Kriegstage in Konstantinopel [Reprint 2019 ed.] 9783111457093, 9783111089690


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German Pages 171 [180] Year 1913

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Table of contents :
Vorbemerkung
Inhalt
I. Zwischen Frieden und Krieg
II. Das Echo der Schlachten
III. Die Schrecken des Krieges
IV. Der Kanonendonner von Cschataldscha
V. Der Waffenstillstand
VI. Die Revolution des 23. Januar
VII. Der letzte Versuch
VIII. Zum Frieden
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Kriegstage in Konstantinopel [Reprint 2019 ed.]
 9783111457093, 9783111089690

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RrLegstage in tEonflanttnopei Von

Wilhelm Feldmann

Buchschmuck von PH. Ramm

Gtraßburg Verlag von Rar! I. Trübner

Vorbemerkung.

folgende» Seite», die auf Anregung des Der, lages Karl I. Trübaer geschrieben wurden, bieten keine Aussehen erregenden Enthüllungen. Es ist heute noch nicht möglich, die Geheimgeschichte des Balkankrieges zu schreiben und jedem sein teil Verant­ wortung zuzuweisen. Aber neben den Schllderungea des blutigen Ringens, die fortgesetzt erscheinen und bald eine ganze Bibliothek bllden werden, hat auch eine zusammen­ fassende Darstellung der Ereignisse und Stimmungen in Konstantinopel während des Krieges wohl ihre Be­ rechtigung. Sie soll die Schlachtberichte ergänzen, die Bedeutung der Ensscheidunge» im Felde beleuchte« und die in Konstantiaopel gefaßte» Beschlüsse verständlich mache». Ich habe mich bemüht, ohne Parteinahme und ohne Übertreibung kühl und schlicht wiederzugeben, was ich selbst als Korrespondent des „Berliner Tageblatts" und Redakteur am „Osmanischen Lloyd" in der tür­ kischen Hauptstadt gesehen und gehört habe. Konstantinopel, Ende Juni 1913. Dr. Wilhelm Feldmann.

Inhalt. Zwischen Frieden und Krieg .............................................. i Das Echo der Schlachten................................................... 20 Die Schrecken des Krieges.................................................. 39 Der Kanonendonner von Tschataldscha ............................... 56 Der Waffenstillstand............................................................ 77 Die Revolution des 23. Januar ....................................... 106 Der letzte Versuch ............................................................. 126 Zum Frieden ................................................................... 150

I.

Zwischen Frieden und Rrieg. Oie MobUmachung der Balkanstaaten. — „Jaschassyn Harb!" — Die letzte Friedenshoffnung. — Protest der Kriegspariei. — Die Kriegserklärung Montenegros. — Notenwechsel. — Der Ausbruch des Balkankrieges.

Ms die Bewohner der türkischen Hauptstadt am Morgen des Dienstag, i. Oktober 1912, ihre Zeitung zur Hand nahmen, fanden sie auf der ersten Seite in fettem Druck Telegramme aus Sofia und Belgrad, welche die MobUmachung der Heere Bulgariens und Serbiens meldeten. Die Nachricht war für Konstantinopel eine unangenehme Überraschung, obgleich man seit langem darauf gefaßt sein mußte. Das Zustande­ kommen des Balkanbundes war bereits im Sommer bekannt geworden. Man hatte seine Existent zuerst allerdings noch angejweifelt. Aber daß eine bedeut, same Annäherung unter den vier kleinen Balkanstaaten erfolgt war, wurde schließlich halbamtlich zugegeben, «ad daß ihr Zusammenschluß nur gegen die Türkei gerichtet sein konnte, lag auf der Hand. Feldmann, UricgStagc.

2 De« ganzen

Sommer hindurch

hatte auf dem

Balkan bedenkliche Gärung geherrscht.

An der türkisch­

montenegrinischen Grenze befand man sich seit dem albanesischen Aufstand vom Frühling in einer Art von permanentem Kriegszustand, und die Keine türkische Grenzstadt Berana lernte lange vor dem offiziellen Beginn

der

Feindseligkeiten

einer Belagerung kennen.

die

Unannehmlichkeiten

In Bulgarien schrie das

überreizte Volk seit dem Dombenattentat von Kotschana nach einem Rachekrieg. Zwischen der Türkei und Griechen­ land bestand Kretas wegen die alte Spannung unver­ mindert, eher verschärft, fort. Als Graf Berchtold am 15. August einen Meinungsaustausch der Großmächte über die Balkanfragen anregte, war man vielfach ge­ neigt, seinen ernsten Hinweis auf die Größe der Gefahr für übertriebeu zu halten.

Tatsächlich war es zur Be­

schwörung der Gefahr schon zu spät. Das begann man bald auch in Konstantinopel zu ahnen. Trotzdem nahm das große Publikum der türkischen Hauptstadt die Nachricht von der Mobllmachung der Balkanheere im ersten Augenblick noch nicht ganz ernst. Die Meldung wurde daher mit erstaunlicher Gleich­ gültigkeit aufgenommen.

Konstantinopel bewahrte bis

zum Spätnachmittag des 1. Oktober sein gewohntes Aussehen. Nichts deutete darauf hin, daß die Türkei sich am Vorabend eines furchtbaren Krieges befand. Erst abends, als die erste» zur Front abgehenden Truppen zum Hauptbahnhof von Stambul, der sogenannten Station Sirkedschi, marschierten, kam etwas Leben in die türkische Menge. Man spürte, in Stambul wenig-

3 stens, so etwas wie Kriegsbegeisterung. Und die Kntscher der Hauptstadt, die berühmten „Arabadschi", beschlossen in patriotischer Selbstverleugnung, auf die Fortsetzung eines Streiks, den sie zum Protest gegen gewisse An­ ordnungen der Stadtbehörden proklamiert hatten, edel­ mütig ju verrichten. Am nächsten Morgen begannen die kriegerischen Kundgebungen in den Straßen der Hauptstadt.

Der

Krieg galt für unvermeidlich. Man erfuhr, daß auch Griechenland und Montenegro ihre Heere mobilisierten. Die Türkei beantwortete die Herausforderung mit der Mobilisierung des größten Teils ihrer Armee. Der Eisenbahnverkehr mit Bulgarien und Serbien wurde am 3. Oktober eingestellt. Einige Tage später folgte die Suspendierung des gesamten Bahnverkehrs, da das ganze Material für die Militärtransporte beansprucht wurde.

Don der Grenze trafen Meldungen über erste

Scharmützel ein.

Der Ausbruch des Krieges schien nur

noch eine Frage von Stunden zu sein. In den Straßen von Konstantinopel begegnete man auf Schritt und Tritt Zügen von einberufenen Land­ wehrleuten (Redifs), die vom Bahnhof und vom Hafen zur

Taximkaserne,

wurden.

dem

Hauptsammelplatz,

geführt

Es waren meist anatolische Bauern mit ver­

witterten, sonnenbraunen Gesichtern, teils in blauer Nationaltracht mit breitem roten Gürtel, teils in wunder­ lichen Uniformen aus der hamidischen Zeit, manche auch halb Bauer halb Soldat, den dicken Militärmautel über die gewohnte Auatoliertracht geworfen. So zogen sie in langem Zuge dahin, zwei und zwei, meist nach 1*

4 türkischer

Freundessitte Hand

in

Hand, ein

Keines

Bündel mit Proviant und einigen Habseligkeilen in der andern Hand oder auf dem Rücke«. Oft trug man ihnen rote oder grüne Fahnen mit dem Halbmond voraus. Von Zeit zu Zeit gab der führende „Tschausch" (Korporal) Befehl, „Jaschaffyv Harb!"

(Es lebe der

Krieg!) zu rufen. Dann hallte der Ruf den Zug entlang. Die letzten Glieder schenkten sich meist das Mitrufen. Überhaupt mertte

man den Rebifs

durchweg mehr

Müdigkeit als Begeisterung an. „Jaschassyn Harb!" Ganz anders klang der Ruf, wenn die Hauptstädter ihn bei ihren Umzügen erschallen ließen.

Unter dumpfem orientalischen Trommelklang

durchzogen Gruppen von Manifestanten im gemessenen Prozessionsschritt die Stadt. An der Spitze schritten meist einige mohammedanische Geistliche (Hodschas) oder Theologiestudenten (Sofias) in weißem Turban und schwarzem Talar, von roten und grünen Halbmondfahnen flankiert. Im Zuge wurden riesige rote Banner, die fast die ganze Sttaßendammbreite einnahmen, mit# getragen.

Auf ihnen prangten in weißen türkische»

Riesealettern Losungen wie „Es lebe der Krieg!" oder „Nieder mit Griechenland!" Niemals habe ich in diesen Tagen den Ruf „Nieder mit Bulgarien, Serbien, Monte­ negro!" gehört. die Rede.

Es war immer nur von Griechenland

Auch die Studenten, die am 3. Oktober von

der Stambuler Universität aus einen großen Umzug veranstaltete», wurde» nicht müde, wieder und immer wieder „Nieder mit Griechenland!" zu rufen. land galt eben als der Erbfeind.

Griechen#

5 Das griechische Konsulat in der Grande Rue de Pera wurde von den Manifestanten mit Vorliebe als Ziel gewählt. Kein Zug passierte das Konsulatsgebäude, ohne daß die Teilnehmer sich ihm zuwandten und nach orientalischem Brauch zum Zeiche« des Abscheus die beiden Hände abwehrend erhoben. Auf diese sym­ bolische Handlung, die einer gewissen Feierlichkeit nicht entbehrt, beschränkten die Kundgebungen sich am Tage. Aber an den Abenden der ersten Oktoberwoche sah es vor dem Haus mit dem griechischen Wappenschild und der

blau-weißen

Fahnenstange

böse

aus.

Wüste

Drohungen ertönten aus der erbitterten Menge, und dicke Backsteine flogen durch die zerbrochenen Fenster­ scheiben in die Zimmer. hatten

ernste

verhüten.

Mühe,

Polizei und

bedenkliche

Gendarmerie

Ausschreitungen

zu

Erst wenn die Bajonette drohend auf de»

Gewehren der Gendarme zu blinken begannen, zog die zerstörungslustige Menge sich johlend zurück.

Auch vor

den Konsulaten der anderen Balkanstaaten und vor den „Balkangesandtschaften", wie wir sie zusammenfassend zu nennen pflegten, kam es zu kleinen Kundgebungen. Gelegentlich

wurden

beim

Vorbeiziehen

auch

einige

Fensterscheiben der italienischen Botschaft eingeworfen. Am Freitag, 4. Oktober, fanden im großen Dorhof der gewaltigen Moschee Sultan Ahmeds im Herzen von Stambul imposante Kundgebungen der beiden großen Parteien, der

„Entente

liberale"

kischen Komiteepartei, statt.

und der jungtür­

Die Jungtürken hatten,

so hieß es, die Veranstaltung einer gemeinsamen Kund­ gebung vorgeschlagen, aber die Liberalen hatten das

6 abgelehnt, obgleich das Komitee „Einheit und Fort­ schritt, türkisch kurj „Jttihad" genannt, seinen Mit­ gliedern in einem Manifest Verzicht auf alle Parteifehde angesichts der Kriegsgefahr zur Pflicht gemacht hatte. So tagten Liberale und „Unionisten", wie die Anhänger der jnngtürkischen Komiteepartei auch genannt werden, denn getrennt. Das liberale Meeting begann vormittags io Uhr.

Der weite Hof wimmelte von Menschen im

roten Fes. Diele Hodschas und Sofias waren darunter. Hier und da ragten rote und grüne Fahnen aus der Menge. Ringsum, an der Hofmauer mit den ver­ gitterten, fensterartigev Öffnungen, saßen Hunderte von türkischen Frauen.

Der Präsident, Senator Marschall

Fuad Pascha, hatte mit dem Bureau hinter der mit Teppichen drapierten Rampe inneren Hof Platz genommen. andern.

vor dem Portal zum Ein Redner folgte dem

Der Chefredatteur des liberalen Morgenblatts

„Jkdam", Ali Kemal Bej, schlug die Veranstaltung einer englandfreundlichen Botschaft vor.

Kundgebung

an

der

englischen

Dr. Risa Nur, der bekannte liberale

Politiker, empfahl Entrollung des Prophetenbanners und Verkündigung des HeUigen Krieges. Die Albanesen Basri Bej und Derwisch Hima Bej gelobten Treue im Namen ihrer Stammesgenoffen und bezeichneten die Behauptung, daß Albanien nach der Autonomie strebe, als eine serbische Lüge.

Alle Redner gaben freudiger

Siegeszuversicht Ausdruck. Gegen y22 Uhr erreichte die erste Versammlung ihr Ende. Viele TeUnehmer mar­ schierten in langem Zuge mit Musik und Fahnen hinaus nach dem Schloß

von Dolma-Bagtsche,

von

dessen

7 Balkon aus der Sultan die Manifestanten begrüßte. Viele andere blieben aber im Hof der Moschee zurück, um bei der jungtürkische» Versammlung, die um 2 Uhr von Talaat Bej eröffnet wurde, zugegen zu sein.

Diese

Versammlung unterschied sich von dem liberalen Meeting nur wenig. Auch sie endete mit einem Demonstrations­ zug nach Dolma-Bagtsche, wo Sultan Mehmed abermals grüßend auf dem Balkon erschien.

Bis in die Nacht hin­

ein dauerten die kriegerischen Straßenkundgebungen fort. Die Kriegsbegeisterung, in der das ganze osmanische Volk ohne Unterschied der Partei einig zu sein schien, wurde auf der Hohen Pforte keineswegs geteilt. Die meisten Mitglieder des komiteefeindlichen Kabinetts Ahmed Muhtar Pascha, das am 22. Juli nach der Ver­ drängung des jungtürkischen Kabinetts Said Pascha durch die liberale Offiziersliga berufen worden war und am 5. August die überwiegend jungtürkische Kammer trotz drohender Proteste der Komiteepartei aufgelöst hatte, waren gegen den Krieg. Besonders Kiamil Pascha, der dem Kabinett als Präsident des Staatsrats angehörte, erhob warnend seine Stimme, und der Kriegsminister Nasim Pascha verschwieg seine mUitärischen Bedenken natürlich nicht. Die Regierung hatte im September noch so wenig an die Kriegsgefahr ge­ glaubt, daß ein großer Teil der zu Manövern einbe­ rufenen Redifs in die Heimat entlassen worden war, zu einer Zeit, da man in Bulgarien die MobUmachung schon mit fieberhaftem Eifer vorbereitete. Eine rasche MobUmachung der türkischen Armee war bei den geo­ graphischen Verhältnissen des Landes unmöglich.

Unter

8 diesen Umständen konnte Nasim Pascha, der am 3. Ok­ tober zum Vize-Generalissimus aller türkischen Armeen (als Generalissimus galt der Sultan) ernannt worden war, die sofortige Aufstellung eines schlagfertigen Heeres nicht verbürgen. Die Diplomaten rieten gleich­ falls zum Frieden, vor allen die Botschafter der TripleEntente, die das besondere Vertrauen des von Kiamil Pascha beherrschten Kabinetts besaßen. So bereitete sich die große Überraschung vor, die den Bewohnern von Koustantiuopel am Abend des Sonntag, 6. Oktober, zuteil wurde.

Die Spannung

war so groß, daß die Kriegserllärvag von Stunde zu Stunde zu erwarten schien.

Statt dessen veröffentlichte

die halbamtliche Ageuce Ottomane Sonntag abend ein Communiq«6, nach dem der Ministerrat nachmittags beschlossen hatte, die im Wilajetsgesetz von 1880 vor­ gesehenen Reformen für die Wllajets der europäischen Türkei auszuführen.

Die Agentur fügte dieser Mit-

tellung die Notiz hinzu, nach den letzten Meldungen aus dem Ausland könne die Kriegsgefahr als beseitigt gelten.

Das amtliche Pressebureau bestätigte die An­

gabe der Ageuce Ottomane und teilte weiter mit, der Beschluß des Ministerrats sei nach einer dreistündigen Konferenz der Dosschaster Rußlands und Frankreichs mit dem Minister der auswärtigen Angelegenheiten, dem Armenier Noradunghian Effendi, gefaßt worden. Aller­ dings bat das Bureau die Journalisten, die Nachricht nicht als offizielle Information, sondern mit dem Zu­ satz „Es verlautet wiederzugeben.

Der Beschluß des

Ministerrats bedeutete nicht mehr und nicht weniger

9

als die Ausführung des Artikels 23 des Berliner Der, träges, welche die Balkanstaaten angeblich in einem Ultimatum an die Türkei fordern wollten. Die tür­ kische Regierung hatte diese Forderung erfüllt, noch ehe sie gestellt worden war, und dadurch den Balkavstaaten den Dorwand für den geplanten Krieg geraubt. Nur so war das Verhalten der Regierung zu verstehen. Oie Mittellung über die Unterredung der Botschafter Frankreichs und Rußlands mit dem Minister der aus­ wärtigen Angelegenheiten schien darauf Hinjudeuten, daß diese beiden Mächte einen Druck auf die Pforte im Sinne des Friedens ausgeübt hatten. Das CommuniquL der Agence Ottomane wurde noch Sonntag abend nach 10 Uhr durch ein Extrablatt des „Osmanischen Lloyd" in Pera und Galata bekannt. Es trug in dem deutsch-französischen Extrablatt die Über­ schrift „Eine Friedenshoffnung" („La paix assur6e?“) und wurde von Levantinern und Fremden, die sich in den Cafss um die Extrablätter förmlich rissen, auch als Friedenshoffnung begrüßt. Die türkischen Cafsgäste nahmen es dagegen, zum Teil wenigstens, nicht gerade freundlich auf. Man konnte, besonders im Cafs Tokatlian, dem Treffpuntt vieler Politiker und Journalisten, beobachten, wie sich an den Tischen der Türken erregte Diskussionen entspannen. Ich hatte selbst Gelegenheit, einigen Jungtürken die Nachricht zu überbringen, und meiste ihnen trotz der Ruhe, die sie als Orientalen äußerlich bewahrten, ihre Entrüstung deutlich au. Am folgenden Tag kam die Erbitterung in einer Weise zum Ausdruck, die bei der Regierung keinen

10 Zweifel über die Stimmung des Volkes bestehen lassen konnte. Gegen 2 Uhr nachmittags versammelten sich alle Studenten der Stambuler Universität im Hochschulgebäude am Bajasidplatz. Don dort zogen die Stu­ denten nach Abhaltung einer Versammlung, in welcher der Krieg verlangt wurde, gegen 4 Uhr in langem Zuge zur Hohen Pforte. Unterwegs schlossen sich ihnen noch viele Hunderte an. Die Manifestanten drangen in den Hof der Hohen Pforte ein und verlangten stürmisch, der Großwestr solle erscheinen und sich wegen des Be­ schlusses vom Sonntag rechtfertigen.

Da der Groß­

wesir nicht erschien, drangen die Studenten durch Fenster und Türen in das Gebäude ein.

Telephonisch herbei­

gerufenes Mllitär wurde von den Studenten mit dem Ruf empfangen: „Schießt auf die Griechen und Bulgaren, aber nicht auf uns!"

Der führende Offizier erwiderte:

„Fürchtet nichts! Ich lasse auf euch nicht schießen!" Und die Soldaten verhielten sich in der Tat passiv. Der Marineminister General Mahmud Muhtar Pascha, der Sohn des Großwesirs, verließ darauf den Minister­ rat und versuchte, die Studenten zu beruhigen.

Er

erklärte, die Regierung sei nur dem Parlament Rechen­ schaft schuldig, und wies auf die Greuel eines Krieges hin.

Die Studenten pfiffen ihn aus

und riefen ihm

zum Zeichen der Verachtung „Ptui!" zu.

Aus

dem

Toben der Manifestanten heraus hörte man Rufe wie: „Es lebe der Krieg! Regierung!

Krieg oder Tod!

Nieder mit Kiamil!"

verlangten aufs

neue stürmisch

das

Nieder mit der Die Studenten Erscheinen des

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Großwesirs. Da die zuerst eingetroffenen Truppen keine Miene machten, einzuschreiten, wurde ein neues Detachement herbeigerufen, das die ins Gebäude einge­ drungenen Studenten langsam in den Hof drängte und dann vor dem Gebäude Aufstellung nahm. Als etwas Raum geschaffen war, erschien der Großwesir, Marschall Gasi Ahmed Muhtar Pascha. Die Studenten riefen ihm zu: „Was hat der Beschluß des Ministerrats zu bedeuten?" Der Großwesir erwiderte, er sei unfähig, am Ende seiner langen Kriegerlaufbahn etwas gegen die Würde der Türkei zu unternehmen. Als der Mar­ schall den jungen Leuten zurief, sie sollten nicht ver­ gessen, daß er den Ruhmestitel „Gasi" (Sieger für den Glauben) trage, schallte es im Chor zurück: „Und wir wollen Gasi werden, Pascha!" Mehr und mehr füllte der Platz sich dann mit Militär, und langsam wurden die Manifestanten hinausgedrängt. Um 5 Uhr bereits, noch ehe die Kundgebung ihr Ende erreicht hatte, gab die Regierung den Telegraphen­ ämtern Befehl, keine Meldung über die Kundgebung der Studenten abzusenden. Gleichzeitig wurde die Ver­ hängung des Belagerungszustandes über Konstan­ tinopel und die ganze europäische Türkei beschlossen. Die oberste Gewalt erhielt dadurch der Kriegsminister und Generalissimus Nastm Pascha. Den Zeitungen ging abends folgende Mitteilung zu: „Da über die heutige Kundgebung bei der Hohen Pforte unbedingt nichts im Ausland bekannt werden darf, fordere ich Sie auf, keinerlei Mitteilung darüber zu veröffentlichen." Diese Warnung war von Nastm Pascha unterzeichnet. Die

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am Sonntag ausgegebenen Informationen des Presse­ bureaus und der „Agence Ottomane" wurden Montag abend in einem amtlichen Communique als irrtümlich bezeichnet. Es wurde versichert, der angebliche Beschluß des Mivisterrats über-die Reformen für Rumelieu sei noch gar nicht gefaßt, die Reformen würden nur be­ raten, überdies werde nichts ohne die Einwilligung der Kammer geschehen. Kurz, die Aufregung der Bevöl­ kerung sei grundlos. Seit Montag abend durchzogen wieder starke Mllitärpatronillen, wie in den erregten Sommertagen vor und nach der Kammerauflösnng, die Straßen der türkischen Hauptstadt. Kundgebungen für den Krieg fanden nicht mehr statt. Sie wären auch sofort mit Gewalt unterdrückt worden. Noch am Vormittag des Dienstag, 8. Oktober, war bei vielen türkischen Patrioten die Befürchtung groß, daß ein feiger Rückzug der Re­ gierung den Ausbruch des Krieges verhüten könne. Gegen 2 Uhr nachmittags wurde aber amtlich mitgetellt, daß der montenegrinische Geschäftsträger, Herr Plamenatz, der Pfotte vormittags die Kriegserklärung Montenegros überreicht habe. Nach dem Wortlaut der Kriegserklärung bedauerte die montenegrinische Re­ gierung, daß sie alle fteundschaftlichen Mittel zur Bei­ legung der zahlreichen Mißverständnisse und Konflitte mit der Türkei erschöpft habe und die Anerkennung ihrer Rechte und der Rechte ihrer Brüder im Osmanischen Reich nunmehr von der Entscheidung durch die Waffen erwarte. Herr Plamenatz und das Personal der monte­ negrinischen Gesandtschaft fuhren um y23 Uhr mit dem

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rumänischen Dampfer „Regele Carol I" nach Konstantza ab, nachdem das montenegrinische WappenschUd vom Gesandschastsgebäude entfernt worden war. Die rus­ sische Botschaft übernahm den Schutz der montene­ grinischen Staatsangehörigen in der Türkei. So war der Krieg denn ausgebrochen. Aber es war ganj anders gekommen, als man erwartet hatte. Man glaubte in den ersten Oktobertagen fast allgemein in Konstantinopel, die vier Balkangesandten würden gemeinsam ein Ultimatum überreichen und am gleichen Tage die türkische Hauptstadt verlassen. Statt dessen nutzten die Verbündeten schon jetzt schlau die Über­ legenheit aus, die ihnen daraus erwuchs, daß sie ju viert gegen einen Feind angingen. Montenegros Kriegs­ erklärung sicherte den Krieg, ju dem alle vier längst entschlossen waren. Aber das Zögern Bulgariens, Serbiens und Griechenlands sicherte die Fortsetzung des diplomatischen Vorspiels, das den Verbündeten die Möglichkeit gab, in Ruhe ihre Vorbereitungen t« be­ endigen, während in der Türkei das andauernde Schwe­ ben jwischen Frieden und Krieg jeden frischen natio­ nalen Ausschwung lähmte. Seit dem i. Oktober lasen die Bewohner von Konstantinopel Tag für Tag in den Depeschen aus Berlin und Wien, Paris, London und Petersburg, welche die österreichisch-offiziöse „Ageuce de Constantinople" ihnen über Wien übermittelte, die ewig wieder­ kehrende Phrase: „Die Großmächte setzen ihre Be­ mühungen zur Erhaltung des Friedens fort." Nach langen Beratungen einigten die Großmächte sich endlich

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über de« Wortlaut einer kurzen Note, die der erste Dragoman der österreichisch-ungarischen Botschaft als Vertreter des Doyenbotschafters am io. Oktober, nach­ mittags 6 Uhr, dem türkischen Minister der auswärtigen Angelegenheiten überreichte. Der Text der Note wurde bereits am nächsten Nachmittag durch ein griechisches Blatt veröffentlicht. Die Mächte nahmen nach ihm von dem Reformverspreche» der Pforte Kenntnis und erllärteu ihre Absicht, die Reformen unverzüglich mit der Pforte zu beraten. Die Wahrung der territorialen Integrität des türkischen Reiches wurde in der Note als „selbst­ verständlich" bezeichnet. In Wirklichkeit glaubte aber niemand mehr an dies „selbstverständlich". Weder Türken noch Fremde zweifelten daran, daß der Krieg, falls die Verbündeten siegen sollten, ei« Eroberungs­ krieg sein werde. Am Morgen des 12. Oktober erschien in den Zei­ tungen eine Proklamation des Sultans an das Heer, die nach Betonung der Friedensliebe der Türkei in scharfen Worten das Verhalten der Balkanstaaten brandmarkte und den Truppen die Pflicht der Ver­ teidigung des Vaterlandes ernst einschärfte. „Gott verleihe euch Sieg und erfreue die Herzen der Osmanen durch eure Eroberungen." So schloß die Proklamation. Am Sonntag, 13. Oktober, wurden in Koustautinopel Nachrichten über die blutigen Kämpfe bei Tust bekannt. Mau erfuhr allerdings erst später durch die europäischen Zeitungen, daß die Montenegriner siegreich geblieben waren. Aber man hörte von schweren Verlusten, von Überfüllung der Lazarette in Podgoritza, von Sterbenden

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und Toten. Man erschauerte bei dem Gedanken, daß die Schrecken des Krieges nun tatsächlich entfesselt seien, und dachte angstvoll an den drohenden Beginn des blutigen Ringens in Thrajien. Unter dem Eindruck dieser ernsten Nachrichten beriet der türkische Ministerrat am Sonntag den Wort­ laut der Note, in der die Pforte auf die Note der Mächte zu antworten gedachte. Die Antwortnote wurde am Montag, 14. Oktober, vormittags 10 Uhr, durch den Direktor des Kabinetts des Ministers der auswärtigen Angelegenheiten, Edhem Bej, dem österreichischen Bot­ schafter überreicht. Sie betonte in durchaus würdiger, fester Sprache den Entschluß der Pforte, die für Rumelien geplanten Reformen „unabhängig von jeder fremden Einmischung" ausjuführen, und erklärte weiter, daß die Vorlage über die Reformen verfassungsgemäß der neu­ zuwählenden Kammer vorgelegt werden müsse. Es war eine zugleich höfliche und stolze Ablehnung des An­ sinnens der Großmächte. Gleichzeitig mit dem Wortlaut der türkischen Ant­ wortnote wurde in Konstantinopel der Text der Kollek­ tivnote bekannt, welche die Regierungen der Balkanstaaten am Sonntag, 13. Oktober, abends den diplo­ matischen Vertretern der Pforte überreicht hatten, um in wenig ehrerbietiger Form ihre Forderungen kund­ zugeben. Diese Note führte endlich die längst erwartete Entscheidung herbei. Auf solche Herausforderung gab es nur eine Antwort: den Abbruch der diplomatische» Beziehungen. Dieser wurde denn auch Dienstag, 15. Oktober, vormittags vom türkischen Ministerrat

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beschlossen. Dienstag abend spät teilte die Agence Ottomane den Zeitungen mit, das Ministerium des Äußeren habe die osmanischen Botschafter in einer Zirkulardepesche beauftragt, den fremden Regierungen mitzuteilen, daß die beleidigende Note der Balkan­ staaten keiner Antwort würdig sei. Die Pforte habe daher die diplomatischen Beziehungen zu Bulgarien und Serbien abgebrochen und ihre diplomatischen Vertreter in Sofia und Belgrad abberufen. Don Griechenland und Athen war in der Zirkular­ depesche nicht die Rede. Der osmanische Gesandte in Athen hatte, wie man Dienstag erfuhr, Sonntag abend noch Befehl erhalten, die in Athen überreichte gleichlautende Note der griechischen Regierung zurück­ zugeben und als nicht empfangen zu betrachten. Ein Ersuchen der Athener Regierung, den Gesandten zur Entgegennahme der Note zu ermächtigen, war am Montag von der Pforte abgelehnt worden mit der Er­ klärung, falls die griechische Regierung eine MitteUung zu machen habe, möchte sie das gefälligst durch ihren Gesandten in Konstantinopel, Herrn Gryparis, tun. Indessen verging der Montag, der Dienstag, der Mitt­ woch, der Donnerstag, ohne daß Griechenland einen Schritt unternahm. Die Lage war äußerst seltsam und gab natürlich zu seltsamen Vermutungen Anlaß. Die einen behaupteten, die Türkei wünsche die Kretafrage von der mazedonischen Frage zu trennen und wolle znerst mit Bulgarien und Serbien abrechnen, vm dann Griechenland besonders scharf zu züchtigen. Die anderen versicherten, die Pforte habe Griechenland Kreta avge-

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böte«, um es zum Verlassen des Balkaubuudes zu bewege«, und Griechenland sei geneigt, sich darauf einzulassen. Der griechische Gesandte zuckte allen Fragen gegenüber die Achseln und erklärte, er sei ohne In, struktionen, erwarte aber von Stunde zn Stunde den Befehl zur Abreise. Tatsächlich waren alle Koffer in den drei Balkangesandtschaften seit mehreren Tagen gepackt, und die Gesandten hatten die Schiffahrtsgesell, schäften bereits ersucht, auf den abgehenden Post­ dampfern für alle Fälle Plätze für das Gesandtschafts, personal zu reservieren. Die Damen der Gesandtschaften waren zumeist schon abgereist. Die Gesandten hatten längst ihre Abschiedsbesuche gemacht. Die Gesandt, schaftsgebäude lagen mit geschlossenen Fensterläden wie ausgestorben da. Nur in den Konsulaten der Balkan, staaten herrschte noch lebhaftes Treiben. Dom Morgen bis zum Abend hatten die Beamten, besonders im griechischen Konsulat, zu tun, um den abreisenden Lands, leuten, meist Reservisten und Landwehrmänner«, Pässe auszustellen. Aber der Exodus der Balkangesandten erfolgte zur allgemeinen Überraschung nicht so schnell, wie man erwarten konnte. Obgleich die osmanischen Vertreter in Sofia und Belgrad den Befehl zur Abreise bereits erhalten hatten, obgleich die diplomatischen Beziehungen seit dem 15. Oktober als abgebrochen galten, wurden die Gesandten Bulgariens und Serbiens von ihren Re, gieruugen nicht zur Abreise ermächtigt. Am 17. Oktober vormittags ließ die Pforte dann dem bulgarischen Ge, sandten, Herrn Sarafoff, und dem serbischen Gesandten, $ c 11> m ti n n , Urifgttcftf.

2

18 Herrn Nenadowitsch, die Pässe jvstellev und legte ihnen nahe, „so rasch wie möglich" das türkische Gebiet ju verlassen. Um y22 Uhr nachmittags wurden die Wappen­ schilder von den Gesandtschaften und Konsulaten ent­ fernt. Aber ein Zufall zwang die Gesandten, ihre Ab­ reise noch um weitere 24 Stunden aufzuschieben. Der rumänische Postdampfer „Principes« Maria", mit dem sie abzufahren

gedachten,

war

zur

Abholung

moham­

medanischer Flüchtlinge nach Warna geschickt worden und infolge von Schwierigkeiten mit den dortigen bul­ garischen Behörden zu spät nach Konstantinopel zurück­ gekehrt, um die Reise nach Konstantza fahrplanmäßig am 17. Oktober nachmittags anzutreten. Die Lage, die einer gewissen Komik nicht entbehrte, — (man muß wissen, daß Pera ein großes Dorf ist) — wurde noch durch die Unklarheit des Verhältnisses zu Griechenland kompliziert.

Tatsächlich wußte niemand,

wie das wunderliche Zaudern Griechenlands und der Pforte zu erklären war.

Erst der 18. Oktober brachte

endlich die Lösung. Der griechische Gesandte fuhr gegen Mittag zur Pforte und überreichte die Kriegserllärung Griechenlands.

Gleich darauf wurden WappenschUder

und Fahnenstangen vom Gesandtschaftsgebäude in der stillen Straße Aga Hamam und vom griechischen Kon­ sulat, dessen zerbrochene Fensterscheiben während der ganzen Dauer des Krieges von der Volkswut Zeugnis ablegten, entfernt. Nachmitags gegen 2 Uhr fuhren die

drei

Balkangesaadten

in

langer

Wagenreihe

mit dem Personal der Gesandtschaften und Konsulate durch eine stille Seitenstraße zum Hafen.

Auf den

19

Kais von Galata hatten sich nur wenige Neugierige eingefuadev, um die Abreise der Gesandten zu beobachten. Osmanische Gendarmen in ihrer kleidsamen blauen Uniform, das Gewehr über die Schulter gehängt, hielten die Ordnung aufrecht. Um y23 Uhr stach der rumänische Postdampfer „Principes» Maria" mit dem serbischen Gesandten nach Konstantza in See. Um 4 Uhr fuhr der Dampfer „Brünn" des Österreichischen Lloyd mit dem bulgarischen Gesandten an Bord nach Warna ab. Und um 6 Uhr verließ der griechische Gesandte an Bord des österreichischen Lloyddampfers „Palacky" Kon­ stantinopel. So war der Balkankrieg denn ausgebrochen. Eine Kriegserklärung war allerdings formell nur von seiten Montenegros und Griechenlands erfolgt. Die Gesandten Bulgariens und Serbiens erhielten den Befehl zur Überreichung einer Kriegserklärung erst, nachdem die Pforte ihnen die Pässe hatte zustellen lassen, so daß die Überreichung tatsächlich nicht mehr erfolgen konnte. An dem gleichen 18. Oktober, an dem der Exodus der Balkangesandten endlich stattfand, wurde der türkischitalienische Friede endgültig unterzeichnet, nachdem am 15. Oktober nachmittags 6 Uhr bereits die Unterzeichnung des Präliminarftiedens in Ouchy erfolgt war.

II.

Das Echo der Schlachten. Die Stimmung beim Kriegsausbruch. — Der Ausmarsch. — Die führenden Männer. — Siegesnachrichten. — Kirkkilissa. — Adria­ nopel. — Kiamil Pascha Großwesir. — Lüle-Burgas.

In der Nacht vom 16. jum 17. Oktober stellte die Agence Ottomane den Zeituugsredaktionen in Konstaatinopel eine Note zu, die kurz besagte, die Feind­ seligkeiten hätten an der bulgarischen und serbischen Grenze begonnen, der Krieg könne als faktisch ausge­ brochen gelten. Einige Stunden vorher hatte die halb­ amtliche Agentur eine Aufstellung der bisherigen Grenzplänkeleiev veröffentlicht, um den Nachweis zu führen, daß die Bulgaren seit dem i. Oktober wiederholt die türkischen Grenzposten angegriffen hätten und somit für den Beginn der Feindseligkeiten verantwortlich seien. Tatsächlich hatte am 1. Oktober bereits eine Art von Kleinkrieg oder Bandenkrieg an der ganzen bul­ garischen und serbischen Grenze entlang begonnen. In den Lazaretten von Konstantinopel befanden sich am 17. Oktober etwa 100 verwundete Soldaten, meist Leicht-

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verletzte, die von den Grenzen nach der Hauptstadt gebracht worden waren. Alle diese Derwundetea konnten aber bis zum 25. Oktober als geheilt entlassen werden. Don der Kriegsbegeisterung, die in Sofia, Belgrad und Athen herrschte, war in Konstantinopel nach dem faktischen Beginn des Krieges nichts zu spüren. Öffent­ liche Kundgebungen waren streng untersagt. Die Re­ gierung vermied ängstlich alles, was von den Groß­ mächten als Aufreizung des Volkes gedeutet werde» konnte. Man vermochte sich bei Beobachtung des Ver­ haltens der Pforte von Anfang an des Eindrucks nicht zu erwehren, daß die Türkei ohne Lust und nur wider­ willig in diesen Krieg zog. Die Behauptung der Balkanverbündete», die Türkei habe den Krieg gewollt, klang angesichts der auf der Pforte herrschenden Stimmung wie boshafter Hohn. In der Bevölkerung von Stambul war indessen wirttich eine gewisse Kriegsbegeisterung zu bemerken, die unbedingtem Vertrauen zu der Tüchtig­ keit des Heeres entsprang. Sie kam aber nur in den zahllosen keinen Kaffeehäusern und höchstens noch ge­ legentlich beim Vorbeimarsch ausrückender Truppen zu orientalisch gemäßigtem Ausdruck. Bei den Levan­ tinern (besonders Griechen und Armeniern) von Pera konnte man natürlich Kriegsbegeisterung kaum er­ warte«. Sie trugen denn auch fast ausnahmslos eine Gleichgültigkeit zur Schau, die deutlich zeigte, daß dieser Krieg sie nach ihrer Anschauung nichts anging, da sie die Türkei nicht als ihr Vaterland betrachteten. Sehr groß war dagegen die Teilnahme der Aus­ länder, besonders der deutschen Kolonie, die kein Hehl

22 daraus machte, daß sie den Türke» aufrichtig Sieg wünschte. Bei dem Liebeswerk für die türkischeu Ver­ wundete« gingen die Deutschen mit gutem Beispiel voran. Schon am 9. Oktober hatte der deutsche Bot­ schafter, Freiherr v. Wangenheim, im Namen des Kaisers den großen Gartensaloa der Botschaft samt den anstoßenden Räume« als Lazarett für osmanische Ver­ wundete zur Verfügung gestellt. Der deutsche Wohl­ fahrtsverein richtete im Mäanerpavillon des Deutschen Krankenhauses ein Lazarett für dreißig Verwundete ein. Auf einen Aufruf des deutschen Chefs der türkischen Saaitätsverwaltung, Prof. Dr. Wieling Pascha, hin stellten sich Damen der deutschen Kolonie für die Der«undetenpflege zur Verfügung. Im Deutschen Kranken­ haus unterwies der Chefarzt Dr. Schleip die freiwilligen Pflegerinnen in der Wundbehandlung. Die Damen des Deutschen Frauenvereins waren seit dem 15. Oktober im großen Saal des deutschen Klubhauses „Teutonia" eifrig beschäftigt, Kleidung und Wäsche für die Ver­ wundeten herzustellen. Auch der Nähverein „Jldeda" („In Liebe diene einer dem anders) beteiligte sich an dem HUfswerk. Die „Konstaatinopeler Blumenmisston", die vom 1. November bis zum 1. Mai Blumen in die Krankenhäuser der türkischen Hauptstadt zu senden pflegt, beschloß, alle Barmittel zum Ankaufe von Scho­ kolade, Obst, Zigaretten, Limonade u. dgl. für die Ver­ wundeten zu verwenden, da die Botschaften Deutsch­ lands, Englands und Rußlands es übernommen hatten, für die erforderlichen Blumen zu sorgen. Die übrigen ftemden Kolonien schloffen sich von dieser Liebestätigkeit

23 keineswegs aus. Aber bei allem Eifer für die Linderung der

Leiden

osmanischer

Verwundeter

verbargen die

meisten Franzosen, Engländer und Russen von Anfang an ihre türkenfeindliche Gestaaung nicht. Sie kam zu scharfem Ausdruck, als die osmanischen Militärbehörden gelegentlich bei der Requirierung von Pferden und Proviant auch auf ausländisches Eigentum die Hand legten. Die Fremden hatten sich das aber teilweise selbst zuzu­ schreiben.

Sie haben sich leider in vielen Fällen dazu

hergegeben, Pferde und sonstiges osmanisches Eigentum, zu dessen Beschlagnahmung gegen Gutschein die Be­ hörden

unbedingt

berechtigt

waren,

dem

türkischen

Staat durch Scheinkäufe und andere unlautere Manöver zu entziehen. Die Stimmung in militärischen Kreisen war ge­ hoben.

Im türkischen Offizierkorps herrschte großer

Optimismus, äußerte.

der sich

aber

keineswegs

unbescheiden

Ich hatte selbst Gelegenheit, mit einer ganzen

Reihe von Offizieren vor ihrer Abreise zur Front zu sprechen, und beinahe alle versicherten mir, es sei ein Glück, daß die ewige Balkanfrage endlich durch das Schwert gelöst werde.

Sie zweifelten nicht an einem

großen Erfolg der türkischen Waffen.

Ein Rittmeister,

der sich bisher lieber mit Politik als mit RekrutenausbUdung beschäftigt hatte, antwortete auf meine Frage nach seiner Auffassung vom Krieg allerdings überlegen lächelnd: „Sprechen wir doch lieber vom Rennen als von diesem langweiligen Krieg!" Am Freitag, n. Oktober, hatte nämlich auf den Wiesen bei Makriköj, vor den alten Stadtmauern von Konstantinopel, ein Rennen — für

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die türkische Hauptstadt ei» seltenes Vergnüge» — stattfinden sollen, das dann, immer noch in dem opti­ mistischen Glauben an die Möglichkeit einer friedlichen Lösung der Spannung, auf den 25. Oktober verschoben worden war, aber natürlich nicht stattfand. Die Gegner wurden in türkischen Offizierskreisen sehr verschieden beurteilt. Den Krieg mit den „Karadagli" (bas türkische Wort für Schwarzbergler oder Montenegriner) schien niemand ernst zu nehmen. Von Serben und Griechen sprach man mit großer Verachtung, als werde ihre Züchtigung ein Kinderspiel sei». Die Bulgaren dagegen hielt man offenbar für einen ebenbürtigen Gegner, dessen Besteguvg nicht so leicht sein werde. Doch zwei­ felten wohl nur wenige türkische Offiziere an dem bal­ digen Einmarsch in Phllippopel. Die Stimmung der Soldaten war, wie schon oben angedeutet, weniger kriegsftendig, und es geschah auch nicht genug zu ihrer Anfeuerung. Der Sultan hat die ausrückenden Truppen allerdings wiederholt persön­ lich begrüßt, so am 14. Oktober vor dem Sirkedschibahnhof die Stambuler Selimijedivision. Aber die türkische Heeresleitung schien sich von einem triumphie­ renden Truppenausmarsch unter Musikklängen keine günstige moralische Wirkung zu versprechen. Obgleich es an Musikkapellen nicht fehlte, zogen die ausrückende» Truppen in trauriger Stille zum Bahnhof. Mit Vor­ liebe ließ man sie bei Nacht durch die Hauptstadt mar­ schieren. Die Soldaten machten in ihrer grünbraunen Felduniform, de» grauen kapuzenartigen „Daschlik", der gegen Kälte und Hitze schützt, um den grünbraunen

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Fes geschlungen, die Waden mit de» praktischen Wickel­ gamaschen umwunden, einen vortrefflichen Eindruck. Trotzdem herrschte beim Truppenausmarsch gedrückte Stimmung. Nisams und Redifs schauten stumpf­ sinnig ober geradezu mißmutig drein und beachteten kaum die ermunternden Zurufe, die ihnen hier und da von begeisterten „Stambuli" gewidmet wurden. Am Hauptbahnhof Sirkedschi konnte man traurige Szenen beobachten. Türkische Frauen mit ihren Kindern nahmen dort weinend von den ausrückenden Gatten Abschied. Immer wieder hatte man den Eindruck, daß die Musik als belebendes Moment fehlte. Ein bedenkliches Zeichen war auch die Drückebergerei vieler Wehrpflichtigen. Griechen, Armenier und auch Türken versteckten sich, um nicht ins Feld ziehen zu müssen. Da nur ein Teil der Wehrpflichtigen dem Ruf zu den Fahnen freiwillig gefolgt war, unternahmen Polizei und Gen­ darmerie wahre Jagden auf die Drückeberger. In allen Stadtvierteln waren Posten aufgestellt, welche die Passanten mit rotem Fes anhielten und zum Vor­ zeigen des „Osmanieh", der Legitimation jedes Osmanen, zwangen. Stellte es sich heraus, daß der An­ gehaltene ein Wehrpflichtiger war, so wurde er ohne weiteres in die Kaserne geführt, und seine Angehörigen erhielten eine entsprechende Mitteilung. In Galata blühten mehrere Desertionsagenturen, die christlichen Deserteuren bürgerliche Kleidung und gefälschte Pässe zur Abreise verschaffte». Die türkische Polizei hatte davon bald Kenntnis erhalten und überwachte seitdem scharf den Hafen, wo auch viele Flüchtlinge im Augen-

26 -lick der Abreise abgefaßt wurde«. Aber sogar die türkischen Redifs, die so lauge den Ruf unbedingt zu­ verlässigen

Soldatenmaterials

genossen

hatten,

ent­

puppten sich vielfach als unsichere Kantonisten. Wieder­ holt wurde der Hauptstadt das unerfreuliche Schau­ spiel der Verhaftung ganzer Gruppen von fiuchtverdächtigen Redifs auf offener Straße geboten.

Solche

Szenen ließen nichts Gutes ahnen. Scharfen Beobachtern wurde es so schon vor dem Beginn des eigentlichen Krieges offenbar, wie berechtigt das sorgenvolle Zaudern der verantwortlichen Lenker des türkischen Staatsschiffs war.

Vor allem Kiamil

Pascha, der hochbetagte Staatsratspräsident, ein keiner gebeugter Greis mit klug beobachtenden Augen und weißem Rabbinervollbart, — die Seele des Kabinetts, dessen Präsidium der um wenige Jahre jüngere Mar­ schall Gasi Ahmed Muhtar Pascha auf Bitten des Sultans nur übernommen hatte, weil Kiamil seine Zeit im Juli noch nicht für gekommen hielt — hat sich wohl kaum Illusionen hingegeben. Generalissimus

Nastm

Pascha

frischen Optimismus zur Schau.

Der stellvertretende

trug

dagegen

einen

Er rief beim Abschied

ausrückenden Offizieren heiter zu: „Kameraden, vergeßt eure Paradeuniformen nicht! Ihr werdet sie beim Einzug in Sofia brauchen!" Als er sich vor der eigenen Abreise zum Kriegsschauplatz vom Sultan verabschiedete, soll er nach berühmtem Muster das stolze Wort ge­ sprochen haben: „Ich werde als Sieger zurückkehren oder sterben."

Nastm Pascha, ein wohlbeleibter Herr

mit gutmütigen Augen und ewig lächelndem Mund,

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in dem fast nie die Zigarette an langer Spitze fehlte, war wegen seiner jovialen Art bei Offizieren nnd Sol­ daten sehr beliebt. Ein großer Tell des Offizierkorps war ihm in nnbedingtem Vertrauen ergeben. Besonders die Mitglieder -er komiteefeindlichen MUitärliga be­ trachteten ihn als ihren anerkannten Führer. Die jungtürkischen Offiziere dagegen konnten ihm die Rolle, die er beim Sturz der Komiteeherrschaft im Sommer gespielt hatte, nicht verzeihen und zweifelten auch seine von andern gerühmte mllitärische Begabung an. Der Armeebefehl, den Nasim Pascha am Abend des i8. Ok­ tober an das Heer richtete, unterschied sich von dem am gleichen Tage erschienenen Manifest König Ferdinands durch edle Menschlichkeit. Während die christlichen Balkan­ könige an den Fanatismus appellierten und den Krieg als Raffenkampf und Glaubenskrieg hinstellten, machte der türkische Oberbefehlshaber seinen Soldaten Achtung vor allen Andersgläubigen und äußerste Schonung der Nichtkämpfer zur unbedingten Pflicht. Don den übrigen Mitgliedern des Ministeriums Ahmed Muhtar Pascha ist nur Noradunghian Effendi, ein kluger Armenier von kleiner Gestalt, der langjährige juristische Berater des Jildis unter Abdul Hamid, als Minister der auswär­ tigen Angelegenheiten hervorgetreten. Der Großweflr selbst schien keine sehr große Rolle zu spielen. Sein Sohn, der Marineminister General Mahmud Muhtar Pascha, übernahm beim Kriegsausbruch das Kommando des III. Armeekorps. Der Kommandeur der bei Adrianopel und Kirkkilissa aufmarschierten türki­ schen Ostarmee, General Abdullah Pascha, galt für

28 außerordentlich tüchtig, hatte aber im Sommer als Befehlshaber der bei Smyrna gegen einen etwaigen italienischen Angriff konzentrierten Divisionen eine wich­ tige Rolle beim Stvrz Mahmud Schefket Paschas und des Kabinetts Said Pascha gespielt und war den jungtürkischen Offizieren deshalb verhaßt. Die Erinnerung an die Wirren im Juli und August, bei denen sich eine tiefe Spaltung im Offizierkorps offenbart hatte, war noch zu ftisch, als daß selbst die Gefährdung des Vaterlands sie völlig hätte beseitigen können. Wie bedenklich die Stimmung mancher Offi­ ziere war, bewies eine am 26. Oktober im „Sabah" erschienene amtliche Mitteilung folgenden Wortlauts: „Eine amtliche Untersuchung hat ergeben, daß mehrere Offiziere ihre Abreise zu ihren Truppenteilen verzögern. Dieser Zustand schädigt die militärische Disziplin. Die im Artikel 97 des Militärstrafgesetzbuchs vorgesehenen Strafen werden über die Schuldigen und ihre Vor­ gesetzten, die einen solchen Zustand dulden, verhängt werden." In der Nacht vom 17. zum 18. Oktober teilte die Agence Ottomane der Presse mit, die osmanischen Truppen hätten Befehl erhalten, an der bulgarischen und serbischen Grenze die Offensive zu ergreifen. Bald darauf wurden in Konstantinopel die ersten Sieges­ nachrichten verbreitet. Es war den Türken angeblich gelungen, die Bulgaren an drei Stellen der Grenze aus ihren Positionen zu vertreiben und „vier Stunden weit" nach Bulgarien hinein zu verfolgen. Daß die Bulgaren am 18. Oktober bereits Mustapha Pascha bei

29 Adriaaopel besetzt hatten, erfuhren wir in Konstantinopel erst durch die am 23. eingetroffenen europäischen Zei­ tungen. Denn seit der Einstellung des Eisenbahn­ verkehrs kam die Europapost nur noch dreimal wöchent­ lich, Montag, Mittwoch und Freitag mittag, mit dem rumänischen Konstantzadampfer in Konstantinopel an. Auch vom montenegrinischen und serbischen Kriegs­ schauplatz sollten Siegesnachrichten angelangt sein.

Alle

diese Meldungen waren, wie sich bald genug heraus­ stellte, patriotische Erfindungen. Zutreffend war nur die amtliche Mitteilung, daß Warna, der bulgarische Hafen am Schwarzen Meer, seit dem Morgen des 21. Oktober durch osmanische Kriegsschiffe bombardiert wurde. Diese ersten recht harmlosen Operationen der Flotte wurden nach der Untätigkeit, zu der die Flotte sich während des ganzen Tripoliskrieges verdammt sah in Konstan­ tinopel mit stolzer Freude begrüßt. Die erste Meldung über die Kämpfe bei Adrianopel und Kirkkilissa erschien am 23. Oktober in den Konstantinopeler Morgenblättern.

Sie war um Mitternacht

vom Kriegsministerium ausgegeben worden und be­ richtete, die türkischen Streitkräfte an der Maritza seien zur Offensive übergegangen; sie hätten gegen Mittag östlich von der Tundscha starke bulgarische Abteilungen getroffen, und es habe sich eine heftige Schlacht ent­ wickelt, die einen für die türkische Armee günstigen Ver­ lauf nehme. erschienenes

Ein am 23. gegen 6 Uhr nachmittags amtliches

Communiquö

gab

aber

den

Rückzug der Türken, wenn auch optimistisch gefärbt, zu. Es lautete: „Die Ostarmee griff in vier Kolonne» die

30 vorrückenden Bulgaren an, um Zeit zu gewinnen.

Die

Bulgaren wurden gezwungen, den Vormarsch einzu­ stellen. Da der Zweck der Ostarmee erreicht ist, hat sie den Kampf, dessen Resultat ungewiß war, aufgegeben und einen geordneten Rückzug angetreten. Die Auf­ gabe, den Feind hinzuhalten, ist erfüllt worden." Am

Abend

des

23. Oktober

trafen

die ersten

Verwundetentransporte von Adrianopel und KirkkUiffa auf dem Stambuler Hauptbahnhof ein. Es waren tells Kavalleristen von der Reiterdivision Salih Pascha, die beim Aufllärungsdienst verwundet worden waren, tells Nisams und Redifs, die am Nach­ mittag des 22. Oktober im Feuer gestanden hatten. Die Leichtverwundeten wurden sofort zu dritt oder viert in requirierte Fiaker gesetzt und in die verschiedenen Lazarette überführt.

Die Schwerverwundeten brachte

man zunächst in Baracken, welche die Sanitätsverwaltung am Bahnhof hatte aufführen lassen.

Diele Neugierige

umringten die eingetroffenen Verwundeten und ftagten sie eifrig aus. Aber selbst die Offiziere konnten nur höchst unbestimmte Auskunft erteilen. Erst am 24. Oktober begann man in Konstavtinopel die traurige Wahrheit zu ahnen, nachdem am Nachmittag amtlich bekanntgegeben worden war, die osmanische Armee habe „aus strategischen Gründen" die Vertei­ digungslinie bei Adrianopel aufgegeben. Bedenkliche Gerüchte durcheilten die Stadt.

Es hieß, die Türken

hätten eine vollständige Niederlage erlitten.

Man ver­

sicherte sogar, es sei den Bulgaren gelungen, die Be­ satzung von Adrianopel zu überrumpeln und sich der

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Festung durch einen Handstreich zu bemächtigen. Eine klare Vorstellung von dem Verlauf der Kämpfe konnte man sich aber noch nicht machen. Das Oberkommando ließ jur Beruhigung der erregten Bevölkerung am 25. Oktober nochmals amtlich erklären, der Plan des Generalstabs sei gelungen. Der dem Kriegsministerinm nahestehende „Sabah" behauptete sogar, die Operationen bei Kirkklliffa bedeuteten „eine glänzende Bewegung, durch welche die Lage der Ostarmee noch günstiger geworden sei". Wesentlich ernster beurteilte der jung­ türkische „Tanin" die Lage. Dieses von Hussein Dschahid Bej vortrefflich geleitete Blatt, das mit Recht als die beste türkische Tageszeitung gllt, warnte das Publikum vor den glänzenden Schlachtberichten anderer Blätter und gab offen zu, daß für die Türkei nur ein Vertei­ digungskrieg in Frage kommen könne. Seltsamerweise hielten die meisten fremden Militär­ attaches, die bisher übrigens nicht zur Abreise ins Hauptquartier ermächtigt worden waren, die Lage der türkischen Armee am 25. Oktober noch keineswegs für ernstlich gefährdet. Aber am Abend dieses Tages, einige Stunden nach der Abreise Nastm Paschas und des Großen Hauptquartiers zum Kriegsschauplatz, kamen in Stambul mehrere Züge mit Verwundeten und Flüchtlingen aus Kirkkilissa und Umgegend an. Und was diese erzählten, zerstreute die letzten Zweifel an den Nachrichten von einer schweren Niederlage der osmanischen Truppen. Wir erfuhren plötzlich die volle Wahr­ heit über die Katastrophe von Kirkklliffa. Wir hörten, daß ganze Redifbataillone ihre Stellungen fast ohne

32 Schuß aufgegeben hatten, daß Mannschaften und Offi­ ziere sich in kopfloser Flucht zu retten versuchten, daß Kirkkiliffa widerstandslos in die Hände der Bulgaren gefallen war.

Die zahlreich eingetroffenen fremden

Kriegskorrespondenten, die am 23. Oktober abends von Konstantinopel abgefahren, aber schon in Tschorl« liegen geblieben waren, bestätigten bald in geheimen, der MUitärzensur entgangenen Berichten an die Konstantinopeler Vertreter ihrer Zeitungen die Katastrophe, die in solchem Umfang auch von den größten Pessimisten nicht erwartet worden war. Die türkische Regierung hielt es für erforderlich, den Unglücksnachrichten, die das Volk bedenflich zu erregen

begannen,

zusetzen.

neue

Siegesmeldungen entgegen­

Da aber solche Meldungen nicht vorlagen,

mußte man sie erfinden. So entstanden Nachrichten, die auch von einigen fremden Korrespondenten ernst genommen wurden und im Ausland viel Kopffchütteln erregten.

Am Redattiovsgebävde der liberalen „Jeni

Gaseta" war am Nachmittag des 26. Ottober folgender Anschlag zu lesen: „Kirkkiliffa ist in unserer Hand. Die Ostarmee hat nach ihrer völligen Konzentrierung die Bulgaren von Osten und Westen in heftigster Weise angegriffen und zum Rückzug gezwungen und so die Umgegend von Kirkkiliffa vom Feinde gesäubert.

Bei

dieser Operation ist ein Teil der bulgarischen Truppen in eine bedenfliche Lage geraten." Ähnliches berichteten andere

türkische

Zeitungen

und

warnten

das

Volk

zugleich vor angeblichen griechischen und bulgarischen Spionen, die in Stambul die Nachricht von einer Nieder-

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läge verbreiten sollten, um die öffentliche Meinung zu vergiften. Ein Blatt schloß seine Warnung mit dem orientalischen Fluch: „Gott möge die Augen solcher Lügner mit Blindheit schlagen." Die Kämpfe im unmittelbaren Umkreis von Adriauopel wurden in Konstantinopel gleichfalls als türkische Siege dargestellt. Es fiel den Zeitungsleseru, welche die Meldungen mit der Karte in der Hand zu bevrtellen pflegten, nur auf, daß diese „Siege", allen Berstcherangen vom Rückzug der Bulgaren zum Trotz, immer näher und näher bei der Festung selbst erfochten wurden. Am 26. Oktober endlich wurde in Konstantiuopel bekannt gemacht, daß das Armeekorps von Adrianopel sich in die Festung zurückgezogen habe, da „die Ostarmee nach Vollendung ihrer Konzentrierung seines Beistands nicht mehr bedürfe". Der „Jkdam" berichtete, die Besatzung von Adrianopel sei am 25. „nach Besiegung des Feindes" unter den Klängen des Marsches „Hei Gafilar!" (,,O ihr Helden!") in die Festung einmarschiert. Erst Ende Oftober wurde in Konstanitnopel bekannt, daß Adrian nopel seit dem 28. Oktober völlig eingeschlossen war. Am Sonntag, 27. Ottober, waren spät abends noch drei Züge mit Flüchtlingen und Verwundeten von Adrianopel abgegangen. Zwei von ihnen gelangten glücklich nach Konstantinopel. Den dritten fing bul­ garische Kavallerie am Morgen des 28. auf der Station Alapolu, zwischen Baba-Eski und LüleBvrgas, ab. Die fuukentelegraphische Verbindung zwischen Adrianopel und Konstantiuopel konnte auf­ rechterhalten werden. Es ist den Bulgaren während Feldman n , Kriegslage.

3

34

der ganzen Dauer der Belagerung nicht gelungen, sie zu stören. Am Nachmittag des 26. Oktober fand im Sultan­ schloß Dolma-Bagdsche ein Großwürdenträgerrat zur Besprechung der Lage statt. KiamU Pascha, der gegen den Krieg gewesen war, riet dringend zu raschem Frieden. Oie Mehrzahl der Anwesenden pflichtete ihm bei. Man legte dem Großwesir nahe, zugunsten KiamU Paschas zurückzutreten und diesem die Einleitung von Friedens­ verhandlungen zu überlassen. Man rechnete darauf, daß besonders England KiamU Pascha, seinen alten Schützling, unterstützen «erde. Bei dem Haß der Jungtürken gegen KiamU schienen besondere Vorsichtsmaß­ regeln erforderlich, um Unruhen beim Kabiuettswechsel zu verhüten. Deshalb wurde am 28. Oktober der Belagerungszustand über Koustantinopel verschärft. Das Betreten der Straße nach 10 Uhr abends wurde streng verboten. Nur einer beschräntten Zahl von Journalisten wurden Passierscheine für den nächtlichen Straßen­ verkehr ausgehändigt. Am zo. Oktober vormittags wurde Marschall Gast Ahmed Mnhtar Pascha vom Sultan zur offiziellen Überreichung seiner Demission empfangen. Am Nachmittag wurde KiamU Pascha im Palais vom Sultan zum Großwestr ernannt. Er fuhr nach 4 Uhr, von Lauzenreitern geleitet, über die Neue Brücke nach Stambul zur feierlichen Investitur auf der Hohen Pforte, und dieselbe Menge, die ihn nach seinem letzten Sturz ausgepfiffen hatte, jubelte ihm jetzt zu. In dem Handschreiben, in dem der Sultan dem neuen Großwestr seine Ernennung mitteilte, hieß es: „Ich

35 erwarte, daß Sie die Ordnung in Unserem Heer «ad seinen Sieg sichern und die erforderlichen Maßregeln jur Wahrung der Rechte Unseres Reiches bei diesen Kriegszeiten in jeder Weise treffen. Das erwarte Ich von Ihren raschen patriotischen Bemühungen." Die endgültige Bildung des neuen Kabinetts wurde am 30. Oktober bekannt. Noradunghian Effendi blieb Minister der auswärtigen Angelegenheiten und Nasim Pascha Kriegsminister. Die übrigen Minister sind nur wenig hervorgetreten. Nasim Pascha hatte — so wurde offijiell versichert — am 27. Oktober folgendes Telegramm an die Regierung gerichtet: „£>ie bulgarische Armee ist durch die Schlacht die am 22. Oktober nördlich von Kirkkiliffa stattfand, derartig mitgenommen, daß sie sich noch nicht zu reor­ ganisieren und den Vormarsch anzutreten vermochte. Die kaiserliche Ostarmee hat sich verstärkt und reorgani­ siert und erwartet mit Vertrauen eine große Schlacht." Am Nachmittag des 29. Oktober wurde in Konstantinopel amtlich bekanntgegeben, daß die Ostarmee seit Mittag im Kampf mit dem Feinde stehe. Sie zeige — so hieß es in dem amtlichen Communiqus — Mut und große Widerstandskraft, ein Beweis, daß eia ausge­ zeichneter Geist die Truppen erfülle. Die Direttion der Orientbahn erhielt am 29. nachmittags von ihrem Stationschef in Lüle-Durgas ein weniger optimistisches Telegramm, das lakonisch meldete: „Bulgares amvent.“ Am Abend des gleichen Tages meldete der Kriegs­ korrespondent der Agence Ottomane aus Tscherkeßköj, einer Bahnstation zwischen Lüle-Burgas und Tschatal3*

36 dscha, das Armeekorps Mahmud Muhtar Paschas habe den Feind in einer Schlacht, die vom Vormittag bis zum Einbruch der Nacht dauerte, zurückgeworfen und ihm schwere Verluste beigebracht. Am 30. nachmittags wurde ein Telegramm des Generalissimus bekannt­ gegeben, in dem es hieß: „Der gestrige Offensivvorstoß bei Wisa hat dank dem Beistand Gottes mit einem großen Sieg unserer Waffen geendet." Die Nachricht erregte unter den Türken große Freude. Der Sultan telegraphierte, wie abends bekannt wurde, an Nasim Pascha: „Ihre beiden Telegramme, die Mir die Erfolge Unserer Truppen meldeten, haben Mich sehr erfreut. Ich beglückwünsche Sie sowie allen höheren und son­ stigen Offiziere und Meine Soldaten und entbiete Euch allen Meinen Gruß. Ich bete zu Gott, daß er Euch in beiden Welten seine Hilfe und den Beistand des Pro­ pheten gewähre.

Ich erwarte weitere Siege von Eurer

Tapferkeit." Leider hielt die Siegesfreude nicht lange an.

Am

zi. Oktober abends wurde eine weitere amtliche Meldung des Generalissimus veröffentlicht, nach der die Schlacht fortdauerte. „Die Aussichten auf Erfolg sind 90 zu 100 zugunsten der osmanischen Armee." So hatte Nasim Pascha angeblich mit einer bei den Türken sehr beliebten Ausdrucksweise

telegraphiert.

Eine

weitere

nachts

eingetroffene Meldung, die am 1. November morgens ausgegeben

wurde,

präzisierte:

„Auf

dem

rechten

Flügel (Wisa) ist der Feind zurückgeworfen. Auf dem linken Flügel (Lüle-Burgas) leisten unsere Truppen tapferen

Widerstand."

Aber

nach

allen

amtlichen

37 Meldungen dauerte die Schlacht fort. Man erwartete in Konstantinopel den Ausgang mit ungeheurer Span­ nung, die optimistischen Türken voll freudiger Hoffnung, die Fremden eher mit pessimistischer Vorahnung. Die türkischen Zeitungen waren voll von nichtamtlichen Siegesmeldungen. Der rechte Flügel der osmanischev Armee sollte bis in die Gegend von Kirkkiltssa vorge­ drungen sein. Der linke Flügel hatte die Bulgaren angeblich über Lüle-Burgas hinaus jurückgeworfen. Aber in einer dieser Depeschen fand sich die seltsame Stelle: „Die Ostarmee kämpft unter Führung Abdullah Paschas heldenhaft. Bitte Gerüchten kein Ohr zu leihen." Wie kam der türkische Kriegskorrespondent in Tscherkeßköj auf den Gedanken, daß in Konstantinopel schlimme Gerüchte über den Verlauf der Schlacht ver­ breitet sein könnten? Eine solche Befürchtung mußte den naivsten Leser stutzig machen. Tatsächlich wußte man in Konstantinopel am zo. Oktober bereits, daß die neue Schlacht wenig ver­ heißungsvoll für die Türken begonnen hatte. Trotz der Siegesmeldungen, die am i. und 2. November noch an den Redaktionen der türkischen Zeitungen in Stambul öffentlich angeschlagen wurden, zweifelte in Pera am Abend des 2. November niemand mehr daran, daß die fünftägige Schlacht mit einer entscheidenden Niederlage der Türken geendet habe. Am Tage darauf wurde bekannt, daß der Minister der auswärtigen Angelegen­ heiten nach einer Besprechung mit den Botschaftern Englands, Frankreichs und Rußlands die Mächte im Namen der Pforte ersucht hatte, zur Einstellung der

38 Feindseligkeiten und Einleitung von Friedensverhandlungen ju vermitteln. Der Regierung harrte nun noch die unangenehme Aufgabe, das Volk von dem neuen Unglück zu unter­ richten. Zu diesem Zweck wurde auf der Hohen Pforte ein CommuniquL aufgesetzt, das am 3. November spät abends den Redaktionen zuging und am anderen Morgen in den Zeitungen erschien.

Dieses geschichtliche

Dokument hatte folgenden Wortlaut: „Das Kriegs­ glück ist schwankend, und es ist nicht immer möglich, überall zu siegen. Eine Nation, die sich im Kriege befindet, hat die Pflicht, alle Wendungen mit Festigkeit zu tragen.

Darum ist weder Jubel über errungene

Siege noch Verzweiflung oder Aufregung über Miß­ erfolge am Platz. So haben unsere Soldaten sich in diesem Kriege mit den vier Balkanstaaten bei Skutari und Janina mit Erfolg verteidigt.

Aber die bei Wisa

und Lüle-Burgas stehende Ostarmee hielt es im Interesse einer erfolgreichen Verteidigung für geboten, die Ver­ teidigungslinie nach Tschataldscha zu verlegen. Es ist natürlich beschlossen worden, die Interessen des Vater­ landes bis zum Äußerste» zu verteidigen." So erfuhr die Bevölkerung von Konstantinopel, daß der Feind sich der Hauptstadt bis auf 50 km ge­ nähert hatte.

III.

Die Schrecken des Rrieges. Dolkserregnng in Stambul. — Verwundete und Flüchtlinge. — Abdul Hamids Rückkehr. — Massakerfurcht. — Eintreffen fremder Kriegsschiffe. — Der „heilige Krieg". — Die Cholera.

Wie groß die Erregung des Volkes in Stambul war, hatte sich bereits am Abend des 28. Oktober gezeigt. Ein kleines Abendblatt hatte nachmittags in einer Extraausgabe die Ankunft von 10 000 gefangenen Bul­ garen angekündigt. Das veranlaßte eine nach Tausenden zählende Menge, sich am Sirkedschibahnhof einzufinden. Die Gefangenen blieben aber aus. Statt dessen trafen große Massen von Verwundeten ein. Die Menge wartete geduldig bis in die Nacht hinein. Die Ent­ täuschung war schließlich groß. Zornige Rufe wurden laut, und die sonst so ruhigen Moslims begannen in bedenkliche Aufregung zu geraten. Die Polizei erhielt deshalb gegen 10 Uhr abends Befehl, die Menge zu zerstreuen. Erst als die Polizisten zu Pferde in die Menge hineinritten, zogen die Leute sich langsam zurück. Die Berichte der fortgesetzt in Konstantinopel ein­ treffenden Verwundeten und Flüchtlinge steigerten die

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Dolkserreguvg ungeheuer. Alle vom Kriegsschauplatz ankommenden Eisenbahvjüge wäre» überfüllt mit Ver­ wundeten und mit flüchtigen Bewohnern der vom Feinde besetzten Städte und Dörfer. Sogar die Dächer der Eisenbahnwagen waren mit solchen Passagieren belegt. Die Straßen twischen Konstantinopel und Tschataldscha waren voll von flüchtenden Landbewohnern, die mit Weib und Kind und Vieh, ihre sonstige spärliche Habe auf knarrenden Büffelwagen mit sich führend, der Hauptstadt zuströmten. Unter sie hatten sich auch flüch­ tige Soldaten gemischt, die scharenweise so in Konsiantinopel eintrafen. Die Schrecken des Krieges wurden den Bewohnern von Stambul durch die SchUderungen der Flüchtlinge in ihrer ganzen furchtbaren Wahrheit be­ kannt. Schon allein der Anblick dieser Unglücklichen, der Verwundete«, deren Wunden bei der Ankunft in Kon­ stantinopel manchmal nur mit unsauberen Lappen umwickelt waren, der halb verhungerten Ausreißer in ihren zerfetzten Mänteln und beschmutzten Uniformen, der vor Angst halb sinnlosen, durch Hunger entkräfteten Landbewohner, die zum TeU seit zehn Tage» mit ihren Büffelwagen unterwegs waren, ließ herzzerreißendes Elend ahnen. In diesen trüben Tagen kehrte auch der abgesetzte Sultan Abdul Hamid als Flüchtling nach Konstantinopel zurück. Seine Überführung von Salonik nach der Hauptstadt war bereits Anfang Oktober beschlossen worden. Die Ereignisse hatten sich dann überstürzt, und ehe der Beschluß ausgeführt war, hatten die Bul­ garen die Eisenbahnverbindung Konstantinopel-Salonik

41 unterbrochen. Auf einem osmanischen Schiff konnte der Exsultan unmöglich nach der Hauptstadt überführt werden, da die griechische Flotte vor den Dardanellen kreuzte. Elle tat aber Not, denn Griechen und Bulgaren näherten sich Salonik unheimlich schnell. In dieser schwierigen Lage wandte die osmaaische Regierung sich an die devtsche Botschaft mit der Bitte um Rat, und Deutschland stellte de» Stationär „Loreley" für die Fahrt Abdul Hamids zur Verfügung. Am 26. Oktober ver­ ließ die „Loreley" den Hafen von Konstantinopel. Am nächsten Morgen veröffentlichte der „Osmanische Lloyd" eine Notiz, nach welcher der Stationär „behufs Ver­ wendung des von der Rettungsaktion des deutschen Roten Kreuzes bei dem letzten Erdbeben übrig ge­ bliebenen Verbandsmaterials" ins Marmarameer ab­ gegangen war. Diese von der Botschaft stammende Notiz sollte den wahren Zweck der Reise des Stationärs verhülle». Sie war aber so seltsam abgefaßt, daß sie im GegenteU zu allerlei Gerede über die Fahrt der „Loreley" Anlaß gab. Das wahre Motiv der Reise wurde denn auch bald genug bekannt. Am 31. Oktober verließ die „Loreley" mit Abdul Hamid an Bord Salonik. Am 2. November früh 4 Uhr traf der Exsultan in Kon­ stantinopel ein. Der Unterrichtsminister Damad Scherif Pascha und der Justizminister Damad Arif Hikmet Pascha, ein Schwiegersohn des Sultans, hatten sich auf dem deutschen Schiff nach Salonik begeben, um Abdul Hamid nach der Hauptstadt zu geleiten. In der Be­ gleitung des Exsultans befanden sich seine beiden Haupt­ frauen oder Kabinen und zehn Nebenfrauen und Diene-

42 rinnen, ferner sein siebenjähriger Sohn Mehmed Ali, vier Offiziere, die Abdul Hamid in der Villa Allatini überwacht hatten, drei Eunuchen, zwei Diener und zwei Köche. Sofort nach der Ankunft in Konstantinopel wurde Abdul Hamid in das Schloß von Bejlerbej am Bosporus gebracht. In Per« hatte man bisher vom Kriege fast gar nichts gespürt. Griechen und Armenier taten zumeist, als gehe der Krieg sie nichts an. Einige äußerten, wenn sie sich vor türkischen Beobachtern sicher fühlten, offene Freude über die Erfolge des Balkanbundes. Die meisten legten unendliche Gleichgültigkeit an den Tag, als wollten sie aller Welt zeigen, daß sie die Türkei nicht als ihr Vaterland betrachten. Das Leben der fremden Bevölkerung wurde durch den Krieg kaum berührt. In den Cafös und Restaurants von Pera herrschte das übliche bunte Treiben. In den Dergnügungslokalen ging es, wie immer, hoch her. Kinotheater und Tingel­ tangel waren überfüllt. Die Nachtlokale litten aller­ dings unter dem Belagerungszustand, der sie zwang, schon um i Uhr früh zu schließen. Für Pera war der Nachtverkehr nämlich am zweiten Tage nach der Proklamierung des verschärften Belagerungszustandes bis i Uhr freigegeben worden. Für die übrigen Teile der Hauptstadt blieb das Verbot des Betretens der Straßen nach io Uhr abends bestehen. Im Straßen­ leben von Pera deutete nichts auf die Nähe eines ge­ waltigen Krieges hin. Nur der Mangel an Droschken, eine Folge der Requirierung aller tauglichen Pferde, machte sich unangenehm bemerkbar. Der Pferdebahn-

43

verkehr war ganz eingestellt. In den Abendstunden besonders war oft in ganz Pera kein Wagen jv haben, da alle Droschken für den Transport der Verwundeten vom Bahnhof in die verschiedenen Lazarette requiriert waren. An der Wende von Oktober und November wurden die Peroten, wie die Bewohner der Dorstadt Pera von den Türken und Türkinnen, die Pierre Loti lesen, gern verächtlich genannt werden, aus ihrer friedlichen Ruhe aufgeschreckt. Das Gespenst der Massakerfurcht, das den Levantinern bei jeder schweren Erschütterung des Osmanischen Reiches zu erscheinen pflegt, begann wieder einmal in Pera umzugehen. Und Levantiner wie Fremde wurden plötzlich von sinnloser Angst ergriffen. Wann, wie, wo das törichte Gerücht von der angeb­ lichen Massakergefahr zuerst aufgetaucht ist, wird nie festgestellt werden könne». In den letzten Oktobertagen war es auf einmal da. Man erzählte sich in Pera schreckensbleich, tausend kurdische Hamale (Lastträger) hätten vor dem Kriegsministerium manifestiert und Waffen zur Abschlachtung der Christen verlangt. In der Aja Sophia sollte eine Versammlung von Fanatikern die Veranstaltung eines Massakers beschlossen haben. Mehrere Sofias waren angeblich verhaftet worden, weil sie die muselmanische Bevölkerung gegen die Christen aufhetzten. Man versicherte, einige Offiziere hätten ihren Soldaten erklärt, es sei zwecklos, weiterzukämpfen, da die Regierung das Land den Christen verkauft habe; die Schuldigen seien gefesselt in Stambul eingebracht worden.

44 Alle diese Gerüchte, mochte» sie auch noch so un­ wahrscheinlich klingen, wurde» in Per« geglaubt.

Die

Augst nahm noch zu, als am i. November bekannt wurde, daß die Botschafter am Abend vorher eine ge­ meinsame Beratung bei dem österreichisch-ungarische» Botschafter als Doyen des diplomatischen Korps ab­ gehalten hatte», um sich über die erforderlichen Maß­ regeln zum Schutz der Ausländer zu verständigen. Man erfuhr den» auch bald, daß die Entsendung von je zwei Kriegsschiffen der Großmächte »ach Koastantinopel im Einverständnis mit der Pforte beschlossen worden war. Die osmanische Regierung ihrerseits ließ es an eigenen Maßregeln zur Aufrechterhaltung der Ordnung nicht fehlen.

Die Patrouillen, die seit der Proklamiervug des

Belagerungszustandes

unausgesetzt die

Straßen

der

Hauptstadt durchzogen und nach dem Ausmarsch aller verfügbaren Truppen von Feuerwehr und Kriegsschule gestellt wurden, waren verstärkt worden. Die Zeitungen ermahnten in offenbar inspirierten Auslassungen das Volk, ruhig zu bleiben.

Die Stimmung in Pera war

aber so, daß jede Maßnahme zur Verhütung von even­ tuellen Unruhen als Beweis für das Bestehen einer tat­ sächlichen Massakergefahr betrachtet wurde.

Die Angst

erreichte am Montag, 4. November, ihren Höhepunkt und artete in eine wirkliche Panik aus.

Ein Teil der

österreichisch-ungarischen Kolonie hatte sich, angeblich auf Rat der Botschaft, an Bord des Lloyddampfers „Salz­ burg" begeben. Viele Europäer hatten Konstantinopel in aller Hast mit dem rumänischen Posidampfer verMehrere fremde Schulen waren geschlossen lasien.

45

worden. Die Straßen von Pera waren in diesen Tagen abends wie ausgestorben. Am 4. November wurden viele Geschäfte zu ungewöhnlich früher Zeit geschlossen. Die perotischen Restaurants waren am Abend dieses Montags fast völlig leer. In einem Lokal, in dem ich selbst zu Abend aß, waren die griechischen Kellner ganz verstört vor Furcht. Den wenigen Gästen merkte man die Angst deutlich an. Gegen y29 Uhr fiel ein Kanonen­ schuß, well irgendwo Feuer ausgebrochen war. Drei junge Franzosen an einem benachbarten Tisch meinten, das sei das Signal für das gefürchtete Massaker, und verließen schreckensbleich das Lokal. Die anderen Gäste folgten ihrem Beispiel. Schließlich blieben nur die zitternden Kellner in dem Restaurant zurück. Am nächsten Morgen erschien im „Osmanischen Lloyd" unter der Spitzmarke „Ruhig Blut!" ein Artikel, der ausdrücklich als vom deutschen Botschafter veranlaßt bezeichnet wurde. Die deutsche Kolonie wurde darin vor den Gerüchten von möglichen Ausschreitungen der mohammedanischen Bevölkerung gewarnt. Es wurde weiter betont, die Stellung der osmanischen Armee bei Tschataldscha sei unerschüttert. Die Autorität der türkischen Regierung sei zur Aufrechterhaltung der Ord­ nung völlig ausreichend. Übrigens biete die bevor­ stehende Ankunft der fremden Kriegsschiffe eine weitere Gewähr für die Sicherheit der Fremden. Diese beruhigende Erklärung wurde in türkischen Regierungskreisen dankbar begrüßt. Überhaupt wurde das Verhalten des deutschen Botschafters warm anerkannt. Während andere Diplo­ maten die Massakerfurcht ihrer Kolonien durch unan-

46 gebrachte Warnungen noch erhöhten, während gewisse diplomatische Missionen in aller Elle schwere Schutzgitter vor ihren Häusern anbringen ließen, um ihren Bezirk in Verteidigungszustand zu setzen, sah man Gemahlin und Tochter des Freiherrn v. Wangenheim im offenen Wagen durch die Straßen der Hauptstadt fahren.

Die

gesamte deutsche Kolonie bewies in den Tagen der Massakerfurcht kühle Ruhe. Die deutsche Schule wurde an keinem Tag geschlossen.

Tatsächlich hat, das darf

man wohl mit Bestimmtheit versichern, eine ernste Massakergefahr nie bestanden. In Stambul herrschte stille Trauer und unverhohlene Angst vor dem Kommen der Bulgaren. Ich kenne türkische Famllien, die sich zu europäischen Freunden nach Pera geflüchtet haben, um dort Schutz zu finden. Viele Türken flohen damals von Stambul nach Asien. Man fürchtete in Stambul auch mindestens ebensosehr wie in Pera die eventuelle Rückkehr des

fliehenden,

demoralisierte»

Heeres.

Und diese

Sorge hatte in der Tat eine gewisse Berechtigung. Sie war der Hauptgrund für die Entsendung der fremden Kriegsschiffe nach Konstantinopel. Am 5. November,

nachmittags 4 Uhr, traf der

englische Kreuzer „Weymouth" als erstes der Kriegs­ schiffe vor der türkischen Hauptstadt ein. Am 7. folgten der deutsche Kreuzer „Dineta",

der russische Kreuzer

„Kagul" und der französische Kreuzer „Lson Gambetta", am 9. der Österreicher „Aspern" und der Italiener „Emmanuele FUiberto". In den nächsten Tagen kamen noch neu» fremde Kriegsschiffe im Hafen von Konstan­ tinopel an, nämlich der Franzose „Victor-Hugo", der

47 Engländer „Hampshire", der Russe „Rostislaff", der Italiener „Coatit", der Österreicher „Admiral Spann", der Rumäne „Regina Elisabetha", der Holländer „Gelder­ land", der Spanier „Reyna Regente" und zuletzt, am Abend des 15. November, der deutsche DreadnoughtKreuzer „Soeben", entschieden das imposanteste der vor Konstantinopel versammelten fremden Kriegsschiffe. Die ausländischen Matrosen und neben ihnen die Mitglieder der zahlreich eingetroffenen fremden Misfionen vom Roten Kreuz bildeten im Straßenleben von Per« eine neue sympathische Erscheinung und wurden rasch populär. Die vergleichende Beobachtung fiel im allgemeinen zu­ gunsten der deutschen Seeleute aus, die sich durch kor­ rekte Haltung und musterhafte Bekleidung vor den meisten übrigen Matrosen auszeichneten. Leider war das Benehmen der fremden Seeleute nicht immer ein­ wandfrei. Die russischen Matrosen besonders erregten durch freche Belästigung türkischer Frauen wiederholt peinliches Aussehen. Zwischen Deutschen und Fran­ zosen kam es im Hafenviertel mehrmals zu Schlägereien. Das Eintreffen des ersten fremden Kriegsschiffs am 5. November machte der Panikstimmung in Pera plötz­ lich ein Ende. Die an Bord der „Salzburg" geflüchteten Österreicher kehrten etwas beschämt an Land zurück. Restaurants und Dergnügungslokale nahmen wieder ihr gewöhnliches Aussehen an. Die Regierung hatte gerade in diesem Augenblick durch die Agence Ottomane bekanntmachen lassen, daß sie die Mächte ersucht habe, zur Herbeiführung des Friedens zu vermitteln, und daß bereits ein reger Meinungsaustausch unter den Kabi-

48 netten begonnen habe.

Es schien einen Augenblick, als

könne man mit einem nahen Frieden rechnen. Hoffnung wurde allerdings schnell zerstört.

Diese

Am 6. No­

vember traf aus dem Hauptquartier Nasim Paschas der Stabschef Mahmud Pascha in Konstantinopel ein. Er war angeblich vom Generalissimus beauftragt, der Regierung mitzutellen, daß die Armee um jeden Preis die Fortsetzung des Krieges wünsche.

Man flüsterte sich

sogar zu, der General habe für den Fall der Einleitung unwürdiger Friedensverhandlungen damit gedroht, daß die Armee nach Konstantinopel marschieren und mit der Regierung abrechnen «erde. Tatsächlich fand nach der Ankunft Mahmud Paschas am Nachmittag des 6. No­ vember ein großer Kriegsrat statt, an dem alle in Kon­ stantinopel anwesenden Marschälle und Generale, etwa dreißig an Zahl, tellnahmen.

Der Kriegsrat beschloß

nach ernster Beratung die Fortsetzung des

Krieges.

Nach dem Kriegsrat fand ein entscheidender Ministerrat statt, der bis nach Mitternacht andauerte. Die Minister faßten auf Grund des Gutachtens der Marschälle und Generale den Beschluß, das Dermittlungsgesuch der Pforte zurückzuziehen.

Es scheint, daß es in diesem

Ministerrat ziemlich stürmisch zugegangen ist. Einige Minister sollen Kiamil Pascha und Noradunghian Effendi Vorwürfe gemacht haben, well sie selbständig das Dermittlungsgesuch an die Großmächte gerichtet hatten. Auch die Genehmigung der Einfahrt von je zwei Kreuzern der Großmächte wurde angeblich von einem TeU der Minister scharf getadelt. Am Vormittag des 7. November erschienen die

49

Botschafter auf der Hohen Pforte, wo der Minister der auswärtigen Angelegenheiten ihnen eröffnete, die Fort­ setzung des Krieges sei vom Kriegsrat beschlossen worden und die Vermittlung sei daher nicht mehr erwünscht. Der Minister begründete den überraschenden Gesinnungsumschwung mit einer Darstellung der militärischen Lage. Er erklärte weiter, die Regierung bedaure die völlig unbegründete Furcht der Fremden vor einem Massaker. Nach dem Empfang auf der Pforte ver­ sammelten die Botschafter sich in der österreichischungarischen Botschaft, um gemeinsam die neue Lage j« besprechen. Man hielt die türkische Armee für völlig demoralisiert und glaubte, daß es den Bulgaren leicht fallen werde, die Tschataldschalinien zu durchbrechen. Die Gefahr des Rückfiutens der geschlagenen Armee auf Konstantinopel und des Erscheinens der Bulgaren in der türkischen Hauptstadt mußte ernst ins Auge gefaßt werden. Die Botschafter beschlossen, im Notfall Marine­ mannschaften zu landen und die Zugänge »ach Pera besetzen zu lassen. Es wurden ferner Zufluchtsorte für die einzelnen Kolonien bestimmt. Für die deutsche Kolonie waren die Botschaft, das Generalkonsulat und das Klubhaus „Teutonia" dafür ausersehen. Ein Dampfer der Deutschen Levantelinie lag zur Aufnahme von flüchtigen Deutschen bereit. Die Nachricht von Unstimmigkeiten im Ministerrat veranlaßte Gerüchte von einem bevorstehenden Regie­ rungswechsel, die durch eine Berufung des Generals Mahmud Schefket Pascha zum Sultan am 8. November Nahrung erhielten. Die einen versicherten, Mahmud Selfcm an n, TtricgStoge.

4

50 Schefket Pascha sei zum Generalissimus ausersehen. Die andern behaupteten sogar, er werde zum Großwesir er­ nannt werden. Es scheint, daß Kiamll Paschas Stellung tatsächlich einen Augenblick erschüttert war. Aber der prophezeite RLgimewechsel blieb aus, und es zeigte sich rasch, daß der Großwesir entschlossen war, sich seiner Widersacher zu entledigen. Zunächst galt es, den üble« Eindruck, den das Dermittlungsgesuch der Pforte gemacht hatte, zu verwischen und de» kriegerischen Geist neu zu beleben. Diesem Zweck diente offenbar die am 8. Novem­ ber erfolgte Veröffentlichung der Absetzung des Ober­ fehlshabers der Ostarmee Abdullah Pascha. Die türkischen Morgenblätter vom 8. November riefen das Volk in leidenschaftliche« Artikel« zum Kriege auf. Die der Regierung nahestehende „geni Gaseta" appellierte ge­ radezu an den mohammedanische« Fanatismus und proklamierte beinahe den „Helligen Krieg". Sie schrieb, das Volk dürfe nicht dulde«, daß der Feind den Sitz des Kalifats, die Stätte, wo die alte« Heldeusultane ruhen, mit unreine« Füße« entweihend betrete. Wer gesunde Arme habe, solle unter die Fahnen ellen oder wenigstens durch Betelligung bei den Provianttrans­ porten für die Truppen oder mit der Schaufel in der Hand bei der Herstellung «euer Verteidigungslinien dem Vaterland dienen. Die übrigen türkischen Zeitungen drückte« sich ähnlich aus. Der gleichfalls liberale „Sabah" warf Europa in bitteren Worte« Ungerechtigkeit vor und erklätte, die Türkei könne ihr Recht nur durch das Schwett schützen. Der jungtürkische „Tanin" ver­ sicherte stolz, die Großmächte irrten, wenn sie die Kraft

51

der Türkei schon erschöpft glaubten. Noch sei Tschataldscha da. Diese flammenden Aufrufe zum Krieg für den Islam erregten unter den Fremden neue Beunruhigung. Diese wurde noch gesteigert, als am Nachmittag des 8. November der liberale „Alemdar" ein Rundschreiben des Scheich-ül-Jflamats veröffentlichte, das die Tendenz der Stempelung des Krieges zum Glaubenskrieg zu bestätigen schien. Das Rundschreiben, das an die ge­ samte mohammedanische Geistlichkeit gerichtet war, lautete: „Die uns umgebenden Feinde lassen zur Er­ mutigung ihrer Soldaten Geistliche mit dem Kreuz durch die Reihen ihres Heeres schreiten. Wir Ulemas müssen die gleiche Pflicht erfüllen, auf daß der von Gott versprochene Sieg möglichst rasch unseren Heeren zuteil werde. Die ehrwürdigen Ulemas müssen den Krieg gleicherweise als heiligen Krieg (Dschihad) betrachten. Wir müssen diese Pflicht erfüllen, um die moralische Kraft jedes einzelnen türkischen Soldaten noch zu steigern. Daher werden alle Ulemas, die über entsprechende Körperkraft verfügen, aufgefordert, sich auf dem Scheichül-Jslamat einzufinden, damit die Auswahl geeigneter Ulemas vorgenommen werden kann." Obgleich sprachkundige Leute versicherten, das Wort „Dschihad" bedeute keineswegs nur „Heiliger Krieg" im Sinne von Glaubenskrieg, sondern sei überhaupt ein Ausdruck für „Krieg" in der dichterisch gehobenen Sprache, erregte das Rundschreiben des Scheich-ül-Jflamats ernste Bedenken, auf welche die Pforte auch durch einzelne Botschafter aufmerksam gemacht wurde. Diese Bedenken 4*

52 veranlaßten den Großwesir zu äußerst scharfem Vorgehen gegen die Presse.

Mehrere Zeitungen, darunter der

„Tanin", die „Jeni Gaseta", der „Jeni Jol" und das jungtürkische

Abendblatt

„Terdschuman

wurden für unbestimmte Zeit suspendiert.

i

Hakikat",

Zwei andere

Blätter, „Sabah" und „Hilal i Osmavi", wurden für zehn Tage verboten.

Allen diesen Blättern wurde das

Weitererscheinen unter anderem Titel untersagt, so daß von den bekannten türkischen Zeitungen der Hauptstadt eine Zeitlang nur noch ein Morgenblatt, der liberale „Jkdam", und ein Abendblatt, der liberale „Alemdar", erschienen.

Das Ministerium des Innern veröffent­

lichte gleichzeitig einen längeren Aufruf an die Bevöl­ kerung, in dem betont wurde, daß der Feind beinahe vor den Toren der Hauptstadt stehe.

Obgleich die Wahr­

scheinlichkeit eines Mißerfolges der Türken kaum io zu ioo betrage, habe die Regierung es für erforderlich gehalten, Maßregeln für die Sicherheit der Hauptstadt zu treffen. Jeder Einwohner solle ruhig seinen Geschäften nachgehen

und

sich störender Handlungen enthalten.

Die Regierung bestrebungen nicht dulden. anlaßt,

könne die Verfolgung von

oder

die

Verbreitung falscher

Sonder­ Gerüchte

Solche Gerüchte hätten die Mächte ver­

Kriegsschiffe

nach

Konstantinopel

zu

senden.

Jede Beunruhigung der öffentlichen Meinung sei gleich­ bedeutend mit Landesverrat.

Die Regierung sei ent­

schlossen, gegen jeden Versuch einer Ruhestörung energisch vorzugehen, was zur Kenntnis des Publikums und besonders der Presse gebracht werde.

Das Scheich-ül-

Jslamat warnte seinerseits vor den falschen Gerüchten,

53 zu denen die Entsendung von hundert Predigern zur Armee Anlaß gegeben habe, und mahnte gleichfalls zur Ruhe. So war auf diesen Versuch, die Kriegsbegeisterung durch einen Appell an die religiösen Gefühle neu zu beleben, gleich wieder verzichtet worden. Und doch tat eine besondere Stärkung des Mutes gerade jetzt bitter not.

Die Bulgaren hatten allerdings bei der eigenen

großen

Erschöpfung

eine

energische

Türken nicht durchführen können.

Verfolgung

der

Aber ein anderer

erbarmungsloser Feind erwartete das osmanische Heer bei Tschataldscha. Die Cholera war von anatolischen Reservetruppen aus Asien eingeschleppt worden und forderte bald mehr Opfer, als die Schlachten gefordert hatten. Durch die Flüchtlinge, die fortgesetzt in Scharen nach Konstantioopel strömten, wurde die Seuche auch in die Hauptstadt gebracht. Das Erscheinen der Cholera wurde von den Behörden nicht geleugnet. Bereits am 9. November veröffentlichte ein perotisches Morgenblatt eine Unterredung mit dem Stadtpräfekten, der offen zugab, daß unter den Flüchtlingen mehrere Cholerafälle konstatiert worden seien. Der Präfekt bestritt aber, daß die Epidemie auf die Armee übergegriffen habe. Man erfuhr indessen, daß mit einem Krankentransport 17 cholerakranke Soldaten in Stambul eingetroffen waren, und daß man am Sirkedschibahnhof, in dessen Umgebung Tausende von thrazischen Emigranten auf ihren Ochsenwagen in unsäglichem Schmutz kampierten, in aller Eile eine Cholerabaracke mit 400 Betten er­ richtet hatte.

Seit dem 10. November trugen die von

54 Konstantinopel abgehenden Schiffe in ihren Papieren den amtlichen Vermerk: „In Konstantinopel herrscht die Cholera." Am 13. November gab die Sanitäts­ behörde zum erstenmal ein Cholerabulletin, wie es fortan täglich erschien, ans. Am 12. sollten nach ihm 8 Cholerafälle unter den Flüchtlingen und 2 Fälle unter der Einwohnerschaft konstatiert worden sein. Für die Zeit seit dem 5. November wurde die Gesamtzahl von 58 Fällen, von denen 17 zum Tode geführt hatten, zugegeben. Don dem wahren Stand der Seuche gaben diese amtlichen Ziffern, die fich ja auch nur auf die Zivil­ bevölkerung bezogen, keinen richtigen Begriff, über die Cholerafälle in der Armee wurde keine amtliche Statistik veröffentlicht.

Aber gerade unter den Soldaten wütete

die Epidemie, und die Krankheitsfälle unter der bürger­ lichen Bevölkerung konnten nur als Begleiterscheinung gelten.

Offiziere und Journalisten, die von Hademköj

nach Konstantinopel zurückkamen, berichteten grauen­ hafte Dinge. Sie schilderten den Platz vor dem Bahnhof von Hademköj als ein Leichenfeld. Oer Weg von Hadem­ köj nach dem Badeort San Stefano am Marmarameer sollte durch Haufen von toten und cholerakranken Sol­ daten bezeichnet sein.

Alle diese SchUderungen waren

wohl etwas übertrieben. Aber es ließ fich nicht leugnen, daß ein großer Tell der türkischen Armee von der Cholera ergriffen war. Allerdings wußte man in Konstantinopel bereits, daß die Seuche auch unter den Bulgaren viele Opfer forderte.

Es wurde indessen bald offenbar, daß

die Bulgaren ihren Vormarsch trotzdem nach einigen

55 Ruhetagen fortsetzten.

Man hörte von blutigen Rück-

zuggefechtea bei Tschorlu und Tscherkessköj.

Und dann

standen die Bulgaren auf einmal unmittelbar vor den Linien von Tschataldscha. Die Hoffnung, daß die durch Cholera geschwächte türkische Armee dem Feinde stand­ halten werde, war in Konstantinopel nur gering. Man begann in der Hauptstadt, sich auf das Kommen der Bulgaren vorzubereiten.

IV.

Der Kanonendonner von Cschataldscha. Während der Schlacht vom 17. und 18. November. — Die Landung der fremden Matrosen. — Das Wüten der Cholera. — Die türkischen Verluste. — Die Jungtürkenverfolgung.

Am Nachmittag des 12. November war in San Stefano starker Kanonendonner ans der Richtung von Böjük-Tschekmedje hörbar. Mehrere türkische Kriegs­ schiffe, darunter das frühere deutsche Linienschiff „Haireddin Barbarossa", bombardierten die westlich der Lagune von Böjük-Tschekmedje gelegene Höhe von Arnautköj über dem Fischerdorf Kalikratia. Diese Nachricht wurde von der Bevölkerung der Hauptstadt mit einiger Erregung aufgenommen. Die Bulgaren waren also richtig da. Sie standen beinahe vor den Toren von Konstantinopel, denn Böjük-Tschekmedje liegt nahe bei Kütschük-Tschekmedje, und dieses Dorf, der Endpunkt der Vorortbahnlinie, ist allen Hauptstädtern wegen seines schönen Strandes wohlbekannt. Der Krieg, den viele leichtfertige Peroten anfangs als einen riesigen „Ulf" — das Wort gebrauchte eine perotische Dame tatsächlich beim Ausbruch des Krieges mir gegen-

57 über — betrachtet hatten, begann, in solche Nähe gerückt, doch ungemütlich zu werden. Mit großer Freude begrüßte mau deshalb in Konstantiaopel die Nachricht, daß die Pforte sich nach dem Verzicht auf die Mediation der Großmächte durch Ver­ mittlung der russischen Botschaft direkt an Bulgarien gewandt habe, um den Abschluß eines Waffenstillstands zu erzielen. Man hörte von Besuche« des Großwesirs bei dem russischen Botschafter, von Besprechungen, an denen der in Konstantinopel zurückgebliebene erste Dragoman der bulgarischen Gesandtschaft, Herr Popoff, tellnahm, von wichtigen Berichten des osmanischen Bot­ schafters in Petersburg, die zu langen Beratungen des Ministerrats Anlaß gaben.

Man versicherte, der Ab­

schluß eines Waffenstillstands stehe unmittelbar bevor und der endgültige Friedensschluß werde bald folgen. Am 15. November wurde aber verbreitet, daß auch diese neuen Friedenshoffnungen gescheitert seien. Und am Nachmittag des gleichen Tages erdröhnten wieder die Kanonen bei Tschataldscha, als sollten alle Gerüchte von einem nahen Waffenstillstand recht laut dementiert werden. Diesmal war der Kanonendonner deutlich in Konstantinopel hörbar. Er klang wie fernes Teppich­ klopfen. Zeitweilig schien der Geschützdonner bei gün­ stigem Winde so nahe, daß er tolle Gerüchte verursachte. Man behauptete, die Bulgaren hätten mehrere Forts der Tschataldschalinien erorbert und den Übergang nach Böjük-Tschekmedje erkämpft.

Bulgarische Reiter sollten

bereits bis San Stefano vorgedrungen sein. An diesem Freitag, 15. November, wurde endlich auch der

58 Fall von Salonik amtlich eingestanden, nachdem die rühmlose Kapitulation Hassan Tachsin Paschas bereits durch das am Montag eingetroffeue Abendblatt der Wiener „Neuen Freien Presse" in Pera allgemein bekannt geworden war. Die fremden Kriegsschiffe hatten schon am 9. November Funkenmeldungen über die Einnahme von Salonik erhalten. Der Sonnabend verlief ruhig. Aber in ganz Konstantinopel herrschte ungeheure Spannung, die noch stieg, als am nächsten Morgen aufs neue Kanonen­ donner von Tschataldscha hörbar war.

Der Sturm

auf die Linien hatte begonnen. Die Bulgaren ver­ suchten ernstlich den Durchbruch, nachdem die Regierung in Sofia am 15. November auf die am Tage vorher erhaltene MitteUung der Vertreter der Großmächte, daß die Pforte aufs neue um Vermittlung und um Angabe der

Friedensbediaguvgen

des

Balkanbundes

ersucht

habe, die Antwort ertellt hatte, sie könne sich auf Ver­ handlungen nur bei greifbaren Vorschläge« von tür­ kischer Seite einlassen.

In Konstantinopel wußte man

von dem neuen Dermittlungsgesuch der Pforte und von dem Bescheid der bulgarischen Regierung noch nichts. Aber man fühlte, daß der Entscheidungskampf begonnen habe. Und in der Tat hatte die Schlacht vom 17. und 18. November ja entscheidende Bedeutung.

Sie bewies

den Bulgaren, wie schwere Opfer die Einnahme der Tschataldschalinien fordern würde, falls sie überhaupt möglich war.

Es herrschte Westwind.

Der Kanonen­

donner war daher in allen Vierteln der Hauptstadt so deutlich hörbar, daß die Annahme, es sei bereits eine

59 Schlacht zwischen den Linien und Konstantinopel im­ gange, notwendig aufkommen mußte. Alle Stellen der Hauptstadt, die einen Ausblick nach Westen gewährten, waren von Neugierigen besetzt. Man zeigte sich dunkle Rauchstreifen am Horizont, die von dem brennenden Strandschawald herrühren sollten. Man glaubte bei jedem Dröhnen eines Schusses aus den schweren Ge­ schützen die Lufterschütterung zu spüren. führenden

Straßen

wurden

posten bewacht. Der Kanonendonner stärkt fort.

Die nach Pera

durch türkische

dauerte

Militär-

nachmittags

ver­

Es machte den Eindruck, als nähere er sich

der Stadt. Obgleich in Konstantivopel völlige Ruhe herrschte, hielten die Botschafter besondere Maßregeln zum Schutze der Ausländer für geboten.

Sie hielten

nachmittags mit den Gesandten der Neineren Staaten eine gemeinsame Beratung in der österreichisch-ungarischen Botschaft ab, in der die Landung von Matrosendetachements

und

eine

zweckentsprechende

DerteUung

der

fremden Kriegsschiffe zum Schutz aller eventuell be­ drohten Punkte beschlossen wurde. von Aufsehen sollte

Zur Vermeidung

die Ausschiffung

der

Matrosen

nachts vorgenommen werden. Während in Pera alle Welt auf das Erscheinen der Bulgaren gefaßt war und viele Häuser in dieser Er­ wartung bereits durch fremde Fahnen als ausländisches Eigentum gekennzeichnet wurden, fanden in den Straßen von Stambul Freudenkundgebungen statt.

Der nach­

mittags erscheinende „Alemdar" hatte gemeldet, die Türken hätten bei Tschataldscha einen glänzenden Sieg

60 errungen, mehr als 8000 Bulgaren seien gefangen; 3000 Gefangene würden am Abend noch in Stambul eintreffen. Da das Blatt diese Nachricht in der Form einer amtlichen Meldung wiedergab, wurde sie in Stambul allgemein geglaubt. In Pera hielt man sie mit Recht für erlogen. Aber gegen 9 Uhr abends wurde eine wirklich amtliche Meldung bekannt, die bestätigte, daß die Türken einen Erfolg errungen hatten.

Nasim

Pascha telegraphierte: „Heute morgen entwickelte sich eine große Schlacht, die bis eine Stunde nach Sonnen­ untergang dauerte. Sie entspann sich infolge des Vorgehens bulgarischer Infanterie gegen das Zentrum und den linken Flügel unserer Armee.

Der Feind

wurde durch Geschützfeuer zum Rückzug gezwungen. Wir machten drei feindliche Batterien unbrauchbar." In der Nacht vom Sonntag zum Montag sah man über Pera die Scheinwerfer der fremden Kriegsschiffe spielen.

Die Bedeutung dieser Erscheinung wurde dem

Publikum erst am nächsten Morgen klar, als es die Botschaften und Konsulate sowie andere fremde Gebäude in

Pera

durch

ausländische

Matrosen

besetzt

fand

2000 Matrosen waren beim Morgengrauen gelandet worden. Sie hatten Waffen und Fahnen mitgebracht. I« der Nacht waren bereits Maschinengewehre an Land geschafft und an verschiedenen Stellen untergebracht worden. In den Straßen der Hauptstadt herrschte von früh an ungewöhnliches Leben, doch war von bedenk­ licher Erregung der Bevölkerung nichts zu bemerken, obgleich man allgemein an die Möglichkeit des Er­ scheinens der Bulgaren in Konstantinopel glaubte.

Die

61

Türken betrachteten die gelandeten Matrosen ohne Erbitterung, da sie annahmen, ihre Landung sei im Jmereffe der Türkei erfolgt. Für die Fremden war das bume Treiben an den Punkten, wo die Matrosen­ abteilungen untergebracht waren, eine amüsante Ab­ wechslung. Bor der abgelegenen deutschen Botschaft war allerdings kein Neugieriger zu sehen. Der Vor­ garten war voll von Matrosen des Kreuzers „Soeben", die ungeduldig de« Befehl zum Abmarsch nach anderen deutschen Gebäuden wie dem Krankenhaus, der Schule und der „Teutonia" erwarteten. Ms ich beim Vor­ übergehen einen Augenblick stehen blieb und einige Worte mit den Matrosen wechselte, eilte sofort ein in der Nähe postierter türkischer Polizist herbei und gab mir lebhaft zu verstehen, daß die Unterhaltung mit den Matrosen verboten sei! Vor der italienischen Botschaft standen viele Neugierige, die durch die vergitterten Fenster des Erdgeschosses die dort untergebrachten Mannschaften vom Kreuzer „Emanuele FUiberto" be­ trachteten. Der weite Dorhof der englischen Botschaft war voll von Matrosen. Die Wache am Tor hatte das Bajonett aufgepflanzt. Türkische Polizisten zerstreuten die Neugierigen. Auf dem flachen Dach der Botschaft war ein Mastbaum mit einem Ausguck errichtet worden. Ein Matrose hielt von dort scharfe Ausschau, um etwa gesichtete verdächtige Erscheinungen am westlichen Hori­ zont sofort melden zu können. Buntes Leben herrschte auch auf dem Taximplatz, wo in dem griechisch-franzö­ sischen Lyzeum neben der spanischen Gesandtschaft Matrosen vom Kreuzer „Reyna Regente" einquartiert

62 waren, die von den Fenstern aus lachend Grüße mit der Menge tauschten. In der benachbarten rumänischen Gesandtschaft war eine Abteilung von rumänischen Matrosen untergebracht. Die nach Pera führenden Straßen wurden von türkischen Militärposten bewacht. Im Vorort Schischli war an der wichtigen Kreuzung der Straßen nach dem Kiathanetal mit den „Süßen Wassern von Europa" und nach Böjükdere am oberen Bosporus osmanische Kavallerie stationiert. Die Pforte teilte der Bevölkerung die Landung der fremden Matrosen in einer Bekanntmachung mit, in der es hieß: „Die fremden Botschaften habe» auf Bitten ihrer Staatsangehörigen, die von Furcht ergriffen sind, weil sie die wahre Lage im Lande nicht kennen, um die Erlaubnis zur Landung von Truppen ersucht. Die Pforte hat, um die Fremden zu beruhigen, die Landung gestattet, obgleich nichts eine solche Maß­ regel notwendig gemacht hat."

Die Bevölkerung wurde

weiter aufgefordert, sich durch die unbegründeten Be­ fürchtungen der Fremden nicht beeinflussen zu lassen, sondern ruhig ihren Geschäften nachzugehen. Das Scheich-ül-Jslamat richtete gleichzeitig ein Zirkular­ telegramm an alle religiösen Behörden, in dem diese angewiesen wurden, dafür zu sorgen, daß die Eintracht unter Mohammedanern und Nichtmohammedanern nir­ gends gestört werde. Die fremden Kriegsschiffe waren an den Küsten in der Mähe der Hauptstadt so »erteilt worden, daß die christlichen Viertel und fremde Anlagen wie der Bahnhof von Haidar-Pascha geschützt waren. Die Pforte hatte aber die Bitte der russischen Botschaft,

63

ein Kriegsschiff zum Schutz des Oekumenischen Patri­ archats ins Goldene Horn entsenden zu dürfen, mit der Begründung, daß das Patriarchat als osmanische Behörde nur unter dem Schutz der türkischen Regierung stehe, entschieden abgelehnt. Der Kanonendonner hatte an diesem für Konsiantinopel denkwürdigen Montag um io Uhr vormittags wieder begonnen. Er verstummte gegen Mittag. Ob­ gleich eine noch Sonntag abend erschienene amtliche MitteUung das Publikum ermahnte, sich durch den Geschützdonner nicht beunruhigen zu lassen, da er von Schießübungen herrühre, die vermutlich uoch einige Tage hindurch anhalten würden, zweifelte in Konstan­ tinopel niemand daran, daß bei Tschataldscha weiter­ gekämpft wurde. Das gab man nachmittags denn auch amtlich zu. Der Verlauf der Schlacht ließ sich aber aus den spärlichen offiziellen Berichten nicht klar erkennen. Nur eins schien Montag abend sicher: die Bulgaren hatten in einer zweitägigen blutigen Schlacht versucht, die Tschataldschalinien zu durchbrechen, und dieser Versuch war mißlungen. Die Türken hatten den Angriff auf der ganzen Linie siegreich abgeschlagen. Aber würde den Bulgaren — so fragte man sich un­ ruhig, — nicht morgen oder übermorgen gelingen, was sie gestern und heute nicht zu erreichen vermochten? Am Abend dieses Montags, gegen y29 Uhr, sah man das Automobil des deutschen Botschafters langsam durch die Grande Rue de Pöra fahren. Einige Offiziere und der deutsche Arzt Dr. Schleip saßen darin. Zwischen ihnen lag auf einer Bahre ein türkischer Offizier mit

64

dunklem Vollbart. Es war der kommandierende General des III. Armeekorps, Mahmud Muhtar Pascha, der vormittags bei Tschataldscha schwer verwundet worden war und jetzt vom Sirkedschibahnhof nach dem Deutschen Krankenhaus überführt wurde. Am nächsten Vormittag war abermals Kanonen­ donner hörbar, der nachmittags fortdauerte. Im Laufe des Abends wurden vom amtlichen Preffebureau vier Depeschen Nasim Paschas ausgegeben, nach denen die Bulgaren sich auf der ganzen Linie zurückgezogen hatten. Der Kampf um die Tschataldschalinie hatte sein Ende erreicht. Aus den europäischen Zeitungen erfuhren wir später, daß die Bulgaren Dienstag vormittag von Sofia Befehl erhalten hatten, die Feindseligkeiten wegen des Beginns der Waffenstillstandsverhandlnngen bis auf weiteres einzustellen. Am Abend des 19. November fuhr der russische Botschafter zum Großwesir, um ihm mitzuteilen, daß die bulgarische Regierung zu direkten Verhandlungen mit der Türkei bereit sei. Aufs neue schien der Friede nah. In diesen Novembertagen vor dem Beginn der Waffenstillstandsverhandlungen erreichte die Cholera unter den Truppen ihren Höhepunkt. Das furchtbare Wüten der Seuche veranlaßte die türkische Regierung wohl hauptsächlich, trotz des unbestrittenen Erfolges, den die osmanische Armee am 17., 18. und 19. November errungen hatte, nach möglichst rascher Unterzeichnung eines Waffenstillstands zu streben. Da in Hademköj der Raum für die Unterbringung so vieler Kranken fehlte, wurden die Cholerakranken schleunigst mit der

65 Daha nach San Stefano gebracht.

Aber avch in San

Stefano fehlte es bald an Raum, jumal die Epidemie bereits die dort Cs blieb nichts stantinopel ;u Räume in der

lagernden Reservetrnppen ergriffe« hatte. übrig, als die Kranken weiter nach Kon­ befördern. Und da die verfügbaren Hauptstadt, deren Lazarette bereits mit

Verwundeten überfüllt waren, bald auch nicht mehr ausreichten, wurden,

wie 1877 während des russisch­

türkischen Krieges, die großen Moscheen, darunter die Aja Sofia, in Krankenhäuser verwandelt. Einen Augenblick schien es wirklich, als seien die Behörden dem Umfang des Elends gegenüber machtlos. Die Leitung des türkischen Sanitätswesens hatte natür­ lich von Anfang an mit der Möglichkeit einer Epidemie gerechnet.

Auf einen so raschen Rückzug der Armee

war man aber nicht gefaßt gewesen. Man hatte in dem Ort Tschataldscha, der einige Kilometer westlich von den nach ihm benannten Linien liegt, alle Vorbereitungen für die Verpflegung einer großen Zahl von Kranken getroffen.

Aber als Cholera und Dysenterie zu wüten

begannen, war der Ort bereits von den Bulgaren besetzt. So erklärt es sich, daß in den ersten Tagen nach der plötzlichen erschreckenden Zunahme der Epidemien eine heillose Verwirrung entstand. In San Stefano herrschten furchtbare Zustände.

Man sah Kranke und Tote in den

Straßen liegen. Das berüchtigte „Cholerafeld" von San Stefano, in dem die mit der Bahn, auf Wagen ober auch mühselig zu Fuß eingetroffenen Kranken unter freiem Himmel isoliert wurden, wird seine traurige Berühmtheit behalte«. Selfcman n , Kriegslage.

Auch in den Höfen der Stam6

66 buler Moscheen sah man viele Kranke auf dem nackten Erdboden liegen.

Posten mit

geladenen Gewehren

wachten darüber, daß kein Kranker den Platz verließ und kein Unbefugter sich den Kranken näherte. Sogar mildtätige Leute, die den Unglücklichen Speise und Trank reichen wollten, wurden zurückgestoßen. Cholera­ kranke und Dysenteriekranke waren vielfach unterein­ ander gemischt.

Mit ihnen zusammen wurden die

Choleraverdächtigen isoliert. Es kam vor, daß Züge mit Kranken hin und her dirigiert wurden, weil man nicht wußte, wohin man die Armen bringen sollte. Am Sonnabend, 16. November, stand ein solcher, aus dreißig Viehwagen bestehender Zug stundenlang auf der Stambuler Station Kumkapu. Der Zug war so überfüllt, daß an ein Sitzen oder Liegen nicht zu denken war. Alle Kranken mußten stehen. Man konnte von der Straße aus beobachten, wie einige sterbend zusammen­ sanken. Am glücklichsten waren bei solchen Transporten die auf den Wagendächern ausgestreckten Kranken, von denen stets manche beider Ankunft am Bestimmungsort gestorben waren. Wie viele Soldaten in

diesen Trauertagen

der

Cholera und der Dysenterie zum Opfer gefallen sind, wird mit Sicherheit vielleicht nie festgestellt werden. Für San Stefano und Stambul hat Professor Dr. Wieting Pascha, der deutsche Organisator des osmanischen Sanitätswesens, in einem Artikel „Die Angriffe auf das Kriegssanitätswesen", der am 12. und 13. Februar 1913 im „Osmanischen Lloyd" erschien, genaue Ziffern geboten. Nach seinen Angaben trafen in San Stefano

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im ganzen 17 383 Kranke und Verdächtige ein. Davon starben an Cholera 2050 (von 4097 Cholerakranken), an Dysenterie 615 (von 2459 Dysenteriekranken), an sonstigen Krankheiten 131, also insgesamt 2796. Am Sonntag, 17. November, allein kamen 2000 Kranke und Verdächtige in San Stefano an, dann an drei Tagen je 1800, an zwei Tagen je 1300, sonst stets weit unter 1000. Die Zahl der Beerdigungen in San Stefano erreichte am 19. November die Höchstziffer 670, das waren aber, wie Wieling betont, „Tote von zwei oder drei Tagen, die wegen des Andranges der Eintreffenden nicht versorgt «erden konnten". Für die Zeit vom 16. bis zum 27. November gibt Wieting folgende Beerdi­ gungszahlen für San Stefano an: 47, 60, 120, 670, 500, 250, 310, 164, 151, 97, 64, 56. Die Seuche befand stch also am 19., 20., 21. und 22. November auf ihrem Höhepunkt. In Stambul trafen im ganzen 26734 Kranke und Verdächtige ein. Don diesen stnd 2596, die meisten an Dysenterie und Schwäche, gestorben. In den Moscheen wurden 8371 Kranke untergebracht, von denen 69 an Cholera, 605 an Dysenterie und anderen Darmkrankheiten starben. Don 5328 nach der Quaran­ tänestation Tusla entsandten Kranken und Verdächtigen starben 285, davon 219 an Cholera. In der Quaran­ tänestation Selvi Burnu starben von 8157 Kranken und Verdächtigen 471, davon 150 an Cholera, 140 an Dysenterie, 130 an anderen Darmkraukheiten. Professor Wieting kommt zu einer Gesamtziffer von 6148 Todes­ fällen infolge von Cholera, Dysenterie und anderen Krankheiten. Er betont aber selbst: „Wieviel auf dem 6*

68 Transport in die Heimat «ad in der Heimat selbst starben, entzieht sich unserer Beurteilung. Es ist gewiß bedauerlich, daß viele Leute in elendem Zustande in die Heimat entlassen wurden, doch war das einesteils geboten, um Raum zu schaffen, andererseits drängten die Leute selber zur Heimat und verbargen vielfach ihren Zustand." Nicht gezählt sind ferner die Soldaten, die in Hademköj, dem ersten Sammelplatz für die Kranken, einer der Seuchen erlagen. Ihre Zahl muß recht hoch sein. Wietiag selbst bemerkt: „Das, was von der Front kam, — an der ganze Divisionen von der Seuche verschont geblieben sind — kam nach Hademköj; was dort nicht starb, kam nach San Stefano, und was dort nicht starb, wurde auf die Quarantänestationen und Stambul verteilt." Auch auf dem Wege zwischen Hademköj und San Stefano sind viele Kranke sterbend liegen geblieben und dann an der Straße eingescharrt worden. Diese Toten fehlen gleichfalls in der von Wieting veröffentlichten Statistik. Professor Wieting hat auch über die Zahl der türkischen Verwundeten Angaben gemacht, die aber, wie er selbst betont, keinen Begriff von den Gesamt­ verlusten der osmanischen Heere geben. Sie beziehen sich ausschließlich auf die nach Konstantinopel über­ führten Verwundeten der türkischen Ostarmee und betreffen nur die erste Phase des Krieges, bis zum Ab­ schluß des Waffenstillstands. Mit der Eisenbahn kamen 17457 Verwundete, darumer 463 Offiziere, in Äon* staatiaopel an, ferner zu Schiff von Rodosto, Midi« und Gallipoli etwa 400 Verwundete, so daß sich eine

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Gesamtzahl von rund 18 ooo ergibt. Vor» diese» starben während des Transpotts 75, im Lazarett 447, zusammea also 522. An Cholera litten gleichzeitig 237, an Starrkrampf (Tetanus) 65 Verwundete. Zieht man das in Betracht, so muß man in der Tat gestehen, daß die Sterblichkeit unter den in Konstantiaopel verpflegten Verwundeten durchaus nicht hoch war. Interessant ist die folgende Nationalitätsstatistik, die Witting für die nach Konstantinopel überführten Derwundtten bietet: „Es kommen auf 16491 Türken 150 Armenier, 320 osmaoische Griechen, 35 Israeliten, 25 osmanische Bul­ garen, 2 Wallachen, 5 osmanische Serben." Unter den Verwundeten befanden sich ferner 20 bulgarische Kriegs­ gefangene. Bei Wielings Zahlenangaben sind nicht berücksichtigt: die an der Front verpflegten Leichtver­ wundeten (»ach Witting „nur ganz wenige"), die in Gallipoli und Dardanellen gebliebene» Verwundeten, die Verwundeten in Adrianopel, die in bulgarische Ge­ fangenschaft geratenen Verwundeten, die Verwundeten der übrigen osmanische« Heere sowie endlich alle Ver­ wundeten aus der zweiten Phase des Krieges. Die Gesamtzahl der türkischen Berwundetea überschreittt wohl bestimmt die Ziffer 50000. über die Zahl der Gefallenen vermag Witting keine zuverlässigen Angaben zu machen. Er berechnet sie schätzungsweise aus dem Prozentsatz früherer Kriege: auf vier Derwundtte ein Toter. Auf jeden Fall war die Zahl der Gefallenen in den Schlachten bei KirkkUissa und bei Lüle-Bvrgas er­ heblich keiner, als die ersten Berichte über die angeblich so „blutigen" Schlachten angenommen haben.

70 Nach de» obigen Ziffern wurden im Augenblick des Beginns der Waffenstillstavdsverhaadlungen mehr als 30 000 Verwundete und Kranke in der Hauptstadt ver­ pflegt. Da der bei weitem größte Teil der für Kon­ stantinopel angegebenen 3118 Todesfälle in der Zeit vom 1. bis jum 20. November eintrat, ergibt sich für die Hauptstadt eine durchschnittliche Zahl von 100 bis 150 Beerdigungen von Soldaten täglich für diese drei Wochen.

Während die türkischen Sanitätsbehörden in

dieser schweren Zeit den riesigen Anforderungen bei allem Opfermut nicht immer voll genügen konnten, sah man in Pera die Mitglieder einiger fremder HUfsmissionen vom Morgen bis zum Abend in den Straßen spazieren gehen und sogar nachts in den Tingeltangeln ihre schmucken Uniformen mit der weißen Armbinde des Roten Halbmonds zeigen.

Auf erstaunte Fragen über

den Grund ihrer Untätigkeit antworteten sie, die türki­ schen Behörden hätten ihnen lächelnd erklärt, sie dankten herzlich für ihr Hilfsangebot, aber es sei augenblicklich kein Bedarf vorhanden. Die Abneigung vieler Türken gegen die HUfe der Fremden zeigte sich in der Tat oft stark. Ausländische Pflegerinnen beschwerten sich ge­ legentlich über das Verhalten der verwundeten Offi­ ziere, die es nicht nur an Höflichkeit fehlen ließen, sondern dargebotene Erfrischungen in verletzender Weise mit dem Bemerken zurückwiesen,

sie wünschten erst von

einem türkischen Arzt zu hören, daß ihnen das Ange­ botene nicht schaden werde.

Eine ältere französische

Dame, deren Gatte eine hervorragende Stellung in der Gesellschaft von Pera einnimmt, brachte eines Tages

71

große Pakete mit Wäsche für Verwundete in ein Lazarett. Eine dort pflegende junge türkische Dame, die mit der Französin gut bekannt war, küßte der Helferin nach orientalischem Brauch dankbar die Hand. Sie wurde darauf von den anderen anwesenden türkischen Damen vor der Französin, die Türkisch verstand, schwer be­ schimpft, weil sie einer „Giaur" solche Ehre antue. Derartige Vorfälle bewiesen deutlich, wie groß in diesen trübsten Tagen der Kriegsmonate die Erregung selbst in gebildeten türkischen Kreisen war. Während die Cholera in Hademköj und San Stefano nach dem Überschreiten des Höhepunkts rasch abnahm, so daß sie schon in den ersten Dezembertagen als beinahe erloschen betrachtet werden konnte, bewegten sich die Zahlen der in der Hauptstadt konstatierten Fälle unter der Zivilbevölkerung zunächst noch in ansteigender Linie. Nach den täglich erschienenen amtlichen Bulletins, die, wie schon erwähnt, nur die Erkrankungen von nicht­ militärischen Personen, Flüchtlingen und seßhaften Ein­ wohnern, im Stadtbezirk der Hauptstadt berücksichtigten, erreichte die Seuche am 8. Dezember mit ioi Fällen ihren Höhepunkt in Konstantinopel. Es ist als ein Wunder zu bezeichnen, daß die Hauptstadt bei der un­ heimlichen Fülle von kranken Soldaten, die in allen Vierteln verpflegt wurden, von einer katastrophalen Choleraepidemie verschont geblieben ist. Nur wenige Europäer sind der Seuche zum Opfer gefallen. In den ersten Tagen der Epidemie erkrankten einige deutsche und österreichische Beamte der Orientbahn. In der Nacht vom 25. zum 26. November starb der deutsche

72 Legationsrat Dr. Bumiller, der einstige Begleiter Wißmanns, im Grand-Hotel zu San Stefano an der Cholera. Dr. Bumiller hatte die Erlaubnis erhalten, sich den Kriegskorrespondenten auf türkischer Seite an­ zuschließen, und war in einem Dorf hinter der Tschataldschalinie von der furchtbaren Krankheit befallen worden. Er wurde sofort auf einem Ochsenwagen nach San Stefano gebracht, verschied dort aber einige Stunden später, obgleich zwei deutsche Ärzte aus Konstantinopel sogleich zu seiner Rettung nach San Stefano geeUt waren. Am nächsten Tag wurde seine Leiche nach dem protestantischen Friedhof in Ferik-j bei Konstantinopel überführt. Der türkische Kommandant von San Stefano ließ dem Toten die mllitärischea Ehren erweisen. Don den Osmanen, die in dieser traurigen Zeit der Cholera erlegen sind, ist vor allen General Ali Risa Pascha, der Kommandant der befestigten Stellung in der Tschataldschalinie, zu nennen. Der jungtürkische Oberst Dschemal Bej, der sich bei Kirkkllissa ausgezeichnet hatte, war schwer an Dysenterie erkrankt, konnte aber gerettet werden. KiamU Pascha befürchtete, nicht ohne Grund, daß die Jungtürken gegen Waffenstillstand und Friedens­ schluß protestieren würden. Er hielt es daher für er­ forderlich, flch zuerst einmal dieser gefährlichen Kritiker zu entledigen. Die Juugtürkeu hatten den Liberalen nach der Schlacht bei Lüle-Burgas aufs neue, wie schon in den ersten Oktobertagen, ein gemeinsames Vorgehen vorgeschlagen. Als am 7. November eine Delegation des Zentralkomitees der juvgtürkischen Partei im

73 Bureau des Vorstands der Euteute liberale vorgesprochen hatte, war kein liberales Vorstandsmitglied anwesend gewesea. Bei einem neuen Besuch, am 9. November, war den jungtürkischen Delegierten erwidert worden, der Vorstand der liberalen Partei werde das Anerbiete» prüfen. Am Abend dieses Tages wurden zwei Führer der Komiteepartei, Talaat Bej und Hadschi Adil Bej, vom Großwefir empfangen und unterrichteten ihn von der Bereitwilligkeit der Jungtürken, in dieser ernstev Zeit einen Tell der Regierungsverantwortung ju über­ nehmen. Kiamll Pascha antwortete den Delegierten, wie diese ihren Freunden berichtete», achseljuckend: „Was bedeuten Partei und Verfassung für dieses Land? Sie sind ja ganj unnötig geworden." Weiter erklärte der Großwestr, die Lage sei weniger schlimm, als die Bevölkerung glaube. Die Bulgaren würden sicher nicht nach Koastantinopel kommen. Auch die Russen seien ja seinerjeit nicht gekommen. Den Botschafter« habe er gesagt: „Der Sultan und ich bleiben hier, was auch kommen möge, und ich werde auch Sie, meine Herren Botschafter, nicht fottlassen. Falls man uns aas Leben will, werden wir alle zusammen hier enden." Und Kiamll machte mit der Hand die Gebärd« des Kehl-abschneidens. „übrigens", so fuhr der Großwesir fort, „sind die ftemden Kriegsschiffe nur hierher gekommen, weil die Botschafter eine jungtürkische Revolution befürchten." In Wirklichkeit wurde eine Revolution weniger von den Botschaftern als vom Großwesir befürchtet. Und der Besuch der beiden jvngtürkischen Führer hat Kiamil

74 Pascha in dieser Befürchtung offenbar noch bestärkt. Am nächsten Morgen, io. November, erschien im „Jkdam" eine Erklärung des Vizepräsidenten der „Entente liberale", Obersten a. D. Sadik Bej, in der die Auflösung der liberalen Partei proklamiert wurde, da diese ihr Ziel, die Unterdrückung der politischen Betätigung des Heeres, nunmehr erreicht habe. Das war die Antwort auf das Anerbieten der Komiteepartei, mit den Liberalen gemein­ sam die Verantwortung für die weiteren Entscheidungen zu übernehmen, die Antwort zugleich auf das, was Talaat Bej und Hadschi AdU Bej am Abend vorher dem Großwesir erklärt hatten. Die von Sadik Bej proklamierte Auflösung der liberalen Entente war keineswegs von dem Parteivorstand beschlossen worden. Die Vorstandsmitglieder wurden durch die Erklärung Sadik Bejs überrascht, und zwar durchaus nicht an­ genehm. Der Zweck des vom Großwesir veranlaßten Schrittes war natürlich ein Druck auf die Komiteepartei, um diese gleichfalls zum Verzicht auf weitere Tätigkeit zu veranlassen. Am n. November folgte eine offene Maßregel gegen die Jungtürken. Es wurde verfügt, daß sich in den als Lazarett benutzten Klublokalen nur noch die mit der Pflege betrauten Sanitätspersonen aufhalten dürften. Das Verbot traf in erster Linie die Komiteepartei, die in ihrem berühmten Klubhaus bei der Moschee Nuri Osmanieh ein Lazarett eingerichtet hatte. Ferner wurden alle Freiwilligen unter An­ drohung sofortiger Verhaftung aufgefordert, unver­ züglich an die Front zurückzukehren. Dieser Befehl galt Talaat Bej, der beim Ausbruch des Krieges als Frei-

williger unter die Fahnen geeilt war und bei LüleBurgas mitgekämpft hatte, daun aber während der Kampfpause auf Wunsch seiner Parteigenossen nach Konstantinopel zurückgekehrt war. Die nächsten Tage brachten die Gewißheit, daß KiamU Pascha die Komiteepartei vernichten wollte, um in Ruhe Frieden schließen zu können.

Am 15. und

16. November wurde eine ganze Reihe von jungtürki­ schen Führern verhaftet.

Andere, darunter die früheren

Minister Dschawid Bej und Ismail tzakki Babansade sowie der Chefredafteur des noch immer verbotenen „Tanin", Hussein Dschahid Bej, retteten sich durch rasche Flucht ins Ausland. Das jungtürkische Klublokal in Stambul war durch einen Truppenkordon isoliert, an­ geblich wegen

der

Anwesenheit von

Cholerakranken.

Am 22. November folgten weitere Verhaftungen. Talaat Bej wurde in einem Automobil unter Bedeckung von der Front nach Konstantinopel gebracht, konnte aber bei der Ankunft entfliehen. Deputierte Dschambulat

Der einstige jungtürkische Bej, ein früherer Offizier,

geriet bei seiner Verhaftung in solchen Zorn, daß er einen Polizeibeamten, der Hand an ihn gelegt hatte, niederschoß.

Der Vorsitzende der Komiteepartei, Prinz

Said Halim Pascha, und der frühere Kriegsminister Mahmud Schefket Pascha wurden mißtrauisch über­ wacht. Am 26. November veröffentlichte die Regierung ein langes Kommunique über die Verhaftungen. Es hieß darin, seit der Kundgebung, die am 7. Oktober vor der Pforte stattfand, habe die Komiteepartei den Sturz der Regierung erstrebt und durch Emissäre die Armee

76 aufzuwiegeln versucht. Ein Verhafteter, dessen Namen einstwellen ungenannt bleiben müsse, habe Bombenattentate gegen den Generalissimus Nasim Pascha und andere hohe Staatsbeamte geplant. Das Manifest ermahnte die Bevölkerung, gehässigen Ausstreuungen kein Ohr zu leihen, und forderte die flüchtigen Jung­ türken auf, sich freiwillig den Gerichten zu stellen, falls sie ein reines Gewissen hätten. In Konstantinopel hat wohl

kaum ein Mensch

daran geglaubt, daß die Juugtürken sich, wie die libe­ ralen

Blätter

versicherten,

schuldig gemacht hatten.

republllanischer

Umtriebe

Auch die Angabe über die

geplanten Bombenaltentale fand keinen Glauben. Man nahm vielmehr ziemlich allgemein an, daß Kiamil Pascha nur etwaigen Überraschungen von jungtürkischer Seite im Augenblick des Verzichts auf die Fortführung des Krieges vorbeugen wollte. Es zeigte sich bald, daß diese Annahme berechtigt war.

Der Waffenstillstand. Das Protokoll von Bachtschaisch. — Der Krieg mit Sriechenlaab. — Oie wirtschaftliche Lage. — Das Stocken der Londoner Derhand, lange». — Stnrmteichea. — Die „Hamidieh". — Der Friebeirs, beschloß des Großen Diwans.

Der russische Botschafter v. Giers hatte dem Groß, westr am Abeud des 20. November eine vom bulga, rischen Ministerpräsidenten Geschoss unterzeichnete Note überbracht, in der die Bedingungen des Balkanbundes für den Waffenstillstand aufgezählt waren. Bulgarien verlangte die Übergabe Adrianopels und der Tscha, taldschalinien, Überführung der osmanischen Truppen nach Kleinasien, Aufhebung der Blockade im Schwarzen Meer und Entfernung der Kriegsschiffe von der euro, päischen Küste. Der Ministerrat beschloß am Vormittag des 2i. November die Ablehnung dieser schweren Be, dingungea. Ein nachmittags ausgegebenes amtliches CommuniquL teilte der Bevölkerung diesen Beschluß mit und erklärte weiter, Nasim Pascha werde mit den Vertretern des Balkanbundes, falls diese Vollmacht für

78 Abänderungen der bulgarischen Vorschläge haben sollten, über andere Bedingungen verhandeln.

Bis zur Er­

zielung annehmbarer Bedingungen «erde der Krieg mit Gottes Hilfe fortgesetzt werden. Als dieses CommuniquL erschien, war gerade Kanonendonner vom nördlichen Tschataldscha-Abschnitt her in Konstantinopel hörbar. zu.

Er nahm gegen Abend

In der Hauptstadt wurde versichert, ein ernster

Kampf sei auf der ganzen Linie im Gang.

Dieses

Gerücht bestätigte sich indessen nicht. In der Frühe des 2i. November war der osmanische Kreuzer „tzamidieh" im Schwarzen Meer bei Karaburun durch bulgarische Torpedoboote angegriffen worden. Der Kreuzer, der schwere Beschädigungen erlitten hatte, wurde nach Kon­ stantinopel geschleppt, wo er gegen Abend eintraf. Die Ablehnung der bulgarischen Forderungen wurde von der türkischen Presse freudig begrüßt. Der „Sabah" gab sogar der Hoffnung Ausdruck, daß die Türkei auf weitere Verhandlungen verzichten und es ihrem Heer gestatten

werde,

zurückzuerobern.

die

vom

Feinde

besetzten

Gebiete

Die Presse schlug allgemein plötzlich

einen überraschend optimistischen Ton an.

Die genau­

eren Berichte über den türkischen Erfolg vom 17. und 18. November hatten die Auffassung verbreitet, daß die Fortsetzung des Krieges der Annahme harter Bedin­ gungen bestimmt vorzuziehen sei. Dazu kamen die Hoffnungen, die man auf die internationale Lage — die österreichisch,russische Spannung und den bulgarisch­ rumänischen Konflikt — setze« zu können glaubte. Allerdings fehlte es auch nicht an warnenden Stimme»,

79 die prophezeiten, alle diese scheinbaren Todfeinde würden sich schließlich auf Kosten der Türkei verständigen. Auf der Pforte gab man sich keinen Illusionen hin. Man beharrte bei der Auffassung, daß ei« möglichst rascher Friedensschluß das einzig Richtige sei, und bu grüßte erfreut die Anzeichen gleicher Auffassung bei den Bulgaren.

Am Abend des 22. November verlautete

denn auch bereits, die Bulgaren seien zur Gewährung milderer Bedingungen bereit. Man hörte dann, daß Nasim Pascha, der Handels minister Reschid Pascha und der Oberst im Generalstab Ali Risa Bej zu osmanischea Delegierten für die Waffenstillstandsverhandlvngen er­ nannt worden seien.

Am 28. November früh erschien

folgendes Communiqus der Agence Ottomane: „Die osmanischen und bulgarischen Unterhändler hatten gestern bei Tschataldscha eine Begegnung, bei der völlige Courtotste herrschte.

Die Vorbesprechungen haben begonnen.

Heute vormittag zehn Uhr wird eine zweite Zusammen­ kunft stattfinden. Die Bevollmächtigten beschlossen die Fortsetzung der Verhandlungen." Die zweite Zu­ sammenkunft der Delegierten fand nicht um 10 Uhr, sondern von 1 Uhr ab in der Nähe der Station Bachtschaisch, zwischen tzademköj und Tschataldscha, statt. Der türkische Generalissimus setzte den bulgarischen Dele­ gierte», den Generalen Sawoff und Fitscheff und dem Sobranjepräsident Dr. Daneff, in seinem Salonwagen ein reiches Frühstück vor, das er samt zwei Servier­ kellnern von dem Konstantinopeler Hotelrestaurant Tokatlian hatte kommen lassen.

Obgleich auch diese

zweite Zusammenkunft noch nicht zum Abschluß des

80 Waffenstillstands geführt hatte. Blieb die Stimmung in Koastavtinopel durchaus optimistisch. Man suchte die Verzögerung zu erklären, indem man Behauptete, es handle sich Bei den Verhandlungen von Bachtschaisch nicht mehr um einen Waffenstillstand, über den man sich Bereits stillschweigend geeinigt habe, sondern um einen Präliminarfrieden. Und mehrere Zeitungen versicherten, nach den Bestimmungen dieses Präliminarfriedens würden Adrianopel sowie Dedeagatsch und Umgegend türkisch bleiben. Adrianopel allerdings als unbefestigte Stadt. Ferner sollte der Eintritt der Türken in den Balkanbund vereinbatt worden sein. Am 30. November hieß es abends, Mivisterrat und Sultan hätten den von Nastm Pascha übersandten Ent­ wurf des Waffeustillstandsprotokolls genehmigt. Der Minister des Äußern hatte einem Journalisten gegenüber erklärt: „Es geht alles, wie wir wünschen." Daraus wurde mit unverwüstlichem, türkischem Optimismus sofort geschlossen, die Bulgaren hätte» auf Adrianopel verzichtet. Ms die erwartete Nachricht von der Unter­ zeichnung des Protokolls aber an den nächsten drei Tagen ausblieb, verwandelte der Optimismus sich plötzlich in schwärzesten Pessimismus. Es hieß, der Waffenstillstand sei durch unannehmbare Sonderforde­ rungen Griechenlands in Frage gestellt. Auf dem Kriegsmioisterium wurde am 3. Dezember erklärt, 90 Prozent Wahrscheinlichkeit sprächen für die Fortdauer des Krieges. Die Kriegspartei jubelte. Die Börse geriet in Be­ stürzung und schloß mit stark fallenden Kursen. Nur auf der Pforte blieb man ruhig und versicherte, eine

81 Einignag sei mit Bestimmtheit zu erwarten. Man glaubte aber, das Waffeastillstandsprotokoll «erde frühe, stens am 4. Dezember unterzeichnet werden können. Man war deshalb sehr überrascht, als Nasim Pascha am Abend des 3. noch telephonierte, die Unterzeichnung sei «m 8 Uhr abends erfolgt. Das Großwestrat nahm die erste kurze Meldung ungläubig auf und ließ Nafim Pascha um ausdrückliche Bestätigung und nähere Mit, teUungen bitten. Der Generalisstmus erwiderte, nur Bulgarien, Serbien und Montenegro hätten den Waffen, stillstand abgeschlossen; der Krieg mit Griechenland dauere also fort. Nastm Pascha schloß das Telephongespräch mit dem Ausruf: „Ich gratuliere." Die Morgenblätter vom 4. gaben die Meldung kurz in nichtamtlicher Form ohne Kommentar wieder. Das Publikum maß der Nachricht daher zuerst keinen Glauben bei. Es schien undenkbar, daß Griechenland sich in der Waffenstill, standsfrage von seinen Verbündeten getrennt habe. Da die amtliche Bestätigung zunächst ausblieb, schienen die Leute wirklich recht zu behalten, welche die Nachricht gleich als Ente bezeichnet hatten. Erst um 5 V2 Uhr nach, mittags wurde die Meldung durch folgendes amtliches Communiquä bestätigt: „Zwischen der Türkei einerseits und Bulgarien, Montenegro und Serbien anderseits wurde ein Waffenstillstand abgeschlossen, der die Bedia, gung enthält, daß die Truppen in ihren augenblicklichen Stellungen verbleiben und die Friedensverhandlungen in nächster Zeit beginnen. Nur mit Griechenland dauert der Krieg fort." Das war alles, was das türkische Volk amtlich über Stlfcmann, Äri«g»tag«.

6

82 den Inhalt des Protokolls von Bachtschaisch erfuhr. Halbamtlich wurde mitgeteilt, nach den Bestimmungen des Protokolls würden Adrianopel und Skutari ver­ proviantiert werden. Die Nichtbetelligung Griechenlands am Waffenstillstand wurde als Triumph der Türkei, der die Sprengung des Balkanbundes gelungen sei, hin­ gestellt. Unter den Griechen von Konstantinopel herrschte deshalb sogar große Erbitterung gegen die Bulgaren, die man als „Verräter" bejeichnete, well sie angeblich die griechischen Bundesgenossen im Stich gelassen hatten. Am Freitag, 6. Dezember, erfuhr man in Konstantinopel erst durch die mittags eiugetroffenen europäischen Zei­ tungen, daß die Festungen nach den von der Bulgarischen Telegraphen-Agentur veröffentlichten Bestimmungen des Waffenstillstandsprotokolls nicht verproviantiert werden dursten. Diese Nachricht erregte unangenehmes Er­ staunen, und der jungtürkische „Terdschuman i Hakikat" forderte die Regierung auf, die bulgarische Meldung zu dementieren. Die Regierung schwieg indessen. Die offiziöse „Jeui Gaseta", der das Wiedererscheiueu mittler­ welle erlaubt worden war, während der jungtürkische „Tanin" verboten blieb, gab schließlich zu, daß die Ver­ proviantierung der Festungen tatsächlich nicht im Waffen­ stillstandsprotokoll vorgesehen sei. Das ministerielle Organ wollte glauben machen, daß die Bulgaren statt des echten Protokolls, in dem die Verproviantierung von Adrianopel und Skutari bewilligt worden sei, ein gefälschtes Protokoll ohne diese Bestimmung unter­ geschoben hätten. Diese Erklärung wurde aber allge­ mein als lächerliche Lüge bezeichnet. Man erkannte, daß

83 die Bedingungen des Waffenstillstands für die Türkei höchst ungünstig waren, und merkte allmählich auch, daß Griechenlands Verjicht auf den Waffenstillstand zum Schaden der Türkei von den Verbündeten beschlossen worden war. Der ganze Waffenstillstand erschien so als ein großer „Reinfall" der Türkei. Besonders unzu­ frieden war man in Etambul mit der Bestimmung, daß die Bulgaren den Bahnhof von Adrianopel «ährend des Waffenstlllstands benutzen dursten, um ihre bei Tschataldscha stehenden Truppen auf dem Bahuwege zu ver­ proviantieren. Als Nastm Pascha am 5. Dezember nach der Haupt, stadt zurückkehrte, waren die ungünstigen Bestimmungen des Protokolls von Bachtschaisch dort noch nicht bekannt. Man glaubte noch an das Märchen von der Sprengung des Balkanbuudes und hielt diese für eine Folge des erfolgreichen Widerstandes, den die osmantschen Truppen am 17. und 18. November dem Ansturm der Bulgaren entgegengesetzt hatten. Die Stimmung war daher eher günstig für den Generalissimus. Aber die geräuschvolle Art der Heimkehr des trotz allem doch besiegten Feld­ herrn nahm weite Kreise gegen ihn ein. Nasims Empfang bei seiner Ankunft in Stambul glich tatsächlich der triumphierenden Rückkehr eines Siegers. Truppen mit Fahnen und Musik blldeten Spalier am Bahnhof, wo zahllose Offiziere dem Generalissimus zujubelten. Nastm Pascha nahm, von seinem Generalstab umgeben, glücklich lächelnd die Gratulationen entgegen und teilte Hände­ drücke aus. Unter der Menge, die den blühend aus­ sehenden Generalissimus zur Hohen Pforte fahren sah, 6*

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wurden aber bittere Bemerkungen laut. Oie Leute meinten, man sähe es Nasim Pascha schon von weitem an, daß er nicht gleich seinen Soldaten Hunger gelitten habe. Manche erinnerten auch spöttisch an Nasims Ausspruch, er werde entweder als Sieger heimkehren oder sterben. Am 7. Dezember ernannte der Ministerrat den Handelsminister Reschid Pascha, den Botschafter in Berlin Osman Nisami Pascha und den Botschafter in London Tewfik Pascha zu Bevollmächtigten für die Friedensverhandlungen. Ihnen wurden Beiräte für die militärischen und juristischen Fragen beigegeben. Am 10. Dezember reiste die Delegation mit dem Konstantza-Dampfer von Koastantiaopel ab. Die Stimmung der Türken war in diesem Augenblick trotz des Zorns über die ungünstigen Bedingungen des Waffenstillstands wieder einmal sehr hoffnungsfteudig. Mitte November hatte man noch mit der schrecklichen Möglichkeit gerechnet, daß der gesamte europäische Besitz der Türkei, vielleicht gar die Hauptstadt selbst, verloren sei. Dann hatte man, zuerst nur schüchteru, allmählich aber bestimmter, die Hoffnung geäußert, daß die der Türkei auferlegten Opfer sich in den Grenzen des Friedens von San Stefano halten würden. Nach dem Abschluß des Waffenstill­ stands war davon aber nicht mehr die Rede. Man hörte in Konstaatinopel Äußerungen von erstaunlicher Naivität, die so klangen, als seien die Bulgaren besiegt. In den amtlichen Kreisen war man natürlich nicht ganz so optimistisch. Aber auch sie bedienten sich einer Aus­ drucksweise, die anzudeuten schien, daß der Balkan-

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buvd um Frieden bitte und die Türkei unter gewisse» Bedingungen bereit sei, ihn zu gewähren. Die Liberale» setzte» immer noch große Hoffnungen auf England, als verstehe es sich von selbst, daß England eine von Kiamil Pascha geleitete Türkei moralisch unterstützen müsse. Die Jnngtürkea dagegen bauten auf Deutschlands HUfe. Diese Verschiedenheit der Auffassung kam in der Presse ju deutlichem Ausdruck. So bemerkte der liberale „Sabah" zu der Nachricht, daß die Friedenskonferenz in London stattfinden «erde, alle Londoner Orientverträge seien bisher der Türkei günstig gewesen; man könne darauf rechneu, daß auch der künftige Friedensvertrag dank Englands Schutz zugunsten der Türket ausfallen werde. Der jungtürkische „Tasviri Cfkiar" dagegen er­ klärte, England verdiene nicht mehr das Vertrauen der Türkei, dagegen zeuge Deutschlands Politik von wahrem Wohlwollen für die Türkei; die Rede des deutschen Reichskanzlers vom 2. Dezember habe in den Herzen aller Osmanea „ewige herzliche Freundschaft" geweckt. Die innere Lage hatte sich insofern gebessert, als die Regierung nach dem Abschluß des Waffenstillstands die weitere Gefangenhaltung der verhafteten jung­ türkischen Führer für unnötig hielt. So wurden am 8. Dezember sechzehn Mitglieder der Komiteepartei, die sich wegen angeblicher republikanischer Propaganda in Untersuchungshaft befanden, fteigelassen, da die Denunziation gegen sie als falsch befunden worden sei. In den nächsten Tagen folgte gruppenweise die Frei­ lassung der Übrigen Jnngtürkea, deren Verhaftung mit der Protestkundgebung vom 7. Ottober begründet worden

86 war. Mitte Dezember befanden sich nur noch zwei der Verhafteten im Gefängnis, nämlich der ftühere Offizier «nd Exdeputierte Dschambulat Bej, der fich wegen der Erschießung des bei ihm erschienenen Polizisten als Mörder vor Gericht verantworte« sollte, und der Redak­ teur des „Tanin", DschemU Bej, deu mau für den wahren Organisator der Studentenkundgebung vom 7. Oktober hielt. Das Hauptthema der Zeitungsleit­ artikel war in diesen Tagen die Zukunft der Türkei. Die liberalen Blätter bemühten sich, die Jungtürken davon zu überzeugen, daß nur die Parteistreitigkeiten die Türkei ins Unglück gestürzt hätte«. Sie empfahlen daher als erstes Genesungsmittel den Verzicht auf jede Partei­ politik. Die kiamUistische „Jeni Gaseta" ging so weit, die Verfassung, wenigstens in Andeutungen, für das Unheil verantwortlich zu machen. Dagegen protestierte aber der Liberalenführer Lutfi Fikri Bej energisch in seinem Organ „Tansimat". Er erklärte, eine Regierung ohne Parlament würde ein Unglück für die Türkei sein, und fuhr dann wörtlich fort („Tanfimat" vom 8. Dezember): „Wir hören, daß Personen, die noch den Geschmack der Hamidische» Zeit auf dem Gaumen haben, den Krieg benutze«, um an gewissen Stellen gegen die Verfassung zu agitieren. Wir konstatieren dies, um die öffentliche Meinung vor Vergiftung zu schützen." Lutfi Fikri Bej empfahl die Beseftigung des Gegensatzes zwischen Libe­ ralen und Jungtürkea und ihre Verschmelzung zu einer einheitlichen Fortschrittspartei als bestes Mittel zur inneren Gesundung. Unmittelbar nach dem Abschluß des Waffenstill-

87 stands ohne Griechenland hatte der „Tansimat" unter der Spitzmarke „Wann wird unsere Flotte auslaufen?" einen Leitartikel veröffentlicht, in dem es hieß, die tür­ kische Flotte müsse nunmehr ihre Überlegenheit über die griechische Flotte beweisen; die Nation erwarte, daß die Flotte sich rege. Bis dahin hatte von einem Auslaufe« der Flotte aus den Dardanellen keine Rede sein können, weil die Kriegsschiffe bei Karaburun im Schwarzen Meer und bei Böjük-Tschekmedje im Marmarameer stationiert bleiben mußten, um den Bulgaren das Vordringen nach Konsiantinopel an der See entlang zu verwehren. Sofort nach der Unterzeichnung des Protokolls von Bachtschaisch war aber fast die gesamte Kriegsflotte in den Dardanellen versammelt worden. Und als man am 5. Dezember hörte, der Marinerat in Konstantinopel habe eine wichtige Beratung abgehalten, als gleich­ zeitig bekannt wurde, daß der Sultan der Flotte seinen kaiserlichen Gruß entboten und der Besatzung Geschenke übersandt habe, zweifelte man nicht mehr daran, daß nunmehr der Seekrieg gegen Griechenland entbrennen werde. Das türkische Volk erwartete ihn mit freudiger Zuversicht. Aber auch unparteiische, berufene Beur­ teiler hielten es für durchaus möglich, daß die griechische Flotte ttotz ihres modernen Schlachtschiffs „Aweroff" von der türkischen Flotte besiegt werde. Man zählte bereits die erhofften Folgen eines entscheidenden See­ steges auf: Gefangennahme der auf den Inseln Chios und Mytilene gelandeten griechischen Truppen und Ent­ satz der im Innern hart bedrängte» osmanische» Truppen, Rückeroberung von Salonik, Bedrohung der hellenischen

88 Häfen, Unterbindung des griechischen Handels, Ent­ sendung von Entsatztrnppea nach Janina und Skutari. Es schien der Flotte beschiede» zu sei», in letzter Stunde eine entscheidende Wendung herbeizuführen. Aber Tag auf Tag verging, ohne daß mau etwas von einem See­ kampf hörte. Endlich, am Abend des 16. Dezember, meldeten Sonderausgaben türkischer Zeitungen, vor­ mittags habe vor den Dardanellen ein Seegefecht statt­ gefunden; die griechische Flotte sei teilweise beschädigt und zum Rückzug gezwungen worden. Solche Meldungen erschienen dann eine Zeitlang fast täglich. Am 17. sollte der „Aweroff" schwer getroffen worden sein. Am 22. blieb die türkische Flotte angeblich in einem Seekampf bei Tenedos siegreich. Aber alle diese Siegesnachrichten schloffen mit dem Satz: „Nach Vertreibung der feind­ lichen Flotte sind unsere Kriegsschiffe wohlbehalten in die Meerenge zurückgekehrt." Und am nächsten Morgen kreuzten stets die griechischen Torpedoboote wieder heraus­ fordernd vor den Dardanellen. Die türkischen Truppen auf Mytilene und Chios hatten im Vertrauen auf den Beistand der Flotte tapfern Widerstand geleistet. Da die Flotte aber nicht zu ihrer Rettung erschien, mußten sie der Übermacht schließlich erliegen. Am 21. Dezember kapitulierte die Besatzung von MytUene. Am z. Januar folgte die Kapitulation der Besatzung von Chios. Die Halbmond­ flagge war nunmehr auf allen Inseln niedergeholt. Mehr Erfolg war den Türken in Epirus beschieden, wo die osmanische Besatzung von Janina sich der Belagerer tapfer erwehrte und ihnen sogar bei glücklichen Ausfällen,

89 besonders im zweite« Dezemberdrittel, empfindliche Derlvste beibrachte. Die wirtschaftliche Lage in der Türkei war vm diese Zeit besser, als man hätte erwarten können. Die Be, völkerung litt allerdings unter der Tenernng der Lebens, mittel, die natürlich eingetreten war. Aber die vielfach gefürchtete katastrophenartige Krisis blieb aus, trotz der vielen Tausende von notleidenden Flüchtlingen, für die mit zu sorgen war. Während die vier Balkanstaatev sich zum Erlaß eines Moratoriums gezwungen sahen, hatte die Türkei auf diese Maßregel verzichten können, obgleich fie schon den Tripoliskrieg vnd dann die schwere innere Krisis im Sommer 1912 überstanden hatte. Natürlich herrschte im Geschäftslebev große Lustlosigkeit. Die gesteigerte Geldknappheit, die eine Zunahme von Wechselprotesten zur Folge hatte, wirkte lähmend auf den Handel. Die Ungewißheit der Zukunft verbot bedeutendere Engagements. Aber größere Zahlungs, einstellungen waren trotzdem nicht häufiger als in anderen Jahren. Auch die Versorgung von Konstantinopel mit Gold war ohne besondere Schwierigkeiten möglich. Oie Regierung litt zeitweise stark unter Geldmangel, aber sie ist ihren Zahlungsverpflichtungen, wen« auch gelegent, lich mit Verzögerung, doch gewissenhaft nachgekommen. Am 16. Dezember wurde in London die Friedens, konferenz eröffnet. Am Tage darauf begannen die Be, ratuagen der Botschasterkonferenz. Bei dem über, triebenen Optimismus, der in Konstantinopel herrschte, mußte ein glatter Verlauf der yriedensverhavdluugen von vornherein bezweifelt «erden. Cs zeigte sich denn

90 auch sofort, daß die Verbündeten viel mehr forderten, als die Türkei bewilligen wollte, und die kaum begon­ nenen Verhandlungen gerieten ins Stocken. Für die naive Vorstellung, die viele Türken gegen Weihnachten noch von dem erwarteten Friedensvertrag hatten, ist ein Artikel des „Jkdam" bejeichnend, nach dem eine Ver­ ständigung auf folgender Grundlage möglich sein sollte: das ganze Wilajet Adrianopel bleibt türkisch mit Aus­ nahme des nördlichen Tells, der an Bulgarien fällt; Mazedonien wird mit Salonik als Hauptstadt unter osmanischer Souveränität autonom; die Türkei zahlt keine Kriegsentschädigung; Bulgarien erhält das Recht der Benutzung eines Hafens am Ägäischen Meer. Man versicherte, die Pforte werde die Forderungen des Balkanbundes glatt ablehnen und lieber den Krieg fortsetzen, als auf Adrianopel verzichten. In mUitärischea Kreisen hielt man den Wieder­ beginn der Feindseligkeiten in den Weihnachtstagen für sicher. Auch die diplomatischen Kreise waren pessimistisch. Die Annahme der Gegenvorschläge, mit denen die Türkei auf Beschluß des Ministerrats vom 25. Dezember die ersten Forderungen des Balkanbundes beantwortet hatte, galt für ausgeschlossen. In Konstautinopel wurde nach Weihnachten viel von geheimnisvollen bul­ garischen Unterhändlern gesprochen, die angeblich Unter­ redungen mit Vertretern der osmavischen Regierung gehabt hatten. Die Nachricht ist von bulgarischer Seite scharf bestritten, von osmanischer Seite weder demen­ tiert noch bestätigt worben. Es steht aber fest, daß am 2z. Dezember eine bulgarische Persönlichkeit mit

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Sonderzug von Tschataldscha in Konstantinopel einge­ troffen und am 25. Dezember nach Tschataldscha zurück­ gefahren ist. Angeblich handelte es sich nm eine ge­ heime Misflon eines bulgarischen Generals. Gleich­ zeitig wellte ei» bulgarischer Finanzier namens Hadschi Kaltscheff in Konstantinopel, dessen Anwesenheit, aber wohl irrtümlich, mit den vorgeblichen Sonderverhandlungea in Verbindung gebracht wurde. Don einer Förderung des Friedens durch solche Sonderverhand­ lungen war in der nächsten Zeit jedenfalls nichts zu spüren. Als aber am 30. Dezember bekannt wurde, Bulgarien habe die Sendung von Arzneimittel« und Krankenkost nach Adrianopel gestattet, hielt man diese Konzession für ein Ergebnis der geheimnisvollen Konstantivopeler Verhandlungen und zerbrach sich den Kopf darüber, was die Türkei wohl als Gegenleistung zu­ gebilligt habe. Auf der Pforte blieb man trotz der am 28. De­ zember bekannt gewordenen Ablehnung der türkischen Gegenvorschläge durch die Verbündeten zunächst opti­ mistisch. Man erklärte, die Großmächte würden jeden­ falls einen Druck auf die Balkanstaaten ausüben, um sie zum Verzicht auf Adrianopel zu bewegen, und setzte hinzu, der Sultan habe geschworen, Adrianopel mit de» „Gräbern seiner Vorfahren" in keinem Fall abzutreten. Die angeblichen Sultansgräber von Adrianopel haben von da an wochenlang eine große Rolle in der Presse gespielt, obgleich von ftemder Seite bald festgestellt wurde, daß in Adrianopel überhaupt keine Sultane, sondern nur zwei minderjährige Prinzen begraben liegen.

92 Der Optimismus der Türken überdauerte Neujahr. Als dann aus London die Nachricht eintraf, die Bul­ garen wollten um keinen Preis auf Adrianopel ver­ zichten, begann man den Abbruch der Friedensverhaudlungen für unvermeidlich zu halten. Die Presse trat ohne Unterschied der Parteirichtuag energisch für die Ab­ lehnung der bulgarischen Forderung ein. Aber während die liberalen Blätter Hoffnung auf eine Intervention der Mächte zugunsten der Türkei äußerten, empfahlen die

jungtürttschen

Feindseligkeiten.

Organe Es

hieß,

die

Wiederaufnahme

im

der

Ministerrat ^herrsche

Uneinigkeit. Kiamil Pascha halte die Abtretung von Adrianopel für unvermeidlich, da die Türkei außer­ stande sei, den Krieg fortzusetzen.

Die Mehrheit des

Ministerrats

Großwesir.

bekämpfe

aber

de»

Eine

Krisis schien bevorzustehen. Aber nach mehrtägigen bewegten Beratungen beschloß der Ministerrat am

5. Januar die endgültige Ablehnung der Forderungen des Balkanbundes. Die Pforte hatte bereits am Abend des 4. Januar die osmauischen Botschafter im Ausland angewiesen, den Mächten zu erklären, die Türkei habe getan, was sie tun konnte, um den Frieden zu sichern. Bulgarien bestehe aber auf der Abtretung von Adria­ nopel, dessen Besitz für die Türkei eine Lebensfrage sei. Die Türkei könne auf Adrianopel, das ihr durch Waffen­ gewalt nicht entrissen worden sei, nicht verzichten.

Am

6. Januar wurden die Londoner Verhandlungen sus­ pendiert. Am 7. Januar hatten General Nasim Pascha und der gRiolfkt des Äußern, Noraduughian Effendi, eine auf türkische Anregung zustandegekommeve Zu-

93 sammenkunft

mit

dem

bulgarische« Generalissimus

Sawoff bei Bachtschaisch. Die osmauischen Vertreter unternahmen einen letzten Versuch, die Bulgaren durch Verheißung anderer Vorteile zum Verzicht auf Adria­ nopel zu bewegen. Aber die Bulgaren bestanden auf ihrer Forderung. Der Zustand der Unbestimmtheit konnte unmöglich noch lange fortdauern, da die Groß­ mächte sich anschickten, der Türket in einer Kollektivnote die Abtretung Adrianopels an Bulgarien zu empfehlen. Von der Antwort der Pforte auf diese Note der Mächte mußte die Entscheidung über Krieg und Frieden ab­ hängen. Der Ministerrat beschloß am 12. Januar die Verantwortung für die folgenschwere Entscheidung einer Art von Nationalversammlung, einem „Großen Diwan", zu dem die Senatoren, hohe Geistliche und Beamte

sowie

sonstige

erfahrene

Personen

berufen

werden sollten, zu überlassen. Es kann als sicher gelten, daß KiamU Pascha gegen Mitte Januar alle Mitglieder seines Kabinetts für seine Überzeugung von der Notwendigkeit des Friedens gewonnen hatte.

Und diese Überzeugung wurde zweifel­

los von vielen Liberalen und auch von einigen Jung­ türken geteilt.

Trotzdem hielt der Großwesir es für

geboten, sich bei der Abtretung von Adriauopel auf die Zustimmung des Großen Diwans berufen zu können. Er fürchtete den Protest der Kriegspartet, die in ihrer Mehrheit aus jungtürkischen Politikern und Offizieren bestand, aber auch auf einen TeU der früher liberalen Offiziere rechnen konnte.

Die gemeinsame Unzufrieden­

heit wegen des ungünstigen Waffenstillstands hatte hier

94

und da eine Annäherung unter den bisher feindlichen Offiziersgruppen zur Folge gehabt. Der Umschwung zugunsten der Jungtürkea war in der zweiten Dezember­ hälfte bereits derartig in Erscheinung getreten, daß man mit der Komiteepartei, die Kiamil Pascha zersprengt zu haben wähnte, aufs neue ernst zu rechnen begann. Die Rückkehr des Oberstleutnants Enver Bej, der am 20. Dezember als ruhmreicher Kriegsheld aus Tripolitauien wieder in Konstantinopel eingetroffen war und aus seiner jungtürkischen Gesinnung kein Hehl machte, hatte für die Komiteepartei eine weitere wertvolle Stärkung bedeutet. Es schien einen Augenblick, als sei sogar eine Ver­ ständigung der Jungtürken mit Nasim Pascha und seinen Anhängern zu gemeinsamer Erhebung gegen KiamU Paschas Regiment möglich. Der Kriegsminister und Generalissimus hatte am 26. Dezember eine viel kommentierte Zusammenkunft mit dem jungtürkischen Führer Talaat Bej gehabt und am Abend des gleichen Tages Enver Bej zu einer langen Unterredung emp­ fangen. Man versicherte damals in jungtürkischen Kreisen, die Annäherung Nasim Paschas an die Komiteepartei werde in den nächsten Tagen durch die Ernennung jungtürkischer Offiziere wie Enver Bej und Dschemal Bej auf wichtige militärische Posten offenbar werden. Als «m 31. Dezember bekannt wurde, daß der Jungtürke Dschambulat Bej am Abend vorher unter Umständen, die ein Einverständnis der Behörden voraus­ setzten, aus dem Untersuchungsgefängnis geflohen war, glaubte man in Konstantinopel allgemein, Nasim Pascha

95 habe Dschambulats Flucht auf Grund einer Verab­ redung mit den Jungtürken ermöglicht, um z« verhüten, daß Dschambulat wegen der Erschießung des Polizeibeamten verurteilt werde. Noch andere Zeichen schienen den Umschwung zugunsten der Komiteepartei zu be­ stätigen.

Kiamil Paschas Sohn, der Titnlaradmiral

Said Pascha, der nach der Revolution auf Betreiben der Jungtürken verbannt wurde, nach Erlaß des Amaestiegesetzes im Sommer 1912 aber nach Konstantinopel zurückgekehrt war und seitdem als Anstifter aller Maß­ regeln gegen die Komiteepartei galt, hielt es Ende Dezember plötzlich für geraten, ins Ausland abzureisen. Auch der Exgeneral Scherif Pascha, der Gehässigste, wenn auch nicht Gefährlichste, aller Jungtürkenhasser, der in der Hoffnung, unter Kiamll Pascha eine Rolle spielen zu können, nach Konstantinopel zurückgekehrt war, zog sich vorsichtig wieder nach Paris zurück, da — wie er bei der Abreise erklärte, — der Augenblick für seine politischen Pläne noch nicht gekommen sei. Die erwartete Ernennung der jungtürkischen Offi­ ziere blieb indessen aus. Es war Kiamil Pascha gelungen, Nasim Pascha zurückzugewinnen.

Der Generalissimus

dementierte

allerdings

selbst

in

einem —

erst

am

19. Januar erschienenen — Schreiben an die türkischen Zeitungen

die

Behauptung,

daß

er

zu

irgendeiner

Partei Beziehungen unterhalte. Er benutzte die Ge­ legenheit, die jungtürkischen Offiziere warnend auf die Gefahren

politischer Umtriebe des Offizierkorps auf­

merksam zu machen. Die Nachricht von der geplanten Berufung eines

96 Großen Diwans hatte die Erregung der Kriegspartei bedenklich gesteigert. Am Montag, 13. Januar, mittags sah man Kavallerie von der Taximkaserae im Galopp durch Pera und Galata nach Stambvl zur Hohen Pforte sprengen. Ein Regiment Infanterie folgte nach. Der Großwesir hatte die MitteUung erhalten, daß die Kriegs­ partei einen Putsch plane.

Don diesem Montag an

wurde die Pforte ständig durch ein Bataillon Infanterie bewacht.

Die Sturmzeichen mehrten sich täglich.

Man

hörte von wichtigen Beratungen der Jungtürken, die im Konak des ägyptischen Prinzen Said tzalim Pascha in Jeuiköj am Bosporus abgehalten wurden. Man hörte weiter, daß die in Skutari, gegenüber Konstanti­ nopel, liegenden kurdischen und lasischen Regimenter vom 4. und 5. Armeekorps durch Emissäre der Kriegs­ partei aufgewiegelt wurden und in erregten Versamm­ lungen stürmisch die Fortsetzung des Krieges verlangten. Von den Dardanellen wurden feindliche Kundgebungen der Bevölkerung gegen die Marineoffiziere, denen Feig­ heit vorgeworfen wurde, gemeldet. Alles schien zu beweisen, daß der Regierung nur die Wahl zwischen dem Wiederbeginn der Feindseligkeiten, der nach Be­ fürchtung KiamU Paschas leicht die Eroberung von Konstantinopel durch die Bulgaren zur Folge haben konnte, und neuen inneren Wirren nach der Abtretung Adrianopels blieb. In diesem kritsschen Augenblick versprach der Groß­ wesir sich eine günstige Wirkung von einem Appell des Sultans an den Patriotismus der Parteien. So ent­ standen die Erklärungen des Sultans, die am 16. Januar

97 im „Sabah" erschienen und als charakteristisches Doku­ ment Beachtung verdienen.

Nach dem „Sabah" sollte

der Sultan in einer Unterredung mit dem armenische« Chefredakteur des Blattes, Kelekian Effendi, zuerst sein lebhaftes Interesse für die Presse betont und dann weiter erklärt haben: „Wir überstehen augenblicklich ein großes Unglück.

Kein Herz empfindet schwerer als das

Meine die ganze Größe des Schmerzes. Aber da Allah Mir einen hohen Auftrag gegeben hat, widerstehe Ich der Verzweiflung, um Meine heilige Pflicht zu erfüllen." Oer Sultan sollte weiter von dem Segen der Verfassung gesprochen und die Wiederberufung des Parlaments als „erste Pflicht nach Beendigung des Krieges" be­ zeichnet haben. Weder in der Dynastie noch in der Nation gebe es einen Feind der Verfassung.

Aber das Land

bedürfe der Ruhe, damit die Verfassung segensreich wirken könne. Die ganze Nation müsse ihre Bemühungen vereinen, um die Faktoren zu beseitigen, die Ursache des fortdauernden Zwiespalts seien.

Die Türkei habe durch

die zu häufigen Ministerwechsel seit Einführung des parla­ mentarischen Regimes Schade» gelitten.

Das Beispiel

Englands und Amerikas beweise, daß ein parlamenta­ risches Regime auch ohne fortgesetzte Krisen möglich sei. Zur Sicherung eines richtigen Gebrauchs der Verfassung sei es ferner durchaus erforderlich, daß der Sultan seine vollen Rechte bewahre.

Das Volk habe die Pflicht, in

die nächste Kammer eine gewissenhafte, mit den Bedürf­ nissen der Nation vertraute Mehrheit zu entsenden. So ließ Kiamil Pascha den Sultan sprechen. Der erwartete tiefe Eindruck dieser Kundgebung blieb jedoch aus. Scl&mann, Rricgttagc.

7

98 In dieser gewitterschwülen Zeit traf am 17. Januar über Wien die Athener Meldung von der Beschießung der Insel Syra durch ein osmanisches Kriegsschiff in Konstantinopel ein und erregte größte Überraschung. Man wußte in der türkischen Hauptstadt nichts von dem Durchbruch eines Kriegsschiffs durch die griechische Blockade und zweifelte die erste Meldung, nach welcher der Kreuzer „Medschidieh" Syra beschossen haben sollte, zunächst an.

Spät abends gab das Marineministerium

ein Communiqus aus, in dem festgestellt wurde, daß nicht die „Medschidieh", sondern der Kreuzer „Hamidieh" die kühne Fahrt nach Süden unternommen habe. Die „Hamidieh" hatte nach ihrem Mißgeschick vom 21. No­ vember

wochenlang

im

Konstantinopeler

Reparatur­

hafen im Goldenen Horn gelegen. Anfang Januar war sie dann nach dev Dardanellen abgedampft und am

4. Januar zum erstenmal wieder mit der Flotte aus­ gelaufen. Die türkischen Morgeublätter vom 18. Januar feierten die Fahrt des Kreuzers nach Syra in begeisterten Leitartikeln als große Tat, die ein Wiedererwachea des alten türkischen Seeheldevgeistes beweise. Die Regierung zeigte sich weniger begeistert. Auf der Pforte wurde erNärt, der Kommandant der „Hamidieh" habe die Fahrt auf eigene Faust ohne Befehl der Flottenleitung unter­ nommen und werde sich für sein eigenmächtiges Ver­ halten, durch das die Dardanelleuflotte bedenklich geschwächt worden sei, vor dem Kriegsgericht zu verant­ worten haben. Man deutete sogar an, die Regierung betrachte den Kommandanten als eine Art von Kor­ saren, für dessen Missetaten sie nicht verantwortlich

99

gemacht werden könne. So wvrde eine kühne Tat, welche die Herzen aller Osmanen in dieser traurigen Zeit höher schlagen ließ, von der Regierung aus Furcht vor etwaiger Unzufriedenheit der Großmächte als banaler Akt strafbarer Disziplinlosigkeit behandelt. Das Volk konnte diese Haltung der Regierung unmöglich verstehen. Die bereits große Mißstimmung gegen das Kabinett KiamU Pascha mußte dadurch notwendig noch wachsen. Seit dem 8. Januar wurde von einem geplanten Kollektivschritt der Großmächte in Konstantinopel ge­ sprochen. Aber Tag auf Tag verging, ohne daß die erwartete Note der Pforte überreicht wurde. Man hörte von schwierigen Verhandlungen unter den Mächten. Die Tripel-Entente wünschte dem Schritt den Charatter eines energischen Druckes auf die Pforte zu geben. Der Dreibund, besonders Deutschland, bestand dagegen darauf, daß die Großmächte der Türkei nur einen Rat erteilten. Es gelang Deutschland, den von der TripelEntente zuerst vorgeschlagenen Text der Note zugunsten der Türkei zu mlldern und namentlich die Drohung mit einer Flottendemonstration für den Fall einer ab­ lehnenden Antwort der Pforte aus der Note zu ent­ fernen. Nach Zustimmung der übrigen Großmächte zu den von Deutschland geforderten MUderuagen konnte die Kollettivnote endlich am Nachmittag des 17. Januar durch die sechs Botschafter dem Minister der auswärtigen Angelegenheiten überreicht werden. Die Note, deren Wortlaut am nächsten Tag amtlich bekanntgegeben wurde, machte die türkische Regierung zuerst auf die bedenklichen Folgen der Fortsetzung des Krieges, durch 7*

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die das Schicksal der Hauptstadt iu Frage gestellt und der Krieg auf Asien ausgedehnt werden könnte, aufmerksam. Sie besagte weiter, daß die Türkei in diesem Fall nicht auf den Schutz der Großmächte rechnen könne. Die Türkei bedürfe nach dem Friedensschluß des moralischen und materiellen Beistandes der Großmächte, um die Schäden des Krieges wieder gut zu machen, ihre Stellung in Konsiantinopel zu befestigen und die weiten Gebiete in Asien, auf deren Gedeihen ihre Stärke beruhe, auszunutzen. Sie werde aber auf den Beistand der Mächte nur rechnen können, wenn sie die Ratschläge der Mächte, die den Interessen Europas und der Türkei entsprächen, befolgen wolle. Die Mächte gäben den Rat, Adrianopel an den Balkanbund abzutreten und die Entscheidung über das Schicksal der Ägäischen Inseln den Mächten zu überlassen. Dafür wollten sie dafür Sorge tragen, daß die muselmanischen Interessen in Adrianopel gewahrt und die dortigen Moscheen und sonstigen religiösen Gebäude respektiert würden, und daß die Lösung der Jnselfrage jede Bedrohung der Türkei ausschließe. Unmittelbar nach der Überreichung der Note berief der Großwesir den Ministerrat, nach dessen Schluß der Finanzminister Abdurrahman Dej den vor der Pfotre wartenden Journalisten erNärte, die Antwort der osmanischen Regierung werde zweifellos ablehnend ausfallen. Dann hieß es, nach dem Ministerrat vom 21. Januar, die Regierung sei geneigt, die Abtretung Adrianopels unter gewissen Bedingungen zu bewilligen. Es könne als sicher gelten, daß der für den 22. einberufene Große

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Diwan die Auffassung der Regierung billigen werde. Auf jeden Fall stehe dem Großen Diwan nicht das Recht zu, einen anderen Beschluß zu fassen. Er werde stch lediglich zu den MitteUungen der Regierung äußern können, ohne daß die Pforte gehalten sei, auf seine Äußerungen Rücksicht zu nehmen. In der letzten Zeit vor der Berufung des Großen Diwans war von Personen, die z« jungtürkischen Kreisen Beziehungen hatten, immer wieder prophezeit worden, es werde stch vor der Ausführung des Friedensbeschlusses der Regierung noch „etwas ereignen". Man mußte, so schien es, mit der Möglichkeit rechnen, daß die Kriegspartei die Beratung des Großen Diwans im Palais von Dolma-Dagtsche stören werde. Aber die Regierung schien an diese Möglichkeit kaum zu denken. Sie hatte es jedenfalls für unnötig gehalten, das Sultansschloß während der Beratung durch ein besonderes Truppen­ aufgebot bewachen zu lassen. Nur wenige Polizisten zu Fuß und zu Pferde waren am 22. Januar gegen Mittag vor dem Palais postiert. Die Seeseite wurde von einigen Polizisten in kleinen Booten überwacht. Don einer neugierigen Menge war nichts zu sehen. Alles blieb still. Gegen Mittag trafen die Mitglieder des Großen Diwans in Dolma-Bagtsche ein. Als erster der Großwestr, der gleich den kaiserlichen Prinzen durch das große Tor in den Ehrenhof fuhr, während die übrigen Geladenen ihren Wagen an der äußeren Mauer ver­ ließen und zu Fuß durch das kleinere Tor den Palastbezirk betraten. Unter den Geladenen befand sich eine ganze Reihe von Jungtürkev, besonders unter den

102

Senatoren, jo denen auch der Präsident der Komitee­ partei, Prinz Said Halim Pascha, gehörte. Es fiel in­ dessen ans, daß zwei wichtige Vertrauensmänner der Komiteepartei, die Senatoren General Mahmud Schefket Pascha und Exgroßwesir Hakki Pascha, der Beratung fernblieben. Der letzte Großwesir der Jungtürken, Said Pascha, wegen seiner kleinen Gestalt „Kütschük Said" genannt, war dagegen erschienen. Vor Eröffnung des Großen Diwans empfing der Sultan den Thronfolger Jussuf Jsedin und die Prinzen Wahideddin Effendi und Medschid Effendi gleichzeitig in Audienz. Nach ihnen wurden der Großwesir und der Scheich-ül-Jslam vom Sultan empfangen. Der Sultan ernannte Kiamil Pascha zum Präsidenten des Großen Diwans. Gleich zu Beginn der feierlichen Beratung bewies der Großwesir sein unleugbares diplomatisches Geschick. Zwischen KiamU Pascha und Said Pascha bestand seit langen Jahren unversöhnlicher Haß. Diese beiden Männer, die beide wiederholt mit der Würde des Groß­ wesirs bekleidet worden waren, hatten sich bei jeder Gelegenheit schwere Schmähungen entgegengeschleudert und ihre „Msmoiren" nur zur Verunglimpfung des andern geschrieben. Man war darauf gefaßt, daß Said Pascha den Großen Diwan benutzen werde, seinem Todfeind bittere Wahrheiten zu sagen. Vor Eröffnung der Beratung winkte Kiamil Pascha aber vom Präsi­ dentenplatz aus Said Pascha zu und forderte ihn auf, sich z« seiner Linke« zu setze«. Said Pascha nahm die Ehrung mit stummer Verbeugung au. Zur Rechten des Großwesirs hatte der Scheich-Ül-Jslam Platz genommen.

103 Die übrigen Mitglieder des Große» Diwans saßen, nach Ständen geordnet, auf langen, rotgepolsierten Bänken, die an den Wänden des prächtigen „Saals der Botschafter" entlang aufgestellt waren. Die Generale, Senatoren, Geistlichen, Juristen bildete» gesonderte Gruppen. Die genannten drei Prinzen wohnten der Beratung von einem Nebensalon aus bei. Der Sultan ließ sich über den Verlauf der Versammlung von Viertel­ stunde zu Viertelstunde Bericht erstatten. Nachdem Kiamil Pascha die Sitzung eröffnet hatte, verlas der Direttor im Ministerium des Auswärtigen, Said Bej, zunächst den türkischen Text der Kollektivnote der Großmächte. Dann setzte General Nasim Pascha die militärische Lage auseinander und bemühte sich, den Großen Diwan von der Ansstchtslosigkeit einer Fortsetzung des Krieges zu überzeugen. Der Finanz­ minister Abdurrahman Bej schilderte die finanzielle Lage des Reiches und kam gleichfalls zu dem Schluß, daß ein rascher Frieden unbedingt notwendig sei. Der Minister der auswärtigen Angelegenheiten Noradunghian Effendi verlas ein Expoft über die auswärtige Lage, in dem der Friedensbeschluß des Ministerrats durch die Bedeutung des Wohlwollens der Großmächte für die Zukunft der Türkei begründet wurde. Dann «teilte Kiamil Pascha einzelnen Mitgliedern der Versammlung das Wort. Elf der Geladenen fühlten das Bedürfnis, an der Dis­ kussion tellzunehmen. Zehn von ihnen, darunter der jungtürkische Ulema und Exdeputierte Ahmed Mahir Effendi und die der Komiteepartei nahestehenden Sena­ toren Logothetis Bej und Arisiidi Pascha, zwei Griechen,

104 gaben der Überzeugung Ausdruck, daß der Regierung nichts anderes übrig bleibe als die Uuterwerfuug uuter den Willen der Großmächte und somit die Abtretung von Adrianopel. Auch der Exgroßwesir Said Pascha billigte den Beschluß des Ministerrats, nachdem er sich von Kiamll Pascha ausdrücklich hatte bestätigen lassen, daß die Regierung den außerordentlichen Diwan keines­ wegs berufen habe, um die Verantwortung für ihre Beschlüsse von sich auf die Ratsversammlung abzu­ wälzen. Der Präsident der Komiteepartei, Prinz Said Halim Pascha, gab seine Zustimmung stillschweigend durch den Verzicht auf Widerspruch zu erkennen. Nur ein Mitglied des Diwans, der jungtürkische General­ staatsanwalt Ismail Hakki Bej, protestierte als elfter Redner gegen die Vorschläge der Regierung und ver­ langte die Fortsetzung des Krieges. Nach Schluß der Beratung war den Teilnehmern am Diwan ein ungewohnter Anblick beschieden. Said Pascha und Kiamll Pascha hatten sich erhoben, und der erstere verabschiedete sich von dem Großwesir mit wieder­ holten Verbeugungen und der orientalischen Grußgebärde, die das ehrfürchtige Küssen des Gewandsaums versinnblldlicht. Kiamll Pascha gab jede Verbeugung und jeden Gruß zurück. Dann faßte der Großwesir die Hand seines langjährigen Feindes, und Hand in Hand schritten die beiden Keinen gebeugten Greise, beide in langer schwarzer „Stambuline" und in rotem, etwas altmodisch weitem Fes, der Tür zu, während die übrigen Teiloehmer am Diwan ehrerbietig grüßend zurücktraten. In diesem historischen Augenblick, da der Friede durch

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die Zustimmung des Großen Diwans endgültig ge­ sichert schien, gewann die Versöhnung Kiamils und Saids eine besondere Bedeutung. Sie erschien wie eine feierliche Besiegelung der gemeinsamen Ergebung der beiden großen, bisher feindlichen Parteien in das schwere Schicksal des Vaterlandes. Die Beratung des Großen Diwans hatte drei Stunden gedauert. Ein gegen Abend erschienenes amt­ liches Communiquö machte bekannt, daß die Ratsver­ sammlung den Standpunkt der Regierung angenommen habe. Das CommvniquL besagte weiter, die Versamm­ lung habe bei Annahme der Regierungsvorschläge er­ klärt, daß sie in die wirtschaftlichen Verheißungen der Mächte Vertrauen setze. In der Hauptstadt herrschte völlige Ruhe. Nichts ließ einen bevorstehenden Sturm ahnen. Das Verhalten der meisten jungtürkischen Teil­ nehmer am Große« Diwan, besonders die Zustimmung des Prinjen Said Halim Pascha, wurde ziemlich allge­ mein als Beweis dafür betrachtet, daß auch die Komitee­ partei nunmehr von der Notwendigkeit des Friedens überzeugt sei. Sogar die Leute, die mit Bestimmtheit einen jungtürkischen Putsch angekündigt hatten, glaubten am Abend des 22. Januar nicht mehr an einen Hand­ streich der Kriegspartei, nachdem der Große Diwan so friedlich verlaufen war. Kiamll Pascha schien über alle Schwierigkeiten triumphiert zu haben.

VI.

Die Revolution des 23. Januar. Kiamils Stur) und Nasims Tod. — Die neuen Männer. — Eine Rede des beutscheo Botschafters. — Kündignag des Waffenstill­ stands. — Die türkische Antwortnote. — Wiederbeginn der Feind, seligketten. Die türkischen Morgenblätter vom 23. Januar stellten einmütig fest, daß der Friede gesichert sei, und drückten dabei tiefe Resignation aus. Der „Sabah" erklärte, die Osmaven müßten es künftig mit Adria, nopel halten, wie die Franzosen mit dem Elsaß, „immer daran denken, nie davon sprechen". Der „Jkdam" schrieb, das Sprichwort „Ein Unglück ist besser als tausend Ratschläge" werde sich jetzt hoffentlich für die Türkei als wahr erweisen; das Volk müsse in der Arbeit für eine bessere Zukunft Trost suchen; nur ernste Arbeit könne die Türkei vor einem stemden Protettorat retten. Am Vormittag des 23. trat der Ministerrat auf der Hohen Pforte zusammen, um den endgültigen Wort, laut der türkischen Antwort auf die Note der Mächte vom 17. Januar zu redigieren. Man rechnete mit der Möglichkeit, daß die Antwortnote noch vor Mittag dem

107 österreichischen Botschafter als Doyen des diplomatischen Korps überreicht werden könne, erfahr dann aber, daß die Überreichnng erst nachmittags erfolgen solle. Die Minister blieben über Mittag versammelt.

Der Sultan

ließ ihnen, wie das in solchen Fällen üblich ist, das Frühstück aus der kaiserlichen Küche des alten Serai senden.

In der Hauptstadt herrschte völlige Ruhe.

war ein trüber Regentag.

Es

Das Wetter paßte zu der in

Stambul herrschende» traurigen Stimmung.

Zn Pera

und Galata dagegen hatte man bei der Friedensbot­ schaft erfreut aufgeatmet. Hausse.

Die Börse schloß mit einer

Kein Mensch schien mehr an einen Putsch der

Kriegspartei zu glauben.

Als gegen i Uhr Infanterie

vom Vorort Schischli her durch Pera und Galata nach Stambul marschierte, schenke kaum jemand ihr Beach­ tung.

Man war an Truppendurchmärsche zur Genüge

gewöhnt. Niemand ahnte, daß Oberstleutnant Enver Bej diese Truppen „für alle Fälle" nach Stambul beordert hatte. Nachmittags gegen y24 Uhr erwarteten wir in der Redattion des „Osmanischen Lloyd" ungeduldig die Nachricht, daß die türkische Antwort endlich überreicht sei. Plötzlich stürmte einer unserer Reporter aus Stambul ganz außer Atem ins Zimmer und berichtete, auf der Pforte gehe etwas Ernstes vor.

Er sei mit einigen

andern Journalisten im Regen vor der Pforte auf und ab gegangen, um das Ende des Ministerrats abzuwarten. Plötzlich sei Enver Bej zu Pferde, gefolgt von einem Keinen Zug von Manifestanten, an dessen Spitze mehrere Hodschas und Träger mit roten und grünen Halb-

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mondfahnen schritten, in der Avenue de la Sublime Porte erschienen. Die Manifestanten seien in den Hof der Pforte eingedrungen, ohne daß die dort aufgestellten Truppen Widerstand geleistet hätten. Enver Bej selbst welle mit einigen Begleitern im Gebäude der Hohen Pforte. Gleich darauf kam ein zweiter Reporter bei uns an, der die Fortsetzung des Berichts brachte. Er hatte mehrere Schüsse im Gebäude der Pforte fallen hören. Man versicherte, es gebe einige Tote, darunter Nasim Pascha. Enver Bej habe Kiamll Pascha zur Demission gezwungen und sei mit dem Rücktrittsgesuch des Groß­ wesirs zum Palais gefahren. Die Menge vor der Pforte sei auf viele Tausende angeschwollen. Die Truppen fraternisierten mit den Manifestamev, unter denen man viele kurdische und tscherkessische Freiwillige und auch türkische Frauen bemerke. Man befürchte aber, daß Kiamll und Nasim ergebene Truppen eintreffen und blutige Zusammenstöße erfolgen könnten. Mehrere Redner feuerten die Menge an. Flüchtlinge aus Maze­ donien und Thrazien riefen zur Rache für die Greueltatea auf, während Hodschas Gebete anstimmten. Zwischendurch erllangen wütende Rufe: „Nieder mit Kiamll! Adrianopel muß türkisch bleiben!" Dann wieder wurden Hochrufe auf die Armee ausgebracht. Unter der Menge wurden Prollamationen vertellt, in denen Kiamll Pascha des Hochverrats beschuldigt wurde. Es hieß darin: „Wir wollen keine Regierung, die sich der Armee nicht zu bedienen versteht." Der genaue Hergang der Vorfälle wurde erst am nächsten Tag bekannt. Enver Bej, Talaat Bej und

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andere jungtürkische Führer hatten sich am 23. Januar vor Sonnenaufgang bei einem Parteigenossen in Stambul versammelt. Dort war der Putsch beschlossen worden. Die Ausführung hatte Enver Bej übernommen. Im Vorzimmer des Beratungssaals der Minister auf der Hohen Pforte hatten Enver Bej und seine Begleiter einige Ordonnanzoffiziere getroffen, die beim Erscheinen der Eindringlinge ihre Revolver zogen. Auch Enver und seine Freunde zogen die Revolver. Mehrere Schüsse wurden gewechselt. Eine Kugel traf den Kriegsminister und Generalissimus Nasim Pascha, der aus dem Be­ ratungszimmer in den Dorsaal getreten war, um nach der Ursache des Lärms zu fragen, in den Kopf. Nasim fiel, sofort tot, über einen Tisch. Auch Nasims Ordonnanz­ offizier, Hauptmann Tewfik Bej, und der Adjutant des Großwesirs, Hauptmann Nafis Bej, stürzten tot nieder, nachdem ihre eigenen Kugeln den an Envers Seite ge­ fallenen Jungtürken Mustapha Nedjib Effendi, einen früheren Offizier, getötet hatten. Als fünftes Opfer fiel ein Angestellter der Hohen Pforte. Mit dem Revolver in der Hand betrat Enver Bej den Saal, in dem die Minister versammelt waren, und forderte Kiamil Pascha auf, sein Rücktrittsgesuch zu unterzeichnen. Während ein TeU der Minister sich sehr furchtsam benahm, war der greise (lernt Großwesir erstaunlich ruhig geblieben. Er unterzeichnete das ihm vorgelegte Rücktrittsgesuch mit der Erklärung, daß er der Gewalt weiche. Enver fuhr mit dem Rücktrittsgesuch sofort im Automobil des Scheich-ül-Jsiam zum Sultanspalais. Die Minister wurden mittlerweile im Beratuagszimmer gefangen

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gehalten. Niemand durfte die Pforte verlassen. Auch Fremde wie der erste Dragoman der deutschen Botschaft, Dr. Weber, und der Generaldirektor der Anatolischen Eisenbahn, Huguenin, die im Augenblick des Putsches zufällig auf der Pforte wellten, mußten den Nachmittag dort verbringen. Über die Vorgänge im Palais von Dolma-Bagtsche hat ein früherer Kammerherr des Sultans, Reschid Bej, ein Anhänger Kiamil Paschas, später (n. März) in der „Times" folgendes berichtet: Euver Bej ließ nach der Ankunft im Palais seinen Bruder Fejsi Bej, den Kom­ mandanten der Palastwache, rufen und teilte ihm mit, was geschehen war. Auf Befehl Fejst Dejs trat die Palastwache unters Gewehr und besetzte alle Zugänge zum Palais. Euver Bej trat dann, ohne sich anmelden zu lassen, in das Beratungszimmer, in dem der Sultan sein sollte. Er fand ihn-auch dort und erklärte: „Kiamll Pascha hat demissioniert. Hier ist sein Rücktrittsgesuch. Mahmud Schefket Pascha soll Großwesir werden." Der Sultan fragte: „Warum ist Kiamil denn zurück­ getreten?" Euver erwiderte: „Nasim Pascha ist tot. Das ganze Volk ist in Aufstand und erwartet Mahmud Schefket an der Pforte des Großwesirats." Der Sultan beauftragte darauf seinen Sekretär Ali Fuad Bej und seinen ersten Adjutanten General Salih Pascha, mit Cnver Bej zur Hohen Pforte zu fahren und ihm daun Bericht zu erstatten. Die Abgesandten des Sultans sahen die Leiche Nasims, die gerade von einem Arzt untersucht wurde, und sprachen mit Kiamll Pascha, der ihnen das Vorgefallene erzählte. Sie kehrten mit Cnver

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zum Palais zurück, und jetzt nahm der Sultan die Demission Kiamils an und ließ Mahmud Schefket Pascha ins Schloß berufen, um ihm die Großwesirwürde zu übertragen. Gegen 8 Uhr abends kamen Mahmud Schefket und Enver mit dem Sekretär des Sultans au der Hohen Pforte an. Sie wurden von der tausendköpfigen Menge jubelnd begrüßt. Ms Fuad Bej das kaiserliche Hand­ schreiben über die Ernennung Mahmud Schefket Paschas verlas, erschallte tosender Beifall. Der neue Großwestr hielt eine kurze Ansprache an die Menge, in der er versprach, nach den Wünschen des Volkes zu handeln. Auf Bitten Mahmud Schefket Paschas ver­ ließen die Manifestanten dann den Pforteuhof. Aber bis in die Nacht hinein dauerten die Freudenkuudgebungen in den Straßen von Stambul fort. Bald nach 8 Uhr war ein amtliches Communiqus erschienen, das lautete: „Auf eine Note der Großmächte hin hat das Kabinett KiamU Pascha die Abtretung von Adrianopel und die Abtretung eines Teils der Inseln beschlossen und eine außerordentliche Ratsversammlung einberufe», die nach den Verfassuugsgesetzen nicht zu­ lässig war. Das Kabinett hat dadurch die heiligsten Rechte der Nation verletzt. Die Nation geriet deshalb in Auftegung und veranstaltete eine Kundgebung vor der Pforte. Darauf ist das Kabinett zurückgetreten." Im Laufe des Abends wurden noch mehrere Personen darunter einige liberale Journalisten, verhaftet. Die von KiamU Pascha ernannten Polizeidirettore« der ver­ schiedenen Stadtviertel waren bereits nachmittags.

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unmittelbar vor dem Putsch, verhasttt und durch Derttauensmänner der Komiteepartei ersetzt worden. Die Verschworenen hatten zur Sicherheit auch die Telephondrähte bei der Pforte durchschnitten, um die Herbeirufung militärischer Hilfe zu verhindern. Gegen Mitter­ nacht wurden die Leichen der fünf Opfer des Tages nach dem Militärkrankenhaus von Gülhane beim alten Gerat überführt. Die Mitglieder des Kabinetts Kiamil blieben die Nacht hindurch als Gefangene auf der Pforte. Der Exminister des Innern, Reschid Bej, und KiamUs Finaazminister, Abdurrahman Bej, wurden erst am 27. Januar aus der Haft, die amtlich als Schutzhaft bezeichnet wurde, entlassen. Am Vormittag des 24. Januar erfolgte die end­ gültige Bildung des neuen Kabinttts. Der zum Marschall ernannte Großwesir Mahmud Schefket Pascha über­ nahm selbst das Portefeuille des Kriegsministers, das er schon vom Frühling 1909 bis zum 10. Juli 1912 innehatte. Durch die Übernahme der beiden hohen Ämter bewies Mahmud Schefket Pascha bewunderns­ werten Mut. Der Marschall, ein Araber, persönlicher Freund des deutschen Generalfeldmarschalls Freiherrn v. d. Goltz und Bewunderer Deutschlands, war im Frühling 1909 nach dem geschickt geleiteten Marsch seiner mazedonischen Truppen nach Konstantinopel zur Nieder­ werfung der Gegenrevolution Abdul Hamids alsNationalheld vergöttert worden. Im Besitz unbestrittener Auto­ rität hatte er dann das große Werk der Reorganisation des Heeres beginnen können. Aber seine rücksichtslose Strenge, die dem bisherigen Schlendrian zu stark wider-

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sprach, und die «»kluge Gewaltpolitik des neue« Regimes, als dessen Seele er galt, entfremdeten ihm allmählich die Herzen der meisten Offiziere, uud an die Stelle von Liebe und Verehrung trat der Haß. Im Sommer 1912 hatte er sich, zu Tode erschöpft, vor der beständig wach­ senden Zahl seiner Feinde in der Armee zurückziehen müssen. Dem Krieg mußte er, solange Kiamil Pascha gebot, tatenlos zuschauen. Das Gerücht, Mahmud Schefket Pascha werde mit dem Oberbefehl über die Armee in Mazedonien betraut werden, war im Oktober sofort halbamtlich in derartiger Form dementiert worden, daß die Ernennung des einstigen Kriegsministers zum Armeeführer als ausgeschlossen gelten mußte. Allerdings war der General wiederholt zur TeUnahme am Kriegsrat berufen worden. Er konnte es aber nicht verhindern, daß Nasim Pascha den Kriegsplan des Freiherr« v. d. Goltz unbeachtet ließ und durch unkluge Verteilung der türkischen Streitkräfte die Katastrophe herbeiführte. Als Mahmud Schefket der Menge am Abend des 23. Januar als Großwesir vorgestellt wurde, zeigte sein krankhaft mageres und blasses Gesicht mit dem grauen Dollbart tiefernsten Ausdruck. Man sah es dem Marschall an, daß der Entschluß ihm nicht leicht geworden war. Und die allgemeine Überzeugung ging in der Tat vom ersten Augenblick an dahin, daß er bei der Abneigung vieler Offiziere und bei der unvermeid­ lichen Erregung der Armee über Nasims Tod ein höchst gewagtes Spiel spiele. Don den übrigen Mitgliedern des neuen Kabinettverdiente vor allen der Minister des Innern Hadschi AbU Selbmann, Uritgttage.

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114 Bej Interesse. Als leidenschaftlicher Vorkämpfer der entschiedenen jungtürkischen Reformpolitik hatte Hadschi AdU sich bei den Liberalen sehr verhaßt gemacht. Er war bis zur Revolution ein kleiner Beamter, seitdem aber zweimal Minister gewesen, zuletzt seit Januar 1912 Minister des Innern unter Said Pascha. Dorellige Leute hatten einst prophezeit, nie wieder werde ein Groß­ wesir es wagen können, dem verhaßten Mann ein Portefeuille anzuvertrauen. Und doch berief Mahmud Schefket Pascha thu in diesem kritischen Augenblick wieder auf den wichtigen Posten des Ministers des Innern, und Hadschi AdU Bes folgte dem Ruf, wodurch auch er großen Mut bewies. Seine Freunde Dschawid Bej und Talaat Bej traten in das Kabinett nicht ein. Diese beiden Männer waren den Feinden der Komitee­ partei gleichfalls aufs äußerste verhaßt, da sie als Ver­ körperung des entschiedenen, allen Kompromissen ab­ geneigten Juugtürkeutums galten. Talaat Bej war kleiner Telegrapheubeamter in Salouik gewesen, als die Revolution ausbrach. Er hatte sich als vorzüglicher Redner rasch zur Geltung gebracht und war Abgeord­ neter, Vizepräsident der Kammer und schließlich Minister geworden. Am Kriege hatte er, wie schon berichtet, als Freiwilliger teUgenommeu. Talaat ist mit Recht als die Seele der Revolution des 2z. Januar bezeichnet worden. Er hatte Enver Bej veranlaßt, aus Trtpolitanien nach Koustantinopel zurückzukehren. Er hielt auch die Verbindung zwischen den ins Ausland ge­ flüchteten Jvugtürken und den in der Hauptstadt ge­ bliebenen Parteigenossen aufrecht. Obgleich mehrere

115 Haftbefehle gegen ihn erlassen warben, verstand er seine Freiheit «ährend der ganzen Zeit der Jnngtürkenhetze zu wahre», ohne sich indessen zu verbergen. Don Talaat als interimistischem Minister des Innern war bas Zirkulartelegramm unterzeichnet, durch das der Kabinetts, Wechsel noch am Abend des 23. Januar zur Kenntnis der Provinzbehörden gebracht wurde. Am nächsten Tag überließ er das Ministerium seinem Freunde Hadschi Adil Bej. Der einstige erfolgreiche Finanzminister Dschawid Bej, vielleicht der klügste Kopf und der glän, zendste Redner der Komiteepartei, wellte am 23. Januar als Flüchtling im Ausland, kehrte aber nach dem Um, schwung sofort zurück. Dschawid Bej, der einer Saloniker Dönmefamllie („Oönme" heißen die zum Jsiam über, getretenen Israeliten) entstammt, war bis zur Revo, lution Universitätsprofessor gewesen und hatte seit Ein, führuag der Verfassung eine große Rolle im Parlament gespielt. Als Finanzminister hatte er das Vertrauen der ftemden Bankkreise gewonnen. Die neue Regierung appellierte denn auch gleich an sein Geschick und betraute ihn mit der delikaten Aufgabe, Geld im Ausland auf, zutreiben. Als Finanzminister des neuen Kabinetts fungierte der Präsident des Rechnungshofes, Rifaat Bej. Das Portefeuille der öffentlichen Arbeiten übernahm Senator Batzaria Effendi, ein aus dem Wllajet Monastir stammen, der Kutzowalache. Batzaria, eine der sympathischsten Er, scheinungen unter den osmanischen Parlamentariern, hatte sich den Dank der Jungtürken vor allem dadurch verdient, daß er am 4. August 1912 mit vier anderen 8*

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(Senatoren gegen die Auflösung der Sammet durch das Kabinett Ahmed Muhtar Pascha gestimmt hatte. Zum Minister der auswärtigen Angelegenheiten wurde einige Lage später der Präsident der Somiteepartei, der ägyptische Prinz Said Halim Pascha, ernannt, nachdem der frühere Großwesir Hakki Pascha die Übernahme des Portefeuilles abgelehnt hatte. Präsident des Staats­ rats wurde der alte Exgroßwesir Said Pascha. Zum Generalissimus wurde der bisherige General­ stabschef Jset Pascha ernannt, der im Augenblick des Beginns der Feindseligkeiten als Oberbefehlshaber der gegen die aufständischen Araber entsandten Armee im Jemen wellte und erst Ende Oktober nach Konstantinopel zurückgekehrt war. Jset Pascha, der sich als General­ stabsoffizier im türkisch-griechischen Krieg von 1897 aus­ gezeichnet und seine Tüchtigkeit später in Arabien her­ vorragend bewährt hat, verdankt seine mllitärische Ausblldung gleich so vielen osmanischen Offizieren Deutsch­ land. Er hat längere Zeit beim 14. Husarenregiment in Kassel gestanden und ist später Adjutant des Freiherrn v. d. Goltz gewesen. Der Held des 23. Januar, Oberst­ leutnant Cnver Bej, blieb Generalstabschef des X. Armee­ korps. Die Befürchtung, daß es in Konstantinopel zu blutigen Zusammenstößen zwischen den Anhängern Äiamil Paschas und den der Komiteepartei ergebenen Truppen kommen werde, etföOte sich nicht. In der Hauptstadt herrschte völlige Ruhe. Die Beisetzung Nasim Paschas, die am Morgen des 24. Januar in der Suleimanieh-Moschee in Stambul stattfand, und der

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mittags abgehaltene Selamlik verliefen ohne Zwischen­ fall. Unter den Truppen bei Tschataldscha kam es aller­ dings in den nächsten Tagen j« politischen Streitigkeiten, bei denen die Soldaten von ihre» Waffen Gebrauch machten. Aber die Bewegung gewann keinen bedenk­ lichen Umfang. Alle Propheteinngeu von einer Gegen­ revolution erwiesen sich als falsch. Mit fieberhafter Spannung erwartete man die Antwort der neuen Regierung auf die Note der Mächte. Unter dem ersten Eindruck der Nachricht von dem Putsch hatte man ziemlich allgemein angenommen, daß die Regierung die Vorschläge der Großmächte höflich ab­ lehnen und sofort den Krieg wieder beginnen werde. Aber es wurde rasch offenbar, daß es tatsächlich unter den Jungtürken eine starke Friedenspartei gab, welche die Wiederaufnahme der Feindseligkeiten zu vermeiden wünschte. Noch am Abend des 23. Januar hatte Talaa Bej einem Journalisten erklärt: „Wir wollen keine Fort­ setzung des Krieges, aber wir find entschlossen, Adria­ nopel zu behalten." Ähnliche Erklärungen gaben andere Vertreter des neuen Regimes in den folgenden Tagen ab. Der Ministerrat hielt täglich Beratungen. Die Überreichung der Antwortnote wurde indessen von Tag zu Tag verschoben. Ein Beweis, daß die Regierung nichts überstürzen wollte. Am 27. Januar war die Lage noch völlig unklar. Man rechnete bei dem offenbaren Willen der Türkei, um keinen Preis auf Adrianopel zu verzichten, mit der Wahrscheinlichkeit des baldigen Wiederbeginns der Feind­ seligkeiten. Und da das Vertrauen zu der Widerstands-

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kraft des türkischen Heeres nur gering war, wurde aufs neue die Gefahr der Eroberung von Konstantinopel durch die Bulgaren ernstlich besprochen. Mau prophe­ zeite wieder, wie im November, den völligen Zusammen­ bruch der Türkei. Gerüchte von Unruhen in Syrien, Mesopotamien und Armenien und von dunklen Plänen Frankreichs, Englands und Rußlands schienen die Vor­ aussagen der Unglückspropheten zu bekräftigen. Aus dieser pesstmistischen Stimmung heraus hielt der deutsche Botschafter Freiherr v. Wangenheim am Abend des 27. Januar beim Kaisergeburtstagsessen der deutschen Kolonie im Klubhaus „Teutonia" die vielbesprochene Rede, in der es wörtlich hieß: „Die wirtschaftlichen Interessen Deutschlands sind so innig verknüpft mit den politischen Interessen der Türkei, daß die Integrität Anatoliens ein Noli me tangere der deutschen Politik bllden muß. Ich möchte das hier mit aller Entschieden­ heit aussprechen." Die Rede war nicht für die große Öffentlichkeit bestimmt. Die Vertreter der deutschen Presse berichteten darüber ans Wunsch des Botschafters nicht, und auch der „Osmanische Lloyd" tat dieser Stelle der Rede keine Erwähnung. Die Äußerung des Frei­ herrn v. Wangenheim sprach sich aber in Konstantinopel rasch herum, und am 29. Januar erschien ein Bericht darüber im Pariser „Matin". Die Deutschen von Konstaatinopel, die durch lauten Beifall ihre Zustimmung zu der entschiedenen Erklärung des Botschafters be­ kundet hatten, stellten mit Vergnüge» fest, daß ihre Auffassung von der gesamten deutschen Presse geteilt wvrde, und daß man den Botschafter auch in Berlin

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keineswegs desavouierte, sondern seine Äußerung als zutreffende Definition der deutschen Politik anerkannte. Die Überreichung der türkischen Antwortnote war für den 28. und dann für den 29. Januar mit Bestimmt­ heit angekündigt worden, erfolgte aber nicht. Dafür traf am Abend des 29. die Meldung vom Abbruch der Londoner Verhandlungen durch die Balkanstaaten ein. Die Nachricht wurde vom Publikum der türkischen Haupt­ stadt nicht ernst genommen. Der „Jeune Turc" gab eine vielfach geäußerte Meinung wieder, wenn er das Vorgehen des Balkanbundes kurzweg als Schwindel und „Chavtage" bezeichnete. Auch die am 30. Januar erfolgte Kündigung des Waffenstillstands durch die Ver­ bündeten wurde zuerst als Bluff betrachtet. Der „Tanin", der am 31. Januar zum erstenmal wiedererschien, be­ merkte dazu, die Lage sei rätselhaft. „Soll durch die Kündigung des Waffenstillstands" — so fragte er — „eine neue diplomatische Aktion eingeleitet werden oder handelt es fich nur um leeres Säbelgerassel?" Ähnlich drückten die anderen Blätter fich aus. Die Zeitungen erklärten, bis zum Montag, 3. Februar, an dem die Feindseligkeiten, abends um 7 Uhr, wieder beginnen sollten, könne noch manches geschehen. Sie dachten dabei an eine Intervention der Mächte, die den Wieder­ beginn des Krieges in letzter Stunde noch verhindern werde. Diese Hoffnung schien um so mehr berechtigt, als die türkische Antwortnote, die am 30. Januar nach­ mittags 3 Uhr endlich durch den Minister der aus­ wärtigen Angelegenheiten, Prinzen Said Halim Pascha,

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dem Doyen des diplomatischen Korps überreicht worden war, über Erwarten große Mäßigung bekundete. Die Pforte betonte in dem ziemlich langen Dokument, daß sie den Friede» wünsche. Die Türkei habe, obgleich der Krieg nicht von ihr provoziert worden sei, unbestreitbare Beweise versöhnlicher Gesinnung durch Bewilligung riesiger Opfer gegeben. Adrianopel sei als durchaus mohammedanische Stadt und zweite Hauptstadt des Reiches so innig mit der Türkei verbunden, daß das bloße Gerücht von der Abtretung Adrianopels im ganzen Lande eine Erbitterung erzeugt habe, die den Rücktritt des früheren Kabinetts erforderlich machte. Trotzdem sei die Türkei aus Friedensliebe bereit, das Los des rechts von der Maritza gelegenen Tells von Adrianopel den Mächten anheimzustellen, wünsche aber den auf dem linken Ufer gelegenen Tell zu behalten, da in ihm die Moscheen und Mausoleen gelegen seien. Es sei durchaus notwendig, daß dieser Tell unter türkischer Souverä­ nität bleibe, da sonst eine folgenschwere Aufregung im Lande entstehen könne. Was die Inseln betreffe, so sei ein Teil von ihnen wegen der Nähe der Dardanellen unentbehrlich für die Verteidigung der Hauptstadt. Die übrigen blldeten einen integrierenden Bestandteil der astatischen Besitzungen und seien daher unentbehrlich für die Sicherheit Kleinasiens. Eine Schwächung der Autorität der Türkei auf den Inseln würde einen Zu­ stand dauernder Wirren schaffen. Daher ersuchte die Pforte die Mächte, bei Bestimmung des Schicksals der von den Griechen besetzten Inseln diese Bedenken zu erwägen. Die Pforte erklärte weiter, etwaige neue

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Forderungen ablehnen ju müssen. Sie nahm von den Versprechungen der Mächte dankbar Kenntnis und erbat ihre Zustimmung zur Einführung eines unabhängigen Zolltarifs, zum Abschluß von Handels, Verträgen auf der Grundlage moderner Rechtsgrund, sähe, zur Ausdehnung der osmanischen Steuergesetze auf die ftemden Staatsangehörigen und zunächst zur Erhöhung der Zölle um 4 Prozent. Die Pforte erklärte endlich, sie rechne auf die Aufhebung der fremden Postämter und bitte die Mächte, in einer Erklärung selbst den Wunsch zu erkennen zu geben, daß dem Rögime der Kapitulationen in der Türkei ein Ende gesetzt werde. Der optimistische Wahn, daß der Wiederausbruch des Krieges in letzter Stunde noch durch einen neuen Schritt der Großmächte verhindert «erde« könne, bestand am 31. Januar fort. Der Minister des Äußeren Prinz Said Halim Pascha, antwortete am Nachmittag des 31. einem Journalisten auf die Frage, ob der Wiederbeginn der Feindseligkeiten wirk, lich für Montag abend (3. Februar) zu erwarten sei: „Ich denke, daß die Ereignisse sich nicht überstürzen werden." Aber am nächsten Morgen betonte Hussein Dschahid Bej im „Tanin" energisch, daß für eine Aktion der Mächte jetzt kein Raum mehr sei, und daß der unberechtigte Optimismus gewisser tür, kischer Kreise von bedauerlichem Mangel an Scharf, blick zeuge. Am Nachmittag des 31. Januar hatte stch im Fest, saal der Stambuler Universität ein wichtiges Ereignis

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abgespielt: die Gründung des „Komitees der nationalen Verteidigung". Die Feier gestaltete sich zu einer groß­ artigen patriotischen Kundgebung, an der weit über tausend Personen, meist bekannte Persönlichkeiten und Vertreter aller Parteien, tellnahmen. Die Jungtürken hatten den Vorsitz diplomatisch einem Liberalen, dem Marschall Fuad Pascha, überlassen. Man wählte einen Vorstand von 28 Personen, in dem alle Parteien ver­ treten waren, und setzte fünf Kommissionen für die Orga­ nisierung des äußersten Widerstandes ein. Das Volk wurde in Manifesten aufgefordert, auf allen Parteihader ju verzichten, nur an das Wohl des Vaterlandes zu denken und Gaben für den Kriegsschatz zu spenden. Das Komitee entfaltete vom ersten Tage an eine rege Tätigkeit. Überall wurde die Schaffung von Frei­ willigenbataillonen vorbereitet. Das Lazarettwesen wurde unter eifriger Mitwirkung der türkischen Frauen, die übrigens seit dem Beginn des Krieges an der Verwundeteapflege mit viel gutem Willen, aber leider unzureichender Erfahrung tellgenommen hatten, neu organisiert. In den Moscheen klärten bekannte Geistliche das Volk über die Bedeutung des Krieges und die Notwendigkeit weiterer Opfer auf. Die Regierung ermächtigte das Komitee der natio­ nalen Verteidigung, eine innere fünfprozentige An­ leihe aufzunehmen. Die Staatskassen wurden angewiesen, die Anteüscheine wie bares Geld anzu­ nehmen. Die großen Hoffnungen des Komitees erfüllten sich indessen nur zum kleinen Tell. Diele wohlhabende Türken hielten die Taschen geschloffen, während die

123 ärmere anatolische Bevölkerung vielfach rührenden Opfer­ mut bewies. Der fatale Augenblick des Ablaufens der Waffen­ ruhe kam mittlerweile näher und näher. Die Frage, ob es den Mächten oder wenigstens einigen Mächten gelingen werde, die effektive Wiederaufnahme der Feind­ seligkeiten ju verhüten, stand fortgesetzt im Vordergrund des Interesses. Am 2. Februar prophejeiten die der Regierung nahestehenden jungtürkischen Zeitungen aufs neue einen Schritt der Großmächte beim Balkanbund, der die Wiederaufnahme der Friedensverhandlungen auf der Grundlage der türkischen Antwortnote erstreben sollte. Tatsächlich herrschte in Dreibundkreisen die Überzeugung, daß die türkische Note mit ihrem über Erwarten großen Entgegenkommen wohl einen neuen Schritt der Mächte rechtfertigen würde. Aber die Kreise der Tripel-Entente verhielten sich kühl ablehnend und beharrten auf dem Standpunkt, daß von einer Inter­ vention der Mächte nur dann die Rede sein könne, wenn die neue Regierung die Zugeständnisse unterschreibe, zu denen das Kabinett KiamU Pascha zuletzt bereit ge­ wesen sei. Die Beziehungen zwischen dem neuen Kabinett und den diplomatischen Vertretern der Tripel-Entente waren in diesen Tagen sehr kühl.

Man erzählte sich in

Pera, der englische Botschafter habe den Großwesir, der ihn am 1. Februar besuchte, um den Standpuntt der neuen Regierung auseinanderzusetzen,

kurz mit dem

Bemerken unterbrochen, er sei augenblicklich zu seinem Bedauern so stark beschäftigt, daß ihm zu einer längeren Unterredung die Zeit fehle.

Die Dreibunddiplomatie

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dagegen erkannte die Friedensbereitschaft der Pforte, die sich vertranlich sogar jv weiteren Zugeständnissen über den Inhalt ihrer Antwortnote vom 30. Januar hinaus bereit erklärt hatte, warm an und bemühte sich, eine« Modus für eine neue Dermittlungsattion der Mächte zu finden. Die Bemühungen scheiterten an dem Widerstand der Tripel-Entente. Es gelang dem Dreibund aber, die besonders von Frankreich angeregten Zwangsmaßregel« gegen die Türkei zu verhüten. Die Kundgebung der „Norddeutschen All­ gemeinen Zeitung" vom 26. Januar, in der es hieß, Zwangsmaßregeln würden mit den Grundsätzen der Neutralität nicht in EinNang stehen und könnten bedenkliche Folgen herbeiführen, hatte ihren Zweck nicht verfehlt. Am Morgen des 3. Februar führten die türkischen Zeitungen in ihren Leitartikeln eine sehr kriegerische Sprache. Daneben veröffentlichten sie aber eine Mittellung, die deutlich bewies, wie wenig die Türkei de« Wiederbeginn der Feindseligkeiten wünschte: die osmanische Heeresleitung hatte den Truppen befohlen, nicht vor den Bulgaren das Feuer zu eröffnen, damit die volle Verantwortung für das neue Blutvergießen auf die Bulgaren falle! Die Spannung war den ganze» Tag über ungeheuer. Man schwankte zwischen der Hoffnung, daß die Wiederaufnahme der Feindselig­ keiten doch noch vermieden werde, und der Furcht vor einem kühnen Handstreich der Bulgaren. Gegen Abend ging starker Regen nieder. In später Stunde ver­ breitete sich das Gerücht, der Waffenstillstand sei um

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weitere vier Tage verlängert worden, »m einen letzten Dersnch zur Wiederaufnahme der Friedensverhandlungea zv ermöglichen. Aber gleich darauf traf die Meldung ei», daß Adriauopel seit 7 Uhr abends bom­ bardiert werde, und daß sich auch ein Jnfanteriegefecht im Osten und Süden der belagerten Stadt entsponnen habe. Der Krieg hatte wieder begonnen.

VII.

Der letzte Versuch. Erwache» der türkische» Offensive. — Die Begeister»»g der tür­ kische» Frauen. — tzakki Paschas Mission. — Dschawid BejS Reise. — Deteotralistische Umtriebe. — Iaainas Fall. — Die Friedens, bemühongen der Großmächte. — Oie Einnahme von Abrianopel.

Der neue Generalissimus Jset Pascha hatte seine Ernennung am 31. Januar, also am Tage nach der Kündigung des Waffenstillsiands, allen Korpskomman­ danten in einem Tagesbefehl mitgeteilt, in dem es hieß: „Im Vertrauen auf den Beistand und die ange­ borene große Tapferkeit des türkischen Heeres habe ich diesen hohen Posten angenommen, dem ich meine ganze Existenz weihen werde. Ihr alle wißt, daß unsere Feinde sehr grausam gegen uns handeln, indem sie durchaus ungerechte Forderungen stellen. Leben und Zukunft des Vaterlandes und die Ehre der Nation sind jetzt unsern Händen anvertraut. Die Nation erwartet, daß alle Mannschaften und Offiziere mit Todesverachtung ihr Leben der Erfüllung ihrer Soldatenpflicht weihen. Das Schicksal ruft uns zur Verteidigung des Vaterlands und der Regierung. Wir wollen beweisen, daß wir

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würdige Söhne unserer Väter sind, daß das osmanische Blut nicht versiegt ist. Ein Volk, das für seinen Glauben und für sein Vaterland zu sterben bereit ist, hat immer Erfolg und lebt ewig." Einige Tage später richtete der bulgarische Generalissimus Sawoff einen Tages, befehl an sein Heer, in dem er erklärte: „Um den Wider, stand des Feindes endgültig zu brechen, müssen wir ihn von neuem niederschmettern, seine in der Hast ge, sammelten Horden, denen jegliche Begeisterung fehlt, zerstreuen und ihm auf dem Schlachtfeld die Friedens, bedingungen dittieren. Die Türken müssen über das Meer gejagt werden." Diese neugesammelten „Horden", von denen der bulgarische Heerführer mit solcher Verachtung sprach, machten in Wirklichkeit einen ganz vorzüglichen Eindruck. Es waren meist Kerntruppen aus den auatolischen Ost, Provinzen, auf die der Mobilmachungsbefehl vom Oktober bisher nicht ausgedehnt worden war. Sie trafen zu Schiff in Konstantinopel ein und wurden von dort «eitertransportiert. Wenn sie unter orientalischen Musikkläagen in tadelloser neuer Ausrüstung durch die Straßen der Hauptstadt zogen, konnten die Leute sich nicht genug darüber wundern, daß die arme Türkei, die viele am letzten Ende ihrer Kraft angelangt wähnten, noch über solche Truppen verfügte. Die Hauptstädter bekamen wieder einmal ganze Kavallerieregimenter mit vortrefflichem Pferdematerial — ein ungewohnter An­ blick für Konstantinopel seit dem Ausbruch des Krieges — zu sehen. Mahmud Schefket Pascha schien eia Zauberer zu sein, der Armeen aus der Erde stampfte. Die Stim-

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mung dieser Truppe« war ausgezeichnet. Sie brausten darauf, an den Feiud zu kommen. Auf den Exerzier­ plätzen der Hauptstadt, die nach dem Krtegsbegiun ver­ ödet dagelegen hatten, herrschte seit dem Umschwung vom uz. Januar wieder buntes Leben. Überall wurden junge Rekruten und alte Redifs ausgeblldet. Offiziere und Mannschaften waren eifrig bei der Sache. Der Geist der Mutlosigkeit schien plötzlich verschwunden zu sein. Im Hafen wurden in aller Elle große Haadelsdampfer ausgeladen, um für Truppentransporte dienen zu können. An der Taximkaserne in Per« herrschte leb­ haftes Treiben. Dort wurden wieder, wie beim Beginn des Krieges, Pferde von Droschken und Lastwagen requiriert, was viele Neugierige anzog. Im übrigen bot die Hauptstadt bei mlldem Frühlingswetter einen durchaus ftiedlichen Anblick. Das Publikum nahm den Wiederbeginn der Feindseligkeiten zunächst noch nicht ernst. Auch die Börse verriet am 4. Februar noch keinerlei Unruhe, sondern blieb fest, als sei der Friede gestchert. Die Meldungen von neuen blutigen Kämpfen ließen indessen nicht lange auf stch warteu. Mau hörte von Gefechten im Norden des Chersoues, bei Keschan, Malgara und Kadiköj, die mit dem Rückzug der dort aufgestellten schwachen türkischen Truppenabtellungen in der Richtung auf Bulair endeten. Man hörte weiter von einem Vorstoß der Bulgare« nach den Orten Scharköj und Myriofiton am Marmarameer. Es hieß, osmanische Kriegsschiffe hätten den vorrückende« Bulgaren dort schwere Verluste beigebracht. Aus Adrianopel

129 wurde

durch

Funkentelegramme ungeschwächte

Fort­

dauer des Bombardements gemeldet. Rach den amt­ lichen Angaben waren viele Granaten in die Stadt ge­ fallen und hatten eine ganze Reihe von friedlichen Ein­ wohnern getötet oder verwundet. Die in Konstantinopel weilenden Mohammedaner aus Adrianopel versam­ melten sich am 6. Februar in der Sophienmoschee, um gemeinsam für ihre Angehörigen in der belagerten Stadt zu beten. Der Scheich des Adrianopeler Klosters der Mewlewiderwische, der im Augenblick des Beginns der Belagerung zufällig von Adriauopel abwesend war, leitete den Gottesdienst.

Die Frage, wie lauge Adria­

nopel wohl noch Widerstand leisten werde, beschäftigte natürlich alle Welt. Prophezeiungen verschiedenster Art wurden laut.

Die einen kündigten die Kapitulation für

die nächsten acht oder vierzehn Tage an. Die anderen verflchertev, Adrianopel könne «och sechs Monate wider­ stehen. In den Kreisen der fremden Kolonie« sorgte man sich lebhaft um die in Adrianopel miteiv-eschloffene« Ausländer, unter denen fich 44 Reichsdeutsche und an, nähernd 100 Österreicher befanden. Man dachte mit Bangen au den Augenblick, da die tapfer vetteidigte Stadt dev Belagerern die Tore öffne» und sich ihnen auf Gnade «nd Ungnade werde ausliefern müsse«. Bei Tschataldscha blieb zunächst alles ruhig.

Mau

erfuhr, daß die Bulgare« ihr schweres Gepäck nach rück­ wärts schasste« und ihre Stellungen gegenüber dem linke« Flügel der türkischen Tschataldscha-Armee räumten. Bor dem Abzug steckte» fle einige Ortschaften, die fast ausschließlich von Griechen bewohnt waren, in Brand. $ c I & m a n n , Urirgftogr.

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130 Man glaubte in Konstantinopel zuerst, die Bulgaren hätten einen Teil ihrer bei Tschataldscha stehenden Truppen nach Adrianopel gesandt, um die Einnahme der Festung zu beschleunigen, und fühlten sich nun zu schwach zur Verteidigung der bisher behaupteten Po­ sitionen. Aber bald wurde es offenbar, daß die Gefahr eines türkischen Flankenangriffs die Bulgaren veran­ laßt hatte, ihre Frontlinie zu ändern. Die Türken ver­ suchten in den ersten Tagen nach dem Wiederbeginn der Feindseligkeiten in der Tat, an verschiedenen Punkten der Küsten des Marmarameers und des Schwarzen Meers Truppen zu landen. In Rodosto, in Siliwri, in Podima, in Midi« wurden solche Landungen unter dem Schutz der Kriegsschiffe bewerkstelligt. Genaueres da­ rüber ist in Konstantinopel nicht bekannt geworden. Aber es war bald nicht mehr zu bezweifeln, daß die Ver­ suche gescheitert waren. Trotz des Beistands der schweren Schiffsgeschütze gelang es den Türken nirgends, festen Fuß zu fasse«. Der Plan einer Flaukenumgehung, von dem manche den Ersatz von Adrianopel erhofften, mnßte gleich wieder aufgegeben werden. Der Rückzug der Bulgaren ermöglichte es allerdings dem linken türkischen Flügel, über den See von Böjük-Tschedmedje hinaus vorzugehen und im Zentrum der Stellung den Bahnhof von Tschataldscha zu besetzen. Aber dieses Vorrücken mußte bedeutungslos bleiben, solange es nicht durch einen Vorstoß von Slliwri und Rodosto her unterstützt wurde. Einen schwere» Verlust für die Türken bedeutete das Auflaufen des Kreuzers „Affar i Tewfik", der am y. Februar bei Karaburun am Schwarzen Meer auf eine

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Klippe geriet und einige Tage später trotz aller Bemü­ hungen zu seiner Flottmachung vollständig sank, ehe die Geschütze geborgen werden konnten. Auch auf dem Kriegsschauplatz am Ehersoaes waren die Türken nicht von Glück begünstigt. Cs war den Bulgaren gelnagea, die osmaaischea Truppen bis auf die Linie» von Bulair zurückzuwerfen, und sich ihnen gegenüber, bei Eksamlloa, stark zu verschanzen. Ein Versuch der Türken, bei Scharköj Truppen zu landen und den Rücken der Bulgaren vom Marmarameer her zu bedrohe», scheiterte vollkommen, obgleich auch hier die osmanischen Kriegsschiffe eiagriffen. Die gelandeten Truppen wurden wieder eingeschifft, nachdem sie bei einem Versuch, die Bulgaren von den Höhen über Scharköj zu vertreiben, schwere Verluste erlitten hatten. Die Türken mußten sich auf dem Ehersones fortan darauf beschränken, ihre Stellungen bei Bulair zu be­ haupten, was ihnen auch gelungen ist. In Konstanti­ nopel waren seit dem Wiederbeginn des Krieges täglich Siegesmeldungen verbreitet worden. Alle Landuvgsversuche sollten gelungen sein. Man versicherte, die ganze Marmaraküste sei wieder in der Gewalt der Türken. Der freiwillige Rückzug der Bulgaren bei Tschataldscha wurde als Folge osmanischer Siege hingestellt. Und bei Bulair, wo die Bulgaren in Wirklichkeit alle Ver­ suche der Türken, in der Richtung auf Adrianopel vor­ zudringen, erfolgreich vereitelten, sollten die osmanischen Truppen fortgesetzt mißlungene Angriffe der Dnlgaren auf die türkischen Stellungen blutig zurückweise». Auf die Dauer ließ sich aber die Wahrheit nicht verschleiern. 9*

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Das Volk begann ungeduldig zu ftage«, wann der Entsatz von Adriaaopel endlich erfolgen «erde. Bewundernswerten Opfermut zeigten in diesen Tagen die türkischen Frauen, welche die Ablehnung der Abtretung von Adriaaopel mit patriotischer Freude begrüßt hatten. Am Nachmittag des 8. Februar hielten mehrere tausend türkische Frauen in der Stambuler UniverfitLtsaula unter dem Vorsitz der ägyptischen Prinzessin Nimet Hanum, der Gemahlin Mahmud Mvhtar Paschas, eine Versammlung ab. Die Schrift-stelleriu und Philosophiu Fatma Alieh Hanum, eine Tochter des bedeutenden türkischen Historikers Dschewdet Pascha, betonte als erste Redneria die Notwendigkeit wettet« Opf« für das Dat«land. Dann schilderte Fehime Nesh« Hanum, eine junge elegante Dame, in gewandter Rede den Verlauf des Balkankrieges und die Greueltaten der Verbündete«. Nachdem Schülerinnen türkischer Mädchenschulen patriotische Gedichte vorgetrage« hatten, bestieg Halide Hanum, die bedeutendste türkische Schriststellerta, unt« jubelndem Beifall die Tribüne, um an die ruhmreiche D«gangenheit des os, maatscheu Volkes zu erinnern. Eine russische Moham, medan«in üb«brachte Grüße der Glaubensgeuosstuneu im Ausland. Die Versammlung beschloß daun die Absendung eines Telegramms au die Armee, die er­ mahnt wurde, tapf« für die Ehre der Mütt«, Gattinnen and Schwest«» zu kämpfen. ES «nrde fern« beschlossen, in Telegrammen au alle Herrscherinnen Europas gegen die Gewalttaten des Dalkaubundes zu protestieren. Zum Schluß legten die Frauen Geld und Schmuck auf dem

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Tisch der Präsidentin nieder als Spende für den Kriegs­ schatz. Die Begeisiervng war ungehener. Einige Frauen gaben alle Ketten, Ringe, Braschen und Armbänder hm, die sie gerade an sich trugen. Diele leerten vollständig ihre Börse. Eine elegante Dame zog rasch eine kostbare Pelzjacke ans, die sie unter dem Tschartschaf trug, und warf sie auf den Opfertisch. Das Beispiel der türkischen Frauen von Koustantiaopel wurde in den Provinzen nachgeahmt. Überall hielten die Frauen Versammlungen ab und spendeten reiche Gaben für das Vaterland. Eine zweite Frauen­ versammlung in der Stambuler Universität, die am 15. Februar unter dem Vorsitz Selma Hanums, der bekannten Schwester des jungtürkischen Senators Ahmed Risa Bej, abgehalten wurde, hatte noch größeren Erfolg als die erste Versammlung und ver­ anlaßte Spenden, deren Wert hoch in die Tausende ging. Die türkischen Frauen ließen es aber bei patriotischen Reden und reichen Gaben für den Kriegs­ schatz nicht bewende». Sie wollten selbst bei der Linderung der Kriegsuot tätig milwirken. An Psiegerinuen für die Derwnudeteu herrschte kein Mangel mehr. Do» etwa vierhundert mohammedanischen Damen, die sich beim Ausbruch des Krieges für die Derwvudeteapflege zur Verfügung gestellt hatten, fanden nur hvndert noch Beschäftigung. Diel Gelegenheit zu pattiotischem Wohltun bot den türkischen Frauen dafür das unheim­ lich große Heer der „Mohadschirs", der thrazischeu Flüchtlinge, die immer noch zu Tausenden in und bei der Hauptstadt kampierten, da bisher erst eia kleiner

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Teil nach Kleinasien überführt werden konnte. Diesen Unglücklichen kam der patriotische Opfermnt der türkischen Frauen ittgute, besonders den armen Mohadschirkindern, für die besondere Sammlungen veranstaltet wurden. Der Schriftsteller Ahmed Agajeff, neben Hussein Dschahid wohl der glänzendste Vertreter der türkischen Journalistik, hat von den türkischen Frauen später bewundernd gesagt: „Sie handelten, während die Männer ihre Zeit mit Reden vergeudeten." Wie groß die Begeisterung in türkischen Frauenkreisen war, be­ weist der — am 14. Mär» im „Tasvir i Efkiar" erschienene — Brief eines mohammedanischen Mädchens, das sein Elternhaus verlassen hatte, um als Freiwillige in den Krieg t« ziehen. Das Mädchen schrieb, es lasse ihr keine Ruhe. Sie müsse in MLnvertracht nach Adrianopel gehen, um bei der Verteidigung der heiligen Stadt mit­ zuhelfen. „Ich lasse euch meine Haare als Andenken," so schloß der Brief, „laßt mich nicht suchen. Wenn mein Plan nicht gelingt, «erde ich mich töten. Ich küsse die Hände aller, die nach mir fragen. Mutter, dich küsse ich auf deine gesegneten Hände und Augen." Seit der Wiederaufnahme der Feindseligkeiten waren die Gerüchte von einem bevorstehenden neuen Vermittlungsschritt der Mächte und nahem Wieder­ beginn der Friedensverhaadlungen keinen Augenblick verstummt. Am Sonntag, 9. Februar, wurde ein Be­ schluß des Miuisterrats bekannt, der geeignet war, den sftiedensgerüchten Nahrung zu gebe«. Hakki Pascha wurde in geheimer Mission nach London entsandt. Er

135 war bereits am Vormittag des 9. vom Sultan in Abschiedsaudienz empfangen worden. Die Abreise erfolgte am n. Februar. Über den Zweck seiner Reise wurde zunächst nichts Zuverlässiges bekannt. Bei Kom­ mentierung der Gerüchte, zu denen tzakkis Entsendung Anlaß gab, kam in der jungtürkischen Presse der Gegensatz, der innerhalb der Komiteepartei bestand, zu unzwei­ deutigem Ausdruck.

Der „Tasvir i Efkiar" bekämpfte

als Organ der Friedensgegner alle Friedensprophe­ zeiungen und tadelte es scharf, daß man solche Gerüchte, die den nationalen Aufschwung lähmen müßten, um­ laufen ließ. Der „Lanin" dagegen bezeichnete es als durchaus möglich, gleichzeitig Krieg und Verhandlungen zu führen. Man erwartete gespannt eine Äußerung der Regierung über die Lage.

Am Abend des 12. Februar

veröffentlichte die Agence Ottomane endlich eine Er­ klärung des Großwesirs, welche die Nachricht von der erstrebte« Wiederaufnahme der Friedensverhandlungen voll bestätigte. Der Großwesir erklärte wörtlich: „Die Wiederaufnahme der Friedensverhandlungen oder min­ destens der Verhandlungen mit den Großmächten ist etwas Natürliches. Wir haben ja die Note der Mächte mir neuen Vorschläge» beantwortet, die als Grundlage für weitere Verhandlungen dienen können.

Ich habe

das Großwesirat nicht zur Fortsetzung des Krieges um jeden Preis, sondern zur Herbeiführung eines Friedens, der nach Möglichkeit unsere Interessen wahrt,.übernommen. Die Regierung wird den Krieg so lange fortsetzen, als es für das von ihr erstrebte Ziel nützlich ist.

Aber sie

muß auch an de« Frieden denken und eine entsprechende

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diplomatische Aktion leiten. Die Regierung beschäftigt sich daher mit der Aufnahme der türkische» Note bei dev Mächten und wird einen Friedensschluß auf der in der Note enthaltenen Basis erstreben." Die letzten Worte des Großwesirs bezogen sich auf eine Zirkularnote vom i2. Februar, in der die Pforte ihre Botschafter ange­ wiesen hatte, bet den Mächten anzuftagen, ob die tür­ kische Antwortnote nicht geeignet erscheine, als Grund­ lage für weitere Friedensverhaadlungen zu dienen. Der Ministerrat hatte dem Vorgehen des Großwesirs keines­ wegs einmütig zugestimmt. Besonders der Minister des Innern, Hadschi Adil Dej, der allgemein als Haupt der Kriegspartei galt, verhehlte seine Abneigung gegen die Friedenspolitik Mahmnd Schefket Paschas nicht und konnte nur mit Mühe abgehalten werden, zu demis­ sionieren. Die Beziehungen des neuen Großwesirs zum diplomatischen Korps verbesserten sich dafür zusehends. Nur der französische Botschafter beharrte, so wurde ver­ sichert, in seiner kühl ablehnenden Haltung. Eine unangenehme Überraschung wurde der Pforte Mitte Februar durch die Meldung bereitet, daß der Kommandant des englischen Kriegsschiffes „Parmouth" vor dem Verlassen der Sudabai (Kreta) die Flaggen der Schutzmächte und die osmanische Flagge unter »Uv tärischen Ehrenbezeugungen niedergeholt und statt dessen die griechische Flagge gehißt hatte. Die Nachricht klang so unwahrscheinlich, daß sie in Konstavtinopel zuerst bezweifelt wurde. Als eiu Zweifel da»» nicht mehr möglich war, hieß es, die Pforte habe ihren Botschafter in London, Tewfik Pascha, beauftragt, der englischen

137 Regierung Erstaunen über den seltsamen Vorfall aus­ zusprechen. Die türkische Presse verzichtete, obgleich der Groll sehr groß war, fast völlig auf erbitterte Kommen­ tierung des Ereignisses. Man hielt es für unangebracht, in diesem Augenblick, da Hakki Pascha sich auf der Reise nach London befand, um alle zwischen der Türkei und England schwebenden Fragen zu regeln und die alten Mißverständnisse zu beseitigen, durch aussichtslose Pro­ teste einen neuen Konflikt zu schaffen. In den mllitärischen Operationen war Mitte Fe­ bruar ein Stillstand eingetreten. Die Bulgaren waren auf der ganzen Linie bei Tschataldscha weit zurück­ gegangen. Ihre Stellungen liefen von einem Punkt zwischen Siliwri und Pigados am Marmarameer über das Dorf Kadiköj nach der Strecke der Orientbaha (etwas westlich der Station Kabakdscheköj) und dann östlich der Anastastschea Mauer entlang bis in das Küstengebiet am Schwarzen Meer. Die Türken hatte« die von den Bulgaren verlassenen Stellungen mit Keinen Abtellungen besetzt. Das Gros der osmanischen Armee blieb hinter den sicheren Linien von Tschataldscha, deren südliche- Ende «ährend des Waffenstillstands von der Linie Dachtschaisch—Böjük-Tschekmedje auf die weiter westlich befindliche Linie Dachtschaisch—FanasakriS —Kumburgas verlegt worden war. Auf das schöne Frühlingswetter des ersten Februardrittels waren starke Regenfälle gefolgt, die ganz Thrazien in einen Rieseasumpf verwandelten. An ein Vorgehe» mit -roßen Truppenmassen war daher nicht zu denke». Die Räder der Geschütze sanken bis zur Rabe im Schlamm ein.

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Pferde und Wagen blieben im aufgeweichten Erdboden stecken. Die Heeresleitung ließ deshalb hundert Kamele aus Anatolien kommen, um die Provianttransporte für die vorgeschobenen Linien zu sichern. Auch bei Bulair und bei Adrianopel war verhältnismäßige Ruhe ein­ getreten. Die Stimmung in der Armee war im all­ gemeinen gut. Aber hier und da hetzten kiamilistisch gesinnte Offiziere gegen die jungtürkische Regierung. Einige Offiziere begaben sich zur Vorbereitung politischer Umtriebe nach Konstantinopel und kehrten trotz der Androhung, daß sie als Deserteure behandelt werden würden, nicht zu ihren Truppenteilen zurück. Andere verweigerten ihren jvagtürkische» Vorgesetzten offen den Gehorsam, so daß der Großwesir es für geboten hielt, am 13. Februar einen geheimen Armeebefehl zu er­ lassen, in dem Ungehorsam vor dem Feind mit sofort zu vollstreckender Todesstrafe bedroht wurde. Die Fälle von offener Auflehnung gegen die neue Regierung waren indessen selten. Seitdem die erste Erregung über Nasim Paschas Tod sich gelegt hatte, schien zwischen Liberalen und Juagtürken eine stillschweigende Über­ einkunft über Verzicht auf politische Umtriebe bis zum Ende des Krieges zustande gekommen zu sein. In Kon­ stantinopel hielten einige Liberale im Konak des früheren Kommandanten des I. Armeekorps, Generals Javer Pascha, geheime Beratungen ab. Die Regierung war davon unterrichtet, hielt die Zusammenkunft aber für ungefährlich. Größere Bedeutung wurde einer Ver­ schwörung beigemessen, welche die Polizei im Griechen­ viertel Tatavla entdeckt haben wollte. Angeblich waren

139 bei dev Verdächtigen Bomben und Waffen gefunden worden.

Die Polizei nahm in dieser Angelegenheit eine

große Zahl von Verhaftungen vor, und viele hellenische Staatsangehörige wurden daraufhin ausgewiesen. Am i8. Februar besprach der türkische Ministerrat Hakki Paschas telegraphischen Bericht über seine erste Unterredung mit Sir Edward Grey. Berichts wurde streng geheim gehalten,

Der Inhalt des aber bald ver,

lautete, daß nach der Auffassung des englischen Staats, manns die Wiedereröffnung der Friedensverhandluagea auf der Grundlage der türkischen Antwortnote ausge, schloffen war. Der Balkanbund zeigte keine Neigung, in der Frage Adrianopels irgendein Zugeständnis zn machen.

Am 23. Februar fand ein neuer wichtiger

Ministerrat statt, nach dem an tzakki Pascha sowie an die osmanischen

Botschafter im Ausland neue Jnstruk,

tioneu telegraphiert wurden.

Auf der Pforte verlautete

am Abend dieses Sonntags, die Wiederavsnahme der Friedensverhandlungen warten.

sei

nunmehr

flcher

zu

er,

Oie Botschafterkonferenz «erde die Friedens,

bedingungen bestimmen, und die kriegführenden Par, teien würden stch ihrer Entscheidung jedenfalls unter, werfen.

Tatsächlich hatte die Türkei stch bereit erklärt,

etwaige Wünsche der Großmächte beim Friedensschluß über den Inhalt ihrer Antwortnote vom 30. Januar hinaus zu erfüllen.

Aber der „Tanin" warnte am

24. Februar mit Recht vor übertriebenem Optimismus. Daß die Türkei Adrianopel opfern werde, bezweifelte in diesen Tagen niemand mehr.

Als Hauptschwierigkeit

galt die Forderung einer großen Kriegsentschädigung,

140 die der Dalkaubuud in London geltend gemacht hatte. Die Stimmnng war am 26. Februar plötzlich wieder völlig pessimistisch. Man versicherte, Hakki Pascha werde nach Konstantinopel zurückkehren, da die Aussicht auf Frieden wieder geschwunden sei. Und Dschawid Bej werde eine seit längerer Zeit geplante Reise nach Europa aus dem gleichen Grunde gar nicht antreten. Alle diese Gerüchte erwiesen sich als falsch. Hakki blieb ruhig in London. Und Dschawid reiste am 1. März nach Wien und Berlin ab, um, wie halbamtlich verlautete, das Terrain für einige Finanzoperationen der Regierung vorzubereiten. Gleichzeitig fuhr der als Schriftsteller bekannte einstige Palastsekretär Halid Sia Bej nach Paris ab. Das Komitee der nationalen Verteidigung hatte ihn mit der Mission betraut, die öffentliche Meinung Frankreichs für die Türkei zu gewinnen. Nach Regen und Tauwetter war gegen den 20. Fe­ bruar scharfer Frost bei blauem Himmel eingetreten. Daun folgten, seit dem 22. Februar, tagelang an­ dauernde Schneestürme. Der Schnee lag bei Tschataldscha und auch bei Bulair stellenweise einen halben Meter hoch. Der Stillstand der kriegerischen Opera­ tionen hielt daher au. Auch bei Adrianopel fanden keine ernsten Kämpfe statt. Große Freud« erregte am 22. Februar in Konstantinopel die Nachricht, daß eia bulgarischer Aeroplan, der von einem russischen Leutnant gesteuert wurde, hinter der türkischen Verteidigungslinie von Adriauopel niedergegangen und samt dem PUotev in die Hände der Belagerten gefallen war. Wie viele Krieger in den Tagen eisiger Wiuterkälte, besonders im

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letzten Februardrittel, dem „weißeu Tod" zum Opfer gefallen sind, ist nicht bekannt geworden. Rach der Schaeeschmelze im März wurden an mehreren Stellen bei Tschataldscha Leichen von Erftorenea entdeckt, so einmal westlich vom Derkossee 400 tote bulgarische Soldaten und eine halbe Stunde von Kabakdscheköj entfernt 36 Bulgaren, darunter 4 Offiziere, die von einer Schneelawine mitgerissen worden waren. Rach Koastantinopel wurden in dieser Zeit viele Soldaten mit erfrorenen Gliedmaßen überfühtt. Die osmanische Regierung bestimmte Mitte März, daß die erfrorenen Offiziere und Mannschaften als auf dem Schlachtfeld gefallen zu bettachte« seien. Großes Aussehen erregte am 2. März ein in den Morgenblättern erschienenes langes ärmliches Com, muniqvs über die Entdeckung einer dezenttalistischen Verschwörung, in die allem Anschein nach der Prinz Sabahebbin verwickelt war. Sabaheddia, ein Sohn der Priuzesfln Seniha,Sultan, der Tochter des Sultans Gafi Abdul Medschid, und des einstigen Justizministers Mahmud Pascha, der 1903 im Exil in Brüssel starb, hatte nach der Revolution von 1908 als Mitbegründer des jungtürkischen Komitees eine Rolle in Koastantinopel gespielt. Es war aber bald zum Bruch zwssche» ihm und dem Komitee gekommeu, und der Prinz hatte fich nach Paris begeben. Erst nach dem Sturz der Komitee, Herrschaft im Sommer 1912 war er nach Koastantinopel zurückgekehrt, um aufs neue für sein bezeuttalistisches Programm zu wirke«. Das Schlagwort „Dezentrali, sation" spielte in deu Papieren, die bei den Verschwörer»

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beschlagnahmt wurden, eine große Rolle. Die Zu­ sammenkünfte der Verschworenen hatten im Konak des Prinzen in Kurutschechme am Bosporus stattgefunden und waren von dem Sekretär des Prinzen, Lutst Bej, geleitet worden. Einer der Verhafteten, ein Mann namens Sidki Bej, dem die Vorbereitung von Bomben­ attentaten gegen den Großwestr und andere Vertreter des neuen Mgimes vorgeworfen wurde, wohnte im Konak Sabaheddins. Die Mitschuld des Prinzen war nicht erwiesen. Aber gegen Lutst Bej, der als Leiter des Komplotts galt, wurde ein Haftbefehl erlassen. Lutst wurde am Abend des 15. März in der Wohnung eines österreichischen Staatsangehörigen verhaftet. Die An­ gelegenheit führte zu einem diplomatischen Konflikt mit Österreich, das gegen das Eindringen türkischer Polizisten in die Wohnung eines Österreichers protestierte und Lutst, einen Bosniaken, als österreichischen Staats­ angehörigen zu schützen versuchte. Die ganze Komplott­ affäre verlor das Interesse, das sie im ersten Augen­ blick gefunden hatte, sehr rasch wieder. Man hatte vielfach in Konstantivopel den Eindruck, daß verhältnis­ mäßig harmlose Umtriebe des Prinzen Sabaheddin und seiner Anhänger über Gebühr aufgebauscht worden waren. Man täuschte sich aber. Bei Tschataldscha dauerte die Waffenruhe in den ersten Märztagea fort. Auch aus Bulair wurden keine neuen Kämpfe gemeldet. Adrianopel dagegen wurde von den Belagerern mit Unterbrechungen leicht be­ schossen. Die Frage, wie lange die Festung sich noch werde halten können, beschäftigte fortgesetzt alle Gemüter.

143 Wiederholt hörte man von Funkentelegrammen Schükri Paschas, der die Regierung angeblich dringend tu suchte, rasch etwas zum Entsatz von Adrianopel zu unter­ nehmen, da nur noch für wenige Wochen Proviant und Munition vorhanden sei. Halbamtlich wurde allerdings fast täglich versichert, Adrianopel könne noch monatelang Widerstand leisten. Mit großer Spannung erwartete man in Konstantinopel Meldungen über die Taten der „Hamidieh", die bald eine griechische Stadt zerstört, bald ganze Flotten von Transportschiffen mit Truppen zum Sinken gebracht haben sollte. Ferner beschäftigte man sich lebhaft mit der Frage, wo Dschawid Pascha mit dem Rest der Westarmee geblieben sei. Phantastische Gerüchte über angebliche Siegestaten dieses geheimnisvollen Heeres gingen um. Mehrmals wurde im Ernst behauptet, Dschawid Pascha habe Salonik zurückerobert. Daun wieder hieß es, Dschawid Pascha sei mit seiner Armee glücklich nach Janina gelangt, um die Truppen Cffad Paschas zu verstärken. Der Fall von Janina wurde erst am 7. März durch Funkentelegramme, die ftemden Kriegsschiffen aus Salonik zugegangen waren, in Kon­ stantinopel bekannt. Obgleich man nach der Entsendung griechischer Verstärkungen von Salonik auf den epirotischen Kriegsschauplatz die baldige Kapitulation der tapfer verteidigten Festung erwarten mußte, wurde die Nachricht in der türkischen Hauptstadt zuerst fast allge­ mein angezweifelt. Als ein Zweifel dann nicht mehr möglich war, fanden die Türken sich mit dem Ereignis ohne sonderliche Betrübnis ab. Sie wußten ja, daß Janina gleich Skutari längst für sie verloren war und

144 ein weiterer Widerstand der belagerten osmanischen Truppen an dieser Tatsache nichts mehr geändert hätte. Unter den Griechen von Konstantinopel wurde der Erfolg der hellenischen Waffen mit erstaunlicher Offenheit gefeiert. In den Tagen nach dem Fall von Janiaa war in der türkischen Hauptstadt ein auffallender StimmungsUmschwung zugunsten der Fortsetzung des Krieges be­ merkbar, nachdem man eben vorher noch au einen nahen Friede» geglaubt hatte. Der türkische Ministerrat hatte am 2. März beschloffe», folgende Bedingungen für den Friede« vorzuschlagen: die Türkei tritt alles Gebiet «ejllich der Linie Maritzamünduag—Ajos Stefanos (am Schwarzen Meer) ab; der Balkanbnnd übernimmt einen Teil der türkischen Staatsschuld und verzichtet auf jede Kriegsentschädigung. Man hatte in Koustautinopel geglaubt, daß die Verbündeten sich unter solchen Um­ ständen zur sofortigen Wiederaufnahme der Wnedeusverhandlunge« bereit erklären würden. Der „Jkdam" versicherte am 4. März sogar, die Verhandlungen könnten bereits als wiederaufgenommen gelten. Als aber aus den Hauptstädten der Balkaustaateu ge­ meldet wurde, daß die Verbündeten auf der von Bul­ garien geforderte« Grenzlinie Midia—Rodosto und auf einer Kriegsentschädigung unbedingt bestehen wollte», begann mau die Möglichkeit einer raschen Verständigung sofort wieder zu bezweifeln. Die Krtegsparlei war mittlerweile auch nicht müßig geweseu. Die Gewißheit, daß auch die neue Regierung den Verzicht auf Adrianopel für unvermeidlich halte, hatte eine bedenkliche Erregung

145 geschaffen. Der Großwesir hielt es deshalb für erforder­ lich, die Gemüter |tt beruhigen. Am Nachmittag des 4. März erklärte er durch die Agence Ottomane, der Friedensschluß stehe keineswegs unmittelbar bevor und die Türkei habe Adrianopel nicht abgetreten, wohl aber dauerten die Vorbesprechungen mit den Großmächten fort. Die Türkei habe die Vermittlung der Mächte ange­ nommen und de» Mächten Vorschläge für den Frieden gemacht. Die Mächte würden jetzt voraussichtlich den Balkanbund nach seinen Vorschlägen fragen. Die Ent­ scheidung der Mächte sei indessen für die Türkei nicht bindend. Die Türkei lehne die Bezahlung einer Kriegs­ entschädigung ab. Mahmud Schesket Pascha begründete diese Ablehnung in der weiteren Erklärung ausführlich und gab der Hoffnung Ausdruck, daß die Gläubiger der Türkei die «»berechtigte Forderung einer Kriegsentschä­ digung gleichfalls bekämpfen würden. Der vom Großwesir angekündigte Schritt der Mächte war am 5. März in den Hauptstädten des Dalkanbundes erfolgt. Die Regierungen der Balkanstaaten hatten auf die Auftage der Großmächte, ob fle ihre Vermittlung für de» Frieden unter den gleichen Bedingungen wie die Türkei annehmen wollten, die Antwort erteilt, sie müßte» sich über diese Frage jverst mit ihren Ver­ bündeten verständige«. Am 6. März hatten die tür­ kische» Zeitungen das Dermittlungsgesuch der Pforte zum erstenmal fteimütig besprochen. Während der und andere Blätter aber dabei die Hoffnung ans eine» baldige» ehrenvollen Frieden äußerte», hatte das Organ der jungtürkischen Kriegspartei, „Tasvir i Selfcmonn , Ttricgttogc.

10

146 Efkiar", die Möglichkeit eines annehmbaren Friedens scharf bestritten und das Volk ermahnt, im Vertrauen auf die Armee größte Festigkeit zeigen. Auch das jungtürkische Abendblatt „Terdschuman i Hakikat" hatte die Regierung ermahnt, keine zu großen Zugeständnisse zu machen. Allerdings hatte es zugleich zugegeben, daß die Nation die Regierung nicht genügend unterstütze, sondern es an Einigkeit und Opfermut fehlen lasse. Der Stimmuvgsumschwung zugunsten der Fort­ setzung des Krieges trat zuerst am 8. März hervor und verstärkte sich in den nächsten Tagen zusehends. Gleich­ zeitig tauchten Gerüchte von Meinungsverschieden­ heiten im Kabinett und von einer bevorstehenden Ministerkrisis auf. Die Stimmung war gewitterschwül. In den Moscheen wurden Anschläge mit heftigen Ausfällen gegen die neue Regierung gefunden. Und als ein Hodscha am y. März bei einer Gedenkfeier für Rasim Pascha in der Suleimaniehmofchee die „Mörder Nasims und alle, die den Sultan bei dieser Gelegenheit irre­ geleitet hätten, verfluchte, riefen die Anwesende» zustimmend: „So sei es!" Die Antwort des Balkanbuudes auf die Anfrage der Großmächte wurde am 15. März mittags in Koustantinopel bekannt. Die Forderungen des Balkanbundes — Annahme der Linie Rodosto—Kap Malatra als Grenze gegen Bulgarien, Abtretung aller Inseln an Griechenland, prinzipielle Bewilligung einer Kriegs­ entschädigung — wurden in der türksschen Hauptstadt sofort als völlig unannehmbar bezeichnet. Aber die Pforte nahm sie nicht tragisch, da sie die Zustimmung

147

der Großmächte zu solche« Forderungen nach den Er, Sffaungea einiger Botschafter mit Recht für ausgeschlossen hielt. Man glaubte überhaupt nicht, daß die Verbündeten auf Erfüllung ihrer Forderungen im Ernst rechneten, sondern war davon überzeugt, daß sie nur in der Hoff­ nung auf den baldigen Fall Adriauopels Zeit zu ge, wianen wünschten. Die türkischen Zeitungen benutzten die Forderungen des Balkanbundes, um einen letzte» Appell an die Waffen zu befürworten. „Strömt denn Wasser in unsern Adern?" schrieb der „Terdschuman i Hakikat", „Siad unsere Herzen ans Stein? Erkennt den gauzea Umfang der Gefahr, sonst wehe euch! Der Krieg wird von neuem heftig entbreuuev. Tausende vou junge» Leuten treibeu sich in den Kneipen und auf den Straße» herum. Tausende von kräftigen Flüchtlingen aus Thrazien sind unbeschäftigt. Es ist Pflicht der Regierung, aus diesen Leuten Bataillone zu bilden." Die Kämpfe bei Tschataldscha hatten nach dem Et», tritt von besserem Wetter wiederbegonoen. Die Dulgarev waren aufs neue vorgegangen und erstrebten offenbar die Wiederbesetzung ihrer alten Stellungen. Die schwachen türkischen AbteUnugen wichen auf der ganzen Linie vor dem andringenden Feind zurück. Z« einem ervsteu Gefecht kam es am 19. März bei Kadtköj im südliche« Tschataldschaabschnitt. Alle Bemühungen der Türken, das Vorrücken der Bulgaren aufzuhalten, waren ver, geblich. Sie waren gezwungen, sich auf die Tschataldscha, linien zurückzuziehen. Am 24. und 2?. März fanden abermals im südlichen Tschataldschaabschnitt, bei Pigados, Sürgünköj und Kadiköj, erbitterte Kämpfe statt, ehe die io*

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Türken auch hier auf ihre befestigte Lime zurückgingen. Am 25. war zeitweise Kanonendonner in Stambul hörbar. Die Stimmung in der türkischen Hauptstadt war in der zweiten Märzhälfte durchaus kriegsverdrossen. Alle Welt sehnte den Frieden herbei. Ms am 19. März die Ermordung des Königs von Griechenland in Konstauti, nopel bekannt wurde, war der erste Gedanke überall, daß die blutige Tat, die man in Zusammenhang mit der griechisch,bulgarischen Verstimmung brachte, vielleicht einen offenen Bruch unter den bisherigen Verbündeten und zugleich den Frieden zwischen Bulgarien und der Türkei herbeiführen «erde. Man erwartete ungeduldig neue Schritte der Mächte zur raschen Wiederaufnahme der Frieden-verhandlungen. Aber mehr und mehr wurde es offenbar, daß vor dem Fall von Adrianopel keine entscheidende Änderung der ungewissen Lage zu erwarten war. Alle- deutete darauf hin, daß die Dul, garen Adrianopel nicht als unbezwungeae Stadt er, halten, sondern durchaus mit Waffengewalt erobern wollte«. Und Mahmud Schefket Pascha hätte es auch kaum wage« können, Adriaaopel als uabezwvngene Festung dem Feinde avszuliefern. Innere Wirren wären in diesem Fall unvermeidlich gewesev. So wurde da- sehnsüchtige Warte» auf den Frieden zum schmerzlichen Warten auf die Kapitulation von Adrianopel. Aber Tag auf Tag verging, ohne daß die heldenmütig verteidigte Festung, die viele längst am Ende ihrer Widerstandskraft angekommen wähnten, den Belagerern die Tore öffnete. Ms dann am Vormittag

149

des 26. März io Koustautinopel aörtlich bekanatgemacht wurde, daß die osmanischeu Truppen bei Adriauopel einige vorgeschobene Abteilungen vor dem Ansturm der Feinde auf die Havptverteidiguugsliuie zurückgezogen hatten, ahnte mau, daß der letzte Kampf begonnen habe. Am Nachmittag des 26. März gegen 5 Uhr kam ein englischer Kriegskorrespondent in unsere Redaktion geeilt und legte uns eine Depesche ans London vor, die nur die Worte „Mary better" enthielt. Sie meldete in Chiffresprache, daß Adriauopel gefallen war. Auch den Botschaften wurde das große Ereignis im Laufe des Nachmittags chiffriert gemeldet. Die Regierung hatte morgens um 8 Uhr ein letztes Fuukentelegramm des Kommandanten von Adrianopel, Schükri Pascha, er­ halten, in dem die Einnahme der Festung als bevor­ stehend bezeichnet wurde. Seitdem war die drahtlose Telegraphenverbindung mit Adriauopel unterbrochen. Man darf behaupten, daß die Nachricht von dem Fall der Festung nach tapferem Widerstand in den amt­ lichen türkischen Kreisen bei allem Schmerz mit einem Gefühl der Erleichterung aufgenommen wurde. Die Waffeuehre war gerettet. Der Weg zum Frieden war jetzt frei.

VIII.

Zum Frieden. Di« Sttmmuag »ach dem Fall Adriaoopels. — Di« letzte» Kämpfe bet Lschataldscha. — Eiufielloag der Feiubseligketlea. — ChtiarL — Di« euglisch^ürktschea Derhaubluugeu. — U»t«rt«ichm»a- des Prilimiuarfliedeas. — Zukuastspläae. — Lrmorbuag Mahmud Tchefket Paschas.

Die Nachricht vom Fall Adrianopels, die der „Taniv" vom27. März »och anzweifelte, und die erst am Morgea des 29. März von der gesamte» Presse offen besprochen werden durfte, beeinflußte die Stimmung in Konstantinopel nur wenig. Die türkische Bevölkerung bewahrte resigniert die traurige Ruhe, die sie seit laugen Wochen teigte. Und die Peroten wurden durch das weltgeschichtliche Ereignis ebensowenig erschüttert wie durch den bisherigen Verlauf des Krieges. Sie dachten vor allem an ihre Feste. Neujahr, Drei Könige, Fast­ nacht, Mittfasten hatten sie ausgiebig nach altem und neuem Stil gefeiert, ohne sich durch den kläglichen An­ blick der Derwuudetentransporte, die sich gelegentlich am Abend mit den zum Maskenball fahrenden Wagen mischten, in ihrem Behagen stören zu lassen. Wie hätte

151 der Fall Adriauopels ihnen die Osterstimmvag rauben können! Durch einen Irrtum wurde in Konstantinopel die Nachricht verbreitet, Schükri Pascha habe vor dem Eindringen der Bulgaren in Adrianopel alle öffentlichen Gebäude zerstört vnd sich selbst mit seinem gesamten Generalstab in die Lust gesprengt. Die Schreckens, Meldung fand überall Glauben, vnd der tapfere Der, leidiger von Adrianopel wurde als ruhmreicher Toter hoch gefeiert.

Als sich dann herausstellte, daß Schükri

Pascha sich lebend den Feinden ergeben habe, war mau etwas enttäuscht. Aber die Anerkennung, welche die Welt der türkischen Besatzung von Adrianopel reichlich spendete, wurde in Konstavtinopel sehr angenehm empfunden und tröstete ein wenig über den Verlust der Stadt, mit dem viele sich längst abgefunden hatten. Am Morgen des denkwürdigen 26. März war in der Hauptstadt wieder einmal Kanonendonner hörbar. Seit Sonnenaufgang tobte auf der ganzen Tschatal, dschafront eine ernste Schlacht. Der linke türkische Flügel hatte stch am Tage vorher hinter die befestigte Linie, die von Kumburgas am Marmarameer über Fanasakris nach Bachtschaisch lief, zurückgezogen. Und die Bulgaren griffen die ganzen Tschataldschalinien nun mit Unge, stüm an, als wollten sie doch noch nach Konstavtinopel vordringen. Obgleich diese Möglichkeit aufs neue im Ernst erwogen wurde, herrschte in der Hauptstadt während dieses Kampfes völlige Ruhe.

Der Kanonen,

dovaer dauette am 27. März fort. Auch am 29. März war starker Kanonendonner hörbar. Man wurde in Konstantinopel allmählich etwas nervös. Man fragte

152 sich unruhig, was die Bulgaren in einem Augenblick, da der Frieden nach dem Fall von Adrianopel ge­ sichert schien, mit ihren Angriffen bei Tschataldscha be­ zwecken mochten. Und man zerbrach sich ungeduldig dev Kopf über die Frage, warum die längst angekündigte Kollektivnote der Großmächte über die Wiederaufnahme der Friedensverhandlungen noch immer nicht über­ reicht werde. Frankreich und Rußland, deren Bot­ schafter erklärten, sie hätten noch keine Instruktionen erhalten, wurden offen verdächtigt, durch Verzögerung der Friedensaktion den Bulgaren das Vordringen nach Konstantinopel ermögliche» zv «ollen, wie sie ihnen auch Zeit für die Einnahme von Adriauopel gelassen hatten. Man berechnete, daß die Politik dieser beide» Mächte 20000 armen Soldaten bei Adrianopel und Tschataldscha das Leben gekostet hat. ES wurde ver­ sichert, daß Rußland im Einverständnis mit Frankreich die Gelegenheit benutzen wollte, der Türkei gewisse Zu­ geständnisse in der Meerengenstage abzuringen. Der Plan sollte aber am entschiedenen Widerspruch Englands schließlich gescheitert sein. Am März, nachmittags Uhr, wurde die Note endlich durch die Botschafter der sechs Großmächte auf der Pfotte dem Minister des Äußern, Prinzen Said Halim Pascha, überreicht. Die Note schlug als künftige Grenze der europäischen Türkei die gerade Linie EuosMidia vor, während in der MitteUung der Großmächte an die Dalkanstaaten vom 22. März noch die Linie Cnos—Maritzalauf—Midi« als Grenzlinie empfohlen worden war. Der neue Vorschlag bedeutete aso eine

zi.

z

153 Helot Verschiebung zvongnnstto der Türkei. Ferner forderte» die Mächte die Türkei avf, die Regelung der Frage der Inseln im AgStscheu Meer dev Großmächte» tv überlasse« «nd auf Kreta zu verzichten. Die Mächte erklärten, fle könnten sich dem Verlangen einer Kriegs­ entschädigung für den Balkanbund nicht geneigt zeigen. Mit der Annahme der von den Mächten vorgeschlagenen FriedeaSgrundlagen sollten die Feindseligkeiten einge­ lullt «erden. Die türkssche Presse gab am Morgen des i. Sprit einmütig der Auffassung Ausdruck, daß der Friede auf der Grundlage des Vorschlags der Mächte die beste Lösung für die Türkei wäre. Die Blätter äußerte« aber die Befürchtung, daß die Balkanstaateu «eitere Schwierigkeiten machen könnten. Um ii Uhr vormittags überbrachte Prinz Said Halim Pascha am i. Aprll dem Doyen des Diploma­ tischen Korps die Antwort der Pforte, welche die Vor­ schläge der Mächte in ihrer Gesamtheit annahm und sich „fftt die Wiederherstellung des Friedens den Groß­ mächten anvertraute". Die am 5. Aprll endlich über­ reichte Antwort des Balkaabundes avf die Mittellvug der Mächte vom 22. März bedeutete dagegen keineswegs eine glatte Annahme. Die Verbündeten wollten die Linie Enos—Midi« nur als Grundlage für die neue Grevzbestimmuug gelten lassen. Sie verlangten die Ab­ tretung aller Agäischen Inseln, Berücksichtigung ihrer Wünsche bei der Begrenzung Albaniens und grundsätz­ liche Zustimmung zu einer Krtegsenrschädigung. Die Antworl de- Balkanbundes, die erst am 6. Aprll in Koastaatinopel bekannt wurde, raubte der Pforte ihre

154 Friedenszuversicht nicht. Man hatte volles Dertravea zur Dermittlungsaktioa der Mächte und erwartete namentlich von dem Zusammenwirken Deutschlands und Englands Heil für die Türkei. Die Antwort der Mächte auf die Forderungen des Balkanbundes, die am 13. April in Sofia überreicht wurde, bewies denn auch in der Tat, daß die Großmächte entschlossen waren, den Frieden herbeizuführen. Bei Tschataldscha herrschte seit einigen Tagen bereits Ruhe. Die Verabredung einer Waffenruhe zur Be, stattvllg der Toten am 8. April wurde allgemein als Vorzeichen eines baldigen Waffenstillstands betrachtet. Am 13. AprU kam es bei Tschataldscha nochmals zu einem Gefecht. Noch einmal hörte man in Konstantinopel den Kanonendonner. Am 14., mittags, trat ein zehn, tägiger Waffenstillstand in Kraft. Erst am 17. gab die osmanische Regierung zu, daß die Türkei stch mit Bul, garien über eine zehntägige „Suspendierung der Feind, seligkeiten" — das Wort „Waffenstillstand" wurde, wohl in Erinnerung au den unpopulären Waffenstillstand vom Dezember, geflissentlich vermieden, — verständigt habe. Das Abkommen galt nur für die Fronten von Tschataldscha und Bulair. Wiederholt wurde in den nächsten Tagen versichert, daß ein allgemeiner Waffen, stillstand mit allen Verbündeten abgeschlossen worben sei. Aber die Nachricht erwies sich stets als falsch. Große Überraschung bereitete am Nachmittag des 23. AprU die Meldung vom Falle Skutaris. Die Kapitulation der albanesischen Festung war seit dem März wiederholt fälschlich angekündigt worden. Aber

155 daun wurde der Beginn des Abzugs der serbischen Be, lageruagstruppeu vov Ekutari gemeldet, und die völlige Aufhebung der Belagernag galt als sicher. Die Meldung machte in Koustantiaopel nvr wenig Eindruck. Die Türke« wußten ja längst, daß Skutari auf jeden Fall für sie verloren war, und türkische Zeitnngea hatten schon im Mär» beNagt, daß türkische Soldaten in Skutari ohne Ratzen für die Türkei ihr Dlnt vergössen. Als dann aber bekannt «vrde, daß die Montenegriner die Stadt nicht wirklich erobert hatten, sondern daß der Sintng in Skntari die Folge eines geheimen Ab, kommens Mischen dem albanesischen Kommandanten Essad Pascha vad den Montenegrinern war, wurde große Erbitterung gegen Essad Pascha laut. Die türkischen Zeitungen beschuldigten Essad Pascha offen der Er, mordung des tapferen Obersten Hassan Risa Bej, des türkischen Kommandanten von Skutari, dessen Tod durch Mörderhand seit längerer Zeit bekannt war, aber erst jetzt mit Sicherheit festgestellt wurde. Die Stimmung schlug auch nicht um, nachdem Essad Pascha, wie am 30. April amtlich bekannt gemacht wurde, die Pforte telegraphisch um Instruktionen ersucht und solche auch erhalten hatte. Die Blätter warnten die Regierung ein, dringlich vor Abenteuern irgendwelcher Art in Albanien und fordetten entschiedene Verleugnung Essad Paschas. „Ist denn die Zeit noch nicht vorüber," so fragte Ahmed Agajeff am 3. Mai im „Terdschuman i Hakikat", „da man bei uns inhaltslosen, aber für die Zukunft ver, hänguisvollen Sovveränitätsrechten nachjagte? Die Oberhoheit über Albanien ist für die Türkei eine Quelle

156

ewigen Unglücks gewesen. Die Regierung mvß dafür sorgen, daß die türkische Armee nicht durch Berührung mit den Albanesen befleckt werde." Der Haß gegen die Albanesen war schon in den Wochen vor der Kapitulation von Skutari durch die Vorgänge in Albanien, das hochverräterische Verhalte« der albanefische» Truppen in Janina und die türken­ feindlichen Kundgebungen der „provisorischen Regierung" von Albanien geweckt worden. Man hatte es auch in türkischen Kreisen dem albauesischen Senatspräsidenten und ftüheren Großwesir Ferid Pascha sehr verdacht, daß er die Hochzeit seines Sohnes mit einer Tochter des Khediws in Kairo als lautes Freudenfest prunkvoll ge­ feiert hatte, während in Stambul tiefe Trauer über das Unglück des Vaterlandes herrschte. Die Vorgänge in Skutari, die Ermordung Hassan Risas und die ver­ räterische Übergabe der Stadt, gaben dem Haß neue Nahrung. Die Erbitterung nahm aber noch mächtig zu, als am 30. April in Konstantinopel die Trauernachricht eintraf, daß Major Niasi Bej, der vergötterte „Freiheits­ held" vom Sommer 1908, auf der Landungsbrücke von Dalona erschossen worden war, als er sich gerade nach Stambul einschiffen wollte. Die jungtürkischeu Zeitungen, allen voran der „Tanin", verlangte» in flammenden Artikeln Rache für Niasi und forderten die Regierung auf, alle Albanesen auszuweisen, die Beamten albanesischer Herkunft abzusetzen und vor allem Ferid Pascha das Amt des Senatspräsideuten zu nehme». Die Regierung wies in der Tat eine große Zahl von Alba­ nesen aus, darunter auch den Zolldirektor Namik Bej

157 und den Staatsrat Neschat Bej, zwei Brüder Ferid Paschas, der sich selbst wohl hütete, aus Ägypten »ach Konstantinopel zurückzukehren. Die BevSlkeruag von Stambul boykottierte die albanesifchen Gewerbetreibeu, den. Es kam auch zu ernsten Kundgebungen gegen die albanesifchen Studenten der Stambuler Universität. Die türkischen Studenten bedrohten die Albanesen und verlangten vom Rektor die Relegierung aller albane, fischen Studenten. Müitär mußte einschreiten, um die Ruhe wiederherzustellen. Der Präliminarfriede, dessen Unterzeichnung nach allgemeiner Annahme noch vor Ende April hätte er, folgen solle«, war durch die neue Bestimmung, daß die Unterzeichnung in London stattfinden sollte, abermals hinausgeschoben worden. Der Waffenstillstand oder, wie es amtlich hieß, die „Suspendierung der Feindselig, ketten", mußte deshalb verlängert werden, zunächst am 24. Aprü bis zum 4. Mai und bann um «eitere zehn Tage, also bis zum 14. Mai. Am 4. Mai waren die Friedensuaterhändler der Türkei vom Mtaisterrat er, nannt worden, nämlich General Osman Rtsami Pascha, zu dessen Nachfolger als Botschafter in Berlin am 30. März General Mahmud Muhtar Pascha ernannt worden war, der Minister der öffentlichen Arbeiten, Batzaria Effendi und der juristische Beirat der Hohen Pforte, Reschid Bej. Osman Nisami Pascha und Batzaria Effendi reisten am 6. Mai nach London ab. Reschid Bej folgte einige Tage später. Am 14. Mai wurde die Sus, pendterung der Feindseligkeiten abermals, diesmal bis zum 28. Mat, verlängert.

158 Der letzte Kampf in diesem Kriege hatte nach einer am 4. Mai ausgegebenen amtlichen Meldung am 1. Mai bei Gülnar an der Neinasiatischen Küste stattgefunden. Ein keines griechisches Kriegsschiff wurde von den türkischen Strandbatterien beschossen und erwiderte das Feuer. Das Gefecht dauerte etwa anderthalb Stunden. Nach dem türttschen Kampfbericht erlitt das feindliche Kriegsschiff am Vorderteil und am Backbord Beschä­ digungen. Während dieser letzte Kampf im Balkankrieg scheinbar unblutig verlaufen ist, forderten einige rasch aufeinanderfolgende Mivenunglücke im Hafen von Smyrna leider zahlreiche Menschenopfer, welche die Verlustlisten des Krieges im letzten Augenblick vor dem Friedensschluß noch verlängerten. Am 22. Mai geriet der ftaazöstsche Dampfer „S-a-gal" der Meffageries Maritime- beim Auslaufen aus dem Hafen von Smyrna auf eine Mine und wurde so schwer beschädigt, daß der Kapitän das Schiff auflaufen lassen mußte. Das Un­ glück forderte nach dem amtlichen türkischen Bericht fünf Menschenleben. Unter den Toten befand sich eine zwan­ zigjährige Türkin. Mehrere Personen wurdev verletzt. Zwei Tage später, am 24. Mai, wurde nicht weit von der ersten Unfallstelle der unter amerikanischer Flagge fahrende Dampfer „Nevada" durch drei Minenexplosioveu zum Sinken gebracht. Mehr als hundert Personen fanden da­ bei den Tod. Ein drittes Minenunglück führte am 16. Juni den Untergang der italienischen Segelbarke „Elesteria" herbei. Ein Matrose wurde dabei getötet. Diese bedauerlichen Vorfälle ließen die rasche Wiederherstellung normaler Verhältnisse doppelt wünschenswert erscheinen.

159 Während des ganzen Mai standen die türkisch-eng­ lischen Derhavdlvngen im Vordergrund des Interesses. Schon am zr. März hatte das liberale Abendblatt „Alemdar" in einer vielbemerkten Notiz geheimnisvoll von einem wichtigen Umschwung in der äußeren Politik der Türkei gesprochen, und man »ahm damals allgemein an, daß diese Mittellung sich ans die Verhandlungen mit England beziehe. Am 9. Mai hatte eine Reutermeldung dann bestätigt, daß der Abschluß eines türkisch-englischen Abkommens über Kuweit und den persischen Golf bevor­ stehe. Die Nachricht wurde in Konstantinopel mit großer Befriedigung begrüßt. Der „Tauin" erklärte, daS Ab­ komme« besitze große Bedeutung für die Sicherheit der asiatischen Türkei, denn der Cypernverttag werde da­ durch aus der Vergessenheit hervorgezogen. Die Mit­ teilungen türkischer und fremder Blätter über den an­ gebliche« Inhalt des englisch-türkischen Vertrages wurden von zuständiger Sette sofort als unrichtig bezeichnet. Erst durch die Rede Sir Edward Greys vom 29. Mai wurde Zuverlässiges über die türkisch-englischen Ab­ machungen bekannt. Als Hauptpunkt der Abmachungen wurde von dem englischen Staatsmann die Zusicherung von türkischer Sette bezeichnet, daß die Bagdadbahn ohne englische Zustimmung nicht über Basra hinaus­ gehen werde. Ferner erklärte Sir Edward Grey, Eng­ land hätte nach dem Abkommen die türkische Svzeränttät über Kuweit anzuerkennen. Dafür «erde die Türkei zustimmen, daß die Autorität des Scheichs von Kuweit wie bisher «etterbestehe. Die Verttäge, die Eugland mit dem Scheich ohne Rücksicht auf die türkische Ober-

160 Hoheit abgeschlossen hatte, würden nicht geändert werden. Als Gegenleistung Englands bezeichnete der Minister die englische Zustimmung zu einer Erhöhung der tür­ kischen Zölle. Noch vor dem Abschluß der Verhandlungen mit England trat der britische Botschafter in Konstantinopel, Sir G. A. Lowther, wie am 14. Mai bekannt wurde, zurück. Ms Grund des Rücktrtttsgesuchs wurde ange­ geben, daß der Botschafter fielt längerer Zeit leidend sei. An den türkisch-englischen Verhandlungen, die Hakki Pascha in London führte, hatte Lowther keinen AnteU gehabt. Zu seinem Nachfolger wurde am 17. Juni Sir Louis du Pa» Mallet, der einstige Privatsekretär Sir Edward Greys, ernannt. Am Nachmtttag des 30. Mai traf endlich die Mel­ dung ein, daß an diesem Tage um 12 Uhr 40 Minuten mittags der Präliminarfriede in London unterzeichnet worden war. Da der Krieg feit dem 14. April als faktisch beendet galt, machte die Nachricht in Konstautinopel keinen allzu tiefen Eindruck. Nur der „Tavin" kommentierte das geschichtliche Ereignis am nächsten Morgen. Er nannte den 30. Mai einen Tag der Trauer für die Türkei und erklärte, mau müsse, falls die Reli­ gion es gestatte, schwarze Kleider anlegen und sie bis zum Tag der Rache tragen. Das gleiche Blatt empfahl später den osmavischen Patrioten, schwarze Ringe zu tragen, um sich beständig au bas Unglück des Vater­ landes und die Notwendigkeit der Revanche zu er, innern. Der wunderliche Vorschlag fand indessen keinen Beifall. Mau bemerkte dazu mit Recht, daß die wahren

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Patrioten eines äußerlichen Erinnerungszeichens nicht bedürften, und daß die Gesinnung der Lauen auch durch einen schwarzeu Ring nicht beeinflußt würde. Diel mehr als die traurige Dergaageaheit, die durch den Präliminarftieden abgeschlossen wurde, be­ schäftigte die Frage der Zukunft alle ernsten Politiker in der Türkei. Im Vordergrund stand die armenische Frage, die seit der Explosion einer Bombe in einem Armenierhaus in Erflndschan (iz. April) einen großen Raum in der türkischen Presse einnahm. Die Zeitungen betonten die große Gefahr, die eine Aufrollung der armenischen Frage durch Rußland bedeuten würde, und empfahlen rasche durchgreifende Reformen. Den ganzen Frühling hindurch berichteten die armenischen Blätter fast täglich über Mordtaten der Kurden in Armenien und über die dort herrschende allgemeine Anarchie. Die türkischen Zeitungen dagegen warfen auch den Arme­ niern allerlei Übeltaten vor und verdächtigten Rußland, die armenische Bevölkerung durch Emissäre aufzureizen. Bis Anfang Mai war viel von einer Untersuchuugskommisston die Rede, die unter dem Vorsitz des Wakvfmiuisters Hain Bes ernannt worden war und angeblich sofort nach Unterzeichnung des Präliminarfriedens ab­ reisen sollte, um die Konflikte zwischen Armeniern und Kurden zu umersuchen und namentlich ein Mittel zur BeUegung der Streitigkeiten «egen der Ländereien, die unter dem hamidischen Regime den Armeniern abge­ nommen und den Kurden gegeben worden waren, zu finden. Die Kommission trat die Reise indessen nicht an. Am i2. Mai überreichte das armenische Patriarchat dem 5 e lfcm o n n , Uricgftage.

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162 Großwesir Mahmud Schefket Pascha ei» Memorandum, in dem die „unbeschreibliche Verzweiflung" der Arme­ nier betont und die Gefahr der Vernichtung des arme­ nischen Elements in Ostanatolten eindringlich geschildert wurde. Nach der Überreichung dieses Memorandums erklärte der Großwesir durch die Ageuce Ottomane, in den Sstlichen Provinzen herrsche tatsächlich Anarchie, aber darunter litten nicht nur die Armenier, sondern alle Elemente. Mahmud Schefket Pascha stellte dev Ar­ meniern das Zeugnis aus, daß sie loyale Staatsbürger seien, und betonte, daß die armenische» Soldaten im Kriege ungewöhnlichen Mut bewiesen hätten. Er ver­ sprach im Namen der Regierung AbhUfe mit allen Mitteln. Nächst der armenischen Frage bereitete das syrische Problem der Regierung ernste Sorgen. Seit dem Januar hatte man Sster von bedenklichen Umtrieben des arabischen „Reformklubs" in" Beirut gehört. I« gewissen Pariser Blättern wurde auch ganz offen von der französischen Propaganda in Syrien gesprochen und darüber geklagt, daß auch die Engländer in Syrien eifrig Propaganda machten, um die ftanzösischeu Be­ strebungen zugunsten englischer Pläne zu durchkreuzen. Die türkische Presse hatte im Aprll begonnen, auf diese Gefahren hinzuweisen. Das syrische Problem wurde seitdem fast täglich von irgendeiner Zeitung erörtert. Die osmavische Regierung hatte bereits am 9. April den Reformklub in Beirut schließen und einige Führer der nationalistischen Araber verhaften lassen. Aber drei Wochen darauf machte fle de« Arabern ein großes Zu-

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geständnis, indem sie den Gebrauch der arabischen Sprache in noch weiterem Umfang, als die Araber selbst ihn gefordert hatten, für dev amtliche» Verkehr vorschrieb. Die türkischen Zettungen billigten diesen Schritt der Regttrung und betonten die absolute Not, «eadigkett der Rettung des arabischen Elements für die Türkei. Der „Tanin" erklärte geradezu, im Notfall müßten alle Türken Araber werden, um den Abfall der Araber, der das Ende der Türkei bedeuten würde, zu verhüten. Die Araber ihrerseits beteuerten ihre treue Anhänglichkeit an die Türkei und das Kalifat des tür, kischen Suttans. Aber der syrisch,arabische Kongreß, der am 19. Juni in Paris eröffnet wurde, bewies, daß die Zulassung der arabischen Sprache im amtlichen Der, kehr nur die Erfüllung einer Forderung unter viele« bedeutete. Auch aus Kurdistan liefen Meldungen über eine bedenkliche Gärung ein. Und im Irak regten sich gleich, falls revolutionäre Elemente. Die am 20. Juni erfolgte Ermordung des türkische« Kommandanten, Oberst Ferid Bej, in Basra ließ ahnen, wie groß die Erregung in dieser Gegend des Reiches war. Das am 2z. Januar zur Macht gelangte jung, türkische Kabinett hatte sich trotz des Krieges von An, fang an lebhaft mit der Frage beschäftigt, wie der ge, fährdete Rest des Reiches gerettet werden könne. Die Beratungen führten zur Ausarbeitung eines neue« Wilajetsgesetzes, das indessen nur als Vorspiel zur Ausführung eines großen Reformprojekts gedacht war. Die Regierung hatte, wie am 7. Mai bekannt wurde.

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beschlossen, Anatolien in fünf Zonen einzuteilen. Für jede Zone sollte eine Jnspektiouskommisston ernannt werden, an deren Spitze ein hervorragender Beamter als Generalinspektor stehen sollte. Diesen Kommissionen sollten nach dem Projekt ausländische Berater beige­ geben werden. Die Kommissionen hatten nach dem Plan die Aufgabe, die Ausführung des neuen WUajetsgesehes zu überwachen und alle Beschwerden der Be­ völkerung festzustellen. Eine Anregung des Generalfeld­ marschalls Freiherrn v. d. Goltz, die türkische Hauptstadt nach Asten zu verlegen, fand in Konstantinopel keinen Beifall. Die Regierung verbot den türkischen Zeitungen sogar die Wiedergabe des Artikels der „Neuen Freien Presse", in dem Freiherr v. d. Goltz am 19. Mai diesen Vorschlag gemacht hatte. Daß aber die Armee in Zu­ kunft dem verderblichen Einfluß Konstantinopels nach Möglichkeit entzogen werden sollte, war bereits be­ schlossene Sache. Zwar wird auch nach der neuen Heeres­ verteilung, die für die europäische Türkei drei Armee­ korps mit Generalkommandos in Gallipoli, Rodosto und Konstantinopel vorsteht, die Hauptstadt ein wichtiges militärisches Zentrum bleiben. Aber es ist geplant, Kasernen, Kriegsschulen u. dgl. nach Möglichkeit in die Vororte zu verlegen, um Offizieren und Soldaten den Besuch der Konstantinopeler Kneipen, Spielhöllen und Bordelle zu erschweren. Mit großer Befriedigung wurde in Konstantinopel eine Berliner Meldung vom 20. Juni begrüßt, die von Deutschlands Bereitwilligkeit berichtete, bei der Reorganisation der türkischen Armee tätig mit­ zuwirken. Die Notwendigkeit einer raschen und aus-

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reichenden Vermehrung der osmanischea Flotte hatte der „Tauin" am 13. Mai nachdrücklich betont, nachdem der Thronfolger Prinz Jussnf Jseddin beim Besuch des veven Marinemvsenms in das ihm vorgelegte Album die Worte eingetragen hatte: „Der von meinem Barer, Sultan Abdul Asis, vertretene Gedanke einer großen türkischen Flotte wurde leider aufgegeben. Ans diesem Grunde konnte die Katastrophe des Landes eintreten." Der „Tanin" bemerkte dazu: „In diesen Zellen sind die Geschicke des Landes zusammengefaßt. Die Worte des Prinzen sind mit feurigen Buchstaben ins Programm des Marivemiaisteriums zu schreiben." Don den sonstigen Zukuvftspläne», die in dieser Zeit viel besprochen wurden, muß noch das Freihafenprojett für Konstantinopel erwähnt werden. Der inter­ essante Plan beschäftigte zuerst in der letzten Maiwoche die ftemden Handelskammern in einer gemeinsamen Sitzung, in der auf Anregung der osmanischen Handels­ kammer die Frage, wie die Bedeutung Konstantinopels für den Handel erhalten bleibe» könne, erörtert wurde. Die osmanische Handelskammer überreichte dann der tut* kischen Regierung eine Denkschrift über den Plan. Der Gedanke war in Handelstteisev freudig begrüßt worden. Aber es wurde gleich betont, daß sein Ausreife» bei den großen Schwierigkeiten, die zu überwinden waren, noch lange Zeit erfordern werde. Die Optimisten hatten eine sofortige Ausführung des glücklichen Gedankens für möglich gehalten. Diel besprochen wurde auch die zukünftige Gestal­ tung der Beziehungen zu den bisherigen Feinden. Die

166 wachsende Spannung unter den Balkanverbüadeten hatte die Türkei veranlaßt, auf die Demobilisation zu, nächst noch zu verzichten und in voller Bereitschaft die «eitere Entwicklung der Dinge abzuwarten. Griechen und Bulgaren bemühten sich um die Gunst der Türkei. Die osmanische Regierung beschloß aber, im Fall eines neuen Balkankrieges zuerst strikte Neutralität zu be­ wahren. Immerhin machte sich in Konstantinopel eher Sympathie für die Bulgaren bemerkbar. Die Wieder­ aufnahme normaler diplomatischer Beziehungen zwischen der Türkei und Bulgarien wurde durch die Besuche, die der osmanische Botschafter und der bulgarische Gesandte in Wien sich Anfang Juni abstatteten, eingeleitet. Für die übrige Auslandspolitik hatte die türkische Regierung Pflege guter Beziehungen zu allen Groß, mächten in ihr Programm geschrieben. Schwierige Fragen waren nach dem günstigen Verlauf der türkisch, englischen Verhandlungen vor allem mit Frankreich zu regeln, dessen Botschafter, Herr Bompard, bereits am 24. Februar — wie erst Mitte Mai bekannt wurde — eine lange Liste von Forderungen überreicht hatte. Frankreich verlangte nach dem „Echo de Paris" Begün­ stigung gewisser französischer Schulen und anderer An­ stalten, Anerkennung der Tunesier und Marokkaner als französische Schützlinge, Gewährung gewisser Garantien für französische Staatsangehörige und Schützlinge im Fall einer strafrechtlichen Verfolgung, ferner die end­ gültige Konzession für die Bahnlinie Samsun—Diarbekr und deren Verlängerung bis Trapeznnt, die Verlän­ gerung des Bahunetzes Damaskus—Hama in der Rich-

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tullg auf Jerusalem, Konzessionen für die tzafeubauteu in Jueboli uud Eregli am Schwarze« Meer sowie iu Tripolis, Haifa uud Jaffa in Syrien. Frankreich machte, so wurde Mitte Mai versichert, seine Zustimmung zur Erhöhung der türkischen Zölle sowie den verheißenen moralischen und vor allem finanziellen Beistand bei der Wiederhebung der Türkei von der Erfüllung dieser Forderungen abhängig. Die Erinnerung an die ersten Kriegswoche» wurde durch die Rückkehr der Reste der Westarmee nach Konfiantinopel neu geweckt. Es handelte sich um Trümmer des VI., VII. uud VIII. Armeekorps, die unter den Generalen Dschawid Pascha und Seki Pascha in Albanien gefochten hatten und, durch Schlachten uud Krankheiten dezimiert, von Hunger gequält, aber unbesiegt, nach Dalona gelangt waren, von wo sie zur See in die Heimat zurückgebracht wurden. Seit dem 20. Mai trafen diese Helden, deren erschütternde Geschichte hoffentlich eines Tages geschrieben wird, in Gruppen von mehreren hundert oder auch tausend Mann in Konstantinopel ein. Andere wurden in Smyrna gelandet. Kein feierlicher Empfang ehrte diese Soldaten, die fast alle krank und völlig abgemagert heimkehrten. Man ging ihnen aus Furcht vor dem Flecktyphus sogar scheu aus dem Wege. Uud doch schlug das Herz der türkischen Pattioten höher beim Anblick der Tapferen, die bis zum Schluß die Ehre der Halbmondflagge gewahrt hatten. Am Mittwoch, 11. Juni, verbreitete sich bald nach i2 Uhr mittags in Konstaminopel das Gerücht, daß der Großwesir Marschall Mahmud Schefket Pascha von

168 Mörderhand gefallen sei.

Die Nachricht erschütterte tief,

aber überraschte nicht allzu sehr, da

man seit dem

23. Januar auf ein solches Ereignis gefaßt war.

Man

wußte auch, daß die Regierung schon am 3. Juni be­ sondere Maßregeln getroffen hatte, um etwaige An­ schläge der Feinde des jungtürkischen Regimes, vor denen die Polizei gewarnt worden war, zu verhüten. Als der Großwesir am 11. Juni wie gewöhnlich gegen >/ri2 Uhr vom Kriegsministerium am Bajasidplatz in Stambul nach der Hohen Pforte fahren wollte, mußte

sein Automobll am Eingang in die Tramwaystraße Diwan Jolu stoppen, um einen mohammedanischen Leichenzug passieren zu lassen. In diesem Augenblick näherten sich mehrere Personen, die seit einer Viertel­ stunde in einem Automonll dort gewartet hatten, dem Automobll des Großwesirs und feuerten zehn Revolverschüsse auf ihn ab. Mahmud Schefket Pascha sank, töd­ lich verwundet, mit einem Seufzer in die Arme seines Adjvtanten Eschref Bej. Sein zweiter Adjutant, Marineleutnant Ibrahim Bej, der den Großwesir mit seinem Körper decken wollte, wurde sofort getötet.

Der neben

dem Chauffeur sitzende Diener des Marschalls wurde schwer verwundet. Die Polizei verhaftete gleich nach der Mordtat einen der Mörder, einen vorbestraften Berufs­ spieler namens „Topal" Tewfik (d. h. der hinkende Tewfik). Die übrigen Mörder entkamen in ihrem Automobil. In den erste« Stunden nach der blutigen Tat hielt man das Attentat vielfach für das Signal zu einer neuen Revolution, da man die angebliche regierungsfeindliche

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Bewegung unter einem Teil der Tschataldschaarmee damit in Verbindung brachte. Diese Kombination er­ wies sich aber bald als irrig. Die Armee rührte sich nicht, und die Ruhe wurde nirgends gestört. Es gelang den Behörden überraschend schnell, die meisten Mörder tu ergreifen und dem Kriegsgericht zuzuführen. Am in. Juni wurden Mahmud Schefket Pascha und Leut­ nant Ibrahim Des feierlich neben dem Denkmal für die gefallenen Freiheitskämpfer vom April 1909 auf dem Huriet Tepessi (Fretheitshügel) bei Schischli beige­ setzt. Neben ihnen wurde am 15. Juni der Gendarmerie­ hauptmann Hilmi Des, eia Adjutant des Obersten Dschemal Bej, des energischen Mllitärgouverneurs von Konstantinopel, bestattet, der am 13. Juni bei der Ver­ haftung einiger Mörder von diesen durch einen Revolver­ schuß tödlich verwundet worden war. Die Regierung hatte in den Tagen nach dem Atten­ tat mehrere tausend Mitglieder der liberalen Partei unter dem Verdacht der Mitschuld verhaften lassen. Die meisten wurden nach kurzem Verhör wieder fteigelaffen. Etwa siebenhundert wurden zu näherer Untersuchung nach Sinope am Schwarzen Meer überführt. Gegen vierundzwanztg Verhaftete und zwölf Flüchtlinge wurde Anllage wegen Mordes erhoben. Die Verhandlung des Kriegsgerichts fand am 19., 20. und 21. Juni statt. Sie ergab, daß Prinz Sabaheddin und Damad Salih Pascha Haireddin, ein Sohn des bekannten Großwesirs Tnnisli Haireddin Pascha und Gatte der Prinzessin Münire-Sulta«, einer Nichte des Sultans, mit anderen bekannten Persönlichkeiten eine Verschwörung zur ErmorSelbmann, Uriensroge.

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düng der Häupter des jungtürkischen Regimes angezettelt hatten. Die zur Ausführung der Mordtaten gedungenen Verbrecher waren übelbeleumdete Individuen, meist vor­ bestrafte Berufsspieler aus dem verrufenen Stambuler Viertel Kütschük Mustapha Pascha, die aber fast alle der hamidischen und später der kiamUistischen Polizei Spitzeldienste geleistet hatten. Am Sonntag, 22. Juni, fällte das Kriegsgericht sein Urteil. Zwölf Angeklagte wurden zum Tode verurteilt, darunter Damad Salih Pascha und ein Oberst im Generalsiab namens Fuad Bef. Zwei Angeklagte wurden zu lebenslänglicher Kerkerhaft, drei weitere zu je fünfzehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Sieben Angeklagte wurden freigesprochen. Prinz Sabaheddin, der frühere Minister des Innern Reschid Bej, der frühere Gesandte und Exgeneral Scherif Pascha sowie sein Sekretär Pertew Tewstk, der Schrift­ steller Kemal Midhat Bej, der Oberstleutnant Seki Bej, der frühere Deputierte Ismail Bej und fünf andere Mitschuldige wurden in contumaciam zum Tode ver­ urteilt. Nachdem der Sultan das Urteil des Kriegs­ gerichts trotz alles Flehens einiger Prinzessinnen am Nachmittag des 23. Juni bestätigt hatte, wurden Damad Salih Pascha und die anderen zum Tode Verurteilten in der Frühe des 24. Juni hingerichtet. Alle zwölf starben gefaßt. Die zwölf Galgen waren mitten auf dem Bajasidplatz errichtet worden. Bis zehn Uhr vor­ mittags blieben die Leichen der Mörder in ihren weißen Totenhemden vor einer riesigen Menschenmenge am Galgen ausgestellt. Zum Nachfolger des ermordeten Großwesirs war

171 am Tage der Beisetzung Mahmud Schefket Paschas der bisherige Minister des Äußeren und frühere Präsident der Komiteepartei, Prinz Said Halim Pascha, ernannt worden. Die Bildung des neuen Kabinetts wurde am 17. Juni abgeschlossen. Minister des Innern wurde Talaat Bej, Kriegsminister der Generalissimus Jset Pascha, Minister der öffentlichen Arbeiten General Osman Nisami Pascha, Handelsminister der christliche Syrier Senator Suleiman El Bostani, Präsident des Staatsrats der frühere Kammerpräsident Halil Bej. Die übrigen Portefeuilles blieben in der Hand der bis­ herigen Inhaber. Zum Senatspräsidenten wurde der greise Kütschük Said Pascha an Stelle des Albanesen Ferid Pascha ernannt. Das neue Kabinett, das mit Vertrauen begrüßt worden ist, erklärte in einer am 23. Juni erschienenen Kundgebung, es sei entschlossen, die Politik des bis­ herigen Kabinetts fortzusetzen. Als Bedingung für die Erfüllung seiner schweren Aufgabe bezeichnete es aber die Einlösung des Versprechens moralischer und mate­ rieller Unterstützung, das die Großmächte der Türkei wiederholt gemacht hätten. Und damit hob er treffend hervor, wovon die Zukunft der Türkei tatsächlich in erster Linie abhängt.

Druck von Georg Reimer, Derttn TO. 10.