Krisenjahre und Aufbruchszeit: Alltag und Politik im französisch besetzten Baden 1945–1949 [Reprint 2014 ed.] 9783486829945, 9783486561968

Frankreich: "Erbfeind" oder "Erneuerer"? Die französische Besatzungspolitik von 1945 bis 1949 galt l

196 18 9MB

German Pages 296 Year 1996

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung: Die Besatzungszeit als Erfahrung von Alltag und Politik
I. Frankreich im Kreis der Siegermächte
1. Befreiung und Besatzungsschock
2. In napoleonischer Tradition?
3. Die Besatzungsmacht richtet sich ein
II. Alltagsnot und politischer Neubeginn
1. Die Zähmung des Chaos' in der Zusammenbruchsgesellschaft
2. Parteipolitisches Leben in existentiellen Notzeiten
3. Politik ohne Widerhall?
III. Entnazifizierung, Selbstmitleid und Umgang mit der NS-Vergangenheit
1. Die »auto-epuration«
2. Die »Rééducation« - Schule und Hochschule
3. »Zeit der schönen Not
IV. Zeit der Reformen - Sorge ums Überleben
1. »Zum Sterben wirklich nicht mehr zuviel«
2. Demontagen, Kaufmonopol, Nahrungsmittelentnahmen
3. Individueller Versorgungskampf statt kollektiver Mitbestimmung?
4. Der Streit um die Bodenreform
5. »Wir sind ein armes Volk geworden«
Ausblick
Abkürzungsverzeichnis
Personenregister
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Krisenjahre und Aufbruchszeit: Alltag und Politik im französisch besetzten Baden 1945–1949 [Reprint 2014 ed.]
 9783486829945, 9783486561968

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Krisenjahre und Aufbruchszeit

Nationalsozialismus und Nachkriegszeit in Südwestdeutscliland Herausgegeben von Dieter Langewiesche und Юаи8 Schönhoven

Bands

R. Oldenbourg Verlag München 1996

Edgar Wolfrum/Peter Fäßler/Reinhard Grohnert

Krisenjahre und Aufbruchszeit Alltag und Politik im französisch besetzten Baden 1945-1949

R. Oldenbourg Verlag München 1996

Gedruckt mit finanzieller Unterstützung durch: Ministerium für Wissenschaft und Forschung Baden-Württemberg Regierungspräsidium Freiburg Kulturstiftung der Zahnradfabrik Friedrichshafen AG Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg Kulturamt der Stadt Offenburg Stadt Rastatt

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Krisenjahre und Aufbruchszeit : Alltag und Politik im französisch besetzten Baden 1945-1949 / Edgar Wolfrum ; Peter Fässler ; Reinhardt Grohnert. - München : Oldenbourg, 1996 (Nationalsozialismus und Nachkriegszeit in Südwestdeutschland ; Bd.

3) ISBN 3-486-56196-0 NE: Wolfram, Edgar; Fässler, Peter; Grohnert, Reinhard; GT

© 1996 R. Oldenbourg Verlag GmbH, München Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urhebeiiechtlich geschützt. Jede Verwertung auBeihalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne ]^stinunung desVerlages unzulässig und strafbar. Das gik insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf alteningsbeständigem P4)ier. Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf Gesamtherstellung: WB-Druck, Rieden ISBN 3^86-5619(J-0

Inhalt Heiko Haumann und Heinrich August Winkler Vorwort

7

Einleitung: Besatzungszeit als Erfahrung von Alltag und Politik

9

I. Frankreich im Kreis der Siegermächte 1. Befreiung und Besatzungsschock Das Kriegsende im Südwesten 1944/45 (E. WolfrumIR. Grohnert)

17

2. In napoleonischer Tradition? Die Zukunft Deutschlands in französischer Sicht 1940-45 (E. Wolfrum)

29

3. Die Besatzungsmacht richtet sich ein Strukturen des Gouvernement Militaire und Teilung des Landes Baden (P.Fäßler)

43

II. Alltagsnot und politischer Neubeginn 1. Die Zähmung des Chaos' der Zusammenbruchsgesellschaft

53

a) Selbsthilfe gegen Resignation und Franzosenfeindschaft Antifas und Gewerkschaften (E. Wolfrum)

53

b) »Umkehr durch Verchristlichung« Die Kirchen als Ordnungsfaktor (P. Fäßler)

75

2. Parteipolitisches Leben in existentiellen Notzeiten

82

a) »Das Land zu einem geistigen Erwachen führen« Motive der französischen Parteienzulassung (E. Wolfrum)

82

b) »Wir fangen nicht da an, wo wir 1933 aufgehört haben« Christliche Partei und Liberale (F. Fäßler)

91

c) Eine »irgendwie sozialistische Grundstimmung« Sozialdemokraten und Kommunisten (E. Wolfrum)

112

3. Politik ohne Widerhall? Verfassungsschöpfung und parlamentarische Regierung (P. Fäßler)

146

III. Entnazifizierung, Selbstmitleid und Umgang mit der NS-Vergangenheit 1. Die »auto-épuration« Der französische Sonderweg in der Entnazifizierung (R. Grohnert)

165

2. Die Rééducation - Schule und Hochschule (R. Grohnert)

186

3. »Zeit der schönen Not« Kultur als Umerziehung und Trostspenderin (E. Wolfrum)

203

IV. Zeit der Reformen - Sorge ums Überleben 1. »Zum Sterben wirklich nicht mehr zuviel« Die Versorgungskrise in Baden (P. Fäßler)

213

2. Demontagen, Kaufmonopol, Nahrungsmittelentnahmen Französische Richtlinien zur Whtschaftspolitik (R. Grohnert/E. Wolfrum) 230 3. Individueller Versorgungskampf statt kollektiver Mitbestimmung? Die Arbeiterschaft und Wirtschaftsreformen (E. Wolfrum)

239

4. Der Streit um die Bodenreform (P. Fäßler)

260

5. »Wir sind ein armes Volk geworden« Sparzwang und Reformeifer in der Sozialversicherung (E. Wolfrum) Ausblick Abkürzungsverzeichnis — O

. . . 270 282

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i

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Vorwort

Alles begann mit einer Lehrveranstaltung von Heiko Haumann im Wintersemester 1984/85 an der Universität Freiburg über »Südbaden in der Nachkriegszeit (1945-1952)«. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer arbeiteten mit derart großem Interesse und Einsatz, daß es Sinn machte, ihre Ergebnisse nach Abschluß des Seminars in einem gesonderten Kolloquium noch einmal ausführlich zu diskutieren und einer breiteren Öffentlichkeit vorzustellen. Daraus entstand dann eine Publikation, die der Arbeitskreis Regionalgeschichte Freiburg herausgab und die 1986 in der Schriftenreihe des Stadtarchivs Freiburg i. Br. erscheinen konnte: »Alltagsnot und politischer Wiederaufbau. Zur Geschichte Freiburgs und Südbadens in den ersten Jahren nach dem 2. Weltkrieg«. Doch dabei blieb es nicht. Mehrere Studierende entschlossen sich, ihre Examensarbeit aus diesem Themenbereich zu wählen. Diese machten deutlich, daß nicht nur bislang kaum ausgewertete Archivbestände der Bearbeitung harrten - namentlich in den Colmarer Archives de l'Occupation Française en Allemagne et en Autriche, aber auch in den zahlreichen lokalen Archiven Badens - , sondern daß auch der bisherige Forschungsstand über weite Teile als unbefriedigend bezeichnet werden mußte. So entstand die Idee eines breit angelegten Forschungsprojektes, dessen Finanzierung wir beide unter unter dem Titel »Das Land Baden unter französischer Besatzung 1945-1952« bei der Volkswagenstiftung beantragten und das diese für die Laufzeit von 1987 bis 1990 bewilligte. Die hohen Erwartungen, die wir alle in dieses Projekt gesteckt haben, sind erfüllt worden. Peter Fäßler, Reinhard Grohnert und Edgar Wolfrum haben die Ergebnisse ihrer Arbeiten in mehreren Aufsätzen, in ihren Dissertationen und jetzt in dieser zusammenfassenden Monographie vorgelegt. Das lange Zeit vorherrschende Bild über die französische Besatzungspolitik wie über die inneren Vorgänge im Land Baden muß wesentlich korrigiert werden. Die französische Politik zeichnete sich, bei aller Widersprüchlichkeit, durch Eigenständigkeit, Originalität und Reformansätze aus, die sich an den Zielen von Demokratisierung, Dezentralisierung und Denazifizierung orientierten. Eindrucksvoll können die drei Autoren begründen, warum die französischen Vorhaben trotz überzeugender Konzepte von den Betroffenen im Alltag als negativ empfunden wurden. Diese Kluft wirkte noch lange nach. Ein herausragendes Beispiel ist die in der französischen Besatzungszone praktizierte Spielart der Entnazifizierung, die »auto-épuration«. Sie sollte nicht schematisch, sondern unter Würdigung der individuellen Umstände die wirklich Schuldigen treffen und zugleich, da die Deutschen selbst entscheidend am Verfahren beteiligt waren, eine gründliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ermöglichen. Die Art der Verwirklichung ließ die »Selbst-Reinigung« scheitern, doch die Idee kann immer noch eine gewisse Plausibilität beanspruchen. Sie war nicht die einzige Besonderheit Nachkriegsbadens inner-

8 halb der Besatzungszonen. Im Spektrum der Parteien drückte sich dies etwa darin aus, daß sich die verschiedenen christlichen Strömungen zunächst nicht in der CDU, sondern zur eigenständigen Badischen Christlich-Sozialen Volkspartei zusammenschlossen. Ebenso unabhängig gab man sich auf der linken Seite: In Baden gründete man nicht eine Sozialdemokratische, sondern eine Sozialistische Partei. Damit sollten das Scheitern der »alten« SPD 1933 dokumentiert und zugleich den Kommunisten das Angebot unterbreitet werden, die historische Spaltung der Arbeiterbewegung, die man als verhängnisvoll empfand, zu beenden und sich wieder in einer Partei zu finden. Länger als anderswo dauerten deshalb auch Bemühungen, SP und KP zu vereinen. Nach Scheitern dieser Bestrebungen war allerdings die Rückkehr der Sozialisten zur Sozialdemokratie unumgänglich. Immer wieder schimmerten in Baden Vorstellungen einer dezentralen, föderativen Ordnung in allen öffentlichen Bereichen durch. Sie schlugen sich nicht nur in der Parteibildungen oder in den Debatten um die staatliche Zukunft - von einem alpenländischen Staatenbund bis hin zur Kontroverse um den Südweststaat Baden-Württemberg - nieder, sondem beeinflußten insgesamt das politische Klima in diesem Land. Hier kamen auch weitreichende Reformen in Gang. Die badische Verfassung von 1947 regelte erstmals in ganz Europa die Stellung von politischen Parteien in einem demokratischen System und verbot wiederum zum erstenmal - , Staatsbürger zum Dienst mit der Waffe zu zwingen. Das Betriebsrätegesetz von 1948 ging, obwohl keineswegs alle gewerkschaftlichen Forderungen erfüllt wurden, mit seinen Mitbestimmungsrechten bis hin zur »Verhinderung konzemmäßiger, monopolistischer Bindungen und einer Rüstungsproduktion« (§ 22) weit über frühere Möglichkeiten hinaus. Die Sozialversicherung sollte als Einheitsversicherung völlig neue Wege gehen, um Ungerechtigkeiten und Unzulänglichkeiten des überkommenen Systems zu beseitigen. Die Leserinnen und Leser werden in diesem Buch noch viele weitere überraschende Entwicklungen, Entwürfe und Maßnahmen - ebenso wie eine eindringliche Darstellung der Lebensverhältnisse der Bevölkerung finden. Ein Teil der Reformen versandete, weil er den Alltagsbedürfnissen der Bevölkerung nicht entsprach oder auf wachsenden Widerstand der sich formierenden Gegenkräfte stieß. Ein anderer Teil wurde nach Bildung der Bundesrepublik außer Kraft gesetzt, ein dritter wirkte jedoch durchaus nach. Manches aus der Nachkriegszeit Badens ist vergessen worden, war aber keineswegs bedeutungslos. Dieses Buch hilft mit, es wieder bewußt zu machen.

Heiko Haumann

Heinrich August Winkler

Einleitung: Die Besatzungszeit als Erfahrung von Alltag und Politik Werden deutsche und französische Zeitzeugen befragt, die die Besatzungsjahre miterlebt und mitgestaltet haben, dann fällt einem oft eine merkwürdige Diskrepanz auf. Während nämlich die Franzosen von ihren wohlgemeinten Absichten berichten, vielfältige Initiativen zum Abbau alter Feindschaften schildern, die Demokratisierung in der Besatzungszone als einen großen Erfolg werten und insgesamt häufig mit Stolz und Genugtuung auf die damalige Zeit zurückschauen, erzählen Deutsche meistens ganz andere Dinge. Sie erinnern sich in erster Linie an eher qualvolle Jahre, an die Zeit, in der man Hunger litt, daran, daß der Schwarzwald infolge erheblicher Einschläge ein ganz und gar trauriges Bild abgab, oder an den Abtransport hochwertiger Maschinen aus den Betrieben. Jedenfalls würden sie die Besatzungsjahre, trotz des Untergangs des »Dritten Reiches« keineswegs als besonders gut oder als Jahre des Aufbruchs bezeichnen. Es könnte scheinen, als würden hier zwei verschiedene Geschichten erzählt.' Aber in Wahrheit handelt es sich um ein und dieselbe Geschichte, die eben vielfältige Seiten hatte und von vielerlei verschiedenen Erfahrungen geprägt war. Es kam entscheidend darauf an, aus welcher Perspektive man diese Zeit erlebte. Auch unter den Deutschen selbst fallen die Geschichten ganz unterschiedlich aus. Ein Politiker, der fast täglich mit der Besatzungsmacht zu tun hatte, gemeinsam mit ihren Vertretern und manchmal auch gegen sie um den Neu- und Wiederaufbau in Deutschland rang, würde wohl in weiten Teilen der französischen Version der Besatzungsgeschichte, d.h. dem Verweis auf die gelungene Demokratisierung, zustimmen. Auf der anderen Seite würden die meisten Deutschen einflechten, was auch in einer zeitgenössischen Meinungsumfrage zum Ausdruck kam: Viele hatten sich gewünscht, anstatt von den Franzosen lieber von Briten besetzt zu werden oder noch »lieber« von Amerikanern. Nur die Russen wollte man noch weniger bei sich haben.^ Eine »gewöhnliche« Frau ' Im Rahmen des Forschungsprojekts (Näheres dazu weiter unten), aus dem heraus diese Monographie entstanden ist, wurden eine große Anzahl von Zeitzeugeninterviews geführt. Sie ergaben das eben skizzierte Bild. Aber dieselbe Beobachtung kann man auch bei neueren Sammelbänden machen, in denen Zeitzeugen zu Wort kommen. Siehe etwa: Institut Français de Stuttgart (Hrsg.), Die französische Deutschlandpolitik zwischen 1945 und 1949. Ergebnisse eines Kolloquiums des Institut Français, Ludwigsburg, das am I6.-17. Januar 1986 im Institut Français de Stuttgart stattgefunden hat, Tübingen 1987. Franz Knipping/Jacques Le Rider (Hrsg.), Frankreichs Kulturpolitik in Deutschland, 1945-1950. Ein Tübinger Symposium, 19. und 20. September 1985, Tübingen 1987; sowie die beiden Bände des FrankreichZentrums der Universität Freiburg: Joseph Jurt (Hrsg.), Die »Franzosenzeit« im Lande Baden von 1945 bis heute. Zeitzeugnisse und Forschungsergebnisse, Freiburg 1992 und ders. (Hrsg.), Von der Besatzungszeit zur deutsch-französischen Kooperation, Freiburg 1993. ^ Elisabeth Noelle und Erich Peter Neumann (Hrsg.), Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1947-1955, Allensbach 1956, S. 146.

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Einleitung

aber, die mit der »großen Politik« nichts zu tun hatte und auch nichts zu tun haben wollte, würde vermuüich erzählen, daß sie vor den verwegen aussehenden Nordafrikanem, die einen Gutteil der französischen Truppen stellten, fürchterliche Angst gehabt habe. Und mit Blick auf die Zeit nach der unmittelbaren Besatzung würde sie wahrscheinlich sagen, daß man »Demokratie« nicht essen konnte und für sie die Frage wichtiger war, wie sie in Anbetracht der katastrophalen Ernährungslage den besonders harten Winter 1946/47 überleben würde.^ Nun könnte man einer solchen Frau leicht vorhalten, sie honoriere nicht die Befreiung von der Hitìer-iyrannei durch die französische Armee und ebensowenig die Wiederaufbauleistung der Franzosen und die Demokratiegründung. Aber mit solchen »Nachweisen« bliebe man an der Oberfläche. Viel spannender ist es doch zu fragen, wie es überhaupt zu dieser Wahrnehmung, zu diesem Denken, zu dieser Stimmungslage und zu diesem Lebensgefühl mit der anschließenden Verarbeitung der Besatzungsjahre bis zur Währungsreform von 1948 als düstere 2^itspanne gekommen ist. So gesehen bedeutet das, die Frage zu stellen nach der eigenen Rationalität, die dieses Denken und die daraus folgenden Verhaltensweisen bestimmte.·· Die verschiedenen Sichtweisen spiegeln sich auch in den Quellenüberlieferungen aus der Besatzungszeit wider. Während ein großer Teil der deutschen Quellen auf die schwierigen Seiten dieser Jahre verweist - verstärkt noch dadurch, daß eüiche deutsche Verwaltungen bestrebt waren, die immensen Probleme allein auf das Schuldkonto der französischen Besatzungsmacht zu verbuchen - , ergibt sich aus der französischen Überlieferung ein zum Teil anderes Bild.' Aber auch hier stechen die Unterschiede ins Auge, je nachdem, ob etwa die Akten der politischen Ebenen herangezogen werden, seien es Verhandlungen im Kontrollrat, Planungen in Pariser Ministerien oder Instruktionen, die von der besatzungspolitischen Verwaltungsspitze in Baden-Baden erlassen worden waren, oder ob man einen Blick in die unzähligen Landes-, Kreis- und Kommunalberichte wirft, in denen die nur allzuoft schlechte Stimmung der Besatzungsdeutschen, alltägliche Probleme und Sorgen, Meinungen, Gerüchte, Erfahrungen und Lebenslagen protokolliert wurden. In der vorliegenden Geschichte der französischen Besatzungszeit wird versucht, diese ganz verschiedenen Quellen und Blickwinkel miteinander zu ver^ Eine besonders aufschlußreiche Quelle in diesem Zusammenhang, auf die in vorliegendem Buch immer wieder zurückzukommen sein wird, ist die Meinungsumfrage von Journalisten der französischen Zeitung »Esprit« von 1947, die in deutscher Übersetzung unter dem Titel vorliegt: Anthologie der deutschen Meinung. Deutsche Antworten auf eine französische Umfrage, Konstanz 1948. Allgemein dazu noch immer der modellhafte Ansatz bei Peter Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt/M. 1969. Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive: Detlev Peukert, Neue Alltagsgeschichte und Anthropologie, in: Hans Süssmuth (Hrsg.), Historische Anthropologie, Göttingen 1984, S. 67-91. ' Vgl. Rainer Hudemann, Deutsche Geschichte in französischen Archiven. Nachkriegsakten in Colmar und Paris - Archivgut zur neueren Geschichte in Nantes, in: Der Archivar 42 (1989), S. 475-488 und Edgar Wolfrum, Das französische Besatzungsarchiv in Colmar. Quelle neuer Einsichten in die deutsche Nachkriegsgeschichte 1945-1955, in: GWU 40(1989), S. 84-90.

Besatzungszeit als Erfahrang von Alltag und Politik

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schränken. Die Besatzungszeit soll sowohl von den Planungen der Franzosen und den politisch handelnden Deutschen als auch von den Erfahrungen der »kleinen Leute« und ihren subjektiven Wirklichkeiten nachgezeichnet werden. Die Politik der Entscheidungsträger und der Alltag und die Wahrnehmung von »Normalbürgem« sollen verknüpft werden. Dahinter steht der Versuch, zu einem vollständigeren Bild jener Jahre zu gelangen, Alltagsnot und politischen Aufbruch als zwei Seiten ein und derselben Medaille miteinzubeziehen.® Schaut man nämlich auf die neuere Forschung zur französischen Besatzungszeit, die seit Mitte der achtziger Jahre mit der Öffnung der französischen Archive einsetzte, so werden neben den Forschungsleistungen auch Forschungsdefizite sichtbar. Das Verdienst der neuen Studien liegt vor allem darin, bestehende Pauschalurteile über die »Zone hinter dem seidenen Vorhang«' revidiert zu haben. Die Franzosen haben keine unbarmherzige Revanchepolitik betrieben. Man sieht heute die Wiederaufbauleistungen, zumindest aber die Rekonstruktionsabsichten der französischen Besatzungsmacht viel genauer, auch die deutschen Handlungsspielräume und die Handlungsaltemativen' - das gilt für nahezu alle Gebiete: für die Gewerkschafts- und Untemehmerpolitik,' für die Sozialpolitik,'" für die Presse- und allgemeiner die Kulturpolitik," für die Parteienpolitik'^ und für die Umerziehungs- und Entaazifizierungspolitik.'^ ' Der Gedanke einer so verstandenen Geschichte der Besatzungszeit entstand in einer Lehrveranstaltung des Historischen Seminars der Universität Freiburg im Wintersemester 1984/85. Damals wurden zahlreiche neue Quellen aufgefunden und ausgewertet, und man entschloß sich, die Ergebnisse zu veröffentlichen. Vgl. Arbeitskreis Regionalgeschichte Freiburg (Hrsg.), Alltagsnot und politischer Wiederaufbau. Zur Geschichte Freiburgs und Südbadens in den ersten Jahren nach dem 2. Weltkrieg, Freiburg 1986. ' Diese Bezeichnung spielt auf die Abschottung der französischen Zone gegenüber den beiden anderen Westzonen an und wurde bereits im Leitartikel von Richard Tüngel in »Die Zeit« vom 18.12.1947 geprägt. ' Neuere Forschungsüberblicke bieten: Adolf Kimmel, Die deutsch-französischen Beziehungen (I), in: NPL 35 (1990), S. 472-483; Edgar Wolfrum, Französische Besatzungspolitik in Deutschland nach 1945. Neuere Forschungen über die »vergessene Zone«, in: Ebda., 35 (1990), S. 50-62; Rainer Hudemarm, Frankreichs Besatzung in Deutschland: Hindernis oder Auftakt der deutsch-französischen Kooperation? in: Jurt (Hrsg.), Von der Besatzungszeit (Anm. I), S. 237-254. ' Siehe insbesondere Alain Lattard, Gewerkschaften und Arbeitgeber in Rheinland-Pfalz unter französischer Besatzung 1945-1949, Mainz 1988 und Marie-France Ludmann-Obier, Die Kontrolle der chemischen Industrie in der französischen Besatzungszone 1945-1949, Mainz 1989. Rainer Hudemann, Sozialpolitik im deutschen Südwesten zwischen Tradition und Neuordnung 1945-1953. Sozialversicherung und Kriegsopferversorgung im Rahmen französischer Besatzungspolitik, Mainz 1988. ' ' Zu diesem stets stark erforschten Gebiet seien als neuere Arbeiten nur genannt: Stephan Schölzel, Die Pressepolitik in der französischen Besatzungszone 1945-1949, Mainz 1986; Stefan Zauner, Erziehung und Kulturmission. Frankreichs Bildungspolitik in Deutschland 1945-1949, München 1994; Corinne Defrance, La politique culturelle de la France sur la rive gauche du rhin 1945-1955, Strasbourg 1994. Katrin Kusch, Die Wiedergründung der SPD in Rheinland-Pfalz nach dem Zweiten Weltkrieg (1945-1951), Mainz 1989; Peter Fäßler, Badisch, Christlich und Sozial. Zur Geschichte der BCSV/CDU im französisch besetzten Land Baden (1945-1952), Frankfurt/M. u.a 1995; Edgar Wolfrum, Französische Besatzungspolitik und deutsche Sozialdemokratie. Po-

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Einleitung

Eine der jüngsten, vom Deutschen Historischen Institut in Paris herausgegebenen Veröffentlichungen zur französischen Deutschlandpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg trägt in konsequenter Fortschreibung dieser Ergebnisse den programmatischen Titel »Vom >Erbfeind< zum >Erneuererein< Deutschland geben, sondern mehrere; und wenn es erst einmal geteilt ist und die Ruhr den Siegern zur Verfügung steht, wird man sehen, was man damit macht.«·" Eine Föderierung des westlichen Europa konnte sich de Gaulle offenbar aus wirtschaftlichen Gründen vorstellen. Es schien ihm zeitweilig auch eine Möglichkeit, französische Handlungsbereitschaft angesichts der beiden Supermächte zu sichern. Freilich sollte Frankreich - basierend auf seiner zivilisatorischen Mission - die führende Rolle in diesem Europa spielen. Die deutsche Reichseinheit sollte zerschlagen werden, daran führte für de Gaulle kein Weg vorbei. Ein europäisches Ensemble hätte also nicht in erster Linie dazu zu dienen, das deutsche gesamtstaatliche Potential durch Integration zu kontrollieren und zu zähmen; darin lag der Unterschied zu sozialistischen Plänen. Aber die separierten Gebiete hätten - in welcher Form auch immer - zur Stärkung der westlichen Gruppierung beizutragen. Das westliche Europa als Orientierungspunkt und Auffangbecken für die Deutschen - das war der Kemgedanke. Und dabei wuchs Frankreich die Funktion eines Inspirators zu. De Gaulle dachte besonders an die Länder, die vor dem Wiener Kongreß in der einen oder anderen Form mit Frankreich verbunden waren. »Wenn es diesen Staaten des rheinischen Deutschland gelingt«, erklärte er im Oktober 1945 in Baden-Baden, »sich wirklich am wesüichen Geist zu beteiligen, dann glaube ich, daß sie die Idee eines um Preußen gruppierten Deutschlands, nachdem dies jetzt zusammengebrochen ist, aufgeben und sich dem Horizont zuwenden werden, der ihnen Hoffnung bietet: dem westlichen Europa und vor allem Frankreich«."' Auf der gleichen Inspektionsreise sprach de Gaulle in Freiburg von den wiederzubelebenden Verbindungen zwischen Baden und Frankreich.'" Bei diesem »Mission-Konzept« zum geistigen, moralischen und materiellen Wiederaufbau traf sich General de Gaulle mit dem Generalverwalter für die französische Besatzungszone, Emile Laffon, dem wir im Umfeld der sozialistischen Résistance schon begegnet sind. Dieser war geradezu von dem Gedanken erfüllt, daß Frankreich in Deutschland eine lange andauernde demokratische Aufgabe, eine Mission, zu erfüllen habe und stellte sich unumDazu Wilfried Loth, De Gaulle und Europa. Eine Revision, in: HZ 253 (1991), S. 629-660. Zitiert nach ebda., S. 631. Zitiert nach ebda., S. 634. Zu de Gaulies Reise durch die Besatzungszone: La revue de la zone française d'occupation No. 1,1.11.1945, S. 9. Freiburger Nachrichten Nr. 11, 5.10.1945.

Die Zukunft Deutschlands in französischer Sicht

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wunden in die Tradition der reformorientierten DeutscЫandpolitik Napoleons. »Prinzipien für unser Handeln im besetzten DeutscMand« betitelte er seine ersten Instruktionen an die ihm unterstellten Besatzungsabteilungen und Spitzenbeamten. Darin schrieb er: »Von 1793 bis 1813 haben die Armeen der Republik, dann des Kaiserreichs, mit Unterbrechungen und unter mehr oder weniger sichtbaren Formen den Rhein und die angrenzenden Gebiete besetzt. Überall im Rheinland, der Pfalz und in Baden finden sich noch heute geistige und manchmal sogar materielle Spuren dieser Präsenz des revolutionären und imperialen Frankreich. Dem zusammenhängenden und noch mittelalterlichen Deutschland des untergehenden Heiligen Römischen Reiches hatten die Repräsentanten des Konvents und die Präfekten des Kaiserreichs manche neuen und fruchtbaren Ideen gebracht, die Grundsätze einer modernen Regierung und vor allem das Vorbild einer starken und disziplinierten Nation, die erobert und gleichzeitig befreit. - Die Republik von 1945 muß auf der Höhe dieser Tradition sein.«" Für den Chef des Gouvernement Militaire waren die beiden historischen Situationen vergleichbar. Der Kraftakt nach der Katastrophe des Nationalsozialismus erforderte ein selbstbewußtes Frankreich. Die Französische Republik mußte - an den liberal-demokratischen Traditionen der Revolution anknüpfend - das Vorbild einer modern organisierten Demokratie abgeben und sollte auf längere Sicht als ein »pôle d'attraction« zumindest auf die französisch besetzten Teile Deutschlands ausstrahlen." Laffon stand zwar seit den Zeiten der Résistance den Sozialisten nahe, aber für de Gaulle hegte er große Bewunderung." Im Anschluß an die Reise des provisorischen Regierungschefs verfaßte er weitere Anweisungen, in denen er eine »politique nouvelle«, eine »reconstruction« und »rénovation allemande« ankündigte: » I m Verlauf seiner gerade beendeten Reise durch unsere Besatzungszone hat der Chef der Provisorischen Regierung der Republik Reden der Befriedung und der Verständigung gehalten. Mit der ihm eigenen Weitsicht hat er die Zukunft und die Beziehungen (...) zwischen der deutschen Bevölkerung und Frankreich betrachtet. Unsere Politik kann nicht länger eine Politik des Zwanges und der Unterwerfung sein; sie wird - unter Sicherung unserer militärischen, materiellen und moralischen Interessen - eine Politik der Humanität werden.«"* Zwischen de Gaulles und Laffons Vorstellungen gab es Unterschiede, die nicht zu übersehen waren: Eine Zerschlagung der staatlichen Einheit Deutsch" Laffon am 20.8.1945 an seine Landesgouvemeure: Principes de notre action en Allemagne occupée (Ado, CCFA Cab. Civ. С. 13). " Ebda. " Vgl. Alain Lattard, Zielkonflikte französischer Besatzungspolitik in Deutschland. Der Streit Laffon-Koenig 1945-1947, in: V f Z 39 (1991), S. 1-35, hier S. 8. " Laffon am 25.10.1945 »Instructions faisant suite au voyage du chef du Gouvernement Provisoire de la République« (AdO, C C F A , Cab. Laffon C. 13). Mit dieser Zielrichtung stimmte de Gaulle überein. Dazu auch: Rainer Hudemann, De Gaulle und der Wiederaufbau in der französischen Besatzungszone nach 1945, in: Loth/Picht (Hrsg.), De Gaulle (Anm. 27), S. 153-167.

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I. Frankreich im Kreis der Siegermächte

lands lehnte Laffon ab; er befürwortete eine weitgehende föderalistische Lösung unter einem gesamtstaatlichen Dach, nicht jedoch Kleinstaaterei. Auch hielt er nicht viel davon, das »bessere Deutschland« unter Hinweis auf die Völkerpsychologie schlichtweg geographisch zu bestimmen und die Südwestdeutschen auf Kosten des verwerflichen »Preußentums« zu entlasten. Laffon setzte - wie schon in seinem Résistance-Programm - auf eine demokratische Umgestaltung und auf sozio-ökonomische Reformen. Aber der Berührungspunkt zwischen beiden war wichtiger: Frankreich habe ein großes missionarisches Werk zu vollbringen - das glaubten beide, de Gaulle und Laffon. Hier standen sie Seite an Seite in der Tradition französischen Zivilisationsexports. Und genau an dieser Stelle überschnitten sich die Deutschland- und die Besatzungspolitik. Was auch immer aus der deutschlandpolitischen Komponente des »Mission-Konzepts« werden sollte, die für de Gaulle im Vordergrund stand, auf der besatzungspolitischen Ebene vor Ort jedenfalls, woran Laffon in erster Linie dachte, war damit ein geeigneter und ansehnlicher Rahmen gelegt, innerhalb dessen sich reformbereite Deutsche an einen demokratischen Neubeginn machen konnten. Fraglich blieb allerdings bei all diesen abstrakten Überlegungen, ob unter den Bedingungen einer Besatzungsherrschaft ein derartiger hoffnungsvoller Neuanfang möglich sein würde, ob die Deutschen mitmachen, darin eine Chance erkennen würden. Entscheidendes hing davon ab, wie die besiegten und befreiten Menschen den Besatzungsalltag wahrnehmen und erfahren würden.

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3. Die Besatzungsmacht richtet sich ein Strukturen des Gouvernement Militaire und Teilung des Landes Baden Für eine gründliche Vorbereitung auf die Rolle als Besatzungsmacht war Frankreich wenig Zeit geblieben. Gerade sieben Monate lagen zwischen der Befreiung von Paris am 25. August 1944 und dem Überschreiten des Rheins durch französische Truppen. Eine eigene Besatzungszone wurde den Franzosen erst auf der Konferenz von Jaita im Februar 1945 zugesprochen, deren endgültige Grenzen schließlich im Juni 1945 feststanden. Erste konkrete organisatorische Maßnahmen unternahm die Provisorische Regierung im November 1944 mit der Einrichtung einer Mission Militaire pour les Affaires Allemandes (MMAA) unter der Leitung von General Koeltz.' Die Mission Militaire, die direkt de Gaulle unterstellt war, nahm an den Verhandlungen des European Advisory Comittee teil und befaßte sich mit den Fragen einer zukünftigen Besatzungsverwaltung, für die es geeignetes Personal zu rekrutieren und auszubilden gah.^ Da in Frankreich jedoch ebenfalls ein akuter Mangel an qualifiziertem und politisch unbelastetem Personal bestand, versuchten die Pariser Ministerien ihre fähigsten Mitarbeiter in der Zentrale zu behalten. Für die Besatzungsverwaltung rekrutierte man daher vor allem einfache und mittlere Beamte sowie Hilfskräfte. Außerdem gelangten eine ganze Reihe von Personen in diese Gruppe, deren politische Vergangenheit nicht geklärt war. Vor dem Einsatz in der Zone erhielten die Kandidaten einen mehrwöchigen Kurs in einem Ausbildungszentrum der Administration Militaire Française en Allemagne, Grundlage der Ausbildung war das SHAEF-Handbook for Military Government in Germany, an dem sich auch die Besatzungsoffiziere in der Anfangszeit orientierten. Der Aufbau einer Militärregierung begann erst einige Monate nach der Besetzung durch die Truppen. Zunächst oblagen die zivilen Angelegenheiten theoretisch dem 5ème Bureau der 1. Französischen Armee, einer Dienststelle, die dem Alliierten Oberkommando unterstellt war und den Einsatz der von Paris entsandten Militârregierungsdétachements koordinierte. Einer Anweisung des Generalstabs der 1. Armee zufolge waren diese Détachements nach Beendigung der Kampfhandlungen für die Kontrolle über die gesamte deutsche Verwaltung verantwortlich, auch die Ernährung und die Unterbringung der Truppe ' Vgl. zum folgenden Klaus-Dietmar Henke, Aspekte französischer Besatzungspolitik in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Miscellanea. Festschrift für Helmut Krausnick zum 75. Geburtstag, München 1980, S. 169-191. Alain Lattard, Gewerkschaften und Arbeitgeber in Rheinland-Pfalz unter französischer Besatzung 1945-1949, Mainz 1988, S. 13-67. ^ Reinhard Grohnert, Die Entnazifizierung in Baden 1945-1949. Konzeptionen und Praxis der »Epuration« am Beispiel eines Landes der französischen Besatzungszone, Stuttgart 1991. S. l l f .

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fiel in ihr Ressort. Die Zuständigkeit der Truppe wurde auf den Bereich der öffentlichen Sicherheit beschränkt, nur in Orten ohne Militärregierung durfte sie Requisitionen vornehmen.' Die Realität sah jedoch anders aus, die Truppenkommandanten mischten sich ständig in Verwaltungsangelegenheiten ein und nahmen selbständig Verhaftungen, Absetzungen von Bürgermeistern und Requisitionen vor. Die Klage des Détachements Offenburg vom Juni 1945 ist sicher kein Einzelfall: »Man muß auch in Betracht ziehen, daß sich das Gouvernement Militaire mit einer Fülle von Aufgaben befassen muß, die nicht vorhersehbar waren; vor allem muß es das Land vor Raubzügen schützen, durchgeführt sowohl von Fremdarbeitern aus dem Osten als auch von französischen disziplinlosen Militärs jeden Dienstranges.«" Schlecht vorbereitet, ohne ausreichende materielle und personelle Ausstattung hatten die Détachements nur geringe Chancen, sich gegenüber den Truppenkommandanten durchzusetzen. Zudem waren die Verwaltungskräfte zumeist Zivilisten, denen die Militärs kaum Respekt zollten. Eine Verordnung vom 15. Juni 1945 bestimmte schließlich die Einrichtung eines französischen Oberkommandos in Deutschland - das Commandement en Chef Français en Allemagne (CCFA) - , zu dessen Chef General Pierre Koenig, ein enger Vertrauter de Gaulles, ernannt wurde.' Ihm unterstand Generalverwalter Emile Laffon als Chef des Gouvernement Militaire pour la Zone Française d'Occupation (GMZFO). Oberkommando und GMZFO verblieben während der ganzen Besatzungszeit in Baden-Baden, während die anderen Alliierten ihre zentralen Leitungsgremien in Berlin, dem Sitz des Kontrollrates, errichtet hatten. Koenig selbst fuhr nur zu den Kontrollratssitzungen nach Berlin. Laffon war im Gegensatz zu seinen Amtskollegen Clay, Robertson und Sokolovskij lediglich für die Zonenpolitik zuständig, die Arbeit in den Kontrollratsgremien wurde von der sogenannten Groupe français du Conseil de Contrôle wahrgenommen. In dieser recht lockeren Verklammerung kam der antizentralistische Kurs der Besatzungsmacht deutlich zum Ausdruck. Das Gouvemement Militaire verfügte über verschiedene Generaldirektionen Verwaltung, Wirtschaft und Finanzen, Justiz und Sicherheit - mit einer ganzen Reihe von Unterabteilungen, den Direktionen. Außerdem unterstanden ihm die Délégations Supérieures - die Ländermilitärregierungen, die einen bis auf Landkreisebene hinunter vollausgebauten Apparat aufwiesen. Der erste badische Landesgouverneur war General Jacques Schwartz, ein hochdekorierter Soldat. Ihm folgte im Frühsommer 1946 der Verwaltungsfachmann Pierre Pène nach. Die Délégation Supérieure pour le Land Bade - zunächst in Karlsruhe und ab September 1945 mit Sitz in Freiburg - war mit Abteilungen für Politik und Verwaltung, Wirtschaft, Kultur und Polizei ausgestattet, etwa 250 Frauen und Männer versahen hier ihren Dienst. Die engsten Mitarbeiter Pênes waren Kabinettschef René Bargeton und Präfekt Gabriel Daty.® ' Note de Service, 23.5.1945 (AdO, Cab. Laffon C. 3). "Détachement d'Offenburg, Juni 1945 (AdO, Bade 0005). ' Journal Officiel du CCFA, 24.7.1945. Zum Aufbau AdO, Cab. Civ. Pol III A. 1 p. 30 sowie Cab. Laffon C. 16. Vgl. auch ebda. L'Organisation de l'Administration française en Allemagne, 11.4.1948.

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Der Oberkommandierende, dem als Vertreter des Außenministeriums ein politischer Berater zur Seite stand, unterhielt seinerseits ein Kabinett, das nicht einen üblichen Beraterstab, sondern ein mehrere hundert Offiziere umfassendes Organ darstellte, und in seiner Gliederung dem fachlichen Aufbau der Militärregierung genau glicht Vielleicht beruhte auf dieser Überkapazität der Witz, an den sich französische Zeitzeugen noch heute erinnern: Vier Löwen gingen in je eine der vier Besatzungszonen und wollten sich ein Jahr später wieder treffen, um ihre Erfahrungen auszutauschen. Derjenige aus der sowjetischen Zone war nach einem Jahr spindeldürr und klagte, er habe nur arbeiten müssen und nichts zum Fressen bekommen. Den beiden aus der britischen und amerikanischen Zone ging es zwar besser, aber auch sie stöhnten; der eine, daß ihm bei den Briten lediglich Tee angeboten wurde; der andere, daß es bei den Amerikaner immerwährend Kaugummi gab. Allein der Löwe aus der französischen Zone war wohlgelaunt und fett. Auf die verwunderte Frage der anderen, wie dies möglich sei, antwortete er: »Ich war in Baden-Baden bei der Militärregierung und habe jeden Tag einen Colonel gefressen - und niemand hat es gemerkt!«.® Das Besatzunspersonal bestand zunächst überwiegend aus abkommandierten Militärs oder aus Verwaltungskräften, die hinsichtlich Hierarchie und Dienstvorschriften, Uniform und Rangabzeichen einen militärähnlichen Status hatten. Im November 1945 wurde die Mission Militaire in Paris aufgelöst und deren Verwaltungs- und Finanzabteilungen dem zuvor geschaffenen Sekretariat des interministeriellen Ausschusses für deutsche und österreichische Angelegenheiten einverleibt. Damit war die Dominanz des Verteidigungsministeriums über die Militärregierung gebrochen. Als Generalverwalter Laffon Mitte September einen ersten Bericht über den Stand des Aufbaus der Militärregierung abgab, benannte er mangelnde Direktiven aus Paris, die Inkompetenz und politische Unzuverlässigkeit eines Teils des Personals, das ihm von Paris zur Verfügung gestellt wurde, eine katastrophale materielle Ausstattung der Dienststellen in Baden-Baden und die Schwierigkeiten der Ablösung der militärischen durch eine zivile Verwaltung als die Haupthindemisse für eine geordnete Verwaltung der Zone.' Gemeinsam mit General Koenig machte sich Laffon zunächst daran, die »der Kollaboration Verdächtigen ebenso wie die Intriganten und Geschäftemacher«aus allen Dienststellen der Militärregierung zu entfernen. Bis Anfang 1945 wurden 234 Personen aus der Besatzungsverwaltung entlassen - viele von ihnen waren im Rahmen der politischen Säuberung in Frankreich aus dem Staatsdienst entfernt ' Zu Bargeton, der Pène 1952 als Délégué provincial nachfolgte, vgl. Joseph Jurt (Hrsg.), Die Franzosenzeit im Lande Baden von 1945 bis heute. Zeitzeugnisse und Forschungsergebnisse, Freiburg 1992, S. 153f. ' Alain Lattard, Zielkonflikte französischer Besatzungspolitik in Deutschland. Der Streit Laffon-Koenig 1945-1947, in: VfZ 39 (1991) S. 1-35, hier S. 5. ' Erzählt von M. Werner Henneke, dem langjährigen Leiter des Archivs in Colmar. ' Vgl. Bericht Laffons an Koenig, 17.9.1945 (AdO, Cab. Laffon C. 3). Bericht Laffons an Koenig, lO.11.1945 (AdO, AP/Int. et Cultes С. 232 P. 49). Vgl. Grohnert, Entnazifizierung (Anm. 2), S. 54-56.

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worden und hatten sich bei der A M F A gemeldet, die bei der Einstellung keine sonderliche Sorgfalt walten ließ: »Wegen der Unzulänglichkeit oder Leichtfertigkeit der Anwerber (die A M F A ) hatte sich so eine Art administrativer Fremdenlegion gebildet, wo die Neulinge im allgemeinen aufgenommen wurden, ohne einen Nachweis ihrer Fähigkeiten, ihrer Erfahrungen, ihrer patriotischen Einstellung oder einfach ihrer Anständigkeit zu erbringen.«" In der französischen Besatzungszone kamen im Dezember 1946 auf 1000 Einwohner 18 Besatzer, während man in der britischen Zone zehn und in der amerikanischen nur drei zählte. Laut Haushaltsgesetz von 1946 beschäftigte die Militärregierung in Deutschland 16400 Personen, bis Mitte 1948 sank diese Zahl auf etwa 9000.'^ Die nicht gerade spärliche Personalbesetzung in der französischen Zone hing unmittelbar mit der Mißwirtschaft und der schlechten Verteilung der Kräfte zusammen, aber auch mit dem völlig andersartigen Besatzungskonzept der Franzosen. Das fehlende Vertrauen in die demokratischen Fähigkeiten der Deutschen sowie die Priorität der wirtschaftlichen Ausbeutung verlangten eine schärfere Kontrolle, und dies bedeutete notwendigerweise mehr Kontrolleure. Während die materiellen Schwierigkeiten bald überwunden waren und auch der Einfluß des Militärs zurückgedrängt werden konnte, blieb das Problem, die Besatzungspolitik in der Zone von Paris aus zu leiten und zu kontrollieren, während der gesamten Besatzungszeit ungelöst. Dies zeigen bereits die vielen Um- und Neubildungen der für Deutschland zuständigen Stellen in Paris. Dem interministeriellen Komitee wurde im Dezember 1945 ein Generalsekretariat für deutsche und österreichiche Angelegenheiten an die Seite gestellt, das die Beziehungen zwischen der Zone und Paris koordinieren sowie die Umsetzung der von der Regierung formulierten Deutschlandpolitik in der Besatzungszone йЬефгйГеп sollte. Materiell schlecht ausgerüstet, ohne Expertenstab, also ohne fachliche Kompetenz und ohne politische Autorität, war es diesen Aufgaben nicht gewachsen. Mehr politisches Gewicht bekam das Amt mit seiner Umwandlung in ein Staatssekretariat Ende 1947, das jedoch bereits im Sommer 1948 wieder von der Bildfläche verschwand. Außerdem wurde im November 1946 eine Kontrollbehörde für die besetzten Gebiete ins Leben gerufen. Bis zum Ausscheiden Laffons aus der Militärregierung im November 1947 verursachte der Konflikt zwischen dem Generalverwalter und dem Oberkommandierenden Koenig ständige Reibungen und widersprüchliche Entscheidungen. Zu diesen Reibungen trugen auch die trennenden politischen Grundüberzeugungen sowie die unterschiedlichen Temperamente der beiden bei. General Koenig - der Held von »Bir Hakeim« - war bei Amtsübernahme 47 Jahre alt. Der Berufsoffizier mit einem ausgeprägten Hierarchiebewußtsein galt als treuer Gefolgsmann de Gaulles. Laffon - obwohl ein Bewunderer de Gaulles - stand den Sozialisten nahe. Mit der dualistischen Struktur der Besatzungsverwaltung waren nicht zuletzt auch die ungelösten Konflikte über die Deutschland- und " Zitiert nach Lattard, Zielkonflikte (Anm. 7), S. 2f. " Zahlen nach Lattard, Gewerkschaften (Anm. 1), S. 28.

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Besatzungspolitik innerhalb der tripartistischen Regierung in Paris in die französische Zone hineingetragen worden. All diese Faktoren prägten auf ganz entscheidende Weise die Anfänge der Besatzung. Sie erklären neben dem Planungsrückstand die relative Verspätung mancher Entwicklung im Vergleich mit den Nachbarzonen - etwa die Gewerkschafts- und Parteienzulassung. Sie belastete auch für längere Zeit die französische Politik in Deutschland, sei es durch ihre desorganisierende Wirkung oder durch das negative Bild, das in den Augen der deutschen Öffentlichkeit entstand. Zu den strukturellen und organisatorischen Problemem traten Probleme hinzu, die sich aus den Zielen der Besatzungspolitik ergaben. Genannt sei hier nur die Debatte um den Grad der 2^ntralisierung innerhalb der Besatzungsverwaltung.'^ Paris forderte aus sicherheitspolitischen Überlegungen eine weitgehende Dezentralisierung Deutschlands. Dies widersprach aber sowohl den wirtschaftlichen Interessen Frankreichs, die innerhalb der Militärregierung von der Wirtschafts- und Finanzabteilung vertreten wurden, als auch einer effizienten Kontrolle der deutschen und französischen Verwaltungsstellen gerade auf dem Gebiet der Demokratisierungspolitik, wie es Laffon beabsichtigte. Eine Folge davon war, daß Sachzwänge und die Praxis der Besatzungsverwaltung schon frühzeitig die offizielle Deutschlandpolitik aushöhlten und deren Wende im Jahre 1947 mit vorbereiteten. Der Preis dafür war, daß der zentrale Militärregierungsapparat in Baden-Baden aufgebläht wurde. Deutsche an Entscheidungen auf zonaler Ebene zu beteiligen, wie es Laffon von Anfang an beabsichtigt hatte, konnte er bis zu seinem Ausscheiden aus dem Amt des Generalverwalters aufgrund des Widerstands der deutschlandpolitischen Hardliner in Paris und in Baden-Baden - vor allem des politischen Beraters Koenigs St. Hardouin - nur in geringem Umfang verwirklichen. Die definitive Abgrenzung der Besatzungszonen hatte das Land Baden zweigeteilt. Der der amerikanischen Zone zugeschlagene nördliche Teil mit der ehemaligen Hauptstadt Karlsruhe wurde mit Nordwürttemberg zu einer Verwaltungseinheit verschmolzen. Der südliche Teil unterhalb der Autobahn Karlsruhe - Stuttgart umschloß den Stadtkreis Baden-Baden, die Landkreise Bühl und Rastatt sowie die Ländeskommissärbezirke Freiburg und Konstanz. Damit war der Südteil Badens sowohl vom Verwaltungszentrum als auch von den großen Industriestandorten getrennt worden. Nach der Volkszählung vom Oktober 1946 lebten im französisch besetzten Teil Badens 1190841 Personen.'" Die Berufsstruktur war agrarisch bestimmt. So ernährten sich 42,3 Prozent der Erwerbsbevölkerung von Landwirtschaft, Tierzucht und Forsten, 30,1 Prozent von Industrie und Handwerk, 12 Prozent von öffentlichen Diensten und pri" V g l . ausführlich Lattard, Gewerkschaften (Anm. 1), S. 29f. Ders., Zielkonflikte (Anm. 7). Edgar Wolfrum, Französische und deutsche Neugliederungspläne für Südwestdeutschland 1945/46, in: ZGO 137 (1989), S. 428-452. Die Zahlen nach Statistisches Landesamt Baden (Hrsg.), Endgültige Ergebnisse der Volksund Berufszählung vom 29. Oktober 1946, Freiburg o. J.. Statistisches Landesamt in Stuttgart und Karlsruhe (Hrsg.), Statistisches Handbuch Württemberg-Baden 1950, Stuttgart/Karlsruhe 1951.

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vaten Dienstleistungen, 10,9 Prozent von Handel und Verkehr, 4,9 Prozent von häuslichen Diensten. In der Industrie herrschten kleine und mittlere Betriebe vor.'' 1948 entfielen auf Betriebe bis zu 200 Arbeitnehmern etwa 60 Prozent aller Industriebeschäftigten. Die Arbeiterschaft stellte keine Industriearbeiterschaft im modernen Sinne dar, sie war zum größten Teil im Handwerk und in Klein- und Mittelbetrieben beschäftigt und stand noch in engem Kontakt mit der Landwirtschaft. Ein Großteil der landwirtschaftlichen Kleinbetriebe wurde im Nebenerwerb bewirtschaftet. Auch in der sozialen Struktur der Erwerbsbevölkerung spiegelte sich die Bedeutung der kleinen und mittleren Landwirtschafts- und Gewerbebetriebe wider. So stellten die Selbständigen 23,5 Prozent der Erwerbsbevölkerung; zusammen mit den mithelfenden Familienangehörigen machte dieser Sektor nahezu die Hälfte der Erwerbspersonen aus.'® Konfessionell dominierten im französisch besetzten Baden mit etwa 70 Prozent die Katholiken. Es kam hier auch nicht, wie andernorts, zu nennenswerten Verschiebungen in der Bevölkerungsstruktur durch Flüchtlinge und Vertriebene. Von diesem mit zahlreichen menschlichen Tragödien einhergehenden Problem der Nachkriegszeit blieb das Land Baden lange Zeit nahezu unberührt. Bis Ende 1945 waren über 12 Millionen Reichs- und Volksdeutsche in Folge der Hitlerschen Eroberungskriege aus Mittel- und Osteuropa vertrieben worden. Es war nicht die erste, aber die größte Massenwanderung in der jüngsten deutschen Geschichte, die von den Siegermächten gewollt und im Artikel XIII des Potsdamer Abkommens sanktioniert worden war. Während die im amerikanischen Besatzungsgebiet erscheinende »RheinNeckar-Zeitung« im Juni 1946 mit der Schlagzeile »Flüchtlingsfrage - das Zeitproblem« herauskam," suchte man solche Berichte in der französischen Zone vergeblich. Die Millionenheere an Flüchtlingen und Vertriebenen, die nach 1945 in die britische und amerikanische Zone strömten, kannte das französische Besatzungsgebiet nicht." Da Frankreich nicht an der Potsdamer Konferenz beteiligt worden war, fühlte es sich nicht an alle dort gefaßten Abkommen gebunden. Das galt besonders für die Bestimmungen zum interzonalen Flüchtlingsausgleich, bei denen die Franzosen zunächst unnachgiebig blieben, um die schon bestehenden materiellen Schwierigkeiten in ihrer Zone nicht noch zu vergrößem." " Vgl. Rudolf Laufer, Industrie und Energiewirtschaft im Land Baden 1945-1952. Südbaden unter französischer Besatzung, Freiburg/München 1979, S. 16ff. " Vgl. Rainer Hudemann, Sozialstruktur und Sozialpolitik in der französischen Besatzungszone 1945-1949. Materialien und Forschungsprobleme, in: JWLG 5 (1979), S. 373-408. " Ausgabe vom 19. Juni 1946. " Zahlreiche vor allem regionale und lokale Studien liegen mittlerweile zu dem Problem der Flüchtlinge vor. Einen Überblick vermittelt Arnold Sywottek, Flüchtlingseingliederung in Westdeutschland. Stand und Probleme der Forschung, in: APuZ В 51 (1989), S. 38-46. " Vgl. Joachim Haug, Flüchtlinge und Vertriebene in Südbaden während der ersten Nachkriegszeit, in: Arbeitskreis Regionalgeschichte Freiburg (Hrsg.), Alltagsnot und politischer Wiederaufbau. Zur Geschichte Freiburgs und Südbadens in den ersten Jahren nach dem 2. Weltkrieg, Freiburg 1986, S. 39-43.

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Nach der VolkszäMung vom 19. Oktober 1946 betrug der Anteil der Flüchtlinge und Vertriebenen an der Gesamtbevölkerung in der amerikanischen Zone bereits 16,3 Prozent, das hieß 2 744 900 Menschen, und in der britischen Zone 13,9 Prozent, das hieß knapp über drei Millionen Menschen. Damit war allerdings der Höhepunkt noch längst nicht erreicht, da in den nächsten Jahren die Zuwanderung aus der sowjetischen Besatzungszone zunehmen sollte, wo viele Flüchüinge und Vertriebene zunächst einmal ihre Suche nach einer neuen Heimat unterbrachen, um später weiterzuwandem. Dagegen waren im Oktober 1946 in der französischen Besatzungszone lediglich 1,5 Prozent oder 78300 Menschen Flüchtlinge.^" Ein weiteres Zahlenbeispiel verdeutlicht die Diskrepanz noch besser: Waren 1950 in Schleswig-Holstein, das besonders viele Menschen aufzunehmen hatte, von 100 Personen 33 Flüchtlinge oder Vertriebene, so zählten im französisch besetzten Rheinland-Pfalz nur drei von 100 Menschen zu dieser Personengruppe. Zuzugsberechtigungen wurden von der französischen Militärregierung äußerst restriktiv erteilt, und während zum Beispiel die stark zerstörte Stadt Mannheim im amerikanischen Besatzungsgebiet 11 ООО Neubürger aufzunehmen hatte,^' lebten in Freiburg im Februar 1947 lediglich 1847 Hüchtlinge.^^ Erst im Laufe der Jahre 1948/49 änderte sich die Situation, als der Druck der Amerikaner und Briten auf die Franzosen zunahm und diese praktisch gezwungen wurden, ihre Zone für Flüchtlinge und Vertriebene zu öffnen. Noch im November 1948 hatte sich Oberbefehlshaber Koenig auf einer Besprechung in Baden-Baden gerühmt, »daß er sich bis jetzt erfolgreich gegen den Zustrom von Flüchdingen in die Zone habe wehren können«. Im März 1949 jedoch mußte er einräumen, »daß er sich nicht länger dem Wunsch seiner Kollegen verschließen (könne), die französische Zone möge auch eine Anzahl von Flüchtlingen aufnehmen«." Infolge dieser erzwungenen Liberalisierung kamen ab Frühjahr 1949 in zunehmendem Maße Neubürger nach Baden. Bis 1950 hatte sich ihre Anzahl in Freiburg gegenüber 1946 verdoppelt und im gesamten Land hielten sich jetzt über 100 ООО Flüchtlinge auf. Erst zu dieser Zeit zeigten sich in Baden Merkmale der Zusammenbruchsgesellschaft, die in anderen Gebieten Deutschlands längst zum Bild der Nachkriegszeit dazugehört hatten: Notunterkünfte und große Flüchtlingslager. Erst jetzt machten sich im französisch besetzten Südwesten die zahlreichen Konflikte zwischen den Neuankömmlingen und den Alteingesessenen bemerkbar, wenngleich die Wogen vergleichsweise flach blieben. »Wir verlangen ja gar nicht«, so führte der Leiter der Treckvereinigung Süderbarup 1952 im Südwestfunk aus, »daß die MenEbda., S. 39. Vgl. Thomas Grosser, »Wir brauchten sie nicht zu nehmen, sind aber froh gewesen, daß sie hier gewesen sind«. Die Aufnahmen der Heimatvertriebenen und SBZ-FIüchtlinge in Mannheim 1945-1960, in: Christiane Grosser/Thomas Grosser/Rita Müller/Sylvia Schraut, »Flüchtlingsfrage - das Zeitproblem«. Amerikanische Besatzungspolitik, deutsche Verwaltung und die Flüchtlinge in Württemberg-Baden 1945-1949, Mannheim 1993, S. 5 5 - 128. " Vgl. Haug, Flüchtlinge (Anm. 19), S. 39. " Zitiert nach ebda., S. 41.

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sehen dort (in Baden) in dem Ausmaß zusammenrücken, wie das in SchleswigHolstein der Fall war, aber etwas zusammenrücken müssen sie auch.«" Erst im Zuge der Binnenwanderung wurde demnach in Baden eine größere Zahl entwurzelter Menschen aufgenommen. Die unterschiedliche Politik der französischen und der amerikanischen Besatzungsmacht hatte zur Folge, daß im Norden und Nordosten des späteren Landes Baden-Württemberg der Anteil der Flüchtlinge und Vertriebenen am größten war, wobei hier die Deutschen aus der Tschechoslowakei und aus Ungarn am stärksten vertreten waren. Im Süden und Südwesten dagegen war der Anteil der Flüchtlinge viel geringer; hier ist ein vergleichsweiser hoher Anteil von Menschen aus Ostpreußen ansässig geworden.^' Hätte das Land Baden schon 1945 in großer Zahl Flüchtlinge und Vertriebene aufnehmen müssen, wäre ihr Eingliederungsprozeß in den ländlichen Regionen vermutlich auf ähnliche Probleme gestoßen, wie dies in Bayern der Fall war.^' Die Landbevölkerung war vom totalen Krieg weitgehend verschont geblieben, und der schockartige Einbruch in die bäuerliche Lebenswelt ereignete sich erst mit dem Ende des Krieges, durch Flüchtlinge, Ausplünderungen und den ständigen Aufforderungen der Städte, materielle Hilfe zu leisten. Wären Rüchtlinge und Vertriebene früher und in größerer Zahl nach Baden gelangt, dann hätte auch hier schneller eine »Revolution des Dorfes«^' eingesetzt. So aber blieben die gewachsenen und festgefügten dörflichen Sozialverbände erst einmal weitgehend unverändert. Während also in Baden die sozialen, kulturellen und psychologischen Probleme der Integration von Neubürgem nicht die Rolle spielte, wie in den meisten anderen Teilen Deutschlands, fragt man sich neuerdings, ob die Unterrepräsentanz von Hüchtlingen nicht auch negative ökonomische Folgen hatte. Denn angesichts der wirtschaftlichen Unterentwicklung und gleichzeitig geringen Belegung mit Hüchtlingen in der französischen Zone scheint der Schluß nahe zu liegen, daß Flüchtlinge und Vertriebene als Arbeitspotential quasi eine Voraussetzung für den günstigen Verlauf der wirtschaftlichen Entwicklung in der Bundesrepublik bildeten.^* " Zitiert nach ebda., S. 43. " Vgl. die Einleitung bei Mathias Beer, Flüchtlinge und Vertriebene im deutschen Südwesten nach 1945. Eine Übersicht der Archivalien in den staatlichen und kommunalen Archiven des Landes Baden-Württemberg, Sigmaringen 1994. Daneben Thomas Schnabel/Harald Schneider, Die Vertriebenen in Südwestdeutschland, in: Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (Hrsg.), Der Weg zum Südweststaat, Karlsruhe 1991, S. 112-131 sowie Mathias Beer, Zur Datierung eines »Wunders«. Anmerkungen zur Eingliederung der Flüchtlinge und Vertriebenen im deutschen Südwesten nach 1945, in: Banatica. Beiträge zur deutschen Kultur 8,3 (1991), S. 7 - 2 2 . Vgl. Franz Bauer, Hüchtlinge und Flüchtlingspolitik in Bayern 1945-1950, Stuttgart 1982. " Paul Erker, Revolution des Dorfes? Ländliche Bevölkerung zwischen Flüchtlingsstrom und landwirtschaftlichem Strukturwandel, in: Martin Broszat/Klaus-Dietmar Henke/Hans Woller (Hrsg.), Von Stalingrad zur Währungsreform. Zur Sozialgeschichte des Umbruchs in Deutschlands, München 1988, S. 367-425. Diese und andere Fragen der neueren Forschung, die aber empirisch noch nicht geklärt sind, referiert Franz Bauer, Zwischen »Wunder« und Strukturzwang. Zur Integration der Flücht-

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Wie in ganz Deutschland war nach dem totalen Zusammenbruch auch in Baden das politische Leben erloschen. Die alliierten Besatzungsmächte hatten die oberste Regierungsgewalt übernommen und die NSDAP und alle staatlichen Organe als Träger des politischen Willens in Deutschland abgelöst. Jegliche politische Tätigkeit war untersagt. An die Stelle der Regierung des Deutschen Reiches war im Sommer 1945 der Alliierte Kontrollrat getreten.^' Das galt zumindest in der Theorie, in der Praxis waren es aber die Militärgouverneure, die an der Spitze der vier Besatzungszonen die jeweils oberste Regierungsgewalt verkörperten. Unterhalb der Zonenebene bestanden zunächst die traditionellen politischen und administrativen Strukturen fort. Auf der Ebene der Kommunen und Kreise sollte die Idee der Selbstverwaltung mit neuem Leben erfüllt werden. Hier konnte sich unter strenger Kontrolle der Militärregierung auch am frühesten wieder Politik in deutscher Verantwortung entfalten.'" Im lokalen Bereich entstand in Baden eine breite Bewegung sogenannter Antifaschistischer Ausschüsse, die sich gleich nach Kriegsende oder im Laufe des Jahres 1945 konstituierten." Bereits bevor die Besatzungszonen endgültig festgelegt waren, versuchten die Franzosen oberste Verwaltungsbehörden zu installieren." So wurde im Mai 1945 in Karlsruhe eine badische Regierung eingesetzt, bestehend aus Alfred Bund (Finanzen), Ludwig Ganter (Justiz), Hugo Schwarz (Inneres) und Karl Ott (Kultus und Unterricht). Für den verstorbenen Schwarz übemahm am 4. Juni Paul Hausser die Leitung des Inneren. Diese vier bildeten zunächst noch keine kollegiale Regierung, sondern jeder verwaltete sein Amt und war allein der Militärregierung verantwortlich. Später erhielten sie die Titel Ministerialdirektoren, ab August durften sie sich auch zu Beratungen versammeln. Der Rat linge und Vertriebenen in der Bundesrepublik Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte В 32 (1987), S. 21-33. Volkswirtschaftlich ist die Überlegung nicht neu, daß gerade die Flüchtlinge eine verstärkte Industrialisierung und damit ein beschleunigtes Wirtschaftswachstum ermöglichten; vgl. Werner Abelshauser, Der Lastenausgleich und die Eingliedemg der Vertriebenen. Eine Skizze, in: Rainer Schulze/Doris von der Brelie-Lewien/Helga Grebing (Hrsg.), Flüchtlinge und Vertriebene in der westdeutschen Nachkriegsgeschichte. Bilanzierung der Forschung und Perspektiven für die künftige Forschungsarbeit, Hildesheim 1987, S. 229-238. Vgl. Wolfgang Benz, Potsdam 1945. Besatzungsherrschaft und Neuaufbau im Vier-ZonenDeutschland, München 1986, S. 131f. ™ Vgl. hierzu exemplarisch Werner Köhler, Freiburg i.Br. 1945-1949. Politisches Leben und Erfahrungen in der Nachkriegszeit, Freiburg 1987. Arbeitskreis Regionalgeschichte Freiburg (Hrsg.), Alltagsnot und politischer Wiederaufbau (Anm. 19). Lore Köhnlein, Emmendingen 1945-1952. Politischer Wiederaufbau in einer deutschen Kleinstadt, Emmendingen 1986 sowie die entprechenden Kapitel der neuen Stadtgeschichten von Freiburg und Lahr: Heiko Haumann/Hans Schadek (Hrsg.), Geschichte der Stadt Freiburg im Breisgau. Bd. 3: Von der badischen Herrschaft bis zur Gegenwart, Stuttgart 1993. Stadt Lahr (Hrsg.), Geschichte der Stadt Lahr. Bd. 3: Im 20. Jahrhundert, Lahr 1993. Werner Köhler: Offenburg nach 1945. Neubeginn und Wiederaufbau in Politik und Gesellschaft. Freiburg 1993. " Zu den verschiedenen Ausformungen der Antifas Edgar Wolfrum, Französische Besatzungspolitik und deutsche Sozialdemokratie. Politische Neuansätze in der »vergessenen Zone« bis zur Bildung des Südweststaates 1945-1952, Düsseldorf 1991, S. 21ff., sowie weiter unten. ^^Zum folgenden vgl. Günther Haselier, (Süd-)Baden 1945-1952, in: Georg Wilhelm Sante (Hrsg.), Die Geschichte der deutschen Länder. Bd. 2, Würzburg 1971, S. 72Iff.

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der Ministerialdirektoren stellte die Landesverwaltung Baden dar. Ihr Präsident war Alfred Bund. Nach der definitiven Regelung der Demarkationslinie zwischen amerikanischem und französischem Besatzungsgebiet in Baden im Juli 1945 veranlaßte die französische Militärregierung die Verlegung der badischen Ministerien nach Freiburg, das dadurch zur Hauptstadt des Landes Baden avancierte. Gleichzeitig wurde in Freiburg eine Délégation Supérieure pour le Pays de Bade eingerichtet. Mit der Ubersiedlung der Landesverwaltung nach Freiburg fanden personelle Veränderungen statt, die Landesverwaltung wurde ausgeweitet und durch die Aufnahme von ausgewiesenen Parteipolitikem gleichzeitig deutlich politisiert. Für den in Karlsruhe verbliebenen Ludwig Ganter übernahm der spätere BCSV-Mitbegründer Paul Zürcher die Justizverwaltung. Carl Diez, ehemaliger Reichstagsabgeordneter des Zentrums, übernahm die Leitung des neugeschaffenen Ministeriums für Landwirtschaft und Ernährung. Die Wirtschaftsabteilung wurde aus dem Finanzministerium ausgegliedert. Zum Leiter dieses Ressorts berief die Militärregierung den Sozialdemokraten Friedrich Leibbrandt; seinem Parteifreund Philipp Martzloff übertrugen sie die ebenfalls neu geschaffene Ministerialdirektion für Arbeit und soziale Fürsorge. Der Kommunist Erwin Eckert wurde als Leiter der politischen Säuberung Staatsrat im Rat der Ministerialdirektoren. Mit Paul Hausser stellten die Liberalen bereits ein Mitglied der Regierung, in der auch die Leiter der Obeφostdirektion sowie der Reichsbahndirektion Sitz und Stimme hatten. Die badische Landesverwaltung verfügte nur über einen sehr engen Handlungsspielraum. Sie besaß zu ihrem großen Leidwesen kein Statut, das ihren Status oder ihre Kompetenzen, insbesondere gegenüber der Militärregierung abgegrenzt hätte. Außerdem waren die Wirkungsmöglichkeiten dadurch eingeschränkt, daß sie zunächst in Karlsruhe residierte und, obwohl die französische Militärregierung bereits am 10. Juli ihren Sitz nach Freiburg verlegt hatte, zum Teil erst im Dezember nach Freiburg umziehen konnte. Angesichts der damaligen Verkehrs- und Kommunikationsverhältnissen war sie so von dem Land, das sie regieren sollte, abgeschnitten. Gemeinsame Besprechungen der Landesverwaltung - obwohl von der Militärregierung seit August erlaubt - fanden kaum statt. Erst gegen Ende des Jahres 1945 gelang es dieser Regierung, eine einigermaßen funktionierende Verwaltung aufzubauen. Bis dahin spielte sich Politik vor allem auf der Ebene der Städte, Gemeinden und Kreise ab.

IL Alltagsnot und politischer Neubeginn 1. Die Zähmung des Chaos' in der Zusammenbruchsgesellschaft a) Selbsthilfe gegen Resignation und Franzosenfeindschaft Antifas und Gewerkschaften Stellt man die alltagsgeschichtliche Frage, welche Lebensgefühle, Stimmungen, Erwartungen, Hoffnungen und Ängste die deutsche Bevölkerung nach dem Krieg hatte, und möchte man positive, hoffnungsvolle von negativen, enttäuschungsreichen Zeiten unterscheiden, so läßt sich die französische Besatzungszeit in drei Phasen einteilen: in eine kurze, in eine mittlere und eine drückend lange Phase. Die erste Phase reichte vom Beginn der Besetzung im April 1945 bis etwa in den Sommer 1945 hinein. Das war die Zeit relativer Willkür, die gleich zum Auftakt der Okkupation tiefe Wunden riß. Die zweite Phase begann mit der Ablösung der Kampftruppen durch eine »zivile« Besatzungsverwaltung in der Mitte des Jahres 1945 und dauerte bis zum Frühjahr 1946. Das war die Zeit der Aufbruchstimmung, in der zugleich jedoch das Doppelgesicht der Besatzung zum Vorschein kam, nämlich ausgeprägte Demokratisierungskonzepte auf der einen Seite und vielfältige Härten und Alltagsnöte auf der anderen. Dennoch herrschte in dieser Phase die optimistische Erwartung, es gehe voran, es werde sich alles zum Besseren wenden. Die dritte Phase schließlich begann mit der Ernüchterung darüber, daß sich eben nichts zum Besseren entwickelte, zumindest nicht so schnell wie erwartet, daß vielmehr die materiellen Sorgen, die täglichen Überlebenskämpfe sich verschärften und praktisch die ganze Energie absorbierten. Diese Phase der Besatzungszeit fing im Frühjahr 1946 an und hörte eigentlich erst mit der Jahreswende 1948/49 auf, als die positiven Wirkungen der Währungsreform bemerkbar wurden und die Perspektive des künftigen Weststaates aufleuchtete. Auch in dieser dritten und längsten Phase war eine ausgesprochen reformfreudige Demokratisierungspolitik an der Tagesordnung. Sie erreichte und beschäftigte jedoch lediglich die politischen und gesellschaftlichen Eliten. Dem Normalbürger indes erschien sie, wenn er sie überhaupt wahrnahm, als völlig abgehoben von seinen Existenzsorgen, als weltfremd und im Grunde genommen auch als belanglos. Doch betrachten wir zunächst die beiden ersten Phasen. Im Schlußinfemo des Weltkrieges, als die französische Armee in den Südwesten Deutschlands vorstieß, versuchte die NS-Propaganda den Durchhaltewillen der kriegsmüden Bevölkerung mithilfe einer Reaktivierung des alten Themas »Erbfeindschaft« zu erreichen. Robert Wagner, Gauleiter von Baden, rief im März 1945 seine Volksgenossen zum »Endkampf« auf Leben und Tod

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auf, bevor er die Flucht ergriff: »Der Feind steht an den Grenzen unseres Gaus. In diesem für uns alle schicksalhaften Augenblick wollen wir uns daran erinnern, daß der Feind der gleiche ist, der schon unseren Vätern das Leben nicht gegönnt und schwergemacht hat. Und wir wollen uns daran erinnern, daß dieser Feind in den vergangenen Jahren des gegenwärtigen Krieges unzählige Male erklärt hat, nicht nur unser Reich, sondern unser Volk vernichten zu wollen.«' Diese Worthülsen hätte sich Wagner sparen können. Denn zum fanatischen Widerstand fühlte sich kaum jemand noch berufen. Aber gemischte Gefühle gegenüber den heranrückenden Franzosen gab es gleichwohl. Die bereits erwähnten Grausamkeiten, wie die totale Verwüstung Freudenstadts und Vergewaltigungen, sowie der Anblick dunkelhäutiger Soldaten^ und das Verhalten von General de Lattre de Tassigny' waren nicht dazu angetan, vertrauensvoll in die Zukunft zu blicken. Zeitzeugen zufolge konnte man vielmehr den Eindruck gewinnen, daß die französischen Truppen zunächst einmal vieles zerstörten, schlimmer noch, »daß das gegenwärtige Mißtrauen in dieser Generation kaum noch zu beseitigen sein dürfte«." Die drakonischen, häufig mit Todesstrafe belegten Anordnungen, die Ausgangssperren, Wohnraumbeschlagnahmungen und wilden Entnahmen' erzeugten - so vermeldeten es die französischen Berichte »toφeur«,^ also eine Art »Betäubung«, als vorherrschende Stimmungslage unter den Deutschen, die den Sturm abzuwarten schienen, der in Form von Besatzungstruppen über sie hinwegfegte. Nach einigen Wochen, gegen Juni 1945, entspannte sich die Situation. Die Moral der Bevölkerung stieg nach Auskunft der französischen Dienststellen, die dabei waren, die Kampftruppen zu ersetzen: »Die Bevölkerung ist ganz offensichtlich glücklich, daß sie vom Krieg und von dem nationalsozialistischen Zwangssystem entledigt worden ist.«^ Widerstand gegen die Besatzer konnte nicht festgestellt werden. Allerdings fiel auf, daß die Menschen die jahrelange deutsche Besetzung Frankreichs und das dort verursachte Leid völlig ignorierten und sich nur mit sich selbst beschäftigten.® Diese Neigung der Deutschen beschrieben eineinhalb Jahre später junge Franzosen, als sie eine eben abgeschlossene Befragung unter der Bevölkerung der französischen Zone auswerteten: »Die Deutschen haben einen Hang, sich im Unglück genauso als einzigartig hinzustellen wie in der Macht: in einem Gefühl bitteren Stolzes.«^ ' Der Alemanne. Kampfblatt der Nationalsozialisten Oberbadens, 28.3.1945. ' Zeitzeugenbeschreibungen bei Manfred Bosch, Der Neubeginn. Aus deutscher Nachkriegszeit. Südbaden 1945-1950, Konstanz 1988, S. 17-23. ^ F. Roy Willis, The French in Germany 1945-1949, Stanford/Cal. 1962, S. 71. Siehe auch die Erinnerungen des Generals selbst: Jean de Lattre de Tassigny, Histoire de la Première Armée Française Rhin et Danube, Paris 1949. '' So die Aussage eines deutschen Zeitgenossen in einer französischen Umfrage. Anthologie der deutschen Meinung. Deutsche Antworten auf eine französische Umfrage, Konstanz 1948, S. 153. ^ Beispiele bei Bosch, Der Neubeginn (Anm. 2), S. 24-53. ' V g l . Werner Köhler, Freiburg i. Br. 1945-1949. Politisches Leben und Erfahrungen in der Nachkriegszeit, Freiburg 1987, S. 100. ' Colonel Amai an Tarbé de Saint Hardouin, 15.6.1945 (AdO, Cab. Civ. Pol. III - H I p. 40). 'Ebda. ' Anthologie der deutschen Meinung (Anm. 5), S. 148.

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Dennoch war der Sommer 1945 eine Zeit des Wandels. Auf lokaler Ebene, wo die Nachkriegsgeschichte Deutschlands anfing, machte sich Aufbruchstimmung breit, das galt natürlich nicht nur für die französische Besatzungszone. Im Juni 1945 hatte Robert Murphy, der früh im befreiten Frankfurter Raum unterwegs gewesen war, einen Lagebericht für das US-Außenministerium geschrieben, in dem er auch auf die »Antifaschistischen Ausschüsse« einging, die sich an vielen Orten in Deutschland gebildet hatten: »Die Hauptursache für die Entstehung der antifaschistischen Organisationen ist der Wunsch derjenigen Gruppen, die in den letzten zwölf Jahren keine Möglichkeit hatten, ihr Leben selbst zu gestalten, beim Aufbau eines neuen Deutschland Einfluß zu gewinnen.«'" Diese Feststellung trifft für die Antifas sicherlich ganz generell zu. Sie waren nicht nur eine typische Erscheinung der Zusammenbruchsgesellschaft und nicht nur mit existentiellen Tagesaufgaben befaßt, sondern sie warteten auch mit zukunftsorientierten gesellschaftspolitischen Konzepten auf, die noch zu Zeiten der Illegalität im »Dritten Reich« entwickelt worden waren." Verfolgt man die Wurzeln der Antifas in den Krieg hinein, so entdeckt man, daß sie aus einer Neu- und Wiederformierung der politischen Opposition gegen den Nationalsozialismus hervorgingen. »Der politische Widerstand endete dort, wo er begonnen hatte - bei den Aktivisten verschiedener Richtungen der sozialistischen Arbeiterbewegung«.'^ Tatsächlich konnten die Antifas, die mit der alliierten Besetzung im ganzen Reich auftauchten, meist auf eine mehr oder minder umfassende illegale Vorgeschichte zurückblicken. Ihre Träger und Anhänger rekrutierten sich in der Hauptsache aus Kommunisten und Sozialdemokraten, die Ausschüsse waren dort besonders stark, wo die Arbeiterbewegung ihre Hochburgen hatte. Die Antifaschistischen Ausschüsse schienen den Briten und Amerikanem zu unkontrollierbar, und diese beiden Besatzungsmächte setzten viel eher auf eine schnelle und geordnete, mithin übersichtliche Parteienpolitik. In der sowjetischen Zone wurden die lokalen Ausschüsse wegen anderer, übergeordneter politischer Vorgaben und Zielsetzungen wieder a u f g e l ö s t . A b e r ihre große Stunde schlug im französischen Besatzungsgebiet, besonders im relativ abgelegenen Südbaden. Emile Laffon, der neuberufene Generalverwalter, und die Vertrauten, die er um sich geschart hatte, erkannten die Chancen, die diese basisdemokratischen Initiativen eröffneten: »Diese Männer kommen aus verschiedenen politischen Richtungen, morgen werden sie in den wiederentstandenen Parteien ihre alten Zitiert nach Ulrich Borsdorf/Lutz Niethammer (Hrsg.), Zwischen Befreiung und Besatzung. Analysen des US-Geheimdienstes über Positionen und Strukturen deutscher Politik, Wuppertal 1976, S. 107. " Siehe dazu allgemein: Lutz Niethammer u.a.. Arbeiterinitiative 1945, Wuppertal 1976. Richard Löwenthal, Widerstand im totalen Staat, in: Ders./Patrick von zur Mühlen (Hrsg.), Widerstand und Verweigerung in Deutschland 1933-1945, Berlin/Bonn 1984, S. 17. Dazu Niethammer, Arbeiterinitiative (Anm. 11), passim. Siehe auch allgemein Everhard Holtmann, Politik und Nichtpolitik. Lokale Erscheinungsformen politischer Kultur im frühen Nachkriegsdeutschland, Opladen 1987.

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Verbindungen wieder aufnehmen, heute sind sie vereint, um den Nazismus auszurotten und ihre Mitbürger zu Demokraten zu erziehen.«"* In seinen Augen legten die spontanen Initiativen Zeugnis ab von einem »anderen Deutschland«, das es keineswegs nur bei gesellschaftlichen Eliten gegeben habe. Die Antifas waren für ihn Sammelbecken lokaler Hitler-Gegner und der Beweis dafür, daß die Deutschen nicht in ihrer Gesamtheit ein skrupelloses, dumpfes und unterwürfiges Volk von glühenden Nationalsozialisten gewesen seien. Auch bei »gewöhnlichen« Männern und Frauen habe ein »besseres Deutschland« existiert. Diese Tatsache, so Laffon, könne man jetzt doch nicht leugnen, sondern müsse sich im Gegenteil dieses Erneuerungspotential für den Aufbau einer Demokratie in Deutschland zunutze machen. Die Antifaschistischen Ausschüsse bedeuteten für Laffon und seine Mitarbeiter willkommene, ja unerläßliche Übergangs- und Erziehungsorganisationen der Deutschen für Deutsche, und sie sollten deshalb offiziell gefördert werden." Gegenspieler des Generalverwalters echauffierten sich hingegen über deren »Linkslastigkeit«, und sie wandten sich wortgewaltig gegen Laffons Demokratisierungspolitik.'® Ihnen wurde aber bald der Wind aus den Segeln genonmien, weil sich die Ausschüsse zu »bürgerlichen« Gruppen hin öffneten. In Baden konnten sich die Antifaschistischen Ausschüsse am deutlichsten ausprägen und bestanden, weil sie nicht von der Besatzungsmacht behindert, sondern in ihrer Arbeit ermuntert wurden, über ein dreiviertel Jahr lang, bevor die Parteien nach ihrer Lizenzierung das politische Spektrum auffächerten und die überparteilichen Ausschüsse ablösten. Die Ziele der Antifaschistischen Ausschüsse waren allerorten ähnlich: Sie verknüpften Wiederaufbaumaßnahmen mit politischer Säuberung und Wahrung und Verteidigung sozialer Interessen der Arbeiterbewegung. Im Kreis Rastatt konnte die Militärregierung auf eine besonders rege Tätigkeit der Antifas verweisen, was nicht zuletzt darauf zurückzuführen war, daß hier infolge besatzungspolitischen Personalmangels eine Art Machtvakuum entstanden war. In den großen Städten Rastatt und Gaggenau zählte man 600 beziehungsweise 400 aktive Mitglieder, in Gernsbach 150, in Iffezheim 120, je 50 in Kuppenheim und Durmersheim, 40 in Hoerden und Bietigheim und noch 30 in Wintersdorf." Nachdem in den Monaten Juli und August 1945 zahlreiche Versammlungen, teils auch ohne Erlaubnis der Militärbehörden, stattgefunden hatten, konnte der französische Kreisdelegierte die Stoßrichtung der Bewegung genauer skizzieren. Er faßte sie in zehn Punkten stichwortartig zusammen: 1. »Kontrolle der Faschisten«, 2. »Kampf gegen den preußischen Militarismus«, 3. Heranziehung der Nazis zu Aufräumarbeiten, 4. Hilfe für die Besatzungsmacht '"Uffon an Koenig, 1.12.1945 (AdO, Cab. Laffon C. 3). " Vgl. etwa folgende Schreiben von Emile Laffon: Direktiven an die Ländergouverneure, 22.8.1945, Schreiben vom 20.8.1945 »Principes des notre action en Allemagne occupée« und vom 25.10.1945 »Instructions faisant suite au voyage du chef du Gouvernement provisoire de la République« (AdO, Cab. Laffon C. 3). " Etwa St. Hardouin an Coulet, 24.1.1946 (AdO, CCFA Cons. Pol. 198 d). " Kreisdelegierter Moutenet an Laffon, 6.9.1945 (AdO, Bade 2510). Siehe dazu allgemein auch Karl-Friedrich Müller, Das Jahr 1945 in Südbaden, Frankfurt/M. usw. 1987.

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bei der Entnazifizierung, 5. Kontrolle der Verwaltung, 6. Wiedergutmachung für Opfer des Nationalsozialismus, 7. Aufklärung der Bevölkerung über die Nazi-Verbrechen, 8. Erklärung der jetzigen politischen Lage, 9. Wiederherstellung von Arbeiterrechten und Zusammenarbeit mit den entstehenden Gewerkschaften, 10. Zusammenarbeit mit der Militärregierung.'® Karl Geiges, Jahrgang 1903, der bis 1935 als Optiker bei den Leitz Werken in Rastatt gearbeitet hatte, Mitglied der KPD und im »Dritten Reich« fünf Jahre im KZ inhaftiert gewesen war, wurde nun kommissarischer Bürgermeister und leitete die Rastatter Antifa federführend, allerdings in enger Absprache mit Georg Gretle, ehemals SPD, und Emil Hochreiter, ehemals Zentrum. Von jeder dieser drei Weimarer Parteien gehörten fünf Personen dem gemeinsamen Vorstand an." Die Antifa lieferte der Besatzungsmacht Vorschläge zur Besetzung von Verwaltungsposten; ihrer eigentliche Aufgabe sah sie jedoch im konkreten »Anpacken«.^ So wurden »Strafarbeiten« für exponierte ehemalige Nationalsozialisten organisiert. Aber die Mitglieder der Antifa legten sich auch selbst ins Zeug, weil sie sich von einer Mitschuld an der Vergangenheit nicht freisprechen wollten. Im Sommer 1945 wurden sämtliche Aktivisten mit folgendem Brief »Betr. Aufräumarbeiten« angeschrieben: »Auf eine Anfrage des gegenwärtig mit der Führung der Geschäfte des komm. Bürgermeisters beauftragten Herrn Geiges, ob die männlichen Mitglieder der Antifa bereit sind, an den Aufräumungsarbeiten sich zu beteiligen, hat ein Teil der Vorstandschaft sein grundsätzliches Einverständnis gegeben. Zwei Erwägungen haben uns dazu veranlaßt: 1. wollen wir beweisen, daß wir bereit sind, praktisch an dem Wiederaufbau unseres Vaterlandes, im engeren Sinne unserer Heimatstadt Rastatt mitzuarbeiten. Neben den vielen unsichtbaren Arbeiten, die tagtäglich von uns geleistet werden, ist ein Arbeiten mit Pickel und Schaufel die bestsichtbare Demonstration unserer Bereitwilligkeit zum Aufbau unserer zerstörten Heimat. 2. wollen wir unter den heutigen Verhältaissen unsere Kollektivschuld nicht verschweigen. Mag der eine oder andere sich auch vollständig frei von Schuld fühlen, als Gesamtheit sind wir alle mitschuldig, als Gesamtheit müssen wir unseren Beitrag zur Wiedergutmachung leisten. Ich frage Dich, Kamerad, bist Du bereit am (...) Dich an den Aufräumungsarbeiten zu beteiligen? Wir fragen auch deshalb an, weil wir nicht wissen können, wer von Euch krank ist, und um in organisatorischer Hinsicht die notwendigen Schritte unternehmen zu können. Innerhalb unserer Bewegung gibt es keinen Zwang, nur Disziplin. Ich erwarte von Dir, Kamerad, Deine sofortige Stellungnahme.«^' Die Rastatter Antifa stimmte sich eng mit gewerkschaftlichen Initiativen ab. Ihnen kam in dieser Gegend besondere Bedeutung zu, weil sie durch die Niederiassung von Daimler-Benz die höchste industrielle Dichte Badens aufwies. " Ebda. " Vgl. Schreiben der Antifa an das Gouvernement Militaire Rastatt (Lieutenant Schaeffer), 22.10.1945 (StA Rastatt, A 4052). Aufschluß zum Wirken der Antifa in Rastatt geben die Bestände im dortigen Stadtarchiv, besonders A 4051 und A 4052. (Dezember) 1945 (StA Rastatt, A 4052).

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So war es bereits am 5. Mai 1945 im Ratiiaussaal zu einer Zusammenkunft ehemaliger Gewerkschaftsmitglieder gekommen, bei der der »Allgemeine freie Gewerkschaftsbund Rastatt und Umgebung « gegründet worden war. Die Gründungsmitglieder beriefen sich ausdrücklich auf die im Militärfunk verbreitete Nachricht, daß am 18. März in Aachen die erste freie Gewerkschaft in Deutschland genehmigt worden war, und sie stellten sich auf den Boden der dort verabschiedeten »Dreizehn Punkte von Aachen«. Außerdem berief man sich auf Äußerungen von General Eisenhower, wonach es den deutschen Arbeitern, sobald es die Umstände erlaubten, gestattet sei, sich zu demokratischen Gewerkschaften zusammenzuschließen." Solche Aktionsausschüsse, die aus den Betrieben heraus oder auf Initiative ehemaliger Gewerkschafter entstanden, zeigten sich an zahlreichen Industrieorten Deutschlands." Da Arbeitsplätze erhalten werden sollten, zielten sie namentlich darauf, Rüstungsbetriebe auf zivile Fabrikationen auszurichten. In diesen frühen Initiativen liegt der Ursprung des »Wiederaufbaupaktes«zwischen Betriebsräten und Unternehmensleitungen, der zwar eine demokratisch-sozialistische Umgestaltung der Whtschaft nach 1945 hemmte, aber eine reibungslose und rasche Sanierung der Betriebe erst ermöglichte. In den kleinen Städten im Bodenseegebiet, etwa Wollmatingen, Gottmadingen oder dem größeren Radolfzell,^' war die Antifa ebenso aktiv wie in der späteren Landeshauptstadt Freiburg. Dort trat die »Antifaschistische Vereinigung für ein freiheitliches Deutschland« auf. Sie hatte ihre Wurzeln in der »Sozialistischen Aufbaugruppe«, die am Übergang von der Diktatur zur Demokratie gestanden hatte und die nun durch ehemalige Zentrumsangehörige erweitern worden war. Im August trat sie mit einem großen Aufruf an die Öffentlichkeit. Er hatte zum Ziel, die Freiburger jenseits aller verschiedenen politischen Sympathien zusammenzuschweißen. Denn »angesichts der Ruinen und lernend aus den Fehlem der Vergangenheit« sei heute niemand imstande, das Chaos alleine zu meistern und die Grundlagen für eine demokratische Zukunft zu legen. Die Aufgaben waren gewaltig, hatte Deutschland doch die »größte Katastrophe« seiner Geschichte hinter sich. Hinterlassen hatte der Nationalsozialismus nicht nur einen »wirtschaftliche(n) Trümmerhaufen«, sondern unerhörte »seelische und materielle Leiden« und verheerende »geistige Verwirrungen in großen Kreisen des deutschen Volkes und insbesondere der Jugend«. Nur mit vereinten Kräften könne man sich aus dem Morast ziehen und ein friedliches und freiheitliches, demokratisches Deutschland aufbauen, das mit allen Völkem in Freundschaft lebe. Als Startpunkt für diese Herkulesauf-

" Ebda. Zur Aachener Gewerkschaftsgründung vgl. Alain Lattard, Gewerkschaften und Arbeitgeber in Rheinland-Pfalz unter französischer Besatzung 1945-1949, Mainz 1988, S. 79. " Vgl. Niethammer, Arbeiterinitiative (Anm. 11), S. 281ff. " Michael Fichter, Aufbau und Neuordnung: Betriebsräte zwischen Klassensolidarität und Betriebsloyalität, in: Martin Broszat/Klaus-Dietmar Henke/Hans Woller (Hrsg.), Von Stalingrad zur Währungsreform. Zur Sozialgeschichte des Umbruchs in Deutschland, München 1988, S. 549. " Hier gibt es jeweils gute Überlieferungen in den Stadtarchiven.

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gäbe hatte sich die Vereinigung auf acht Grandsätze geeinigt, für die sie nun um Mitarbeit warb: Neben weltumspannenden Freundschaftsaufrafen, neben der »Ausmerzung des nazistisch-militaristischen Geistes«, der Rehabilitierang politisch Verfolgter und der Erziehung und Bildung der Jugend nannte der Aufruf ganz konkrete Dinge wie: Gewerkschaftsfreiheit, demokratische Wirtschaftsordnung, Mitbestimmung und umfassende Sozialpolitik." Doch zunächst standen Alltagsnöte zur Lösung an: Nahrangsmittelbeschaffung, Schuttbeseitigung und Instandsetzung von Wohnraum. Daneben galt von Beginn an die Sorge einer effizienten politischen Säuberang - und die örtliche Militärregierang schätzte in dieser Hinsicht die Zuarbeit der Antifa als »überaus nützlich«" ein. Aber auch in dieser Zeit der Aufbrachstimmung, in der so viele Menschen selbst Hand anlegten und sich insgesamt das Verhältnis zur Besatzungsmacht deutlich verbesserte, hatte die Bevölkerang nach wie vor auch die Härten französischer Besatzungspolitik zu ertragen, die ein um das andere Mal böses Blut erzeugten. In erster Linie galt das für die ausufernden Beschlagnahmungen. Alle Haushalte in der gesamten französischen Zone, also nicht nur die der ehemaligen Nationalsozialisten, wurden verpflichtet, Kleidungsstücke abzugeben. Davon nahm man später lediglich »Fliegergeschädigte« aus. Über das Beschlagnahmte verfügte allein die Besatzungsmacht, die damit vor allem entlassene französische, polnische und rassische Kriegsgefangene sowie ehemalige KZ-Insassen ausstattete.^® Aber für die Deutschen, die abgeben mußten, zählte nicht das Wofür. In der hochkochenden Auseinandersetzung bemühten sich Mitglieder der Antifa, Streit zu schlichten, Härten zu mildem: »Die Anordnung über die Abgabe von Kleidern, Wäsche usw. hat unter der arbeitenden und antinazistischen Bevölkerang Freiburgs außergewöhnliche Unrahe verursacht«, schrieb Franz Geiler im Auftrag der Antifa an den örtlichen Militärgouvemeur. Empört waren die Menschen vor allem deshalb, weil unterschiedslos jeder herangezogen wurde: »Dieser Teil der Bevölkerang, der unter dem nazistischen System gedrückt wurde und gelitten hat, findet es als eine außerordentliche Härte, daß eine solche Abgabe nicht nach politischen und sozialen Gesichtspunkten gestaltet wurde. Wir sind uns darüber nie im Unklaren gewesen, daß die furchtbare Katastrophe, verschuldet durch die Nazis und ihren Anhang, in den verschiedensten Bevölkerangsschichten, dem deutschen Volke schwere Opfer auferlegen wird. Aber wir sind der wohl nicht anfechtbaren Meinung, daß materielle Opfer zunächst diejenigen Kreise des deutschen Volkes zu bringen haben, die für die in den Abgrand führende Politik der Nazis verantwortlich sind. Das sind die Parteimitglieder und alle, die als Fanatiker der " Der Aufruf, der zunächst vom Gouvernement Militaire genehmigt werden mußte (vgl. AdO, Bade 2510), ist abgedruckt in den Freiburger Nachrichten, 7.9.1945. " Zitiert nach Köhler, Freiburg (Anm. 6), S. 49. Zu rekonstruieren ist dies noch aus einem Rechtsstreit aus den 50er Jahren, als ein Bürger Freiburgs Schadensersatzansprüche gegenüber der Stadt anmeldete. Vgl. Freiburg 5. Mai 1955 »Ablieferung von Bekleidungsstücken im Jahre 1945« (StA Freiburg, С 5/37a). "Schreiben vom 30.6.1945 (StA Freiburg, С 5/30).

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verderblichen und verbrecherischen Dogmen des Nationalsozialismus bekannt sind. Im Vordergrunde der Verantwortlichkeit stehen die besitzenden intellektuellen Kreise.« Die Auffassung einer Kollektivschuld aller Deutschen lehnte Geiler kategorisch ab. Er zeichnete nicht nur ein dunkles Bild der zurückliegenden Jahre, sondern entwarf vor diesem Hintergrund eine Art Volksopposition, die aber aufgrund der angeblichen Allmacht und Allwissenheit der Gestapo'" zum Scheitern verurteilt war: »Viele Millionen deutscher Bürger aus den arbeitenden Schichten waren vor Beginn der Machtergreifung scharfe und konsequente Gegner des Nationalsozialismus und sind es auch bis zum Zusammenbruch des fluchwürdigen Systems geblieben. Die Tatsache, daß die schrecklichen Greueltaten in den Konzentrationslagern nicht verhindert werden konnten, berechtigt nicht zu einer Anklage gegen diesen Teil der deutschen Bevölkerung. Nur in ganz geringem Maße konnte während der nazistischen Gewaltherrschaft die Öffentlichkeit von den Folter- und Mordmethoden in den Konzentrationslagern Kenntnis erhalten. Unter Androhung des Todes mußten alle, die während der 12 Jahre ein solches Lager verließen, schwören, daß sie schweigen werden. Das Netz der Gestapo-Spitzel war in ganz Deutschland so dicht, daß eine öffentliche Meinung gegen das verbrecherische System schlechthin unmöglich war. Nur wer unter dieser Zwangsherrschaft, die in der Geschichte kein Beispiel hat, als Antifaschist gelebt und gelitten hat, kann über die verantwortungsvolle Frage: >Wer trägt die Schuld?< ein objektives Urteil fällen. Diese Millionen deutscher Bürger, die keinen Augenblick darüber im Unklaren waren, daß der Nazismus zusanimenbrechen muß und wird, die den Zeitpunkt mit steigender Sehnsucht herbeiwünschten, ein neues Deutschland des Rechts, der Gerechtigkeit und Wahrheit aufbauen zu können, verdienen, glauben wir, die Anerkennung und Unterstützung der alliierten Militärregierung. Deshalb sollten, wenn immer möglich, Maßnahmen unterbleiben, die den guten Willen lahmen und die so außerordentlich schwere geistige und materielle Aufbauarbeit hemmen und gefährden.« Bedrohliches Chaos könne, so schloß Geiler diesen für die Selbstwahmehmung im »Dritten Reich« so bezeichnenden Brief, nur verhütet werden, wenn die Militärregierung eines beherzige: den »aufbauwilligen Volkskräften in großzügiger Weise Verständnis und Unterstützung« entgegenzubringen." Dazu war ein großer Teil der Militärregierung auch tatsächlich bereit. Was jedoch auch an anderen Orten immer wieder überrascht: Die deutsche Bevölkerung hielt solche Aktionen lediglich für ausgefeite Schikanen. In ihren Augen waren das übertriebene Strafmaßnahmen der »Besatzer«, und viele Deutsche führten sich ganz offen so auf, als müsse man sich das nicht bieten lassen. Auf eine derart »verkehrte Welt« trifft man auch in Konstanz. ^ Der Mythos von der Allmacht der Gestapo ist inzwischen in der Forschung weitgehend widerlegt worden. Natürlich stellten sich jedoch für die Zeitgenossen, die einen jeweils nur begrenzten Blick haben konnten, die Dinge anders dar, als dies die Forschung in einer Gesamtschau heute zu beschreiben vermag. Vgl. Robert Gellately, Die Gestapo und die deutsche Gesellschaft. Die Durchsetzung der Rassenpolitik 1933- 1945, Paderborn u.a. 1993 sowie Klaus-Michael Mallmann/Gerhard Paul, Herrschaft und Alltag. Ein Industrierevier im Dritten Reich, Bonn 1991, S. 164ff. Schreiben vom 30.6.1945 (StA Freiburg, С 5/30).

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Der »Widerstandsblock« in Konstanz, der aus informellen Kontakten noch zu Kriegszeiten hervorgegangen war und in dem Sozialdemokraten, Kommunisten, katholische und liberale Kreise, insgesamt siebzig Personen, unter dem Vorsitz des Liberalen Dr. Bruno Leiner mitarbeiteten, avancierte mit der Besetzung der Stadt zur »erste(n) Vertretung der Bevölkerung« und zum bevorzugten Ansprechparmer der Besatzungsmacht." Um sich nicht auf langwierige Rangeleien mit der noch existierenden Verwaltung einlassen zu müssen, beeilte sich der Widerstandsblock, einen eigenen administrativen Apparat zu errichten. Er schuf ein Requisitionsamt, ein Amt für Wiedergutmachung, eines für Geißel- und Gefangenenbefreiung und Werwolfbekämpfung sowie eines zur »Bekämpfung von Nazielementen«. Selbst der konmunistische Oberbürgermeister Vinzenz Kerle, mit dem sich der Widerstandsblock immer häufiger und heftiger über kommunalpolitische Angelegenheiten stritt, mußte einräumen, daß die Militärregierung auf das Urteil des Blocks »wesentlichen Wert«" legte. Die Kehrseite dieser Wertschätzung durch die Franzosen gewann aber zunehmend an Bedeutung: Viele Deutsche sahen in ihm den Erfüllungsgehilfen der Franzosen, was seinem Ruf nicht eben diente. Bruno Leiner drückte dies noch sehr umständlich und vorsichtig aus, als er auf die vehemente Kritik im Zuge von Requirierungen einging: »Durch den Einmarsch der französischen Armee wurden Forderungen an die Bevölkerung gestellt, die ein nicht kleines Ausmaß hatten. Wenn zur Erfüllung dieser auch grundsätzlich die ganze Stadt wohl verpflichtet war, so war es doch ein Gebot der Gerechtigkeit, daß in erster Linie die Lasten denen aufgebürdet wurden, die in den 12 Jahren Hitlerscher Herrschaft ideell oder materiell, direkt oder indirekt dazu beigetragen hatten, Deutschland diesem totalen Ruin zuzuführen. Es galt daher, die Parteigenossen auf den Grad ihrer Belastung hin zu überprüfen und die Requisitionen nach dem oben angedeuteten Gesichtspunkt zu lenken.«'" Anscheinend ist diese Lenkung dem Widerstandsblock aber nur zum Teil geglückt. Angesichts des Ausmaßes an Protest, mit dem der Block überschüttet wurde, vertrat Leiner die Ansicht, daß sich viele Menschen über die wahre Lage nach dem Untergang des »Dritten Reiches« nicht voll im klaren seien, daß Solidarität, Hilfsbereitschaft, Rücksichtnahme, ganz zu schweigen von Schuldeingeständnis, für sie Fremdworte blieben: »Man hat den Eindruck, daß die Konstanzer, die noch nicht das Elend der Ausgebombten kennenlemten, kein Verständnis für die Erfordernisse der Stunde, in der wir uns befinden, haben. Eine bittere Erkenntnis, namentlich für den Widerstandsblock, der durch seine lenkende Tätigkeit viele Härten milderte. Deswegen wäre es besser, wenn die Bevölkerung weniger Kritik, die absolut unberechtigt ist, üben und mehr sich dafür einsetzen würde, daß mit Hilfe aller die Notlage gemeistert werden kann.«'' Das waren " B r u n o Leiner im Südkurier, 12.9.1945: »Der Widerstandsblock«. Gut überliefert ist dessen Tätigkeit im StA Konstanz, besonders Abt. S Π, Fase. 7954. " So in der Stadtratsitzung vom 1.6.1945 (StA Konstanz, S II Fase. 13625). Südkurier, 12.9.1945. " Ebda.

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harsche Wort, die Leiner hier seinen Mitbürgern ins Stammbuch schrieb. So hoch der Mobilisierungsgrad der Antifas auch war - gemessen an der Gesamtbevölkerung, die weiterhin abseits stand, lastete der Neuanfang auf den Schultern von wenigen. In allen Bereichen bemühten sich die Träger der Antifas, den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und den bekannten aktiven Nationalsozialisten die größten Lasten aufzubürden. Bei einer Zusammenkunft von neun AntinaziKomitees von der Höri, aus Konstanz, Singen, Stockach, Meersburg, Radolfzell, Dingeldorf, Überlingen und Salemertal Anfang Oktober unterbreitete man dem Landeskommissär für Inneres, Marcel Nordmann, einen ungewöhnlichen Vorschlag, der letztlich am Widerstand der Franzosen scheiterte: »Die notwendige Säuberung der Amter und gewerblichen Betriebe von Nazis wird in gewisser Weise gehemmt durch die an sich gerechtfertigte Besorgnis der französischen Militärverwaltung, daß die hierdurch außer Stellung kommenden Personen als Arbeitslose der öffentlichen Fürsorge zur Last fallen. Diese Besorgnis würde behoben werden, wenn diese Personen auf Grund der Bestimmungen über Reparationsleistungen durch Arbeit in den früher besetzten Gebieten zu solcher Arbeit herangezogen würden. Es wäre hierdurch zugleich die Möglichkeit gegeben, diese Leute auszutauschen gegen Kriegsgefangene, die politisch nicht belastet sind und die zur Zeit zwecks Arbeitsleistung noch in dem ehemals besetzten Gebiet, insbesondere Frankreich, zurückbehalten werden. Eine solche Regelung würde von der gesamten Bevölkerung des Seekreises begrüßt werden als ein Akt ausgleichender Gerechtigkeit.«'® Daß sich die französische Militärregierung mit solchen Eingaben überhaupt beschäftigte, daß sie den Rat und die Hilfe der Antifas vor Ort annahm und nicht zurückwies, war keineswegs selbstverständlich. Durch die Antifas entstand zum ersten Mal nach der NS-Diktatur wieder eine demokratische Öffentlichkeit, in der auch unbequeme Fragen aufgeworfen wurden. Dieses, von Emile Laffon und seinen Dienststellen favorisierte demokratische Neubeginn-Konzept stand in völligem Kontrast zu Überlegungen, die ebenfalls unter Franzosen diskutiert wurden und die zunächst - in Anbetracht der Niederlage NaziDeutschlands und des auch moralischen Bankrotts der Deutschen - gar nicht so abwegig waren: Warum die doch so lemunfähigen Deutschen für eine Demokratie zu stimulieren suchen? Warum nicht einfach den Volkscharakter, den die Deutschen zur Genüge unter Beweis gestellt hatten, ausnutzen, warum mit anderen Worten nicht auf schlichten Befehl und Gehorsam rekurrieren, also Verwaltungen einsetzen, die lediglich französische Anweisungen exekutierten und sonst nichts?" Erst vor dem Hintergrund solcher Gedanken wird der positive, in die Zukunft gerichtete Ansatz der Laffonschen Lösung klar. In einem Demokratiemodell, das von unten nach oben wachsen sollte, kam den Antifas eine Schlüsselrolle Dr. Leiner an Dr. Nordmann, 7.10.1945 (STAF. LK Konstanz 1988). " V g l . Projet de plan triennal pour l'administration de la ZFO, 10,9.1945 (AdO, Bonn CCArchives Pol. В 2).

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zu, weil sie die erste Stufe darstellten. Sie bildeten die Aufklärungs- und Erziehungsorganisationen im Vorfeld politischer Parteien. Hier konnten die Deutschen, die immerhin zwölf Jahre »entwöhnt« waren - sofern sie überhaupt ein Herz für die Republik gehabt hatten - , wieder Demokratie einüben. Die Bevorzugung von Basisinitiativen zielte darauf, möglichst viele Menschen zu erreichen und sie in konkrete Arbeit einzubeziehen. Die Geschäfte wollte man nicht wieder nur denjenigen überlassen, die früher von den Parteien und Verbänden bestellt worden waren und sich 1945 in mehr oder minder gleicher Weise und vielleicht abgehoben vom »Normalbürger« wieder zur Verfügung stellten. Die Antifas mobilisierten zum Teil tatsächlich größere Bevölkerungsteile, und sie waren deshalb nicht lediglich »periphere Randphänomene«,weder in dem, was die Militärregierung mit ihrem Wirken verband, noch in dem, was sie selbst wollten und bewirkten: Sie waren zuerst ein starkes Bindeglied zwischen dem Arbeiterwiderstand von unten und dem demokratischen Neubeginn, der anfangs ebenfalls fast ausschließlich unten, auf lokaler Ebene, sich ereignete. Sie bewahrten demokratische Traditionen der Arbeiterbewegung, verteidigten soziale Interessen, waren erste Ansprechpartner der Besatzungsmacht, blieben wachsam gegenüber stets möglichen Werwolfaktivitäten, kümmerten sich vor Ort um erste politische Säuberungen, betrieben antinazistische Aufklärung, überwanden die Lähmungskrise der deutschen Gesellschaft zwischen dem Zerfall des NS-Regimes und der Errichtung einer effizienten Besatzungsverwaltung und hielten ganz allgemein öffentliches Leben in Gang. Mit einem Wort: Sie lösten das Land aus der Krise und setzten die positiven Kräfte des Übergangs in Bewegung, woraus ein neues Gemeinwesen entstehen sollte. So erfolgreich viele Aufbaugruppen auch waren, zum Verhängnis wurde ihnen, daß die meisten Aktivitäten durch besatzungspolitische Härten überlagert wurden. Die prekären Zeitumstände - allen voran und immer stärker die katastrophale Emährungslage - forderten in doppelter Richtung ihren Tribut. Zunächst brachen darüber innerhalb der Antifa-Gruppen die Streitigkeiten auf, die - als Ende 1945 klar wurde, daß eine Parteienzulassung vor der Tür stand auch parteipolitische Färbung annahmen.'' Wichtiger und in der Folge verheerend aber war eine Tendenz, die immer schon vorhanden war, die sich aber jetzt, Ende 1945, verstärkte und seit Anfang 1946 Prägekraft für die nachfolgende Besatzungszeit erhielt: Es war eine Art Entkoppelung zwischen den politisch-gesellschaftlichen Eliten und der Bevölkerung. Auf der einen Seite gab es die demokratischen Spielräume für die Deutschen, die aber nur von einem kleinen Teil politisch Aktiver genutzt und fortentwickelt wurden. Auf der anderen Seite gab es die wachsenden Alltagssorgen, die beim größten Teil der Bevölkerung einen breiten Strom der Unzufriedenheit erzeugten. Diese Unzu" S o Hans-Peter Schwarz in dem 1980 verfaßten einleitenden Essay zur Neuauflage seines Buches: Vom Reich zur Bundesrepublik. Deutschland im Widerstreit der außenpolitischen Konzeptionen in den Jahren der Besatzungsherrschaft 1945-1949, Berlin 1980, S. LXIV. Ganz deutlich wird dies In den beiden großen Antifagruppen in Konstanz und Freiburg. Vgl. die Bestände der Stadtarchive; dort sind die Krisen gut dokumentiert.

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friedenheit bestimmte scMießlich ihr Bild von der Besatzungszeit und ihr Verhältnis zu den Franzosen auf lange Zeit hin. Die Dichotomie von Alltagsnot und Demokratisierungspolitik, die in der dritten und längsten Phase der Besatzungszeit seit Beginn des Jahres 1946 aufkam, wurde zum Strukturmerkmal der »Franzosenzeit«. Sie liefert den Schlüssel zur Erklärung vieler steckengebliebener oder vergeblicher Reformansätze. Solche Ansätze konnten allein schon deshalb nicht mehrheitsfähig werden, weil die Mehrheit der Menschen mit ganz anderen Problemen, nämlich Problemen des Überlebens befaßt war, die alle Energien banden und für eine abstrakte, eher wirklichkeitsferne Demokratisierungspolitik keinen Elan mehr übrig ließen. Hierin liegt im übrigen auch die Erklärung dafür, daß die Menschen bald der Parteien, die 1945/46 wiedererstanden, überdrüssig wurden. Denn bereits nach einer kurzen Zeit zeichnete sich eine Trennung ab von Sprache, Inhalten und Verhaltensweisen der Parteien, die mit zahkeichen Problemen einer neuzuschaffenden Demokratie befaßt waren, und den Empfindungen der Gesellschaft, die infolge sich einander ablösender Versorgungskrisen von einer Art Beschaffungsmentalität erfaßt wurde. Hatte beispielsweise für Freiburg noch Ende des Jahres 1945 der durchschnittliche Kaloriensatz zwischen 1000 und 1300 Kalorien gelegen, was an sich für das Leben schon viel zu wenig war, so brach seit Mitte März 1946 die Not erst richtig aus. Der Kaloriensatz sank zum Teil auf nur 800 Kalorien und die Hungerkrise konnte erst zu Beginn des Jahres 1948 überwunden werden. Südbaden war stets ein »Zuschußgebiet« gewesen und hatte seinen Bedarf an Agrarprodukten, vor allem Getreide, Kartoffeln, Staatgut und Fleisch, schon vor dem Krieg nicht aus dem eigenen Gebiet decken können. Die Folgen dieser Abhängigkeit waren in den letzten Kriegsmonaten schon zu spüren, als Kriegseinwirkungen und Transportschwierigkeiten die Zufuhr stark behindert hatten. Die Ausfälle der Fleischzufuhr hatte man durch Eingriffe in den regionalen Viehbestand auszugleichen versucht, was auf absehbare Zeit eine Zuspitzung der Emährungslage bedeuten mußte. Die französische Besetzung verstärkte dies noch, weil sich die Truppen aus der Besatzungszone selbst emährten und nicht etwa von Frankreich aus versorgt wurden. Im Mai 1945 lebten 1 Million, im Dezember noch 350 ООО Franzosen in der Besatzungszone. Außerdem unterbrach die französische Verwaltung überregionale Verbindungen und beschlagnahmte Transportmittel für ihre eigenen Zwecke.^ Die Emährungssituation, die permanente Gratwanderung am Rande der vollständigen Katastrophe, blieb für zwei Jahre beherrschendes Thema. »Der starke Besuch« von Kundgebungen zur Ernährungslage zeige, so heißt es in einem charakteristischen Bericht der Schutzpolizei von Konstanz, »daß die Bevölkerung dieser ernsten und brennenden Tagesfrage die wichtigste Bedeutung bei' Vgl. Thomas Held u.a., Hunger und Hamsterwesen. Die Emährungssituation Freiburgs 1945-1948, in: Arbeitskreis Regionalgeschichte Freiburg (Hrsg.), Alltagsnot und politischer Wiederaufbau. Zur Geschichte Freiburgs und Südbadens in den ersten Jahren nach dem 2. Weltkrieg, Freiburg 1986, S. 23-33. Siehe hierzu auch das Kapitel IV.

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mißt«. Sie sehe mit großer Sorge dem Winter entgegen, denn »die Emährungslage konnte trotz aller Versprechungen nicht verbessert werden«."' Der »Etat d'esprit de la population«, den die Militärregierung seismographisch Monat für Monat ermittelte,''^ hing im Grunde genommen von einer einzigen Variablen ab: von der materiellen Situation, genauer, von der Emährungslage. War die Versorgung halbwegs gesichert, stieg die Moral, gab es Engpässe und Ausfälle, sank sie rapide ab. Das allgemeine Meinungsklima dieser Zeit läßt sich am besten als gereizt beschreiben. Noch im November 1946 berichtete die Konstanzer Schutzpolizei unter der Rubrik »Verhalten der Besatzungsanghörigen« über eine Reihe von Ausschreitungen gegen deutsche Zivilisten: »In der Nacht zum 27.10.1946 gegen 23.15 Uhr wurde eine 20jährige Frauensperson von einem in einem Personenkraftwagen fahrenden Besatzungsangehörigen auf dem Nachhauseweg angehalten, in den Kraftwagen gezogen, und es wurde versucht, diese Person außerhalb des Stadtgebietes zu vergewaltigen. Am 27. 10.1946 gegen 18.45 Uhr wurde ein Polizeibeamter aus Konstanz (in Uniform) auf der Fahrt von Freudental nach Konstanz am Südausgang des Dorfes Kaltbrunn von einem Angehörigen der Besatzungsmacht vom Rad gestoßen. Der Soldat tastete sodann diesen Beamten am Körper und an den Handgelenken ab (...) Während dieses Vorfalles knieten zwei weitere Soldaten mit über den Kopf gezogenen Mänteln am Straßenrand (...) Am 5.11.1946 gegen 20.30 Uhr wurde ein Schuhmacher auf der Hindenburgstraße von zwei französischen Soldaten im Vorbeigehen in das Gesicht geschlagen, und es wurde dessen Kopfbedeckung mitgenommen. Am 6.11. gegen 23.45 Uhr wurde auf der Radolfzellerstraße des Vorortes Wollmatingen ein auf dem Nachhauseweg befindlicher Metzger, der von einer Notschlachtung kam, von drei Besatzungsangehörigen (in einem Auto) angehalten, durchsucht, und es wurde hierbei eine kleine Menge mitgeführter Fleischwaren (von der Notschlachtung) mitgenommen. Am 6.11.1946 gegen 13.10 Uhr wurden Straßenpassanten von Besatzungsangehörigen von einem Fenster der Klosterkaseme aus mit roter Tinte bespritzt...« Diese französischen Übergriffe waren nicht schlimmer als die der anderen Alliierten und schon gar nicht als die der deutschen Besatzer in Frankreich. Aber da die Franzosen nicht nur wie die anderen Westalliierten nach Deutschland gekommen waren, um Freiheit und Demokratie zu lehren, sondern diesen Anspruch mit dem missionarischen Eifer eines französischen »Zivilisationsexports« vertraten, hatte jeder der Vorfälle einen deutlich negativen »pädagogischen« Wert. Unmittelbar im Anschluß an die Schilderung dieser schikanösen Vorfälle beschreibt der Bericht das »Verhalten der Bevölkerung gegenüber der Besatzungsmacht« als »äußerst korrekt«. Der Kontrast zum Vorhergehenden konnte nicht größer sein, Opfer und Täter waren klar geschieden: »Die Bevölkerung hat das ehrliche Bestreben, in einem guten Einvemehmen mit den Besatzungs»Kommando der Schutzpolizei« an Capitaine Hild »Betreff Moral und Meinung der Bevölkerung«. 19.11.1946 (STAF, LK Konstanz 2348). Vgl. die Monatsberichte im AdO.

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angehörigen zu stehen.«"^ Aber, so muß man wohl im Geiste des Berichts hinzufügen, es gelang nicht. Die französischen Akten wiederum sind gefüllt mit dicken Berichten über die »nervöse Reizbarkeit«·" der Deutschen, die ihren Ursprung in der elementaren Notlage und dem angeblich anmaßenden Verhalten der Besatzungsmannschaften hatten. Aber auch zwischen den Städten über 25 ООО Einwohnern - also Baden-Baden, Konstanz und Freiburg - , denen in Ernährungsfragen Priorität eingeräumt wurde, und allen anderen brach Feindseligkeit aus. Außerdem kamen Pamphlete gegen die Franzosen in Umlauf."' Die Gerüchteküche brodelte, Phantasien schössen ins Kraut. Ein Geheimartikel des Potsdamer Abkommens, so eine der umlaufenden Mutmaßungen, sei in Kraft getreten, der vorsehe, das deutsche Volk dem Hungertod preiszugeben."* Klagen über das schlechte Verhalten der Soldaten gab es zuhauf. In Baden-Baden kursierte folgender Witz: »Warum findet man in Frankreich kein Hauspersonal mehr? Ganz einfach deshalb, weil alle zur Zeit in Baden-Baden sind, wo sie >feine Gesellschaft< spielen.«"' Die Stimmung konnte aber auch leicht in pure Feindschaft umschlagen: Heute noch, so hörte man Deutsche sagen, könnten die Franzosen machen, was sie wollten, könnten den Schwarzwald abholzen, könnten ihre Kinder in Schwarzwälder Ferienlager schicken, während deutsche Kinder verhungerten, man müsse sich alles gefallen lassen. Aber die Generation, die heute noch in der Wiege liege, werde das einmal den Franzosen heimzahlen."* Aus dem Nordteil der französischen Zone erhielten französische Journalisten einen Brief, der überschrieben war »Was das rheinische Volk denkt«. Was seine Drastik anbelangt, stellte er vielleicht nicht mehr als eine Einzelmeinung dar. Aber darüber hinaus griff er verschiedene antifranzösische Polemiken auf, die auch in anderen Quellen, wenngleich weniger komprimiert, ihre Entsprechungen haben. Das rheinische Volk denke, »daß es besser und menschlicher gewesen wäre, wenn der Krieg mit einem noch schrecklicheren Ende seinen endgültigen Abschluß gefunden hätte, anstatt in einem Schrecken ohne Ende seine Fortsetzung zu erfahren. Es denkt, daß die Macht, die es dem Nationalsozialismus über sich eingeräumt hatte, von den Franzosen durch brutale Gewalt ersetzt wurde. Es gewahrt, wie verunglückt Frankreichs Siegerrolle im Welttheater wirkt, denn es ist ein Land ohne Sieg. Es denkt, daß der Besiegte der wahre Sieger ist; denn wer wollte behaupten, daß derjenige Boxer der besiegte sei, der im Kampf mit zwanzig und mehr Gegnern endlich unterlegen ist? Es denkt, daß Frankreich mit den bisher angewandten Methoden den kleinen Grenzgraben stets und ständig vergrößert und vertieft hat. Es gedenkt mit Bewunderung der hohen Gönnerhaftigkeit Frankreichs, der wir die Ausgabe von 50 Gramm Fett " Ebda. Zitiert nach »L'état d'esprit de la population à Baden-Baden et dans le pays de Bade« (fin Mai 1948) (AdO, Cab. Laffon C. 7). « Vgl. ebda. Anthologie der deutschen Meinung (Anm. 5), S. 48. " L'état d'esprit (Anm. 45). ""Ebda.

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im letzen Vierteljahr zu danken haben. Es denkt, daß die Gründlichkeit der Franzosen nicht eher wieder der Schlamperei weicht, bis aus den letzten Wäscheschränken der rheinischen Bürger das letzte Laken requiriert ist. Es denkt, daß unsere ehemaligen Soldaten jetzt erst wissen, wie sie es in Frankreich hätten machen müssen. Es denkt, daß die Spitzenpersönlichkeiten der jetzigen deutschen Behörden bei uns nicht höher im Ansehen stehen, als jene Franzosen bei den Franzosen, die zur Zeit der deutschen Besetzung Frankreichs mit den deutschen Soldaten sympathisiert haben. Es denkt, daß man, um so zu denken, kein Nationalsozialist gewesen zu sein braucht. Mit freundlichem Gruß gedenke ich der kleinen >Grande Nation«Neue Deutschland< wird als Einheitsblock aller demokratischen Parteien, des Zentrums, der Demokraten, der Sozialdemokraten, der Kommunisten und der Parteilosen den Beweis erbringen, daß dieses in der Freiheit wahrer Demokratie entstehende Deutschland würdig sein wird, durch die Katastrophe des verlorenen Krieges und das Fegefeuer des Naziterrors geläutert, nach einer Zeit der Müller, Die KPD (Anm. 20), S. 404. Schmid, »Das Gebot der Stunde« (Anm. 20), S. 45. " Vgl. Wolfrum, Französische Besatzungspolitik (Anm. 17), S. 56. " Vgl. Lutz Niethammer u.a.. Arbeiterinitiative 1945, Wuppertal 1976, S. 679. " Vgl. Müller, Die KPD (Anm. 20), S. 150.

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Arbeit, des Opfers und der Bewährung, in die Gemeinschaft der Völker zurückzukehren.«^' Mochten die moralischen Aufgaben, die Erwin Eckert hier und an anderer Stelle mit predigendem und somit das Bedürfnis der Zeit treffenden Unterton beschrieb, einerseits für jedermann nachvollziehbar gewesen sein - sie reichten von allgemeiner politischer »Aktivierung« über Aufräumarbeiten, Flüchtlingsbetreuung, Wiedergutmachung bis hin zur Säuberung und Kontrolle von Wirtschaft und Verwaltung - so war andererseits nicht klar, ob nun eine breite Mitgliederorganisation intendiert war oder ein Parteienblock. Beides stand in Eckerts Ausführungen in einer vagen Mischung jeweils nebeneinander, ohne daß er die sich daraus ergebenden verschiedenen Arbeitsweisen und Aktionsmöglichkeiten angesprochen hätte. Die Militärregierung hatte dem »Neuen Deutschland« am 11. November unter der Annahme grünes Licht gegeben, es handle sich um eine Koordinierung der vielfältigen Antifa-Bewegungen.^' Seither war Erwin Eckert ohne Unterlaß und mit bemerkenswerter Energie in Südbaden und Südwürttemberg-Hohenzollem unterwegs, um Mitstreiter auch für eine parallel geplante Zeitschrift gleichen Namens zu gewinnen. Wie eine undatierte Mitarbeiterliste" zeigt, hatte er damit zunächst viel Erfolg, tauchten doch prominente Namen auf: Prälat Dr. Emst Föhr, der katholische Redakteur Färber, der Professor für Geschichte Gerhard Ritter, Dr. Robert Winzer aus Konstanz, Professor Karl Schmid und Professor Romano Guardini aus Tübingen, Reinhold Schneider aus Freiburg sowie einige kommunistische Parteifreunde Eckerts. Dem zentralen Präsidium der Bewegung sollte für Baden Dr. Wolfgang Hoffmann, später BCSV, Oberbürgermeister von Freiburg, und für Südwürttemberg Professor Karl (Carlo) Schmid, später SPD, Staatsratsvoritzender in Tübingen, angehören. Auch öffentlich gab es große Resonanz. Die erste Versammlung des »Neuen Deutschland« fand am 1. Dezember 1945 in Singen mit einer Beteiligung von 2000 Menschen statt. Am Tag darauf trafen sich am gleichen Ort rund 500 Mitarbeiter verschiedener Antifaschistischer Komitees aus dem Regierungsbezirk Konstanz. Vertreten waren: Meersburg, Stockach, die Höri, Immendingen, Villingen, Waldshut, Säckingen, Rielasingen und Gailingen, die alle »Lageberichte« abgaben. Es entstand so ein Stimmungsbild der Aktionen vor Ort, das Auskunft gibt über die Befindlichkeiten, über Antriebskräfte und Motivationen, das darüber hinaus die Vielfalt der Standpunkte aufleuchten läßt und auch die Probleme, mit denen viele in ihren Heimatorten zu kämpfen hatten.^' Der Vor" Vgl. Schmid, »Das Gebot der Stunde« (Anm. 20), S. 49f. Schmid konnte Teile des Nachlasses von Erwin Eckert in Marburg auswerten. Beim Zitat handelt es sich um einen Aufruf, den Eckert in Reutlingen vortrug. Siehe auch den Aufruf im Südkurier vom 7.12.1945. " Vgl. Wolfrum, Französische Besatzungspolitik (Anm. 17), S. 76. Von französischer Seite sind die Vorgänge dokumentiert in AdO, CCFA/Int. et Cultes P. 20 D. 26 und AdO, Cab. Laffon C. 3. " Nachlaß Erwin Eckert, Mappe 5. Ein sehr ausführliches Protokoll wurde von der Militärregierung angefertigt, aus dem die

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sitzende des Konstanzer Komitees, Bauer, leitete die Versammlung. Als erster ergriff Erwin Eckert das Wort, berichtete über die Ziele des »Neuen Deutschland« und über seine Unterredungen mit den Vertretem des Gouvernement Militaire. Es werde sich der Bewegung nicht entgegenstellen, versicherte er. Im Gegenteil: Monsieur Laffon wünsche selbst, daß alle »gutgesinnten Deutschen« der Bewegung beiträten. Niemand und nichts könne die anvisierten Ziele vereiteln; ein Bündnis zwischen Christen und Kommunisten sei möglich, und man werde nicht hinnehmen, daß von bestimmter Seite Mißtrauen gesät werde. Anschließend ging die Runde an die Sprecher der verschiedenen lokalen Gruppen, die sich unter das gemeinsame Dach des »Neuen Deutschland« begeben hatten. Der Vertreter Meersburgs, Bammel, konnte nur von einer kleinen Gruppe Antinazis berichten und beklagte, daß die Mehrzahl der »Reaktionäre« sich im christlichen Lager schare und daß der Bürgermeister der Gemeinde ein »getarnter Faschist« sei, der von 1937 bis 1943 Parteigenosse gewesen war. Der Stockacher Wehl koimte stolz auf 80 lokale Mitglieder verweisen und darauf, daß die Entnazifizierung der Betriebe angelaufen sei. Zwar würden »die Christlichen« wenig aktiv sein, aber sie hätten zumindest zugesagt, die Bewegimg zu unterstützen. Daim sprach Dr. Kroedel von der Höri: Alle 15 Tage finde eine Versammlung der 20 Mitglieder des Antinazi-Komitees statt. Die Zusammenarbeit mit den französischen Behörden in Sachen Entnazifizierung funktioniere gut, man diskutiere gemeinsam auch Vorschläge, aktive Nazis aus dem Ort wegzuschaffen. Von den herrschenden Kräften werde gepredigt, Ordnung sei das oberste Gebot, doch man müsse aufpassen, daß nicht zu schnell zu viel festgezurrt werde. Insbesondere gelte es, die Kultur und die Erziehung in eine neue demokratische Richtung zu lenken. Einer der prominentesten Teilnehmer der Versammlung war Bürgermeister Bernhard Dietrich aus Singen. Er wünschte sich in seinem Grußwort die Mitarbeit aller verschiedenen Parteien, die guten Willens sind. Allerdings gingen ihm einige Äußerungen seiner Vorredner gegen den Strich. Man dürfe nicht »christlich« in einem Atemzug mit »reaktionär« im Munde führen. Sicherlich gebe es in den Reihen der christlichen Gruppierungen Reaktionäre, aber unter Nicht-Christen seien sie noch viel zahlreicher vertreten. Er habe sich nicht gedrängt, in Singen Bürgermeister zu werden, sei vielmehr von allen politischen Gruppen darum gebeten worden, und betrachte, als Inhaber dieses Amtes, Ruhe und Ordnung für unabdingbar in der schweren Zeit. Er könne jedenfalls nur eindringlich vor einer »Politik der Straße«, und solche Tendenzen sehe er, warnen. Dem ebenfalls aus Singen kommenden Mayer blieb es vorbehalten, an die Opfer während der NS-Zeit zu erinnern. Allein aus Singen waren 62 Oppositionelle in Konzentrationslager gebracht worden - und 16 von ihnen hatte man ermordet. Er rief außerdem die Widerstandsaktionen in den letzten Kriegstagen ins Gedächtnis: Von denen, die sich heute im »Neuen Deutschland« engagierten, hätten damals viele Panzersperren beseitigt, was unter Tofolgenden Wiedergaben stammen (AdO, Bade 2103 bis). Außerdem findet sich ein Bericht über die verschiedenen Kundgebungen im Nachlaß Erwin Eckert, Mappe 5.

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desstrafe gestanden hatte, und so unter Einsatz ihres Lebens geholfen, den Krieg zu verkürzen. Die beiden folgenden Berichterstatter schilderten neue leidvolle Erlebnisse. Der Immendinger Schumacher erzählte, wie er im Juli 1945 aus Dachau mit dem festen Vorsatz zurückgekehrt sei, den »Schweinestall auszumisten«. Aber die erste Erfahrung, die er in Immendingen machen mußte, war, daß auf dem Amt, wo die Lebensmittelmarken ausgegeben wurden, die ihm bekannten alten Nazis gesessen hätten. Weil die Franzosen anfangs untätig blieben, habe er im Ort eine antifaschistische Bewegung gegründet, die aber zu Beginn nicht gerade auf Wohlwollen stieß. Zwischenzeitlich habe sich das geändert, und man bemühe sich, auch in den umliegenden Orten ähnliche Gruppen aufzubauen. Auch Gross aus Waldshut war im »Dritten Reich« mehrere Jahre KZ-Häftling und mußte bei seiner Rückkehr erieben, daß der Bürgermeister ein alter SAObersturmführer und der Landrat ebenfalls Parteigenosse war. Beide würden der lokalen Militärregierung, wo immer es gehe, Steine in den Weg legen und versuchen, die oppositionellen Kräfte zu unterdrücken. Als er. Gross, in der Stadt eine »antifaschistische Versammlung« abhalten wollte, hätten dies die beiden hintertrieben, indem sie der Militärregierung sagten, es handle sich um eine kommunistische Agitation, vor welcher die Einwohner große Angst hätten. Der Landrat habe sogar veranlassen wollen, daß man Gross verhafte, woraufhin der Oberkommandant sich entrüstet habe: Er könne nicht einen Menschen verhaften lassen, der gerade aus 1 Ijähriger KZ-Haft zurückgekehrt sei. Dies hätte ihm, so betonte Gross, gutgetan, aber im allgemeinen hätten KZ-Häftlinge keinerlei Hilfe erfahren. Nach kurzen Statements von Zehnder aus Villingen und Haas aus Rielasingen stellte Karl Bittel aus Uberlingen, späteres Gründungsmitglied der badischen Kommunistischen Partei, die rhetorische Frage: Sind die Kommunisten aufrichtig? Er antwortete sogleich mit »Ja«. Denn sie wollten die Wiederaufrichtung einer demokratischen Republik und eine ehrliche Zusammenarbeit mit allen demokratischen Kräften. Bittel glaubte außerdem, daß die deutsche Gesellschaft sich noch überhaupt nicht geändert habe. Beispielsweise würden die Juden in Gailingen heute noch genauso behandelt, wie früher. Daraufhin meldete sich der Bürgermeister von Gailingen, Ruh, zu Wort, der 1933 aus diesem Amt enüassen worden war. Es sei noch kein einziger Jude nach Gailingen zurückgekehrt; die, die im Ort lebten, seien polnische Juden, Zwangsarbeiter. An ihren Verhältaissen habe sich tatsächlich nichts geändert. Was in seinen Kräften stehe, habe er getan, habe Einrichtungsgegenstände, vor allem Betten, beschafft und für einigermaßen gute Unterbringung und Ernährung gesorgt. Er habe aber mit vielen, auch überörtlichen Problemen zu kämpfen gehabt. Im übrigen wollten die polnischen Juden nicht in ihre Heimat zurück, sie wollten nicht wieder ins Ghetto. Am Ende der Versammlung fand Gerhard Wohlrath aus Singen die abschließenden Worte: Wer sich über Schwierigkeiten mit den Franzosen beklage, müsse sich zuerst einmal vor Augen halten, was die Wehrmacht und die SS alles in Frankreich angestellt hatte. Jedenfalls sehe man doch mit der Zulassung des

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»Neuen Deutschland«, wie sehr die Franzosen um einen demokratischen Aufbau bemüht seien; und angesichts noch vieler aktiver Nazis müßten sich diejenigen, die im »Neuen Deutschland« mitmachten, ganz fest zusammenschließen. Nach diesem gelungenen Auftakt reiste Erwin Eckert am 4. Dezember nach Tübingen und am 6. nach Stuttgart, danach berichtete er der Baden-Badener Militärregierung über seine Erfolge. Am 13. Dezember sprach Erwin Eckert im Kreis Säckingen, am 15. und 16. in Meersburg, Konstanz und Uberlingen überall waren die Kundgebungen »überfüllt und von allen Kreisen der Bevölkerung besucht«.^' Als die potentiellen Mitstreiter des kommunistischen Pfarrers jedoch deutlich merkten, daß seine Absichten auf einen Parteienblock nach ostzonalem Vorbild gezielt hatten und weiterhin zielten, brach die Bewegung binnen weniger Tage vollständig zusammen. Eine Distanzierang folgte nach der anderen, und selbst die Freiburger Antifa, in der auch zahlreiche Kommunisten mitarbeiteten, verwarfen das »Neue Deutschland« als eine mehr oder minder nutzlose »Überorganisation« angesichts der örtlichen antifaschistischen Ausschüsse, der wiederzugelassenen Gewerkschaften und der bevorstehenden Parteienlizenzierung.'" Die Militärregierung zog sich ebenfalls aus dem Vorhaben zurück. Emile Laffon, der die Bewegung als Fortführung und Koordinierung lokaler Antifas im Vorfeld der Parteiengenehmigung verstanden hatte, als eine Vereinigung von Menschen, die den Mut zum Kampf gegen den Nationalsozialismus aufgebracht hatten, nicht aber als einen Parteienblock, mußte sich zahlreiche Vorwürfe und Anschuldigungen aus den eigenen Reihen gefallen lassen. Denn für General Koenigs Beraterstab war die Sache klar: Das »Neue Deutschland« bedeutete für sie eine kommunistisch dominierte, totalitär und zentralistisch ausgerichtete Organisation, kurz: eine Neuauflage von Nationalbolschewismus. Die Deutschlandexperten sahen in Eckerts Bestrebungen eine Organisation, die den Sowjets mittels der KP Möglichkeiten eröffnen sollte, in den Westzonen die Dinge zu beeinflussen und zu steuern." Am 27. Dezember wurde Erwin Eckert zur Militärverwaltung nach BadenBaden bestellt. Vor dem Hintergrund der anlaufenden Parteienlizenzierung erläuterte er den Franzosen sein Konzept eines »antifaschistischen Blocks, der alle Parteien, Gewerkschaften und sonstigen Vereine zusammenfaßt«, mußte jedoch erfahren, daß die Franzosen dies nicht akzeptierten. An den Freiburger Oberbürgermeister Hoffmann schrieb Eckert am 30. Dezember, er habe bei der " So der Bericht im Nachlaß Erwin Eckert, Mappe 5. " So der Sozialdemokrat Franz Geiler im Namen der Freiburger Antifaschistischen Arbeitsgemeinschaft an Erwin Eckert in einem Brief vom 13.12.1945 (StA Freiburg, С 5/620). Siehe auch die Distanzierung von Carl Diez, ehemaliger Zentrumsabgeordneter, im Südkurier vom 25.12.1945. " Vgl. den Briefwechsel zwischen Koenig und Laffon, aus dem sich die Ereignisse und auch die Diskussionen innerhalb der Militärregierung rekonstruieren lassen (AdO, Cab. Laffon C. 3). Insbesondere Koenigs Conseiller Politique, Tarbé de Saint-Hardouin, war von der Nationalbolschewismus-These unbedingt überzeugt. Vgl. seinen Brief an Coulet vom 24.1.1946 (Ado, CCFA Cons. Pol. C. 198 d).

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Baden-Badener Besprechung »einsehen müssen, daß es besser ist, wenn jetzt nach der Zulassung der Parteien die Bewegung als organisatorischer Zusammenschluß aller Antifaschisten aufhört zu existieren«.'^ Drei Tage später, am 2. Januar 1946, beantragten die Freiburger Kommunisten Jakob Treffeisen, Walter Krebs, Alfred Müller, Urban Keller und Erich Hoske die Zulassung einer Kommunistischen Partei für das Land Baden. Wegen fehlender Unterlagen mußte am 15. Januar der Antrag erneut gestellt werden. Dieses Mal unterschrieben sieben weitere Kommunisten: Max Faulhaber, Adolf Keller, Gerhard Wohlrath, Fritz Traub, Erwin Eckert, Karl Bittel sowie Hans Judas." Zuvor schon hatten sich überall in Südbaden kommunistische Orts- und Kreisgruppen gebildet und eine mehr oder weniger lose Parteiarbeit aufgenommen. So meldete die Kommunistische Partei für den Landkreis Lahr bereits detaillierte Aktivitäten und lieferte Angaben zur Mitgliederstärke: In Lahr und Dinglingen waren 110 Kommunisten in fünf Wohnblock-Gruppen zusammengefaßt, in Ettenheim, Sulz, Nonnenweier, Meisenheim, Kippenheim, Rust und Ottenheim existierten Ortsgruppen nüt zwei bis zehn Mitgliedern. In sieben Orten im Kreis war die KP mit je einem Mitglied im provisorischen Gemeinderat vertreten, in Lahr mit zwei.'" Mitte Mai 1946 schätzte die Militärregierung die Mitgliederzahl der KP Freiburg auf 350 bis 400, die meisten davon kamen aus der Arbeiterschaft. Etwa ein Drittel soll jünger als 30 Jahre gewesen sein.'^ Die Kommunisten hatten damit mehr Zulauf von der jungen Generation als die übrigen Parteien, doch klagten örtliche Parteivertreter über eine mangelnde Verankerung in Betrieben und Gewerkschaften. Nach KPAngaben zählte die Partei Mitte 1946 rund 5000 Mitglieder, die in 160 Ortsgruppen organisiert waren. In den offiziellen Listen der Militärregierung wur-

" Brief von Eckert an Hoffmann, 30.12.1945 (Nachlaß Erwin Eckert, Ordner »ungeordnet«), " Vgl. StA Freiburg, С 5/204-1. Jakob Treffeisen (1894-1962), gelernter Schlosser, trat 1920 in die KPD ein und war 1927-1933 Mitglied im Bürgerausschuß Freiburgs; er wurde mehrmals verhaftet und 1945 aus dem KZ Dachau befreit. Walter Krebs (1905-1980) war Elektriker und 1930 aus dem Ruhrgebiet nach Freiburg gekommen; auch er wurde mehrmals verhaftet und konnte 1945 aus einer Häftlingskolonne in der Tschechoslowakei fliehen. Urban Keller (1892-1969) war Tapezier- und Polstermeister und gehörte der KPD seit 1919 an. Fritz Tïaub (1906-1966) war nach 1945 vor allem als Betriebsrat in der Freiburger Großfirma Rhodiaseta aktiv. Karl Bittel (1892-1969) studierte in Freiburg, Heidelberg und Tübingen und promovierte über Eduard Pfeiffer und die Konsumgenossenschaft; seit 1919 in der KPD, ging er 1924 nach Moskau, wo er in der Gewerkschaftsabteilung des EKKI arbeitete; im KZ Ulm/Heuberg war er Zellennachbar von Kurt Schumacher; nach der Entlassung 1934 betrieb er am Bodensee einen Refoimladen, 1952 übersiedelte Bittel in die DDR und wurde später Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin. Hans Kaufmann hieß eigentlich Hans Judas; er wurde 1922 geboren und mußte 1938 seine Malerlehre abbrechen, weil er Jude war, und exilierte in die Schweiz. Max Faulhaber wurde 1904 geboren; er war Gärtner von Beruf, gehörte seit 1923 der KPD an; auch er wurde im »Dritten Reich« verhaftet, allerdings gelang ihm die Flucht nach Frankreich; er war Kriegsfreiwilliger in Nordafrika und kam 1945 in seine Geburtsstadt Mannheim zurück. Vgl. seine Biographie »Aufgegeben haben wir nie..« (Anm. 8), darin auch die biographischen Angaben zu den oben genannten Personen, S. 343ff. Vgl. Schmid, »Das Gebot der Stunde« (Anm. 20), S. 78. " Bericht vom 1.7.1946 (AdO, Bade 2153).

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den zu dieser Zeit allerdings erst 115 Ortsgruppen der KP aufgeführt, dagegen 286 für die BCSV, 98 für die SP und 20 für die DP. Bis zum Jahresende wuchs die Übermacht der christlichen Partei erdrückend an. In 86 Prozent aller südbadischen Städte und Gemeinden war sie vertreten und erreichte über 800 Ortsgruppen; bei den Sozialisten registrierte man 195 Ortsgruppen, die Kommunisten brachten es auf 188, die Demokraten immerhin auf 106.'' Die programmatischen Äußerungen der Kommunistischen Partei in Baden blieben, wie anderswo auch, moderat und ziemlich unbestimmt: »1. Gründliche und endgültige Ausrottung des Nationalsozialismus und des Militarismus, 2. Aufbau eines demokratischen Deutschland, 3. Wiederaufbau der Wirtschaft, 4. Wiedergutmachung der vom Naziregime im Namen des deutschen Volkes durchgeführten Zerstörungen, 5. loyale Zusammenarbeit mit den Alliierten.«" Das Gebot der Stunde lautete jetzt jedoch, den »politischen und organisatorischen Zusammenschluß der sozialdemokratischen und der kommunistischen Partei Deutschlands, die Vereinigung aller wahrhaftigen Sozialisten zu einer einzigen Partei zu erreichen«.^' Zum verbindlichen strategischen Modell wurde die Entwicklung in der sowjetischen Besatzungszone erkoren. Dort war es nicht zuletzt auf Druck der Besatzungsmacht am 20. und 21. Dezember 1945 zur »1. Sechziger Konferenz« von je 30 KPD- und SPD-Funktionären gekommen, die eine rasche Vereinigung der beiden Arbeiterparteien zur »Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands« einleiten wollten.^' In Singen, wo man wenige Wochen zuvor die Vereinigte Arbeiterpartei wieder aufgelöst hatte, sahen Sozialdemokraten und Kommunisten darin eine nachträgliche Bestätigung, und dieses Vorgehen stellte für sie, die indes über die Einzelheiten nicht präzise unterrichtet waren, einen gangbaren Weg dar. »Sobald auch bei uns die Anerkennung unserer Parteien erreicht sein wird«, so lautete ein Entschluß, »werden auch wir gemeinsame Mitgliederveranstaltungen zur Klärung der Frage der Einheit der deutschen Arbeiterklasse abhalten (...) Der Aufbau der KPD und der SPD wird sofort in Angriff genommen. Die beiden Parteien einigen sich auf gemeinsame Aufnahmebedingungen. Beim organisatorischen Aufbau unserer Parteien werden wir uns weiterhin gegenseitig behilflich sein. Jede gegenteilige fraktionelle Tätigkeit wird unterlassen. Der Kassenbestand der Vereinigten Arbeiterpartei wird zu gleichen Teilen zwischen KPD und SPD aufgeteilt.«'" ' ' A d O , Bade 2101 (»Listes des séctions locales des partis politiques en Bade-Sud«). " So in der Beilage zum Zulassungsantrag (StA Freiburg, С 5/204-1). " So in der Stellungnahme der KP in der Rhein-Neckar-Zeitung, 13.3.1946. Vgl. Gert Gruner/Manfred Wilke (Hrsg.), Sozialdemokraten im Kampf um die Freiheit. Die Auseinandersetzungen zwischen SPD und KPD in Berlin 1945/46. Stenographische Niederschrift der Sechziger-Konferenz am 20./21. Dezember 1945, München 1981. Siehe allgemein Frank Moraw, Die Parole der »Einheit« und die deutsche Sozialdemokratie. Zur parteiorganisatorischen und gesellschaftlichen Orientierung der SPD in der Periode der Illegalität und in der ersten Phase der Nachkriegszeit 1933- 1948, Bonn 1973. Siehe auch die Berichte in: Beatrix W. Bouvier/Horst Peter Schulz (Hrsg.), »... die SPD aber aufgehört hat zu existieren«. Sozialdemokraten unter sowjetischer Besatzung, Bonn 1991. * Zitiert nach Rudi Goguel, Dokumente des Kampfes der deutschen Arbeiterbewegung um die

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Aber während die parteipolitische Vereinigungsstrategie der Kommunisten so exakt wie ein Uhrwerk den Abläufen in der sowjetischen Zone folgte, machten ihnen die badischen Sozialdemokraten mit einer Parteineugründung völlig überraschend einen Strich durch die Rechnung. Am 2. Dezember 1945 hatten sich in einem unversehrt gebliebenen Saal des schwer zerstörten Freiburg nicht die erwarteten vierzig Genossen aus allen Landesteilen zu ihrer ersten Versammlung nach dem Kriege getroffen, sondern es waren über dreihundert gekommen. Das beherrschende Thema war die Zukunft der Arbeiterbewegung. »Warum ist die Arbeiterklasse immer noch gespalten?« fragten etliche und verlangten im gleichen Atemzug einen »umfassenden Neubeginn«. Am Ende dieser, für die meisten aufwühlenden Begegnung nach dem Untergang des »Dritten Reiches«, stand die programmatische Entschließung, »daß die Schaffung einer einheitlichen sozialistischen Partei, wie sie bis Mitte der Jahre des Ersten Welticrieges bestand, unbedingt notwendig und durchaus möglich ist«. Nur so könnten die »großen sozialistischen Grundsätze und Menschheitsideale« zur Schaffung und Vollendung einer antikapitalistischen Gesellschaftsordnung verwirklicht werden.·*' Diese Forderung erschöpfte sich keineswegs in dem verbalen Patiios, von dem sie getragen war. Die Sozialdemokraten brachen vielmehr, auch zur Überraschung der französischen Militärregierung, mit der Weimarer SPD. Sie gründeten keine »sozialdemokratische«, sondern ganz bewußt eine »sozialistische« Partei. Beim französischen Landesgouvernement in Freiburg beantragten sie die Zulassung der »Sozialistischen Partei Land Baden«.·*^ Der Anspruch mit dieser Neuschöpfung war kein geringer: In den Augen der ehemaligen Sozialdemokraten sollte dies die geforderte »einheitiiche sozialistische Partei« sein, offen für frühere Sozialdemokraten und frühere Kommunisten. Die Sozialdemokraten verzichteten auf ihre alte SPD - und bedeuteten damit gleichzeitig den Kommunisten, daß nunmehr auch die KPD überflüssig sei. Das Ziel der neuen Partei sei die Verwirklichung der sozialistischen Gesellschaft, so formulierte es im Februar 1946 Franz Geiler, einer der badischen Parteigründer. Über dieses allgemeine, in der Nachkriegszeit wohlfeile Bekenntnis hinausgreifend, spitzte er zu: »sozial und demokratisch« sei heute kein zukunftsweisendes Merkmal mehr, denn so würden »auch bürgerliche Parteien firmieren«."^ Der Parteivorsitzende Philipp Martzloff fand Ende März 1946 auf einer Versammlung in Lahr deutiichere Worte: »Wir bauen nicht auf 1918 auf, sondern wir wollen auf breiter Front im sozialistischen Gedanken zusammenarbeiten. Deshalb hat die Partei den früheren Namen Sozialdemokratische Partei abgelegt und nennt sich heute Sozialistische Partei Land Baden.«·" Martzloff streckAktionseineinheit. Sozialdemokraten und Kommunisten im Bodenseegebiet in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Dokumente der Zeit, Ost-Berlin 136 (1957), S. 92. Protokoll der Versammlung (AdO, Bade 2151). " StA Freiburg, С 5/202. Geiler auf der Villinger Konferenz vom 16. Februar 1946 (AdO, Bade 2151). ""Versammlung in Lahr 31.3.1946. Im gleichen Tenor hatte Martzloff schon auf einer öffentlichen Versammlung der SP in Freiburg vom 10.3.1946 gesprochen (AdO, Bade 2151).

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te die Hand zu den Kommunisten hin aus. 1933 hätten die Arbeiterparteien den »historischen Moment« verpaßt und seien zu »feige« gewesen, sich gegen die Nationalsozialisten aufzulehnen. »Das ist unsere Schuld«, meinte er, und daraus müsse man heute die »Lehre« ziehen."^ So anfechtbar Martzloffs Ansichten waren, subjektiv gab es für ihn und viele Sozialdemokraten an dieser Einschätzung nichts zu rütteln.*^ Auf einen der wesentlichen Gründe für die beabsichtigte sozialistische Neuorientierung stößt man, wenn man das badische Parteigründermilieu ausleuchtet. Dem Führungskreis gehörten fast ausnahmslos Sozialdemokraten an, die ihre Prägung im Wilhelminischen Kaiserreich erfahren hatten; alle waren in den 80er und 90er Jahren des 19. Jahrhunderts geboren. Ihre ersten politischen Sporen hatten sich die meisten in der klassischen Sozialdemokratie August Bebels verdient. In dieser großen, einigen Arbeiterbewegung waren sie aufgewachsen. Deren Spaltung im Ersten Weltkrieg sahen sie als tragisches Unglück an, und sie hingen nach wie vor dem Ideal einer wiedergeeinten sozialistischen Bewegung nach. Auch von ihrem beruflichen Hintergrund betont klassenbewußt, gingen diese Sozialdemokraten 1945/46 nicht daran, dort anzuknüpfen, wo man 1933 aufgehört hatte, sondem ihr Traditionsbewußtsein reichte weiter zurück, in die Zeit vor den Ersten Weltkrieg, als es einen »Bruderkampf« zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten noch nicht gab.^' In diesem Zusammenhang entfalteten auch ältere und zum Teil lange verdeckte Traditionslinien erneut ihre Wirkung. Gerade Baden war seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zum Kemland des sozialdemokratischen Reformismus geworden.·^ Es führte eine Linie von der Großblockpolitik mit den Nationalliberalen vor dem Ersten Weltkrieg über das relativ defensive Verhalten in der deutschen Revolution von 1918/19 bis zur permanenten RegierungskoaliEMa. (Versammlung in Lahr). Zur (aufgrund sozialpsychologischer Barrieren und vor allem aufgrund der seit 1928 gültigen ultralinken Generallinie der Komintern und der damit einhergehenden SozialfaschismusThese nur sehr bedingt vorhandenen) Chance einer »Einheitsfront« 1933 vgl. Weber, Hauptfeind Sozialdemokratie (Anm. 6); Arnold Sywottek, Einheit der Arbeiterklasse zur Rettung der Weimarer Republik? Zur Kritik eines Mythos, in: Das Unrechtsregime. Internationale Forschung über den Nationalsozialismus. Festschrift für Werner Jochmann zum 65. Geburtstag, Bd. 1: Ideologie - Herrschaftssystem - Wirkung in Europa. Hrsg. von Ursula Büttner unter Mitwirkung von Werner Johe und Angelika Voß, Hamburg 1986, S. 132-155; Winkler, Der Weg in die Katastrophe (Anm. 3), passim. "Philipp Martzloff (1880-1962), von Beruf Schneider, war 1918/19 badischer Minister für Übergangswirtschaft, Wohnungsbau und Soziales und von 1919-1921, dann wieder von 1925-1933 Landtagsabgeordneter. Während des »Dritten Reiches« war er mehrmals inhaftiert, zuletzt im KZ Dachau. Franz Geiler (1879-1947) war Schuhmacher, schließlich Redakteur und seit 1920 Landtagsabgeordneter in Baden. Karl Ruf (1883- 1947) war Volksschullehrer. Eugen Schmalz (1888-1967) arbeitete als Redakteur bei der sozialdemokratischen Zeitung Volkswacht. Die beiden »Jüngsten« des Gründerzirkels waren auch fast fünfzig Jahre alt: Wilhelm Engler (1898-1979), Möbeltransporteur, und Fritz Schieler (1899-1970), der bei der Stadtverwaltung Freiburg beschäftigt war. ^ Siehe Hans-Joachim Franzen, Auf der Suche nach Handlungsspielräumen. Die Diskussion um die Strategie der Partei in den regionalen und lokalen Organisationen der badischen Sozialdemokratie zwischen 1890 und 1914, Frankfurt/M. u.a. 1987.

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tion mit dem Zentrum während der Weimarer Republik. Zuletzt hatte die sich nach »links« orientierende Mitgliederbasis die Argumentation der Parteileitung kaum noch nachvollziehen können. Solche älteren Aversionen gegen die »rechte« Mannheimer Führung der Partei schlugen beim Freiburger Gründerkreis 1945 durch. Infolge der Zoneneinteilung und der erzwungenen Trennung Südbadens von Nordbaden sah man im Süden nun die Chance gekommen, sich auf verschüttete sozialistische Traditionen seit 1848 zu besinnen. Die Gründung der Sozialistischen Partei bedeutete eine späte, doch umso grundsätzlichere Kritik an der reformerischen und gouvemementalen Ausrichtung der vormaligen badischen, aber auch der Reichs-SPD, die den Aufstieg und den Machtantritt Hitlers nicht zu verhindern gewußt habe. »Um sich (...) von solch unklarem Handeln zu lösen, bzw. einen gewissen Strich unter jene Vergangenheit zu ziehen, ohne dabei den Namen Sozialdemokratische Partei Deutschlands in Unehren auszusprechen«, so rechtfertigte sich Martzloff gegenüber dem fassungslosen SPD-Parteivorstand in Hannover später, »war man der Meinung, auch äußerlich den Namen in klarer, einfacher Form durch Sozialistische Partei auszudrücken«.·" Dafür sprach nicht zuletzt eine Affinität zur französischen Bruderpartei, wie man in Baden insgesamt überzeugt war, daß die deutsche Reichseinheit unwiederbringlich verloren sei, und man im Grunde gar keine andere Alternative sah, als sich mit französischen Konzepten eines bestenfalls lockeren deutschen Staatenbundes mit weitgehender Autonomie und unter Frankreichs Kuratel anzufreunden. Man mußte also versuchen, im eigenen »Land« etwas auf die Beine zu stellen und hier seine Vorstellungen verfechten. Nach jahrelanger gemeinsamer Hafterfahrung, nach Widerstandsversuchen und Resistenz gehörte dazu in den Augen vieler Sozialdemokraten insbesondere, den ehemaligen Mitgliedern der KPD mit der »Sozialistischen Partei« ein Angebot zu offerieren. Die Namensgebung »Sozialistische Partei« anstelle des Traditionsnamens »Sozialdemokratische Partei« trug mithin programmatischen Charakter. Der Landesvorstand wollte damit nach außen ein Zeichen der Einheitsbereitschaft setzen. Es sollte ein Angebot an die Kommunisten sein, diese Partei als demokratische Plattform für alle Kräfte der Arbeiterbewegung zu nutzen. Durch die Namensgebung war beabsichtigt, die Hemmschwelle für Konmunisten zum Eintritt in die Partei möglichst niedrig anzusetzen, und zugleich sollte die Wiedergründung einer eigenständigen Kommunistischen Partei überflüssig werden. Mit einem Wort: Es war ein Integrationskonzept, ausgerichtet auf eine vereinte, demokratisch-sozialistische Arbeiterpartei.'" Auffällig ist jedoch, daß diese »Einheitsbereitschaft« im wesentlichen auf subjektiven Empfindungen ruhte und auf formale Dinge, wie die Namensgebung, beschränkt blieb. Eine ''Philipp Martzloff an den SPD-Parteivorstand Hannover, 22.6.1946 (AdsD, Bestand Schumacher J 25). »Der augenblicklich von unserer Partei geführte Name Sozialistische Partei sollte ein Symbol sein für unsere ehrliche Bereitschaft zur Schaffung einer großen, einheitlichen Arbeiterpartei« - hieß es etwa in einem Schreiben der Ortsgruppe Neustadt vom Herbst 1946 (AdsD, Nachlaß Günter Markscheffel 7).

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eingehende programmatische Herleitung dieser Absicht hatte es kaum gegeben. Es scheint so, als sollte der Rückgriff auf die »alte« SPD vor dem Ersten Weltkrieg das Programm einschließen. Die Entscheidung zur Gründung der Sozialistischen Partei war bereits im Dezember 1945 gefallen, als man noch hoffen konnte, daß die ehemaligen Kommunisten das »Angebot« aufgreifen und die Gründung einer kommunistischen Partei unterlassen würden. Diese Hoffung zerstob freilich rasch. Seit Ende Januar existierte in Baden offiziell die Kommunistische Partei. Es müsse nun leider wieder um die Einheit gerungen werden, resümierte Philipp Martzloff die Lage, nachdem seinem Integrationskonzept durch die Wiedergründung der KP ein entscheidender Schlag versetzt worden war." Die Landesvorstände beider Parteien nahmen dennoch Gespräche auf, um über die Modalitäten eines etwaigen Zusammenschlusses zu verhandeln. Binnen weniger Wochen wurden indes die völlig unterschiedlichen Vorstellungen über eine vereinte Arbeiterpartei sichtbar. Vor allem zeigte sich, daß die meisten Kommunisten keineswegs bereit waren, sich auf die SP einzulassen, sondem allein an eine »Einheit« dachten, die der entsprach, welche sich in der sowjetischen Besatzungszone anbahnte. Darauf war von Anfang an die Taktik der Führung ausgerichtet. Und auch die Militärregierung wies in ihren parteipolitischen Betrachtungen immer wieder darauf hin, daß die badischen Kommunisten direkte Befehlsempfänger Ostberlins seien. Insofem hätten sie also nichts gemein mit den Sozialisten, die sich erfreulich unabhängig von einer übergeordneten Parteizentrale zeigten, und bisher auch mit der »nationalistischen« SchumacherSPD nicht in Kontakt getreten seien." Bereits am 21. Februar erhielt die Landesleitung der Sozialistischen Partei von der badischen KP ein Schreiben, in dem die »Schaffung der Aktionseinheit der Arbeiterklasse« als derzeit vordringlichste Aufgabe bezeichnet wurde. Die beiden Landesvorstände sollten unverzüglich Kontakt zueinander aufnehmen, um eine gemeinsame Strategie für die nächste Zeit festzulegen. Dazu fügte die KP gleich einen detaillierten Vorschlag zur Tagesordnung bei." Gegen ein solches Treffen gab es bei den Sozialisten keine Abneigung. Man war sich vielmehr darüber einig, daß eine Aufbauarbeit nur zusammen mit den Kommunisten geleistet werden könne. Unerläßliche Voraussetzimg für eine Einheit sei allerdings eine »ehrliche Loslösung (der Kommunisten) von fremden Einflüssen«." Diese unabdingbare Kautele hatten die Sozialisten schon in ihre Entschließung zur »Sozialistischen Einheitsfront« hineingeschrieben. Die Kommunisti" Versammlung in Lahr, 31.3.1946 (AdO, Bade 2151). " Die französische Militärregierung ließ zahlreiche Studien über die Entwicklung der deutschen Parteien ausarbeiten. Sie betonte dabei insbesondere die Unterschiede zwischen den nationalistischen und den föderalistischen Richtungen und zur letzteren zählte auch die badische Sozialistische Partei. Vgl. etwa die Studie vom Februar 1946: Partis politiques en Zone Française d'Occupation (AdO, HCFA C. 24 Pol. Π A 5). " Vgl. Schreiben vom 21.2.1946 (Nachlaß Erwin Eckert, Mappe 3). " So Franz Geiler auf einer SP-Veranstaltung in Offenburg. Vgl. Ortenauer Zeitung, Nr. 47 vom 31. 3. 1946.

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sehe Partei müsse sich zu der Erkenntnis durchringen, so hieß es dort, »daß die Sozialisten eines jeden Landes ihre programmatischen Grundsätze und Aufgaben, die auf dem Weg zum gemeinsamen Endziel des Sozialismus liegen, völlig unabhängig von fremden Einflüssen bestimmen müssen«." Immerhin gab es also auf seilen der Sozialisten Skepsis über die Orientierung der Kommunisten. Allmählich sickerten auch Informationen über den politischen Wiederbeginn in den anderen Besatzungszonen nach Südbaden durch, das lange hinter dem »seidenen Vorhang« lag. Den Sozialisten konnte außerdem schwerlich verborgen bleiben, daß führende Kommunisten häufig nach Berlin unterwegs waren. Trotz wachsender Zweifel einigte man sich am 7. März mit dem kommunistischen Landesvorstand darauf, einen Ausschuß beider Parteien zu bilden, der die Vereinigung vorbereiten sollte. Mit der Entschließung war die KP so sehr zufrieden, daß sie diese in den folgenden Tagen an zahlreichen Stellen veröffentlichen ließ: »Die Landesvorstände der Sozialistischen Partei und der Kommunistischen Partei, Land Baden (fi-anzösische Zone) bilden einen Ausschuß zur Beratung aller wichtigen Fragen des Aufbaus einer neuen Demokratie und zur Vorbereitung der Vereinigung beider Parteien, die die Voraussetzung für den Sieg des Sozialismus ist. Für den Landesvorstand der SoziaIistischen Partei (SP): Philipp Martzloff, Fritz Schieler, Franz Geiler, Wilhelm Engler. Für den Landesvorstand der Kommunistischen Partei (KP): Erwin Ekkert, Max Faulhaber, Dr. Karl Bittel, Gerhard Wohlrath.«'' Nun folgte allerdings rasch die Peripetie. Denn die folgende weitreichende Auslegung dieser Entschließung durch die Kommunisten mußte die Sozialisten vor den Kopf stoßen. In einem Brief vom 14. März legte die KP dezidierte Vorschläge auf den Tisch, wie der Beschluß verwirklicht imd die Vereinigung beider Parteien in die Tat umgesetzt werden sollte." Einleitend sprachen die Kommunisten darin die »Euch besonders interessierende Frage der Unabhängigkeit unserer Politik von jeder ausländischer Macht« an. Diese Frage hielten diese durch das am 10. März vom KPD-Parteitag in Karlsruhe verabschiedete »Manifest der Kommunisten Badens« für beantwortet, in dem es hieß: »Die Kommunistische Partei Deutschlands verfolgt ihre Ziele frei und unabhängig von jeder ausländischen Macht. Sie steht weder im Dienst der Engländer noch der Sowjet-Union, weder der Amerikaner noch der Franzosen. Sie orientiert sich weder nach dem Osten noch nach dem Westen, sondern einzig und allein nach dem, was unserem Volke aus seiner Not heraushilft und der Erhaltung des Friedens dient.«^® Damit wurde die Sache für geklärt erachtet, und für eine Vereinigung waren mithin lediglich noch organisatorische Dinge zu klären: Am 22. März sei ein Rundschreiben an alle Gliederungen der Partei zu richten, das genaue Anleitungen zur Umbildung in die »Sozialistische Einheitspartei Deutschlands« enthalte müsse. Wenn Mitte April in Berlin die Vereinigung von " 17.7.1946 (Ado, Bade 2151). Daneben ist die Entschließung ebenfalls abgedruckt in: Badische Zeitung, Nr. 5 vom 22.2.1946. "Abdruck in: Badische Zeitung, Nr. 12 vom 12.3.1946. " Vgl. Nachlaß Erwin Eckert, Mappe 3. "Rhein-Neckar-Zeitung, 13.3.1946.

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KPD und SPD vollzogen und eine zentrale Leitung der Einheitspartei geschaffen werde, so sollte das auch der Startschuß für Baden sein. »Wir sind der Meinung«, so hieß es in der generalstabsmäßigen Planung der Kommunisten, »daß acht Tage später, nämlich am 27. und 28.4. in Freiburg die erweiterten Parteivorstände und aus jedem Kreis der französischen Zone ein Delegierter zusammenkommen (sollten), um ein Organisationsstatut und eine programmatische Erklärung zu beschließen. Das Ergebnis sollte sein, daß man am Sonntag, den 28.4., die Sozialistische Einheitspartei Land Baden (französische Zone) konstituiert, einen vorläufigen Vorstand bestimmt, dem die Vorbereitung des ersten gemeinsamen Parteitages obliegt und der bis dorthin die Geschäfte der Einheitspartei führt.«" Deutlich wird, wie die KP-Führung bestrebt war, die Vereinigung in Baden möglichst schnell - unter Hintanstellung aller inhaltlichen Fragen über die Bühne zu bringen, was ihr einen hohen Prestigegewinn innerhalb der deutschen KPD eingebracht hätte. Aber die von der KP vorgeschlagene Besprechung fand nicht statt. Der Landesvorstand der Sozialistischen Partei fühlte sich durch das nach seinen Worten »überstürzte« Vorgehen der Kommunisten hintergangen und distanzierte sich von deren Zielvorgaben. Philipp Martzloff unternahm in einem persönlichen Gepräch mit Erwin Eckert einen letzten, dann auch schriftlich festgehaltenen Versuch, die Kommunisten von seinem Konzept zu überzeugen und hob hervor, daß die badischen Sozialdemokraten ihnen schon weit entgegengekommen seien: »Wir haben nicht mehr unter dem alten Namen die Parteigründung vorgenommen, sondern unter dem Namen Sozialistische Partei. Damit war die Plattform gegeben, daß auch die kommunistischen Genossen gleich dieser Partei hätten beitreten können. Leider ist dies nicht geschehen. Auch jetzt wäre die einfachste Lösung die, daß Ihr Eure Partei auflöst und die Mitglieder in die gegebene SP überführt.« Dies sei auch deshalb geboten, weil mit Schwierigkeiten bei der Besatzungsmacht zu rechnen sei, wenn wieder eine neue Partei mit neuem Namen gegründet würde.'" Der sozialistische Parteivorsitzende war enttäuscht und emüchtert zugleich. Er hatte geglaubt, bei den Kommunisten auf Resonanz zu stoßen, unterstrich immer wieder den Namen der neuen Partei und warf den Kommunisten vor, daß sie diese Geste nicht verstehen wollten. Zudem beklagte er die propagandistische Ausbeutung der Vereinigungsfrage durch die KP. Mittlerweile war der SP-Vorsitzende aber auch in den eigenen Reihen ins Kreuzfeuer der Kritik geraten. Die »Basis« hatte sich über den Kurs des Landesvorstandes zutiefst gespalten. Die Landesleitung habe »nicht einmal schnell genug den Namen ändern können in Sozialistische Partei, um ja den Kom" E b d a . Am 20./21. April fand in Berlin der Vereinigungsparteitag von SPD und KPD der sowjetischen Besatzungszone statt. Über seine Vorgeschichte und seinen Verlauf: Frank Moraw, Die Parole der »Einheit« (Anm. 39, S. 156-174. Kurt Klotzbach, Der Weg zur Staatspartei. Programmatik, praktische Politik und Organisation der deutschen Sozialdemokratie 1945-1965, Berlin/Bonn 1982, S. 77. Schreiben des SP-Landesvorstands an die kommunistische Parteiführung, 20.3.1946 (Nachlaß Erwin Eckert, Mappe 3).

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munisten gefällig zu sein«; überhaupt sei der »Einigungs- und Verschmelzungsrummel« unerträglich®' - solche und ähnliche Stimmen begannen sich zu mehren. Zahlreiche Sozialdemokraten, die an ihrer alten Partei hingen, brachten gegenüber der neuen Namensgebung nur völliges Unverständnis auf; andere, mit der Sozialdemokratie sympathisierende Menschen fragten verwirrt, wo denn die SPD bleibe und ob die Sozialistische Partei schon die proletarische Einheitspartei sei." In den Ortsvereinen der SP liefen das ganze Frühjahr hindurch Abstimmungen mit ganz unterschiedlichen Ergebnissen. Die Sozialistische Partei war, das machten die örtlichen Berichte der beobachtenden Militärregierung sehr deutlich, gespalten und zerrissen. Im kleinen oberbadischen Brombach etwa, in dem es 27 Parteimitglieder gab, waren bei einer Abstimmung über eine Fusion mit den Kommunisten 13 Sozialisten für den Zusammenschluß, 14 votierten dagegen." Ähnlich knappe Ergebnisse, bei denen die andere Seite gewann, waren keine Seltenheit.*^ Von Offenburg aus formierten sich friih die Widersacher einer sozialdemokratisch-kommunistischen Verständigung. Als dort die Sozialistische Partei Ende Juni eine Kreiskonferenz mit hundert Delegierten aus Villingen, Wolfach, Lahr, Kehl und Offenburg abhielt, mündete die lebhafte Diskussion in den Entschluß, »daß durch die bedauerliche Taktik der kommunistischen Landesleitung eine Fusion in gegenwärtigem Augenblick undiskutabel ist. Deshalb: Aufhebung der seinerzeit von den Landesvorständen der SP und KP gebildeten Arbeitsgemeinschaft, hervorgerufen durch die Taktik des kommunistischen Landesvorstandes«." Dagegen sollte die Bildung von »Arbeitsausschüssen über Gemeindepolitik« vorangetrieben werden, um sich so den Problemen zuzuwenden, die den Menschen wirklich auf den Nägeln brannten - den Alltagssorgen nämlich - und sich nicht in parteiideologischen Fragen zu verrennen, von denen die meisten überhaupt nichts wissen wollten. »Faßt man die Referate, die Diskussionen, die Erklärung und die Stellungnahme der Konferenz zusammen, so ergeben sich im gesamten zwei Gruppen von Kernproblemen«, resümierte der Offenburger Ortsvereinsvorsitzende Dielenschneider, wobei die Reihenfolge bedeutsam ist: »Sie sind einmal wirtschaftlicher, das andere Mal politischer Natur. Die größte Bedeutung fällt derjenigen der Wirtschaft zu. Die größten Sorgen gelten der Emährungsfrage. Dabei gewinnt diese Frage überall die gleiche Bedeutung. Orte und Gemeinden im Schwarzwald sind fast vollständig von der Obst- und Gemüsezufuhr abgeschnitten. Als dringend wird eine Zusammenarbeit und ein Austausch von Lebensmitteln mit Württemberg angesehen. Parallel mit der Not der " Hermann Winter aus Baden-Baden an Kurt Schumacher, 20.3.1946 (AdsD, Bestand Schumacher J 25). " Hermann Winter an Fritz Heine, 14.8.1946 (AdsD, Bestand Schumacher J 32). " V g l . die Berichte der Militärregierung (AdO, Bade 2151). Zu Brombach: Bericht vom 18.5.1946. " Vgl. die vielen Ortsberichte in den Kreisakten der Militäiregierung: SP-Kreisverbände Lahr, Waldshut, Neustadt, Müllheim, Offenburg, Säckingen, Überlingen, Villingen, Emmendingen, Donaueschihgen, Lörrach, Bühl, Baden-Baden, Konstanz, Freiburg (AdO, Bade 2151). " SP Offenburg, Konferenzprotokoll 23. Juni 1946 (AdO, Bade 2151).

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Ernährung geht diejenige der Bekleidung. Die Gesamtnotlage auf wirtschaftlichem Gebiet gefährdet die Stellung der Demokratie. Auf politischem Gebiet handelt es sich vor allem um organisatorische Fragen der Partei an sich.«^ Hier gab es für die Offenburger kein Zweifel daran, daß sich der Landesvorstand in der Richtung vertan hatte. Auf einer Ortsvereinssitzung vom 5. Juni hatte »Genösse Knauf (...) eine Eingabe an den Landesvorstand (beantragt), daß der Name der Partei in >Sozialdemokratische Partei Baden< abgeändert werden soll, was angenommen wird«." Andernorts war noch lange nichts entschieden. Als der Sozialist Franz Geiler Ende März 1946 in Sulzburg über aktuelle Tagesaufgaben referierte, fuhr plötzlich Fritz Traub, kommunistisches Parteigründungsmitglied und Betriebsrat bei der Freiburger Großfirma Rhodiaseta, dazwischen und rief lauthals »Einheit«, was von den Versammelten - wie der französische Beobachter zu berichten wußte - mit tosendem Applaus quittiert wurde.'' Franz Geiler hatte sich jedoch mittlerweile zu einem strikten Gegner einer Vereinigung gewandelt. Unmittelbar ausschlaggebend war ein Brief von Jakob Trumpfheller gewesen, dem prominenten Mannheimer Sozialdemokraten, der an seinen Freiburger Parteifreund schrieb: »Die Bestrebungen in der russisch besetzten Zone gehen ganz offensichtlich dahin, nicht nur die Eroberung der SPD durch die kommunistische Partei durchzuführen, sondern überhaupt nach russischer Methode eine einzige sogenannte Einheitspartei zu schaffen. Damit wäre die Demokratie, weil jeder Gegenspieler fehlen würde, erledigt.« Auch angesichts der angespannten intemationalen Lage dürfe man auf keinen Fall in den Westzonen eine Vereinigung mit der KPD herbeiführen. Die südbadischen Parteifreunde müßten äußerst vorsichtig sein und dürften sich »vor allen Dingen nicht durch Eckert täuschen (lassen). Er war und ist ein Schwadroneur«. Trumpfheller sicherte zu, den Südbadenem Informationsmaterial und die Stellungnahme der Partei in der britischen und amerikanischen Zone zu senden, die sich gegen eine Vereinigung mit den Kommunisten aussprach und der sich bereits die französisch besetzte Pfalz und das Rheinland angeschlossen hatten.®' Seit der Zeit, als er dieses Schreiben in den Händen hielt, führte Geiler, zusammen mit Lörracher und Schopfheimer Sozialdemokraten, die über die Schweiz Informationen zu den Vorgängen in der sowjetischen Besatzungszone und zu Kurt Schumachers politischer Konzeption erhalten hatten, einen »erbitterten Kampf«,™ um den Zusammenschluß zu verhindern. Zugleich jedoch avancierte das französisch besetzte Baden, wo eine Vereinigung von Sozialdemokraten und Kommunisten noch möglich schien, für linke Sozialdemokraten zum Silberstreifen am Horizont. Das führte etwa den "Ebda. " I m gleichen Bestand, Protokoll vom 5. Juni 1946. SPD Müllheim, 26.3.1946 (AdO, Bade 2151). "Abgedruckt bei Joachim Irek, Mannheim in den Jahren 1945-1949. Geschichte einer Stadt zwischen Diktatur und Republik, Bd. 2, Stuttgart 1983, S. 93f. ™ Brief von Richard Strauß aus Schopfheim an das SPD-Büro der Westzonen in Hannover vom 13.7.1946 (AdsD, Bestand Schumacher J 25).

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hessischen Innenminister Hans Venedey dorthin. Venedey, der aus dem Schweizer Exil gekommen war, spielte in Hessen als Befürworter einer Sozialistischen Einheitspartei eine exponierte Rolle und war sogar als direkter Gegenredner zu Kurt Schumacher aufgetreten. Vor 1933 hatte Venedey in Baden gelebt und der Konstanzer SPD angehört, war aber vor Hitlers Machtergreifung zur SAP übergetreten. Er, der in der Schweiz engen Kontakt zur Bewegung Freies Deutschland gehabt hatte, sah nach 1945 die SPD als überlebt an. Von Anbeginn seiner Ministertätigkeit war Venedey der hessischen SPD-Landesleitung ein Dom im Auge. Am 3. Juli 1946 wurde er wegen parteischädigendem Verhalten - man bezeichnete ihn als »Agenten der KPD« - aus der SPD ausgeschlossen, und er mußte auch als Innenminister zurücktreten. Seither trug er sich mit dem Gedanken, wieder in seine badische Heimat zurückzukehren und dort politisch aktiv zu werden." Nicht erst seit dieser Zeit schrillten beim SPD-Parteivorstand in Hannover die Alarmglocken. Die Berichte über die abtrünnigen badischen Sozialdemokraten, die, so schien es, ganz ins Fahrwasser der Kommunisten geraten waren, führte auf dem Parteitag im Mai 1946 - wo im übrigen kein Sozialdemokrat aus dem Land Baden anwesend war - dazu, daß ein Verbindungssekretariat für die französische Besatzungszone eingerichtet wurde. Günter Markscheffel, den man zum Zonensekretär ernannte, hatte seitdem im Namen des Vorstandes die Aufgabe, die »komplizierte südbadische Situation zu entwirren und die Parteiorganisation zu reorganisieren«.'^ Markscheffel hielt im Frühjahr 1946 etliche Versammlungen mit badischen sozialistischen Funktionären ab, um ihnen die Grundsätze der Schumacherschen Politik und die politische Situation im allgemeinen darzulegen. »Ich habe eine Reihe von Tagen hinter mir«, schrieb er in einem Zwischenbericht an Fritz Heine nach Hannover, »die nicht sehr schön waren, denn nirgends mußte man gegen so viel Unklarheit ankämpfen wie dort unten.« Das Schwierigste sei gewesen, den Badenem klar zu machen, daß es sich bei ihrer Situation nicht um eine regionale Angelegenheit handelte, sondern daß damit gesamtdeutsche und internationale Implikationen verbunden

" Zu Venedeys Wirken in Hessen vgl. Walter Mühlhausen, Hessen 1945-1950. Zur politischen Geschichte eines Landes in der Besatzungszeit, Frankfurt/Main 1985, S. 45-50. Die Bewegung »Das Freie Deutschland« behandelt Karl Hans Bergmann, Die Bewegung »Freies Deutschland« in der Schweiz 1943-1945, München 1974. Darin auch Hinweise zu Venedey. Die französische Militärregierung war über Venedey genauestens im Bilde und wußte auch, daß er sich mit der Absicht trug, sich wieder in Baden niederzulassen. Sein Eintreten für eine sozialistische Einheitspartei beurteilte man sehr kritisch. Davon abgesehen glaubte man jedoch, den Fachmann Venedey gut in der badischen Landesverwaltung einsetzen zu können. So jedenfalls der badische Directeur des Affaires Administratives, Daty, am 14.6.1946 (Ado, Bade 2151 SPD Fusion socialo-communiste). Fritz Heine an R. Haerdler, 27.8.1946, über Markscheffels Aufgabe (AdsD, Bestand Schumacher J 25). "Günter Markscheffel an Fritz Heine, 25.6.1946 (AdsD, Nachlaß Günter Markscheffel 7). Noch Anfang August schrieb Markscheffel an Fritz Heine und Erich Ollenhauer, daß im französisch besetzten Baden »der Teufel los« sei. Ebda.

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Wie richtig Markscheffel damit lag, zeigte sich auf einer Nebensitzung der im Frühjahr und Sommer tagenden Pariser Außenministerkonferenz, auf welcher die Sonderentwicklung der Sozialdemokratie in Baden Erwähnung fand. Es lag ein von Berlin lancierter Bericht vor, in dem nachzuweisen versucht wurde, daß Schumacher nicht die Berechtigung habe, im Namen der gesamten Sozialdemokratie der Westzonen zu sprechen/'* Immer unerträglicher wurde der »Fall Südbaden« für die SPD-Leitung darüber hinaus durch Presseberichte, vor allem des »Neuen Deutschland«, wonach eine Vereinigung der beiden Parteien im französisch besetzten Baden unmittelbar bevorstehe. Auch solche Meldungen zielten in die gleiche Richtung, nämlich Kurt Schumacher den Führungsanspruch für die westzonale SPD abzusprechen." Markscheffel war der erste, der die badischen Sozialisten über die Bedeutung und Brisanz dieser Frage aufklärte. Diese Kurskorrekturen von außen hatten nunmehr zur Folge, daß die Kommunisten ihre Felle davonschwimmen sahen. Überstürzt und von völlig falschen Voraussetzungen ausgehend, startete die KP Mitte Juni eine Unterschriftenaktion »Für die Sozialistische Einheitspartei Badens«.'® Diese nach Weimarer Muster verfolgte Taktik einer »Einheitsfront von unten« gründete auf Illusionen, und die Einheitskampagne erwies sich als glatter Fehlschlag. Die KP-Landesleitung war vollauf überzeugt, daß die Mitglieder der Sozialistischen Partei ohne Wenn imd Aber die Vereinigimg wünschten. Da indes der sozialistische Landesvorstand die Angelegenheit zu verschleppen schien, beschloß die KP-Führung, sich direkt an die sozialistische Parteibasis zu wenden. Was von kommunistischer Seite später »eine Befragung der SPD-Mitglieder über ihre Meinung zur Listenverbindung (...) entsprechend den demokratischen Gepflogenheiten der Arbeiterbewegung« genannt wurde," war allerdings weit mehr: Ohne sich selbst als Initiator der Aktion kenntlich zu machen, versuchte die KP auf Unterschriftenlisten künftige Mitglieder für eine »Sozialistische Einheitspartei Baden« zu werben. Die Resolution erwähnte nicht die Vereinigung als politisches Ziel der KP, sondern spielte lediglich auf die Freiburger Entschließung der beiden Parteivorstände an: »Ohne sozialistische Einheit keine wirkliche Demokratie, ohne Sozialistische Einheitspartei keine Sicherung des Wiederaufbaus, ohne Sozialismus keine sinnvolle Gestaltung des Lebens. Aus dieser Erfahrung haben die Landesvorstände der Sozialistischen und der Kommunistischen Partei am 7. März dieses Jahres einen Ausschuß zur Vorbereimng der Vereinigung beider Parteien gebildet. Die Unterzeichneten sind der Ansicht, daß die Durchführung der Verschmelzung beider Parteien ein Gebot der Stunde " Dies erfuhr Markscheffel von einem Pariser Informanten. Brief Markscheffels an Fritz Heine, 25.7.1946 (AdsD, Nachiaß Günter Markscheffel 7). " Vgl. etwa die Meldung in Neues Deutschland vom 23.6.1946: »Südbadische Stimmen gegen Schumacher«. ' ' Einschreiblisten im Bestand AdO, Bade 2151 SP 1945/55. Die Militärregierung verbot nach einiger Zeit die Aktion, da nur ordnungsgemäß genehmigte Parteien das Recht hätten, eine Werbeaktivität zu entfalten. •"Goguel, Dokumente des Kampfes (Anm 40), S. 91.

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ist. Sie fordern darum die Vorstände der Sozialistischen und der Kommunistischen Partei auf, zu handeln und alle Männer und Frauen, die sich zum Kampf um die sozialistische Ordnung bekennen in der SOZIALISTISCHEN EINHEITSPARTEI BADENS zu vereinigen (...) Die Unterzeichneten erklären sich ausdrücklich und freiwillig bereit, der neu zu gründenden SOZIALISTISCHEN EINHEITSPARTEI BADENS sofort als Mitglieder beizutreten.«'' Die Unterschriftenaktion war nicht mit der Sozialistischen Partei abgesprochen gewesen. Damit war für die Sozialisten die »Grenze der politischen Sauberkeit« überschritten. In der Presse und in einer großangelegten RugblattAktion machte die SP die mittlerweile unversöhnlichen Standpunkte deutlich. »In objektiver Würdigung«, so hieß es in dem Protest, »der bedauerlichen Vorgänge bei der Bildung der Sozialistischen Einheitspartei in der russischen Zone und der in den letzten Monaten stets unverkennbarer in Erscheinung tretenden Tatsache, daß die Kommunistische Partei Deutschlands in ihrer grundsätzlichen politischen und geistigen Einstellung nicht frei und unabhängig von fremden Einflüssen ist, ist der Landesvorstand der Sozialistischen Partei einmütig zu dem Ergebnis gekommen, daß die notwendigen Voraussetzungen einer Vereinigung mit der Kommunistischen Partei (...) nicht gegeben sind.«" Wohl nichts hat den Kommunisten in Baden gegenüber sozialdemokratisch orientierten Bevölkerungsteilen mehr geschadet als diese Appelle an eine »Einheit von unten«. Sie knüpften damit sichtbar an die KPD-Aktivitäten vor 1933 an und weckten zwangsläuflg ungute Erinnerungen an ihren gegen die Sozialdemokratie gerichteten vormaligen Radikalismus. Die Bemühungen, bei Sozialdemokraten und bürgerlichen Gruppierungen nach 1945 als seriöser Partner innerhalb des parlamentarisch-republikanischen Systems akzeptiert zu werden, machten sie damit selbst zunichte, ja enttarnten diese Versuche in den Augen vieler als schiere scheinheilige Taktik. Philipp Martzloff, der am längsten eine vermittelnde Position gegenüber der KP eingenommen hatte, änderte ebenfalls seinen Standpunkt. Die Erfahrungen mit den Kommunisten in den Monaten April bis Juni hatten ihn dazu bewogen.*" Der sozialistische Landesvorsitzende war nicht frei von persönlicher Enttäuschung, als er am 22. Juni an den Parteivorstand der SPD in Hannover schrieb: »Es besteht kein Zweifel, daß die kommunistische Partei organisatorisch, propagandistisch und in ihrem Willen in völliger Abhängigkeit einer zentralen, diktatorischen Befehlsstelle gehorcht. Den brüderlichsten Beteuerungen stehen die widerlichsten und unmöglichsten Praktiken gegenüber.« Daher lehne die badische SP einstimmig einen Zusammenschluß ab.*' "Nachlaß Erwin Eckert, Mappe 3. Die Unterschriftenliste ist ebenfalls abgedruckt in: VVN/Bund der Antifaschisten Kreis Freiburg (Hrsg.), Verfolgung, Widerstand und Neubeginn in Freiburg 1933-1945, Freiburg 1980, S. 252. "»Erklärung der Sozialistischen Partei«, in: Badische Zeitung, Nr. 78 vom 22.6.1946. Ein Exemplar des Flugblattes, von dem 125 ООО Stück verteilt wurden (AdsD, Bestand Schumacher J 25). ' ° A m 25.6.1946 schrieb Hermann Winter an Fritz Heine: »Genösse Martzloff ist auch entschieden von den Kommunisten abgerückt. Er hat ja auch üble Erfahrungen mit den Herrschaften gemacht.« (AdsD, Bestand Schumacher J 25).

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II. Alltagsnot und politischer Neubeginn

Die katastrophalen Niederlagen, die die Sozialistische Partei bei den ersten beiden Nachkriegswahlen im Sommer und Herbst 1946 einstecken mußte, überzeugten auch die letzten Zweifler, daß das Integrationskonzept gescheitert war. Intern erwarteten die Sozialisten - angesichts der »Diskreditierung des Kapitalismus«, so die Parteizeitung »Das Volk« wenige Tage vor dem Umengang - bei den Gemeinde wählen im September 1946 rund 40 Prozent der Wählerstimmen. Das Resultat machte das Debakel deutlich: Die SP kam auf ganze 14 Prozent und fiel damit sogar hinter die schlechtesten Ergebnisse der südbadischen SPD am Ende der Weimarer Republik zurück. Es triumphierten die bürgerliche Badische Christlich-Soziale Volkspartei (53,2 Prozent), und die Freien Listen (18,5 Prozent). Die Kommunisten erhielten 6 Prozent, die Demokratische Partei 8,3 Prozent.®^ Nun wurde das Steuer bei den Sozialdemokraten herumgeworfen. Offizielle Bestätigung fand der Richtungswechsel auf dem Freiburger Parteitag vom November 1946. Angeführt von einer Fronde jüngerer Sozialdemokraten hoben die Delegierten den alten Landesvorstand vollständig aus dem Sattel und nahmen einstimmig eine Entschließung mit dem Wortlaut an: »Die Sozialistische Partei Südbadens hat innerlich seit geraumer Zeit den Anschluß an die Gesamtpartei der Sozialdemokratie in den Westzonen vollzogen, der auch die sozialdemokratischen Parteien der übrigen französischen Zone seit ihrer Gründung angehören. Die am 9. und 10. November 1946 stattfindende Landeskonferenz beschließt, den Anschluß auch äußerlich zu vollziehen und wird daher den Namen in Sozialdemokratische Partei Deutschlands - Bezirk Südbaden ändern.«'' Erich Ollenhauer, der unter Umgehung der französischen Einreisebestimmungen in Freiburg anwesend war, konnte für den Hannoveraner Parteivorstand endlich erleichtert feststellen, daß mit dem Anschluß der Badener »die letzte Lücke im Gefüge unserer Parteiorganisation der Westzonen geschlossen« wurde.®·* Damit war das Kapitel der Sozialistischen Partei Land Baden beendet. Die Namensgebung »Sozialistische Partei« hatte also nichts mit einem immer wieder behaupteten Zwang der französischen Besatzungsmacht zu tun. Sie war alles andere als ein »Diktat« der Franzosen. Sie ging einzig und allein auf deutsche Überlegungen zurück. Daß jedoch in Baden bis Ende 1946, so lange wie sonst nirgendwo in Deutschland, um das Für und Wider einer geeinten Arbeiterpartei gestritten wurde, hing gleichwohl mit der französischen Besatzungspolitik zusammen. Denn überzonale Kontakte waren von der Militärregierung unterbunden, zumindest sehr erschwert worden. Ehemalige Sozialdemokraten orientierten sich deshalb nicht am Parteiaufbau ihrer Genossen in anderen Zonen, sondern nutzten die politische Quarantäne-Situation des Landes " Philipp Martzloff an den SPD-Parteivorstand Hannover, 22.6.1946 (AdsD, Bestand Schumacher J 25). Dieser Brief war der erste offizielle Kontakt der badischen SP mit der Gesamt-SPD. Statistische Mitteilungen für Baden. Die Wahlen 1946/47 in Baden, Freiburg o.J. " Protokoll des Parteitags, Akten der SPD Freiburg. Diese befinden sich nun im AdsD. " Ebda. Rede Ollenhauers über »Die politische Lage«.

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dazu, eigene parteipolitische Vorstellungen zu verwirklichen. Und hier bot, wie gesehen, die französische Besatzungspolitik erhebliche Freiräume und legte den Deutschen keineswegs ein enges Korsett an. Die Hoffnung der Sozialdemokraten, die Kommunisten würden eine ähnlich regionalspezifische Politik verfolgen, trug jedoch nicht lange. Ohne Rücksicht auf die besonderen Umstände in ihrem Wirkungsbereich übernahmen deren Führungspersönlichkeiten die Vorgaben des Zentralkomitees und verfolgten sie mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung bis zum bitteren Ende des voraussehbaren Fehlschlags. Durch den starren Nachvollzug übergeordneter Strategien hatte die KPD in Westdeutschland allgemein und in Baden im besonderen maßgeblich dazu beigetragen, daß 1945/46 »linke« Neuansätze im Sande verliefen oder abgeblockt und diskreditiert wurden. Freilich gab es in der badischen KP Stimmen, die grundsätzliche Kritik an der KP-Politik nach 1945 insgesamt und der in Baden im besonderen artikulierten. Prominentester Vertreter dieser »Abweichler« war Kurt Hilbig, Freiburger Landesvorstandsmitglied der KP, welcher er schon seit 1922 angehörte.®^ Auf einer Mitgliederversammlung der KP am 1. Februar 1947 unterbreitete er den verblüfften Zuhörern seine unorthodoxen Gedanken.®' Die Richtschnur der Überlegungen von Hilbig war die Frage, wie die deutsche sozialistische Arbeiterbewegung gestärkt werden könne. Im KPD-Aufinf vom 11. Juni 1945 erblickte er einen zukunftsträchtigen Weg, weil damit eine radikale Wendung gegenüber der kommunistischen Politik vor 1933 eingeleitet worden sei. Mit dem Eintreten für eine parlamentarisch-demokratische Republik unterscheide sich die Politik der Kommunisten aber in ihren Grundzügen in keinem wesentlichen Punkt von der Politik der Sozialdemokratie, wie auch insgesamt die beiden Arbeiterparteien sich ideologisch sehr nahe gekommen seien. Allerdings meinte Hilbig, innerhalb der SPD gebe es eine starke bürgerliche, nichtsozialistische Strömung, die vor 1933 großen Einfluß gehabt habe und nun ebenfalls an Gehör gewinne. Den Grund sah Hilbig darin, daß »die wirklich sozialistischen Linkskreise in der SPD in der Minderheit sind. In der Minderheit deshalb, weil wir, die wir ebenfalls zu diesen Linkskreisen zählen, außerhalb der SPD stehen und daher jeder Einflußnahme in dieser Partei beraubt sind.« Seine Ausführungen gipfelten schließlich in der Forderung nach der »Liquidierung« der KPD, denn sie sei in Deutschland fehl am Platze. In der SED vermochte Hilbig kein Modell für eine Vereinigung der Arbeiterparteien im Westen zu erblicken. Für das Integrationskonzept Philipp Martzloffs und anderer badischer Sozialisten hatte er jedoch große Sympathien und sah in diesem Angebot einer gemeinsamen Plattform für alle Kräfte der Arbeiterbewegung den tauglichen Versuch eines Neubeginns. Es sei ein großer Fehler gewesen, »daß unsere Genossen im Spätjahr 1945 die bis dahin geübte Zusam" Kurt Hilbig (1899-1978), gelernter Blechner, war in der Weimarer Republik für die KPD Mitglied im Freiburger Bürgerausschuß, wo er sich auch aktiv im Genossenschaftswesen betätigte. Vgl. Faulhaber, »Aufgegeben haben wir nie ...« (Anm. 8), S. 353. Der schriftliche Niederschlag von Hilbigs Gedanken - ein fünfseitiges Papier - befindet sich im Nachlaß Erwin Eckert, Mappe 3.

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П. Alltagsnot und politischer Neubeginn

menarbeit mit den Genossen der Sozialistischen Partei mit der Begründung lösten, wieder eine eigene Kommunistische Partei gründen zu wollen«. Und vor den versammelten Kommunisten zog Hilbig vom Leder: »Welch ideale Chance ist hier уефаб1 worden, um in Südbaden eine einzige, geeinte sozialistische Partei aufzubauen, die dann auch den richtigen Stempel aufgedrückt bekommen hätte.« Auch weiterhin gelte es, den »Bruderkampf« niederzuhalten. Dafür sei es aber nach wie vor notwendig, daß die Kommunisten ausgetretene Pfade verlassen und Scheuklappen und Hemmungen ablegen müßten, um »den geraden Weg zu den aufrechten Sozialisten in der SP« einzuschlagen. Auf Grund seiner »ketzerischen« Gedanken wurde Kurt Hilbig aus dem Landesvorstand der KP ausgeschlossen. Das war allerdings überflüssig. Denn Hilbig war, weil er die Politik der KP nicht mehr mittragen konnte, aus eigenem Entschluß aus der Landesleitung ausgeschieden. Er kehrte bald darauf auch der Partei den Rücken und wechselte zu den Sozialdemokraten. Aber selbst Hilbigs Kritik ging teilweise an der Wirklichkeit vorbei. Der entscheidende Punkt war von allen Akteuren auf der politischen Linken 1945/46 nicht gesehen oder ausgeblendet worden: Für den Erfolg einer sozialistischen Einheitspartei oder einer Partei mit dezidiert sozialistischem Anspruch und Programm fehlte im industriearmen Südbaden, wo klassisches Proletariat kaum anzutreffen war, die geeignete Sozialstruktur. Mittelschichten, bäuerliche Bevölkerungsgruppen, aber auch die typischen bodenständigen »Arbeiterbauem« wurden durch eine sich klassenkämpferisch gebärdende Partei abgeschreckt. In einem Lagebericht der Kriminalpolizeistelle Lahr, die in regelmäßigen Abständen die französische Sûreté über die öffentliche Meinung informierte, wurde dieser Punkt schon früh benannt: Komme es zu einem Zusammenschluß der beiden Linksparteien, so wurde dort die Stimmung der Bevölkerung beschrieben, dann werde ein großer Teil der sozialdemokratischen Anhänger zur christlich-sozialen Partei übergehen." Die kämpferische Attitude der Sozialisten lief zwar nicht ins Leere, sie hatte aber nicht die beabsichtigte, sondern die gegenteilige Wirkung. Französische Beobachter sahen im vorherrschenden Nihilismus weiter Teile der Bevölkerung und im Widerwillen gegenüber Parolen - wobei auch häufig »Demokratie« als solche klassifiziert wurde - ein Erbe des »Dritten Reiches«. Zur Illustration zitierten sie einen Studenten aus der französischen Zone: »Schlagworte wie: Proletarier aller Länder vereinigt Euch, Kapitalismus, Sozialismus, ewiges Vaterland, bessere Zukunft usw. widern mich an. Wir haben noch aus der Nazizeit genug Schlagworte im Kopf. Will man die Menschheit, vor allem die Jugend, erneut mit einer Schlagwortpropaganda verdummen? Wozu diese verführerischen Formeln? Sozialismus - wenn der Magen leer ist oder wenn in unserer Zone französische Kinder in schönen, gut geheizten Klassenzimmern sitzen. " Lagebericht der staatlichen Polizeistelle Lahr, 3.1.1946 (STAF, LRA Lahr VI 1/73). Dieses Ergebnis deckt sich auch mit einer Umfrage, die im März 1946 in der US-Zone gemacht wurde; vgl. dazu Anna J. und Richard L. Merritt (Ed.), Public Opinion in Occupied Germany. The OMGUS Surveys 1945-1949, Urbana u.a. 1970, S. 7.

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während deutsche Kinder in häßlichen Baracken frieren? Demokratie - wenn unser Volk nicht das Recht hat, gegenüber der Militärregierung seine Meinung frei zum Ausdruck zu bringen? Gilt die Demokratie nur für die Sieger? Das alles erfüllt uns mit Bitternis und kann die Jugend nur abstoßen.«'® Sowohl die badischen Sozialisten als auch die Kommunisten ließen sich von vordergründigen zeittypischen Erscheinungen blenden. Beide waren überzeugt, daß die Linke von der Diskreditierung der politischen Rechten und von einem allfälligen »sozialistischen Neuaufbau« profitieren werde. Erstaunlicherweise hatten bei Versammlungen und Wahlveranstaltungen die Kommunisten häufig den größten Zulauf gehabt, gefolgt von den Sozialisten, wobei allerdings in nahezu allen Berichten der Franzosen »die Abwesenheit der Jugend bei politischen Versammlungen« beklagt wurde.*' Wie sollte man junge Menschen vom Wert der Demokratie überzeugen? Sie hatten doch häufig nicht einmal die wenigen »guten« Jahre der Weimarer Republik bewußt politisch miterlebt. Die Redaktion der Mainzer Jugendzeitschrift »Das Ziel«, die im übrigen auf das Wohlwollen der Besatzungsmacht stieß, erinnerte daran, was sich in der Erfahrung eines jungen Deutschen an Zweifeln aufstauen konnte: »Ein junger Deutscher, der heute dreißig Jahre zählt, wurde in der Monarchie geboren. Er kennt vom Hörensagen ihre >Vorzüge und WerteVorzügen und WertenGrößen< und >SiegeIdeologien< und >WeltanschauungDritte Reich< brach zusammen. Der Jugendliche von dreißig Jahren hat also bis heute im wesentlichen nur geistige und schließlich auch materielle Trümmer in Deutschland erlebt. Monarchie, autoritärer Staat und junge Demokratie: alle hat er scheitern gesehen. Ist es ein Wunder, daß er heute mit Skepsis die zweite Demokratie neu erstehen sieht? Wo ist das positive Beispiel, das ihm zu glauben hilft? Schlagworte mögen begeistern. Aber sie überzeugen auf Dauer nicht. Eine Jugend - selbst eine absolut positiv demokratische - braucht das Beispiel.«'" Im ebenfalls französisch besetzten Württemberg-Hohenzollem, das sozialstrukturell große Ähnlichkeiten mit Baden aufwies, hatte sich die Sozialdemokratische Partei, von Carlo Schmid geleitet, früh darum bemüht, die desillusionierte Jugend an die Demokratie zu binden. Dieter Roser, selbst erst in den Dreißigern, widmete sich mit Elan dieser Aufgabe. In einem »Brief an einen sozialistischen Freund«, den er den französischen Journalisten zugänglich machte, die 1946/47 die »Anthologie der deutschen Meinung« erstellten, beschrieb er seine Erfahrungen, die wohl über Württemberg-Hohenzollem hinaus " Anthologie der deutschen Meinung. Deutsche Antworten auf eine französische Umfrage, Konstanz 1947, S. 26. " V g l . die französischen Zusammenstellungen von Wahlkampfveranstaltungen (AdO, CCFA/HCFA C. 3304 P. 103 D. 45). '"Anthologie der deutschen Meinung (Anm. 88), S. 172f.

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II. Alltagsnot und politischer Neubeginn

Gültigkeit beanspruchen dürfen: »Du wirst verstehen, daß viele von den Jungen, ob sie nun in der Hitler-Jugend waren oder nicht, allmählich ungeduldig werden, wenn sie von Demokratie reden hören und so wenig von dem venvkklicht sehen, was sie sich als Ideal darunter vorstellen und was sie breiten Herzens als Ideal ihres eigenen Lebens annehmen wollten. So zuckt mancher von ihnen unmutig und zweifelnd die Achseln, wenn er etwas von Demokratie zu hören bekommt. Fragst Du ihn nach den Ursachen seines Zweifeins, so wird er, wenn er Dir vertrauen zu können glaubt, vielleicht sagen: >Alle Welt predigt uns Demokratie. Und wir glauben gerne, daß Demokratie die beste Ordnung unter den Menschen darstellt. Wie aber sieht denn die Demokratie derer aus, die davon predigen? Wie geht es denn auf den Behörden und in den Parteien zu, die heute in unserem Volk die Demokratie darstellen? Kann das überhaupt Demokratie sein, was Besatzungsmächte tun und vielleicht tun müssen? Geht denn nicht letzten Endes überall Macht vor Recht, genau wie die Nationalsozialisten es behaupteten?< Fragst Du ihn dann nach den Einzelheiten, so wird er Dir eine erschreckende Reihe von Tatsachen, Schicksalen und Zwischenfällen aufzählen können, die mit wahrer Demokratie schwer vereinbar sind. Da hilft es wenig, wenn Du ihm sagst, dies alles reiche bei weitem nicht an das Maß der nationalsozialistischen Greueltaten heran. Er wird Dir bestenfalls antworten: >Die Nazis haben ja auch nicht behauptet, sie seien Demokraten und wollten die Welt beglücken.< So ist es nicht leicht für uns, das rechte Wort zu finden und die Wahrheit unserer Stellung darzulegen. Wir werden als Sozialisten freilich sagen, es sei nicht Schuld der Demokratie, sondern der kapitalistischen und militaristischen Mächte, daß so vieles in der Welt geschehe, was uns als Demokraten mißfällt. Der Kapitalismus führe notwendig zu brutalem Bereicherungsstreben einzelner oder ganzer Völker, der Militarismus notwendig zu unkontrollierter Machtausübung. Und wir werden fortfahren und sagen, eben darum sei es unsere Aufgabe, als Sozialisten für die echte Demokratie und den wahren Frieden einzutreten. Manchen jedoch wird dies wenig überzeugen. Er wird sagen: >Gegen den Kapitalismus und Militarismus der anderen hilft nur eigene wirtschaftliche und militärische Macht. Mit Eurem intemationalen Sozialismus ist da wenig zu machen!«Säuberungsfließband< einzurichten, das die Akten von einer Station zur nächsten transportiert und dabei denjenigen, die sie in die Hand nehmen, nur die Zeit läßt, einen Stempel oder eine Unterschrift anzubringen.«" Als am 20. November 1946 der Inspecteur Régional Veuillet im Auftrag des Gouverneurs die Überwachung der politischen Säuberung übernahm,"^ machte er unmißverständlich deutlich, wie er sich eine zügige Durchführung der politischen Säuberung vorstellte. Mit völliger Rückendeckung Pênes oktroyierte er den Reinigungskommissionen den bereits erwähnten fragwürdigen Zeitplan auf, der in Baden-Baden die Frage aufwarf, »ob es möglich ist, einen solchen Rhythmus mit emsthafter Arbeit in Einklang zu bringen.«" Veuillet sorgte auch unverzüglich dafür, daß der beträchtliche Rückstand bei den Veröffentlichungen der Sanktionen im Amtsblatt aufgeholt wurde. Seine Interventionen zeitigten zunächst den gewünschten Erfolg: von November an schnellten die Zahlenangaben zur Entnazifizierung in den monatlichen Statistiken drastisch in die Höhe." Mochte Veuillets quasi industrielle Durchführung des Säuberungsverfahrens seine unmittelbaren Vorgesetzten zunächst auch befriedigen, so konnte diese Art der Entnazifizierung über kurz oder lang nur in einem völligen Desaster enden. Veuillets Praxis der »épuration« steht nicht nur für eine verhängnisvolle Strategie, Versäumtes kurzfristig nachzuholen, sondem sie enthüllt gleichzeitig Den Mitgliedern dieser Reinigungskommission genügte bereits »die Mitgliedschaft in der Nazipartei (...), um (...) die empfindlichsten materiellen und persönlichen Sühnemaßnahmen auszusprechen.« Sie begründeten ihr Vorgehen damit, »daß auch die Nazis kein Erbarmen kannten«. Dadurch konnten sie allein in einer zweistündigen Sitzung 93 Fälle entscheiden, d.h. sie benötigten für die Beurteilung jedes Falles durchschnittlich 1,3 Minuten. Siehe Schreiben des stellvertretenden Präsidenten der Reinigungskommission für Industrie und Handel sowie für das Handwerk an Ministerialdirektor Leibbrandt, 16.10.1946 (AdO, Bade A 2507). Willkürliche und an formalen Belastungsmomenten orientierte Sühnebescheide waren auch das Ergebnis der Reinigungskommission für die Landwirtschaft unter Vorsitz von Zink. Dieser nahm nicht einmal die Vorschläge der Kommissionsmitglieder zur Kenntnis, sondern entschied ad hoc zusammen mit dem zuständigen Vertreter des Gouvernement Militaire über die einzelnen Fälle. Interview mit Max Faulhaber vom 6.10.1988. »Note sur le fonctionnement du Service Denazification de la Délégation Supérieure du Pays de Bade«. 28.11.1946 (AdO, AP/Int. et Cultes C. 233 P. 51). " Siehe ebda. " Ebda. "Ebda.

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ΠΙ. Entnazifizierung, Selbstmitleid und Umgang mit der NS-Vergangenheit

auch die eigentliche Ursache für die Entnazifizierungsmisere in Baden und zum Teil auch in anderen Ländern der Besatzungszone: »In Wahrheit ist die Säuberung vor allem ein politisches Unterfangen, und das ist etwas, was die für die französischen Entnazifizierungsdienste ausgesuchten Männer im großen und ganzen nicht verstanden haben. Sie neigen dazu, in der Enmazifizierung lediglich eine juristische Arbeit zu sehen, und wenn sie feststellen, daß das Ausmaß und die Systematik ihrer Arbeit nur zu einer Karikatur der Rechtsprechung gerät, geben sie sich letztlich einem enttäuschten Skeptizismus hin, und sehen ihre Arbeit nur noch unter einem statistischen Blickwinkel.«" Mit dem Zeitdruck auf die deutschen Säuberungsinstanzen taten sich die Offiziere des Service de Dénazification jedoch keinen Gefallen. Nachdem die Reinigungskommissionen ihren »Out-put« an Akten enorm gesteigert hatten, konnte der Entnazifizierungsdienst selbst das Eiltempo nicht mehr mithalten. In seinen Büroräumen stapelten sich Mitte Januar bereits 80 ООО Säuberungsakten, die ihrer Bearbeitung harrten.'* Die deutschen Säuberungsgremien deckten den Service de Denazification derart mit Akten ein, daß die französische Dienststelle sich nicht mehr zu helfen wußte.'^ »Besonders im Bereich der wirtschaftlichen Säuberung hatten wir vorgeschrieben, mit den wichtigsten Fällen zu beginnen; die Deutschen haben dagegen die firanzösische Dienststelle mit unbedeutenden und belanglosen Fällen überhäuft.«^® So wurden Lehrlinge, Verkäuferinnen, Bürojungen, Hutmacher und Besitzer von Modegeschäften entnazifiziert, während die gewichtigen Fälle nicht zum Zuge kamen. Ob sie zurückbehalten Verden, um sie bewußt dem Säuberungsverfahren zu entziehen, wie Amai mutmaßte,*' läßt sich derzeit nicht klären. Vermutlich stellten die Reinigungskommissionen diese Fälle einfach deshalb zurück, um mit Hilfe der »kleinen Fische« schneller ihr tägliches Pensum erfüllen zu können. Zu diesem Zeitpunkt, als der Service de Dénazification mit den Bergen von Akten weder aus noch ein wußte, berief Gouverneur Pène den LieutenantColonel Monteux in die Dienststelle. Seine Hauptaufgabe bestand darin, die Bestimmungen der im Herbst 1946 vom Alliierten Kontrollrat beschlossenen Direktive Nr. 38 in Baden in die Praxis umzusetzen.™ Mit Monteux verfügte der Service neben Veuillet und Récher nunmehr über drei Chefs." " Ebda. Für das Verständnis dieser Vorgänge ist die Tatsache nicht ohne Bedeutung, daß die vier wichtigsten Beamten des Service de Dénazification aktive Berufssoldaten waren. " V g l . Amals »Note à M. l'Administrateur Général«, 17. 1. 1947 (AdO, AP/Int. et Cultes C. 233 P. 51). " Die Eile, mit der die Délégation Supérieure vorging, führte dann auch dazu, daß man eigenmächtig die Sanktionsvorschläge der Reinigungskommissionen abänderte, ohne - wie ursprünglich von Laffon vorgesehen - Rücksprache mit der betreffenden Kommission oder dem Politischen Kontrollausschuß zu halten. Siehe Laffon an Pène, 27. 1. 1947 (AdO, AP/Int. et Cultes С. 233 P. 51). " »Note à M. l'Administrateur Général« von Amai, 17.1.1947 (AdO, AP/Int. et Cultes C. 233 P. 51). " Ebda. Er ging davon aus, daß die deutschen Gremien sie bis zu jenem bereits nahen Zeitpunkt zurückhalten würden, »zu dem sie die Säuberung mit größerer Unabhängigkeit betreiben können«. ™ Ebda. Dazu wurde Monteux von Pène mit umfassenden Vollmachten ausgestattet, die es ihm beispielsweise gestatteten, im Namen des Gouverneurs den Kreisdelegierten Vorschriften zu erteilen.

Französischer Sonderweg in der Entaazifizierung

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Da Pène in puncto Entnazifizierung nicht von seiner Überzeugung abzubringen war, »daß es in diesem Bereich wesentlich darauf ankomme, schnell zu sein und ein Ende zu finden; er habe deshalb Leute antreiben, zu langsame Arbeitsweisen beschleunigen und aktive Männer einsetzen müssen und die politischen Kräfte in Baden gegen die Säuberungsbescheide Sturm liefen, intervenierte Laffon persönlich. Er verhehlte gegenüber dem Délégué Supérieur nicht seine Enttäuschung darüber, daß er die Freiheiten, welche ihm seine dezentrale Entnazifizierungspolitik gelassen hatte, nicht produktiv genutzt hätte." So hätte es im ökonomischen Sektor vollauf genügt, auf der Grundlage seiner Anweisungen vom 31. Oktober 1945 die Vorgehensweise durch Prioritätslisten von Firmen und leitendem Personal zu hierarchisieren, um dem »augenblicklichen Durcheinander« zu entgehen.^"* Angesichts dieser Versäumnisse verlangte der Administrateur Général von Pène imperativ die Befolgung seiner Instruktionen bei der Entnazifizierung der Wirtschaft, also Abkehr von der Fixierung auf rein numerische Erfolgsbilanzen, vorrangige Beurteilung und gegebenenfalls Bestrafung von einflußreichen Persönlichkeiten sowie Reorganisation des Service de Dénazification.^' Daraufhin wurden die Reinigungskommissionen zwar aufgefordert, zunächst die Akten einfiußreicher Persönlichkeiten zu übeφгüfen, doch die Entwicklung war Anfang 1947 nicht mehr aufzuhalten.^' »Die deutschen Institutionen sind angewiesen worden, zunächst die wichtigen Fälle zu überprüfen. Ich betone, daß die mit der Prüfung der Akten befaßten Offiziere, die gezwungen sind, Fließbandarbeit zu leisten, diesbezüglich keine Kontrolle haben vornehmen können.«'' Ende Februar 1947 hatte die Délégation Supérieure noch 30 ООО Säuberungsakten nicht mit ihrem »Visa« versehen, ebenso viele Sanktionen waren zu diesem Zeitpunkt den Betroffenen noch gar nicht mitgeteih worden.'' Als einen Monat später die Entnazifizierung schließlich in ein neues Stadium trat, waren diese Rückstände aufgeholt, unter Bedingungen, die keiner Erklärung bedürfen. " Ebda. »Somit wird nun das Durcheinander in der Dienststelle, das wahrlich schon groß genug ist, durch einen weiteren Faktor verstärkt«. " Siehe handschriftliche Notiz (ohne Unterschrift), 23.1.1947 (AdO, AP/Int. et Cultes С. 233 P. 51). Der Entnazifizierungsbeauftragte Laffons, Pierre Amai, war mehrmals bei Pène vorstellig geworden. " Dennoch hielt Laffon an dieser Politik fest: »Bei diesem so vielschichtigen Problem der Säuberung bin ich immer bestrebt gewesen, den Gouverneuren der Provinzen ein Maximum an Freiheit zu lassen, und ich habe noch nicht die Absicht, meine Haltung diesbezüglich zu ändern.« Laffon an Pène, 27.1.1947 (AdO, AP/Int. et Cultes С. 233 P. 51). " Ebda. " Ebda. Der Service sollte künftig nur noch von einem Chef geleitet werden. ™ Es kam auch zu personellen Veränderungen innerhalb des Entnazifizierungsdienstes, jedoch ganz im Sinne von Veuillet: Seine Gegenspieler wurden »discrètement débarqués« - diskret ausgebootet. Flécher beispielsweise wurde nach Baden-Baden versetzt. Siehe Amals »Etüde critique de la lettre de la Délégation Supérieure du 1er Février«, 25.2.1947 (AdO, AP/Int. et Cultes С. 233 P. 55). " Ebda. "Ebda.

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ΠΙ. Entoazifizierung, Selbstmitleid und Umgang mit der NS-Vergangenheit

Im Frühjahr 1947 war der antifaschistische Konsens, der in der frühen Nachkriegszeit oftmals beschworen wurde, um eine drohende »Renazifizierung« zu verhindern, deutlich im Schwinden begriffen. Bei fast allen demokratischen Kräften Badens schob sich knapp zwei Jahre nach Kriegsende zusehends das Bedürfnis in den Vordergrund, den Blick nach vom zu richten und die unerträgliche Last der Vergangenheit - personifiziert durch ein Heer von ehemaligen Parteigenossen - abzuschütteln. Dies um so mehr, als die »auto-épuration« die Ansprüche nicht erfüllt hatte, mit denen sie ursprünglich angetreten war. Wahltaktische Überlegungen der Parteien, die mit Amnestien Wählerstimmen gewinnen wollten, kamen hinzu. Am deutlichsten zeigte sich diese Entwicklung bei der Einführung des Spruchkammerverfahrens in Baden mittels der »Landesverordnung über die Befreiung vom Nationalsozialismus und Militarismus«. Leo Wohleb unterstützte als Präsident des Staatssekretariats einen Amnestieantrag und Änderungswünsche der Beratenden Landesversammlung. Diese Änderungswünsche zielten de facto darauf ab, sämtliche verhängten Sanktionen einer Revision zu unterziehen.^' Wohleb bezeichnete die Vorschläge des Plenums als eine allgemein für notwendig erachtete Verbesserung, durch welche »die Prinzipien und Notwendigkeiten des Gesetzes, auf dessen umfassende Anwendung die Landesversammlung ebenso wie die Provisorische Regierung größten Wert legen,« in keiner Weise schaden nehmen würden.'" Schließlich gestand Pène schriftlich zu. »daß der Staatskommissar für die Entnazifizierung mich in Ausnahmefällen wird bitten können, den Vollzug unbestreitbar überzogener Sanktionen auszusetzen, die Gegenstand von Revisions- oder Berufungsverfahren sind und deren unverzügliche Anwendung offentìichen oder privaten Interessen irreparablen Schaden zufügen würde.«" Anfang 1948 setzten sich jene Kräfte innerhalb der Délégation Supérieure durch, die in der Entnazifizierung von jeher nur eine lästige Pflichtübung gesehen hatten. Sie nahmen die Rückkehr oder Beibehaltung kompromittierter, jedoch qualifizierter Fachleute billigend in Kauf, wenn sich dadurch eine Steigerung wirtschaftlicher und bürokratischer Effizienz erzielen ließ. Einer solchen Tendenz hätte Pène bereits früher Einhalt gebieten müssen. Zur Umorientierung der Besatzungsmacht im Bereich der politischen Säuberung trugen auch die beharrlichen deutschen Bestrebungen bei, die Wirkungen der politischen Säuberung zu neutralisieren. Es wäre verwunderlich, wenn sie nicht resignative Einstellungen auf französischer Seite hervorgerufen hätten. Vor der Einführung des Spruchkammerverfahrens waren in Baden 187 639 Säuberungsentscheidungen getroffen worden, wovon lediglich 87 604 Sühnemaßnahmen beinhaltet hatten.'^ Diese 87 604 Fälle wurden schließlich auf" Vgl. Grohnert, Entnazifizierang (Anm. 1), S. 195. Wohleb an Pène, 13.3.1947 (STAF, A 2/1321). " Vgl. Grohnert, Entnazifizierung (Anm. 1), S. 196. " Die Zahlenangaben basieren auf den »Grundsätzlichen Bemerkungen zu den Entwürfen des bevorstehenden Abschluß- und Gnadengesetzes in der politischen Säuberung Badens«, die Staatskommissar Nunier am 23. 2. 1950 verfaßt hatte (StA Freiburg, С 5/186).

Französischer Sonderweg in der Entnazifizierung

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grund einer von der Militärregierung festgelegten Einstufungstabelle in die Kategorien, welche die »Landesverordnung zur Befreiung vom Nationalsozialismus und Militarismus« vom 29. März 1947 vorgesehen hatte, wie folgt eingeteilt: Schuldige 9 128, Minderbelastete 26 175, Mitläufer 52 301. Es legten von den 9128 Schuldigen - um bei diesem Personenkreis zu bleiben - bis einschließlich Februar 1950 8926 Revision nach Artikel 33 der Landesverordnung ein." In 98 Prozent der Fälle hatte die Revision Erfolg, so daß letztlich nur 178 Personen in der Gruppe der Schuldigen verblieben. Das Scheitern der Entnazifizierung war damit besiegelt. Nach den krassen Fehlurteilen des Verwaltungsverfahrens, die nicht nur die zu Unrecht Bestraften zu Opfern stilisierten, hielt die generelle Nachsicht der Spruchkammern die Betroffenen und mit ihnen einen großen Teil der Gesellschaft endgültig davon ab, das eigene Verhalten während des »Dritten Reiches« kritisch zu beleuchten und echte Sühnebereitschaft zu zeigen. Statt dessen wurde die »Unfähigkeit zu trauem« - um mit Alexander und Margarete Mitscherlich zu sprechen - kollektiv zementiert.

" Im Falle der restlichen 202 Personen wurde davon ausgegangen, daß sie zum Teil in andere Zonen verzogen waren oder auf eine Revision ihrer Urteile verzichteten.

2. Die »Rééducation« - Schule und Hochschule »Die öffentliche Meinung erkennt zusehends an, daß es neben den militärischen, politischen und wirtschaftlichen Sicherheitsvorkehningen sozusagen geistige Sicherheitsgarantien geben muß, um das erneute Aufleben des Alldeutschtums (pangermanisme) zu verhindern. Diesen Standpunkt zu vertreten, heißt, das Problem der Umerziehung des deutschen Volkes aufzuwerfen. Diese Umerziehung kann aber nur durch die deutsche Schule selbst erfolgen; daher müssen wir gerade sie reformieren.«' Sollte die Umerziehung erfolgreich verlaufen, mußte zunächst die Lehrerschaft eingehend überprüft werden, zumal allein sieben Gauleiter und -Stellvertreter, 78 Kreisleiter und 2000 Hoheitsträger der NSDAP von Beruf Lehrer waren und 97 Prozent der deutschen Lehrerschaft dem Nationalsozialistischen Lehrerbund angehört hatten (1936).^ Mit den Directives Générales sur l'Enseignement, les Beaux-Arts, les Sports et la Jeunesse vom 24. August 1945 verfügte der Generalverwalter Laffon, »daß alle Beamten im Schuldienst, die Mitglieder der Partei oder ihrer Gliederungen gewesen waren, automatisch zu entlassen seien und ein gewisser Teil von ihnen - hauptsächlich auf Widerruf - wiedereingestellt werden könnte.«' Es mußten zwar nicht alle Parteimitglieder automatisch den Schuldienst quittieren, doch die Entlassungsquote bei den Lehrern war so hoch wie bei keiner anderen Berufsgruppe." Von den Volksschullehrem wurden bis zum 1. Februar 1946 in der gesamten Besatzungszone ungefähr 25,8 Prozent definitiv entlassen, von den verbliebenen 10 862 Lehrkräften verfügten rund 42,2 Prozent nicht mehr über ihren Beamtenstatus und konnten daher jederzeit gekündigt werden. Bei den höheren Schulen lag der Prozentsatz der Entlassenen zu jenem Zeitpunkt mit etwa 33,3 Prozent deutlich höher.' Durch den Rückgriff auf unbelastete Pädagogen allein konnte der enorme Lehrermangel nicht behoben werden. So stellten die Schulbehörden in der An' Studie der Education Publique »Le Problème de la Rééducation du Personnel Enseignant« (Ado, AC 124,2). ^ Angelika Ruge-Schatz, Umerziehung und Schulpolitik in der französischen Besatzungszone 1945-1949, Frankfurt/M. 1977, S.70. ' Siehe Schreiben Laffons an die Délégués Supérieurs, 25.6.1946 (AdO, RH-PAUPol. C. 901 R 5). * Einer summarischen französischen Schätzung zufolge hatten 75 Prozent der Lehrer im Herbst 1945 Berufsverbot. Siehe Angelika Ruge-Schatz, Grundprobleme der Kulturpolitik in der Französischen Zone, in: Claus Scharf/Hans-Jürgen Schröder (Hrsg.), Die Deutschlandpolitik Frankreichs und die französische Zone 1945-1949, Wiesbaden 1983, S. 91-110, hier S. 98. Vgl. auch Bericht zum Abschluß der politischen Überprüfung der Lehrerschaft in Baden, S. 8 (STAF, S 2/427): »Im Gegensatz zu allen anderen Berufszweigen wünscht aber die Mil.Reg., daß im Lehrerberuf ganz besonders scharf gesiebt werden müsse, da für die Erziehung der Jugend nur einwandfreie, mit demokratischem Geist erfüllte Persönlichkeiten eingesetzt werden sollen. Es werden deshalb im Lehrerberuf im Verhältnis zu anderen Berufszweigen, viel weniger Beamte in ihr Amt zurückkehren. ' Ado, AP/Int. et Cultes С. 232 P. 47.

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fangszeit pensionierte und politisch unbelastete Lehrer der Weimarer Zeit, aber auch junge Lehramtskandidaten als Schulhelfer ein. »Gleichzeitig wurden für unbelastete Lehrer Umschulungslehrgänge eingerichtet, bei denen die Militärregierung sich der Mithilfe ausgewählter Beamter der Kultusverwaltung, der Schulen und Kirchen bediente. Es gehörte zur Pflichtübung dieser Kurse, die kulturelle Tradition Frankreichs in Deutschland hervorzuheben und die Notwendigkeit der Völkerverständigung zu unterstreichen.«' Um den Schulbetrieb so schnell wie möglich wieder aufnehmen zu können, sahen die neuen Bestimmungen zum Unterrichtsprogramm expressis verbis keine tiefgreifenden Veränderungen im Vergleich zu den Lehrplänen von 1 9 3 8 / 3 9 vor.^ Das Fach Heimatkunde blieb bestehen. Von NS-Ideologie befreit, beschäftigte es sich mit regionalspezifischen Themen. Anstelle von NS-Liedem wurden im Musikunterricht Volkslieder und Kanons gesungen. Der Sportunterricht erfolgte nun ohne Spiele mit militärischem Charakter, und im Zeichen- und Werkunterricht bastelten die Schüler fortan kein Kriegsgerät mehr. Geschichtsunterricht blieb vorerst untersagt, das Fach Rassenkunde wurde ersatzlos gestrichen. Der Biologieunterricht mußte sich zunächst auf Anatomie, Zoologie und Botanik beschränken. Im Juli 1946 hielt die Militärregierung den Zeitpunkt für gekommen, »künftig eine normale Einstellungspolitik im Primarschulbereich zu gewährleisten (...) Wir werden diese organisatorische Veränderung dazu nutzen, um in der gesamten Besatzungszone das Einstellungsverfahren zu vereinheitlichen, das bislang von Provinz zu Provinz unterschiedlich ausfiel.«' Eine systematische Personalpolitik war auch dringend erforderlich. Die Lage an den meisten Schulen erwies sich als desaströs: »Viele Schulen sind zur Zeit ohne Lehrer, die Klassen sind überall überfüllt. Man vertraut einem einzigen Lehrer oft zwei oder drei Klassen an (80 bis 100 Schüler), in denen er abwechselnd unterrichtet. Das Personal setzt sich vor allem aus Frauen, Hilfslehrern und Lehrerinnen und Lehrern zusammen, die entweder zu alt oder zu jung sind.«' Da dies nicht so bleiben konnte, erließ Generalverwalter Laffon am 8. Juli 1946 eine Verfügung, wonach in allen Ländern der französischen Zone »Sonderschulen unter der Bezeichnung Lehrer-Seminar (Ecole Normale), die zur pädagogischen und demokratischen Heranbildung des Volksschullehreφersonals bestimmt sind«,'" eingerichtet werden mußten. Die Direction de l'Education Publique, die von Raymond Schmittlein, einem renommierten französischen Germanisten, geleitet wurde, versprach sich davon mittelfristig, d.h. nach acht bis zehn Jahren, eine veränderte Zusammensetzung der Lehrerschaft, die »den Wiederbeginn eines gesunden und konstruktiven Unterrichtes«" ermöglichen würde.'^ ' Ruge-Schatz, Grundprobleme der Kulturpolitik (Anm. 4), S. 98f. ' Vgl. Stefan Zauner, Erziehung und Kultumiission. Frankreichs Bildungspolitik in Deutschland 1945-1949, München 1994, S. 73f. ' »Projet relatif à la formation professionnelle des maîtres de l'enseignement primaire allemand« (ohne Unterschrift), Juli 1946 (AdO, AC 65). 'Ebda. Ruge-Schatz, Grundprobleme der Kulturpolitik (Anm. 4), S. 99. "Ebda. Zur Biographie Schmittleins siehe Zauner, Erziehung und Kulturmission (Anm. 7), S. 20ff.

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III. Entnazifizierung, Selbstmitleid und Umgang mit der NS-Vergangenheit

Entsprechend dem Vorbild der französischen Volksschullehrerausbildung sollten nach einer sechsjährigen Ausbildung, die in zwei Abschnitte zerfiel, Nicht-Abiturienten Zugang zum Beruf des Lehrers erhalten. »Es ist vorgesehen, daß jeder Lehramtsanwärter 6 Jahre an einer Ecole Normale studiert: 4 Jahre Grundstudium führen die Schüler zum Abitur, in 2 Jahren Aufbaustudium muß die pädagogische Ausbildung vermittelt werden.«" Die Lehrer an diesen Pädagogischen Hochschulen wurden von Schmittleins Direction de l'Education Publique auf Vorschlag der Ländergouvemements emaimt. Diese Reform verstand die Direction als gesellschaftspolitische Maßnahme, denn sie sah »in der Jugend der ländlichen Teile der Besatzungszone das Hauptreservoir für die demokratische Erneuerung.«'" Gerade Lehrer, die aus bäuerlichen Verhältnissen oder aus der Arbeiterschicht stammten, boten für Schmittlein eine wirkungsvolle Garantie für eine demokratische Entwicklung der Schule. Gymnasiasten als potentiellen Lehrern hingegen mißtraute er, da sie lange Zeit der nationalsozialistischen Indoktrination ausgesetzt gewesen waren. Schmittlein legte größten Wert auf eine überkonfessionelle, weltanschaulich neutrale Ausbildung der Lehrer. Warum sollte dies auch nicht möglich sein, da gerade Baden ja seit langem seine Volksschule simultan, also nicht konfessionsgebunden, organisiert hatte? Doch Schmittlein unterschätzte den Widerstand gegen den damit verbundenen Traditionsbruch. Die badische Seite stand seinen Plänen völlig ablehnend gegenüber. Zwar hatte man - im Gegensatz zu Württemberg-Hohenzollem und Rheinland-Pfalz - keine grundsätzlichen Probleme mit überkonfessionellen Volksschulen, da seit 1876 die Simultanschule in Baden die Regelschule war. Für reichlich Konfliktstoff sorgte allerdings Schmittleins Konzeption, die herkömmliche, trotz Simultanschule bis 1933 weitgehend konfessionelle Lehrerausbildung abzuschaffen, den akademischen Charakter der Ausbildung aufzugeben und neuen Schichten den Zugang zum Lehrerberuf zu ermöglichen. Im Verein mit der BCSV lehnte die katholische Kirche die Pläne der Direction de l'Education Publique kategorisch ab, denen - unschwer erkennbar - das Modell der laizistischen, nichtakademischen französischen Ecole Normale zugrunde lag. Lehrinhalte und Zugangsmöglichkeiten sollten unverändert bleiben, so lautete die Forderung der Reformgegner. Ungeachtet heftiger Proteste wurden zum Schuljahresbeginn 1946 vier Ecoles Normales eingerichtet." Die Ausbildungsstätten für den ersten Studienabschnitt befanden sich in Meersburg (männliche Lehramtskandidaten) und Lahr (weibliche Lehramtsanwärterinnen), die eigentlichen Pädagogien in Lörrach (Männer) und Gengenbach (Frauen).

"Bericht (o.J.) über die »Activité des Services de l'Education Publique du Gouvernement Militaire«, S. 50 (AdO, Bade 0005). "" Rüge-Schatz, Grundprobleme der Kultuφolitik (Anm. 4), S. 99. Zu den Ecoles Normales, besonders im Zusammenhang mit der konfessionellen Lehrerbildung siehe Peter Fäßler, Badisch, Christlich und Sozial. Zur Geschichte der BCSV/CDU im französisch besetzten Land Baden (1945-1952), Frankfurt/M. 1995, S. 174-184. " Siehe auch Fäßler, Badisch (Anm. 14).

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Im Frühjahr 1947 stellte man in der Erziehungsabteilung in Baden-Baden fest, daß die deutsche Ministerialbürokratie für die Ecoles Normales nur »zuverlässiges« Personal vorschlug. Man war darüberhinaus bestrebt, diejenigen Direktoren und Lehrenden, die zu sehr unter dem Einfluß der Militärregierung standen und insbesondere direkt von deren Dienststellen rekrutiert worden waren, aus dem Dienst zu entfernen.'® Die Rückkehr zur konfessionellen Lehrerausbildung stand auf der Tagesordnung. In Baden versuchten daher Staatspräsident Wohleb und seine Mitarbeiter Ott und Fleig, für die Ecoles Normales in Gengenbach und Meersburg ausnahmslos Katholiken und für Lörrach und Lahr so viele Protestanten wie möglich vorzuschlagen. Desweiteren sollten am ersten Studienabschnitt nur Lehramtskandidaten teilnehmen, die auch für den zweiten die Zulassungsvoraussetzungen erfüllten." Das hieß im Klartext: ausschließUch Rückgriff auf Abiturienten, die Schmittlein partout nicht wollte. Die Direction de l'Education Publique versuchte mit Nachdruck, ihre Reformvorstellungen gegen die Widerstände der deutschen Kultusverwaltung durchzusetzen. Schmittlein machte von ihrem Gelingen gar den Erfolg der Umerziehungspolitik abhängig: »Für mich persönlich kann ich nur ein weiteres Mal meiner tiefen Uberzeugung Ausdruck verleihen, daß die Errichtung von konfessionsgebundenen Lehrerbildungsanstalten den Ruin des gesamten Umerziehungskonzeptes bedeutet.«" Schmittlein erklärte die Lehrerausbildung zum Schlüsselproblem der französischen Umerziehungspolitik: »Die Frage der Lehrerbildungsanstalten stellt in der Tat das wichtigste Problem bei der Umerziehung der Deutschen dar. Es ist unerläßlich, daß jene, die vor der Geschichte den schwierigen Auftrag dieser Umerziehung erhalten haben, in diesem Fall die Direction de l'Education Publique, ihre schwere Aufgabe fortsetzen können, ohne auf neue Hindernisse zu stoßen, die sich zu den bereits existierenden gesellen (...) Die Ausbildung der deutschen Volksschullehrer muß vollständig von uns gewährleistet werden, bis wir die Gewißheit haben, daß sie den Sinn für Freiheit, Objektivität und Menschlichkeit wiedererlangt haben.«" Schmittleins Position, ja sein quasi missionarischer Eifer, fand aber nicht die ungeteilte Zustimmung auf französischer Seite. Als am 19. Juni 1947 die Verordnung Nr. 95 erlassen wurde, die den Ländern der französischen Besatzungszone mehr Kompetenzen zugestand, appellierte Außenminister Bidault an die Direction de l'Education Publique, den Deutschen nicht das Gefühl zu vemütteln, daß ihnen französische Methoden und Konzeptionen aufoktroyiert würden. Zwar sollte das Unterrichtswesen demokratisiert werden, allerdings nicht nach französischem Muster. Reformen würden nach Bidault nur dann zum dauerhaften Erfolg führen, wenn sie nicht mit deutschen Traditionen brächen.^ " »Note pour M. le Directeur de l'Education Publique« (ohne Unterschrift), 10.3.1947 (AdO, AC 65). " Ebda. " Vgl. Schmittlein an Laffon, 7.6.1947 (AdO, AC 73). " Vgl. Ministère de l'Education Nationale an Unterstaatssekretär Schneiter, 24.10.1946 (AdO, AC 73). " Zauner, Erziehung und Kulturraission (Anm. 7), S. 98. General Koenig begrüßte diese Vorgabe Bidaults im übrigen als überfällige »emsthafte« Richtlinie aus Paris.

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Ш. Entnazifizierung, Selbstmitleid und Umgang mit der NS-Vergangenheit

Dessen ungeachtet hielt Schmittlein an den Reformplänen fest, die sich am französischen Modell orientierten. Sie gingen weit über die Frage der Lehrerrekrutierung hinaus und erfaßten das gesamte Schulsystem. Die Frage der Ausbildung der Volksschullehrer stellte quasi das Trojanische Pferd dar, mit dem Schmittlein in die Phalanx der deutschen Schultraditionalisten einbrechen wollte. Hinter seiner Beharrlichkeit und seinen mitunter brachialen Strategien verbargen sich drei prinzipielle Beweggründe seines Handelns: ein pädagogisches, ein umerziehungs- und damit deutschlandpolitisches sowie ein gesellschaftspolitisches Motiv.^' Unter pädagogischen Gesichtspunkten erachtete es Schmittlein für unerläßlich, den Orientierungs- und Ausleseprozess für den weiterführenden Unterricht bis mindestens zum 12. Lebensjahr zu verlängem. Die alten Sprachen sollten ihre Vorrangstellung in den ersten Gymnasialklassen zugunsten einer modernen Fremdsprache verlieren. Schmittlein strebte eine »formale Vereinheitlichung der Oberschultypen bei gleichzeitiger Flexibilisierung im Innern durch vielfältigere Möglichkeiten der Fächerwahl und -kombination an jedem Gymnasium« an.^^ Enzyklopädische Wissensansammlung war nicht mehr gefragt. Statt dessen gelte es, so lautete Schmittleins umerziehungspolitisches Credo, »die Jugend von diesem Pflichtkanon an Fächern zu befreien, der ihr Urteilsvermögen abtötet, von jenen Wagnerschen Alpträumen, die ihre Phantasie vergiften; ihr bei(zu)bringen, daß der Nationalismus ihr von einer Koalition aus romantischen Schriftstellem und preußischen Militärs künstlich eingeredet wurde; ihr (zu) zeigen, daß die Philosophie des Übermenschen und die Verherrlichung heldischer lügenden in die Katastrophe führen müssen, also nichts als eine Philosophie des Pessimismus darstellen, die notwendigerweise Totalitarismus und Diktatur hervorbringt (...); ihr als Gegenstück zu dieser finsteren Philosophie den Optimismus des Humanismus vor(zu)führen, der sich im wesentlichen auf den Glauben an den Fortschritt der Menschheit und die Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen gründet.«" Parallel zu diesem idealistischen Ansatz versuchte Schmittlein, dem Prinzip der sozialen Gerechtigkeit Geltung zu verschaffen: Das bisherige »recrutement de classe«, worunter er die »Inbesitznahme der weiterführenden Schulen, der Hochschulen und der freien Berufe durch die deutsche Bourgeoisie« verstand, sollte durch die Förderung einer echten Leistungselite, ein »recrutement d'élite«, ersetzt werden.^·· Koenig ließ Schmittlein, dem er wohl gesonnen war, gewähren. Laffon, der noch bis Jahresende 1947 im Amt blieb, unterstützte seine Bemühungen. Der Leiter der Direction de l'Education Publique baute schließlich auf den Kontrollrat, mit dessen Hilfe er sämtliche Schulreformen durchzusetzen gedachte. Noch bevor dieses interalliierte Gremium am 25. Juni 1947 die Direktive Nr. 54 (»Basic Principles for Democratization of Education in Germany«) erließ, Siehe hierzu Zauner, Erziehung und Kulturmission (Anm. 7), S. 144ff. und passim. " Ebda., S. 145. " Zitiert nach ebda., S. 146. " Vgl. ebda., S. 148f.

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ordnete Laffon ihre Umsetzung in der französischen Besatzimgszone an.^' Der Zehn-Punkte-Katalog des Kontrollrats sollte schließlich die Einlösung vor allem folgender Postulate fordern: gleiche Bildungschancen für alle; Schulgeldfreiheit und Gewährung von Stipendien für Bedürftige; allgemeine Schulpflicht bis zum 15. Lebensjahr; konsekutiver Aufbau des Schulwesens, also keine Überschneidung von Elementarschul- und Gymnasialbereich. Laffons Anordnung löste zonenweit große Empörung aus: »Immer vemehmlicher meldeten sich die französischen Landesgouverneure als Fürsprecher deutscher Kritiker zu Wort und verhalfen so dem Widerstand gegen den Reformeifer der D.E.P. zu beträchtlicher Sprengkraft.«^' Besonders der Délégué Supérieur für das Land Baden profilierte sich als Gegner der Schmittleinschen Reformen, so daß der Leiter der Erziehungsabteilung ihm regelrecht Sabotage vorwarf. Es vergingen zwei Monate, bis Pierre Pène Laffons Anweisungen vom 16. Juni an das badische Kultusministerium weiterreichte. Dieses Verhalten des obersten Vertreters der französischen Militärregierung in Baden ist bemerkenswert, da die Badener, »durch Gerüchte hellhörig geworden, schon vorher um Aufklärung nachsuchten. Darüber hinaus bezeichnete der Délégué Supérieur die Kontrollratsempfehlung als nicht bindend, gar im Widerspruch zu Bidaults Richtlinien stehend«." Auf dem Gebiet der Schulpolitik erwies sich das Beharrungsvermögen der traditionsgebundenen Kräfte als besonders ausgeprägt. Dies verwundert nicht angesichts der Differenzen innerhalb der Besatzungsmacht. So konnte in Baden Ministerialdirektor Paul Fleig, der faktische Leiter des Kultusministeriums, persönlich Veränderungen in den Lehrerbildungsanstalten ankündigen, ohne Sanktionen seitens der Délégation Supérieure zu befürchten. Er erzeugte damit »eine gewisse Verwirrung bei den jungen Leuten in den Schulen, die nicht mehr wissen, ob sie ihre Studien fortsetzen können oder ob die Studien von einer neuen Reform unterbrochen werden.«^® Auch ein Jahr später war die Schulreform noch nicht umgesetzt.^' Das Inkrafttreten des Besatzungsstatuts bedeutete schließlich das endgültige Aus für die französischen Schulpläne. Im Sommer 1949 äußerten Heig und Wohleb gegenüber der Militärregierug die Absicht, die Ecoles Normale des »1er cycle« zu schließen. Sie begründeten dies damit, daß es überflüssig sei. Ecoles Normales zu unterhalten, wo doch die Oberschulen die Schüler zum Abitur hinführten, und außerdem die Unentgeltlichkeit der Ecoles Normales den Staatshaushalt zu sehr belaste.^" Die französische Besatzungsmacht, genauer gesagt die Direction de l'Education Publique unter Raymond Schmittlein, erlitt - ebenso wie die amerikanische - mit den meisten ihrer Reformpläne Schiffbruch, weil sie letztlich einen "Ebda., S. 101. ^'Ebda., S. 102. " Ebda., S. 103. Vgl. Schmittlein an Laffon, 7.6.1947 (AdO, AC 73). "Vgl. Schmittlein an Daty, 13.7.1948 (AdO, AC 65). " Vgl. Note pour l'Inspecteur Général, Chef de la D.E.P., 19.8.1949 (AdO, AC 65).

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III. Entnazifizierung, Selbstniitleid und Umgang mit der NS-Vergangenheit

Widerspruch nicht auflösen konnte: »Man propagierte Demokratie, wozu eben auch Selbstbestimmung der deutschen Bevölkerung gehörte. Aber man betrieb Umerziehung nach eigenen Wertvorstellungen.«'' Von den französischen Reformen blieben schließlich in Baden nur die Institution des Zentralabiturs und die Einführung des Französischen als erste Fremdsprache an Gymnasien übrig. Auch im Hochschulbereich wurde auf grundlegende Neuerungen verzichtet. Unmittelbar nach Kriegsende nahm die Universität Freiburg ihr Schicksal selbst in die Hand und begann, sich neu zu organisieren. Der Senat der traditionsreichen Alma Mater, die unter ihrem Rektor Martin Heidegger gleich 1933 dem Führerprinzip zum Durchbruch verholfen hatte, beschloß, zum Kollegialprinzip zurückzukehren. Damit schuf das Gremium ein Fait accompli, das auch später von der Militärregierung nicht mehr in Frage gestellt werden sollte.'^ Am 25. April 1945 wählte eine Plenarversammlung Freiburger Ordinarien per Akklamation einen neuen Rektor, den Pharmakologen Sigurd Janssen, sowie neue Dekane für die Fakultäten." Gleichzeitig bestimmte sie die künftige Zusammensetzung des Senates." Von diesem organisatorischen Neuanfang" versprachen sich die Professoren und Dozenten eine unmittelbare Wiederanknüpfung an die »frühere große TVadition«'' der Weimarer Republik und eine baldige Wiederaufnahme des Lehrbetriebes. Das Ende der »Führer-Universität« sollte damit besiegelt sein. Man erkannte jedoch sehr schnell, daß der Aufbau eines neuen institutionellen Rahmens allein nicht genügte, sondern Maßnahmen gegen nationalsoziaUstische Angehörige der Universität unumgänglich waren. Nach mehreren Denunziationen bei der französischen Besatzungsmacht beschloß der Senat in den Sitzungen vom 5. und 8. Mai, hinsichtlich der Entnazifizierung selbst initiativ zu werden. Damit wollte man die Kontrolle über die anlaufende politische Säuberung und die allgemeine Entwicklung der Universität nicht verlieren. An die einzelnen Fakultäten erging daher die Aufforderung, die Lehrenden zu benennen, die Spitzeldienste geleistet oder sich durch herausragende nationalsozialistische Gesinnung hervorgetan hatten. »Es wur" Vgl. Fäßler, Badisch (Anm. 14), S. 175. " Der Senat der benachbarten Universität Tübingen verfuhr ebenso. Vgl. Zauner, Erziehung und Kulturmission (Anm. 7), S. 207. ' ' Zu Dekanen (Prodekanen) wurden gewählt: Theologische Fakultät: Arthur Allgeier (Alfred Wikenhauser); Rechts- und Staats wissenschaftliche Fakultät: Walter Eucken (Gustav Boehmer); Medizinische Fakultät: Kurt Beringer (Paul Hoffmann); Naturwissenschaftlich-Mathematische Fakultät: Eduard Zentgraf (Friedrich Oehlkers). Die Philosophische Fakultät war noch nicht präsent. " Vgl. Regina Helfrich, Die Universität Freiburg i.Br. in der Zeit der Umgestaltung nach 1945, auch unter Berücksichtigung der Universitätsverfassung und d p Organisation der Lehre, Unveröffentl. Magisterarbeit Freiburg 1985, S. 37 und passim. Siehe dazu auch, jedoch überwiegend unter dem Blickwinkel des Schicksals von Martin Heidegger: Hugo Ott, Martin Heidegger. Unterwegs zu seiner Biographie, Frankfurt/New York 1988, S. 291-327. " Bis zur Wiedereröffnung der Universität im Herbst 1945 wurden die Lehrstühle für Rassenkunde und Geopolitik abgeschafft, ebenso die im »Dritten Reich« aufgebauten Institute für Rundfunkwissenschaften, gerichtliche Medizin, Volkskunde, Ur- und Frühgeschichte sowie die Abteilung Luftfahrt des Instituts für Leibesübungen. ' ' Helfrich, Universität Freiburg (Anm. 34), S. 37.

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den drei Gruppen vorgesehen: Denunzianten (weitgehend SD-Vertrauensleute) - Funktionäre (Dozentenbundsführer und dergleichen) - Rektoren/Dekane. Die Untersuchung der Amtsführung der Rektoren wurde fürs erste vertagt.«" Über ihr weiteres Schicksal sollte ein Disziplinarverfahren entscheiden. Als die ersten Betroffenen dieser Regelung, die schwer belasteten Professoren Steinke (Physik), Siegert (Medizin) und Kohn (Bodenkunde), beurteilt werden sollten, überwogen allerdings kollegiale Bedenken.^' Den Diskussionsprozeß um die Entoazifizierung hemmte von Anfang an eine Standessolidarität des Lehrkörpers, der sich eine politische Säuberung nur unter dem Motto »Wasch' mir den Pelz, aber mach' mich nicht naß«'' vorstellen konnte. Nachdem Colonel Schneider den Ordinarien Metz (Geographie) und Sauer (Theologie) Mitte Mai sein Vorhaben, eine Commission d'Epuration einzurichten, unterbreitet hatte, kam der Säuberungsprozeß allmählich doch in Gang. Die Reinigungskommission setzte sich schließlich Ende Juli 1945 aus den gerade aus der Berliner Haft entlassenen Professoren Dietze, Lampe und Ritter zusammen, die zudem die Universität in allen dringenden Fragen bei der Besatzungsmacht vertreten sollten. Der Senat akzeptierte die Kommission und nahm in seiner Sitzung vom 28. Juni 1945 von Dietze und Lampe umgehend in seine Reihen auf."^ Die Kommissionsmitglieder zeigten sich angesichts der Aufgabe, die sie übernommen hatten, wenig enthusiastisch, und Gerhard Ritter äußerte gar, er empfinde die Entnazifizierangsarbeit als »peinlich und unerfreulich«.·" In einem ersten Schritt erarbeitete die Reinigungskommission ein Memorandum über die »Umgestaltung des Lehrkörpers an der Universität Freiburg i. Br.«. Demnach sollten vier Personengruppen die Hochschule verlassen: »1. Diejenigen, welche in ihrer Amtsführung oder in öffentlichen Äußerungen durch Willfährigkeit gegenüber dem Nationalsozialismus das Ansehen der Universität und die Achtung vor der Wissenschaft emstlich geschädigt haben; 2. Denunzianten und Spitzel. Ihre Verstöße gegen die Grundgebote menschlichen Anstands sowie gegen den Geist der Korporation und der Kollegialität sind keineswegs entschuldigt, wenn sie in damals amtlichem Auftrage erfolgten; 3. Vertreter von Fächern, die vom Nationalsozialismus aus politischen Gründen ohne sachliche Berechtigung neu geschaffen wurden; 4. Diejenigen, welche ohne hinreichende wissenschaftliche Qualifikationen wegen nationalsozialistischer Gesinnung in ihre Stellungen gelangt sind.«"^ " Ott, Martin Heidegger (Anm. 34), S. 293. " E d u a r d Steinke, ordentlicher Professor für Physik, war 1933 der NSDAP beigetreten und hatte 1940 das Amt des Dozentenführers ausgeübt. Friedrich Siegert, ehemaliger Leiter der gynäkologischen Klinik, war SS-Mitglied gewesen und gehörte der Partei seit 1932 an. Manfred Kohn, außerordentlicher Professor für Geologie, hatte 1933 seinen Weg in die NSDAP gefunden. Vgl. AdO, Bade 2537. " Bemerkung des Theologieprofessors Sauer, zitiert nach Helfrich, Universität Freiburg (Anm. 34), S. 56. * Ritter war bereits Senatsmitglied. Auf Vorschlag des Senates wurden wenig später drei weitere Professoren, die Ordinarien Allgeier, Eucken und Oehlkers, in das universitäre Säuberungsgremium aufgenommen. Zitiert nach Helfrich, Universität Freiburg (Anm. 34), S. 58. " Ebda., S. 59. Nur in besonders schweren Fällen sollte auch die Berufsausübung außerhalb der Universität untersagt werden.

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ΠΙ. Entnazifizierung, Selbstmitleid und Umgang mit der NS-Vergangenheit

Die Reinigungskommission hatte mit diesen Entscheidungsgrundsätzen einen Konsens gefunden, der nicht nur unumgängliche Zugeständnisse an die Besatzungsmacht beinhaltete, sondern der den Willen zeigte, mit der nationalsozialistischen Vergangenheit zu brechen. Der Handlungsgrundlage der Konmiission fehlte indes weitgehend die politische Dimension. Die Entlassungsbestimmungen des Gremiums basierten fast ausschließlich auf rechtlichen und wissenschaftlichen Kriterien, während die Anforderungen, die an einen Hochschullehrer in der neuen demokratischen Gesellschaft zu stellen waren, gerade im Hinblick auf seine Multiplikatorfunktion als Lehrender oder seine politisch zu verantwortende Forschungstätigkeit, nicht reflektiert wurden. Trotz dieses äußerst zurückhaltenden Entnazifizierungskodexes kam es kaum zwei Wochen nach Konstituierung der Reinigungskommission zum Eklat, da sich Rektor Janssen darüber beschwerte, daß der Enmazifizierungsausschuß völlig autonom verfahien und weder dem Senat noch dem Rektor Einblick in seine Entscheidungsprozesse gewähren würde. Der Senat müßte deshalb die Verantwortung für Beschlüsse des Gremiums ablehnen. Die Mitglieder der Reinigungskommission fühlten sich ihrerseits allein der Militärregierung verpflichtet, die diese Institution geschaffen hatte. Schließlich entschied Janssen den Streit zu seinen Gunsten, indem er durchsetzte, daß Rektor und Prorektor an den Kommissionssitzungen teilnehmen durften. Es wäre jedoch falsch, die Hinzuziehung Janssens und seines Stellvertreters dafür verantwortlich zu machen, daß die politische Säuberung des Lehrkörpers in eigener Regie unterblieb. Die Reinigungskommission selbst schreckte vor einschneidenden Maßnahmen zurück. Dies wird zum Beispiel an der Behandlung des Falles Heidegger deutlich. Als Martin Heidegger am 23. Juli 1945 vor dem Gremium erschien, traf er auf eine überwiegend wohlwollende Einstellung der Kommission. Lediglich zwei ihrer Mitglieder standen dem Philosophen kritisch gegenüber: Adolf Lampe und Walter Eucken, die den Rektor der Amtszeit 1933/34 innerhalb der Universität entschieden bekämpft hatten. »Das Team Lampe-Eucken zog dann auch maßgeblich den »Fall« Heidegger bis zur Entscheidung im Januar 1946 (soweit die Universität befaßt war) durch.«·*' Sie sorgten zusammen mit dem Prorektor Franz Böhm dafür, daß der Senat am 19. Januar 1946 Heideggers Emeritierung beschloß und ihm die Lehrbefugnis entzog. Hätte das Votum der Kommissionsmehrheit Gültigkeit erlangt, wäre Heidegger glimpflich davongekommen: Das Gutachten des Reinigungsausschusses plädierte für die Emeritierung des Philosophen einschließlich der Beibehaltung der venia legendi."" Insgesamt gesehen nutzte die Universität ihre Chance nicht, eigenverantwortlich die personellen Konsequenzen aus den vergangenen zwölf Jahren zu ziehen. Der Reinigungsausschuß hatte zwar weitgehend fi-eie Hand bei seinen Entscheidungen, da sich die Besatzungsmacht noch in einer Phase der Konsolidierung befand, doch er änderte bis September 1945 nichts an der Zusam' Ott, Martin Heidegger (Anm. 34), S. 301. 'Ebda., S. 307.

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mensetzung des Lehrkörpers. Wenn dennoch in der Anfangsphase Entlassungen und Intemierungen erfolgten, so ist dies auf die Initiative der Militärregierung zurückzuführen. Davon betroffen waren insgesamt sechs Angehörige der Medizinischen Fakultät, die sehr früh, manche noch vor 1933, der NSDAP beigetreten waren und zudem entweder der SS oder der SA angehört hatten.·*' Im Oktober 1945 entsandte die Direction de l'Education Publique Jacques Lacant als sogenannten Kurator für die Universität Freiburg nach Südbaden.·^ Gerade 30 Jahre alt, Absolvent der renommierten Ecole Normale Supérieure und durch seinen Universitätsmentor, den »Grand Seigneur« der französischen Germanistik, Vermeil, geprägt, trat er sein schwieriges Amt als Kontrolleur einer schwer zerstörten, aber traditionsreichen deutschen Universität an."^ Zunächst konzentrierte er sich auf weitere politische Säuberungsmaßnahmen. Auf der Tagesordnung standen in größerem Umfang Entlassungen und Intemierungen von Hochschulangehörigen. Betroffen war erneut die Medizinische Fakultät, die auf weitere sechs erheblich belastete Lehrende umgehend verzichten mußte.·** Aus der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät wurden zum 31. Oktober 1945 zwei Lehrende ausgeschlossen, die Professoren für öffentliches Recht Maunz und Gerber bis auf weiteres suspendiert.·" Bei den Naturwissenschaftlem nahm man zum 5. November schließlich die Entlassungen von Kuhn und Steinke vor, außerdem mußten ein Pharmakologie-Ordinarius sowie zwei außerordentliche Professoren für Physik beziehungsweise Botanik die Hochschule verlassen. Alle hatten seit 1933 der NSDAP angehört. Karl Abetz, der Bruder des ehemaligen deutschen Botschafters in Paris und Inhaber eines forstwissenschaftlichen Lehrstuhls, wurde aufgrund seiner frühen Parteimitgliedschaft ebenso suspendiert wie der Zoologe und ehemalige Rektor der Universität, Otto Mangold.'" Zu den spektakulärsten Entnazifizierungsmaßnahmen an der Philosophischen Fakultät gehörte zweifellos die Entlassung Martin Heideggers." Außer seiner war die Karriere sechs weiterer Professoren beendet, darunter die des Rassenideologen Hans Günther, des NS-Volkskundlers Künzig und des Rundfunkwissenschaftlers Roedemeyer. Zunächst glimpflicher davon kamen der Geograph und ehemalige Rektor Friedrich Metz, der Archäologe Schuchardt sowie der Volkskundler Wiora", die lediglich suspendiert wurden." Unter ihnen befanden sich die Direktoren der Zahnklinik, des anatomischen Institutes sowie der Frauenklinik. Siehe AdO, Bade 2537. Am 7.10.1945 hatte Laffon die Wiederaufnahme des akademischen Lehrbetriebs verfügt. Siehe Zauner, Erziehung und Kultunnission (Anm. 7), S. 208. ""Hinzu kamen sechs Freistellungen und drei Suspendierungen ohne vorläufige Weiterbeschäftigung. Siehe AdO, Bade 2537. "'Aus dieser Fakultät wurde auch der Wirtschaftswissenschaftler Lampe Anfang 1946 ungerechfertigt entlassen und kurzzeitig interniert. AdO, Bade 2537. " Die Philosophische Fakultät befaßte sich erstmals am 1.12.1945 mit dem Fall Heidegger. Sie beschloß u.a. einstimmig, die Militärregierung um Reintegrierung Heideggers zu ersuchen und gleichzeitig das Kultusministerium zu bitten, Heidegger seinem Wunsch entsprechend zu emeritieren. Siehe Ott, Martin Heidegger (Anm. 34), S. 311. Am 5.10.1946 entschied jedoch die Militärregierung: »Herrn Heidegger ist es untersagt, zu lehren und an jeglicher Veranstaltung der Universität teilzunehmen.« Ebda., S. 323.

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III. Entnazifizierung, Selbstmitleid und Umgang mit der NS-Vergangenheit

General Schwartz und Lacant hegten ein tiefes Mißtrauen gegen die Mehrheit der Professoren, denen sie eine politische Säuberung in eigener Verantwortung nicht zutrauten.'" Ausschlaggebend hierfür waren in erster Linie die vermeintlich nationalistische Gesinnung zahlreicher nicht-badischer Ordinarien, die allein schon aufgrund ihrer »preußischen« Herkunft einen natürlichen Widerpart zur französischen föderalistischen Nachkriegsplanung darstellten, sowie ihr Korpsgeist, an dem bereits die ersten Säuberungsbemühungen gescheitert waren." Bestärkt in ihrer Einschätzung des Lehrkörpers wurde die Militärregierung durch die Weigerung der Universität, einen unbelasteten Geographen zu habilitieren, und das sich daran anschließende beinahe trotzige Beharren des Senates auf der Unabhängigkeit der Hochschule und seinen gefällten Entscheidungen." Das Laffonsche Entnazifizierungskonzept kam der Freiburger Délégation Supérieure schließlich sehr gelegen, denn es ermöglichte ihr, die Struktur des »suspekten« Reinigungsausschusses, der sich ausschließlich aus Hochschulangehörigen zusammensetzte, einschneidend zu verändem. In der neuen Landesreinigungskommission repräsentierten dann nur noch zwei Professoren die Universität, während die politischen Parteien (BCSV, SP, KP) und die Gewerkschaften mit jeweils einem Vertreter die Mehrheit innerhalb des Säuberungsgre" Wiora wurde später von der Landesreinigungskommission wegen seines Verhaltens im besetzten Polen abgelehnt. " Siehe AdO, Bade 2537. " Vgl. Schwartz an Laffon, 11.2.1946 (AdO, Bade 2537). " Neben dem Historiker Gerhard Ritter erregten besonders die Nationalökonomen den Argwohn der Militärregierung: »Eucken ist ein sehr gefährlicher Redner, dessen Böswilligkeit ich schon mehrmals festgestellt habe. Aber vor allem gehört er zusammen mit Janssen, Ritter, von Dietze, Lampe usw. zu dieser nationalistischen rechtsextremen Clique, vor der mich Leute aus den antifaschistischen Kreisen täglich warnen.« Siehe Laçants Bericht an Schwartz über sein Gespräch mit Eucken und Sauer, (undatiert) (AdO, Bade 4100). Zur oppositionellen Tätigkeit von von Dietze, Eucken, Lampe und Ritter in der Widerstandsgruppe »Freiburger Kreis« siehe Ulrich Kluge, Der »Freiburger Kreis« 1938-1945. Personen, Strukturen und Ziele kirchlich-akademischen Widerstandsverhaltens gegen den Nationalsozialismus, in: Freiburger Universitätsblätter 102 (1988), S. 19-40. Dagmar Rübsam/Hans Schadek (Hrsg.), Der »Freiburger Kreis«. Widerstand und Nachkriegsplanung 1933-1945. Katalog einer Ausstellung, Freiburg 1990. " Am 13.12.1945 trat der provisorische Rektor Janssen von seinem Amt zurück und begründete seinen Schritt mit dem angeblichen Druck der Militärregierung, welche die Habilitierung des Geographen Dr. Schmid erreichen wollte. Nachdem daraufhin der Senat General Schwartz am 18.12. um eine Unterredung für eine dreiköpfige Abordnung ersucht hatte, berief der Gouverneur noch am gleichen Tag den gesamten Senat ein. In dieser Versammlung stellte sich der Theologieprofessor Sauer als Sprecher des Senates hinter Janssen, indem er die Sorge der Universität um ihre Autonomie, insbesondere ihr Habilitationsrecht, darlegte. Schwartz ließ die Argumente des Senates nicht gelten und machte deutlich, daß Janssen künftig nicht mehr als Rektor akzeptiert werden könne. Daraufhin wählten die Professoren zwar am 20.12. einen neuen Rektor, den Dekan der Theologischen Fakultät Allgeier, beriefen jedoch Janssen zum Prorektor, wodurch die Auflage der Militärregierung erheblich neutralisiert wurde. Die Direction de l'Education Publique mißbilligte dieses Manöver und lehnte Janssen auch als Prorektor ab. Auf französischer Seite konterte man schließlich mit Senatsneuwahlen, um eine politisch genehmere Senatszusammensetzung zu erwirken. Siehe AdO, Bade 4100.

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miums bildeten." Wer jedoch glaubte, daß man gegen belastete Professoren und Dozenten energisch vorgehen wollte, wurde enttäuscht, denn weder die neu gebildete Kommission noch Lacant und seine vorgesetzte Dienststelle, die Direction de l'Education Publique, verfolgten den eingeschlagenen Entnazifizierungskurs weiter. Hierin liegt auch der Grund, weshalb die Zusammenarbeit zwischen der Kommission und der Militärregierung sich weitgehend problemlos gestaltete, obwohl der Säuberungsausschuß insgesamt milder urteilte als der Kurator der Universität.'' Graduelle Unterschiede sind dabei zu erkennen zwischen der Behandlung der Fälle durch Lacant und den endgültigen Entscheidungen Schmittleins.'' Der Leiter der Direction de l'Education Publique orientierte sich vornehmlich an den Vorschriften der Kontrollratsdirektive Nr. 24 und ordnete daher beispielsweise auch die Entlassung des Rektors der Amtszeit 1936 bis 1938, Friedrich Metz, an.®* Rechnet man die zwangsweise emeritierten oder pensionierten Hochschullehrer zu den Entlassenen, so wurden bis August 1946 insgesamt dreißig Professoren, Dozenten und Assistenten aus der Universität ausgeschlossen. Bei einer Anzahl von 223 Lehrenden ergab sich somit eine Entlassungsquote von ungefähr 13,5 Prozent.®' Während diese Maßnahmen nur die herausragenden Nazis unter den Akademikern sowie die kompromittierten ehemaligen Inhaber von universitären Ämtern erreichten, konnte ein Großteil der nicht gering belasteten Lehrenden an der Universität bleiben. Schmittlein scheute vor einer »tabula rasa« im Hochschulbereich zurück, um die Wiedereröffnung der Universitäten nicht zu gefährden. Statt dessen vertraute er auf die Wirksamkeit seiner bereits bei den Lehrern praktizierten Methode, nämlich die Aberkennung des Beamtenstatus." Unter diesen Voraussetzungen konnte etwa bei den Medizinern ein Oberarzt der chirurgischen Klinik und Extraordinarius, NSDAP-Mitglied seit 1933 und SA-Angehöriger von 1934 bis 1937, weiter praktizieren und unterrichten, da er als »unentbehrlich auf seinem Posten und nicht besonders aktiv in der Partei« galt." Innerhalb der Philosophischen Fakultät wiederum durften Ordinarien wie der Germanist Friedrich Maurer ihre Lehrtätigkeit fortsetzen, obwohl er frühzeitig der NSDAP und der SA beigetreten war.'"

" Siehe Mitteilung Laçants an Schwartz, (undatiert) (AdO, Bade 4100). " Bei der Beurteilung der schwer belasteten Hochschullehrer traten nur in geringem Umfang Meinungsverschiedenheiten auf. Bei Karl Abetz etwa entschied die Reinigungskommission auf Gehal^kürzung um 15 Prozent, während die Militärregierung auf seiner Entlassung bestand. Ähnlich gelagert war der Fall des bereits internierten ehemaligen Direktors der Zahnklinik Friedrich Faber, dem die Kommission lediglich die Lehrbefugnis entziehen wollte. Siehe AdO, Bade 2537. " Ebda. Schmittlein ließ sich alle Entnazifizierungsakten samt Vorschlägen der Landesreinigungskommission vorlegen. '"Vgl. Schmittlein an Lacant, 13.8.1946 (AdO, Bade 2537). " Bei den Berechnungen ist eine gewisse Fehlerquote nicht auszuschließen, da nicht alle zugänglichen Personallisten vollständig waren. " Vgl. Pène an Ministerialdirektor Ott (Kultusministerium), 5.10.1946 (AdO, Bade 2537). " Ebda. "Ebda.

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III. Entnazifizierang, Selbstmitleid und Umgang mit der NS-Vergangenheit

Solche Entscheidungen hatte die Reinigungskommission in der Regel widersprachslos mitgetragen. Während die Vertreter der Parteien in diesem Säuberungsgremium intern mit ihren Sanktionsvorschlägen auf der Linie des Gouvernement Militaire lagen,®' kritisierten sie - namentlich die SP - in der Öffentlichkeit die unzureichende Enmazifizierung an der Freiburger Universität.^® Dies veranlaßte Lacant zu der süffisanten Bemerkung: »Es ist nicht uninteressant festzustellen, daß trotz der heftigen Angriffe gegen die Universität im Verlauf politischer Versammlungen (...) die ausgesprochen demokratisch zusammengesetzte Reinigungskommission der Militärregierung Vorschläge unterbreitet, die insgesamt großzügiger ausgefallen sind als die Maßnahmen, die letztere bislang ergriffen hat. Angesichts der konkreten Fälle haben es die mit allen Unterlagen ausgestatteten Vertreter der großen Parteien doch für nötig erachtet, eine differenziertere Haltung als auf einer politischen Versammlung einzunehmen.«®^ Da sich sowohl die deutschen politischen Organisationen als auch die französische Besatzungsmacht für eine bescheidene politische Säuberung der Hochschullehrer entschieden hatten, stellte die frühe Nachkriegszeit für die Freiburger Universität nur eine geringe Zäsur dar.®® Nach der Gründung der Bundesrepublik versuchte das badische Kultusministerium, die entstandenen Diskontinuitäten rückgängig zu machen, indem es den im Zuge der Entnazifizierung entlassenen Professoren die venia legendi wieder zuerkennen wollte. Die Besatzungsmacht war zunächst noch in der Lage, diesem Einhalt gebieten.®' Anfang der fünfziger Jahre war allerdings die Rückkehr der von der Alma Mater verwiesenen nicht mehr aufzuhalten. Am 5. Mai 1954 nahm beispielsweise Professor Metz »nach zehnjähriger Pause« seine Lehrtätigkeit wieder auf.™ Im Unterschied zum Schulbereich fehlten bei den Hochschulen einschneidende Reformpläne. Die »Rééducation« war hier gleichbedeutend mit Kontrolle. Doch auch diese konnte der Kurator Lacant in Freiburg, ebenso wie sein Tübinger Kollege Cheval, nur partiell bewältigen. Sie beschränkte sich in erster Linie auf die Entnazifizierung des Lehrkörpers. Hinzu kam die Aufsicht über die Berufungsverfahren, die Zulassung der Studenten, die Arbeit des ASTA, die Überwachung der Lehrpläne, einzelner Lehrveranstaltungen und die Zensur der Veröffentlichungsmanuskripte.^' " Den o.g. Chirurgen hatte sie um 15 Prozent, Maurer um 10 Prozent gehaltlich zurückgestuft. In einem Bericht an die Militärregierung über eine Versammlung der SP stellte Leibbrandt fest: »Die Wiederaufnahme der Vorlesungen mit dem beinahe völlig identischen Lehrkörper entspricht nicht den Vorstellungen der Sozialistischen Partei (...) Im übrigen wünschen wir für die Universität einen ЬеЬгк0фег, der dem Volk näher steht, selbst wenn man dafür auf diese sogenannte wissenschaftliche Größe verzichten muß.« (AdO, Bade 4100). " Aktenvermerk Laçants für Schwartz, (undatiert) (AdO, Bade 4100). Innerhalb der Militärregierung war Laçants Entnazifizierungspraxis nicht unumstritten. Im Tätigkeitsbericht vom Februar 1947 kritisierte das Gouvernement Militaire für den Distrikt Freiburg den »sehr ausgeprägten Nazi-Geist«, der an der Universität herrsche. " Zu den Kontinuitäten im Hochschulbereich siehe auch Ruge-Schatz, Grundprobleme der КикифоНИк (Anm. 4), S. 102. " Vgl. Pène an Kultusminister Wohleb, 6.8.1949 (AdO, Bade 4100). ™ Badische Zeitung, 28.4.1954.

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Laçant und Cheval blieben bei all dem ziemlich auf sich alleine gestellt. Sie nahmen zwar an Dienstbesprechungen der Direction de l'Education Publique in Baden-Baden teil, doch genaue Vorgaben über die zugewiesenen Aufgabenbereiche fehlten7^ So praktizierten sie ein Laisser-faire, da sie die Grenzen ihrer eigenen Handlungsspielräume bald erkannten. Daneben fühlten sie sich auch den Traditionen der Universitäten veφflichtet. Ihr Respekt ging einher mit der aufrichtigen Bereitschaft zur Verständigung mit den Gelehrten.^' Die auffällige Zurückhaltung der Baden-Badener Erziehungsabteilung im Hochschulbereich hat ihre Ursachen wohl in Schmittleins Plänen, eine völlig neue Universität, jenseits der überlieferten Strukturen und akademischen Traditionen, ins Leben zu rufen. Mit der Gründung der Universität Mainz gelang ihm schließlich eine dauerhafte Realisierung seiner Pläne. Raymond Schmittleins Umerziehungsbegriff war weit gefaßt. Seine Reformpläne beschränkten sich daher nicht nur auf die Bildungseinrichtungen, sondern erstreckten sich ebenfalls auf das preußisch-deutsche Berufsbeamtentum. Im Zentrum seines bis Ende 1946 entwickelten Reformkonzeptes für die öffentliche Verwaltung stand daher eindeutig die »Ecole Supérieure d'Administration«. Sie sollte eine wirkungsvolle Nachwuchsrekrutierung für den höheren Verwaltungsdienst gewährleisten, während das Spracheninstitut in Germersheim und die geplanten Fortbildungskurse in den Universitätsstädten und größeren Verwaltungszentren der französischen Zone analoge bzw. komplementäre Ausbildungsfunktionen für die mittleren und gehobenen Dienstränge übernahmen.'" Die Verwaltungshochschule stand jährlich einhundert Bewerbern verschiedener Fachrichtungen offen, die mindestens sechs Semester an einer deutschen Hochschule studiert und die Hürde eines strengen Auswahlverfahrens genommen hatten. Ein kleiner Prozentsatz der Studienplätze war reserviert für besonders begabte oder verdiente Beamte des gehobenen Dienstes, denen sich nicht die Möglichkeit geboten hatte, ein Studium aufzunehmen. Für diese Gruppe entfiel die Aufnahmepiüfung, und sie wurden nach Abschluß der viersemestrigen Ausbildung, die mit einer anspruchsvollen Diplomprüfung endete, den übrigen Absolventen völlig gleichgestellt. Alle Studienabgänger mußten sich verpflichten, mindestens fünf Jahre nach Beendigung der Ausbildung in der öffentlichen Verwaltung zu arbeiten. Für diese Verpflichtung erhielten sie eine feste Stellenzusage. Die Umerziehungsabsichten der Baden-Badener Militäradministration bezogen sich sowohl auf die Studieninhalte als auch auf die Ausbildungsstrukturen. Parallel zur Fachausbildung und den fachbezogenen Praktika hatte die Verwaltungshochschule eine umfassende Allgemeinbildung zu vermitteln, die Ver" Siehe Zauner, Erziehung und Kulturmission (Anm. 7), S. 208. " Ebda., S. 208f. " Ebda. Siehe Franz Knipping, Umerziehung der Verwaltung? Zur Gründungsgeschichte der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer, in: Franz Knipping/Jacques Le Rider (Hrsg.), Frankreichs Kulturpolitik in Deutschland 1945-1950, Tübingen 1987, S. 91-110, hier bes. S. 93.

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ständnis wecken sollte für die »langue et civilisation française«. Das grundlegend Neue an der Speyerer Schule, die nach dem Vorbild der 1945 in Paris gegründeten Ecole Nationale d'Administration (E.N.A.) aufgebaut wurde, stellte jedoch die Abkehr von einer langen deutschen Ausbildungstradition dar, welche den Nachweis der beiden juristischen Staatsexamina zur conditio sine qua non für den höheren Verwaltungsdienst gemacht hatte, »da die Schädlichkeit der deutschen Juristen nicht mehr bewiesen werden muß, wurde es nicht für angemessen befunden, Verwaltungsbeamte aus dem Kreis jener jungen Leute einzustellen, die von der deutschen Jugend am meisten vom Bazillus des Nazismus infisziert worden waren und seit 12 Jahren neben einer völlig nazistischen Erziehung eine streng buchstabengetreue und nationalistische Ausbildung genossen haben, die sich kaum mit dem Ideal der Demokratie verträgt.«^' Nach einer Übergangszeit, die von Laffon bis zum 30. September 1948 eingeräumt wurde,'® durften keine Beamten für den höheren Dienst mehr ernannt werden, die nicht erfolgreich die Speyerer Verwaltungshochschule absolviert hatten. Das Schulprojekt fand jedoch nicht die ungeteilte Zustimmung aller betroffenen französischen Dienststellen. Nachdem der Entwurf der Direction de l'Education Publique bekannt geworden war, legte der Vertreter des Quai d'Orsay in Baden-Baden, Tarbé de Saint-Hardouin, sein Veto ein. Schmittleins Konzeption von einer zentral gesteuerten, einheitlichen Umerziehungspolitik für die gesamte französische Besatzungszone kollidierte mit dem rigiden Dezentralisierungsplan des Pariser Außenministeriums, das in einer Zuständigkeit der Länder in Erziehungs- und Ausbildungsangelegenheiten »ein unverzichtbares Sicherheitskomplement der französischen Deutschlandpolitik« sah." Nach einer Intervention der Direction d'Europe des Außenministeriums im Februar 1947 veranlaßte Koenig schließlich die Direction de l'Education Publique zu einer Kursänderung, die den Bedenken des Quai d'Orsay Rechnung trug. Die Speyerer Verwaltungshochschule wurde daher nicht als zonale Bildungsstätte behandelt, sondern als eine Einrichtung des Landes RheinlandPfalz. Sie sollte dennoch Studenten aus anderen Ländern der französischen Zone offenstehen, sobald Vereinbarungen mit diesen Ländern über deren materielle und finanzielle Beteiligung getroffen worden waren. Auf die Besonderheiten der einzelnen Länder hatte das Ausbildungsprogramm der Verwaltungshochschule Rücksicht zu nehmen. Die Akademie für Verwaltungswissenschaften konnte schließlich am 15. Mai 1947 offiziell eröffnet werden. Die Gründung dieser Ausbildungsstätte wird gemeinhin lediglich im zonalen Kontext gesehen. Sie hatte aber auch eine überzonale Dimension, denn Frank" Schmittlein an Pène, 13.3.1948 (AdO, Bade 2124 J). ' ' Vgl. Rundschreiben Laffons an die Délégués Supérieurs, 18.9.1947 (AdO, Bade 2124 J). " Knipping, Umerziehung der Verwaltung? (Anm. 74), S. 97. Zur Auseinandersetzung zwischen Schmittlein und dem Quai d'Orsay siehe im einzelnen ebda. S. 98ff. Trotz der Bedenken des Botschafters Saint-Hardouin wurden am 17.1.1947 die Verfügungen Nr. 194 und 195 über die Gründung einer Ecole Supérieure d'Administration in Speyer bzw. eines Institut d'Interprètes in Germersheim erlassen.

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reich brachte das Thema Verwaltungshochschule noch im Laufe des Jahres 1947 auf die Tagesordnung des Alliierten Kontrollrates.'' Es liegt daher die Vermutung nahe, daß man mit der Errichtung der Speyerer Verwaltungsakademie ein Präjudiz schaffen wollte. Auch die sowjetische Delegation interessierte sich sehr für die Möglichkeiten, die Verwaltungshochschulen boten, und schlug die sofortige Ausarbeitung einer Kontrollratsdirektive hierzu vor. Dagegen zeigten sich die britischen und amerikanischen Kontrollratsvertreter zu jenem Zeitpunkt wenig geneigt, sich mit dem Aufbau von Verwaltungshochschulen in Deutschland zu befassen, und zogen es statt dessen vor, den Ausgang der Londoner Konferenz abzuwarten.^' Der Vorstoß der französischen Delegation in der Frage der Reformierung des öffentlichen Dienstes und seine Zurückweisung durch die Angloamerikaner belegt erneut, daß die These von einer generellen Obstruktionspolitik Frankreichs auf alliierter Ebene nicht zu halten ist.®" Obstruktion wurde hingegen in der französischen Besatzungszone von den deutschen Behörden selbst betrieben. Die Länderregierungen widersetzten sich zwischen 1947 und 1949 zusehends den Reformplänen der Direction de l'Education Publique. Sie weigerten sich, die Speyerer Absolventen - wie im Statut der Verwaltungsakademie vorgesehen - zu Referendaren und Assessoren zu ernennen, und zwar besonders diejenigen Beamten des mittleren und gehobenen Dienstes, die nach dem Willen der Militärregierung in den höheren Dienst aufsteigen sollten.®' Begründet wurde dieses Verhalten so: zum einen mußte die Laufbahn Verordnung von 1936 als Argument herhalten, die von Hitler, Frick und Heß unterzeichnet worden war,®^ zum anderen wurden haushaltspolitische Sachzwänge vorgeschoben: »Bei der Anwendung der Verordnung Nr. 194 bin ich bisher davon ausgegangen, daß künftig für die Ernennung der Beamten des höheren Dienstes zwar das Diplom der Verwaltungsakademie Voraussetzung ist, daß aber - im Hinblick auf die Vorschriften des Haushaltsgesetzes - nicht alle Anwärter, die über das Diplom verfügen, von mir auch übernommen werden müssen.«" Gleichzeitig ernannten die Landesverwaltungen aber höhere Beamte, die nie die Speyerer Einrichtung besucht hatten, und durchbrachen " V g l . das Protokoll über ein am 16.12.1947 geführtes Gespräch zwischen Mauléon, dem Leiter der Division des Affaires Intérieures in Berlin und Holvede, dem Direktor der Abteilung Intérieur et Cultes des Gouvernement Militaire der Zone. Demnach teilte Mauléon folgendes mit: »(...) auf französische Initiative hin hat der Kontrollrat kürzlich das Problem der Gründung höherer Verwaltungsschulen in Deutschland erörtert«. (AdO, AP/Int. et Cultes С. 3305 P. 106). "Ebda. So etwa Ernst Deuerlein, Frankreichs Obstruktion deutscher Zentralverwaltungen 1945, in; Deutschland-Archiv 4 (1971), S. 466-491. Zu den bemerkenswerten konstruktiven Vorstößen der französischen Besatzungsmacht im sozialpolitischen Bereich siehe Rainer Hudemann, Sozialpolitik im deutschen Südwesten zwischen Tradition und Neuordnung 1945- 1 9 5 3 . Sozialversicherung und Kriegsopferversorgung im Rahmen französischer Besatzungspolitik, Mainz 1988. " Vgl. Knipping, Umerziehung der Verwaltung? (Anm. 74), S. 165. Ebda. Innenminister Schühly an Pène, 7.1.1948 (AdO, Bade 2124 J).

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damit frühzeitig das Einstellungsmonopol der Verwaltungshochschule. Unterstützung in ihrem Kampf gegen die französische Gründung fanden die Landesregierungen bei den Rektoren der Universitäten Tübingen, Freiburg und Mainz, die ex officio über einen Sitz im Verwaltungsrat der Akademie verfügten. Die Rektoren gaben sich zwar besorgt um eine lang bewährte Einheitsausbildung, fürchteten aber im Grunde wohl hauptsächlich um die Reduzierung der Ausbildungsfunktionen ihrer Universitäten." Für die Linksparteien und die Gewerkschaften war die Reformierang des Berufsbeamtentums kein Thema; in die Diskussion um die Speyerer Verwaltungsakademie schalteten sie sich nicht ein. Die restaurativen Kräfte, die nichts sehnlicher wünschten, als die französische Institution wieder loszuwerden, behielten somit die Oberhand. Daß sie letzüich ihr Ziel erreichten, verdankten sie zu einem großen Teil den Amnestieverordnungen, die die Militärregierung seit Mitte 1947 in kurzen zeitlichen Abständen erlassen hatte: »Die Entnazifizierungsgesetze, die von einer Amnestie zur anderen eilten, haben die schnelle Wiedereingliederung ehemaliger Nazis in die Verwaltungen ermöglicht.«'' Die deutschen Behörden hatten häufig Stellen für suspendierte und entlassene Beamte in der Hoffnung auf eine Wiedereingliederung der entnazifizierten Kollegen frei gehalten, so daß diese Planstellen seit Herbst 1947 - im Zuge der Mitläuferverordnungen Nr. 133 und Nr. 165 - von ihren ehemaligen Inhabern eingenommen werden konnten. Im Rahmen der Fürsorgepflicht des Staates wurden jedoch auch solche Beamte wieder in den öffentlichen Dienst aufgenommen, für die keine Planstellen vorhanden waren. Die finanziellen Spielräume der Länder für zusätzliche Einstellungen schrumpften dadurch dermaßen, daß es beinahe unmöglich wurde, in größerem Stil Absolventen der Verwaltungshochschule unterzubringen. Der Oberkommandierende Koenig, die Délégués Supérieurs und die Direction de l'Education Publique hielten zwar noch beharrlich bis zum Sommer 1949 an ihrem Reformkonzept fest, doch da es auf deutscher Seite nicht unterstützt wurde, war es zum Scheitem verurteilt. Das Besatzungsstatut erlaubte es den Franzosen schließlich nicht mehr, die Ausbildung des deutschen Beamtennachwuchses zu beeinflussen.

'Vgl. Knipping, Umerziehung der Verwaltung? (Anm. 74), S. 103. ^ Bericht Nr. 22.330 der Direction des Affaires Administratives der Délégation Supérieure von Baden, März 1947 (AdO, Bade 2124 J).

3. »Zeit der schönen Not« Kultur als Umerziehungsmaßnahme und Trostspenderin Als DeutscMand besetzt war, wußten viele Franzosen, daß sie zwar den Krieg gewonnen hatten, nun aber vor der Herausforderung standen, auch den Frieden zu gewinnen. »Die Besatzungsarmeen sollen in der Tat in Deutschland nicht nur die Macht repräsentieren, die den Nationalsozialismus niedergeschlagen hat«, schrieben die uns schon häufiger begegneten französischen Journalisten von »Esprit«, »sondern auch das Bild jener Welt und jener Menschen, die diesen Kampf inspirierten. Alles was an ihrer Führung bei den Deutschen die Erinnerung an das vergangene Regime wachrufen kann, müßte als Handel mit dem Feind gebrandmarkt werden - wobei in diesem geistigen Krieg, der der Auseinandersetzung der Armeen folgt, unter Feind alle Rückstände an Gesinnung, Gewohnheiten und Methoden des Nationalsozialismus zu verstehen sind. Die Deutschen ihrerseits müssen den Mut haben, zuzugeben, daß die deutsche Besetzung im ganzen bedeutend viel härter, grausamer, polizeimäßiger und niederdrückender war, als es heute die alliierten Methoden sind. Wir unsererseits müssen den Mut haben, die fortlaufende Kette der Gewaltakte zu unterbrechen und in jeder unserer Handlung als Besetzende mehr an die Werte zu denken, die wir zu repräsentieren haben, als an die Erinnerung, die wir rächen wollen. Die Ausbreitung einer Kultur besteht nicht nur im Export von kulturellen Luxusgütern.«' Diese weitsichtigen Bemerkungen über den »geistigen Krieg« und die zu verkörpernden Werte nach dem militärischen Krieg verweisen auf die herausgehobene Stellung, die in französischen Augen einer Kulturpolitik zukam. Sie sollte zur Umerziehung und zum Aggressionsabbau beitragen sowie allgemein die Demokratisierung der Gesellschaft voranbringen. Nach der Katastrophe zwölfjähriger NS-Herrschaft und Krieg hatte »Kultur« die Aufgabe, den Zusammenhang der Bürger herzustellen, die sich auf dem Weg in die Demokratie befanden. »Kultur« sollte das einigende Band für den Neubeginn sein. Kulturpolitik machte es sich zur Pflicht, die geistigen Fundamente für eine demokratische Zukunft zu legen. Aber im zeitgenössischen geflügelten Wort von »der Zeit der schönen Not« offenbart sich die Situation der Menschen viel anschaulicher als in allen Planspielen über Stellenwert und Ausmaß von kulturellen Aktivitäten. Die »Not« stand im Zentrum der Erfahrungen. Darum herum rankten sich ornamentale Ausschmückungen, eben die »schöne« Kultur. Aus der Perspektive der Menschen müssen deshalb auch Urteile über dieses angebliche Paradebeispiel gelungener französischer Besatzungspolitik zwiespältig ausfallen. Seit langem streitet sich die Forschung darüber, ob nun die ' Anthologie der deutschen Meinung. Deutsche Antworten auf eine französische Umfrage, Konstanz 1948, S. 150.

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kulturellen Initiativen Frankreichs lediglich zur Verschleierung der rigiden wirtschaftlichen Ausbeutung gedient haben,^ oder ob die französische Kulturpolitik neben der Sicherheits- und der wirtschaftlichen Nutzungspolitik sich als die dritte Säule in einem schon fnih entworfenen Bauplan für die Besatzungspolitik präsentiert.^ Jerôme Vaillant hat mit Recht zur Vorsicht gegenüber solch idealtypischen Modellen - hier: hehres Instrument der Völkerverständigung, dort: Vehikel skrupelloser Machtpolitik - gemahnt: »Mit gewisser Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, daß die Vorstellung von Kulturpolitik als Kompensation für den wirtschaftlichen Aderlaß der Besatzungszone eher eine nachträgliche Erklärung als ein integraler Bestandteil der von Frankreich ab 1944/45 bewußt verfolgten Ziele darstellt. Gleichzeitig sind aber auch Zweifel an der These erlaubt, die Kulturpolitik sei von Anfang an als dritte Säule eines einheitlichen Vorhabens verstanden worden.«" Betrachtet man die französischen Überlegungen auf den oberen politischen Ebenen, so läßt sich wohl zurecht festhalten, daß »im Sinne der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft (...) die Kulturpolitik ein Kemelement der ^ So die Interpretation bei Klaus-Dietmar Henke, Politik der Widersprüche. Zur Charakteristik der französischen Militärregierung in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Claus Scharf/Hans-Jürgen Schröder (Hrsg.), Die Deutschlandpolitik Frankreichs und die französische Zone 1945-1949, Wiesbaden 1979, S. 49-89. ' So Rainer Hudemaim, Kulturpolitik und Deutschlandpolitik. Frühe Direktiven für die französische Besatzung in Deutschland, in: Franz Knipping/Jaques Le Rider (Hrsg.), Frankreichs Kultuφolitik in Deutschland 1945-1950, Tübingen 1987, S. 15- 31. '' Jérôme Vaillant, Einführung in die kulturellen Aspekte der französischen Deutschlandpolitik zwischen 1945 und 1949, in: Institut Français de Stuttgart (Hrsg.), Die französische Deutschlandpolitik zwischen 1945 und 1949, Tübingen 1987, S. 61-67, hier S. 65. Siehe auch: Ders. (Hrsg.), Französische Kultiupolitik in Deutschland 1945-1949. Berichte und Dokumente, Konstanz 1984. Rainer Hudemann, auf den Vaillants Beschreibung der »Drei-Säulen-These« gemünzt war, stellt indes heraus, daß dies nicht seine Position sei. »Der Kern der französischen Politik auf der Spitzenebene lag eben darin, daß die drei Elemente keinen Gegensatz bildeten. Vielmehr ist die französische Deutschlandpolitik nach 1945 als eine neue, doppelgesichtige Sicherheitspolitik zu verstehen. Zu altüberlieferten Vorstellungen von militärischer Sicherheit und ökonomischer Suprematie kam ein neuer, rasch an Bedeutung gewinnender Aspekt; der Abbau von Aggressions- und Expansionspotentialen in der deutschen Gesellschaft durch eine aktive Demokratisierungspolitik.« Ders. Frankreichs Besatzung in Deutschland: Hindernis oder Auftakt der deutsch-französischen Kooperation?, in: Joseph Jurt (Hg.), Von der Besatzungszeit zur deutsch-französischen Kooperation, Freiburg 1993, S. 241. Insgesamt sind die Arbeiten zur französischen Kultuφolitik mittlerweile facettenreich; neben den genannten Sammelbänden stehen wichtige Monographien und Aufsätze, vor allem: Stephan Schölzel, Die Pressepolitik in der französischen Besazungszone 1945-1949, Mainz 1986; Sabine Friedrich, Rundfunk und Besatzungsmacht. Organisation, Programm und Hörer des Südwestfunks 1945 bis 1949, Baden-Baden 1991. Jérôme Vaillant, Frankreichs Kulturpolitik in Deutschland 19451949, in: Peter Hüttenberger/Hansgeorg Molitor (Hrsg.), Franzosen und Deutsche am Rhein 1789-1918-1945, Essen 1989, S. 203-217; Corinne Defrance, Eléments d'une analyse de la politique culturelle française en Allemagne à travers son financement 1945-1955, in: Revue d'Allemagne 23 (1991), S. 499-518; dies, La politique culturelle de la France sur la rive gauche du rhin 1945-1955, Strasbourg 1994. Christian Wrobel, Medien, Politik und Öffentlichkeit im Land Südbaden. Ein Beitrag zur Nachkriegsgeschichte in Südwestdeutschland 1945-1951, Pfaffenweiler 1993. Stefan Zauner, Erziehung und Kulturmission. Frankreichs Bildungspolitik in Deutschland 1945- -1949, München 1994.

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Sicherheitspolitik war«, und daß sie dadurch ihr großes Gewicht erhielt.' Die Kulturpolitik wurde von der französischen Besatzungsmacht immer in einem untrennbaren Zusammenhang mit der Umerziehung der Deutschen gesehen, mithin instrumentalisiert, während sich etwa die britische Militärregierung auf das Prinzip der Nichteinmischung zurückzog. Allerdings waren viele übergeordnete französische Direktiven phrasenhaft und deutbar wie die sibyllinischen Bücher. Sie boten breiten Raum für eigenmächtige Auslegungen, und durch sie konnten so gut wie alle Maßnahmen im positiven wie im negativen Sinn begründet und gerechtfertigt werden. Den Ausschlag dafür, daß die positive Seite am Ende überwog, gab der individuelle, häufig aufopfernde Einsatz einzelner Personen. Für eine genauere Analyse empfiehlt sich daher, das komplexe Gebilde »Kulturpolitik« zu strukturieren. Auf einer vertikalen Ebene stellt sich die Frage, wie der Organisationsaufbau aussah und wie die oben erlassenen Anweisungen vor Ort ankamen. Auf einer horizontalen Ebene ist der Blick auf die agierenden Personen und auf ihre Zielsetzungen zu richten. Auf einer zeitlichen Ebene schließlich kann man fragen, in welcher Art von Fließbewegung sich die Kulturpolitik ständig veränderte. Für eine Wertung der französischen Kulturpolitik sind aber insbesondere die Fragen ganz zentral, wie Kultur von den Deutschen rezipiert wurde, ob ein Zusammenhang zwischen Alltag und Art des Kulturgenusses bestand, und wie sich die Einstellungen gegenüber kulturellen Aktivitäten wandelten. Auf welchen Erwartungshorizont und auf welche Widerstände traf die französische Kulturpolitik? Diese Fragen nehmen die Perspektive einmal von der Besatzungsmacht weg und rücken mehr die betroffenen Menschen in den Mittelpunkt. Unzweifelhaft kam es in den Jahren 1945 bis 1948 zu einer erstaunlichen Blüte des kulturellen Lebens in der französischen Besatzungszone. Insbesondere Volkshochschulen wurden nicht allein sehr schnell, sondern in großer Zahl eröffnet. Bereits am 24. Oktober 1945 ersuchte der Lehrer Erich Krumm aus Offenburg das Gouvernement Militaire, eine Volkshochschule eröffnen zu dürfen. Als Begründung seiner im übrigen erfolgreichen Initiative führte er an, daß fast noch alle Deutschen von einer »totalen Lähmung« befallen, verwirrt, geschockt, wie vom Blitz getroffen seien. Viele könnten noch immer nicht begreifen, wie man trotz »übermenschlicher Anstrengungen« den Krieg habe verlieren können. Nach der Niederlage habe ein alltäglicher »Existenzkampf« begonnen, der zu einer geistigen Verkümmerung führe und somit vielfältige Gefahren in sich berge. Angesichts der tristen Perspektiven sei es notwendig, die Bevölkerung schnell mit »geistiger Nahrung« zu versorgen. Das könne eine Volkshochschule in breitem Maße gewährleisten.® Ein dreiviertel Jahr nach der bedingungslosen Kapitulation hatte auch die Emmendinger Volkshochschule ihre Pforten öffnen können. Binnen kurzem setzte ein großer Zulauf ein: »Die Volkshochschule Emmendingen«, so hieß es ' Hudemann, Frankreichs Besatzung (Anm. 4), S. 248. ' A d o , A C 270.

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programmatisch im Vorwort des Veranstaltimgskalenders für 1947, »die bereits am 14. Februar 1946 ihre Tore öffnete, um die Bevölkerung der Stadt, vor allem die Jugend, aus der geistigen Verarmung der Vergangenheit herauszuführen, hat einen erfreulichen Anklang gefunden. Die immer weiter wachsende Zahl der Mitglieder zeigt uns, daß es unsere hohe Pflicht sein muß, dem Volk im Suchen und Erkennen nach den höchsten Werten der Menschlichkeit weiter zu helfen. Aus diesem Gedanken heraus sind wir dazu übergegangen, neben den Einzelvorträgen Arbeitsgemeinschaften zu bilden, damit Vortragende und Lernende in lebendigem geistigen Austausch sich zu einer Gemeinschaft wieder zusammenfinden, aus der das neue Werk des geistigen Aufbaus wieder erstehen muß.«' Fast noch emphatischer klang der Passus über »Sinn und Ziel der Volkshochschule« im ersten Programmheft aus Neustadt: »Nach der inneren und äußeren Niederlage unseres Volkes will die Volkshochschule durch eine Erwachsenenbildung mithelfen, den zerrissenen Volksorganismus wieder zu einem lebensfähigen Ganzen zusammenzuführen. Sie will jedem helfen, den Zugang zu den wesenhaften Bereichen der Kultur wieder zu finden. Vor allem wendet sie sich an die Jugend! Ihr Ziel ist nicht Ablenkung oder zusätzliche Wissensvermittlung oder Befriedigung der Neugier, sondern Erziehung zu geistiger Verantwortung, zur Bildung des ganzen Menschen in seinem Verhältnis zu sich selbst, zum Nebenmenschen, zum Volk, zur Menschheit, zum Weltganzen und seinem Sinn. Dadurch will sie der Wiedererrichtung einer geistigen Ordnung dienen. Über alles Trennende von Ständen und Klassen, von Parteien und Weltanschauungen, von Besitzenden und Besitzlosen hinweg will sie zu einer werthaften Zukunft hinführen.«' Auch in Freiburg, wo die Volkshochschule auf eine große Tradition zwischen 1920 und 1933 zurückblicken koimte imd dann von den neuen Machthabem geschlossen worden war, leitete ein »vorbereitender Ausschuß«, bestehend aus Mitgliedern der Gewerkschaft, Vertretern der Stadt und Lehrenden der Universität, im Februar 1946 die Wiedereröffnung einer Volkshochschule ein. Universitätsdozent Max Müller faßte auf Veranlassung von Capitaine Deshayes zusammen, worum es ging: »Die neue Volkshochschule müsse in erster Linie eine Volkshochschule der Jugend sein. Nach dem Willen des Gouvernement Militaire du Bade solle sie von Deutschen gegründet und von Deutschen für Deutsche betrieben werden, sei also keine Propagandaeinrichtung.«' Unter der Leitung von Prof. Dr. Hermann Ruppel, Dr. Alfred Riemensperger und Dr. Heinz Bollinger'" nahm die Volkshochschule im Mai 1946 mit 1700 Hörem ihren Betrieb auf. 'Ebda. 'Ebda. 'Protokoll der Sitzung vom 11.2.1946 (AdO, AC 69,1). Bollinger war im Frühjahr 1943 von der Gestapo verhaftet worden, da er Kontakte zur Widerstandsgruppe »Weiße Rose« in München unterhielt. Vgl. zu ihm Heiko Haumann/Dagmar Rübsam, Widerstand, in: Heiko Haumann/Hans Schadek (Hrsg.), Geschichte der Stadt Freiburg im Breisgau, Bd. 3: Von der badischen Herrschaft bis zur Gegenwart, Stuttgart 1992, S. 339-351, hier S. 339-343.

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Raymond Schmittlein, Leiter der Abteilung Education publique, hatte in seinen zahlreichen Rundschreiben das Schicksal der deutschen Jugend im Visier. Er wollte sie für die Zukunft in humanistischem Sinne »bilden«. Weltoffenheit, freiheitliche Wertmaßstäbe und Kritikfreude seien ihr nahezubringen." Daß damit auch eine kulturelle Ausrichtung auf Frankreich intendiert war, verstand sich in französischer Sicht von selbst. Die Jugend, die aus dem Nationalsozialismus zum Teil desillusioniert herausgekommen war, wurde zur wesentlichen Zielgruppe der Volkshochschulen. Franzosen und Deutsche fragten sich aber auch, ob Teile der Jugend nicht nach wie vor nationalsozialistischem Gedankengut nachhingen, mit dem sie groß geworden war. Alle Volkshochschulen, die bis zum September 1946 wiedergegründet worden waren, wurden mit mindestens einem Lektor für Französisch ausgestattet, um insbesondere die Jugend mit der Sprache und der Kultur des Nachbarn vertraut zu machen.'^ Aber darin konnte sich »Umerziehung« nicht erschöpfen, und sie tat es auch nicht. Ohne hier im einzelnen auf die Schulpolitik der Franzosen einzugehen," ist doch auf frühe Instruktionen hinsichtlich Schulungskursen für deutsches Lehrerpersonal hinzuweisen, die zeigen, wie ernst und umfassend die Besatzungsmacht das Problem in Angriff zu nehmen gewillt war. In Kursen zwischen einer und drei Wochen Dauer sollten den verbliebenen Lehrem anstehende pädagogische Erfordernisse eingeimpft werden. Unterrichtsziel war eine »Humanisierung des Menschen«, wie es in der französischen Verlautbarung hieß. Zugleich zeigte das Papier aber auch, daß man noch mehr auf der Suche nach einer schlüssigen Konzeption war, als mit einer fertigen aufwarten zu können. Die Schüler sollten zu »denkenden Menschen« erzogen werden, um sich dann aus freien Stücken den alten Kampfparolen des Nationalsozialismus zu entledigen, wie etwa »Du bist nichts, Dein Volk ist alles« oder, allgememer, »Der Zweck heiligt die Mittel«. Der Geschichte, insbesondere der Kulturgeschichte, die vom Austausch der Völker und von ihrer gegenseitigen Befruchtung zeuge, kam hoher Stellenwert zu, wobei es nicht zuletzt um die Widerlegung der Legende von der deutsch-französischen »Erbfeindschaft« ging. Die Themenpalette für die Lehrerkurse war breit: Neben Unabdingbarem, wie der Französischen Revolution, oder Naheliegendem, wie der Kriegsgeschichte 1870, 1914, 1939, oder Mythisierendem, wie der Freiheitskampf der Franzosen 1940 bis 1944, standen Themen zur inneren Entwicklung der Weimarer Republik, zum »Dritten Reich«, auch über die »Rassenlehre und die Mendelschen Gesetze«. Abgerundet werden sollten die Programme durch Beiträge zur zeitgenössischen Kunst und Musik sowie zum aktuellen Theater- und Literaturschaffen, um die Deutschen, wie es ausdrücklich hieß, auf »hohem intellektuellem Niveau« wieder an den kulturellen Reichtum heranzuführen.'" Ebenfalls dem »geistigen Aufbau« verpflichtet waren die vielerorts entstandenen ersten " Etwa Rundschreiben an die Délégués Supérieurs, 1.10.1946 (AdO, AC 69,1. '^Anordnung vom 24.9.1946 (AdO, AC 69,1). " Dazu der vorangegangene Abschnitt sowie Angelika Ruge-Schatz, Umerziehung und Schulpolitik in der französischen Besatzungszone 1945-1949, Frankfurt/M. u.a. 1977. '"Laffon an die Délégués Supérieurs, 20.9.1945 (AdO, AC 65).

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Instituts Français, die den französischen Einfluß, vor allem über Sprachunterricht und Landeskunde, im Südwesten abstützen sollten. Doch kulturelle Aktivitäten griffen weit über die Institutionen in größeren Städten hinaus. Scharenweise waren zum Beispiel Theatergruppen in der französischen Zone unterwegs, Wanderausstellungen zogen durch die entlegendsten Winkel der Zone, Verlage schössen wie Pilze aus dem Boden, Zeitungen und Zeitschriften, die den Dialog zwischen Franzosen und Deutschen fördern wollten, entstanden, häufig auf Privatinitiative, in ansehnlicher Zahl und waren von echtem völkerverbindenden Idealismus getragen.'^ Alle monatlichen Kreisberichte der Besatzungsmacht verfügten über ein Unterkapitel, das mit »vie culturelle« überschrieben war. Durchaus charakteristisch, sowohl hinsichtlich der Vielzahl der geschilderten Aktivitäten als auch mit Blick auf die penible Protokollierung der Franzosen, war der Dezemberbericht des Jahres 1946 aus Lörrach. Überall im Kreis, in den kleinen, wie in den größeren Orten, so wird dort berichtet, könne man ein lebhaftes kulturelles Leben verzeichnen. In Lörrach, Weil, Schopfheim, Zell und Grenzach hätten erfolgreiche Gastspiele der Theatergruppe »Dreiländereckbühne« stattgefunden, die in ihrem Repertoire Stücke von George Bernhard Shaw ebenso aufzuweisen hätten, wie »Das Stemenkind« von Heinze-Mansfeld oder »Hänsel und Gretel«. Das »Andrea Wendling Quartett« habe zwei Konzerte, die beide gut besucht waren, gegeben. In sehr großer Zahl hätten Vortragsveranstaltungen stattgefunden, etwa die des Konservators des Basler Holbein-Museums über »Deutsche und französische Malerei im 19. Jahrhundert«. Sie war auf das größte Publikumsinteresse gestoßen. Allein im Dezember waren im Lörracher Raum elf kulturelle Vereine entstanden, so etwa die »Zithervereinigung Brombach-Hauingen« und der »Hebelbund Lörrach«, daneben Männer- und Frauenchöre und allgemein viele Gesangsvereine.'' Allerdings müsse befürchtet werden, so begann der französische Bericht nach den Erfolgsmeldungen zu einigen negativen Aussichten überzuleiten, daß das Kulturleben in den kommenden Wintermonaten stark leiden werde. Da Kohle und Holz fehle, könnten die Vortragssäle nicht beheizt werden. Außerdem verschwieg der Berichterstatter auch nicht die Grenzen der Darbietungen. So erfreulich die kulturellen Aktivitäten, die von den Deutschen präsentiert würden, seien, so zwiespältig seien die französischen Veranstaltungen ausgefallen. Es waren auch kleinere Landstädte mit einer »propagande culturelle française« so lautete die Passage des Berichts - überzogen worden. Dazu gehörte eine " Vgl. Monique Mombert, Buch- und Verlagspolitik in der französischen Zone 1945—49, in: Knipping/Le Rider (Hrsg.), Frankreichs Kulturpolitik (Anm. 3), S. 227-241. Henri Ménudier, La Revue française des questions allemandes: Documents, 1945-1949, in: ebda, S. 349-387. Vincent Wackenheim, Création de la revue »Lancelot - Der Bote aus Frankreich«: dialogue ou monologue?, in: ebda, S. 389-400. Mit vielen lokalen Beispielen Ursula Zeraschi, Kulturelles Leben in Südbaden von 1945 bis 1949, Staatsexamensarbeit, Freiburg 1986. " Vgl. zur Bedeutung der Musik als Bestandteil der Kulturpolitik Zeraschi, Kulturelles Leben (Anm. 15), S. 33-51.

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Konzertreihe »Du classique au Jazz«. Diese für deutsche Ohren zum Teile eher ungewöhnliche Musikveranstaltung diente - unbeabsichtigter Weise - wohl mehr der Erbauung des Besatzungspersonals als der geistigen Öffnung der Deutschen. Im Bericht stand darüber zu lesen: »Die Jazz-Darbietung hat nur einen Teil des Publikums begeistert, mehr den französischen Teil als den deutschen.«" Lob und Anerkennung der Zeitgenossen über die kulturellen Aktivitäten mischten sich sehr schnell mit Unverständnis, ja mit einer stillen Entrüstung und gewissen Abscheu gegenüber dem bunten Treiben, das von den Franzosen angestoßen worden war. Angesichts der THimmer, unter denen noch Tausende von Toten lagen, angesichts der Not und des Elends, angesichts der Ungewißheit über das Schicksal von Angehörigen hielten viele das Ganze für pietätlos." Auch die französische Militärregierung fragte sich bald besorgt, ob die Ausuferung des Kulturbetriebes, bei dem mehr Masse statt Юasse geboten wurde, sich nicht letzten Endes gerade kontraproduktiv auswirkte." Obendrein wurde deutìich, daß der oft missionarische Eifer der Franzosen leicht in einen Kulturimperialismus umschlagen konnte. Ihre manchmal herablassende, pharisäerhafte Haltung provozierte eine spontane Ablehnung bei der Bevölkerung, die zudem durch allgegenwärtige Mangelerscheinungen viel zu beeinträchtigt war, als daß sie dem Kulturimport aus Frankreich wesentliche, über den Tag hinausreichende positive Seiten hätte abgewinnen können. Die Kultur war zunächst einmal ein Trostpflaster, das drückende Not lindem, sie aber nicht beheben konnte. Jede der Besatzungsmächte im Nachkriegsdeutschland wucherte mit dem Pfund, über das sie reichhaltig verfügte. Bei den Franzosen war das ihre Zivilisation und ihre Kultur - sie galt (und gilt) als eine wesentliche Komponente französischer nationaler Identität. Trotz aller Kritik waren viele Deutsche durchaus empfänglich für Frankreichs Kulturmission. Die württembergische Universitätsstadt Tübingen zum Beispiel erreichte nach 1945 ein besonders hohes Niveau des kulturellen Angebots, und der maßgeblich dafür verantwortliche Carlo Schmid sprach offen aus, was andere nicht zu sagen wagten: Man wolle durch eine »offensive Präsentation eines Kulturlebens« die bedrückende Nachkriegssituation bewältigen.^" Doch »Spiele statt Brot« konnte auf die Dauer keine Alternative sein. Aus der Sicht der »kleinen Leute« stellte sich die »Zeit der schönen Not« als Heuchelei dar: »Die französische Kulturpropaganda bleibt wirkungslos, weil 95 Prozent der deutschen Bevölkerung proletarisiert sind und ihre Einstellung gegenüber Frankreich davon abhängt, wie sie ernährt werden, ob sie Schuhe und Kleider erhalten, und nicht davon, ob gelegentlich " Bericht (Ado, Bade 4574). "Vgl. Werner Köhler, Freiburg i. Br. 1945-1949. Politisches Leben und Erfahrungen in der Nachkriegszeit, Freiburg 1987, S. 70ff. " Rapport mensuel pour Bade, Oktober 1946 (AdO, Bade H 1103-1104). ^Zitiert nach Edgar Lersch, Rückbesinnung auf Bewährtes - Auseinandersetzung mit der Moderne. Das Kulturleben in Tübingen 1945-1948, in: Knipping/Le Rider (№sg.), Kulturpolitik (Anm. 3), S. 277-290, hier S. 280.

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französische Professoren oder Künstler nach Deutschland kommen und vor den Residuen eines bürgerlichen Publikums, das politisch ohne Gewicht ist, Vorträge halten. Die geistige Aufnahmefähigkeit des deutschen Volkes gerade für ausländische kulturelle Probleme ist außerordentlich groß, aber solange aus einem Lande wie Südwürttemberg ebensoviel Fleisch für die Bedürftiisse der Besatzungsarmee geliefert werden muß, wie die eigene Bevölkerung verzehren darf, bleibt jeder Versuch noch so geschickter Kulturpropaganda einflußlos.«^' Dieses Zitat eines Deutschen aus Südwürttemberg hätte ebensogut im Land Baden ausgesprochen werden können. Das Stimmungsbild traf im Grunde genommen genau das Dilemma, in der die gesamte Kultuφolitik in der französischen Zone steckte. Anders als Nahrungsmittel waren Kulturerzeugnisse jeglicher Art in den ersten Nachkriegsjahren bezugscheinfrei und gegen sehr geringes Entgelt zu haben. In der Kultur sahen viele Deutsche insofern auch weniger einen Bestandteil gesellschaftlichen Neuaufbaus als ein Stück wohlfeiler Fluchtmöglichkeit aus der Misere und der Alltagsnot. Wenigstens für einige Zeit konnte man der ständigen Sorge ums Überleben scheinbar entgehen und konnte die grauen, dürftigen und eintönigen Verhältnisse, an die man sich hatte gewöhnen müssen, stundenweise übertünchen. So gesehen war der triste Alltag die Voraussetzung für die kulturelle Blüte in der französischen Zone und zugleich dafür verantwortlich, daß Kultur nur als bloßes Ersatzprodukt für materielle Güter betrachtet wurde.^^ Als eine begründete Hoffnung auf Besserung der Notlage auch im Laufe der Jahre nicht aufkommen konnte, sich die Situation vielmehr mit jedem Winter zuspitzte, kamen die kulturellen Initiativen in den Geruch, schnöde Ablenkungsmanöver zu sein. Mit der Währungsreform von 1948, in deren Zuge sich die wirklichen, lange vermißten materiellen und privaten Grundbedürfnisse entfalteten, und mit der verbesserten Lebenssituation fand das überhitzte Kulturklima in der französischen Zone ein jähes, ein schlagartiges, aber unter den eben genannten Voraussetzungen kein unerwartetes Ende. Kultur war so lange gefragt, als es neben dem Hunger nach Brot auch Hunger nach Geistigem gab. Dies war gerade bei einem Teil der jüngeren Generation der Fall, die die Abschottung durch das NS-Regime als besonders bedrückend und frustrierend empfunden hatte. Das, was von der französischen Kulturpolitik - auch im Sinne eines Erziehungsmittels - am positivsten nachklang und stets gewürdigt wurde, das waren die zahlreichen internationalen Jugendtreffen, die sich durch eine Mischung aus politischer Bildung, Sport und Unterhaltung auszeichneten. Ausdrückliches Ziel solcher Treffen war nicht zuletzt, bei den jungen Deutschen ein europäisches Verantwortungsgefühl zu wecken. In den unnachahmlichen Worten der ebenfalls noch recht jungen Franzosen, die die »Anthologie der deutschen Meinung« erstellten, hieß das: »Wir müssen dieser Jugend endlich den Blick auf Anthologie der deutschen Meinung (Anm. 1), S. 150f. ^^ Dazu Manfred Bosch, Der Neubeginn. Aus deutscher Nachkriegszeit. Südbaden 1945-1950, Konstanz 1988, S. 258ff.

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die Welt freigeben, sie von ihrem düsteren ElendsgefüM und von ihrer hochmütigen Prädestinationslehre lösen (...) Das Problem der deutschen Jugend ist bereits ein europäisches. Nicht daß wir ihr das selbstverständliche Recht, die Heimat zu lieben, verweigern wollten. Nationales Unglück erzeugt aber - das wissen wir aus eigener Erfahrung - immer nationale Gefühle. Und in unserem Kampf gegen die Reste von Nationalismus und Pangermanismus müssen wir absondern und respektieren können, was nur Anhänglichkeit an die zerschlagene Heimat und der Wunsch ist, sie in ihrer Unabhängigkeit und in einer friedlichen Größe wiederherzustellen.«^' Eine zumindest zeitweilige Bedeutung eriangte die demokratische Ausbildungsanstalt »Höllhof« bei Reichenbach im Kreis Offenburg. Das dortige pädagogische Programm zielte darauf, ehemalige HJ-Angehörige und auch deren Führer auf die Werte der Demokratie zu verpflichten. Das Unternehmen war allerdings von heftiger, auch deutscher Kritik begleitet, weil einige Teilnehmer für unverbesserlich gehalten wurden. Von Deutschen und Franzosen gemeinsam initiiert, überdauerte die Institution Höllhof die Besatzungszeit. Sie trug unverkennbare Züge einer temporären Besserungsanstalt, allerdings fehlte ihr jedweder restriktive Charakter. Im Bulletin d'Information der badischen Militärregierung vom Juni 1947 hieß es, daß das Haus »alten Nazis, vorzugsweise den jungen (offensteht), die, eingedenk ihrer vergangenen Irrtümer, Ratschläge, Unterrichtungen und Verständigung finden wollen«.^" Die dort beschäftigten Lehrer wurden im gleichen Bericht mit »Aposteln« verglichen, die berufen seien, demokratische Werte und Anschauungen »zum Triumph« zu verhelfen. Die Idee der Anstalt erforderte großes Einfühlungsvermögen. Nichts sollte durch Zwang geschehen, Offenheit hieß die Devise, und das Bestreben ging dahin, die Teilnehmer der mehrwöchigen Kurse zur Nachdenklichkeit zu bringen. Man wollte von einem »negativen Unterricht« absehen. Das bedeutete auch, daß man nicht so sehr auf die Vergangenheit des »Dritten Reiches« abhob, sondern vielmehr die Chance der Zukunft betonte. Zur Illustration der Lehrkonzeption wurden im Informationsblatt einige »falsche« und einige »richtige« Argumentationsketten genannt. Beispielsweise waren die Lehrer gehalten, nicht zu sagen: »Während der NaziZeit haben Sie so und so gehandelt, und das werden wir Ihnen jetzt verbieten«. Statt dessen sollte die Argumentation etwa folgendermaßen lauten: »Die moderne Welt erfordert, daß jeder einzelne auf diese oder jene Weise handelt; denken Sie darüber nach und handeln Sie entsprechend«. Geplant war, den Unterricht offen, in Form einer Konversation, zu gestalten, um Demokratie und Meinungsfreiheit anschaulich und lebendig zu machen. »Demokratie« bloß in Form eines »abgedroschenen Wortes« zu gebrauchen, sollte verhütet werden. Der Tagesablauf war zwischen 7 und 21 Uhr strikt geregelt, wobei sich Unterricht, sportliche Aktivitäten, Erholung und Freizeit abwechselten. Die Teilnahme und der Aufenthalt waren kostenlos. Klagen, etwa von gewerkschaftlicher " Anthologie der deutschen Meinung (Anm. 1), S. 223f. " Z u der gesamten Initiative »Höllhof« vgl. den Bestand AdO, AC 347,1.

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Seite, daß der Höllhof wegen seiner allzu libertären Idee nicht Umerziehung, sondern das genaue Gegenteil, nämlich eine Versteifung auf die NS-Ideologie bewirke, belasteten das umstrittene Projekt von Beginn an." Auf nahezu einhellige Zustimmung hingegen stieß das »Freiburger Institut für Internationale Begegnungen«, welches in Verbindung mit deutschen und französischen Vereinigungen und Verbänden internationale Jugendtreffen in Südbaden und Frankreich veranstaltete, die sich eines regen Zuspruchs erfreuten. Der Ablauf und die Zusammensetzung der Treffen waren stets ähnlich. In den ersten drei Wochen winden die Teilnehmer in verschiedenen Orten des Schwarzwaldes, wie Titisee und Freiburg, oder in Konstanz und in der Gegend von Offenburg untergebracht. Die letzten zehn Tage verbrachte die Gruppe dann in Frankreich, in der Gegend von Besançon. Die Teilnehmer setzten sich aus je 80 Franzosen und Deutschen und 40 Angehörigen anderer Nationalitäten zusammen; sie sollten zwischen 20 und 30 Jahren alt sein. Fachkräfte, Professoren und Gastreferenten kamen zu kürzeren oder längeren Besuchen, um verschiedene Probleme - namentlich Film, Theater, Musik, Volkswirtschaft, Geographie - zu beleuchten und den Meinungsaustausch anzuregen. Außerdem blieb viel Zeit für Sport, Ausflüge und Abendveranstaltungen. Hauptziel der Treffen war, »die aktive Arbeit der Jugend in den verschiedenen Ländern anzuregen und darüber hinaus einen weitgehenden Austausch der Gedanken und Kenntnisse von den allgemeinen Problemen auf wirtschaftlichem, sozialem und politischem Gebiet zu vermitteln«.^® In solchen Jugendtreffen liegen die Anfänge des deutsch-französischen Jugendaustausches. Sie waren langfristig eines der festesten Fundamente für die Aussöhnung der beiden Nachbarn. Die Erfolgsgeschichte der Aussöhnung war aber in den Jahren der Besatzung noch nicht vorauszusehen. Von den Jugendlichen, die in den Genuß von Zeltlagem und Austauschreisen kamen, einmal abgesehen, stillte »Kultur« während der Besatzungszeit in erster Linie das Trost- und Erbauungsbedürfiiis der Besatzungsdeutschen in schlechter Zeit. Nach der Währungsreform wurde das Geld in langentbehrte Waren und zur Hebung des Lebensstandards investiert. Die Freizeit verbrachte man nicht in schöngeistigen Volkshochschulseminaren, in Bibliotheken oder Theatern, sondern nutzte sie »produktiv« für das eigene berufliche Fortkommen. Zur gleichen Zeit schwächte sich die Orientierung auf die französische Kultur, die in den zurückliegenden Jahren bis zum Überdruß konsumiert worden war, merklich ab" zugunsten einer Hinwendung zur angelsächsischen Kultur, die - wie dann am eigenen Leibe erfahrbar - Wohlstand und Fortschritt nicht nur versprach, sondern auch brachte.

" Ebda. »Note d'Information« der Sûreté vom 25.10.1948. " So im Programm für den Sommer 1949 (AdO, AC 326,2). " Siehe Georges Cuer, Der Französischunterricht und die französische Sprachenpolitik in Deutschland nach 1945, in: Knipping/Le Rider (Hrsg.), Kultuipolitik (Anm. 3), S. 57-83, sowie Jérôme Vaillant, Bildungspolitik und Öffentliche Meinung, in: Ebda., S. 135-160, hier S. 147f.

IV. Zeit der Reformen - Sorge ums Überleben 1. »Zum Sterben wirklich nicht mehr zuviel« Die Versorgungskrise in Baden »Was gibt es heute zu essen?«, fragt ein Ehemann seine Frau. »Kartoffeln!«, erhäh er zur Antwort. Auf die Frage des Ehemannes, was es dazu gebe, antwortet sie ihm: »Gabeln!« In der Realität war die Emährungslage jedoch weitaus gravierender, als sie hier der Volkswitz charakterisierte: »Seit vier Tagen essen wir Rüben ohne Kartoffeln, weil uns die 60 Pfund Kartoffeln pro Kopf bis heute noch nicht zugeteilt worden sind. Seit zwei Tagen sind wir ohne Brot. Wir essen also mittags und abends Rüben mit etwas Öl geschmälzt, ohne Kartoffeln und ohne Mehl. Frühstück und Vesper fällt aus, da wir auch keine Suppennährmittel haben.« Mit dieser Klage wandte sich im Januar 1947 eine Kriegswitwe mit drei Kindern aus Baden-Baden an den Regierungschef Leo Wohleb.' Bis über die Währungsreform hinaus stellte der Nahrungsmangel neben dem vor allem in den Städten herrschenden Wohnungsmangel in der gesamten Nachkriegszeit das bestimmende Alltagsproblem für die Bevölkerung dar. Diese Notsituation bildete zugleich den Rahmen jeglicher Aktivität der staatlichen und kommunalen Verwaltungen, der Parteien, Gewerkschaften und Kirchen. Der Erfolg des demokratischen Neubeginns und der französischen Reformpolitik hing zu einem hohen Grade davon ab, ob es gelang, der Bevölkerung eine einigermaßen erträgliche Versorgungslage zu gewährleisten. War es nämlich dem nationalsozialistischen Regime noch gelungen, bis in die letzten Kriegstage hinein die Bevölkerung ausreichend mit Nahrungsmitteln zu versorgen, verschlechterte sich die Versorgung nach der Besetzung zusehends. Die von der französischen Militärregierung festgesetzte tägliche Kalorienzahl in Höhe von 1550 Kalorien wurde bei weitem nicht erreicht, wobei auch diese Zahl erheblich unter der vom Völkerbund als Richtwert für eine ausreichende Emährung angesetzten Menge von 2400 Kalorien lag. In Freiburg beispielsweise sanken die Werte 1945 in den beiden Sommermonaten August und September mit 593 und 586 auf den tiefsten Stand der gesamten Nachkriegszeit.^ In der allgemeinen Entwicklung Badens erreichte die Hungerkrise jedoch erst im Frühjahr 1947 ihren Höhepunkt. In den ersten Nachkriegsmonaten standen noch Nahrungsmittel aus Lagerbeständen des Handels und der Wehrmacht zur Verfügung, auch die Bevölkerung hatte sich mit Vorräten eingedeckt, zum Teil ' Baden-Baden, 17.1.1947 (STAF, A 2/928). ^ Vgl. Thomas Held u.a., Hunger und Hamsterwesen. Die Emährungssituation Freiburgs 1945-1948, in: Arbeitskreis Regionalgeschichte Freiburg (Hrsg.), Alltagsnot und politischer Wiederaufbau. Zur Geschichte Freiburgs und Südbadens in den ersten Jahren nach dem 2. Weltkrieg, Freiburg 1986, S. 23-33.

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bei den zahlreichen Plünderungen in den Tagen des Zusammenbruchs. Bis in den Herbst 1945 war die Versorgung der Bevölkerung im allgemeinen nicht ernsthaft gefährdet. Eine drastische Verschlechterung erfolgte im Winter 1945/46. Als besonders gravierend stellte sich die Situation jeweils in den Monaten vor der neuen Emte dar, wenn die Vorräte aus der vorangegangenen Ernte aufgebraucht waren und die neue Emte noch nicht verfügbar war. So sank die Kalorienmenge im Frühsommer 1946 in Baden auf knapp 600 - die Hauptstadt Freiburg schnitt da mit etwas über 900 besser ab. In den Wintermonaten stiegen die Werte an, um im Frühjahr wieder einen Tiefstand zu erreichen. Im Mai 1947 gelangten etwa 800 Kalorien zur Zuteilung. Den ganzen Sommer 1947 lagen die Werte immer unter 1000 Kalorien. Im März wurde an den Normalverbraucher beispielsweise ausgegeben: pro Tag 250 g Brot, 4,5 g Fett, je 4 g Zucker und Teigwaren, 5 g Fleisch, vielleicht eine Kartoffel. Mit diesen Werten kam das Land Baden nicht nur im Vergleich mit den anderen Westzonen und der sowjetisch besetzten Zone, sondern auch mit den anderen Ländern der französischen Zone mit Abstand am schlechtesten weg. Eine spürbare Verbesserung der Situation war erst im Herbst 1948 festzustellen, der tägliche Kaloriensatz stieg auf durchschnittlich 1800 an. Im September hatte auch die französische Militärregierung ihre Nahrungsmittelentnahmen eingestellt. Zudem war die Emte des Jahres 1948 sehr gut ausgefallen, und die ersten großen Lebensmittelimporte im Rahmen des Marshallplans trafen ein. Die Verspätung der Emährungskatastrophe, die ihren Höhepunkt erst zwei Jahre nach Kriegsende erreichte, vermittelte der Bevölkerung den Eindruck, nur die Besatzungsmacht sei Schuld an der Situation. Denn die nationalsozialistische Führung war fast ängstlich darauf bedacht gewesen, eine ähnliche Versorgungskrise wie 1917/18 zu vermeiden. Aus Hunger resultierende Unzufriedenheit oder gar Widerstand sollten unter allen Umständen vermieden werden. Dies hatte denn auch zu einer beträchtlichen Anhäufung von Vorräten geführt, die allerdings zum Großteil aus der rücksichtslosen Ausbeutung der besetzten Gebiete stammten. Während die französische Militärregierang mit einem Plakat beispielsweise versuchte, der Bevölkerang klarzumachen, daß die schlimme Lage auf dem eigenen Verschulden der Deutschen beruhte und daß auch andere Nationen hungerten,' waren manche Deutschen der Überzeugung, daß die Franzosen sie verhungern lassen wollten. Ein Lahrer Verwaltungsangestellter etwa empörte sich darüber, daß die Emährang für den Normalverbraucher »zum Sterben wirklich nicht mehr zuviel« sei. Er empfahl aus diesem Grund das »Anlegen größerer Massengräber bzw. Erweiterang des Friedhofes«.^ Die Gründe für die Krise waren vielschichtig: Alle Länder der französisch besetzten Zone galten als landwirtschaftliche Zuschußgebiete, insbesondere Fleisch, Getreide, Kartoffeln und Saatgut mußten von außerhalb eingeführt ^ Plakat »Darum hungern wir« (StA Freiburg, С 5/1460). "Zitiert nach Ursula Huggle, Alltag in Lahr von 1900 bis 1950, in: Stadt Lahr (Hrsg.), Geschichte der Stadt Lahr, Bd. 3: Im 20. Jahrhundert, Lahr 1993, S. 6 7 - 106, hier S. 99.

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werden.' Gerade hier wirkte es sicii gravierend aus, daß durch die Zonenabschnürung sowie Kriegsschäden und Beschlagnahmungen durch die Besatzungsmächte im Transportwesen eine Zufuhr aus anderen Regionen stark eingeschränkt war. Zur Emährungskrise und zur schlechten Stimmung in der französischen Besatzungszone trug zudem bei, daß sich hier die Besatzungsmacht im Gegensatz zu Amerikanern und Briten aus der eigenen 2^ne ernährte und Lebensmittel - vor allem Fleisch, Butter, Käse, Eier - nach Frankreich, das selbst hungerte, ausführte. Nach Berechnungen des Zentralausschusses für Ernährung hat sich dadurch der Tageskaloriensatz der Bevölkerung um 10 bis 15 Prozent verringert.^ Neben Holzeinschlägen und Demontagen führten daher Lebensmittelentnahmen zu schweren Konflikten zwischen Besatzungsmacht und deutschen Regierungen in der französischen Zone. Die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges sich ankündigende Emährungskatastrophe war jedoch keine rein deutsche Erscheinung. Mehrere Länder Ost-, Süd- und Westeuropas sowie weite Teile Ostasiens waren davon betroffen. Durch die Strategie der verbrannten Erde der deutschen Wehrmacht, die Flucht und Vertreibung der Deutschen aus dem Osten, die überstürzte Bodenreform in den osteuropäischen (Überschuß-)Ländem, die Stagnation der Getreideanbauflächen in Argentinien und eine unzureichende Ausweitung der Getreideanbauflächen in Kanada und den USA war die Weltgetreideproduktion 1945 weit unter den Bedarf gesunken. Aber auch die langjährige IJberforderang der deutschen Wirtschaft durch NS-Regime und Kriegswirtschaft wirkte sich jetzt aus. Das Gebiet der französischen Zone hatte sich vor dem Krieg zu etwa 75 Prozent selbst versorgen können. Da aber die Emte 1945 gerade noch etwas mehr als 50 Prozent des Bedarfs decken konnte, blieben zur Sicherstellung der Emährung drei grundlegende Maßnahmen: die Vermehrung von Importen, die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion und die gerechte Verteilung der vorhandenen Lebensmittel.' Um etwa der Bevölkerung der französischen Zone eine tägliche Brotration von 450 Gramm zu gewährleisten, hätten bei idealer Emte und Verteilung beispielsweise für die Monate Dezember 1945 bis August 1946 immerhin 550 ООО Tonnen Getreide importiert werden müssen.® Die Importe für Nahrungsmittel blieben indes bis 1948 immer weit unter dem Bedmf. Das bei der Militärregierung eingerichtete Außenhandelsamt OFICOMEX, das den gesamten Außenhandel kontrollierte, hatte zwar durch Exportüberschüsse, die bis Ende 1947 erzielt wurden, sowie durch ihre für die Zone nachteilige Bewer' Vgl. Karl-Heinz Rothenberger, Emährungs- und Landwirtschaft in der Französischen Besatzungszone, in: Claus Scharf/Hans-Jürgen Schröder (Hrsg.), Die Deutschlandpolitik Frankreichs und die Französische Zone 1945-1949, Wiesbaden 1983, S. 185-203. Oers., Die Hungerjahre nach dem Zweiten Weltkrieg. Emährungs- und Landwirtschaft in RheinlandPfalz 1945-1950, Boppard 1980. ' Das sind 176 Kalorien, eigene Berechnungen Rothenbergers gehen von einer täglichen Verminderung von 65 Kalorien aus. Vgl. Rothenberger, Hungerjahre (Anm. 5), S. 202. ' Im folgenden Rothenberger, Emährungs- und Landwirtschaft (Anm. 5), S. 188-192. ' Directeur de l'Agriculture et du Ravitaillement an Administrateur Général, 9.11.1945 (AdO, CCFA AEF 199,1).

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tungspraxis gewaltige Devisenüberschüsse erzielt, diese wurden jedoch vor allem für den Wiederaufbau der französischen Wirtschaft genutzt und kamen nur in geringem Maße der Zone zugute. Zur Sicherung der Ernährung war man also mehr denn je auf die eigene landwirtschaftliche Produktion angewiesen. Mit Verordnung Nr. 5 vom 4. September 1945 wurde die gesamte Wirtschaft - auch die Landwirtschaft - der Militärregierung unterstellt. Deren Wirtschaftsstellen erteilten Produktionsauflagen, gaben Produktionsmengen frei und kontrollierten die Verteilung der Produkte. Seit 1946 legte die Militärregierung auch die Anbauflächen für die einzelnen Feldfrüchte fest. Die gesamte Emte war in diesem planwirtschaftlichen System abgabepflichtig mit Ausnahme des Saatgutes und des Selbstversorgeranteils. Die zwangsbewirtschafteten Erzeugnisse waren auf dem gesamten Verteilungsweg beschlagnahmt - bloqué - und bedurften zur Weiterleitung eine Freigabe - débloquage - durch die französischen Behörden. Diesen nachgeordnet arbeitete eine deutsche Emährungsbürokratie, an dessen Spitze seit Februar 1946 ein Ministerium für Landwirtschaft und Ernährung stand - zuvor gab es lediglich ein Landesemährungsamt im Rahmen der Landesverwaltung. Das Amt des Landwirtschaftsministers erwies sich bis zur Uberwindung der Emährungskrise für alle Amtsinhaber als Schleudersitz - Meriten ließen sich hier nicht verdienen. Auf Kreis- und Ortsebene kontrollierten Emähningsämter die Erfüllung der Ablieferungspflicht. Um das Emährungsgefälle zwischen den mehr agrarisch und mehr städtisch geprägten Landesteilen auszugleichen, wurde auf Zonenebene ein Zentralausschuß für Ernährung eingerichtet. Das planwirtschafdiche Erfassungssystem, das keine Mindest- oder Höchstabgabegrenzen kannte, sowie die landwirtschaftlichen Erzeugerpreise, die auf einem viel zu niedrigen Vorkriegsstand - bei Getreide sogar auf das Niveau von 1914 - festgeschrieben waren, riefen kaum vermehrte Anstrengungen der Bauern hervor. Die wiederkehrenden Appelle der Parteien, Gewerkschaften und Kirchen - »Laßt uns nicht verhungern!« - , die sich an die Solidarität der Bauern wandten, sowie Strafandrohungen und Zwangsmaßnahmen gegen Bauern, die die Pflichtablieferung unterliefen, waren oft nur Anzeichen der Hilflosigkeit. Von deutscher Seite schlug man daher ein gemischt-wirtschaftliches Veranlagungssystem vor, das den Bauem entweder gewisse Emtemengen zur freien Verf^ügung beließ oder Ablieferungen über dem Soll mit Sonderzuteilungen an Betriebsmitteln oder Waren belohnte.' Darin lag sicher ein Produktionsanreiz, aber gleichzeitig hätte dieser Weg eine beträchtliche gesellschaftliche Sprengkraft beinhaltet, da die Überschüsse überwiegend finanzkräftigen und tauschfähigen Gesellschaftsgruppen zugeflossen wären. Andererseits ist der enorme Leistungsabfall der Landwirtschaft aber nur zu einem Teil dem Wirtschaftskonzept anzulasten, er ist vielmehr zurückzuführen auf den Ausfall von Handelsdünger, den Mangel an Arbeitskräften, Maschinen und Geräten, die Hitze- und Dürreperiode im Sommer 1947 und andere Faktoren. ' Vgl. etwa die Stellungnahme des Badischen Ernährungsministeriums zu Emährungskrise vom 31.10.1946 (STAF, A 2/928).

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Über die Aufstellung der Produktionspläne, die den Umfang der landwirtschaftlichen Produktion vorausberechneten, gerieten deutsche und französische Stellen immer wieder in Streit, denn diese Pläne konnten in den meisten Fällen nicht eingehalten werden. Dies lag zum einen an der Unzulänglichkeit der Emtestatistik, die auf der Bodennutzungserhebung von 1938 beruhte, sowie an Unwägbarkeiten wie der Witterung oder der Versorgung mit Düngemitteln und Maschinen, zum anderen an der Tatsache, daß die Bauern nicht alles ablieferten, was sie produzierten.'" Der »Kartoffelkrieg« in Baden führt diese Problematik beispielhaft vor Augen. Bereits im Sommer 1946 mußten große Teile der Bevölkerung ohne Kartoffeln - neben Brot in der Nachkriegszeit das Hauptnahrungsmittel - auskommen. Im Herbst und Winter 1946 und vor allem im Frühjahr 1947 verschlimmerte sich die Lage erheblich. Die Militärregierung hatte für das Emtejahr 1946/47 bei einer geschätzten Gesamtemte von 408 ООО Tonnen Kartoffeln eine Erfassung von 165 ООО Tonnen angesetzt. Die Differenz beider Zahlen war für den Eigenverbrauch der Bauern, für Saatgut und die Schweinezucht bestimmt. Die Erfassungsstellen konnten aber bis in das Frühjahr 1947 nur die Hälfte dieser Menge aufbringen." An Normalverbraucher gelangten deshalb über längere Zeit keine Kartoffeln mehr zur Verteilung. Nach Auffassung der Militärregierung hatten die Behörden des Staatskommissars für Ernährung Anton Dichtel und des Staatssekretärs für Landwirtschaft Anton Hilbert die Kartoffelablieferung sabotiert oder sich als unfähig erwiesen: »(...) so ist die Verantwortlichkeit für das Defizit der Erfassung ausschließlich im Versagen der badischen Dienststellen für die Landwirtschaft und die Emährung zu suchen«, schrieb der Landesgouverneur an Wohleb.'^ Derartige Vorwürfe erfolgten grundsätzlich, wenn deutsche Stellen nicht mit der Besatzungsmacht kooperierten. Beiden wurde vorgeworfen, zugelassen zu haben, daß die Landwirte Kartoffeln auf dem Schwarzmarkt verkauften oder Schweine aufzogen, die ebenfalls an den Erfassungsorganen vorbei verkauft wurden: »Warum haben Sie keine Kartoffeln, meine Herren. Nicht weil es keine gibt. Auch nicht, wie Sie es sehen, weil die Franzosen sie gegessen haben. Sondem weil es die Bauem bei der Ablieferung an gutem Willen fehlen lassen und weil die badische Emährungsbehörde sich ihrer Aufgabe nicht stellt, sich gegenüber der Sicherung des Lebens der städtischen Bevölkerung gleichgültig zeigt, die Abgabequoten schlecht verteilt hat und die Ablieferung sabotiert.«'^ Die Verantwortlichen wehrten sich gegen diese Vorwürfe. Falsche statistische Grundlagen, auf deren Basis die Ablieferungsmengen errechnet worden seien und niedrige Erträge aufgrund unzureichender Düngemitteleinfuhren hätten zu dem Defizit in der Kartoffelerfassung geführt.'" Bereits Carl Diez, der Vorgänger Dichteis und Hilberts, mußte unter anderem wegen des Statistikproblems als Zur Problematik der Statistik vgl. Rothenberger, Hungerjahre (Anm. 5), S. 4-7. " Vgl. Pène an Wohleb, 3.5.1947 (STAF, A 2/952). Vgl. ebda. " Oberst Magnant auf einer Pressekonferenz, 7.5.1947 (AdO, Bade 2109 Al). " Vgl. Wohleb an Pène, 3.4.1947 (STAF, A 2/928).

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Ministerialdirektor für Landwirtschaft und Ernährung im Dezember 1946 seinen Abschied nehmen - bei der Bildung der Provisorischen Regierung im Winter 1946 hatte man auch die Ressorts Ernährung und Landwirtschaft getrennt, um Interessenskollisionen zu verhindern. Obwohl für das Emtejahr 1946 von der Militärregierung für 38 500 ha Anbaufläche Saatkartoffeln angefordert und geliefert worden waren, legte Diez' Ministerium für die Erfassung der Ernte eine Anbaufläche von nur 24 ООО ha zugrunde. Diez warf der Militärregierung vor, die von ihr berechnete Emtemenge beruhe auf Statistiken, die während des »Dritten Reiches« angefertigt worden waren. Diese »waren Zweckmeldungen (...) und sollten der Welt glauben machen, daß Deutschland nicht ausgehungert werden könne«." Ob es nun Sabotage oder Ohnmacht war, läßt sich mit Sicherheit nicht feststellen. Eine gewisse Nachsichtigkeit gegenüber der Bauernschaft - einer der Hauptstützen der BCSV - darf man Diez, Hilbert und Dichtel jedoch unterstellen. Vor den Landtags wählen im Mai 1947 wies auch Partei- und Regierungschef Wohleb in einem Schreiben an Staatskommissar Dichtel auf die Gefahren für die BCSV hin, die aus der Emährungskrise und vor allem den scharfen Kontrollen und Entnahmen in der Landwirtschaft resultierten. Sollte hier keine Änderung eintreten, »müßten wir auf die Dauer mit einer Erschütterung des Vertrauens weitester Wählerkreise rechnen, die sich bei den Wahlen in unheilvoller Weise auswirken würde.«'® Er betonte auch die Notwendigkeit, darauf hinzuweisen, daß »der Grund für die Emährungskatastrophe in Südbaden nicht so sehr an der mangelnden Ablieferung seitens der Landwirte liegt, sondern hauptsächlich daran, daß die Besatzungsmacht (...) überzogene Mengen der in Baden anfallenden Lebensmittel in Anspruch nimmt.« Die Bauern beschwerten sich auch gerade bei Dichtel und Hilbert wegen scharfer Kontrollen ihrer Höfe durch französische und deutsche Erfassungsorgane, die, um das Defizit bei der Kartoffelerfassung auszugleichen, oft zu übertriebenen Maßnahmen griffen. Ein Landwirt und Bürgermeister aus dem Landkreis Donaueschingen beschrieb eine derartige Kontrolle folgendermaßen: »Heute morgen erscheint ein Überfallkommando: 5 Autos 32 Personen. Der Kommandant behandelte mich und Sekretär wie Lausbuben, sperrte mich und Sekretär unter Bewachung eines franz. Gendarmen ins Büro. Mir selbst haben sie alle Kartoffeln weggenommen, zirka 10 Ztr., so dass ich nichts mehr habe, nicht mal mehr einen Kartoffel (...) Unter diesen mehr als russischen Zuständen wird kein Bürgermeister, kein Landwirt mehr Interesse haben.«" Diese Maßnahmen, die auch tatsächlich Kartoffeln zu Tage brachten, wurden dann wiederum als Beweis für die Sabotage deutscher Behörden verwendet: »Das bisherige Ergebnis habe (...) den Beweis erbracht, daß noch abgabepflichtige Kartoffeln vorhanden seien, die der Verbraucherschaft zugeführt werden " Diez an Bund, 31.10.1946 (STAF, А 2/928). Hier auch die Korrespondenz zur Entlassung Diez'. Auch Rhein-Zeitung (»Verschwundenes Land«), 14.5.1947. "Wohleb an Dichtel, 21.3.1947 (STAF, А 2/928). " Brief (Verfasser nicht leserlich) an Dichtel (STAF, А 2/952).

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müßten. Es könnte nicht verantwortet werden, daß die Stadtbevölkerung hungere und das Lebensnotwendigste entbehre, indessen bei einem Teil der Landbevölkerung die dringend benötigten Grundemährungsstoffe in Verstecken auf den Schwarzmarkt harrten.«" Die Militärregierung hatte im Mai 1947 die Bildung von Erzeuger- und Verbraucherzentren angeordnet. In jedem Verbraucherzentrum sollten Kommissionen aus Gewerkschaften, Behörden und Parteien gebildet werden, die dann ihren Bedarf an Kartoffeln in zugewiesenen Erzeugerzentren selbst decken sollten." In den Gemeinden Döggingen, Bräunlingen, Geisingen und Oberbaldingen fand am 3. Mai 1947 eine solche Aktion statt mit dem Zweck, nicht erfüllte Ablieferungsquoten an Kartoffeln einzutreiben. »Um 7 Uhr versammelten sich in Donaueschingen etwa 50 Vertreter der Gewerkschaften aus Furtwangen, die gleiche Zahl von deutschen Gendarmeriebeamten aus Donaueschingen und Freiburg sowie Vertreter der MiUtärregierung, die der Aktion den amtlichen Charakter gaben. Der Directeur Général der Sektion Ernährung aus BadenBaden gab den Gewerkschaftsvertretern zunächst Kenntnis von den geplanten Maßnahmen, deren Ergebnis der werktätigen Bevölkerung in den Städten zugute kommen sollte. Zunächst sollten sie bei den Bürgermeistern der betreffenden Orte vorsprechen, ihnen die Not der Stadtbevölkerung verständlich machen und sie um ihre Unterstützung bei der Kartoffelbeschaffung ersuchen. Sollte diese Vorsprache ohne Ergebnis bleiben, dann sollte man mit Hilfe der deutschen Polizei Hofbegehungen und Hausdurchsuchungen in den einzelnen landwirtschaftlichen Anwesen vornehmen.«^" Es ging zwar generalstabsmäßig vonstatten, aber Parmen ereigneten sich rasch. »Die anwesenden Teilnehmer wurden in vier Kolonnen aufgeteilt und mit Lastkraftwagen nach den einzelnen Orten geschickt. Das Gelingen oder Nichtgeiingen der Aktion hing maßgeblich von dem Verhandlungsgeschick der teilnehmenden Gewerkschafter und der Bürgermeister ab. Der Ortsausschuß der Gewerkschaften in Furtwangen hatte offensichtlich in der Auswahl seiner Vertreter keine glückliche Hand gehabt, denn die Unbeholfenheit der Abordnungen und auch die Unsicherheit der teilweise sehr jungen Polizeibeamten führten dazu, daß in den meisten Fällen die teilnehmenden französischen Offiziere die Verhandlungen mit den Bürgermeistern führten und auch anschließend die Exekutive ausübten. Die Gewerkschaftler taten schließlich als Aufladekommandos und die Polizisten als >Spürhunde< ohne Initiative mit.« In einigen Ortschaften stießen die Abordnungen auf vielfältige, teils geschickt, teils ungeschickt vorgebrachte Formen von Lokalegoismus. »In Geisingen wurde dem Bürgermeister (...) die Lage der Stadtbevölkerung von dem teilnehmenden französischen Offizier geschildert und ihm klar gemacht, wie sehr seine Gemeinde mit den Kartoffelablieferungen im Rückstand geblieben " Badische Zeitung, 9.5.1947. Die Badische Zeitung berichtet hier über eine Pressekonferenz der Militärregierung. "Pène an Wohleb, 3.5.1947 (STAF, A 2/928). Badische Zeitung, 9.5.1947. '"Freiburg, 5. Mai 1947 (AdO, Bade 2109 A 1).

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sei. Auf die Frage, ob er innerhalb einer Stunde die fehlende Kartoffelmenge herbeischaffen könne, antwortete er mit >nein< und teilte dabei mit, daß aufgrund persönlicher Absprache mit dem Gouvemeuer m Donaueschingen das Ablieferungssoll der Gemeinde herabgesetzt worden und daher die Differenz nicht so groß wie angegeben sei. Danach wurden anhand der in Donaueschingen ausgegebenen Ablieferungslisten jene landwirtschaftlichen Anwesen aufgesucht, die sehr wenig Kartoffeln abgeliefert hatten. Die bei diesen Durchsuchungen gefundenen Bestände wurden beschlagnahmt und abgefahren. Dort, wo man annahm, daß noch irgendwelche Kartoffelmengen versteckt seien, wurde für 15 Kilo nicht abgelieferte Kartoffeln ein Kilo Schwein (Lebendgewicht) als beschlagnahmt berechnet. Diese Maßnahme wurde damit begründet, daß, wenn keine Kartoffeln vorhanden seien, auch keine Möglichkeit gegeben sei, Vieh noch weiter zu füttern. In Oberbaldingen erwies sich der Bürgermeister als geschickter. Er rief die Bauern seiner Gemeinde zusammen und übermittelte ihnen die vorgebrachten Wünsche. Obwohl die Stimmung der Bevölkerung nicht freudig war, erkannte man dort die Bemühungen, so viel wie möglich heranzuschaffen. Es wurden nach Ablauf der gestellten Frist von zwei Stunden erhebliche Kartoffelmengen angefahren. Noch während der Anfuhr wurden von den Vertretern der Militärregierung mit jeweiliger Gewerkschaftsund Polizeibegleitung Hofbegehungen vorgenommen. Einzelne Bauern hatten versucht, einen Teil ihrer Kartoffelbestände zu verstecken. Als Sühneleistung wurden die gesamten vorhandenen Bestände beschlagnahmt. Andere, bei denen es den Anschein erweckte, als ob sie Kartoffeln versteckt hätten, weil diese nicht alle im Keller (sondern z. B. in der Scheune) aufbewahrt waren, wurden ebenfalls mit strengen Repressalien bedacht. In einigen Fällen trug das ungeschickte Verhalten der deutschen Polizisten dazu bei, daß sich solche Maßnahmen zu unbilligen Härten ausweiteten. Auch der Mangel an guten Dolmetschern erschwerte die gegenseitige Verständigung, sonst wären wohl nicht tragende Zuchtschweine beschlagnahmt und weggeführt worden. Den beschlagnahmenden Instanzen, die ausschließlich zu der Gruppe der Normalverbraucher der Stadt gehörten, erschien es üppig, wenn Bauern, die, wie man weiß, zu der Gruppe der Selbstversorger gehören, in ihren Vorratskammern drei bis vier Speckseiten oder Getreidevorräte aufbewahrt hatten. Die Zeit der Hausschlachtungen war gerade vorüber und die vorhandenen Vorräte bildeten für sie als Selbstversorger einschließlich der im Sommer angeworbenen Bediensteten die Rationen für das ganze Jahr.« Diese Schilderung vor Augen kann es nicht überraschen, daß die Aktionen bei den Bauern großen Unmut hervorriefen, wenngleich der Bericht versuchte, die Wogen künstlich zu glätten. »Die Reaktion der einzelnen Landwirte auf die Beschlagnahmen war verschieden. Während Frauen meistens nicht wußten, was sie tun sollten, und weinend oder jammernd ihre Lage zu erklären versuchten, äußerten sich die Männer sehr resigniert und brachten zum Ausdruck, daß, wenn man sie nicht säen lasse, sie auch nicht ernten könnten. Aus Bräunlingen wurde berichtet, daß man dort die Bauern angewiesen hatte, die bereits zum Säen aufs Feld transportierten Kartoffeln wieder zurückzuholen. Sie wurden dann beschlagnahmt. Im Emp-

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fangsort Furtwangen schien die Spende offensichtlich nicht den erwarteten Widerhall zu finden. Der Bürgermeister äußerte dem Berichterstatter gegenüber, daß eine solche Sache zwei Seiten habe, und ließ mit Bezug auf die Wahlen durchblicken, daß sie wahrscheinlich mehr schaden als nützen würde. Die teilnehmenden Gewerkschaftsvertreter, die annahmen, daß auch das beschlagnahmte Vieh unter die Furtwanger Bevölkerung verteilt würde, konnten ihre Verwunderung nicht verbergen, als das Vieh zum Schlachthof nach Donaueschingen transportiert wurde. Die Tatsache, daß in einem Falle ein zum Beschlagnahme-Kommando gehörender unbewachter Schäferhund auf einem Hof Hühner jagen durfte, rief unter der Landbevölkerung Befremden hervor (...) Die Teilnahme der Vertreter der Wochenschau aus Baden-Baden wirkte auf die Bevölkerung wie eine besondere Art von Provokation. »Es waren«, so schloß der Bericht über die sehr zwiespältige Unternehmung, »im Verfolg der Aktion Fälle zu beobachten, in denen die Beschlagnahmen begründet waren, aber auch Fälle, in denen, wie es schien, gewissenhafte Bauern von Härten betroffen wurden.«^' Diese Maßnahmen stellten einen Versuch der Besatzungsmacht dar, den Unmut, der sich bei der städtischen Bevölkerung angestaut hatte, von sich abzulenken - man befürchtete sogar Hungerrevolten oder Hungermärsche wie in der britischen Zone. Man solidarisierte sich mit der hungernden Stadt und schob die Schuld an der Krise auf die Bauem, die Schwarzmarktgeschäfte betrieben.^^ Andererseits wollte man auch Druck auf die BCSV ausüben, indem man sie als Partei denunzierte, die nur die Interessen der Bauem vertrat. Emährungskommissar Dichtel protestierte aufs heftigste gegen diese Maßnahmen, die nach seiner Darstellung zu einem großen Teil Eigenbedarf und Saatkartoffelbestände der Landwirte betrafen." Der Staatssekretär für Landwirtschaft Hilbert mischte sich persönlich in eine Kartoffelerfassung in seiner Heimatgemeinde ein und entging nur knapp der Verhaftung durch die französische Polizei.^" Im Verlauf dieses »Kartoffelkrieges« erklärte die Provisorische Regierang ihren Rücktritt, der von der Militärregierang jedoch nicht akzeptiert wurde: »Die Provisorische Regierang des Landes Südbaden bittet den hohen Kommissar der Republik, Herrn Gouverneur Pène, ihren Rücktritt entgegennehmen zu wollen, da sie sich außerstande sieht, der Schwierigkeiten Herr zu werden, die sich in den letzten Wochen vor allem auf dem Gebiet der Emährang trotz aller ihrer emsthaften Bemühungen zu einer katastrophalen Lage entwickelt haben.«^ " Ebda. ^^So erklärte auch Oberst Magnant auf der bereits erwähnten Pressekonferenz am 7.5.1947 (Ado, Bade 2109 A 1): »Wir sind davon überzeugt, daß wir mit diesem neuen Verfahren die Ernährung der Städte bis zur nächsten Ernte sichern können (...) Wir hoffen, daß die Bauern verstehen werden, daß sie nicht mit dem Hunger und dem Leben der Stadtbevölkerung spielen können. " Dichteis Bericht über die Erfassungsmaßnahmen, 5.5.1947 (STAF, A 2/952). " Bcricht Hilberts an Wohleb, (undatiert) (STAF, A 2/952). " Wohleb an Pène, 10.5.1947 (AdO, Bade 2109 A 1). In dem Schreiben nannte Wohleb auch die Vorwürfe von Oberst Magnant als einen Grund für den Rücktritt.

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Die Angelegenheit hatte noch ein Nachspiel. Dichtel, von dem die »Badischen Neuesten Nachrichten« sogar meldeten, er sei verhaftet worden,^® und Hilbert galten seit dieser Zeit bei der französischen Militärregierung als nicht mehr ministrabel. Bei den Verhandlungen über die Bildung der ersten parlamentarischen Regierung wurden sie nicht mehr als Ministerkandidaten akzeptiert." Heutige Berechnungen gehen davon aus, daß die wirkliche Emtemenge etwa 20 Prozent über den geschätzten Mengen lag. Infolge von Strafmaßnahmen und massiven Pressionen war es ja auch immer wieder gelungen, das Plansoll sogar überzuerfüllen. Außerdem gelangten umfangreiche Mengen an Nahrungsmitteln auf den Schwarzmarkt. Für den unzureichenden Erfolg der Emtestatistik gab es Gründe. Viele Bauern ließen aus Mangel an Arbeitskräften und Betriebsmitteln Anbauflächen brach liegen. Andere »widmeten« ihre Äcker tatsächlich oder zum Schein zu Wiesen oder in Anbauflächen für nichablieferungspflichtige Produkte um und produzierten zum Teil für den Schwarzmarkt. Auch gab es gravierende Mängel bei der Schätzung von Hektarerträgen, die von vielen Faktoren abhängen. Bis 1948 beruhten die den Bauern auferlegten Planerträge auch nie auf exakten Messungen, sondern auf Vereinbarungen zwischen deutschen und französischen Stellen, die in langwierigen Verhandlungen zustande gekommen waren. War die Landwirtschaft aus verschiedenen Gründen nicht in der Lage, die Bevölkerung voll zu ernähren, so kam es darauf an, die vorhandenen wenigen Lebensmittel gerecht zu verteilen. Das bereits bei Kriegsbeginn eingeführte Rationierungssystem wurde von der Militärregierung weitgehend übernommen. Dieses System teilte die Bevölkerung in (bäuerliche) Voll- und Teilselbstversorger einerseits und in Normalverbraucher andererseits ein. Die Normalverbraucher erhielten Marken für jeweils vier Wochen, deren Abschnitte für aufgerufene Artikel gut waren - vorausgesetzt es gab sie. Obwohl das System eine gerechte Verwaltung des Mangels anstrebte, gab es dennoch gewaltige Unterschiede in der Versorgung. Während die bäuerliche Bevölkerung im Kem von der Emährungskrise kaum berührt wurde, waren die Städte dem Hunger ausgeliefert. Die Krise traf auch nicht alle Stadtbewohner gleichermaßen. Während Sachwertbesitzer noch Tauschmittel für den Schwarzmarkt und für Hamsterfahrten besaßen, waren Ausgebombte sowie alte und kranke Menschen von dieser - oft auch sehr strapaziösen - zusätzlichen Lebensmittelversorgung ausgeschlossen. Viele Menschen waren nach Kriegsende auch ohne ein hinreichendes Einkommen zur Deckung des notwendigsten Lebensbedarfs. Einer im Frühjahr 1946 im Auftrag der Militärregierung angefertigten Budgetstudie zufolge reichte das Einkommen eines gelernten Arbeiters infolge der Preisentwicklung und des seit 1936 bestehenden Lohnstopps zur Deckung der Lebenshaltungskosten einer vierköpfigen Familie nicht mehr aus. Wieviel schlimmer traf es da viele RentBadische Neueste Nachrichten, 15.7.1947. "Vgl. Compte-Rendue, 28.7.1947 (AdO, Bade 2109 A 1).

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ner und Pensionäre, die wegen des Zusammenbruchs der Sozialversicherung und staatlicher Behörden für einige Zeit keine Auszahlungen mehr erhielten, oder die Bezieher von Hinterbliebenen- oder Kriegsopferrenten, an die Zahlungen auf Befehl der Besatzungsmacht vorübergehend eingestellt wurden. Nachdem ihre Vermögenswerte aufgebraucht waren, mußten sie öffentliche Hilfe in Anspruch nehmen. In Freiburg beispielsweise bezogen am 1. August 1946 12 Prozent der Bevölkerung Leistungen der städtischen Fürsorge.^' Die Ernährungskrise hatte tiefgreifende Auswirkungen auf die physische wie psychische Verfassung der Bevölkerung. Der Leiter des Innenministeriums, Staatssekretär Nordmann, stellte im Mai 1947 in seinem Bericht fest: »Die Stimmung der Bevölkerung ist im Hinblick auf die nicht ausreichende Ernährung sehr gedrückt und gespannt (...) Die Gesamtlage auf gesundheitlichem Gebiet drückt sich weniger in den Zahlen der zur Meldung kommenden Kraidcheiten als vielmehr in der Zahl der Menschen aus, die jetzt die Wartezimmer der prakt. Ärzte füllen und bei welchen der Befund >Allgemeine Erschöpfung< lautet.«^' Typische Hungerkrankheiten wie Typhus oder TBC traten vermehrt auf, die Säuglingssterblichkeit nahm drastische Ausmaße an. Eine Denkschrift der Medizinischen Fakultät vom September 1945 prophezeite gar: »Der Hungerstod steht als Schicksal vor der Türe.«'" Sowohl die Leistungsfähigkeit als auch die Arbeitsbereitschaft der Bevölkerung sank infolge der unzureichenden Ernährung immer stärker ab: »Infolge der völlig ungenügenden Rationen sind vier Fünftel der Bevölkerung unterernährt. Die Arbeitsfähigkeit ist auf die Hälfte der normalen Leistung abgesunken.«" Das Arbeitsamt Freiburg berichtete im August 1945, daß Einbestellungen zu Arbeitseinsätzen in vielen Fällen keine Folge geleistet würde, weil es den Arbeitern nicht möglich sei, aufgrund der schlechten Ernährung längere Zeit zu arbeiten. »Einmütig wird erklärt, wenn man einige Stunden am Tage sich bei Bekannten an Aufräumungsarbeiten beteiligt gegen entsprechende, meist weit über den sonst gezahlten Löhnen liegende Vergütung, könnte man die übrige Zeit benutzen, draußen auf dem Land nach Nahrungsmitteln Ausschau zu halten und könnte so besser leben, als wenn man den ganzen Tag eine regelmäßige Beschäftigung leisten müsse.«'^ Strafandrohungen zeigten auch keine Wirkung, »da einfach erklärt wird, man könne mit ihnen machen, was man wolle, sie könnten einfach nicht, und wenn sie eingesperrt würden, müßte man ihnen auch zu essen geben. Viel weniger wie die jetzigen Rationen könnte das auch nicht sein.« Eine typische Begleiterscheinung der Mangelernährung war auch die Apathie der Bevölkerung, ^ Franz Ramm, Aus dem sozialen Schaffen in Freiburg im Breisgau einst und jetzt, in: Einwohnerbuch der Stadt Freiburg i. Br. 1961, S. 33-42. Oers., Freiburg im sozialen Geschehen des ersten Nachkriegsjahrzehnts 1945-1955, in: Einwohnerbuch der Stadt Freiburg 1955. Vgl. auch unten die in Anm. 51 angegebene Literatur. " Bericht des Innenministeriums vom 25.5.1947 (AdO, Bade 2109 A). ^ Denkschrift der Medizinischen Fakultät (StA Freiburg, С 5/1460). Bericht über die Sitzung der Badischen Landesverwaltung, 17.7.1946. Vgl. auch Rudolf Laufer, Industrie und Energiewirtschaft im Land Baden 1945-1952. Südbaden unter französischer Besatzung, Freiburg, München 1979, S. 159-165. " Bericht des Arbeitamtes, 9.8.1945 (StA Freiburg, С 5/1460).

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die in nahezu allen zeitgenössischen Berichten erörtert wurde. Einen etwas ausgefallenen Vorschlag zur Hebung der Stimmung machte der Bürgermeister von Rastatt: »Dem Verlangen weiter Kreise, etwas mehr Bier, Wein oder Most zur Verfügung zu stellen, schließe ich mich befürwortend an und frage an, ob es nicht möglich wäre, von den blockierten Weinen bescheidene Mengen freizugeben. Zwar bezieht sich diese Angelegenheit mehr oder weniger nicht auf die Ernährung, aber dem Drang der Bevölkerung nach Geselligkeit, Ausgleich und für wenige Stunden Ablenkung von all der Not und dem Elend müßte auf diesem Gebiet Rechnung getragen werden.«" Was den Gesundheitszustand der Bevölkerung zudem neben der mangelnden Kalorienversorgung beeinträchtigte, war der Umstand, daß vor allem hochwertige Nahrungsmittel wie Fleisch, Fett und Milchprodukte fehlten. Gerade bei Kindern und Jugendlichen hatte dies schwerwiegende Folgen. Bei einer Untersuchung der Schulkinder im Stadt- und Landkreis Konstanz hatten im Mai 1946 80 Prozent der Kinder Untergewicht.Eine Zunahme verzeichneten auch Geschlechtskrankheiten und die Kriminalität, wobei es sich vor allem um Lebensmitteldiebstähle sowie Verstöße gegen die Bewirtschaftungsgesetze handelte. Neben gesundheitlichen Beinträchtungen führte die jahrelange Mangelernährung und die Sorge ums Überleben auch zu schweren psychischen Folgen, der Hunger machte die Menschen gereizter, aggressiver und selbstsüchtiger." Starke Auswirkungen dieser Situation befürchteten sowohl die französische Militärregierung als auch deutsche Politiker für die gerade erst im Entstehen begriffene demokratische Neuordnung. So machte Laffon schon frühzeitig darauf aufmerksam, daß schlechte Lebensbedingungen keine gute Basis für den Aufbau einer Demokratie darstellen.'' Staatspräsident Wohleb bat die badische Militärregierang im Frühjahr 1947, auf dem Höhepunkt der Emährangskrise, um Unterstützung, da er befürchtete, die Bevölkerang werde bei den anstehenden Landtagswahlen und der Abstimmung über die Verfassung in großem Umfang Wahlenthaltung üben: »Die provisorische Regiemng glaubt, mit Nachdrack darauf hinweisen zu sollen, daß diese Empfindungen einer hungernden Bevölkerung ernste politische Rückwirkungen haben müssen (...) Wenn die Dinge so weitergehen, muß damit gerechnet werden, daß bei dem Volksentscheid über die Verfassung und bei den Wahlen zu dem ersten Landtag noch nicht die Hälfte der Wahlberechtigten ihre Stimme abgeben werden.«^' Aus dem wachsenden Unmut in der Bevölkerung ist dennoch keine Protestbewegung und politische Radikalisierang erwachsen. Gerade den Gewerkschaften ist es zu verdanken, daß es zu keinen größeren Hungerdemonstrationen wie in anderen Teilen Deutschlands gekommen ist, denn sie kanalisierten und besänftigten den Unmut der arbeitenden Bevölkerang. Im Januar 1946 wies der Ge" " " " "

18.3.1946 (STAF, LRA Rastatt Nr. 119). Kreisarchiv Konstanz, Generalia XXVII.5 Nr. 5. Vgl. Rothenberger, Hungerjahre (Anm. 5), S. 167-177. »Principes de notre action en Allemagne«, 20.8.1945 (AdO, CCFA Cab. Laffon C. 13). Wohleb an Pène, 3.4.1947 (STAF, A 2/928).

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werkschafter Peter Kappes, zu diesem Zeitpunkt Abteilungsleiter für den Arbeitseinsatz beim Arbeitsamt, darauf hin, daß es nur dem Einfluß alter Gewerkschafter zu verdanken sei, daß es bisher noch nicht zu Demonstrationen gekommen sei, denn »die unterirdische Hetzpropaganda der Nazis auf der einen Seite und der Radikalismus auf der anderen Seite« erhalte durch die Not unerwünschten Auftrieb.'' Im Sommer 1947 gelang es der Gewerkschaftsführung, einen bereits beschlossenen Streik der Bauarbeiter in Freiburg abzuwenden.^' Neben dem Aufbau der eigenen Organisation war die Emährungsfrage überhaupt das Hauptbetätigungsfeld der Gewerkschaften. Auf ihr Drängen erst wurde im Spätsommer 1946 der Landesemährungsausschuß gegründet, dem Vertreter der Gewerkschaften, der Parteien, des Landwirtschaftsministeriums und des Emährangsamtes angehörten."" Ein Versuch, die Situation zu verbessern, war auch die Bildung einer Arbeitsgemeinschaft zwischen dem CDU-nahen Badischen Landwirtschaftlichen Hauptverband (BLHV) und dem Gewerkschaftsbund im Sommer 1947.·" Sie forderte eine Agrarpolitik, »die beiden Berufsgruppen zum Vorteil gereiche«.·*^ Diese Arbeitsgemeinschaft legte im Oktober 1947 der Regierung auch einen Entwurf für ein Bodenreformgesetz vor. Bei der Bewältigung der Hungersnot waren vor allem die Stadtverwaltungen vor Ort, Parteien, Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbände und die Kirchen gefordert.·*' In den Gemeinde- und Stadtratssitzungen standen die Berichte über die Emährungslage fast immer an erster Stelle der Tagesordnung. In allen größeren Städten schlossen sich die Wohlfahrtsverbände - die katholische Caritas, die evangelische Innere Mission, die Arbeiterwohlfahrt und das Rote Kreuz - im Herbst 1945 zu Notgemeinschaften zusammen. Einer ihrer Schwerpunkte war die Verpflegung Alleinstehender, Berufstätiger, Obdachloser und Ausgebombter, die über keineriei Kochgelegenheit verfügten. In Spitzenzeiten verpflegte die Freiburger Notgemeinschaft beispielsweise in Zusammenarbeit mit dem Gaststättenverband täglich über 15 ООО Menschen. Außerdem betrieb sie Wärmestuben und unterstützte durch Sammlungen die Wiederherstellung von Wohnraum sowie die Ausstattung Ausgebombter mit Möbeln, Hausrat und Kleidung."" Um den Selbstversorgungsgrad zu erhöhen, teilten die Stadtverwaltungen den Bewohnern Kleingärten zu. Zu diesem Zweck wurden Parks, Sportplätze und Brachflächen in Gartenland umgewandelt. In einem Rundschreiben an die Städte forderte das Ministerium für Landwirtschaft und Ernährung »jede erfolgversprechende Häche muß mit Gemüse bestellt werden 31.1.1946 (StA Freiburg, С 5/1465). " Vgl. Werner Köhler, Freiburg i. Br. 1945-1949. Politisches Leben und Erfahrungen in der Nachkriegszeit, Freiburg 1987, S. 103f. ^ Vgl. Margit Unser, Der Badische Gewerkschaftsbund. Zur Geschichte des Wiederaufbaus der Gewerkschaftsbewegung im französisch besetzten Südbaden, Marburg 1989, S. 109-111. Vgl. Der Badische Gewerkschaftler, 15.10.1947. « D a s Volk, 8.10.1947. Vgl. das Kapitel II. " StA Freiburg, С 5/1465.

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(...) Der Umkreis um die Städte muß in diesem Jahr ein geschlossenes Gemüsegartenland werden.« Stadtverwaltungen und Hilfsorganisationen begaben sich auch auf den »Grauen Markt«, um Nahrungsmittel herbeizuschaffen, obwohl diese Art der Kompensationsgeschäfte eigentlich verboten war. So besorgte sich die Stadt Villingen gegen Uhren und Kirschwasser Seefisch und Marinaden aus Bremerhaven. Der Bürgermeister von Bad Dürrheim machte die Ausfuhr von Salz aus der staatlichen Saline von der Gegenlieferung von Nahrungsmitteln abhängig."^ Obwohl die Gewerkschaften immer gegen Schiebereien und Schwarzmarktgeschäfte protestierten, waren Tauschgeschäfte oft die einzige Möglichkeit, die Lage im Betrieb zu verbessern. Wie diese Geschäfte funktionierten, berichtet der Lahrer Gewerkschafter Karl Weber: Für die Maschinenfabrik Mönus - Hersteller von Maschinen und Ausrüstung für die Schuhproduktion - , wo Weber als Meister beschäftigt war, besorgte er Draht in Westfalen, aus dem in Lahr Schuhstifte gefertigt wurden. Mit diesen erhandelte er sich bei Schuhfabriken in Pirmasens Schuhe. Diese wurden an die Beschäftigten verteilt oder gegen Lebensmittel getauscht.··* Oft zwangen die Betriebsräte auch die Untemehmer in Betriebsvereinbarungen zu solchen Geschäften, indem sie die Ausbezahlung eines Teils des Lohnes in Naturalien oder aus der laufenden Produktion aushandelten. Gerade diese Kompensations- und Naturallöhne alimentierten dann wiederum den Schwarzmarkt. Offiziellen Charakter gewann solche Zusatzversorgung in den ab August 1946 eingerichteten Prioritätsbetrieben, die für den Export oder die Besatzungstruppe arbeiteten. Diese wurden nicht nur vorrangig mit Rohstoffen beliefert, auch die Arbeitnehmer bekamen Sonderrationen sowie Zuteilungen von Юeidung, Schuhen, Fahrradreifen. Das, was die Menschen durch das offizielle Zuteilungssystem erhielten, war nur die Basis der Emährung, die zum Leben aber nicht ausreichte. Jeder mußte darauf bedacht sein, zusätzlich Nahrungsmittel zu erwerben. Die Nahrungsmittelbeschaffung erfolgte in der Regel über den Schwarzmarkt und durch Hamstern. Sobald die Verkehrsbeschränkungen durch die Besatzungsmacht wieder aufgehoben waren, strömten die Städter zu Tausenden aufs Land, um sich bei den Bauern mit Eßbarem einzudecken. »Tagtäglich begibt sich ein riesiger Strom ausgemergelter und hungriger Menschen auf das Land und bettelt stückweise die Kartoffeln und tassenweise die Milch bei den Bauern auf dem Land. Diese können sich der Menschen kaum erwehren. Die Städter bringen von ihrem Hausrat und ihrer Kleidung Stück für Stück dem Bauern und tauschen dafür die Lebensmittel ein. Dadurch sinkt die Abgabe landwirtschaftlicher Erzeugnisse immer mehr. Die bejammernswerte Not der Städter zwingt die Bauern zur Verletzung ihrer Abgabepflicht.«" Wird hier vom Landrat noch Beispiele aus Manfred Bosch, Der Neubeginn. Aus deutscher Nachkriegszeit. Südbaden 1945-1950, Konstanz 1988, S. 95f. " Vgl. Peter Fäßler, Karl Weber - ein Lahrer Gewerkschafter, in: Geschichte der Stadt Lahr Bd. 3 (Anm. 4), S. 178-179. Stimmungsbericht des Landrates, 14.4.1947 (STAF, LRA Villingen, Oeneralia 1120 225/4/8).

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Verständnis für die Bauern aufgebracht, so kursierten in den Städten Gerüchte, daß Bauern ihre Ställe mit Perserteppichen auslegten. Und die Badische Zeitung zitierte aus einem Bericht eines Schweizer Journalisten: »Bald besitzt man indessen nur noch ein Kleid: jenes, das man auf dem Leib trägt. Der Rest wandert in die Thihe der deutschen Bauemdame. Die Figur der deutschen Bäuerin, welche morgens im Leopardenfell die Hühner füttern geht, ist nicht aus einem Witzblatt, sondern aus der deutschen Wirklichkeit 1946 herausgeschnitten.«·^ Andererseits waren diese Tauschgeschäfte oft die einzige Möglichkeit für die Landwirte, sich mit Gütern des täglichen Bedarfs und mit Betriebsmitteln zu versorgen. So stellte das Landwirtschaftsministerium in einem Bericht zur Emährungskrise fest: »Das Mißverhältnis zwischen Preisen für landwirtschaftliche Produkte und landwirtschaftlichen Bedarfsartikeln sowie die unsicheren Geldverhältnisse fördern den Tausch- und Schwarzhandel und leisten der Flucht in die Sachwerte Vorschub. So kosten beispielsweise vier Hufnägel soviel wie drei Liter Milch.«'" Daß auch ländliche Gebiete in manchen Bereichen unterversorgt waren, zeigt das Beispiel Elztal. In Elzach herrschte im Winter 1945/46 ein großer Kohlemangel und die Wälder durften nicht genutzt werden. Bei der Bekleidung fehlte es an Schuhwerk, und Kartoffeln mußte man in zugeteilten Ortschaften selbst abholen.'" Ging man zunächst noch sehr kulant mit den Hamsterern um, so wurden die Maßnahmen seit dem Frühjahr 1946 verschärft. Ein Verbot des Direkteinkaufs von Obst und Gemüse erfolgte im Juni 1946 - nicht zuletzt deshalb, weil die sozialen Spannungen zwischen denen, die Tauschmittel und Geld besaßen und denen die nichts besaßen, wuchsen. Allerdings beließ man es bei kleineren Mengen Hamsterware bei der Beschlagnahmung und milden Geldstrafen, während man gezielt gegen Großhamsterer vorging. Nicht immer waren die Polizeimaßnahmen von Erfolg gekrönt: »Dagegen sind die Versuche, auch den Direkteinkauf zu unterbinden, bisher mißlungen. Dies war auch nicht anders zu erwarten; denn bei der Kartoffelversorgung der letzten Monate, die in Freiburg mangelhaft war und auf dem Lande ganz fehlte, war es der Polizei und Gendarmerie unmöglich, die Menschenmassen daran zu hindern, sich wenigstens Gemüse zu holen. Ein Polizist kann nicht hundert Darbende vom Hamstern abhalten oder ihnen das Geholte abnehmen; er kann auch nicht die Großhamsterer dazwischen herausfischen. Die Verbotsplakate des Direkteinkaufs hatten dem Hunger gegenüber auch keine Wirkung, ebensowenig wie die Auferlegung der Kontingente an die Erzeuger. Aber große, dringend bedürftige Verbraucherkreise sind benachteiligt, alle, denen die Arbeit keine Zeit zum Hamstern läßt oder die nicht genug Geld oder nichts zum Tauschen haben. Den Drükkebergem und Schiebern aber geht es gut. Die sozialen Spannungen wachsen bedrohlich.«" Badische Zeitung, 13.8.1946. Bericht des Badischens Landesministeriums für Landwirtschaft und Ernährung zur Ernährungskrise, 31.10.1946 (STAF, A 2/928). Vgl. Heiko Haumann, »Die sollen was anderes fressen«. Das Elztal nach dem Ende des »Dritten Reiches«, in: Arbeitskreis Regionalgeschichte Freiburg (Hrsg.), Alltagsnot (Anm. 2), S. 107-108.

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Die so beschafften Mengen machten nach neueren Berechnungen etwa 10 bis 30 Prozent der Nahrung aus, bei zwischen 1945 und 1948 abnehmender Tendenz. Die sehr umfangreiche Schattenwütschaft" - 1947 wurden etwa 40 bis 45 Prozent aller Umsätze außerhalb des offiziellen Wirtschaftssystem gemacht - war für den privaten Verbraucher immer weniger zugänglich, da seine Ersparnisse aufgebraucht waren, wie die badische Preiskontrollbehörde im Oktober 1946 feststellte. Parallel dazu nahm der Tauschmarkt aber an Umfang stark zu. Wer aber nicht tauschen konnte und die Schwarzmarktpreise nicht bezahlen konnte, war oft notgedrungen auf Betteln und Felddiebstähle angewiesen. Besatzungsmacht und deutsche Verwaltungen gingen gerade gegen die Felddiebstähle immer schärfer vor. Mit Knüppeln bewaffnete Selbstschutztruppen der Bauern sicherten während der Erntezeit die Felder. Die Stadtverwaltung Lahr griff sogar zu der Maßnahme, die Übeltäter durch Plakatanschlag in der Öffentlichkeit bekannt zu machen, da es die einzige Maßnahme sei, die Wkkung zeige." Viele Menschen waren auch von der zusätzliche Beschaffung von Lebensmitteln ausgeschlossen und auf Hilfsaktionen der Caritas, der Auslandshilfe oder einer Liebesgabenaktion angewiesen.'"* Die wichtigste Unterstützung die nicht nur die materielle Lage verbesserte, sondern den Menschen auch neuen Mut gab, kam aus dem Ausland. Als erstes eilte die Schweiz zu Hilfe, bereits Ende 1945 trafen in Freiburg die ersten sechs Waggons mit Hausrat und Bekleidung ein. Die Kinderhilfsaktion Schweizer Spende versorgte seit Anfang 1946 in vielen Städten Schulkinder mit hochwertigen Nahrungsmitteln und organisierte Erholungsaufenthalte. Lebensmittel, Geldmittel, Medikamente kamen über den Vatikan und das Intemationale Rote Kreuz aus Schweden, Spanien, Argentinien, Brasilien. Irland half mit Butter und Fett. Hinsichtlich ihres Ausmaßes steht jedoch die Hilfe der USA an erster Stelle. In Freiburg engagierte sich vor allem die Quäker-Hilfe, die hier ihren Sitz für die französische Zone hatte. Bis Mitte 1949 verteilten die Quäker insgesamt 468 ООО Kilo" Ernährungsamt Freiburg an das Badische Ministerium für Landwirtschaft und Emährung, 19.1.1946 (StA Freiburg, С 5/1465). " Rainer Hudemann, Sozialpolitik im deutschen Südwesten zwischen Tradition und Neuordnung. Sozialversicherung und Kriegsopferversorgung im Rahmen französischer Besatzungspolitik, Mainz 1988, S. 49-123, eine Analyse der parallelen Märkte für Baden S. 74-107. . " Badische Zeitung, Ausgabe Lahr, 23.5.1947. " Vor allem die Auslandshilfe ist für Freiburg sehr gut dokumentiert: StA Freiburg, К 1/72 (Nachlaß Flamm). Franz Flamm, Aus der Chronik der Nachkriegsnot der Stadt Freiburg i. Er. 1945-1949. Die Hilfe der Schweiz, Freiburg o. J. Oers., Aus der Chronik der Freiburger Nachkriegsnot. Ame Torgersen und die Norwegenhilfe, Mschr. Ms., Freiburg 1991. Ders.: Die Auslandshilfe für die Stadt Freiburg i. Br. 1945- 1949, Freiburg o. J. (1950). Ders.: Freiburger Erinnerungen an die amerikanischen Quäker 1920-1953. Mit Beiträgen von Delbert Barley und Gertrud Hausrath. Hg. vom Stadtarchiv Freiburg i. Br., Freiburg 1990. Vgl. zum folgenden auch das Kapitel: Hauptstadt ohne Brot. Freiburg im Land Baden (1945-1952), in: Heiko Haumann/Hans Schadek (Hrsg.), Geschichte der Stadt Freiburg im Breisgau, Bd. 3: Von der badischen Herrschaft bis zur Gegenwart, Stuttgart 1992, S. 371-427.

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gramm Lebensmittel an die Freiburger Bevölkerung. Aber auch andere Institutionen, kirchliche wie gewerkschaftliche, beteiligten sich an der Hilfsaktion. Die Organisation Care vermittelte über 40 ООО Pakete allein nach Freiburg. Ihr Beauftragter für Deutschland, der Norweger Ame Torgersen, organisierte zusätzlich die Norwegische Europahilfe mit Sitz in Freiburg. Die Sorge um die materielle Versorgung lastete in erster Linie auf den Frauen, da sich viele Männer noch in Gefangenschaft befanden, beziehungsweise gefallen oder vermißt waren. Auch innerhalb von intakten Familien hing viel davon ab, ob die Frau einteilen und wirtschaften konnte. Vor allem sie beschaffte, verteilte und kontrollierte die Lebensmittel und trug damit die körperliche und seelische Belastung, die mit der Emährungskrise verbunden war; als Hausfrau und Mutter war sie im Zuteilungssystem zudem benachteiligt, da sie keine Zulagen erhielt. Ansätze zum Aufbrechen der traditionellen Rollenstruktur ergaben sich aus der gesteigerten Selbständigkeit kaum. Viele der Frauen sehnten sich nach einem »normalen« Leben und kehrten - etwa wenn der Mann aus der Gefangenschaft nach Hause kam - bereitwillig in ihre alte Rolle zurück. Alles drehte sich in der Nachkriegszeit um die Ernährung, viele Sorgen und Probleme wurden hinter dieser Überlebensfrage zweitrangig." Für eine intensive Beschäftigung mit der Vergangenheit und eine aktive Auseinandersetzung um den politischen Neubeginn blieb dabei nicht viel Zeit. Im Frühjahr 1946 machte im besetzten Deutschland ein geflügeltes Wort die Runde, daß man wohl noch vier Jahre Krieg erdulden könnte, aber kein weiteres Jahr Befreiung. Für die Versorgungskrise machten die Deutschen vor allem die Besatzungsmacht verantwortlich, deren Reformpolitik vor der Alltagserfahrung der Bevölkerung sehr abstrakt blieb. Dabei mangelte es innerhalb der Besatzungsverwaltung nicht an Stimmen, die materielle Situation in der Zone zu verbessern. Auch war die Verwaltung in einem hohen Maße um die Bewältigung der Krise besorgt. Angesichts des zusammengebrochenen deutschen Verwaltungsapparates kam der Militär- und Verwaltungsapparat der Franzosen der Sicherstellung der Emährung zugute. Dies war eine entscheidende Hilfsmaßnahme, ohne die die Emährung der Bevölkerung nicht zu gewährleisten gewesen wäre.

" Vgl. hierzu Heiko Haumann, Sorge ums Überleben - wenig Zeit für Politik. Probleme der ersten Nachkriegsjahre in Freiburg, in: Arbeitskreis Regionalgeschichte Freiburg (Hrsg.), Alltagsnot (Anm. 2), S. 11-22.

2. Demontagen, Kaufmonopol, Nahrungsmittelentnahmen Französische Richtlinien zur Wirtschaftspolitik »Wir in der französischen Zone und wir in Baden waren zu dem Zeitpunkt, als am 30. Oktober vorigen Jahres (1947) die amtliche Demontageliste in diese trostlosen Verhältnisse hineinplatzte, was den Maschinenpark anbetraf, bereits bis aufs Hemd ausgezogen.«' Mit diesen Worten schilderte Wirtschaftsminister Eduard Lais in seiner berühmt gewordenen Demontagerede die Situation in Baden am Vorabend einer neuen Demontagewelle. Unter verschiedenen Rechtstiteln wie »Kriegsbeute«, »Requisitionen«, »prélèvements d'urgence« hatte Baden bis Ende 1947 außerhalb der eigentlichen Demontagen nach deutschen Berechnungen etwa 15 500 Maschinen mit einem Anschaffungswert von ungefähr 62 Millionen Reichsmark verloren.^ Die »wilden« Entaahmen begannen mit der Besetzung durch die französischen Truppen und dauerten bis in den Sommer 1946. Sie gingen so vor sich, daß Maschinen ohne Rücksicht auf technische und wirtschaftliche Bedürfhisse der Betriebe und meist ohne Aushändigung eines Requisitionsscheines oder einer Prüfung der Eigentumsrechte aus den Betrieben geholt und abtransportiert wurden. Betroffen davon waren auch Betriebe, die für Reparationsansprüche anderer Staaten zur Verfügung standen. Die Verantwortlichen für die »wilden Demontagen« saßen in den Ministerien in Paris, und die sogenannten »missions d' enlèvements« waren ihr Hauptinstrument in der Besatzungszone. In einem Bericht an General Navarre, den Kabinettschef des Oberkommandierenden, heißt es zu deren Vorgehensweise: »Diese Entnahmekommissionen fahren in den Landkreisen herum, manchmal tauchen gleich mehrere davon in Betrieben auf und streiten sich um die Maschinen. Sie geben diesen illegalen Aktionen auch noch einen skandalösen Charakter.«' Proteste in Paris durch die französische Kontrollratsgruppe, die vor negativen Auswirkungen bei den anderen reparationsberechtigten Staaten insbesondere bei Polen und der Sowjetunion - warnte, wurden ebenso zurückgewiesen" wie die Interventionen der Baden-Badener Militärregierung. Selbst René Mayer, Generalsekretär für deutsche und österreichische Angelegenheiten, war gegenüber den Pariser Ministerien machtlos. Es gelang ihm zwar, einen Entnahmeplan mit Höchstmengen durchzusetzten und die Entnahmekommissionen zu verpflichten, in Einvernehmen mit den Baden-Badener Wirt' Verhandlungen des Badischen Landtags, 5.8.1948, S. 8. ^Zahlen nach Rudolf Laufer, Industrie und Energiewirtschaft im Land Baden 1945-1952. Südbaden unter französischer Besatzung, Freiburg/München 1979, S. 104. ^ »Fiche pour le Général Navarre« (handschriftlich), Unterschrift unleseriich, 28.5.1946 (AdO, Cab. Civ. ECO I С 5 С. 120). "Telegramm von Koeltz, 15.4.1946 (AdO, Cab. Civ. ECO I С 5 С. 120). Selbst sein Hinweis auf unmittelbare Nachteile, etwa daß jetzt alte Maschinen entnommen würden, während in den anderen Zonen bald neuere zur Verfügung stünden, nutzte nichts.

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schaftssteilen zu operieren,' aber erst der 23. Juni 1946, der als Stichtag für die Beendigung der sogenannten unilateralen Demontagen galt, brachte das Ende der »wilden« Entnahmen.' Eine weitere Entnahmewelle kam mit den »prélèvements d'urgence« seit dem Jahresbeginn 1947. Diese sogenannten vordringlichen Entnahmen von Maschinen brachten insofern eine Erleichterung, als deutsche Stellen damit betraut wurden, die auszubauenden Maschinen zu nominieren. Außerdem wurden die Entnahmen auf das Reparationskonto angerechnet. Im Rahmen dieser Enrnahmen, welche ab dem 20. Juni 1948 eingestellt wurden, waren der badischen Industrie abermals Maschinen im Wert von acht Millionen Reichsmark entzogen worden. Erst mit der Veröffentlichung der Demontageliste für die französische Zone am 7. November 1947 trat die »industrielle Abrüstung« in das Stadium der eigentlichen Demontagen ein,' wodurch die industrielle Kapazität der Zone entsprechend interalliierter Vereinbarungen auf 80 Prozent der Leistungsfähigkeit des Jahres 1936 herabgesetzt werden sollte. Die zu demontierenden Betriebe waren nicht nur für Frankreich bestimmt, sondern sollten an die Internationale Reparationsagentur gehen, die die Verteilung an alle reparationsberechtigten Staaten vornahm. Die heftigen Reaktionen auf diese Demontagepläne, die im Rücktritt der badischen und württembergisch-hohenzollerischen Regierung gipfelten, sind nur dadurch zu verstehen, daß die Zone bei dieser Bekanntgabe bereits zwei große Demontagewellen hinter sich hatte. Von den 236 Betrieben, die auf der Demontageliste standen, entfielen 62 Betriebe auf die badische Industrie. Nachdem im Frühjahr/Sommer 1948 das erste Marshallplan-Programm angelaufen war, nach der Verabschiedung der Frankfurter Dokumente und nach der Währungsreform war das Demontageproblem vorübergehend in den Hintergrund getreten, man hielt es bereits »für erledigt«.' Das Schreiben der französischen Militärregierung vom 31. Juli 1948 schlug da wie eine Bombe ein.' In dem Schreiben wurde erklärt, daß 11 Betriebe bereits demontiert seien, bei 14 sei es der Militärregierung gelungen, sie von der Liste zu streichen und bei 26 stünde eine Entscheidung noch aus. 11 Betriebe jedoch seien sofort dem interalliierten Reparationsbüro zur Verfügung zu stellen. In seiner Demontagerede vom 5. August 1948 führte Wirtschaftsminister Lais die zu befürchtenden Folgen dieser Anordnung dem Landtag eindrucksvoll vor Augen: »Wird die Demontage wie vorgesehen durchgeführt, dann würde nach unseren Erhebungen eine Minderung der Produktionskapazität eintreten von rund 90 Prozent in der Fertigung von leichten und mittleren Werkzeugmaschinen für die eisenverarbeitende Industrie, von rund 70 bis 80 Prozent der industriellen Uhren'Vgl. sein Telegramm an die französische Kontrollratsgruppe, 19.4.1946 (AdO, Cab. Civ. ECO I С 5 С. 120). ' Vgl. zum folgenden vor allem Laufer, Industrie (Anm. 2), S. 96-137. ' Vgl. hierzu den Bestand AdO, Bade 5716. ' Verhandlungen des Badischen Landtags, 5.8.1948, S. 6 (Staatspräsident Wohleb). 'AdO, Bade 5716.

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fertigung und von rand 60 Prozent der Fertigung der feinmechanischen und optischen Industrie.«'" Im Hinblick auf die Folgen der schweren Eingriffe in die badische Industrie, wobei es nicht nur um eine »industrielle Abrüstung« ging, sondern im Bereich der Uhren- und optischen Industrie auch um das Ausschalten eines Konkurrenten auf dem Weltmarkt, sah sich die badische Landesregierung außerstande, die politische Verantwortung weiterhin zu tragen. Sie folgte dem Beispiel Württemberg-Hohenzollems und trat zurück, blieb jedoch geschäftsführend weiter im Amt. In einer Vielzahl von Verhandlungen gelang es denn auch für eine Reihe von Betrieben Erleichterungen zu erreichen, indem beispielsweise ältere Maschinen im Austausch gegen neuere gleichen Wertes behalten werden konnten. Eine gewissen Unterstützung erhielt die Landesregierung auch durch die badische Militärregierung, denn dieser war durchaus bewußt, welche Sprengkraft den Demontagen innewohnte. So hatten beispielweise der Gewerkschaftsbund Württemberg-Hohenzollems am 8. August 1948 den Generalstreik ausgerufen. Diese Gefahr bestand auch in Baden, zumal sich hier die Demontagen auf wenige Gebiete konzentrierten und in ihren sozialen Folgen noch katastrophaler waren. Allein dem Kreis Villingen waren 15 Prozent der dem Land Baden auferlegten Demontagelast zugedacht. Sofort nach Veröffentlichung der Demontageliste warnte daher die Industrie- und Handelskammer Villingen davor, daß hier ein wirtschafliches Elendsgebiet mit unübersehbaren sozialen Folgen entstünde. Parteien und die Gewerkschaft der Stadt St. Georgen im Schwarzwald wiesen darauf hin, daß durch die Demontagepläne rund 40 Prozent der örtlichen Industriebeschäftigten mit etwa 2000 Familienangehörigen in ihrer Existenz bedroht seien." In der scharfen Ablehnung der Demontagepläne waren sich, wenn auch mit unterschiedlichen Begründungen - alle gesellschaftlichen Gruppen einig. Mit der Argumentation, daß eine Durchführung der angekündigten Demontagepläne vor allem die Arbeiterschaft treffen würde, die ohnehin die Hauptlast des Krieges und des Wiederaufbaus zu tragen hatte, wandten sich die Gewerkschaften mit Appellen an die Staatsregierung und die Militärregierung und warnte vor möglicherweise unkontrollierbaren Reaktionen der Arbeiterschaft: »Die Fortsetzung der planmäßigen Vernichtung von Arbeitsplätzen treibt die betroffenen und bedrohten Kreise zur Verzweiflung, zu Protest- und Widerstandsaktionen.«'^ Das Problem der Maschinenentnahmen und Demontagen lenkt den Blick auf die zuständigen französischen Ministerien und führt zur Frage, wie es um die frühen Planungen zur Wirtschaftspolitik gegenüber der Besatzungszone bestellt war. In seiner Sitzung vom 25. September 1945 hatte sich das Comité Interministériel in Paris darauf verständigt, präzisere Richtlinien zur Wirtschaftspolitik in der Besatzungszone festzulegen.'^ Die daraufhin von verschiedenen Verhandlungen des Badischen Landtags, 5.8.1948, S. 8. " Die Beispiele in Manfred Bosch, Der Neubeginn. Aus deutscher Nachkriegszeit. Südbaden 1945-1950, Konstanz 1988, S. 156-158. So in einer Erklärung des Badischen Gewerkschaftsbundes vom 25.8.1948. Abgedruckt in ebda., S. 158f. '^Vgl. »Projet de Directives Economiques pour l'Allemagne«, 31.10.1945 (AdO, Cab. Civ. ECO I С 5 С. 120); danach auch das folgende.

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Dienststellen ausgearbeiteten Vorscliläge blieben allerdings recht allgemein und bezogen sich unter anderem auf den Lebensstandard in Deutschland. Dort hieß es beispielsweise: »Der Lebensstandard der deutschen Bevölkerung muß unter dem der befreiten europäischen Völker liegen«. Außerdem wurde in den Richtlinien - in Erwartung eines umfassenden Import- und Exportkonzeptes - die Zahlungsmodalitäten für Exporte hervorgehoben. Exporte aus der Besatzungszone sollten zu 80 Prozent des Weltmarktpreises in US-Dollar beglichen werden, zu 100 Prozent in »starken« Währungen bei Ländern ohne Ansprach auf Reparationen. Zukunftsweisender fielen die Überlegungen einer Arbeitsgruppe aus, die aus Vertretern der betroffenen Pariser Ministerien bestand. Sie schlug am 19. Oktober für die Versorgung der Besatzungstrappen vor, Erzeugnisse, an denen es der Zivilbevölkerang mangelte, aus Frankreich zu importieren. Zu einem späteren Zeitpunkt waren die daraus entstandenen Kosten den Deutschen als Besatzungskosten in Rechnung zu stellen. Den Ministerien legte diese Arbeitsgrappe dringend nahe, die Trappenstärke zu reduzieren und den Familiennachzug nach Deutschland zu beschränken. Bei einer Zusammenkunft im Wirtschaftsministerium am 23. Oktober wurde beschlossen, »alle Entnahmen aus der Produktion zu registrieren, um sie gegebenenfalls dem Kontrollrat vorlegen zu können.« Obwohl dem Kontrollrat gegenüber die bis dahin vorgenommenen Entaahmen zunächst nicht erwähnt werden sollten, empfahl die Arbeitsgrappe, die Entnahmen und Demontagen von Werkzeugmaschinen und kompletten Fabrikanlagen zwar fortzusetzen, vor dem Abtransport jedoch die grandsätzlichen Entscheidungen aus Berlin abzuwarten. Der Directeur de l'Economie Général in Baden-Baden plädierte dafür, die ganze Besatzungspolitik zu überdenken. Bereits frühzeitig sollten Grandsatzentscheidungen hinsichtlich der Versorgung der Trappe getroffen werden. Er hob die Widersprüche zwischen einer einheitlichen alliierten Vorgehensweise und den französischen Entnahmen hervor: »Die Entnahmen zugimsten der Besatzungstrappe sind nicht mit dem Prinzip der Vereinheitlichung der Lebensverhältnisse in allen Zonen zu vereinbaren.«"* Obwohl in der Anfangsphase der Besetzung auf französischer Seite die Notwendigkeit klarer wirtschaftspolitischer Richtlinien erkannt wurde, konnte man sich auf Regierangsebene nicht auf konkrete Vorgaben verständigen. Ein überzeugendes Import- und Exportkonzept blieb in der Schwebe, Grandsatzentscheidungen kamen nicht zustande. Nachgeordnete Stellen schlugen dagegen frühzeitig Lösungen für die sich abzeichnenden ökonomischen Probleme der Besatzungszone vor und ließen sich von den Bestimmungen des Kontrollrates und von interalliierter Solidarität leiten. Sieht man einmal vom Komplex der Entnahmen und Demontagen ab, so zeichnete sich die französische Whtschaftspolitik gegenüber der Besatzungszone durch zwei zusätzliche Charakteristika aus: Erstens durch VergünstigunNote pour M. le Directeur Général de l'Economie et des Finances, 31. 10. 1945 (AdO, AEF 199.1).

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gen in Form von Preisnachlässen in einer Größenordnung von durchschnittlich 30 bis 40 Prozent für Exporte nach Frankreich, die aber für manche Leistungen wie etwa Holz mehr als 80 Prozent erreichen konnten; und zweitens durch ein mehr oder minder ausgeprägtes Kaufmonopol." Diese kurzfnstigen Vorteile gefährdeten jedoch auf absehbare Zeit die wirtschaftliche Stabilität der Zone, weil sich dadurch für die Zone eine negative Handelsbilanz ergab. Eindringlich warnte man daher Paris vor Schwierigkeiten mit dem Kontrollrat und vor dem Abwandern von Produktionsstätten in die Bizone. Generaldirektor Filippi kritisierte die Pariser Dienststellen, die systematisch den Export bestinmiter Produkte - vor allem Uhren, chirurgische Instrumente und chemische Erzeugnisse - nach Frankreich kanalisierten. Die einseitige Ausrichtung des Exports erfolgte auf der Grundlage von Verträgen, die den deutschen Industriellen aufgezwungen oder mit den französischen Zwangsverwaltern abgeschlossen worden waren. Darüber hinaus ermunterte man in Paris französische Unternehmen, sämtliche verfügbaren Erzeugnisse zu erwerben, um sie dann weiter zu exportieren.'® Nutznießer dieser Politik waren die französischen Zwischenhändler, die ihren Profit aus der Differenz zwischen den deutschen und den Weltmarktpreisen zogen. In der Praxis wurden die deutschen Erzeugnisse mit Blick auf einen möglichen französischen Käufer häufig blockiert. Das hatte zur Folge, daß die deutsche Bevölkerung davon ebenso erfuhr wie die ausländischen Käufer und alliierten Behörden. Probleme der Lagerhaltung, Entwendungen für den Schwarzmarkt und heimlicher Interzonenhandel kamen hinzu. Die Ursachen der Warenblockierungen lassen sich am Beispiel der chemischen Erzeugnisse verdeutlichen. Die Dienststellen des Pariser Wirtschaftsministeriums versuchten, durch ein Steuerungsabkommen Frankreich ein Kaufmonopol zu sichem. Ein Vertrag dieser Art kam aber nicht zustande, und die mit der Exportlenkung betrauten französischen Institutionen konnten sich noch nicht konstituieren. Daneben verfügten die fraglichen französischen Unternehmen nicht über die nötigen Devisen. Verwaltungstechnische Verzögerungen und Interventionen französischer Firmen bei den Pariser Behörden, die sich für die Zukunft Absatzmärkte schaffen wollten, ohne diese schon befriedigen zu können, taten ihr Übriges, um diese Mißstände herbeizuführen." Angesichts dieser vertrackten Lage forderte die Generaldirektion für Wirtschaft und Finanzen in Baden-Baden ein Ende der einseitigen Ausrichtung der Zonenwirtschaft. Filippi schlug daher folgende wirtschaftspolitische Leitlinien vor: Eine ausgeglichene Handelsbilanz sollte gewährleistet werden; Frankreich erhielt zwar eine Kaufoption für die Zonenexporte und die wichtigen Lieferungen, diese Option verfiel jedoch nach einer bestinmiten Frist. Frankreich sollte nicht mehr als 80 Prozent Vgl. Generaldirektor für Wirtschaft und Finanzen Filippi im Auftrag Laffons an den Staatssekretär für deutsche und österreichische Angelegenheiten, 25. 9. 1946 (AdO, AEF 38,1). ' ' Ebda. " Ebda. Filippi fürchtete, daß manche deutsche Industrielle einen Teil ihrer Fertigungsanlagen und ihrer Fachkräfte in die US-Zone verlagern würden, um nicht vom Weltmarkt zu verschwinden. Dort waren bereits deutsche Organe mit der Abwicklung des Exports betraut.

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der Exporte der Zone monopolisieren, die übrigen 20 Prozent blieben ihr zur freien Verfügung, nicht nur um die Außenhandelsbilanzen auszugleichen, sondern vor allem um Produkte zu erwerben, die Frankreich ihr nicht liefern konnte. Die Dienststellen in der Hauptstadt schließlich sollten sich bemühen, rechtzeitig im voraus ihre Produktionsauflagen festzusetzen. Außerdem sollte die Praxis unterbunden werden, daß Unternehmen aus den niedrigen Preisen in der Zone Kapital schlagen und damit den wirtschaftlichen und politischen Zielen der Besatzungspolitik schaden." In der ersten Hälfte des Jahres 1947 erfüllten sich schließlich die düsteren Prophezeiungen: das Außenhandelsdefizit der Besatzungszone war auf 7,5 Millionen US-Dollar angewachsen und damit zum gravierenden Problem geworden. Als Hauptursache wurden angeführt: die Exporte nach Frankreich, deren Preise generell unter dem Durchschnittspreis lagen, sowie der Unterhalt des französischen Sektors von Berlin, der der Besatzungsmacht sehr teuer kam. So wurde Butter im Wert von 4 Millionen US-Dollar von Württemberg-Hohenzollern nach Berlin geliefert." Zum Problem der Handelsbilanz gesellte sich die Frage, inwieweit die Nahrungsmittelentnahmen zugunsten der französischen Armee für die Hungersnot der Bevölkerung verantwortlich waren. Laffon wandte sich im Sommer 1947 in einem Schreiben nach Paris, in dem er seine Entscheidung rechtfertigte, künftig keine Exporte von Heu, Stroh und Hafer für die französische Armee mehr zuzulassen.^" Die geforderte Beibehaltung der Stroh- und Viehfutterentnahmen sei ein Bruch der Vereinbarungen, die auch Außenminister Bidault bei der Außenministerkonferenz in Moskau erneut bestätigt habe. In den ersten sechs Monaten des Jahres 1947 hatten die Franzosen für 16 Millionen Dollar Nahrungsmittel aus der Zone entnommen, das entsprach 5 Prozent der Produktion und etwa 100 Milliarden Kalorien - umgerechnet auf die Bevölkerung waren dies etwa 46 Kalorien. Der Prozentsatz variierte je nach landwirtschaftlichem Erzeugnis. Im Prinzip sollten folgende Lebensmittel von den »prélèvements« ausgenommen sein: Brotgetreide, Teigwaren, Zucker, Trockengemüse, Marmelade, Schokolade. Trotzdem verlangte Frankreich von der Zone, vorläufig mit der Entnahme von Getreide fortzufahren, und zwar in einem Umfang von sechs Prozent des deutschen Verbrauchs.^' Die Entnahmen betrafen auch Fleisch, Butter, Käse, Milch, Eier, Kartoffeln, Alkoholika, Frischgemüse und Obst. Bei einer geschätzten Zahl von 202 ООО zu veφflegenden Franzosen wurden die Kosten für 1947 mit 42 Millionen Dollar veranschlagt. Damit stellten die Nahrungsmittelentnahmen zwar einen erheblichen Belastungsfaktor für die Handelsbilanz dar, reduzierten indes den " Ebda. Ähnliche Bedenken äußerte Laffon in einem Schreiben an den Generalkommissar für deutsche und österreichische Angelegenheiten, 31.10.1946 (AdO, AEF 199,1). " Vgl. Bericht über die »Prélèvements français en ZFO au cours du 1er semestre 1947«, ohne Angabe des Verfassers (AdO, Cab. Civ. ECO I С 5 С. 120). ® Schreiben Laffons, undatiert wahrscheinlich Juli 1947 (AdO, Cab. Civ. ECO I С 5 С. 120). Koenig an das Generalsekretariat für deutsche und österreichische Angelegenheiten, 6.11.1947 (Ado, Cab. Civ. ECO I С 5 С. 120).

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Lebensstandard nur in geringem Ausmaß. Nach französischen Berechnungen wären die Zuteilungen an den deutschen Verbraucher ohne Entnahmen im Jahre 1947 etwa zehn Prozent höher gelegen.^^ Am 9. Juni läutete der Ministerrat die Wende in der Nahrungsmittelpolitik ein. Danach mußte die Zahl der französischen Staatsangehörigen in Deutschland so weit wie möglich reduziert werden. Das war angesichts der französischen Devisenknappheit der effektivste Weg, um der deutschen und amerikanischen Kritik zu begegnen. Als Vehikel hierfür hatte man sich eine Aufenthaltssteuer für jene Franzosen ausgedacht, die nicht den Besatzungsstreitkräften angehörten. Die Lebensmittelentnahmen sollten dann schrittweise nach einen genau vorgegebenen Zeitplan abgebaut werden." Laffon und Koenig zogen in dieser Frage an einem Strang. Der Oberkommandierende wies das Generalkommissariat für deutsche und österreichische Angelegenheiten darauf hin, daß sich das Außenministerium gegenüber den Alliierten dazu verpflichtet habe, keine Lebensmittelentnahmen in der Zone zuzulassen. Da seiner Bitte, jegliche Kartoffelentnahme für die Besatzungsarmee im kommenden Jahr einzustellen, nicht in vollem Umfang entsprochen worden war, konnte er seine Ratlosigkeit nicht verbergen. Außerdem hatte er angeordnet, künftig keine Futtermittel und Hafergetreide mehr für die Armee nach Frankreich zu exportieren. Nun aber bat ihn auch noch der Staatspräsident, diese Entscheidung auf einen späteren Zeitpunkt zu усгвсЫсЬеп.^·* Koenig verlangte daher neue politische Weisungen. Diese Instruktionen scheint es entweder nicht gegeben zu haben - oder sie waren völlig unbefriedigend. Denn angesichts des bevorstehenden dritten Besatzungswinters und neuer Devisenbeschränkungen des Finanzministeriums wurde Koenig erneut in Paris vorstellig. Da der Devisenmangel Frankreich zwang, die Zahlung der Summen aufzuschieben, die es der Zone für seine Importe schuldete, sah Koenig grundsätzlich die Berechtigung Frankreichs in Frage gestellt, als Siegermacht an der Besetzung Deutschlands teilzunehmen." Langfristig sah er nur die Lösung, die Wirtschaft der Zone auf andere Länder als Frankreich auszurichten und die Lebensverhältnisse in der Besatzungszone zu ändern. Koenigs Intervention zeigte Wirkung. Bei einer Besprechung im Quai d'Orsay unter Vorsitz von Couve de Murville, an der Laffon und Vertreter aller betroffenen Ministerien teilnahmen, wurden zwei grundlegende Beschlüsse gefaßt: Alle Dienststellen der Zone sollten sich fortan bemühen, die Exporte nicht mehr nach Frankreich, sondern in andere Staaten zu lenken. Und alle Barrieren, die bislang für bestimmte Exportartikel errichtet wurden, insbesonNote pour M. le Directeur du Budget, du Contrôle et du Contentieux (Service Financier) des »Groupe de Contrôle de l'Armée pour les Territoires Occupés«, unterzeichnet von Labé, Contrôleur Général de l'Administration de l'Armée, 20.1.1948 (AdO, Cab. Civ. ECO I С 5 С. 120). "Telegramm, 11.6.1948 (AdO, Cab. Civ. ECO I С 5 С. 120). " Schreiben Koenigs an das C.G.A.A. undatiert, wohl Sommer 1947 (AdO, Cab. Civ. ECO С 5 С. 120). "Telegramm Koenigs, 6.9.1947 (AdO, AEF 199,2).

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dere für chemische Erzeugnisse und Wein, sollten in unmittelbarer Zukunft aufgehoben werden.^' Schützenhilfe erhielten Koenig und die Baden-Badener Militärregierung von Seiten des Finanzministers, der statt der für die Exporte der Zone zu bezahlenden 35 Millionen Dollar lediglich 17,5 Millionen Dollar freigeben wollte und konnte." Er machte eine Umorientierung der Zonenwirtschaft zur Bedingung für die Gewährung weiterer Dollarkredite. Die Umstellung der Wirtschaft konnte zwar nicht von heute auf morgen vor sich gehen, weshalb dem französischen Importprogramm noch Devisenkredite zur Verfügung gestellt wurden. Dire Aufkündigung drohte jedoch für den Fall, daß die Umsetzung der neuen wirtschaftspolitischen Leitlinien nicht mit allen gebotenen Mitteln verfolgt würde. Das Gouvernement Militaire ließ es dabei nicht an Phantasie fehlen. Laffon stimmte am 13. Oktober 1947 den vorgeschlagenen einschneidenden Maßnahmen des Inspecteur de l'Economie Nationale und Chargé du Commerce Extérieur Monier zu, wonach im zweiten Halbjahr 1947 ohne vorherige Genehmigung seiner Dienststelle kein Handelsvertrag für Frankreich mehr abgeschlossen werden konnte. Femer sollten die mit der »Mission Commerciale Française en Allemagne« im Verlauf des ersten Halbjahres geschlossenen Handelsverträge von einer Kommission unter Moniers Vorsitz überprüft werden.^' Die Reaktion der Pariser Ministerien ließ nicht lange auf sich warten. Der Minister für Industrie und Handel äußerte gegenüber dem Generalkommissar für deutsche und österreichische Angelegenheiten seine Besorgnis angesichts des eigenmächtigen Vorgehens der Militärregierung und hielt Laffons Rundverfügung vom 13. Oktober 1947 über die Umstellung des Zonenaußenhandels für unannehmbar.^^ Während einer Zusammenkunft im Ministerium für »Economie Nationale« am 31. Oktober 1947 äußerten sich die Vertreter der Fachministerien »sehr erregt über die einseitige Entscheidung der Zone vom 13. Oktober.«'" Lediglich das Finanznünisterium verfocht die Umstellung des Außenhandels der Zone und selbst ihres Produktionsplanes, um mehr in Länder mit hohen Wechselkursen zu verkaufen. Die Beendigung der einseitigen »Export»politik erachtete der Finanzminister nicht zuletzt im Hinblick auf einen Zusammenschluß mit der britischen und amerikanischen Zone für erforderlich. Eine Wende der französischen Wirtschaftspolitik sollte schließlich Anfang 1948 einsetzen, als Pierre Schneiter Oberbefehlshaber Koenig nahelegte, »den Länderregierungen einen Teil unserer wirtschaftlichen Verantwortlichkeiten zu überlassen.«" Beginnend mit dem 13. Juli 1948 wurde den deutschen Ländern ^'Protokoll der 3. Sitzung der »Commission des Approvisionnements« der Zone vom 11.9.1947 (Ado, AEF 199,2). "Schreiben des Finanzministers (gez. Schweitzer) an Debré, 15.4.1947 (AdO, AEF 199,2). ' ' A d o , AEF 199. Vgl. Schreiben des Ministers für Industrie und Handel an den CGAAA, unterzeichnet von C. Beaurepaire, vom 27.10.1947 (AdO, AEF 199,2). Siehe »Note au sujet du commerce Zone-France (Compte-Rendu de la Réunion du 3 1 - 1 0 47) au Ministère de l'Economie Nationale, 3.11.1947, ohne Unterschrift (AdO, AEF 199,2). '' Schneiter an Koenig, 23.1.1948 (AdO, Cab. Civ. ECO I С 5 С. 120).

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sukzessive die Entscheidung über zwangsbewirtschaftete Erzeugnisse übertragen, es sollte jedoch noch bis Ende 1949 dauern, bis die Zwangsbewirtschaftung ihr Ende fand."

^^ Vgl. Uufer, Industrie (Anm. 2), S. 219-221.

3. Individueller Versorgungskampf statt kollektiver Mitbestimmung? Die Arbeiterschaft und Wirtschaftsreformen In der politisch organisierten Arbeiterschaft war es eine nahezu unumstrittene Überzeugung, daß der Nationalsozialismus ohne die massive Unterstützung aus Kreisen der Industrie kaum hätte an die Macht gelangen können.' Antikapitalistische Bekenntnisse und der Wille, die politische Macht von Unternehmern zu brechen, gehörten deshalb nach 1945 zum Signum der Zeit. Frühe Ansatzpunkte für eine ökonomische Umgestaltung unmittelbar nach der Kapitulation boten spontane strukturelle Eingriffe in die privatwirtschaftliche Betriebsstruktur. Dabei ereignete sich überall in Deutschland in den Betrieben ähnliches, aber regionale und zonenspezifische Unterschiede blieben deutlich. Am 4. Juni 1945 trat der Betriebsrat der Aluminium-Walzwerke Singen GmbH, eine der größten südbadischen Firmen, mit einem Flugblatt an die Öffentlichkeit.^ In ihm stand zu lesen, welche Personen man infolge der ersten alliierten Richtlinien sofort aus der Firma zu entlassen gedachte: diejenigen, die vor dem 1. April 1933 Mitglied der NSDAP oder angeschlossener Organisationen waren, diejenigen, die höhere Ränge etwa bei der HJ oder beim Reichsarbeitsdienst bekleidet hatten, diejenigen, die dem Generalstab angehört oder im Dienst der Gestapo oder des Sicherheitsdienstes gestanden hatten. Nach dieser Aufzählung hieß es dann weiter: »Bei den politischen Leitern ist durch die Betriebsbeauftragten zu beurteilen, ob der einzelne weiterhin tragbar oder untragbar ist. Die endgültige Entscheidung über die Aufrechterhaltung des Beschäftigungsverhältnisses liegt bei den zuständigen Dienststellen der Besatzungsarmee.« Diese Worte klangen am Ende der Katastrophe des Nationalsozialismus auffallend moderat, von einer Änderung der Besitzverhältnisse war keine Rede. Statt dessen wurde zum kollektiven Wiederaufbau aufgefordert, die Schicksalsgemeinschaft aller Gutmütigen beschworen und an das Gemeinschaftsgefühl appelliert: »Das deutsche Volk ist nun in den tiefsten Abgrund seiner Geschichte gestürzt. Harte, friedvolle Arbeit wird uns nach einer langen Bewährungsprobe wieder einen Platz in der Völkerfamilie sichern. Wir rufen alle anständigen deutschen Männer und Frauen zur Mitarbeit auf, die ohne um des persönlichen Vorteils willen gesinnt sind, am Neuaufbau von Ordnung, Sitte und Gesetz mitzuhelfen. Tragen wir würdig unser Los und versuchen wir gutzumachen!«

' Siehe auch Christoph Kleßmann, Elemente der ideologischen und sozialpolitischen Integration der westdeutschen Arbeiterbewegung, in: Ludolf Herbst (Hrsg.), Westdeutschland 1945-1955. Unterwerfung - Kontrolle - Integration, München 1986, S. 107-116. ' Abgedruckt bei Manfred Bosch, Der Neubeginn. Aus deutscher Nachkriegszeit. Südbaden 1945-1950, Konstanz 1988, S. 318f.

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Mit der Vergangenheit fertig zu werden, schien eine derart gewaltige Aufgabe zu sein, daß sie nur im größtmöglichen Einvernehmen bewältigt werden konnte. Das Streben nach Konsens-Lösungen mündete nicht selten in einen »Wiederaufbaupakt«,' in dem dann nur noch wenige Spuren einer Entmachtung der alten industriellen Führungselite zu finden waren. Die Bewältigung der schwierigen Gegenwart schien wichtiger als die der düsteren Vergangenheit. Das zeigte sich beispielsweise auch im Daimler-Benz Werk in Gaggenau, wo 4000 Menschen arbeiteten. Dort hatte sich zwar gleich nach dem Untergang des »Dritten Reiches« ein Vertrauensmännergremium gebildet, das die Entnazifizierung der belasteten Untemehmensführung forderte. Doch bald akzeptierte man die alte Untemehmenshierarchie, trat mit den Direktoren, die der vorläufige Betriebsrat eigentlich hatte entlassen wollen, in Verhandlungen ein und einigte sich schließlich darauf, daß nur noch 66 Prozent der leitenden Angestellten ehemalige Mitglieder der NSDAP sein βοΙΗοη.·* Ein ganzes Ursachenbündel zeichnete für solches, eher zögerliches Verhalten verantwortlich. Angesichts des völligen Zusammenbruchs des alten politischen Systems dürfte die Furcht vor künftigen Repressalien eine eher untergeordnete Rolle gespielt haben. Viel bedeutsamer war das starke Nachwirken der Betriebsgemeinschaftsideologie und die Loyalität gegenüber der Firma.' Zusammen mit den Hypotheken der Besatzungszeit entwickelten sich diese Nachwirkungen zu einem Hemmschuh struktureller Änderungen - sofern sie überhaupt auf der Wunschliste standen - , zumal in Regionen wie Südbaden, in denen Mittelbetriebe die industrielle Landschaft prägten. Außerdem gab es erhebliche Skrupel auf selten der führenden Personen aus der Arbeiterbewegung. Durfte man mit der fremden Besatzungsmacht »kollaborieren«, also Zusammenbruch und Besetzung als Hebel für wirtschaftspolitische Umgestaltungen benutzen, die man in gewöhnlichen Zeiten wohl nie hätte erreichen können? Zu solchen Fragen gesellten sich darüber hinaus Zweifel über die Ziele der Franzosen. Wer konnte garantieren, daß ökonomische Säuberungen nicht schlicht als Vorwand für Demontagen mißbraucht würden?* Wollten die Franzosen den Sieg nicht einfach auch dazu nutzen, die deutsche Wirtschaftsmacht und einen Konkurrenten auszuschalten? Durfte man sich mit dem Odium behaften, man helfe der Besatzungsmacht beim Zerschlagen der ' Michael Fichter, Aufbau und Neuordnung. Betriebsräte zwischen Klassenidentität und Betriebsloyalität, in: Martin Broszat/Klaus-Dietmar Henke/Hans Woller (blrsg.). Von Stalingrad zur Währungsreform. Zur Sozialgeschichte des Umbruchs in Deutschland, München 1988, S. 469-549, hier S. 549. "Siehe Reinhard Grohnert, Die Entnazifizierung in Baden. 1945-1949. Konzeptionen und Praxis der »Epuration« am Beispiel eines Landes der französischen Besatzungszone, Suttgart 1991, S.47. ' So auch die Hinweise des Zeitzeugen Max Faulhaber. Siehe Max Faulhaber, »Aufgegeben haben wir nie...« Erinnerungen aus einem Leben in der Arbeiterbewegung, Marburg 1988, S. 225 und 234ff. ' Solche Befürchtungen waren in der Tat nicht aus der Luft gegriffen, wie Beispiele aus Württemberg-Hohenzollern zeigten. Siehe Edgar Wolfrum, Französische Besatzungspolitik und deutsche Sozialdemokratie. Politische Neuansätze in der »vergessenen Zone« bis zur Bildung des Südweststaates 1945-1952, Düsseldorf 1991, S. 220.

Arbeiterschaft und Wirtschaftsreformen

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heimischen Wirtschaft? Solche Zweifel und Gewissensfragen paarten sich mit mangelndem Zutrauen und Bedenken gegenüber der eigenen Qualifikation.^ Nicht zuletzt wirkte aber ein Erbe der Vergangenheit: Spontane, revolutionäre Eingriffe mußten schon aus dem traditionellen Verständnis der deutschen Arbeiterbewegimg heraus selten bleiben.' In der gesetzlosen Zeit des Zusammenbruchs ging es zunächst darum, den legalen Weg, der als einzig legitimer galt, wiederzufmden. Alles mußte einem Ziel untergeordnet werden, nämlich - so hieß es ja auch im bereits zitierten Flugblatt aus Singen - »Ordnung, Sitte und Gesetz« aufzubauen. Vor diesem vielschichtigen Hintergrund von einem durch die Besatzungsmacht »erzwungenen Kapitalismus« zu sprechen, weist in die falsche Richtung.' Damit hätte man das Ausbleiben ökonomischer Strukturreformen auf das Schuldkonto der französischen Besatzungsmacht gebucht. Aber es lassen sich Beispiele dafür finden, daß die französischen Dienststellen in der Besatzungszone der Arbeiterbewegung Möglichkeiten eröffnen wollten, Modelle für Gemeinschaftseigentum zu verwirklichen. Aus den deutschlandpolitischen Behörden in Paris liefen Anfang 1947 irritierte Anfragen in Baden-Baden ein. Roger Bloch vom Generalkommissariat für deutsche und österreichische Angelegenheiten schrieb: »Im Monatsbulletin des Oberkommendierenden vom Dezember 1946 entdecke ich unter der Rubrik >Arbeit