung zwischen Naturwissenschaften und Philosophie über oszillierende Begrifflichkeiten zu schaffen, wird die Antinomie von Leib und Seele hier zu parallelen Realitäten hypostasiert. Um nicht von verschiedenen Welten - einer geistigen und einer materiellen - ausgehen zu müssen, werden insbesondere von der Erforschung der Frage nach den

4 Vgl. Daniel Schacter, Searching for Memory. The Brain, the Mind, and the Past, New York, 1996 (Dtsch.: Wir sind Erinnerung, Reinbek 1998). 5 Vgl. Kapitel 2. 6 Kai Vogeley, Die Einheit des Bewußtseins in der Neuroepistemologie, 963. 7 Kai Vogeley, Die Einheit des Bewußtseins in der Neuroepistemologie, 962 f.

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FREIHEIT UND ERKENNTNIS

Mechanismen des Erkennens Lösungen erwartet, die den Ansatz zu einer Vermittlung liefern können. Denn Erkennen ist zunächst genau diese Vermittlung: Ein materieller Gegenstand wird zu einem vorgestellten Gegenstand, einem Gegenstand des Bewusstseins. Der neurophysiologisch ambitionierte Philosoph Michael Pauen bestimmt Wahrnehmung als eine Transformationsleistung von Reizen in elektrochemische Impulse und phänomenales Bewusstsein als die Innenansicht' dieser Impulse, während die Forschungsergebnisse eine ,Außenansicht' darstellten. 8 Dass beides so verschieden aussehe, sei folgerichtig. Ebenso sei der binäre Code eines Computers vom Monitorbild unterschieden, als ein anderer Aspekt desselben Objektes. 9 In dieser Analogie fehlt allerdings das den Monitor betrachtende Subjekt, das den binären Code erfunden hat und die Oberfläche des Computers mit dessen Innenleben vergleicht, ebenso, wie in Pauens Darstellung des Aspektdualismus die Reflexion auf ein erkennendes und denkendes Subjekt als konstituierendes der Anschauungen von ,Innen' oder von ,Außen' fehlt. Der Sache nach ergeben sich so zwei Subjekte: Die Hirnforscher, welche die grauen Zellen von Außen anschauen, und wir (deren Zellen es sind), die diese Zellen von Innen betrachten. Der selbstbewusste Geist erscheint so nur als eine andere Form, die transformierten sinnlichen Wahrnehmungen und ihre nervöse Verarbeitung aufzunehmen. Tatsächlich kann jedoch nur der selbstbewusste Geist die nervöse Verarbeitung sinnlicher Reize betrachten und erkennen. So ist dasjenige, was von ,Außen' angeschaut wird, schon dadurch verfasst, dass es als Angeschautes in ein Bewusstsein fällt (nämlich in das Bewusstsein des Hirnforschers). Dasjenige, was man von ,Innen' anschaut, was also das Bewusstsein i s t , ist darum nicht dasselbe wie das Begreifen neuronaler Verschattungen d u r c h ein Bewusstsein. Erforschung des Gehirns als ,Denken von Außen betrachtet' und Denken als ,Gehirn von Innen betrachtet' können deshalb nicht zwei Aspekte sein, weil der Betrachter immer ,Innen', nämlich immer denkend ist, gleich, ob er Reflexionen über das Selbstbewusstsein anstellt oder empirische Forschung an einem Material wie dem Gehirn betreibt. Da jedoch die Stellung des Betrachters' in Pauens Theorie eine bloß rezeptive ist und die Tätigkeit des erkennenden Subjekts fehlt, könnte hiernach streng genommen gar nichts erkannt werden. Denn durch Reize induzierte elektrochemische Impulse sind - gleich aus welcher Perspektive - keine Begriffe. So kann es nach Pauen keine Differenz zwischen Wahrnehmung und Erkenntnis geben. Phänomenales Bewusstsein und Hirnfunktionen werden zwar unterschieden, aber nicht als Unterschiedene verstanden. Die Kluft zwischen Geist und Gehirn existiere Pauen zufolge nur scheinbar, solange wir noch nicht wissen, „welche physiologischen Prozesse für unser phänomenales Bewußtsein verantwortlich sind. [...] Immerhin sind hier die Aussichten jedoch einigermaßen

8 Vgl. Michael Pauen, „Die Logik der Wahrnehmung und das ,Rätsel des Bewußtseins'", in: Cognitio humana. 9 Darum wird diese Theorie auch Aspektdualismus genannt.

KONSTRUKTIVISMUS ALS U M S C H L A G VON MATERIALISMUS IN IDEALISMUS

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günstig: Kürzlich ist beispielsweise von Hans Flohr eine neue Theorie aufgestellt worden, die die Entstehung bewußter Prozesse mit der kurzfristigen Bildung von neuronalen Netzen auf der Basis eines bestimmten Synapsentyps, sogenannter NMDASynapsen, in Verbindung bringt." 10 Wenn diese Verbindung als ein Kausalzusammenhang erst einmal erforscht sei, ließe sich leichter einsehen, dass das Selbstbewusstsein, das heute noch als anderer Aspekt (die Innenansicht') physiologischer Hirnprozesse aufgefasst werde, letztlich in einen physiologischen Hirnprozess und damit in eine Außenperspektive aufgelöst werden könne. Dasjenige, dem Pauen hier einigermaßen günstige Aussichten' prognostiziert, ist ein positiv zu begreifender, naturkausal verfasster Umsetzungsmechanismus zwischen Ideellem und Material - ein Umsetzungsmechanismus, der geeignet ist, auch das Ideelle durch Materialeigenschaften hinreichend zu erklären. Einen Naturzusammenhang begreifen heißt jedoch, einen regelhaften Zusammenhang im Material i d e e l l zu fassen. Die Vorstellung, man könne denkend, also aufgrund eines ideellen Vermögens, eben dieses Vermögen als Materialeigenschaft begreifen, die nicht ideell sondern in Wahrheit rein physikalisch sei, ist notwendig widersprüchlich. In Pauens Hoffnung, dieses Problem werde sich in der Zukunft durch technischen und wissenschaftlichen Fortschritt auflösen, zeigt sich, dass das prinzipielle logische Problem in der Sache nicht begriffen wurde.

Konstruktivismus als Umschlag von Materialismus in Idealismus Gerhard Roth geht das Problem der Vermittlung von Sinnesreiz und Vorstellung grundlegender an und stellt sich als Hirnforscher und strenger Materialist die Frage, warum ich die Welt überhaupt als etwas außer mir Existierendes wahrnehmen kann, obwohl doch alle Wahrnehmung der äußeren Welt nachweislich nichts anderes sei als elektrochemische Impulse in meinem Gehirn. Roth schließt hieraus, dass ich tatsächlich gar nicht die äußere Welt (die Realität) erkenne, sondern mein Gehirn eine Wirklichkeit konstruiere, welche mir subjektiv als äußere Welt erscheine. Die ganze Wirklichkeit sei dann ein bloßes Konstrukt meines Gehirns und die Realität selbst sei unerkennbar. „Die wahrgenommene, phänomenale Welt, die Wirklichkeit, ist ein Konstrukt des Gehirns. Allerdings kommt - und dies ist entscheidend - der Konstrukteur der Erlebniswelt in dieser Welt nicht vor [...] Dieses Gehirn [der Konstrukteur; C. Z.] ist Teil der bewusstseinsunabhängigen Welt der Realität, und deshalb ist es das reale Gehirn. Die Realität ist uns erlebnismäßig unzugänglich; wir erleben nicht, wie das Gehirn die Wahrnehmungsinhalte konstruiert, das Gedächtnis aktiviert und die Gefühle erzeugt,

10 Michael Pauen, „Die Logik der Wahrnehmung und das ,Rätsel des Bewußtseins'", 917.

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FREIHEIT UND ERKENNTNIS

weil wir das Ergebnis dieser Konstruktionsprozesse sind. Wir selbst sind Konstrukte. [...] Die Tatsache, dass dasjenige, was wir überhaupt wahrnehmen und erleben können, zur Wirklichkeit gehört und nicht zur Realität, hat wichtige Konsequenzen für alles, was wir sind und tun, und auch für die Wissenschaft. Alles, womit sich Wissenschaftler beschäftigen, und also auch Gehirne, ist Teil der phänomenalen Welt. Die von Neurobiologen untersuchten Gehirne können also nicht identisch sein mit denjenigen Gehirnen, welche die phänomenale Welt überhaupt erst hervorbringen. Diese realen Gehirne sind unzugänglich wie alle Realität." 11 Da unsere Wirklichkeit ein bloßes Konstrukt sei, gebe es auch keine für uns erkennbare objektive Realität und darum auch keine erkennbare Wahrheit. So schlägt Roths steiler Materialismus seiner eigenen Dynamik folgend in einen ebenso steilen Idealismus um, da er seine eigene Grundlage, die Möglichkeit objektiver Erkenntnis der materiellen Dinge, nicht zureichend im Material begründen kann. In dem Versuch, die hieraus folgende idealistische Annahme, alle Wirklichkeit sei unsere Illusion, zu belegen, verstrickt Roth sich zwangsläufig noch tiefer in Widersprüche, denn die These, es sei wahr, dass es keine Wahrheit gebe, ist notwendig widersprüchlich. Zum Beleg der Unerkennbarkeit von Wahrheit führt Roth diverse Beispiele dafür an, dass unsere Wahrnehmung Täuschungen unterliegen kann, ohne dass es ihm immanent möglich ist, diese Täuschungen gegen den ,wahren' Sachverhalt abzugrenzen, wodurch der Begriff der Täuschung seinen Sinn verliert. Denn Roth rekurriert auf eine Differenz zwischen Wahrheit und Täuschung, die er mit seiner Theorie, dass alles Täuschung sei, nicht begründen kann. Wenn Wahrheit unerkennbar ist, so ist es auch die Täuschung. Das äußere Material - das Gehirn - wird als Forschungsobjekt untersucht und dann aufgrund der Resultate zum Subjekt aller Forschung sowie zugleich zum unerkennbaren Konstrukteur unserer Welt erklärt. Diese Theorie der Erkenntnis, die von den Erkenntnisorganen in ihrer materialen Beschaffenheit ausgeht, macht das Objekt zum Subjekt, um dann aus dem entstehenden Dilemma, dass dieses Subjekt nicht ,wir' sind, sondern unser Gehirn, zu schlussfolgern, es lasse sich nichts eindeutiges hierüber mit Sicherheit wissen. In seiner Erkenntnistheorie glaubt Roth sich auf Immanuel Kant stützen zu können: 12 „Kant nahm in seiner ,Kritik der reinen Vernunft' an, daß wir niemals die ,Dinge an sich' (die ,Noumena') erkennen können, sondern daß uns nur ihre Erscheinungen (die ,Phainomena') gegeben sind. Unsere Sinnesempfindungen werden zwar durch Einwirkung der ,Dinge an sich' ausgelöst, sie werden aber zu geordneten Wahrnehmungen und erst recht zu Erkenntnis durch die ,apriorischen Anschauungsformen' Raum und 11 Gerhard Roth, Schnittstelle Gehirn, Bern 1996, 53 ff. 12 Diverse Neurobiologen beziehen sich in erkenntnistheoretischen Fragen explizit auf Kant. Neben Roth auch Oeser, Seiteiberger, Creutzfeldt und Meynert. Dies scheint mir einen längeren Exkurs zu Kants Erkenntnistheorie zu rechtfertigen - der selbstverständlich zu kurz greifen muss, da sich die Kritik der reinen Vernunft nicht einmal annähernd auf drei Seiten zusammenfassen lässt. Jedenfalls nicht von mir.

KONSTRUKTIVISMUS ALS UMSCHLAG VON MATERIALISMUS IN IDEALISMUS

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Zeit und durch die ordnende Wirkung der Kategorien [...] Die Zuverlässigkeit unseres Wissens ist durch die unbedingte Gültigkeit der Kategorien gewährleistet und nicht wie im erkenntnistheoretischen Realismus - durch den Bezug auf die Realität und damit die Erfahrung." 13 Hiermit, so Roth, sei aus heutiger neurophysiologisch fundierter Sicht deutlich, dass unser Wissen keine Zuverlässigkeit habe - denn was Kant die Kategorien nannte, sei der Algorithmus der Konstruktion, welche unser ,reales' Gehirn betreibe. Dieser sei aber nach realen, uns unverstehbaren Regeln verfasst (wie auch die Kantschen Kategorien für Roth unverstanden geblieben sind und ihm so als Aufzählung willkürlicher Wirkungen des Gehirns erscheinen). Roths Rezeption der Kantschen Erkenntnistheorie fußt auf einer fatalen Verwechslung von Ding an sich und Realität. Hierdurch verfällt er auf den Gedanken, dass wir zuverlässiges Wissen nicht „durch den Bezug auf die Realität und damit die Erfahrung" erlangen könnten. Im Gegensatz dazu beginnt die Kritik der reinen Vernunft mit den Worten: „Daß alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel;" 14 Nur entspringe nicht alle Erkenntnis aus der Erfahrung, da es auch von den Sinneseindrücken unabhängige Erkenntnis gebe. Die Differenz zu einem naiven Realismus besteht bei Kant also nicht in einem Leugnen der Bedeutung der Erfahrung für die Erkenntnis, sondern vielmehr in der Feststellung, dass die Möglichkeit von Erkenntnis in der Erfahrung nicht ihre hinreichende Bedingung hat. Denn Anschauung ist zwar die Quelle des Erkennens, insofern uns nur durch sie die Gegenstände der Erfahrung das zu Erkennende - gegeben wird; aber Anschauen ist nicht Erkennen. Denn aus der Sinnlichkeit folgt nicht der Verstand, er muss hinzutreten. „Nur so viel scheint zur Einleitung [...] nötig zu sein, daß es zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis gebe, [...] nämlich Sinnlichkeit und Verstand, durch deren ersteren uns Gegenstände gegeben, durch den zweiten aber gedacht werden." 15 Die Sinnlichkeit gibt uns Gegenstände in der Anschauung, der Verstand begreift sie. Diese beiden Stämme der Erkenntnis sind für Kant durch transzendentale Reflexion erschlossene Momente des Erkennens und nicht als empirischer Erkenntnisprozess mit einer anzugebenden Abfolge in einer Zeitreihe misszuverstehen. Die Vermögen a priori und a posteriori sind gleichermaßen notwendige Momente der Erkenntnis, das eine kann darum nicht zeitlich in einem einzelnen Erkenntnisakt vor dem anderen vorhergehen. Der physikalische Prozess der Verarbeitung von Sinnesreizen und Untersuchungen darüber, welche Sinnesreizungen bewusst werden und welche nicht, ist darum nicht mit dem Kantschen Terminus der Anschauung gleichzusetzen. Die Neurophysiologie hat die Verarbeitung von Reizen im Gehirn zum Gegenstand. Sie versucht dann hieraus das Vermögen zur Erkenntnis herzuleiten. Dieser Versuch kann

13 Gerhard Roth, Das Gehirn und seine Wirklichkeit, Frankfurt a. Μ. 1996, 340 f. 14 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β 1. 15 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β 30.

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unmöglich gelingen, weil hiermit zwar die Art und Weise erforscht werden kann, wie unsere Sinnlichkeit affiziert wird, aber Affektation der Sinne keine Erkenntnis ist. Die Gegenstände, sofern sie Naturgegenstände sind, müssen zwar sinnlich gegeben werden, damit sie gedacht werden können, 16 aber Begriffe und Urteile, ohne die keine Erkenntnis und keine Naturwissenschaften möglich wären, können nicht der Sinnlichkeit entspringen, weil sie selbst nichts Sinnliches sind und den Sinnen nicht erscheinen, sondern als Abstraktionen auf die Verhältnisse der sinnlichen Gegenstände zueinander gehen. Diese Verhältnisse aber sind unsichtbar. Die Bewegung des fallenden Steines lässt sich anschauen, aber nicht die Gravitation. Naturgesetze lassen sich nur gedanklich fassen, aber nicht erfahren; erfahrbar sind ihre Wirkungen, die als ihre Wirkungen aber nur erkannt werden können unter der Voraussetzung des gedachten Gesetzes. Begriffe fassen das Allgemeine, was als Abstraktion in dem Besonderen der Anschauung nicht als Allgemeines gegeben ist, sondern worunter dieses im Denken subsumiert und mit anderen Erscheinungen in ein bestimmtes Verhältnis gesetzt wird; somit kann alle Anschauung untereinander als System geordnet werden. Aus der Sinnlichkeit allein könnte nur chaotische Mannigfaltigkeit der Sinnesempfindungen entspringen, aber keine Erkenntnisse, welche in den spezifischen Regeln, die den Gegenständen der Erfahrung eigen sind, dasjenige an ihnen fasst, was uns nicht sinnlich erscheint und sie so erst zu Objekten unserer Erkenntnis macht. Die chaotische Mannigfaltigkeit in der Sinnlichkeit ist unter den Formen der Anschauung geordnet als Auseinander (räumlich) und als Nacheinander oder Zugleich (zeitlich). Diese apriorischen Formen sind selbst keine Sinnesempfindungen, sondern die Art, in der wir allein Anschauungen von Gegenständen haben können: in Raum und Zeit. Nur unter diesen Formen der Anschauung ist die Synthesis durch Begriffe des Verstandes zu einem Objekt der Erkenntnis möglich. Denn um das Angeschaute in Begriffe zu fassen, muss es zueinander ins Verhältnis gesetzt werden können. Der Verstand ist das Vermögen, die Begriffe in Urteilen zueinander in Beziehung zu setzen und zu ordnen. Urteile sind Denkfunktionen der Form nach, wie sie als Logik seit der Antike erforscht werden. An den bekannten Formen der Urteile anknüpfend ging Kant noch einen Abstraktionsschritt weiter und fragte: Was steht als Prinzipien a priori hinter dieser Ordnungsfunktion des Denkens in den Urteilen? Als Antwort entwickelte er in der Reflexion auf die Formen des Denkens in seinen logischen Urteilen die reinen Verstandesbegriffe a priori als deren notwendige Bedingungen - die Kategorien. So steht beispielsweise hinter der Möglichkeit, einem Urteil die Form der Allgemeinheit zu geben (,allen X kommt Ρ zu') als Voraussetzung a priori die Kategorie der Allheit, unter der alle X zusammengefasst werden. Die Kategorien können nicht lediglich Ergebnis des Denkens sein (auch wenn sie nur als Ergebnis der philosophischen Reflexion auf das Denken erkannt werden), sondern

16 Artefakte hingegen werden erst gedacht, bevor sie im Material realisiert werden können.

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sie sind zugleich auch die Voraussetzungen des Denkens, ein Vermögen a priori. An jeder bestimmten Vorstellung zeigt sich der Gebrauch der Kategorien (ζ. B. wenn ich einen Gegenstand als e i n e n denke, nach der Kategorie der Einheit). Die Kategorien erweisen sich in der Erfahrung, aber sie entstammen nicht aus ihr, sondern machen diese erst möglich, d. i. sie sind vor aller Erfahrung und damit unabhängig von jeder bestimmten Erfahrung. Darum sind die Formen des Denkens allgemein - und darum ist der Aristotelische Satz vom zu vermeidenden Widerspruch, dass ein Ding nicht zugleich und in derselben Hinsicht sein Gegenteil sein kann, von jedes Menschen Vernunft gleichermaßen zwingend einzusehen. Aufgrund dieser allgemeinen Vernunft, die in ihren Formen a priori e i n e ist, sind allgemeine und objektive Erkenntnisse quer durch alle Zeiten und Kulturen möglich. Allgemeine Erkenntnisse über bestimmte Gegenstände der Erfahrung sind nun der Sache nach genau das, was Roth als objektive Realität bezeichnet und was er als unerkennbar verwirft, weil das, was die Objektivität ausmacht, nicht nur in den Gegenständen, sondern auch in der Art ihrer Erkenntnis und damit in einem Ideellen liegt. Objektive Realität ist kein Gegenstand möglicher Erfahrung. Denn objektive Realität ist selbst kein objektiv realer Gegenstand, sondern ein Begriff, unter den alle objektiv realen Gegenstände gefasst werden. Wodurch sind Gegenstände, die uns sinnlich erscheinen oder sich spekulativ aufgrund bestimmter Erscheinungen erschließen lassen (wie das Atom, der Benzolring u. Ä.) objektiv real? Dadurch, dass sie Gegenstände möglicher Anschauung sind, d. i. uns sinnlich (unmittelbar oder mittelbar in ihren Wirkungen) erscheinen u n d durch Begriffe gedacht werden können, nach einer R e g e l , einem P r i n z i p . Hierin liegt die Differenz zur Täuschung und damit überhaupt erst die Möglichkeit, eine Täuschung als solche zu erkennen. So ist etwa eine optische Täuschung sinnlich in der Anschauung gegeben, steht aber zur inneren Regelhaftigkeit des Begriffs des angeschauten Objekts im Widerspruch. Die Voraussetzungen dafür, dass uns etwas als Erscheinung gegeben werden kann, sind zum einen die Einheit des Bewusstseins, dem etwas gegeben werden kann (die transzendentale Einheit der Apperzeption als allgemeine Form des Bewusstseins) und zum anderen, dass etwas da ist, was uns erscheint (was als Inhalt des Bewusstseins gegeben werden kann). Wenn wir nun die Ursache der Erscheinungen (das Ding an sich) eins zu eins mit unseren Vorstellungen von Gegenständen der Erscheinung gleichsetzen würden, ließe sich keine Differenz zwischen objektiv realen Gegenständen und unserer Vorstellung - also bloß vorgestellten Gegenständen - angeben. Eine Folge dieser Gleichsetzung von Realität und Ding an sich ist der radikale Skeptizismus, zu dem in letzter Konsequenz auch Roths Konstruktivismus gehört, mit allen seinen Widersprüchen 17 - etwa, dass unser Denken leer sein müsste, da ihm kein Gegenstand gegeben

17 Aus der Annahme, Mentales und Materiales seien identisch, kann zweierlei folgen: Die Annahme der Materialität des Geistes oder die der Spiritualität der Materie. Gerhard Roth verfolgt beide Thesen, die erstere als Physikalismus und die zweite als Konstruktivismus. Seiner erkenntnistheoretischen

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werden könnte; dass Träume, Täuschungen und Wirklichkeit im Denken nicht trennbar und damit auch begrifflich ununterschieden wären etc. Als Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis müssen wir also eine Differenz zwischen dem Gegenstand der Erscheinung und seiner Ursache annehmen. Damit der Gegenstand in unserer Vorstellung, der gedachte Gegenstand, nicht bloße Vorstellung ist, sondern einem realen Gegenstand entsprechen kann, muss also eine unerfahrbare transzendentale Ursache der Erscheinungen gedacht werden: das Ding an sich. Das Ding an sich ist Resultat der Reflexion auf die Notwendigkeit, dass alle Erscheinung eine Ursache haben müsse, die - weil nicht Erscheinung, sondern Grund der Erscheinung - uns nicht erscheinen und darum von uns nicht erkannt werden kann. Das Ding an sich ist somit kein materielles ,Ding', sondern ein denknotwendiger Begriff. Dadurch, dass es als Ursache der Erscheinung bestimmt wird, ist das Ding an sich ein Gedachtes, das durch die Kategorie der Kausalität als denknotwendiger Gegenstand konstituiert wird. Als Gedachtes ist es kategorial verfasst. So erscheint seine Bestimmtheit zum einen mittelbar in der Bestimmtheit der Erscheinungen (denn ein Unbestimmtes kann nicht als Ursache eines Bestimmten angenommen werden), zum anderen ist es als gänzlich Unbestimmbares negativ als Anderes des Denkens bestimmt - und damit ist das Ding an sich sowohl bestimmt als auch nicht Anderes zum Denken, sondern selbst ein Reflexionsbegriff, also nur ein Gedachtes, gedacht allerdings als das Unvermittelbare außerhalb allen Denkens. Das Ding an sich (als Noumenon im negativen Verstände) wird erschlossen als Bedingung der Möglichkeit, die Prinzipien und Regeln, nach denen die Gegenstände an sich bestimmt sind, zu begründen. Dies ist eine Voraussetzung dafür, dass die Gegenstände uns als b e s t i m m t e erscheinen und damit fur uns b e s t i m m b a r sind. 18 Da diese An-Sich-Bestimmtheit der Gegenstände notwendige Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis von Gegenständen ist, und diese wiederum als Erscheinungen erster Inhalt des Denkens sind, ist das Ding an sich ein notwendiger spekulativer Begriff, weil ohne diesen Grund der objektiven Realität kein Bewusstsein gegeben sein könnte; denn Begriffe ohne Anschauung sind ebenso leer wie Anschauungen ohne Begriffe.

Argumentation streng folgend führt Roths Theorie - ganz im Gegensatz zu Kant - aus einem naiven Materialismus in einen radikalen Konstruktivismus. Was ihn davon abhält, diesen im strengen Sinne zu vertreten, ist nichts als eben jener Pragmatismus, welchen Aristoteles seinerzeit an den Skeptizisten bemängelte, die zumindest in der Theorie konsequent blieben. „Warum stürzt er sich nicht gleich frühmorgens in einen Brunnen oder einen Abgrund, wenn es sich eben trifft, sondern nimmt sich offenbar in acht, [...] Wie es also scheint, nehmen alle an, daß sich etwas schlechthin so verhalte [...] Tun sie dies aber nicht nach Wissen, sondern nach bloßem Meinen, so müssen sie um so mehr um Erreichung der Wahrheit bemüht sein, wie sich ja auch der Kranke um die Gesundheit mehr bemüht als der Gesunde; denn im Vergleich mit dem Wissenden steht der Meinende nicht in gesundem Verhältnis zur Wahrheit." (Aristoteles, Metaphysik, Buch IV, Kapitel 4, 1008b). 18 Bestimmbar sind die Gegenstände durch die reinen Erkenntnisvermögen a priori, die andere Voraussetzung dafür, Gegenstände zu erkennen, d. i. die Erkenntnis der Welt durch Begriffe.

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„Anschauung und Begriffe machen also die Elemente unsrer Erkenntnis aus, so daß weder Begriffe, ohne ihnen auf einige Art korrespondierende Anschauung, noch Anschauung ohne Begriffe, ein Erkenntnis abgeben kann." 19 So sind die beiden spekulativen Vernunftbegriffe, das Ding an sich als die transzendentale Ursache der Erscheinungen und die transzendentale Einheit der Apperzeption, notwendig miteinander verknüpft. Nur durch diese Verknüpfung ist objektive Realität: Als Reflexionsbegriff von Natur als einer Einheit, dem Inbegriff der Gegenstände möglicher Erfahrung, dessen Einheit so zugleich die Einheit aller möglichen Erfahrung als Einheit des Bewusstseins ist. Hieraus nun schließen zu wollen, dass, weil das Ding an sich als Ursache aller Erscheinungen ein spekulativer Begriff der Vernunft ist, nichts ,real' sei oder sich darüber, ob es eine Realität gebe, nichts sagen lasse, ignoriert das oben ausgeführte Argument, weil es die Notwendigkeit dieses spekulativen Vernunftbegriffs unterschlägt. Durch diese beweist sich nämlich die von Roth aufgegebene objektive Realität durch das Denken als etwas, das nicht bloß Gedachtes ist. Dies soll in einer Wendung des obigen Arguments verdeutlicht werden. Denken ist nur als Denken von etwas. Das Denken braucht Gegenstände, die gedacht werden, und diese kann es nicht allein aus sich selbst schöpfen, sondern sie müssen gegeben werden. Denn reines Denken hätte nur sich selbst zum Gegenstand, es könnte nichts als ,Denken' denken, was ebensoviel ist, wie gar nichts zu denken. Das reine Denken wäre also bloße Identität mit sich selbst und damit leer. Um etwas zu denken, bedarf es der Differenz. Diese Differenz kann das Denken nicht allein aus sich heraus setzen, sondern es braucht dazu ein zu ihm Différentes: einen äußeren Gegenstand. Dieser Gegenstand kann nicht allein durch das Denken bestimmt sein, denn dann wäre er nichts anderes als Denken und könnte keine Differenz zum Denken enthalten. Dieser Gegenstand muss darum an sich bestimmt sein. Ein bestimmtes Material mit bestimmten, beharrlichen Eigenschaften und die sinnliche Wahrnehmung dieses Materials sind also notwendige Bedingungen dafür, dass das Denken einen Gegenstand erhält. Die Begriffe dieses Gegenstandes sind dann als positive Begriffe nur historisch zu bestimmen, ihre Notwendigkeit ergibt sich in der philosophischen Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis nur negativ. Dass Denken ist, beweist also die Existenz irgendeines bestimmten Materials als seiner Voraussetzung, das unsere Sinnlichkeit affiziert und so zum Gegenstand unseres Denkens werden kann, als Vorstellung des wahrgenommenen Gegenstandes. Es muss also ein an sich bestimmtes Material geben, weil es Denken gibt. Doch woher wissen wir, dass die gedachten Gegenstände mit den realen Materialbestimmtheiten kongruent sind und nicht bloße Phantastereien, die sich an irgendeinem Reiz entzünden, der von einem Material erzeugt wurde, dessen Bestimmtheit vielleicht eine ganz andere ist als die, welche wir uns vorstellen? Denn wie die Erfahrung zeigt,

19 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β 74.

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können beliebige Gegenstände vorgestellt werden. Das Denken kann die Gegenstände, die ihm gegeben wurden, in der Vorstellung verfremden, verformen, vermischen. Ich kann mir Drachen und parallele Universen ebenso gut vorstellen wie Tannen und Eichhörnchen. Hier ist die Differenz zwischen Wirklichkeit und Phantasie noch leicht zu benennen: Zu den wirklichen Gegenständen gibt es eine korrespondierende sinnliche Wahrnehmung, nicht aber zu Gegenständen, die meiner Phantasie entspringen. Aber hat die Wahrnehmung ihren Ursprung in einem Gegenstand, der dem entspricht, was ich wahrnehme? Schließlich werden im Gehirn doch nur elektrochemische Reize verarbeitet. So ist eine Frage der Neuroepistemologie auch, ob Naturgesetze wirklich für die äußeren Gegenstände gelten, oder ob sie nur ein Ordnungssystem des Denkens darstellen. Diese Frage ist berechtigt, weil Naturgesetze gedanklich entwickelt werden, es werden Hypothesen aufgestellt, warum ein bestimmtes Material sich auf eine bestimmte Weise verhält. Ein Ordnungssystem des Denkens, in dem Gesetze der Naturerscheinungen hypothetisch entwickelt werden können, ist darum jeder Naturwissenschaft vorausgesetzt. Gleichwohl schreibt das Denken der Natur ihre Gesetze nicht vor, entspringen Naturgesetze nicht n u r dem Denken. Denn die gedachten Hypothesen werden in einem geeigneten Experiment überprüft. Manche Experimente gelingen und stützen so die ihnen zugrunde gelegte Hypothese, andere nicht. Das zeigt, dass ein gedanklich entwickelter gesetzmäßiger Zusammenhang bestimmter Materialeigenschaften falsch sein kann. Und es zeigt auch, dass ein gedanklich entwickelter Zusammenhang bestimmter Materialeigenschaften richtig sein können muss. Denn die Differenz zwischen gelungenem und gescheitertem Experiment kann seinen Grund nicht im Denken, also in den aufgestellten Hypothesen haben, sondern nur darin, ob die Hypothesen die Bestimmtheit des Materials treffend beschreiben oder nicht. Der Grund der Differenz muss also in der Bestimmtheit des Materials liegen, über die sich das Denken irren oder die es zutreffend beschreiben kann. Beschreibt es sie zutreffend, dann hat es etwas an den objektiven Zusammenhängen und der realen Bestimmtheit des Materials denkend erkannt. 20 Die Kategorien bilden so die Gesetzmäßigkeit der Natur, aber sie bilden sie weder bloß ab, noch sind die Naturgesetze bloß eingebildet, sondern die Formen des Denkens können die Formen der Natur nur fassen, soweit diese zugleich selbst spezifisch geformt sind. So können beispielsweise kausale Zusammenhänge der Naturgegenstände, obgleich sie gedacht werden müssen, nur gedacht werden, sofern der Begriff der Kausalität eine Entsprechung in der Bestimmtheit des Materials findet. Ohne reale Gegenstände, die sich kausal verknüpfen ließen, weil sie sich kausal verhalten, könnten wir überhaupt keinen Begriff von einem Gegenstand haben, weil wir ein Objekt, das auf

20 Ein einzelnes gelungenes Experiment kann selbstverständlich auch bloß zufallig aufgrund bislang unbekannter Naturgesetze ,gelingen', obwohl die angenommene Hypothese nicht die objektive Bestimmtheit des Materials zutreffend beschreibt. Für die Gesamtheit der Naturwissenschaften als durchgängiges System ist eine solche zufällige Obereinstimmung aller Einzelfälle jedoch auszuschließen.

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keine Weise regelhaft verfasst ist, gar nicht als ein Objekt wahrnehmen und denken könnten. So ist mit einer an sich bestimmten Materie als Voraussetzung für das Denken zugleich vorausgesetzt, dass das Material sich kausal verknüpfen lassen muss, denn sonst hätte es keine Bestimmtheit und wäre somit kein bestimmtes Material das bestimmter Inhalt unseres Denkens sein könnte. Der Begriff der Kausalität ist damit konstitutiv sowohl für die Objekte der Erkenntnis als auch für das Denken, für das erkennende Subjekt. So ist Erkenntnis der objektiven Realität möglich, nicht jedoch eine positive Erkenntnis des Dings an sich (oder der Noumena). Roth verstand in seinem Bezug auf Kant die Phänomena nicht als Gegenstände der Erscheinung gemäß den Formen unserer Anschauung a priori, sondern naiv als unmittelbare Wirklichkeit, die sich dann jedoch als bloßes Hirnkonstrukt erweise. Ding an sich - nach Kant ein Noumenon im negativen Verstände, erschlossen durch Reflexion wird bei Roth als Realität missverstanden, allerdings als unerkennbare. In beiden Fällen macht Roth aus einer Reflexionsbestimmung ein seiendes Ding, im Falle der Deutung von Ding an sich als Realität sogar ein Ding, das uns in keiner Weise zugänglich sei und über das wir nichts wissen könnten. Kant hingegen fuhrt das Noumenon ein als in der Reflexion auf Erkenntnis erschlossene Bedingung von Erkenntnis. Wenn Roth schreibt „Unsere Sinnesempfindungen werden zwar durch Einwirkung der ,Dinge an sich' ausgelöst" wird deutlich, dass er die Vorstellung eines physikalischen Prozesses vor Augen hat. Das Ding an sich ist bei ihm ein reales Ding (die Realität) und löst als solches physikalische Prozesse aus, die bestimmte neuronale Aktivitäten bewirken. An dieser Stelle verwickelt Roth sich in folgendes Problem: Einerseits ist er Naturwissenschaftler und geht mit der naiv-realistischen Vorstellung, die Dinge seien ,an sich' genau so, wie sie uns erscheinen und darum könnten wir sie erkennen, an seinen Untersuchungsgegenstand heran. Nach dieser Vorstellung hätte die Hirnforschung mit der vollständigen Beschreibung der elektrochemischen Prozesse, die unsere Sinneswahrnehmungen vermitteln, zugleich das Ding an sich erkannt. Diese .Realität' wäre der Dritten-Person-Perspektive des Naturforschers zugänglich. Hiervon wird bei Roth die Erste-Person-Perspektive unterschieden als das, was dem Bewusstsein als die durch das Gehirn konstruierte Wirklichkeit, als Phänomenon, erscheint. So legt Roth die Kantschen Reflexionsbegriffe Ding an sich und Erscheinung auf das Verhältnis von Dritter- und Erster-Person-Perspektive - und muss dann jedoch andererseits die DrittePerson-Perspektive und damit den zuvor angenommenen naiven Realismus relativieren, weil er Kant zumindest soweit verstanden hat, um einzusehen, dass die Ursache der Erscheinungen selbst nicht erscheinen kann und folglich von uns nicht wahrgenommen werden kann. So macht seine Argumentation eine Wendung, denn wir sind es ja, die die Dritte-Person-Perspektive einnehmen, sie fällt in das Bewusstsein des Forschers und muss folglich ebenso konstruiert sein, wie die Erste-Person-Perspektive, weil sie zugleich eine Erste-Person-Perspektive ist. Damit liegt ein Ding an sich als unerkennbare Realität dann wieder jenseits der Dritten-Person-Perspektive und diese wird Phänomenon, Teil der Wirklichkeit, die bloß neuronaler Schein ist. Hiermit fällt die Trennung

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von Dritter- und Erster-Person-Perspektive. Dieses Problem kann Roth nicht mehr auflösen und verfällt auf einen Konstruktivismus. Wer, wie Roth, keine Differenz zwischen Realität und Ding an sich kennen will, kann darum die Möglichkeit von Erkenntnis und damit von Wissenschaft niemals begründen. Ohne die oberste Bedingung aller Erkenntnis, das Selbstbewusstsein, zu begreifen, muss die Möglichkeit von Erkenntnis ein Rätsel bleiben.

Selbstbewusstsein ist notwendig frei Darüber, dass der Mensch Bewusstsein hat, kann er sich nicht täuschen. Zwar gibt es konsequente Materialistinnen wie Patricia Churchland, die ihre These, es gäbe nur Materielles und damit auch keinen Geist, so weit treiben, dass sie Bewusstsein als falsche Interpretation der Wahrnehmung von neuronalem Geschehen auffassen. Ihrer Ansicht nach habe die Hirnforschung die Aufgabe, die richtigen Interpretationen dieser Wahrnehmungen zu liefern, so dass wir ζ. B. statt ,Ich bin traurig' exakter und richtiger sagen können ,Meine Hirnregion xy ist sehr aktiv'. Dass hierbei der Inhalt des Denkens verloren ginge, ist sogar beabsichtigt, denn gerade dieser Inhalt sei nicht empirisch zugänglich; ein Zustand wie Traurigkeit sei kein erkennbares, wirkliches Ding, kein Materielles und damit nicht real. 21 Dass auch die wissenschaftlichen Denkinhalte dieser Kritik verfallen, da auch Naturgesetze nichts Materielles sind und dass die These, nur Materielles sei wirklich, ihrerseits bloß ein Gedanke ist, macht diesen Ansatz haltlos. Zugespitzt mündet der eliminative Materialismus in der paradoxen Behauptung: ,Wir haben gar kein Bewusstsein, es kommt uns nur so vor.' 2 2 Man kann, wie Descartes, an der Wahrheit der Inhalte des Bewusstseins zweifeln. Aber auch, wenn man sich über diese vollständig täuschte, so kann keine Täuschung darüber vorliegen, dass diese Inhalte sowie ihre Infragestellung einem bewusst sind, ergo es ein Bewusstsein gibt, in das dieser Zweifel fallt. 23 So wie Descartes alles bezweifeln konnte, außer dass er zweifelt, so kann es uns nur dann so vorkommen, als hätten wir kein Bewusstsein, wenn wir tatsächlich eines haben. Aber kann dieses Bewusstsein sich darüber täuschen, dass es frei ist? Kann es einem, wie Roth behauptet, nur so vorkommen, als wäre man frei? Ja, antwortet Roth, 24 und nennt zwei Argumente. Erstens lässt sich sowohl neurophysiologisch zeigen, dass die Willensentscheidung dem sie verursachenden Bereitschaftspotential zur Handlung, für

21 Vgl. Patricia Churchland, Neurophilosophy. Toward a Unified Science of the Mind-Brain, New York, Oxford 1989. 22 Mit der Feststellung, dass Bewusstsein nur ein Gedachtes ist, trifft der eliminative Materialismus wie die meisten konsequenten Theoreme - allerdings ein wahres Moment. 23 Vgl. René Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, Hamburg 1994. 24 Vgl. Gerhard Roth, Wir sind determiniert.

SELBSTBEWUSSTSEIN IST NOTWENDIG FREI

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die wir uns entscheiden, zeitlich nachgeordnet ist, 25 wie sich auch psychologisch unter bestimmten Bedingungen nachweisen lässt, dass die Begründungen für ausgeführte Handlungen nachträgliche Rationalisierungen der Tat sein können. Zweitens kennten wir alle aus unserem Alltag das Phänomen, etwas getan zu haben, was wir eigentlich nicht tun wollten oder andersherum: wir nehmen uns vor, etwas zu tun, und unterlassen es bzw. handeln anders als ursprünglich gewollt. Das erste Argument soll die Täuschung zeigen. Indem unser Wille konform mit unseren tatsächlichen Handlungen bestimmt wird, erscheine es uns subjektiv so, als folge die Handlung aus dem Willen, weil sie diesem gemäß sei; dass unser Gehirn vorher gerade andersherum den Willen der Handlung gemäß bestimmt habe, können wir nicht bemerken, weil dies in den unbewussten Regionen des Gehirns geschehe. So hielten wir uns für frei, bis der Blick auf die Hirnvorgänge diese Täuschung entlarve. Das zweite Argument soll das erste untermauern und es mit der alltäglichen Erfahrung des Laien verknüpfen, um die Erkenntnisse der Hirnforschung zu plausibilisieren. Wir seien, wie das erste Argument gezeigt hat, nicht frei. Das mag uns jetzt schockieren, aber wenn wir unsere eigenen Handlungen aufmerksam beobachten, dann sollen wir Indizien für die Wahrheit dieser These finden. Oft passiere es uns, dass wir das eine wollen, aber dennoch das andere tun, ohne bewusst unseren Willen geändert zu haben. Doch dieser Alltagsbeleg der These, es komme uns nur so vor, als seien wir frei, weil das Gehirn den Willen der Handlung gemäß bestimme und nicht umgekehrt, widerspricht dem ersten Argument. Denn wenn der Wille im Gehirn nachträglich gemäß der Handlung bestimmt werde, dann könnte eine solche Diskrepanz zwischen Wollen und Handeln gar nicht auftreten. Es kann dieser Alltagserfahrung nach also nicht uneingeschränkt stimmen, dass der Wille durch die neuronal verursachte Handlungsweise bestimmt werde, denn dann müsste ein Mensch immer genau das wollen, was er tut. Da dies nicht der Fall ist, muss der Wille durch etwas anderes als die Handlung bestimmt sein. Gerade in der Diskrepanz zwischen Handlungen, die ζ. B. aus Gewöhnung, Lust, Unlust oder psychischer Disposition begangen wurden, und dem Willen, der entgegen dieser Handlung bestimmt sein kann, zeigt sich ein Vermögen, das diesen heteronomen Ursachen von Handlungen (mindestens im eigenen Bewusstsein) entgegenstehen kann. Das Bewusstsein kann die Handlung einer Person, sogar eine eigene, als falsch erkennen. Das Vermögen der Erkenntnis ist somit nicht auf Objekte beschränkt. Denn mit dem Erkennen der Welt ist zugleich das Erkennen seiner selbst - das Selbstbewusstsein - gesetzt. Damit ist zugleich gesetzt, dass der Mensch sich nicht bloß aus Instinkt verhält, sondern dass er fähig ist, bewusst zu handeln. Das Subjekt der Erkenntnis muss als freies existieren, was sich auch in der Praxis der naturwissenschaftlichen Methode beweist. Allein die Möglichkeit, ein Experiment aufzubauen, setzt Freiheit voraus. Im Experiment wird eine bestimmte Kausalreihe aus Spontaneität begonnen, nicht zufällig,

25 Zur ausfuhrlichen Kritik dieses Versuches vgl. die Ausführungen zum Libet-Experiment in Kapitel 7.

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FREIHEIT UND ERKENNTNIS

sondern nach einem erdachten Plan. Dies schließt die Fähigkeit ein, Zwecke selbst zu setzen und sie auch im Material zu realisieren, sogar in einer ganz bestimmten Weise, nämlich derart, dass die Naturgesetze sowohl erkannt als auch nach einem von Menschen gesetzten Zweck angewendet werden können.

Ohne Freiheit ist keine Erkenntnis möglich Erkenntnis braucht den zu erkennenden Gegenstand und das erkennende Subjekt. Mit letzterem ist das Selbstbewusstsein notwendige Bedingung der Erkenntnis als dasjenige, das Erkenntnisse haben kann. Da Erkennen über das bloße Wahrnehmen hinausgeht, indem es das Begreifen der dem erkannten Objekt eigenen Regelhaftigkeit umfasst und damit nicht bloß Dinge sieht, sondern ihre Zusammenhänge begreift, die nichts Sinnliches sind, kann es in seiner Bewegung des Erkennens keinem für es spezifischem Naturgesetz folgen, weil es selbst kein sinnlicher Gegenstand ist, sondern das Vermögen zu Begriffen. Das Denken unterliegt nicht der Schwerkraft, es begreift sie. Damit ist das Denken auch nicht selbst die Schwerkraft. Das Denken ist nicht selbst Naturgesetz, es denkt das Naturgesetz. Indem es das Naturgesetz zu seinem Inhalt machen kann, ist es das Andere zum Naturgesetz, also frei. Da das Begreifen in Urteilen über Zweckmäßigkeiten nicht auf teleologische Naturerkenntnis - etwa die Funktionsweise des Gehirns beschränkt ist, sondern das Denken auch über seine selbst gesetzten Zwecke urteilen kann (und wenn es sich nicht selbst Zwecke setzen könnte, könnte es auch keine Naturzusammenhänge in Analogie als zweckmäßig entwickeln und begreifen) erweist sich Selbstbewusstsein immer als frei. Erkenntnis ist somit ein Vermögen, das nur ein freies Wesen, nämlich eines mit Selbstbewusstsein, überhaupt besitzen kann. Dass der Mensch zur Erkenntnis sein Gehirn benötigt, erweist sich in der Empirie. Dass alle Erkenntnis, auch diese, Freiheit voraussetzt, beweist sich aus der Entwicklung des Begriffs. Ohne die Annahme der Freiheit des Denkens, nämlich der Fähigkeit zur Spontaneität der Begriffsbildung eines selbstbewussten Subjekts, wird das Vermögen des Erkennens und Begreifens unerklärlich. Wäre Erkennen eine Naturbewegung des Organs Gehirn, so würde im Erkennen der Naturgesetze die Natur ein Bewusstsein von sich erhalten und wäre somit das Subjekt der Erkenntnis, welches in letzter Konsequenz als selbstbewusstes und freies gedacht werden müsste. In eine solche Vergottung der Natur gerät die evolutionäre Erkenntnistheorie, in welcher die Neuroepistemologie ihre Wurzeln hat.

9. Geistevolution

Was etwas ist, erschließt sich im Gang der Erkenntnis. Nun erkennt man das Gehirn und den Geist auf zwei verschiedene Weisen: Das Gehirn ist uns als ein Gegenstand möglicher Erfahrung gegeben und erschließt sich uns s i n n l i c h ; der Geist erkennt sich im Bezug auf sich selbst, also r e f l e x i v . In der Reflexion erkennt sich das bewusste Subjekt notwendig als eines und als freies; als sinnlichen Gegenstand erkennt es das Gehirn als naturkausal bestimmt. Die Vorstellungen über die Genese des Denkens in der Evolutionsgeschichte des Menschen fuhren auf Widersprüche, weil das intelligible Vermögen der Freiheit nicht als aus einer naturkausalen Entwicklung folgend gedacht werden kann. In der Neuroepistemologie erscheint die Einheit des Selbstbewusstseins sowie seine Erkenntnisleistungen als systemische Funktion eines sinnlichen Gegenstandes, des Gehirns. Wird das Bewusstsein als Funktion vorgestellt, wird es als funktional für einen bestimmten Zweck vorgestellt und es wird so zugleich implizit ein Subjekt vorgestellt, das das Bewusstsein als Funktion benutzt. Da unser Organismus Bewusstsein entwickele, werde dieses auch einen bestimmten Zweck haben, denn die Evolution bringe nichts Sinnloses hervor. Was genau dieser Zweck, also die Funktion des Bewusstseins sein soll, und wozu das Gehirn überhaupt den Zustand des Bewusstseins und des Ichs braucht, darüber gibt es verschiedene Hypothesen. Die am häufigsten vorkommende Hypothese ist die von der Lerneffizienz und der damit verbundenen großen Varianz an Verhaltensmöglichkeiten des Menschen, welches ihn in jedem Lebensraum flexibler macht als ein instinktgesteuertes und damit in der Verhaltensvarianz deutlich eingeschränkteres Tier. Diese Hypothese wirft empirisch allerdings das Problem auf, dass unser Bewusstsein diverse Verhaltensweisen hervorbringt, die wenig effektiv und nützlich erscheinen. A l l e Kulturerscheinungen als überlebenssichernd für die Art beschreiben zu wollen, fuhrt schnell ins Absurde. Das Selbstbewusstsein scheint also über die bloß arterhaltenden Funktionen hinauszuweisen.

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GEISTEVOLUTION

Das Urprinzip Weil Bewusstsein über die rein arterhaltende Funktion hinausreicht sieht Erhard Oeser im menschlichen Bewusstsein kein bloßes spezifisches Werkzeug', mit dem die Evolution uns freundlicher Weise ausgestattet hat, sondern das notwendige Resultat der Bewegung eines universellen Naturprinzips. Die Frage „Wie entsteht Bewußtsein?" 1 beantwortet Oeser, indem er Bewusstsein und gesellschaftliche Entwicklungen auf ein Prinzip zurückfuhrt, aus dem alle Entwicklung in der Natur abzuleiten sei. So denkt er sich ein Prinzip der „Evolution zweiter Art" 2 aus, welches die evolutionäre Weiterentwicklung der Evolutionsmechanismen selbst sei und von Oeser als „Evolution der Informationsverarbeitungssysteme" 3 beschrieben wird. Dahinter steht ein sehr weit gefasster Begriff der Information. Jeder wirkliche Zustand ist nach Oeser Information; mit jeder Veränderung eines Zustandes wachse diese Information an. So enthielten Moleküle mehr Information als einzelne Atome, belebte Materie mehr Information als unbelebte usf. So kommt Oeser „zu einem dynamischen Modell der Evolution von Informationsverarbeitungssystemen, das einen Prozeß der ökonomischen Informationsverdichtung darstellt, in dem jeweils auf einer höheren Stufe die unteren Ordnungsstrak genutzt werden, wobei auf jeder Ebene der sich so selbstorganisatorisch steigernden Komplexität sich sowohl die Qualität der Information als auch ihre Quantifizierungsgrundlage ändert." 4 Ein Anstieg der Information sei somit zugleich ein Aufstieg zu neuen Qualitäten. So steige der wachsende Informationsgehalt in einer Entwicklungsbewegung hin zu immer mehr und komplexerer Information auf, vom physikalischen Informationsverarbeitungssystem (IVS) in unbelebter Materie zum genetischen IVS in Lebewesen, zum neuralen IVS in höheren Lebewesen und schließlich zum mentalen IVS im Menschen, dessen höhere Stufe das heutige soziotechnische IVS in der medialen Wissensspeicherung sei. Dieses Prinzip dient bei Oeser zugleich als Erklärung der Entwicklung höherer Strukturen. Das Universum folge dem Prinzip, immer mehr und komplexere Strukturen zu erzeugen, die Oeser Informationen nennt. Darum entstehe Leben aus Unbelebtem, Bewusstsein aus Leben, Gesellschaft aus Bewusstsein, weil jedes dieser Phänomene einen höheren Informationsgehalt besitze als das vorhergegangene, dessen Informationen jedoch nicht verloren gingen, sondern in das neue System integriert würden. Seine Eingangsfrage „Wie entsteht Bewußtsein?" ist damit allerdings nicht beantwortet. Oesers Modell meint lediglich einen Grund dafür anzugeben, w a r u m Bewusstsein entsteht: weil es mehr und andere Informationen enthalten und speichern könne als

1 2 3 4

Vgl. Erhard Oeser, Gehirn, Bewußtsein und Erkenntnis, 176 ff. Ebd. Erhard Oeser, Gehirn, Bewußtsein und Erkenntnis, 225. Erhard Oeser, Gehirn, Bewußtsein und Erkenntnis, 224.

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D A S URPRINZIP

bloßer Instinkt. Damit ist der Mensch zwar wesentlich vom Tier unterschieden - aber als Folge eines universellen Naturprinzips. Dieses zeige sich auch in der menschliche Gesellschaft, welche die starke Tendenz aufweise, Informationen zu sammeln und in immer höheren und komplexeren Systemen zu speichern. Als Mittel der Parallelfuhrung von Natur und Kultur dienen Oeser Analogien. (Jacques Monod machte diesen Ansatz fur die moderne Biologie populär, indem er die Ideengeschichte mit der Entwicklung der Arten parallelisierte: Manche setzten sich durch, andere gingen unter. 5 ) Die analogen Gegenstände lassen sich jedoch nicht entlang einer Kausalkette auf eine gemeinsame Ursache zurückführen, sondern sie lassen sich lediglich analog betrachten. Eine Analogie bedeutet eine gleiche Proportion, ein gleiches Verhältnis, aber keine gemeinsame Ursache. Der Begriff der Information wurde von Oeser so weit gefasst, dass alles Information sei und diese für sich existieren könne, ohne Subjekt, dem sie eine Information wäre. Über diesen weiten Begriff der Information erscheinen dann alle Vorgänge als analog, denn sie sind alle als eine Veränderung des Informationsgehaltes zu beschreiben. Ohne ein Bewusstsein, für das eine Information sein kann, wird der Begriff der Information allerdings leer, denn ohne ein Subjekt, das über einen Zustand informiert werden könnte, enthält dieser Zustand auch keine Information. Der weite Informationsbegriff Oesers wird so zunehmend mit der Bestimmung des Seins deckungsgleich. Um den Gehalt seines zentralen Begriffs zu erhalten, bezieht Oeser implizit die Information auf das menschliche Bewusstsein, was Resultat der Entwicklungsbewegung der IVS sei und zugleich auch dasjenige, in dem die Information erstmals als gewusste ihrem Begriff entsprechen könne - was wiederum seine These untermauern soll, dass diese Naturentwicklung Bewusstsein hervorbringen musste. Da Oeser die transzendentalen Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis in neuronalen Bedingungen gründen lässt, bestimmt er auch das Selbstbewusstsein auf naturwissenschaftlicher Grundlage, indem er das Iterationsverfahren auf die Evolutionstheorie wendet. So behauptet er einen natürlichen Mechanismus der Selbstorganisierung des Materials zu Formen mit aufsteigendem Informationsgehalt. Im Resultat erscheint die Reflexivität des Denkens bei Oeser nicht als zur Freiheit des Menschen gehörig, sondern in einer naturalistischen Form als permanente Rückkoppelung von Einzelfunktionen des Hirns in eine Einheit - eine Einheit, die Oeser Selbstbewusstsein nennt. „Das menschliche Bewußtsein als Grundlage rationalen Verhaltens [...] stellt [...] eine emergente Eigenschaft einer artspezifischen Hirnleistungspotenz des Menschen dar. Mentale Phänomene [...] schließen sich beim Menschen zu einem sich selbst kontrollierenden kontinuierlichen Kreislauf zusammen und bilden so ein eigenes mentales Informationssystem mit der Fähigkeit der Selbstorganisation durch positive Rückkoppelung mit der Umwelt.f...] Dieser Kreislauf ist vom bloß mechanisch, d. h. ohne Selbstbewußtsein ablaufenden sensomotorischen Kreislauf dadurch zu unterscheiden, daß

5 Vgl. Jacques Monod, Zufall und Notwendigkeit,

München 1971, 202 f.

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GEISTEVOLUTION

diese operationale Schließung im Unterschied zur Sensomotorik erst aktiv hergestellt werden muß, während sie bei der einfachen Sensomotorik genetisch verkoppelt ist."6 Das Selbstbewusstsein wird so als Vereinheitlichungsfunktion der einzelnen Hirnfunktionen erklärt, welche eine materielle Schranke der Komplexität von Informationsflüssen überschritten haben und somit das Selbstbewusstsein zu ihrer übergeordneten Einheit als evolutionären Entwicklungsschritt erforderten. Oeser geht hier von einem Mangel aus, der entstehe, wenn eine Schranke der Komplexität überschritten sei. Ein solcher Mangel ist ein Nicht-Seiendes bezogen auf die immer komplexer gewordenen Informationsflüsse. Das, was noch nicht ist - etwa das menschliche Selbstbewusstsein - wird so zu einem Erfordernis erklärt, das den Mangel beheben kann. Ein solches Erfordernis zu konstatieren bedeutet, es ideell als Zweck zu bestimmen. Indem bei Oeser die Evolution diesen Zweck als blinde Bewegung in sich enthält und durch diesen dahin gesteuert wird, eine bis dato nicht vorhandene übergeordnete Einheit' oder ,Funktion zweiter Ordnung' zu entwickeln, enthält diese angeblich blind mechanistische Bewegung in ihrem Zweck, dem sie folgt, der Sache nach eine Richtung, die als eindeutig auf eine Ziel ausgerichtete nicht blind sein kann. Als übergeordnete Funktion oder ,Funktion zweiter Ordnung' sei das Selbstbewusstsein kategorial von allen biologischen Funktionen unterschieden und darum nicht in einem Hirnzentrum lokalisierbar. Hiermit umgeht Oeser das Problem anderer Neurophysiologen, das Selbstbewusstsein aus den systemischen Hirnfiinktionen erklären zu wollen allerdings um den Preis, ein universelles Prinzip in Natur und Gesellschaft annehmen zu müssen, ohne die Dynamik der sich weiterentwickelnden Informationsverarbeitungssysteme weiter begründen oder ihre Notwendigkeit aufzeigen zu können und ohne die qualitativen Differenzen von unbelebter Materie, Lebewesen, höheren Lebewesen, mentalen Zuständen und Gesellschaft hieraus zu erklären. Die qualitativen Differenzen sind seinen Versuchen, sie zu erklären, logisch immer schon vorausgesetzt. So erhält Oesers Theorem den Charakter des Glaubens an ein Urprinzip.

Die Wissenslücke Eine andere, direkt auf die neurophysiologische Debatte über die Frage, warum das Gehirn den Geist schaffe, bezogene Funktionszuschreibung des Bewusstseins ist die von Georg Northoff vertretene These, dass unser Gehirn sich die Illusion eines Geistes schafft, um eine Wissenslücke über seine eigenen, nicht von ihm empfundenen neuronalen Prozesse zu schließen (Theory of the Knowledge Gap).1 Northoff geht davon aus, dass die neuronalen Zustände des Gehirns die mentalen Zustände hervorbringen, wobei

6 Erhard Oeser, Gehirn, Bewußtsein und Erkenntnis, 226. 7 Vgl. Georg Northoff, Das Gehirn, München, Zürich 2000.

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diese mentalen Zustände in der Ersten-Person-Perspektive aufgrund der spezifischen Funktionsweise unseres Gehirns nicht als neuronale Zustände des Gehirns wahrgenommen werden können. Um diese ,autoepistemische Limitation' abzugleichen, müsse das Gehirn die Existenz eines Geistes annehmen, den es als Ursache der mentalen Zustände denke, da es sich selbst nicht als diese Ursache erfahren könne. Nonhoff zufolge können technische Verfahren, mit denen die Hirnaktivität simultan zu den eigenen mentalen Zuständen mithilfe bildgebender Verfahren angeschaut werden, uns in Zukunft helfen, diese Illusion des Gehirn-Geist-Dualismus zu durchschauen. Längerfristig sei die alte Philosophie des Geistes durch eine Philosophie des Gehirns zu ersetzen, welche der Erkenntnis Rechnung trage, dass die Vorstellung eines Geistes eine notwendigerweise vom (ungebildeten) Gehirn erzeugte Illusion sei, um mit einem in seiner neuronalen Konstruktionsweise bestehenden Mangel der Selbstwahrnehmung umgehen zu können. Da Northoff die Vorstellung des menschlichen Geistes hier als Vorstellung von einer Entität missversteht, fuhrt seine Begründung zur Entstehung des Geistes auf ein Paradox. Einerseits seien die vom neuronalen Geschehen im Gehirn erzeugten mentalen Zustände als mentale Zustände sehr wohl wirklich - sonst gäbe es keine Knowledge Gap, zu deren Überwindung das Gehirn den Geist annehmen müsste - und nichts anderes als diese mentalen Zustände sei der Geist. Andererseits sei Geist eine bloß funktionale Illusion des Gehirns, um den Ursprung der von ihm erzeugten, aber nicht als solche wahrnehmbaren mentalen Zustände zu erklären, und sei also nicht wirklich. Indem er zugleich als die Einheit angenommen wird, welche Ursache der mentalen Zustände sein soll, bestimmt Northoff den Geist zweifach: als reale, geistige Zustände und als deren irreale Ursache. Also gebe es Geist in Form mentaler Zustände, und zugleich sei alles Mentale eine Illusion - eine Illusion, die sich selbst plausibel machen müsse, indem sie sich als wirklich annehme, weil sie ihre Existenz nicht anders begründen könne. Da Geist, Selbstbewusstsein und Gehirn in Northoffs Argumentation nicht wirklich voneinander getrennt werden können, weil das Gehirn, wenn es ein Bewusstsein von einer Erklärungslücke hat, immer schon als Geist angenommen wird, schnurrt seine Erklärung, warum es Bewusstsein gebe, in letzter Konsequenz darauf zusammen, dass ein Bewusstsein Bewusstsein brauche, weil es sich sonst nicht wissen könne. Denn jede ,Wissenslücke' des Gehirns über sich selbst würde durch die Erzeugung eines Selbstbewusstseins als einer Illusion nicht geschlossen, sondern entsteht im Gegenteil erst durch das Selbstbewusstsein, das um eine ,Wissenslücke' weiß. Indem Northoff das Selbstbewusstsein in Form mentaler Zustände als gegeben voraussetzt und nur die Vorstellung eines Geistes Illusion nennt, verdoppelt er die mentalen Zustände in eine nicht-existente Ursache ,Geist' und jene geistigen Phänomene, deren Ursache das Gehirn sei. Da zugleich jedoch die mentalen Zustände selbst immer schon Geist sind (sonst wäre die Annahme einer geistigen Ursache unnötig), gerät ihm der Sache nach das Gehirn selbst zum Geist, welcher als Bewusstsein sich selbst er-

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kennen will. Ohne Selbstbewusstsein kann auch kein Mangel an Selbsterkenntnis (kein Bewusstsein einer Knowledge Gap) herrschen, da dieser Mangel kein Subjekt hätte und es also nichts gäbe, dessen Mangel es wäre. In der Theory of the Knowledge Gap erscheint das Selbstbewusstsein als ein Naturzweck, der eine bestimmte, außerhalb seiner selbst liegende Funktion hat, sonst würde das Gehirn den Geist Northoffs Theorie zufolge nicht hervorbringen, wenn es ihn nicht fur einen Zweck, der nicht Geist ist, bräuchte. Zugleich zeichnet dieser unterstellte Naturzweck die Reflexionsbewegung nach, in der das Denken sich auf sich selbst wendet. Allerdings in einem als irreflexiv vorgestellten Analogieschluss, nämlich als Wendung des Gehirns auf sich über das Selbstbewusstsein. Diese Wendung des Gehirns auf sich vermittels des Selbstbewusstseins (der Sache nach Reflexion) wird als Zweck des Geistes bestimmt. Doch damit ist das Selbstbewusstsein sich nur selbst Zweck. So untergräbt dieser theoretische Ansatz die eigene Annahme einer Funktionalität, indem die Funktion nur zugleich mit dem Zweck, für den sie Funktion ist, gegeben werden kann: als Selbstzweck. Erkennt man jedoch das Bewusstsein als etwas, das sich nur selbst zum Zweck haben kann, ist es mit einem teleologischen Naturzweck zwar analog, aber gerade darum nur durch sich selbst und nicht durch diesen konsistent zu begründen.

Die Evolution Das Rätsel des Denkens soll, wo nicht durch Reflexion, über seine Genese angegangen werden. Die Differenz der Neuroepistemologie zur philosophischen Erkenntnistheorie ergibt sich aus dem Bezug der Neuroepistemologie auf die Evolutionäre Erkenntnistheorie, ein spätestens seit Konrad Lorenz systematisch betriebener Versuch, unser Erkenntnisvermögen als eine organische Funktion der Biologie zugänglich zu machen. Theorien der Geistevolution wollen vor allem die Entwicklung des Erkenntnisvermögens darstellen und erklären. Darum wird die Frage nach der Entstehung und Entwicklung des Geistes mit erkenntnistheoretischen Fragestellungen verquickt. Ein Versuch der Neurobiologie, das Phänomen Bewusstsein zu erklären, führt so zu der Frage nach der evolutionären Entstehung von Bewusstsein. Die organischen Besonderheiten, die den homo sapiens sapiens von anderen Hominiden trennen, sollen den Grund des menschlichen Bewusstseins enthalten, das in seinen Leistungen deutlich die Ansätze einsichtigen Verhaltens bei Tieren übersteigt. So wie die Veränderung der Hüftknochen den aufrechten Gang ermögliche, so müsse auch die Gehirnveränderung den Schlüssel für das Denken enthalten. Lange Zeit nahm man an, dass das menschliche Gehirn aufgrund seines Volumens zum Denken befähige, auch dann noch, als die Schädelmessung keinen eindeutigen Zusammenhang zwischen herausragenden Denkleistungen und großen Köpfen aufzuzeigen vermochte. Als die technischen Möglichkeiten sich verbesserten, wurde zunehmend das Innere des Kopfes zum Feld der Suche nach dem Grund der Besonderheiten menschlicher Intelligenz.

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„Es ist jedoch keineswegs so, daß wir Menschen das größte Gehirn besitzen; Größe ist notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung für Komplexität und Leistung; es kommt auch und vor allem auf die Verschaltung der Nervenzellen an. Dennoch gilt, daß all die kognitiven Eigenschaften, die Säugetiere voneinander und den Menschen von diesen unterscheiden, einzig und allein auf einer Volumenzunahme der Großhirnrinde, auf einer Vermehrung von Hirnarealen, beruhen. Außer diesem quantitativen Unterschied läßt sich keine wesentliche Veränderung im Aufbau der verschiedenen Gehirne ausmachen." 8 Die Besonderheit des menschlichen Gehirns wird hier vorausgesetzt aufgrund des Bewusstseins, das den Menschen von allen Tieren besondert. Die einzige Besonderung im menschlichen Gehirn, die man bislang fand, ist eine relative Volumenzunahme der Großhirnrinde. Hierin müsse der Grund des Bewusstseins zu finden sein, da sich „außer diesem quantitativen Unterschied [...] keine wesentliche Veränderung im Aufbau der verschiedenen Gehirne ausmachen" lasse. Die kausale Verbindung zwischen Großhirnrinde und Bewusstsein ist so nicht bewiesen, sondern bloß unterstellt. Als Besonderheit des menschlichen Gehirns wurde schon vor der genaueren Untersuchung des Materials die Hervorbringung des Bewusstseins bestimmt, weil Bewusstsein die Besonderheit des Menschen ist. Darum wird eine physische Besonderheit gesucht, die dann aufgrund der vorher aufgestellten Prämisse als die Ursache des Bewusstseins angenommen wird. Damit ist von vornherein unterstellt, dass der zureichende Grund des Bewusstseins in einer physischen Gehirnbesonderheit des Menschen liege. Als diese Besonderheit wurde das Großhirn zunächst allein darum identifiziert, weil in diesem Teil des menschlichen Gehirns die deutlichste Differenz zu tierischen Gehirnen gefunden wurde (später konnten dann Verletzungen der Großhirnrinde in eindeutige Korrelation zu Beeinträchtigungen des Bewusstseins gesetzt werden). Das Bewusstsein wird damit als eine Wirkung neuronaler Ursachen angenommen, ohne dass die Art, w i e es bewirkt wird (oder auch nur bewirkt werden könnte), bekannt wäre. In Folge wird das Bewusstsein so von vornherein als naturkausal bestimmt gesetzt und folglich nicht als frei. Man sucht das großartige Vernunftvermögen des Menschen in einem organischen Superlativ. Das größte Gehirn hat der Mensch leider nicht, auch nicht in Relation zur Körpergröße. Doch er hat die wahrscheinlich größte Anzahl corticaler Neurone (ca. 100 Milliarden). Delfine, Wale und Schimpansen haben nur etwa die Hälfte. Eine weitere herausragende Besonderung des menschlichen Gehirns ist die Dauer der Reifung 9 seines Isocortex. Diese zieht sich beim Menschen bis ins zwanzigste Lebensjahr. Bei Affen ist sie bereits mit etwa vier Jahren abgeschlossen.

8 Wolf Singer, „Vom Gehirn zum Bewußtsein", in: Norbert Eisner und Gerd Lüder (Hg.), Das Gehirn und sein Geist, Göttingen 2000, 192. 9 Als Reifung bezeichnet man die postnatale Zunahme der Synapsen, Gliazellen und Kapillaren, Wachstum der cortikalen Zellen, Dendrite und Axone.

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„Ein bewußtes Erleben von Sinneswahrnehmungen scheint an die Gegenwart primärer sensorischer Areale im dorsalen Telencephalon (dorsales Pallium, Isocortex) gebunden zu sein [...]. Was ,höhere' geistig-bewußtseinsmäßige Leistungen betrifft, so korrelieren sie am ehesten mit dem Vorhandensein eines großen sechsschichtigen Cortex bzw. der außerordentlich großen Zahl der darin enthaltenen Neuronen und Synapsen. Der Mensch scheint nach neueren Berechnungen dasjenige Wesen zu sein, welches die meisten corticalen Neurone besitzt, eventuell mit Ausnahme des Elefanten. [...] Ebenso scheint die Periode großer neuronaler Plastizität und damit die Ausreifung des Gehirns (oder zumindest des Isocortex) beim Menschen sehr viel ausgedehnter zu sein als bei allen anderen Tieren."10 Für diese nachgeburtliche Reifung werden Umwelteinflüsse als im besonderen Maße prägend angenommen. Die Plastizität des menschlichen Gehirns - also seine Fähigkeit, neuronale Verknüpfungen neu zu bilden und umzustrukturieren - nimmt nach dem zwanzigsten Lebensjahr zwar deutlich ab, verliert sich jedoch nie ganz. Über diese lebenslange Plastizität unseres Gehirns erklären Neurologen beispielsweise, dass Menschen nach einer Verletzung des Sprachzentrums erneut sprechen lernen können; bildgebende Verfahren zeigen dabei, dass nun andere Regionen des Gehirns beim Sprechen aktiv sind als üblicherweise, dass also auch solche Himregionen als Sprachzentren fungieren können, die im gesunden Gehirn nicht an linguistischen Abläufen beteiligt sind. Ein solchermaßen leistungsfähiges Gehirn mit einer Vielzahl cortikaler Neuronen, die überdies dank ihrer Plastizität auch noch lebenslang flexibel auf sich verändernde Umweltbedingungen reagieren können, stellt sicherlich eine evolutionäre Neuerung dar. Der Gedanke scheint nahe zu liegen, aus dem ,Erfolg' unserer Art zu schließen, dass dieses neuartige Gehirn dem Menschen einen großen Selektionsvorteil bietet. Was wir aus den Besonderheiten unserer Neuronen jedoch nicht erschließen können, ist unser Vermögen, zu schließen. Die Möglichkeit der Notwendigkeit und Allgemeinheit unserer Erkenntnisse liegt in der Notwendigkeit und Allgemeinheit der reinen Vernunftbegriffe a priori. Diese zu entwickeln ist selbst eine Erkenntnis, gewonnen in der Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis. Als evolutionär gewordenes Vermögen vorgestellt wäre unser Erkenntnisvermögen jedoch in seinen Begriffen ebenso zufällig wie alles aus Natur Gewordene - und damit nicht notwendig und auch keine allgemeine Bestimmung jeder Vernunft. „Wollte jemand zwischen den zwei genannten einzigen Wegen noch einen Mittelweg vorschlagen, nämlich, daß sie [die Kategorien, welche ,νοη Seiten des Verstandes die Gründe der Möglichkeit aller Erfahrung überhaupt enthalten' 11 ; C. Z.] weder s e l b s t g e d a c h t e erste Prinzipien a priori unserer Erkenntnis, noch auch aus Erfahrung geschöpft, sondern subjektive, uns mit unserer Existenz zugleich eingepflanzte Anlagen

10 Gerhard Roth, „Die Evolution von Geist und Bewußtsein", in: Das Gehirn und sein Geist, S. 186. 11 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β167.

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zum Denken wären, die von unserm Urheber so eingerichtet worden, daß ihr Gebrauch mit den Gesetzen der Natur, an welchen die Erfahrung fortläuft, genau stimmte (eine Art von P r ä f o r m a t i o n s s y s t e m der reinen Vernunft), so würde (außer dem, daß bei einer solchen Hypothese kein Ende abzusehen ist, wie weit man die Voraussetzung vorbestimmter Anlagen zu künftigen Urteilen treiben möchte) das wider gedachten Mittelweg entscheidend sein: daß in einem solchen Falle den Kategorien die Notwendigkeit mangeln würde, die ihrem Begriffe wesentlich angehört."12 Als genau eine solche Art von Präformationssystem der reinen Vernunft verstand Lorenz - peinlicherweise im expliziten Bezug auf Kants Kritik der reinen Vernunft die Kategorien. Er dachte sie als Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung in Form eines evolutionär angepassten Erkenntnisapparates des menschlichen Geistes. In seinem Vortrag Kants Lehre vom Apriorischen im Lichte gegenwärtiger Biologie von 1941, den er anlässlich seiner Berufung auf den Kantlehrstuhl in Königsberg hielt, heißt es: „Das ,Apriori', das die Erscheinungsformen der realen Dinge unserer Welt bestimmt, ist, kurz gesagt, ein Organ, genauer: die Funktion eines Organes, und wir kommen seinem Verständnis nur näher, wenn wir ihm gegenüber die typischen Fragen der Erforschung alles Organischen stellen, die Fragen Wozu, Woher und Warum, mit anderen Worten: erstens die Frage nach dem arterhaltenden Sinn, zweitens die Frage nach der stammesgeschichtlichen Entstehung und drittens die Frage nach den natürlichen Ursachen der Erscheinung. Wir sind überzeugt, daß das ,Apriorische' auf zentralnervösen Apparaten beruht, die völlig ebenso real sind [...] wie die Dinge der an sich existierenden Außenwelt, deren Erscheinungsformen sie für uns bestimmen. Diese zentralnervöse Apparatur schreibt keineswegs der Natur ihr Gesetz vor, sie tut das genausowenig, wie der Huf des Pferdes dem Erdboden seine Form vorschreibt. Wie dieser stolpert sie über nicht vorgesehene Veränderungen der dem Organ gestellten Aufgabe. Aber so wie der Huf des Pferdes auf den Steppenboden paßt, mit dem er sich auseinandersetzt, so paßt unsere zentralnervöse Weltbild-Apparatur auf die reichhaltige reale Welt, mit der sich der Mensch auseinander setzen muß, und wie jedes Organ, so hat auch sie ihre arterhaltend zweckmäßige Form in äonenlangem stammesgeschichtlichem Werden durch diese Auseinandersetzung von Realem mit Realem gewonnen. [...] Wenn wir unseren Verstand als Organfunktion auffassen, wogegen sich nicht der geringste stichhaltige Grund vorbringen läßt, so ist unsere naheliegende Antwort auf die Frage, wieso seine Funktionsform auf die reale Welt passe, ganz einfach diese: Unsere vor jeder individuellen Erfahrung festliegenden Anschauungsformen und Kategorien passen aus ganz denselben Gründen auf die Außenwelt, aus denen der Huf des Pferdes schon vor seiner Geburt auf den Steppenboden, die Flosse des Fisches, schon ehe er aus dem Ei entschlüpft, ins Wasser paßt."13

12 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β 167 f. 13 Konrad Lorenz, „Kants Lehre vom Apriorischen im Lichte gegenwärtiger Biologie", in: Konrad Lorenz/Wuketits, Die Evolution des Denkens, S. 99 f.

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Lorenz' Fehler besteht, wie sich schon im Gleichsetzen von Ding an sich und Erscheinungen andeutet, darin, dass er die Beziehung von Erkenntnis und erkanntem Objekt mit der Beziehung belebter Körper zu ihrer Umwelt gleichsetzt. Die Beziehung zwischen Huf und Steppenboden hat er erkannt - dank eines Vermögens, das über eine bloß abbildende Wahrnehmung von Pferden und Steppe weit hinausreicht. Die Erkenntnisprinzipien a priori des Verstandes sind das Vermögen, den Zusammenhang zwischen Pferdehuf und Steppenboden zu begreifen. Sie können darum nicht an den Naturerscheinungen entwickelt werden, sondern erweisen sich an ihnen, indem sie diesen Zusammenhang im Denken herstellen. So ist das konkrete Erkennen dieses Zusammenhanges zwar zeitlich dem Entstehen des Steppenbodens und des Hufes nachgeordnet, denn erkannt werden kann nur dasjenige, was bereits existiert, aber logisch ist das Erkenntnisvermögen dem Akt des Erkennens vorgeordnet. Hätten sich die Kategorien des Verstandes am Material entwickelt, so wäre Erkennen ein Abbilden der Welt. Da dieses Abbilden der Welt als die Idealvorstellung von Wissen bei vielen Naturwissenschaftlern - insbesondere bei Biologen - erscheint, verwundert es nicht, dass Lorenz' Vorstellung vom Apriorischen als evolutionär erworbenem Vermögen des Erkennens sich bis heute in Biologie und Anthropologie erhalten hat. Doch als solches Abbilden wäre Erkenntnis gar nicht möglich. Denn das Begreifen von Naturerscheinungen setzt zwar die Wahrnehmung als notwendige Bedingung voraus und unser Wahrnehmungsapparat hat sich allerdings evolutionär in Auseinandersetzung mit der Umwelt entwickelt - das Begreifen folgt aber in keiner Weise aus der Wahrnehmung, sondern beruht auf einem Vermögen, das jenseits aller empirischer Wahrnehmung auf das Herstellen eines Zusammenhangs nach Regeln in einem System geht. Dieses Vermögen kann nicht aus der Ordnung der Natur gewonnen werden, weil es diese selbst erst herstellt. Viele namhafte Biologen haben sich unkritisch und offenbar ohne ein gewisses Verständnis des Originaltextes affirmativ auf die Lorenzsche Deutung der Kantschen Erkenntnistheorie bezogen. 14 Eine zeitgenössische neurophysiologische Variante des Lorenzschen Gedankens 15 findet sich bei Wolf Singer: „Wenn man eine beliebige Szene betrachtet und sich dabei vergegenwärtigt, daß diese auf der Netzhaut lediglich eine zweidimensionale Helligkeitsverteilung erzeugt, wird deutlich, welch immense Leistung das Sehsystem erbringen muß, um die in der Szene enthaltenen Figuren vom Hintergrund abzugrenzen und zu identifizieren. Unsere Sehzentren müssen von den vielen Konturen und Helligkeitsunterschieden jene herausfinden, die konstitutiv für eine bestimmte Figur sind, diese perzeptuell binden und dann 14 Vgl. Rupert Riedl, Evolution und evolutionäre Erkenntnis - Zur Übereinstimmung der Ordnung des Denkens und der Natur, oder vgl. Gerhard Vollmer, „Kant und die evolutionäre Erkenntnistheorie", in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie (9), 1984, 19-71, oder vgl., Erhard Oeser, Gehirn, Bewußtsein und Erkenntnis. 15 Ob mit Kenntnis oder Unkenntnis von Lorenz' Deutung des ,Apriorischen' geschrieben, ist mir unbekannt, tut aber nichts zur Sache.

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gemeinsam interpretieren. Es muß also wieder ein Bindungsproblem gelöst werden. Würde dieses Bindungsproblem falsch gelöst, würden ζ. B. die Konturen von Objekten mit Konturen des Hintergrundes verbunden, wäre es natürlich unmöglich, die Objekte zu erkennen. Die Segmentierung muß folglich dem Erkennungsprozeß vorausgehen. Erst nachdem richtig segmentiert wurde, kann erkannt werden. Dies bedeutet aber, daß der Segmentierungsprozeß sehr allgemeinen Regeln folgen muß, die auf beliebige Szenen gleichermaßen angewandt werden können. Wir gehen heute davon aus, daß die Regeln, denen solche Segmentierungsleistungen gehorchen, zum großen Teil angeboren sind, also auf Wissen beruhen, das im Laufe der Evolution erworben und in den Genen gespeichert wurde;" 16 Was Singer hier als Segmentierungsleistung bezeichnet - das Unterscheiden verschiedener Objekte in einer Szene, die sich auf der Netzhaut lediglich als Punktmannigfaltigkeit mit verschiedenen Helligkeitsstufen abbildet - ist mehr als bloßes Sehen. In der Unterscheidung verschiedener Objekte sind diese schon als unterschiedene gedacht. Die Segmentierung kann darum nicht dem Erkenntnisprozess vorausgehen, wie Singer schreibt. Diese Segmentierung i s t bereits selbst der Erkenntnisprozess. Da sie diese Szene erst als Szene mit unterschiedlichen Objekten bildet, kann sie nicht aus ihr resultieren - auch nicht als evolutionäre Anpassung. Der logische Denkfehler ist hier derselbe wie bei Lorenz und wie in jeder Evolutionären Erkenntnistheorie. Eine Bedingung der Erfahrung kann prinzipiell nicht aus der Erfahrung entstammen, kann sich nicht an der Erfahrung entwickeln, gleich, wie weit man ihren Ursprung ins Dunkel der Evolutionsgeschichte verlegt. Bedingungen der Erfahrung a priori machen Erfahrung erst möglich. Darum können sie nicht aus der Erfahrung stammen. Die Annahme einer evolutionären Entwicklung des Erkenntnisvermögens als eines Erkenntnisorgans, das sich in der Auseinandersetzung mit dem Material als genetisch gespeichertes Wissen herausgebildet habe, geht von einer „in gewissem Sinne aposteriorischen' Entstehung des ,Apriorischen'" 17 aus, was einen logischen Widerspruch bezeichnet. Es gibt keinen Weg, aus der Erfahrung sich ihre Bedingungen entwickeln zu lassen; nur den Weg, in der Reflexion auf die Erfahrung auf ihre Bedingungen a priori zu schließen. Dies ist Sache der Philosophie, nicht der Biologie. „Ihr untersucht wohl sehr scharfsinnig, wie das Licht von den Körpern zurückstrahlt, auf eure Sehnerven wirkt, auch wohl, wie das verkehrte Bild auf der Netzhaut, in eurer Seele doch nicht verkehrt, sondern gerade erscheint? Aber was ist denn dasjenige in euch, was dieses Bild auf der Netzhaut selbst wieder sieht, und untersucht, wie es wohl in die Seele gekommen seyn möge? Offenbar Etwas, das in so fern vom äußern Eindruck völlig unabhängig ist, und dem doch dieser Eindruck nicht unbekannt ist. Wie kam also der Eindruck bis in diese Gegend eurer Seele, in der ihr euch völlig frey und von Eindrücken unabhängig fühlt? Mögt ihr doch zwischen die Affektion eurer Nerven,

16 Wolf Singer, „Vom Gehirn zum Bewußtsein", in: Das Gehirn und sein Geist, 195 f. 17 Konrad Lorenz, „Kants Lehre vom Apriorischen im Lichte gegenwärtiger Biologie" S. 99.

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eures Gehirns usw. und die Vorstellung eines äußern Dinges noch so viele Zwischenglieder einschieben; ihr täuscht nur euch selbst, denn der Uebergang vom Körper zur Seele kann, nach euern eignen Vorstellungen, nicht kontinuirlich - sondern nur durch einen Sprung geschehen, den ihr doch vermeiden zu wollen, vorgebt." 18 Eine Evolutionäre Erkenntnistheorie oder Neuroepistemologie soll ein solches Zwischenglied der kontinuierlichen Vermittlung sein und ist dabei doch nur Ausdruck dieses Sprungs. Die ,Bindungsprobleme', die Wolf Singer anspricht, kennzeichnen die Sprünge in der Erklärung. Das Trennen zwischen Hintergrund und Objekt ist selbst nichts, was gesehen werden könnte - Objekte und Hintergrund müssen als Getrenntes g e d a c h t werden. Diese ,immense Leistung des Sehsystems' ist keine sinnliche Leistung des Organismus, sondern ein Erkennen, ein Begreifen - eine Leistung des Verstandes. Es ist keine Leistung ,des Apriorischen' (das Kant mit gutem Grund niemals substantiviert hat) als eines Dinges, einer Erkenntnisapparatur, einer neuronalen Struktur, die uns als historisch gewordenes Werkzeug die richtigen Raster lieferte, um ,Katze' und ,Sofa' auseinander zu halten. Sondern es sind als Erkenntnisvermögen die reinen Verstandesbegriffe a priori, die die Objekte der Erkenntnis dahingehend bestimmen, sie als voneinander getrennte Einheiten in ihrem wechselseitigen Bezug zueinander zu begreifen, z. B. als Katze auf dem Sofa. Die erkenntnistheoretische Folge der biologistischen Deutung des ,Apriorischen' als einem Erkenntnisorgan wäre, konsequent gedacht, gerade nicht die von der Natur gegebene Garantie, dass unsere Erkenntnis der Dinge diese darum zutreffend beschreibt, weil sie „in äonenlangem stammesgeschichtlichem Werden durch diese Auseinandersetzung von Realem mit Realem gewonnen" wurde, wie Lorenz es vor Augen hatte. Die erkenntnistheoretische Konsequenz eines solchen evolutionär entstandenen Erkenntnisapparates wäre im Gegenteil ein radikaler Skeptizismus oder Konstruktivismus (wie Gerhard Roth ihn bisweilen vertritt) 19 - eben die Folge, die Kant im Abweis der Theorie eines Präformationssystems der reinen Vernunft genannt hat: „Ich würde nicht sagen können: die Wirkung ist mit der Ursache im Objekte (d. i. notwendig) verbunden, sondern ich bin nur so eingerichtet, daß ich diese Vorstellung nicht anders als so verknüpft denken kann; welches gerade das ist, was der Skeptiker am meisten wünscht; denn alsdenn ist alle unsere Einsicht, durch vermeinte objektive Gültigkeit unserer Urteile, nichts als lauter Schein, und es würde auch an Leuten nicht fehlen, die diese subjektive Notwendigkeit von sich nicht gestehen würden; zum wenigsten könnte man mit niemandem über dasjenige hadern, was bloß auf der Art beruht, wie sein Subjekt organisiert ist." 20

18 F. W. J. Schelling, Ideen zu einer Philosophie der Natur (1797), nach: M. Durner (Hg.) Werke 5, Stuttgart 1994, 81 f(XXXI). 19 Vgl. Gerhard Roth, Das Gehirn und seine Wirklichkeit, 314 ff. 20 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β 168.

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Die Erkenntnisse, die ein evolutionär gewordener Erkenntnisapparat uns liefern könnte, dessen Begriffe als zufällig gewordene keine Notwendigkeit hätten, wären ebenfalls weder notwendig noch allgemein. Sie wären so zufällig wie der Erkenntnisapparat, der sie hervorbringt, und darum keine Erkenntnis, sondern bloßes Phantasma. Ohne objektive Erkenntnis aber gäbe es keine Wahrheit, d. i. keine Notwendigkeit und Allgemeinheit von Erkenntnissen. 21 Schon der Verlauf einer solchen sukzessiven Entstehung des Erkenntnisvermögens im Laufe der Evolution ist nicht konsistent zu denken. Die verschiedenen Kategorien sind zwar qua Reflexion voneinander zu unterscheiden, aber nicht als historisch verschiedene Schritte abtrennbar, die nacheinander als qualitativ differente Stadien des Denkens entstanden sein könnten. Denn sie sind alle mit dem Denken gesetzt. Denken ist eine Qualität, seine einzelnen Vermögen wären, stellte man sie sich isoliert tätig vor, kein Denken, kein Bewusstsein, und führten zu keinerlei Erkenntnis; Begriffe der Modalität ohne Begriffe der Qualität, Begriffe der Quantität ohne Begriffe der Relation fanden keine Wendung auf einen Gegenstand möglicher Erfahrung und wären damit Begriffe von Nichts. Vernunft ist nur als ganze möglich. Eine erste, noch rudimentäre Denkleistung mit einem Viertel Vernunft kann es darum sowenig geben, wie eine erste Kategorie historisch vor den anderen im Denken gewesen sein kann. Die Vorstellung, der Mensch habe sich, beginnend mit einer geringeren Vernunft, sukzessive vom Uraffen zum denkenden Wesen entwickelt, verwechselt einen kulturellen und technischen Fortschritt in den Denkinhalten mit einem Fortschreiten des Denkvermögens oder einem Wachsen der Vernunft. Vorformen des Bewusstseins lassen sich in der Naturgeschichte genauso wenig finden, wie im neuronalen Substrat des menschlichen Gehirns oder der entwicklungspsychologischen Geschichte eines Menschen, weil mit dem erkennenden Bewusstsein das sich erkennende Selbstbewusstsein und damit Freiheit gesetzt ist. Und Freiheit muss ihrem Begriff nach ohne sie bedingende Ursache gedacht werden. Bewusstsein erfasst Inhalte und Bedeutungen nicht als Abbild der Welt, sondern als ein Begreifen der Welt, das nur mit Freiheit zusammen zu denken ist. Hierüber zeigt das Begreifen sich in freien Handlungen, also in der zielgerichteten Tätigkeit aus Gründen. Handlungen folgen einem bewusst gesetzten Ziel. Sich ein Ziel zu setzen, setzt, ebenso wie die Erkenntnis, die Freiheit voraus, keinem naturbestimmten Instinkt folgen zu müssen. Sich ein Ziel zu setzen bedeutet Spontaneität des freien Willens. Wäre dieses Ziel schon aus Naturgründen heraus bestimmt, wäre es nicht das Ziel des selbstbewussten Ich, wäre es kein autonomes Ziel. Im Setzen eines Ziels sowie im logischen Schließen folgt das Denken der Vernunft, nicht der Natur. Und ein Denken, das der

21 Das schlichte Argument, dass der Satz ,Es gibt keine Wahrheit', wenn er wahr sein soll, sich selbst sogleich widerlegte, hat von den Vorsokratikern bis heute leider noch keinen Skeptizisten irritiert. Deshalb wird an dieser Stelle darauf verzichtet, erneut die Notwendigkeit des Wahrheitsbegriffs für das Denken darzulegen.

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Vernunft folgen kann, das also vernünftig ist, ist frei von heteronomer Bestimmtheit. Darum hat auch nur ein Wesen mit Vernunft die Freiheit, sich zu entscheiden, wie es handeln will, weil es die Folgen einer Tat denkend voraus nehmen kann und sich so nur ihm die Frage stellt, ob es einem Impuls folgen möchte oder ihn aufgrund seiner unerwünschten Folge lieber unterdrücken möchte. Freiheit folgt keinem vorgegebenen Gesetz der Natur - sie gibt sich selbst ein Gesetz. Darum lässt Autonomie sich prinzipiell nicht naturkausal herleiten. Man muss wohl annehmen, dass das Freiheitsvermögen des Menschen mit dessen Entwicklung entstanden ist, und man kann negativ zeigen, dass Menschen ihr Bewusstsein verlieren, wenn bestimmte Hirnfunktionen ausfallen. Aber es ist logisch und darum grundsätzlich unmöglich, zu zeigen, w i e Freiheit aus komplexen neuronalen Verknüpfungen entstehen könnte. Mit einer geschlossenen Kausalkette können nur solche Wirkungen beschrieben werden, die aus Ursachen folgen. Insofern sind die Wirkungen notwendig. Statistisch lassen sich Wahrscheinlichkeiten für Wirkungen angeben, die aus unübersehbar komplexen Ursachen folgen können. Insofern sind die Wirkungen möglich. Alles, was Ursachen folgt, ist durch diese bestimmt. Doch Freiheit bestimmt sich selbst. Sie ist darum n o t w e n d i g o h n e ä u ß e r e U r s a c h e zu denken. Sie ist spontan. Das Organ Gehirn erweist sich negativ als notwendige Bedingung des Selbstbewusstseins, doch zugleich erweist die Reflexion auf das Bewusstsein, dass es keine hinreichende Bedingung in einem Material, in einem anderen als sich selbst, haben kann. „Die Freiheit im praktischen Verstände ist die Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit. Denn eine Willkür ist sinnlich, so fern sie pathologisch (durch Bewegursachen der Sinnlichkeit) affiziert ist; sie heißt tierisch (arbitrium brutum), wenn sie pathologisch nezessitiert werden kann. Die menschliche Willkür ist zwar ein arbitrium sensitivum, aber nicht brutum, sondern liberum, weil Sinnlichkeit ihre Handlung nicht notwendig macht, sondern dem Menschen ein Vermögen beiwohnt, sich, unabhängig von der Nötigung durch sinnliche Antriebe, von selbst zu bestimmen." 22 Das Bewusstsein erkennt, dass es naturale Ursachen hat, aber zugleich erkennt es, dass es nicht durch diese bestimmt wird. Die Erscheinungen der Welt regen uns zu bestimmten Handlungen an, aber sie determinieren unsere Handlungen nicht. Der Mensch ist pathologisch affiziert, aber nicht necessitiert (nicht arbritium brutum, aber sensitivum - als freies Sinnenwesen). 23 In dieser Erkenntnis liegt die Freiheit, da sie selbst als Erkenntnis keine Necessität bei sich fuhrt, weil das Erkennen selbst nicht pathologisch auf seine Bedingungen zurückgeführt werden kann. An der Erkenntnis der Kausalität nach Gesetzen der Natur erweist sich Bewusstsein als zur Natur différentes und in der Erkenntnis, dass diese kausale Verursachung nicht vollständig ist, weil dasjenige, was

22 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β 561 f. 23 Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β 562.

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sie erkennt, nicht wiederum nach ihrem Prinzip als verursacht bestimmt werden kann, hat Freiheit ihren Begriff. Diese Nichtbestimmbarkeit des Bewusstseins durch Kausalität zeigt sich allenthalben in den Resultaten der Hirnforschung, ohne dass jedoch eine Reflexion darauf stattfände, dass gerade dieser Mangel an durchgehender Bestimmbarkeit durch Naturursachen ein Moment enthält, das sich allein selbst bestimmen kann (und muss). Nur hierüber ist Wissenschaft möglich, dass nicht die Natur uns nötigt, allein auf sinnliche Antriebe zu antworten, sondern dass wir im Experiment die Natur nötigen können, auf die Fragen zu antworten, die wir ihr vorlegen. Hierfür ist es erforderlich, dass das Bewusstsein von der Natur affiziert werde (was zu der Tatsache passt, dass das Gehirn eine notwendige Bedingung des Denkens sei), und es ist ebenso erforderlich, dass das Bewusstsein nicht aus Naturursachen determiniert ist. Darum lässt sich keine hinreichende Bedingung des Bewusstseins angeben, denn dann wäre Bewusstsein zureichend durch etwas Heteronomes bestimmt und damit als Unfreies nicht liberum; als Unfreies wäre es aber zu keiner Erkenntnis fähig und damit kein Bewusstsein. Wenn man ein bestimmtes neuronales Substrat - etwa den Isocortex oder präfrontalen Cortex - als die notwendige Bedingung von Bewusstsein identifizieren kann, wie es heute möglich ist (indem man zeigen kann: ohne Cortex ist kein Bewusstsein), dann muss man es als kausal mit dem Bewusstsein verknüpft annehmen. Doch das Bewusstsein, sobald es sich seiner bewusst ist und damit ist, weiß sich zugleich als frei gesetzt und als bedingt: als vernünftiges Sinnenwesen, d. i. als autonomes Subjekt in der Welt. Als solches kann es keine Wirkung einer ihm äußeren Ursache sein, aber es ist über seine Sinnlichkeit auf die Wirkungen äußerer Ursachen bezogen. Denn die Gegenstände der Erfahrung sind als der Inhalt des Denkens diesem sinnlich gegeben. Hierin ist ein Moment Freiheit enthalten, da die sinnliche Wahrnehmung als Vorstellung im Bewusstsein nicht eine naturkausale Wirkung, sondern zugleich ein denkend Konstituiertes ist. Darum geht Wahrnehmung nicht in der Beschreibung korrelierender neuronaler Gehirnprozesse auf, weil hierin das die Vorstellung im Denken konstituierende Moment der Freiheit prinzipiell nicht gefasst werden kann. Hinter der Behauptung, die (letzten Endes als naturkausal angenommene) Verursachung von Freiheit sei zu komplex, als dass wir sie - zurzeit oder jemals - verstehen könnten, steht der Sache nach ein viel grundlegenderes Problem. Da Freiheit ihrem Begriff nach ohne äußere Ursache, die sie bedingte, gedacht werden muss, wird niemals eine konsistente Theorie ihrer Verursachung formuliert werden können - gleichgültig, wie weit die Neurowissenschaften oder die Philosophie auch fortschreiten mögen. Ein pragmatischer Ansatz, mit diesem Widerspruch umzugehen, dass das Bewusstsein von der Existenz bestimmter neuronaler Prozesse und Hirnareale abhängt, aber zugleich nicht als kausal durch diese verursacht angenommen werden kann, ist, die Frage nach der Vermittlung von Gehirn und Denken einfach nicht zu stellen und sich mit der Erforschung der Korrelationen zufrieden zu geben.

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„Wir haben uns vielleicht inzwischen an das ,Weder-noch' in der Kosmologie, wo man sich weder einen unendlichen noch einen endlichen Weltraum vorstellen kann, und das ,Sowohl-als-auch' in der Mikrophysik, wo die kleinsten Materieteilchen sich sowohl als räumlich begrenzte Partikel als auch als genau das Gegenteil, nämlich als unendlich ausgedehnte Wellen, zeigen, gewöhnt. Ebenso gerät man in der funktionellen Gehirnforschung unversehens in diese jähe Abbruchzone unseres Denkens, wenn man die biologischen Erkenntnisse in die menschliche Sphäre extrapoliert."24 Die funktionelle Gehirnforschung ist darauf angewiesen, Leistungen eines Organismus zu beschreiben und diese dann durch spezifische neuronale Prozesse im Gehirn zu erklären. So werden der Orientierungssinn eines Regenwurms und die Fähigkeit zum Bruchrechnen eines Menschen gleichermaßen als Leistungen beschrieben, die mit einem neuronalen Korrelat verknüpft ist. Nur geht die Leistung des menschlichen Denkens über das hinaus, was sich rein operational beschreiben ließe. Mit dem Bewusstsein ist ein Reflexionsbegriff gegeben, der die Differenz setzt, dass der Mensch weiß, was er tut, während der Regenwurm bloß tut, was er tut. Und dieser Differenz entspringt der Widerspruch, dem Denken einerseits Gehirnfunktionen zuordnen zu können und es andererseits durch Gehirnfunktionen nicht beschreiben zu können. Doch wäre es unbefriedigend und führte zu Fehlern, hier von einer ,Abbruchzone unseres Denkens' auszugehen. Das Denken an einem in der Sache gründenden und darum unvermeidlichen Widerspruch abzubrechen bedeutete, die wissenschaftliche Erklärung der Welt mit einem System aufzugeben. (Das gilt in gleichem Maße auch für die Kosmologie und die Mikrophysik.) Vielmehr muss eben dieser Widerspruch betrachtet werden, ob er sich nicht - wie andere notwendige Widersprüche der kosmologischen Ideen - als konstitutiv für den praktischen Zusammenhang von Natur und Freiheit erweist.25 Dieser praktische Zusammenhang ist der Prozess der Vermittlung menschlicher, spontan aus Freiheit gesetzter Zwecke mit der Natur in der Welt, also Kultur im weitesten Sinne.

Die kulturelle Evolution Die Differenz zwischen Kultur und Natur wird in biologistischen Theoremen zwar oft betont, aber der Sache nach mit dem Begriff der ,kulturellen Evolution' aufgehoben, indem die Kultur als aus der Natur entspringend erklärt wird. Da es dennoch eine Differenz zwischen Natur und Kultur gebe, sei laut biologistischer Theorie von Lorenz bis Roth die Kulturbildung ein Naturprozess von besonderer Art, nämlich ein solcher, der zu einer Entfremdung vom Natürlichen führte.

24 Martin Heisenberg, „Gehirn und Geist zu Zeiten der Biologie", in: Das Gehirn und sein Geist, 132. 25 Vgl. Kapitel 11.

D I E KULTURELLE EVOLUTION

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Die Annahme einer solchen Bewegung der Entfremdung findet sich auch bei dem Neurophysiologen Wolf Singer, der die Kultur als ein Produkt aus dem Zusammenwirken vieler Gehirne beschreibt. Beim Bilden der Kultur in einem Prozess, dessen Mechanismus zur Evolution analog sei, bestehe die Gefahr, dass das Gehirn - ein Stück Natur - sich selbst denaturiere, also kulturell in einer anatürlichen Lebensweise überformt werde: „Die große Schwierigkeit beim Erlernen von Sprechen und Schreiben ist, dass man dieses parallele Vorhandensein von Bezügen und Wissen im Gehirn in eine Sequenz von Zeichen bringen muss. Das ist für das Gehirn ein ganz unnatürlicher Vorgang." 26 Diese hohe Form des Unsinns, naturalistisch unnatürliche Vorgänge zu konstruieren, ist kein faux pas, sondern die logische Konsequenz aus dem Widerspruch, Natur und Kultur als aus demselben Mechanismus folgend und gleichzeitig als qualitativ Unterschiedene zeigen zu wollen. Die Annahme, die menschliche Gesellschaft stelle eine bloße Verlängerung der Evolution auf höherer Ebene dar, ist nicht haltbar. Auch wenn man nicht von einer (möglichen) gesellschaftlichen Entwicklung ausgeht, in welcher die Gesellschaft von selbstbewussten Subjekten nach ihrer Freiheit geformt wird, sondern von gleichsam blind wirkenden Mechanismen, so sind die Prinzipien, nach denen Gesellschaft sich entwickelt, doch deutlich andere als die, welche in der Evolution wirken. Zwar lassen sich auf abstrakter Ebene analoge Entwicklungsmuster zwischen natürlicher Evolution und kultureller Entfaltung erkennen - etwa eine allgemeine Tendenz hin zu höherer Komplexität, wie Erhard Oeser sie beschreibt. Aber solche Analogien stark zu machen führt, wie Karl Decker es dargestellt hat, zu einer Verschleierung der Tatsache, dass die Weiterentwicklung der Lebensformen und der Kultur auf gänzlich unterschiedlichen Mechanismen basieren. Wäre es ein Mechanismus, so sein Argument, dann müsste die kulturelle Entwicklung die evolutionäre Entwicklung ablösen; sie könnten nicht zeitgleich in der Welt sein. 27 Decker zufolge sind Natur und Kultur bzw. Gesellschaft aber zwei unterschiedliche Gegenstände, die, da ihre Prinzipien grundsätzlich verschiedene sind, in ihren Bewegungsmomenten nicht gegeneinander stehen, einander nicht ausschließen und auch keinen Analogieschluss von einem Gegenstand auf den anderen zulassen. Doch solche Analogieschlüsse von Mechanismen, die in der Natur wirken, zu Mechanismen, die in der Gesellschaft wirksam sind, sind gerade in den verhaltensbiologischen und modernen neurophysiologischen Vorstellungen von dem, was Bewusstsein und was Denken sei, üblich. Jede kulturelle und gesellschaftliche Entwicklung wird naturalisiert, wenn Vernunft zum erweiterten Mittel der Evolution und/oder zu einer kausalen Wirkung neuronalen Geschehens erklärt wird. Unter diesem biologistischen Blick auf den Menschen ist die

26 Singer, Ein neues Menschenbild?, 99. 27 Vgl. Karl Decker, „Biologische Evolution und kulturelle Entfaltung", in: Leo Scheffczyk (Hg.), Dualismus vs. Dualität, Freiburg, München 1990.

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GEISTEVOLUTION

Vernunft als natürlicher Nachfolger des Instinktes bestimmt und kann damit bloß technisch-praktische Funktion haben. Ihre Differenz zum Instinkt des Tieres liege so bloß quantitativ in der großen Variabilität des zweckgerichteten menschlichen Handelns und Vernunft sei so nicht Selbstzweck, sondern Evolutionsvorteil. Die Zweckmäßigkeit der Vernunft beweise sich in den Möglichkeiten des Menschen, an Nahrung zu kommen oder Schutz vor der Witterung zu finden, die deutlich umfangreicher und ergiebiger seien, als diejenigen von Tieren. Die technisch-praktische Vernunft, unter welche die Arbeit unabhängig von ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Formbestimmung fällt, hat immer ein Moment von Freiheit, indem sie Mittel und Zwecke in Beziehung zueinander setzt. Dieses Moment scheint in der naturalisierten Darstellung von Vernunfthandlungen als technisch-praktischen jedoch nicht auf, da analog auch tierisches Instinktverhalten als zweckmäßig begriffen wird und die Differenz zwischen teleologischer Zweckbestimmung und selbstbewusster Zwecksetzung in den empirischen Verrichtungen von Lebewesen dem Naturwissenschaftler nicht erscheint. Bei dieser Betrachtung der Vernunft unter ausschließlich instrumenteilen Gesichtspunkten entfallt so der Sache nach die qualitative Differenz des Menschen zum Tier vollständig. „Der Mensch ist ein bedürftiges Wesen, sofern er zur Sinnenwelt gehört und so fern hat seine Vernunft allerdings einen nicht abzulehnenden Auftrag, von Seiten der Sinnlichkeit, sich um das Interesse derselben zu bekümmern und sich praktische Maximen, auch in Absicht auf die Glückseligkeit dieses, und, wo möglich, auch eines zukünftigen Lebens, zu machen. Aber er ist doch nicht so ganz Tier, um gegen alles, was Vernunft für sich selbst sagt, gleichgültig zu sein, und diese bloß zum Werkzeug der Befriedigung eines Bedürfnisses, als Sinnenwesens, zu gebrauchen. Denn im Werte über die bloße Tierheit erhebt ihn das gar nicht, daß er Vernunft hat, wenn sie ihm nur zum Behuf desjenigen dienen soll, was bei Tieren der Instinkt verrichtet; sie wäre alsdenn nur eine besondere Manir, deren sich die Natur bedient hätte, um den Menschen zu demselben Zwecke, dazu sie Tiere bestimmt hat, auszurüsten, ohne ihn zu einem höheren Zwecke zu bestimmen. Er bedarf also freilich, nach dieser einmal mit ihm getroffenen Naturanstalt, Vernunft, um sein Wohl und Weh jederzeit in Betrachtung zu ziehen, aber er hat sie überdem noch zu einem höheren Behuf, nämlich auch das, was an sich gut oder böse ist, und worüber reine, sinnlich gar nicht interessierte Vernunft nur allein urteilen kann, nicht allein mit in Überlegung zu nehmen, sondern diese Beurteilung von jener gänzlich zu unterscheiden, und sie zur obersten Bedingung der letzteren zu 28

machen." Schon das technisch-praktische Vermögen, in der Arbeit das Naturmaterial bewusst nach selbst gesetzten Zwecken zu formen, stellt eine qualitative Differenz zu den instinktgeleiteten Verrichtungen der Tiere dar. Doch Kant richtet den Fokus hier noch auf ein anderes Moment, das unzertrennlich mit dem Vernunftvermögen des Menschen ein28 Immanuel Kant, Kritik der praktischen

Vernunft, A 109.

DIE KULTURELLE EVOLUTION

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hergeht. Denn der Mensch kann mit Vernunft nicht nur äußeres Material zu seinen Zwecken bestimmen, sondern aus Vernunft auch sich selbst nach dem Zweck seiner Vernunft bestimmen. Dasjenige, was die Vernunft für sich selbst sagt, ist der kategorische Imperativ, das moralische Gesetz, welches nach Kant allgemein und unbedingt, also unabhängig von kulturellen Veränderungen, Geltung für jedes vernünftige Wesen beanspruchen muss. Wird Vernunft nur im Hinblick auf ihr technisch-praktisches Vermögen als natürliches Instrument analog zum tierischen Instinkt verstanden, dann erscheint Moral folgerichtig als ein veränderlicher Normenkatalog, der dem historischen gesellschaftlichen Wandel unterliegt (analog zur permanenten Veränderung geltender Gesetzgebung, die in verschiedenen Staaten und Zeiten stark differiert). Wäre die Vernunft bloß ein evolutionär erfolgreicher Nachfolger des Instinktes, dann wäre Moral ein den Umständen entsprechend sich anpassender Verhaltenscodex, der das Zusammenleben in Gesellschaften zum Vorteil der Art organisieren hülfe. Wenn Vernunft bloßes Mittel zum Zweck der Arterhaltung wäre und nicht Möglichkeit zur Realisierung von Zwecken aus Freiheit im Material und auch nichts für sich selbst, dann wäre die biologistische Position richtig; der Mensch wäre dasjenige Tier, das anstelle von Instinkt ein anderes Vermögen besäße und beide Vermögen wären gleichermaßen Mittel desselben Naturzwecks: Reproduktion des Exemplars und der Art. Freiheit und Sittlichkeit könnten für sich keine Realität haben. Entsprechend werden ihre gesellschaftlichen Erscheinungsformen vollständig unter dem Aspekt einer teleologischen Zweckmäßigkeit betrachtet und nach der Nützlichkeit ihrer normierenden Funktion begriffen. Was diese Auffassung von menschlichem Handeln in der Konsequenz heißt, haben Biologen längst erkannt: „Wenn es nämlich Verhaltensweisen gibt, die angeboren und dementsprechend in der Evolution entstanden sind, so bestehen nur geringe Chancen, sie tiefgreifend zu verändern." 29 Sowohl das Verhalten des Einzelnen als auch ihr Zusammenspiel in der Gesellschaft wäre nach einem durch keinen Willen und durch keine Vernunft zu verändernden Naturzweck bestimmt und damit legitimer Gegenstand der Naturwissenschaften. Gesellschaft lässt sich analog zu tierischen Organisationsformen des Zusammenlebens betrachten, wie die biologistischen Theorien es tun. Doch b e g r e i f e n lässt sie sich hierüber nicht, denn der Zweck der Gesellschaft, der sie und ihre Entwicklung bestimmt, ist kein Naturzweck, sondern ein durch Menschen aus Freiheit hervorgebrachter Zweck - auch dann, wenn er sich in der Gestalt von Fremdbestimmung und Herrschaft zeigt. Die Differenz zwischen Natur- und Gesellschaftswissenschaft liegt darin, dass erstere ihre Gegenstände über die Rückführung auf Naturursachen erklärt, während letztere ihren Gegenstand durch die Reflexion auf seine ideelle Ursache begreift. Ohne

29 Peter Hoff und Wolfgang Miram (Hg.), Materialien flir den Sekundarbereich tion, Hannover 1987, 100.

II Biologie,

Evolu-

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GEISTEVOLUTION

die Reflexion auf die ideelle Ursache von Gesellschaft, nämlich aus Freiheit gesetzte Zwecke, die sich in einer Gesellschaft realisieren und über die allein sich ihre spezifische Formierung und Gesetzmäßigkeit begreifen lässt, verfehlte jede wissenschaftliche Untersuchung von Gesellschaft ihren Gegenstand. „Nur weil die Ursachen der Erscheinungen einer Theorie der Gesellschaft aus Freiheit gesetzt sind, kann eine Theorie der Gesellschaft kritisch werden, das, was sie erkannt hat, im Unterschied zu den Naturwissenschaften, ablehnen."30 Die an die Evolutionäre Erkenntnistheorie anknüpfenden neuroepistemologischen Theorien laufen in ihrer Biologisierung des Geistes auf eine Transformation der Gesellschaftswissenschaft in eine prinzipiell affirmative Naturwissenschaft hinaus. In ihrem explizit apolitischen Gestus liegt so ihr gesamter reaktionärer Gehalt. Denn den Naturwissenschaften sind Ursachen nur solche, die der Kausalität und Wechselwirkung unterliegen; die Gesellschaftswissenschaften hingegen können über ihren Gegenstand urteilen, wenn sie eine ideelle Ursache (d. i. einen Grund) annehmen, welche einer moralischen Bewertung unterzogen werden kann. Man mag sich bisweilen über die Schwerkraft ärgern, sie zu kritisieren ist jedoch ohne Sinn, da es kein Subjekt gibt, an welches sich eine solche Kritik richten könnte. Sie ist eine Erscheinung der Natur. Gesellschaft ist hingegen eine Erscheinung, die durch Menschen hervorgebracht und verändert wird. Darum muss Gesellschaftswissenschaft kritisch sein, muss ihren Gegenstand moralisch beurteilen, denn der Mensch schafft sich seine Umwelt und die Möglichkeiten der Realisierung seiner Freiheit selbst. In der Gesellschaft objektiviert sich das Wissen der Menschheit und die Weise der Realisierung ihrer Freiheit,31 nicht der Instinkt als die Lebensweise einer Art. Was sich in einer Gesellschaft objektiviert, wird darum auch nicht genetisch vererbt, sondern historisch tradiert. Es ist nicht in die DNA eingeschrieben, sondern im Gedächtnis bzw. den Medien einer Gesellschaft. Die Veränderung der Gesellschaften ist folglich auch zurückzuführen auf ein verändertes Wissen und Bewusstsein der Menschen, nicht auf eine Veränderung der DNA. Darum verändern Gesellschaften sich auch nicht evolutionär, sondern einerseits über den Wissenstand und über die technischen Möglichkeiten, andererseits über die übergeordneten Zwecke, nach denen die partikularen formiert werden, d. i. über die Formen der Ökonomie und der Herrschaft. Da diese Formierung über gesellschaftliche Mechanismen auch die Ausformung ihrer Wissenschaften prägt, muss eine Kritik der Hirnforschung diese im Zusammenhang mit der bürgerlichen Gesellschaft betrachten, die sie hervorbringt.

30 Till Streichen, Von der Freiheit und ihrer Verkehrung, Berlin, New York 2003, 179 Fußnote 806. 31 Dies objektiviert sich konkret in der Art der Organisation von gesellschaftlichem Reproduktionsund Arbeitsprozess.

10. Freiheit und Herrschaft Freiheit in der bürgerlichen Gesellschaft

In Peter Bieris Buch „Das Handwerk der Freiheit" werden die psychologischen Bedingtheiten des empirischen Willens als seine Bedingungen betrachtet, welche die Freiheit einschränken. Hieraus resultiert Bieris These, der Mensch sei bedingt frei, je nach der individuellen Verfasstheit seiner Psyche habe er einen weiteren oder engeren Handlungsspielraum. Diesen zu vergrößern sei das Handwerk der Freiheit, welches jeder Mensch erlernen könne. Bieri nennt die Vorstellung absoluter Freiheit eine Täuschung; er nimmt die Willkür für die ganze Freiheit und schränkt diese zudem auf die inneren Bedingtheiten ein. Ihre äußeren Bedingungen - nämlich das äußere Material, das der Wille sich zum Inhalt macht, wenn er etwas will, und die Herrschaft, d. i. die Macht, einen Willen unter fremde Zwecke zu zwingen - nimmt er umstandlos als gegeben an, ohne sie explizit zum Gegenstand zu machen. Die Freiheit als bloß subjektive Täuschung anzunehmen, wie es auch bei Roth und Singer geschieht, erhält eine gewisse Plausibilität gerade durch die Form, in welcher Freiheit der Willkür sich in der bürgerlichen Gesellschaft unter apersonaler Herrschaft im Eigentum vergegenständlicht. Indem die Freiheit der Willkür von Roth bis Bieri eine Täuschung genannt wird, da menschliche Handlungen vielfachen Bedingungen unterliegen, beziehen diese Theoretiker sich ausschließlich auf die Form, in welcher Freiheit in unserer Gesellschaft wirklich ist, jedoch ohne Reflexion auf die gesellschaftlichen Bedingungen unserer Freiheit. Was durch die bürgerlichen Revolutionen erkämpft wurde, wird so naturalisiert, indem die Momente der Freiheit, welche der bürgerliche Staat seinen Bürgern garantiert, gänzlich zu inneren Bedingtheiten des Einzelnen erklärt werden. Damit entziehen die hier besprochenen Theoreme implizit dem bürgerlichen Staat seine Legitimation; wo die Freiheit keine Objektivität hat, bedarf sie auch keines äußeren Garanten. In der aktuellen Debatte um die Frage, ob der Mensch frei sei, mangelt es an der Unterscheidung zwischen der transzendentalen Idee der Freiheit und der Freiheit der Willkür eines empirischen Subjekts. In den vorangegangenen Kapiteln wurde die transzendentale Idee der Freiheit behandelt, um die Frage zu beantworten, ob der Mensch ein Wesen sei, dem Willensfreiheit zukomme. Die Frage wurde bejaht. Der Wille des Menschen kann durch die transzendentale Idee der Freiheit bestimmt werden und ist darum nicht

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FREIHEIT UND HERRSCHAFT

nur durch Naturdinge als Willensinhalte, sondern auch durch die Vernunft bestimmbar und darum frei und nicht determiniert. Nur darum, weil er ein Wesen ist, dem Freiheit zukommt, kann der Mensch unter bestimmten empirischen Umständen unfrei sein nämlich dann, wenn die Möglichkeit zur Realisierung seiner Freiheit eingeschränkt wird.

Die Wendung der Freiheit nach Innen Der bestimmte empirische Wille ist nicht reiner Wille und darum niemals absolut frei. Sobald der einzelne, empirische Wille sich einen bestimmten Inhalt setzt (und nur hierin ist er als Wille wirklich), der als bestimmter Inhalt nicht rein aus Vernunft ist - indem er sich auf einen äußeren Gegenstand richtet, den er will - hängt der empirische Wille von dem Gewollten und von der individuellen Verfasstheit des Begehrens ab. Dieses ist nicht rein aus Vernunft zu begründen, sondern als Einzelnes willkürlich. Das Begehren ist auf das begehrte Objekt bezogen und insofern auch durch dieses bestimmt, aber nicht determiniert. Die Willkür des Einzelnen ist so bedingt, durch das Begehren und durch das begehrte Objekt. In der Willkür artikuliert sich ein Bedürfnis, jedoch nicht mit Necessität (sonst wäre sie keine Willkür, sondern vollständig Bedingtes), sondern in der Weise, dass die Willkür, obwohl bedingte, bestimmbar bleibt. Hiermit liegt im Begehren ein Moment, das nicht im Vemunftvermögen des Menschen aufgeht, sondern zugleich mit der Sinnlichkeit verknüpft sein muss. Bedürfnisse sind nicht statisch, sie können gesetzt, geweckt und produziert werden. Die spezifischen Bedürfnisse eines Menschen sind durch eine Vielzahl von äußeren und inneren Faktoren bedingt. Dass ich jetzt ein Erdbeereis will, hängt vielleicht von den Außentemperaturen ab, davon, dass gerade der entsprechende Werbetrailer im Radio läuft und auch davon, dass meine Tante mich früher in den Sommerferien mit einem Riesenkübel selbst gemachtem Erdbeereis empfangen hat. All diese empirischen Bestimmungsgründe ergeben nicht zwingend, dass jemand Erdbeereis mag. Aber obgleich diese empirischen Bestimmungsgründe nicht hinreichend sind, meine Willkür mit Notwendigkeit zu bestimmen, erscheint in meinem Bedürfnis nach Erdbeereis zunächst auch keine Freiheit des Willens und keine Vernunftbestimmung. Deshalb soll an solchen Alltagsbeispielen oft die Determiniertheit unserer Willkür plausibel gemacht werden. Mein Wollen von Erdbeereis hat nicht viel mit Freiheit zu tun, ich habe mich niemals bewusst dazu entschieden, diese Eissorte anderen vorzuziehen und es wäre auch ganz unmöglich, rationale Gründe der Vernunft anzugeben, welche den Vorzug von Erdbeereis vor niederen Sorten wie Himbeere oder Pfirsich ein für allemal bewiesen. Die Präferenz einer Eissorte ist willkürlich, und Autoren wie Gerhard Roth oder Peter Bieri können sie als durch tausenderlei innere und äußere empirische Umstände bedingt annehmen, weil sie andersherum auch nicht hinreichend durch Vernunft

DIE WENDUNG DER FREIHEIT NACH INNEN

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bedingt ist. Das, was die Willkür ausmacht - dass sie nicht hinreichend durch etwas bedingt ist und eben darum Willkür - wird so zum augenscheinlichen Beleg ihrer Determiniertheit durch äußere Ursachen, die als hinreichende Bedingungen angenommen werden, aber zugleich als so komplex und verschränkt, dass sie sich nicht hinreichend als vollständige positiv bestimmen lassen. Hieraus folgt dann die Wendung: Ich fühle mich frei, jetzt ein Erdbeereis essen zu wollen - aber weil dieses Wollen sich an Äußeres knüpft, könnte es durch dieses bedingt sein und so könnte diese Freiheit meines Willens eine Täuschung sein. So kann jedes Wollen als ein Müssen interpretiert werden und in Folge erscheint jede Willkür als eine Zwangshandlung. Das Bedürfnis kann auch empirisch als so stark und drängend empfunden werden, dass ich mich ihm gegenüber als unfrei empfinde. Ich muss jetzt sofort ein Erdbeereis essen. Ob ich jetzt ein Erdbeereis essen kann - also meine Willkür sich realisiert - hängt zudem von äußeren Faktoren ab, ζ. B. davon, ob der Kiosk welches anbietet und ich noch genug Geld habe, es mir zu kaufen, oder andernfalls den Mut, es zu klauen. In dieser Weise wird die innere oder äußere Bedingtheit menschlicher Handlungen in der Debatte um die Willensfreiheit häufig angeführt, um eine Unfreiheit oder eine eingeschränkte, bedingte Freiheit des Menschen plausibel zu machen. Lösungen fur einen empfundenen Mangel an Freiheit werden dann gern auf einer subjektiven psychologischen Ebene gesucht, wo die inneren Bedingtheiten eines Menschen, die durch Erziehung, Traumata u. Ä. entstanden sind, zurückgedrängt werden können, um ein größeres Maß an persönlichen Handlungsoptionen zu erreichen. So wird die Freiheit vom wissenschaftlichen Gegenstand, über den sich objektive Aussagen mit Notwendigkeit und Allgemeinheit machen lassen, zu einer Übung der Geschicklichkeit: Zum Handwerk. Konsequent heißt das Buch des Philosophen Peter Bieri zum Thema Das Handwerk der Freiheit. Im Handwerk der Freiheit stellt Bieri weniger philosophische, sondern überwiegend psychologische Betrachtungen zum Thema Willensfreiheit an, um dann hierüber zu dem Schluss zu kommen: ,Der Mensch ist bedingt frei'. „Die Freiheit unseres Willens, so denken wir, besteht darin, daß wir auch etwas anderes wollen könnten, als wir tatsächlich wollen." 1 Hierauf gründe laut Bieri der gängige ,Beweis' für die Existenz einer Willensfreiheit. Wir würden uns in unseren Handlungen als frei erfahren. Dieses Gefühl der eigenen Freiheit sei konstitutiv für unsere Persönlichkeit. Doch gerade in dieser Persönlichkeit, die eine bestimmte ist, was sich in bestimmten, eben dieser Persönlichkeit eigenen und sie ausmachenden Handlungen zeige, beweise sich nach Bieri tatsächlich die Unfreiheit unseres Willens. Wir könnten anders wollen und anders handeln, als wir es tun - doch nur dann, wenn wir jemand anders wären. „Unser Wille könnte ein anderer sein, als er tatsächlich ist, wenn die Umstände, unter denen er entstanden ist, andere wären, als sie tatsächlich sind. [...] Jeder Wille braucht innere und äußere Umstände, die ihn bedingen, um überhaupt ein bestimmter Wille zu

1 Peter Bieri, Das Handwerk der Freiheit, Frankfurt a. M. 2005, 79.

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FREIHEIT UND HERRSCHAFT

sein. Daraus folgt: Mit einer Variation der Umstände würde auch der Gehalt des Willens variieren." 2 Β ieri führt vor, dass die Introspektion nicht den Beweis der Freiheit liefern kann, den viele von ihr erhoffen oder behaupten zu bekommen, und demonstriert, wie die Introspektion uns unsere Unfreiheit anhand der eigenen Handlungen aufzeigen kann. Und tatsächlich kann der Blick auf die eigenen alltäglichen Handlungsweisen uns auch keinen Beweis für einen freien Willen liefern. In empirischen Handlungen ist Freiheit naturwissenschaftlich unbeweisbar; denn ließe sie sich beweisen, hieße dies, ihre Bedingungen zu kennen. Hätte die Freiheit aber einen Grund außerhalb ihrer selbst, der sich als ihre Ursache erkennen ließe, so hinge sie von diesem - einem Heteronomen - ab und wäre also keine Freiheit. 3 Doch auch durch die Introspektion des einzelnen Subjekts selbst lässt sich die Freiheit in empirischen Handlungen nicht fassen. Und alle, die versuchen zu argumentieren, sie würden doch fühlen, dass sie sich frei zu dieser oder jener Handlung entschlossen hätten und dieses als subjektiven Beleg der Willensfreiheit anführen möchten, täuschen sich, weil im Fühlen kein intelligibler Grund erkannt werden kann. Durch Introspektion lassen sich innere Bedingungen empirischer Handlungen erfühlen oder verborgene persönliche Motive erahnen, die als subjektive prinzipiell nicht in der transzendentalen Idee der Freiheit aufgehen. Zugleich lassen sich für empirische Handlungen auch äußere Bedingungen nennen, nach welchen Menschen in einer bestimmten gegebenen Situation ihren Willen bestimmen. Auch wenn die Ursache einer Handlung aus Freiheit ist, erscheint diese in ihr niemals als wahre Freiheit, als Unbedingtes, weil die Handlung als Handlung eines empirischen Subjekts immer mit dessen zufalligen Vorlieben oder Abneigungen untrennbar verknüpft ist und weil jede Tat in der Welt sich unter die gegebenen äußeren Bedingungen schicken muss. Freiheit erschließt sich darum empirisch weder durch eine äußere Analyse noch durch die Introspektion, also die sie begleitenden Gefühle und Abwägungen von Gründen. Freiheit erschließt sich in der Reflexion, also nur im Begriff, niemals in der Praxis. Aber sie hat, wie sich zeigen wird, allein in der Praxis ihre Wirklichkeit. Da Bieri nicht in der Reflexion des Denkens, sondern in der Nabelschau des Einzelnen auf die seine Taten begleitenden Gefühle uns die Freiheit suchen lässt, verwundert es nicht, wenn er aufzeigt, dass sie sich dort nicht findet. Was er findet, ist ein subjektives Gefühl des Freiseins, welches konstitutiv für den Entscheidungsprozess sei - der jedoch durch äußere und innere Umstände bedingt sei. „Doch diese pauschale Variation zwischen Umständen und Inhalt des Willens ist es nicht, was wir im Auge haben, wenn wir von Freiheit des Willens sprechen, indem wir triumphierend sagen: ,Ich könnte auch etwas anderes wollen!' Doch was ist es dann? Es ist etwas, das dem Grundgedanken des Entscheidens entspricht, wie wir ihn bisher ent-

2 Ebd. 3 Vgl. Kapitel 1.

DIE WENDUNG DER FREIHEIT NACH INNEN

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wickelt haben: daß wir durch Überlegen und Urteilen darüber bestimmen, was wir wollen." 4 „Doch die Freiheit des Willens [...] bedeutet nicht seine vollständige Ungebundenheit. Es macht die Freiheit eines Willens aus, daß er auf bestimmte Weise gebunden ist." 5 Nur hierüber, so Bieri, dass der Wille sich an unsere Urteile bindet, die nach seiner Darstellung keine logischen Funktionen des Denkens seien, sondern vielmehr Ausdruck der Genese dessen, wie die Welt uns geprägt hat und wie wir diese Prägung aufgenommen und verarbeitet haben, ist unser Wille ganz individuell, einzigartig und dadurch überhaupt erst der spezifische Wille dieser ganz besonderen Person. Ein Wille, der sich nicht durch die besondere Verfasstheit meiner Willkür, sondern aufgrund allgemeiner Gesetze bildete, wäre Bieri zufolge in diesem besonderen Sinne gar nicht m e i n Wille und darum auch nicht das, was Bieri als frei bezeichnet. Die Freiheit liegt nach Bieri gerade darin, dass die Besonderheit des Individuums sich konstituieren und im Willen handlungswirksam, also wirklich werden kann. Diese Fokussierung des Willens allein auf die sich in ihm zeigenden Besonderheiten eines Individuums blendet das allgemeine Moment der Vernunft jedes Willens aus. Laut Bieri kann der Wille nicht unbedingt frei sein, denn dann wäre er willkürlich, unverständlich und unsere Taten wären unbegründet und uns selbst fremd. „Nehmen wir an, Sie hätten einen unbedingt freien Willen. Es wäre ein Wille, der von nichts abhinge: ein vollständig losgelöster, von allen ursächlichen Zusammenhängen freier Wille. Ein solcher Wille wäre ein aberwitziger, abstruser Wille. Seine Losgelöstheit nämlich würde bedeuten, daß er unabhängig wäre von ihrem Körper, Ihrem Charakter, Ihren Gedanken und Empfindungen, Ihren Phantasien und Erinnerungen. Es wäre, mit anderen Worten, ein Wille ohne Zusammenhang mit all dem, was Sie zu einer bestimmten Person macht. In einem substantiellen Sinne des Wortes wäre es gar nicht Ihr Wille. Statt zum Ausdruck zu bringen, was Sie - dieses bestimmte Individuum - aus der Logik Ihrer Lebensgeschichte heraus wollen, bräche ein solcher Wille, aus einem kausalen Vakuum kommend, einfach über Sie herein". 6 Die Bedingtheiten, die hier den Willen z u u n s e r e m p e r s ö n l i c h e n Willen machen sollen, sind psychologische: Unser Charakter, Empfindungen und Phantasien als Konglomerat unserer individuellen Lebensgeschichte. Dieser ,Logik unserer Persönlichkeit' - die keine Logik mit notwendigen und allgemeinen Gesetzen ist, sondern eine Alogik, deren Notwendigkeit nur in Bezug auf die individuelle Person vorgestellt und über deren Lebensgeschichte plausibel gemacht wird - folge unser Wille; hierdurch sei er bedingt und nur über diese spezifische Bedingtheit sei es u n s e r Wille.

4 Peter Bieri, Das Handwerk der Freiheit, 79 f. 5 Peter Bieri, Das Handwerk der Freiheit, 81 f. 6 Peter Bieri, Das Handwerk der Freiheit, 230. Der Sache nach widerlegt Bieri hier die Vorstellung einer transzendenten Freiheit, die jenseits alles Empirischen bestimmungslos ist. Die Idee der transzendentalen Freiheit wird von ihm nicht verhandelt.

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Im Weiteren subsumiert Bieri Urteile, die nicht auf individueller Veranlagung, sondern auf Vernunft beruhen - also keine bloßen Entscheidungen sind, sondern Urteile im Sinne der klassischen Logik - umstandslos unter die individuelle psychologische Verfasstheit einer Person. „Beginnen wir mit dem Einfluß, den das Überlegen [...] auf den Willen ausübt. Dieser Einfluß stellt eine Bedingtheit dar, und deshalb könnten wir auf einen unbedingt freien Willen keinen solchen Einfluß ausüben. [...] Ein unbedingter Wille ist, wie er ist, man kann ihn nicht lenken. Besäßen wir einen solchen Willen, so hätten wir über seine Richtung nicht die geringste Macht und nicht die geringste Kontrolle. [...] Die Unvernunft eines solchen Willens würde sich auch daran zeigen, daß er uns unverständlich bleiben müßte. Einen bedingten Willen kann man sich verständlich machen, indem man sich das Netz von Bedingungen vergegenwärtigt, in das er eingebunden ist. [...] Wären wir Wesen mit einem unbedingt freien Willen, so müßten wir füreinander ein vollständiges Rätsel bleiben. Was wir aus Freiheit täten, wäre kraft dieser Freiheit keiner Erklärung und keinem Verstehen zugänglich. Wenn wir am Tun der anderen etwas verstehen könnten, so wäre das ein Beweis dafür, daß es sich um ein Tun aus Unfreiheit handelte, denn unser Verstehen würde darin bestehen, daß wir es als etwas Bedingtes darstellten." 7 Hier wird deutlich, wie Bieri jedes Vermögen des Bewusstseins psychologisch fasst: Alles, was nicht Außen, was nicht Natur ist und damit nicht unter die Naturgesetze fällt, lasse sich nur über die individuelle psychische Verfasstheit der Person begreifen, werde plausibel durch das Nachvollziehen der jeweiligen Bedingungen, welche den Charakter darstellen. Vernunft erscheint hier nicht als ein Vermögen, welches nach eigener gesetzmäßiger Struktur, die nicht naturkausal bestimmt ist, die gegebenen Bewusstseinsinhalte nach allgemeinen Regeln zu verknüpfen vermag, sondern als eine bloß nachgeordnete Bedingtheit, die der individuellen und zufälligen Lebensgeschichte folgt und somit zum Ausdruck gerade nicht einer Allgemeinheit des Denkens, sondern der Individualität gerät. Das Unbedingte des freien Willens, was der transzendentalen Bestimmung der Freiheit nach in der Vernunft gründet, sowie die Kategorien als reine Verstandesbegriffe a priori, die also unabhängig von bestimmten empirischen Bedingungen und Erfahrungen sind, erscheinen darum bei Bieri als psychologische Motive des Einzelnen und damit letztlich als Unvernunft. Zugleich erscheint die von ihm konstruierte transzendente Freiheit nicht als transzendentale Bedingung der Vernunft (die Vernunft folgt ihren Gesetzen, nicht denen der Natur, und ist darum notwendig frei), sondern wird zu einer fremden, regellosen Entität hypostasiert, der - gäbe es sie - das Subjekt hilflos ausgeliefert wäre. Die Verständlichkeit der einen Individualität durch eine andere müsste unter Bieris Prämissen immer mangelhaft bleiben, da keine vernünftigen Urteile nachzuvollziehen wären, sondern lediglich psychische Bedingtheit durch Analogie zur eigenen Verfasstheit zu berücksichtigen wäre. Doch diese Art des Verständnisses - das keine Einsicht in

7 Peter Bieri, Das Handwerk der Freiheit, 230 ff.

D I E W E N D U N G DER FREIHEIT NACH INNEN

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die Prinzipien der anderen Individualität und damit im strengen Sinne gar kein Verstehen, sondern bestenfalls durch die Nachkonstruktion von dessen unbeurteilt bleibenden Motiven ein Plausibelmachen einer Handlung darstellen könnte - wäre laut Bieri nicht möglich, wenn unser Wille unbedingt frei wäre. Mit,unbedingt' meint er hier nicht,unter keiner heteronomen äußeren Bedingung stehend', wie die unbedingte Willensfreiheit klassisch in der Philosophie als unter keinem Gesetz als dem der Vernunft stehend begriffen wird. Da die Vernunft bei Bieri nicht als eigenes Vermögen - und schon gar nicht als gesetzgebendes Vermögen - auftaucht, sondern selbst nur Resultat spezifischer Bedingtheit ist, bedeutet ihm der unbedingt freie Wille ein Wille, der unter keinem Gesetz stehen kann. Die Folgen zeigt er auf. Es wäre ein Wille ohne Möglichkeit zum Gesetz oder auch nur zur Maxime. Es wäre Willkür, ohne dass diese sich durch ein Begehrungsvermögen bestimmen ließe. Es wäre damit nicht nur kein Wille, es wäre nicht einmal die zielgerichtete Willkür des Tieres. Eine solche Bestimmung wäre leer und erscheint in den Schilderungen Bieris geradezu dämonisch. Befallen von einer fremden Macht, dem absolut freien und unbedingten Willen, handelten alle Menschen ohne mögliche Angabe von Ursachen oder Gründen wahnhaft vor sich hin. Dies ist die Hypostasierung der reinen Unbedingtheit zu einer empirisch tätigen Entität, frei von Vernunft und entkoppelt von der handelnden Person. Dieses Horrorszenario ist glücklicherweise nicht Teil unserer Wirklichkeit. Folglich sei unser Wille, so schließt Bieri, nicht unbedingt frei. Unser Wille sei also bedingt. Unsere Erfahrungen und Anlagen prägten unseren Charakter; nach seinem Charakter wählte jeder Mensch unter den sich bietenden Bedingungen das ihm Gemäße aus. Dennoch will Bieri keine absolute Determination unseres Willens durch unsere Charakterprägung aus Umwelt und Anlage behaupten. Zugleich soll hierin ein Moment der Wahlfreiheit liegen. Diese wird durch ein Hintertürchen ermöglicht, nämlich durch Urteile. Urteile sind ihrem Begriff nach logisch gesetzmäßig und darum nicht empirisch bedingt. Doch Bieri spricht nur von Naturgesetzen; Gesetze der Vernunft oder des Verstandes führt er nirgends an und kann so folgern: ,Unser Wille ist bedingt'. Dass er trotzdem frei sein soll, kann er nur unter der Hand hineinmogeln, indem er der Sache nach ein Unbedingtes - unter keinen empirischen Bedingungen Stehendes, Transzendentales aber nicht Transzendentes - mit hinein nimmt, ohne es als ein Unbedingtes zu identifizieren. Dieses sind die logischen Funktionen des Schließens in Urteilen, die neben und trotz aller subjektiven Prägung des Charakters diejenigen Handlungen, Aussagen und Erkenntnisse eines Menschen für alle Vernunftwesen verständlich machen, die auf logischen Funktionen des Denkens gründen. Was Bieri Urteile nennt, sind zunächst die Entscheidungen, die dem Gefühl folgen, also psychologische Mechanismen. Zugleich hätten diese Urteile aber auch ein rationales Moment, und über dieses könne der Mensch gewisse charakterliche Bedingtheiten überwinden. Urteile sind bei Bieri der Sache nach nicht ausschließlich logische und ordnende Funktionen des Denkens, die allgemeine Gültigkeit für jedes Menschen Vernunft haben. Sie seien aber auch keine bloßen Willkürentscheidungen, die nach Gutdünken

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getroffen würden und gänzlich psychologisch bedingt seien. So enthält der Begriff des Urteils bei Bieri sowohl die allgemeine und darum von jedem Vernunftwesen einzusehende Seite des logischen Schlusses, als auch das Moment der individuellen psychologischen Bedingtheit. Da diese Differenz bei ihm nicht expliziert wird, bleibt der Begriff des Urteils bei Bieri uneindeutig und taugt darum nicht zu der Erklärung, die er liefern soll. Bieri schwankt hier zwischen zwei Extremen (Freiheit und Bedingtheit), die er beide für falsch hält und deren Vermittlung ihm letztendlich misslingt. Er argumentiert: Unser Wille könne nicht völlig frei sein, könne kein Transzendentes sein. Denn wenn wir unsere Entscheidungen gänzlich frei träfen, dürften sie von keinerlei Bedingungen abhängen. Hingen sie aber von keinerlei Bedingungen ab, dann wären sie unbegründet und damit auch völlig unverständlich. In diesem Falle dürften keine Gründe angebbar sein, warum ich mich so und nicht anders verhalte. Denn jeder Grund wäre eine Bedingung außerhalb meines Willens und meine Entscheidung wäre darum nicht völlig frei, wenn ich sie begründen könnte. Einen solchen Willen hatte Bieri als beziehungslos zu jeder Bestimmtheit, die eine Person ausmache, charakterisiert. Da wir aber die Handlungsweisen von Menschen verstehen können und selbst nach Gründen handeln, sei unser Wille folglich nicht völlig frei, nicht transzendent, nicht gänzlich unbedingt. „Machen wir die Gegenprobe. Nehmen wir an, wir sagen: ,Handlungen sind etwas, was aus Motiven entsteht. Wir tun etwas, weil wir etwas wollen. Deshalb sind Handlungen auch verständlich. Bedingungen aber gibt es nur, wo es Regelmäßigkeiten gibt, also Gesetze, die festlegen, was geschieht. Es steht also, gegeben gewisse Bedingungen, fest, was wir tun werden. Also gibt es keine freie Wahl und wir täuschen uns, wenn wir beim Überlegen das Gegenteil annehmen'. Jetzt haben wir die Idee der verständlichen Handlung gerettet, aber die Idee der freien Entscheidung verloren, und mit ihr die Idee der Verantwortung." 8 Diese Klarheit, mit der Bieri in der Einleitung zum Handwerk der Freiheit den sich durch dieses Werk ziehenden Widerspruch beschreibt (entweder der Wille sei bedingt und verstehbar oder frei und unverständlich), verliert sich leider rasch, sobald er ihn zur Theorie von der bedingten Freiheit des Menschen zusammenbringen möchte. Seine Lösung sucht die Freiheit nicht in den völlig unverständlichen Handlungen von Menschen, in denen sich keine Regelmäßigkeit und keine Gründe erkennen lassen und die demnach unter sein Kriterium des absolut freien Willens fallen, im Wahnsinn also. Der Weg, den er beschreitet, ist weniger konsequent und originell. „Die Freiheit des Willens liegt darin, dass er auf ganz bestimmte Weise bedingt ist: durch unser Denken und Urteilen. Es ist die ganz bestimmte Variation zwischen Urteil und Willen, in der die Freiheit besteht [...] Was Sie als ihre Freiheit erleben, ist, dass Sie am Ende dasjenige wollen, was in Ihrem Urteil überwiegt." 9 Er hat den Widerspruch,

8 Peter Bieri, Das Handwerk der Freiheit, 23. 9 Peter Bieri, Das Handwerk der Freiheit, 80.

DIE WENDUNG DER FREIHEIT NACH INNEN

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den er Eingangs explizit benannt hatte, schlicht und ungelöst in seine Theorie übernommen. Der oben zitierte Satz könnte ebenso gut von Gerhard Roth stammen. Was bei Bieri folgt, ist die psychologisierende Variante des nichtreduktionistischen Physikalismus. 10 Dabei hat Bieri Recht, wenn er von der Nachvollziehbarkeit menschlicher Handlungsweisen auf Gründe schließt, auf Bedingungen, die auf eine Gesetzmäßigkeit hinweisen. Doch Bieri kennt offensichtlich nur eine Art von Gesetz, das Naturgesetz. Die Reflexion darauf, dass das Denken in logischen und moralischen Urteilen weder naturgesetzlich noch willkürlich verfährt, sondern sich aus Freiheit Maximen setzen und ein Gesetz geben kann, würde sein Dilemma lösen. Doch Vernunft erscheint bei Bieri nicht als gesetzgebendes Vermögen; Urteile werden nicht als logische, sondern bloß als psychologische Funktionen des Denkens angesehen; Moralität bleibt Verabredung, gesellschaftliche Norm. Und so verharren auch die Urteile als Gründe, nach denen der Wille sich bildet, als ein ihm äußerliches, ein Naturhaftes, dem Willen Heterogenes. Darum kann Bieri das Moment der reinen Unbedingtheit des Willens nicht in den Urteilen finden. Die Urteile werden so zum Spiegel der charakterlichen Bedingtheit und nicht zum Ausdruck der Vernunft im freien Selbstbewusstsein. Die Differenz Bieris zu Roth besteht hier einzig darin, dass Bieri einen Schwerpunkt auf das emanzipative Moment der Psychoanalyse legt, welches Roth vollständig unterschlägt. In der Rolle, welche Urteile in Bieris Ausführungen einnehmen, steckt ein Moment von Rationalität und Vernunft, durch die eine Emanzipation von der eigenen Bedingtheit zu leisten wäre. In seinen Beispielen taucht eben dieser Emanzipationsprozess zumindest beim Individuum auf, das sich von zwanghaften Handlungen lösen könne, indem es sich diese bewusst mache, sich gegen sie entscheide und im Rahmen einer Psychoanalyse an deren Überwindung arbeite. Aber dieses emanzipative Moment findet sich nur in den ausgeführten Beispielen; es verschwindet in jeder abstrakteren Darstellung. Und so bleibt von der Freiheit bei Bieri nur das Erleben der Kongruenz von Urteil und Handlung übrig. Dies kann er dann mit dem Terminus ,bedingte Freiheit' beschreiben. Genauso gut ließe sich diese Freiheit mit Roth eine Täuschung nennen. Bieri untersucht Wege und Möglichkeiten, die inneren Bedingtheiten zurückzudrängen, jedoch ohne die Freiheit, welche theoretische Voraussetzung für jede Arbeit mit der eigenen Psyche sein muss, voraussetzen zu können. So rutscht er unfreiwillig wieder in den Determinismus. Auf diese Weise kommt Bieri hier ganz ohne den Bezug auf das neuronale Geschehen im Gehirn zu einem Resultat, das zu Roths nichtreduktionistischem Physikalismus analog ist: ,Der Wille ist bedingt frei'. Dass er mit Gerhard Roth im Prinzip einig ist, ergibt sich aus ihren Positionen und zeigt sich dort, wo beide miteinander ihre Thesen diskutieren. 11 Diese Einigkeit verwundert nicht, denn, wiewohl von verschiedenartigen Ansätzen ausgehend, haben Bieri

10 Vgl. Kapitel 2. 11 Vgl. Christof Gestrich und Thomas Wabel (Hg.), Freier oder unfreier Wille?, Berlin 2005, S. 32 f.

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und Roth eine Gemeinsamkeit: Sie teilen denselben Freiheitsbegriff als einen Begriff, der bloß empirisch bleibt, der ausschließlich auf die inneren Bedingtheiten eines Menschen reflektiert, ohne die äußeren Bedingungen zu beachten, und der in den neuronalen oder psychischen Bedingtheiten des Individuums die ,Lücke' als möglichen Spielraum einer Freiheit vergeblich sucht und schließlich postuliert. Da die Bedingungen als bestimmend fur die Handlungen angesehen werden und das Moment der Freiheit auf eine bloße Empfindung reduziert wird, welche die bedingte Handlung begleite, sei der Wille im Sinne der so genannten starken Bedeutung von Freiheit nicht frei. Doch ein bedingter Wille ist ein unfreier Wille; eine bedingte Freiheit ist keine Freiheit. Was Bieri und Roth auf dieser empirisch-psychologischen bzw. neurophysiologischen Ebene, auf der sie sich bewegen, nicht betrachten, sind die äußeren Bedingungen der Freiheit. Diese scheinen offenbar als unveränderlich gegeben und in keinerlei Zusammenhang mit der Freiheit stehend vorausgesetzt zu werden. Bieris Handwerk der Freiheit kennt keine politische Dimension, alle Beschränkungen erfahre die Freiheit von innen. Äußere Beschränkungen der Freiheit können hier nicht erscheinen, da die ganze Freiheit als bloß gefühlte in das Subjekt verlagert wird. Darum legt Bieri den Fokus auf pathologische Zwänge und kann so ein ganzes Buch über Freiheit schreiben, ohne Herrschaft zu thematisieren.

Die Verkehrung von Freiheit in Herrschaft ,,[S]o kann die Willkür allerdings, wenn sie die Freiheit sein soll, eine Täuschung genannt werden." 12

Die Behauptung, unser Wille sei nicht frei, oder, was dasselbe ist, unser Wille sei bedingt frei, ist so alt wie der Materialismus. 13 Bereits Hegel erwiderte hierauf: „In dem [...] Streit, ob der Wille wirklich frei oder ob das Wissen von seiner Freiheit nur eine Täuschung sei, war es die Willkür, die man vor Augen gehabt. Der Determinismus hat mit Recht der Gewißheit jener abstrakten Selbstbestimmung den Inhalt entgegengehalten, der als ein vorgefundener nicht in jener Gewißheit enthalten und daher ihr von außen kommt, obgleich dies Außen der Trieb, Vorstellung, überhaupt das, auf welche Weise es sei, so erfüllte Bewußtsein ist, daß der Inhalt nicht das Eigene der selbst bestimmenden Tätigkeit als solcher ist. Indem hiermit nur das formelle Element

12 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Frankfurt a. M. 1996, 66. 13 Die These vom naturgesetzlich bestimmten Willen des Menschen wurde zuletzt vor 200 Jahren im Zusammenhang mit dem materialistischen Menschenbild der Aufklärung im großen Rahmen diskutiert - wenn auch unter anderen Vorzeichen. In der Aufklärung wurde von den Materialisten versucht, die Freiheit des Menschen gegen die kirchliche Vorstellung seiner Gottbestimmtheit mit dem Hinweis auf seine Naturbestimmtheit zu verteidigen; freilich verstrickten sich die Theorien von d'Holbach, La Mettrie und anderen hierbei in Aporien.

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der freien Selbstbestimmung in der Willkür immanent, das andere Element aber ein ihr gegebenes ist, so kann die Willkür allerdings, wenn sie die Freiheit sein soll, eine Täuschung genannt werden." 14 Im Rekurs auf die Entwicklung des Freiheitsbegriffs in Hegels Rechtsphilosophie lässt sich zeigen, dass die Vorstellung, wir täuschten uns über unsere Freiheit, ein wahres Moment enthält. Dieses wahre Moment erschöpft sich nicht darin, dass in der Annahme einer bedingten Freiheit des Willens der Widerspruch erscheint, welcher der Freiheit der Willkür stets immanent ist. Vielmehr ist in der Form, in welcher Freiheit sich in der bürgerlichen Gesellschaft im Eigentum vergegenständlicht, die vom Menschen realisierte Freiheit wirklich in einer Weise, in der sie sich in ihr Gegenteil - konkret in apersonale Herrschaft - verkehrt. Wegen ihrer Verkehrung in Herrschaft ist die Freiheit in der bürgerlichen Gesellschaft keine wahre Freiheit. Sie ist allerdings auch keine bloß subjektive Täuschung, deren Grund in unseren neuronalen Verschaltungen läge, sondern objektiv in gesellschaftlich hergestellter Form. Wird die Freiheit in ihrer verkehrten Form als strukturelle Herrschaft eine Täuschung genannt, so ist daran das wahre Moment, dass Menschen unter Bedingungen der Herrschaft unfrei sind. Den Grund für die Täuschung in der Vorstellung von Freiheit dann in unseren neuronalen Verschaltungen zu behaupten, täuscht dann jedoch wiederum darüber hinweg, dass das Täuschende an der Freiheit in der bürgerlichen Gesellschaft in einer objektiven ökonomischen Form gründet und ist darum ideologisch. In der Behauptung durch die moderne Hirnforschung, wir täuschten uns über unsere Freiheit, sind also zwei Weisen der Verkehrung zu finden: die objektive Verkehrung von Freiheit in Herrschaft durch das Kapitalverhältnis und die ideologische Verkehrung der hieraus resultierenden Unfreiheit von einer ökonomisch zu einer neuronal hergestellten, womit dann behauptet wird, der Grund der Unfreiheit läge nicht in der Verfasstheit der Gesellschaft, sondern in der Natur des Menschen. Ein freier Wille wäre nicht durch Instinkt oder anderer determinierende Faktoren bestimmt. Die Freiheit des Willens hat zur Voraussetzung: „Der Wille enthält das Element der reinen Unbestimmtheit".15 Der Wille i s t nicht die reine Unbestimmtheit, denn als solche könnte er nichts Bestimmtes wollen, aber er e η t h ä 11 die reine Unbestimmtheit als Element. Indem der Wille die reine Unbestimmtheit als Element enthält, kann er sich selbst bestimmen. Hierin ist er nicht kausale Folge äußerer Ursachen, sondern frei. Diese Freiheit bedeutet jedoch nicht nur: Nicht bestimmt zu sein von Äußerem. Diese Bestimmung wäre leer, weil die reine Unbestimmtheit nichts Bestimmtes und damit gar nichts wollte. Freiheit bedeutet darum notwendig auch: sich bestimmen zu etwas. Der Wille ist nur Wille als das Wollen von etwas Bestimmtem. Das andere Element, das der Wille enthält, besteht also darin, sich selbst einen Inhalt zu geben. Um sich einen Inhalt zu geben, muss die Willkür sich auf Äußeres wenden: Ich will dieses Be-

14 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie 15 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie

des Rechts, 66. des Rechts, 49.

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stimmte. Der Widerspruch der Freiheit der Willkür besteht genau in diesem Verhältnis der beiden Elemente des Willens, unbestimmt zu sein durch Äußeres und sich zu Äußerem als seinem Inhalt zu bestimmen. Jeder Inhalt des Willens ist ein besonderer Inhalt und setzt einen verfügbaren von Außen gegebenen Stoff, eine „Materie der Willkür"16 voraus. Die Freiheit des Willens realisiert sich also nur im Bezug auf das, was dieser Freiheit formal entgegensteht, das ihm heteronome Material. Der Wille ist die Einheit dieser beiden Momente des Willens, der reinen Unbestimmtheit und der Bestimmung des Inhaltes des Willens. Denn wenn eine der Seiten, die reine Unbestimmtheit oder das Setzen einer Bestimmtheit, für die ganze Freiheit genommen wird, gelangt man entweder zu leerer Unbestimmtheit oder aber zu einer heteronomen Bestimmung des Willens, welche Unfreiheit wäre. Der Wille ist so über dem Inhalt und zugleich an den Inhalt gebunden. Dieser Widerspruch der Gebundenheit der Freiheit in der Wahl ist das Kennzeichen der Willkür. Der endliche Wille hat somit zwei Seiten. Als Form, als in sich reflektierendes Ich, ist er unendlich und frei. Der Inhalt dieses Willens ist jedoch endlich und gebunden. Der endliche Wille ist der Form nach frei und dem Inhalt nach gebunden, weil mit dem Wollen das Wollen der Realisierung gesetzt ist: Das Gewollte soll wirklich werden. Der Einzelne ist darum in seinem freien Willen zugleich von den äußeren Bedingungen zur Realisierung des Gewollten abhängig. Wenn der Wille sich einen Inhalt gibt, der sich nicht realisieren lässt, erweist sich zwar die Substanz des Willens als frei, aber der Wille erreicht hierin nicht seine Bestimmung. Ebenso verfehlte er seine Bestimmung, wenn er sich auf das Wollen des Gegebenen beschränkte, weil sein möglicher Inhalt dann vollständig durch Äußeres bedingt wäre. Nach Hegel sei die Gestalt der Freiheit des Willens, die als die abstrakte Willkürfreiheit firmiert, zu Recht eine Täuschung zu nennen, da diese Willkür an den Inhalt gebunden ist, der ihr vorausgesetzt ist. Sie ist damit an ein ihr Heteronomes gebunden. Dieses Verhältnis verschiebt sich allerdings dann, wenn die Inhalte des Willens selbst der Willkür entspringen; wenn die Materie der Willkür k e i n e b l o ß z u f ä l l i g v o r g e f u n d e n e , sondern eine a b s i c h t s v o l l h e r g e s t e l l t e ist. Im gesellschaftlichen Zusammenspiel schaffen Menschen sich ihre Abhängigkeiten als Mittel zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse selbst; und sie schaffen sich dabei auch stets neue Bedürfnisse, indem sie ihre Bedürfnisse und die Mittel zu deren Befriedigung verfeinern und vervielfältigen können. Hierin liegt die erst in der Gesellschaft wirklich gewordene Freiheit von der Naturnotwendigkeit - eine Freiheit, die einen vorgestellten Naturzustand des Menschen nach Locke17 oder Hobbes 18 als unfrei erweist, weil in ihm die

16 Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, AB 57. 17 Vgl. John Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, Frankfurt a. M. u. A. 1967. 18 Vgl. Thomas Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerliches Staates, Frankfurt a. M. 1984 und Naturrecht und allgemeines Staatsrecht in den Anfangsgründen, Berlin 1926.

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Mittel zur Realisierung der Bedürfnisse unmittelbar aus der Natur entspringen und nicht selbst durch den tätigen Willen erschaffen werden können. Denn ohne den Zusammenschluss der Menschen zur Produktion, ohne Arbeitsteilung und die mit ihr verbundene Steigerung der Produktivkraft ihrer Arbeit lebt der Mensch von der Hand in den Mund und muss seinen Willen zur Befriedigung dringender körperlicher Bedürfnisse unmittelbar an die naturgegebenen Inhalte knüpfen. In Hegels Darlegung der Freiheit in der bürgerlichen Gesellschaft ist dieser Freiheit dagegen eine andere äußere Schranke als die Natur gesetzt. Am Eigentum des Anderen, dem ,absolut Harten', strandet die Willkür der Einzelnen. Bestimmt wird die Sphäre der persönlichen Freiheit allgemein durch das Recht, garantiert wird sie durch den Staat und sein Gewaltmonopol. Dieses erzeugt die absolute Härte der Grenze, die heteronom zur Willkür des Einzelnen steht. 19 Die Freiheit des Einzelnen realisiert sich in einer Materie, über die der Mensch, der sie sich zum Inhalt seines Willens gesetzt hat, auch verfügen kann. Ich will etwas (dies enthält schon ein Moment der Freiheit) und ich bekomme es auch (hierin realisiert sich die Freiheit des Willens respektive der Willkür). Dasjenige, über das ich verfugen kann, ist in der bürgerlichen Gesellschaft mein Eigentum. Freiheit und Eigentum zeigen sich so bei Hegel als notwendig miteinander verknüpft. Das Eigentum ist nur als wechselseitig Anerkanntes und gesellschaftlich Allgemeines wirklich. Wenn der bürgerliche Staat also die Freiheit des Einzelnen garantieren will, muss er das Eigentum schützen. Das Eigentum ist jedoch zugleich nach Hegel eine Materie, die nicht nur widerständig gegen den Willen ist, sondern ,absolut hart'. Die Natur ist zwar gemeinhin widerständig, aber sie lässt sich bearbeiten, verformen, und so in gewissen Grenzen dem Willen gemäß machen. Doch auf das Eigentum eines Anderen darf keiner zugreifen. Es widersetzt sich nicht aufgrund einer Materialeigenschaft dem Zugriff, sondern es entzieht sich dem Zugriff vollständig, weil es schon jemand anderem gehört, der das alleinige Zugriffsrecht hat. Am Eigentum des Anderen stößt nicht bloß das Bedürfnis, sondern schlimmstenfalls auch die unmittelbare Not an eine absolut harte Grenze. Das Eigentum erscheint bei Hegel so zwar einerseits als Realisierung der Freiheit, da Subjektivität und individuelle Freiheit des Einzelnen sich nur über die Garantie des ausschließlichen Zugriffs, also nur im Privateigentum realisieren könne. Zugleich sieht Hegel jedoch andererseits in den Anfangen des Kapitalismus bereits die Wirksamkeit jener Mechanismen, die mit Notwendigkeit die Armut einer ganzen Klasse 20 produzieren muss. „Das Herabsinken einer großen Masse unter das Maß einer gewissen Subsistenzweise, die sich von selbst als die für ein Mitglied der Gesellschaft notwendige reguliert

19 Hierin findet sich zwar ein objektiver Fortschritt gegenüber vorbürgerlichen Gesellschaften, aber keine Autonomie, in der sich die Freiheit des Willens ihrem Begriff nach verwirklichte. 20 Er hatte hierbei mehr den lohnarbeitslosen Pauper als das gerade erst entstehende kapitalistische Proletariat vor Augen.

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und damit zum Verluste des Gefühls des Rechts, der Rechtlichkeit und der Ehre, durch eigene Tätigkeit und Arbeit zu bestehen, bringt die Erzeugung des Pöbels hervor, die hinwiederum zugleich die größere Leichtigkeit, unverhältnismäßige Reichtümer in wenige Hände zu konzentrieren, mit sich führt." 21 Auch wenn Hegel die ökonomischen Gesetze, welche diese Masse der Armut und ihr gegenüber die Anhäufung des Reichtums in wenigen Händen notwendiger Weise erzeugen, nicht bestimmt hat,22 so hat er doch ihre fatale Dynamik gesehen. „Die wichtige Frage, wie der Armut abzuhelfen sei, ist eine vorzüglich die modernen Gesellschaften bewegende und quälende."23 Entgegen der damaligen und heutigen Politik macht Hegel deutlich, dass er die Antwort auf diese Frage nicht darum schuldig bleibt, weil die Lösung noch nicht gefunden sei, sondern weil es sich um ein Problem handele, das aus den Prinzipien der bürgerlichen Gesellschaft entspringe und sich darum einer immanenten Lösung entziehe. „Es kommt hierin zum Vorschein, daß bei dem Übermaße des Reichtums die bürgerliche Gesellschaft nicht reich genug ist, d. h. an dem ihr eigentümlichen Vermögen nicht genug besitzt, dem Übermaße der Armut und der Erzeugung des Pöbels zu steuern."24 Als das eigentümliche Vermögen der bürgerlichen Gesellschaft, das sich im Reichtum realisiert, hatte Hegel die Freiheit in ihrer spezifischen Gestalt als Eigentum bestimmt. Diese Gesellschaft wäre demnach nicht frei genug, die Armut abzuschaffen. Kein absoluter Mangel an Gütern ist hierfür der Grund, sondern die absolute Härte des Eigentums, in dem sich die Freiheit in dieser Gesellschaft realisiert - und sich dabei zugleich in ihr Gegenteil verkehrt. Zwar realisiert sich Freiheit im arbeitsteilig produzierten Material, aber sie verkehrt sich hierin zugleich, weil das Material die Gestalt des Privateigentums bekommt. Der Zugriff des Einzelnen auf die produzierten Waren wird beschränkt, indem die Freiheit der Willkür des Einzelnen in die Sphäre der individuellen Konsumtion gebannt ist, zu welcher Armut keinen Zugang findet. Durch die verkehrte Realisierung der Freiheit sind die Einzelnen ausgeschlossen, weil solche Freiheit zwar d u r c h e i n A l l g e m e i n e s ist, aber n i c h t f ü r d i e A l l g e m e i n h e i t ; sie ist darum nicht die Verwirklichung der Freiheit als eine freie Menschheit. Die Freiheit enthält zu ihrer Bestimmung zum einen die Freiheit der partikularen Zwecke, mit der der empirische Wille sich einen Zweck bestimmt, d. i. die Willkür, und zum anderen die Freiheit als dasjenige Moment einer Gesellschaft, welches allein die E i n h e i t a l l e r p a r t i k u l a r e n Z w e c k e vernünftig begründen könnte. Und erst unter einer sie formierenden Einheit können die partikularen Zwecke sich gesellschaftlich als eine Gesamtheit realisieren. Die Verkehrung der Freiheit besteht nun

21 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 389. 22 Ausführlich analysiert werden diese ökonomischen Gesetze und ihre Folgen erst bei Karl Marx, Das Kapital, (MEW 23-25), Berlin 1989. 23 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 390. 24 Ebd.

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darin, dass der die Gesellschaft formierende Zweck im Kapitalismus in der Verwertung des Wertes besteht, und nicht im Menschen als Zweck an sich selbst. Damit steht der die partikularen Zwecke formierende Zweck den partikularen Zwecken gegenüber; denn in seiner Willkür ist jeder Mensch sich selbst Zweck, wogegen die kapitalistische Produktionsweise ihn zum bloßen Mittel formiert. So zeigt sich das allgemeine Moment der Freiheit dem Einzelnen als ihm aufgeherrschter, heteronomer Zweck. Als empirisches Moment der Freiheit bleibt nur der eingeschränkte Zugriff der Willkür auf die produzierten Waren, d. i. die Freiheit des Konsumenten. Wenn Freiheit sich in der Gestalt von Eigentum realisiert, ist Armut Unfreiheit. Denn wer arm ist, dessen Willkür kann sich im Kapitalismus kaum realisieren. Doch auch wer nicht arm ist, dessen Freiheit realisiert sich hier nicht als Freiheit der Person in einem Allgemeinen, sondern bleibt auf ein partikulares Moment beschränkt. Das Allgemeine kann so nicht als Zweck erscheinen. Die Freiheit des Konsumenten, die nur das Interesse kennt, welches sich der so eingeschränkten Freiheit als partikularer Zweck anbietet, hat das Allgemeine zum bloßen Mittel, als eine äußere Bedingung der individuellen Konsumtion. Damit hat sie ein rein instrumentelles Verhältnis zur Vernunft. 25 Die gegenwärtige Gesellschaft funktioniert über ein Gegeneinanderwirken verschiedener Kräfte, die aus verschiedenen partikularen Zwecken entstehen, über die sich ein Allgemeines als automatisches Subjekt in der Bewegung des sich selbst verwertenden Werts bewusstlos herstellt. Dieses bringt regelhafte Mechanismen hervor, die keine durch Vernunft nach einem Zweck geplante sind, sondern blind wirkende ökonomische Gesetze, die sich gleichsam hinter den Rücken ihrer Produzenten durchsetzen. 26 Damit gleichen die Geschehnisse unserer Gesellschaft und die Gesetze, nach denen sie sich vollziehen, der Art und Weise, wie Naturmechanismen wirken. Hierin trifft die Biologisierung der bürgerlichen Gesellschaft durch die Hirnforschung, welche in den Realisierungen des Willens - ζ. B. im technischen Fortschritt - keine autonome Bestimmung des Menschen, sondern bloß heteronome Bestimmtheit sieht, ein wahres Moment. Die wirkenden Mechanismen in unserer Gesellschaft erscheinen in ihrem blinden Wirken als wären sie naturhafte. Sie erscheinen als etwas, dessen Zweck unserer Vernunft äußerlich sei und dessen Funktionieren der Verstand zwar begreifen könne, indem er den Bewegungsmechanismen folge, aber dessen Prinzipien keine seien, welche der Vernunft folgten und in welchen diese die Bestimmung ihrer Freiheit finden könnte. Zwar ist auch die gegenwärtige Gesellschaft aus Freiheit und nicht aus Natur; doch wendet sich diese Freiheit gegen den Menschen, indem er zum bloßen Mittel der Produktion 27 ihrer Realisierungen formiert wird. 25 Das Allgemeine bloß als Mittel und die Vernunft bloß als Instrument zu begreifen ist eine sich auf dieses Verhältnis beschränkende (und es damit affirmierende) Hegelinterpretation, die sich zum Beispiel in Publikationen der Marxistischen Gruppe findet. 26 Vgl. Marx, Das Kapital Bd. 1, (MEW 23), 169. 27 Deijenige Zweck, der als ideelle Ursache die partikularen Zwecke unter sich zu einer Gesellschaft organisiert, hat als zielgebender, teleologischer Zweck der Gesellschaft eine moralische und eine öko-

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So kann die Freiheit in der bürgerlichen Gesellschaft in der Tat eine Täuschung genannt werden, deren Ursache jedoch nicht neuronaler, sondern ökonomischer Natur ist. Indem die Menschen unter Bedingungen der kapitalistischen Produktion sich als die bloßen Mittel erfahren, die sie objektiv fur die Verwertung des Wertes sind, erwächst der These der Hirnforscher vom unfreien Willen und von der bloß vorgetäuschten individuellen Freiheit eine gewisse Plausibilität. Denn das vage Gefühl, letztendlich von fremden Zwecken in seinem Tun und Lassen bestimmt zu werden, enthält bezogen auf unsere gesellschaftlichen Verhältnisse ein wahres Moment, wenn auch in ideologischer Verkleidung. Indem die Behauptung von der neuronalen Unfreiheit sich mit einem Gefühl der Unfreiheit deckt, das aufgrund tatsächlicher Unfreiheit gegenüber den die Gesellschaft formierenden ökonomischen Gesetzen (die landläufig auch gerne als ,Sachzwänge' erscheinen) erzeugt wird, lässt sich die große Popularität der These vom bloß vorgetäuschten freien Willen des Menschen vielleicht besser erklären. Diese Popularität der These vom unfreien Willen und von der Selbsttäuschung des Gehirns über seine Selbstbestimmung kann nicht aus der dargestellten Verkehrung der Gestalt der Freiheit in der bürgerlichen Gesellschaft abgeleitet werden, denn Unsinn folgt keiner Notwendigkeit. Aber die öffentliche Begeisterung an der Vorstellung, unsere Freiheit sei eine Täuschung, wird zumindest ein wenig plausibler, wenn man auf ihr wahres Moment acht gibt: Dass die Freiheit sich unter heutigen gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen dergestalt verkehrt, dass sich dem Einzelnen nur das Moment ihrer Willkür in der Sphäre der Konsumtion realisiert. Und die Willkür kann mit Hegel „allerdings, wenn sie die Freiheit sein soll, eine Täuschung genannt werden." Die Freiheit der Willkür als Täuschung zu begreifen muss heißen, die Verkehrung der Freiheit in der bürgerlichen Gesellschaft zu erkennen. In dieser Verkehrung der Freiheit ist Freiheit verwirklicht, allerdings in verkehrter Gestalt. Diese verkehrte Verwirklichung verweist auf die Möglichkeit der gesellschaftlichen Verwirklichung wahrer Freiheit. Was an der These der Hirnforschung vom unfreien Willen politisch gefahrlich ist, ist, dass die gesellschaftlich hergestellte Täuschung über die Freiheit in der bürgerlichen Gesellschaft durch ihre ideologische Naturalisierung affirmiert wird. Denn Subjekte, die sich für Spielbälle ihrer Gewordenheit halten wollen, stehen einer Verwirklichung der Freiheit als Allgemeines, d. i. der Freiheit aller Menschen, objektiv entgegen - darum ist die Frage, ob der Mensch frei sei und was dies bedeutet, niemals eine rein akademische Frage, sondern eine politische. Denn sie ist immer zugleich Kritik, die auf den Zweck zielt, unter dem Gesellschaft sich formiert. nomische Formierung. Der Moralität nach muss der Mensch selbst Zweck der Gesellschaft sein und damit Zweck an sich selbst (vgl. Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A 87 u. A 155 f). Allein unter diesem Zweck ließe eine Ökonomie sich vernünftig begründen: Dass Menschen in den Produkten der Arbeit ihre Freiheit realisieren, nicht als Mittel der Produktion, sondern als Zweck, welcher die Produktion formiert. Diese Ökonomie funktionierte nach einem Mechanismus, der nicht blind wäre wie der heutige, welcher sich zwar erkennen, aber nicht aus Vernunft begründen lässt.

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FREIHEIT IST GRUND UND LEGITIMATION MODERNER HERRSCHAFT

Freiheit ist Grund und Legitimation moderner Herrschaft Das politische Selbstverständnis der bürgerlichen Gesellschaft müsste sich grundlegend ändern, wenn die von der Hirnforschung aufgestellte These, es gebe keinen freien Willen, sich als wahr erwiese. Im vorigen Abschnitt wurde gezeigt, dass die wissenschaftlich betriebene Leugnung der Freiheit eine gewisse Plausibilität durch die Form erhält, in der sich Freiheit in der bürgerlichen Gesellschaft verwirklicht. Ironischer Weise wird der bürgerlichen Gesellschaft durch die These vom unfreien Willen zugleich ex post jede theoretische Legitimation, die in der Garantie eben dieser Form der Freiheit besteht, entzogen. Ohne Herrschaft, ohne eine allgemeine Instanz mit der Befugnis und den Mitteln, den Einzelnen zu zwingen und das Recht durchzusetzen, herrschte nach den Theoremen der frühbürgerlichen Rechtsphilosophie Mord und Totschlag. Im ursprünglichen Naturzustand wird der Mensch von Locke, Hobbes und Rousseau 28 als absolut frei gedacht. Er könne tun und lassen, was er will. Doch diese Freiheit verlören die Einzelnen durch die Gewalt, die sie sich wechselseitig antun. Als Grund für diesen Kampf aller gegen alle, durch den sich die ursprüngliche Freiheit der Menschen im Naturzustand selbst zerstören müsse, nennen Hobbes und Locke den Mangel an Gütern. Um den zerstörerischen Kampf der Menschen untereinander um die begrenzten Güter der Welt einzudämmen und jedem Einzelnen wenigstens einen Teil der Freiheit zu erhalten, die allen Menschen von Natur aus zukomme, müsse der Mensch sich selbst eine Herrschaft überordnen: den bürgerlichen Staat. Der Staat könne zwar nicht das Problem des Gütermangels lösen, aber er könne ordnend in die Güterverteilung eingreifen und er könne die unmittelbare Gewalt zwischen seinen Bürgern sanktionieren und so zu unterbinden suchen. Die Achtung des Einzelnen und seiner Güter, seines Eigentums, seien durch den bürgerlichen Staat zu garantieren und durch dessen Gewaltmonopol zu schützen. So werde die Freiheit des Einzelnen einerseits zwar gegenüber der absoluten Freiheit des Naturzustandes eingeschränkt, doch indem der Staat die Freiheit eines jeden auf ein Maß beschränke, sei er andererseits zugleich der Retter der Freiheit, die unter Zuständen willkürlicher Gewalt gänzlich unterginge. So werde die Beschränkung der Freiheit des einzelnen Bürgers vollzogen, um den Staat als das Allgemeine zu gewährleisten, welches allein den Menschen vor seiner selbstzerstörerischen Dynamik schützen und ihm so eine Privatsphäre der Freiheit in Gestalt des Eigentums sichern könne. Der Staat habe also die Aufgabe, die Freiheit der Willkür des Einzelnen zu sichern, indem er sie beschränke. Die moderne Herrschaft des bürgerlichen Staates erscheint so als eine aus Freiheit gesetzte Grenze der Willkür, im Gegensatz zu der Grenze der Willkür, welche die Natur vorgibt. Die Notwendigkeit, sich mit der Natur auseinanderzusetzen und von ihr zu 28 Vgl. Jean-Jaques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag 2000.

oder Prinzipien

des Staatsrechts,

Berlin

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FREIHEIT UND HERRSCHAFT

leben, stellt immer eine äußere Begrenzung der Freiheit dar. Denn Natur und Vernunft sind wesentlich verschieden. So wie der Determinismus der Natur nicht durch die Freiheit des Willens aufgehoben wird, die nur gemäß der Naturgesetze, aber niemals gegen JQ

diese einem Material einen Willen aufprägen kann, so kann der Determinismus der Natur die freie Willkür des Menschen zwar in ihrer Realisierung begrenzen, ohne ihn jedoch dadurch unter andere Zwecke als seine eigenen, in seiner Freiheit gründenden, zu stellen. Dies kann nur ein Mechanismus, der seinen Ursprung im menschlichen Verstand hat, im Denken; also in dem, was nicht Natur ist, sondern frei. Es ist dies die Herrschaft von Menschen über Menschen. Nur ein Wesen, das frei ist, kann durch Herrschaft unteijocht und seiner Freiheit beraubt werden oder kann beschließen, andere zu unterjochen. Und nur ein Wesen, das sich selbst aus Vernunft ein Gesetz geben kann, kann seinen Willen frei bestimmen und ist damit fähig zur Moral, zu Gut und Böse. Die Natur dagegen ist amoralisch; sie ist indifferent gegen das Gesetz der Vernunft und ganz den eigenen Gesetzen unterworfen. Der Mensch unterliegt den Naturgesetzen, insofern er nicht gegen sie verstoßen kann und den Naturstoff nur gemäß der Naturgesetze nach seinen eigenen Zwecken formen kann. Der Mensch unterliegt der Herrschaft, sofern er von Menschen hervorgebrachten heteronomen Gesetzen unterliegt, an denen seine Willkür scheitert, oder sofern er ohne Gesetz als bloßes Mittel zu fremden Zwecken gezwungen wird (ζ. B. durch die Willkür personaler Gewalt). Die Herrschaft nutzt den Beherrschten bloß als ihr Mittel und hindert ihn so, sich selbst Zweck zu sein und seine Freiheit zu realisieren, sie tritt seiner Willkür als anatürliche äußere (und zuweilen gar als innere) Schranke entgegen. Die Menschen sind dann wahrhaft frei, wenn sie ihre Willkür in den Grenzen der Möglichkeiten der Naturbeherrschung (und diese sind nicht festgeschrieben) realisieren können und sich zudem selbst aus Freiheit ein Gesetz geben (und dieses kann niemand als eine heteronome Grenze vorschreiben), das ihre Willkür beschränkt. Eine vernünftig bestimmte Freiheit kann also nicht in der Schrankenlosigkeit eines jeden Willkürfreiheit bestehen - denn unter solchen Bedingungen wäre Gesellschaft nicht möglich und auch nicht die gesellschaftliche Arbeitsteilung als notwendige Bedingung einer Emanzipation von Naturbedingtheiten. Durch die Arbeitsteilung und Mechanisierung des Arbeitsprozesses in den modernen Gesellschaften produziert der Einzelne nicht unmittelbar für sein Bedürfnis, sondern ist Teil eines Produktionsprozesses, so dass die spezifische Tätigkeit des Einzelnen nur in der Gesamtheit des Prozesses als zielgerichtete, produktive Tätigkeit erscheint. So vervollständigt sich die Abhängigkeit und Wechselwirkung der Einzelnen zur Notwendigkeit, indem sie ihre Arbeiten im Produktionsprozess zusammenschließen. „Das Arbeiten des Einzelnen wird durch die Teilung [der Arbeit; C. Z.] einfacher und hierdurch die Geschicklichkeit in seiner abstrakten Arbeit sowie die Menge seiner Produktionen größer. Zugleich vervollständigt diese Abstraktion der Geschicklichkeit und des

29 Vgl. Kapitel 11.

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FREIHEIT IST GRUND UND LEGITIMATION MODERNER HERRSCHAFT

Mittels die Abhängigkeit und die Wechselbeziehung der Menschen für die Befriedigung der übrigen Bedürfnisse zur gänzlichen Notwendigkeit."30 In der vollständigen Abhängigkeit voneinander, in der die Subsistenzwirtschaft Einzelner durch die effektivere arbeitsteilige Produktion abgelöst wurde, ist die Gesellschaft ganz das Allgemeine jedes Einzelnen geworden. Dieses kann die Bedingungen schaffen, die Willkür der Einzelnen in der Befriedigung ihrer Bedürfnisse in neuer Qualität und Vielfalt zu realisieren. Indem die Natur in ihrer Stofflichkeit gezielt verändert wird, sich also von ihrem Zustand der ersten Natur entfernt, realisiert sich hierin menschliche Freiheit als Prozess der Emanzipation von den unmittelbar gegebenen Formen der Natur. Freiheit von der Natur kann niemals vollständig erlangt werden, da der Mensch auf den Stoffwechsel mit der Natur angewiesen ist und bleibt. Auch wenn die ursprüngliche, erste Natur hinter ihren kulturellen und technischen Verformungen zurücktritt, ist der Mensch auf sie und ihre Gesetze verwiesen. Doch Freiheit ist nicht erst wirklich, wenn der Prozess der Emanzipation von der unmittelbaren Naturunterworfenheit (so weit als irgend möglich) abgeschlossen ist - denn dieser Prozess hat kein fixes Ziel, er ist vielmehr selbst als Bewegung die zu leistende Emanzipation. Freiheit verwirklicht sich darum immer, sobald die Befreiung von dem unmittelbaren „Mechanism der ganzen Natur" 31 Zweck ist. Sie ist also immer Prozess der Befreiung als sich verwirklichende und damit als wirkliche, gleich, wieweit dieser Prozess des Fortschritts gediehen ist. Freiheit gründet in der Vernunft des Menschen, nicht in der Natur. Doch der Mensch ist als Sinnenwesen ein Stück Natur und er ist in seiner Erhaltung auf den Stoffwechsel mit der Natur angewiesen. Verwiesenheit auf die Natur stellt für den Menschen eine Notwendigkeit dar und wird sie immer darstellen; immer wird er durch Arbeit der Natur seine Lebensgrundlage abtrotzen müssen. Doch die Art dieser Arbeit und ihr Umfang verändern sich mit dem technischen Fortschritt und den ökonomischen Bedingungen, unter denen gearbeitet wird. Der empirische Willen kann bei seiner Realisierung neben den Naturbedingungen auf zwei weitere Schranken stoßen: Die Inhalte der Willkür können im Widerspruch zu der Willkür anderer Menschen stehen oder im Widerspruch zu sich selbst. Ich kann essen wollen und schlafen wollen, aber ich kann nicht beides gleichzeitig tun. Sobald ich mich für eines entschieden habe, ist die Möglichkeit der Realisierung des anderen zumindest temporär zerstört. Der Qualität nach verschiedene Bedürfnisse können nicht immer zugleich befriedigt werden. Es gibt prinzipiell keinen vernünftigen Umgang mit dieser andere Möglichkeiten zerstörenden Beschränkung, denn es kann kein allgemeines System geben, nach dem ein Bedürfnis dem anderen vernünftiger Weise über- oder untergeordnet werden könnte. Denn als verschiedene Qualitäten lassen sie sich nicht untereinander in höhere und niedere quantifizieren. Dieser Widerspruch zwischen den Bedürfnissen entspringt nicht den widerstreitenden Bedürfnissen selbst, die gegenein-

30 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 352. 31 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A 155.

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ander stehen - etwa wie beim instinktgeleiteten Tier, das bei gleichstarkem Flucht- und Angriffstrieb eine Übersprungshandlung zeigt, bis einer der Triebe stärker wird als der andere - sondern dieser spezifische Widerspruch entspringt dem Willen: Ich w i l l beides. Doch ich kann nur eines. Darum muss sich der Wille hier selbst eine Beschränkung auferlegen, die den einen Inhalt des Wollens zerstört. Ein Wille, der sich aus Freiheit jeden Inhalt setzen kann, kann sich immer auch einander ausschließende Inhalte setzen. In der Wahl und der mit ihr einhergehenden zerstörenden Beschränkung wird das Moment der Freiheit in der Willkür zwar bewusst, aber niemals ganz wirklich, da die Freiheit hier im Widerspruch verharrt. Erst durch Reflexion auf die inneren und äußeren Bedingungen der Freiheit des endlichen Willens verliert die Willkür ihre Unmittelbarkeit. Denn die Reflexion auf die Bedingungen der Willkür ermöglicht die Erkenntnis der Art der äußeren und inneren Bedingtheiten. So kann das Denken sich seine Freiheit zum Gegenstand machen und diese wollen. 32 Dieser Akt der Reflexion bedeutet, nicht bloß unmittelbar etwas zu wollen, sondern denkend zu erkennen, was der Wille ist. Der Wille macht sich selbst zu seinem Gegenstand, d. h. er will nicht einen bedingten Inhalt, sondern sich selbst. Hierin ist er dann nicht bloß der Form nach frei, sondern auch dem Inhalt nach, weil er die Form des Wollens, die frei und unbedingt ist, zu seinem Inhalt macht. Hierin ist er dann nicht länger bloß endlicher, empirischer Wille, sondern bestimmt sich zum Willen überhaupt. In diesem Schritt geht der Wille über seine empirische Bedingtheit hinaus und so zum Unbedingten, zum Allgemeinen. Indem er sich als Willen will, will er Willen als Realisierung der Freiheit überhaupt und damit jeden anderen Willen, und zwar nicht bloß in der privaten Sphäre der Willkür eines empirischen Subjekts, sondern in einem Allgemeinen. Dieser Schritt stellt den Willen als Allgemeinheit über den Widerspruch der Willkür. Wenn das Allgemeine sich durch die Freiheit als Zweck bestimmen soll, muss der Wille, der sich zur Allgemeinheit bestimmt, nicht nur seine Freiheit wollen, sondern die Freiheit des Willens überhaupt - also eines jeden Willens. Das schließt das Wollen der Möglichkeit der Realisierung der Freiheit fur jeden Willen - nicht nur für den eigenen mit ein. Indem er sich so das Allgemeine zum Inhalt macht, ist der Wille nicht bloß freie Willkür, sondern bestimmt sich als frei. Hier findet die Willkür eine Grenze, die dadurch bestimmt ist, dass der Wille seine Freiheit als Allgemeines will - nicht bloß als partikulare Verwirklichung der individuellen Willkür. Hierdurch g i b t e r s i c h s e l b s t e i n G e s e t z , das dem Willen gebietet, dass seine Maximen, nach denen er seine Inhalte setzt, jederzeit zugleich als P r i n z i p e i n e r a l l g e m e i n e n G e s e t z g e b u n g gelten können müssen und so der Form nach - gleich, welcher Inhalt

32 Die Termini ,Denken' und ,Wollen' sind hier nicht synonym, aber doch sehr eng verknüpft verwendet. Sie bezeichnen nicht zwei unterschiedliche Gegenstände, sondern bloß die Differenz zwischen theoretischem und praktischem Verhalten. Vgl. auch Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 46 f.

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dann gemäß dieser Form gewollt wird - dem Allgemeinen, der Freiheit aller Willen, immer gemäß sind. 33 Die Grenze, die dieses Gesetz der Willkür setzt, ist dann keine äußere Schranke, die sich dem Willen entgegenstellt und mit einer äußeren Macht zu zwingen verbunden wäre; sie ist eine selbst gesetzte Grenze, die ihren Grund nicht in Empirischem, sondern allein in der Reflexion auf die eigene Freiheit hat. Es ist ein Gesetz, das jeder Mensch sich allein selbst aus Freiheit geben kann, um sich autonom zu bestimmen. Diese autonome Grenze der Willkür ist also die einzige, die ihren Grund in Substanz und Bestimmung der Freiheit hat. Darum ist die Begrenzung der Willkür durch dieses Gesetz die einzige, die keine Beschränkung der Freiheit darstellt, sondern bloß eine Beschränkung der Willkür aus Freiheit, wobei der Zweck dieser Beschränkung die Freiheit nach ihrer Bestimmung als Allgemeines ist. Allein diese Grenze der Willkür enthält keine Herrschaft. Nicht darum, weil sie aus Freiheit gesetzt ist, sondern darum, weil die Willensfreiheit selbst ihr Zweck ist. Diese Bestimmung der Schranke der Willkür durch Autonomie macht den Unterschied zur bürgerlichen Staatstheorie aus. Auch diese stellt sich das Problem, dass die Willensinhalte nicht nur in einem Subjekt gegeneinander stehen können, sondern vor allem die Bedürfnisse verschiedener Subjekte sich widerstreiten. Damit der Wille des einen nicht zur willkürlichen Schranke des Willens des anderen werde, sollen die Menschen sich selbst eine ihre Willkür gleichermaßen beschränkende Herrschaft überordnen. Auch hierin kommt zum Ausdruck, dass der Wille sich die Schranken seiner Willkür selbst setzen solle - nur m u s s der empirische Wille sich nicht Freiheit als Allgemeines zum Zweck setzen; er kann sich als freier auch Herrschaft zum Inhalt geben, der er sich dann als heteronomer Grenze unterordnen muss. Denn Herrschaft stellt immer eine äußere Schranke der Freiheit dar und damit einen Zustand praktischer Unfreiheit. Obwohl sie bedingt ist, ist die Freiheit der Willkür nur in ihrem Zusammenhang mit der transzendentalen Freiheit zu begreifen. Der Wille enthält mit dem Unbestimmten ein Element, das nicht durch etwas ihm Äußerliches bestimmt ist. (Er ist darum im Gegensatz zu allen Naturphänomenen zur Negation fähig, d. h. er kann Nichts wollen, jeden Inhalt aufgeben.) Doch wenn diese Freiheit als bloß innere Freiheit verharrt, also der Mensch zwar seinen Willen ungeachtet der äußeren Umstände frei bestimmen kann, dieser Bestimmung des Willens aber keine Realisierung folgt und somit die bloße Möglichkeit des Willens, von jeder Bestimmung abstrahieren zu können, sich verabsolutiert und sich als „die Flucht aus allem Inhalte als einer Schranke" 34 zeigt, die nicht in eine materielle Realisierung münden kann, weil sie keinen Inhalt bestimmt, ist diese

33 Freiheit als Allgemeines zu Wollen ist bei Hegel nicht deckungsgleich mit dem Kategorischen Imperativ Kants. Hegel geht vom Allgemeinen der Willensbildung aus. Kant macht sich dagegen zugleich das Problem, die sukzessive Willensbestimmung der empirischen Subjekte mitzuverhandeln. 34 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien

der Philosophie

des Rechts, 50.

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Freiheit die negative. „Es ist die Freiheit der Leere".35 Weder in einem Naturzustand, der die einzelnen ohne gesellschaftlichen Zusammenhalt dem Mangel der ungestalteten Natur preisgibt, noch in einer bloßen Berufung auf die Freiheit der Gedanken findet sich eine gesellschaftliche Verwirklichung von Freiheit, in der allein nicht nur die Freiheit der Substanz, sondern auch die Freiheit der Bestimmung des Willens ihre Wahrheit hat. Die Frage, ob und warum Menschen unter bestimmten äußeren Bedingungen unfrei genannt werden können, ist ohne Rekurs auf Herrschaft und Staat nicht zu beantworten. Ebenso wenig wie die Frage nach der Freiheit des Menschen ohne Bezug auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, unter denen er lebt, sinnvoll zu beantworten ist. „Wenn man sagen hört, die Freiheit überhaupt sei dies, daß man tun und lassen könne, was man wolle, so kann solche Vorstellung nur für gänzlichen Mangel an Bildung des Gedankens genommen werden, in welcher sich von dem, was der an und für sich freie Wille, Recht, Sittlichkeit usf. ist, noch keine Ahnung findet. Die Reflexion, die formelle Allgemeinheit und Einheit des Selbstbewußtseins, ist die abstrakte Gewißheit des Willens von seiner Freiheit, aber sie ist noch nicht die Wahrheit derselben, weil sie sich noch nicht selbst zum Inhalte und Zwecke hat, die subjektive Seite also noch ein anderes ist als die gegenständliche; der Inhalt dieser Selbstbestimmung bleibt deswegen auch schlechthin nur ein Endliches. Die Willkür ist, statt der Wille in seiner Wahrheit zu sein, vielmehr der Wille als der Widerspruch."36 Die abstrakte Gewissheit des Willens von seiner Freiheit ist noch nicht die Wahrheit der Freiheit. Sie ist die notwendige Bedingung der Realisierung von Freiheit. Der Widerspruch zwischen der Subjektivität des Wollens als reiner Unbestimmtheit und der Objektivität der Bestimmtheit des Inhaltes des Willens wird durch die T ä t i g k e i t aufgehoben. In dem Moment, wo die Welt willentlich den subjektiven Zwecken gemäß verändert wird, entspringen die Inhalte, die das Wollen bedingen, selbst wiederum dem Willen. Indem der Wille die Inhalte seiner Realisierung nicht bloß vorfindet, sondern sie tätig produzieren kann, erhält die Freiheit eine neue Qualität. Damit ist der Widerspruch der Willkür zwar nicht vollständig aufgelöst, aber er wird im Prozess des Produzierens, im Arbeitsprozess, beständig aufgehoben. Denn die Freiheit wird im Material wirklich, wenn der Wille, welcher der Form nach frei ist, seinen Inhalt, der ihn bedingt, selbst aus Freiheit heraus setzten und wirklich machen kann.37 Dies ist die Charakterisierung des Begriffs der Arbeit. Erst hierin hat Freiheit nicht bloß ihre Substanz, sondern zugleich ihre Bestimmung. Die Wahrheit der Freiheit liegt so in der Entsprechung ihres Begriffes, welche erst noch gesellschaftlich herzustellen ist. Da die partikularen Zwecke der Einzelnen willkürlich sind und darum nicht von vornherein so verfasst sein müssen, dass sie nicht in Gegensatz zueinander geraten, müssen sie, wenn sie in einer Gesellschaft zusammenstehen und ein Allgemeines

35 Ebd. 36 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 66. 37 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 196.

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bilden, unter einen allgemeinen Zweck gefasst werden können, der sich alle partikularen Zwecke unterordnen kann. Dies ist in der bürgerlichen Gesellschaft der Zweck des Kapitals, d. i. die Verwertung des Werts. Der ökonomische Zweck, die Produktion von akkumulierbarem Mehrwert, organisiert alle partikularen Zwecke zu einer Einheit. Die hierdurch gesetzte ökonomische Gesetzmäßigkeit ist zwar Resultat einer gesellschaftlichen Entwicklung, funktioniert jedoch wie ein blinder, bewusstloser Prozess und erscheint deswegen naturhaft. Das Allgemeine unserer Zeit stellt sich so dar als die Verwirklichung eines ökonomischen Prinzips, dessen Zweck der Wert in seiner Verwertung zu Mehrwert ist und als dessen Mittel die partikularen Einzelinteressen formiert sind. Ein Allgemeines, das die Verwirklichung der Freiheit wäre und dessen Z w e c k d i e F r e i h e i t j e d e s W i l l e n s in seiner Realisierung, müsste das M e h r p r o d u k t z u s e i n e m M i t t e l machen: Produktion für die Bedürfnisse, nicht Bedürfnis als Mittel zur Realisierung des Mehrwerts, bei der jedes Bedürfnis, das nicht ausreichend zahlungskräftig ist, von der Konsumtion des Produktes ausgeschlossen wird. Die frühe Legitimation des bürgerlichen Staates als bester Herrschaftsform berief sich auf die Natur des Menschen, der - gegenüber seinesgleichen ein Wolf - einer äußeren Grenze seiner Willkür bedürfe, um innerhalb der ihm zugestandenen Sphäre sicher vor dem Zugriff der Willkür anderer zu sein. Was Teile der Hirnforschung heute betrei38

ben, ist dagegen eine Naturalisierung der herrschenden Staatsform. Wenn sie als aus Natur folgend und nicht als aus Freiheit gesetzt angenommen wird, bedarf es keiner Legitimation der Herrschaft mehr. Die Freiheit ist einer der Grundpfeiler der bürgerlichen Gesellschaft. Ohne sie verlöre der bürgerliche Staat als Garant bürgerlicher Freiheiten all seine Legitimation, von der er seine Befugnis zu zwingen ableitet, da er den Bürger als freien setzt und schützt. Ohne sie wären Vertragsabschlüsse oder das auf Zurechnungsfahigkeit basierende Strafrecht hinfallig, die Freiheit als Voraussetzung und Ziel haben. Erst die freiheitserhaltende Funktion des bürgerlichen Staates machen Vertragsrecht und Strafrecht nötig und möglich. Als das Allgemeine, was jedem seine Sphäre der individuellen Freiheit garantiert, verlöre er diese Funktion, wenn sich die Freiheit der Einzelnen als neuronale Täuschung unseres Gehirns erweisen ließe. Konsequent erscheint er beispielsweise bei Singer als bloßer Mechanismus, der von blinden Naturprozessen gesteuert wird, die dem Bürger äußerlich bleiben. 39 So bleibt der Staat zwar Garant des Eigentums, jedoch ohne dass sich über dieses Eigentum eine individuelle Freiheit realisieren können würde. Dies fallt nicht nur weit hinter Hegel, sondern auch hinter frühbürgerliche Staatstheoretiker wie Locke und Hobbes zurück. Für Singer ist der bürgerliche Staat ein sich selbst stabilisierendes System ohne organisierendes Subjekt - und damit jenseits der Frage nach der Realisierung gewollter Zwecke. Konsequent stellt Singer sich nicht die Frage, welche Funktion der Staat fur die Verwirklichung der Freiheit habe, sondern die 38 Vgl. Kapitel 5. 39 Vgl. Kapitel 3.

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Frage, welche Funktion dem subjektiven Gefühl des Freiseins für die Selbststabilisierung des nichtlinearen Systems Gesellschaft zukomme. Der Sinn des bürgerlichen Staates verliert sich mit der Biologisierung seiner Subjekte in Naturzwecken. Er soll nicht länger f ü r irgend etwas sein - er ist einfach da, als die momentane Existenzform, in der Menschen sich organisieren, die von den Formen der Organisation der Ameisen und Delfine zwar in der spezifischen Erscheinungsform verschieden, aber nicht wesentlich unterschieden ist. Das Resultat verkommt, abgetrennt von seiner Genese, zum Unverständlichen, weil es ohne die Reflexion auf seine Entstehung - d. i. auf die Bedeutung des Staates als Garanten persönlicher Freiheitsrechte unverstanden bleiben muss. Die Gesellschaft wird so in der ahistorischen Betrachtung zur zweiten Natur, die der ersten Natur analog nach Naturprinzipien bestimmt und entwickelt zu sein scheint. Wie die Existenz von Schnabeltier und Sternmull, so erscheint auch die bürgerliche Gesellschaft als etwas bloß vorfindliches, natürlich gewordenes, aber nicht als dasjenige, welches zumindest ein Moment von Vernunft - wie verkehrt auch immer - als Prinzip in sich trägt. Die Leugnung der Willensfreiheit postuliert so die bestehenden Verhältnisse als einzig mögliche und darum richtige - und entzieht ihnen dabei zugleich ex post die wichtigsten Ingredienzien ihrer politischen Legitimation, indem sie ihre Entstehung faktisch als Naturgeschichte liest. Mit ihrer Biologisierung verlöscht die Möglichkeit, Gesellschaft zu begreifen und so ein Selbstbewusstsein der historischen Subjekte zu bilden. Das Erbe der Aufklärung, Gesellschaft nicht in ihren zufälligen Formen hinzunehmen, sondern bewusst zu verändern und zu gestalten, wird zum musealen Artefakt. Als solches muss die Freiheit betrachtet werden, wenn man der von den Hirnforschern in ihrem Manifest40 aufgezeigten Richtung folgt. Zugleich wird jedes politische Streben nach einer vernünftigen Gesellschaft als einer Realisierung der Freiheit jenseits von Herrschaft, ohne die Härte des Eigentums und der Verwertung des Werts, endgültig zum Kuriosum. Wer diesen kuriosen Standpunkt verlässt, kann zu allen ökonomischen, politischen und moralischen Belangen nur das Wie untersuchen, aber er hat den Hebelpunkt für die Beantwortung des Warum verloren. „Ohne allen Gedanken an Freiheit wäre organisierte Gesellschaft theoretisch kaum zu begründen."41 Da Gesellschaft in ihrer Organisation über Natur hinausgeht, lässt sie sich prinzipiell nur über die Reflexion auf das Freiheitsvermögen der Menschen begreifen und bietet hierüber zugleich auch - im Gegensatz zur Natur, die zu erkennen, aber als Amoralisches nicht zu kritisieren ist - einen Maßstab der Kritik gesellschaftlicher Verhältnisse. Die Bedingung der Möglichkeit jeder Kritik empirischer Zustände der Unfreiheit von Menschen ist das Wissen um seine Freiheit im transzendentalen Sinne: des Menschen als eines Wesens, in dessen Bestimmung es liegt, frei zu sein. Der frei sein soll, weil er frei sein kann.

40 „Das Manifest", in: Gehirn & Geist 6/2004. 41 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, 217.

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Wenn die Hirnforschung ihre Ergebnisse dahingehend interpretiert, zu sagen, der Mensch täusche sich über seine Freiheit, so ist dies zum einen falsch und zum anderen ideologisch. Indem sie ideologisch ist, unterliegt die These vom unfreien Willen nicht einem bloßen Irrtum, sondern enthält ein wahres Moment über die Verfasstheit der bürgerlichen Gesellschaft in verkehrter Gestalt, in diesem Fall in Gestalt der Naturalisierung eines gesellschaftlich hergestellten Zustands. Die Berufung der bürgerlichen Gesellschaft auf Freiheit dient dieser Gesellschaft in ihrer Konstitution als Legitimation von moderner Herrschaft. Darum ist die Freiheit der bürgerlichen Gesellschaft keine wahre Freiheit. Deswegen ist der Mensch jedoch kein unfreies Wesen, sondern deswegen ist diese Gesellschaftsform zu kritisieren. Und dies bedeutet weit mehr, als den Hirnforschern, die die Unfreiheit des Menschen behaupten, einen bloßen Begriff von Freiheit entgegenzuhalten. „Freiheit wird, im abstrakten Allgemeinbegriff eines Jenseits der Natur, zur Freiheit vom Reich der Kausalität vergeistigt. Damit aber zur Selbsttäuschung. Psychologisch gesprochen, wäre das Interesse des Subjekts an der These, es sei frei, narzißtisch, so maßlos wie alles Narzißtische." 42 Zweck an sich selbst sein zu wollen und nicht bloß als Mittel fremder Zwecke gebraucht zu werden - diesen Narzißmus muss die Menschheit allerdings erst noch erlangen. Und hierzu muss sie, ganz wie in der griechischen Mythologie, in ihr Spiegelbild schauen, sich als diejenige erkennen, die frei sein kann, sich hierein verlieben und sich damit wollen als diejenige, die frei sein soll. Wie alles Maßlose kann sich der Anspruch, frei zu sein, einem endlichen Wesen niemals vollständig erfüllen. 43 Doch ihn aufzugeben würde bedeuten, jede Differenz zur Natur aufzugeben - und damit das Menschsein aufzugeben.

42 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, 219. 43 Kein Sinnenwesen kann eine vollständige Freiheit vom Reich der Kausalität erlangen, auch wenn es den Naturstoff seinen Zwecken gemäß bearbeiten kann. Doch Vernunftwesen können aus Freiheit ihren gesellschaftlichen Zusammenhang frei von Herrschaft organisieren.

11. Das Gehirn als Material und Idee Von der schlechten Unendlichkeit neuronaler Verknüpfungen unter der Idee der synthetischen Vollständigkeit menschlichen Denkens. „[I]ch nehme als gewiß an, daß das Bewußtsein etwas anderes als das Gehirn oder ein subtiler Teil des Gehirns ist." 1

Die Hirnforschung stellt Korrelationen zwischen menschlichen Hirnprozessen und Bewusstseinszuständen fest, aber eine Übersetzung oder einen Übergang von neuronalen Zuständen in Gedachtes kann sie nicht finden. Diese Erklärungslücke ist eine prinzipielle, denn das Leib-Seele-Problem (oder moderner: das Gehirn-Geist-Problem) ist eine Antinomie. Eine solche kann nicht zugunsten einer ihrer Seiten, in diesem Fall zugunsten der naturgesetzlichen Erklärung physischer Vorgänge, und damit zur Widerspruchsfreiheit hin aufgelöst werden. Materielles und Ideelles, die in der Antinomie als einander unvermittelt Gegenüberstehende erscheinen, haben indes eine reale Vermittlung im gesellschaftlichen Prozess der Arbeit. Die Gewissheit, dass das Bewusstsein nicht im neuronalen Geschehen des Gehirns aufgehen kann, wird von modernen Hirnforschern wie Roth und Singer durchaus als subjektives Gefühl zugestanden, gilt allerdings wissenschaftlich ,objektiv' als widerlegt und somit als eine Illusion, die zugleich mit dem Bewusstsein hervorgebracht werde. Das vormals objektive Leib-Seele-Problem wird durch die Hirnforschung dahingehend gedeutet, dass dem menschlichen Bewusstsein die Bestimmung des Verhältnisses von Leib und Seele als Problem e r s c h e i n t . So verwandelte dieses Problem sich in der Rezeption durch die Naturwissenschaften während der letzten Jahre von einem philosophischen in ein erkenntnispsychologisches Problem. Eine entwicklungspsychologische Begründung dieses Problems, das sich als Gegensatz zwischen Gehirn und Geist, Leib und Seele, Materiellem und Ideellem durch die Geistesgeschichte zieht, versucht Wolf Singer zu liefern. Der Individuationsprozess des Kleinkindes, in dem sich sein Ich-Bewusstsein als soziale Konstruktion herausbilde, vollziehe sich in einer Entwicklungsphase, in der nur die Resultate des Lernprozesses, nicht aber seine Genese erinnert werden könnten. So erscheine auch das Bewusstsein uns subjektiv als etwas, das schlicht sei, ohne geworden zu sein, ohne äußere Bedingungen und folglich als frei.

1 G. W. Leibniz, „Was ist eine Idee?", in: G. W. Leibniz, Schriften zur Logik und zur philosophischen Grundlegung von Mathematik und Naturwissenschaft, Philosophische Schriften Band 4, herausgegeben und übersetzt von Herbert Herring, Darmstadt 1992, 63.

V O N DER SCHLECHTEN UNENDLICHKEIT NEURONALER VERKNÜPFUNGEN

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„Was Kleinkinder wissen, das wissen sie an sich. Fragt man sie, woher sie dies oder jenes wissen, dann sagen sie, dies sei halt so, selbst wenn ihnen das Abgefragte erst vor kurzem beigebracht wurde. Diese frühkindliche Amnesie scheint mir dafür verantwortlich, daß die subjektiven Konnotationen von Bewußtsein fur uns eine ganz andere Qualität haben, als die Erfahrungen mit anderen sozialen Konstrukten. Vielleicht erleben wir diese Aspekte unseres Selbst deshalb auf so eigentümliche Weise [nämlich in der Ersten-Person-Perspektive; C. Z.] als von ganz anderer Qualität, als aus Bekanntem nicht herleitbar, weil die Erfahrung, so zu sein, in einer Entwicklungsphase installiert worden ist, an die wir uns nicht erinnern können. Wir haben an den Verursachungsprozess keine Erinnerung. Und deshalb erscheinen uns die subjektiven Aspekte von Bewußtsein als immer schon dagewesen, als von aller Gebundenheit losgelöst, als alles Materielle transzendierende Entitäten, die jeder Verursachung entzogen sind und jedem reduktionistischen Erklärungsansatz trotzen." 2 Fast nichts von dem, was frühkindliche Vorstellungen sind, bleibt im Erwachsenenalter so erhalten - sonst könnte nicht von einer geistigen Entwicklung gesprochen werden. Warum das Bewusstsein ausgerechnet im Bezug auf sich selbst unveränderlich bei den Resultaten, deren Genese in der frühkindlichen Amnesie unterging, stehen bleiben soll, während andere Vorstellungen im Laufe des Erwachsenwerdens aufgegeben oder modifiziert werden können, bleibt in Singers Darstellung offen. Er kann diese Behauptung auch gar nicht einholen, weil es etwas anderes ist, ob man ,etwas' weiß, oder ob man sich weiß; erst im sich-wissen ist das Ich. Ein grundlegender Mangel in Singers Vorstellung von der Entstehung des Bewusstseins, das uns als unbedingt und somit als frei erscheine, weil wir seine Ursachen vergessen hätten, liegt darin, dass er das zu Erklärende in die Erklärung hineinlegt, um es dann als Resultat zu erhalten. Das Selbstbewusstsein, insofern es als Bewusstseinszustand in einem empirischen Subjekt aufgefasst wird, ist geworden. Die Erkenntnis des Selbstbewusstseins ist mit dem Selbstbewusstsein gegeben, es ist genau dies. Zugleich setzt diese Erkenntnis das Selbstbewusstsein voraus. Dieses Selbstbewusstsein als logische Voraussetzung seiner Erkenntnis versucht Singer in der Empirie wieder zu finden; er macht deswegen aus einer logischen Voraussetzung ein empirisches Datum und legt dasselbe in die psychologische Genese des Selbstbewusstseins, in den Individuationsprozess, den wir bloß deshalb nicht erinnern könnten, weil er in die Phase der frühkindlichen Amnesie falle. Im Umkehrschluss müsste dies heißen, dass wir, wenn das Selbstbewusstsein sich in einer späteren Phase der Entwicklung herausbildete, wir das Entstehen von Bewusstsein bewusst erleben würden. Dann würden „uns die subjektiven Aspekte von Bewußtsein" nicht „als alles Materielle transzendierende Entitäten, die jeder Verursachung entzogen sind und jedem reduktionistischen Erklärungsansatz trotzen", erscheinen, weil wir eine Erinnerung an ihren „Verursachungsprozess" hätten. Diese Umkehrung von Singers Argumentation zeigt, dass das, was er als ein entwick-

2

Wolf Singer, „Vom Gehirn zum Bewußtsein", in: Das Gehirn und sein Geist, 202 f.

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DAS GEHIRN ALS MATERIAL UND IDEE

lungspsychologisches Problem darstellt, in Wahrheit ein logisches Problem ist. Denn da das Bewusstsein allem bewussten Erleben notwendig vorausgesetzt ist, kann seine empirische Genese nicht bewusst erlebt werden - gleich, in welcher Phase der Entwicklung dieser Prozess stattfindet. Das Moment der Selbsttätigkeit des Bewusstseins gegenüber einem einzelnen physiologischen Prozess drückt sich auch in der qualitativ anderen logischen Gestalt aus Gedanken können notwendig und allgemein sein, sie können richtig oder falsch sein, wogegen ein physiologischer Prozess nur sein oder nicht sein kann. Die Differenz von wahr und falsch ist darum nicht aus partikularen Naturprozessen ableitbar. Wenn Singer dennoch in einen partikularen Naturprozess, nämlich in einen von ihm als natural determiniert ablaufend angenommenen psychologischen Entwicklungsprozess während der frühen Kindheit, den Grund für das logisch spezifisch bestimmte Denken hineinlegt, erklärt er hiermit entweder das Denken nicht, weil in einem Naturprozess kein zureichender Bestimmungsgrund für die Möglichkeit notwendiger und allgemeiner logischer Urteile enthalten sein kann, oder er verfallt in eine petitio principii. Mit letzterer unterstellt er, dass das Denken genau so verfasst sei, wie er es entwickelt hat, um genau diese Verfasstheit zu erhalten: analog zu einem partikularen Naturprozess. Mit dieser Konstruktion sind Naturprozesse und Denkprozesse (oder besser gesagt psychologische Prozesse, denn diese hat er vor Augen) dann ihrer logischen Gestalt nach nicht unterschieden, da sie denselben Prinzipien der Natur folgen, denen sie sich verdanken. Der Gegensatz zwischen Geist und Körper ist mit diesem sich als physikalistisch erweisenden Ansatz jedoch nicht aus der Wissenschaft verbannt, sondern nur unvollständig verdeckt. Dass dieser Gegensatz ein logischer ist und kein psychologischer, zeigt sich auch in den reduktionistischen Theoremen von Singer, Roth und anderen. Denn in der Hirnforschung selbst erscheint das Gehirn der Sache nach zugleich als Material und Idee - auch wenn viele Neurobiologen dem Irrtum aufsitzen, sie hätten diesen Widerstreit zur Seite des Materials hin aufgelöst. Das Gehirn als Material ist zunächst das neuronale Gewebe, aus dem das Gehirn besteht und seine Organisationsstruktur. Das ist die Hirnaktivität, das sind die elektrischen Impulse und chemischen Reaktionen, die in und zwischen den Neuronen stattfinden. Doch was ist das Gehirn als Idee? Idee wird hier zunächst umgangssprachlich als Vorstellung, als etwas, das in unserem Bewusstsein ist, gefasst. Das Gehirn wird vorgestellt als das Organ, das Sitz der Vorstellungen und des Denkens ist. Indem alles Mentale im Gehirn verortet wird, ist das Gehirn der Sache nach dasjenige, in dem alle mannigfaltigen Gedanken und Gefühle eines Bewusstseins zusammenstehen - und damit ist es selbst ein Ideelles, nämlich als Einheit aller Vorstellungen selbst Bewusstsein. Das ganze Gehirn, vorgestellt als übergeordnete Einheit aller Denkinhalte, bekommt so die Funktion der Einheit des Selbstbewusstseins. Doch auch einzelne Teile des Gehirns (nämlich alle Hirnareale, die in ihrer Funktion mit mentalem Geschehen im weitesten Sinne verknüpft vorgestellt werden) werden nur im Bezug auf dessen Einheit und damit auf ein Ideelles, als dessen Ursache sie identifiziert werden, erkannt.

V O N DER SCHLECHTEN UNENDLICHKEIT NEURONALER VERKNÜPFUNGEN .

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Dass sich die Ideen im Gehirn befinden bzw. im neuronalen Geschehen des Gehirns ihre hinreichende Ursache haben, ist zunächst selbst eine Idee. Die Inhalte des Bewusstseins werden mit denjenigen neuronalen Gehirnaktivitäten identifiziert, die zeitgleich mit bestimmten Bewusstseinsinhalten messbar sind. Die spezifische Hirnaktivität i s t kein bestimmter (Gedanken-) Inhalt, sondern sie k o r r e 1 i e r t diesem Inhalt mehr oder weniger stark, wird jedoch zugleich als dieser Inhalt oder als seine Repräsentation 3 vorgestellt, d. h. das Gehirn wird als Material erforscht und dabei zugleich vorgestellt als ein Ideelles. Die Beziehung von Material und Idee ist kein empirisch zu beobachtender Sachverhalt, sondern ihrerseits ein Ideelles. Und nur über dieses Ideelle können die Zuordnungen mentaler Zustände zu spezifischen Materialeigenschaften des Gehirns als deren Funktion gewonnen werden. Werden beispielsweise Testpersonen aufgefordert, mathematische Aufgaben zu lösen, ist, während sie das tun, eine verstärkte Aktivität im unteren hinteren Parietallappen messbar. Im Ergebnis der Untersuchung heißt es dann, der untere hintere Parietallappen s e i das Organ, das für das Lösen mathematischer Probleme zuständig sei. 4 Allein aufgrund der Messung von materiellen Eigenschaften kann kein solches Resultat gewonnen werden, denn man sieht dem Gehirn die Fähigkeit zur Mathematik nicht an, wie man etwa der Hand die Fähigkeit zum Greifen ansieht oder der Lunge die Fähigkeit zum Gasaustausch. Die gedachten mathematischen Formeln in den grauen Zellen sieht man nicht und insofern ist die Relation, d. i. die Fähigkeit zu diesen Formeln, ihrerseits ideell und nicht messbar, der Gasaustausch in der Lunge hingegen ist ein messbarer Sachverhalt. Die von der Neurophysiologie erforschten Funktionen des Gehirns werden also erst über ein Ideelles gewonnen, das selbst kein Materielles, Chemisches oder Elektrisches ist, sondern Gedachtes, Idee. Ein grundlegendes Problem der Hirnforschung besteht also darin, dass sie Ideelles Gedanken, Bewusstsein, Gefühle, Moral oder Wille - im Gehirn verorten will und muss. Eine strenge Trennung der Gegenstandsbereiche von Biologie und Psychologie, wobei die Naturwissenschaft sich auf die Erforschung des organischen Funktionierens des Gehirns beschränken könnte, ist hier nicht möglich. Denn jedes Organ wird über seine Funktion bestimmt. Und wie die Lunge für den Gasaustausch zuständig ist und 3 Dass es einen entscheidenden Unterschied macht, ob etwas etwas ist oder dieses bloß repräsentiert, ist der Philosophie seit dem Universalienstreit bewusst. Hier möchte ich über diese Differenz jedoch hinweggehen, da es in der vorliegenden Problematik keine Lösung, sondern lediglich eine Verlagerung in einen regressus in infinitum bedeuten würde, zu sagen, neuronale Aktivität sei kein Gedanke, sondern seine Repräsentation. Denn Zeichen müssen gelesen werden (können), und die Frage nach der Vermittlung stellt sich gleichermaßen, ob nun nach der Beziehung zwischen Neuronenfeuer und bewusstem Inhalt oder nach der Vermittlung zwischen unbewusster Repräsentation und bewusstem Inhalt gefragt wird. Im Unterschied zu allen anderen Gegenständen spielt die im Universalienstreit als entscheidend zutage getretene Differenz zwischen Ding und Gedanke oder Begriff hier keine Rolle; denn der gedachte Begriff eines Gedankens ist ein ebensolcher, während der gedachte Begriff eines Hundes kein Hund ist und daher nicht bellt. 4

Und die Elitegehirnforschung fügt an, dass eben dieser Bereich bei Einstein besonders groß war.

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DAS GEHIRN ALS MATERIAL UND IDEE

ihre spezifische Struktur nur im Bezug auf diese Funktion sinnvoll begriffen werden kann, so ist das Gehirn (oder zumindest Teile davon) offenbar für das Fühlen und Denken zuständig; ohne den Bezug zu mentalen Zuständen ließen sich viele Hirnareale nicht begreifen, da ihnen außer der mentalen keine Funktion zugeordnet werden kann. Der Hirnforschung erscheint das Gehirn so auf zwei Arten. Zum einen als Material mit spezifischer Struktur und bestimmten physikalischen und chemischen Eigenschaften, zum anderen als Ideelles, als dasjenige, was als wesentlich für das Menschsein gilt, nämlich über Verstand und Vernunft zu verfugen, Geist zu haben. So scheinen sich der Interpretation nur zwei Möglichkeiten anzubieten: Entweder das materielle Gehirn ist Träger eines von ihm unterschiedenen Ideellen, oder das Gehirn ist die Materialisation des Ideellen (und damit implizit selbst das selbstbewusste Subjekt). Diese letztere Vorstellung vom Gehirn als der stofflichen Form des Gedankens, als Geist in materialiter, ist die zurzeit vorherrschende. Das Gehirn wird so in der Hirnforschung zu der Vorstellung von einer materialisierten Vorstellung - und damit zu einem sich perpetuierenden Widerspruch. Die Idee, dass Ideen kein Ideelles, sondern ein Materielles seien, zieht sich als Widerspruch durch die gesamte Geschichte der Hirnforschung. Denn beide Bestimmtheiten sind einander negativ entgegengesetzt: Das Physikalisch-Chemische schließt von sich aus, Ideelles zu sein; umgekehrt ist das Ideelle per se kein physikalisch-chemischer Vorgang. Dennoch ist das Gehirn scheinbar die Einheit dieser einander negativ entgegengesetzten Bestimmtheiten. Wie der Widerspruch, so zieht sich auch der Versuch, die Einheit von Ideellem und Materiellem ihrerseits naturwissenschaftlich zu bestimmen, durch die Geschichte der Hirnforschung. Denn ihr sind Ideen kein rein Ideelles und nicht an und für sich ideell bestimmt, sondern entweder wesentlich ein Materielles oder durch Materielles produziert und so nur der Schein eines Ideellen, die bloße Täuschung, die sich selbst vorspiegelt, ein anderes als das Materielle zu sein. Doch indem die Hirnforschung das Gehirn als Organ des intelligiblen Vermögens, des Denkens, ausmachte, holte sie seit ihren Anfangen das der Philosophie wohlbekannte Leib-Seele-Problem in die Naturwissenschaft hinein und versucht seitdem vergeblich, es wieder loszuwerden oder es als entphilosophiertes zu assimilieren. 5 In den Widersprüchen, in die die Lösungsversuche der Hirnforscher münden, zeigt sich die in der Geschichte der Philosophie erkannte antinomische Struktur des Problems.

5 Die analytische Philosophie des Geistes hilft ihr dabei, indem sie kein Transzendentales kennen will.

DIE ANTINOMIE VON GEHIRN UND GEIST

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Die Antinomie von Gehirn und Geist Das Leib-Seele-Problem erscheint seit der versuchten Lokalisation des Denkens im Gehirn als Gehirn-Geist-Problem. Alle Varianten der beiden maßgeblichen und heftig gegeneinander diskutierten Theorien, der Identitätstheorie und der Theorie des Dualismus, führen offenbar auf unlösbare Probleme und beide haben zugleich gute Argumente für ihre Gültigkeit. Das kontradiktorische Verhältnis beider Annahmen stellt sich wie folgt dar: Die These der Identitätstheorie lautet: Der Geist muss im Gehirn nicht nur seine notwendige, sondern zugleich seine hinreichende Bedingung haben; die Ergebnisse der Hirnforschung zeigen, wie eng geistige Fähigkeiten an Hirnfunktionen gebunden sind, und es gibt keinen Grund, eine nichtmaterielle Substanz anzunehmen. Im Gegenteil: Gäbe es eine nichtmaterielle Substanz des Geistes, wäre es ihr - als nichtmaterieller unmöglich, auf das Material einzuwirken oder sogar mit ihm in Wechselwirkung zu stehen. Wäre es ihr hingegen möglich, müsste sie materiell sein (und wäre dann widersprüchlich bestimmt). Denn physikalische Wirkungen erfordern physikalische Ursachen. Die Vermittlung zwischen neuronalen Prozessen und Bewusstseinszuständen müsse darum als notwendig und hinreichend angenommen werden, erscheine jedoch als hochkomplex. Darum entziehe sie sich dem (heutigen) Verständnis, sei aber grundsätzlich als naturkausal determiniert anzunehmen. Die These dualistischer Theorien lautet dagegen: Der Geist kann nicht hinreichend durch das Gehirn oder irgendein Material bestimmt sein. Weil der Geist selbst nicht materiell, sondern ideell ist, und weil er nicht empirisch, sondern nur reflexiv erkannt werden kann und darum nicht durch heteronome Gesetze bedingt, sondern frei ist, sei es sogar ungereimt anzunehmen, dass er seine notwendige Bedingung im Gehirn habe. Dennoch muss eine Vermittlung zwischen neuronalen Prozessen und Bewusstsein als wirklich angenommen werden, da Menschen durch ihren Willen und ihre Handlungen auf Körper einwirken können, also Geist auf Material wirkt und da umgekehrt die Sinnesreize auf den Geist wirken, indem uns über sie die spezifischen Erscheinungen äußerer Gegenstände gegeben werden. Da dualistische Theorien das Wie dieser Vermittlung nicht anzugeben vermögen, werden sie zunehmend unpopulär. Die Identitätstheorien hingegen behaupten, dass sich das Problem einer solchen Vermittlung nur scheinbar stelle, während es in Wahrheit nichts zu vermitteln gebe, da Geist nur eine andere Erscheinungsform bestimmter Hirnzustände sei. Philosophisch erscheint das Gehirn-Geist-Problem als eine A n t i n o m i e , in welcher sich die Notwendigkeit u n d die Unmöglichkeit einer Vermittlung zwischen Materiellem und Ideellem zunächst als g l e i c h e r m a ß e n z w i n g e n d darstellt, als ein zu denkender Widerspruch, an dem hirnphysiologische Theorien, seien sie dualistisch oder identitätstheoretisch orientiert, immer wieder scheitern müssen, wenn sie ihn statisch nach einer Seite hin zu lösen versuchen.

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In der neurophysiologischen Debatte wird das Problem der Vermittlung zwischen Gehirn und Gedanken dagegen heute überwiegend als so genanntes B i n d u n g s p r o b l e m angenommen, das prinzipiell auf naturwissenschaftlicher Grundlage lösbar sei, wobei allerdings die Art der Vermittlung als derart komplex angenommen wird, dass sie bisher nicht nachvollzogen werden konnte oder auch niemals nachzuvollziehen sein wird. Bei diesem Versuch, die Antinomie von Gehirn und Geist zur Seite des Materials hin aufzulösen, indem der Geist als eine physikalische Wirkung des Gehirns angenommen wird (oder auch, indem eine physikalische Wirkung des Geistes auf das Gehirn angenommen wird), taucht der Widerspruch dieser Antinomie in der Hirnforschung unweigerlich an anderer Stelle wieder auf.

Die Emergenztheorie Auch Physikalisten erkennen, dass der menschliche Geist (,das Mentale', wie sie gerne sagen) gegenüber Naturgegenständen eine Besonderheit darstellt, die mit der Reflexivität des Selbstbewusstseins und der Freiheit des Willens zusammenhängt. Zur Erklärung dieser Besonderheit steht Naturwissenschaftlern jedoch keine andere Möglichkeit zur Verfügung, als eine physikalische Verursachung in neuer, vielleicht noch unbekannter Art anzunehmen und das ,Rätsel des Bewusstseins' als hochkomplexen Zusammenhang zu begreifen.6 Dieser hochkomplexe Zusammenhang könne, wenn er ein Zusammenhang bleiben solle, nur ein kausaler sein. Es handele sich bei Gehirn und Geist darum um eine (wenn auch bislang nicht zureichend beschreibbare) kausale Beziehung. Damit wird der Geist dann jedoch wieder implizit als der Naturgegenstand gefasst, der er zugleich nicht sein soll und nicht sein kann. Der Sprung vom Material zur Idee soll in der hohen Komplexität7 neuronaler Verknüpfungen verborgen liegen. Der Versuch, das grundsätzliche Problem der Vermittlung von Gehirn und Geist durch den Hinweis auf die Komplexität zu erklären, scheint

6 Die Überlegung, dass das menschliche Denken der empirischen Forschung unzugänglich sei und diese hier an eine Grenze ihres möglichen Gegenstandsbereiches stößt, findet sich heute vornehmlich bei christlichen Naturwissenschaftlern, die den Geist als göttlichen Ursprungs und damit als prinzipiell unerkennbar ansehen und denen die Erklärungsversuche, die allesamt an dem Problem der Vermittlung (wie kann Mentales auf Physisches einwirken und umgekehrt?) und der Verursachung (wie kann Mentales aus Physischem entstehen?) scheitern und sich in Widersprüche verwickeln, allesamt recht zu geben scheinen. Diese überschwängliche Interpretation enthält das wahre Moment, dass, wird die Vermittlung als durch naturwissenschaftliche Methoden erkennbar angenommen - also eine Lösung des Leib-Seele-Problems zur Seite des Leibes hin - eine solche Vermittlung allerdings scheitern muss. 7 In diesem Zusammenhang ist in der Zeitschrift Gehirn & Geist sogar von einer „Überkomplexität nicht-linearer Strukturen" zu lesen. Vgl: „Das Manifest", in: Gehirn & Geist 6/2004.

DIE EMERGENZTHEORIE

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zunächst viel versprechend. 8 Da es im Gegenstandsbereich der Naturwissenschaften tatsächlich Fälle gibt, in denen naturkausale Verknüpfungen zu komplex sind, um vollständig nachvollzogen zu werden, fällt das grundlegende Problem der Hirnforschung zunächst nicht auf. Es erscheint vielmehr als ein weiterer Fall emergenter Entwicklung. In der Biologie wurden evolutionäre Entwicklungssprünge, d. i. das Auftauchen gänzlich neuer Phänomene, die sich nicht hinreichend aus dem, woraus sie sich entwickelt haben, erklären lassen, von dem Biologen Lloyd Morgan 9 untersucht. Er nannte solche neuen Qualitäten, die sich nicht auf die sie bedingenden Faktoren reduzieren lassen, Emergenzen. Von der Physik wurde dieses Phänomen aufgegriffen und in ein allgemeines Erklärungsmuster gefasst, um das Entstehen neuer Eigenschaften bei komplexen Verknüpfungen zu bezeichnen. 10 Emergenz (von lat.: emergere, auftauchen) bezeichnet das Auftauchen einer neuen Qualität. Durch den Terminus Emergenztheorie und auch durch die Art der Darstellung wird suggeriert, dass die Bezeichnung eines Phänomens als emergent bereits eine Erklärung für das Auftauchen dieser neuen Qualität enthalte. Doch eine Benennung ist keine Erklärung. Teilweise wird diese Emergenz-Terminologie von Hirnforschern aufgegriffen. So wird heute auch das .Phänomen des Mentalen', wie die Biologen den menschlichen Geist nennen, als eine Emergenz betrachtet, die durch den neuen Grad der Komplexität der neuronalen Funktionen unseres Gehirns entstanden sei, aber nicht durch Eigenschaften und Beziehungen zwischen den Teilen (Neuronen), aus denen sie bestehe, erklärt und vorausgesagt werden könne. Die Emergenztheorie besagt, dass höhere Systeme neue Eigenschaften haben, die nicht aus dem weniger organisierten Zustand ableitbar seien. Die Hirnforschung erkennt den Geist oder das Mentale als eine andere Qualität als das neuronale Substrat des Gehirns und schließt nun in Anlehnung an die Emergenztheorie, dass die hohe Komplexität der neuronalen Verbindungen die Ursache für diese neue, emergierende Qualität ,Bewusstsein' sei. Durch die Komplexität im neuronalen System des Gehirn entstehe so ein höheres System des Mentalen. Dass die Emergenztheorie auch bezogen auf das Verhältnis von Gehirn und Geist bloß das Auftauchen einer neuen Qualität bezeichnen, aber nicht erklären kann, zeigt sich, wenn man fragt, was denn das Kriterium sei, um von einem ,höheren' System reden zu können. Es ist bei genauer Betrachtung eben nicht der schiere Grad der Komplexität der Organisation, also nicht die Quantität der Verknüpfungen von Neuronen, sondern es ist die neue Qualität selbst, in diesem Fall das Denken, das als e i η A n d e r e s als die Summe von

8 Wolf Singer spricht in diesem Zusammenhang von einer „Welt der komplexen Systeme. Wir müssen uns in einer Welt bewegen, in der die Messdaten, die wir bekommen, analytisch nicht mehr vollständig beschreibbar sind, weil es die Mathematik dazu noch nicht gibt." Wolf Singer, Ein neues Menschenbild?, 42. 9 Vgl. Conwy Lloyd Morgan, Emergenz Evolution, London 1923. 10 Ζ. B. kommen die Eigenschaften von Molekülen nicht den Atomen zu, obwohl sie als von letzteren bedingt angenommen werden müssen, da Moleküle aus Atomen bestehen, also nichts weiter hinzutritt, was die neuen Moleküleigenschaften bedingen könnte, das nicht schon in den Atomen vorhanden ist.

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neuronalen Verbindungen erkannt wird und darum durch deren hohe Komplexität als ein höheres System der neuronalen Struktur erklärt werden soll, aber nicht erklärt werden kann. Denn gemessen wird die ,höhere Komplexität' gerade n i c h t q u a n t i t a t i v a m G r a d d e r K o m p l e x h e i t , sondern sie muss der neuen Qualität n a c h t r ä g l i c h als deren Ursache zugeordnet werden. Sie wird also erst dadurch zur .höheren Komplexität', dass es den Geist als eine eigene, als solche bereits erkannte Qualität schon gibt, welche dann als durch die Komplexität des Gehirns hervorgebracht vorgestellt (nicht aber erklärt) wird, was diese Komplexität dann zu einer ,höheren' qualifiziert. Doch solch eine ,höhere Komplexität' e r k l ä r t nicht das Emergieren einer neuen Qualität; die Komplexität als Ursache der neuen Qualität anzunehmen, enthält einen Zirkel. Was die ,höhere Komplexität' sei, ist bereits durch das Denken als eine andere Qualität vorausgesetzt und ist nicht durch eine naturwissenschaftliche Erklärung einzuholen. Dies zeigt sich darin, dass die Emergenztheorie immer allgemein bleiben muss, gleich, ob sie die Entstehung der Moleküle, des Lebens oder des Denkens bezeichnet. Denn das Spezifische der einzelnen Qualitäten in ihrer Besonderheit kann nicht in einem Verweis auf ,hohe Komplexität' aufgehen. So kann auch das Spezifische des Geistes nicht durch ein allgemeines Erklärungsmuster gefasst werden, das zugleich beansprucht, in gleicher Weise jede andere Qualität in ihrer spezifischen Genese als Besonderes fassen zu können. Die Emergenztheorie beruht sowohl auf der falschen Annahme, Quantität schlage zwangsläufig in Qualität um, als auch auf dem Missverständnis, eine Qualität sei schon durch ihr Umschlagen aus Quantität bestimmt. Wäre letzteres der Fall, dann gingen verschiedene Qualitäten in unterschiedlichen Quantitäten auf - und damit gäbe es keine verschiedenen Qualitäten mehr, also keine wesentlichen, sondern bloß graduelle Differenzen. Qualitäten sind verschiedene, sie ergeben sich in keiner Weise auseinander, sondern müssen gesetzt sein. Da Geist und Gehirn zwei verschiedene Qualitäten sind, gibt es keinen Weg von der einen zur anderen. Das Mehren des Wissens um Hirnfunktionen kann darum ebenso wenig den Weg zum Bewusstsein weisen, wie das Summieren von Punkten zu einer Linie fuhrt. Als empirische sind neuronale Verknüpfungen, auch wenn man ihre Komplexität und die Varianz ihrer Vernetzungsmöglichkeiten als tendenziell unendlich annimmt, Materielles und immer naturkausal Bedingtes. Das menschliche Denken hingegen steht als Selbstbewusstsein, in das alle - in ihrer Mannigfaltigkeit ebenfalls tendenziell unendlichen - Vorstellungen fallen, unter der transzendentalen Einheit der Apperzeption und ist damit als Ideelles unter die Idee seiner Vollständigkeit gefasst: Als e i η Bewusstsein, das die Einheit aller Vorstellungen als Vorstellungen e i n e s Subjekts stiftet. Von der schlechten Unendlichkeit 11 neuronaler Verknüpfungen durch das Mehren des Wis-

11 Als schlechte Unendlichkeit' wird die Vorstellung des tendenziell unendlichen Prozessierens bezeichnet, als wahre oder affirmative Unendlichkeit dagegen der unendliche Prozess in seiner Voll-

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sens über seine komplexen Zusammenhänge zur Idee der synthetischen Vollständigkeit menschlichen Denkens fortschreiten zu wollen ist nicht nur ein empirisch unabsehbares Unterfangen, sondern schon der logischen Struktur nach wegen der qualitativen Differenz der Gegenstände unmöglich. Die tendenzielle Unendlichkeit der Mannigfaltigkeit neuronaler Strukturen wird vielmehr selbst, wenn sie als vollständige gedacht wird, zu einer Vernunftidee und ist somit kein möglicher empirischer Befund. Damit ist die Idee der vollständigen Komplexität der Hirnfunktionen als e i η System ebenso Ideelles wie die Einheit des Bewusstseins. Und was Ideelles ist, kann per definitionem nicht im Material als empirische Eigenschaft gefunden werden. Die Versuche, den Geist in der großen Komplexität des menschlichen Gehirns zu verorten, fassen also implizit und uneingestanden die neuronalen Verknüpfungen in ihrer Mannigfaltigkeit unter die Idee der synthetischen Vollständigkeit als Einheit und erzeugen so einen Begriff, der zu aller materiellen Bestimmtheit transzendent ist. Die für die Neurowissenschaft drängende Frage nach der Entstehung des reflexiven und freien Geistes aus dem physischen Material kann nirgendwo hinfuhren. Eine im naturwissenschaftlichen Sinne befriedigende Antwort hierauf kann es prinzipiell nicht geben, denn dann müsste das Material die kausale Ursache des Ideellen sein, was letzteres als physische Wirkung zu einem materiellen Gegenstand machen würde, welcher seiner Bestimmung nach kein Ideelles sein kann. Die konsequenteste Antwort der Neurophysiologie lautet darum, dass das Ideelle bloßer Schein sei, dem keine Wirklichkeit korrespondiere, und dass der Geist nicht reflexiv und frei sei, sondern eine bloß natürliche Funktion des Gehirns. Sinngemäß gipfelt dies in dem Widerspruch, sagen zu müssen: Wir haben gar kein Bewusstsein. Das kommt uns nur so vor. Unser Geist ist nicht wirklich. Wir denken ihn bloß. 12 Diese Konsequenz unterstellt einen Wirklichkeitsbegriff, der das Vermögen, welches Begriffe und darunter den Begriff der Wirklichkeit bilden kann, als unwirklich verwirft. Nach David Layzer, Professor für Astrophysik an der Harvard University, habe das menschliche Bewusstsein vom objektiven Standpunkt der Naturwissenschaften aus gesehen „weder Sinn noch Verstand" 13 , weil es radikal zufallig - d. i. nicht kausal erfassbar - sei. 14 Damit meint er, dass es keine physikalische Funktion gebe, die das Bewusstsein erfülle. Es lasse sich ihm zufolge nicht nur nicht erklären, wodurch Bewusstsein verursacht werde, es lasse sich zudem auch keine Wirkung benennen, die es auf andere Phänomene habe. Da Bewusstsein demnach ohne physikalische Ursache oder

ständigkeit als Einheit gedacht (Totalität). Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik I, Frankfurt a. M. 2000 152, u. 156 f. 12 Vgl. Patricia Churchland, Neurophilosophy. Toward a Unified Science of the Mind-Brain, New York, Oxford 1989. Dass wir das Denken nur denken ist hierbei eine erfreulich wahre Einsicht. Schon Hegel wusste, dass der Geist kein Knochen ist. 13 D. Layzer, Die Ordnung des Universums, Frankfurt a. M. 2001, 418. 14 Vgl. Layzer, Die Ordnung des Universums.

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Wirkung sei, sei es gleichsam Nichts; es sei lediglich als unerklärliche ,Innenperspektive' anwesend, ohne Außenwirkung und damit letztendlich ohne Bedeutung. Diese Verkehrung, der Natur „Sinn und Verstand" zuzusprechen und sie dem Denken abzusprechen, folgt konsequent aus einem Wirklichkeitsbegriff, der ausschließlich das empirisch Zugängliche umfasst, dieses teleologisch deutet und ohne Reflexion auf die in Verstand und Vernunft gründenden Voraussetzungen dieses naturwissenschaftlichen Vorgehens auskommt. Ein solcher Wirklichkeitsbegriff macht das, was Kant Erscheinung nennt, zur an-sich-seienden Wirklichkeit. Resultat ist die Idee von einem System der Natur, in das sich alle sinnlichen Gegenstände einfügen lassen; nur dasjenige, was Voraussetzung aller Naturerkenntnis ist, entzieht sich ihr, da es nicht sinnlich, sondern nur reflexiv zugänglich ist. Da die Natur als durchgängiges System ,mit Sinn und Verstand' - also als durch das Prinzip der Kausalität rational erfassbar - erkannt wurde, erscheint Layzer das, was sich hier nicht einfügen lässt, nämlich der menschliche Verstand, als ,ohne Sinn und Verstand'. Der Wille und die durch den Willen gesetzten Zwecke haben keine physische Gestalt. Darum wird der freie Wille von Hirnforschern wie Gerhard Roth oder Wolf Singer als bloßer Schein des Neuronenfeuers angesehen. Doch zugleich kann von ihnen die Tatsache, dass es Bewusstsein gibt, nicht geleugnet werden, obwohl auch dieses ohne physische Gestalt ist. Deshalb müssen sie ihm eine physische Gestalt in Form von neuronalen Prozessen zuordnen und diesen neuronalen Prozessen dann wiederum ideelle Wirkungen zuschreiben. So bleibt die Hirnforschung vor unlösbaren Fragen. Weder das Intelligible noch die Wirklichkeit seiner Vermittlung mit dem Materiellen lässt sich durchgehend und konsequent bestreiten, ohne sich lächerlich zu machen, da durch die zielgerichtete Handlung, die einen Zweck verfolgt und entsprechend auf das Material einwirkt, der Wille eine sichtbare physische Wirkung hat, indem willentlich gesetzte Zwecke im Material realisiert werden (beispielsweise im sinnvollen Aufbau eines neurowissenschaftlichen Experiments) - und zwar, ohne dass eine gegen die Naturgesetze verstoßende Einwirkung in die physikalischen Zusammenhänge der Welt (im Gehirn) ,aus Freiheit' stattfindet, wie es dualistische Theorien nahe legen. Wird, wie in dualistischen Theorien, der Geist als Aggregat immaterieller Kräfte hypostasiert und diesem der Körper als Aggregat materieller Teile entgegengesetzt, entsteht das ,Rätsel des Bewusstseins'. Die Immaterialität des Geistes steht der Materialität des Körpers ohne Möglichkeit der Vermittlung gegenüber. Wenn Gehirn und Geist also als absolut Selbständige gegeneinander vorausgesetzt werden, dann ist eine wechselseitige Beziehung zwischen ihnen tatsächlich unmöglich und die Art ihrer als real angenommenen Vermittlung nicht bloß rätselhaft, sondern prinzipiell unbegreifbar. Denn eine solche Vermittlung kann der Sache nach nicht kausal sein 15 - wenn sie es wäre, er-

15 Auch eine superveniente oder sonstige nicht-kausale Geist und Gehirn verknüpfende Vermittlung kann diese Kluft nicht überbrücken, höchstens unzulänglich verdecken.

DIE ΑΝΤΓΝΟΜΙΕ VON GEHIRN UND GEIST IST KONSTITUTIV FÜR DAS MENSCHSEIN

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klärte sie nicht die zur Frage stehende Wirkung aus Freiheit. 16 Aber da das Bewusstsein sowie die Wirkungen des Willens als Handlungen real gegeben sind, muss dem Geist die Gemeinschaft mit der Welt zugemutet werden und umgekehrt. Und das heißt für die wissenschaftliche Erforschung dieses Zusammenhangs: dem Denken muss der in jener Antinomie enthaltene Widerspruch zugemutet werden. Denn die Antinomie ist nicht so aufzulösen ist, dass eine Seite in die andere aufgelöst wird, indem man sagt, das Ideelle sei bloßer Schein oder indem man die Wirkung des Ideellen ohne Vermittlungsmöglichkeit zum Materiellen in der ideellen Sphäre belässt. Das antinomische Verhältnis von Geist und Gehirn ist nicht zu lösen, indem man sich auf die eine oder andere Seite der Antinomie zu schlagen versucht. Darum sind die Lösungsversuche des Geist-Gehirn-Problems durch Identitätstheorie und Dualismus sowohl einander widersprechend als auch in sich widersprüchlich. Betrachtet man nun das antinomische Verhältnis von Geist und Gehirn genauer, so sind darin die einander Entgegengesetzten (Geist und Gehirn) nur negativ gegeneinander bestimmbar und insofern zugleich konstitutiv füreinander. Damit sind sie schon - abstrakt betrachtet - in einer Einheit. In der zielgerichteten Tätigkeit, die das Naturmaterial nach einem gedachten, ideellen Zweck formt, findet sich nun ein in der empirischen Welt stattfindender Prozess, in dem Ideelles und Materielles als Momente eben dieses Prozesses praktisch vermittelt sind. Damit erweist sich der in der Antinomie enthaltene Widerspruch nicht bloß als eine Zumutung für das Denken, sondern zugleich als konstitutiv für die menschliche Handlung, in der ein Naturstoff nach Zwecken aus Freiheit gemäß den Naturgesetzen geformt wird.

Die Antinomie von Gehirn und Geist ist konstitutiv für das Menschsein Neuronale Prozesse sind materielle Prozesse und insofern naturwissenschaftlich beschreibbar. Beschrieben werden die höheren Hirnprozesse bezogen auf die mentalen Inhalte, denen sie korrelieren, als Funktionen. Als Organfunktionen sind sie wesentlich auf einen immateriellen Zweck bezogen: Den Zweck des Geistes, des Denkens und des Bewusstseins. 17

16 Kant überwindet die Kluft, indem er sagt, dass mit dem Sollen das Können (als praktische Möglichkeit des Handelns gemäß dem Kategorischen Imperativ) gesetzt sein muss (Vgl. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 17). Indem er von der gesetzgebenden Form der moralischen Maximen auf die Beschaffenheit des Willens als freien Willen schließt, schließt er vom Erkenntnisgrund auf den Existenzgrund. Ein solches Vorgehen ist jenseits empirisch messbarer Materialeigenschaften und darum sind diese Gegenstände nicht durch die Naturwissenschaften zu erkennen. 17 Dieser Zweck kann, wenn man ihn biologistisch fasst, eingeordnet werden als evolutionär zum Zweck der verbesserten Reproduktion entstanden. Diese .Erklärung' des Mentalen geht dann auf den

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Denken bezeichnet dagegen keine neuronale Organfunktion (auch wenn ihm solche korrelieren), sondern im weitesten Sinne tätiges Bewusstsein, wie beispielsweise das Begreifen neuronaler Funktionen; es liegt im Denken, Begriffe zu bilden und zu verknüpfen. Damit ist es zum einen auf Erscheinungen verwiesen, die ihm sinnlich gegeben werden und die es begreift, zugleich gehen die Begriffe als Abstraktionen über jede Erscheinung hinaus. Zudem lassen sich Begriffe von nichtsinnlichen Gegenständen bilden, so dass Denken durch Reflexion einen Begriff von sich selbst bilden kann. Den Geist oder das Denken als immateriell zu bezeichnen ist daher nicht falsch, jedoch dann irreführend, wenn suggeriert wird, dass es eine eigenständige Existenz unabhängig vom Material habe. Die Annahme einer geistigen Entität gegenüber einer von ihr gänzlich abgetrennten materiellen, führt zu den klassischen Fehlern des Zwei-Welten-Dualismus; das Leugnen einer wesentlichen Differenz zwischen Denken und neuronalem Geschehen fuhrt zu den Fehlern des Reduktionismus der Identitätstheorien. Es ist der Hirnforschung weitgehend möglich, einfache mentale Zustände (Angst, Farbensehen etc.) korrelierenden Gehirnvorgängen zuzuordnen. Doch der Inhalt des Mentalen lässt sich in keiner Weise auf die physikalischen Korrelate zurückführen, obgleich er sich in einem begrenzten Maße zuverlässig durch elektrische Reizung hervorrufen lässt. Die Resultate der Hirnforschung zeigen zumindest eines: Es gibt keine selbständige Existenz des menschlichen Geistes ohne jede Verwiesenheit auf Mate18 rielles. Es zeigt sich, dass die Abtrennung und Isolierung der nur in ihrem antinomischen Verhältnis bestimmbaren Entgegengesetzten von Materiellem und Immateriellem zu keinem Ergebnis führt. Insbesondere das menschliche Gehirn lässt sich nur über den ideellen Zweck, Material des ideellen Vermögens zu sein, wissenschaftlich begreifen. Und so ist der Gegenstand der Hirnforschung genau das, als was das Gehirn in den Widersprüchen ihrer Theorien erscheint, die den Geist entweder hypostasieren oder reduzieren: Material u n d Idee. Doch die gesuchte Vermittlung, die das Gehirn darstellen soll, ist auf neuronaler Ebene nicht zu finden. Kraft bestimmter Negation lässt sich sagen, dass der Vorgang des Erkennens physikalischer Zusammenhänge etwas anderes ist als die physikalischen Gehirnvorgänge, die bei diesem Erkennen stattfinden. So genannte mentale Zustände wie Erkennen, Fühlen oder Assoziieren19 sind nichts Leibliches. Doch ohne leibliche Gestalt - etwa durch teleologischen Naturzweck, die innere Zweckmäßigkeit, nach der jedes Lebewesen funktional auf sein eigenes Leben und die Fortpflanzung hin geordnet ist. Auch diese Funktion ist ein innerer, ein immaterieller Zweck, der über dem Material steht als es ordnendes Prinzip. 18 Ebenso wenig lässt sich ein lebendiger Organismus als eine selbständige bloß materielle Existenz begreifen, da der Begriff des Lebewesens stets den ideellen Naturzweck, das Prinzip seiner in sich zweckmäßigen Organisation (als seine Idee), enthält. Kein Lebewesen lässt sich bloß und ausschließlich als materiell denken, da die Differenz von lebendig und tot nicht im Material aufgeht. 19 Die Hirnforschung trennt hier der Sache nach nicht zwischen Gefühl und ratio. Sie trennt die verschiedenen empathischen und rationalen Funktionen nach den Hirnarealen, deren Aktivität diese Zustände maßgeblich begleiten.

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Steigen des Blutdrucks, Steigerung der Muskelspannung oder der Hirnaktivität - hätten sie kein Dasein, könnten sie nicht gefühlt oder gedacht werden. 20 Bewusstseinsinhalte sind erst und nur mit körperlichen Prozessen, niemals ohne sie - womit dann im Resultat der Verleiblichung jedes empirische Unterscheidungsmerkmal fehlte und sie faktisch identisch gesetzt wären. Als „Verleiblichung" bezeichnet Hegel den „unmittelbaren Übergang der innerlichen Empfindung in die leibliche Weise des Daseins". 21 Der Zusammenhang kann nicht kausal sein, und doch manifestiert sich an dieser Stelle bei Hegel das, was nicht der Naturkausalität unterliegt, in naturkausalen Prozessen. Die ganze Antinomie von Gehirn und Geist verbirgt sich hier in der Formulierung unmittelbarer Übergang': Etwas - Geist - geht in etwas anderes - Leiblichkeit - über. Aber dieser Übergang ist ohne jede Vermittlung, er ist unmittelbar. Nach dem Wie zu fragen ist müßig, die Unmöglichkeit einer befriedigenden Antwort ergibt sich aus dem oben dargestellten antinomischen Verhältnis von Ideellem und Materiellem, deren Gegensätzlichkeit unaufhebbar ist, weil sie nur gegeneinander bestimmbar sind (Ideell ist, was kein Material ist, et vice versa). Es gibt Kausalität der Natur. Es gibt das Denken, das dieser Kausalität der Natur nicht unterliegt, sondern frei ist. Es gibt bestimmte Natur und es gibt durch sich selbst bestimmbaren Willen. Wie dieses beides sich miteinander vermittelt, ist mit den empirischen Methoden der Naturwissenschaften nicht fassbar, weil eine solche Vermittlung das Ideelle enthalten muss und darum nicht im Material aufgehen kann. Dennoch erweist sich die Vermittlung als real, indem der Wille die Ursache einer Handlung ist, durch die ein autonom gesetzter Zweck (der nicht aus Naturkausalität hervorgeht) in der Welt (im Material) realisiert wird. Die Realisierung eines Zweckes aus Freiheit im Material gemäß den Naturgesetzen ist als Prozess der Vermittlung zugleich die Realisierung von Freiheit. Naturkausal bestimmtes Material muss so zugleich aus Freiheit bestimmbar (aus einem Willensgrund heraus formbar) sein. Durch die Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich 22 gelingt es Kant, die Bestimmtheit von Naturprozessen als notwendig und allgemein aufzuzeigen und dabei zugleich ihre Bestimmbarkeit durch das Denken auszumachen, indem die Naturgegenstände als bloße Erscheinungen zwar bestimmt, aber nicht vollständig bestimmt sind, sondern im Erkenntnisprozess als Objekte zugleich durch das Denken bestimmt werden. Diese Bestimmbarkeit im Prozess des Erkennens der Bestimmtheit von Erscheinungen ist die

20 Bewusstseinsinhalte zeigen sich vermittelt in körperlichen Prozessen - insbesondere bei Affekten auch vom Laien zu beobachten - was der Formulierung nach bedeutet, dass sie von diesen körperlichen Reaktionen verschiedene sind. Hoher Blutdruck ist kein Zorn, aber Zom geht mit hohem Blutdruck einher. Ob Menschen mit hohem Blutdruck eher zum Zorn neigen, oder zornige Menschen zu hohem Blutdruck, lässt sich empirisch nicht entscheiden, da die Statistik uns nur die Korrelation zeigt, nicht ein Verhältnis von Ursache und Wirkung. 21 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie a. M. 1986, § 401 Zusatz (102 ff). 22 Vgl. Kapitel 8.

der philosophischen

Wissenschaften

III, Frankfurt

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D A S GEHIRN ALS MATERIAL UND IDEE

Bedingung der Möglichkeit dafür, nicht nur die Bestimmtheit des Materials als gesetzmäßig (als Naturzweck) zu erkennen, sondern zugleich das erkannte Material gemäß seiner ihm innewohnenden Regelhaftigkeit zu eigenen Zwecken bestimmen zu können. Indem damit das Verhältnis von Ideellem und Materiellem für die Willensfreiheit des Menschen bestimmend ist (und nicht allein das Ideelle oder allein das Materielle - etwa in Form neuronaler Verschaltungen - abgetrennt von seinem Gegensatz), ist die Naturseite des Menschen, nämlich seine Sinnlichkeit, konstitutiv für all seine Freiheit - ebenso wie die Vernunft. Die Vorstellung, der Mensch sei auf der einen Seite frei in seiner Vernunft und auf der anderen Seite bedingt in seiner Sinnlichkeit, ist darum grundfalsch. Ein rein aus Vernunft bestimmter Wille wäre als reiner Wille ausschließlich durch den Kategorischen Imperativ bestimmt - und damit ohne möglichen Bezug auf gegebenes Material, das Gegenstand seines Wollens sein könne. Erst indem der Mensch sich seine aus der Sinnlichkeit entspringenden Bedürfnisse als Zwecke setzen kann, hat er die Möglichkeit, anders als rein moralisch, d. i. anders als leer, zu handeln - und damit überhaupt zu handeln. 23 Wenn das Gehirn der Naturkausalität unterliegt und die Vernunft sich selbst das Gesetz geben kann, also frei ist, dann ist es unmöglich, dass eine naturwissenschaftlich bestimmbare Schnittstelle zwischen Gehirn und Geist erkannt werden kann, da ersteres kausal determiniert und letzterer frei ist. Gehirn und Geist unterlägen dann verschiedenen Prinzipien. Damm lässt sich die Möglichkeit ihrer Vermittlung nicht naturwissenschaftlich beschreiben, denn hier kann nur Naturkausales beschrieben werden, also das, was Geist nicht ist. Zugleich ist daran festzuhalten, dass der Mensch Einheit von Gehirn und Geist ist, oder, klassisch formuliert, vernunftbegabtes Sinnenwesen. So steht der Mensch unter zwei Prinzipien, dem Prinzip der Kausalität nach Gesetzen der Natur und dem Prinzip der Freiheit. Die Frage ist, wie die Vermittlung dessen aussieht, was einander auszuschließen scheint. Diese gesuchte Vermittlung muss sowohl naturkausale Momente als auch das Moment der Spontaneität in sich als Einheit enthalten.

23 Vgl. Kapitel 10.

DER WIDERSPRUCH IST PRAKTISCH VERMITTELT IN DER ARBEIT

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Der Übergang vom antinomischen Verhältnis von Ideellem und Materiellem zu deren realer, praktischer Vermittlung in der Arbeit Die vermittelnde Schnittstelle zwischen Gehirn und Geist, welche einerseits naturkausal bestimmt wäre und zugleich das Prinzip der Freiheit enthielte, kann es nicht im Gehirn als eine durch einen neuronalen Naturprozess zu leistende Vermittlung geben. Doch die gesuchte Vermittlung von Naturkausalität und Freiheit lässt sich dort finden, wo die Zeitreihe von Ursache und Wirkung übersprungen wird, wo das vorgestellte Resultat Ursache seiner Realisierung im Material ist: in der lebendigen Arbeit, 24 der geplanten und zielgerichteten Tätigkeit des Menschen, also der Arbeit im weitesten Sinne (welche von ihrer gesellschaftlichen Form als Lohnarbeit unterschieden werden muss). Idee, durch das Prinzip der Freiheit bestimmt, und Material, bestimmt durch Kausalität nach Gesetzen der Natur, werden in der zielgerichteten Tätigkeit eines Menschen praktisch vermittelt. Das Gehirn-Geist Problem stellt sich dann als unlösbar dar, wenn man das Vermittelnde im Organischen zu erkennen sucht. Dagegen findet in der lebendigen Arbeit eine reale Vermittlung statt, indem die vorgegebene Natur nach willentlich gesetzten Zwecken umgebildet wird. Durch die Arbeit erhält die Idee als etwas, das zunächst nicht im Material, sondern in unserem Bewusstsein ist, einen Niederschlag im Material 25 und hat hierin ihre Realität. Voraussetzung hierfür ist, dass die Natur kein vollständig geschlossenes System ist. Sie muss jedoch ein hinreichend geschlossenes System 26 sein, um g e s e t z m ä ß i g veränderbar zu sein. Die Arbeit als zielgerichtete Veränderung des Naturstoffs hat jeweils zwei Voraussetzungen auf der Seite des Subjekts und auf der Seite des Materials. „Die Arbeit setzt vom Material voraus, daß es durch anderes bestimmbar ist, denn sonst ließe kein subjektiver Zweck sich in ihm realisieren, u n d daß es an sich bestimmt ist, denn sonst hätte das empirische Subjekt der Arbeit keinen Gegenstand. [...] Auf der Seite des Subjekts setzt die Arbeit voraus, daß das Subjekt für sich bestimmt ist, denn sonst könnte es keine eigenen Zwecke haben, u n d daß es sich in der Auseinandersetzung mit dem,

24 Außer in der lebendigen Arbeit ist die Vermittlung von Naturkausalität und Freiheit auch in moralischen Handlungen, von denen hier jedoch im Weiteren Argumentationsgang abgesehen wird, da sie kein Gegenstand empirischer Betrachtung sein können. 25 Dies gilt auch dann, wenn der Niederschlag im Material nicht der Vorstellung entspricht, die seine Ursache war. Auch der missglückte Versuch, Naturstoff nach den eigenen Vorstellungen zu formen, stellt eine zielgerichtete Bearbeitung dar, bei der die Idee und nicht ein vorhergehender Naturzustand Ursache des Produktes ist. 26 Dieser Begriff eines hinreichend geschlossenen Systems erweist sich als notwendig, ist zugleich jedoch in sich widersprüchlich. Dies verweist auf eine Antinomie im Begriff der Natur, die an dieser Stelle jedoch nicht entwickelt werden kann.

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was es nicht selbst ist, sich durch dieses bestimmen läßt, denn sonst könnte es keine Zwecke in einem an sich bestimmten Material realisieren." 27 Die Antinomie von Materiellem und Ideellem zeigt sich als Verhältnis von Bestimmtheit und Bestimmbarkeit in der Arbeit gleichermaßen auf beiden Seiten, der des Materials und der des Subjekts. 28 Die zielgerichtete Tätigkeit ist durch die frei gesetzten Zwecke des Subjekts und durch die spezifischen Eigenschaften des Materials bestimmt und in ihr erweist sich das Subjekt durch das Material und das Material durch das Subjekt als bestimmbar, wie zugleich das Subjekt sich selbst bestimmt und das Material an sich bestimmt ist. Diesem Verhältnis von Bestimmtheit und Bestimmbarkeit liegt die Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung zugrunde, welche enthält, dass die Erscheinung nicht vollständig das Objekt bestimmt, sondern zugleich ein Moment der Bestimmbarkeit durch das erkennende Subjekt zur Erkenntnis notwendig ist. Im Prozess des Arbeitens zeigt sich so der wahre Gehalt dessen, was Identitätstheorie und Dualismus vereinseitigt und abstrakt gegenüberstellen als Momente derselben Bewegung: als Autonomie im Heteronomen, Ideelles im Material, dem die Menschen ganz zugehören, ohne darin aufzugehen. In der Arbeit erscheinen Material und Idee, welche in einem empirischen Seienden wie dem Gehirn nicht zu einer Einheit zusammen gezwungen werden können, welche aber auch nicht zu getrennten Entitäten erklärt werden können, ohne das Ideelle zu einem leeren Begriff zu machen, als Momente eines Prozesses. Das antinomische Verhältnis von Material und Idee, das sich fur die moderne neurophysiologische Forschung im menschlichen Gehirn zu manifestieren scheint, hat keine naturwissenschaftliche Lösung; es hat einen praktischen Verlauf, in dem sich als übergeordnete Einheit zweier gegeneinander bestimmter Momente der Arbeitsprozess erweist. Diese Einheit beider Prinzipien, Naturkausalität und Freiheit, ist damit konstitutiv für die Art, wie Menschen sich als vernunftbegabte Naturwesen mit der Natur vermitteln: nicht über eine Organfunktion, sondern über eine bewusste und tätige Auseinandersetzung, d. i. über den Arbeitsprozess.

27 Peter Bulthaup, „Idealistische und materialistische Dialektik", in: Das Gesetz der Befreiung, Lüneburg 1998, 142. Hervorhebungen C. Z. 28 Das Verhältnis von Material und dem es bearbeitenden Subjekt ist dabei allerdings nicht symmetrisch, da auf der Seite des Subjekts eine spezifische Bestimmtheit dergestalt vorliegt, dass der Mensch aus Willkürfreiheit nicht nur das Material zu seinen Zwecken, sondern sich auch selbst bestimmen kann.

12. Widerlegt die moderne Hirnforschung die Willensfreiheit? „Der Mensch handelt nach der Idee von einer Freiheit, als ob er frei wäre, und eo ipso ist er frei." 1

Die Hirnforschung kann die Freiheit des Willens weder beweisen noch widerlegen, weil sich mit ihrer Methodik gar kein Begriff von Bewusstsein bilden lässt. Da den Naturwissenschaften das Intelligible per definitionem kein legitimer Gegenstand ist, ermöglichen ihre Forschungsresultate keinen Einblick in das Verhältnis von Gehirn und Geist. Das Problem der gleichzeitigen Notwendigkeit und Unmöglichkeit einer Vermittlung zwischen Denkprozessen und Hirnprozessen lässt sich nicht naturwissenschaftlich lösen, es lässt sich nur als ein durch eine Antinomie bestimmtes Verhältnis begreifen. Diese Antinomie wird offenbar, wenn versucht wird, das Verhältnis von Gehirn und Geist nach der einen oder der anderen Seite hin aufzulösen. Sind die Versuche konsequent, so schlagen sie in ihr Gegenteil um. Wer als steiler Materialist sagt, das Denken habe seine hinreichende Bedingung in der neuronalen Tätigkeit des menschlichen Gehirns, der geht den Weg des Rothschen Konstruktivismus, denn er muss einsehen, dass auch dieser Gedanke, das Gehirn bringe das Denken hervor, eine Hervorbringung des Gehirns sein muss - so wie alles Denken. So fuhrt dieser Ansatz geradewegs in den steilen Idealismus zu sagen, alles, was uns als materielle Wirklichkeit erscheine, sei eine elektrochemische Erzeugung unserer Gehirne und alle Wirklichkeit sei somit durch uns hervorgebracht, bloßes Konstrukt unseres Konstrukts eines Neuronenfeuers, bloße Vorstellung oder ideeller Schein. Der Umschlag vom Materialismus zum Idealismus ist hier eine konsequente Folge der widersprüchlichen Verfasstheit des Gegenstandes, der sich nicht widerspruchsfrei als statische Identität denken lässt. In dem Versuch, einen klassischen Dualismus von Leib und Seele respektive Gehirn und Geist zu vermeiden, schlägt eine Identitätstheorie so von der einen Seite des antinomischen Verhältnisses, dem Gehirn, zur anderen Seite, dem Geist, um. Umgekehrt offenbart jene Antinomie die notwendig zu denkende, aber nicht im Material dingfest zu machende Einheit des Gegenstandes genauso dort, wo dualistischen Theorien, wenn sie die Vermittlung von geistiger Entität zum Material als physische aufzuzeigen versuchen, die qualitative Differenz ihrer beiden Gegenstände Gehirn und

1 Immanuel Kant, Vorlesung über die philosophische

Religionslehre,

121. Vgl. 101, 119 ff.

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SCHLUSS

Geist verloren geht. Denn wird der Geist als Entität hypostasiert, der eigenständig und unabhängig vom Material tätig sei und zugleich auf dieses einwirke, so erhält er eine Wirklichkeit in Zeit und Raum, die ihn der Sache nach selbst zu einem physikalischem Gegenstand macht, der somit nicht etwas qualitativ anderes als das Gehirn wäre. So schlägt dann der Idealismus in einen Materialismus um. Für die Freiheit des Menschen hieße der Versuch der Auflösung des antinomischen Verhältnisses nach der einen oder anderen Seite, dass es sie entweder nicht gäbe und der Mensch vollständig durch Naturkausalität determiniert wäre, oder dass die Freiheit etwas rein Geistiges wäre ohne Möglichkeit der Vermittlung zum Material und damit eine bloße Illusion. Die Gesellschaft wäre dementsprechend entweder ein natürlicher Zustand, den man nicht aus Freiheit nach autonom gesetzten Zwecken verändern könnte, oder ein illusionärer Zustand, etwas bloß geistig Halluziniertes. Damit eliminieren sowohl die heute in zahlreichen Varianten von Hirnforschern und analytischen Philosophen vertretenen Identitätstheorien als auch der klassische Dualismus von Descartes über Popper und Eccles bis zu dem gescheiterten Dualisten Libet der Sache nach dasjenige, was die in ihrem antinomischen Verhältnis abstrakt Entgegengesetzten in der Realität praktisch vermittelt: die Arbeit des Menschen, der einen von ihm gesetzten Zweck realisiert. Die Freiheit des Menschen kann weder im naturkausal bestimmten Material liegen, noch kann sie als rein Geistiges wirklich werden; wirklich ist sie allein in der Vermittlung. F r e i h e i t k a n n n u r d u r c h d e n G e i s t u n d n u r im M a t e r i a l w i r k l i c h w e r d e n . In der Einwirkung des Menschen auf die Natur realisiert sich seine Freiheit in den Produkten seiner Arbeit. Ohne den Rekurs auf diesen Prozess der Vermittlung ist Freiheit nicht greifbar, denn erst dieser Prozess verbindet Ideelles und Material und enthält damit jene in der Antinomie abstrakt Gegenübergestellte als Momente eines Prozesses. Isoliert und trennt man diese Momente voneinander, so erhält man entweder einen bloßen Reflexionsbegriff von Freiheit, dem der Bezug auf die gesellschaftliche Wirklichkeit fehlt und der damit auch eine bloße Illusion genannt werden kann, oder eine naturgesetzlich beschreibbare Kausalreihe, die ohne Freiheit ist. Freiheit ist in empirischen Handlungen naturwissenschaftlich nicht zu beweisen. Ließe sie sich mit empirischen Methoden messen und nachweisen, hieße dies, ihre Bedingungen zu kennen. Hätte die Freiheit aber einen Grund außerhalb ihrer selbst, der sich als ihre Ursache erkennen ließe, so hinge sie von diesem - einem Heteronomen - ab und wäre also keine Freiheit.2 Freiheit als Reflexionsbegriff kann nicht in Taten erscheinen. Auch wenn der Existenzgrund für eine Handlung aus Freiheit erschlossen werden kann, so erscheint dieser Existenzgrund in der empirischen Handlung niemals als absolute Freiheit, als Unbedingtes, weil jedes Tun in der Welt sich unter die gegebenen äußeren Bedingungen schicken muss, welche die Natur vorgibt. Freiheit findet sich darum empirisch weder durch eine äußere Analyse (naturwissenschaftliche 2 Vgl. Kapitel 1.

WIDERLEGT DIE MODERNE HIRNFORSCHUNG DIE WILLENSFREIHEIT?

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Beobachtung) noch durch die Introspektion, also durch die eine Handlung begleitenden Gefühle; Freiheit erschließt sich in der Reflexion, also nur im Begriff. Aber sie hat allein als gesellschaftliche Realisierung ihre Wirklichkeit. Die moderne Hirnforschung kann die Willensfreiheit darum prinzipiell nicht beweisen. Doch dies wäre nur dann ein Beweis dafür, dass es einen freien Willen nicht gibt, wenn es nur das geben könnte, was den empirischen Methoden der Naturwissenschaften ein möglicher Gegenstand ist. Unter dieser Prämisse aber könnte es Naturwissenschaften selbst nicht geben, weil diese - wie alle Erkenntnis - metaphysische Voraussetzungen in ihren Begriffen und Prinzipien a priori hat. Denn wie alle Erkenntnis setzt auch die moderne Hirnforschung Freiheit voraus, indem sie das Bewusstsein voraussetzt, welches in seinen inneren Bewegungen nur darum die Naturgesetze verfolgen kann, weil es nicht selbst den Naturgesetzen folgt, sondern seinen eigenen. 3 Doch diese Freiheit des Bewusstseins ist, wenn sie nur innere Möglichkeit bleibt, tatsächlich in der Welt nicht wirklich. Sie ist nicht nur kein empirischer Gegenstand, sie ist auch, solange sie nicht den Beginn von Kausalketten in der Welt setzt, als reine Gedankenfreiheit so gut wie nichts. Wirklich ist Freiheit nur da, wo sie Grund von Wirkungen in der Welt ist. Da solche Wirkungen im Material der Natur selbstverständlich nur gemäß den Naturgesetzen erscheinen können, erscheint die Freiheit auch dort, wo sie wirklich ist, nicht als empirischer Gegenstand, welcher den Naturwissenschaften zugänglich wäre. So sind die (Natur-) Ursachen der Hirnforschung diejenigen neuronalen Impulse, welche die Muskelbewegungen bewirken, die den Körper von Gerhard Roth, Wolf Singer oder anderen Hirnforschern in ihre Institute bringen und sie die Handgriffe durchführen und die Stimmbänder derart schwingen lassen, dass das entsteht, was moderne Hirnforschung ist. Doch aus diesen (Natur-) Ursachen ist nicht und fiir niemanden begreifbar, was Hirnforschung ist. Dies erschließt sich nur und ausschließlich über die ideellen Gründe der als Hirnforschung ausgeführten Handlungen: Hirnforscher wollen wissen, wie das Gehirn funktioniert, welchen Regeln und Regelmäßigkeiten sein Stoffwechsel folgt. Das ist eine wichtige und sinnvolle Forschung, weil es hierüber möglich wird, Störungen in diesem Organ medizinisch gezielt zu behandeln. Da solche Störungen und auch die entsprechenden Behandlungen Auswirkungen auf das empirische Bewusstsein der Patienten haben, ist es ein nahe liegender Schritt, dieses Bewusstsein selbst zum Gegenstand der empirischen Forschung zu erklären. Wissenschaftler wie Gerhard Roth oder Wolf Singer wollen darum wissen, was Bewusstsein, was Sprache, was Gefühle und was Verstand ist und wie sie entstehen. Aber ohne Reflexion auf das antinomische Verhältnis von Geist und Gehirn wählen sie dazu einen Weg, der ungeeignet ist, auch nur die ideellen Gründe ihres eigenen Tuns begreifen zu können. Wer nach jahrelanger Forschung auf die Frage: ,Warum sind Sie Hirnforscher geworden?' nur antworten kann: ,Aufgrund der neuronalen Verknüpfungen in meinem Gehirn' und vielleicht im Versuch einer neuronal gewendeten Psychologisierung noch anfügt: ,Auf-

3 Vgl. Kapitel 8.

210

SCHLUSS

grund bestimmter Geschehnisse in meinem Leben haben sich diejenigen neuronalen Verbindungen in meinem Gehirn gebildet, die mich heute zu einem Hirnforscher machen', gibt in Wahrheit gar keine Antwort. Die als Antworten ausgegebenen Aussagen sind keine Antworten, weil in ihnen versucht wird, die ideellen Gründe von Handlungen und Entscheidungen nicht aufscheinen zu lassen. Die Fragen und Inhalte, die das Bewusstsein bewegen, sollen nicht auftauchen. Da Bewusstsein aber nur in diesen Inhalten besteht und nicht in neuronalen Prozessen, bleibt die Antwort so fadenscheinig und leer, wie es seinem Gehalt nach der ganze Zweig einer Wissenschaft ist, der die Grundlagen des Bewusstseins aufdecken will, ohne das zu Erklärende - das menschliche Bewusstsein - überhaupt zum Gegenstand seiner Methodik machen zu können. Die moderne Hirnforschung liefert eine Menge Resultate, die jedoch teilweise darum zu keinen bzw. zu falschen und ideologischen Ergebnissen fuhren, weil ihre Fragestellungen auf der falschen Prämisse aufbauen, das Verhältnis von Geist und Gehirn sei prinzipiell kausal beschreibbar. Ihr fehlt ein reflektierter Umgang mit den Grenzen ihres Gegenstandsbereiches. Wüsste die Hirnforschung um ihre eigenen erkenntnistheoretischen Bedingungen und Grenzen, so würde sie nicht auf den absurden Gedanken verfallen, das Selbstbewusstsein in den Funktionen eines Organs suchen zu wollen. Sie könnte von der Philosophie lernen, dass Selbstbewusstsein keine Funktion ist, sondern selbst Erkenntnis. Und in der Erkenntnis liegt immer Freiheit - sei es in der Selbsterkenntnis, die ein Subjekt erst konstituiert, der Naturerkenntnis, die dem Subjekt eine gezielte Bearbeitung des Naturstoffs nach eigenen Zwecken ermöglicht, oder in moralischer Erkenntnis, welche mögliche Zwecke als gut oder böse beurteilen kann, indem sie jedes Vernunftwesen als ein selbstbewusstes begreift, das Würde hat und darum niemals bloßes Mittel fremder Zwecke sein darf. 4 Menschliches Selbstbewusstsein hat empirische Bedingungen auch im Gehirn des Menschen, aber es folgt nicht kausal aus ihnen, sondern ist (wie alles Erkennen) spontan und selbst kein Naturding in Raum und Zeit, für das naturkausale Verknüpfungen gelten. Deshalb ist seine Einheit eine transzendentale, die sich prinzipiell neurophysiologischen Erklärungen versperrt. Das Selbstbewusstsein als bloße Gehirnfunktion begreifen zu wollen, ermöglicht es dann, die Freiheit dieses Selbstbewusstsein in Frage zu stellen. Ein phänomenales Selbstbewusstsein', das als Phänomen ganz unvoreingenommen daraufhin untersucht werden kann, ob es frei sei, ist jedoch ein unmöglicher - weil sich selbst widersprechender - Begriff. Das Selbstbewusstsein ist dasjenige, in welches die Vorstellungen eines jeden Phänomens fallen, weshalb es zu jeder Erscheinung transzendent ist und so nicht selbst als eigenständiges Ding neben anderen Erscheinungen erscheint, sondern jeder Erscheinung insofern als Moment innewohnt, als Erscheinungen in ein Selbstbewusstsein fallen.

4 Der Begriff der Menschheitswürde ist von mir an anderer Stelle entwickelt worden. Vgl. Christine Zunke, Das Subjekt der Würde.

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Ebenso wie das Selbstbewusstsein ist auch die Freiheit allen Erscheinungen transzendent. Ihre Vergegenständlichung in den Produkten menschlicher Arbeit ist ideell erschlossen; sie ist in den Materialisierungen menschlicher Freiheit an keinem Molekül, Atom, Elektron (weder als Teilchen noch als Welle) oder in ihren Organisationsverhältnissen zu finden, genauso wenig wie in einem Gehirn. Immanuel Kant, auf dessen theoretischen Bestimmungen die vorliegende Kritik der Hirnforschung zu großen Teilen aufbaut, bestimmt den Begriff der Freiheit auf zweierlei Weise. In der Kritik der reinen Vernunft als das Vermögen, eine Kette der Kausalität der Natur von selbst anzufangen und in der Kritik der praktischen Vernunft durch die Sittlichkeit als das Vermögen, sich selbst aus Vernunft ein Gesetz geben zu können. A r b e i t u n d Autonomie s i n d so d i e V e r m ö g e n m e n s c h l i c h e r F r e i h e i t . I h r e R e a l i t ä t h a t F r e i h e i t n i c h t im B e g r i f f , s o n d e r n e r s t in d e r V e r w i r k l i c h u n g d i e s e r b e i d e n V e r m ö g e n . Wirklich ist Freiheit so zunächst in den Produkten der menschlichen Arbeit, in denen sich seine „Freiheit und Unabhängigkeit von dem Mechanism der ganzen Natur" 5 realisiert. Da das für sich nicht sittliche technisch-praktische Vermögen der Naturformung in der gesellschaftlichen Produktion realisiert wird, konstituiert es zugleich Gesellschaft als moralisch-praktisches. 6 Diese Seite der Freiheit, als eine Gesellschaft konstituierende, verkehrt sich als kapitalistische Produktionsweise in Herrschaft. Indem die Menschen bloße Mittel der Materialformung werden - als Lohnarbeiter - haben sie in der durch Privateigentum an Produktionsmitteln geprägten Gesellschaft einen durch diese ,absolut harte' Schranke begrenzten Zugriff auf die Formen der Realisierung ihrer Freiheit. Verwirklicht wäre Freiheit erst in gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen eines jeden Vernunft sich selbst das Gesetz geben könnte und keiner bloß als Mittel zu äußeren Zwecken gebraucht würde. Diese Autonomie können die Menschen allerdings in ihren Gehirnen niemals finden - sie müssen sie als gesellschaftlichen Zustand erst politisch herstellen.

5 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 154. 6 Vgl. hierzu die Kantsche Unterscheidung von technisch-praktisch und moralisch-praktisch (Kritik der Urteilskraft, Akademie Ausgabe V., 172, XIII; und Kritik der praktischen Vernunft, AB 47) und vgl. die Kantsche Unterscheidung von Klugheitsregeln (hypothetische Imperative) und moralischem Gesetz (Kategorischer Imperativ) in: Kritik der reinen Vernunft, A B 37).

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LITERATURLISTE

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Periodica ACTA Neuropsychologia, Biology and Neurophysiology of Consciousness (Sonderheft), 33 (9), Pachalska, M., Warszawa 1995 Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 9, Grau, G.-G. (Hg.), Hannover, 1984 Brain 106, Compston, A. (ed.) Oxford 1983 Deutsche Zeitschrift für Philosophie 52, Berlin 2004 Ethik und Sozialwissenschaften 6(1), Benseier, F. (u. A.) (Hg.), Paderborn 1995 Experimental Brain Research 126, Rothwell, Schmidt (Hg.), Berlin, Heidelberg 1999 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1. 12. 2003 u. 1.8. 2004 Gehirn & Geist, 1/02, 4/02, 2/03, 5/03, 1/04, 3/04, 6/04, 7/04, 4/05, 7-8/05, 1-2/06, 8/06, 9/06, Könnecker, C. (Red.), Heidelberg P.M., 9/06, Sprado, H.-H. (Hrsg.), München 2006 Philosophia Naturalis 32/1, 36/2, Kanitscheider, B. (u. A.) (Hg.), Frankfurt a. M. 1995, 1999 Psychological Science, Cutting, J. (ed.) Ithaca, NY 2001 Trends in Neurosciences, 14, Lewis, S. (ed.) London 1991

Sonstige Publikationen Gerhard Roth, Wie das Gehirn die Seele macht, Vortrag auf den 51. Lindauer Psychotherapiewochen, April 2001, http://home.arcor.de/eberhard.liss/hirnforschung/roth-gehirn-i-seele.htm (20.03.2007). Schumacher, Dr. Ralph, Was ist Bewusstsein? Erkenntnis- und bewusstseinsphilosophische Implikationen der Hirnforschung, Gutachten für den Deutschen Bundestag vorgelegt dem Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB), 2005.

Verzeichnis der Namen

Adorno, Theodor W. 90, 188, 189 Aristoteles 36, 57, 98, 138 Bieri, Peter 101, 165-174 Bulthaup, Peter 206 Churchland, Patricia 103, 142, 199 Cowey, A. 83 Creutzfeldt, O. D. 134 Decker, Karl 161 Descartes, René 38, 142 Detel, Wolfgang 42 Eccles, JohnC. 35,60, 116 Eimer, Martin 111 Eisler, Rudolf 15 Gestrich, Christof 173 Gleason, C. A. 110 Habermas, Jürgen 15, 21-30, 111 Haggard, Patrick 111 Hagner, Michael 70 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 23f, 26, 174-178, 183-186, 198, 199, 203 Heinecke, A. 83 Heisenberg, Martin 160 Hobbes, Thomas 176 Hoff, Peter 163 Hogrebe, Wolfram 63 d'Holbach, Henri Thiry 174 Jordan, Pascal 17

Kant, Immanuel 7, 10, 13, 15, 18, 24,28ff, 38, 43,45f, 72, 106f, 118-124, 129f, 134-142, 152158, 162f, 176, 180, 183, 185, 200ff, 207, 211 Kasper, Uwe 18 Layzer, D. 199 Leibniz, Gottfried Wilhelm 190 Libet, Benjamin 89, 110-118, 122, 124,208 Loche, John 176 Lorenz, Konrad 153-155 Marx, Karl 178f Mattler, U. 83 de la Mettrie, Julien Offray 174 Meynert, T. 134 Michel, Karin 121 Miram, Wolfgang 163 Monod, Jaques 147 Morgan, Conwy Lloyd 197 Müller, Max 61 f Nagel, Thomas 94 Nonhoff, Georg 148-150 Oeser, Erhard 93, 134, 146-148 Oliver, Reinhard 39 Pauen, Michael 132, 133 Pearl, O.K. 110 Penrose, Roger 17 Popper, Karl R. 35,60, 116 Riedl, Rupert 154

VERZEICHNIS DER NAMEN

Roth, Gerhard 7, 12, 15ff, 20-25, 27f, 30, 36-43, 69, 74-88, 104f, 112, 116, 125ff, 134-138, 142, 152,156, 174 Rousseau, Jean-Jaques 181 Schacter, Daniel 131 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 156 Schmidt, T. 83 Schumacher, Ralf 91 f, 97 Schwarzbach, J. 83 Seiteiberger, Franz 93, 134 Singer, Wolf 44-55, 56, 58, 64, 151, 155, 161, 191, 197

Skinner, Burrhus Frederic 59 Sloterdijk, Peter 63 Soemmerring, Samuel Thomas 33-36 Störig, P. 83 Streichen, Till 164 Vogeley, Kai Thorsten 93, 131 Vollmer, Gerhard 154 Vorberg, D. 83 Wabel, Thomas 173 Walter, Henrik 18f Wright, E. W. 11

Danksagung

Mein herzlichster Dank geht an meinen Doktorvater Prof. Dr. Ulrich Ruschig (Oldenburg), der mit akribischer Gründlichkeit alle meine Thesen, Argumente und Darstellungen prüfte, meinen Zweitgutachter Prof. Dr. Günther Mensching (Hannover) und an alle Teilnehmenden seines Kolloquiums, in dem große Teile meiner Arbeit fruchtbar diskutiert wurden. Weiterhin danken möchte ich den Freunden und Freundinnen, die mich in jeder Phase der Arbeit unterstützt haben, namentlich erwähnt seien Silke, Regina, Heiko und Lambert sowie Mika und Gomez fur ihre Korrekturen und Gomez noch einmal besonders für den Satz.