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German Pages 333 Year 2008
DIERK SPREEN
Krieg und Gesellschaft
Soziologische Schriften Band 81
Krieg und Gesellschaft Die Konstitutionsfunktion des Krieges für moderne Gesellschaften
Von
Dierk Spreen
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Die Fakultät für Kulturwissenschaften der Universität Paderborn hat diese Arbeit im Jahre 2006 als Habilitationsschrift für das Fach Soziologie angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten # 2008 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0584-6064 ISBN 978-3-428-12561-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Meinen Eltern
Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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A. Gesellschaft und Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Gewalt als Problem der Gesellschaftstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Notwendigkeit in der Erscheinung – Kontingenz des Handelns . . . . . . . III. Gesellschaftliche Phänomene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Erfahrung als Bedingung des Wissens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Die Schwellenposition ‚des Menschen‘. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
30 30 35 39 43 50
B. Zwischen Diskurs und Erfahrung. Zur Problematik des Gewaltbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Verletzung und Körper. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Ereignis und Spur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Sachen, Dinge und soziale Bedeutung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zum soziologischen Begriff gewaltförmigen Handelns. . . . . . . . . . . . . . .
54 54 62 65 69
C. Die Konstitutionsfunktion des Krieges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 I. Der Frieden nach dem Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 II. Der Krieg jenseits des Friedens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 III. Idealtypische Merkmale des Krieges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 IV. Macht und Norm im militanten Konstitutionsdiskurs . . . . . . . . . . . . . . . . 92 V. Das Reentry der Macht in die Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 VI. Der Ort der Konstitutionsfunktion des Krieges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 D. Soziale Moral: Normative Gesellschaftsvorstellung, militante Semantik des Sozialen und politische Friedensnorm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Militärische Neuerungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . II. Soziale Moral im Kontext von Kultur, Krieg und Ökonomie . . . . . . . . . III. Mediale Öffentlichkeit: Das Kleist-Müller-Projekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Organischer Staat und schöne Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Der Raum der Gesellschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. . . . und Frieden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Erfahrung und Wirkung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX. Die Modernität der Romantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
117 122 126 133 138 143 145 148 152 155
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Inhaltsverzeichnis
E. Totale Mobilmachung: Der kriegsgesellschaftliche Diskurs und das Scheitern der Zivilgesellschaft in der Zeit zwischen den Weltkriegen . . . I. Militärische Neuerungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts . . . . II. Kritik der Romantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Individualisierung und sachlicher Heroismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Technisierung und Professionalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Totale Mobilmachung, militante Semantik des Sozialen und totaler Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Apologie der Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Frieden nach dem Zukunftskrieg? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Erfahrung und Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX. Moderne, Staat und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . F. Global Security: Der andauernde Sicherheitszustand als Weltnomos der Zivilgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. ‚Sicherheit‘ statt ‚Krieg und Frieden‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Zur komplexen Machtdimension des globalen Sicherheitsregimes . . . . . III. Bedrohungen durch Gewalt und die Gewalt der globalen Sicherheit . . . 1. Kriegsökonomien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Terrorkrieg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Sicherheitskrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Der normative Rahmen der globalen Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Erfahrung und Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Die reflexive Moderne, ihre Kriege und ihr Frieden . . . . . . . . . . . . . . . . .
160 166 179 184 193 201 211 215 216 221 226 227 239 246 246 249 261 269 283 289
Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 Sachregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330
Einleitung Fragen zum Verhältnis von Gesellschaft und Krieg sind nichts Neues. Je nach historischem, kulturellem und gesellschaftlichem Kontext stellen sie sich allerdings in unterschiedlicher Weise. In der Bundesrepublik Deutschland herrscht nach den schlechten Erfahrungen mit zwei Weltkriegen, zu deren Ausbruch deutsche Regierungen bewusst und tatkräftig beigetragen haben, bis heute eine Perspektive vor, die mit der Orientierung der Politik am Frieden auch die friedlichen Mittel in den Vordergrund stellt. In Bezug auf sozialwissenschaftliche Fragen nach dem Verhältnis von Gesellschaft und Krieg äußert sich diese Präferenz schon in der Bezeichnung der Forschungsprogramme. Im anglo-amerikanischen Sprachraum wird von ‚Military Studies‘ gesprochen, in Deutschland von ‚Friedensforschung‘. Letztere gehorcht im Wesentlichen der Maxime: Si vis pacem, para pacem.1 In diesem Kontext steht auch die kriegsätiologische Sozialforschung, die mit empirischen Mitteln die „kriegsursächlichen Hintergründe“ von Kriegen aufklären möchte.2 Die folgenden Überlegungen werden der Herangehensweise der Kriegsursachenforschung nicht folgen, sondern sie geradewegs umdrehen, indem sie fragen, inwiefern Krieg als Konstituens moderner Gesellschaftlichkeit angesehen werden kann. Es geht nicht darum, die Ursachen von Kriegen zu erforschen, sondern Krieg als Ursache für gesellschaftliche Konstitutionsprozesse zu sehen. Gefragt wird nach den produktiven gesellschaftlichen Effekten, die der Krieg gerade auch aufgrund seiner Gewalt zeitigt. Dabei wird davon ausgegangen, dass es Kriegsdiskursen gelingt, körperliche Gewalterfahrungen so in sozialen Sinn zu überführen, dass der Krieg die Einheit und das Funktionsgefüge moderner Gesellschaften begründen, steigern oder absichern kann. Weder können noch wollen die nachfolgenden Darlegungen allerdings verleugnen, dass die Orientierung am Frieden für das Politische von zentraler Bedeutung ist. In Anlehnung an die moralphilosophische Tradition des 1
Dieter Senghaas, Vorwort, in: ders. (Hg.), Den Frieden denken. Si vis pacem, para pacem, Frankfurt am Main 1995, S. 9–17, hier S. 14. Das Motto der Friedensforschung spielt an auf das lateinische Sprichwort: Si vis pacem, para bellum (Wenn du den Frieden wünschst, bereite den Krieg vor). 2 Klaus Jürgen Gantzel, Kriegsursachen – Tendenzen und Perspektiven, in: Ethik und Sozialwissenschaften, Heft 3, 1997, S. 257–266, hier S. 258.
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Einleitung
Staatsfriedens (pax civilis), die sich ausgehend von Thomas Hobbes’ leviathanischem Staat, über Immanuel Kants Vorstellungen einer gerechten gesellschaftlichen Ordnung, der Rechtsstaatlichkeit und eines internationalen Rechtsverhältnisses bis hin zu Dolf Sternbergers Bestimmung des Politischen als konstitutiv an den Normen des inneren und äußeren Friedens orientiert erstreckt3, soll davon ausgegangen werden, dass sich das Politische in der Spannung zwischen Machtwirklichkeit und Allgemeingültigkeit beanspruchenden Normen – unter ihnen insbesondere die Normen des inneren und äußeren Friedens – entfaltet. Dabei sind diese Normen als regulative Ideen des Politischen zu verstehen. Wie jedes menschliche Handeln ist auch das politische in die Spannung zwischen Sein und Sollen eingebettet. Normative Regulative insbesondere moralischer und rechtlicher Natur sind daher als Rahmen anzusehen, die politisches Handeln über die inhärenten Zwänge und Funktionsweisen von Machtkonfigurationen hinaus orientieren. Die systematische Bedeutung dieses Spannungsverhältnisses hat erst kürzlich Thomas Kater in Erinnerung gerufen.4 Von einer handlungsorientierenden Spannung zwischen gesellschaftlichen Machtverhältnissen und ihren Normen auszugehen, heißt zugleich, dass diese beiden Größen nicht bloß funktional aufeinander bezogen werden können. Die Orientierung am Frieden bringt eine normative Orientierung im Politischen mit sich, die mit dem, was das faktische gesellschaftliche Sein und die es strukturierenden Machtverhältnisse ausmacht, immer auch kollidiert. Gerade diese Bedeutung normativer Regulative, die Gewalt und Macht bändigen und eingrenzen, wird in jener Friedensforschung klein geschrieben, in der es zur „Abweisung oder Minimierung der Bedeutung des Rechts“5 kommt, weil Normen lediglich als Funktion gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse und als eine „strukturelle Gewalt“ (Johan Galtung) betrachtet werden.6 Umgekehrt impliziert das Hervorheben der Spannung zwischen gesellschaftlicher Faktizität und Norm, dass die Beschreibung des 3 Wilhelm Janssen, Friede. Zur Geschichte einer Idee in Europa, in: Dieter Senghaas (Hg.), Den Frieden denken. Si vis pacem, para pacem, Frankfurt am Main 1995, S. 227–275, insbes. S. 239–250, 261. 4 Thomas Kater, Institution und Norm. Historisch-systematische Grundlagen der politischen Philosophie, Habilitationsschrift vorgelegt an der Fakultät für Kulturwissenschaften der Universität Paderborn, Paderborn 2003, insbes. S. 95–155. 5 Helmut Schelsky, Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen, München 1977, S. 392. 6 Strukturelle Gewalt liegt nach Galtung dann vor, „wenn Menschen so beeinflusst werden, dass ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potenzielle Verwirklichung“ (Johan Galtung, Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung, Reinbek 1975, S. 9). Strukturelle Gewalt ist „in das System eingebaut und äußert sich in ungleichen Machtverhältnissen und folglich in ungleichen Lebenschancen“ (Ebd., S. 12).
Einleitung
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gesellschaftlichen Seins zwar Normen und Werte in Bezug auf ihre Funktionalität zu berücksichtigen hat, dass sie aber nicht davon ausgehen kann, dass dem Gesellschaftlichen seiner Natur nach eine Norm eingeschrieben ist. So kann die moderne Gesellschaft nicht als wesentlich friedlich oder ‚zivil‘ angesehen werden. Vielmehr muss sie politisch durch den demokratischen Rechtsstaat am inneren und äußeren Frieden orientiert werden. Der Ort der Norm des Friedens ist daher im Politischen und nicht im Gesellschaftlichen zu suchen. Für eine Perspektive, die sich dem Diskurs der pax civilis anschließt, heißt das, dass sie die Friedensnorm nicht in den Begriff der Gesellschaft und in die Beschreibung der gesellschaftlichen Wirklichkeit „hineinverweben“ (Max Weber) darf.7 Der Hinweis auf das Verhältnis von gesellschaftlichem Sein und regulativen Sollens-Orientierungen des Politischen verweist darauf, dass sich die Frage nach dem positiven Konstitutionsverhältnis zwischen Krieg und moderner Gesellschaft einer ganz grundsätzlichen theoretischen Schwierigkeit gegenüber sieht. Denn nach wie vor sind in der Soziologie Auffassungen weit verbreitet, welche „Gewalt immer noch pauschal als das Rückständige, Andere, Fremde, Frühere der eigenen Gesellschaft“ ansehen und „sich ansonsten eher selbstgewiss auf die zivilisatorischen Leistungen der Moderne“ verlassen.8 Moderne und moderne Gesellschaft gelten in solcher Perspektive als ihrer eigenen Natur nach antikriegerisch. Diese Meinung kommt insbesondere in diversen modernisierungstheoretischen Ansätzen zum Vorschein, wenngleich sie tiefer gehende Gründe hat. Diese sind in einer gewissen Neigung zu suchen, moderne Gesellschaftsvorstellungen sowohl im soziologisch-wissenschaftlichen als auch im politisch-öffentlichen Kontext normativ aufzuladen. Um diese Normativierungstendenz herausstellen zu können, bedarf es eines kurzen Rückblicks auf die Entstehungsbedingungen der Soziologie. An diesem Rückblick lässt sich exemplarisch erkennen, warum sich Werturteile in den modernen Diskurs ‚der Gesellschaft‘ einschreiben und welcher Art sie sind. Die Wissenschaft von der Gesellschaft konstituiert sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu einem Zeitpunkt, an dem sich das Prinzip der modernen Nationalstaatlichkeit in Europa bereits voll entfaltet (wenn auch noch nicht überall verwirklicht) hat. Das Problem, das sich der herausbildenden Soziologie dabei stellt, ist nicht die politische Hervorbringung, sondern der Zusammenhalt und die Integration der Gesellschaft im Kontext ihrer ökonomischen Eigendynamik. Wie kann das ‚soziale Band‘ vor entropischen Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 71988, S. 61 f. 8 Peter Imbusch, Gewalt – Stochern in unübersichtlichem Gelände, in; Mittelweg 36, Heft 2, 2000, S. 24–40, hier S. 33. 7
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Effekten, die aus der gesellschaftlichen Arbeitsteilung resultieren, geschützt werden? Wie kann soziale Moral hergestellt und dadurch die Einheit der funktionalen Differenz gesichert werden? Etwa seit Mitte des 19. Jahrhunderts stellt sich diese Frage vor dem Hintergrund von Industrialisierung, Verstädterung, Bevölkerungsexplosion und den sozialen Effekten kapitalistischer Ökonomie. Dabei rücken Probleme in den Fokus der neuen Wissenschaft, deren Wesen darin liegt, dass sie seriell und vereinzelt sind, bezogen auf die gesamte Bevölkerung aber große Ausmaße annehmen. Gesellschaftliche Phänomene wie Kriminalität und Gewalt, Krankheit, Arbeitslosigkeit, Geburt, Tod oder Selbstmord sind zufällig und unvorhersehbar, wenn man sie auf Individuen bezieht. Bezogen auf eine Bevölkerung weisen sie jedoch Konstanten auf, mit denen man rechnen kann.9 Als Ursache unerwünschter Phänomene des kollektiven Lebens sieht insbesondere Emile Durkheim – einer der Gründungsväter der Soziologie – die normative Unsicherheit und Ungewissheit, die aus der funktionalen Differenzierung moderner arbeitsteiliger Gesellschaften resultiert. Es geht darum, dass die Handlungen von Menschen in einem Bereich der Arbeitsteilung nicht mehr umstandslos mit den Erwartungen von Menschen aus anderen Sparten der gesellschaftlichen Arbeitsteilung integriert werden können. Im Falle von Störungen ist die „organische Solidarität“ der Gesellschaftsmitglieder nicht länger unproblematisch gewährleistet. Konstatiert wird ein „Zustand der Anomie“.10 Diese soziologische Problembeobachtung und -bearbeitung führt dabei auch auf Fragen der sozialen Moral, der Werte und der in die Gesellschaftsvorstellung eingeschriebenen Gemeinschaftskonnotationen, die die gesellschaftlichen Prozesse zusammenhalten sollen. Mit solchen kollektiv geteilten Bedeutungen und Werten verbinden sich Gerechtigkeits- und Gleichheitsnormen, die wiederum sozialpolitische Maßnahmen fordern und legitimieren.11 Es bildet sich eine mit der Gesellschaftsvorstellung verwobene Moral des Sozialen heraus. Diese kollektiven Normenprobleme werden durch das technisch-statistische Wissen von der Gesellschaft fassbar, das die Soziologie in der Folge Auguste Comtes und Emile Durkheims liefern kann. Durch den soziologischen Gesellschaftsbegriff und das empirische Instrumentarium der Soziologie werden die Entwicklungsgesetze einer Population auf diese selbst, das heißt auf ‚die Gesellschaft‘, gespiegelt. Zugleich bietet dieses Wissen eine Machtstrategie zur Lösung der kollektiven Probleme im Populationsraum 9 Michel Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1999, S. 280 f. 10 Emile Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften, Frankfurt am Main 1992, S. 433–442, insbes. S. 437. 11 Hans Freyer, Schwelle der Zeiten. Beiträge zur Soziologie der Kultur, Stuttgart 1965, S. 258–260.
Einleitung
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an. Es wird mittels statistischer Methoden gemessen, welche Verhaltensbreite es gibt und für ‚normal‘ erklärt, was sich innerhalb des Normalitätsintervalls der Gaußschen Summenfunktion befindet.12 Diese Normalität dient dann im Rahmen staatlicher Sozialplanung als positiver oder negativer Bezugspunkt. Im Kontext dieser auf die Bevölkerung gerichteten Regulierungsmacht ist die soziologische Vorstellung von ‚der Gesellschaft‘ bis heute zentral. Sie geht davon aus, dass es ein Subjekt ‚Gesellschaft‘ gibt, das über das Schicksal der Einzelnen bestimmt. Zugleich wird die Gesellschaft zu einem quasi-dinglichen Objekt, in dessen statistisch destillierbare „Meinungsströmungen“ eingegriffen werden kann, solange man die Gesetze dieser „Realität sui generis“ kennt und beachtet.13 In der technisch-sozialwissenschaftlichen Perspektive erscheinen kulturelle Normen und Werte daher als ‚soziales Konstrukt‘. Mittels soziologischer Wissenstechniken können sie gewissermaßen neu ‚erfunden‘ werden.14 Für die Frage nach dem Ort der Gewalt in diesem Gesellschaftsbild ist dabei von grundsätzlicher Bedeutung, dass die Soziologie kollektive normative Probleme reflektiert, die aus der arbeitsteiligen Ausdifferenzierung und den Klassenunterschieden innerhalb der modernen Gesellschaft herrühren und die in ihrer Produktivität Reibungshitze erzeugen. Dabei sind die konkreten Gesellschaften, deren Probleme thematisiert werden, allerdings „nichts anderes als Nationalstaaten“.15 Wenn in der Soziologie von ‚Gesellschaft‘ gesprochen wird, dann hat man in der Regel „eine nationalstaatlich verfasste Gesellschaft vor Augen“.16 Diese Identifizierung ‚der Gesellschaft‘ mit dem pazifizierten nationalen Raum bleibt nicht ohne theoretische Konsequenzen. Denn die sich zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert vollziehende Herauslösung der modernen Gesellschaft aus dem Staat und damit die vollständige Delegation legitimer innerer und äußerer Gewalt an das staatliche Gewaltmonopol wird in den Problematisierungsdiskursen der Soziologie mehr oder weniger offensichtlich vorausgesetzt. Der zugleich vorausgesetzte und verschleierte normative Rahmen der soziologischen Problematisierung ist jene „normale Situation“, die darauf beruht, dass innerhalb des Staates und seines Territoriums eine politische Befriedung herbei12 Jürgen Link, Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Opladen 21999, S. 258–267. 13 Emile Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode, Frankfurt am Main 1984, S. 110. 14 Friedrich H. Tenbruck, Emile Durkheim oder die Geburt der Gesellschaft aus dem Geist der Soziologie, in: Zeitschrift für Soziologie, Heft 4, 1981, S. 333–350. 15 Anthony Giddens, Konsequenzen der Moderne, Frankfurt am Main 1996, S. 23. 16 Markus Schroer, Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums, Frankfurt am Main 2006, S. 19.
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geführt worden ist.17 Im impliziten Rahmen dieser gesellschaftshistorischen Voraussetzung erscheinen Gewaltphänomene als prinzipiell normativ diskriminiert. Sie gelten als Phänomene, die der Natur der modernen Gesellschaft fremd sind und auf sie folglich auch nur negative Auswirkungen haben können. Zugleich werden gewaltförmige Ausdrucksformen des Klassenkampfes oder der Gewaltkriminalität im Rahmen des soziologischen Normalisierungswissens, wie andere soziale Probleme auch, als Effekte innerer Funktionsstörungen oder Konflikte des sozialen Systems erklärt. Gewalt ist demnach ein devianter Aspekt gesellschaftlichen Handelns und wird als Folge sozialer Pathologien verhandelt.18 Analog werden auch Kriege als Ausdruck großräumiger sozialer Verwerfungen und gesellschaftlicher Widersprüche gedeutet, die durch globale Modernisierungsprozesse ausgelöst werden. Dieser Auffassung zufolge handelt es sich bei Krieg „um einen konfliktiv nachholenden Prozess kapitalistischer Vergesellschaftung und bürgerlicher Staatskonsolidierung [. . .], der eines Tages in eine Zivilisierung wie in den kapitalistischen Metropolen“ mündet.19 Wird aber die moderne Gesellschaft als gewaltfreie Zivilgesellschaft konzipiert und Krieg als bloßer Ausdruck einer modernisierenden Strukturveränderung aufgefasst, die nach erfolgreichem Abschluss dieser Umwandlung auch wieder verschwinden wird, dann bleibt für den Krieg in der Moderne nur ein theoretischer Raum, der ihn systematisch mit negativen Wertungen versieht. Die Lösungsvorschläge sozialwissenschaftlicher Kriegsätiologie liegen dabei ganz im Rahmen sozialplanerischer Normalisierungsstrategien: Die sozialen Ursachen kriegerischer Gewalt – ökonomische und soziale Ungleichheit, Arbeitslosigkeit, Bildungsdefizite und dergleichen – sollen durch die entwicklungspolitische Regulierung einer „Welt-Sozialpolitik“ (Erhard Eppler) weitgehend eingedämmt werden.20 Zusammengefasst heißt das, dass sich aus dem historischen Entstehungsund Problematisierungskontext der Soziologie eine Neigung zur impliziten normativen Aufladung ihrer Gesellschaftsvorstellung ergibt. Folgt man dieser Tendenz, wird die moderne Gesellschaft als ein Verkehr unter Menschen betrachtet, der nicht politisch-staatlich ist und dem Gewaltphänomene wesenhaft fremd sind. Diese gelten dann vielmehr als gesellschaftlich 17 Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin 31963, S. 46. 18 Trutz von Trotha, Zur Soziologie der Gewalt, in: Trutz von Trotha (Hg.), Soziologie der Gewalt, Opladen 1997, S. 9–56, hier S. 18. 19 Gantzel, Kriegsursachen, S. 265. 20 Erhard Eppler, Vom Gewaltmonopol zum Gewaltmarkt? Frankfurt am Main 2002, S. 131–138.
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dysfunktionale, aber wissenschaftlich und sozialtechnisch bewältigbare Effekte von Ungleichgewichten im Gesellschaftssystem. Frieden und Zivilität werden als originärer Ausdruck des Gesellschaftlichen und nicht des Politischen betrachtet. In der soziologischen Modernisierungstheorie wird diese implizite Normativität der Gesellschaftsvorstellung lediglich explizit gemacht. Krieg und Gewalt werden als Ausdruck von Ungleichzeitigkeiten zwischen politischen, gesellschaftlichen, kulturellen und technologischen Modernisierungsprozessen begriffen. Dabei wird die Beobachtung gewaltbegleiteter gesellschaftlicher Transformationsprozesse mit normativen Aussagen über das Telos dieses Prozesses – nämlich die moderne Zivilgesellschaft – verbunden. Die Konstruktion der Modernisierungstheorie ist damit von vornherein so angelegt, dass Krieg und binnengesellschaftliche Gewalt als noch nicht vollzogene oder nur ungenügend vollzogene Modernisierung erscheinen müssen.21 Eine Variante des modernisierungstheoretischen Transformationstheorems ist die insbesondere in der Geschichtswissenschaft einflussreiche These vom deutschen Sonderweg, die auf den Soziologen Thorstein Veblen zurückgeht. Sie führt die gesteigerte äußere Gewaltbereitschaft der deutschen Gesellschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf das Missverhältnis von ökonomisch-technischer Rationalisierung und kulturell-politischer Rückständigkeit zurück.22 Als Ursache für diese Gewaltbereitschaft gilt damit die unvollständige Modernisierung Deutschlands. Diese These wird man vor allem als Selbstimmunisierung der Modernisierungstheorie deuten müssen, denn sie erlaubt es, mit kleinen Korrekturen am evolutionistischnormativen Modernisierungsparadigma festzuhalten.23 Da das sozialwissenschaftliche Paradigma heute weit in Bereiche der Öffentlichkeit, der Sozial- und Bevölkerungspolitik und der persönlichen Selbstthematsisierung hinein wirkt, kann von einem Diskurs ‚der Gesellschaft‘ als einem Aspekt des allgemeinen „Interdiskurses“ (Jürgen Link) gesprochen werden. Die Sozialwissenschaften sind zu Autoritäten geworden, die „die gesellschaftliche und geschichtliche Wirklichkeit [. . .] auslegen“ und das „Verständnis von Selbst und Welt“ formieren.24 Von daher kann davon ausgegangen werden, dass auch die implizite Normativierung der Ge21 Hans Joas, Kriege und Werte. Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts, Weilerswist 2000, S. 49–86. 22 Gunnar Schmidt, Die konstruierte Moderne. Thorstein Veblen und der Erste Weltkrieg, in: Leviathan, Heft 1, 2000, S. 39–68, hier S. 46–50. 23 Joas, Kriege und Werte, S. 73. 24 Friedrich H. Tenbruck, Die unbewältigten Sozialwissenschaften oder Die Abschaffung des Menschen, Wien/Köln 1984, S. 17.
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sellschaftsvorstellung über die Fachöffentlichkeit hinausreicht und sich auf die Auffassungen politischer Parteien, sozialer Bewegungen oder der Medien auswirkt. Trotz dieser Schwierigkeiten sind in den 80er und 90er Jahren eine Reihe „innovativer“ sozialwissenschaftlicher Studien veröffentlicht worden, die sich dem Problem der Gewalt oder des Krieges annähern.25 Aus der Vielzahl der inzwischen verfügbaren Ansätze zu Gewalt und Krieg sollen kurz einige zentrale Positionen vorgestellt werden, auf deren Argumentation die in dieser Arbeit vorgestellten Überlegungen zur Konstitution der modernen Gesellschaft durch Krieg zurückgreifen. Hervorzuheben sind zunächst die Überlegungen von Heinrich Popitz zur Soziologie der Gewalt. Popitz begreift Gewalt anthropologisch als eine jederzeit gegenwärtige Möglichkeit des Menschen: „Der Mensch muss nie, kann aber immer gewaltsam handeln, er muss nie, kann aber immer töten – einzeln oder kollektiv – gemeinsam oder arbeitsteilig – in allen Situationen, kämpfend oder Feste feiernd – in verschiedenen Gemütszuständen, im Zorn, ohne Zorn, mit Lust, ohne Lust, schreiend oder schweigend (in Todesstille) – für alle denkbaren Zwecke – jedermann.“26 Hinzu kommt die Realitätsentbundenheit der menschlichen Phantasie: „An irgendwelchen Bewusstseinsrändern scheint Gewalt permanent präsent zu sein. Sie kann ungerufen jederzeit vorstellungsgegenwärtig werden. Entgrenzend, gefährlich entgrenzend, wird schließlich die Vorstellung eigener Gewalt, weil sie sich gefahrlos denken lässt.“27 Dieser Verletzungsmächtigkeit des Menschen korrespondiert seine „Verletzungs-Offenheit, die Fragilität und Ausgesetztheit seines Körpers, seiner Person.“28 Solange ein Mensch lebt, kann ihm Schaden zugefügt werden. Verletzungsoffenheit und -mächtigkeit machen Gewalt zu einer „Option menschlichen Handelns, die ständig präsent ist.“ Daher ist „Gewalt überhaupt und Gewalt des Tötens im Besonderen [. . .] kein bloßer Betriebsunfall sozialer Beziehungen, keine Randerscheinung sozialer Ordnungen und nicht lediglich ein Extremfall oder eine ultima ratio“.29 Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen kann nicht davon ausgegangen werden, dass Gewalt ein der modernen Gesellschaft fremdes Phänomen darstellt. Popitz betont daher die besondere Bedeutung von kulturellen, sich in ‚gewaltbewältigenden‘ Institutionen niederschlagenden Lernprozessen, die aus der Erfahrung der Gewalt resultieren und vertritt damit eine Position, welche die Gewalthegung dem Politischen zurechnet. 25 26 27 28 29
Imbusch, Gewalt, S. 26–29. Heinrich Popitz, Phänomene der Macht, Tübingen 21992, S. 50. Ebd., S. 51. Ebd., S. 44. Ebd., S. 57.
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Weiterführend hebt Trutz von Trotha die Mängel der ätiologischen Gewaltforschung hervor und verweist auf methodische Schwierigkeiten der Soziologie zu erfassen, „um was es sich bei Gewalt zuallererst einmal handelt.“30 Im Anschluss an Popitz argumentiert er, dass hierfür die Dimension des Körperlichen von zentraler Bedeutung ist, die ebenfalls in der Soziologie lange Zeit unterbelichtet geblieben ist. Um was es sich bei Gewalt handelt, zeigen die phänomenologischen Studien Wolfgang Sofskys. Durch dichte Beschreibungen wird versucht, die Grenzerfahrungen der Gewalt in Sprache zu übersetzen. Aus dieser Perspektive gibt es eine innige Verbindung zwischen Gewalt einerseits und Kultur und Gesellschaft andererseits. Die Vorstellung, dass Gewalt der (modernen) Gesellschaft fremd sei, ist mit dieser Auffassung nicht vereinbar. In der Einschätzung der Wirkung von gewalthegenden Institutionen ist Sofsky allerdings sehr fatalistisch. Für ihn ist jede gesellschaftliche Ordnung zunächst selbst eine Ordnung der Gewalt und der Willkür, nicht ihrer Einhegung. Letztere erfolge nur vorübergehend, bis der „Hunger“ der Gewalt wiederkehre, der in der Handlungsfähigkeit des Menschen gründe.31 Diese Umdeutung von Handlungsmöglichkeiten in gesellschaftliche Notwendigkeiten ist nicht nachvollziehbar. Dass zwischen den Ursachen der Gewaltanwendung und dem Phänomen der Gewalt selbst ein Hiatus liegt, darauf weist neben Popitz und von Trotha auch Hans Joas hin. An dem Zeitpunkt, an dem ein Gewaltausbruch beginnt, wird eine neue „innere Dynamik“ in Gang gesetzt. Für die folgenden Überlegungen ist vor allem wichtig, dass dabei die „intrapersonale Dynamik der Folgen erfahrener Gewalt“ berücksichtigt werden muss.32 In einer Reihe von Aufsätzen hat Joas dementsprechend versucht, die Soziologie an das Problem der Gewalt des Krieges heranzuführen. Darüber hinaus hat er detailliert die Schwächen der Modernisierungstheorie herausgearbeitet und die „Modernität des Krieges“ herausgestellt.33 Die politikwissenschaftlichen Arbeiten Herfried Münklers zeigen eindrücklich, wie wichtig es ist, den Krieg im produktiven Anschluss an Carl von Clausewitz auch im Einzelnen in analytischen Kategorien zu beschreiben.34 Münklers Herangehensweise reicht über die Betrachtung von Kriegsursachen hinaus und geht dazu über, den Krieg in der Moderne zu denken. Dadurch wird einerseits die Möglichkeit eröffnet, Frieden wieder als regula30
Trotha, Zur Soziologie der Gewalt, S. 11. Wolfgang Sofsky, Traktat über die Gewalt, Frankfurt am Main 1996, S. 225. 32 Joas, Kriege und Werte, S. 275. 33 Ebd., S. 67–86. 34 Herfried Münkler, Über den Krieg. Stationen der Kriegsgeschichte im Spiegel ihrer theoretischen Reflexion, Weilerswist 2002, S. 11. 31
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tive Norm des Politischen zu verstehen. Anderseits werden Krieg und moderne Gesellschaft nicht als unvereinbar angesehen. Damit wird eine sozialwissenschaftliche Perspektive auf die Funktion des Krieges in der Moderne eröffnet, die Krieg nicht als repressives Übel, sondern als konstitutives Moment moderner Vergesellschaftung erfasst. Für die Frage nach der gesellschaftlichen Konstitutionsfunktion des Krieges weiterhin von wesentlicher Bedeutung sind die Arbeiten Michel Foucaults und Carl Schmitts. Foucault folgt den ‚Schlachtlinien‘, welche die Gesellschaft unterhalb der politischen Herrschaftsordnung durchdringen. Er beschreibt Gesellschaft als das Diskursgefüge eines „stillen Krieges“, in dem die Erinnerungen an vergangene Schlachten und gewaltsame Machtübernahmen weiter tradiert werden.35 ‚Krieg‘ wird von ihm dabei in erster Linie auf Diskurse des Krieges und auf entsprechende Mythologisierungen bezogen. Allerdings versteht Foucault geordnete Systeme sprachlicher Aussagen, das heißt Diskurse, prinzipiell als integrale Momente von Machtdispositiven, die als heterogene Ensembles auch strategische Beziehungen, sachliche Anordnungen und gesellschaftliche Institutionen umfassen. Damit zielt er systematisch auf die Beziehungen zwischen dem Diskursiven und dem Nicht-Diskursiven.36 Diese Perspektive wird in der vorliegenden Studie als die theoretische Forderung verstanden, dass die Frage nach der konstitutiven Funktion des Krieges sowohl die Übersetzung der Gewalt in sinnproduzierende und soziale Wirklichkeit formierende Diskurse als auch die Erfahrungsorientierung dieser Versprachlichung berücksichtigen muss. Die vermutlich einflussreichste Theorie, die die Konstitution gesellschaftlicher Ordnung mit dem Krieg in Zusammenhang bringt, stammt von Carl Schmitt. Die Begründung eines gesellschaftlichen Raums ‚normaler‘, das heißt alltäglicher Interaktionsbedingungen sieht er unhintergehbar auf einen „raum-einteilenden Grundvorgang“37 verwiesen, der ein gesellschaftliches Innen einhegt und zugleich auf der ständigen Bereitschaft beruht, es nach außen zu verteidigen. Gesellschaft, das heißt soziale Ordnung beruht demnach auf politischer Souveränität, die wiederum in der Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen Freund und Feind gründet. Da diese Unterscheidung die zentrale Differenz des Krieges bezeichnet, stellt Schmitt somit eine konstitutive Beziehung zwischen der immer gegebenen Möglichkeit des Krieges und der Gesellschaft her. 35
Foucault, Verteidigung der Gesellschaft, S. 26. Michel Foucault, Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978, S. 119 f. 37 Carl Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, Berlin 41997, S. 48. 36
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Die Bedeutung Carl Schmitts ist auch der Tatsache geschuldet, dass er den blinden Fleck sozialwissenschaftlicher Konstitutionstheorien ausnutzt, die die Begründung des gesellschaftlichen Zusammenhangs zumeist im Ökonomischen, in der Sprache oder in kulturellen Normen und Werten suchen. Die Überlegungen dieser Arbeit schließen insofern an Schmitt an, als sie eben die Frage aufnehmen, inwieweit von einer Konstitution des modernen Sozialen durch den Krieg gesprochen werden kann. Noch mehr allerdings sind sie als kritische Auseinandersetzung mit der Theorie Schmitts zu verstehen. Zwar stilisiert sich diese Theorie als wertfrei-realistisch, unter der Hand aber führt sie eine auf die Gesellschaft bezogene Homogenitätsnorm mit, die das politisch-strategische Zweckkalkül der reinen Souveränitätsmacht im permanenten Ausnahmezustand des Existenzkampfs legitimiert und die Spannung zwischen Macht und Norm einzieht. Weiterhin geht Schmitt von einer unmittelbaren Konstitution der Gesellschaft aus der immer gegebenen Möglichkeit der Bedrohung aus. Beide Annahmen sind hochproblematisch. Die erste, weil sie sich aus der Tradition der pax civilis herausschreibt und auf den ‚totalen Staat‘ und die Delegitimation des Rechts hinausläuft. Die zweite, weil völlig unklar bleibt, wie eine solche unmittelbare Konstitution erfolgen soll. Diese Behauptungen gilt es daher im Verlauf dieser Studie zu dekonstruieren. Um die Frage nach der Konstitution moderner Gesellschaften durch den Krieg zu ermöglichen, bedarf es zunächst eines Begriffs der Moderne, der anders als die Modernisierungstheorie nicht von einem prinzipiellen Ausschlussverhältnis zwischen Moderne und Krieg ausgeht. Benötigt wird also ein formaler Begriff von Modernität und moderner Gesellschaft. In der Moderne wird die Gesellschaft als Produktivkraft entdeckt. Ihre Kräfte sind freizusetzen, auf das freie Spiel dieser Kräfte ist zu vertrauen. Hier nun wird die ‚Gesellschaft‘ als ein selbstreferentieller Kommunikations- und Produktivitätsraum thematisch, der des Staates aus Schutzgründen und zur Sicherung des Rechts zwar bedarf, von ihm aber getrennt zu betrachten ist. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts wird Gesellschaft weniger als Gefahr für die politische Herrschaft und Ort ökonomischer Reibungsverluste problematisiert, sondern umgekehrt zunehmend als eine Sphäre, in der bislang unerkannte Kräfte schlummern, die es nun von staatlichen Fesseln zu befreien gilt. Dementsprechend wird unter ‚Moderne‘ eine Epoche verstanden, deren Diskurse sich (in einem weiten Sinne) um ‚Produktivität‘ drehen. Es geht um Kreativität, Optimierung, Effizienz, Steigerung, Funktionalität, Beschleunigung, Kommunikationsdichte, Prozessualität usw. Mit der Produktivitätsdynamik hängt der für die Moderne typische Verzicht auf die „große
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Form“38 zusammen, das heißt der Unmöglichkeit einer schließenden Zentrierbarkeit von Kultur und Gesellschaft auf einen Wesenskern. In Bezug auf „den gesellschaftlichen Zusammenhalt der Funktionssysteme“ gibt es „keine gesellschaftlich notwendigen Formen mehr“.39 Die immer weiter voranschreitende kulturelle Freisetzung aus Schranken, die den sozialen Akteuren als ‚gegeben‘ oder ‚notwendig‘ erscheinen, gibt dabei den Raum für moderne Produktivitätsdiskurse frei. Denn wenn die auf Außenwelt (Natur, Technik), Mitwelt (Gesellschaft, Kultur) und Innenwelt (Subjektivität) bezogenen Vorstellungen von der ‚Ordnung der Dinge‘ nicht mehr fraglos gegeben sind, müssen immer neue und zugleich kontingente, auf Außen-, Mit- und Innenwelt bezogene Ordnungen hergestellt und gemacht werden. Die produktive und dynamische Offenheit der Moderne zeigt sich in der Erosion des „Kollektivbewusstseins“ (Emile Durkheim). Durkheim prägt diesen Begriff, um das allen Mitgliedern einer sozialen Einheit gemeinsame ‚Wir‘-Bewusstsein bzw. -Gefühl zu bezeichnen. Die funktionale Ausdifferenzierung und gesellschaftliche wie kulturelle Dynamik der Moderne führt dagegen zur Herausbildung eines „Individualbewusstseins“.40 Der soziale Zusammenhang und seine kulturelle Repräsentation wird folglich fraglich. Daraus resultieren die Motivation und die Notwendigkeit, die dynamischen, entropischen und explodierenden Kräfte wieder über Normen, Werte, Medien und Macht zu integrieren und soziale Kohäsion zu erzeugen. Die Ordnungsproblematik ist daher die andere Seite der modernen Produktions- und Differenzierungsdynamik. Im Rahmen des Begriffs ‚der Moderne‘ stellen die neuen, gemachten Ordnungen keine ‚große Form‘ mehr her. Mehr als eine „Einheit der Differenz“ (Niklas Luhmann) ist für moderne Gesellschaften nicht zu haben. Das schließt jedoch nicht aus, dass differenzlose Einheit durch ‚große Erzählungen‘, die ein zukünftiges ‚Ende der Geschichte‘ ankündigen, versprochen wird. Allerdings erweisen sich auch die ‚großen‘ Ordnungsversuche gerade darin als modern, als sie eine bessere Ordnung produzieren wollen. Ausgeschlossen ist im Rahmen der Idee der Modernität nur die Einlösung eines solchen Versprechens, denn das liefe auf das Ende der Produktivität hinaus. Der „Verlust der Mitte“ und die ihm entsprechenden „exzentrischen“ Bestrebungen beschreiben die formale Struktur der Moderne.41 Die moderne Denkweise besteht aus drei strukturellen Elementen: Erstens aus der Entdeckung selbstemergenter und selbstreferentieller, ‚organischCarl Schmitt, Politische Romantik, Berlin 51991, S. 19. Niklas Luhmann, Beobachtungen der Moderne, Opladen 1992, S. 126. 40 Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung., S. 128 f., 183. 41 Hans Sedlmayr, Der Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit, Berlin 1960, insbes. S. 118 f. 38 39
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produktiver‘ Wirklichkeiten, zweitens aus der Idee des gestaltenden, optimierenden und auf systematischer Wissensproduktion basierenden, ‚konstruktiv-produzierenden‘ Eingreifens in solche Wirklichkeiten und drittens (in Anschluss an Anthony Giddens) aus der ‚reflexiven‘ Problematisierung der Folgen dieses Eingreifens, wobei die Trägheit eigendynamischer Prozesse, unerwünschte Effekte und die erreichten Absichten gegeneinander konturiert werden. Diese drei Elemente treten in verschiedenen Mischungsstärken auf. Mal neigt sich das Pendel zur konservativen Anerkennung der Selbstreferenz, mal zur fortschrittsbegeisterten Euphorie der Konstruktion, mal zur problematisierenden und evaluatorischen Reflexivität.42 Ein solcher Begriff der Moderne setzt voraus, dass Räume oder Bereiche abgegrenzt werden, die sich einerseits durch selbstreferentielle Produktivität auszeichnen, andererseits aber auch die Möglichkeit zum Eingreifen bereitstellen und daher Thema in problematisierenden Diskursen werden können. Auch ‚die Gesellschaft‘ ist ein solcher Raum. Sie wird durch Wissensprozesse hergestellt, nicht schon vorgefunden. Der Diskurs vom Sozialen erfüllt gesellschaftspolitische Steuerungsfunktionen, indem er die Möglichkeit bereitstellt, kollektive Lebensprozesse zu regulieren. Da er trotz der kategorialen Trennung von ‚Staat‘ und ‚Gesellschaft‘ faktisch auf den politisch-staatlichen Rahmen eines ‚Gemeinwesens‘ verwiesen bleibt, der die Normalität des Sozialen überhaupt erst ermöglicht, erfüllt er auch eine stark integrierende Funktion. Er ist nicht von Gemeinschaftskonnotationen zu trennen und unterscheidet zwischen innen und außen. Dieser Begriff der Moderne ist insofern rein formal, als er darauf verzichtet, normative Orientierungen der Moderne aus dem allgemeinen ‚Handelsgeist‘ oder anderen gesellschaftlichen Funktionen herauszulesen. Ebenso gut ist es modernen Diskursen möglich gewesen, das exzentrische, produktive Gefüge moderner Gesellschaftlichkeit mit dem Krieg in originäre Verbindung zu bringen. Daraus folgt ebenfalls nicht, dass moderne Gesellschaften notwendig Kriegsgesellschaften sein müssen. Um die in dieser Studie verfolgte Fragestellung offen zu halten, ist es daher notwendig, die Zivilgesellschaft als eine Variante der modernen Gesellschaft zu betrachten. Der Begriff der Zivilgesellschaft soll moderne Gesellschaften bezeichnen, die im Wesentlichen folgende Kriterien erfüllen: Gewaltmonopol, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, republikanische Staatsverfassung, Öffentlichkeit statt Gewalt als Modus des politischen Streits, Friedensnorm, soziale Chancengleichheit (Gerechtigkeit), Sozialstaat, Marktwirtschaft, Individualisie42 Diese Aufgliederung der spezifisch modernen Denk- und Redeweise habe ich am Beispiel der modernen Körper- und Raumvorstellungen verdeutlicht (Dierk Spreen, „Menschliche Cyborgs und reflexive Moderne. Vom Jupiter zum Mars zur Erde – bis ins Innere des Körpers“, in: Ulrich Bröckling u. a. (Hg.), Vernunft – Entwicklung – Leben. Schlüsselbegriffe der Moderne, München 2004, S. 317–346).
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rung, Massenkultur und kulturelle Egalität. Der Begriff der Zivilgesellschaft wird im Folgenden als rein analytische Kategorie verwendet. Die normativen Implikationen der zivilgesellschaftlichen Diskurses43 werden als normative Regulative des Politischen betrachtet. Normative Gesellschaftsvorstellungen sind dagegen durch die Vermengung von Normideal und Gesellschaftsbegriff gekennzeichnet. Wenn Soziologen wie Popitz, von Trotha oder Sofsky auf die Bedeutung der sinnlichen Erfahrung der Gewalt des Krieges hinweisen, dann erinnern sie an ein weiteres Problem sozialwissenschaftlicher Theoriebildung. Über Gewalt und ihre Folgen kann sinnvoll nur etwas ausgesagt werden, wenn man „antireduktionistisch“ verfährt und die spezifischen Qualitäten berücksichtigt, die sie ins Spiel bringt.44 Diese Qualitäten bilden eine eigenmächtige soziale Wirkungsdimension, der gegenüber die sozialen ‚Ursachen‘ der Gewalt irrelevant werden können. Die Forderung, nicht reduktionistisch zu verfahren, zielt aber auch gegen einen verabsolutierten sozialen Konstruktionismus. Einer konstruktionistischen Sichtweise zufolge ist gesellschaftliche Wirklichkeit – das, was die Menschen für ‚wirklich‘ halten – allein als Ergebnis interaktiver Prozesse zwischen subjektiv sinnhaft Handelnden anzusehen. Die konstitutiven Elemente gesellschaftlicher Wirklichkeit werden als Materialisierungen oder Objektivierungen von Wissen bzw. sozialem Sinn begriffen. Diese Position formulieren etwa Peter L. Berger und Thomas Luckmann.45 In einer Perspektive jedoch, die gesellschaftliche Wirklichkeit ausschließlich auf intelligible Größen wie Wissen, Diskurs und Sinn zentriert, erhält Materialität oder Gegenständlichkeit, wie sie etwa in technischen Artefakten oder anderen Dingobjekten zum Ausdruck kommt, einen ebenso problematischen Status, wie die unhintergehbare Präsenz des Leibes oder die singuläre Ereignishaftigkeit von Handlungen oder Geschehnissen. Krieg kann jedoch nur gedacht werden, wenn Gewalt der Betrachtung zugänglich ist. Das aber ist nur möglich, wenn prekäre Leiblichkeit, Macht der Waffentechnologie und die unrevidierbare Singularität der Gewalthandlung selbst in den Blick genommen werden können. Umgekehrt formuliert heißt das: Am Krieg findet ein verabsolutierter Sozialkonstruktionismus seine Erkenntnisgrenze. Die Wurzeln der sozialkonstruktionistischen Sichtweise sind ebenfalls im Problemzusammenhang der entstehenden Soziologie zu suchen. Der Diskurs 43 Mary Kaldor, Global Civil Society. An Answer to War, Cambridge 2003, S. 15–49. 44 Trutz von Trotha, Gewaltforschung auf Popitzschen Wegen, in: Mittelweg 36, Heft 12, 2000, S. 26–36, hier S. 28–31. 45 Peter L. Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt am Main 1980, insbes. S. 36–48.
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von der ‚Gesellschaft‘ ist in erster Linie auf Fragen der Normen, der Werte, der internalisierten Funktionsdisziplin und der sozialen Moral fixiert und reflektiert Gesellschaft als performativen Sinnzusammenhang. In diesem Buch soll allerdings davon ausgegangen werden, dass Materialität zählt. Mehr noch – gerade aufgrund der dramatischen Eindrücklichkeit und „gesteigerten Wirklichkeit“46 des Krieges, das heißt der Tatsache dass es im Krieg ‚um etwas geht‘, weil er Zerstörung, Verletzung und Tötung beinhaltet, sind Kriegsdiskurse macht- und wirkungsvolle Diskurse. Öffentliche Gewaltdiskurse, die sich auf ganze Gesellschaften beziehen, sind nicht einfach reine Wissensarchive; der Sinn, den sie formulieren, ist vielmehr semantisch aufgeladen. Diese Qualität ist nicht einfach Funktion einer diskursiven ‚Konstruktion‘, sondern hat ihren Referenten in der spezifischen Erfahrung bzw. Realität der Gewalt. Zugleich allerdings lässt sich aus kriegsbedingten Gewalterfahrungen weder ableiten, welche genaue Form ein Kriegsdiskurs zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten gesellschaftlichen Kontext annimmt, noch welche Rolle er in einem spezifizierten historisch-gesellschaftlichen Kontext spielt. Auch die Art und Weise, wie er die Gewalt des Krieges repräsentiert, wird nicht durch die sinnliche Erfahrung festgelegt. Gewalterfahrungen müssen vielmehr als unterdeterminiert gelten; sie bedürfen der gesellschaftlichen Interpretation durch Diskurse. Das heißt also, dass bei der Untersuchung gesellschaftskonstitutiver Effekte des Krieges in beide Richtungen von einem nicht-determinierten Zusammenhang zwischen Erfahrung und Diskurs ausgegangen werden muss. In diesem „Doppelcharakter der Gewalt“47 liegt begründet, dass weder die soziale Sinnkonstruktion beliebig vorschreiben kann, wie Gewalt erfahren wird, noch von vornherein klar ist, was erfahrene Gewalt im kollektiven Kontext bedeutet. Der Aufbau der vorliegenden Schrift folgt diesem zuletzt bezeichneten Problem: Im ersten Kapitel wird im Rückgriff auf den Kantschen Begriff der sinnlichen Erfahrung ein theoretisches Modell angeboten, das es erlauben soll, Erfahrung und gesellschaftliche Deutung in ein soziologisch brauchbares Verhältnis zu setzen. Kant trennt deutlich zwischen empirischer sinnlicher Erfahrung und der intelligiblen Welt des Sinns und setzt sie doch als Momente des Erkenntnisvermögens miteinander in Verbindung. Damit stellt er ein Konzept zur Verfügung, dass es erlaubt, Materialität, Präsenz 46
Panajotis Kondylis, Theorie des Krieges. Clausewitz – Marx – Engels – Lenin, Stuttgart 1988, S. 12. 47 Christoph Liell, Der Doppelcharakter von Gewalt: Diskursive Konstruktion und soziale Praxis, in: Sighard Neckel/Michael Schwab-Trapp (Hg.), Ordnungen der Gewalt. Beiträge zu einer Soziologie der Gewalt und des Krieges, Opladen 1999, S. 33–54.
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und Ereignishaftigkeit mit Diskursen, Sinn- und Wertesystemen in Zusammenhang zu bringen, ohne diesen Zusammenhang materialistisch-deterministisch oder sozialkonstruktionistisch zu reduzieren. Angelehnt an die negative phänomenologische Ästhetik, wie sie Dieter Mersch kürzlich entwickelt hat, werden sinnliche Erfahrungen dabei nicht als positive Bilder aufgefasst, die in Sinnsystemen lediglich richtig abgebildet werden müssten, sondern sie werden vielmehr als mögliche Infragestellungen bestehender gesellschaftlicher und kultureller Sinnangebote begriffen. Mersch spricht von einem ‚Sichzeigen‘ der Phänomene in der Erfahrung. Dieses Sichzeigen ist nicht auf bestehende Sinnangebote der Gesellschaft, nicht auf einen ‚Text‘ reduzierbar. Vielmehr fällt es „aus der Struktur des Symbolischen“ heraus und kann „nicht mehr als Zeichen angesprochen oder gelesen werden“.48 Materialität, Präsenz und Ereignis liegen nach Mersch an den Grenzen gesellschaftlicher Sinnkonstruktionen. Das „was erscheint, was geschieht“49 äußert sich daher als Problem, Störung oder dergleichen und kann Sinnsysteme zwingen, sich neu auszurichten, indem sie die problematische Erfahrung interpretieren und in die symbolische Ordnung integrieren. Der Zusammenhang von negativer sinnlicher Erfahrung und positiver sinnhafter Deutung wird in dem angebotenen Denkmodell durch den Rückgriff auf die Anthropologie Helmuth Plessners in einen explizit soziologischen Rahmen eingestellt. Dabei gilt der Mensch als Schwellenwesen, das zwischen sich entziehender Leibnatur und sich den Absichten fügender Körperlichkeit steht. In der ‚exzentrischen Positionalität‘ des Menschen fügen sich Erfahrung und Intelligibles untrennbar zusammen. Das ermöglicht es zugleich, das zwischenmenschliche Verhältnis ‚Gesellschaft‘ so zu denken, dass es eben nicht nur aus menschlich-sinnhaften Kommunikationen besteht, sondern in Kontakt zur Erfahrung dessen seht, was sich der sinnhaften ‚Ordnung der Dinge‘ nicht fügt. Im zweiten Kapitel werden die grundsätzlichen Überlegungen zum Verhältnis von sinnlicher Erfahrung und diskursiver Deutung präzisiert. Insbesondere werden die Probleme leiblich-körperlicher Präsenz, des Ereignischarakters von Handlungen und der Materialität von Sachen vertieft. Plädiert wird dabei in Absetzung von einem symbolischen oder kulturellen Gewaltverständnis für eine Definition von Gewalt als Verletzung individueller Körper. Die Verletzung bedingt den existenziellen Charakter von Gewalterfahrungen. Weiterhin wird auf die sich in der Verletzung manifestierende Unrevidierbarkeit des Ereignisses aufmerksam gemacht. Das Ereignis hinterlässt eine Spur in den Erinnerungsdiskursen. Gewalt kann nicht in Deutun48
Dieter Mersch, Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis, München 2002,
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gen aufgehoben, sondern durch sie lediglich verwunden werden, wobei gerade die diskursiven Deutungen steuern, wie sie sich in das kollektive Gedächtnis und die kollektive Weltsicht einschreibt. Schließlich wird die Materialität von Waffen als gesellschaftlich verfügbare Sachen diskutiert. Diese Materialität kann Wirkungen zeitigen, die in vorformulierten gesellschaftlichen Erwartungen nicht aufgehen. Im Anschluss an diese Überlegungen wird versucht, in Auseinandersetzung mit den normativen Implikationen von Webers Kategorie des sozialen Handelns einen Begriff strategischen Handelns herauszuarbeiten, der explizit die Gewaltdimension berücksichtigt. Die Ausführungen im zweiten Kapitel verstehen sich auch als Anmerkung zu dem in jüngerer Zeit in der Soziologie diskutierten Problem des Status von Materialität, Artifizialität und Körperlichkeit in der Gesellschaft. Unterm Strich versuchen die ersten beiden Kapitel ein Modell der offenen Wechselwirkung zwischen Erfahrung und Deutung zu entwerfen und soziologische Grundbegriffe wie Handeln, Erwartung und Institution in dieses Modell einzutragen. Dieses Modell soll nicht ‚die Wahrheit‘ über die Gesellschaft aussprechen, sondern lediglich helfen, das Problem der Gewalt, das durch die rein konstruktivistische Theoriebildung nur reduktionistisch behandelt werden kann, soziologisch besser formulierbar zu machen. Dabei wird in der Erfahrung ein nicht-diskursiver Rahmen für gesellschaftliche Konstitutionsdiskurse gesehen. Das dritte Kapitel nutzt die Auseinandersetzung mit militanten Konstitutionstheorien, um die Bedeutung der Übersetzung von Kriegserfahrung in gesellschaftliche Konstitutionsdiskurse herauszustellen. Was Krieg gesellschaftlich und kulturell bedeutet, steht nicht per se fest. Es kann daher nicht im Gefolge Carl Schmitts von einer Konstitution des Gesellschaftlichen und des Politischen durch die permanente Möglichkeit des Krieges ausgegangen werden. Schmitt formuliert die Norm gesellschaftlicher Homogenität und fasst das Politische als andauernde Bedrohung dieser Homogenität durch Fremde bzw. Feinde. Mit diesem permanenten Ausnahmezustand begründet Schmitt die Notwendigkeit des ‚totalen Staats‘, in dem Staat und Gesellschaft zusammenfallen. Damit erweist sich seine politische Theorie als Element eines kriegsgesellschaftlichen Diskurses. Im Laufe der Auseinandersetzung wird dagegen deutlich gemacht, dass das Politische in der Spannung von Macht und Norm und ihrem zirkulären und spannungsgeladenen Funktionsverhältnis zu fundieren ist. In diesem Zusammenhang ist auch die Definition des Krieges als kulturgeschichtliche Institution der Gewalt zu verstehen. Denn Krieg muss nicht notwendig der Ordnung des Politischen und der Orientierung an der Friedensnorm unterstehen. ‚Krieg‘ kann auch für eine spezifische Ökonomie oder Kultur kennzeichnend sein und dabei ohne expliziten oder impliziten Verweis auf diese
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Norm auskommen. Wie das Politische nicht auf Macht und Gewalt reduzierbar ist, so der Krieg nicht darauf, politisches Mittel zu sein. Damit wird deutlich, dass weder behauptet werden kann, dass moderne Gesellschaften Kriegsgesellschaften sein müssten, noch dass die Annahme plausibel ist, sie könnten grundsätzlich keine Kriegsgesellschaften sein. Es kommt vielmehr im einzelnen darauf an, wie die Gewalt des Krieges durch Diskurse in gesellschaftlichen Sinn übersetzt wird. Aus dieser Übersetzung und ihrer innenpolitisch-öffentlichen Wirkung heraus bestimmt sich das Verhältnis moderner Gesellschaften zum Krieg. Weder militante Konstitutionstheorie noch Modernisierungstheorie haben also Recht. Das Verhältnis von moderner Gesellschaft und Krieg liegt zwischen diesen Extremen. Eine Konstitution der Gesellschaft durch Krieg, das heißt ein Verhältnis, in dem der Krieg die gesellschaftliche Einheit und die Produktivität der sozialen Funktionen begründet, steigert oder sichert, kann daher nicht begrifflich ausgeschlossen werden. Die letzten drei Kapitel haben die Aufgabe, empirisch zu zeigen, dass von einer solchen Konstitution des modernen Sozialen durch den Krieg gesprochen werden kann. Insbesondere die ersten beiden Fallanalysen verfahren hauptsächlich diskursanalytisch. Dabei wird die von Michel Foucault entwickelte diskursanalytische Methode in zweifacher Hinsicht erweitert. Zum einen wird sie insbesondere auf öffentlich wirksame Diskurse bezogen und zum anderen wird systematisch die Referenz zwischen Diskurs und Gewalterfahrung berücksichtigt. Es wird also nicht von einer bloßen ‚diskursiven Konstruktion‘ gesellschaftlicher Wirklichkeit ausgegangen, sondern davon, dass es für die gesellschaftliche Wirkungsmöglichkeit eines Diskurses von entscheidender Bedeutung ist, dass er mit subjektiven sinnlichen Erfahrungen abgleichbar ist. Das heißt allerdings nicht, dass Diskurse Erfahrungen schlicht nachfolgen, indem sie sie ‚repräsentieren‘. Vielmehr gehen sinnlichen Erfahrungen immer auch Erwartungen, das heißt Sinngebungen, die wiederum von gesellschaftlichen Diskursen beeinflusst werden, voraus. Im Zusammenspiel mit der prozessualen kognitiven Parallelität von Erfahrung und Deutung ermöglicht dies, dass Diskurse Erfahrungen formen, sich in ihnen gewissermaßen „verkörpern“.50 Diese Verkörperung kann allerdings misslingen – und zwar dann, wenn in der sinnlichen Erfahrung ein ‚Sichzeigen‘ zur Geltung kommt, dass sich gegenüber dem mitlaufenden Interpretationshorizont sperrt. Dann geschieht etwas, das momentan nicht sagbar ist, das im Augenblick ohne Sprache bleibt. Insbesondere in Texten, die über die Gewalt im hochtechnisierten Krieg sprechen, finden sich Zeugnisse solcher Erfahrungsschocks. Zugleich sind solche Texte wiederum als Elemente von öffentlichen Diskursen zu werten, die der Gewalterfahrung nachträglich 50
Hannelore Bublitz, Diskurs, Bielefeld 2003, S. 52.
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einen kollektiven Sinn geben sollen. Da der High-Tech-Krieg ganze Gesellschaften involviert (wenn auch im Hinblick auf die einzelnen Individuen in sehr unterschiedlicher Weise), ist in seinem Gravitationsfeld mit einer die Gesellschaft durchdringenden Multiplikation problematischer Erfahrungen zu rechnen, die nach einer Neuinterpretation des Krieges verlangen. Die Analyse des Diskurses der politischen Romantik im vierten Kapitel untersucht die Genese einer genuin modernen Gesellschaftsvorstellung vor dem Hintergrund der ‚Befreiungskriege‘ zu Beginn des 19. Jahrhunderts. In Bezug auf technische Gewaltsteigerung sind diese Kriege noch wenig innovativ und politisch bleiben sie zumindest auf deutscher Seite konventionelle Fürstenkriege. Allerdings entwickelt die politische Romantik, wie sie vor allem in den Schriften Adam Heinrich Müllers zum Ausdruck kommt, im Kontext dieser Kriege bereits ein der Moderne zuzurechnendes, ‚organisches‘ Funktionsmodell gesellschaftlicher Produktivität. Vor dem Hintergrund sich abzeichnender funktionaler Ausdifferenzierung, Individualisierung und Erosion traditionaler Werte setzt sie einerseits auf die ‚vermittelnde‘, das heißt gesellschaftliche Einheit und soziale Moral stiftende Rolle der Medien und versucht andererseits die gesellschaftlichen Kräfte mittels medial-ästhetischer Strategien für die Befreiung von der Napoleonischen Fremdherrschaft zu mobilisieren. Es geht um Mobilisierung kollektiver Identität, um Aktivierung der Herzen, um Begeisterung. Der Krieg wird dabei aufgrund seiner existenziellen Qualität als ein Medium verstanden, das den gesellschaftlichen Zusammenhang verstärkt. Eine Thematisierung der Gewalt des Krieges bleibt im Diskurs der politischen Romantik allerdings aus. Hervorgehoben wird jedoch das neue emotionale Intensitätsniveau des ‚Volkskrieges‘. Es entfaltet sich ein höchst komplexes Verhältnis zwischen einer frühen normativen Gesellschaftsvorstellung, Bildern idyllischer Friedensharmonie und einem kriegerischen Konstitutionsdiskurs. Das fünfte Kapitel untersucht den sich im Deutschland der Zwischenkriegszeit entfaltenden kriegsgesellschaftlichen Diskurs. Diesem dient die Gesellschafts- und Kriegsvorstellung der politischen Romantik als Folie der Kritik, der Neuorientierung und der Vorbereitung der Revanche. Der Romantik wird ein naives Verständnis des Krieges vorgeworfen, denn die begeisterte Masse geht im Trommelfeuer der modernen Artillerie und der Maschinengewehre unter. Die Thematisierung der Gewalt wird mit ihrer Apologie und einem sachlichen Heroismus verbunden, der das Ausharren auf dem Posten und das Erfüllen der zugedachten Funktion im Raum der technischen Schlacht ästhetisiert. Anknüpfend an die Modernisierung der Reichswehr wird die weitreichende Technisierung der Wehrkraft und die Professionalisierung der Menschenführung gefordert. Unterm Strich soll das ganze gesellschaftliche Gefüge auf die Kriegführung ausgerichtet werden, indem interfunktionale Reibungsverluste im sozialen System durch den „to-
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talen Staat“ (Carl Schmitt), die „totale Mobilmachung“ (Ernst Jünger) und einen „Feldherrn Psychologos“ als „Führer“ (Kurt Hesse) ausgeschaltet werden. Insbesondere in Ernst Jüngers Überlegungen zur totalen Mobilmachung kommt dabei ein der Konstruktion, der Technik und dem Funktionalismus zugewandtes Modell gesellschaftlicher Produktivität zum Ausdruck, welches in vielem dem funktionalistischen Gesellschaftsbegriff Emile Durkheims ähnelt. Dieser Diskurs markiert damit eine kriegsgesellschaftliche Moderne. Gewalterfahrungen werden zu Argumenten für den Krieg transformiert, wobei allerdings ein kommender ‚Siegfrieden‘ im Unterschied zur nationalsozialistischen Vorstellung des ewigen Rassenkampfs immer noch den Horizont des Diskurses bildet. Stärker als in den beiden anderen Fallbeschreibungen ist die Analyse im sechsten und letzten Kapitel machtanalytisch orientiert. Dieses Kapitel wendet sich dem globalen Sicherheitsdispositiv zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu. ‚Sicherheit‘ meint darin nicht einfach das gleiche wie ‚Frieden‘. Vielmehr geht es in den Diskursen innerer und internationaler Sicherheit um ein Risikomanagement, das mit einem bestimmten positiven Gewaltrisiko rechnet. Man weiß, dass Einflüsse der globalen Schattenökonomie und der Kriegsökonomien aus den westlichen Zivilgesellschaften nicht herauszuhalten sind. Auch ein gewisses Terrorrisiko begleitet zu Beginn des 21. Jahrhunderts die zivilgesellschaftliche Normalität. Auf den ‚totalen‘ Einsatz aller gesellschaftlichen Kräfte zur Verteidigung gegen diese Bedrohungen wird jedoch verzichtet. Überall auf dem Globus geführte Sicherheitskriege begleiten lediglich die alltägliche Normalität in den Zivilgesellschaften. Diese Gesellschaften befinden sich in einem andauernden Sicherheitszustand. Insofern Krieg ein wesentlicher Aspekt dieses Zustands ist, muss er als konstitutiv für die zivilgesellschaftliche Normalität gelten. Aber anders als in (idealtypischen) Kriegsgesellschaften sind weder das alltägliche Leben in Zivilgesellschaften noch ihr normativer Orientierungsrahmen auf Verteidigung und Krieg eingestellt, weshalb etwa Sicherheitskriege unter einem strukturellen Legitimationsdefizit leiden. Das Kapitel untersucht im Einzelnen die Funktionsweise der Sicherheitsordnung. Dabei beschreibt es kategoriale Verschiebungen insbesondere in Hinblick auf die Differenzen Krieg/Frieden und innen/außen. Besondere Aufmerksamkeit gilt der Machtdimension, der Gewaltdimension und der normativen Dimension. Gewalterfahrungen werden insbesondere in Bezug auf ihre mediale Darstellung thematisiert. Gerichtet ist die Analyse einerseits gegen postkritische Theorien, die die Sicherheitsordnung des frühen 21. Jahrhunderts als permanenten Ausnahmezustand begreifen, in dem sich eine imperiale globale Machtanordnung entfalte. Andererseits wendet sie sich gegen affirmative Sichtweisen wie das Netwar-Konzept, das gesellschaftliche Konflikte generell als ‚Krieg‘ konzipiert. Beide Diskurse bestäti-
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gen sich gegenseitig und laufen darauf hinaus, die normativen Regulative des Politischen (Recht und moralische Prinzipien) lediglich als Funktionsorgane der Macht zu begreifen. Damit verfehlen sie den fundamentalen Charakter der westlichen Zivilgesellschaften, die der politischen Spannung zwischen Macht und Norm unterliegen, weil sie auch unter Globalisierungsbedingungen nicht nur übergangsweise auf den Rechtsstaat als lokaler Anerkennungsgemeinschaft verrechtlicher gesellschaftlicher Verkehrsverhältnisse verwiesen sind. Moderne Zivilgesellschaften basieren auf einem staatlichpolitischen System, das wesentlich auf Gewaltenteilung, repräsentativer Demokratie, dem Prinzip des Pluralismus und richterlicher Normenkontrolle aufbaut. Sie begrenzen die exekutive Souveränitätsmacht durch ein System der checks and balances, durch Abwendung von den politischen Idealen der direkten Demokratie und der Identität zwischen Regierenden und Regierten und durch die Kontrolle der Gesetzgebung durch die Verfassung. Diese politisch-gesellschaftliche Ordnung konstituiert sich bewusst gegen den letztlich totalitären Maßnahmestaat, das heißt gegen den permanenten Ausnahmezustand, der alle Schranken der Souveränitätsmacht niederreißt.51 Die drei Fallanalysen achten systematisch auf die normative Dimension und das in den Kriegsdiskursen mitgeführte Verhältnis zwischen dem Gesellschaftlichen und dem Politischen. Welchen Ort erhält der Frieden in den gesellschaftskonstitutiven Diskursen über den Krieg? Das ist auch als Beitrag zu einer Genealogie der normativen Gesellschaftsvorstellung zu verstehen. Hauptsächlich aber unterliegt die normative Dimension einer Diskursbeobachtung, weil nicht davon ausgegangen werden kann, dass das Problem des Krieges den modernen Gesellschaften des 21. Jahrhunderts erspart bleibt. Vor dem Hintergrund, dass die Norm des Friedens nur als Regulativ des Politischen gedacht werden kann, wenn sie nicht in die Gesellschaftsvorstellung ‚hineinverwebt‘ wird, verweisen die Diskursanalysen auf historisch entwickelte Alternativen. Unter Verweis auf das Spektrum möglicher Beziehungen zwischen moderner Gesellschaft und Krieg ist die Beobachtung der normativen Dimension als Beitrag zu einer soziologischen Aufklärung zu verstehen, die Auskunft über Möglichkeiten gibt, dem Diskurs des Friedens einen politischen Ort entweder zu geben oder zu verweigern. Die vorliegende Untersuchung liefert weder eine Geschichte des modernen Krieges, noch eine der modernen Gesellschaft. Gezeigt wird nur, dass der Krieg durchaus nicht, wie vielfach angenommen, das Andere der Moderne ausmacht. Dabei wird der Anspruch erhoben, ein gesellschaftswissenschaftliches Modell zu formulieren, das die konstitutive Funktion des Krieges für moderne Gesellschaften denken und beschreiben kann. 51 Ernst Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, Frankfurt am Main 1991, insbes. S. 307–315.
A. Gesellschaft und Erfahrung I. Gewalt als Problem der Gesellschaftstheorie Krieg beruht auf der systematischen und wechselseitigen Anwendung von Körper und Sachen schädigender Gewalt. Verletzen, Töten und Zerstören sind Wesensmerkmale des Krieges. Es ist daher nicht möglich, über den Krieg und seine gesellschaftlichen Bedeutungen zu sprechen, ohne die Dimensionen der Gewalterfahrung zu berücksichtigen. In der Gewalt scheinen Erfahrungsqualitäten auf, die sich der sinnhaften Verfügung, den instrumentellen Zwecken, den Interpretationen und Deutungsmustern immer wieder entziehen. In der gezielten körperlichen Schädigung kommt anderes ‚zum Ausdruck‘ als die verursachende Absicht und mit ihr verbundener Zweck und Sinn. Dennoch heißt das nicht, dass Gewaltausübung und Verletzung nicht in Bedeutungssysteme eingebaut und mit Sinn ausgestattet werden könnten. Vielmehr erhält Gewalt gerade durch die Verknüpfung zwischen dem phänomenalen Ereignis und einem Sinn wirkmächtige Bedeutung in gesellschaftlichen Konstitutionsdiskursen. Im Raum sozialwissenschaftlichen Fragens werfen Krieg und Gewalt jedoch in zweierlei Hinsicht systematische Probleme auf. Aus der wertenden Perspektive, die von einer ihrer Natur nach friedlichen modernen Gesellschaft ausgeht, können positive, produktive oder konstitutive Effekte kriegerischer Gewalt nicht thematisiert werden. Vielmehr gilt Gewalt grundsätzlich als pathogen, dysfunktional und destruktiv. Der sozialkonstruktionistischen Perspektive wiederum korrespondiert das Problem, dass in Körperlichkeit, Gegenständlichkeit oder Ereignissen nicht mehr gesehen wird als Verkörperungen, Verdinglichungen oder Effekte sozialen Sinns oder subjektiv sinnhaften Handelns. Die sozialkonstruktionistischen Abblendung dessen, was nicht vollständig auf sozialen Sinn rückbeziehbar ist, und die durch implizite in die Gesellschaftsvorstellung eingelassene Werturteile erzeugte Verengung des Problematisierungshorizonts überschneiden sich also gerade in der Kriegs- und Gewaltproblematik. Diese doppelte perspektivische Verengung gilt es zu vermeiden. Begreift man den Frieden als Norm des Politischen, so lässt sich diese Norm aus der Gesellschaftsvorstellung herausstreichen, ohne dass einem nur angeblich wertfreien ‚Realismus‘ gefolgt werden müsste. Soll über die Konstitutionsfunktion des Krieges für moderne Gesellschaften gesprochen werden kön-
I. Gewalt als Problem der Gesellschaftstheorie
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nen, so ist es weiterhin notwendig, einerseits die Gewalterfahrung im Krieg, andererseits den daran ansetzenden gesellschaftlichen Konstitutionsdiskurs zu berücksichtigen. In diesem Problem liegt die eigentliche begriffliche und gesellschaftstheoretische Herausforderung. Die gesellschaftlich-diskursive Bedeutung von Gewalt lässt sich nur aus einer Perspektive begreifen, die die Leiblichkeit und Verletzlichkeit des Menschen mitdenkt, dabei aber nicht in einem scheinbar reinen Physikalismus aufgeht, sondern die Übersetzung in deutungs- und handlungsrelevanten Sinn berücksichtigt.1 Am Beispiel der Verletzung wird schnell klar, dass die Verknüpfung zwischen Gewalterfahrung und Diskurs ohnehin eine doppelseitige ist. Die Unmittelbarkeit starker Verletzungen zerstört subjektiven Sinn, denn der mit der Verletzung verbundene körperliche Schmerz zeigt sich immer „als etwas Nichtkommunizierbares“. Er „ist nicht nur resistent gegen Sprache, er zerstört sie“.2 In der ersten individuellen Erfahrung kann die Verletzung durch Gewalt sich daher als ‚sinnlos‘ erweisen.3 Das Ereignis der Versehrung bricht für das Opfer das zeitliche Kontinuum auf und erweist sich als unwiderrufliche Singularität, dem kein Sinn korrespondiert. Allerdings rufen Verletzung und Tod gerade im Falle kollektiv-kriegerischer Gewalt auch gesellschaftlich nach erneuter Sinngebung und Interpretation. Kollektive Gewalt erweist sich als besonders „erinnerungemächtige Wirklichkeit“.4 Ihr nachfolgender Sinn trägt eine besondere ‚Last‘. Gerade diese Schwere ermöglicht Diskursen über die Gewalt des Krieges gesellschaftskonstitutive Wirkungen, denn sie sprechen über „seinsmäßige Ursprünglichkeit“.5 Bei der Verknüpfung zwischen dem Ereignis der Verletzung und gesellschaftlichem Sinn bleibt immer etwas von der phänomenalen ‚Kraft‘ der Gewalt in der Semantik erhalten. Vergleichbares lässt sich auch über die Machterfahrungen sagen, die mit verletzender Gewaltausübung verbunden sind. Auch das Töten im Krieg bleibt eine Erfahrung, die sprachlich nur umschrieben, aber in ihrer ebenfalls existenziellen, den Raum der Sprache und der Bedeutung sprengenden sinnlichen Qualität nicht dargestellt werden kann. Da ist etwa der „Schock, den der Soldat erlebt, wenn es zur ersten Feindberührung kommt und er nicht nur Angst verspürt, sondern auch gezwungen ist, auf andere Menschen zu schießen, ferner der Anblick der ersten Leiche, bei der er sich 1 Brigitta Nedelmann, Gewaltsoziologie am Scheideweg, in: Trutz von Trotha (Hg.), Soziologie der Gewalt, Opladen 1997, S. 59–85, insbes. S. 64 f., 77. 2 Elaine Scarry, Der Körper im Schmerz. Die Chiffren der Verletzlichkeit und die Erfindung der Kultur, Frankfurt am Main 1992, S. 12 f. 3 Sofsky, Gewalt, S. 69. 4 Trotha, Zur Soziologie der Gewalt, S. 26. 5 Schmitt, Begriff des Politischen, S. 33.
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sagt: ‚Dies könnte auch ich sein‘ oder ‚vielleicht war ich beteiligt, als dieser Mann getroffen wurde‘ “.6 Der Schock, den Feind ‚zu berühren‘, die Waffe auf Menschen abzufeuern, das Angesicht des Todes, die Frage der Verantwortung, die Angst – alles dies lässt sich literarisch umschreiben, aber es markiert am Ende immer eine Grenze des sprachlich Ausdrückbaren und damit auch der gesellschaftlichen Sinnkonstruktionen. Auch die Lust und der Rausch, die beim Töten entstehen können, entziehen sich der symbolischen Kontrolle.7 In Bezug auf die konstitutive Funktion von Kriegsdiskursen sind jedoch die Topoi der existenziellen Bedrohung und des Verletztwerdens wichtiger. Gesellschaftskonstitutive moderne Kriegsdiskurse sind defensive Diskurse. Weil in ihnen das Kollektiv als Antwort auf eine gewaltsame Bedrohung zur Verteidigung seiner Identität aufgerufen wird, übernimmt der Krieg eine gesellschaftskonstitutive Funktion. Weiterhin rückt die unmittelbare Aktionsmacht durch Gewalt im Kontext des Krieges immer mehr aus der Erfahrung heraus, weil Gewaltzufügung zunehmend technisch und medial vermittelt wird.8 Heute ist Gewaltausübung denkbar, deren sinnlicher Erfahrungshorizont sich von einem Computerspiel kaum mehr unterscheidet. Die Erfahrung des Verletztwerdens lässt sich dagegen prinzipiell nicht mediatisieren. Daher ist weiterhin die Materialität artifizieller Mittel (Waffen, technische Medien) bei der Analyse der Gewalt mitzubedenken. Technische Mittel und Mediatisierungen dienen erstens der Steigerung der Gewaltfähigkeit in Bezug auf Intensität, Raumwirkung, Reichweite und Präzision weit über den körperlichen Rahmen hinaus. Zweitens blenden sie die Präsenz des verletzten Feindes zunehmend ab. Und drittens unterdrücken sie den Rausch der absoluten Macht durch die Rationalisierung des Tötens und tragen damit dazu bei, den Beruf des Soldaten zumindest partiell in einen ‚Job‘ zu transformieren. Allerdings kann diese Rationalisierung niemals vollständig gelingen, denn begriffsnotwendig enthält Krieg für alle Beteiligten das Risiko, dass die Unmittelbarkeit der Gewalt hereinbricht. Aufgrund seiner gewaltsamen Qualität lässt sich Krieg nicht allein als institutionalisierte Materialisation von gesellschaftlich-funktionalem Sinn verstehen. Würde man einer solchen Sichtweise folgen, wäre er etwa in Anlehnung an Georg Simmel als eine Institution des gesellschaftlichen Konflikts zu beschreiben, in dem interne Funktionsdifferenzen der Weltgesellschaft in ein angemesseneres Regelsystem überführt werden.9 Allerdings wird Krieg 6 Hans Paul Bahrdt, Die Gesellschaft und ihre Soldaten. Zur Soziologie des Militärs, München 1987, S. 124. 7 Sofsky, Gewalt, S. 51 f. 8 Paul Virilio, Ereignislandschaft, München 1998, S. 143–150.
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von Simmel nur insoweit als für die Vergesellschaftung förderlich angesehen, als „das Stadium der offenen Gewalt irgendeinem anderen Verhältnis gewichen ist.“ „Sobald [. . .] irgendeine Schonung, eine Grenze der Gewalttat vorhanden ist, liegt auch schon ein sozialisierendes Moment [. . .] vor.“10 Als konstitutiv gilt dann lediglich das belebende Moment der Auseinandersetzung und des Streits. Gewalt und Vernichtung sind dagegen als prinzipiell dysfunktional einzuschätzen.11 In einer Sichtweise, die den Krieg als eine von vielen Varianten des gesellschaftlichen Konflikts versteht, muss Gewalt letztlich als ein akzidentielles Kriterium erscheinen. Dieses Verständnis legt es nahe, Gewalt als eine Einmischung zu sehen, die die gesellschaftliche Funktion von sozialen Konflikten stört oder behindert. Nach der Bedeutung, die die Topoi existenzieller Bedrohung, des Verletzens und Tötens in gesellschaftskonstitutiven Kriegsdiskursen übernehmen, kann in dieser Sicht nicht gefragt werden. Diese ersten Überlegungen zeigen, dass eine Untersuchung zur Konstitutionsfunktion des Krieges einerseits menschliche Körperlichkeit, die Erfahrung der Schädigung und die technische Dimension der Gewaltausübung berücksichtigen, andererseits die gesellschaftlichen Wirkungen von Kriegsdiskursen beschreiben können muss. Denn aus dem Krieg stammende Gewalterfahrung hat nicht einfach nur negative und destruktive Effekte; vielmehr übernimmt sie gerade wegen ihrer spezifischen, in der Verletzung wurzelnden Qualität konstitutive Funktionen für den gesellschaftlichen Zusammenhang. Vor diesem Problemhorizont soll in diesem Kapitel die soziologische Perspektive so weit verschoben werden, dass es von der grundlegenden Theoriearchitektur her möglich wird, Nicht-Diskursives – insbesondere körperliche Gewalt – als konstitutives Moment menschlicher Vergesellschaftung zu behandeln und damit auch für die Antwort auf die Frage nach der konstitutiven Funktion kriegerischer Gewalt systematische Mittel bereit zu stellen. Dabei wird nicht versucht, eine solche Perspektive durch ein umfassendes Durcharbeiten der philosophischen Grundlagen der Soziologie und der soziologischen Theoriebildung zu gewinnen. Dies würde den Rahmen dieser Studie erheblich überschreiten. Vielmehr wird aus argumentativen Figuren ein Modell herausgearbeitet, das eine in sich plausible Begrifflichkeit ergibt, die es ermöglicht, Nicht-Diskurs und Diskurs, Erfahrung und Sinn so zusammen zu denken, dass die Konstitutionsfunktion des Krieges für 9 Hans Jürgen Krysmanski, Soziologie des Konflikts. Materialien und Modelle, Reinbek 1971, S. 118. 10 Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Gesamtausgabe, Bd. 2, Frankfurt am Main 1992, S. 296. 11 Krysmanski, Soziologie des Konflikts, S. 118.
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A. Gesellschaft und Erfahrung
moderne Gesellschaften erfasst werden kann. Die Rechtfertigung dieses Modells und seiner erkenntnistheoretischen Implikationen ergibt sich aus dem, was es sichtbar macht. Bevor gesellschaftliche Phänomene analysiert werden und schließlich damit die Möglichkeit bereit gestellt wird, sie zu bewerten, sollte man sich Klarheit darüber verschaffen, was überhaupt gemeint ist, wenn von sozialen Phänomenen die Rede ist. Denn hier entscheidet sich grundsätzlich, was als „soziologisch relevant“ (René König) wahrgenommen wird und was nicht. In sozialkonstruktionistischer Perspektive ist relevant nur, was sich als ‚sinnhaft‘ fassen lässt, insbesondere, was in irgendeiner Hinsicht zu „den Erscheinungen der moralischen Wirklichkeit“ gerechnet werden kann.12 Ausgehend von Immanuel Kant wird dagegen hier vorgeschlagen anzuknüpfen an den Dualismus der in der sinnlichen Erfahrung gegebenen naturkausalen Verknüpfung zweier Ereignisse nach Ursache und Wirkung und der nur in Deutungen von Erfahrungen möglichen sinnhaften Verknüpfung zweier Ereignisse aus freier Verursachung (also durch Handeln). Mittels dieses Dualismus sollen einerseits sinnliche Phänomene, die sich dem subjektiven und gesellschaftlichen Sinn entziehen und andererseits Sinngebungs- und Verkörperungsprozesse, die Erfahrungen auf die symbolische Ordnung beziehen, zueinander relationiert werden, ohne dass sie in die eine oder andere Richtung ineinander aufgelöst werden müssten. Weiterhin wird vorgeschlagen, ‚gesellschaftliche Phänomene‘ als Erfahrungstatsachen zu verstehen, die von sinnhaft operierenden Beobachtern im Hinblick auf intelligible Gründe gedeutet werden. In der Erfahrung selbst kommt jedoch kein Sinn zur Erscheinung. Der Rückgriff auf Kant bringt überraschende theoretische Optionen zum Vorschein, die konstruktionistische Engführung vermeiden und damit auf Debatten verweisen, die die Frage nach der Vorgängigkeit und sinnkonstitutiven Funktion des Nichtmediatisierbaren bzw. des sich der symbolischen Ordnung Entziehenden aufwerfen.13 Eine derartige Perspektive ist insbesondere nötig, wenn es ermöglicht werden soll, Gewalt und mit ihr Körperlichkeit, Materialität der Schädigungsmittel und das Ereignis der Verletzung in den Blick zu nehmen.
12 René König, Einleitung, in: Emile Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode, Frankfurt am Main 1984, S. 21–101, hier S. 52. 13 Wolfgang Eßbach, In Gesellschaft der Dinge, in: ders. u. a. (Hg.), Landschaft, Geschlecht, Artefakte. Zur Soziologie naturaler und artifizieller Alteritäten, Würzburg 2004, S. 7–24, insbes. S. 10–13.
II. Notwendigkeit in der Erscheinung – Kontingenz des Handelns
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II. Notwendigkeit in der Erscheinung – Kontingenz des Handelns Kant zufolge sind der Erfahrung grundsätzlich nur die Erscheinungen der phänomenalen Welt zugänglich. Die ‚Dinge an sich‘ bleiben prinzipiell außerhalb der Erfahrungsmöglichkeit. Das wissenschaftliche Wissen wie das alltägliche Wissen basiert nur auf Erscheinungen und auf Erfahrung. Aber wie kann dann, wenn von den Dingen an sich nichts sichtbar ist, sondern diese nur vorausgesetzt werden müssen, damit überhaupt etwas erfahren werden kann, Übereinstimmung im Wissen – oder noch stärker formuliert – objektives Wissen möglich sein? Alle Erfahrung wird Kant zufolge a priori bereits durch die Formen der reinen Anschauung und das Vermögen des reinen Verstandes vorstrukturiert. Raum und Zeit als die Formen der reinen Anschauung organisieren überhaupt die Wahrnehmung des Mannigfaltigen. Die logischen Kategorien verknüpfen die Schemata der Wahrnehmung zu urteilenden Begriffen und Sätzen. Die Urteile bezüglich empirischer Erscheinungen, die in diesem Zusammenspiel von Anschauung und Verstand möglich sind, beziehen sich ausschließlich auf kausallogische und notwendige Verknüpfungen zwischen Erscheinungen. Als der natürliche Kausalitätszusammenhang gilt dabei die Verknüpfung zwischen Erscheinungen nach der Notwendigkeitsrelation zwischen Ursache und Wirkung. Alle urteilenden Verknüpfungen zwischen Wahrnehmungen, die im Spiel zwischen reinem Verstand und reiner Anschauungen möglich sind, beziehen sich demnach auf Zusammenhänge, die sich durch logische Verknüpfungen ‚erklären‘ lassen. Verbindungen zwischen Phänomenen, die in diesem Sinne nicht notwendig sind, lassen sich aus der Erfahrung nicht ableiten. Sie lassen sich den Erscheinungen nicht ansehen. Und sie drücken sich in den Erscheinungen nicht aus, „da der durchgängige Zusammenhang aller Erscheinungen, in einem Kontext der Natur, ein unnachlaßliches Gesetz ist“.14 Wie aber sind vor diesem Hintergrund Verknüpfungen zwischen Phänomenen zu deuten, die im Rückgriff auf menschliches Handeln erklärt werden müssen? Es gibt unbezweifelbar eine ganze Reihe von Erscheinungen, deren innere Struktur zwar immer den Anschauungsformen und den Kategorien gehorcht, deren Hervorbringung allerdings keineswegs notwendig gewesen ist, sondern kontingent. Fast die ganze unmittelbar sinnlich wahrnehmbare Umwelt des Menschen ist mit solchen Phänomenen besetzt. In der „artifiziellen Gesellschaft“ (Heinrich Popitz) gibt es fast nichts mehr, dem nicht eine historische Kontingenz zugrundeliegt und dem nicht eine gesellschaftliche Produktion unterstellt werden muss.15 14 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Werke, Bd. 4, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1974, S. 492 (B 565).
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A. Gesellschaft und Erfahrung
Probleme der gesellschaftlichen Hervorbringung von Welt sind nicht der Kontext von Kants Überlegungen. Ihm geht es um die innere Notwendigkeitsstruktur der Sinnlichkeit. Nach Kant – mit und gegen ihn – wurde das Problem einer zu unterstellenden historischen Kontingenz und gesellschaftlichen Hervorbringung bestimmter Erfahrungsgegenstände vom Historismus und vom Neukantianismus im Großen und Ganzen so konzipiert, dass es neben der Welt der Naturnotwendigkeit, die sich ‚erklären‘ lässt, noch eine Welt der sozialen Verursachung gibt, deren kontingente Kausalitätszusammenhänge sich ‚verstehen‘ lassen. Eine solche Unterscheidung liegt insbesondere auch der verstehenden Soziologie Max Webers zugrunde.16 Weber unterscheidet zwischen sinnhaftem Handeln und der Welt der Naturkausalität. Während für letztere die erklärenden Naturwissenschaften zuständig sind, zielen die verstehenden Geisteswissenschaften auf die „Erkenntnis der Wirklichkeit in ihrer ausnahmslos und überall vorhandenen qualitativ-charakteristischen Besonderung und Einmaligkeit“.17 Darüberhinaus grenzt er Handeln gegen „ein bloß reaktives, mit einen subjektiv gemeinten Sinn nicht verbundenes, Sichverhalten“18 ab. Für diese Unterscheidung zwischen erklärenden und verstehenden Wissenschaften liefert Kant den Anlass. Denknotwendig ist für Kant die Idee der Willensfreiheit: „Man siehet leicht, daß, wenn alle Kausalität in der Sinnenwelt bloß Natur wäre, so würde jede Begebenheit durch eine andere in der Zeit nach notwendigen Gesetzen bestimmt sein, und mithin, da die Erscheinungen, so fern sie die Willkür bestimmen, jede Handlung als ihren natürlichen Erfolg notwendig machen müßten, so würde die Aufhebung der transzendentalen Freiheit zugleich alle praktische Freiheit vertilgen. Denn dieses setzt voraus, daß obgleich etwas nicht geschehen ist, es doch habe geschehen sollen, und seine Ursache in der Erscheinung also nicht so bestimmend war, daß nicht in unserer Willkür eine Kausalität liege, unabhängig von jenen Naturursachen und selbst wider ihre Gewalt und Einfluß etwas hervorzubringen“.19
Die Freiheit zählt zu den transzendentalen Ideen. Unter einer solchen Idee versteht Kant „einen notwendigen Vernunftbegriff, dem kein kongruierender Gegenstand in den Sinnen gegeben werden kann.“20 Transzendentale Ideen sind denknotwendig; aber ihnen fehlen die zwei Bedingungen objektiven 15 Heinrich Popitz, Der Aufbruch zur Artifiziellen Gesellschaft, Tübingen 1995, S. 126–138. 16 Volker Kruse, „Geschichts- und Sozialphilosophie“ oder „Wirklichkeitswissenschaft“? Die deutsche historische Soziologie und die logischen Kategorien René Königs und Max Webers, Frankfurt am Main 1999, S. 39–57. 17 Weber, Wissenschaftslehre, S. 5. 18 Ebd., S. 542. 19 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 489 f. (B 562). 20 Ebd., S. 331 (B 383).
II. Notwendigkeit in der Erscheinung – Kontingenz des Handelns
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Wissens; sie sind weder sinnlich anschaubar, noch ist von ihnen ein Verstandesbegriff möglich. Zwar ist die Idee der Freiheit unverzichtbar, wenn menschliches Handeln unter dem Gesichtspunkt der Moral thematisiert werden soll. Allerdings sind weder Freiheit noch Moral Gegenstände der empirischen Erscheinung, vielmehr sind sie von intelligiblem Charakter.21 Kants transzendentalphilosophische Begründung der Vernunft wird von ihm selbst in einen anthropologischen Diskurs gespiegelt und damit für Forschung, die sich auf faktisches gesellschaftliches Handeln bezieht, anschlussfähig: „Sie, die Vernunft, ist allen Handlungen des Menschen in allen Zeitumständen gegenwärtig und einerlei, selbst aber ist sie nicht in der Zeit“.22
Die Spiegelung des Vernunftvermögens und damit des Vermögens, aus Freiheit moralisch zu handeln, in anthropologische Kategorien hat eine Doppelung des Menschen zur Folge. Einerseits erscheint er in der Erfahrung wie andere Gegenstände der Sinne auch; andererseits vollzieht er seine Handlungen ihm Rahmen eines unsinnlichen Vermögens, das nicht danach urteilt, was ist, sondern was sein soll: „Allein der Mensch, der die ganze Natur sonst lediglich durch Sinne kennt, erkennt sich selbst durch bloße Apperzeption, und zwar in Handlungen und inneren Bestimmungen, die er gar nicht zum Eindrucke der Sinne zählen kann [. . .]. Wir nennen diese Vermögen Verstand und Vernunft, vornehmlich wird die letztere ganz eigentlich und vorzüglicher Weise von allen empirischbedingten Kräften unterschieden, da sie ihre Gegenstände bloß nach Ideen erwägt und den Verstand danach bestimmt, der von seinen (zwar auch reinen) Begriffen einen empirischen Gebrauch macht.“23
Festhalten kann man bisher, dass die Untersuchung menschlicher Handlungen Kant zufolge nicht allein naturwissenschaftlich-sinnlichen Kategorien zugänglich ist, dass sie vielmehr das Vermögen, aus Freiheit und nach Normen zu handeln berücksichtigen muss. Mit der Spiegelung in einen Diskurs über ‚den Menschen‘, der sowohl Naturwesen als auch aus intelligiblen Gründen handelndes Wesen ist, eröffnet Kant die Möglichkeit, sich den sinnlichen Auswirkungen menschlicher Handlungen und ihren Gründen zuzuwenden. Diese Handlungen folgen den Ideen vom Sollen und werden durch Hinweis auf diese Ideen erklärbar. Werte und Normen sind – natürlich – solche Ideen. Kant geht es um die moralischen Ideen, die gesellschaftliche Handlungszusammenhänge a priori bestimmen müssen, wenn menschliche Handlungen als moralische Handlungen gelten sollen. Der Gegenstandsbereich der 21 22 23
Ebd., S. 493 (B 568). Ebd., S. 504 (B 584). Ebd., S. 498 (B 575).
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A. Gesellschaft und Erfahrung
Wissenschaft von der Gesellschaft ist dagegen ein anderer. Soziologie untersucht die Wirkungen gesellschaftlicher Institutionen, die die Verknüpfungen von sinnhaften Operationen motivieren. Dabei interessiert, wie zustande kommt, was zustande kommt und nicht was, aus einer allgemeinen Vernunftperspektive betrachtet, zustande kommen sollte.24 Obwohl also ‚Gesellschaft‘ als Frage der Soziologie und als Frage der Moral im Sinne Kants nicht deckungsgleich sind, muss doch in Anlehnung an Kant davon ausgegangen werden, dass gesellschaftliches Handeln von Menschen prinzipiell die Willensfreiheit als Bedingung der Möglichkeit voraussetzt. Wäre dem nicht so, verfügten Menschen nicht über die Möglichkeit überhaupt – auch ‚falsch‘ – zu handeln.25 Menschliches Handeln unterstellt immer die Möglichkeit, anders zu handeln und ist insofern von ideellen Voraussetzungen abhängig. Ohne diese Möglichkeit wäre auch keine ‚Notwendigkeit‘ gegeben, den kategorischen Imperativ zu formulieren. Diese Perspektive bringt in der Soziologie der Begriff der „objektiven Möglichkeit“ (Max Weber) verdichtet zum Ausdruck. Damit ist gemeint, dass sich der Handelnde an den ihm äußerlichen, „nach Maßgabe seiner Kenntnis in der Wirklichkeit gegebenen“26 Bedingungen einer sozialen Situation orientiert, wobei er verschiedene Möglichkeiten des Handelns im Hinblick auf konkrete und generalisierte Erwartungen gegeneinander abwägen kann. Unter konkreten Erwartungen sind Erwartungen zu verstehen, die sich auf die Handlungspläne und Mittelwahl richten und die flexibel in fortlaufende praktische Vollzüge eingebettet sind.27 Generaliserte Erwartungen bezüglich sozialen Verhaltens unterstellen die Wirkung von normierenden und regulierenden Institutionen und helfen bei der Einschätzung der sozialen Folgen möglicher Handlungen.28 Dabei beruhen alle für die Stellungnahme gegenüber einer objektiven Möglichkeit relevanten Erwartungen auf gesellschaftlichen Wissensbeständen, die dem sozialen Akteur zur Verfügung stehen. Dieses wesentlich durch Diskurse vermittelte Wissen fundiert sowohl die konkreten wie die generalisierten Erwartungen. Der Handelnde analysiert die Situation gewissermaßen im Hinblick auf diese Erwartungen. ‚Objektive Möglichkeit‘ meint daher nicht, dass dem sinnhaft Handelnden definitiv gegebene Möglichkeiten zur Auswahl vorgelegt werden, vielmehr stecken in der Wahrnehmung der gegebenen Wirklichkeit im24 Georg Simmel, Kant, in: Georg Simmel, Gesamtausgabe, Bd. 9, S. 7–226, hier S. 151. 25 Ebd., S. 190 f. 26 Weber, Wissenschaftslehre, S. 267. 27 John Dewey, Demokratie und Erziehung. Eine Einleitung in die philosophische Pädagogik, Weinheim 1993, S. 138–141. 28 Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main 1987, S. 139.
III. Gesellschaftliche Phänomene
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mer schon Deutungen, die sie „im Modus möglicher Handlungen“29 auslegen. Die objektiven Möglichkeiten des Handelns konstituieren sich durch „Möglichkeitsurteile“.30 Der „stellungnehmende und wollende“31 Mensch distanziert sich gegenüber der Situation; einerseits wird sie interpretativ objektiviert und andererseits im Hinblick auf Handlungsoptionen bewertet. Gesellschaftliches Handeln vollzieht sich also nicht als unbefragtes Befolgen von Regeln, sondern steht immer in einer Spannung zwischen Erwartungen, Leitbildern, Ideen einerseits und in der Distanzierung explizierbaren objektiven Möglichkeiten andererseits. Der Begriff der objektiven Möglichkeit verweist darauf, dass dem Menschen immer die Möglichkeit gegeben ist, anders zu handeln, weil er seine Möglichkeiten immer und an jedem Ort problematisieren kann. Diese Annahme, dass menschliches Handeln niemals durch die Umstände vollständig bestimmt ist, beruht letztlich auf der transzendentalen Idee der Freiheit, selbst wenn sie nicht im Kontext einer Moralphilosophie, sondern in der Wissenschaft von der Gesellschaft auftaucht. Werden „bloße Naturwirkung“, die in der Erfahrung erscheint, und „Wirkung aus Freiheit“, die den Ergebnissen menschlichen Handelns zugrundeliegt, unterschieden32 und zugleich sowohl die Möglichkeit, Erfahrungen zu machen als auch aus intelligiblen Gründen zu handeln, auf ‚den Menschen‘ bezogen, so wird ein sozialwissenschaftlich verwertbares Modell sichtbar, das nicht allein sinnhafte bzw. moralische Faktoren als gesellschaftskonstitutiv unterstellt. Denn bei der Beobachtung der Vergesellschaftung ‚des Menschen‘ ist dann auch nicht in sozialen Sinnkonstruktionen aufgehende Erfahrung mit zu berücksichtigen.
III. Gesellschaftliche Phänomene Kants epistemologische Grundunterscheidung korrespondiert mit der modernen Ausdifferenzierung in zwei Wissenskulturen. Dabei wird der naturwissenschaftlichen Erklärung eine auf das Verstehen individueller Handlungen abgestellte, kulturwissenschaftliche Denkweise an die Seite gestellt. Diese kann Phänomene zugänglich machen, deren Genese naturwissenschaftlich nicht befriedigend zu erklären ist. Ihr zentraler Gegenstand sind Werte und Normen einerseits und die dadurch angeleiteten menschlichen Handlungen andererseits. 29 30 31 32
Hans Joas, Die Kreativität des Handelns, Frankfurt am Main 1996, S. 233. Weber, Wissenschaftslehre, S. 275. Ebd., S. 267. Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 496 (B 571).
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A. Gesellschaft und Erfahrung
Ein kurzer Rekurs auf die Thematisierung dieses Wissenschaftsdualismus im Rahmen des Neukantianismus macht auf Rezeptionsprobleme des zweiseitigen Verhältnisses von erklärbarer Zwangskausalität und verstehbarer Kausalität aus sinnhaften Gründen aufmerksam. Dabei geht es um die Frage, was gemeint sein kann, wenn von ‚gesellschaftlichen Phänomenen‘ gesprochen wird. Insbesondere könnte diesbezüglich angenommen werden, dass sich die natur- wie kulturwissenschaftliche Perspektive gleichberechtigt auf alle Phänomene erstrecken und an jedem Phänomen natürliche wie soziale Ursachen empirisch erkennbar seien. Daran würde die Annahme anschließen, dass es zwei unterschiedliche Phänomenbereiche gibt; zum einen den Bereich gesellschaftlicher Phänomene zum anderen den Bereich der natürlich verursachten Erscheinungen. Eine solche salomonische Lösung des Erkenntnisdualismus, an jedem Phänomen seien soziale und natürliche Ursachen erkennbar, wird von der neukantianischen Südwestdeutschen Schule – insbesondere von Wilhelm Windelband – zumindest vorbereitet.33 Liest man etwa Windelbands Straßburger Rektoratsrede von 1894 so wird sofort deutlich, dass er von zwei gleichberechtigten Perspektiven – der der Natur- und der der Geistes- bzw. Kulturwissenschaften – ausgeht. Nicht ganz klar wird indessen, ob er der Meinung ist, die ‚historischen Gestalten‘, die Gegenstand der Geisteswissenschaften sind, ließen sich aus den Phänomenen herauslesen, wie die Naturwissenschaft durch Abstraktion und Experiment, aber immer an der Erscheinung orientiert, den Naturgesetzen auf die Spur kommen kann. Er arbeitet hier immer mit der Analogie und spricht vom „Auge des Geistes“34 wenn es um die geisteswissenschaftliche Perspektive geht. Dagegen benutze die Naturwissenschaft das leibliche Auge als Erfahrungsquelle. Klar ist, dass die These, es gäbe zwei unterschiedliche Phänomenbereiche aus der von den gleichberechtigten Ursachen hervorgeht, wenn diese zugleich auch davon ausgeht, dass beide Ursachen an der Erscheinung sinnlich erfahrbar zu machen seien. Denn wird behauptet, sowohl die sozialen (bzw. ‚geistigen‘) als auch die natürlichen Ursachen fänden im Phänomen ihren ‚Ausdruck‘, so wird die Existenz zweier Erscheinungssphären unterstellt. Diese Annahme deutet sich allerdings an, wenn Windelband sagt, dass sich beide Perspektiven „über den gesamten Erfahrungsstoff“ erstrecken und „an jedem Punkte gleichzeitig“ gelten würden, dass aber die erste „bei weitem in der Körperwelt, die letztere in der geistig-geschichtlichen 33
Ernst Troeltsch, Die apriorisierenden Formdenker, in: Hans-Ludwig Ollig (Hg.), Neukantianismus. Texte der Marburger und der Südwestdeutschen Schule, ihrer Vorläufer und Kritiker, Stuttgart 1982, S. 316–354, hier S. 336–347. 34 Wilhelm Windelband, Geschichte und Naturwissenschaft, in: Hans-Ludwig Ollig (Hg.), Neukantianismus. Texte der Marburger und der Südwestdeutschen Schule, ihrer Vorläufer und Kritiker, Stuttgart 1982, S. 164–173, hier S. 172.
III. Gesellschaftliche Phänomene
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Welt“ überwiege.35 Die Zurechnung der unterschiedlichen Perspektiven auf je spezifische ‚Welten‘ impliziert, dass zwischen unterschiedlichen empirischen Erfahrungsbereichen unterschieden wird. Wenn aber behauptet wird, soziale Ursachen drückten sich in empirischen Phänomenen aus, dann wird diese Unterstellung gemacht, es sei denn, man behandelt alle Phänomene als genuin soziale und das heißt letztlich als gesellschaftlich konstruierte Phänomene. Diese Alternative lässt allerdings gar keinen gesellschaftlichen Raum für Erfahrungen im Sinne Kants. Entgegen der Annahme zweier unterschiedlicher Erfahrungsbereiche ist eines der Grundmotive der Kantschen Erkenntnistheorie das Festhalten an der Einheit der sinnlichen Erfahrung. Da alle Erscheinungen den reinen Anschauungsformen Raum und Zeit unterliegen, kann nichts sinnlich erscheinen, das nicht in Raum und Zeit ist. Das trifft für Ideen und damit in der hier vorgeschlagenen Perspektive auch für Intentionen, Werte, Normen, generell für ‚Sinn‘ nicht zu. Dies sind nicht Gegenstände der empirischen Erscheinung, weil sie von intelligiblem Charakter sind.36 Da weiterhin die Struktur der Erscheinung nur notwendige logische Verknüpfungen zulässt, kann der Verstand auch keine historisch-‚individuellen‘ und sinnmotivierten Kausalitätsverknüpfungen an den Phänomenen erkennen. Unterstellt man dagegen einen doppelten Raum empirischer Erfahrung, dann müsste an jedem Phänomen oder zumindest an jedem ‚Phänomenanteil‘ gewissermaßen ein kleines Fähnchen angeheftet sein, das markiert, welchem Bereich der Erfahrung das Phänomen oder der ‚Phänomenanteil‘ nun zuzurechnen ist. Damit würde aber die Einheit der sinnlichen Erfahrung aufgehoben. Kant zufolge jedenfalls gibt es diese Marken nicht – empirische Erfahrung kennt nur Natur: „Die Freiheit ist in dieser Bedeutung eine rein transzendentale Idee, die erstlich nichts von der Erfahrung Entlehntes enthält, zweitens deren Gegenstand auch in keiner Erfahrung bestimmt gegeben werden kann, weil es ein allgemeines Gesetz, selbst der Möglichkeit aller Erfahrung, ist, daß alles, was geschieht, eine Ursache, mithin auch die Kausalität der Ursache, die selbst geschehen, oder entstanden, wiederum eine Ursache haben müsse; wodurch denn das ganze Feld der Erfahrung, so weit es sich erstrecken mag, in einen Inbegriff bloßer Natur verwandelt wird.“37
Mit anderen Worten: Da Wirkung aus Freiheit kein sinnliches Phänomen ist, kann sie immer nur unterstellt werden. Dieses Als-ob ist eine notwendige Fiktion der reinen Vernunft – ansonsten gäbe es nur Naturkausalität.38 35 36 37 38
Troeltsch, Formdenker, S. 338. Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 493 (B 568). Ebd., S. 488 f. (B 561). Ebd., S. 428 (B 474 f.).
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A. Gesellschaft und Erfahrung
Diese Fiktion ist ‚praktisch‘, weil sie dem moralischen Handeln immer schon zugrunde gelegt werden muss.39 Unterstellt man, dass die Rede von gesellschaftlichen Phänomenen Erscheinungen bezeichnen soll, die eine Kausalität aus Freiheit zu ihrer Erklärung voraussetzen, so kann diese Ursache nicht selbst erscheinen oder in irgendeiner Form an Phänomenen sichtbar werden. Mit anderen Worten, gesellschaftliche Phänomene als solche gibt es nicht, noch gibt es etwas spezifisch Gesellschaftliches, das in der Erscheinungswelt seinen sinnlichen Ausdruck findet. Vielmehr werden empirische Phänomene so gedeutet, als ob sie durch die Freiheit menschlichen Handelns verursacht worden seien. Insofern kann also die Kantsche Perspektive soziologisch fruchtbar gemacht und gesagt werden: Gesellschaftliche Phänomenalität kennzeichnet keinen abgrenzbaren Bereich empirischer Erscheinungen, sondern markiert eine spezifische Beobachterperspektive, nämlich eine verstehende und deutende. Die Möglichkeit dieser Perspektive gründet in der transzendentalen Idee der Freiheit. Dabei ist zu beachten, dass das Gesellschaftliche sich in der Erscheinung nicht positiv ausdrückt, sondern nur die Voraussetzung ihrer deutenden Erklärung darstellt, insofern zur Erklärung des Phänomengehaltes eine Wirkung aus Freiheit unterstellt werden muss. ‚Institutionen‘ wie Konventionen, Normen, Regeln, Machtgefüge oder Diskursordnungen müssen daher als heuristische Konstruktionen gelten; notwendig um gesellschaftliche Prozesse zu erklären. Aber darüber hinaus sind sie nicht bloß praktische Fiktionen sozial- und kulturwissenschaftlicher Beobachter. Im Kontext sozialer Interaktionen unterstellt vielmehr jedermann bei der Deutung empirischer Phänomene als sinnhaft motivierter immer zugleich auch die Geltung gesellschaftlicher Institutionen. Genau das macht es möglich, dass Erwartungen sich erfüllen und überhaupt geregelte Handlungszuammenhänge zwischen verschiedenen Akteuren stattfinden können. Wenn also Menschen sich bei ihrem Handeln nach Normen und den mit ihnen verknüpften Werten richten, wenn sie normalisierten Konventionen folgen, wenn sie ihre Handlungen in Machtdispositiven ausrichten oder ihr Handeln dem gemeinten Sinn nach auf gesellschaftliche Diskurse beziehen, dann ‚wirken‘ Institutionen. Hüten muss man sich jedoch vor dem Schluss, die hervorgebrachte Erscheinung (= Wirkung), mache auch die Intentionen ‚hinter‘ dieser Wirkung erfahrbar. Verstehen bzw. Deuten ist die spezifisch geistes- und kulturwissenschaftliche Erkenntnismethode, die insbesondere von Max Weber in die Soziologie importiert worden ist. Dabei besteht die Gefahr, die prinzipiellen Gren39 Hans Vaihinger, Die Philosophie des Als Ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus, Leipzig 51920, S. 59.
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zen der sinnlichen Erfahrung zu überschreiten und für phänomenal zu halten, was intelligibel ist. Die von Weber für das wissenschaftliche Verstehen als wichtig erachtete Methode des innerlichen Nacherlebens40 wie auch sein Hinweis, dass die verstehende Methode nicht empirisch sicheres Wissen produziere, sondern Evidenz41, verweisen auf das Kantsche Als-ob. Verstehen arbeitet nicht mit sinnlicher Erfahrung, sondern mit der Unterstellung sinnhaft motivierter Verursachung aus Freiheit. Mittels dieser Unterstellung wird es möglich, empirische Erscheinungen als gesellschaftliche Phänomene zu deuten und sie damit im Rahmen menschlichen Handelns aufzuschlüsseln und zu beschreiben. Es ist aber nicht möglich, an den Erscheinungen selbst intelligible Gegenstände wie ‚Freiheit‘, ‚Gesellschaft‘, ‚Werte‘ oder ‚Sinn‘ zu erkennen.
IV. Erfahrung als Bedingung des Wissens Das Gesetz der Erfahrung, „durch welches Erscheinungen allererst eine Natur ausmachen“42, gilt nicht nur für erkenntniskritische Weltbeobachter, sondern für jeden menschlichen Akteur zu jeder Zeit und an jedem Ort. Denn es ist ein „Verstandesgesetz, von welchem es unter keinem Vorwande erlaubt ist abzugehen, oder irgendeine Erscheinung davon auszunehmen“.43 Geht man von dieser Perspektive aus, dann ist es ohne große Umstände möglich, erfahrene ‚Natur‘44 als Moment gesellschaftlichen Handelns zu konzipieren, denn die Unterstellung von gesellschaftlicher Sinnkausalität in Form generalisierter oder konkreter Erwartungen, die Menschen bei sozialem und gesellschaftlichem Handeln machen, findet in der sinnlichen Erfahrung überhaupt erst ihren Anlass. Insofern ist Erfahrung also immer schon ein Aspekt des gesellschaftlichen Handelns. Das Paradox der Kantschen Konstruktion liegt nun darin, dass gewissermaßen auch das Gegenteil richtig ist. Wenn die Parameter gesellschaftlichen Handelns allesamt als intelligible Größen gelten müssen, die nur unter der Voraussetzung einer unterstellten Kausalität aus Freiheit überhaupt möglich sind, dann steht Erfahrung, strukturiert durch die natürliche Zwangskausalität nach Ursache und Wirkung zugleich auch außerhalb der Gesellschaft. Erfahrung fällt daher aus der symbolischen Ordnung heraus. 40
Weber, Wissenschaftslehre, S. 67. Ebd., S. 428. 42 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 495 (B 570). 43 Ebd. 44 ‚Natur‘ in Anführungszeichen zu setzen soll markieren, dass es hier um Gegenstände der Erfahrung geht, nicht um Dinge an sich. Im Weiteren werden die Anführungszeichen der Einfachheit halber weggelassen. 41
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A. Gesellschaft und Erfahrung
Hierbei handelt es sich um eine Antinomie. Sie ist nicht aufzulösen. Allerdings gibt es ein Scharnier, das diese beiden Seiten in seiner Praxis immer schon in sich verbindet – der zugleich sinnlich erfahrende und sinnhaft handelnde Mensch. Wenn man um dieses handelnde Erfahrungswesen herum eine Soziologie aufbaut, dann erschließen sich beide Momente der Antinomie. Aus dieser Antinomie heraus ist es nötig zu fragen, wie Erfahrung als Aspekt gesellschaftlichen Handelns zu konzipieren ist. Zunächst ist zu sehen, ob die Dichotomie von Erfahrung und Deutung in der Lage ist, das soziale Alltagshandeln – also gewissermaßen den ‚Normalfall‘ menschlichen Daseins – zu erfassen. Der sozialkonstruktionistische Ansatz von von Michael L. Berger und Thomas Luckmann geht von der Alltagswelt als „oberster Wirklichkeit“ aus.45 Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass sie immer schon im Modus des Sinns zugänglich ist. Diese Wirklichkeit „ist einfach da – als selbstverständlich zwingende Faktizität“.46 Auch wenn in Zweifel gezogen werden muss, dass der Bezug auf das Alltägliche einen generalisierbaren methodologischen Ausgangspunkt verstehender Soziologie bilden kann, so ist doch die Feststellung unabweisbar, das im gewöhnlichen Ablauf des alltäglichen Handelns ein „aktuelles Verstehen“ der Nahwelt vorliegt.47 Diese Annahme einer im Normalfall ‚immer schon‘ gegebenen Sinnorientierung der Welt schließt durchaus nicht die Möglichkeit der prozessualen Gleichzeitigkeit von Erfahrung und Deutung aus. Im Anschluss an Helmuth Plessner wäre dann von einer „Hermeneutik der Sinne“ zu sprechen. Plessner meint damit, dass „die Modi des Materials“ in der „sinnlichen Empfindung verständlich und auslegbar“ werden.48 In der Sinneserfahrung zeigt sich ja nicht die Modalität der je spezifischen Sinnlichkeit selbst, sondern die Sinne erfüllen eine Verkörperungsfunktion. Nicht zuletzt von gesellschaftlich-diskursiven Wissensbeständen ausgehend markieren sie abgegrenzte Objekte, erfassen räumlich-zeitliche Beziehungen zwischen ihnen, geben ihnen Namen, relationieren sie zum Leib usw. Aber dass diese Funktion überhaupt erfüllt werden kann, hat bereits mit Irritationen in der Erfahrung zu tun: „Da unser Verhalten [. . .] stets mit wahrnehmbaren Gegenständen zu tun hat und es überall mit dem Widerstand der Gegenstände rechnet, an ihm sich reibt und bricht, tritt ihm in seiner Verkörperung die 45
Berger/Luckmann, Gesellschaftliche Konstruktion, S. 24. Ebd., S. 26. 47 Alfred Schütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, Werkausgabe, Bd. 2, Konstanz 2004, S. 114. 48 Helmuth Plessner, Anthropologie der Sinne, in: Helmuth Plessner, Gesammelte Schriften, Bd. 3, Frankfurt am Main 1980, S. 317–393, hier S. 380. 46
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Komplexion des sinnlichen Materials in gegenständlichen Einheiten [. . .] gegenüber.“49 Die Hermeneutik der Sinne unterstellt nicht, dass der Erfahrung bereits ‚Sinn‘ inhärent wäre, sondern dass mit der Sinneserfahrung zugleich eine Deutung vorgenommen wird, die die Gegenstände als je spezifische und situierte in einer sinnhaften Wirklichkeitskonstruktion zugänglich macht. Diese Zugänglichkeit wurzelt Plessner zufolge gerade darin, dass die Erfahrungsgegenstände sich den Deutungsschemata auch immer wieder entziehen können, indem sie ihnen Widerstand entgegensetzen. Für die Gegebenheit der Welt im Rahmen ‚normaler‘ sinnhafter Handlungszusammenhänge wird damit gerade Erfahrung zur Bedingung. Dass Erfahrung und Deutung im Begriff der sinnlichen Hermeneutik gewissermaßen verschmelzen, heißt also nicht, dass sie als identisch begriffen werden müssen, sondern dass von einem annähernd gleichzeitigen und prozessualen kognitiven Ineinandergreifen von Erfahrung und Deutung ausgegangen werden muss. Im alltäglichen Leben bleibt ihre Differenz in der Regel lediglich verborgen. Die Dichotomie von Erfahrung und Deutung lässt sich so gesehen unproblematisch in eine Soziologie integrieren, die vom alltäglichen gesellschaftlichen Handeln ausgeht. Wie aber verhalten sich Erfahrung und Deutung im Ausnahmefall zueinander? Analysiert man Grenzfälle der Erfahrung, in denen die symbolische Ordnung auseinander bricht, denn zeigt sich, dass das Verhältnis von Erfahrung und Wissen, Sinnlichkeit und Sinn, Wahrnehmung und Interpretation nicht notwendig organisch verbunden ist. Um dies zu beschreiben bedarf es einer negativen Phänomenologie, das heißt einer Theorie der Erfahrung, die gesellschaftliche Wirklichkeit nicht ausschließlich konstruktionistisch als „Objektivation“50 von Sinn denkt, sondern die dem Heraustreten der Erfahrung aus der symbolischen Ordnung oder der Möglichkeit eines ‚Einbruchs des Realen‘ Raum gibt. Dieter Mersch hat eine solche Theorie formuliert, indem er das In-Erscheinung-Treten von Zeichen, die Bedeutungen ‚tragen‘, genau rekonstruiert. Dabei geht es darum, eben das an der sinnlichen Erfahrung von Zeichen zu kennzeichnen, was sich entzieht, was der Interpretation als unrevidierbare Präsenz entgegen tritt, was nicht in Intelligibilität aufgeht. Im Zentrum dieser Phänomenologie steht das Ereignis. Am Beispiel von Handlungen lässt sich dies verdeutlichen: „Eine Handlung, die vollzogen ist, ein Gesichtsausdruck, der etwas zu verstehen gibt, eine nebensächliche Äußerung, mögen sie auch noch so ungeduldig gegeben oder unvorsichtig hingeworfen sein, bilden ein Geschehen, das auf keine Weise rückgängig zu machen ist. Es gibt an ihnen eine ‚Schuld‘ des Seins (Existenz), 49 50
Ebd., S. 378 f. Berger/Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion, S. 24, 39.
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die unerbittlich ist, eine verhängnisvolle Gegenwart, die nachhängt und kaum verzeihlich ist, und die zu tragen und zu ertragen wir verurteilt sind, ob wir wollen oder nicht. Eine Unachtsamkeit, eine winzige Boshaftigkeit oder geheuchelte Liebe: Zeichen, die ‚da‘ sind, deren Präsenz wie Giftpfeile wirken und keine Revision zulassen, vielleicht noch nicht einmal durch eine Entschuldigung. Ich habe etwas gesagt, es ist ausgesprochen und erzeugt sein eigenes Drama, zieht seine Spur nach sich, die sich in anderen Spuren, in Folgen und Reaktionen fortpflanzt.“51
Diese Beispiele markieren Weisen des Sichzeigens, die sich nicht umoder weginterpretieren lassen. „Das, was sich zeigt“52, erscheint nicht als Ausdruck materialisierten Sinns, sondern als Störung, Irritation, Sperrung, Unrevidierbares, Ablenkung, Schock usw. Diese Resistenz gegen intelligible Zuschreibungen durchbricht den ‚Text‘. Es kommt zu einem „Riss im Symbolischen“.53 Die wahrgenommene Störung kann daher Verschiebungen in den Interpretationsrastern und Bedeutungsstrukturen motivieren. Insofern ist sie die Bedingung der Möglichkeit, Texte zu dekonstruieren. Den Handlungsereignissen, die Mersch in dem obigen Zitat beschreibt, ist zumindest im metaphorischen Sinn eine verletzende Qualität eigen – sie wirken wie ‚Giftpfeile‘. Aufgrund dieser Qualität treten sie als problematische Ereignisse hervor, welche die sozialen Erwartungen durchbrechen. Die Normalität der Vergesellschaftung wird aufgehoben. Ein Ausnahmeereignis, dessen Bedeutung noch nicht klar ist, stört die Erwartungen der sozialen Akteure und ihr aktuelles Verstehen. Die negative Phänomenologie ‚passt‘ daher auf Situationen, in denen der gewöhnliche und erwartete Fluss der Ereignisse durchbrochen wird. Dann treten Erfahrung und Deutung auseinander. In nicht abweisbaren Erfahrungsprozessen, die sich der mitlaufenden Auslegung verweigern, kommt es zu einem „Erscheinen des Erscheinens“.54 Die symbolische Ordnung, die im Subjekt verdichteten gesellschaftlichen Diskurse können dann nicht einholen, was sich in den Sinnen zeigt. Mersch bietet an, die Weisen des außergewöhnlichen Sichzeigens mit Hilfe der begrifflichen Trias Materialität, Präsenz und Ereignis zu erfassen. Auch wenn es ihm wesentlich nicht um das geht, „was sich zeigt“, sondern um das, „was sich zeigt“ 55, so wird mit dieser Trias doch eine Kategorisierung vorgenommen, die Mitteilungen über das ‚Was‘ impliziert. ‚Materialität‘ bezieht sich eher auf begegnende Gegenständlichkeit von Sachen, Werken oder Naturdingen, ‚Präsenz‘ verweist in erster Linie auf das In-Erscheinung-Treten des eigenen oder fremden Körpers und ‚Ereignis‘ markiert 51 52 53 54 55
Mersch, Ebd., S. Ebd., S. Ebd., S. Ebd., S.
Was sich zeigt, S. 27 f. 23. 65. 23. 9.
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vornehmlich die Singularität von Geschehnissen oder Handlungen in der Zeit. Es ist im Auge zu behalten, dass eine solche Einteilung des Phänomenalen lediglich eine reflexive Kategorisierung darstellt. Sie liefert allerdings ein praktikables heuristisches Schema, wenn Gewalterfahrungen im Kontext von Kriegen zum Gegenstand des Sprechens werden, weshalb diese Differenzierung übernommen werden soll. Dass in der Verletzung der Leib als Schmerz unmittelbar präsent wird, dass die Materialität der Sache, die diese Verletzung hervorruft, hervortritt und dass in der Versehrung die unaufhebbare Differenz zwischen vorher und nachher sich äußert, ist in modernen Kriegsdiskursen gegenwärtig – auch wenn darüber geschwiegen wird. Diese außeralltäglichen Phänomene zeichnet aus, selbst unmittelbar auf sie bezogene Sinnangebote zur Disposition zu stellen. Obwohl die moderne Gesellschaft im Deutschland der Zwischenkriegszeit durch entsprechende Diskurse auf den Krieg hin formiert worden ist, wurde die Apologie der Gewalt im stählernden Regen des strategischen Bombardements zur Makulatur: „Lasset die Kinderlein zu mir kommen. – Als die erste Bombe fiel, schleuderte der Luftdruck die toten Kinder gegen die Mauer. Sie waren vorgestern in einem Keller erstickt. Man hatte sie auf den Friedhof gelegt, weil ihre Väter an der Front kämpften und man ihre Mütter erst suchen musste. Man fand nur noch eine. Sie war unter Trümmern zerquetscht. So sah Vergeltung aus.“56
Gert Ledigs kurz nach dem Zweiten Weltkrieg veröffentlichter Roman Vergeltung, zeigt bereits mit den ersten Zeilen, dass es keine umfassende diskursive Vorbereitung auf die Gewalt geben kann. Der kriegsgesellschaftliche Diskurs hatte zwar die Konstitution einer modernen hochtechnisierten Kriegsgesellschaft angestrebt, aber Ledigs kühl beschreibende Zeilen machen klar, dass auch dieses Vorhaben die faktische Gewalterfahrung im allumfassenden Raum der „technischen Schlacht“ (Ernst Jünger) nicht erfolgreich sinnhaft formieren konnte. Die Analyse des Außeralltäglichen und insbesondere der Gewalterfahrung macht deutlich, dass Erfahrung sich den gesellschaftlichen Sinnkonstruktionen letztlich nicht fügt. Sie kann also nicht als objektivierter sozialer Sinn aufgefasst werden. Die Verkörperung von Wissen in der Wahrnehmung kann überhaupt nur aufgrund der Differenz zwischen Erfahrung und Deutung scheitern. Daher ist ihr als selbst nicht Sinnhaftes eine relevante Funktion im sozialen Zusammenhang zuzusprechen. Die Konstitution gesellschaftlicher Wirklichkeit kann nicht allein aus der Vergegenständlichung sozialen Sinns erklärt werden, vielmehr bedarf es neben dem Bezug auf interaktives und subjektiv sinnhaftes Handeln auch des Rückgriffs auf sub56
Gert Ledig, Vergeltung, Frankfurt am Main 1999, S. 9.
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jektive Erfahrung. Dabei ist es in dem an Kant anschließenden dichotomischen Modell durchaus möglich, von einer in der Regel erfolgenden prozessualen Gleichzeitigkeit beider Momente auszugehen, so dass die Verkörperung von sozialem Sinn erfasst werden kann. Das Verhältnis von Erfahrung und gesellschaftlichem Handeln ist daher so zu konzipieren, dass Erfahrung und Deutung nicht ohne Berührung nebeneinander stehen. Durch Deutung schreiben sich Erfahrungen in die Sinnrahmen pragmatischer Handlungszusammenhänge ein. Allerdings provoziert Erfahrung das Deuten; sie fügt sich nicht dem Prokrustesbett der diskursiv-gesellschaftlichen ‚Ordnung der Dinge‘. Sie bietet die Anlässe, Sinnkonstruktionen zu entwerfen oder zu verändern. Wenn die im Außeralltäglichen hervortretende Differenz zwischen Erfahrung und Deutung zu einer Antwort nötigt, dann wird deutlich, dass diese Differenz für Prozesse gesellschaftlicher Sinnkonstruktion konstitutiv ist: „Sinn ist etwas, das dem entspringt, was sich nicht ausdrücken oder sagen lässt, was sich der Bezeichenbarkeit sperrt und zur Antwort nötigt.“57 Das Heraustreten einer Erfahrung aus der gewohnten Lektüre der Welt zeugt vom „Vorrang des Begegnenden“ und trägt die Spur eines „ursprünglichen Ver-Antwortens“.58 Ausgehend von dieser Einsicht ist die sozialkonstruktionistische Perspektive so zu erweitern, dass das systematisch in den Blick kommt, was Sinnzuschreibungen scheitern lassen kann und zugleich konstituiert, das heißt Erfahrung in Differenz zu Deutung. Das heißt zugleich, dass nicht im Anschluss an Berger und Luckmann von einer Vorrangstellung der Alltagswelt ausgegangen werden kann, wenn die Konstitution dessen, was gesellschaftlich sagbar ist, das heißt des Wissens erfasst werden soll. Im Folgenden wird davon ausgegangen, dass Erfahrung das widerständige empirische Material liefert, an dem weltorientierte sinnhafte Operationen ansetzen müssen. Zu diesem Zweck muss dieses Material in die gesellschaftlichen Sinnkonstruktionen eingepasst werden. Es wird Wissen erzeugt. Wissen ermöglicht praktische Verfügung und instrumentelle Herrschaft über die sinnlichen Bedingungen gesellschaftlichen Handelns; es bleibt zugleich aber immer problematisch, weil es scheitern kann. In Wissen transformierte Erfahrung ist die Bedingung der Möglichkeit, sich von der Welt zu distanzieren und sie gesellschaftlich zu transformieren. Wenn aber das Phänomen gewaltsamer Verletzung, wie Wolfgang Sofsky sagt, unmittelbar sinnlos ist, wenn Schmerz, worauf Elaine Scarry hinweist, eine Grenze der Sprache markiert, dann bewirkt Gewalt eine gewissermaßen ‚totale‘ Erfahrung. In ihr scheitert die Verkörperung sozialen Sinns. Wie 57 58
Mersch, Was sich zeigt, S. 19. Ebd., S. 18.
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kann dennoch kommunizierend an Gewalterfahrungen angeschlossen werden? Wie kann eine ganze moderne Gesellschaft den Krieg diskursivieren? Auf die Frage, wie Sinn an die Erfahrung der Gewalt anschließen kann, ist keine pauschale Antwort möglich. Dennoch ist die Untersuchung dieser Frage wichtig, weil sie die Übersetzung von Gewalterfahrungen in soziales Handeln und gesellschaftliche Sinngebung thematisiert.59 Und gerade dass Gewalt am Rand der Sprache steht, verleiht auf den Krieg bezogenen Konstitutionsdiskursen ihre semantische ‚Kraft‘. Letztlich kann die gesellschaftliche Erfahrungsverarbeitung nur empirisch, das heißt historisch-diskursanalytisch dargestellt werden. Anzumerken ist, dass Merschs Argumentation wesentlich in einem medientheoretischen Kontext verweilt, insofern es ihm um die Phänomenalität von Zeichen und nicht um das „Problem der Repräsentation“ geht.60 Eben um diese Einschränkung aufzuheben wird im hier verfolgten Modell, orientiert an Kant, der Begriff der Erfahrung eingeführt, denn damit erschließt sich auch das Problem der Repräsentation, das heißt des Sprechens über Erfahrungen der Operationalisierbarkeit. Gesellschaftlich produzierter Sinn muss mit subjektiven sinnlichen Erfahrungen abgleichbar sein, um als Diskurs gesellschaftliche Wirkungen zu entfalten. Sozialer Sinn, der Erfahrung nicht aufnimmt, scheitert notwendig an der Erfahrung der handelnden Individuen und wird letztlich irrelevant. Gäbe es keinen (natürlich offenen und unterdeterminierten) Entsprechungsmaßstab zwischen Erfahrungen und ihrer Repräsentation, wäre außerdem nicht zu verstehen, wie Sinn überhaupt eine Beziehung zu den Gehalten der Sinne unterhalten könnte. Ohne eine solche Relation wäre es auch unmöglich, von Verkörperungen diskursiven Sinns zu sprechen, weil der Widerstand der Erfahrung die Bedingung der Möglichkeit einer sinnhaften Wirklichkeitskonstruktion ist. Der Diskurs als Verkörperung „Bedingendes“ bleibt somit wiederum „an Materialitäten gebunden“.61 In Bezug auf Kants Erfahrungsbegriff ist darauf hinzuweisen, dass die Struktur dieses Begriffs stark auf die distanzierte wissenschaftliche Naturbeobachtung zugeschnitten ist, obwohl die ‚Naturkausalität‘, die der reine Verstand nach Kant in den Erscheinungen ausschließlich erkennen kann, nicht die historisch jeweils gültige Erklärung der Physik meint, sondern lediglich jene logische Verknüpfung, wonach jeder Wirkung notwendig eine Ursache vorausgehen muss. Aber der Idee, dass Phänomene einerseits in Zeit und Raum fixierbar und andererseits im Rahmen eines strengen Kategoriensystems verknüpfbar seien, liegt ein sehr instrumentelles Modell der 59 60 61
Nedelmann, Gewaltsoziologie, S. 78–80. Mersch, Was sich zeigt, S. 24. Bublitz, Diskurs, S. 52.
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Erkenntnis zugrunde.62 Diese Verengung des Erfahrungsbegriffs durch Kant ist kritisch zu bewerten, denn im Zusammenhang mit Gewalt, Verletzung und Tod, bringen Erfahrungen die Unmittelbarkeit ‚meines‘ Körpers ins Spiel. Schmerzerfahrungen sind nicht wiederholbare Ereignisse und konstituieren ihre je eigene Raumlichkeit und Zeitlichkeit.63 Sinnliche und kategoriale Distanzierungen und Differenzierungen erliegen dadurch einer variablen Auflösung, die sich bis hin zum totalen Sein im Schmerz steigern kann. Aber dennoch sind Schmerzen räumlich-zeitlich lokalisierbar. Außerdem ist mit der Schmerzerfahrung durchaus ein Kategorienssystem verbunden. Schmerzen werden im Rahmen einer „Agentenschaft“ (Elaine Scarry) – so als ob jemand die Schmerzen mittels einer Waffe verursacht hätte – erfahren und beschrieben (‚stechende‘, ‚ziehende‘, ‚pochende‘ Schmerzen usw.).64 Da sinnliche Erfahrung „jederzeit in eine Störung oder in eine Verletzung umschlagen“ kann, konstituieren Schmerz und ‚normale‘ Sinneserfahrung nicht zwei verschiedene Welten.65 Vielmehr wird gerade an den Grenzfällen des sinnlichen Erlebens deutlich, dass der Erfahrung die Macht eignet, gesellschaftliche Sinnkonstruktionen zu überschreiten und gewissermaßen sprachlos ‚in Frage‘ zu stellen. Insofern deutet sich eine negative Phänomenologie, wie sie Mersch entfaltet, in der Kantschen Trennung zwischen Erfahrung und Intelligibilität bereits an. Die Antinomie von Einschluss und Ausschluss der Erfahrung, die sich einer Relektüre der Kantschen Erkenntniskritik verdankt, eröffnet einen Begriff von der Möglichkeit, dass die Erscheinung nicht in der Sinnzuschreibung versinkt. Dadurch wird ein prinzipiell unabgeschlossener Raum der gesellschaftlichen Reflexivität begründet. Die Dichotomie von Erfahrung und Deutung führt auf eine soziologische Konzeption, der es wesentlich um die Möglichkeit geht, Erfahrung und Phänomenalität nicht voreilig in gesellschaftlicher Sinnkonstruktion aufzulösen. Zur Konsequenz hat dies allerdings, dass nicht auf anthropologische Überlegungen, wie sie sich schon bei Kant andeuten, verzichtet werden kann.
V. Die Schwellenposition ‚des Menschen‘ Ins Zentrum dieser ‚antinomischen‘ Sichtweise rückt ‚der Mensch‘. Die Figur des Menschen ist das Scharnier oder die Schwelle, die Freiheit und 62 Hartmut Böhme/Gernot Böhme, Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt am Main 1985, S. 289. 63 Bernhard Waldenfels, Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes, Frankfurt am Main 2000, S. 218. 64 Scarry, Körper im Schmerz, S. 28 f. 65 Waldenfels, Das leibliche Selbst, S. 103.
V. Die Schwellenposition ‚des Menschen‘
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Notwendigkeit, Normen und Naturkausalität, Intelligibles und Sinnliches, Verstehen und Erfahren, Kultur und Natur miteinander verbindet. Der Hinweis, dass eine solche kantianische Position, die die Fragen nach diesen Verbindungen in kultur- und sozialwissenschaftlicher Absicht stellt, nicht um philosophische Anthropologie herumkomme ist daher richtig.66 Helmuth Plessners philosophische Anthropologie kennzeichnet den Menschen nicht positiv als ein ‚Wesen‘, das sich durch bestimmte empirische Eigenschaften definiert. Er begreift ihn auch nicht negativ als ‚Mängelwesen‘, wie dies Arnold Gehlen vorgeschlagen hat. Vielmehr kennzeichnet er den Menschen durch eine spezifisch exzentrische Positionalität, die eben genau jene Schwellenlage, jene Stellung zwischen Kultur und Natur kennzeichnet. Der Bezug auf diese Positionalität des Menschen verweist darauf, dass der Mensch weder in einem festen Wesensgrund verwurzelt, noch durch den Bezug auf geschichtsphilosophisches Telos bestimmt ist. Vielmehr ist der Mensch Plessner zufolge „in seine Grenze gesetzt und deshalb über sie hinaus, die ihn, das lebendige Ding, begrenzt. Er lebt und erlebt nicht nur, sondern er erlebt sein Erleben.“67 Die Grenze zwischen innen und außen, die jeden Körper konstituiert, die beim Organismus aber bereits Aspekt des Körpers selbst ist, wird vom Menschen darüber hinaus als „Stellung in der Grenze“68 reflektiert. Das Zentrum des Menschen liegt außerhalb seiner. Er steht gewissermaßen im „Nichts“69. Einerseits ist er daher genötigt, seine historisch-gesellschaftliche Welt immer wieder neu zu erschaffen. Andererseits findet er in keiner dieser Kulturschöpfungen zu sich selbst, zu seinem ‚Wesen‘. Vielmehr sieht er sich immer in einer Zwischenlage zwischen Kultur und Natur, Körper-Haben und Körper-Sein. Eben darum begegnet er außerhalb seiner den Dingen in ihrem Gegenständlichkeitscharakter und nicht als Erscheinungen verdinglichten Sinns.70 Der Begriff der exzentrischen Positionalität passt sehr gut zu dem hier entwickelten Modell, dem zu Folge der Mensch ein Schwellenwesen ist, welches zwischen Erfahrung und Deutung situiert ist. Der Doppelaspekt von Erfahrung und Deutung bezeichnet dabei die Rezeptionsseite des Dop66 Heinrich Rickert, Thesen zum System der Philosophie, in: Hans-Ludwig Ollig (Hg.), Neukantianismus. Texte der Marburger und der Südwestdeutschen Schule, ihrer Vorläufer und Kritiker, Stuttgart 1982, S. 174–181, hier S. 179. 67 Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie. Berlin 1975, S. 292. 68 Wolfgang Eßbach, Der Mittelpunkt außerhalb. Helmuth Plessners philosophische Anthropologie, in: Günter Dux/Ulrich Wenzel (Hg.), Der Prozess der Geistesgeschichte. Studien zur ontogenetischen und historischen Entwicklung des Geistes, Frankfurt am Main 1994, S. 15–44, hier S. 21. 69 Plessner, Stufen des Organischen, S. 292. 70 Ebd., S. 270 f.
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pelaspekts von sinnhaftem Handeln und leiblicher Natur: Alles Handeln verfügt frei über den Körper als Instrument. Als Natur aber ist der Mensch Teil eines Körpers, aus dessen Haut er nicht heraus kann. Diese Schwellenposition des Menschen darf allerdings nicht zu einer Schöpferposition uminterpretiert werden. Aber das ist etwa der Fall, wenn die Möglichkeit des Menschen, über Naturbedingungen Wissen zu erlangen, dieses Wissen in Technik zu übersetzen und Natur konstruktiv, kulturellen Werten und Entscheidungen folgend zu manipulieren in die These umgewandelt wird, in allem was sichtbar sei erschienen zumindest der Möglichkeit nach Konstruktionen des Menschen. Natur wird damit zum bloßen Potential einer beliebigen Umformung, Geschichte zum Vollzug der Umwandlung von Natur in Gesellschaft. Die Schwellenpositon des Menschen wird damit aufgehoben; er wird zum schöpferischen Zentrum einer sich in ‚sozialen Konstruktionen‘ aufhebenden Welt. Dann erscheint nur noch Soziales, Kulturelles, Historisches – und im Mittelpunkt der Gesellschaft, der Kultur und der Geschichte steht der Mensch. Das ist die große Gefahr des anthropologischen Diskurses – die Umdeutung ‚des Menschen‘ zu einem metaphysischen Wesen, das in der Mitte der Gesellschaft steht und, wie die Spinne in der Mitte ihres Netzes, alle Fäden kontrolliert. Seine Naturseite, die Tatsache, dass er auf der Schwelle zwischen sinnlicher Erfahrung und sinnhaftem Handeln steht wird dann unterschlagen. Sinnlichkeit und Sinn sind jedoch nicht aufeinander reduzierbar. Erfahrung konstituiert keinen Raum, in dem das ‚Wesen des Menschen‘ sich selbst begegnet. Das bedeutet auch, dass die Erfahrung ihm immer aufs neue Anlässe bietet, gesellschaftlich-kulturelle Sinnkonstruktionen und damit auch die Welt- und Selbstverhältnisse des Subjekts zu verändern und zu verschieben. Insofern ist der Mensch nicht auf ein festes Wesen und eine diesem Wesen entsprechenden Form der Subjektivität festgelegt. Daher ist nicht ausgemacht, wohin die Reise geht; nur wohin sie nicht geht, das ist klar: Die menschliche Geschichte wird ihn „niemals vor etwas stellen, das ‚der Mensch‘ wäre.“71 Die Festschreibung ‚des‘ Menschen, auf eine „eindeutige Fixierung der eigenen Stellung“72 bleibt in der hier vorgeschlagenen Sichtweise illusionär. Durch das Beziehen der Differenz von Erfahrung und Deutung auf die exzentrische Positionalität des Menschen wird einer Soziologie, die Gesellschaft als Gefüge sinnhafter gesellschaftlicher und sozialer Handlungen von Menschen versteht, die Möglichkeit zugänglich, Gesellschaft nicht nur als selbstreferentiellen Sinnzusammenhang zu denken und die Konstitution von 71 Michel Foucault, Der Mensch ist ein Erfahrungstier, Frankfurt am Main 1996, S. 85. 72 Plessner, Stufen des Organischen, S. 342.
V. Die Schwellenposition ‚des Menschen‘
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Gesellschaft nicht allein auf Soziales zu beziehen. Die hier skizzierten Überlegungen verfolgen daher die Absicht, auf ein Problem aufmerksam zu machen, das sich im Kontext der sozialwissenschaftlichen Rede über Gewalt und ihre Folgen stellt. Dieses Problem wird durch die Existenz von Erfahrungen gekennzeichnet, die sich dem sozialen Bedeutungshorizont nicht fügen und doch Einfluss auf ihn ausüben. Es handelt sich also um die Wirkung nicht ‚sozial konstruierter‘ Phänomene auf Gesellschaft. Das angebotene Modell liefert eine Möglichkeit, dieses Problem zu denken. Zwar konstituieren moderne Gesellschaften sich explizit durch Diskurse über und Wissen von ‚Gesellschaft‘, aber durch die Lösung von der Vorstellung, Erfahrung sei eine soziale Konstruktion wird es soziologisch möglich, Materialität, Präsenz und Ereignis in ihrem Zusammenspiel mit dem Diskursiven als begründende Momente moderner Gesellschaften zu erfassen. Damit stehen die theoretischen Mittel bereit, Körperlichkeit, die Materialität von Sachen, das Ereignis der Verletzung usw. bei der Analyse gesellschaftskonstitutiver moderner Kriegsdiskurse mitzudenken und es damit zu vermeiden, bei dieser Diskursbeobachtung ausgerechnet die Dimension der Gewalt abzublenden. Im nächsten Kapitel geht es daher darum, das Verhältnis zwischen leiblicher Präsenz, dem Ereignischarakter von Handlungen und der Materialität des Technischen einerseits und dem Diskursiven andererseits zu präzisieren.
B. Zwischen Diskurs und Erfahrung. Zur Problematik des Gewaltbegriffs Von der Dichotomie zwischen Erfahrung und Deutung ausgehend soll im Folgenden deutlich gemacht werden, dass im Zusammenhang der Analyse gesellschaftskonstitutiver Kriegsdiskurse die Präsenz (des Leibes), das Ereignis (der gewaltsamen Handlung) und die Materialität (der technischen Mittel) zu berücksichtigen sind. Im Anschluss an diese Diskussion wird nach der Möglichkeit einer Einbeziehung der Gewalt in den soziologischen Handlungsbegriff gefragt. In diesem Buch wird davon ausgegangen, dass Gewalterfahrung nicht in gesellschaftlichen Sinnkonstruktionen aufgeht, sondern sie in Frage stellt und dadurch Problematisierungs- und Resignifiktionsprozesse provoziert. Das hat auch zur Folge, dass der soziologische Begriff der Gewalt sich nicht lediglich in der diskursiven Bedeutungsdimension dessen, was gesellschaftlich als ‚Gewalt‘ gilt, erschöpfen kann. Sowohl die Natur des Krieges als auch die Funktion moderner Kriegsdiskurse werden daher nur verständlich, wenn das Problem der Gewalt berücksichtigt wird.
I. Verletzung und Körper Gewalt verweist unmittelbar auf die Verletzungsoffenheit und -mächtigkeit des menschlichen Körpers. Da Krieg systematisch Gewalt einbezieht und Kriegsdiskurse aus einer Position der Verteidigung sprechen, ist die Möglichkeit, das Sichäußern des Leibes im Kontext des Gewalterleidens begrifflich zu erfassen, eine notwendige Bedingung, um Diskurse über Krieg analysieren zu können. Dabei wird der Begriff der körperlichen Verletzung im Folgenden durch eine kritische Auseinandersetzung mit Judith Butlers Überlegungen zur sprachlichen Verletzung und durch Bezug auf Didier Anzieus psychoanalytische Theorie des Haut-Ich und Helmuth Plessners Leibkörperbegriff gewonnen. In der Regel wird Butlers Geschlechtertheorie im Sinne eines reinen diskurs- und machttheoretischen Konstruktivismus verstanden. Dabei wird davon ausgegangen, dass Geschlecht und körperliche Erscheinung bloße Materialisierungen von gesellschaftlichen Diskurs- und Machtordnungen seien. Weil der erscheinende Körper dann nichts anderes als materialisierte Norm
I. Verletzung und Körper
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und soziale Konstruktion sein kann, sei diese Rede von der Zurichtung entgegen ihrer kritischen Absicht von einem Fatum der Ausweglosigkeit gezeichnet.1 Entgegen dieser Rezeption, betont Butler auf kritische Nachfrage ausdrücklich eine Widerständigkeit des Körpers. Demnach ist der Körper „nicht einfach ein Set von sedimentierten Sprechakten“: „Tatsächlich [. . .] wirken Normen auf den Körper ein und informieren, strukturieren und modellieren ihn oder geben seiner Form Bedeutung. Aber der Körper ist in gewissem Sinne auch da, um sich zu verhalten, um interpretiert zu werden, und da gibt es Widerstand und Materialität, die nicht vollständig durch Normen materialisiert wurde.“2
Diese Äußerung steht in merkwürdiger Weise quer zu der These der sozialen Konstruktion des Geschlechtskörpers qua Verkörperlichung von Machtdispositiven und dem gleichzeitig utopischen Versprechen einer aktiven Konstruierbarkeit des Körpers qua subversiver Umcodierung des Geschlechterdiskurses. Die widerständige Präsenz des Körpers, auf die Butler hier verweist, eröffnet eben die Möglichkeit, ihn in andere Sinnbezüge einzustellen. Aber was heißt das? Wird damit die konstruktivistische Einschreibungstheorie dementiert, wonach den Äußerungen des Körpers eine gesellschaftliche Zurichtung zugrunde liegt? Im komplexen Verhältnis von Körper, Diskurs und Macht entsteht nach Butler das, was die Subjekte unter ‚ihrem‘ Geschlecht verstehen. Der Sinnhorizont des handelnd-intentionalen Verhältnisses zu sich selbst und zu anderen, das in der Gesellschaft nicht unwesentlich auch über Vorstellungen und Bilder von Geschlechtlichkeit vermittelt wird, erwächst nicht aus der Natur der Körper, sondern gilt als eine künstliche Wirklichkeit und insofern als Ergebnis eines gesellschaftlichen Prozesses. Butlers Credo ist dabei die Kritik des Körperpositivismus, demzufolge der Diskurs über den Leib abbildet, was die Natur vorgibt. Damit zeigt sie gerade, dass die im Diskurs hergestellte und mit Sinn aufgeladene, scheinbare ‚bloße Natur‘ nicht mit der Erscheinung des Körpers zusammenfällt. Der direkte theoretische Zugriff auf das Ansichsein des Körpers ist verwehrt, ja mehr noch, er ist Ideologie: Diskursivierte ‚Natur‘ nicht zu gesellschaftlichen Anordnungen in Beziehung zu setzen, führt dazu, die Macht des erscheinenden Körpers zu negieren und ganz der Macht des Wissens über die ‚Natur‘ zu unterwerfen. ‚Natur‘ und ‚Diskurs‘ sind dann identisch; die Möglichkeit eines sich zeigenden Leibes wird negiert. 1
Mersch, Was sich zeigt, S. 68 f. Judith Butler/Hannelore Bublitz, Ein Interview mit Judith Butler, in: Hannelore Bublitz, Judith Butler zur Einführung, Hamburg 2002, S. 123–133, hier S. 130. 2
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B. Zwischen Diskurs und Erfahrung
Diese Kritik des Naturalismus meint daher gerade nicht, dass der Körper als vollständig mit Normen und gesellschaftlichen Bedeutungen ausgegossene Lebensmaterie zu denken wäre. Deshalb zeigt sich Körperlichkeit gegenüber den diskursiven Anrufungen widerständig: „Die Beziehung zwischen Sprechen und Körper ist chiastisch. Sprechen ist körperlich, aber der Körper geht über das Sprechen hinaus, das er hervorbringt.“3
Was allein diskurskonstruktivistisch nicht erklärt werden kann, ist das, „was bei einer Anrufung [des Körpers durch eine verletzende Äußerung] zusammenbricht und eine Entgleisung von innen her ermöglicht.“4 Weil der angesprochene Körper nicht nur einfach ‚nachspricht‘, was gesellschaftlich über ihn gesagt wird, öffnet sich die Spannung zwischen Körperlichkeit und symbolischer Ordnung. Damit erscheint der Leib bei Butler als Widerständiges in der Sprache – als Störung im Kanal des Sinns. Diskurse und Machtordnungen können auf den Leib nicht derart widerstandslos aufgetragen werden, wie der Lack auf die Autokarosserie. Zwar weist der Diskurs dem Körper eine „gesellschaftliche Existenz“ zu, aber „Sprache erhält den Körper nicht, indem sie ihn im wörtlichen Sinne ins Dasein bringt oder ernährt.“5 Zu beachten ist dabei allerdings, was ‚gesellschaftliche Existenz‘ meint: Es meint die soziale Anerkennung des Lebens eines individuellen oder kollektiven Subjekts, so wie es sich selbst versteht. Durch sprachliche Mittel ist es möglich, gesellschaftliche Teilhabe zu mindern, das heißt nach Butler ‚zu verletzen‘. Was Butler „Verletzung“ nennt, entspricht dem, was für Heinrich Popitz „Minderung der sozialen Teilhabe“6 und für Giorgio Agamben „Bann“ heißt. Der Bann ist eine soziale Beziehung der Verlassenheit, die aber gerade dadurch das Leben in die gesellschaftliche Machtordung einschließt.7 Der Bann kann den Körper ins Spiel bringen. So wurden Verbannte bis in die Neuzeit hinein durch Blenden, Handabschlagen, Abschneiden der Finger, der Ohren oder Zunge und Brandzeichen auch körperlich gezeichnet.8 Allerdings impliziert die Minderung sozialer Teilhabe nicht unmittelbar und notwendig körperliche Gewalt, sondern zunächst ist sie eine „Machtaktion“, der die Fähigkeit zugrunde liegt, über sozialen Einschluss und Ausschluss zu entscheiden.9 3
Judith Butler, Hass spricht. Zur Politik des Performativen. Berlin 1998, S. 220. Ebd. 5 Butler, Hass spricht, S. 14. 6 Popitz, Phänomene der Macht, S. 45. 7 Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt am Main 2002, S. 39. 8 Richard von Dülmen, Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafrituale in der frühen Neuzeit, München 41995, S. 68–71. 4
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Butler geht es also nicht um die Verletzung im wörtlichen Sinne, sondern um Diskursmittel zur Minderung sozialer Teilhabe. Diese ‚Verletzbarkeit‘ wird bei der Anrede mittels einer gewaltsamen und/oder hasserfüllten Rhetorik enthüllt.10 Die Sprache macht dann offenbar, dass der Körper des Einzelnen immer der Macht der Anderen ausgeliefert ist. Es wird deutlich: „Die Sorge, Furcht, Angst voreinander ist als ein Modus des Vergesellschaftet-Seins niemals ganz wegzudenken. Zusammenleben heißt stets auch sich fürchten und sich schützen.“11 Allerdings darf man die in der Sprache des Hasses offenbar gemachte, prinzipiell prekäre gesellschaftliche Situation des Menschen nicht schon selbst für einen manifesten Gewaltakt halten. Dies wird deutlich, wenn man näher analysiert, was ‚Verletzung‘ meint. Verletzung lässt sich in Anlehnung an die psychoanalytischen Ausführungen Didier Anzieus als Aufhebung der Sicherheit der narzisstischen Hülle des Haut-Ichs begreifen. Das Haut-Ich fasst er als die psychische Repräsentation der emotional besetzten Grenzfläche zwischen innen und außen.12 Diese narzisstische Hülle umgibt den Menschen im gesellschaftlichen Leben. Als Wärmehülle zeugt sie „von einer ausreichenden narzisstischen Sicherheit und Besetzung des Bindungstriebes, um sich auf einen Austausch mit dem anderen einzulassen unter der Bedingung gegenseitigen Respekts der Einzigartigkeit und der Autonomie des anderen.“13 Als Kältehülle dagegen schützt sie ihn gegen gefährliche Reize der äußeren Welt. Obwohl die Kältehülle damit auch einen psychischen Schutz gegen Formen der sprachlichen Herabsetzung liefert, heißt das nicht, dass nicht soziale Mittel verfügbar wären, mit deren Hilfe dieser Reizschutz durchbrochen werden kann. Insbesondere die Zufügung von Schmerz eignet sich, um die umfassende und schützende Struktur des Haut-Ichs wirklich zu zerstören: „Der Schmerz sprengt das Netzwerk der Kontaktschranken, zerstört die Bahnungen, durch die die Wege der Reize festgelegt sind, er führt zu einem Kurzschluss bei der Umschaltung von Quantität in Qualität, hebt Differenzierungen auf, nivelliert die Unterschiede zwischen den psychischen Subsystemen und neigt zu Ausstrahlungen in alle Richtungen.“14 Aufgrund dieser entdifferenzierenden Wirkung haben intensive Schmerzen das Potential, das Subjekt seines Schutzes zu berauben. Verletzung meint demnach also das Beschädigen des Haut-Ichs durch das Durchbrechen der Kältehülle und steht in engem Zusammenhang mit der körperlichen Zufügung von Schmerzen. 9
Popitz, Phänomene der Macht, S. 44. Butler, Hass spricht, S. 25. 11 Popitz, Phänomene der Macht, S. 44. 12 Didier Anzieu, Das Haut-Ich, Frankfurt am Main 1996, S. 60. 13 Ebd., S. 228. 14 Ebd., S. 258. 10
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B. Zwischen Diskurs und Erfahrung
In ihrer Theorie der Verletzung durch Sprache nimmt Butler dagegen die metaphorische Bedeutung von Begriffen wie Schmerz und Verletzung bereits für die Sache selbst. Sie ignoriert damit die Bedeutung der körperlichen Dimension der Verletzung und hebt lediglich die sprachlich-soziale Dimension des Angriffs auf die narzisstische Hülle hervor. Ihr Werk Hass spricht analysiert in erster Linie sprachliche Machtverfahren, die auf die Beschädigung der gesellschaftlichen Integrität zielen, stellt sie aber als verletzende, das heißt gewaltsame Aktionen dar. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass gerade die Kältehülle des Haut-Ich Schutzmechanismen bereitstellt, um sich gegen die aggressive Anrufung abzudichten. Sprachliche Angriffe erreichen deshalb nicht automatisch ihr Ziel. Darüber hinaus liegt eine körperliche Verletzung nur vor, wenn der Angriff auf die gesellschaftliche Existenz mit Mitteln der Schmerzzufügung gepaart wird. Insofern Butlers Theorie einen Begriff des Körpers impliziert, der Leiblichkeit nicht ausschließlich als Verkörperung der symbolischen Ordnung behandelt, sondern im Erleiden einen wichtigen Antrieb sieht, gesellschaftlich-sprachliche Normierungen zu durchbrechen und damit bestehenden, aber sanktionierten Lebensweisen zur Anerkennung zu verhelfen, weist sie letztlich über einen reinen Diskurskonstruktionismus hinaus. Zwar argumentiert Butler, dass der Ort verletzender Erfahrungen nicht auf körperliche Unmittelbarkeit verweist, sondern auf „andere Diskurse, auf die Vielfalt der kulturellen Bedeutungen des Körpers, die nicht in verletzender Rede aufgehen.“15 Aber eine Argumentation, die den verletzten Körper in der Funktion einer veränderten Weichenstellung des Diskurses betrachtet, kann sich nicht allein auf die diskursiv-symbolische Sphäre beschränken. Denn wenn dem Körperlichen ein Potenzial eigen sein soll, die Verschiebung von Diskurs- und Machtanordnungen zu motivieren, dann wird eine sich zeigende Leiblichkeit unterstellt, die nicht in der Verkörperung von Sprache aufgeht: „Zwar sind den Körpern im Laufe ihrer individuellen wie sozialen Geschichte mannigfache Versehrungen und Schnitte zugefügt worden, gleichwohl gehen sie in keinem System der Zeichnung oder Repräsentation vollständig auf: Sie entziehen sich. Dies erhellt sich schon daraus, dass der eigene Leib nie nur als determinierende Struktur, als Schrift erfahren wird. Weder fügt er sich einem natürlichen Symbolismus noch den Insignien kultureller Einschreibung, auch wenn die Dressur unleugbar zu sozialen Existenz gehört.“16
Insbesondere verweist die körperliche Verletzung nicht auf andere Diskurse, sondern erscheint als ‚sinnlos‘. Äußerungen, in denen der Körper aus dem Gleis des Diskurses und der Normen springt, lassen sich nicht um15 16
Hannelore Bublitz, Judith Butler zur Einführung, Hamburg 2002, S. 97. Mersch, Was sich zeigt, S. 69.
I. Verletzung und Körper
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standslos in Sprache und Sinn auflösen. Wie Phänomene des Schmerzes oder der Scham usw. zu interpretieren sind, bleibt daher letztlich offen.17 Die in der Erfahrung erscheinenden körperlichen Äußerungen und Ausdrucksweisen müssen vielmehr als semantisch unterdeterminiert gelten. Gerade aber die Unterdeterminiertheit eines sich in der Erfahrung zeigenden leiblichen Äußerns provoziert kontextuelle soziale Akteure dazu, in welcher Form auch immer an die Störung der symbolischen-normativen Ordnung problematisierend und deutend anzuschließen. Insofern stellt die Präsenz des Leibes eine Bedingung der Möglichkeit dar, die gesellschaftlichen Diskursweichen zu verstellen, das heißt zu re-signifizieren. Das aber bedeutet, dass die Möglichkeitsbedingungen gesellschaftlichen Handelns nicht ausschließlich sprachliche sind. Insofern Butler trotz ihrer Reflexion über den Chiasmus zwischen Sprechen und Körper davon ausgeht, dass sich Handeln zureichend durch den Hinweis auf die Möglichkeiten und Beschränkungen des sprachlichen Feldes und seiner Macht beschreiben lässt, bleibt der Standort des Körpers in ihrer Theorie uneindeutig.18 Die Schranke zur Gewaltanwendung wird überschritten, wenn die ‚Kältehülle‘ des Subjekts durchstoßen wird. Es gibt allerdings keine allgemeine und objetivierbare Skala auf der die Beschädigung dieser Abwehrschicht eingetragen werden könnte. In einem Kontinuum des dosierbaren Übergreifens auf die Sphäre subjektiver Autonomie kommt es irgendwann einmal zur ‚Gewalt‘. Innerhalb dieses Kontinuums ist nicht allgemein bestimmbar, wo Gewalt beginnt. Deshalb ist körperliche Verletzung niemals etwas ‚bloß Körperliches‘, sondern verweist vielmehr auf den Zusammenhang von Leiberfahrung, Haut-Ich und subjektiver Sinngebung. Aufgrund dieses Zusammenhangs ist sie zugleich von einer spezifischen Qualität, die Sprache allein nicht erreichen kann. Diskurse können verschoben, ironisch gewendet, angeeignet werden, aber weil wir „uns in der Beziehung zu einer anderen Person nicht aus unserem Körper zurückziehen“19 können, schafft die körperliche Verletzung eine soziale Faktizität, der nicht ausgewichen, die nicht gewendet werden kann. Deshalb soll Popitz gefolgt werden, der den Begriff der Gewalt für die gewaltsame Verletzung des Leibes reserviert.20 Das hat zudem die Folge, dass der Gewaltbegriff eng gefasst wird. Weil mit dem Vorwurf der Gewalt inflationär Politik gemacht wird, besteht die Gefahr, dass es ansonsten nicht mehr möglich ist, Gewaltverhältnisse in ihrer spezifischen Qualität zu markieren.21 17
Richard Sennett, Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation. Frankfurt am Main 1997, S. 463. 18 Butler, Hass spricht, S. 29. 19 Popitz, Phänomene der Macht, S. 45. 20 Ebd., S. 48. 21 Schelsky, Die Arbeit tun die anderen, S. 389–398.
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B. Zwischen Diskurs und Erfahrung
Noch schwieriger als Gewalt zu definieren ist es, einen Begriff kollektiver Verletzung zu bestimmen. Auch hierbei sind die Momente der Schadenszufügung und -erleidung zu trennen. Allerdings kann das gesellschaftliche Kollektiv im hier gemeinten Sinne keine ‚Erfahrungen‘ machen, da diese immer subjektiv sind. Der Begriff der Gewalt basiert darauf, dass Individuen verletzt werden bzw. Verletzungen zufügen. Kollektive ‚Gewalterfahrung‘ kann dagegen nur in diskursiv-medialer Vermittlung ‚gemacht‘ werden. Im Rahmen des Gesellschaftlichen geht es um die diskursive Konstruktion einer Sinnwirklichkeit, die als eine Gewaltsituation gilt. In diesem Kontext bekommen symbolische Verletzungen eine besondere Bedeutung. Ob ein Mitglied des eigenen Kollektivs getötet wird (oder tötet) wird nur als Verletzung (oder Tat) des Kollektivs wahrgenommen, wenn dieses Mitglied in irgendeiner Weise für das Ganze steht. In dieser symbolischen Struktur entfalten gerade gewaltsame körperliche Verletzungen eine besondere Wirkung. Sie geben der Bedeutung gewissermaßen „Existenz“, weil die Bedeutung die Last der Gewalt trägt bzw. der Spur der Verletzung folgt.22 Dabei wird die diskursive Bedeutung nicht durch die Verletzung determiniert, denn fließendes Blut kann sowohl die existenzielle Gefährdung der ‚organischen Solidarität‘ der Gesellschaft zum Ausdruck bringen, als auch dazu dienen, die Sinnlosigkeit eines Krieges anzuprangern. Im Rahmen einer auf Krieg und Gewalt bezogenen konstitutionssoziologischen Fragestellung muss dem Sichzeigen des Leibes ein gesellschaftlicher Raum zugebilligt werden. Mit der bloßen Erwähnung ist es nicht getan, sondern es bedarf eines theoretischen Rahmens, der die sich entziehende Phänomenalität der Verletzung als Konstitutionsbedingung gesellschaftlichen Handelns fassen kann. In dem hier entworfenen Modell ist das möglich, weil es um das in die Spannung von Erfahrung und Deutung eingestellte Handeln sich vergesellschaftender Subjekte kreist. Die im Rekurs auf diese Dichotomie zum Ausdruck kommende Skepsis gegenüber verkürzenden sprachtheoretischen Konstruktionismen teilt auch Helmuth Plessner. Seine negative Anthropologie markiert sehr genau das problematische Verhältnis von Leib und Gesellschaft bzw. Körper und Diskurs. Nach Plessner definiert sich organische Körperlichkeit generell durch ein aktives Verhältnis des lebendigen Organismus zu seinen Grenzen, das heißt der Körper hört nicht einfach auf, sondern eine Grenze, die durch Stoffwechselprozesse markiert wird, trennt innen und außen.23 Für Menschen gilt, dass sie diesen Doppelaspekt von innen und außen nicht bloß leben (wie etwa Pflanze oder Tier), sondern reflexiv erfassen und damit 22 23
Scarry, Körper im Schmerz, S. 198. Plessner, Stufen des Organischen, S. 103 f.
I. Verletzung und Körper
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auch gesellschaftlich konstituieren. Der Mensch ist ein Tier, welches sich von sich distanzieren kann und muss, um leben zu können. Damit ist er unhintergehbar auf Gesellschaft, Geschichte und Technik verwiesen. In diesen gesellschaftlich-historischen Kontexten konstituiert menschliche Leiblichkeit sich durch den permanenten sinnhaft-handelnden Bezug auf sich selbst und die Welt. Ohne Einbettung in soziale Beziehungen, gesellschaftliche Institutionen, kulturelle Diskurse und dingliche Sachverhältnisse, die dieses körperliche Selbst- und Weltverhältnis regulieren, kann der Mensch für seinen Körper keine Grenze markieren. Diese Grenze – und damit der Mensch – ist daher immer zugleich etwas Leibliches und etwas Kulturelles. Dass der Mensch in die Grenze von innen und außen gesetzt ist, heißt gerade auch, dass es keinen festen Gleichgewichtszustand geben kann, den ‚der Mensch‘ – identisch mit sich selbst – einnehmen könnte. Die Fixierung in einer symbolischen Identität als ‚Natur‘ des Menschen bleibt auf immer verwehrt. Das durch diese problematische Positionalität eröffnete energetische Potential kann sich in zwei Richtungen entfalten: zum einen als Verfügung über den Körper als Instrument des Subjekts (Körper-Haben); zum anderen als Emanzipation körperlicher Vorgänge vom Subjekt (Leib-Sein). Im zweiten Fall hat der Mensch „das Verhältnis zu seiner physischen Existenz verloren, sie entzieht sich ihm und macht mit ihm gewissermaßen, was sie will. Gleichwohl empfindet man diesen Verlust als Ausdruck und Antwort auf eine entsprechende Situation.“24 Eben das In-der-Grenze-Stehen des Menschen ermöglicht es also, dass Leiblichkeit sich an sich selbst äußert, ohne dass die Antwort umstandslos diskursiv auflösbar wäre. Dieses Antworten des Körpers ist nach Plessner Ausdruck von inneren „Katastrophen“ – mit Butler: „Entgleisungen von innen her“ –, in denen der ‚Sinn‘ versagt und das Subjekt die Kontrolle verliert. Plessner entwickelt dies am Beispiel des Lachens und des Weinens. Aber auch Angst, Schmerz, Wut oder Ekstase lassen sich als leibliche Äußerungsweisen begreifen, in denen das bewusste Subjekt zurücksteckt. Die Entgleisungen des Körpers sieht Plessner dabei als Konstitutionsbedingungen neuen sozialen Sinns. Die „Ungeprägtheit“, „Unartikuliertheit“ und „Sinnlosigkeit“ leiblicher Äußerungsweisen verlangen demnach nach Interpretation, Bedeutungszuschreibung bzw. Disziplinierung und überschreiten diese zugleich.25 Plessners Ausführungen bestätigen also die hier vorgetragene Forderung, dass das unartikulierte Sichzeigen des Leibes für das Verständnis sozialer 24
Helmuth Plessner, Lachen und Weinen. Eine Untersuchung der Grenzen menschlichen Verhaltens, in: Helmuth Plessner, Gesammelte Schriften, Bd. 7, Frankfurt am Main 1982, S. 201–387, hier S. 274. 25 Ebd., S. 276.
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B. Zwischen Diskurs und Erfahrung
Bedeutungen und gesellschaftlich-symbolischer Ordnungen relevant ist, dass Gesellschaft nicht nur Sprache ist. Gerade im Angesicht kriegerischer Gewalt schweigt der Leib nicht, durch seine Verletzung oder in der Todesangst wird er zur Äußerung herausgefordert. Deshalb unterliegt der Körper des Soldaten einer vielfältigen und gesteigerten diskursiven und machttechnischen Formierung.26 Ähnliches gilt für öffentliche moderne Kriegsdiskurse. Sie erzeugen keine bloßen sozialen Konstrukte des Krieges, sondern referieren auf die leiblichen Aspekte von Gewalterfahrung und transformieren diese in gesellschaftlich-kollektiven Sinn. Die diskursive Macht dieser Transformation wird ohne Bezug auf den existentiellen Charakter der leiblichen Äußerungsweisen in der Gewalterfahrung nicht verständlich. Weil Kriegsdiskurse den sozialen Kollektivsinn in Verletzungen verkörpern, sind sie wirksame Mittel, um gesellschaftskonstitutive Bedeutungen zu verstärken. Bei der Untersuchung solcher Redeweisen ist Leiblichkeit daher als eine unhintergehbare Konstitutionsbedingung für gesellschaftliche Sinnkonstruktionen zu berücksichtigen. Allerdings gelingt es modernen Kriegsdiskursen nicht, eine feste semantische Form für die Gewalterfahrung zu gießen. Was sich am Verhältnis von Diskurs und Körper im Zusammenhang mit Gewaltinstitutionen zeigt, ist, dass Körperlichkeit nicht rein diskurs- oder sprachtheoretisch als soziale Bedeutungskonstruktion eingefangen werden kann. Verletzen impliziert immer eine leibliche Faktizität. Und umgekehrt lassen sich die Äußerungsweisen des Leibes im Angesicht der Gewalt nicht lediglich als Aktualisierung anderer gesellschaftlicher Diskursmöglichkeiten begreifen. Vielmehr müssen sie als ein aus dem Inneren des Leibes kommendes Zerbrechen des sozialen Sinns angesehen werden. In der eigenleiblichen Erfahrung tritt damit etwas entgegen, das nicht in Sprache bzw. kulturell-historischen Kontexten aufgeht.
II. Ereignis und Spur Gewalt hinterlässt eine kulturelle Spur. Die Verwundungen der Geschichte im kollektiven Gedächtnis können deshalb nicht als bloße Konstruktionen des Diskurses gelten. Dies soll im Anschluss an Überlegungen Dieter Merschs und Vladimir Jankélévitchs deutlich gemacht werden. Prinzipiell gilt für jede vollzogene Handlung, dass sie eine unhintergehbare Setzung darstellt. Dieter Mersch erläutert dies am Beispiel des Sprechaktes: Im Ereignis der Setzung offenbart sich „das ‚Dass‘“ der Anwesenheit eines Zeichens. Dieses Ereignis markiert „den Unterschied zum ‚Was‘ ihres 26 Ulrich Bröckling, Disziplin. Soziologie und Geschichte militärischer Gehorsamsproduktion, München 1997, S. 10.
II. Ereignis und Spur
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Inhalts“ und ist der Ursprung der Performativität der Zeichen, also ihres Handlungscharakters.27 Das Ereignis einer Handlung drängt sich dann in den Vordergrund der Erscheinung, wenn die alltäglichen Erwartungen und Abläufe gestört werden, kurz: wenn ein größerer oder kleinerer Ausnahmezustand eintritt: „Die Sprache ist [. . .] nicht nur der Ort eines Austauschs kollektiver Bedeutungen als Konstitution von Gesellschaftlichkeit [. . .]: Sie vollbringt sich als fortwährendes Ereignen, die die Unmöglichkeit ihrer Negation schon in sich schließt. Die Brisanz dieses Umstandes enthüllt sich vor allem im Falle von Verletzungen: Ein unbedachtes Wort, eine hingeworfene Gedankenlosigkeit oder eine wohlkalkulierte Spitze können, einmal ausgesprochen, eine Katastrophe auslösen und es fällt schwer, ja es bleibt im Grunde aussichtslos, sie je aus der Welt zu schaffen. Eine Äußerung ist getan und kappt das Band einer Beziehung, das sie zu stiften vorgibt, vielleicht sogar grundlos und wider Willen; und jede Abbitte, Erklärung oder Beschwichtigung gelingt nur durch die Verschiebung der ursprünglichen Tat, die sie erneuern muss, um sie auszustreichen.“28
Da alles soziale und gesellschaftliche Handeln auf Sinn zurückgeht, das heißt auf Absichten, Motive, Intentionen, Zwecke oder Erwartungen, und jede Kommunikation auf Sinnverstehen beruht, stehen materiell vollzogene, erfahrbare Handlungen für einen Sinn. Nur deshalb ist es überhaupt möglich, soziales Handeln interpretierend zu erfassen und sinnhaft in irgendeiner Weise an es anzuknüpfen. Aber für alle Arten von Handlungen gilt, dass das Ereignis ihrer Setzung, sofern es einer Erfahrung gegeben ist, nicht auszulöschen ist. Es kann verleugnet, uminterpretiert, vergessen, das heißt durch ein anschließendes Machen bearbeitet werden, aber die „Tatsache des Gemacht-Habens [. . .] kann nicht ‚entmacht‘ werden, sie ist schlichtweg unzerstörbar“.29 Dies wird besonders deutlich im Falle des Gewalthandelns, also eines Handelns, welches die Verletzung oder sogar Tötung eines Anderen im Sinn hat. Die Resultate der Gewalt sind nicht rückgängig oder ‚wieder gut‘ zu machen. Möglich erscheint lediglich ein Verwinden der Verletzung und der damit verbundenen Schmerzen.30 Ist der Tod die Folge der Gewaltanwendung, wird an diesem Ergebnis die Irreversibilität der Handlung besonders augenfällig. Diese Unwideruflichkeit hinterlässt eine Spur: „Das Blut an Macbeths Händen kann abgewaschen werden; der unsichtbare Fleck aber, den das Verbrechen auf der verbrecherischen Seele hinterlässt, kann nicht reingewaschen werden, ‚what’s done is done‘, sagt Lady Macbeth.“31 27
Mersch, Was sich zeigt, S. 165. Ebd., S. 182. 29 Vladimir Jankélévitch, Der Tod, Frankfurt am Main 2005, S. 402. 30 Hans-Georg Gadamer, Schmerz. Einschätzungen aus medizinischer, philosophischer und therapeutischer Sicht, Heidelberg 2003, S. 27. 28
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B. Zwischen Diskurs und Erfahrung
Theodor W. Adorno wertet die in der deutschen Bevölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg weit verbreiteten Versuche, die Schuld an der Vernichtung der europäischen Juden mit anderen Gewaltereignissen des Krieges aufzurechnen, denen deutsche Zivilbevölkerung zum Opfer fiel, als „Zeichen eines psychisch Nichtbewältigten, einer Wunde, obwohl der Gedanke an Wunden eher den Opfern gelten sollte.“32 Die Spuren der Gewalt können sichtbare sein – Verstümmelungen, Narben, Behinderungen. Es bleibt aber auch eine unsichtbare, eine intelligible und seelische Spur zurück. Das aber heißt, dass die Wirkungen der Gewalt nicht der beliebigen Verfügung durch Diskurs, Macht und Gesellschaft offen stehen. Gesellschaftliche Erinnerungsdiskurse und kollektives Gedächtnis sind zwar aktive Deutungsproduzenten, aber der Sinn, den sie konstruieren, muss einer Spur folgen und ist daher keine bloße ‚Erfindung‘. Zu welchem Ziel Erinnerungsdiskurse der Spur der Gewalt folgen, bleibt allerdings von den historischen und gesellschaftlichen Umständen abhängig, denn die Gewalterfahrung drückt nicht bereits einen Sinn aus. Dabei kann sogar strittig sein, ob die Gewalt überhaupt einen positiven Sinn hatte. Erlittene Gewalt kann als Opfer, Martyrium oder Heldentum gedeutet werden. Es kann aber sein, wie etwa in Bezug auf Auschwitz argumentiert wird, dass die Gewalt nicht mehr als Sinnbild für eine Kollektividentität begriffen werden kann.33 In den Spuren der Gewalt im kollektiven Gedächtnis manifestiert sich die spezifische Ereignishaftigkeit von verletzenden Handlungen. Die Gewaltspuren können nicht beliebig ausgelöscht, allerhöchstens kulturell verarbeitet werden. Gesellschaftliche Diskurse können die Täter- und Opferdimensionen von Gewalterfahrungen weder beseitigen, noch umgehen, noch nach Gusto ‚konstruieren‘. Wegen der Eindringlichkeit der Erfahrungen und den Traumata, die sie nach sich ziehen, drängen sie sich auch diskursiv immer wieder in den Vordergrund. Die Gravitationskraft der Gewalt auf kollektive Konstitutionsprozesse ist daher nicht zu unterschätzen.
31
Jankélévitch, Der Tod, S. 402. Theodor W. Adorno, Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit, in: Theodor W. Adorno: Eingriffe. Neun kritische Modelle, Frankfurt am Main, S. 125–146, hier S. 127. 33 Jean-François Lyotard, Streitgespräche, oder: Sprechen „nach Auschwitz“, Grafenau 21995. 32
III. Sachen, Dinge und soziale Bedeutung
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III. Sachen, Dinge und soziale Bedeutung Für das Verständnis moderner Kriegsdiskurse ist weiterhin wichtig, dass die Erfahrungsdimension von hergestellten Artefakten nicht unter gesellschaftlichen Bedeutungskonstrukten zum Verschwinden gebracht wird. Da auch die Waffe ein Artefakt bzw. eine Sache ist, soll im Folgenden in Anlehnung an Plessner ein Begriff von Sachen entwickelt werden, der mit der hier vorgestellten Dichotomie von Deutung und Erfahrung vereinbar ist. Anhand der Kritik an der von Peter Berger und Thomas Luckmann am Beispiel ‚des Messers‘ entwickelten Symboltheorie der Sachen soll auf die Rolle der Materialität der Waffen hingewiesen werden. Gegenstände der Erfahrung haben die Kraft, gesellschaftliche Deutungsmuster und Sinnzuschreibungen zu brechen, zu stören, herauszufordern oder sich ihnen zu widersetzen. Das heißt aber nicht, dass diese Sinnzuschreibungen es nicht ermöglichen würden, über Erfahrungsgegenstände handelnd zu verfügen. Die Verursachung aus Freiheit schließt begrifflich gerade die Möglichkeit ein, Wirkungen hervorzubringen.34 Dieses Verhältnis von widerständiger Erfahrungswirklichkeit auf der einen und sinnhaft handelndem Verfügen auf der anderen Seite hat Plessner präzise beschrieben. Den Objekten der sinnlichen Erfahrung ist demnach eine „innere Selbstgenügsamkeit“ eigen.35 Diese Selbstgenügsamkeit der Erfahrungsdinge kann als Metapher für die Differenz von Erfahrung und Bedeutung aufgefasst werden. Dabei schließt dingliche Selbstgenügsamkeit soziale Verfügbarkeit (etwa im Sinne von ‚aus dem Weg räumen‘) nicht aus, sondern vielmehr ein. Aber schon in dem einfachen Fall des Aus-dem-Weg-Räumens tritt dem Menschen die Gegenständlichkeit der Sache entgegen. Verfügen impliziert den Einsatz körperlicher Kraft und intellektueller Anstrengung und bezeugt damit die Gegenständlichkeit oder Dinglichkeit des Artefakts, die sich in der menschlichen Erfahrung immer mitzeigt.36 Selbst solchen Sachen, die im Hinblick auf einen sehr speziellen Zweck erzeugt worden sind, ist diese Art der Fremdheit eigen. Während der Handhabung des Artefakts wird sie deutlich, wenn dieses sich der subjektiven Absicht entzieht. Obwohl im Falle technischer Apparate der Verfügungszweck gewissermaßen in die Sache eingebaut wurde, kann diese ihn nur ermöglichen. Während sich die Sache als Erfahrungsgegenstand den subjektiv-sinnhaften Zwecken also einerseits entziehen kann, gibt sie andererseits aus demselben Grund verschiedene Möglichkeiten der Verwendung frei. 34 35 36
Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 491 (B565 f.). Plessner, Stufen des Organischen, S. 271. Ebd., S. 270 f.
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B. Zwischen Diskurs und Erfahrung
Mit ‚Sachcharakter‘ soll im Folgenden das verdinglichte, normativ-moralische Moment an den gemachten Dingen bezeichnet werden, also das, worin sich die Sachen als Erzeugnisse menschlicher Absicht und Arbeit erweisen und insofern bestimmte sinnhafte Modi des Umgangs mit ihnen nahelegen. Bei technischen Geräten lässt sich ihr Sachcharakter etwa durch eine Gebrauchsanleitung oder einen Schalt- bzw. Bauplan fixieren.37 Allerdings ist der Sachcharakter ein rein intelligibler Gegenstand, das heißt nichts, das der Erfahrung entgegenträte, sondern eine mit einer sinnlichen Erscheinung durch Konvention verbundene Sinnkonstruktion. Sachen begegnen etwa in der Art von ‚sperrigen‘ Erfahrungsdingen, wenn sie z. B. im Weg stehen und weggeräumt werden müssen. Dingcharakter ist ihnen jedoch auch eigen, wenn sie zweckgemäß eingesetzt werden. Denn sie determinieren das Handeln nicht, sondern eröffnen ein Feld möglichen Handelns. Kein zugeschriebener Sinn oder Sachcharakter, keine ‚Gebrauchsanleitung‘ kann den Prozess der sozialen und kulturellen Aneignung still stellen, der auf der Verbindung von Hardware mit kulturellen Symbolen beruht.38 Die Grenze zwischen sachgerechter Verwendung im Sinne der Bedienungsanleitung und dem kulturellen Détournement ist daher immer fließend; der Prozess der ‚sozialen Aneignung‘ prinzipiell unabschließbar. Möglich ist dies, weil die Sachen als Dinge sich den gesellschaftlichen Zuschreibungen immer auch versperren. Wegen dieser Offenheit gegenüber Gebrauchsweisen und Sinnzuschreibungen können empirische Gegenstände, seien sie nun hergestellte oder natürlich gegebene, nicht als sich ausdrückende Materialisierung oder Vergegenständlichung sozialen Sinns gelten, denn dann gäbe es diese Offenheit nicht. Gegenstände würden dann Normen und sozialen Sinn bereits in der Erfahrung darstellen. Wenn aber (normativer) Sinn zur Erscheinungstatsache erklärt wird, dann unterliegen auch Sinnanschlüsse der Zwangskausalität nach Ursache und Wirkung, nicht mehr der aus Freiheit. Menschliches Handeln wäre nicht mehr im Raum objektiver Möglichkeiten (Kontingenz), sondern im Raum objektiver Notwendigkeiten zu situieren. Einen verdinglicht-moralischen Zwang, so und nicht anders zu handeln, der von den Sachen ausgehen würde, kann es dagegen nicht geben, wenn man die Einheit der sinnlichen Erfahrung und ihre Differenz zur sinnhaften Deutung berücksichtigt. In Bezug auf die Sachen bezeichnet der Begriff der Materialität dieses gegenüber dem sozialhistorischen Prozess der ‚sozialen 37
Hans Linde, Sachdominanz in Sozialstrukturen, Tübingen 1972, S. 9. Aant Elzinga, Theoretical Perspectives: Culture as a Resource for Technological Change, in: Mikael Hård/Andrew Jamison (Hg.): The Intellectual Appropriation of Technology. Discourses on Modernity 1900–1939, Cambridge 1998, S. 17–31, hier S. 23 f. 38
III. Sachen, Dinge und soziale Bedeutung
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Konstruktion‘ völlig indifferente Moment der selbstgenügsamen Erscheinung und des Sichzeigens. Die Konstitution gesellschaftlichen Sinns sieht sich vielmehr auf diese Materialität verwiesen, weil Sachen als Erfahrungsgegenstände die Immanenz subjektiv-gesellschaftlicher Sinnkonstruktionen immer irritieren, indem sie Absichten durchkreuzen und etwa dazu auffordern, neue Wege zu probieren. Der Sachcharakter eines materiellen Dinges, auch wenn dieses ein Artefakt ist, ist eine gesellschaftlich zugesprochene Bedeutung. Wenn diese Bedeutung auch in vielen Fällen unstrittig ist, in allen ist sie es nicht. Ist sie unstrittig, handelt es sich eben um eine weitläufig geteilte gesellschaftliche Konvention. Aber für alle Sachen gilt, dass klar zwischen ihrer Materialität und der parallel zur sinnlichen Erfahrung dem Objekt zugesprochenen und dadurch quasi ‚verkörperten‘ Bedeutung unterschieden werden muss. Diese Unterscheidung mag sophistisch erscheinen, sie ist aber notwendig, wie anhand der Kritik einer sozialkonstruktionistischen Interpretation des Messers als Waffe durch Peter Berger und Thomas Luckmann deutlich gemacht werden soll. Berger und Luckmann verhandeln Artefakte unter dem Aspekt der von ihnen ausgedrückten Bedeutung. Sie gelten ihnen als Zeichen, wobei sie Zeichensysteme, insbesondere natürlich die Sprache, als grundlegende soziale Institutionen auffassen. Generell gelten ihnen Institutionen dabei als verfestigte Habitualisierungen, die zum Wissensvorrat einer ganzen Gesellschaft gehören und die in der Interaktion durch einen Prozess wechselseitiger Typisierung entstehen. Daher begreifen sie Institutionen als „Objektivationen menschlicher Subjektivität“.39 Die Situation, die Berger und Luckmann beschreiben, um den Zeichencharakter einer Sache zu zeigen, gestaltet sich folgendermaßen: „Nehmen wir an, ich hatte Streit mit einem Mann, der mir recht ‚ausdrücklich‘ Augenschein von seinem Zorn gab. In der folgenden Nacht erwache ich und entdecke ein Messer an der Wand über meinem Bett. Das Messer als Objekt drückt den Zorn meines Feindes aus. Es verschafft mir zu ihm als Subjekt Zugang, obwohl ich schlief, als er es warf, und obwohl ich ihn nicht sah, denn er floh nach diesem ‚Schein‘-Treffer.“ Dieses Messer drücke „eine subjektive Intention zur Gewalt aus, deren Motiv Zorn, aber auch Nutzen aus Gewaltanwendung sein kann“.40 Erstens ist entgegen dieser Darstellung durch die beiden Autoren der Sinngehalt der gesamten Anordnung nicht eindeutig determiniert. Wollte der Messerwerfer töten und es ist ihm nur nicht geglückt, oder wollte er 39 40
Berger/Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion, S. 37. Ebd.
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B. Zwischen Diskurs und Erfahrung
nur drohen und hat daher absichtlich nicht den Schlafenden, sondern die Wand getroffen? Je nach Interpretation, ergeben sich verschiedene Möglichkeiten des Anschlusshandelns durch den Nicht-Getroffenen. Es ist also gar nicht klar, was das Messer bedeutet und welche subjektive Absicht es objektiviert. Gerade als Zeichen (das heißt als Institution) ist es vielmehr sinnhaft unterdeterminierte Bedingung der Möglichkeit weiterer Handlungen durch den Nicht-Getroffenen. Zum Zweiten spielt die Materialität des Messers eine Rolle für die Bedeutungszuschreibung. Zwar können viele Gegenstände, Waffe sein. Aber nicht alle, die sich dazu eignen, zu verletzen oder zu töten, z. B. ein schwerer Kerzenständer, eignen sich in gleichem Maße zum symbolischen Gebrauch für eine Drohung. Dazu bedarf es eines Artefakts, welches die Drohung deutlich versinnbildlicht. Das Messer, die demokratische Waffe per se, weil sie jedermann benutzen kann und sie jederzeit verfügbar ist, eignet sich besonders, ein allgemeines Bedrohungsgefühl zu erzeugen.41 Diese Materialität der Waffe spielt eine wichtige Rolle, wenn sie zum Zeichen werden soll. Es ist die mit seiner sozialen Funktion verknüpfte sinnliche Materialität des Messers, welche die Möglichkeit des von Berger und Luckmann geschilderten Drohungsszenarios freigibt. Gleichwohl erzwingt das Messer diese Situation nicht. Die geschilderte Situation mit dem Messer in der Wand legt also eine Interpretation im Sinne Bergers und Luckmanns durchaus nahe. Allerdings fällt die Erscheinung mit der Interpretation nicht zusammen. Weder ist die Interpretation absolut zwingend, noch ist das Messer nur eine bloße Verdinglichung von Sinn. Es geht hier nicht um die Kritik der Vorstellung des Institutionalisierungsprozesses, sondern nur um die Idee, Institutionen seien Verdinglichungen von Subjektivität. Das sind sie allerdings nicht, denn wären sie es, wären sie (und damit Gesellschaft und Sinn) sichtbar. Materialisierungs-, Verdinglichungs- bzw. Objektivierungsprozesse verweisen lediglich auf intelligible Ursachen durch sinnhaftes Handeln. Die intelligible Ursache erlischt jedoch notwendig im sinnlichen Ergebnis. Das aber heißt, dass der Erscheinung eine soziale Bedeutung interpretierend unterstellt wird und nicht, dass die Erscheinung diese Bedeutung ‚ausdrückt‘. Die ‚Institution‘ ist in diesem Falle die gesellschaftliche Konvention, die es ermöglicht, begründet von einer gewissen Allgemeingültigkeit dieser Interpretation auszugehen. Das kritisierte Beispiel macht deutlich, dass die phänomenale Materialität hergestellter Objekte in ihrem instrumentell-zeichenhaften Sachcharakter nicht aufgeht. Vielmehr zeigt sich, dass eine Bedeutungs41
Sofsky, Gewalt, S. 29.
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zuschreibung von der sinnlichen Erfahrung gewissermaßen ‚frei gegeben‘ werden muss. Im Kontext der Kriegserfahrung wird die Materialität von Sachen in besonderen Ausmaß deutlich. Im Feuer tritt ‚das Material‘ in seinen Äußerungsweisen den fünf nach außen gerichteten Sinnen der Gegenständlichkeit entgegen. Diese Sinne versuchen zu erkennen, wo die Granate einschlägt, woher das Feuer kommt, wie nah der Panzer ist. „Dein Unbehagen konzentriert sich auf das Gehör, das das Heranflattern des Todbringers aus der Menge der Geräusche zu unterscheiden sucht.“42
Die geschärfte Sinnlichkeit im Raum der technischen Schlacht resultiert daraus, dass in diesem Kontext nicht nur die äußeren, sondern systematisch auch die inneren Sinne aufgerufen werden. Das Waffenenvironment, das auf Schädigung, Verletzung und Tötung abzielt, bringt Leib und Leben ins Spiel und aktiviert damit die Sinne der Zuständlichkeit, die Befinden (‚Unbehagen‘), Stimmung, Schmerz oder Wollust betreffen.43 In diesem Rahmen wird die materielle Wirkung von Sachen bzw. Waffen auf das Äußerste thematisch. Und wie sich gerade an den Diskursen nach dem Ersten Weltkrieg zeigt, fügt sich diese Wirkung nicht den auf sie bezogenen gesellschaftlichen Erwartungen, denn selbst die Experten wurden von der Materialwirkung überrascht. Erst im Laufe des Weltkrieges entwickelten sich ‚passende‘ taktische Konzepte.44 In diesem Kontext erweist sich Plessners Rede von der ‚inneren Selbstgenügsamkeit‘ der Sachdinge als sehr zivile Metapher. Die Materialität von Waffen reicht darüber hinaus. Eher erscheinen sie als eigensinnige „Aktanten“ (Bruno Latour), das heißt als Objekte, die in ein aktives Verhältnis zum handelnden Menschen eintreten.
IV. Zum soziologischen Begriff gewaltförmigen Handelns Dass das im Krieg unvermeidbare Hineintreten der Gewalt in personale oder kollektive Interaktionsprozesse einen körperfernen und auf sozialen Sinn zentrierten soziologischen Handlungsbegriff vor Probleme stellt, wird im Folgenden anhand der Auseinandersetzung mit Max Webers Begriff des sozialen Handelns deutlich. Die Logik strategischer Beziehungen wird dagegen nur mit einem Handlungsbegriff erfasst, der die Wirkung von systematisch schädigender, verletzender und tötender Gewalt reflektiert. Durch den Rückgriff auf Hans Joas Theorie des kreativen Handelns und Michel Fou42 Ernst Jünger, In Stahlgewittern. Aus dem Tagebuch eines Stoßtruppführers, Berlin 31922, S. 136 f. 43 Plessner, Anthropologie der Sinne, S. 383. 44 Stephen Biddle, Military Power. Explaining Victory and Defeat in Modern Battle, Princeton 2004, S. 30–34.
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caults Modell regulierender Macht lässt sich gewaltförmiges Handeln in einen allgemeinen soziologischen Handlungsbegriff integrieren und Gewalt als ein Instrument begreifen, mit dem Akteure auf das Wahrscheinlichkeitsfeld des (kreativen) Handelns Anderer einwirken können. ‚Handeln‘ soll der Definition Webers zufolge ein menschliches Verhalten heißen, „wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. ‚Soziales‘ Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist.“45 Soziales Handeln besteht also aus einzelnen, unterschiedlichen Akteuren zurechenbaren, sinnhaft aufeinander bezogenen Handlungen. Damit soziales Handeln zustande kommt, muss der Anschlusshandelnde das vorausgehende, geäußerte Handeln, auf das er sich bezieht, ‚verstanden‘ haben. Für den Begriff des sozialen Handelns benutzt Weber auch den des Gemeinschaftshandelns. Mit beiden ist dasselbe gemeint.46 Dazu heißt es bei Weber: „Von Gemeinschaftshandeln wollen wir da sprechen, wo menschliches Handeln subjektiv sinnhaft auf das Verhalten anderer Menschen bezogen wird. Ein ungewollter Zusammenprall zweier Radfahrer z. B. soll uns nicht Gemeinschaftshandeln heißen. Wohl aber ihre etwaigen vorherigen Versuche, einander auszuweichen, oder nach einem Zusammenstoß, ihre etwaige ‚Prügelei‘ oder ‚Verhandlung‘ über gütlichen ‚Ausgleich‘.“ 47
Webers Kategorie des ‚sozialen Handelns‘ greift damit auf Ferdinand Tönnies’ idealtypischen Begriff der Gemeinschaft zurück, die „von der vollkommenen Einheit menschlicher Willen als einem ursprünglichen oder natürlichen Zustande“48 ausgeht und unterstellt dem sozialen Handeln eine implizite Verpflichtung auf den Gleichklang der Willen.49 Interaktives soziales Handeln würde demnach auf Verständigung, Einigung, Gemeinschaft oder Konsens zielen. Webers Kategorie des sozialen Handelns ist somit in eine normative Kommunikationsethik verwoben, das heißt sie bezieht sich auf ein kontrafaktisches ‚Einverständnis‘ zwischen den Akteuren, welches auf ‚Gemeinschaft‘ zielt.50 45 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie (Studienausgabe), Tübingen 51980, S. 1. 46 Klaus Lichtblau, „Vergemeinschaftung“ und „Vergesellschaftung“ bei Max Weber. Eine Rekonstruktion seines Sprachgebrauchs, in: Zeitschrift für Soziologie, Heft 6, 2000, S. 423–443, hier S. 429. 47 Weber, Wissenschaftslehre, S. 441. 48 Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, Darmstadt 1979, S. 7. 49 Linde, Sachdominanz, S. 22–24, 43.
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Auf den Krieg angewandt würde das bedeuten, dass die ‚Sprache der Waffen‘ als eine Unterart des auf Konsens zielenden argumentativen Streits zwischen zwei Kontrahenten gelten müsste. Wird aber Krieg als eine militante Form von ‚Diskursethik‘ betrachtet, dann bleibt seine spezifische Qualität unverstanden. Denn kriegerische Gewalt trennt, da sie auf methodischer Schadenszufügung beruht. Im Krieg basiert der gegenseitige Handlungsbezug der Akteure auf der beiderseitigen Absicht zu Verletzung und Schädigung des Anderen bis hin zu dessen Vernichtung. Von einem gegenseitigen ‚Einverständnis‘ kann hier nicht ausgegangen werden. Krieg inaugiert vielmehr die Unterscheidung von Freund und Feind. Durch die Mittel der Schädigung, Verletzung oder Tötung eine Faktizität der Machtverhältnisse zu schaffen, ist eine gänzlich andere Streitvoraussetzung als die kontrafaktische Unterstellung eines möglichen Konsenses. Aus diskursethischer Perspektive ist das keine überraschende Erkenntnis. So schreibt Jürgen Habermas: „Wohl kann ein Einverständnis objektiv erzwungen sein, aber was ersichtlich durch äußere Einwirkung oder Anwendung von Gewalt zustande kommt, kann subjektiv nicht als Einverständnis zählen.“51
Die normative Präsupposition in Webers Begriff sozialen Handelns zeigt sich insbesondere, wenn er den Typus des Kampfes als Spezialfall der sozialen Beziehung einführt. Kampf meint demnach, dass „das Handeln an der Absicht der Durchsetzung des eigenen Willens gegen Widerstand des oder der Partner orientiert ist.“52 Der Begriff wird von Weber gezielt soweit gefasst, dass darunter alle Formen des Wettstreits, des Disputs, der Konkurrenz und der Auslese zu verstehen sind. Der Übergang vom friedlichen zu methodisch gewaltsamen oder kriegerischen Handeln erscheint dabei nicht als Problem. Folglich ist trotz der Einführung des konflikttheoretischen Grundbegriffs ‚Kampf‘ von Weber auch kaum etwas über gewaltsame Formen sozialer Beziehungen zu erfahren.53 Der soziologische Begriff des Krieges bedarf aber eines Handlungsbegriffs, der die Möglichkeit der systematischen Einmischung der Gewalt berücksichtigen kann und dabei zugleich den dadurch bedingten Qualitätswechsel der sozialen Beziehung kennzeichnet. Der Krieg ist durch die paradoxe Logik der Strategie charakterisiert (Edward Luttwak). Diese Logik unterscheidet sich insbesondere von der linearen Logik des Ökonomischen, die auf Optimierung, Rationalisierung und 50 Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, Frankfurt am Main 1988, S. 381–384. 51 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, S. 387. 52 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 20. 53 Trotha, Soziologie der Gewalt, S. 12.
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Standardisierung zielt. Im Krieg dagegen „kann ein schlechter Weg gut sein, gerade weil er schlecht ist“.54 Im Reich des Strategischen sind suboptimale und vielfältige Lösungen häufig der günstigere Weg, weil sie besser vor feindlicher Einwirkung geschützt werden können und wiederum mehr Reaktionsmöglichkeiten auf feindliche Gegenmaßnahmen eröffnen. Im Krieg stehen sich zwei Parteien gegenüber, die beide gewaltsam und feindlich aufeinander reagieren. Jeder Zug des Einen provoziert einen Gegenzug des Anderen, wobei beide immer danach trachten, eigene Ziele mit Gewalt gegen den Willen des Anderen durchzusetzen und ihn zugleich am Verfolgen seiner Ziele zu hindern. Die Logik des strategisch-kämpferischen Handelns kennt kein Unentschieden, sondern allenfalls den Stillstand. Sie ist außerdem dadurch charakterisiert, dass der Sieg nicht gradlinig durch konsequentes Handeln nach den Maßstäben technisch-ökonomischer Rationalität erreicht werden kann. Sieg und Niederlage verkehren sich vielmehr immer wieder ineinander, bis eine endgültige Entscheidung feststeht.55 Die spezifische Form der strategischen Beziehung unterscheidet sich daher von anderen gesellschaftlichen Beziehungen. So sind Konkurrenten keine direkt aufeinander reagierenden Gegner, denen sich die Alternative zwischen Sieg oder Niederlage stellt. Vielmehr sind sie in ein festgelegtes Regelsystem eingebettet, das den Konkurrenten praktisch parallel zu ihrer Konkurrenz ‚normale‘ soziale Beziehungen untereinander erlaubt.56 Die Fundierung kriegerischer Interaktion in der Gewalt markiert daher die Differenz zwischen Krieg und Ökonomie: „Wer einen Überraschungsangriff plant, spekuliert auf das Ergebnis wie ein Börsenmakler, der bewusst in riskante Anlagen investiert. Beides kann fehlschlagen, aber kein Spekulant sieht sich unmittelbar nach den Platzen all seiner Hoffnungen auf einen schnellen Erfolg in einen Kampf auf Leben und Tod verstrickt.“57
Aufgrund seiner Fundierung in dem reziproken Gewaltverhältnis fügt strategisch-kriegerisches Handeln sich nicht dem Begriff des sozialen Handelns im Sinne Webers. Will man einen generellen kategorialen Rahmen für die verschiedene Formen menschlichen Handelns gewinnen, dann bietet sich allerdings der Bezug zu Hans Joas’ Modell des kreativen Handelns an. Joas beansprucht für den Begriff des kreativen Handelns einen andere Handlungsmodelle – insbesondere die des rationalen und des normativ orientierten Handelns – „überwölbenden Charakter“. Dabei geht es ihm darum, einen allgemeinen Begriff menschlichen Handelns zu gewinnen, der nicht 54 Edward Luttwak, Strategie. Die Logik von Krieg und Frieden, Lüneburg 2003, S. 17. 55 Ebd., S. 33–54. 56 Bahrdt, Die Gesellschaft und ihre Soldaten, S. 84 f. 57 Luttwak, Strategie, S. 22.
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lediglich spezifische Handlungstypen generalisiert und dabei notwendig „eine Residualkategorie erzeugt, in die ein Großteil menschlichen Handelns fällt.“58 Auch strategisches Handeln lässt sich ohne Schwierigkeiten auf Kreativität beziehen. Mit dem Begriff des kreativen Handelns werden die Momente des Schöpferischen, Produktiven, Verändernden, Umwertenden und Utopischen hervorgehoben. Im Begriff der Kreativität wird jene Kausalität aus Freiheit zentral, die Kant als die Möglichkeit definiert hat, „einen Zustand von selbst anzufangen“.59 Strategisches Handeln ist kreativ, weil es systematisch versuchen muss, mit unsicheren und nicht kontrollierbaren Bedingungen umzugehen. Diese ergeben sich nicht nur aus den mannigfaltigen Friktionen, die jede große Gesellschaftsmaschine aus dem Tritt bringen, sondern sie gründen vor allem in dem agonalen Feld, in dem strategisches Handeln seiner Definition nach situiert ist. Das auf Destruktion, Störung und Täuschung fixierte Handeln des Gegners nötigt dazu, immer neue Wege zu suchen, auch wenn auf eine ganze Reihe von taktischen und strategischen Regeln zurückgegriffen werden kann oder Normen der ‚Ritterlichkeit‘ die Handlungsmöglichkeiten einschränken. Weiterhin gilt es im Kontext strategischer Beziehungen den Faktor der Überraschung zu gewinnen, das heißt gerade nicht das zu tun, was erwartet werden könnte. Die agonale Situation erfordert das Unerwartete, das heißt die freie Handlung. Wenn aber strategisches Handeln als eine Form gewaltsamen Handelns derart in den soziologischen Handlungsbegriff integriert wird, welche Folgen hat das für diesen Begriff? Obwohl auch dann prinzipiell die Deutbarkeit bzw. Verstehbarkeit sozialen Handelns vorausgesetzt werden kann, darf die Kette der Handlungen in einer Gesellschaft dann nicht als kontinuierlich in sozialen Beziehungen dahinfließender Strom sinnhaften Einverständnisses verstanden werden. Insbesondere methodisch gewaltsames Handeln zerbricht dieses Sinnkontinuum. Soziologisch ist vielmehr von einem ständigen Realisieren und Zerstören von Handlungs- und Sinnmöglichkeiten auszugehen. Die Gesellschaft, die aus diesem selektiven Beziehen entsteht, beruht demnach auf der Freiheit der vergesellschafteten Akteure, sich in einem durch nicht-diskursive und diskursive, das heißt heterogene Determinanten strukturierten Feld möglichen fortführenden Handelns zu situieren. Soziale Handlungen konstituieren in dieser Sichtweise einen Zukunftshorizont. Sie erweisen sich in ihrer sinnlichen Phänomenalität für Folgehandlungen als nicht ausräumbare Voraussetzungen, ohne aber definitiven ‚Sinn‘ vorzugeben. Dieser Begriff des Handelns geht nicht von einer kurzen und flüchtigen geistigen Kommunion zweier Interaktionspartner aus, sondern begreift 58 59
Joas, Kreativität des Handelns, S. 15. Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 488 (B 561).
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soziale Gefüge in Anlehnung an Michel Foucault als Felder möglicher Handlungen, auf die seitens aller Akteure – mit allerdings unterschiedlichen Machtressourcen – kreativ reagiert und eingewirkt wird. Die Einwirkung auf den menschlichen Körper und damit auch die Ausübung von Gewalt ist dabei eines der vielfältigen Mittel, um Handlungsfelder zu regulieren.60 Diese Sichtweise basiert auf der Unterstellung einer relativen Freiheit von den Bedingungen, da das Agieren in einem Möglichkeitsfeld sonst nicht denkbar wäre und ist daher mit Joas’ Überlegungen vereinbar.61 Auch entspricht sie Popitz’ Forderung, dass die Gewaltmöglichkeit in menschlichen Beziehungen immer gegenwärtig ist. Daher mündet sie in ein Modell gesellschaftlichen Handelns, das die Möglichkeit der Gewalt ohne normative Implikationen einschließt. Auf die Erfahrungsqualität körperlicher Gewalt ist bei der Analyse von modernen Kriegsdiskursen zu achten. Die Art und Weise, wie der Diskurs diese ihm vorgängige Erfahrung reflektiert und einsetzt, sagt etwas über das historisch spezifische Verhältnis der modernen Gesellschaft zum Krieg aus. Sie ist ein Indikator für die Form der modernen Veröffentlichung des Krieges, das heißt der Einbeziehung der Gesellschaft in den Krieg. Wird der Krieg zum Topos in einem Diskurs, dem es um die Konstitution ‚der Gesellschaft‘ geht, wobei er faktisch aber noch als klassischer Fürstenkrieg geführt wird, dann steht zu erwarten, dass die Thematisierung der Gewalterfahrung eine untergeordnete Rolle spielt (Zeitalter der Befreiungskriege zu Beginn des 19. Jahrhunderts). Wird der Krieg dagegen total und erfasst die Gesellschaft nicht nur im Rahmen einer umfassenden Kriegsökonomie, sondern – vermittelt durch allgemeine Wehrpflicht und Restrukturierung des Raums – auch als Objekt technisierter Gewalt, dann wird ein Diskurs, der die kriegsgesellschaftliche Formierung des sozialen Zusammenhangs und des Politischen im Sinne hat, um das Thema der Gewalterfahrung nicht herumkommen (Zwischenkriegszeit in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts). Werden dagegen postheroische Zivilgesellschaften im Rahmen der globalen Sicherheitsordnung mit dem Krieg als Konstitutionsbedingung ihrer gesellschaftlichen Normalität konfrontiert, dann darf erwartet werden, dass die Gewalt des Krieges ein permanentes Problem in der öffentlichen Darstellung des Krieges wird (Sicherheitskriege seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts). 60
Michel Foucault, Das Subjekt und die Macht, in: Hubert L. Dreyfus/Paul Rabinow, Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Weinheim 1987, S. 241–261, hier S. 254 f. 61 Ebd., S. 256.
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Bevor in die Erfahrungsdimension der Gewalt berücksichtigenden Fallanalysen historische Möglichkeiten der Konstitution der modernen Gesellschaft durch den Krieg beschrieben werden sollen, ist allerdings die kritische Auseinandersetzung mit der Behauptung zu suchen, Gesellschaftlichkeit konstituiere sich prinzipiell und wesentlich in einem kriegerischen Kontext. Bereits der im Folgenden zu entwickelnde soziologische Begriff des Krieges als strategisches Verhältnis zwischen zwei gesellschaftlichen Formierungen deutet an, dass Krieg immer schon die zumindest rudimentäre Stiftung einer sozialen Gemeinschaft voraussetzt. Eine vertiefende Dekonstruktion der militanten Konstitutionstheorie und ihrer Voraussetzungen macht klar, dass nicht der ‚Krieg an sich‘, sondern erst seine Diskursivierung im Rahmen der modernen Problematik des gesellschaftlichen Zusammenhalts eine gesellschaftskonstitutive Funktion übernimmt.
C. Die Konstitutionsfunktion des Krieges Die Beschreibung gesellschaftlicher Konstitutionsprozesse im Kontext von Kriegen erfordert einen Begriff des Krieges, der über das intuitive Verständnis hinausgeht. Ein soziologischer Idealtypus des Krieges muss die Möglichkeit eröffnen, Kriegführung und gesellschaftliche Prozesse jenseits moralistischer und modernisierungstheoretischer Abwehrhaltungen zu thematisieren. Da Kriegführung immer schon irgendeine Form gesellschaftlicher Verbindung und Organisation voraussetzt, muss dieser Begriff aber auch darauf hinweisen, dass strategisch-gewalttätige Interaktionen zwischen Kollektiven nicht unmittelbar als gesellschaftskonstituierend gelten können. Nur vermittels Diskursen, welche die Verteidigung der je eigenen Kollektivität und ihrer Werte propagieren, können Kriege eine konstitutive Wirkung entfalten. Eine Dekonstruktion der normativen Implikationen von Theorien, die eine solche unmittelbare Konstitution behaupten, kann dies zeigen.
I. Der Frieden nach dem Krieg In den meisten soziologischen Definitionen wird Krieg im Kontext des Politischen untersucht. Kriege sind demnach „mit Gewalt ausgetragene Konflikte zwischen Staaten oder politischen Gruppen“.1 Bevor diese Definition problematisiert werden kann, ist zunächst zu untersuchen, wie sich das Verhältnis von staatlich-institutioneller Machtwirklichkeit einerseits und innerem wie äußerem Frieden anderseits darstellt.2 Die institutionelle Wirklichkeit der Herrschafts- oder Souveränitätsmacht lässt sich durch sechs Kriterien beschreiben, die strukturell miteinander verflochten sind: innere Ordnung, Möglichkeit zur Kriegführung, Monopolisierung der Gewalt, Asymmetrie der Machtbeziehung, politische Neutralisierung des Körpers und das Machtmodell des Banns. 1 Karl Otto Hondrich, Wieder Krieg, Frankfurt am Main 2002, S. 53. Ähnlich definiert etwa Hans Paul Bahrdt den Krieg als „kollektive, organisierte Anwendung von physischer Gewalt [. . .] in einer politischen Größenordnung.“ (Bahrdt, Die Gesellschaft und ihre Soldaten, S. 119). Diese Definition des Krieges wird mit dem Aufkommen transnationaler Kriege zunehmend problematisiert. 2 Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf die neuzeitliche und die moderne Staatlichkeit.
I. Der Frieden nach dem Krieg
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1. Souveränitätsmacht sichert die in einem bestimmten Territorium im Normalfall verbindliche Ordnung mittels der Androhung von Gewalt. Die Herrschaft befriedet einen Raum und garantiert dadurch Ruhe und Ordnung. Wer gegen die Ordnung verstößt, kann vom Souverän entehrt und verbannt und/oder zu Tode gebracht werden. Dabei ist der Übergang von der Verbannung (Ehrenstrafe) zur körperlichen Strafe flüssig. Noch im 18. Jahrhundert etwa wird die Verbannung durch körperliche Zeichen sichtbar gemacht. Umgekehrt war auch die Todesstrafe mit zusätzlichen Möglichkeiten zur Ehrenstrafe verbunden.3 2. Hervorzuheben ist der Zusammenhang von Ordnung und Ortung, denn nur in der Abgrenzung eines Territoriums wird eine in diesem Raum geltende Ordnung hergestellt.4 Durch diese Abgrenzung des Territoriums wird zwischen denjenigen unterschieden, die zu einer Gesellschaft dazugehören und denjenigen, die nicht dazu gehören, die Fremde sind. Mit der Unterscheidung zwischen dem Eigenen und Fremden ist die Möglichkeit zum Krieg mit dem Fremden gegeben, sofern dieser sich ebenfalls im Rahmen einer politischen Herrschaftsordnung zu einer abgegrenzten politischen Gesellschaft formiert.5 3. Die politische Herrschaft monopolisiert die Gewaltmittel der Gesellschaft und erfüllt ihre Ordnungsfunktion letztlich durch die Möglichkeit, über das Leben der Untertanen zu verfügen. Sie ist dadurch gekennzeichnet, sterben zu machen und leben zu lassen, denn „die Wirkung der souveränen Macht auf das Leben ist erst von dem Moment an ausübbar, da der Souverän töten kann. [. . .] Das ist wesentlich ein Recht des Schwertes.“ 6 Souveränitätsmacht ist daher ausübende Gewalt, Exekutive. 4. Die politische Ordnung basiert somit auf einer Asymmetrie in der sie konstituierenden Machtbeziehung. Der die Ordnung vertretende staatliche Souverän und die Untertanen blicken sich gewissermaßen nicht mehr in die Augen. Das Frontispitz auf Thomas Hobbes Leviathan versinnbildlicht diese Ordnungsvorstellung. Die Körper der Bürger bilden den Körper des Staates und wenden ihr Antlitz zugleich vom Souverän ab. Die Bürger „sind nicht sein Gegenüber, da es niemanden gibt, der berechtigt wäre, über ihn zu urteilen.“7 Die Anordnung der Körper 3
Van Dülmen, Theater des Schreckens, S. 109. Schmitt, Nomos der Erde, S. 15–20. 5 Schmitt, Begriff des Politischen, S. 26 f. 6 Foucault, Verteidigung der Gesellschaft, S. 277; ebd., S. 278. 7 Thomas Kater, Lorenzetti, Hobbes, Kant: Grundlegung des bilderlosen Friedens, in: Thomas Kater/Albert Kümmel (Hg.), Der verweigerte Friede. Der Verlust der Friedensbildlichkeit in der Moderne, Bremen 2003, S. 53–88, hier S. 70. 4
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C. Die Konstitutionsfunktion des Krieges
durch die Souveränitätsmacht muss zwar dennoch als wechselseitiger Komplex verstanden werden, insofern ein Machtverhältnis immer nur regulativ auf menschliches Handeln einwirkt, aber diese Anordnung beinhaltet doch eine fundamentale Verschiebung in der Form des Verhältnisses. Gerade das, was im engeren Sinne als strategische Situation zu fassen ist, wird innergesellschaftlich ausgeschaltet. Die von Weber als Kriterium der Herrschaft angegebene „Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden“8 folgt aus dieser Asymmetrie. 5. Dieses asymmetrische Verhältnis besagt im Grunde, „dass der Untertan angesichts der Macht von Rechts wegen weder lebendig noch tot ist. Er ist unter dem Gesichtspunkt von Leben und Tod neutral, und nur dank der Tatsache, dass es den Souverän gibt, hat der Untertan das Recht, lebendig oder gegebenenfalls tot zu sein.“9 Die Symmetrie im strategischen Verhältnis wird außer Kraft gesetzt, die Körper werden ihrer politischen Kraft beraubt und neutralisiert, das heißt der Krieg aller gegen alle wird beendet. 6. Die konstitutive Neutralität des Körpers des Untertanen markiert zugleich die „Grenzfigur des Lebens“ (Giorgio Agamben) im Rahmen der politischen Herrschaftsmacht. Es handelt sich um „eine Schwelle“, wo sich das Leben „zugleich außerhalb und innerhalb“ der Ordnung befindet. Diese Schwelle „ist der Ort der Souveränität.“10 Das meint: Der Untertan ist nur Teil der Ordnung, weil er zugleich auch immer außerhalb ihrer steht. Über ihm schwebt das Damoklesschwert des Banns, das heißt des Ausschlusses aus der Gesellschaft. Die Struktur dieses Einschlusses in die Ordnung durch die Möglichkeit des Ausschlusses ist nicht die Strafe für ein Vergehen, sondern eine Art Seinsschuld beim Souverän, da Leben und Tod des Untertanen als „Wirkung des souveränen Willens“11 erscheinen. Die Herstellung der Ordnung im beherrschten Territorium ist durch die Möglichkeit gekennzeichnet, den Untertanen kraft souveräner Entscheidung zu verbannen, ihn zum inneren Feind zu erklären. Die aufgeklärte Verrechtlichung der Souveränität, die sich exemplarisch in Kants Begriff der republikanischen Regierungsform dargelegt findet (Trennung von ausführender und rechtsetzender Gewalt, Prinzip der Freiheit und Gleichheit der Staatsbürger), verändert den politischen Zustand der Souveränität. Sie bezeichnet ein Rechtsverständnis, „nach welchem keiner 8
Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 28. Foucault, Verteidigung der Gesellschaft, S. 277. 10 Agamben, Homo sacer, S. 37. 11 Foucault, Verteidigung der Gesellschaft, S. 277 f. 9
I. Der Frieden nach dem Krieg
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den anderen wozu rechtlich verbinden kann, ohne dass er sich zugleich dem Gesetz unterwirft, von diesem wechselseitig auf dieselbe Art auch verbunden werden zu können.“12 Der Souverän steht nicht mehr außerhalb des Rechts. Dieser Wandel der Souveränität vom Absolutismus zum modernen republikanisch-demokratischen Rechtsstaat schlägt sich schließlich nieder in den Menschenrechten, die jedem Menschen zukommen, in der Begrenzung der Normsetzung durch die Festlegung von Grundrechten, in den Prinzipien der Rechtssicherheit und der Gleichheit aller vor dem Gesetz, in den Verfahren der Gewaltenteilung und -kontrolle, in der Idee der Volkssouveränität, in freien Wahlen, in Meinungsfreiheit und öffentlicher politischer Willensbildung. Alle diese Errungenschaften bedingen eine Einschränkung der souveränen Verfügung über die Gewaltmittel. Aber aus dem Teufelskreis der Gewaltbewältigung können auch diese Fortschritte nicht herausführen, denn „jede Begrenzung institutionalisierter Macht und Gewalt muss selbst wieder begrenzt werden durch die Begründung von Gegenmächten und Gegengewalten. Eine prinzipiell gewaltfreie Methode ist ein frommer Traum. Der Teufelskreis der Gewaltbewältigung bildet sich zwangsläufig immer von neuem.“13 Auch der Volkssouverän unter dem Gesetz, monopolisiert die Gewaltmittel und kann unter bestimmten Bedingungen den Bann über die ‚Feinde der Freiheit‘ oder die ‚Feinde der Menschheit‘ verhängen. Er erklärt auch den Krieg und verlangt damit von seinen Bürgern, in den Tod zu gehen. Das Verhältnis zwischen Souverän und Bürger bleibt asymmetrisch, auch wenn es nun möglich wird, den Staat vor Gericht zu verklagen. Obwohl eine rechtlich-normative Zähmung des Souveräns stattfindet, werden die Funktionsweisen und Mechanismen der Souveränitätsmacht doch nicht aufgehoben. Aber aufgrund der institutionellen Wirksamkeit Macht einhegender und kontrollierender Normen kann der Begriff des Staatspolitischen nicht mit dem der Souveränitätsmacht identifiziert werden. Die oben unter Punkt 1–6 vorgenommene Bestimmung beschreibt lediglich die Funktionsweise von politischen Herrschaftsinstitutionen. Darüber hinaus ist zu beachten, dass sich mit dem Staat ein normativer Anspruch konstituiert. Dieser Anspruch zeigt sich zum einen als Norm des inneren Friedens und als Verrechtlichung der exekutiven Macht. Zum anderen ist mit dem Staat auch ein normativer Anspruch auf äußeren Frieden gesetzt. Denn der „Staat [ist] die Mutter von Frieden und Muße.“14 Erst in der Spannung zwischen der auf der inneren 12 Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, in: Immanuel Kant, Werke, Bd. 12, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1977, S. 204 [BA 21]. 13 Popitz, Phänomene der Macht, S. 66. 14 Thomas Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines bürgerlichen und eines Kirchlichen Staates, Neuwied 1966, S. 508 (IV, 46).
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C. Die Konstitutionsfunktion des Krieges
und äußeren Gewaltmöglichkeit beruhenden Funktionsweise und Machtwirklichkeit des politischen Herrschaftsverbandes und diesem normativen Anspruch entfaltet sich das Politische. Gemeint ist damit im Besonderen, dass das Politische weder in Normativität aufgehen kann, ohne zerstört zu werden, „noch erschöpft sich das Politische im schieren Sosein seiner Wirklichkeit. Es entfaltet sich vielmehr im Spannungsfeld von Wirklichkeit und Norm, dessen originär politischer Charakter begründet ist in der Wirklichkeit des Politischen als Institution und dem an diese Wirklichkeit herangetragenen normativen Anspruch.“15 Daher steht die Machtwirklichkeit der Institution des Staates auch immer in einem dynamischen Bezug zur Norm des Friedens. Die Spannung zwischen Machtwirklichkeit und normativen Ansprüchen resultiert eben daraus, dass es keine Möglichkeit gibt, dem Teufelskreis der Gewaltbewältigung zu entkommen. Deshalb gibt es aber immer einen Raum, aus dem heraus auf Gewaltbewältigung zielende normative Ansprüche gegenüber der Machtinstitutionen entwickelt werden können. Das heißt, die Machtwirklichkeit begleitenden Friedensnormen sind nicht einfach funktionaler Appendix der Souveränitätsmacht. Die Norm des inneren Friedens ergibt sich aus der Begründung der Staatsmacht. Das lässt sich etwa mit dem Hinweis auf Thomas Hobbes zeigen: „Die Menschen, die von Natur aus Freiheit und Herrschaft über andere lieben, führten die Selbstbeschränkung, unter der sie [. . .] in Staaten leben, letztlich allein mit dem Ziel und der Absicht ein, dadurch für ihre Selbsterhaltung zu sorgen und ein zufriedeneres Leben zu führen – das heißt, dem elenden Kriegszustand zu entkommen, der [. . .] aus den natürlichen Leidenschaften der Menschen notwendig folgt, dann nämlich, wenn es keine sichtbare Gewalt gibt, die sie im Zaume halten und durch Furcht vor Strafe an die Erfüllung ihrer Verträge und an die Beachtung der natürlichen Gesetze zu binden vermag“.16
Nach außen gestaltet sich das Verhältnis der Staaten untereinander ohne den Bezug auf ein übergreifendes Gewaltmonopol. Daher können Staaten untereinander Kriege führen. Allerdings ist Krieg für Staatsverbände ein Ausnahmezustand. Das bedeutet, dass der Krieg in Bezug auf eine, wie auch immer kodifizierte Norm, nämlich die Norm des zwischenstaatlichen Friedens gesehen wird. Diese mit der Staatlichkeit verbundene Friedensnorm hat geschichtlich in ganz verschiedener Form ihren Ausdruck gefunden: Für die Weltordnung nach dem Westfälischen Frieden bis zum Beginn der Moderne gilt, dass Kriege geführt werden sollen, ohne „die internationale Gesellschaft insgesamt nachhaltig zu schädigen“. Und der Krieg soll „einen stabilen Friedensschluss ermöglichen.“17 Mit Beginn der Moderne, 15
Kater, Institution und Norm, S. 5 f. Hobbes, Leviathan, S. 131 (II, 17). 17 Michael Howard, Die Erfindung des Friedens. Über den Krieg und die Ordnung der Welt, Lüneburg 2001, S. 31. 16
I. Der Frieden nach dem Krieg
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im Zeitalter des Volkskrieges, des Nationalismus und der Idee der nationalen Befreiung kommt es zwar zu einer Explosion der militärischen Gewalt, insofern auch das Soziale zu einer Waffe wurde,18 aber nach dem Wiener Kongress gelingt eine Hegung des Krieges, in der Krieg nicht mehr als „unvermeidlicher Bestandteil der internationalen Ordnung“19 angesehen wird. Stattdessen wird eine neue Weltordnung errichtet, die auf dem Gleichgewicht der Kräfte beruht. Die Architekten dieser neuen Ordnung vereinbaren, dass die Bewahrung des Friedens in der Verantwortung aller europäischen Mächte liege.20 Das Zeitalter der Weltkriege wiederum ist zugleich das Zeitalter der Ächtung des Krieges im Rahmen der internationalen Sicherheitsinstitutionen Völkerbund bzw. Vereinte Nationen.21 Dies zeigt, dass auf jeden Fall in einem empirischen Sinne davon gesprochen werden kann, dass mit der Staatsidee die normative Auszeichnung des Friedens verbunden ist. Das heißt natürlich nicht, dass diese Auszeichnung unbedingt die Form einer umfassenden moralischen Diskriminierung des Krieges annehmen muss, aber es wird deutlich: „Frieden ist die Ordnung, wie unvollkommen auch immer sie sein mag, die aus Vereinbarungen zwischen Staaten hervorgeht und nur durch diese Vereinbarungen aufrechterhalten werden kann. Auch in einer völlig globalisierten Welt ist nicht klar, welche alternativen Akteure in dieser Hinsicht den Staat ersetzen könnten oder sollten.“22
Dass mit dem neuzeitlichen Staat die Norm des Friedens mitgesetzt ist, lässt sich allerdings nicht nur als empirische Wertperspektive in politischen Diskursen nachweisen. So weist Popitz darauf hin, dass die Institutionalisierung von Staatsmacht immer auch als „Einfriedung von Gewalt“23 zu verstehen ist. Der Geburt der Ordnungsidee ‚Staat‘ liegt die Erfahrung der Gewalt zu Grunde. Popitz markiert ebenfalls das dynamische Spannungsfeld zwischen Machtwirklichkeit und aus Erfahrung resultierender Friedens- und Ordnungsnorm: „Wie immer soziale Ordnungen, vorpolitischer oder politischer Art, geschichtlich entstanden sind – sicher nicht allein und sicher oft nicht primär aus den genannten Motiven [der Gewalterfahrung, D. S.] –, Gewalt ist eingrenzbar und ist dauerhaft nur eingrenzbar durch soziale Institutionen. [. . .] Aber auch soziale Ordnungen, die Gewalt eingrenzen, hexen Gewalt nicht hinweg. Sie benötigen vielmehr 18 Dierk Spreen, Tausch, Technik Krieg. Die Geburt der Gesellschaft im technisch-medialen Apriori, Hamburg 1998, S. 161–175. 19 Howard, Erfindung des Friedens, S. 47. 20 Ebd., S. 47 f. 21 Satzung des Völkerbundes, Art. 1, Abs 1; Charta der Vereinten Nationen, Art. 1. 22 Howard, Erfindung des Friedens, S. 102. 23 Popitz, Phänomene der Macht, S. 61.
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C. Die Konstitutionsfunktion des Krieges
selbst Gewalt [. . .], um die Eindämmung von Gewalt durchsetzen und sich selbst verteidigen zu können. Jeder Ordnungsentwurf unterliegt diesem circulus vitiosus der Gewalt-Bewältigung.“24
Dolf Sternberger formuliert politisch-philosophisch eine vergleichbare These, wenn er den Frieden als die „politische Kategorie schlechthin“ bezeichnet.25 Die Bewahrung des Friedens ist wesentlicher Inhalt des Gemeinwohls, in dessen Dienst das Politische – das heißt für Sternberger der Staat – steht. Der Staat ist demnach der Ort des verwirklichten inneren Friedens, der ‚normalen‘ Ordnung. Die mit dem wohlgeratenen, geglückten Gemeinwesen gegebene Idee des inneren Friedens erzwingt, dass der Frieden als Norm des Politischen auch im Äußeren zu setzten ist: „Der alte Stadt- und Burgfriede, der Landfriede, der Reichsfriede der historischen Reiche – Pax Romana, British Commonwealth of Nations –, die fragilen diplomatischen Konstruktionen und Manipulationen, den Frieden ganzer Staatensysteme zu gewährleisten [. . .]: dies alles fügt sich, als dem Begriff des Politischen zugehörig, nicht nur ins empirische, sondern nun eben auch ins normative System. Der Friede ist der Grund des Politischen, der Weltfriede wird zum Grund und zur Aufgabe der Weltpolitik.“26
Auch hierbei zeigen sich also die zwei Pole, zwischen denen das Politische sich aufspannt: Zum einen Kontrolle staatlicher Macht und Gewalt, Recht und Friedensnorm, zum anderen die Funktionsweise der Machtausübung qua Gewaltmöglichkeit. Daher ist auch in Bezug auf intergesellschaftliche Ordnungsmodelle von einer politischen Spannung zwischen Macht und Norm auszugehen. Die das Politische konstitutiv kennzeichnende Spannung zwischen Machtwirklichkeit und Norm schlägt sich historisch in der Verrechtlichung nicht nur der gesellschaftlichen Beziehungen, sondern auch der Herrschaft nieder. Soziologisch gesehen ist Recht zunächst eine Institution, insofern es ein System von Regeln darstellt, welches dazu dient, menschliches Handeln zu koordinieren. Allerdings geht das Recht in dieser Funktion nicht auf. Denn wie Popitz festhält, verdichten sich im Recht Deutungen, die auf kollektive Gewalterfahrungen referieren. Recht hat daher immer auch den Sinn, Gewalt – sowohl private wie staatliche – einzuhegen. Daher steht das Rechtsinstitut im Zusammenhang mit Werten der Gewalteinschränkung. Nach Popitz – und ihm soll darin gefolgt werden – setzten diese Werte kollektiv verdichtete Deutungen von Gewalterfahrungen voraus; es handelt sich also um dem Recht zugeschriebene und abverlangte Werte, die sich auf geschichtlich-gesellschaftliche Erfahrungszuschreibungen beziehen.27 Diese 24 25 26
Ebd., S. 62 f. Dolf Sternberger, Begriff des Politischen, Frankfurt am Main 1961, S. 18. Ebd., S. 20.
I. Der Frieden nach dem Krieg
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Werte sind es, die als normative Ansprüche an die Wirklichkeit staatlichen und zwischenstaatlichen Machthandelns herangetragen werden. Unauflösbar ist das Paradox, dass das Recht diese Werte nur verfolgen bzw. ihnen dienen kann, indem es sich des staatlichen Machthandelns, das heißt letztlich der Gewalt als Mittel bedient. Diesem ‚Teufelskreis‘ ist nicht zu entkommen. Auch normativ regulierte Macht als Funktionsmodus des Politischen entkommt nicht ihrem Ursprung in der Gewalt.28 Aus dieser Bestimmung des Rechtsinstituts und des von ihm nicht zu trennenden Werts der Gewaltbewältigung folgt allerdings, dass zwischen Recht und dem Institutionengefüge politischer Herrschaftsmacht (Regierung, Polizei, Bürokratie, Armee) zu unterscheiden ist. Nicht ist das Recht aus der Geschichte der Herrschaftsmacht abzuleiten, sondern vielmehr ist die politische Geschichte der Ort der gesellschaftlichen Gewalt, aus deren Problematisierung, Darstellung und Interpretation sich qua praktischer Vernunft rechtliche Normen herauskristallisieren, die als Werte bzw. normative Ansprüche an die Machtrealität herangetragen werden. Zwischen der Souveränitätsmacht und dem Recht gibt es folglich ein Spannungsfeld. Diese wichtige Unterscheidung wird allerdings von einer Reihe Theoretiker eingezogen: Carl Schmitt denkt das Recht von der es einsetzenden Gewalt her und kassiert damit diese Spannung, weil der Souverän es jederzeit qua willkürlicher Entscheidung über den Ausnahmezustand suspendieren könne.29 Walter Benjamin rekonstruiert Recht historisch als „ ‚Vor‘recht der Könige oder der Großen, kurz der Mächtigen“.30 Daher fließen Macht, Gewalt und Recht für Benjamin zusammen: „Rechtsetzung ist Machtsetzung und insofern ein Akt von unmittelbarer Manifestation der Gewalt.“31 Das Recht monopolisiere die Gewalt. Giorgio Agamben verwischt ebenfalls die Differenz zwischen Recht und Herrschaft. Insbesondere gegenüber dem mo27 Popitz zeigt dies anhand der Lektüre von Hobbes’ Leviathan und Freuds Totem und Tabu. Für Hobbes sei „der Beginn einer sozialen Ordnung die Begründung einer Instanz, die Schutz verspricht“ (Popitz, Phänomene der Macht, S. 62). Freud dagegen erzähle eine „wilde Geschichte“ (S. 61), welche die Geburt der Moral durch den von der Urhorde begangenen Vatermord hervorgebracht sieht: „Die Vorstellung eines gesellschaftlich verbindlichen Gut und Böse kann nur durch eine Tat hervorgebracht werden, die vor jeder moralischen Reflexion das Signum dessen trägt, was nicht wiederholt werden darf.“ (S. 62). In beiden Fällen werde die Konstitution sozialer Ordnung aus der Erfahrung der Gewalt rekonstruiert – im Falle Hobbes aus der Perspektive des Opfers, in Falle Freuds aus der Perspektive des Täters. 28 Kater, Institution und Norm, S. 18–40. 29 Schmitt wird unten ausführlich diskutiert. 30 Walter Benjamin, Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze, Frankfurt am Main 1965, S. 58. 31 Ebd., S. 57.
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C. Die Konstitutionsfunktion des Krieges
dernen Recht stehe jeder Bürger immer schon auf der Schwelle zum homo sacer, weil das Leben der Bürger durch das Recht als Menschenrecht in die Sphäre der souveränen Macht über Leben und Tod eingeschlossen werde. Dadurch werde das Leben zum ‚heiligen‘ bzw. ‚nackten‘ Leben, das tötbar aber nicht opferbar ist und dessen Tötung keinen Mord darstellt. Durch das Recht gerate das Leben in den Raum des souveränen Banns.32 Auch diese Theorie beruht auf einer vorausgesetzten Nichtunterscheidung zwischen Macht bzw. Gewalt und Recht, denn dass in den Werten, die mit dem modernen Recht in Zusammenhang stehen auch die Erfahrung des Ausgeliefertseins an die politische Gewalt ihren Niederschlag findet, wird von Agamben ignoriert. Aber ohne Rekurs auf seine Funktion, die Macht über das Leben einzuschränken, wird das aus der Aufklärung folgende moderne Recht nicht verständlich: Freiheit des Individuums und Gleichheit der Individuen, Friedensverpflichtung, Rechtsbindung und Menschenrechte sind die philosophisch ausweisbaren Normen und Zwecke, denen vernunftgeleitete, aufgeklärte Gesellschaften folgen.33 Diese Regulative lassen sich nur als Einschränkungen souveräner Macht verstehen. Deshalb ist festzuhalten: Gewalt wird durch die Herrschaftsinstitution monopolisiert, nicht durch das Recht. Dies schließt zwar durchaus nicht aus, dass Souveräne im Laufe der Geschichte das ‚Recht des Schwertes‘ in Anspruch nehmen, aber es öffnet die mit dem Recht verbundene Idee für Diskurse über Gewalterfahrungen, so dass das Recht gewalteinschränkenden Charakter in Bezug auf die Herrschaftsgewalt entwickeln kann. Ein alternatives Modell zu dem rein auf Machtfunktionalität basierenden Begriff des Politischen, auf den Schmitt, Benjamin und Agamben sich beziehen, findet sich bei Kant. Ihm zufolge legitimiert Recht lediglich die Möglichkeit (staatlichen oder – im Naturzustand – privaten) Zwang auszuüben, damit Rechtsgebote eingehalten werden und menschliche Freiheit im gesellschaftlichen Rahmen ermöglicht wird.34 Recht ist für ihn daher nicht Funktion der Macht, sondern umgekehrt gilt ihm der Staat als „mit Macht begleitete [. . .] Gesetzgebung“.35 Das aber impliziert, dass das Politische als Spannungsverhältnis und dynamisches Wechselverhältnis zwischen Machtwirklichkeit und normativen Regulativen zu fassen ist und weder auf normative Ansprüche noch auf Machtwirklichkeit reduziert werden kann. Zugleich wird damit die spe32
Agamben, Homo sacer, S. 93. Kant formuliert das im Gedanken der ‚Republik‘. Vgl. Kant, Zum ewigen Frieden, S. 204–208 (BA20–BA29). 34 Thomas Kater, Politik, Recht, Geschichte. Zur Einheit der politischen Philosophie Immanuel Kants, Würzburg 1999, S. 106–113. 35 Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, Werke, Bd. 8, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1977, S. 309–634, hier S. 366 [AB 73]. 33
II. Der Krieg jenseits des Friedens
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zifische Funktionsweise der Souveränitätsmacht – denn um diese handelt es sich im Falle staatlicher Herrschaft – nicht der Darstellung entzogen und unter einem normativen Idealismus begraben.
II. Der Krieg jenseits des Friedens Wird Krieg als gewaltförmige Konfrontation organisierter Kollektive in einem politischen Kontext definiert, die verglichen mit der gesellschaftlichen Normalität als Ausnahmefall zu gelten hat, so ist der Bezug zur neuzeitlich-modernen Staatlichkeit automatisch hergestellt. Diese Definition bezieht sich auf einen spezifischen historischen Rahmen und wirft daher die Frage auf, ob kriegsförmiges Handeln nicht auch eine Normalität darstellen kann. Diese Frage stellt sich insbesondere im Hinblick auf die neuen Kriegsökonomien, die nach dem Ende des Ost-West-Konflikts überall auf der Welt zu beobachten sind. Hierbei stellt der Krieg keinen vorübergehenden Einbruch in eine zivile Ökonomie dar, sondern bildet eine eigenständige ökonomische Reproduktionsform. Aber auch im Rückblick, bezogen auf die Kriegführung vor der Konstitution des neuzeitlichen Staates ist diese Frage von Bedeutung. Darüber hinaus erscheinen nicht-staatliche kriegführende Akteure auf der Weltbühne, denn die ‚neuen‘ bewaffneten, epidemischen Konflikte beruhen auch auf sich weltweit vollziehenden Entstaatlichungsprozessen. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts muss eine zunehmende Privatisierung und Kommerzialisierung der bewaffneten Gewalt konstatiert werden, die mit einer weltweiten Erosion der politischen Form des Staates einhergeht. Auf der einen Seite treten vermehrt Rebellen, Partisanen, Terroristen und Kriegsherrengefolgschaften als von Staaten unabhängig gewaltförmig agierende soziale Verbände in Erscheinung.36 Auf der anderen Seite wird auch staatlicherseits das Gewaltmonopol verdünnt. Paramilitärs, Todesschwadronen und bewaffnete Siedler üben, oftmals durch Regierung und Administration unterstützt, bewaffnete Gewalt aus.37 Auch in den westlichen Gesellschaften macht sich diese Tendenz zur Privatisierung des Krieges bemerkbar. Die alliierte Besatzungsgewalt nach dem Krieg gegen den Irak 2003 wird nur zu einem Teil von regulären Truppenverbänden ausgeübt. Zu einem nicht unerheblichen Teil ist diese Gewalt an private Sicherheitsfirmen (Privatized Military Firms, kurz PMFs) abgetreten worden. Durch diese Privatisierung des Krieges wird umgekehrt auch sichtbar, dass der Staatenkrieg selbst wiederum das Ergebnis eines Verstaatlichungsprozesses der gesellschaftlichen Gewalt ist. In dem Zeitraum zwischen dem 15. und 17. Jahr36 37
Eppler, Vom Gewaltmonopol zum Gewaltmarkt, S. 30–41. Ebd., S. 42–49.
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C. Die Konstitutionsfunktion des Krieges
hundert ist in Europa der Staat zum Monopolisten der legitimen Gewaltanwendung geworden.38 Begreift man aber den Krieg implizit oder explizit als bewaffnete Form des politischen Konflikts unter Staaten, dann erscheint er immer schon als Ausnahmezustand und als ein „Mittel entweder zur Herstellung oder zur Verteidigung des Friedens“.39 Aber für eine ganze Reihe nicht-staatlicher Kollektivverbände, etwa nomadisch-räuberische Stammesverbände, militante religiöse Netzwerke, Gefolgschaften von Warlords oder kriegerische Privatunternehmerverbände ist Gewalt Ausdruck gesellschaftlicher Normalität. Wird der Typus des Krieges auf gewaltförmig-kollektive Ausnahmephänomene beschränkt, so erscheinen diese Formen der Kriegführung als Abweichungen von der typischen Form kollektiver Gewaltanwendung. Insbesondere lassen sich die als Re-Privatisierung des Krieges beschreibbaren Formen des Krieges nicht unter den Begriff des Staatenkrieges fassen, denn nach dem Ende des Ost-West-Konflikts wandert die Gewalt „aus den staatlichen Institutionen aus“.40 Würde der soziologische Begriff des Krieges auf den Staatenkrieg als Ausnahmezustand beschränkt, dann müssten diese Formen des Privatkrieges entweder in einer Residualkategorie zusammengefasst werden oder aber sie entzögen sich ganz dem verstehenden Zugriff und würden undeutbar. Im letzten Fall fiele es leicht, die Gewaltpraktiken nicht-staatlicher Verbände als prinzipiell unvernünftig, barbarisch und unmenschlich zu charakterisieren. Aber würde eine solche Weigerung, spezifische Formen von Gewalthandeln zu verstehen, es den zivilisierten, den inneren Frieden garantierenden und dem Recht verpflichteten Staatsnationen nicht gerade ermöglichen, die eigene Bindung an zivilisatorische Normen außer Kraft zu setzen, indem man den Feind als eine Art Wahnsinnigen hinstellt, der in keiner Art und Weise anerkannt werden kann? Verstehende Soziologie beansprucht, alle gesellschaftlichen Phänomene erfassen zu können. Gesellschaftliche Phänomene sind solche Erscheinungen, bei deren Darstellung der Beobachter eine sinnhafte Verursachung unterstellen muss. Zweifelsohne handelt es sich bei dem Gewalthandeln von nicht-staatlichen Verbänden um sinnhaft motivierte gesellschaftliche Vorgänge, so dass die Unterstellung ihrer Undeutbarkeit nicht aufrecht zu erhalten ist. Und welchen theoretischen Sinn hätte eine Residualkategorie für Formen der kollektiv-organisierten Gewalt, die von nicht-staatlichen Verbänden aus38 39 40
Münkler, Über den Krieg, S. 224–227. Sternberger, Begriff des Politischen, S. 20. Eppler, Vom Gewaltmonopol zum Gewaltmarkt, S. 16.
III. Idealtypische Merkmale des Krieges
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geführt werden und doch der Logik der Strategie unterstehen? Man würde einen Idealtypus konstruieren, der nur für die Kriegführung unter ganz besonderen historisch-gesellschaftlichen Bedingungen (nämlich der neuzeitlich-modernen Staatlichkeit) zuträfe. Dies kann aber nicht der Typus ‚des Krieges‘ sein. Der Begriff des Krieges darf sich nicht allein auf den Staatenkrieg beziehen. Die an der Friedensnorm orientierten Weltordnungsversuche können überhaupt nur dort zum Tragen kommen, „wo der Krieg in symmetrischen Verhältnissen stattfindet, das heißt als Krieg des Staates“.41 Umgekehrt bedeutet das, dass Krieg auch unabhängig von der Spannung zwischen Institution und Norm beschreibbar sein muss. Daher ist der soziologische Typus des Krieges ohne notwendigen Bezug zum Politischen und zur Norm des Friedens zu konstruieren. Wenn bezogen auf das Verhältnis von Staat und Krieg also eine Spannung zwischen Machtwirklichkeit und Friedensnorm konstatiert werden muss, so erlischt diese Spannung ganz schlicht und einfach, wenn der Staat wieder verschwindet und keine andere politische Institution eingesetzt wird, die die Gewalt der Gesellschaft eingrenzen kann. Dieser Zustand ist nicht länger (wenn er es denn je war) eine Konstruktion der politischen Philosophie. Vielmehr entpuppt sich der ‚Naturzustand‘ des Krieges aller gegen alle als das beherrschende weltordnungspolitische Problem im beginnenden 21. Jahrhundert. Aus dieser Problematik rechtfertigt sich der folgende Versuch, den Begriff des Krieges von dem des Politischen zu trennen.
III. Idealtypische Merkmale des Krieges Wenn also ein allgemeiner Typus des Krieges formuliert werden soll, dann ist der Begriff des Staatlich-Politischen im Sinne eines explizit oder implizit normativ auf den Frieden Verpflichteten aus dieser Formulierung herauszuhalten. Der Krieg ist demnach nicht notwendigerweise ein politisches Mittel, „sondern irgend etwas anderes.“42 Aber was? Krieg soll gelten als eine kulturgeschichtliche Institution der Gewalt. Aus zwei Gründen ist vom Krieg als einer kulturgeschichtlichen und nicht als einer gesellschaftlichen Institution zu sprechen. Erstens impliziert er immer einen strategischen Konflikt. Gesellschaftliche Institutionen sind dagegen auf die Herstellung einer befriedeten sozialen Ordnung bezogen. Beispielsweise zielt die Institution des Gabentauschs in segmentären Gesellschaften darauf, Krieg zu vermeiden.43 Zweitens sind Kriege mit der gesamten Zivi41 42
Kater, Institution und Norm, S. 180. Sternberger, Begriff des Politischen, S. 20.
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C. Die Konstitutionsfunktion des Krieges
lisations- und Kulturgeschichte des Menschen verknüpft. Sie spielen eine nicht unerhebliche Rolle bei der Kommunikation zwischen Kulturen und der Produktion von Wissen.44 Durch die folgenden Bestimmungen lässt sich der Krieg als kulturgeschichtlicher institutioneller Typus erfassen: 1. Kriegführung ist durch die Auseinandersetzung zweier feindlicher und bewaffnet kämpfender Gruppen gekennzeichnet, die in irgendeiner Hinsicht in dauernden Machtverhältnissen organisiert sind. Diese Organisation regelt Befehlsstrukturen und Kommunikationswege und gibt Normen der Disziplin vor. Wie sich die Gehorsamsverhältnisse, Kommunikationsstrukturen und disziplinären Normen im Einzelnen gestalten, kann dabei höchst unterschiedliche Formen annehmen, aber in irgendeiner Form muss doppelseitig eine militärische Verbandsorganisation vorliegen. Diese Definition umfasst ausdrücklich auch terroristische Netzwerke. Deren Strukturen sind selten linear-hierarchisch organisiert, sondern verlinken die intensive und ideologisch formierte Face-to-faceKommunikation von Cliquen zu einem globalen, von verdichteten Hubs gesteuerten Beziehungsgefüge. Auch dabei handelt es sich um ein System, in dem kommuniziert und kontrolliert wird und Anweisungen ausgeführt werden.45 2. Kriegführung basiert auf der Schadenszufügung durch Gewalt. Gewalt ist nicht nur etwas, das der Krieg enthalten kann, sondern er kann prinzipiell nicht darauf verzichten. Der bewaffnete gewaltsame Kampf (das Gefecht), ist „für alle großen und kleinen Operationen des Krieges, was die bare Zahlung für den Wechselhandel ist“.46 Diese Schadenszufügung richtet sich gegen die Körper feindlicher Krieger oder generell der Mitglieder des feindlichen Kollektivs. Außerdem ist die gegnerische Infrastruktur Ziel von gewaltförmigen Angriffen. Sowohl Produktionsmittel, Waffenlager bzw. Nachschubwege (materielle Infrastruktur) als auch Kultgebäude und -objekte, Autoritätspersonen oder signifikante Städte (symbolische Infrastruktur) kommen als Ziele in Betracht. Kriegführung provoziert daher notwendig mit kollektiven Sinnzuschreibungen verbundene Gewalterfahrungen. 3. Die Interaktion zwischen den militärischen Verbänden gehorcht der Logik strategisch-kämpferischen Handelns, das heißt es handelt sich um 43 Marcel Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt am Main 1990, S. 180–183. 44 John Keegan, Die Kultur des Krieges, Reinbek 1997, S. 21. 45 Marc Sageman, Understanding Terror Networks, Philadelphia 2004, S. 137 f. 46 Carl von Clausewitz, Vom Kriege. Hinterlassenes Werk, Vollständige Ausgabe im Urtext mit historisch-kritischer Würdigung von Dr. Werner Hahlweg, Bonn 16 1952, S. 124.
III. Idealtypische Merkmale des Krieges
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eine wechselseitig-feindliche Beziehung innerhalb derer der Frieden keinen Ort hat. Die Kombattanten zielen jeweils auf Schädigung, Verletzung und Tötung des Gegners. Sie sind darauf aus, die Unternehmungen der anderen Seite direkt und indirekt zu stören und zugleich entsprechende Aktionen des Gegners zu unterbinden. Diese Handlungslogik setzt ganz wesentlich auf Kreativität; es gilt die Züge des Gegners zu antizipieren und selbst möglichst überraschend zu handeln. Weiterhin gilt es, die Moral des eigenen Kampfverbandes zu stärken und die des Gegners zu schwächen. Aus dieser wechselseitigen Struktur des Krieges folgt, dass er notwendig eine Verteidigung voraussetzt.47 Dagegen ist die Terrorherrschaft durch absolute Macht gekennzeichnet, das heißt alle Gewaltmöglichkeit wird von einer Seite akkumuliert. 4. Der Einsatz von Gewaltmitteln gegen einen strategischen Gegner kann ganz verschiedene Zwecke verfolgen. Es kann darum gehen, ein Gebiet zu unterwerfen, eine Strafaktion durchzuführen, Werte zu rauben, durch den Kampf Geld zu verdienen, die Reproduktion zu gewährleisten oder dem Feind einen politischen Willen aufzuzwingen. Kriegführung ist durch die Offenheit gegenüber Zwecken gekennzeichnet. Andersherum: Krieg kann nicht darauf festgelegt werden, politisches Mittel zu sein. Da Kriegführung Zwecke verfolgt, kann Krieg ein Ende finden, wenn dieser Zweck erreicht ist. Es ist allerdings denkbar, dass die Zwecke so formuliert sind, dass die zeitliche Begrenzung wegfällt – etwa im Fall einer dauerhaft gewaltförmigen Abschöpfung ökonomischer Werte. Darüberhinaus kann es sein, dass der Zweck nicht erreicht werden kann oder dass die verfolgten Zwecke sich im Kriegsverlauf ändern. Dem bewaffneten Konflikt selbst wohnt daher daher kein notwendiger Anspruch auf Frieden inne. Er kann zu einer Dauererscheinung werden. 5. Die strategisch-kämpferische Handlungslogik evoziert die Unentrinnbarkeit der Friktion. Krieg lässt sich nicht in ökonomischen, statistischen oder technischen Kriterien berechnen, das heißt man entkommt nicht der Möglichkeit zum Misserfolg. Daher sind Verlauf und Ausgang eines Krieges als prinzipiell offen zu denken. Ebenso unentrinnbar ist die Wirkung von Friktionen, die aus den verfolgten Zwecken resultieren. Niemals entfaltet der Krieg eine eigendynamische Logik der Gewalt, sondern immer mischen sich politische, ökonomische oder kulturelle Zwecke in seinen Verlauf ein. Clausewitz hat die systematische Bedeutung der Friktion im Kriege herausgestellt. Im Krieg muss andauernd damit gerechnet werden, dass Erwartungen scheitern.48 47 48
Ebd., S. 532. Spreen, Tausch, Technik, Krieg, S. 165–173.
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C. Die Konstitutionsfunktion des Krieges
6. Nur wenn für beide Kombattanten ein funktionierendes und geordnetes Staatswesen zu Grunde gelegt werden kann, wird Krieg im Sinne Clausewitz’ zu einem politischen Mittel, dessen Sinn darin besteht, „dem Feinde unseren Willen aufzuzwingen“.49 Mit der Verwirklichung dieses Zwangs ist der Krieg zu Ende. Auch in diesem Falle sind mannigfaltige kriegsausdehnende Gründe denkbar, aber es gilt doch, dass dieser Krieg immer schon den Frieden im Auge hat. In diesem Falle gilt der Krieg in Bezug zum innen- und außenpolitischen Frieden als Ausnahmezustand. Im staatspolitischen Zustand erscheint der Krieg „als Teil des politischen Verkehrs“, also als etwas „durchaus nichts Selbständiges“.50 Aber selbst dann, wenn die Politik aus „dem alles überwältigenden Element des Krieges ein bloßes Instrument“ macht, gilt, dass er „seine eigene Grammatik“ behält.51 Als kulturgeschichtliche Institution generalisiert auch der Krieg Erwartungen. Die spezifische, den Krieg wesentlich kennzeichnende Erwartung ist die, dass der als ‚Anderer‘ Markierte mir feindlich begegnet und mir Schaden zufügen will. Die generelle Friktionserwartung dagegen ist eine abgeleitete Funktion des kriegerischen Gewaltverhältnisses. Die Schadensund Gewalterwartung ist reziprok; auch ich bin für meinen Feind ein ‚Feind‘. Krieg generalisiert also eine reziproke Gewalterwartung und unterscheidet sich gerade dadurch wesentlich von anderen – normalen – gesellschaftlichen Institutionen. Diese beruhen nicht auf Gewalt, sondern auf Macht, die mittels eines je spezifischen Verhältnisses von Norm, Wertung, Argumentation, Autorität, Gewohnheit, Drohung, Überwachung usw. menschliches Handeln reguliert und daher erwartbar macht. Bei der Machtausübung handelt es sich „um eine Weise des Einwirkens auf ein oder mehrere handelnde Subjekte“, um „Handeln auf Handlungen.“52 Daher hat Macht eine doppelseitige, wenngleich asymmetrische Struktur. Macht impliziert immer auch doppelte Kontingenz.53 Sie reguliert das Feld menschlichen Handelns und setzt daher Freiheit voraus.54 Macht lässt sich daher nicht herunterbrechen auf einen „automatischen und schematischen Gehorsam“55, den etwa Weber der Disziplinarmacht zuschreibt. 49
Clausewitz, Vom Kriege, S. 90. Ebd., S. 674. 51 Ebd., S. 675. 52 Foucault, Das Subjekt und die Macht, S. 255. 53 Niklas Luhmann, Macht, Stuttgart 21988, S. 7–9. 54 „Wenn man Machtausübung als eine Weise der Einwirkung auf Handlungen anderer definiert [. . .], nimmt man ein wichtiges Element mit hinein: das der Freiheit.“ (Foucault, Das Subjekt und die Macht, S. 255). 55 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 28. 50
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Im Rahmen von gesellschaftlichen Institutionen tritt Gewalt daher – etwa in Form der Androhung, des ‚Exempels‘ oder der Strafe – nur als Machtinstrument in Funktion. Denn auch mittels Gewalt kann auf das gesellschaftliche Möglichkeitsfeld des Handelns eingewirkt werden. Darüberhinaus sind staatliche oder quasi-staatliche Institutionen aber auch als Gewalteinhegungen zu begreifen. Die Funktionen der Erwartungsgeneralisierung und der Gewalteinschränkung korrespondieren dabei miteinander, weil pure Gewalt das kontingente Feld des Handelns durch determinierten Naturzwang ersetzen würde, in denen kein anderer Gegenpol bleibt „als der der Passivität“.56 Im Gegensatz zur gesellschaftlichen Machtinstitution des Staates ist die kulturhistorische Institution des Krieges durch eine gewaltsame Wechselwirkung gekennzeichnet. Da es einen ebenfalls Gewaltmittel einsetzenden Gegner gibt, wird das Gewaltverhältnis zu einem offenen strategischen Verhältnis und das Moment der Handlung tritt deutlich hervor. Gewalt ist hier nicht bloß letztes Mittel, welches im Dienste einer Gewalthegung steht, sondern vielmehr kommt es im Kriege aufgrund gegenseitiger Wechselwirkung zur Steigerung der Gewalt, wenn die Konfliktdynamik behindernde Friktionen entfallen: „Da der Gebrauch der physischen Gewalt in ihrem ganzen Umfange die Mitwirkung der Intelligenz auf keine Weise ausschließt, so muss der, welcher sich dieser Gewalt rücksichtslos ohne Schonung des Blutes bedient, ein Übergewicht bekommen, wenn der Gegner es nicht tut. Dadurch gibt er dem anderen das Gesetz, und so steigern sich beide bis zum äußersten, ohne dass es andere Schranken gäbe als die der innewohnenden Gegengewichte.“57
Die hier vorgenommene idealtypische Bestimmung hat eben den Vorteil, dass Begriffe und Normen des Politischen aus der Definition ‚des Krieges‘ herausgehalten werden. Krieg wird nicht in eine notwendige Verbindung zum Staatspolitischen gebracht. Das ermöglicht es, den Begriff des Krieges nicht auf das Politische zu fixieren, sondern ihn vielmehr mit dem Gesellschaftlichen in Zusammenhang zu bringen. Eine systematische Verknüpfung der Begriffe von Krieg und Politik engt dagegen die Möglichkeiten, kriegerisches Handeln zu verstehen, auf zwei implizit normative Alternativen ein: 1. Denkt man das Politische vom Frieden her, so muss Krieg, in Verbindung mit dem Politischen gedacht, immer als ein Ausnahmezustand gelten, der den Frieden impliziert. Kulturanthropologisch betrachtet ist Krieg allerdings eher die Regel; umgekehrt ist der Frieden eine kulturhistorische „Erfindung“.58 Er muss „gestiftet“59 werden. 56 57 58
Foucault, Das Subjekt und die Macht, S. 254. Clausewitz, Vom Kriege, S. 90. Howard, Die Erfindung des Friedens, S. 9 f.
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2. Denkt man das Politische dagegen vom Krieg her, so erscheint dieses als permanenter Ausnahmezustand, in dem ständig zwischen Freund und Feind unterschieden und der Feind auch im Innern bekämpft und in Lagern interniert werden muss. Die normale Ordnung ist dann nur ein andauernder Kriegszustand.60 Es wird ein genereller Daseinskampf unterstellt und daraus die Pflicht zum existenziellen Kampf um das eigene Leben abgeleitet. Dieser Kampf kann nicht ruhen, so dass der Frieden immer nur als eine Fortführung des Lebenskampfes mit anderen Mitteln erscheint. Diese Denkalternative führt notwendig in eine militante Konstitutionstheorie, die die Gesellschaft aus dem Kriege herausliest. Diese Sichtweise gilt es nun zu dekonstruieren, um die über Diskurse vermittelte Konstitutionsfunktion des Krieges für moderne Gesellschaftlichkeit aufweisen zu können.
IV. Macht und Norm im militanten Konstitutionsdiskurs Vor dem Hintergrund der Institutionalisierung einer gewaltbewältigenden Gewalt in Form des Staates ist von einer Spannung zwischen der institutionellen Machtwirklichkeit und der diese Wirklichkeit übersteigenden Norm des Friedens auszugehen. Gerade der staatlich gesicherte Frieden der Gesellschaft spiegelt sich in der soziologischen Konstruktion der alltäglichen Face-to-face-Interaktion als primärer sozialer Wirklichkeit. Alltag heißt hier eben vor allem, sich nicht im Ausnahmezustand zu befinden. Erst die Hypostasierung dieses zivilisatorischen Zustands zum Wesen des Sozialen überhaupt verhindert es, dass Gewalt- und Kriegszustände soziologisch zureichend analysiert werden können. Denn vor diesem Hintergrund wird Krieg niemals in einer ‚produktiv‘-sozialkonstitutiven Funktion, sondern begrifflich nur als pathologisches Symptom des Sozialen wahrgenommen. Die Norm des Friedens wird in den Begriff des Gesellschaftlichen hineingeschrieben. Ein solches Hineinverweben normativer Vorstellungen in den Gesellschaftsbegriff ist allerdings auch in umgekehrter Richtung möglich. Das ist der Fall, wenn die kriegerische Konstellation an den Grund des Gesellschaftlichen überhaupt gelegt wird. Daher soll in diesem Kapitel die Auseinandersetzung mit zwei dieser Konstitutionstheorien gesucht und nach den in ihnen mehr oder weniger verborgenen Normvorstellungen gefragt werden. Zum einen geht es dabei um die Überlegungen des Staatsrechtlers Carl Schmitt, der die Konstitution der normalen Situation von der Souverä59
Kant, „Zum ewigen Frieden“, S. 203 [BA 18]. Günther Ortmann, Regel und Ausnahme. Paradoxien sozialer Ordnung, Frankfurt am Main 2003, S. 92, 94. 60
IV. Macht und Norm im militanten Konstitutionsdiskurs
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nitätsmacht her denkt und dabei von der ‚realen Möglichkeit‘ des Krieges ausgeht. Sein Dezisionismus begreift die Entscheidung über den Ausnahmezustand als normkonstitutiv. Schmitt selbst legte insbesondere nach 1945 Wert darauf, dass seine Schriften im Rahmen wertfreier Wissenschaftlichkeit gelesen werden sollten; vom „politisch-polemischen Appellcharakter“61 seiner frühen Schriften war dabei keine Rede. Zum anderen geht es um die Theorie des ‚totalen Krieges‘ des ehemaligen Weltkriegsgenerals Erich Ludendorff, der 1923 am Hitler-Putsch beteiligt war. Ludendorff leitet aus dem Wesen des ‚totalen Krieges‘ die Notwendigkeit ab, „das Volk zu einem einheitlich geschlossenen, in allen wesentlichen Anschauungen und Gefühlen religiöser und sittlicher Natur übereinstimmenden Körper zu formen.“62 Solche Homogenitätsempfehlungen finden sich auch bei Schmitt. Ludendorff geht aber noch weiter, denn er geht nicht nur von der Kriegsmöglichkeit aus, sondern erklärt den Krieg zum politischen Zweck. Obwohl Ludendorff offen normativ argumentiert, inszeniert er sich selbst als Realist: „Wir müssen lernen, die Welt zu sehen, wie sie ist [. . .] und dann, als wahrhaftige Deutsche, aus dieser Erkenntnis die richtige Folgerung ziehen.“63
In diesem Diskurs wird der von Weber eingeführte Begriff sozialwissenschaftlicher Werturteilsfreiheit nur benutzt, um normative Ansprüche zu tarnen und in die Analyse des gesellschaftlichen Seins einzuschreiben. ‚Werturteilsfreiheit‘ markiert hierbei eine polemische Stellung, die gegen die Tendenz zur Verrechtlichung der internationalen Beziehungen und zur Ächtung des Krieges als nach Gusto verfügbarem politischem Mittel gerichtet ist. Letztlich zielt dieser Diskurs darauf, überhaupt die Spannung zwischen Macht und Recht zugunsten der Macht aufzulösen und damit den modernen republikanischen Rechtsstaat zu delegitimieren. Schmitt steht im Kontext der Konservativen Revolution, Ludendorff in dem des Nationalsozialismus, beide beteiligen sich am Kriegsdiskurs der Zwischenkriegszeit.64 Wie Schmitt war auch Ludendorff in der Öffentlichkeit seinerzeit einflussreich. Allerdings können seine Überlegungen nur als Illustration einer Position dienen, die die Spannung zwischen Institution und Norm aufhebt und diese Apologie der Faktizität auch noch normativ überhöht. Schmitt dagegen ist aus soziologischer Perspektive nach wie vor als theoretische Provokation wahrnehmbar, mit der man sich auseinander61 Dirk van Laak, Gespräche in der Sicherheit des Schweigens. Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik, Berlin 22002, S. 81. 62 Hans Barth, Fluten und Dämme, Zürich 1943, S. 209. 63 Erich Ludendorff, Kriegführung und Politik, Berlin 1922, S. VIII. 64 Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4. Vom Beginn des Ersten Weltkrieges bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914–1949, München 2003, S. 422–428, 486–493.
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C. Die Konstitutionsfunktion des Krieges
setzen muss. Denn er wirft die Frage auf, wie ‚Gesellschaft‘ sich überhaupt konstituieren kann, ohne dass bereits bestehende Normen und Werte, die einen Gemeinschaftsbezug implizieren, voraussetzt werden können. Zusammengefasst behauptet Schmitt, dass soziale Gemeinschaft und gesellschaftliche Alltäglichkeit sich in einem vornormativen politischen Feld konstituieren. Eine relevante exekutive Institution treffe die effektiv wirksame Unterscheidung zwischen Freund und Feind bzw. dem Eigenen und dem Fremden. Erst dadurch, dass ein gesellschaftlicher Binnenraum ‚eingehegt‘ und verteidigungsbereit gemacht werde, lasse sich überhaupt eine soziale Gemeinschaft herstellen. Damit wird die politische Konstitution der sozialen Einheit ausgehend von der „realen Möglichkeit“ des kriegerischen Konflikts bestimmt.65 Die Institution, die diese Konstitution übernimmt, muss nicht staatlicher Natur sein; allerdings sieht Schmitt den neuzeitlichmodernen Staat als die Instanz an, die die zugleich differenzierende und konstituierende Entscheidung über Freund und Feind treffen sollte. Dabei vertritt er die These, dass der Staat in der Entscheidung über Krieg und Frieden an keine allgemeine Friedensnorm gebunden sei. Es kommt damit zu einer „Negation der Spannung von Institution und Norm, weil die Staaten keine ihre Wirklichkeit übersteigende Norm anerkennen und damit auch keine ihre souveräne Selbständigkeit beschränkende Institution“.66 Versteckt sich in dieser Negation der Spannung auch eine Norm? Und wenn ja, welche? Um diese Frage zu klären, ist es nötig, sich genauer mit Schmitts Argumentation zu befassen. Der Krieg erscheint Schmitt generell als legitimer staatlicher Akt. Er gilt ihm als prinzipiell gerechtfertigtes Mittel für staatspolitische Zwecke. Aber das kennzeichnet nur die Offenheit dieses Kriegsbegriffs für beliebige Zwecke; es markiert noch keine eigenständige normative Implikation. Gibt es eine solche in Schmitts Begriff des Politischen? – Diese Norm wird dann formuliert, wenn die Unterscheidung zwischen Freund und Feind als notwendiger politischer Konstitutionsakt sozialer Normalität angesehen und der Feind als der Fremde markiert wird. Schmitt armiert die Verteidigungsstellung der Gesellschaft; deren Normalität, Ordnung und innerer Frieden konstituieren sich durch die gewaltförmig-existenzielle Abwehr innerer und äußerer Feinde, welche bei Licht betrachtet als Fremde Bestimmte sind: „Die Unterscheidung von Freund und Feind hat den Sinn, den äußersten Intensitätsgrad einer Verbindung oder Trennung, einer Assoziation oder Dissoziation zu bezeichnen [. . .] Der politische Feind braucht nicht moralisch böse, er braucht nicht ästhetisch hässlich zu sein; er muss nicht als wirtschaftlicher Konkurrent auftreten [. . .]. Er ist eben der andere, der Fremde, und es genügt zu seinem We65 66
Schmitt, Begriff des Politischen, S. 32, 34. Kater, Institution und Norm, S. 177.
IV. Macht und Norm im militanten Konstitutionsdiskurs
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sen, dass er in einem besonders intensiven Sinne existenziell etwas anderes und Fremdes ist“.67
Die staatliche Ordnung denkt sich Schmitt als eine „in sich befriedete [. . .], territorial in sich geschlossene [. . .] und für Fremde undurchdringliche [. . .], organisierte [. . .] politische Einheit“.68 Das Erscheinen des Fremden innerhalb des homogenen Bevölkerungskörpers ist damit virtuell schon ein Bürgerkrieg. „Je nach dem Verhalten des zum Staatsfeind Erklärten“69 wird aus dieser Möglichkeit eine bewaffnete Wirklichkeit. Diese Ineinssetzung des Fremden und des inneren Feindes zeigt sich auch in Schmitts Begriff der Volksherrschaft (Demokratie): „Jede wirkliche Demokratie beruht darauf, dass nicht nur Gleiches gleich, sondern mit unvermeidlicher Konsequenz, das Nichtgleiche nicht gleich behandelt wird. Zur Demokratie gehört also notwendig erstens Homogenität und zweitens – nötigenfalls – die Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen.“70
Im Notstand (im ‚nötigen Fall‘) schlägt also das Verhältnis des Volkes zum Heterogenen in offene Feindschaft um. Aber wie kann der Fremde als virtueller Feind wahrgenommen werden? Diese Konstruktion entschlüsselt sich, wenn man sie in den Kontext des Gemeinschaftsdiskurses stellt. Schmitt bezieht sich zustimmend auf den Begriff der ‚Gemeinschaft‘: „In Wahrheit gibt es keine politische ‚Gesellschaft‘ oder ‚Assoziation‘, es gibt nur eine politische Einheit, eine politische ‚Gemeinschaft‘. Die reale Möglichkeit der Gruppierung von Freund und Feind genügt, um über das bloß Gesellschaftlich-Assoziative hinaus eine maßgebende Einheit zu schaffen, die etwas spezifisch anderes und gegenüber den übrigen Assoziationen etwas Entscheidendes ist.“71
1887 veröffentlichte Ferdinand Tönnies die paradigmatische soziologische Untersuchung zur Differenz der Begriffe ‚Gemeinschaft‘ und ‚Gesellschaft‘. Im Gegensatz zur Gesellschaft betont der Diskurs der Gemeinschaft, die „gegenseitig-gemeinsame, verbindende Gesinnung“, die als „Wille einer Gemeinschaft“ anzusehen sei.72 Diese Willenseinheit begreift Tönnies als psychologischen Ausdruck des „Bandes der Blutsverwandschaft“.73 Dieser Hinweis macht deutlich, dass der soziologische Begriff 67
Schmitt, Begriff des Politischen, S. 27. Ebd., S. 47. 69 Ebd. 70 Carl Schmitt, Der Gegensatz von Parlamentarismus und moderner Massendemokratie [1926], in: Carl Schmitt, Positionen und Begriffe im Kampf mit WeimarGenf-Versailles 1923–1939, Hamburg 1940, S. 52–66, hier S. 59. 71 Ebd., S. 45. 72 Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, S. 17. 73 Ebd., S. 19. 68
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C. Die Konstitutionsfunktion des Krieges
der Gemeinschaft sich zunächst nur auf Familienverbände und nicht auf ganze Gesellschaften bezieht. Dementsprechend begreift Tönnies ‚Gemeinschaft‘ und ‚Gesellschaft‘ als „Normaltypen [. . .] zwischen denen sich das wirkliche soziale Leben bewegt“.74 Fremd ist in diesem Kontext, wer nicht zur Gemeinschaft gehört, das heißt nicht unproblematisch in die verbindende Gesinnung eingebunden werden kann. Allerdings hat der Begriff der Gemeinschaft im 20. Jahrhundert auch als Kategorie des politischen Diskurses Karriere gemacht. Er lässt sich dann folgendermaßen fassen: „In der Gemeinschaft ist neben und vor dem einzelnen die Gesamtheit als tragende und wirkende Einheit gegeben; in ihr kommen Rechtsverhältnisse und streng normierte erzwingbare Verhältnisse nicht vor, wie jede Gemeinschaft nicht in Kontrakten, sondern ‚wie die Familie in Verständnissen‘ begründet ist.“75
Tatsächlich ist es unmöglich, ‚Gesellschaft‘ als Gesellschaft ohne gemeinschaftliche Konnotationen zu verstehen. Denn jede sich selbst thematisierende und daher als ‚Gesellschaft‘ verstehende Gesellschaft führt notwendig sinnhaft überdeterminierte Wir-Konstrukte mit. Damit ist notwendig eine Abgrenzung vom Anderen und Fremden gegeben. Der Bezug zu ‚Familie‘ oder ‚Blut‘ macht außerdem deutlich, dass der Diskurs offen für biopolitische Implikationen ist. Wieso jedoch erscheint Schmitt die Gleichung Fremder = Feind derartig unproblematisch? Diese Gleichung wird nur im Kontext einer kriegerischen Bedrohung der Gemeinschaft plausibel, denn dann ist der Fremde zugleich (zumindest der Möglichkeit nach) Feind, da es um die Selbsterhaltung der Gemeinschaft geht. Zwischen Krieg und Gemeinschaft in einem gesellschaftlichen Rahmen lässt sich mit Emil Lederer plausibel eine Verbindung herstellen.76 Lederer spricht im Zusammenhang mit der Mobilisierung im Ersten Weltkrieg von einem Umwandlungsprozess „der Gesellschaft, die bis dahin bestand, in eine Gemeinschaft“77: „Nicht als Ausdruck sozialer Solidarität, sondern gegenseitiger intensivster Abhängigkeit von einander schlägt die Gesellschaft in die Gemeinschaft um, verblassen alle vorher bestehenden, als fundamental empfundenen sozialen Gruppen vor der unendlichen Einheit des Volkes, das in grandioser Erhebung aufsteht, den heimatlichen Boden zu verteidigen.“78 74
Ebd., S. XLII. Emil Lederer, Zur Soziologie des Weltkrieges [1915], in: Emil Lederer, Kapitalismus, Klassenstruktur und Probleme der Demokratie in Deutschland 1910–1940, Göttingen 1979, S. 119–144, hier S. 121. 76 Der fragliche Aufsatz Lederers, auf den hier Bezug genommen wird, wird gewürdigt in: Joas, Kriege und Werte, S. 122 ff. 77 Lederer, Zur Soziologie des Weltkrieges, S. 120 f. 78 Ebd., S. 121 f. 75
IV. Macht und Norm im militanten Konstitutionsdiskurs
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Wenn Schmitt den Fremden mit dem Feind gleichsetzt, so zeigt dies, dass er eben von der Gemeinschaft als ‚maßgebender Einheit‘ her denkt. Er begreift sie – und das heißt ihre Einheit und innere Homogenität – als andauerndes politisches und soziales Aggregat. Dies ist nur sinnvoll, wenn von der immer gegebenen realen Möglichkeit der Freund-Feind-Gruppierung, das heißt vom permanenten Ausnahmezustand ausgegangen wird. Eine solche Konstruktion impliziert eine an Verfolgungswahn grenzende Wachsamkeit im Innern, denn es wäre ‚naiv‘ anzunehmen, dass der Fremde/Feind sich immer offen zu erkennen gäbe. Er kann sich auch heimtückisch verbergen, um sich ‚parasitär‘ von der Lebenskraft des Volkes zu nähren. Zur Freund-Feind-Stellung, das heißt zum Kriegszustand gehören Tarnung, List, Verrat, Propaganda und Spionage schließlich notwendig hinzu. Die in solcher Sichtweise sich ergebende andauernde Bedrohungslage fordert daher eine auf Dauer gestellte Transformation der in sich zerstreuten Gesellschaft der Privatinteressen in eine abwehrbereite und formierte soziale und politische Gemeinschaft. Schmitt zufolge wird mit der Bestimmung des Feindes durch den Souverän zugleich die vorliegende Situation als Ausnahmezustand kenntlich gemacht. Diese Bestimmung unterliegt aber ganz dem Entscheidungsmonopol des Souveräns.79 Der ‚Ausnahmezustand‘ ist damit eine reine und performative Dezision, das heißt ein bloßer Akt der Setzung.80 Die Behauptung einer souveränen Willkür, den Ausnahmezustand herbeiführen zu können, korrespondiert mit der paranoiden Gefahrenwahrnehmung. Der Feind ist immer schon da, wenngleich verborgen. Jenem ‚Ausnahmezustand‘, mit dem Schmitt so souverän hantiert, entspricht keine Erfahrungswirklichkeit, sondern er ist eine reine Konstruktion, der die Außerkraftsetzung der Rechtsbindung der Machtinstitutionen markiert. Er erscheint als der Ort, an dem das Regime qua Entscheidung seine Kontrolle über die Lebenslage der Bevölkerung und das heißt seine Souveränität ausweist. Phänomenologisch aber ist der Ausnahmezustand immer als eine Situation zu bestimmen, in der etwas als Erfahrung zustößt und sich äußert, ohne schon einen Sinn zu haben. In diesem Moment ist das handelnde und entscheidende Subjekt erst einmal rat- und sprachlos. In dieser Sichtweise wird nicht über den Ausnahmezustand entschieden, sondern in der Offenheit des Ausnahmezustands wird das weitere Verfahren zum Thema. Zunächst ist dazu eine Distanzierungsleistung nötig, die die Lage 79 Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Berlin 61993, S. 19. 80 Bernd Ladwig, „Die Unterscheidung von Freund und Feind als Kriterium des Politischen“, in: Reinhard Mehring (Hg.), Carl Schmitt. Der Begriff des Politischen. Ein kooperativer Kommentar, Berlin 2003, S. 45–60, hier S. 55.
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als objektive Möglichkeit widerspiegelt. Dann kann entweder festgestellt werden, im Sinne welcher Interessen und Zwecke und nach welchen Werten und/oder Normen gehandelt werden soll; dabei können natürlich auch Entscheidungen getroffen werden, die sich über Werte und Normen hinwegsetzen. Die Entscheidung im Ausnahmezustand ist daher keinesfalls prinzipiell pränormativ. Das souveräne Recht, willkürlich über den Ausnahmezustand zu entscheiden, das heißt ihn zu ‚konstruieren‘, korrespondiert im Innern des Staatswesens mit der Homogenität des Lebens als Norm des Politischen. Schmitt chiffriert diese Norm etwa in Formeln, die von der „seinsmäßigen Behauptung der eigenen Existenzform“81 sprechen. Diese „eigene, seinsmäßige Art von Leben“82 befindet sich in einer permanenten Verteidigungsposition. Nur aufgrund der Inszenierung dieser defensiven Lage gelingt es, die innere Homogenität nicht als Norm, sondern als Ausdruck existenzieller Selbsterhaltung zu behandeln. Entsprechend konzipiert Schmitt die Lage, die eine Entscheidung über Freund und Feind fordert, als Verteidigungssituation. Er spricht daher nicht über den Angriffskrieg, sondern über den Verteidigungskrieg. Die einheitliche politische Gemeinschaft erweist sich als ständig bedroht und muss daher immer im Schatten der ‚realen Möglichkeit‘ eines Krieges gegen äußere wie innere Feinde leben. Es ist offensichtlich, dass Schmitts Homogenitätsnorm leicht in den Rahmen des biopolitischen Diskurses der 20er bis 40er Jahre gestellt werden kann. Diese Verbindung wurde und wird oftmals hergestellt. Sie rechtfertigt sich im Einzelnen aus folgenden Gründen: 1. Zunächst ist da der keineswegs akzidentielle Antisemitismus in den nach 1933 erschienenen Schriften Schmitts. In diesen wird die Ausscheidung der Juden aus dem deutschen ‚Volkskörper‘ legitimiert und offensiv gefordert.83 Der verborgene Feind im eigenen Gesellschaftskörper ist ein wesentlicher Topos, der die paranoide Struktur des Antisemitismus charakterisiert: ‚Gefahr ist im Verzug!‘ plus ‚Haltet den Dieb!‘.84 Diese Struktur passt zu einer Vorstellung, die Normalität und Ordnung in der sich permanent wiederholenden Dezision zwischen Freund und Feind, Eigenem und Fremden gegründet sieht.85 Bei der Zwangsemeritierung 81
Schmitt, Begriff des Politischen, S. 50. Ebd., S. 27. 83 Carl Schmitt, Die deutsche Rechtswissenschaft im Kampf gegen den jüdischen Geist, in: Deutsche Juristen-Zeitung, Nr. 20, 1936, Sp. 1193–1199. 84 Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, in: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 5, Frankfurt am Main 1987, S. 11–290, hier S. 217–230. 85 Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, S. 311. 82
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des konservativen deutschen Staatsrechtlers Erich Kaufmanns, der auch Jude war, spielte Schmitt dann auch eine unmittelbare Rolle. Die ganze Existenz Kaufmanns sei, so Schmitt, „auf Verschweigung der Abstammung und auf Tarnung“ angelegt.86 2. Mit dem Krieg wird eine Serie von physikalisch-biologischen Bedeutungen ins Spiel gebracht, die ebenfalls mit biopolitischen Diskursen korrespondieren: Kraft, Stärke, Energie, Stärkung und Vermehrung einer Rasse, Schwächung einer anderen.87 Im Kontext des Krieges gerät ‚Gemeinschaft‘ daher automatisch in das Fahrwasser von Lebensdiskursen, denn schließlich geht es um Überleben, Existenz und Selbstbehauptung. 3. Den Hintergrund der Anschauung, dass immer von der realen Möglichkeit einer Verteidigung ausgegangen werden muss, bildet die Vorstellung eines permanenten, gegeneinander gerichteten Existenzkampfes zwischen den Völkern. Diese Vorstellung lässt sich ohne größere Probleme mit sozialdarwinistischen Überlegungen vereinbaren, obwohl Schmitt selbst keine systematischen Anleihen beim Sozialdarwinismus macht. 4. Dadurch dass die Homogenitätsnorm von der Möglichkeit des Krieges her gedacht wird, ist sie strukturell bereits so angelegt, dass der Fremde ausgeschieden werden muss, weil er per definitionem als der Kristallisationspunkt eines möglichen innergemeinschaftlichen Krieges (Bürgerkrieges) gilt, das heißt als Gefahr für die Gemeinschaft. Insofern ist der Fremde immer schon ein Feind. Der Bezug zum Lebensdiskurs und damit zu rassistischen Ideologemen ist also nicht zufällig. Schmitts Vorstellung des Politischen und der biopolitisch-sozialdarwinistische Diskurs sind zwar nicht deckungsgleich – denn prinzipiell könnte die Homogenität der politischen Gemeinschaft auch auf Glauben, Tradition oder Herkunft beruhen –, aber Homogenitätsnorm und Lebenskampfideologien überschneiden sich auch recht unproblematisch. Deutlich wird dies, wenn von Schmitt die Chiffre vom „Lebensrecht des Volkes“ eingesetzt wird, um den permanenten Ausnahmezustand zu legitimieren.88 Die Norm des homogenen Sozialkörpers lässt sich mit Mary Kaldor als „Politik der Identität“ beschreiben. Kaldor versteht darunter „einen Machtanspruch, der auf der Grundlage einer besonderen, partikularen Identität er86 Schmitt in einem Schreiben vom 14.12.1934, zit. n. Dirk Blasius, Carl Schmitt. Preußischer Staatsrat in Hitlers Reich, Göttingen 2001, S. 129. 87 Foucault, Verteidigung der Gesellschaft, S. 66. 88 Carl Schmitt, Der Führer schützt das Recht. Zur Reichstagsrede Adolf Hitlers vom 13. Juli 1934, in: Deutsche Juristen-Zeitung, Nr. 15, 1934, Sp. 945–950, hier Sp. 947.
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hoben wird – sei es die einer Nation, eines Clans, einer religiösen oder einer Sprachgemeinschaft.“89 Solche Politik bezieht sich nicht auf verallgemeinerungsfähige Ideen, sondern auf abgrenzende, polarisierende und ausschließende „Etiketten“ (Mary Kaldor). Die Unterstellung einer spezifischen ‚elementaren‘ kulturellen Substanz oder ‚Lebenskraft‘ des deutschen Volkes ist ein Beispiel für diese Etikettenpolitik, die weiterhin durch eine starke Affinität zu kriegerischer Gewalt gekennzeichnet ist, denn „nichts polarisiert mehr als Gewalt“90. Solange der politische Raum durch die im Kontext des biopolitischen Diskurses stehende Norm der Homogenität strukturiert ist, lässt sich zwischen Institution und Norm keine Spannung feststellen, da der Ausnahmezustand damit zur Regel wird und somit die normative Bindung der Souveränitätsmacht an das Recht entfällt. Stattdessen wird aus dem ‚Lebensrecht des Volkes‘ abgeleitet, dass der Exekutive die unbeschränkte Souveränitätsmacht zukommen müsse. Der ‚Führer‘ schaffe „kraft seines Führertums als oberster Gerichtsherr unmittelbar Recht“.91 Hier fließen nicht nur Judikative (‚Gerichtsherr‘) und Legislative (‚Recht schaffen‘) zusammen, sondern sie gehen in der Exekutive (‚Führer‘) auf. Insofern handelt es sich um eine „Zone der Ununterscheidbarkeit zwischen [. . .] Gewalt und Recht“.92 Diese Struktur mündet in einen Zustand der „Gesetzeskraft ohne Gesetz“, das heißt der „Gesetzeskraft“.93 Dabei verdoppelt das Normative lediglich die Funktionsweise der Souveränitätsmacht. Allerdings hat dieses ‚Lebensrecht‘, das der Exekutive zwar ‚Kraft‘ verleiht, sie jedoch in keiner Weise fesselt, nichts mehr mit der aufgeklärten Verrechtlichung der Souveränität gemein, deren Sinn eben darin liegt, die Herrschaftsmacht zu binden. Ihre Absicht, ist nicht Bindung, sondern Freisetzung der souveränen Macht über Leben und Tod. Als Fundament dienen auch nicht Vernunftargumentationen, sondern mythisch-historische Konstruktionen.94 Wie hat man sich die Herstellung innerer Ordnung in Form eines homogenen Bevölkerungskörpers konkret vorzustellen? Worauf Schmitts Beschreibung abzielt, ist eine Art polizeiliches Maßnahmeregime, das ohne den Bezug auf einen übergeordneten rechtlichen Rahmen auskommt und ganz auf vollziehende Gewalt konzentriert ist.95 Anders lässt sich die Be89
Mary Kaldor, Neue und alte Kriege. Organisierte Gewalt im Zeitalter der Globalisierung, Frankfurt am Main 2000, S. 15. 90 Ebd., S. 143. 91 Schmitt, Der Führer schützt das Recht, Sp. 946. 92 Giorgio Agamben, Ausnahmezustand, Frankfurt am Main 2004, S. 75. 93 Ebd., S. 49. 94 Hans Barth, Masse und Mythos. Die ideologische Krise an der Wende zum 20. Jahrhundert und die Theorie der Gewalt: Georges Sorel, Hamburg 1959, S. 87 f. 95 Carl Schmitt, Der Hüter der Verfassung, Berlin 41996, S. 75 f.
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hauptung, jede Ordnung beruhe „auf einer Entscheidung und nicht auf einer Norm“96 nicht interpretieren: Der Souverän und ein ihm durch Gefolgschaft und Gehorsam verbundener polizeiartiger Verband stellen die innere Ordnung her. Recht ist lediglich nachgeordnet; es kann die souveräne Entscheidung und damit letztlich auch die Organe der exekutiven Gewalt nicht binden. Da die souveräne Entscheidung immer auf der Unterscheidung zwischen Freund und Feind bzw. zwischen Eigenem und Fremden beruht, muss diese polizeilich hergestellte innere Ordnung der politischen Einheit immer auch eine homogene ‚Gemeinschaft‘ sein. Die Pointe dabei ist, dass es kein objektives Kriterium gibt, das die Entscheidung des Souveräns, wer zu dieser Gemeinschaft gehört und wer nicht, eingrenzen kann, denn diese Entscheidung ist letztlich willkürlich. Alle Mitglieder dieser Gemeinschaft sind prinzipiell durch Acht und Bann bedroht. Der permanente Ausnahmezustand ist daher wesentlich Exekutive. Unter dem andauernden Bedrohungsszenario wird faktisch zwar nach Normen gehandelt. Allerdings nach Homogenitätsnormen, nicht nach der Fiktion einer Wieder- oder Neueinsetzung des Rechts. Im Rahmen der Unbestimmtheit dieser Norm und damit der reinen Faktizität der Regierungstechnik wird schließlich jeder Bürger der Möglichkeit nach zum willkürlichen Objekt des souveränen Banns. Der permanente Ausnahmezustand kennzeichnet folglich ausschließlich totalitäre politische Systeme. Wie Hannah Arendt gezeigt hat, wird die Entbindung der Souveränitätsmacht von den begrenzenden Normen, die mit dem Staat implizit mitgesetzt sind, dadurch erreicht, dass den staatlichen Institutionen eine zweite Reihe ‚revolutionärer‘ Institutionen (‚der Partei‘ oder ‚der Bewegung‘) beigestellt wird.97 Das führt zu der für totalitäre Systeme typischen Strukturlosigkeit. Der Staat ist dann nur noch „Fassade der Normalität“.98 In Wirklichkeit regieren Willkür, Ausbeutung, Raub und Terror. Ein solches Regime ist weder Beschützer des Rechts, noch begründet es eine ‚normale Situation‘. Vielmehr wird die gesamte soziale Ordnung zerstört. Nur in diesen Systemen kommt es zu einem generellen Zustand der Verlassenheit, „so dass jeder von jedem verlassen und auf nichts mehr Verlass ist.“99 Erst diese Möglichkeit eines endlosen Ausnahmezustands eskamotiert politische Entscheidungen prinzipiell von der normativen Bindung an das Recht und führt zur „Ausschaltung jedes Vernunftarguments im politischen Bereich“.100 96
Schmitt, Politische Theologie, S. 16. Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 21991, S. 614–647. 98 Ebd., S. 648. 99 Ebd., S. 729. 100 Christian Graf von Krockow, Die Entscheidung. Eine Untersuchung über Ernst Jünger, Carl Schmitt, Martin Heidegger, Stuttgart 1958, S. 58. 97
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Allerdings hat Schmitt nicht den Krieg selbst zur Norm des Politischen erhoben. Er charakterisiert das Politische lediglich als die reale Möglichkeit der Kriegführung. Die Norm des Politischen, die Schmitts Schriften als roter Faden durchzieht, ist die Einheit der politischen Gemeinschaft. Ohne eine Homogenität der Bürger untereinander und ohne Identität zwischen Regierenden und Regierten ist diese Einheit für ihn nicht vorstellbar – daher seine Kritik an Pluralismus und Parlamentarismus.101 Im gesellschaftlich-kriegerischen Mobilisierungsdiskurs der 20er und 30er Jahre wird die Norm des homogenen Bevölkerungskörpers allerdings unproblematisch mit der – über Schmitts Ansicht hinausgehenden – Norm des Krieges verbunden, wobei der Krieg als Ausdruck des Lebenswillens des homogenen Bevölkerungskörpers gesehen wird.102 Denn die permanente Wehrhaltung gilt nicht nur im Innern, sondern auch im Äußeren. Gefressen oder gefressen werden – da ist es doch besser zu fressen. Aus dieser in den Krieg hineininterpretierten biopolitischen Norm ‚des Überlebens‘ leitet sich letztlich die politische Verpflichtung zum ‚totalen Krieg‘ ab. Der Krieg gilt generell – nicht nur als Reaktion auf einen Angriff – als existenzieller Akt der Selbstbehauptung. Dass schließlich der Krieg als die „höchste Lebensäußerung völkischen Lebenswillens“103 erscheint, liegt in der Logik dieses Denkens. Offensichtlich wird die normative Auszeichnung des Krieges als Lebensform und als politischer Zweck an sich in den in der Zwischenkriegszeit erschienenen Schriften Erich Ludendorffs. Ludendorff schreibt sich bereits unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkrieges in einen biopolitischen Lebensdiskurs ein, der siegreiche Kriegführung und kulturelle Selbstbehauptung zusammenführt: „Natur ist Kampf! Siegen das Starke und Gute nicht, dann drängt sich das Unedle machtvoll hervor und zwingt zur Abwehr durch Kampf und Gewalt, wenn nicht das Edle unterliegen soll. Aber auch dieses bleibt nur leben, wenn es stark ist.“104
Insofern das Politische im Dienste der ‚völkischen‘ Lebenskraft steht, habe „die Gesamtpolitik dem Kriege zu dienen.“105 Der Krieg wird dabei zur Chiffre für den ‚Freiheitskampf‘ des Lebens. Das impliziert auch, im Innern jene die Lebenskraft des Volkes störenden Mächte zu bekämpfen: 101 Detlef Lehnert, „Der Staat als Form der politischen Einheit durch den Pluralismus in Frage gestellt“, in: Reinhard Mehring (Hg.), Carl Schmitt. Der Begriff des Politischen. Ein kooperativer Kommentar, Berlin 2003, S. 71–92. 102 Barth, Fluten und Dämme, S. 203–214. 103 Ludendorff, Kriegführung, S. 10. 104 Ebd., S. 333. 105 Ebd., S. 23.
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„Das Undeutsche in uns und um uns [. . .] liegt vornehmlich in dem Mangel an Rassegefühl, in der ungenügenden Berücksichtigung deutscher Art in Schule und Recht, in der Überhebung der Geistesbildung über die Handarbeit, in der sich bei uns breitmachenden selbstsüchtigen Geistesrichtung, in der Bewertung äußeren Wohllebens, in internationalem, pazifistischem und defaitistischem Denken und schließlich in dem starken Hervortreten des jüdischen Volkes innerhalb unserer Grenzen begründet.“106
Der um Kampf und Krieg zentrierte Lebensdiskurs konstruiert eine äußere und eine innere Frontstellung gegen das ‚Undeutsche in uns und um uns‘. Insofern ist hier bereits das Lager als der Ort des Kampfes gegen den inneren Feind vorgedacht. Ludendorff zufolge hat die Politik dem Kriege ‚zu dienen‘, das heißt der Krieg wird zur Norm des Politischen erhoben. Insofern das Politische in modernen Massengesellschaften ohnehin dazu neigt, alle gesellschaftlichen Kräfte zu erfassen und zu regulieren und sich in diesem Sinne zu totalisieren107, gerät damit die gesamte Gesellschaft (und nicht nur die Staatsorgane im engeren Sinne) in das Gravitationsfeld des Krieges. Krieg wird zum ‚totalen Krieg‘: „Das Wesen des Krieges hat sich geändert, das Wesen der Politik hat sich geändert, so muss sich auch das Verhältnis der Politik zur Kriegsführung ändern. Alle Theorien von Clausewitz sind über den Haufen zu werfen. Krieg und Politik dienen der Lebenserhaltung des Volkes, der Krieg aber ist die höchste Äußerung völkischen Lebenswillens. Darum hat die Politik der Kriegsführung zu dienen.“108
Der Krieg als Staatszweck – diese Norm negiert die Spannung zwischen Macht und Norm, indem sie die Machtwirklichkeit der Institution verdoppelt und zur Norm steigert. Das widerspricht in allem der Auszeichnung des Friedens als Norm des Staatspolitischen. Unter der lebenspolitischen Norm des Krieges kommt eine Bindung an internationale Konventionen für die Kriegführung nicht in Frage, denn das Prinzip des unbedingten Lebenswillens eines Volkes kann keine übergeordnete Norm anerkennen. Ein interessanter Unterschied zwischen Schmitts politischer Einheitsidee und Diskursen, die von Kampf und Krieg als Prinzipien des Lebens ausgehen, zeigt sich in der Bewertung des Friedens. Schmitt hält zumindest insoweit an dem klassischen staatspolitischen Axiom fest, dass auch für ihn der Sinn des Krieges der Frieden ist.109 Der Lebenskampfdiskurs dagegen stilisiert den Krieg zur Ausdrucksform menschlichen Lebens und macht ihn 106
Ebd., S. 338. Schmitt, Hüter der Verfassung, S. 77–79. 108 Erich Ludendorff, Der totale Krieg, München 1935, S. 10. 109 Wilfried Nippel, „Krieg als Erscheinungsform der Feindschaft“ (28–37), in: Reinhard Mehring (Hg.), Carl Schmitt. Der Begriff des Politischen. Ein kooperativer Kommentar, Berlin 2003, S. 61–70, hier S. 66. 107
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damit zum Inhalt der Politik. Nach Schmitt ist dagegen der Krieg „durchaus nicht Ziel und Zweck oder gar Inhalt der Politik“.110 Zu der Behauptung, dass die Politik lediglich als Funktion des Krieges zu gelten habe, geht Schmitt deutlich auf Distanz, wenn er etwa 1940 schreibt: „Der Sinn jedes nicht sinnlosen Krieges liegt in dem Frieden, der den Krieg beendet.“111 Der ‚totale Frieden‘, der Schmitt vorschwebt, ist ein ‚Raumordnungsfrieden‘. Der durch den Krieg neu geordnete ‚Großraum‘ kann „nur ein Bereich völkischer Freiheit und weitgehender Selbständigkeit und Dezentralisierung sein.“112 Von einer Souveränität der Völkervielzahl in dem gewaltsam neu geordneten Großraum ist nicht die Rede, nur von ‚weitgehender Selbständigkeit‘. Innerhalb dieses Großraums begegnen die Völker der imperialen Macht, die ihn qua Gewalt eingerichtet hat, nicht mehr als mögliche Feinde, da sie über keine politischen Gewaltmittel mehr verfügen. Es handelt sich um einen Frieden, der vollständig einem imperialen Nomos entspricht. Dennoch ist dies etwas anderes, als ein endlos fortgeführter Vernichtungskrieg. Diese Raumordnungstheorie kennzeichnet allerdings die späteren Schriften Schmitts. In der Schrift Begriff des Politischen gilt Frieden – wie Krieg – nur als eine zu bedenkende Möglichkeit politischen Handelns, insofern im jeweiligen Augenblick „das politisch Richtige [. . .] gerade in der Vermeidung des Krieges liegen kann“.113 Diese Friedensidee steht jedenfalls nicht in Spannung zur Wirklichkeit des Politischen, weil mit ihr kein unbedingter normativer Anspruch verbunden ist. Sie hält sich ganz im Rahmen des politisch-strategischen Zweckkalküls. Die Norm des ‚totalen‘ Raumordnungsfriedens tritt interessanterweise erst in dem Moment in eine gewisse Spannung zur institutionellen Machtwirklichkeit, in dem die Homogenitätsnorm relativiert wird und von der Dezentralisierung mit weitgehender Selbständigkeit innerhalb eines politische Großraums die Rede ist. Für eine durch die staatlichen Ordnungsfunktion behütete Gesellschaft ist der permanente Ausnahmezustand weder im Innern noch im Äußeren legitimationsfähig. Schmitt wie Ludendorff zielen darauf, Normen zu formulieren, die den permanenten Ausnahmezustand im Innern und nach außen legitimieren und ermöglichen. Die Spannung zwischen institutioneller Machtwirklichkeit und Norm des Politischen wird damit aufgehoben. Daher muss die Analyse politischer Strukturen immer die Frage zugrunde legen, ob es ein Spannungsverhältnis zwischen institutioneller Machtwirklichkeit und 110
Schmitt, Begriff des Politischen, S. 34. Carl Schmitt, Die Raumrevolution. Durch den totalen Krieg zu einem totalen Frieden, in: Das Reich, Nr. 19 vom 29.9.1940, S. 3. 112 Ebd. 113 Schmitt, Begriff des Politischen, S. 33. 111
V. Das Reentry der Macht in die Norm
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Norm gibt. Gibt es diese Spannung nicht, dann verdoppeln die Normen die Macht. Gibt es sie, dann wird das Politische normativ reguliert.
V. Das Reentry der Macht in die Norm Die Spannung zwischen Macht und Norm ist begrifflich allerdings in zwei Richtungen offen zu halten. Sowenig wie der Begriff des Politischen sich in einem normativen Rahmen erschöpfen kann, der die Wirklichkeit der Macht lediglich verdoppelt, so wenig löscht die Normorientierung des Politischen die Mechanismen der Machtwirklichkeit aus. Das allerdings bedeutet wiederum, dass Macht und Norm in ein komplexes und ambivalentes Verhältnis eintreten: Dieses Verhältnis schließt daher lebenspolitische Machteffekte, wie die Verbannung des Anderen, nicht aus, sondern vielmehr ein. So hat Giorgio Agamben plausibel darauf hingewiesen, dass die Funktionsweise der Souveränität als Machtform auf dem Aussprechen des Banns über das Leben beruht.114 Und Karl Otto Hondrich kann deutlich machen, dass eine ‚Präferenz für das Eigene‘ jeden kulturellen Raum durchzieht, ja durchziehen muss. Jedes soziale Gebilde „kann die eigene Identität nur dadurch gewinnen, dass es sich von anderen Kulturen unterscheidet – und diese zugleich abwertet.“115 Funktionsweise der Souveränitätsmacht und sie unterstützende quasi-naturwüchsige kulturelle Homogenitätsnormen werden durch Universalität beanspruchende moralische Regulative nicht einfach außer Kraft gesetzt, sondern gehen mit diesen ein zirkuläres und spannungsgeladenes Funktionsverhältnis ein. Zum Teil werden Machtwirkungen der Souveränität daher öffentlich problematisiert, zum Teil aber durchaus auch überhöhend legitimiert. Die Spannung von Macht und Norm ist also nicht nur als Regulation der Macht durch die Norm, sondern auch als Reentry der Macht in die Norm zu denken. Damit ist auch eine gewissermaßen ‚kybernetische‘ Moralphilosophie gefordert, die die soziologisch zu konstatierende Vermischung von a) universeller und partikularer Moral und b) von strategischem Handeln und politischer Friedensnorm noch einmal – sozusagen eine Spiralschleife weitergedreht – unter moralisch-regulativer Perspektive reflektiert. Diese moralphilosphische ‚Kybernetik‘ ist nun gerade nicht Gegenstand dieser Arbeit, aber es soll doch zumindest darauf hingewiesen werden, dass nur in diesem Sinne Schmitts Kritik des ‚gerechten Krieges‘ heute noch verstanden und wiederaufgenommen werden kann. So schreibt er über den Völkerbund (auf die UNO lässt sich das Argument nahtlos übertragen): 114 115
Agamben, Homo sacer, S. 39, 57. Hondrich, Wieder Krieg?, S. 134.
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C. Die Konstitutionsfunktion des Krieges
„Der Genfer Völkerbund ist [. . .] im wesentlichen ein Legalisierungssystem. Er soll das Urteil über den gerechten Krieg bei einer bestimmten Stelle monopolisieren und die mit der Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff verbundene, folgenschwere Entscheidung über Recht und Unrecht des Krieges bestimmten Mächten in die Hände geben. Er ist also, solange er in dieser Form besteht, nur ein Mittel zur Vorbereitung eines im höchsten Grade ‚totalen‘, nämlich eines mit überstaatlichen und übernationalen Ansprüchen geführten, ‚gerechten‘ Krieges.“116
Weil das Recht des souveränen Staates, über den Ausnahmezustand kraft eigener Willkür zu entscheiden durch internationales Recht beschnitten und moralisch bestritten wird, gilt ein Staat, der dem Verdikt der Weltöffentlichkeit unterliegt, nicht mehr als Kriegsgegner, sondern als Feind der Menschheit überhaupt und wird daher moralisch disqualifiziert. Er sieht sich als ‚öffentlicher Feind‘ plötzlich außerhalb jeden Rechts. Diese Dialektik, in der sich der normative Anspruch mit der Logik des Strategischen verbindet, steht in der Tat im Kontext des totalen Krieges, denn „dem Feind wird die Qualität des Menschen abgesprochen“ und „dadurch der Krieg zur äußersten Unmenschlichkeit getrieben“.117 Freilich kann dieser Hinweis auch ganz anders gelesen werden: Wenn schon die an normative Imperative gebundenen Demokratien einen totalen Krieg führen und zugleich überlegitimieren, dann sei es doch besser, auf dieses moralische Mäntelchen zu verzichten und mit aller Klarheit und Kälte eine totale Kriegführung gegen den inneren und äußeren Feind vorzubereiten und zu führen. In diesem Sinne wurde die Nichtanerkennung des Feindes, die Schmitt weitsichtig prophezeiht, zum Credo des Vernichtungskriegs der Wehrmacht in Russland. Sie charakterisiert die sich außerhalb rechtlicher Normen vollziehende Verwaltungstätigkeit in den besetzten Ostgebieten und beschreibt die Lage in den deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagern. So wurde die Kriegführung im Osten von der nationalsozialistischen Führung als reiner ‚Weltanschauungskrieg‘ gesehen, womit sowohl ein Rassen- als auch ein Vernichtungskrieg gemeint war. Die Offiziere der Wehrmacht und, bedingt durch die Propaganda, vermutlich auch viele Soldaten übernahmen diese Ideologie, die ein Konglomerat aus Antibolschewismus, Antislawismus und Antisemitismus darstellte.118 Die Verwaltung in den Ostgebieten agierte „ungehemmt von bestehenden administrativen und gesetzlichen Normen“119, getragen von rassistischem Hochmut, Zynismus und un116
Schmitt, Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff, S. 2. Schmitt, Begriff des Politischen, S. 55. 118 Wolfram Wette, Juden, Bolschewisten, Slawen. Rassenideologische RußlandFeindbilder Hitlers und der Wehrmachtsgeneräle, in: Bianka Pietrow-Ennker (Hg.), Präventivkrieg? Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion, Frankfurt am Main 2000, S. 37–55, hier S. 41 f., 50–52. 117
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begrenzter Gewaltanwendung im Falle geringster Unbotmäßigkeiten. In den besetzten Ostgebieten entstanden führerimmediate Sondergewalten, „die weitgehend selbstgesetzten rechtsförmigen Regelungen folgten und sich dem Zugriff der Reichsgesetzgebung größtenteils entzogen.“120 Und die Wirklichkeit des Lagers beruhte „nicht auf Ausbeutung, Strafgewalt oder Legitimität, sondern auf Terror, Organisation und exzessiver Tötungsgewalt.“121 Sie war gekennzeichnet durch absolute Macht und entsprach in dieser Hinsicht einem Modell der Entscheidung, das diese absolut setzt. Denn ein rein dezisionistisches Modell bietet keinen Raum für die Spannung zwischen Erfahrung und Deutung, für die Spannung zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit oder für die Spannung zwischen Institution und Norm, sondern es macht die Welt „zum widerstandslosen Werkzeug im Entwurf beliebiger ‚Möglichkeiten‘ “.122 Absolute Macht kennt kein Gegenüber: „Hier streift die Macht ihre Fesseln erst ab, nachdem alle Gegner längst bezwungen sind. Sie verzichtet nicht auf Gewalt, sondern befreit sie von allen Hemmungen und potenziert sie durch Organisation. [. . .] Nicht auf blinden Gehorsam oder Disziplin ist sie aus, sondern auf ein Universum völliger Ungewissheit, in dem auch Fügsamkeit nicht vor Schlimmerem bewahrt. [. . .] Terror löst die Verknüpfung von Vergehen und Sanktion auf. Er braucht weder Anlässe noch Begründungen; er denkt gar nicht daran, sich durch Drohungen selbst zu verpflichten. Absolute Macht tobt sich aus, wann immer sie will.“123
Im Angesicht der historischen Verwirklichung absoluter, von jeder Spannung zu Vernunftnormen befreiter Macht, kann es daher nicht darum gehen, aus dem Hinweis, dass Machtwirklichkeit und universelle Moral immer in ein komplexes zirkuläres Verhältnis eintreten, den Schluss zu ziehen, die Frage der universellen Norm habe sich erledigt – wie etwa Agamben meint124 – oder es sei ‚ehrlicher‘, im Gefolge von Schmitt gleich der reinen Macht zu huldigen. Vielmehr ist die Aufgabe gestellt, diese Zirkularität wiederum in normativer Hinsicht zu reflektieren. Gerade auch Schmitts Kritik an der Nichtanerkennung des Feindes kann heute nur vor einem solchen normativen Hintergrund gelesen werden. Ausgehend von dem zirkulären und widersprüchlichen Verhältnis zwischen Macht und Norm ist es systematisch möglich, auch nach den Funktionen des Normativen für Machtinstitutionen und -verhältnisse oder – mit 119 Hans Mommsen, Der Krieg gegen die Sowjetunion und die deutsche Gesellschaft, in: Bianka Pietrow-Ennker (Hg.), Präventivkrieg? Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion, Frankfurt am Main 2000, S. 56–73, hier S. 65. 120 Ebd. 121 Wolfgang Sofsky, Die Ordnung des Terrors, Frankfurt am Main 21993, S. 23. 122 Krockow, Die Entscheidung, S. 144. 123 Sofsky, Ordnung des Terrors, S. 28 f. 124 Agamben, Homo sacer, S. 190.
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Foucault – im Rahmen von Machttechnologien zu fragen. Aber aus solcher funktionalistischer Betrachtung darf nicht der Schluss gezogen werden, dass diese Normen die institutionelle Wirklichkeit per se lediglich verdoppeln oder unterstützen. Denn für diese Vernunftnormen gilt, dass sie nicht auf die Verwirklichung einer Staatsutopie zielen, sondern moralische Regulative für soziales und politisches Handeln formulieren. Es ist hierbei also von einer nicht aufhebbaren Spannung zwischen Sein und Sollen auszugehen. Dass diese Normen in die gesellschaftliche Machtwirklichkeit verwickelt werden, spricht nicht gegen sie – schließlich ist das ihr Zweck. Deshalb kann aus der funktionalistischen Betrachtung nicht die wiederum normative Folgerung abgeleitet werden, man solle sich doch besser gleich an solche Normen halten, die der Funktionsweise der Macht entsprächen. Denn einerseits ist es durchaus sinnvoll, das Reentry der Macht in den normativen Anspruch wiederum unter moralischer Perspektive zu reflektieren. Dem Reentry der Macht in die Norm folgt dann gewissermaßen das Reentry der Norm in die Macht. Und andererseits ist es nur unter der Voraussetzung der Spannung zwischen Sein und Sollen sinnvoll, menschliches Handeln überhaupt als sinnhaftes Handeln zu betrachten, das heißt als ein Handeln, das sich an der empirischen Erfahrung immer reibt und ihm die Möglichkeit der Freiheit entgegensetzt. Die „Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit“125 impliziert die Orientierung willkürlichen Handelns an Normen, Werten und Ideen. Die explizite oder implizite Behauptung, ‚richtige‘ Normen seien nur solche, die mit dem gesellschaftlichen Sein übereinstimmen würden, eskamotiert diese handlungskonstitutive Spannung zwischen Sein und Sollen. Gegen Schmitt ist daher einzuwenden, dass die Norm des homogenen Bevölkerungskörpers nur die Wirklichkeit der Polizei als Herstellung innerer Ordnung ohne rechtlichen Rahmen verdoppelt. Analog ist gegen Ludendorff vorzubringen, dass die Norm des Krieges lediglich die Wirklichkeit äußerer gewaltförmiger Willensdurchsetzung ohne regulative Friedensnorm unterstützt. Schmitt kann so gelesen werden, dass er in idealtypischer Weise die Funktionsweise der reinen Souveränitätsmacht beschreibt. Diese Macht ist wesentlich exekutive Verfügungsgewalt über das Leben der Mitglieder des Gemeinwesens. Diese werden dadurch auf das Gemeinwesen verpflichtet, dass von ihnen (und nicht nur von Soldaten) Todes- und Tötungsbereitschaft verlangt wird. Die Souveränitätsmacht zeigt sich damit in der Möglichkeit, über das Leben der Staatsbürger zu verfügen.126 Souveränitätsmacht ist daher letztlich der reine Maßnahmestaat jenseits des Rechts125 126
Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 489 (B 561). Schmitt, Begriff des Politischen, S. 46, 70.
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zustands. Dabei kennt die Homogenitätsnorm keinerlei die Entscheidungsgewalt begrenzende Kriterien. Dagegen sind Gewaltenteilung, parlamentarische Kontrolle, Rechtssicherheit und moralische Regulative einerseits, Menschenrechte, internationales Recht und multilaterale Sicherheitssysteme andererseits als Kontrollorgane der Souveränität zu begreifen. Die Bedeutung dieser Kontrollmächte wird von Schmitt zwar erkannt, aber normativ abgelehnt. Das Problem bei Schmitt liegt daher nicht in seiner idealtypischen Beschreibung der Funktionsweise der Souveränitätsmacht, sondern in der normativen Forderung, dass die Wirklichkeit dieser Macht aus jeder Kontrolle freizusetzen sei. Auch Agamben würdigt die kontrollierende und hegende Funktion des Rechts gegenüber der Wirklichkeit der Souveränitätsmacht nicht ausreichend, obgleich er mit dem Hinweis Recht hat, dass diese Kontrolle die Effekte der Souveränitätsmacht nicht einfach außer Kraft setzt. Aber er behauptet, dass im Ausnahmezustand die Identität der „Überschreitung des Gesetzes und seine[r] Ausübung“127 sichtbar würde. Das ist nicht der Fall; sichtbar wird vielmehr – und das auch nur im permanenten Ausnahmezustand – die aus der Spannung von Institution und Norm entlassene Exekutive. Nur im permanenten Ausnahmezustand verschwindet die Orientierung an der Wiederherstellung der normalen Ordnung. Diese Entlassung der Macht geschieht hierbei nicht nur mittels einer zeitweisen Suspendierung des Rechts, die in irgendeiner Form der Indemnitätsfeststellung bedarf, sondern durch die Konstruktion einer andauernden Bedrohungslage, wie sie durch den Bezug auf biopolitische Homogenitätsnormen möglich wird. Diese biopolitische Legitimation ist aber etwas durchaus anderes als die aufgeklärte Verrechtlichung der Souveränität. Solche Homogenitätskonstrukte bringen deshalb nicht die ‚Wahrheit‘ des Rechts zum Ausdruck. Agamben ist daher eine systematische Verwischung von begrifflichen Unterscheidungsmöglichkeiten vorzuwerfen.128 Das begriffliche und theoretisch problematische Einziehen der Spannung von Macht und Recht, Institution und Norm mündet bei politisch ganz unterschiedlich situierten Autoren in einem diskursiven Kriegsmodell. Die Genealogie dieses Kriegsmodells wird von Foucault 1976 in einer Vorlesung am Collège de France ausführlich rekonstruiert. Er sucht eine Antwort auf die Frage: „Wer hat eigentlich die Idee gehabt, den Grundsatz von Clausewitz umzudrehen, wer hat die Idee gehabt, zu sagen: es ist gut möglich, dass der Krieg die mit anderen Mitteln geführte Politik ist. Aber ist nicht auch die Politik der mit anderen Mitteln geführte Krieg?“129 Foucault 127 128 129
Agamben, Homo sacer, S. 68. Ortmann, Regel und Ausnahme, S. 92. Foucault, Verteidigung der Gesellschaft, S. 57.
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prüft, ob sich in dem Schema des Kampfes und des Kämpfens „ein Erkenntnis- und Analyseprinzip der politischen Macht“ finden lässt.130 Er bejaht diese Frage vorsichtig, weist aber zugleich darauf hin, dass es lediglich darum geht, die Funktionsweisen der Machtformen ans Licht zu bringen und sie nicht innerhalb des normativen Rechtsdiskurses verschwinden zu lassen.131 Damit weist Foucault erstens auf die Eigenständigkeit der Macht gegenüber der Norm hin. Er lässt die Wirklichkeit der Macht aus dem legitimatorischen Diskurs heraustreten. Zweitens zeigt er, dass Macht und Legitimation, Institution und Norm miteinander interagieren. Politische Normen sind in Machthandlungen verwoben. Drittens aber betont er – im Rückgriff auf die politische Philosophie Kants – die Spannung zwischen Macht und Recht. Die Geschichte der Mächte kann nicht von der Geschichte ihrer normativen Kritik und des Diskurses der Machtbegrenzung getrennt werden.132 Foucault macht es möglich, das Reentry der Macht in die Norm zu thematisieren, das heißt es einerseits zu erkennen und wissenschaftlich zu beschreiben und es andererseits unter normativen Gesichtspunkten zu reflektieren. Die Analyse von Funktionsmechanismen der Macht steht bei Foucault im Kontext einer zirkulären Spannung zwischen Macht und Recht. Das allerdings gilt nicht unbedingt für alle seine Leser. So behaupten etwa Michael Hardt und Antonio Negri, Foucault würde empfehlen, der Grundsatz von Clausewitz sei umzukehren.133 Diese ‚Lektüre‘ erklärt sich allerdings besser aus der Ansicht der beiden Autoren, dass bei der Analyse der globalen politischen Sicherheitsdispositivs von vornherein von der Identität von Macht und Recht auszugehen sei: „Der Krieg als Fundament der Politik muss selbst Rechtsformen einschließen, ja, er muss neue prozedurale Formen des Rechts schaffen“.134 Hardt und Negri ziehen die Differenz zwischen Macht und Recht ein. Wie bereits für Schmitt folgt auch für diese Autoren aus der Aufhebung der Spannung zwischen Institution und Norm ein unkritisches und letztlich legitimatorisches Verhältnis zur je nach Perspektive für ‚moralisch‘ notwendig erachteten Gewalt. Solche machtapologetische Moral erscheint von vornherein – so bereits George Sorel – „in Abhängigkeit von einem Kriegszustande“135 und manifestiert sich als ‚wahre‘ Moralität.136 Im Falle ‚lin130
Ebd., S. 31. Ebd., S. 35. 132 Michel Foucault, Was ist Kritik? Berlin 1992, S. 11–18. 133 Michael Hardt/Antonio Negri, Multitude. Krieg und Demokratie im Empire, Frankfurt am Main 2004, S. 28. 134 Ebd., S. 38. 135 Georges Sorel, Über die Gewalt, Innsbruck 1928, S. 255. 136 Barth, Masse und Mythos, S. 97, 102–104. 131
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ker‘ Autoren handelt es sich dabei um ‚revolutionäre‘ oder ‚proletarische‘ Gewalt. ‚Rechten‘ Autoren geht es dagegen um Gemeinschaft oder innere Homogenität ‚verteidigende‘ Gewalt. Auch bei Negri und Hardt findet sich dementsprechend die Apologie der ‚wahren‘, das heißt ‚revolutionären‘ Gewalt. Etwa wird die chinesische Kulturrevolution als „Vorbild“ der „proletarischen Subversion“ gelobt, ohne auf die Opferdimension dieses Terrors auch nur hinzuweisen.137 Unabhängig von der politischen Orientierung bilden Überlegungen wie die Sorels, Benjamins, Schmitts, Ludendorffs, Agambens oder Hardts und Negris in Hinsicht auf die Außerkraftsetzung der zirkulären Spannung zwischen Institution und Norm doch einen gemeinsamen Diskurs – und zwar einen kriegerischen, auf das Soziale bezogenen Diskurs. Dabei wird der Krieg als das Wesen des Politischen bestimmt. Insofern der Krieg in diesem kriegsgesellschaftlichen Diskurs das Wesen der Souveränitätsmacht, das heißt der Macht, die gesellschaftliche Ordnung produziert, kennzeichnet, wird ihm eine unmittelbare konstitutive Funktion für das Gesellschaftliche zugesprochen.
VI. Der Ort der Konstitutionsfunktion des Krieges Nach Carl Schmitt liegt die Konstitutionsfunktion des Krieges darin, dass allein die Möglichkeit zur Kriegführung eine politische Einheit, das heißt „eine politische ‚Gemeinschaft‘“138 begründen könne. Dabei wehrt er sich ausdrücklich gegen die Vorstellung, dass die politische Einheit (das heißt die Organisation einer eingehegten Gesellschaft) durch Normen oder Werte begründet werde. Vielmehr bedürfe die Geltung sozialer Normen wiederum eines Grundes – und dieser Grund sei eben die Möglichkeit des Krieges. Die Möglichkeit der Entscheidung über Freund und Feind ist demnach „normgebend“.139 Aufgrund dieser Fassung der Konstitutionsfunktion ist für Schmitt die Möglichkeit des Krieges immer etwas, was außerhalb oder vor der Geltung von Normen liegt. Kriege werden nicht für Normen, Ideen oder Werte geführt, sondern gegen konkrete Menschen oder Verbände.140 Daher sind Normen für Schmitt nur ideologische Instrumente im Rahmen einer strategischen Anordnung. 137 138 139 140
Hardt/Negri, Multitude, S. 95. Schmitt, Begriff des Politischen, S. 45. Ebd., S. 52. Ebd., S. 52, 66, 72.
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Wie denn nun die gemeinschaftliche Gesellschaftsbildung ohne Rekurs auf normative Ideale denkbar sein soll, bleibt aber entgegen Schmitts Anspruch völlig im Dunklen. Diese Konstitutionsfunktion wird für ihn unmittelbar aus der konkreten Qualität des Kampfes evident. Es geht eben um Sein oder Nichtsein; es heißt, das schweiße automatisch zusammen. Nun hat Schmitt Recht, wenn er darauf verweist, dass durch die Schadenszufügung qua Gewalt existenzielle Qualitäten in den öffentlichen Diskurs eingebracht werden, die sich nicht durch den Bezug auf vorgängige Normen und Werte erklären lassen. Die Frage ist allerdings, ob die aus der Möglichkeit des Krieges folgende Notwendigkeit, mit diesen Qualitäten zu rechnen an und für sich gesellschaftskonstitutiv sein kann. Schmitt bezieht sich auf einen existenziellen Kriegsbegriff. Aus der Möglichkeit des Kampfes gegen einen wirklichen Feind folgt unmittelbar die Konstitution der Gesellschaft als Gemeinschaft bzw. als politische Einheit. Der Krieg erscheint nicht als Mittel für Zwecke, „sondern als Medium der Konstitution oder Transformation einer politischen Größe“141. Dabei herrscht die Vorstellung vor, dass „der Krieg [. . .] erst jenen Zustand hervor[bringt], in dem sich ein politischer Körper seiner Identität bewusst wird.“142 Damit ist die Paradoxie der existenziellen Kriegsauffassung schon benannt: Zumindest die virtuelle Existenz eines politischen Körpers – einer Gemeinschaft – wird bereits vorausgesetzt, wenn es sich um einen Prozess der kollektiven Bewusstwerdung handelt. Die Erfahrung des Krieges bringe dieses Ansich-Sein zum Fürsich-Sein. Umgekehrt aber würde ohne diese Virtualität der Gemeinschaft gar keine Verteidigung stattfinden. Um von einer Konstitutionsfunktion des Krieges sprechen zu können, muss also bereits der Möglichkeit nach eine abgrenzbare ‚Gesellschaft‘ vorausgesetzt werden können. Denn die Bereitschaft der Mitglieder einer Gesellschaft im Krieg zu sterben „setzt voraus, dass die Bürger einen starken Sinn für die Zugehörigkeit zu ihrem Gemeinwesen haben“.143 Dieser Sinn kann folglich nicht selbst erst Erzeugnis des Krieges sein. Daraus folgt wiederum, dass von einer unmittelbaren Konstitutionsfunktion des Krieges nicht ausgegangen werden kann. Ein kriegerisches Konstitutionsverhältnis kann immer nur ein vermitteltes sein, weil eine Gesellschaft sich als bedrohte Gemeinschaft wahrnehmen muss, um sich überhaupt zu ‚verteidigen‘. Nur wenn sich das bloße gesellschaftliche Nebeneinander durch eine überdeterminierte Vorstellung ‚des Sozialen‘ in ein Miteinander verwandelt, kann eine kollektive Verteidigung 141
Münkler, Über den Krieg, S. 106. Ebd., S. 107. 143 Charles Taylor, Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie? Aufsätze zur politischen Philosophie, Frankfurt am Main 2002, S. 16. 142
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überhaupt denkbar werden. Krieg kann folglich nur Verstärker oder Katalysator der Konstitution von ‚Gesellschaft‘ sein; immer aber ist der gesellschaftlich-gemeinschaftlichen Selbstthematisierung bereits ein kulturell differenzierbarer Raum vorausgesetzt. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass im Rahmen einer ganzen Gesellschaft, um den es Schmitt geht, weder die „Gemeinschaft des Blutes“, noch die „des Ortes“ bzw. die „des Geistes“144 unproblematisch vorliegt. Vielmehr sind die Gemeinschaftskonnotationen der ‚Gesellschaft‘ diskursiv herzustellen; sie ergeben sich nicht natürlicherweise von selbst. Ohne einen solchen öffentlichen Diskurs, der das je Eigene bestimmt, liegt keine Einheit vor, die überhaupt bedroht werden könnte. Eine über einen geographischen Raum verstreute, bloße Vielzahl von Menschen kann sich nicht verteidigen, weil ihr die Möglichkeit fehlt, sich als gesellschaftliches Ganzes wahrzunehmen. Seine mittelbare Konstitutionsfunktion kann der Krieg nur bekommen, indem ihm die Bedeutung zugeschrieben wird, dass er die ‚Gesellschaft‘ als Wert herstelle. Diese Bedeutungszuschreibung ist keine bloße Konstruktion, denn weil mit dem Krieg unhintergehbar existenzielle Erfahrungen verbunden sind, welche die Verkörperung des ‚Wir‘ in der Verletzung erlauben, bietet er sich für diese Zuschreibung auch an. Aber sie macht nur Sinn, wenn vorausgesetzt werden kann, dass es eine verteidigungswürdige (und -bereite) Kollektivität überhaupt gibt. Der Ort dieser Zuschreibung der Konstitutionsfunktion an den Krieg ist ein öffentlicher Diskurs. In diesem Diskurs zirkulieren unproblematische normative Gemeinschaftskonnotationen der ‚Gesellschaft‘; auf diese beruft man sich, um vom Krieg Einigung, Befreiung oder auch Läuterung zu erhoffen. Bezogen auf die existenzielle Kriegsauffassung heißt das, dass sie weit davon entfernt ist einzulösen, was sie verspricht. Nicht konstituieren sich im Kriege oder aus der Möglichkeit des Krieges heraus die Gemeinschaftsnormen, sondern vielmehr gehen bereits normative und kulturelle Voraussetzungen in die Behauptung ein, dass es so sei. Die Möglichkeit des Krieges liefert also durchaus nicht den normkonstitutiven Grund sozialer und politischer Einheit, wie Schmitt behauptet, vielmehr ist der Krieg in der existenziellen Sicht „ein Werkzeug von Theoretikern mit starken normativen Annahmen“.145 Die Feststellung einer Gefahr für die ‚eigene Art Existenz‘ setzt bereits ein öffentlich weitgehend anerkanntes Set kultureller Bedeutungen und gesellschaftlicher Normen und Werte voraus, die bestimmen, was denn unter dieser ‚Art von Leben‘ zu verstehen sei. Es ist natürlich zu beachten, dass ‚Norm‘ für den Juristen Schmitt zunächst erst einmal ‚Rechtsnorm‘ heißt, wohingegen ‚Norm‘ im soziologi144 145
Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, S. 12. Münkler, Über den Krieg, S. 115.
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schen Sinne viel weiter zu fassen ist. Also könnte man argumentieren, dass im Sinne Schmitts durchaus eine soziale Entität vorhanden sein könne, es gehe ausschließlich um die politische Konstitution und um die Begründung eines Ordnungsraums. Allerdings würde eine solche Argumentation die normgebende Funktion des Krieges ebenfalls relativieren und statt dem Krieg dem Sozialen den Primat zuordnen (was – da die Rede vom ‚Sozialen‘ für Schmitt ein typisches Signum des verhassten Liberalismus ist146 – vermutlich nicht in seinem Sinne wäre). Außerdem verwischt Schmitt selbst ständig die Bedeutung zwischen sozialen Normen und Rechtsnormen. So umfasst die ‚normale Situation‘, die der Staat herstellt, weit mehr als nur die Einsetzung eines Gesetzes. Auch haben nur soziale Normen einen existenziellen Sinn, die unmittelbar das Leben der vergesellschafteten Individuen betreffen, während gesatztes Recht immer abstrakt bleibt, auch wenn es als vernünftige Konstruktion einsehbar ist.147 Schließlich liegt Schmitts militant-gesellschaftskonstitutiver Auffassung die Norm kollektiver Homogenität zugrunde. Nur wer sich als kämpfende Partei „zusammennimmt“, kann überhaupt eine Kriegführung ins Auge fassen.148 Ohne öffentlichen Appell an diese Homogenitätsnorm, findet keine Verteidigung und damit auch kein Krieg oder Kampf statt. Schmitts Unterstellung, dass Gesellschaft sich im vornormativen Bereich der kriegerischen Konstellation konstituiere, ist aus vier Gründen zurückzuweisen. Erstens unterstellt diese Behauptung selbst eine Norm des Sozialen, nämlich die der Homogenität. Zweitens basiert jede Selbstthematisierung gesellschaftlicher Einheit faktisch auf historisch-kulturellen Voraussetzungen, die eine solche Thematisierung überhaupt sinnvoll erscheinen lassen. Drittens setzt diese Selbstproblematisierung eine Öffentlichkeit voraus, in der dem Krieg eine kollektive Bedeutung zugeschrieben werden kann. Und viertens bedarf jede Kriegführung der gesellschaftlichen Organisation. Auch dies verweist auf eine der Gewaltmöglichkeit vorgelagerte soziale Einheit. Ohne die Voraussetzung einer sozialen Organisation, die zum kollektiven bewaffneten Kämpfen fähig ist, und ohne die Voraussetzung eines durch kulturelle Gemeinsamkeiten eröffneten öffentlichen Raums kann daher von einer ‚Gesellschaft‘ konstituierenden Funktion des Krieges nicht die Rede sein. Es wird überhaupt nur gekämpft, weil der Gewalt eine Bedeutung für ‚die Gesellschaft‘ gegeben wird. Immer ist ein ‚Wir‘ vorausgesetzt, das einen kollektiven Sinn des Kriegs konstituiert. Diese Sinnkonstitution erfolgt durch Diskurse, die den Krieg veröffentlichen, das heißt ihn zu einer 146 147 148
Schmitt, Begriff des Politischen, S. 43. Hondrich, Wieder Krieg, S. 125 f. Simmel, Soziologie, S. 350 f.
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allgemeinen Angelegenheit der sozialen Gruppe oder der modernen Gesellschaft machen. Ausgehend von diesen Kritikpunkten ist daher in Bezug auf die gesellschaftliche Konstitutionsfunktion des Krieges im Einzelnen zu untersuchen, wie Diskurse über den Krieg auf die soziale Kohärenz einwirken. In den folgenden historisch-empirischen Skizzen werden drei synchronische, in erster Linie auf die deutsche Gesellschaftsgeschichte bezogene Schnitte angeboten, die je verschiedene Modelle markieren, moderne Gesellschaft und Krieg miteinander zu verbinden. Sinn dieser Skizzierungen ist es, die mittelbare Konstitutionsfunktion des Krieges exemplarisch nachzuzeichnen. Sie zeigen damit zugleich, dass die Moderne die kulturhistorische Institution des Krieges keinesfalls prinzipiell ausschließt, sondern vielmehr genuine Formen des Einschlusses dieser Institution in moderne Gesellschaften entwickelt. An dieser Stelle sind ein paar theoretische Bemerkungen zur Reichweite des diskusanalytischen Konzepts zu machen: Wenn also anhand des Krieges sich das gesellschaftliche Kollektivbewusstsein diskursiv konstituiert, dann bestehen schon historisch-strukturelle Voraussetzungen, welche die auf die Konstitutionsfunktion des Krieges beschränkte diskursanalytische Rekonstruktion nicht einholen kann. Insbesondere zwei Parameter fallen dabei ins Auge. Zum einen muss ein geteilter öffentlicher Raum bereits bestehen, selbst wenn noch nicht von einer holistischen ‚Gesellschaft‘ die Rede sein kann. Zum anderen kann der im konstitutiven Kriegsdiskurs herangezogene und normativ ‚vorangetriebene‘ kollektivistisch-gesellschaftliche Interpretationsrahmen nicht völlig aus der Luft gegriffen sein, weil ansonsten gar keine kollektive Bedrohungslage konstruiert werden könnte. Darüber hinaus ist zu beachten, dass Diskurse weder menschliches Handeln determinieren, noch sich wie ein automatisierter Algorithmus selbst schreiben. Vielmehr machen Diskurse Sinnangebote und wirken darüber, dass sie verstanden werden, auf menschliches Handeln ein. Sie produzieren Erwartungen, können Handlungswahrscheinlichkeiten manipulieren und stehen daher unhintergehbar in einem Machtkontext. Einen absoluten Zwang, dem Sinnangebot eines Diskurses zu folgen, gibt es allerdings nicht, weil immer alternative Diskurse im Spiel sind und weil Diskurse im Raum des Intelligiblen agieren und daher prinzipiell Freiheit voraussetzen. Wenngleich Diskurse Erwartungen produzieren und damit Handlungsfelder eröffnen und begrenzen, so gilt auch umgekehrt, dass Diskurse produziert werden und zwar durch diskursives menschliches Handeln, das heißt Handeln, welches Sinn produziert, sprachlich expliziert und medial für ein Publikum zugänglich macht. Ohne diesen Rekurs auf Sinn produzierendes diskursives Handeln, wäre nicht erklärbar, wieso Diskurse sich verändern, verschieben oder
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überhaupt neu entstehen. Eine Textmaschine kann ‚Sinn‘ letzten Endes immer nur mechanisch repetieren. Dass dieses diskursive Handeln weder von vorliegenden Sinnangeboten oder Interpretationsweisen unabhängig ist, noch sich souverän über die institutionellen Regeln eines Diskurses erheben kann, versteht sich von selbst. Diskurse sind also letztlich Medien der Sinngeneralisierung und nicht Maschinen der Sinnproduktion.
D. Soziale Moral: Normative Gesellschaftsvorstellung, militante Semantik des Sozialen und politische Friedensnorm Im Folgenden wird am Beispiel der politischen Romantik die Rekonstruktion einer genuin modernen normativen Gesellschaftsvorstellung vorgenommen. Dabei zeigt sich, dass diese Vorstellung zwischen einer militanten Semantik des Sozialen und Versöhnungs- bzw. Friedensidealen hin und her schwankt. Diese Ambivalenz überrascht, denn wenn man heute von ‚Gesellschaft‘ spricht, dann scheint eine enge Beziehung zwischen Gesellschaftsvorstellung und kriegerischer Militanz ausgeschlossen. Viel eher stellen sich Assoziationen ein, die um den Begriff der Zivilgesellschaft kreisen. Diese Konnotation des Wortes ‚Gesellschaft‘ gründet in den mehr oder weniger impliziten Friedensnormen, die sich mit dem Gesellschaftsbegriff verbunden haben. Insofern die Verpflichtung zum Frieden nicht als Norm des Politischen formuliert, sondern aus dem gesellschaftlichen Sein quasi herausgelesen wird, handelt es sich um eine normative Gesellschaftsvorstellung. Wie bereits gezeigt, finden sich solche normativen Anteile der Gesellschaftsvorstellung nicht nur in der Modernisierungstheorie – dort werden sie lediglich ausdrücklich gemacht –, sondern sie durchdringen die modernen Gesellschaftsvorstellungen insgesamt. Dies liegt daran, dass zur Zeit der Herausbildung der sozialen Semantik im engeren Sinne in der Mitte des 19. Jahrhunderts Probleme des Zusammenhalts und der Integration des sozialen Ganzen eine wesentliche Rolle spielten, wobei die Konstitutionsphase der ‚Gesellschaft‘ und die Monopolisierung gesellschaftlicher Gewalt in der politischen Institution des Staates stillschweigend vorausgesetzt werden konnten. Diese politischen Voraussetzungen wurden in den modernen Gesellschaftsbegriff integriert, bleiben dabei aber bis heute weitgehend unthematisiert. Die Genese der Gesellschaft und des sozialen Friedens erscheinen daher nicht eingebettet in einen Akkumulationsprozess von Macht, gründend in Gewalterfahrungen.1 Der Gewaltursprung der politischen Institutionen verschwindet aus dem Diskurs ‚der Gesellschaft‘.
1 Das ist etwa der Fall, wenn der Aufbau von Institutionen wie bei Berger und Luckmann als sukzessive und kumulative Objektivierung ‚normaler‘ und alltäglicher Face-to-face-Interaktionen gedeutet wird (Berger/Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, S. 56–72).
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Dass die zwischen militanter Semantik und Friedensnormativität changierende Ambivalenz der modernen normativen Gesellschaftsvorstellung dennoch nicht der Aktualität entbehrt, lässt sich an der Theorie des Friedensforschers Johan Galtung nachweisen. Galtung geht von der Norm des „positiven Friedens“ aus. Damit meint er eine Ordnung perfektionierter sozialtechnischer Regulation und Integration, in der alle „strukturellen“ Gewaltmomente, das heißt alle Macht- und Herrschaftsdifferenzen, verschwinden.2 Dieser positive Frieden ist kein Friedensideal im politischen Sinne, sondern die Projektion eines normativ-herrschaftsfreien Gesellschaftsbegriffs in globale Maßstäbe. Er erscheint auch nicht als ein Seinsollendes, sondern als ein eigentlich Seiendes, das durch strukturell gewaltförmige Herrschafts- und Ausbeutungsstrukturen überformt oder verzerrt wird. Wie Friedrich H. Tenbruck und Helmut Schelsky zeigen, eignet sich die Kritik struktureller Gewalt zur Rechtfertigung so genannter ‚Gegengewalt‘. Der Begriff des positiven Friedens wird dabei benutzt, um Gewalthandeln zu legitimieren. Beide Autoren sehen dabei zu Recht einen Bezug zwischen der „Utopie sozialer Perfektion“, die im Begriff des positiven Friedens enthalten ist, und der Möglichkeit, eine legitimatorische Gewaltsemantik zu entwickeln, die auf die ‚Befreiung‘ von strukturellen Gewalt- und Unterdrückungsverhältnissen zielt.3 Damit kommen Schelsky und Tenbruck dem Zusammenhang zwischen kollektivistisch-sozialer Befreiungssemantik und gesellschaftlicher Gewalt auf die Spur. Der normative Gesellschaftsbegriff legitimiert Gewalthandeln, wenn dieses für sich in Anspruch nimmt, einem als Begriff oder auch als Gefühl formulierten ‚Wesen‘ des Sozialen gegen Widerstände Geltung zu verschaffen. Damit ist dieser Begriff in seiner Struktur doppeldeutig. Während er einerseits ‚Gesellschaft‘ als friedliches Zusammenleben vorstellt, führt er andererseits eine Freiheitssemantik mit, die dieses Zusammenleben eben als Abwesenheit von Unterdrückung (auch in Form struktureller Gewalt) konzipiert. Diese beiden Pole der normativen Gesellschaftsvorstellung können durchaus so miteinander kombiniert werden, dass sie kollektives Gewalthandeln gegen tatsächliche oder vermeintliche Unterdrücker legitimieren. Ein solcher normativer Gesellschaftsbegriff kassiert seiner inneren Logik nach den Ort, an dem Vorstellungen bzw. Bilder des Friedens eine politisch-normative Funktion haben können, weil er als ohnehin gegebenes Wesen der Gesellschaft ansieht, was Friedensbilder als Ideal politischer Tugend vor Augen halten.4 Die Vorstellung des äußeren Friedens wird dementspre2
Galtung, Strukturelle Gewalt, S. 32–36. Schelsky, Die Arbeit tun die anderen, S. 390 f. 4 Albert Kümmel/Thomas Kater, Bildverweigerung – Ein Versuch über die Leere von Friedensbildern, in: Albert Kümmel/Thomas Kater (Hg.), Der verweigerte 3
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chend vollkommen entpolitisiert und als eine Art ‚Weltzivilgesellschaft‘ vorgestellt. Dagegen ist eine politisch-praktische Friedensnorm nur formulierbar, wenn kriegerische Gewalt und moderne ‚Gesellschaft‘ nicht von vornherein begrifflich getrennt werden. Normative Friedensbilder können nur dann eine politische Funktion haben, wenn der Frieden als etwas gilt, das sein soll. Das allerdings bedeutet, dass der Krieg nicht aus dem Begriff moderner Gesellschaftlichkeit gestrichen werden kann. Denn Frieden ist als eine regulative Norm des Politischen zu verstehen. Dass Krieg nicht sein soll, sondern vielmehr Frieden, ist eine zentrale regulative Idee des Politischen, nicht aber Ausdruck eines vermeintlichen Seinskerns der modernen Gesellschaft.5 Auch in der Absicht, politisch-normativen Friedensbildern wieder Diskursmöglichkeiten einzuräumen, soll die Herkunft der normativen Gesellschaftsvorstellung im Folgenden untersucht und beschrieben werden. Von besonderem Interesse ist dabei der Diskurs und die nähere Diskursumgebung der politischen Romantik in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts. In diesem Diskurs konstituiert sich eine genuin moderne, aber dennoch für Deutschland spezifische Gesellschaftsvorstellung. Der Wissenssoziologe Karl Mannheim hat darauf hingewiesen, dass dieser Diskurs ein „geschichtliches Apriori“ der Moderne in Deutschland darstellt.6 Seine bestimmenden Formen finden sich in der Tat auch in heutigen Diskursen wieder. Von besonderem Interesse im Zusammenhang der Frage nach dem Verhältnis zwischen moderner Gesellschaftlichkeit und Krieg ist dabei vor allem, dass die ‚romantische‘ Gesellschaftsvorstellung sich im Kontext der so genannten ‚Befreiungskriege‘ herausbildet. Hier äußert sich die moderne Gesellschaftsvorstellung in einem kriegerischen Gewaltzusammenhang. Eine militante Semantik des Sozialen verbindet soziale Harmonievorstellungen, gesellschaftliche Mobilisierung und politische Gewaltbereitschaft. Zugleich aber entwickelt die Romantik eine normative Friedensbildlichkeit, die als Regulativ politischen Handelns gedacht ist. Die politische Romantik kann daher nicht als bloße Kriegspropaganda interpretiert werden. Vielmehr verdichten sich in ihr wie in einem Brennglas die Probleme, die der moderne normative Gesellschaftsbegriff zur Folge hat. In einem ersten Schritt wird im Folgenden die Bedeutung beschrieben, die der Diskurs der politischen Romantik den Medien zwecks Mobilisierung des Sozialen für den ‚Befreiungskrieg‘ zuspricht. Öffentlichkeit, Medien Friede. Der Verlust der Friedensbildlichkeit in der Moderne, Bremen 2003, S. 9–50, hier S. 49 f. 5 Sternberger, Begriff des Politischen, S. 18. 6 Karl Mannheim, Konservatismus. Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens, Frankfurt am Main 1984, S. 174 f.
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und Presse einerseits, Kunst, Ästhetik und Poesie andererseits werden von der politischen Romantik in ihrer mobilisierenden Funktion wahrgenommen und diskutiert. Diese Mobilisierungsstrategien zielen auf die Hervorbringung des Sozialen, das heißt auf den eigentlichen Konstitutionsakt der ‚Gesellschaft‘. Sie stehen im Kontext der Mobilisierung für einen Befreiungsund Verteidigungskrieg, der von den herrschenden Eliten nicht unbedingt gewollt wurde, weil sie befürchten mussten, dass demokratische Tendenzen das bestehende autokratische Herrschaftssystem umwälzen könnten. In diesem Zusammenhang wird dem Krieg eine gesellschaftskonstitutive Funktion zugesprochen. Diese ist allerdings als mittelbare anzusehen, weil ihr ganz offensichtlich diskursive Bedeutungszuschreibungen zugrunde liegen, die nicht unmittelbar aus dem Krieg hervorgehen. Dass die Niederlage bei Jena und Auerstedt von bestimmten gesellschaftlichen Kräften als Aufruf zur nationalen Erweckung und zur Mobilisierung verstanden wird, folgt nicht allein aus der militärischen Niederlage selbst, sondern aus der das beginnende Zeitalter des Nationalismus und der Demokratie kennzeichnenden neuen Diskurslage. Diese Diskurslage ist einerseits durch die Trennung von ‚Staat‘ und ‚Gesellschaft‘ und andererseits durch ein neues In-Beziehung-Setzen dieser beiden Größen gekennzeichnet. Die moderne Hervorbringung des produktiv-selbstreferentiellen Sozialen erfolgt zwar im schützenden Binnenraum das politisch-juridischen Systems, bedeutet aber dennoch ein Heraustreten des Gesellschaftlichen aus dem Staat. Vor diesem Hintergrund wird die 1806 verlorene Schlacht als Zeichen gedeutet, welches anzeigt, dass die Erweckung ‚des Sozialen‘ in Deutschland noch nicht stattgefunden habe, aber stattfinden müsse, wolle man den Krieg und damit auch die Freiheit als Nation gewinnen. Napoleons Siege werden im Wesentlichen auf die Erscheinung einer neuen „moralischen Größe“ (Clausewitz) zurückgeführt, über die seine Truppen im Gegensatz zur preußischen Militärmaschine verfügen. Diese moralischen Qualitäten sind: Nationalgefühl, Zusammengehörigkeitsgefühl, der Wille für die Freiheit der Nation und der Gesellschaft einzutreten usw. Daraus resultiert eine neue, intrinsische, nicht lediglich aus der Furcht vor dem Offizier hinter der Linie resultierende Motivation des Soldaten, sein Leben im Kampf einzusetzen. Der Krieg fungiert also als Anlass und Zeichen, diese sozialen Kräfte ebenfalls zu erwecken und politisch zu nutzen. Zu diesem Zweck wird von der politischen Romantik eine mediale Mobilisierungs- und Konstituierungsstrategie diskutiert und auch praktiziert. In einem zweiten Schritt ist nach dem Verhältnis von normativer Gesellschaftsvorstellung, Gewalt und Friedensnorm im Denken der politischen Romantik zu fragen. Es lassen sich zwei genealogische Modelle heraus-
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arbeiten, die in der Romantik noch miteinander verwoben sind: Zum einen das Modell der normativen Gesellschaftsvorstellung, welches Gewalthandeln moralisch diskriminiert, im Kontext einer tatsächlichen oder eingebildeten Bedrohung von innen oder außen jedoch in Gewaltbereitschaft umschlagen kann. Zum anderen das Modell einer normativen Friedensbildlichkeit, das aus der Denkmöglichkeit des Krieges als Konstituens moderner Gesellschaft resultiert. Die Funktionen der romantischen Friedensbilder sind durch eine spezifische Ambivalenz gekennzeichnet. Einerseits lassen sich die Friedensbilder als Harmonieideale interpretieren, die einer militanten Rhetorik noch in die Hände spielen können, indem sie den Feind zum Hindernis für die Verwirklichung dieser Ideale erklären. Andererseits sind romantische Friedensbilder auch als normative Regulative bestimmbar, die das Ablegen der Waffen generell als politische Tugend darstellen und damit auf eine semantische Überdeterminierung von bewaffneten Konflikten nicht nur verzichten, sondern auch dazu auffordern, diese zu beenden bzw. gar nicht erst in Gang zu setzen. Die romantische Gesellschaftsmobilisierung geht nicht im Kriegszusammenhang auf, sondern schließt in mehreren zentralen Aspekten an die moderne Problemlage des offenen Verhältnisses von Staat und Gesellschaft an: 1. Es handelt sich um eine moderne und in eigenständiger Form demokratische politische Philosophie. 2. Sie formuliert als Norm außenpolitischen Handelns die Verpflichtung zum Frieden. 3. Kriegführung bedarf daher spezifischer Legitimität, das heißt ist nur im Verteidigungsfall moralisch zu rechtfertigen. 4. Die Möglichkeit zur Hasspropaganda resultiert aus einem normativen Gesellschaftsbegriff. Die ersten drei Punkte markieren die normative Auszeichnung des demokratischen Verfassungsstaates vor anderen politischen Systemen. Der letzte Punkt markiert die Gefahren eines überzogenen – z. B. messianischen oder nationalistischen – Sozialmoralismus, vor dem auch die Demokratien des 21. Jahrhunderts nicht sicher sind. Die romantische Gesellschaftsvorstellung bildet in ihrem Kern die Blaupause für den modernisierungstheoretischen bzw. im weiteren Sinne soziologischen Gesellschaftsbegriff. Dieser kreist um Vorstellungen kommunikativer Vermittlung und schließt Gewalt aus dem Bereich des sozial Normalen aus. Die in diesem an moralischen und sozialtechnologischen Perfektionsidealen orientierten Gesellschaftsbegriff enthaltene Möglichkeit, Gewalt gegen ‚Feinde‘ der als ‚Moderne‘ wesensmäßig definierten und ausgezeichneten geschichtlichen Tendenz zu legitimieren und freizusetzen, wird durch
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die normative Gesellschaftsvorstellung der Romantik deutlich vorgezeichnet, wenn im historischen Kontext der Befreiungskriege der Feind moralisch und ästhetisch disqualifiziert und blinder Hass gepredigt wird. Im Unterschied allerdings zu modernisierungstheoretisch-soziologischen Gesellschaftsvorstellungen ist es der politischen Romantik noch möglich, den Krieg als Konstituens kollektiver Identität zu denken, ohne diese gesellschaftliche Funktion kriegerischer Gewalt sogleich moralisch abzuwerten. Das wiederum gibt ihr die Möglichkeit an die Hand, normative Friedensbilder zu entwerfen, die mit einer Welt rechnen, in der es Kriege gibt, zugleich aber das Vermeiden von Krieg als normatives Ideal politischen Handelns formulieren. Bevor diese Aspekte vertieft werden können, sollen jedoch zunächst die Verschiebungen im Gewaltdispositiv zu Beginn des 19. Jahrhunderts beschrieben werden.
I. Militärische Neuerungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts Die Napoleonischen Kriege und die Befreiungskriege setzen nicht nur eine gesellschaftliche Revolution voraus. In vielerlei Hinsicht kommt es auch zu einer Umstrukturierung in den militärischen Angelegenheiten. Einige Aspekte dieser Veränderung sollen idealtypisch angerissen werden, um ein besseres Verständnis der historischen Situation zu ermöglichen.7 Die gravierendste Veränderung vollzieht sich auf der Ebene der ArmeeVerfassung. Es kann von der „Demokratisierung der Armee“8 gesprochen werden. Unter diesem Begriff werden zusammengefasst: die neue, innengeleitete Motivation der Soldaten, die Annäherung zwischen Offizierskorps und Mannschaften, die allgemeine Wehrpflicht, die Vergrößerung der Heeresstärke und der Volkskrieg. Im 18. Jahrhundert ist die Kampftaktik auf eine ‚Militärmaschine‘ ausgerichtet, in der es auf eine intrinsische Motivation des Soldaten nicht ankommt. Der „gemeine Mann hat nichts zu tun, als zu gehorchen; im Gleichtritt wird er vorgeführt, rechts ein Offizier, links ein Offizier, dahinter der schließende; auf Kommando werden Salven abgegeben und schließlich in die Stellung des Feindes eingebrochen, wo ein eigentlicher Kampf nicht mehr erwartet wird. Bei solcher Taktik kam es auf den guten Willen des Mannes, wenn er nur in der Hand des Offiziers war, nicht soviel an“.9 Dagegen sind insbesondere die republikanischen Heere durch eine andere Mo7 Faktisch betreffen diese Veränderungen zunächst die republikanische und die Napoleonische Armee. 8 Hans Delbrück, Geschichte der Kriegskunst. Die Neuzeit. Vom Kriegswesen der Renaissance bis zu Napoleon, Berlin 2000, S. 520. 9 Ebd., S. 348.
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ral gekennzeichnet. Sie „sind nicht mehr Söldnerheere im Dienste eines Herrn, sondern sie sind erfüllt von einer eigenen Idee, von einer neuen Weltanschauung, von Freiheit und Gleichheit, von der Verteidigung des Vaterlandes.“10 Die neue Moral des Soldaten verweist auf zwei eng miteinander verbundene, aber dennoch zu trennende Momente: Zum einen auf die Bedeutung von Überzeugungen und Ideen, zum anderen auf die Rolle von Begeisterungsfähigkeit und emotionaler Verbundenheit mit solchen Überzeugungen und Ideen. Zu trennen sind diese Momente, weil Überzeugungen, Ideen und Moral intelligible Größen, Emotionen und Gefühle Erfahrungsgrößen sind. Dieses motivational-emotionale Intensitätsniveau markiert im Wesentlichen die neue Erfahrungsdimension des Krieges zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Die Annäherung zwischen Offizieren und Mannschaften zeigt sich darin, dass „die Unterscheidung zwischen Offizierkorps und Mannschaft [. . .] nicht mehr die Natur einer ständischen Scheidung, sondern zwischen höherer und geringerer Bildung und Eignung“ hat.11 In der allgemeinen Wehrpflicht manifestiert sich die zunehmende Verbindung von Krieg und Gesellschaft. Einerseits wird die Gesellschaft in den Krieg einbezogen, andererseits wird der Krieg zu einer öffentlich-gesellschaftlichen Angelegenheit. Ergebnis der allgemeinen Wehrpflicht ist neben der veränderten Moral auch die zunehmende Größe der Heere.12 Moral, Wehrpflicht und Heeresgröße kristallisieren schließlich im Phänomen des Volkskrieges, das heißt jenes Kampfes „den ein ganzes Volk mit den Waffen in der Hand leistet“.13 Clausewitz schreibt darüber, „dass der Volkskrieg im allgemeinen als eine Folge des Durchbruches anzusehen ist, den das kriegerische Element in unserer Zeit durch seine alte künstliche Umwallung gemacht hat; als eine Erweiterung und Verstärkung des ganzen Gärungsprozesses, den wir Krieg nennen. Das Requisitionssystem, die Anschwellung der Heere zu ungeheuren Massen vermittelst desselben und der allgemeinen Dienstpflicht, der Gebrauch der Landwehren sind alles Dinge, die, wenn man vom ehemaligen engbegrenzten Militärsystem ausgeht, in derselben Richtung liegen, und in dieser Richtung liegt nun auch der Aufruf des Landsturmes oder die Volksbewaffnung.“14
Die neue Praxis, auf große Verpflegungstrains zu verzichten, machte die Armeen schneller und beweglicher. Ihre Versorgung wird nun durch Requirierungen gewährleistet. „Die alten Armeen beruhten auf der geregelten 10 11 12 13 14
Ebd., S. 521. Ebd., S. 542. Ebd., S. 518. Clausewitz, Vom Kriege, S. 698. Ebd., S. 697.
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Magazinal-Verpflegung; für 18 Tage sollte die Armee stets mit sich führen; für drei Tage Brot trug der Soldat selber, für sechs erhielt er Brotwagen, der jeder Kompagnie folgt, für neun Tage Mehl führten die Mehlwagen des Proviant-Fuhrwesens. Die strenge Disziplin war ohne derartige Vorsorge nicht aufrecht zu erhalten. [. . .] Aufs strengste wurde der Soldat angehalten, Land und Volk bei seinen Durchmärschen und Lagerungen zu schonen.“15 Die neue Praxis sieht dagegen systematisch Requirierungen vor. Wie der Krieg zur „Sache des ganzen Volkes“ wird, so darf er auch „aus dem Lande nehmen“, was er braucht.16 Diese Einbeziehung der Gesellschaft in den Krieg markiert eine neue Gewaltdimension. Es ist allerdings hinzuzufügen, dass diese Tendenz des Requisitionssystems mit Beginn der Neuzeit grundsätzlich durch regelmäßige Besoldung der stehenden Heere, durch strenge Disziplin und durch die Orientierung an humanistisch-sittlichen Prinzipien eingeschränkt wird.17 Eine Steigerung der Gewalt äußert sich auch in der neuen Erscheinung des Partisanen bzw. des Landsturms. Der Partisan ist ein irregulärer politischer Kämpfer, der dem Boden, auf dem er kämpft, der autochtonen Bevölkerung und der geographischen Eigenart des Landes verbunden bleibt.18 Der Partisan bindet feindliche Truppen im besetzten Land, bleibt aber auf „die Zusammenarbeit mit einer regulären Organisation angewiesen.“19 Das historische Auftauchen von Partisanen, die in ihrem taktischen Verhalten wiederum mit den Kämpfern des ‚leichten Krieges‘ verwandt sind, markiert die zunehmende Bedeutung innerer Überzeugung, denn der Partisan ist ein Parteigänger. Partisanenbewegungen erhalten insbesondere auch dann Zulauf und Unterstützung, wenn die feindliche Armee das Land durch Requirierungen und Plünderungen verwüstet. Die neue, aufs Gesellschaftliche bezogene Heeresverfassung erzwingt darüber hinaus taktische Neuerungen wie die Kolonnentaktik (statt der Aufstellung in der Linie) und den Einsatz von Tirailleuren (in aufgelöster Ordnung kämpfende Infanterie). Der Tirailleur hat einen Vorläufer in vormodernen Zeiten. Bereits im Zeitalter des Absolutismus wurden neben dem stehenden Heer ‚leichte Truppen‘ unterhalten, die einen ‚kleinen Krieg‘ führten, der genau mit jenen Leidenschaften kalkulierte, die aus dem Wesen 15
Delbrück, Kriegskunst, S. 539. Ebd. 17 Gerhard Oestreich, Soldatenbild, Heeresreform und Heeresgestaltung im Zeitalter des Absolutismus, in: Bundesministerium für Verteidigung (Hg.), Schicksalsfragen der Gegenwart. Handbuch politisch-historischer Bildung, Bd. 1, Tübingen 1957, S. 295–321, hier S. 303–313. 18 Carl Schmitt, Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen, Berlin 31992, S. 20–28. 19 Ebd., S. 23. 16
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der Disziplinarmaschinen ausgeschlossen waren und daher als abnorme Auswüchse empfunden wurden. Frei-Bataillone versahen Patrouillendienst oder führten Kommandounternehmen aus. Ihnen war es erlaubt, zu plündern und Beute zu machen. Da diese Truppen gut motiviert und mit Leidenschaft bei der Sache waren, agierten ihre Soldaten als Einzelkämpfer oder in kleinen, schnell beweglichen Haufen. Sie legten sich in den Hinterhalt, suchten sogar vor feindlichem Feuer Deckung und empfanden es nicht als Schande, einen taktischen Rückzug anzutreten.20 Diese Kampfweise weitet sich nun auf die Taktik ganzer Armeen aus. Weiterhin vollziehen sich technische Veränderungen bei der Artillerie. Diese wird leichter und beweglicher. Auch hier wird von der starren Aufstellung Abstand genommen. Die Artillerie folgt auf dem Schlachtfeld der Infanterie nach Bedürfnis und wird konzentriert und überraschend eingesetzt, um einen bestimmten Punkt für den Einbruch der Fußtruppen vorzubereiten.21 Das hat zur Folge, dass eine neue technische Gewaltdimension erreicht wird. Gelegentlich finden sich daher diesbezügliche Bemerkungen, wie etwa bei Clausewitz, der auf die „gewaltigen“ Artilleriezüge hinweist, die „den Widerstand der einzelnen Punkte maschinenartig niedermähen“.22 Die Einführung schneller Kommunikationsmittel ermöglicht es, größere Räume bei der Planung und Leitung des Krieges zu berücksichtigen. Verschiedene Kriegstheater können strategisch aufeinander abgestimmt werden. Insbesondere der optische Telegraf (Chappescher Telegraf) kommt für diese Aufgabe wie gerufen. Er ermöglicht es der politischen und militärischen Führung einerseits, auch in weit entfernten Räumen „in ‚Echtzeit‘ zu reagieren“.23 Andererseits konstituieren schnelle und raumgreifende Nachrichtentechnologien einen homogenen Raum und eine einheitliche Zeit24 und sind damit die Möglichkeitsbedingung für das strategische Koordinieren verschiedener Feldzüge und Kriegsschauplätze. Außerdem kann schneller mobilisiert und überraschend gehandelt werden. Alles in allem zeichnet sich eine grundlegende strukturelle Veränderung in der Kriegführung ab. Diese geht aus von der Einbeziehung des Gesellschaftlichen in den Krieg. In dieser Einbeziehung, aber auch in der größeren Bedeutung der konzentrierten Zerstörungsgewalt in der Schlacht und in 20 Johannes Kunisch, Der kleine Krieg. Studien zum Heerwesen des Absolutismus, Wiesbaden 1973. 21 Delbrück, Kriegskunst, S. 536. 22 Clausewitz, Vom Kriege, S. 569. 23 Patrice Flichy, Tele. Geschichte der modernen Kommunikation, Frankfurt am Main 1994, S. 24. 24 Ebd., S. 28 f.
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der militärischen Entscheidung durch den Kampf, zeigt sich eine Steigerung der Gewalt. Dennoch dürfen diese Neuerungen nicht überschätzt werden. Sie wurden zwar von zeitgenössischen Beobachtern in ihrer strukturellen Bedeutung erkannt, aber eine Thematisierung des Schreckens der Gewalt blieb weitgehend aus und erlangt erst im 20. Jahrhundert Bedeutung. Gerade die Bedeutung technischer Innovation, sowohl in Bezug auf die Raumvorstellung als auch in Bezug auf die technische Destruktionskraft, bleibt, verglichen mit der Bedeutung von Technologie im 20. bzw. 21 Jahrhundert noch gering. Auch beschränkt sich die Einbeziehung des Gesellschaftlichen in den Krieg wesentlich auf Bedeutungsaspekte: Es geht um Überzeugungen, um Gefühle und um Moral. Von jener vieldimensionalen Ausrichtung des Sozialen auf den Krieg, die im 20. Jahrhundert das Konzept des ‚totalen‘ Krieges charakterisiert, kann daher ebenfalls noch nicht die Rede sein. So wurden die Befreiungskriege im Felde auf nicht-französischer Seite im Großen und Ganzen noch als klassische Fürstenkriege geführt.25 Das ist deshalb von Bedeutung, weil damit die diskursive Veröffentlichung des Krieges von der Gewalterfahrung weitgehend abstrahieren kann.
II. Soziale Moral im Kontext von Kultur, Krieg und Ökonomie ‚Gesellschaft‘ erscheint um 1800 als eine kollektive moralische Größe, die zunächst hergestellt, das heißt ‚erweckt‘ werden muss. In den gesellschaftspolitischen Diskursen Deutschlands löst sich die enge Verschränkung von ‚Staat‘ und ‚Gesellschaft‘ um 1780 auf. Zuvor werden die Begriffe societas civilis und res publica synonym gebraucht. Im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts rücken diese Begriffe dagegen deutlich auseinander. Einerseits erscheint die Vorstellung „einer in oder neben dem Staat als eigene Größe weiterexistierenden Gesellschaft“26, andererseits kommt es zu einer Stärkung des Staatsbegriffs, „wenn der Staat als Organisation der Gesellschaft als etwas Verselbständigtes auftritt“27. Die Trennung von ‚Staat‘ und ‚Gesellschaft‘ eröffnet die Möglichkeit, sich das Soziale als einen herrschaftsfreien Raum vorzustellen, da es als vom Staat unabhängig erscheint. Hier deutet sich bereits die Umcodierung des Begriffs der ‚Zivilgesellschaft‘ an. Inkludierte dieser Begriff ursprünglich Macht, Gewalt und Herrschaft, so schließt er sie nun zunehmend aus. 25 Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1. Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära 1700–1815, München 31996, S. 525. 26 Diethelm Klippel, Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts, Paderborn 1976, S. 138. 27 Ebd., S. 139.
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Für moderne Gesellschaftsproblematisierungen ist darüber hinaus wesentlich, dass das Soziale als Wert im Bewusstsein der einzelnen Menschen eine wesentliche Rolle spielen soll.28 Diese Ethik des Sozialen an sich resultiert einerseits aus der Trennung von Staat und Gesellschaft, andererseits aus der zunehmenden faktischen Fraglichkeit des traditionellen gesellschaftlichen Zusammenhangs und „Kollektivbewusstseins“ (Durkheim), die mit der Erosion traditionaler Herrschaft, Säkularisierung, zunehmender gesellschaftlicher Arbeitsteilung, funktionaler Ausdifferenzierung und der Individualisierung verbunden ist. Solche Erosionsprozesse werden mit Beginn der Moderne gewissermaßen auf Dauer gestellt; zugleich wird die damit einhergehende Dynamisierung gesellschaftlicher Prozesse als ‚Produktivkraft‘ erkannt. Es geht darum, die sozialen Kräfte freizusetzen, auf ihr freies Spiel zu vertrauen. Die ersten deutlichen Zeichen dieser Dynamisierung werden bereits von der Romantik thematisiert und reflektiert. Die Freisetzung der sozialen Kräfte ist unmittelbar mit einer gesellschaftlichen Aktivierung des Individuellen verbunden. Das Echo der Individualisierung ist in den Kulturdiskursen des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts deutlich zu vernehmen. Die Goethesche Klassik formuliert noch ein Modell der Freisetzung des Individuums bei gleichzeitiger Bindung der menschlichen Freiheit im Begriff des Persönlichkeitstypus – „jenes [. . .] sich selbst wie einen Staat Durchorganisieren“.29 Bereits die Frühromantik löst die individuelle Produktivität aus allen Beschränkungen heraus. Diese frühromantische Bezugslosigkeit wird ästhetisch durchdekliniert und führt dann schließlich zum Umschlag, das heißt der Suche nach Boden, Halt, Echo und einer sichernden Mitte. Im Rahmen dieser existenziellen Suche nach den „vorpersönlichen Ursprüngen“30 stehen die ästhetischen, aber auch die politisch-gesellschaftstheoretischen Entwürfe der Spätromantik. So konstatiert Adam Müller eine zunehmende soziale Vereinzelung. Die „aus dem Zusammenhang ihrer Geschäfte herausgerissenen Menschen“ irren „vom Geiste der Gesellschaft entblößt“ umher.31 Das von ihm entworfene Kugelmodell der Gesellschaft ist als Antwort auf diese Problematik zu verstehen (Abb. 1). Es konzipiert die hastige soziale Unruhe – die ästhetische Zerstreuung, den Tausch von Waren und die Geldzirkulation – in Bezug auf eine andauernde, sich nur langsam verändernde Mitte, an der sich Tradition, Staat und Grundeigentum anlagern:32 28
Joas, Kreativität des Handelns, S. 57. Rudolf Bach, Deutsche Romantik. Ein geistesgeschichtlicher Umriss, Hamburg 1948, S. 21. 30 Ebd., S. 35. Hans Sedlmayr (Verlust der Mitte, S. 116 f.) sieht in einem solchen „Zug zum Unteren“ eine spezifisch moderne ästhetische Strategie. 31 Müller, Theorie des Geldes, S. 86. 29
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Abb. 1: Die Gesellschaft als Kugel nach Adam Müller
„Das große Schema aller menschlichen Angelegenheiten ist [. . .] die Kugel, die Gestalt des großen Körpers, der alle diese menschlichen Angelegenheiten hält und trägt. Mit der bloßen Betrachtung der Kugel ist die unendliche Bewegung gegeben: die Betrachtung muss von dem äußeren Flächenraum unaufhörlich nach dem Mittelpunct hinein und wieder hinaus steigen, kurz, in ewiger Bewegung bleiben, wenn die Vorstellung der Kugel vollständig bleiben soll“.33
Dieses Modell visualisiert, dass dynamische Bewegungen des gesellschaftlichen Lebens durch die Vermittlung selbst ‚getragen‘ werden. In diesem Bild steckt eine soziale Utopie: Der Einzelne wird von der Gemeinschaft ‚behütet‘; sein Handeln bleibt in ihrem Körper ‚aufgehoben‘. Auch die romantische Hinwendung zum Geist des mittelalterlichen Christentums muss als Versuch gedeutet werden, die mit der Individualisierung auftauchenden, auseinander strebenden gesellschaftlichen Kräfte wieder zusammenzuführen. In diesem Kontext entwickelt die politische Romantik die Vorstellung von Gesellschaft als einem zugleich vermittelten und vermittelnden moralisch-kulturellem Funktionsgefüge bzw. ‚Organismus‘. Sie ist sich darüber im Klaren, dass eine solche Vermittlung mittels gewisser ästhetischer und politischer Techniken unterstützt bzw. hervorgebracht werden muss. Vor diesem Hintergrund wird auch der Krieg als Möglichkeit be32 33
Spreen, Tausch, Technik, Krieg, S. 44 f. Müller, Theorie des Geldes, S. 125 f.
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griffen, eine verbindende Gemeinschaftsempfindung zu verstärken und zu potenzieren. Der Diskurs und die Ethik ‚der Gesellschaft‘ tritt in vielerlei Verkleidung an die Stelle der Religion. Er reflektiert das am Ende des 18. Jahrhunderts schließlich rasante Schwinden der „Einbettung des Einzellebens in eine außerpersönliche, objektive Seinsordnung“.34 Funktionale Ausdifferenzierung, Arbeitsteilung, Individualisierung markieren den kulturellen Verzicht der Moderne auf „große Form“ (Carl Schmitt); sie verweisen auf den „Verlust der Mitte“ (Hans Sedlmayr). Der Diskurs der ‚Gesellschaft‘ ist die Antwort auf diesen Verzicht – eine Antwort, die die Mitte in einem diskursiven Prozess immer zu besetzen versucht, zugleich aber offen hält, denn letztlich ist kein Versuch von bleibendem Erfolg gekrönt, einen zentralen Ort des modernen Gesellschaftlichen zu fixieren. Daher ist die Ethik des Sozialen nicht – wie ‚Religion‘ es wäre, würde deren Modell noch funktionieren – in der Lage, eine andauernd verbindliche, wertend kulturelle und normative Mitte der sozialen Ordnung bereitzustellen. Denn genau diese kulturell-normative Beweglichkeit und Offenheit ist es, die die Selbstreferenz des Sozialen und die Produktivität seiner Kräfte ermöglichen und fordern.35 Der diskursive Ort des Sozialen als exzentrischer Mitte führt allerdings dazu, dass immer versucht wird, einen zentrierenden und das ‚Gleichgewicht‘ der produktiven Kräfte organisierenden Bezugspunkt für die moderne Gesellschaft zu finden und als ‚große Erzählung‘ verbindlich zu machen. Derartige Rezentrierungsdiskurse sind also gerade darin modern, dass sie den konstitutionellen Mangel bemerken und Mittelpunkte formulieren, auf die die Dynamik sich ausrichten soll. Nur steht das auf Ausdifferenzierung, Funktionsstruktur, Individualisierung und Produktivität ausgerichtete Gesellschaftliche den reduzierenden Absichten dieser Versuche immer auch entgegen. Hätten diese Diskurse abschließend Erfolg, würden sie die rasante Fahrt der Moderne in einem bestimmten Diskursterritorium bremsen und im Kontext weltgesellschaftlicher Konkurrenz sich von selbst ad absurdum führen. Die ‚Punkte‘, die eine Mitte fixieren sollen, bleiben daher unerreichbar und utopisch. Sie fungieren faktisch als Fluchtpunkte des normativen Gesellschaftsdiskurses und tragen in dieser Form ihren Teil dazu bei, der modernen gesellschaftlichen Dynamik Schwung zu verleihen.36 Die politische Romantik reagiert auf die kulturelle und gesellschaftliche Öffnung der ‚Form‘ zu Beginn des 19. Jahrhunderts, indem sie das Gesell34
Bach, Deutsche Romantik, S. 16. Spreen, Tausch, Technik, Krieg, S. 17, insbes. S. 175–185. 36 Vgl. dazu die Ausführungen zum „Raum der Gesellschaft“ in diesem Kapitel und die Überlegungen zur Problematik der Theorie der Weltgesellschaft in dem Kapitel über globale Sicherheit. 35
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schaftliche hervorbringen möchte. Um die Bedeutung dieser Geistesströmung zu verstehen, muss man sich nicht nur den geistes- und kulturgeschichtlichen Wandel zur Moderne, sondern insbesondere auch die historisch-politische und die ökonomische Lage in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts vor Augen führen. Die mit nationalistischem und revolutionär-missionarischen Eifer kämpfenden Heere Napoleons haben das Europa des Absolutismus schlicht überrannt. Auch der politische Flickenteppich Deutschland ist der französischen Herrschaft ausgeliefert, nachdem Preußen und Österreich den Franzosen unterlagen. Die Rheinbundstaaten stehen seit 1806 unter dem Protektorat Napoleons. Während sich die absolutistische Herrschaftselite durchaus geneigt zeigt, sich mit dieser Lage abzufinden, weil man Furcht vor einer demokratisch-revolutionären Erhebung hat, die mit der napoleonischen Herrschaft zugleich die eigene Legitimität hinweg spülen könnte, sehen patriotisch gesonnenene Intellektuelle, Offiziere und Politiker die Situation anders. Hier entflammt das deutsche Nationalgefühl, das sich mit demokratischen Ansprüchen verbindet, allerdings keine revolutionäre, sondern eine reformorientierte Haltung einnimmt. Diese Zeit wird als der Beginn des deutschen Nationalismus verhandelt. Aber darüber hinaus muss bedacht werden, dass es sich ebenso um die Konstitutionsphase der modernen Gesellschaft in Deutschland handelt, insofern ein modernes Gesellschaftsbild entworfen und zumindest in Bereichen der Bildungselite ein entsprechendes Bewusstsein erzeugt wird. Die patriotischen Intellektuellen sind sich darüber einig, dass Napoleons Siege einer neuen sozialen Kraft zu verdanken sind. Diese Einsicht findet sich auch bei Adam Müller, der als politischer Ökonom und Kritiker von Adam Smith ohnehin einen wachen Sinn für fundamentale soziale Verschiebungen hatte. Carl von Clausewitz formuliert ebenfalls diese Erkenntnis, wenn er die Bedeutung der ‚moralischen Größen‘ hervorhebt. Die moralischen Größen „sind die Geister, welche das ganze Element das Krieges durchdringen, und die sich an den Willen, der die ganze Masse der Kräfte in Bewegung setzt und leitet, [. . .] anschließen, gleichsam mit ihm in eins zusammenrinnen“.37 Das Verhältnis moralischer Größen, das Clausewitz beschreibt, ist insbesondere das zwischen Feldherr und Heer. Auf der einen Seite empfiehlt er, die Soldaten nicht mehr als „bloße Maschinen zu gebrauchen“ und ihre „individuellen Kräfte zu beleben“.38 Auf der anderen Seite gelte es, den 37
Clausewitz, Vom Kriege, S. 254. Carl von Clausewitz, Ein ungenannter Militär an Fichte als den Verfasser des Aufsatzes über Machiavell, in: Carl von Clausewitz, Verstreute Kleine Schriften, Osnabrück 1979, S. 157–166, hier S. 162. 38
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führenden Willen und die Entschlossenheit zur Entscheidung mit diesen individuellen Kräften zu vermitteln und so zu verbinden, dass ein schlagkräftiges Ganzes entstehe. Die Relation, die hier eröffnet wird, ist nicht bloß die von Befehl und Gehorsam. Vielmehr geht es darum, den nationalen Geist im Einzelnen zu wecken und im Namen der Nation zu führen. Diese Verbindung sei das Geheimnis der Napoleonischen Kriegführung. Dieser vereinigende Geist, der einerseits Opferbereitschaft weckt, andererseits die Herrschaftsverhältnisse zurückstellt, ist im Wesentlichen bereits das, was später Emile Durkheim die „moralische Gesellschaft“39 genannt hat. Schichtenunterschiede und regionale Differenzen treten zurück, wenn sich die Deutschen als ‚eine Gesellschaft‘ zu begreifen lernen. Der deutsche Wirtschaftsraum befindet sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts in einer ökonomisch schwierigen Situation, die eng mit der politischen Lage verbunden ist. Nicht nur gibt es keinen einheitlichen Markt, sowenig wie eine politische Einheit – brisanter ist noch, dass die Entwicklung der Produktivkräfte und die Herausbildung der entsprechenden Sozialstruktur, dem sich in Großbritannien deutlich abzeichnenden kapitalistischen take-off hinterherhinkt. Die Entdeckung der ‚Gesellschaft‘ in Großbritannien ist unhintergehbar mit der Herausbildung der bürgerlichen Klasse und dem diskursiven wie politischen Einfluss des Liberalismus verbunden. Wenn Adam Smith von der „unsichtbaren Hand“40 spricht, die die gesellschaftlichen Verhältnisse reguliere und die Verkehrs- und Reichtumsverhältnisse von selbst optimiere, dann macht er klar, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht als Funktion des Staates zu denken sind, sondern vielmehr aus dessen Herrschaftsraum heraustreten und einen Staat verlangen, der die gesellschaftlichen Kräfte unterstützt, das heißt zur Funktion der Gesellschaft wird. Nicht nur die ökonomische Potenz, sondern vor allem auch der Belebungseffekt, den der Kapitalismus auf die Gesellschaft ausübt, fehlt in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Dieser Mangel wiederum bedingt nach der Analyse Clausewitz’ und anderer unmittelbar die strategische Unterlegenheit Preußens gegenüber Frankreich. Die Aufgabe, die sich damit stellt, lautet: Wie verschafft man sich diese sozialen Kräfte? In den Diskurs der politischen Romantik sind alle drei Kontexte (Modernisierung, kriegerische Konkurrenz, ökonomische Rahmenbedingungen) eingetragen. Empfohlen wird eine kulturell-politische, auf Medien, Diskursöffentlichkeit, Poesie und Ästhetik basierende Strategie zwecks Belebung gesellschaftlicher ‚Produktivität‘. Das militärisch und politisch erfolgreiche revolutionäre, ‚französische‘ Modell wird durch ein ‚vermittelndes‘, gleich39
Durkheim, Soziale Arbeitsteilung, S. 285. Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen, hg. v. Horst Claus Recktenwald, München 1978, S. 371. 40
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wohl das Gesellschaftliche betonendes Konzept ersetzt. Das ökonomische, ‚britische‘ Modell wird in Form einer Kritik der politischen Ökonomie – denn nichts anderes formuliert Müller in seiner ökonomischen Leitschrift von 181641 – in dieses Konzept integriert. Im Rahmen der hier verfolgten Fragestellung ist insbesondere das Medien- und Öffentlichkeitskonzept von Bedeutung, weil gerade dieses im Zusammenhang mit den Befreiungskriegen und der Konstitutionsphase des Gesellschaftlichen steht, während sich in Müllers erst im Jahr nach dem Wiener Kongress publizierten Kritik der politischen Ökonomie bereits eine „frühsozialistische Denkweise“42 abzeichnet. Aufgrund der historischen Lage ist es verführerisch, die romantische Moderne als Theorie einer ‚defensiven Modernisierung‘ zu betrachten.43 Die auf Modernisierung drängende Motivation der Herrschaftseliten in den deutschen Staaten kann durch diesen Begriff bezeichnet werden, sofern damit nicht mehr gemeint ist, als die Überlegung, dass es eines ‚Aufholens‘ in kultureller, wirtschaftlicher und militärischer Hinsicht bedürfe, um im internationalen Konzert der Mächte noch eine Stimme zu haben (oder zu bewahren). Aber die Vorstellung, die Moderne als Denkweise habe in Deutschland keine eigenständige geistige Quelle, sondern sei ein Importprodukt, dass mit Altem und Traditionalem quasi vermischt und dadurch verfälscht worden sei, ist abzulehnen. Denn der Diskurs der politischen Romantik ist als genuin modern anzusehen, weil die romantische Geisteshaltung ihre politisch-soziale Philosophie aus sich selbst heraus entwirft. Die Forderung nach Belebung der Öffentlichkeit und der Gesellschaft erwächst aus der inneren Logik dieses auf produktive Wechselwirkung angelegten Denkens. Modernisierung stellt hier nicht einfach eine Reaktion auf äußeren Druck da. Vielmehr werden kritische Vergleiche mit Frankreich und Großbritannien angestellt, um das eigene Projekt klar zu konturieren. Dass dabei auch strategische Überlegungen eine Rolle spielen, widerspricht diesem Argument nicht. Daher wird hier die These vertreten, dass die politische Romantik nicht als eine theoretische Legitimation der defensiven Modernisierung angesehen werden kann, sondern als ein eigenständiger Modernisierungsdiskurs gelten muss. Um dies zu begründen, werden im Folgenden Öffentlichkeits- und Gesellschaftsbegriff der politischen Romantik rekonstruiert. Dabei wird auch deutlich, in welcher Hinsicht der Krieg eine konstituierende Funktion für das Soziale übernimmt und welche ambivalente Rolle normative Sozial- und Friedensideale dabei spielen. 41 Benedikt Koehler, Ästhetik der Politik. Adam Müller und die politische Romantik, Stuttgart 1980, S. 200–205. 42 Ebd., S. 189. 43 Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, S. 517 f.
III. Mediale Öffentlichkeit: Das Kleist-Müller-Projekt
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III. Mediale Öffentlichkeit: Das Kleist-Müller-Projekt Die Rolle, die Müller der Öffentlichkeit und ihren Medien zuspricht, zeigt sich nicht nur in seinen theoretischen Überlegungen, sondern vor allem auch in seinen praktischen Versuchen, eine solche Öffentlichkeit zu fördern. Diese Versuche markieren das Erscheinen einer neuen Dimension in der Politik. Politik wird „symbolisch“44 bzw. „repräsentativ“45, das heißt Prozesse der medialen Mobilisierung ‚der Gesellschaft‘ bzw. bestimmter Anhängerschaften in der Gesellschaft werden zunehmend wichtig. Das moderne Politische weist also über den rein institutionellen Rahmen der Souveränitätsmacht bzw. des Staates hinaus. Gesellschaftliches und Politisches vermischen sich in Bereichen medialer Öffentlichkeit, während Staat und Gesellschaft zugleich auseinander treten. Dieses sehr komplizierte und differenzierte Verhältnis gilt es zu fassen, ohne es zu reduzieren. Die Entdifferenzierung von Staat und Gesellschaft bringt zwar einen neuen Faktor – nämlich die Gesellschaft – ins Spiel, dies bedeutet aber nicht, dass die politische Herrschaftsinstitution des Staates und die für sie konstitutive Spannung zwischen institutioneller Machtwirklichkeit und regulativen Normen verschwinden würde. Vielmehr entsteht ein komplexes Wechselwirkungsverhältnis zwischen erstens politischer Öffentlichkeit und symbolischer Politik, zweitens politischen Herrschaftsinstitutionen und drittens regulativen Normen des Politischen. Dieses Verhältnis ist insofern instabil, weil die Möglichkeit besteht, dass die Spannung zwischen Machtwirklichkeit und Norm aufgehoben wird, wenn die Macht im Namen des mobilisierten Sozialen ergriffen wird. Carl Schmitt etwa unterwirft im Begriff des ‚totalen Staates‘ die politischen Institutionen fast ganz der symbolischen Politik und ihrem gemeinschaftsmobilisierenden Normenhorizont. Das führt zur Konstruktion des permanenten Ausnahmezustands und damit zur weitgehenden Ausschaltung der regulierenden Friedensnormen, die im neuzeitlichen Begriff des Staates enthalten sind. Diese theoretische Strategie schlägt letztlich in die Konzeption der reinen Souveränitätsmacht um, weil die Spannung zwischen Macht und Norm ausgeschaltet wird und zugleich Gesellschaft und Staat als identisch erscheinen. 44 Andreas Dörner, Politischer Mythos und symbolische Politik. Der Hermannmythos: zur Entstehung des Nationalbewusstseins der Deutschen, Frankfurt am Main 1996, insbes. S. 21, 26. 45 Bernd Weisbrod, Die Politik der Repräsentation. Das Erbe des Ersten Weltkriegs und der Formwandel der Politik in Europa, in: Hans Mommsen (Hg.), Der Erste Weltkrieg und die europäische Nachkriegsordnung. Sozialer Wandel und Formveränderung der Politik, Köln 2000, S. 13–41.
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Symbolische Politik bedeutet, dass die sozialen Massen ins Spiel des (sich demokratisierenden) Politischen eintreten. Daher die zunehmende Rolle der öffentlichen Medien, insbesondere von Tageszeitungen, Illustrierten, Plakaten, Flugblättern, Denkmälern und öffentlichen Reden, aber auch von Vorträgen, Literatur, Kunst und Poesie. Die politische Romantik reflektiert die neue politische Bedeutung des Symbolischen und Repräsentativen nicht nur gesellschaftstheoretisch, sie tritt nicht nur fordernd dafür ein, sondern sie bringt auch praktische Projekte hervor, die dem Ziel der Mobilisierung des Sozialen dienen sollen. Beispielhaft soll hier auf die von Müller und seinem Freund Heinrich von Kleist während ihrer Dresdener Zeit gegründete Zeitschrift Phöbus zurückgegriffen werden. Die Herausgabe dieser Zeitschrift ist als politischer Akt zu werten, mittels dessen die Herausgeber Öffentlichkeit mobilisieren wollten. Diese Mobilisierung steht im Kontext der mehr oder weniger verdeckten politischen Agitation für eine Erhebung gegen Napoleon. Zugleich lässt sich aus den inhaltlichen Beiträgen Müllers im Phöbus seine Gesellschaftsvorstellung herausarbeiten. Und schließlich müssen Abbildungen aus dem Phöbus als Friedensbilder interpretiert werden, die jedoch mit der mobilisierenden politischen Absicht in einem engen Zusammenhang stehen. Kleist und Müller lernen sich wahrscheinlich erst nach Kleists Ankunft in Dresden im August 1807 kennen, wo sie zusammen in den Salons verkehrten.46 Sachsen ist zu dieser Zeit Teil des Rheinbundes und profitiert ökonomisch von der Verbindung mit Frankreich. In den Bürgersalons stehen die Zeichen daher nicht auf Opposition oder antifranzösische Agitation. Das Projekt, das beide schon kurz nach Kleists Ankunft in Angriff nehmen, ist die Gründung eines eigenen Verlags, der „Phönix-Buchhandlung“. Dieses Vorhaben geht an Geldmangel zugrunde. Ein zweiter von Müller im Dezember gestarteter Versuch, die Konzession für eine Dresdner Buchhandlung zu erwerben, scheitert zwei Monate später an den Einwendungen der Konkurrenten. So kommt es schließlich unter ungünstigen ökonomischen Umständen zur Herausgabe einer Zeitschrift im Selbstverlag, des Phöbus – Ein Journal für die Kunst, die Anfang 1808 erstmalig erscheint. Diese Zeitschrift kommt trotz Anfangserfolgen nicht über den ersten Jahrgang hinaus.47 Sie ist aber deshalb interessant, weil sich bereits an der ersten Ausgabe eine politisch-ästhetische Absicht ablesen lässt, die auf die Belebung 46 Peter Foley, Heinrich von Kleist und Adam Müller. Untersuchung zur Aufnahme idealistischen Ideenguts durch Heinrich von Kleist, Frankfurt am Main 1990, S. 54–60. 47 Zu den Gründen des Niedergangs vgl. Helmut Sembdner, Zur Geschichte der Zeitschrift, in: Phöbus – Ein Journal für die Kunst, hg. von Heinrich von Kleist und Adam H. Müller, mit einem Nachwort und Kommentar von Helmut Sembdner, Nachdruck, Hildesheim 1987, S. 603–609, hier S. 605.
III. Mediale Öffentlichkeit: Das Kleist-Müller-Projekt
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der gesellschaftlichen Moral mit medialen Mitteln zielt. Ziel dieser moralischen Vitalisierung zunächst des intellektuell-bürgerlichen Publikums für die Sache der Nation war die Erhebung gegen Napoleon. Diese politische Interpretation des Phöbus-Projekts mag erstaunen, denn gemeinhin geht man in der Forschung davon aus, dass Kleist und Müller die Politik aus ihrer Zeitschrift herauslassen wollten, um sich ganz auf die „Allianz von Poesie und Philosophie“ zu konzentrieren. Im Nachwort zur Sammelausgabe beruft sich Helmut Sembdner für diese Interpretation auf Müller, der argumentiert habe, „schrecklicher als die Bonaparteschen Ketten seien die Bande, die unser Gemüt mit nichtswürdigen Autoritäten zusammenschnürten; Gemütsfreiheit sei mehr als die bürgerliche, mit ihr könne man sich selbst unter dem neuen Tyrannen frei fühlen.“48 Zu dieser Interpretation mag beigetragen haben, dass Dresden um 1808 sicher nicht als Widerstandsnest bezeichnet werden kann. Aber erstens erregen Kleist und Müller in den Dresdner Salons oft den „Unmut der Anwesenden“, weil sie immer wieder die Meinung vertreten, „das politische Gewissen sei über Wissenschaft und Kunst zu setzen“.49 Zweitens beabsichtigt Kleist 1803 möglicherweise ein Attentat auf Napoleon verüben; Müller äußert zur selben Zeit in einem Brief an Gentz den Wunsch, der englischen Miliz beizutreten.50 Drittens ist eine strikte Trennung, die Kleist für den Jahresbeginn 1808 eine rein ästhetische Motivation unterstellt, während er bereits Ende desselben Jahres sein Partisanenstück Die Hermannsschlacht fertig stellt, wenig überzeugend. Und viertens stellen Müllers scheinbar so unpolitische Formulierungen über Sinn und Zweck des Phöbus wohl eher ein Musterbeispiel der ironischen Verkehrung dar, die seine Texte systematisch durchzieht. Da kann eine Aussage durchaus ihren „Gegensatz“ meinen. Außerdem spricht bereits eine Inhaltsanalyse des ersten Phöbus für eine politische Interpretation.51 Auch die Umschlagbilder des ersten Phöbus weisen in diese Richtung. Auf dem vorderen Umschlagbild ist vor der Skyline von Dresden der von Apollon gelenkte Wagen zu sehen (Abb. 2).52 Phöbus-Apollon ist der Gott der Sonne, der Musen, der Dichter und des Bogenschießens. Er ist der Bringer der Übel, die er aber auch wieder vertreiben kann. Unterhalb des Gespanns sind blumenstreuende Horen zu sehen. Über dem von der Sonne herabfahrenden Gott wölbt sich ein Bogen mit Tierkreiszeichen: In der Mitte 48
Ebd. Rudolf Loch, Kleist. Eine Biographie, Göttingen 2003, S. 324. 50 Foley, Heinrich von Kleist und Adam Müller, S. 62–69. 51 Vgl. unten das Kapitel „Krieg und Frieden“. 52 Nur die ersten fünf Ausgaben des Phöbus besaßen das Umschlagbild, welches den Apollon über Dresden zeigt. 49
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D. Soziale Moral
Abb. 2: Vorderes Umschlagbild des Phöbus
die Waage, das Sternzeichen Kleists, links die Jungfrau, das Sternzeichen Goethes, rechts der Skorpion, das Sternzeichen Schillers.53 Die Rückseite des Umschlags der Zeitschrift zeigt die Attribute des Phöbus: die Leier über einem Köcher mit Pfeil und Bogen umgeben von einem Lorbeerkranz (Abb. 3). Beide Bilder legen die Deutung nahe, dass die Kunst im Zusammenhang mit dem Krieg zu sehen ist und im Dienste des Sieges steht. Auf der bildlichen Ebene wird eine Verbindung zwischen der Funktion der Kunst und der Kriegführung hergestellt. Dass an diese Verbindung gedacht werden darf, zeigen viele Formulierungen in Müllers Schriften. So 53 Katharina Mommsen deutet die Umschlagbilder des Phöbus vor allem als Hinweise auf Kleists „Agon mit Goethe“ Allerdings muss eine rein auf die künstlerische Konkurrenz bezogene Interpretation lückenhaft bleiben, weil sie den politischen Rahmen ausspart (Katharina Mommsen, Kleists Kampf mit Goethe, Heidelberg 1974, S. 70–74).
III. Mediale Öffentlichkeit: Das Kleist-Müller-Projekt
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Abb. 3: Rückseitiges Umschlagbild des Phöbus
versteht er die Kunst der ‚Beredsamkeit‘ als ein Medium, das den gesellschaftlichen Geist erweckt und damit die Bereitschaft fördert, sich zu erheben und zu ‚befreien‘.54 Dabei wird vermittelnden Medien, wie Kunst, Poesie und Staat, von Müller die Aufgabe zugewiesen, diesen bindenden Geist, die „National-Kraft“55 herzustellen. Die beiden Stiche lassen sich daher als politische Symbole lesen, die den Widerstand gegen die Besatzung aktivieren sollen. Sie dürfen als eine Antwort auf die strategische Frage gesehen werden, wie man sich die neuen sozialen Kräfte verschafft, die nötig sind, um der „blutigen Energie konzentrischer Massen“56 auf derselben Ebene entgegenzutreten. Müller geht es um die kollektive Aktivierung der Herzen in den Medien des öffentlichen Ausdrucks. In diesem Sinne projektiert er 54 Adam Müller, Kritische, ästhetische und philosophische Schriften, Bd. I, Neuwied 1967, S. 293–451, insbes. S. 297 f. 55 Adam Müller, Die Elemente der Staatskunst, Jena 1922 [1809], S. 81. 56 Clausewitz, Vom Kriege, S. 208.
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eine Belebung der öffentlichen Sphäre durch Journale, Zeitungen und künstlerische Interventionen. Etwa entwickelt er 1809 in einer Eingabe an den König von Preußen den Plan eines doppelten Zeitungsprojekts: „Ich getraue mir 1) öffentlich und unter der Autorität des Staatsrats ein Regierungsblatt 2) anonym und unter der bloßen Connivenz desselbigen ein Volksblatt, mit anderen Worten, eine Ministerial und eine Oppositionszeitung zugleich zu schreiben, die dem Einen, was uns Not tut, der Wiedererzeugung einer wahren und ernsthaften, preußischen, öffentlichen Meinung tätig zu Hilfe kommen soll.“57
Entsprechend versuchen Müller und Kleist sich mit einer ganzen Reihe von Zeitschriften- und Zeitungsprojekten. Dabei kommt es beiden weniger darauf an, eine bestimmte Sichtweise zu popularisieren, sondern überhaupt eine widerstreitende und debattierende Öffentlichkeit zu motivieren. Dem entsprechend entwickelt Kleist 1809 in Prag den Plan für ein patriotisches Wochenblatt mit dem Titel Germania, das ebenfalls erzieherisch auf die Bildung des deutschen Nationalbewusstseins einwirken sollte. Weiterhin betrieb Kleist seit Oktober 1810 ein sehr erfolgreiches Zeitungsprojekt in Berlin. Die Berliner Abendblätter sind nicht nur die erste Berliner Tageszeitung gewesen. Sie sollten auch ein „Volksblatt“ sein, das heißt „ein Blatt für alle Stände des Volkes.“58 Die Zeitung setzte auf ein Konzept, das Unterhaltung, Sensation und Information mit einer, wie Kleist im ersten Extrablatt schreibt, „allgemeinen moralreformerischen Tendenz und Zielstellung“ mischte. Kleist leitete die Zeitung nach den Müllerschen Gegensatzprinzip, das heißt sie war Oppositions- und Regierungsblatt zugleich.59 Die Zeitung erfreute sich großer Beliebtheit (u. a. durch aktuelle Polizeiberichte). Mit den Berliner Abendblättern gedachte Kleist „der verbreiteten Indifferenz der Öffentlichkeit bzw. der Oberflächlichkeit der öffentlichen Meinung entgegenzuwirken“.60
IV. Organischer Staat und schöne Gesellschaft Im ersten Phöbus findet sich eine Abhandlung Müllers über die „schöne Gesellschaft“, welche die strategisch-politische Absicht der Zeitschrift andeutet. In dem Text wird eine Theorie des dramatischen Gesprächs entwickelt, um anschließend auf die Politik zu kommen. 57 Müller, zit. n. Jochen Marquardt, „Vermittelnde Geschichte“. Zum Verhältnis von ästhetischer Theorie und historischem Denken bei Adam Heinrich Müller, Stuttgart 1993, S. 140 f. 58 Kleist, zit. n. Loch, Kleist, S. 364. 59 Marquardt, Vermittelnde Geschichte, S. 141 f. 60 Loch, Kleist, S. 367.
IV. Organischer Staat und schöne Gesellschaft
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Das dramatische Gespräch unterscheidet Müller einerseits vom Monolog, bei dem es bloß ums Rechthaben gehe, das heißt darum, den anderen zum Schweigen zu bringen, und andererseits vom Dialog, „wo hinüber und herüber künstlich und zierlich mit Worten gespielt, [. . .] völlig gleichgültig gegen irgend ein Resultat, die Lust des Sprechens an sich [. . .] genossen wird.“61 „In dem ächten dramatischen Gespräch hingegen mag immerhin der Streit um den Sieg einer einzelnen Sache beginnen: unter den Händen der künstlerischen Redner wächst aber allmählig diese Sache, wie der Held im fortschreitenden Drama. Es läuft nicht darauf hinaus, dass endlich eine der beiden streitenden Parteien zum Stillschweigen gebracht sei, und die andere den gewonnenen Satz beistecke und nach Hause gehe: es läuft auch nicht darauf hinaus, dass beide wie nach dialogischem Gespräch in wohlthätige Schwingung und Seelemotion versetzt sich trennen. Sondern wachsend über alle persönlichen Schranken der ersten Erscheinung hinaus reinigt sich, läutert sich der Gegenstand des dramatischen Gesprächs zu einer Art von Schutzgott des edelgeführten Streits, der jeden Streiter mit eigenthümlichen Kranze belohnt, beide einander nähert, sie gegenseitig verständigt und mildert, sie erinnert, dass der Streit wohl ein unendlicher sei, dass aber er, Der Schutzgott des Streits, die gemeinschaftlich erstrittene Idee [. . .] in immer schönerer Gestalt dabei zugegen sein, an welcher Stelle sie sich wieder treffen möchten, sie schon erwarten werde.“62 [Hervorh.; DS]
Wenn Müller von der ‚Idee‘ spricht, die er im ‚Gespräch‘ (oder im ‚Staat‘) ausgedrückt findet und die in öffentlichen Medien gewissermaßen als übergreifende „Information ohne Inhalt“ (Marshall McLuhan) kommuniziert werden soll, dann denkt er an eine soziale Gemeinschaftlichkeit, die in der ideellen Übereinstimmung der sozialen Akteure in ihren Erwartungen, Einstellungen und Haltungen wurzelt: Die „Fäden der Unterhaltung aber pflegen wieder zu zerreißen, bis man sich über Ideen berührt: von dem Augenblick an ist der Boden der Unterhaltung fest und wölbt sich [. . .] ein gemeinschaftlicher Himmel über beide.“63 [Hervorh.; DS]
Spuren dieser Perspektive finden sich auch in der modernen Soziologie. Dabei kann etwa an Max Webers Definition des sozialen Handelns erinnert werden. Soziales Handeln meint ein Handeln, das seinem subjektiv gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird. Dabei wird unterstellt, dass ein verstehendes ‚Einverständnis‘ in den gemeinten Sinn des Anderen vorliegt (rationale und einfühlende Evidenz). ‚Soziales Handeln‘ als soziologische Grundkategorie votiert mithin für eine Vorstellung des Gesellschaftlichen, die letztendlich auf der Übereinstimmung sozialer Interak61 Adam Müller, Fragmente über dramatische Poesie und Kunst, in: Phöbus, Heft 1, 1808, S. 41–52, hier S. 50. 62 Ebd. 63 Müller, Schriften, Bd. I, S. 315.
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tionspartner in ihren Vorstellungen und Erwartungen, ihren mit Müller ‚Ideen‘, beruht. Nach Müller bringen der schöne Ton des dramatischen Gesprächs und die Kunst der Beredsamkeit den „Geist der Gesellschaft“ hervor. Der „Schutzgeist des schönen Tons [. . .] belebet alle“, so dass sie „mitwirken, eingreifen“. Den „Helden der Gesellschaft“, das heißt der politischen Elite, gibt der schöne Ton nicht nur die Möglichkeit, das Volk mitzureißen, sondern er „ruft“ diese Elite selbst erst herbei. Im Medium vereinigen sich die gesellschaftlichen Differenzen schließlich zur „schönen Gesellschaft“.64 So heißt es: „Die schöne Gesellschaft hat einen monarchischen Anfang: einzelne Mitglieder ragen hervor, imponieren: sobald aber ihr Leben um sich greift, wird alles durchdrungen von der Lust, sich anzuschliessen, mitzusteigen, und so wird gegen das Ende hin das ganze Wesen immer republikanischer“.65
Es sei hervorgehoben, dass hiermit die Mobilisierung und Hervorbringung ‚der Gesellschaft‘ durch medial-ästhetische Aktivierung projektiert wird. Müller thematisiert darüber hinaus Politik als Funktion des Mediums der Beredsamkeit. Die „schöne Gesellschaft“ verweist auf den Entwurf einer Staats- und Regierungskunst, die den Staat nicht als mechanische Verstandeskonstruktion, sondern als organische Kulturleistung versteht und welche die vermittelnden Momente zur Gesellschaft hervorhebt. Insofern er den Staat als „Gespräch des Regenten mit seinem Volk“66 konzipiert, versteht ihn Müller ebenfalls als Mittel zur Aktivierung des Sozialen. Das Verhältnis von Staat und Gesellschaft, das Müller entfaltet, zielt darauf ab, die Kräfte ‚der Gesellschaft‘ freizusetzen. Daher lässt er keine Gelegenheit aus, die Staatsmaschine des Ancien Regime als ‚mechanistisch‘ zu kritisieren. Im Unterschied zum Liberalismus wird der Staat aber nicht als bloße Funktion des Gesellschaftlichen betrachtet, der lediglich Schutzfunktionen zu erfüllen habe (‚Nachtwächterstaat‘), sondern er gilt selbst als ein kulturelles Medium, das geeignet ist, Gesellschaftskräfte zu mobilisieren. In der organischen Gesellschaft oder – wie Müller häufig sagt – im ‚organischen Staat‘ sind es nicht nur die ökonomischen, sondern vor allem die kulturellen Momente, die dem Getriebe der Gesellschaft Schwung verleihen: „Der Staat ist nicht eine bloße Manufaktur, Meierei; Assekuranzanstalt oder Merkantilistische Sozietät; er ist die innige Verbindung der gesamten physischen und geistigen Bedürfnisse, des gesamten physischen und geistigen Reichtums, des gesamten inneren und äußeren Lebens einer Nation zu einem großen, unendlich bewegten und lebendigem Ganzen.“67 64 65 66
Müller, Fragmente, S. 51. Ebd. Koehler, Ästhetik der Politik, S. 176.
IV. Organischer Staat und schöne Gesellschaft
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Von der inflationären Staatsmetaphorik darf man sich nicht täuschen lassen. Wenn Müller vom ‚organischen Staat‘ spricht, dann muss genau hingesehen werden, um zu verstehen, was damit gemeint ist. Es liegt hier eine politische und ökonomische Theorie vor, die von der Seite des Gesellschaftlichen aus spricht. Denn „gesellschaftliche Bande“ und „Staat“ meinen im Wesentlichen das Gleiche.68 Müllers Diskurs ist daher einer, welcher der Vergesellschaftung des Staates das Wort redet, anstatt die Verstaatlichung der Gesellschaft anzustreben. Produktivität wird dabei ausschließlich als Funktion der ‚organischen‘ Vermittlung zwischen den verschieden, jedoch nicht nur ökonomischen Funktionen der Gesellschaft bestimmt, das heißt in der Form eines funktional-relationalen Verhältnisses. Das komplexe und gegensätzliche Kräftespiel des Sozialen gilt es zu forcieren. In diesem Kontext betont Müller die Bedeutung von kulturellen Medien, symbolischer Politik, Kunst und Ästhetik. Wie bereits angedeutet, ist die Nähe der romantischen Theorie zur Idee der „organischen Solidarität“ bei Durkheim auffällig. Für Durkheim resultiert diese Solidarität aus der Arbeitsteilung, das heißt aus dem Funktionssystem der produktiven Kräfte. Die Arbeitsteilung führt einerseits zu einer Abnahme des Kollektivbewusstseins und zur Freisetzung von Individualität. Andererseits konstituiert sie eine auf das Soziale gerichtete moralische Solidarität, die daraus resultiert, dass die Individuen sich von der arbeitsteiligen Gesellschaft abhängig begreifen. Durkheim denkt sich die organische Solidarität als ein unter idealen, das heißt störungsfreien Bedingungen aus der Arbeitsteilung quasi automatisch emergierendes moralisches Band. Störungen der Arbeitsteilung führen dagegen zu Friktionen im sozialen Band, daher soll die „Verteilung der Arbeit“ sich ganz „aus der Sachnotwendigkeit“ der differenten Fähigkeiten der Individuen ergeben.69 Ganz ähnlich denkt Müller das gesellschaftliche Ganze als Effekt produktiver Beziehungen zwischen differenzierten Organen der Gesellschaft. Aber da die Romantik anders als Durkheim nicht nur mit Irritationen in einem bereits bestehenden sozialen System konfrontiert ist, sondern mit dem Problem der Konstitution eines solchen Sozialen, verweist sie unmissverständlich darauf, das zusätzliche kulturelle und politische Investitionen nötig sind, die die soziale Moral intensivieren. Nicht allein die Sachnotwendigkeit und eine ihr entspringende „positive Moral“ (Saint-Simon) stabilisieren die ‚Gesellschaft‘, sondern es bedarf darüber hinaus einer symbolisierbaren und von den Gesellschaftsmitgliedern allgemein geteilten Vorstellung des Miteinander. In dieser Hinsicht 67 Adam Müller, Ausgewählte Abhandlungen. In: Die Herdflamme, Bd. 19, Jena 1931, S. 13. 68 Ebd., S. 7. 69 Durkheim, Soziale Arbeitsteilung, S. 445 f.
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kommt sie dem Problem der Sozialmoral in modernen Gesellschaften auch wesentlich näher als Durkheim. Dessen Vorstellung, soziale Moral ergäbe sich praktisch automatisch aus der Arbeitsteilung, ist eher naiv zu nennen. Vielmehr ist ein öffentlicher Diskurs nötig, der die Einsicht in die organische Abhängigkeit fördert und auf die in dieser Wechselwirkung schlummernden Kräfte hinweist, das heißt ein Diskurs, der die subjektive Erfahrung in der arbeitsteiligen Gesellschaft im Sinne einer ‚moralischen Gesellschaft‘ deutet. Dieser Diskurs ist eben der, durch den eine Gesellschaft sich als ‚Gesellschaft‘ versteht. In diesem modernen Gesellschaftsdiskurs spielt auch die Soziologie eine wichtige Rolle, insofern sie einerseits ‚die Gesellschaft‘ als Wissensobjekt konstituiert und andererseits ‚gesellschaftliche‘ Probleme öffentlichkeitswirksam popularisiert. Vor diesem Hintergrund ist auch die Nähe von Müllers Auffassung zu konflikttheoretisch angelegten modernen Integrationstheorien interessant. Eine solche Integrationstheorie formuliert etwa Helmut Dubiel. Moderne demokratische Gesellschaften basieren demnach auf einer „schwachen“ normativen Integration, die aus der sozialen Konfliktgeschichte resultiert. „In dem Maße, wie sich die politischen Akteure über die Zielsetzung ihrer Gesellschaft streiten, betätigen sie sich auch als Mitglieder ein und derselben politischen Gemeinschaft. Durch den Konflikt hindurch begründen sie ohne Aufgabe ihrer Gegnerschaft einen sie zugleich integrierenden symbolischen Raum.“70 Aus gehegten gesellschaftlichen Konfliktverhältnissen entspringt also eine Ethik des Sozialen. Ähnlich geht Müller von einer Gemeinschaftsbildung durch die dynamische Betätigung gesellschaftlicher Gegensätze aus. Während Dubiel allerdings nur binnengesellschaftliche Gegensätze im Blick hat, denkt Müller auch an Konflikte im gesellschaftlichen Außenverhältnis. Er beschreibt auch den Krieg als Konstituens eines symbolischen Gesellschaftszusammenhangs. Dubiel sieht in der normativen Integration durch die binnengesellschaftlichen Konflikte nur eine schwachen Bindung, weil die sozialen Differenzen nicht in einer totalen gemeinschaftlichen Einheit (etwa dem totalen Staat nach Carl Schmitt) aufgehoben werden, sondern lediglich politisch und gesellschaftlich institutionalisiert werden. Ein Zentrum der Gesellschaft lässt sich nicht fixieren: „Dieses in fundamentalen Konflikten sich herausbildende gemeinschaftliche Band bildet zugleich so etwas wie ein Potenzial gesellschaftlicher Reflexivität. Freilich eine Reflexivität, die unmittelbar mit keinem Bewusstsein mehr assoziiert ist. Denn kein Individuum, keine Gruppe und keine staatliche Agentur hat mehr das Monopol auf sie“.71 Im 70 Helmut Dubiel, Konsens oder Konflikt? Die normative Integration des demokratischen Staates, in: Beate Kohler-Koch (Hg.), Staat und Demokratie in Europa, Opladen 1992, S. 130–137, hier S. 135.
V. Der Raum der Gesellschaft
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Unterschied zu dieser Einschätzung zielt Müller auf ein positiv symbolisierbares Gemeinschaftsbewusstsein. Dabei liegt die Annahme nahe, dass Müllers deutlich stärkere Betonung sich positiv artikulierender Gemeinschaftlichkeit mit seiner Beachtung der Außendimension der nationalen Gesellschaft zu tun hat. Diese Betonung ändert allerdings nichts daran, dass auch Müllers Modell keiner Identitätslogik folgt, die auf die letztlich totalitäre „Illusion einer unmittelbaren Einheit der Gesellschaft mit sich selber“72 führen würde.
V. Der Raum der Gesellschaft Der romantische Gesellschaftsdiskurs konzipiert das Soziale letztlich als einen abgeschlossenen, funktional-differenzierten und zugleich zentrierten Raum. Die Interaktion/Kommunikation zwischen den verschiedenen Funktionen (‚Kräften‘) wird als ‚produktiv‘ begriffen. Das Sinnbild dieser Gesellschaftsvorstellung ist ein räumliches, nämlich die Kugel (Abb. 1). Dieses Bild verdeutlicht, dass die Rede von ‚der Gesellschaft‘ nicht nur ein Zeichen für eine neue Qualität sozialen Zusammenhangs ist, sondern einen neuen Raum markiert, den es in dieser Form vorher nicht gegeben hat. Der Raum der Gesellschaft meint mehr als das Territorium und die darauf lebende Bevölkerung eines Staates, obwohl sich seine äußeren Grenzen in der Regel mit Staatsgrenzen decken. Vielmehr bedarf es gemeinsamer Kommunikationsmedien, insbesondere Staat, Öffentlichkeit und Kultur, die funktionale gesellschaftliche Differenzen integrieren und zugleich ausdrücken. Sozialstrukturelle Hierarchien werden dabei vom Diskurs über ‚die Gesellschaft‘ in Funktionsstrukturen uminterpretiert. Das hat eine innere Homogenisierung zur Folge. Jede Funktion ‚trägt‘ auf ihre Art und Weise auch das Ganze, hat an ihm Anteil und bekommt somit auch einen kulturellen und gesellschaftlichen Wert zugesprochen. Weiterhin kommt es zu einer „Entbettung“ (Anthony Giddens) sozialer Zusammenhänge aus unmittelbaren lokalen Bezügen, weil Interaktionen nun einen weiteren räumlichen und zeitlichen Horizont aufweisen. Darüber hinaus konstituiert sich eine Abgrenzung nach außen, weil der Staat als Konsitutionsbedingung ‚der Gesellschaft‘ angesehen und Kultur sprachlich und damit ‚national‘ gedacht wird. Die Konstitution moderner Gesellschaften bleibt damit dem „zellenbildenden Prinzip“ (Heinrich Popitz) aller Vergesellschaftung unterworfen.73 71
Ebd. Ebd., S. 134. 73 Popitz, Aufbruch zur Artifiziellen Gesellschaft, S. 127. Popitz weist darauf hin, dass ‚Gesellschaft‘ als „umgrenzbares soziales Gebilde“ aufzufassen ist, welches sich durch einen „gewissen Intensitätsgrad sozialer Interdependenzen“ auszeichnet (Heinrich Popitz, Soziale Normen, Frankfurt am Main 2006, S. 94). Er 72
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D. Soziale Moral
Dieser gesellschaftliche Raum ist – obwohl mit materiellen Faktoren wie Bevölkerung, Topologien, Warenproduktion, Kommunikationsmedien usw. verknüpft – ein rein immaterieller Bedeutungsraum. Aber die Konzipierung dieses (in der Zeit andauernden) Raums gestattet es, politisch steuernd in soziale Prozesse einzugreifen (Regulierungsmacht). Zum einen, weil er sie in einem Modell quasi ‚gegenständlich‘ macht, wodurch ‚Gesellschaft‘ zu einem für konstruierende und regulierende Eingriffe offenen Wissensobjekt wird. Zum anderen, weil ‚die Gesellschaft‘ und ihre gemeinschaftlichen Konnotationen ein hohes identifikatorisches Potential entfalten, das sich wiederum für verschiedene Zwecke der ‚Produktivität‘ aktivieren lässt (Mobilisierung). Problematisch an diesem Konzept erweist sich die Zentrierung der Gesellschaft. Sie ist einerseits notwendig, weil sie den Raum der Gesellschaft begrenzt (eine unendliche Ausdehnung hat kein Zentrum). Zugleich verweist die Tatsache, dass die Zentrierung Gegenstand eines Diskurses ist, der sie zu ‚begründen‘ versucht darauf, dass sie prinzipiell problematisch ist. Die große kulturelle und politische Bedeutung von Entfremdungs- und Anomiediskursen in der Moderne zeigt, dass die Integration des sozialen Ganzen über die kulturelle und politische Zentrierung nicht abschließend gelöst werden kann. Vielmehr markiert sie eben die zentrale Problemstelle moderner Gesellschaftlichkeit und des Sprechens und Forschens über ‚Gesellschaft‘. ‚Gesellschaft‘ ist auf Zentrierungen so angewiesen, wie sie ihnen notwendig entkommt. Sie ist exzentrisch. Ihre Integration ist niemals ein Zustand, sondern immer ein Prozess, der vor dem Hintergrund offener Welthorizonte und Grenzen überschreitender Kommunikation, dezentrierender Tendenzen funktionaler Ausdifferenzierung, der Individualisierung und der Entfremdung usw. gesehen werden muss. Im dynamischen, auf Produktivität abzielenden romantischen Kugelmodell ‚der Gesellschaft‘ schlagen sich diese Momente und Problemhorizonte moderner Gesellschaftlichkeit nieder. Insbesondere wird das Problem der prozessualen Einheit der Differenz verhandelt. Charakteristisch für diese Rede von der Gesellschaft ist ein gewisser Holismus, da ‚Gesellschaft‘ als ein abgegrenztes, zentriertes, integriertes und für sich stehendes Ganzes verstanden wird. Dieser Holismus bleibt allerdings immer problematisch, denn weder Grenze noch Zentrum noch Integration der Gesellschaft erscheinen in der andauernden Rede über sie als selbstverständliche Gegebenheiten. nennt Gesellschaften auch „intensive soziale Zusammenschlüsse von vitaler Bedeutung“ (Aufbruch zur Artifiziellen Gesellschaft, S. 127). Diese vitale Bedeutung gründet in der Geburt, Aufzucht und Erziehung von Kindern. In dieser anthropologischen Perspektive gelten als Gesellschaften „nicht nur familien- und sippenartige Gebilde, sondern auch die überformenden Zusammenschlüsse von Stämmen und Verbänden, einschließlich politischer Verbände.“ (ebd., S. 127).
VI. Krieg
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Die in diesem prozessualen und exzentrischen Modell des modernen gesellschaftlichen Raums enthaltenen Momente der Homogenität, der Abgrenzung, der Mobilisierung und der Integrationsproblematik, die sich auch als eine Art permanenter Gefährdung des sozialen Ganzen darstellen kann, verweisen dabei auf Möglichkeiten, den Diskurs über ‚die Gesellschaft‘ im Rahmen einer Kriegführung in Stellung zu bringen.
VI. Krieg Das erste im Phöbus veröffentlichte literarische Fragment gibt den Blick auf die Schlachtfelder vor Troja frei und beginnt mit den Worten: „Seid mir gegrüßt, ihr Könige! Wie geht’s?“ Antwort: „Schlecht, Antiloch.“74 Dass diese Sätze aus der Penthesilea das ganze Phöbus-Projekt einleiten, dürfte kein Zufall sein. Sie beschreiben – nach Jena und Auerstedt – den Ernst der Lage. Penthesilea ist eine Tochter des Ares, Gott des Krieges. Als „der Kriegsgott selbst“ galt seinerzeit vor allem Bonaparte.75 Man könnte daher darüber spekulieren, ob das Amazonenheer eine Allegorie der Napoleonischen Armeen darstellt und der Frauenstaat die revolutionäre Republik. Der Wahnsinn Penthesileas, die den Griechen Achill aus Liebe zerstückelt – „Küsse, Bisse, Das reimt sich, und wer recht von Herzen liebt, Kann schon das eine für das andere greifen.“76 (24. Auftritt)
– lässt sich jedenfalls auch als codierte Warnung entschlüsseln. Kleist warnt hier weniger vor der Ambivalenz der Moderne an sich, sondern mehr vor der Arestochter, das heißt der militanten Republik. Man solle sich keine falschen Hoffnungen machen. Die Revolution frisst die, die sich in sie verlieben. Die Pointe der Penthesilea – die Zerstückelungsszene im 22. Auftritt – fehlt allerdings in dem Phöbus-Fragment. Dieses bricht einige Zeilen zuvor unvermittelt ab. Die Fortsetzung zeigt aber, dass dieses Stück und damit auch der Phöbus eine politische Komponente hat. Wie bereits die beiden Umschlagbilder des Phöbus deutlich werden lassen, muss auch die politische Romantik als eine der intellektuellen Strömungen gelten, gesellschaftliche Kräfte für die Befreiung von der Napoleonischen Fremdherrschaft zu mobilisieren.77 Müllers kulturpolitischer Dis74 Heinrich von Kleist, Organisches Fragment aus dem Trauerspiel: Penthesilea, in: Phöbus, Heft 1, 1808, S. 5–33, hier S. 5. 75 Clausewitz, Vom Kriege, S. 857. 76 Heinrich von Kleist, Penthesilea. Ein Trauerspiel, Stuttgart 2001, S. 115. 77 Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, S. 506–530.
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D. Soziale Moral
kurs changiert zwischen einer Ästhetik, die den Ernst der Lage betont (Kriegszustand, politische Lage des Staates) und einer Ästhetik, die das Spiel der Zeichen zum Thema macht (Öffentlichkeit, Beredsamkeit, Kunst, Medien). Die mediale Aktivierung der Herzen zielt auf die Erweckung der sozialen Moral. Im Rahmen dieser Diskursstrategie findet daher eine erste Problematisierung des ‚sozialen Bandes‘ statt. Politisch-strategisches Ziel ist allerdings auch die Produktion einer sozial-moralisch gestützten, kollektiven Gewaltmotivation, mit deren Hilfe den revolutionär-nationalistisch begeisterten Heeren Napoleons Paroli geboten werden kann. In diesem Zusammenhang thematisiert Müller die Diskursverhältnisse in Deutschland und vergleicht sie mit denen in Frankreich. „Die Betrachtungen über die Beredsamkeit, welche wir miteinander anzustellen im Begriff sind, müssen“, so schreibt Müller, „auf die Verherrlichung einer benachbarten Nation führen, welche durch die Gewalt und den Reiz der Rede eine Art von Weltherrschaft vorbereitet hat, – und auf eine gewisse Demütigung unseres deutschen Volkes, welches die Kunst, mit der lebendigen Sprache zu zwingen und zu verführen oder sonst den Augenblick zu ergreifen, eigentlich nie besessen und welches das Wort nie bei der Hand gehabt, sondern meistenteils in der Feder erkalten lassen. –“78 Die folgende Passage beschreibt nicht nur die politische Realität, sondern verweist auch auf die Erwartung einer Mobilisierung des gesellschaftlichen Zusammenhangs durch eine mediale Strategie: „Können wir Deutsche von Beredsamkeit sprechen, nachdem längst aller höhere Verkehr bei uns stumm und schriftlich oder in einer auswärtigen Sprache getrieben wird? [. . .] Und wenn die Natur Talente für die Beredsamkeit über Deutschland so reichlich ausstreute wie über dem Boden irgendeines anderen Landes, so sind es ja in Deutschland nur einzelne, die hören; es gibt kein Ganzes, keine Gemeinde, keine Stadt, keine Nation, die wie mit Einem Ohre den Redner anhörte. Im Gespräch mit dem einzelnen sind wir zu ungebunden, zu unbeschränkt; wir lassen uns gehn, wir reden nachlässig, und so verliert sich aus der Sprache des Volks der allgemeine, bindende Geist; sie zerbröckelt sich in unzählige Dialekte und Idome; jede Sekte und jede Kotterie verunstaltet sie in ihrer eigenen Manier.“79
Vom Krieg erwartet Müller aufgrund seiner existenziellen Qualität wiederum eine mobilisierende Wirkung: „Kurz, das Wesentliche am Staate, Das, wovon seine Existenz abhängt, kommt am deutlichsten unter Bewegungen und Kriegen zum Vorschein. Was die Menschen eigentlich auf Leben und Tod verbindet, so, daß eine bürgerliche Gesellschaft, ein politisches Ganze, ein Staat, aus ihnen entsteht – diese Bande und ihre Kraft müssen am besten erprüft und studiert werden können, wenn viele feindselige Mächte zusammentreten, um sie aufzulösen und zu zerstören.“80 78 79
Müller, Schriften, Bd. I, S. 297. Ebd., S. 297 f.
VI. Krieg
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Entsprechend zeigt eine strategische Analyse, dass der „bürgerliche Zustand“, so Clausewitz, eine der „Hauptquellen“ des kriegerischen Geistes darstellt.81 Nur dieser Zustand belebt den „Volksgeist“, der als moralische Waffe gelten muss.82 Die mediale Belebung der gesellschaftlichen Bande, die die politische Romantik im Auge hat, kann diese Waffe schmieden. Der Krieg selbst wird darüber hinaus wiederum als ein Medium verstanden, das den Volksgeist verstärkt. Auch der Krieg erscheint als „politische[s] Bindemittel“83. Dabei wird allerdings unscharf, was denn nun dieser Theorie zufolge den bindenden Geist erzeugt – der Krieg oder eine politische Ästhetik? Da Müller immer wieder auf die diskursiven Bedingungen einer gemeinschaftlichen sozialen Einheit hinweist, muss davon ausgegangen werden, dass dem Krieg seiner Meinung nach bei der Konstitution der Gesellschaft nicht das Primat zukommen kann. Diese Frage stellt sich Müller in dieser Form allerdings nicht, weil er den „wahren“ oder „echten“ Krieg nur als eine weitere Variante der alles vermittelnden Bewegung begreift, die die gegensätzlichen Kräfte zusammenführt: Aus „dem Bewußtsein der Bewegung, des Streites, der echten Kriege geht das Gefühl des Friedens mit der Welt [. . .] hervor.“84 Unzweifelhaft steht die politische Romantik im Kontext einer Mobilisierung für den Krieg. Dabei wird deutlich, dass die Konstitution der ‚Gesellschaft‘ im Krieg auf kulturellen und geschichtlichen Voraussetzungen aufbaut, die es sinnvoll erscheinen lassen, eine Differenz zwischen dem ‚Wir‘ und ‚den Anderen‘ herzustellen. Der vergleichende Blick nach Frankreich thematisiert gerade den drohenden Verlust kollektiver Identität und markiert eine kulturell, sprachlich und geschichtlich bedingte Differenz zwischen den Kontrahenten. Der Krieg produziert die sich selbst als eine bestimmte ‚Gesellschaft‘ verstehende Gesellschaft folglich nicht aus dem Nichts heraus, sondern im Medium von Diskursen, die ihn im Namen der eigenen gesellschaftlichen und kulturellen Identität und der eigenen Nation fordern. Ob die politische Romantik, die einen solchen gesellschaftlichen Kriegsdiskurs führt, deshalb eindeutig als „geistige Mitbegründer des neuzeitlichen Bellizismus“85 gelten muss, kann aber bezweifelt werden. Das kann eine Analyse der Diskursfunktion der romantischen Friedensbilder zeigen.
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Müller, Elemente der Staatskunst, S. 7. Clausewitz, Ein ungenannter Militär, S. 164. 82 Clausewitz, Vom Kriege, S. 257 f. 83 Albert Portmann-Tinguely, Romantik und Krieg. Eine Untersuchung zum Bild des Krieges bei deutschen Romantikern und „Freiheitssängern“, Freiburg Schweiz 1989, S. 386. 84 Müller, Schriften, Bd. I, S. 73. 85 Portmann-Tinguely, Romantik und Krieg, S. 369. 81
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D. Soziale Moral
VII. . . . und Frieden Ein Friedensbild versinnbildlicht eine regulative Idee, die den Verzicht auf physische Gewalt als Mittel des Politischen anrät. Damit wird zugleich der Gewalt eine Funktion in der gesellschaftlichen Ordnung zugestanden, denn ein solches normatives Friedensregulativ ist nur sinnvoll, wenn es nicht als eigentliches Sein moderner Gesellschaften gedacht wird. Normative Friedensbilder verweisen darauf, dass politische Gewalt spezifisch legitimationsbedürftig ist und dass sie begrenzt werden muss. Nun stellt sich die Frage: Wenn die politische Romantik den Krieg als Konstituens moderner Gesellschaftlichkeit denken konnte, formuliert sie auch ein normatives Friedensbild, das den politischen Einsatz von kriegerischen Gewaltmitteln als situativ bedingt erscheinen lässt und seine positiv-konstitutiven Effekte in Hinsicht auf ein friedliches Gesellschaftsbild relativiert? Das ideale Friedensmodell der Romantik ist die Versöhnung. Das romantische Denken ist ein Systemdenken; alle gesellschaftlichen Phänomene werden als Ausdruck eines dynamischen Spiels von Gegensätzen gedacht, deren Widerspruch nicht zu einer Selektion und dem Ausscheiden einer Möglichkeit führt, sondern letztlich zu einer gegenseitigen Ergänzung. Für das Modell der Versöhnung treten verschiedene Metaphern ein, etwa die Einheit mit der Natur in den Bildern Caspar David Friedrichs oder in der Naturphilosophie Schellings.86 Natürlich ist die Liebe für die Romantik eine ganz zentrale Metapher. Aus dem Geschlechterkampf, den Kleist in der Penthesilea dramatisch inszeniert, muss nicht die Vernichtung hervorgehen. Ideal wäre dagegen die Realisation aller Möglichkeiten der intimen Beziehung, von der man sich eine gegenseitige Verstärkung der subjektiven Selbstidentität erhofft.87 In den Kupferstichen des Phöbus wird insbesondere die organische Beziehung zwischen den Generationen hervorgehoben. Fünf der insgesamt sieben Kupfer haben das Verhältnis zwischen Alter und Jugend zum Thema. „Die Aspekte sind verschieden. Es lassen sich aber generell zwei Gruppen unterscheiden. In der einen erscheint das Alter gebend, die Jugend empfangend. In der anderen ist die Jugend überlegen, sie gibt dem Alter von ihrer Kraft.“88 Dabei handelt es sich um Versöhnungsmetaphern, die eine gesellschaftliche Dimension ins Spiel bringen, weil es um den Generationenkonflikt geht. 86
Böhme/Böhme, Das Andere der Vernunft, S. 139–149. Niklas Luhmann, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt am Main 1994, S. 169. 88 Mommsen, Kleists Kampf, S. 94. 87
VII. . . . und Frieden
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Abb. 4: Bacchus und Amor nach einer Illustration im Phöbus
So zeigt ein Stich aus der Phöbus-Doppelnummer 4/5 vom April/Mai 1808 den jungen Amor, dem der ältere Bacchus eine Schale mit Wein reicht (Abb. 4). Unten rechts liegen die Attribute Amors am Boden. Die Sehne des Bogens ist abgespannt, damit der Stecken seine Spannkraft nicht verliert. Damit wird angedeutet, dass der Bogen in nächster Zeit nicht benutzt werden soll. Pfeil und Bogen hat Amor also zur Seite gelegt, jedoch nicht zerstört. Im Hinblick auf die Tatsache, dass Pfeil und Boden ebenfalls zu den Attributen des Apollon zählen, darf dieses Versöhnungsbild im engeren Sinne als normatives Friedensbild gedeutet werden. Die Waffen werden abgelegt, bleiben aber bereit. Die Stärkung der Jugend müsste als Akt der Mobilmachung gedeutet werden, trüge Amor die Waffen bei sich. So handelt es sich um den Hinweis, dass der gesellschaftliche Friede der Gewaltmöglichkeit bedarf. Mehr noch: Der gesellschaftliche Friede gilt nur dann als ein solcher, wenn die Waffen abgelegt werden können. Nur dann gestal-
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tet sich das Verhältnis zwischen den Generationen (oder den hohen und niederen Klassen usw.) als ein harmonisches Verhältnis sich gegenseitig als Einheit Stärkender. Obwohl also die romantischen Harmonievorstellungen durchaus im Kontext von Mobilisierungsstrategien gedeutet werden müssen, darf darüber hinaus nicht vergessen werden, dass nicht der Krieg, sondern die Versöhnung der Gegensätze im Zentrum der romantischen Philosophie und Weltanschauung steht. Aus romantischer Perspektive schließen sich soziale Harmonie und bewaffneter Streit durchaus nicht aus – allerdings schließen sie sich auch nicht notwendig ein. So verzichtet das Amor-Bacchus-Friedensbild nicht darauf, auf den Gegensatz des Friedens – den Krieg – hinzuweisen. Generell denkt die politische Romantik auch den Krieg als einen befruchtenden, kräftesteigernden Streit, der schließlich in der Versöhnung endet. Die Vorstellung des Krieges, des Streits und der Auseinandersetzung, die der romantisch-politischen Anschauung zugrunde liegt, ist immer auf den Versöhnungsfrieden ausgerichtet, so wie der Frieden letztlich nur im Hinblick auf die Möglichkeit des Krieges darstellbar erscheint. Dieses Friedensbild hat den Status einer regulativen Idee, insofern es sich nicht als eine zu verwirklichende Utopie ewigen Friedens und ewiger Ruhe darstellt. Die Einheit der Gegensätze ist aus der Perspektive der Romantik vielmehr ein Prozess, der den Wechsel in sich aufnimmt, aber ihn niemals endgültig still stellt. Der Versöhnungsfrieden fungiert hier als eine handlungsleitende, im Prozess geschichtlich-gesellschaftlichen Handelns mitlaufende Norm. Allerdings erscheint die romantische Friedensnorm durchaus als ein ins gesellschaftliche Sein hineingeschriebenes Sollen. So schreibt etwa Adam Müller: „Es könnte also eine Welthaushaltung geben, sage ich; die Elemente dazu sind in den Menschen und in den Staaten vorhanden, und die ewige Ordnung, das unvergängliche Gesetz ihrer Vereinigung ist gegeben. – Statt dieser Welthaushaltung aber zeigen sich die Elemente derselben abgesondert, entbunden von dem wohlthätigen Schranken des Lebens, als elementarische Gewalten, als Weltkrieg und Welthandel im Zwiespalt, und das Geschlecht der Menschen, das durch ihre gegenseitige Durchdringung beglückt werden sollte, ihnen zur Beute gegeben; während der friedensstiftende Glaube, dem die Weltherrschaft gebührt, arm und verkannt und verbannt, ohne bleibende Stärke umherirrt.“89
Diese Passage schreibt die romantischen Versöhnungsnormen in das Wesen des Sozialen ein. Sie spiegeln das eigentliche Wesen der Gesellschaft, „die ewige Ordnung“ und „das unvergängliche Gesetz“ (Müller) wider. Dabei wird aber systematisch unklar, ob ein negatives Phänomen als fremde 89
Müller, Theorie des Geldes, S. 85.
VII. . . . und Frieden
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Störung des organischen Wechselspiels (Stichwort: „Entfremdung“) oder als integrales Moment dieses Spiels aufzufassen ist. Im romantischen Denken kann daher zwischen Regulativ und Utopie nicht klar unterschieden werden: Gegenüber einem Moment der gegensätzlichen Bewegung selbst reguliert die Norm den Prozess, indem sie das Handeln an der Norm der Versöhnung ausrichtet und so die Konstitution einer in einem gemeinsamen Glauben gegründeten friedlichen Weltgesellschaft („Welthaushaltung“) denkbar macht. Gegenüber einer fremden Störung fungiert die Friedensnorm als zu verwirklichende Utopie, die jedoch im Wesen der Gesellschaft bereits angelegt ist. Vor der Folie der harmonischen Sozialutopie erscheint diese Störung als Effekt der Einwirkung durch Andere, die dadurch zugleich als potenzieller totaler Feind markiert werden. Das führt auf ein Modell, welches die innere soziale Harmonie als permanente Verteidigungsbereitschaft konzipiert. Diese Doppeldeutigkeit ist problematisch, denn sie macht die Bilder sozialer Harmonie kriegstauglich. Die romantische Sozialutopie beruht auf einer normativen Gesellschaftsvorstellung, welche die Möglichkeit zur Entgrenzung der Gewalt gegenüber einem „Feind“ dieses konstruierten „Wesens“ der (eigenen) Gesellschaft bereit stellt. Denn wer sich der Friedensutopie der ewigen Liebesvereinigung „entgegenstellt, gilt als Feind und muss vernichtet werden.“90 Die Gefahren des normativen Gesellschaftsbegriffs und der entsprechenden Sozialutopie werden vom romantischen Diskurs schließlich durchdekliniert. Denn letztlich kann er der Versuchung nicht widerstehen, im Zuge der Befreiungskriege über den Feind den Bann auszusprechen und ihn damit aus der menschlich-gesellschaftlichen Ordnung auszuschließen, deren Wesen und Telos Versöhnung, Vermittlung und Vereinigung sein soll. Wen dieser Bann trifft, der gilt nicht einfach nur als Feind, sondern er wird auch in moralischer oder ästhetischer Hinsicht abgewertet. Einem solchen Feind gegenüber gibt es nur noch Hass; er fällt nicht mehr in die Logik des Gegensatzes und der Versöhnung. Diese wird nun vielmehr zum Spezifikum der eigenen Gesellschaft oder des „nationalen Wesens“ erklärt. Die Kultur des Feindes erscheint als das ganz Andere, Fremde, das von sich aus bedrohlich wirkt.91 Seinen krönenden Abschluss findet diese Entgrenzung der Gewaltbegreitschaft in der „Ethik des Hasses“ eines Ernst Moritz Arndt.92 90
Portmann-Tinguely, Romantik und Krieg, S. 375. Ebd., S. 374 f. 92 Dörner, Politischer Mythos, S. 84–91. Einschränkend ist allerdings darauf hinzuweisen, dass Arndt der Hass-‚Ethik‘ durchaus gewalteinschränkende Motive beistellt. Seine 1812 verlegte Schrift Kurzer Katechismus für teutsche Soldaten etwa enthält einerseits zahlreiche anti-französische Diffamierungen. Andererseits wird darin das Bild des zivilisierten ‚Bürgers in Uniform‘ entworfen und die klare Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten gefordert. Der Soldat soll 91
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Wie kann die Romantik normative Gesellschaftsvorstellung bzw. normative Friedensbildlichkeit einerseits und mobilisierend-militante Sozialsemantik andererseits miteinander verbinden? Wieso tritt hier ungeschieden auf, was laut der Modernisierungstheorie nicht zueinander passt? – Für die Beantwortung dieser Fragen ist der historische Kontext in Betracht zu ziehen. Um die Frage nach der Funktion und Bedeutung des Krieges kam ein zeitgenössischer politischer Denker wie Adam Müller einfach nicht herum. Aufgrund der dichotomischen Anlage seiner romantischen Gegensatzphilosophie ist es auch problemlos möglich, den Krieg in diese Philosophie und die damit einhergehende politisch-ästhetische Praxis zu integrieren. Deshalb hat die politische Romantik den Krieg als ein Konstituens moderner Gesellschaftlichkeit begreifen können. Obwohl sie zugleich einen normativen Gesellschaftsbegriff entwickelt, ist dies noch eine theoretische Option. Daher ist sie wiederum genötigt, auch einen normativen Standpunkt in Bezug auf die Frage nach Krieg und Frieden zu formulieren. Erst wenn der Krieg umfassend mit negativen Werturteilen belegt und als dem Wesen der modernen Gesellschaft fremdes Phänomen konzipiert wird, muss er notwendigerweise aus einer normativen Gesellschaftsvorstellung ausgeschlossen werden. Das setzt Gewalterfahrungen und auf sie bezogene öffentliche Deutungen voraus, die das „produktive Wesen“ des Krieges problematisch erscheinen lassen.
VIII. Erfahrung und Wirkung Auffällig ist, dass die körperliche Erfahrungsdimension der kriegerischen Gewalt in der politischen Romantik im Wesentlichen ausgeblendet wird. Die Ausblendung dieser Gewaltdimension hat verschiedene Gründe. Erstens fehlt bei aller Neuerung eine massenweise gemachte Gewalterfahrung, die in etwa derjenigen entspricht, welche die Materialschlachten des Ersten Weltkriegs kennzeichnet: Technisch gesehen werden die Kriege Friedrichs des Großen und Napoleons „mit demselben Gewehr ausgefochten“.93 Andere neue Technologien, wie Ballone zur Aufklärung oder der Chappesche Telegraf führen nicht zu einer ihnen in der Erfahrung zurechenbaren neuen „den Menschen nicht ausziehen“, wenn er „die Mondur“ anlegt, das heißt, er bleibt den allgemeinen Normen unterworfen, die für den Bürger gelten (Ernst Moritz Arndt, Kurzer Katechismus für teutsche Soldaten, nebst einem Anhang von Liedern, o. O. 1812, S. 8): Der „Krieg ist ein Übel, und die Gewalt ist das größte Übel. Darum sollen die, welche für den Krieg gerüstet sind, die gütigsten und mildesten seyn [. . .] Darum soll er [der Soldat, D.S.] die Wehrlosen schonen und gegen die Schwachen hülfreich und gütig seyn und das Schwerdt nur gegen das Schwerdt gebrauchen.“ (ebd., S. 21 f.). 93 Delbrück, Kriegskunst, S. 527.
VIII. Erfahrung und Wirkung
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Gewaltdimension. Die wesentlichen strukturellen Neuerungen, insbesondere was die Wehrpflicht, die Größe der Heere, strategische und taktische Veränderungen, die Organisationsstruktur der Armee, die Motivation zu kämpfen, die Bedeutung der beweglichen Artillerie und das Requirieren angeht, bedingen zwar eine neue Dimension des Krieges, insofern der alte Grundsatz aufgehoben wird, dass die Untertanen, „falls nicht gerade bei ihnen gefochten wird, gar nicht merken [sollen], dass Krieg sei.“94 Aber dennoch sind die Befreiungskriege im Großen und Ganzen noch konventionelle Fürstenkriege. Zweitens zielt der romantische Diskurs auf die Aktivierung der Herzen und auf Begeisterung für die gemeinsame Sache, das heißt auf die Konstitution sozialer Moral. Diese Denkweise aber schließt, wenn sie auf die Spitze getrieben wird, einen Realismus aus, der Waffenwirkung, Leiden und Tod thematisiert, weil es ihr im Wesentlichen auf die moralischen Faktoren ankommt. Und was vermag dagegen schon ‚das Material‘? Und drittens ist die romantische Gegensatzphilosophie so angelegt, dass immer auf die Verstärkung, das ‚wachsende Kraftgefühl‘, die Produktivität einerseits und auf die Vermittlung, die Gemeinsamkeit und die Vereinigung andererseits abgehoben wird. So schreibt Müller zum Beispiel: „Zum Wesen des wahren Krieges gehört es, daß zwischen den kriegführenden Staaten etwas gemeinschaftlich sey. Sollen wir über einzelne Dinge miteinander streiten oder Frieden schließen können, so müssen wir über irgend etwas schon einig seyn.“95
Verluste, Verletzungen, Störungen oder Entscheidungen kommen in diesem Vermittlungsmodell nicht vor. Das romantische System schließt immer nur ein. Das erschwert es, sich mit den Destruktionserfahrungen kriegerischer Gewalt auseinanderzusetzen. Schon zur Zeit der Napoleonischen Kriege erreichte die Gewaltdimension der Kriegführung immerhin eine Qualität, die es schwer macht, sich den Waffengang als versöhnlichen Streit vorzustellen.96 Auch in den Gemälden und Illustrationen, die in der deutschen Öffentlichkeit von den Befreiungskriegen bis zum Krieg gegen Frankreich 1870/71 die Visualisierung des Krieges übernehmen, kommen negative Gewaltfolgen, Leid und Zerstörung fast gar nicht zur Darstellung. Der Krieg wird als „ideales Gemeinschaftserlebnis und als gemütlicher Waffengang“97 94
Ebd., S. 539. Müller, Elemente der Staatskunst, S. 81. 96 Stig Förster, Der Weltkrieg, 1792–1815. Bewaffnete Konflikte und Revolutionen in der Weltgesellschaft, in: Jost Düffler (Hg.), Kriegsbereitschaft und Friedensordnung in Deutschland 1800–1814, Münster 1995, S. 17–38, hier: S. 22 f. 97 Gerhard Paul, Bilder des Krieges – Krieg der Bilder. Die Visualisierung des modernen Krieges, München 2004, S. 38. 95
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D. Soziale Moral
dargestellt. Radierungen und Gemälde wie diejenigen Francisco José de Goya y Lucientes’, die das Blutbad, den Furor, Hunger und Tod als „universale Merkmale des Krieges“98 darstellen, bleiben im 19. Jahrhundert generell eine Ausnahme. Erst im amerikanische Bürgerkrieg tauchen mit Goyas Ästhetik vergleichbare Bildreportagen auf. Das Leiden wird hier fotografisch abgebildet und in der realistischen Wahrheit des Bildes eine Kritik der Gewalt gesehen. Zugrunde liegt dieser „fotografischen Destruktionsästhetik“99 der Entlarvungsgedanke: Man zeigt die Folgen der Gewalt, um beim Publikum eine schockierende Wirkung zu erzielen, die den Krieg und kriegerische Haltungen moralisch desavouiert. Hier kann nur darauf aufmerksam gemacht werden, dass die dahinter stehende ästhetische Vorstellung, das ‚Reale‘ (die sinnliche Erfahrung) drücke an sich einen deutendwertenden Aufruf aus, höchst problematisch ist. Denn nur wenn Gewalt als prinzipiell pathologische oder unnormale oder dem Menschen als sozialem Wesen prinzipiell nicht eigentümliche Handlungsweise begriffen wird, ist es möglich, ihre realistische Darstellung automatisch als pazifistischen Appell zu verstehen. Das durchschlagend Neue – und damit auch das sich der sinnlichen Erfahrung aufdrängende – der Kriege zu Beginn des 19. Jahrhunderts ist die auf der Hingabe der Herzen beruhende levée en masse. Diese Erfahrung wird in der politischen Romantik allerdings zur Genüge thematisiert und interpretiert. Sie wird als Zeichen für eine neue Qualität des Gesellschaftlichen gedeutet. Dies ermöglicht es auch, einen existenziellen Kriegsbegriff einzuführen, wonach der Krieg einen Zustand hervorbringt, „in dem sich ein politischer Körper seiner Identität bewusst wird.“100 Es geht um Sein oder Nichtsein des Kollektivs. Die politische Romantik erweist sich also nicht im Hinblick auf die körperliche Gewaltdimension, sondern vielmehr im Hinblick auf das neue emotionale Intensitätsniveau der Kriegführung als erfahrungsorientiert. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts beschränkt sich die Veröffentlichung des Krieges auf die emotionale und moralische Anrufung durch einen gesellschaftskonstituierenden Diskurs. Die Gewalt des Krieges dagegen verdrängt sie. Die Verdrängung der Gewalterfahrungen ist allerdings kein notwendiger Bestandteil gesellschaftskonstituierender Kriegsdiskurse, sondern sie ist lediglich Funktion der gesellschaftlichen, technischen, organisatorischen, diskursiven und politischen Bedingungen der Kriegführung in den deutschen Staaten zu Beginn des 19. Jahrhunderts. 98 Wolfgang Sofsky, Kriegsbilder, in: Kursbuch, Heft 147, 2002, S. 149–160, hier S. 150. 99 Paul, Bilder des Krieges, S. 67. 100 Münkler, Über den Krieg, S. 107.
IX. Die Modernität der Romantik
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Der Diskurs der politischen Romantik ist ein Mobilisierungsdiskurs. Mit Einschränkungen kann daher von einer Konstitution ‚der Gesellschaft‘ im Kriege gesprochen werden. Diese Einschränkungen beziehen sich zunächst darauf, dass die politische Romantik nicht einfach ein bellizistischer Diskurs gewesen ist. Eine solche Behauptung verschließt sich der ambivalenten Bedeutung romantischer Friedensideale; nimmt diese vielmehr nur der utopischen Diskursfunktion wahr, in der sie dazu dienen, die Abwertung und völlige Vernichtung des Feindes zu rechtfertigen. Weiterhin ist darauf hinzuweisen, dass die zeitnahe Breitenwirkung des romantischen Mobilisierungsdiskurses vergleichsweise gering gewesen ist. Die „Exaltiertheit der Langemarck-Mentalität“101 setzte sich erst hundert Jahre später durch. Seine Bedeutung gewinnt der Diskurs vielmehr daraus, dass er ein Konstitutionsmodell für das Gesellschaftliche bereitstellt, in dem normative Gesellschaftsvorstellung, mediale und politische Aktivierung, Krieg und Frieden miteinander verknüpft werden. Auf dieses Modell oder Teile desselben kann in anderen historischen Kontexten zurückgegriffen werden.
IX. Die Modernität der Romantik Inwiefern kann davon gesprochen werden, dass das romantische Projekt der Moderne von eigenständigem Charakter sei? – Diese Frage soll abschließend diskutiert werden, da Interpretationen vorherrschen, die die Modernität der Romantik entweder bestreiten oder sie als beschränkte, bloß ‚defensive‘ Reaktion auf Modernisierungsprozesse deuten. Zunächst ist festzuhalten, dass die politische Romantik eine genuine Gesellschaftssemantik entwickelt. Diese wird theoretisch konsistent von anderen Gesellschaftskonzepten (das heißt dem revolutionären und dem liberalen Modell) abgegrenzt. Sie entwirft ein eigenständiges – ein ästhetischpolitisches – Modell der Konstitution moderner Gesellschaftlichkeit. Weil sie die produktive Dynamik des Gesellschaftlichen hervorhebt, ist diese Auffassung modern. Dabei rücken vor allem Medien und Politik ins Zentrum der Perspektive. Ebenfalls ist die Trennung von Staat und Gesellschaft für das romantische Modell konstitutiv. Durch den öffentlichen Diskurs wird der Staat auf die Dynamik der Gesellschaft verpflichtet. Das romantische Gesellschaftskonzept ist normativ vor allem im Hinblick auf eine ihm inhärente Versöhnungs- und Friedensnorm. Hinzu kommt, dass in ihm bereits ‚sozialistische‘ Diskurselemente bemerkbar machen, insofern in Anbetracht einer zunehmenden waren- und geldförmigen Vergesellschaftung von ‚Entfremdung‘ gesprochen wird. 101
Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, S. 526.
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D. Soziale Moral
Das romantische Modell ist daher keine Schrumpfform des Liberalismus oder der Revolution, sondern ein weiteres in sich schlüssiges Modell, moderne Gesellschaftlichkeit zu denken. Im Einzelnen weist der politische Vektor der politischen Romantik aus folgenden Gründen in die Moderne: • Das romantische Denken verzichtet auf ‚große Form‘ und entwirft aus diesem Verzicht heraus eine ganze Reihe von Vorstellungen, wie sich Desintegration der Gesellschaft und soziale Anomie vermeiden lassen. In diesem Kontext steht die Wiederentdeckung des Christentums genauso wie Müllers schematisches Kugelmodell der Gesellschaft. • Das Projekt zielt auf eine republikanische Staatsform und auf die Beteiligung der Massen, das heißt der Bevölkerung am politischen Prozess. Dies wird in Müllers politisch-ästhetischem Konzept der ‚schönen Gesellschaft‘ deutlich. Damit knüpft die Romantik an die Aufklärung an. • Ebenfalls wird die Bedeutung einer räsonierenden Öffentlichkeit und der sie unterstützenden Medien erkannt. Müllers und Kleists Zeitschriftenund Zeitungsprojekte stehen in einem politischen Zusammenhang, insofern sie das Ziel verfolgen, eine solche Öffentlichkeit herzustellen. Dabei wird der engere Wirkungsbereich des intellektuellen Publikums durchaus überschritten. • Der für die moderne Denkweise zentrale Topos der ‚Produktivität‘ ist auch für das Denken der politischen Romantik von bestimmender Bedeutung. Es geht immer darum, die Wechselwirkungen zu forcieren und zu steigern und ein „steigendes Kraftgefühl“102 zu provozieren. • Der zentrale Begriff des romantischen Moderneprojekts ist der der ‚Vermittlung‘. Deshalb werden revolutionäre Umbrüche oder radikale konstruktivistisch-planerische Eingriffe in das soziale System abgelehnt. Dies hat Romantikern, insbesondere Adam Müller, den Ruf des rückwärtsgewandten Konservatismus eingebracht. Dabei wird allerdings unterschlagen, was der romantische Topos der ‚Vermittlung‘ wirklich meint. Die ‚Vermittlung‘ zwischen widerstreitenden Kräften hat für Müller eine im modernen Sinne ‚produktive‘ Qualität: „Zwischen zwei streitenden Dingen vermitteln“, das bedeutet sie zu „nöthigen, daß aus ihrem Streite ein drittes hervorgehe.“103 Es geht um Dynamik und Veränderung, um Zirkulation und Produktion. Der eigendynamische Prozesscharakter moderner Gesellschaftlichkeit wird damit hervorgehoben. In Bezug auf historische Transformationsprozesse nähert sich Müller bereits einer dialektischen Auffassung, wonach Geschichte nicht als Ergebnis voluntaristischer Um102 103
Müller, Theorie des Geldes, S. 72. Müller, Elemente der Staatskunst, S. 390.
IX. Die Modernität der Romantik
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gestaltung zu begreifen ist, sondern bestehende Verhältnisse nach und nach ‚aufgehoben‘ werden.104 Die ‚vermittelnde‘ Haltung impliziert daher die Kritik am radikalen Umbau der Gesellschaft nach Maßgabe eines revolutionären Willens oder einer abstrakten Vernunft. • Wie durch ein Brennglas zeigt die Diskursanalyse der politischen Romantik dabei auch die Dialektik der Moderne. Gerade dort, wo sich die normative Gesellschaftsvorstellung konstituiert, indem das Friedensideal ins gesellschaftliche ‚Wesen‘ hineinverwoben wird, zeigt sich auch die Möglichkeit, dass diese Gesellschaftsvorstellung in eine schrankenlose Gewaltlegitimation umschlägt. Denn eine normative Gesellschaftsvorstellung lädt dazu ein, das ‚Wesen‘ des Sozialen ständig durch fremde Kräfte (seien es innere oder äußere Feinde, andere Weltanschauungen oder ‚strukturelle Gewalt‘) bedroht zu sehen. Ein Vergleich der politischen Romantik mit dem Projekt der Zivilgesellschaft in der Moderne zeigt, dass sie wesentliche zivilgesellschaftliche Elemente enthält. Der romantisch-politische Diskurs verweist auf gesellschaftliche Selbstreferenz, die Trennung von Staat und Gesellschaft und den funktionalen Bezug des Staates auf die Gesellschaft. Er enthält Referenzen auf ein republikanisches Staatswesen (was 1808 als Bezug auf Kants Gedanken der ‚Republik‘ gelesen werden muss), auf die Bedeutung von Öffentlichkeit und Massenmedien, auf die gesellschaftliche Selbstreferenz im Medium der Kultur, auf die regulative Friedensnorm und zeigt Anzeichen einer für moderne Gesellschaftsdiskurse typischen Kritik an marktwirtschaftlich induzierten Entfremdungsempfindungen. Der Vergleich von politischer Romantik und zivilgesellschaftlichem Projekt lässt daher eine Nähe erkennbar werden, die groß genug ist, um den Vorwurf zurückzuweisen, die politische Romantik sei lediglich eine Frühform des modernen Bellizismus.105 Das politische Modell, das den Überlegungen Müllers zugrunde liegt ist nicht einfach konservativ-rückwärtsgewandt.106 Hinter dem romantischen Staats- und Gesellschaftskonzept steckt vielmehr die Vorstellung gegenseitiger Verpflichtung zwischen Entscheidungselite und Bürgern. Auf den ersten Blick mag man das für paternalistisch halten, tatsächlich beschreibt es aber recht treffend das Verhältnis zwischen politischen Führern, ihren Gefolgschaften, den Parteimaschinen und ‚den Massen‘ in der plebiszitären Demo104
Spreen, Tausch, Technik, Krieg, S. 109–112. So etwa Albert Portmann-Tinguely (Romantik und Krieg, S. 369). Einen ähnlichen Zusammenhang stellt Martin Greiffenhagen her (Martin Greifffenhagen, Das Dilemma des Konservatismus in Deutschland, München 21977, S. 265 ff.). 106 Ideengeschichtlich wird Adam Müller zu den Begründern des Konservatismus gerechnet. Vgl. stellvertretend für viele Mannheim, Konservatismus, S. 149 f., 155 und Greiffenhagen, Dilemma des Konservatismus, S. 15. 105
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D. Soziale Moral
kratie.107 Auch Clausewitz’ Moralverhältnis zwischen Feldherr und Heer verdankt Müllers Gesellschaftsphilosophie vermutlich einiges.108 Das hier gewonnene Verständnis der politischen Romantik zeigt, dass ein normativ aufgeladener Gesellschaftsbegriff – und sei es ein ‚ziviler‘ – prinzipiell problematisch ist. Denn der gewaltdiskriminierende Inhalt dieser Vorstellung kollidiert mit ihrer Neigung zur schrankenlosen Militanz gegenüber allem als Bedrohung des normativen Kerns Wahrgenommenen. In Hinblick auf den gegenwärtig immer noch einflussreichen Pathologisierungsdiskurs, der auf eine stark normative Gesellschaftsvorstellung zurückgeht, muss daher gefragt werden, ob aus den Gewalterfahrungen des 20. Jahrhunderts ‚das Richtige‘ gelernt worden ist. Zu erlernen wäre ein Verständnis von Politik und Macht, das sich von ethischer und begrifflicher Sachlichkeit leiten lässt. An neueren sozialwissenschaftlichen Diskussionen lässt sich ablesen, dass spätestens seit dem Ende des Ost-West-Konflikts ein derartiger Lernprozess im Gange ist. In den Sozialwissenschaften, wo die normative Gesellschaftsvorstellung und der Pathologisierungsdiskurs ihre stärkste Bastion haben, zeigt sich auch am deutlichsten, wie sich der Blick auf die Gewalt ändert. In neueren sozial- und politikwissenschaftlichen Beiträgen erscheint Gewalt zunehmend als eine prinzipielle Möglichkeit des Menschen. Dieser Diskurs markiert daher die Orte, in denen Gewalt nicht zu umgehen ist. Er verlangt darüber hinaus, dass politisches Gewalthandeln sich im je einzelnen Fall vor der historisch-kulturellen Erfahrung und vor ethischen Überlegungen, die diese mitbedenken, legitimieren können muss.109
107
Max Weber, Politik als Beruf, Stuttgart 1992, insbes. S. 44 ff. Das verbindende Diskursscharnier dürfte Rühle von Lilienstern gewesen sein, der sowohl mit Müller und Kleist als auch mit Clausewitz gut bekannt war (Gerhard Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk. Das Problem des „Militarismus“ in Deutschland, Bd. 1, Die altpreußische Tradition (1740–1890), München 1954, S. 348 f.) Müller und Clausewitz begegneten sich zumindest im Rahmen der Christlich-deutschen Tischgesellschaft persönlich. 109 Dierk Spreen, Böses auf Erden? Versuch über den Diskurs der Gewalt, in: Plurale. Zeitschrift für Denkversionen, Heft 3, 2003, S. 231–241, hier S. 236–239. Bezogen auf die politische Öffentlichkeit kommt Michael Schwab-Trapp zu dem vergleichbaren Befund einer „Enttabuisierung des Krieges“, die sich mit neuen Legitimitätsdiskursen verbindet (Michael Schwab-Trapp, Legitimatorische Diskurse. Der Diskurs über den Krieg in Jugoslawien und der Wandel der politischen Kultur, in: Trutz von Trotha (Hg.), Soziologie der Gewalt, Opladen 1997, S. 302–326, hier S. 303, 320–324). 108
IX. Die Modernität der Romantik
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Während die politische Romantik zwar einen kriegerischen Konstitutionsdiskurs des Sozialen führt, orientiert sie sich doch wesentlich an der politischen Norm des Friedens. Als problematisch erweist sich dabei allerdings die normative Gesellschaftsvorstellung, da sie die Verteidigung nicht lediglich als rechtlich legitimen politischen Akt, sondern als Dienst an einer ‚höheren‘ gemeinschaftlichen Liebesvereinigung begreift, die sich permanenter Bedrohung ausgesetzt sieht. Der Feind erscheint damit als Feind der Versöhnung überhaupt. Diese Wendung ermöglicht letztlich die Entgrenzung der Gewaltbereitschaft. Ganz anders funktioniert der kriegsgesellschaftliche Diskurs, der nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland großen öffentlichen Einfluss gewinnen konnte. Im Angesicht der hochtechnisierten Gewalt wird das romantische Modell der Herzensaktivierung verworfen. Begeisterung vermag nichts gegen die Materialwirkung. An ihre Stelle treten Technisierung und Professionalisierung der Kriegführung. Dabei rekurriert dieser Diskurs auf eine sachlich-heroische Individualisierung, das heißt er ersetzt die gemeinschaftsethische Emotionalisierungsstrategie der Romantik durch eine funktionalistische Ethik. Es geht darum, dass jeder in einer vom totalen Krieg erfassten Gesellschaft seine Funktion im Systemganzen bestmöglich (und nötigenfalls heroisch bis zum bitteren Ende) erfüllt. Da dabei die ganze Gesellschaft als Kriegsgesellschaft begriffen und der Krieg als wesentlicher Motor gesehen wird, der die gesellschaftliche Funktionssynthesis gegen auseinanderstrebende Tendenzen sichert, verliert der Frieden zunehmend seine regulative normative Funktion. Statt also in der politischen Diskursgeschichte Deutschlands eine Line von den Befreiungskriegen bis zum Zweiten Weltkrieg zu ziehen, empfiehlt es sich, die Differenzen zwischen den Kriegsdiskursen wahrzunehmen. Dabei entschlüsselt sich der kriegsgesellschaftliche Diskurs der Zwischenkriegszeit als eine weitere Variante, Gesellschaft im Krieg zu begründen. Zugleich zeigt sich, dass auch dieser Diskurs den Atem der Moderne verströmt.
E. Totale Mobilmachung: Der kriegsgesellschaftliche Diskurs und das Scheitern der Zivilgesellschaft in der Zeit zwischen den Weltkriegen Obwohl die normative Gesellschaftsvorstellung, die aus der Romantik stammt, schließlich in einen Diskurs umschlägt, der zur totalen Entgrenzung der Gewalt bereit ist, muss doch darauf bestanden werden, dass die politische Romantik zur Zeit der Befreiungskriege im Krieg vor allem einen Anlass zur normativen Konstitution der Gesellschaft sieht. Die moralische Orientierung an einer regulativen Friedensnorm sowie der Verweis auf eine republikanisch-demokratische Staatsverfassung bleiben deutlich erkennbar. Ganz anders verhält es sich mit dem explizit kriegsgesellschaftlichen Diskurs, der sich nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland herausbildet und dem es schließlich gelingt, das kollektive Gedächtnis des Weltkrieges in wesentlichen Teilen zu kontrollieren. Dieser Diskurs liest aus den im industrialisierten Krieg gemachten Erfahrungen eine heroische Individualisierung und eine kriegerische Gesellschaft als Charakteristika einer technischen Moderne heraus. Er löscht alle zivilen Elemente, letztlich sogar die entfesselte, aber dennoch an die ‚menschliche‘ Gefühlswelt gebundene Hasssemantik des romantischen Kriegsdiskurses aus. Ebenfalls im Gegensatz zur Romantik thematisiert er sowohl die Gewaltdimension als auch die technologischen Komponenten des Krieges. Dieser Kriegsdiskurs wird im Folgenden diskursanalytisch aus dem erinnernden Sprechen über den Krieg während der Weimarer Republik herausgearbeitet. Dabei sind es durchaus heterogene Elemente, die sich schließlich zu einem Ganzen zusammenfügen. Weder kann von einer eindeutigen politischen Absicht der beitragenden Autoren ausgegangen noch kann behauptet werden, dass dieser Diskurs eine abgeschlossene Identität aufweise. Seine Ränder fransen vielmehr aus. Auch der Zusammenhang seiner wesentlichen Elemente ist letztlich kontingent. Darüber hinaus gelingt es diesem Diskurs, ästhetische Kriterien des legitimen Sprechens über den Krieg festzulegen, die weit über sein unmittelbares Feld hinaus reichen. Für diesen kriegsgesellschaftlichen Diskurs ist ein apologetisches Gewaltverhältnis konstitutiv. Weiterhin ist er durch folgende zentrale Merkmale zu kennzeichnen: Kritik der politischen Romantik, sachlich-heroische Individualisierung, Modernisierung des Heerwesens durch Professionalisierung der
E. Totale Mobilmachung
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Führung und Technisierung, Mobilisierung der Gesellschaft, militante Sozialsemantik und autoritäre Führerdemokratie. Kultiviert wird eine bestimmte Deutung von Weltkriegserfahrungen, aus denen er seine Vision eines kommenden „Zukunftskrieges“ (Ernst Jünger) und der ihm entsprechenden Gesellschaftsordnung herausliest. Wenn im Folgenden daher vom kriegsgesellschaftlichen Diskurs die Rede ist, dann ist also nicht das gesamte Feld des Redens über und des Erinnerns an den Krieg während der Zwischenkriegszeit gemeint, sondern nur eine – allerdings nicht unwesentliche – Trajektorie dieses Feldes. Dieser Diskurs wird anhand einiger ausgewählter Referenzen rekonstruiert; alles andere würde den Rahmen sprengen. Dieser Kriegsdiskurs spannt sich zwischen den Polen Erinnerung und Utopie auf. Er konstituiert eine gesellschaftliche Deutung und Erinnerung an erfahrene Gewalt. Diese ist von zentraler Bedeutung, weil aus ihr zugleich die Utopie einer modernen Kriegsgesellschaft konstruierend herauspräpariert wird. Damit stellt sich aber das theoretische Problem, wie das kollektive Gedächtnis die Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg repräsentiert. Wenn in Anlehnung an die erkenntnistheoretischen Prämissen dieser Arbeit argumentiert wird, dass diese Interpretation keine reine Konstruktion, aber ebenso wenig eine reine Widerspiegelung von ‚Erfahrung‘ ist, dann heißt das, dass die Gewalterfahrung den Diskurs gleichermaßen öffnet und begrenzt. Allerdings: Dass sinnlich-subjektive Erfahrungen Deutungsschemata stören und daher Anlass zu Verschiebungen in den Bedeutungsstrukturen geben können, ist zwar in Bezug auf einen unmittelbaren Handlungsfluss einleuchtend – nur liegt zum Zeitpunkt der diskursiven Arbeit an der Erfahrung diese eben gar nicht mehr unmittelbar vor, sondern ist entweder nur noch Erinnerung oder ohnehin nur symbolisierte Fremderfahrung. Im Diskurs über die Gewalt im Krieg kommt Gewalt als unmittelbare Erfahrung nicht vor, vielmehr ist entweder selbst oder von anderen erfahrene Gewalt lediglich die Referenz dieses Sprechens. Der unmittelbaren sinnlichen Erfahrung liegen dagegen lediglich Zeichenkörper vor. Wie also kann die Gewalterfahrung einzelner Subjekte im kollektiven Gedächtnis eine Spur hinterlassen, die sich der beliebigen diskursiven Zuweisung von Bedeutungen und Sprechweisen verweigert? Diese Frage orientiert sich nicht an der eigengesetzlichen Schwere von Diskursen, die eine willkürliche Bedeutungszuweisung ebenfalls verhindert – sie geht darüber hinaus, indem sie selbst jene Regelmacht unhintergehbaren Erfahrungseinflüssen unterworfen sieht. Die hier vorgenommene Diskursanalyse orientiert sich an einem Modell, wonach jeder gesellschaftlich relevante Diskurs eine erfahrungsorientierte ‚Referenzstelle‘ offen halten muss, die mit dem Anspruch auf performative Schlüssigkeit verbunden ist. In fiktiven Diskursen ist das etwa die Vorschrift
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der inneren Probabilität, in wissenschaftlichen Diskursen die Bindung an Experiment oder Falsifizierungsmöglichkeit. Diese Referenzstelle wird dem Diskurs quasi ‚aufgenötigt‘, wenn er eine gesellschaftliche Wirkung erzielen will. Weil individuelles sinnhaftes Handeln sich permanent mit der subjektiven sinnlichen Erfahrung abgleichen muss, insofern im praktischen Handlungsfluss jederzeit Störungen oder Negationen des Deutungshorizonts in Erscheinung treten können, wird an gesellschaftliche Wissensbestände der Anspruch gerichtet, dass sie im Handlungskontext ‚nützlich‘ sind, das heißt Erfahrungen repräsentieren und dadurch das Subjekt beim Handeln ‚entlasten‘. Weil also das Subjekt jederzeit einer Erfahrung ausgesetzt ist und daher sein sinnhaftes Handeln der ‚Nötigung‘ durch Erfahrung unterworfen sieht, müssen gesellschaftliche Bedeutungskonstruktionen plausibel machen können, dass sie Erfahrungen durcharbeiten bzw. repräsentieren und daher in irgendeiner Hinsicht für das subjektive Handeln relevant sind oder zumindest sein könnten. Nur dann besteht für einen Diskurs überhaupt die Chance, interpretative Macht im Gesamtzusammenhang gesellschaftlicher Performativität zu erlangen, das heißt relevant im sozialen Wissenszusammenhang zu werden. Durch diesen erfahrungsorientierten Anspruch auf performative Schlüssigkeit werden Diskurse für sinnhaftes Handeln überhaupt erst anschlussfähig (und das ist wiederum die Bedingung der Möglichkeit, durch Diskurse gesellschaftliches und soziales Handeln im Sinne Michel Foucaults ‚zu regulieren‘). Aus diesen theoretischen Überlegungen zum gesellschaftlichen Zusammenhang von Erfahrung, Deutung und Referenz ergibt sich, dass kollektive Erinnerungsdiskurse umso mehr eine empirisch vermittelte Perspektive auf Erfahrungen anbieten müssen, je stärker die ganze Gesellschaft von diesen Erfahrungen berührt wird. Im 20. Jahrhundert stehen in Bezug auf die Erinnerung an Kriege dabei Gewalterfahrungen im Vordergrund. Es bleibt dabei aber durchaus offen, in welchen Auslegungszusammenhang die Gewaltphänomene des Krieges gestellt werden. Daher ist davon auszugehen, dass empirische Phänomene der Deutungsabsicht eines Diskurses immer auch ‚angemessen‘ werden – insofern schreiben Diskurse sich in die Phänomene ein. Aber weil dabei der Welt der Erscheinungen notwendig Gewalt angetan wird, gibt es immer die Möglichkeit, dass Deutungsangeboten mit Bezug auf Erfahrungen widersprochen werden kann. Es eröffnet sich damit die Möglichkeit zur Kritik, wobei eine ‚bessere‘ Erfahrungsrepräsentation in Anspruch genommen wird. Da sich die Erfahrung der Deutung letztlich nicht fügt, bleibt der Diskurs immer offen, so dass sich Deutungsverschiebungen immer wieder ins Spiel bringen können, mag die ‚Erzählung‘ des Diskurses noch so ‚groß‘ sein. Klar ist allerdings, dass die Darstellung von Gewalt und Krieg keine willkürliche ‚soziale Konstruktion‘ darstellen kann.
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In der Erinnerungskultur der Weimarer Republik erscheint der Anspruch auf performative Schlüssigkeit in verschiedenen Formen. Es geht aber immer um den Anspruch, ‚Wahrheit‘ auszudrücken.1 Um dies zu verdeutlichen, sollen hier einige dieser Strategien idealtypisch markiert werden: Insbesondere findet sich das Insistieren auf der Adäquatheit der Beschreibung des persönlichen ‚Kriegserlebnisses‘. Dieses Referenzkriterium taucht vor allem in den hauptsächlich nach Kriegsende bis etwa 1923 publizierten überarbeiteten Tagebüchern der Frontoffiziere, wie etwa in Ernst Jüngers In Stahlgewittern (1920), auf. Der Autor musste glaubhaft machen können, „dass er dieses Erlebnis gehabt und ‚authentisch‘ geschildert hat.“2 Faktisch überprüfbar sind die geschilderten Erlebnisse jedoch nur in den seltensten Fällen. Daher werden ästhetische Kriterien zum Signum der Authentizität. Es galt, das Kriegserlebnis in möglichst ‚kunstlosen‘ Formen einzufangen. „Einfache Beschreibung galt als das Zeichen des Echten.“3 Die meist rasch nach dem Krieg veröffentlichten Memoiren der Generalstabsoffiziere dagegen schildern öffentlich bekannte und daher überprüfbare Ereignisse und Entscheidungen und „insistieren auf die Richtigkeit der von ihnen während des Krieges getroffenen strategischen Entscheidungen und machen für Fehler die jeweilige Regierung, die Politiker des Reichstags oder militärisch nachgeordnete Stellen sowie die Verbündeten verantwortlich.“4 Die in der zweiten Welle ab 1925 erscheinenden Kriegsromane dagegen verzichten zunehmend auf einen autobiographischen Anspruch und ersetzen ihn durch den Versuch, die Intensität der Kriegserlebnisse einzufangen. Sie orientieren sich dabei an der Forderung nach „einer ‚Wahrheit‘ der Fiktion“5. Insbesondere in Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues (1929) tritt dieser Anspruch paradigmatisch zu Tage. Es geht darum, die Wirkungen und Nachwirkungen das Kriegserlebnisses für eine ganze Generation, „die vom Krieg zerstört wurde – auch wenn sie seinen Granaten entkam“6, zu beschreiben und auszudeuten. Effekt dieses Anspruchs einer 1 Bernd Ulrich/Benjamin Ziemann, Krieg im Frieden. Die umkämpfte Erinnerung an den Ersten Weltkrieg. Quellen und Dokumente, Frankfurt am Main 1997, S. 14 f. 2 Hans-Harald Müller, Der Krieg und die Schriftsteller. Der Kriegsroman der Weimarer Republik, Stuttgart 1986, S. 28. 3 Bernd Hüppauf, Kriegsliteratur, in: Gerhard Hirschfeld u. a. (Hg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn 22004, S. 177–191, hier S. 179. 4 Müller, Der Krieg und die Schriftsteller, S. 22. 5 Jörg Vollmer, Imaginäre Schlachtfelder. Kriegsliteratur in der Weimarer Republik. Eine literatursoziologische Untersuchung, Inauguraldissertation zur Erlangung des Grades eines Doktors der Philosophie dem Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin, Berlin 2003, S. 37. 6 Erich Maria Remarque, Im Westen nichts Neues, Berlin 1929, S. 5.
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Wahrheit in der Fiktion ist eine sich zunehmend steigernde Horrorästhetik, die die Intensität des Krieges repräsentieren soll.7 Texte der Kriegstheoretiker beanspruchen dagegen eine begriffliche Repräsentation des Kriegsgeschehens. Etwa sollen „bei verschiedenen Gelegenheiten in Vorträgen und kleineren Aufsätzen geäußerte Gedanken über den Weltkrieg“ ein Bild der „inneren Zusammenhänge“ des Krieges ergeben und aus der Erkenntnis dieser Zusammenhänge sollen „Folgerungen für die Zukunft“ gezogen werden.8 Auch in solchen Texten kann sich der Hinweis auf die persönliche Fronterfahrung finden. Die Konjunkturen der öffentlichen Rede über den Krieg verhalten sich interessanterweise umgekehrt proportional zum Erfolg der Weimarer Zivilgesellschaft. Ab 1924 bis Ende der zwanziger Jahre zeichnet sich im Deutschen Reich die Tendenz zur erfolgreichen Umsetzung einer zivilen Massengesellschaft ab, die auf Massenkonsum und -kultur als wesentlichen – weitgehend selbstregulierten – gesellschaftlichen Integrationsfaktoren aufbaut.9 In den ‚Goldenen Zwanzigern‘ entfaltet sich eine Prosperität, die die Idee einer Zivilgesellschaft realistisch erscheinen lässt. Bürgerkriegsstimmungen treten in den Hintergrund, die politischen Verhältnisse stabilisieren sich und zivile Kompromissbereitschaft ersetzt eine Mentalität, „die nur in Kategorien der Vernichtung des Gegners und der Erringung totaler Siege“10 denken kann. Das Scheitern der Zivilgesellschaft gegen Ende der zwanziger Jahre verweist auf eine Vielzahl von Gründen. Unter anderem sind gravierende wirtschaftliche Strukturprobleme, die eine ausreichende Senkung der Preise verhindern, dafür verantwortlich, dass das fordistische Konzept der Massenkultur und des günstigen Wohlstands letztlich nicht umgesetzt wird. Nicht unwesentlich für das Scheitern der Zivilgesellschaft ist jedoch die Einstellungs- und Mentalitätsstruktur in der Zwischenkriegszeit. Konservativ-kulturkritische Bedenken gegen die ‚Massengesellschaft‘ finden selbst während des booms der Zivilgesellschaft breite Zustimmung.11 Zu der Popularität dieser Vorbehalte trägt die Massenkultur in den zwanziger Jahren auch selbst bei, weil sie polarisiert.12 Dagegen hätte sie versuchen müssen, Ge7
Vollmer, Imaginäre Schlachtfelder, S. 156–171. George Soldan, Der Mensch und die Schlacht der Zukunft, Oldenburg 1925, S. 7. 9 Kaspar Maase, Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850–1970, Frankfurt am Main 32001, S. 115–154. 10 Volker Berghahn, Europa im Zeitalter der Weltkriege. Die Entfesselung und Entgrenzung der Gewalt, Frankfurt am Main 2002, S. 90. 11 Ebd., S. 92–94. 12 Maase, Grenzenloses Vergnügen, S. 152–154. 8
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schmacksunterschiede und Vorbehalte gegen bestimmte kulturelle Praxen wiederum in massenkulturelle Distinktion umzusetzen und diese dadurch zu integrieren, so dass es letztlich „kein Außen“ der Massenkultur mehr gegeben hätte.13 Stattdessen schlägt das weit verbreitete Unbehagen an Massenkultur in die Ablehnung der Zivilgesellschaft um. Fasst man dieses Unbehagen an der massenkulturellen Praxis des Vergnügens und die daran anschließende reaktionäre Demagogie als Ausdruck einer kulturellen „Überforderung“ (Kaspar Maase), dann heißt das, dass die Voraussetzungen für diese ablehnende Reaktion auch in einer bereits bestehenden und verbreiteten Mentalität gesucht werden müssen, die der Zivilgesellschaft prinzipiell skeptisch gegenüber stand und die durch ökonomische und kulturelle Krisen lediglich aktualisiert wurde. Es kann davon ausgegangen werden, dass sich diese Mentalität mit dem kriegsgesellschaftlichen Diskurs der Zwischenkriegszeit verbindet. Dieser Diskurs entfaltet eine andere Vision der Moderne: Sein „sozialer Militarismus“ (Volker Berghahn) beruht auf dem Zukunftsbild einer soldatischen Gemeinschaft. Andererseits zeigen die ineinander verkehrten kulturellen Konjunkturen von zivilgesellschaftlichem Projekt und Kriegsdiskurs, dass der Weg in die Gewaltgesellschaft der 30er Jahre nicht alternativlos gewesen ist, dass also die Durchsetzung der Zivilgesellschaft eine reale Chance darstellte.14 Zum besseren Verständnis der folgenden Diskursanalyse ist vorauszuschicken, dass das apologetische Verhältnis zur Gewalt, das heißt die Formulierung des Krieges als Norm des Politischen, die Grundvoraussetzung des kriegsgesellschaftlichen Diskurses bildet. Ohne diese Voraussetzung bricht die ganze Diskursordnung in sich zusammen. Eine solche normative Fixierung entsteht, wenn aus der Seinsanalyse, das heißt aus der Analyse empirischer Erfahrung, Sollensurteile herausgelesen werden. Derartige Betrachtungsweise kassiert die Differenz zwischen Erfahrung und Sinngebung – allerdings ohne sie aufheben zu können. Daher konstituiert sie einen normativen Raum, der durch die Macht des Faktischen strukturiert wird. Richtig ist, was der Macht dient. In diesem Normraum sind – paradox – normative Infragestellungen und Diskussionen ausgeschlossen. Im Folgenden entschlüsselt sich die in dieser Normativität des Faktischen und in der Gewaltapologie wurzelnde kriegerische Moderne als ein mögliches, in sich konsistentes und eigenständiges gesellschaftliches Modell. Ausgehend von der politischen Spannung zwischen Machtfaktizität und Norm, lässt sich daraus allerdings in keiner Weise der Schluss ableiten, 13 14
Hannelore Bublitz, In der Zerstreuung organisiert, Bielefeld 2005, S. 151–159. Berghahn, Europa im Zeitalter der Weltkriege, S. 15.
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dass diese Möglichkeit auch verwirklicht werden solle. Vielmehr gilt umgekehrt: Gerade in einer Perspektive, die die Möglichkeiten des Könnens herausarbeitet, wird in aller Deutlichkeit die Frage aufgeworfen, wie denn die moderne Gesellschaft in Ansehung ihrer inhärenten Gewaltmöglichkeiten verfasst sein soll. Bevor der kriegsgesellschaftliche Diskurs anhand seiner zentralen Merkmale rekonstituiert wird, sollen auch an dieser Stelle zunächst grundlegende Verschiebungen im militärischen Gewaltdispositiv der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorgestellt werden.
I. Militärische Neuerungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Die Weltkriege bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts basieren auf umwälzenden Veränderungen in den militärischen Angelegenheiten. Ihre dramatischen Auswirkungen werden durch viele Zeitgenossen (auch Experten) zu einem erheblichen Teil erst verzögert erkannt. Die Aspekte dieser Umwälzung betreffen alle modernen Gesellschaften, sollen hier aber in Bezug auf den deutschen Kontext idealtypisch skizziert werden. Ohne Rekurs auf diese Veränderungen wird auch der kriegsgesellschaftliche Diskurs nicht verständlich. Tendenzen, die sich bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts abzuzeichnen beginnen, treten im 20. Jahrhundert verstärkt hervor. Dies wird im Folgenden jeweils vermerkt. Der Krieg im 20. Jahrhundert ist durch sieben miteinander verzahnte Momente gekennzeichnet und zwar: Mobilmachung nicht nur der Armee, sondern der Gesellschaft in Wirtschaft, Kultur und Innenpolitik, Aufhebung der Unterscheidung von Kombattanten und Nichtkombattanten, Demokratisierung des Heerwesens, Raumrevolution, technisch ins Absolute gesteigerte Zerstörungskraft, Steigerung der operativen Komplexität und strategische Symmetrie. Der Kern der Veränderungen in den militärischen Angelegenheiten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts besteht dabei darin, dass der Krieg sich als totaler Krieg erweist. Aus der Perspektive der großen modernen Gesellschaften stellt sich der Krieg im 20. Jahrhundert wesentlich als ein solcher totaler Krieg dar. Diese Totalität meint die umfassende Einbindung der Gesellschaft in den Krieg und in strategisches Handeln. Dabei erscheint die Gesellschaft als ‚Heimatfront‘, das heißt, auch die gesamte Lebenswelt jenseits der Front wird schließlich vom Krieg erfasst. So wird bereits im Ersten Weltkrieg die Wirtschaft an den Bedürfnissen des Krieges ausgerichtet und ‚mobilgemacht‘: Zivile Berufe werden dadurch zum Teil der Kriegsmaschinerie. Auch traditionelle kulturelle Rollenmuster werden bei Bedarf nach Kriegserfordernissen modifiziert und erfahren zumindest eine vorübergehende Aufweichung.
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Dies zeigt sich etwa in Bezug auf Geschlechterrollen, weil Frauen im großen Stil in der Produktion eingesetzt und als Teil der ‚kämpfenden Heimat‘ für den Krieg mobilisiert werden. Diese Einbeziehung der Frauen in den Krieg bedeutet allerdings nicht unbedingt einen Emanzipationsschub. Nach dem Ersten Weltkrieg etwa werden die Frauen in Deutschland von allen technisch höher qualifizierten Arbeitsplätzen wieder verdrängt. Kein Facharbeiter sollte, „da stimmten Gewerkschaften und Unternehmer völlig überein, durch Frauen verdrängt werden.“15 Die Einbindung der Gesellschaft in den totalen Krieg bedingt auch die politische Integration der Gesellschaft. Der innere Pluralismus wird auf Zeit suspendiert, das heißt die politischen Lager stehen gemeinsam gegen den Feind und bilden eine ‚Gemeinschaft‘. So proklamierte die Leitung des Deutschen Reiches zu Beginn des Ersten Weltkrieges den so genannten ‚Burgfrieden‘. Derartige politische Integration führt in eine allgemeine Verteidigungshaltung, der systematisch paranoide Züge zugehören, das heißt sie impliziert ein verstärktes Vorgehen gegen vermeintliche oder tatsächliche ‚innere Feinde‘. Bei der kulturellen Zurichtung der Gesellschaft für die Kriegführung spielen Medien und Öffentlichkeit eine zentrale Rolle. Staatliche und militärische Informations- und Kommunikationspolitik (Zensur, Propaganda und Public Relations) versuchen beide Faktoren zu beeinflussen. Die Medien erweisen sich allerdings durchaus als autonomer Akteur, der zwar einerseits durch Zensur und Überwachung in die staatliche Kriegführung eingebunden wird, andererseits die Mobilisierung auch selbständig vorantreibt, indem etwa bereitwillig ‚patriotisch‘ berichtet wird.16 Ein herausragendes Beispiel für eine intelligente Informationspolitik im Ersten Weltkrieg auf deutscher Seite ist der so genannte ‚Langemarck-Mythos‘, der auf eine kurze, aber strategische platzierte Pressemeldung zurückgeht und eine auf Jahrzehnte öffentlichkeitswirksame Legende kreierte.17 Die völlige Einbindung von Wirtschaft und Kultur in den Krieg und die Außerkraftsetzung des gesellschaftspolitischen Pluralismus lassen sich unter dem Begriff der „totalen Mobilmachung“ (Ernst Jünger) zusammenfassen. 15
Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4, S. 102. Thomas Dominikowski, „Massen“medien und „Massen“krieg. Historische Annäherungen an eine unfriedliche Symbiose, in: Martin Löffelholz (Hg.), Krieg als Medienereignis. Grundlagen und Perspektiven der Krisenkommunikation, Opladen 1993, S. 33–48, insbes. S. 40. 17 Bernd Hüppauf, Schlachtenmythen und die Konstruktion der „Neuen Menschen“, in: Gerhard Hirschfeld u. a. (Hg.), „Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch . . .“ Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs. Frankfurt am Main 1996, S. 53–103, hier S. 55–73. 16
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Damit ist gemeint, dass alle gesellschaftlichen Kräfte von dem ganz auf die Kriegführung ausgerichteten Politischen erfasst werden.18 Schließlich verwischt sich im Krieg des 20. Jahrhunderts zunehmend die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten. Mittelbare und unmittelbare Gewaltwirkung weitet sich auf die Zivilbevölkerungen der Kriegsparteien aus. Als mittelbare Gewalt manifestiert sich die Einbeziehung der Zivilbevölkerung in den Krieg bei Seeblockaden und als unmittelbare bei der Anwendung neuartiger Raumwaffen, die es ermöglichen, feindliches Territorium tief hinter der Front anzugreifen (z. B. Bombenangriffe auf Städte). Diese zunehmende Entdifferenzierung korrespondiert mit der sich verbreitenden Paranoia gegenüber ‚inneren Feinden‘, so dass manifeste Gewalt gegen willkürlich als Feind definierte Individuen oder Kollektive gerichtet wird. Das Konzept totaler Kriegführung kalkuliert darüber hinaus die Auslieferung eigener Bevölkerungsanteile an feindliche Gewalteinwirkung, insofern „das Streben, das eigene Land zu schützen“, zu keinem militärischen Nachteil, wie etwa „einer Zersplitterung der Kraft“, führen darf.19 Damit deutet sich an, dass tendenziell sogar die Unterscheidung zwischen Freund und Feind aufgehoben wird, denn es wird vorstellbar, Gewalt auf die eigene Zivilbevölkerung zu richten, sofern dies einen Nutzen verspricht – eine Konsequenz totaler Kriegführung, die bis heute weitgehend unbemerkt geblieben ist. Nicht dem Militär angehörende Zivilisten müssen aber nicht nur Opfer militärischer Gewalt sein, im totalen Krieg können sie auch als gewaltausübende Akteure, das heißt als Partisanen, in Erscheinung treten. Damit setzt sich eine Tendenz fort, die bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Aspekt des ‚Volkskrieges‘ erkennbar geworden ist. Die Nichtunterscheidung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten impliziert weiterhin das Übergreifen der Gewalt auf Mitglieder neutraler Nationen bzw. solcher Nationen im Ganzen. Dies zeigt sich in großräumlichen und geopolitischen Strategiekonzepten, wie etwa dem Schlieffenplan, der keine Rücksicht auf die Neutralität Belgiens genommen hat, oder in der Idee des ‚uneingeschränkten U-Boot-Krieges‘, wobei sich der Einsatz der U-Boote nicht nur gegen zivile Handelsschiffe, sondern auch gegen neutrale Handelsschiffe richtet. Im Hinblick auf die Verfassung der modernen Armeen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist hervorzuheben, dass sich die bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts erkennbare Demokratisierungstendenz und damit die Verbindung von Militär und Gesellschaft fortsetzt. Der Aufstieg in 18 19
Schmitt, Der Hüter der Verfassung, S. 79. Ludendorff, Der totale Krieg, S. 92.
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Offizierskarrieren wird zunehmend weniger an Herkunft und Geburt geknüpft. Bürgersöhne erhalten Zugang zum Offizierskorps. Im Zweiten Weltkrieg führt die Wehrmacht sogar den ‚Volksoffizier‘ ein – nun konnte ein bewährter Soldat Offiziersrang erlangen. Nicht Herkunft und Stand, sondern Leistung und Wissen werden zum Rangkriterium, das heißt Offizierskarrieren erscheinen zunehmend im Lichte einer beruflichen Professionalisierung. Im gesellschaftlichen Subsystem ‚Militär‘ wird der Unterschied zwischen Mannschaften, Unteroffizieren und Offizieren somit zunehmend zur Binnendifferenzierung eines durch Chancengleichheit strukturierten Karrierefeldes. Dieses Subsystem unterliegt natürlich Einflüssen der Gesamtgesellschaft, in der Bildungsdifferenzen trotz formaler Chancengleichheit faktisch soziale Schichtenunterschiede repräsentieren, so dass sich auch im Militär die gesellschaftlichen Schichtenunterschiede wiederfinden.20 Dennoch bedeutet dies, dass ständische, zum Teil sogar rassisch begründete (‚blaues Blut‘) Wesensunterschiede zwischen den verschiedenen Militärrängen wegfallen. Einschränkend ist allerdings zu bemerken, dass diese Tendenz sich bei den deutschen Truppen im Ersten Weltkrieg – ganz im Unterschied zum Zweiten – nicht bemerkbar macht. „Die soziale Organisation der Gewaltanwendung in der Armee führte 1914/18 nicht zur Auflösung von Konflikten oder verknüpfte sich gar mit vermehrten Chancen zur Partizipation, zur Teilhabe an Entscheidungen in Staat und Gesellschaft. Stattdessen ragten – durch den Krieg noch verstärkte – soziale und politische Konfliktlagen der zivilen Gesellschaft in die Armee hinein.“21 In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts setzt eine umfassende Raumrevolution ein, die erst verzögert erkannt und begriffen wird. Der Begriff der Raumrevolution bezeichnet eine grundlegende Veränderung in Struktur des Raumbegriffs, welcher der konkreten menschlich-gesellschaftlichen Existenzweise zugrunde liegt.22 Daher haben Raumrevolutionen auch einen fundamentalen Einfluss auf politisches und strategisches Handeln und die Kriegführung. Die um die Jahrhundertwende einsetzende Raumrevolution ist in erster Linie technisch-wissenschaftlich induziert, allerdings nicht determiniert. Neue Technologien ermöglichen es, neue Raumdimensionen zu erschließen und neue Mobilitätsdimensionen zu eröffnen.23 Luftfahrt, U-Boot, Welt20
Bahrdt, Die Gesellschaft und ihre Soldaten, S. 63–69. Benjamin Ziemann, Die Eskalation des Tötens in zwei Weltkriegen, in: Richard von Dülmen (Hg.), Erfindung des Menschen. Schöpfungsträume und Körperbilder 1500–2000, S. 411–429, hier S. 414. 22 Carl Schmitt, Land und Meer, Stuttgart 31994, S. 55–57. 23 Schmitt, Raumrevolution, S. 3. 21
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raumfahrt, Radio und Funk offerieren neue Raumdimensionen politischen, wirtschaftlichen und strategischen Handelns: Luftraum, unterseeischer Tiefenraum, Weltraum und Funkraum. Gemeinsames Kennzeichen ist, dass die Bindung zwischen Territorium/Grenze einerseits und dem Wirkraum gesellschaftlich-politischen Handelns andererseits gelöst wird. Diese Entortung des Handelns wird durch entsprechende kulturelle und soziale Formen unterstützt. Diese beruhen auf kommunikativer Verflechtung statt auf starren Hierarchien, auf flexibler Planung und auf schnellerer, situativ angepasster Datenverarbeitung. An folgenden Waffentechnologien lässt sich die Raumrevolution gut ablesen: • Mit der küstenunabhängigen Seefahrt ist schon seit längerem ein Perspektivenwechsel verbunden, der nicht in Kategorien wie ‚Boden‘ und ‚Heimat‘, sondern in ‚Stützpunkten‘ und ‚Verbindungslinien‘ denkt und Territorien als ‚Hinterland‘ ansieht.24 Die Unterseefahrt geht noch einen Schritt weiter, denn das Meer als Fläche wird in einen Raum verwandelt, wobei das U-Boot (fast) unsichtbar bleibt. In Bezug auf den Krieg heißt das, dass sich „das klare Gegenüber der beiderseitigen Feinde aufhebt.“25 Damit verschwinden die Reste dessen, was in Bezug auf das Meer noch ‚Front‘ heißen könnte – der Bereich zwischen den Flotten beim Passiergefecht von Linienschiffen. Auch die Dreimeilenzone als Äquivalent der Grenze verliert ihre Bedeutung in Bezug auf Unterseefahrzeuge. • Besonders offensichtlich wird die Raumrevolution am Beispiel der Luftfahrt. Gegenüber territorialen Grenzen, insbesondere auch gegenüber einer bewaffnet verteidigten Front, verhalten sich Flugzeuge völlig indifferent. Insofern wird die Fläche des Staates gewissermaßen aufgelöst und das „Meer ins Land hinein getragen“.26 Im Luftraum gibt es keine Front, sondern nur noch Reichweiten und Aktionsradien. Dies korrespondiert mit der Aufhebung der Unterscheidung von Kombattanten und Nichtkombattanten. Der Luftkriegstheoretiker Giulio Douhet bemerkt dazu 1921 treffend: „Die Luftwaffe ist von der Erde unabhängig, der Krieg kann seine Wirkung nunmehr fast unbeschränkt über das gesamte feindliche Gebiet hinaustragen. Es gibt keine begrenzte Kampfzone mehr [. . .]. Nirgends in den miteinander in Kampf befindlichen Gebieten gibt es Räume, wo das nationale und wirtschaftliche Leben in Sicherheit seinen Gang gehen kann. Alle Volksgenossen der kämpfenden Nation sind Kämpfer, da sie ausnahmslos den unmittelbaren Angriffen des Feindes ausgesetzt sind.“27 24
Schmitt, Land und Meer, S. 94. Schmitt, Nomos der Erde, S. 290. 26 Armin Adam, Raumrevolution. Ein Beitrag zur Theorie des totalen Krieges, in: Martin Stingelin/Wolfgang Scherer (Hg.), HardWar/SoftWar. Krieg und Medien 1914 bis 1945, München 1991, S. 145–158, hier S. 149. 25
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Die Luftwaffe demokratisiert den Krieg – allerdings in Bezug auf die Opferseite. Sie führt zu einer „Demokratie des Todes“.28 • Die Verbindung von Luftwaffe und Infanterie ergibt eine neue Waffe: Fallschirmjäger, die von Flugzeugen abspringen und Luftlandetruppen, die mit Lastenseglern oder Hubschraubern abgesetzt werden. Luftlandetruppen durchbrechen keine Front, sondern operieren im Rücken des Gegners um strategische Positionen (etwa Brücken) zu erobern, gegnerische Kommandofunktionen und Kommunikationsstrukturen zu stören und Verwirrung zu stiften. • Optischer und elektrischer Telegraf, schließlich das Telefon konstituieren einen homogenen Raum und eine homogene Zeit, die koordiniertes strategisches Handeln auf verschiedenen Kriegstheatern erlaubt. Der elektrische Telegraf ermöglicht dabei erstmalig ein Verschalten der Welt zu einem ‚globalen Dorf‘, weil er die Distanz zwischen den Kontinenten überbrücken kann (Unterseekabel). Funk und Radio erweitern einerseits die Möglichkeiten dieser globalen Informationsvernetzung und damit auch der strategischen Steuerung. Andererseits bringen sie eine neue raumrevolutionäre Potenz zur Geltung. Denn da sie nicht mehr auf Kabel angewiesen sind, lassen sie sich nicht länger unterbrechen (nur stören). Sie sind durch eine nicht aufhebbare „grenzüberschreitende Potenz“29 gekennzeichnet. Auch bezüglich Funk- und Radiokommunikation verlieren politische Grenzen und militärische Fronten ihre Bedeutung. Weder Entfernung noch Grenzen sind länger Hindernisse für die Kommunikation. • Das Radio konstituiert die Nation als eine von territorialen Grenzen unabhängige kulturell-sprachlich bestimmte Kommunikationsgemeinschaft. Umgekehrt kann daher versucht werden, mittels Radio die Meinungen in der Bevölkerung anderer Staaten zu beeinflussen. Ähnlich wie beim Luftkrieg werden auch hier die Bevölkerungen als solche in die Kriegführung einbezogen – in diesem Falle als Objekte/Opfer eines psychologischen ‚Bombardements‘. Weiterhin steigen bereits durch die Funktelegrafie die Möglichkeiten, Bewegungen in unterschiedlichen Medien (Boden, Wasser, Luft) zu leiten und aufeinander abzustimmen. Insbesondere Sprechfunk (UKW) ermöglicht die direkte reziproke Kommunikation zwischen räumlich getrennten, ortsungebundenen und sich schnell (und unter Umständen in unterschiedlichen Medien) bewegenden Gesprächspartnern. Das erlaubt wesentlich flexiblere Reaktions- und Abstimmungsmöglich27
Giulio Douhet, Luftherrschaft, Berlin 1935, S. 15 f. Ernst Jünger, Die Totale Mobilmachung, in: Ernst Jünger, Blätter und Steine, Hamburg 1934, S. 122–153, hier S. 131. 29 Stefan Kaufmann, Kommunikationstechnik und Kriegführung 1815–1945. Stufen telemedialer Rüstung, München 1996, S. 284. 28
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keiten und ein anderes – demokratischeres – Führungsverständnis. Darüber hinaus eröffnet der Funk auch neue Möglichkeiten der Informationsgewinnung und Aufklärung etwa durch die Steuerung von Agenten, das Abhören fremder Sendungen oder Radar. • Am Boden findet die Revolution des Raumverständnisses ihren manifesten Ausdruck im Panzer (Tank). Panzer sind schnelle, geländegängige und zerstörungsmächtige, zugleich gegen leichte Waffen und gegen die Streuwirkung von Artilleriemunition geschützte, motorisierte Fahrzeuge mit einem bis zu mehrere hundert Kilometer großen Operationsraum. Sie werden erstmals am Ende des Ersten Weltkrieges eingesetzt – allerdings ohne noch eine bedeutende Rolle zu spielen. Gegenüber unwegsamen Gelände und der ‚Tiefe des Raums‘ verhalten sie sich bis zu einem gewissen Grad indifferent. Mit dem Panzer ändert sich das Paradigma der Kriegführung am Boden. Nicht mehr der Kampf entlang von Fronten/Linien ist kennzeichnend, sondern der Krieg verwandelt sich in einen „Flächenkrieg“ (John F. C. Fuller), der sich an dem „Gedanken des tiefen strategischen Eindringens“ orientiert.30 Gerade das Zusammenwirken von Panzern mit Sprechfunk (und Kampfbombern) gestattet das schnelle und überraschende Vorstoßen in das ‚Hinterland‘. Dies zielt auf die Zerstörung der feindlichen Kommunikation und Führung, des gegnerischen Nachschubs und auf moralische Zermürbung.31 • Für das Flugzeug gilt, dass die Begrenzung der Reichweite aufgrund der nur endlichen Menge an Treibstoff, die während des Bewegungsvorgangs mitgeführt werden kann, eine letzte Bindung an den Boden und damit an beherrschtes, umgrenztes Territorium darstellt. Das gleiche gilt in noch stärkerem Ausmaß für Panzer oder motorisierte Truppen. Diese Raumwaffen bleiben auf Basen angewiesen. Diese letzte Schranke fällt schließlich in der Weltraumfahrt. In ihr manifestiert sich die „totale Entortung der modernen Technik“32 und damit die Loslösung des Menschen vom Nomos der Erde. Über das Territorium stülpt sich der Orbit, der die Strukturierung der Topologie durch Grenzen oder Flächen vollständig aufhebt. Im Unterschied zum Flugzeug haben nicht einmal mehr Reichweiten eine Bedeutung, weil das Fahrzeug sich im freien Fall ohne zeitliche Einschränkung bewegen kann. Von der Umlaufbahn aus kann aber wie beim Flugzeug ungestört in jedes beliebige Territorium hineingesehen oder zerstörerisch auf es eingewirkt werden. Hinzu kommt, dass 30 Liddell Hart, Geschichte des Zweiten Weltkrieges, Bd. 1, Bergisch Gladbach 1984, S. 102. 31 Stefan Kaufmann, Raumrevolution – Die militärischen Raumauffassungen zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg, in: Rainer Rother (Hg.), Der Weltkrieg 1914–1918. Ereignis und Erinnerung, Berlin 2004, S. 42–49, hier S. 44 f. 32 Schmitt, Nomos der Erde, S. 149.
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letzte Schranken der Funkkommunikation aufgehoben werden. In der Weltraumfahrt findet die Umwälzung der Raumbedeutung ihre höchstmögliche Steigerung. Schon in den zwanziger Jahren werden diese radikalen Möglichkeiten klar ausgesprochen. In diesem Jahrzehnt kommt es – insbesondere in Deutschland und in den USA – zu praktischen Versuchen und zu begleitenden Publikationen, die sowohl ingenieurwissenschaftliche Schriften als auch wissenschaftlich inspirierte utopische Romane umfassen.33 Diskutiert wird die Errichtung riesenhafter Spiegel im All und deren strategischer Wert: „Man kann damit Munitionsfabriken sprengen, Wirbelstürme und Gewitter erzeugen, marschierende Truppen und ihre Nachschübe vernichten, ganz Städte verbrennen und überhaupt den größten Schaden anrichten.“34 Weiterhin könne es niemandem gelingen vor den „Argusaugen“ einer Weltraumstation „seine Absichten zu verbergen“.35 Mittels gespiegelter Lichtsignale wäre darüber hinaus eine „telegrafische Verbindung mit Orten, zu denen weder Kabel noch elektrische Wellen gelangen“36 möglich. Im Ersten Weltkrieg zeichnet sich die Raumrevolution erst ab. Zum Teil liegen die neuen Technologien, die diese Revolution induzieren, nur als Idee vor, oder sie müssen erst entwickelt bzw. weiterentwickelt werden. Aber schon im Weltkrieg verwandelt sich die Front in eine mehrere Kilometer tiefe Kampfzone, entfalten Kreuzer, Hilfskreuzer und U-Boote sowie Zeppeline oder Bomberflugzeuge ihre auf die Totalisierung des Krieges gerichtete Wirkung. Nicht zuletzt zieht die im ‚uneingeschränkten U-Bootkrieg‘ eingeschlossene Missachtung der Neutralität „endgültig mit unwiderstehlicher Kraft die Vereinigten Staaten auf die Seite der Alliierten“.37 Raumwirkung entfalten außerdem Maschinengewehre, Präzisionsfeuerwaffen, moderne Artillerie, Gas, Minen, Flammenwerfer, Bomben, Raketen oder ‚Todesstrahlen‘, die bereits vor dem Ersten Weltkrieg in Science Fiction-Romanen imaginiert werden. Im Großen und Ganzen entfalten die neuen „Raumwaffen“ (Giulio Douhet) und die räumliche Terrorwirkung gesteigerter Zerstörungspotenz im Ersten Weltkrieg vor allem eine angriffsund bewegungshemmende Wirkung. Die mobilisierten Kräfte des totalen Krieges verstärken zunächst die Defensive und führen geradewegs in die Menschenmassen verzehrende ‚Materialschlacht‘. 33
Spreen, Menschliche Cyborgs und reflexive Moderne, S. 321–332. Hermann Oberth, Die Rakete zu den Planetenräumen, München 1923, S. 89. 35 Hermann Noordung, Das Problem der Befahrung des Weltraums. Der RaketenMotor, Berlin 1929, S. 158. 36 Oberth, Die Rakete zu den Planetenräumen, S. 86. 37 Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4, S. 146. 34
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E. Totale Mobilmachung
Das bis in heutige Debatten immer wieder hervorgehobene Kriterium des Krieges im 20. Jahrhundert – die technisch ins nahezu Totale gesteigerte Zerstörungpotenz moderner Waffen – manifestiert sich vor allem in der Maschinisierung der Vernichtungskraft. „Totale Gewalt“ (Heinrich Popitz) soll in diesem Zusammenhang darauf verweisen, dass die technische Gewaltpotenz Wirkungskraft und Wirkungskreis des menschlichen Leibes bei weitem übersteigt. Einerseits werden Menschen, die diese Zerstörungstechnik meistern, dadurch „märchenhaft potent“38. Umgekehrt werden Ohnmacht und „schiere Passivität“39 zum Charakteristikum totaler Gewalt auf der Seite derjenigen, die nicht befähigt sind, ihrer Wirkung auszuweichen. So sehen sich die zivilen ‚Mitstreiter‘ an der ‚Heimatfront‘ ausschließlich der totalen Gewalt ausgesetzt. Das gilt ebenfalls für Soldaten, sobald sie ungedeckt und ungepanzert in den Wirkungsbereich feindlicher moderner Waffen eintreten. Waren die Soldaten zu Beginn des 19. Jahrhunderts wesentlich wie die Arbeiter in der Manufaktur noch „Glieder eines lebendigen Mechanismus“, so erscheint den Arbeitern und Soldaten ihre Tätigkeit ein Jahrhundert später als „ein toter Mechanismus unabhängig von ihnen“. Diesem Mechanismus werden sie „als lebendige Anhängsel einverleibt.“40 Die Einverleibung impliziert nicht mehr ‚Entfremdung‘, sondern vielmehr die Materialwerdung des lebendigen Menschen. In vielen Texten über den Ersten Weltkrieg kehren bestimmte Topoi wieder, welche diese Materialwirkung in Verbindung mit der Technisierung der Gewalt in Worte zu fassen versuchen. Zum Beispiel: • Reduziert auf die naturhaft-physikalische Qualität des Körperlichen sieht sich der Mensch im Raum der Schlacht der Zufälligkeit des Überlebens ausgesetzt: „Sekunden und Millimeter entscheiden.“41 „Du kauerst zusammengezogen einsam in deinem Erdloch und fühlst dich einem unbarmherzigen, blinden Vernichtungswillen preisgegeben. Mit Entsetzen ahnst du, dass deine ganze Intelligenz, deine Fähigkeiten, deine geistigen und körperlichen Vorzüge zur unbedeutenden, lächerlichen Sache geworden sind. Schon kann, während du dies denkst, der Eisenklotz seine sausende Fahrt angetreten haben, der dich zu einem formlosen Nichts zerschmettern wird.“42
• Durch Konzentration auf die Sinne der Gegenständlichkeit versucht das Subjekt, der Ohnmacht im Angesicht des physikalischen Zufalls zu ent38
Popitz, Phänomene der Macht, S. 74. Wolfgang Sofsky, Zeiten des Schreckens. Amok, Terror, Krieg. Frankfurt am Main 2002, S. 137. 40 Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 1, Berlin 1962, S. 445. 41 Jünger, In Stahlgewittern, S. 162. 42 Ebd., S. 136 f. 39
I. Militärische Neuerungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
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kommen, das heißt handlungsfähig zu bleiben und sich nicht auf die physikalische Qualität von ‚Material‘ reduzieren zu lassen. Es schärft die Wahrnehmung und entwickelt Strategien, die das Überleben wahrscheinlicher machen. Die Sinnesschärfe reicht bis zur Hellsichtigkeit: „[. . .] plötzlich liegt man in einer Bodenmulde und über einen spritzen die Splitter hinweg; – aber man kann sich nicht entsinnen, die Granate kommen gehört oder den Gedanken gehabt zu haben, sich hinzulegen. Hätte man sich darauf verlassen sollen, man wäre bereits ein Haufen verstreutes Fleisch. Es ist das andere gewesen, diese hellsichtige Witterung in uns, die uns niedergerissen und gerettet hat, ohne das man weiß, wie.“43
Dennoch bleibt dieser Versuch zu handeln begrenzt. Eine Kontrolle über die räumliche Umgebung ist letztlich nicht möglich. Unter Trommelfeuer schließlich versagt die sinnliche Distanz zur Situation.44 • Künstliche Schutzmaßnahmen vergrößern ebenfalls die Überlebenswahrscheinlichkeit. Der Mensch verlässt die Oberfläche, aber nicht um zu den Sternen aufzubrechen, sondern um im Schützengraben, im Unterstand, im Stollen oder im Schlamm zu verschwinden. Nur so kann er der ‚Einverleibung durch den toten Mechanismus‘ bzw. dem Terror des Raums entgehen: „Die Macht der Maschine zwingt den Menschen in die Erde. [. . .] Die Materie triumphiert, der Mensch selber wird nur als Material gewertet. Wir erleben die mechanische Vernichtungsarbeit unserer Geistesschöpfung, der Maschine, stehen machtlos dabei und finden kein Mittel, wie wir es ändern können. [. . .] der Mensch, starr am Boden sich festhaltend, sich klammernd an den kümmerlichsten Granattrichter [. . .] rang in einem Kampfe, dessen Heldentum zwar in der Erinnerung nicht so hoch steht als das Siegen in den Schlachten des Jahres 1914 – das trotzdem aber ein größeres ist.“45
• Aber weder Sinnesanstrengung, noch Hellsicht, noch Schutzmaßnahmen ändern etwas daran, das Überleben letztlich zufällig bleibt: „Die Front ist ein Käfig, in dem man nervös warten muss auf das, was geschehen wird. Wir liegen unter dem Gitter der Granatenbogen und leben in der Spannung des Ungewissen. Über uns schwebt der Zufall. Wenn ein Geschoss kommt, kann ich mich ducken, das ist alles; wohin es schlägt, kann ich weder genau wissen, noch beeinflussen. [. . .] Ebenso zufällig wie ich getroffen werde, bleibe ich am Leben. Im bombensicheren Unterstand kann ich zerquetscht werden, und auf freiem Felde zehn Stunden Trommelfeuer unverletzt überstehen. Jeder Soldat bleibt nur durch tausend Zufälle am Leben. Und jeder Soldat glaubt und vertraut dem Zufall.“46 43 44 45 46
Remarque, Im Westen nichts Neues, S. 59 f. Sofsky, Zeiten des Schreckens, S. 137. Soldan, Schlacht der Zukunft, S. 35 f. Remarque, Im Westen nichts Neues, S. 103 f.
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E. Totale Mobilmachung
Die Totalität der Gewalt schließt Handlungsmöglichkeiten nicht aus. Allerdings beseitigt ihre Erfahrung im Ersten Weltkrieg das Gefühl der Sicherheit, dass im zivilen Alltag das menschliche Dasein begleitet. Ist jenes durch ein „Wohnen im Raum“47 gekennzeichnet, so erzeugt die totale Gewalt der Raumwaffen einen „Terror des Raums“48, der die Daseinsunsicherheit letztlich zur Normalität an Front und Heimatfront macht. Damit markiert die technische Steigerung der Gewalt im 20. Jahrhundert eine neue Qualität der Kriegführung und der Gewaltmächtigkeit des Menschen. Der Erste Weltkrieg bringt das an den Tag. In keinem Konflikt zuvor wurde diese Dichte, Dauer und Masse der Lebensbedrohung erreicht. Eine bedeutsame Wirkung der gegen den Raum gerichteten Waffen im Ersten Weltkrieg ist die, dass sie Bewegung und Angriff, weil diese im Wesentlichen auf ungepanzerten lebendigen Körpern (Menschen und Pferde) beruhen, bis zum Stillstand hemmen. Beim Angriff werden diese Körper zum einen exponiert, das heißt weder ausreichend gegen Sicht noch gegen Feuer geschützt. Zum anderen werden sie massiert, das heißt der offensive Durchbruch soll durch die Verdichtung von Feuer und Körpern erzwungen werden. Diese Massierung wiederum verstärkt die Exponierung, denn sie hebt die Leere des Raums auf, so dass die Raumwaffen überall Opfer finden. Außerdem erfordert sie großen organisatorischen Aufwand, der dem Gegner nicht verborgen bleibt. Die Betäubung der Bewegung ist allerdings keine notwendige Folge der Entwicklung der technischen Destruktivkräfte. Vielmehr liegen ihr ebenso eine taktische Konzeption und eine organisatorische Form zugrunde. Die organisatorische Planung erfolgt vom sprichwörtlichen grünen Tisch aus, wobei in Zahlen gedacht und nach starren Schemata gehandelt wird. Die Führungsstruktur basiert auf einer abstrakten, hierarchischen Organisation großer sozialer Maschinen. Die weit hinter der Front liegenden Generalstäbe sind darüber hinaus von schneller Kommunikation und dem unmittelbaren Eindruck abgeschnitten, das heißt situative und topologische Möglichkeiten bleiben unberücksichtigt. Dieser organisatorischen Starrheit entspricht eine Taktik, die auf den massierten Durchbruch setzt. Aber gegenüber der Massierung ungetarnter und ungedeckter Körper können die destruktiven Raumtechnologien ihre Wirkung optimal entfalten. Unter diesen Voraussetzungen wird durch die „außerordentliche Steigerung der Feuerwirkung und damit der Kräfte, die dem Verteidiger zur Verfügung stehen“ die Bewegung gleichsam „chloroformiert“.49 Es kommt zum statischen Stellungskrieg, in dem der Soldat auf seinem Posten und in Deckung im Trommelfeuer ausharrt. 47
Waldenfels, Das leibliche Selbst, S. 112. Dierk Spreen, Cyborgs und andere Techno-Körper. Ein Essay im Grenzbereich von Bios und Techne, Passau 1998, S. 100. 48
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Die vielen, letztlich ergebnislosen ‚Materialschlachten‘ des Ersten Weltkriegs erklären sich daraus, dass Taktik und Organisation den Wirkungen der neuen Raumwaffen nicht angemessen waren. Technologisch bedingte Raumrevolutionen finden ihre korrespondierende soziokulturelle Form dagegen in der extrem erhöhten Fähigkeit zu operativer Komplexität, das heißt der „ability to cope with an increasingly complex battelfield“.50 Dies meint die taktische Fähigkeit, unter den Bedingungen der technischen Schlacht sowohl im Offensiven wie im Defensiven koordiniert vielfältige, vieldimensionale, großräumige und eine große Zahl von Akteuren umfassende Handlungskomplexe durchzuführen, die die Materialwirkung durch Zerstreuung, Bewegung, Koordination, Deckung und Tarnung soweit reduzieren, dass offensive Aktionsfähigkeit gewonnenen oder – in der Defensive – die Aktionsfähigkeit des Gegners gebrochen wird. Diese Fähigkeit ist damit das Mittel, der totalen Gewalt der modernen Waffen auszuweichen und Handlungsfähigkeit zurückzugewinnen.51 Tragende Momente dieser Entwicklung sind die bessere und flexiblere Vernetzung von Infanteriebewegung und Artilleriefeuer, eine detaillierte und auf die konkrete Topologie bezogenen Planung, insbesondere das Ausnutzen des Geländes zum Schutz vor Sicht und Waffenwirkung, Zerstreuung statt Massierung (Gruppen und sogar Einzelkämpfer), Umgang mit der Tiefe des Raums, die Stärkung von Teamstrukturen, Eigeninitiative und die Professionalisierung entsprechender Führungsmethoden (Ausbildung).52 Ein Beispiel für diese Fähigkeit ist die enge und flexible Abstimmung zwischen Artillerie und im Team vorgehenden, professionalisierten Spezialeinheiten (‚Stoßtrupps‘) gegen Ende des Ersten Weltkriegs. Diese Fähigkeit ermöglicht es selbst unter der Bedingung einer ins Absolute gesteigerten technischen Zerstörungspotenz, schnell und überraschend in die Tiefe des Raums ‚durchzubrechen‘, so dass der Gegner strukturell verunsichert und in eine andauernde Rückwärtsbewegung gezwungen wird. Es ist offensichtlich, dass eine solche Methode technologisch sehr gut ausgebaut werden kann. Schnelle und feuerkräftige Raumwaffen wie Panzer, Sturzkampfbomber oder Helikopter ‚passen‘ in diese Struktur ebenso hinein, wie neue Kommunikationstechnologien. Diese Fähigkeit wird militärisch erstmals während der deutschen Frühjahrsoffensive (Operation ‚Michael‘, März 1918) angewandt. Allerdings spielen dabei technologische Faktoren gar keine wesentliche Rolle: 49 Ernst Jünger, Feuer und Bewegung, in: Ernst Jünger, Blätter und Steine, Hamburg 1934, S. 86–98, hier S. 88, 94. 50 Stephen Biddle, The Past as Prologue: Assessing Theories of Future Warfare, in: Security Studies 8, No. 1, 1998, S. 1–74, hier S. 5. 51 Biddle, Military Power, S. 3. 52 Ebd., S. 33, 38.
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E. Totale Mobilmachung
„Neither technology nor numerical imbalance succeeds as an explantation of an offensive breakthrough in the face of a morally unbroken defense in Michael; new methods of force employment offer a more effective account.“53
Auch in dieser Einsatzmethode manifestiert sich die im 20. Jahrhundert beginnende Raumrevolution. Das operative militärische Denken orientiert sich in der Verteidigung weniger an ‚Linien‘, sondern mehr an netzartigen Strukturen bzw. ‚Zonen‘ (defensive depth). Beim Angriff geht es um den ‚Durchbruch‘. Man richtet sich gegen die in der Raumtiefe aufgestellte gegnerische Kommando- und Infrastruktur, versucht den Gegner in seinem Rücken anzugreifen (deep battle).54 Die Bewegungshemmung im Ersten Weltkrieg ist daher nicht einfach die notwendige Folge der technologischen Entwicklung. Sie ist vielmehr erstens auf den historischen Stand der technischen Mittel zu beziehen. Eine genaue Betrachtung der Raumrevolution im 20. Jahrhundert zeigt, dass die ihr zugrunde liegenden Technologien sich prinzipiell ambivalent darstellen, das heißt keineswegs generell eine betäubende Wirkung haben müssen. Sie ermöglichen und hemmen Bewegung. Etwa kann der Panzer die hemmende Kraft von Raumwaffen wie Artillerie und Maschinengewehr wieder aufheben, weil er Schutz, Bewegung und gezieltes Feuer vereint. Wird diese Potenz wahrgenommen, dann erscheinen Panzer als „Maschinen zur Herstellung von Bewegung“ unter den Bedingungen „des Kampfes im technischen Raum“.55 Durch Motorisierung und Schutz rekonstituiert er die unter der defensiven Feuerwirkung zusammengebrochene Bewegungsmöglichkeit. Außerdem ist er selbst eine schwere Waffe. Anders als die Artillerie hinter den Linien kommt der Panzer nah an den Feind heran und kann das „direkt gerichtete Feuer“ eröffnen. Die schwere „Waffenwirkung“ wird „schnell in den Feind“ getragen.56 Die ‚Panzerwaffe‘ ermöglicht es daher, „den Feind in der ganzen Tiefe seines Verteidigungssystems gleichzeitig zu lähmen.“57 Es sind allerdings durchaus waffentechnische Entwicklungen denkbar, die diese Eigenschaften des Panzers wiederum hemmen (Minen, Flugzeuge mit panzerbrechenden Waffen, tragbare und leichte Panzerabwehr bis hin zu taktischen Atomwaffen). Somit gibt das jeweils historisch gegebene ‚Gemisch‘ der Raumwaffen lediglich einen Rahmen für die operativen, taktischen und strategischen Möglichkeiten vor. 53
Ebd., S. 107. Ebd., S. 40–42. 55 Jünger, Feuer und Bewegung, S. 96 f. 56 Heinz Guderian, Erinnerungen eines Soldaten, Stuttgart 121986 [1951], S. 38. Die angegebene Passage stammt aus einem Text von 1937, den der Autor in seinen Erinnerungen wiedergibt (S. 32–39). 57 Ebd., S. 37. 54
II. Kritik der Romantik
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Zweitens lässt sich gerade am Beispiel des Ersten Weltkriegs das Zusammenspiel zwischen technischer Materialität, Erfahrung und neuen Einschätzungen und Umgangsweisen aufzeigen. Die für den Grabenkrieg und die Materialschlacht im Ersten Weltkrieg so typische Hemmungsstruktur entsteht deshalb, weil die Fähigkeit zu einer der gesteigerten Gewalt angemessenen operativen Komplexität noch nicht erlernt worden ist, welche das ergänzende Zusammenspiel von Feuerkraft und Bewegung wieder erlaubt. Die Entwicklung eines solchen, der Gewaltwirkung entsprechenden operativen Konzepts gegen Ende des Weltkrieges und seine Fortschreibung und Ausdifferenzierung im kriegsgesellschaftlichen Diskurs der Zwischenkriegszeit ist jedoch wiederum die Folge von Erfahrungen und der diskursiven Erfahrungsverarbeitung und nicht bloßer kultureller Reflex von Technologie. Damit zeigt sich, dass die gesellschaftliche Umsetzung der Raumrevolution keine automatische Folge neuer Technologien ist, sondern vielmehr wesentlich ein neues Raumverständnis umfasst. Allerdings ist die Durchsetzung dieses Raumverständnisses eine Reaktion auf die massiven Äußerungseffekte neuer Raumtechnologien in der empirischen Erfahrung. Es ist das Phänomen der destruktiven Materialität dieser Technologien in der ‚Materialschlacht‘, die zur Entfaltung eines anderen Raumverständnisses und zu komplexen und vernetzten taktischen Umgangsweisen anreizt. Letztes Kennzeichen des Krieges im 20. Jahrhundert ist die strategische Symmetrie. Nur wenn Staaten gegeneinander Krieg führen, die in ökonomischer und technisch-wissenschaftlicher Hinsicht und im Hinblick auf ihr gesellschaftliches Mobilisierungspotential auf ähnlichem Niveau stehen, entwickelt sich die strategische Logik, wonach jeder Gegner dem anderen das Gesetz gibt, in der Form, dass es auf beiden Seiten zu einer totalen Einbeziehung aller gesellschaftlichen Kräfte und Bereiche in den Krieg kommt.
II. Kritik der Romantik Anknüpfend an die Totalisierung des Krieges und an die Potenzierung der Gewalt zeichnet sich die Thematisierung der Gewalterfahrungen des Weltkrieges im kriegsgesellschaftlichen Diskurs durch einen schonungslosen Realismus in der Beschreibung der Kriegserlebnisse und durch eine manifeste Kritik der politischen Romantik aus. Diese beiden Momente verweisen aufeinander. Entsprechend der politisch-strategischen Lage zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde das soziale Bewusstsein, das Selbstverständnis eines kulturellen Diskursraums als ‚Gesellschaft‘ zugleich auch als Waffe gesehen. Denn den intrinsisch motivierten Massen der Napoleonischen Armeen waren eben sol-
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che ‚moralisch‘ geleiteten Massen entgegenzusetzen. Der aus den Befreiungskriegen stammende Mobilisationsdiskurs der politischen Romantik sieht daher im Krieg einen Anlass für die Erweckung der ‚Gesellschaft‘. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs manifestiert sich diese Haltung zum Krieg dann im so genannten „August-Erlebnis“. Die allgemeine Mobilmachung für den Krieg wird zum Anlass für die Konstitution eines gemeinschaftlichen Gefühls und eines gemeinschaftlichen Bewusstseins: „Alle Unterschiede der Stände, der Sprachen, der Klassen, der Religionen waren überflutet für diesen einen Augenblick von dem strömenden Gefühl der Brüderlichkeit.“58 Auch während des Krieges wird Begeisterung für die nationale Sache, das heißt die Moral des Volkssoldaten für entscheidend gehalten, um den Sieg in der Schlacht zu erringen. Dies zeigt sich etwa im ‚Langemarck-Mythos‘. Dieser Mythos geht zurück auf eine Pressemeldung, welche die OHL am 11. November 1914 in Bezug auf die Schlacht bei Ypern lanciert: „Westlich von Langemarck brachen junge Regimenter unter dem Gesange ‚Deutschland, Deutschland über alles‘ gegen die erste Linie der feindlichen Stellungen vor und nahmen sie. Etwa 2000 Mann französischer Linieninfanterie wurden gefangengenommen und sechs Maschinengewehre erbeutet.“59
Der entsprechende romantische Mythos feiert in pathetischen Worten den Angriffsgeist der ‚jungen Generation‘. ‚Langemarck‘ wird zu einem „herausragenden Symbol nationaler Einigkeit: das Opfer des Lebens, der Nation von ihrer Jugend unter Gesang dargebracht, wurde als ein metaphysisches Band interpretiert, dessen Macht alle politischen, sozialen und militärischen Kräfte übertraf.“60 Die Erfahrungen im Krieg zeigen aber, dass diese Begeisterung gegen die nackte Materialwirkung gar nichts vermag. Die Moral zeigt sich dem Material unterlegen. Daher wird die politische Romantik zum Ziel eines realistisch-sachlichen Diskurses. Man darf nicht, so heißt es, auf dem Niveau „der alten Kriegsliteratur“ stehen bleiben. Diese zeichnet „gern das Erhebende und Mitreißende“, gehe aber „über das Versagen einer Truppe unauffällig hinweg“. Sie bietet lediglich „Schlachtendarstellungen und Regimentsgeschichten“, die „nur von heldenhaftem Vorwärtsstürmen“ erzählen und „für jedes Versagen Entschuldigungen“ findet.61 Aber in Wirklichkeit hat der „Heldenansturm an sich“ nicht genügt, „die Wendung einer Schlacht [. . .] herbeizuführen.“ Nicht nur, dass es kein Beispiel gibt für das Nieder58 Stefan Zweig, Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers, Frankfurt am Main 342003 [1942], S. 256. 59 Zit. n. Hüppauf, Schlachtenmythen, S. 56. 60 Hüppauf, Schlachtenmythen, S. 58. 61 Soldan, Schlacht der Zukunft, S. 19.
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ringen eines materialstarken Gegners allein durch die Wirkung der Begeisterung, vielmehr finden sich umgekehrt „Beispiele in endloser Zahl“, in denen „die todesmutigste Infanterie unter der Wirkung des Materials“ zusammenbricht.62 Der „heißeste und der edelste Wille erstickt unter einseitiger, häufig unter nur wenig überlegener Wirkung des Materials.“63 „Der Krieg gipfelte in der Materialschlacht; Maschinen, Eisen und Sprengstoff waren seine Faktoren. Selbst der Mensch wurde als Material gewertet. Die Verbände wurden wieder und wieder an den Brennpunkten der Front zur Schlacke zerglüht, zurückgezogen und einem schematischen Gesundungsprozess unterworfen.“64
Daher wird gefordert, mit den „Augen der Wirklichkeit“65 auf den Krieg zu blicken: „Wir brauchen heute Darstellungen über den Weltkrieg, die freiherzig von allem sprechen, wie es wirklich da draußen gewesen ist, die die ganze Schwere des modernen Kampfes realistisch schildern.“66
Dieser Realismus steht nicht im Dienste einer pazifistischen Abschreckungsästhetik, sondern zielt auf die Vorbereitung des nächsten Waffengangs, von dessen Notwendigkeit der kriegsgesellschaftliche Diskurs – und mit ihm der Innovationsdiskurs in der Reichswehr – weitgehend unhinterfragt ausgeht.67 Der Krieg wird weithin als unabgeschlossen betrachtet, weil er „eine Erleichterung der Weltlage nicht herbeigeführt“ habe: „Er hat die großen Fragen verschoben, umgestaltet, aber nicht gelöst.“68 Vor dem Hintergrund eines als sicher angenommenen kommenden Krieges muss das Geschehen des Weltkriegs sachlich und leidenschaftslos analysiert, das heißt „erfahrungswissenschaftlich“ (George Soldan) aufgearbeitet werden. Denn: „Mit Begeisterung gegen Material kämpfen, heißt nichts anderes, als der Materialwirkung in die Hand arbeiten. Begeisterung macht blind. Gegen die kalte Macht des Materials gewinnt die Oberhand nur, wer mit offenem Auge kalt und sachlich abwägt.“69
Die Kritik der politischen Romantik ist die Bedingung der Möglichkeit für eine erfahrungsorientierte Wahrnehmung des Weltkriegsgeschehens. Daher geißelt Carl Schmitt sie 1919 als „verantwortungslosen Subjektivis62 63 64 65 66 67 68
Ebd., S. 31. Ebd., S. 96 f. Jünger, In Stahlgewittern, S. III. Soldan, Schlacht der Zukunft, S. 20. Ebd., S. 19. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4, S. 420. Oswald Spengler, Politische Pflichten der deutschen Jugend, München 1924,
S. 4. 69
Soldan, Schlacht der Zukunft, S. 34.
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mus“.70 Ähnlich äußert sich Oswald Spengler. „Nationale Politik“ in Deutschland sei „seit dem Kriege als eine Art Rausch verstanden worden.“ Jedoch: „Mit dem Herzen allein ist noch niemals erfolgreiche Politik gemacht worden.“71 Unter der Hand allerdings eskamotiert dieser ‚harte‘ Realismus auch die Orientierung an der Versöhnung als regulativer Norm und am Staatsideal der politischen Romantik. Um Frieden geht es nicht mehr, sondern um den ‚Zukunftskrieg‘. Der Parlamentarismus wird abgelehnt, stattdessen kultivieren Intellektuelle wie Schmitt, Spengler, Jünger eine antirepublikanische und antizivilisatorische Haltung. Ein ähnliches Bild zeichnet der innovative Expertendiskurs in der Reichswehr. Auch hier fixiert sich die Erwartung auf den kommenden „Endkampf“ (Heinz Guderian). Eine „omnipräsente Ablehnung“72 schlägt der Republik und ihren Prinzipien auch hier entgegen. Dass realistische Wahrnehmung des Kriegsgeschehens und Propagierung eines weiteren Waffengangs sich keineswegs ausschließen, lässt sich exemplarisch an Ernst Jüngers In Stahlgewittern zeigen. Dieser ästhetisch bearbeitete Bericht eines Frontoffiziers stellt einen Schlüsseltext der Erfahrungsverarbeitung in der Zwischenkriegszeit dar. Jüngers Bericht wurde nicht nur „fast unmittelbar zu einem Publikumserfolg“73, sondern ist auch für den kriegsgesellschaftlichen Diskurs im engeren Sinne von zentraler Bedeutung. So greift George Soldan in seinen selbst wiederum paradigmatischen Überlegungen zur zukünftigen Kriegführung auf die ‚Stahlgewitter‘ zurück. Jünger zeige „ein überraschend feines Empfinden für das neuartige Wesen des Krieges“.74 Soldan verwendet die Frontkämpferliteratur als Beleg für seine kriegswissenschaftlichen Schlussfolgerungen und fordert zugleich dazu auf, an diesen Werken „nicht vorüberzugehen [. . .]. Wir gebrauchen die Vermittlung ihres Wissens, um in das tiefste Innere des Krieges hinabzusteigen“.75 Die Darstellung der Kriegserlebnisse durch Jünger ist sehr eindrücklich; beschönigt wird nichts. Zeitgenössischen Lesern ist das nicht entgangen. So beschreibt etwa Remarque in einer Rezension den Text als „von einer wohltuenden Sachlichkeit, präzise, ernst, stark und gewaltig. [. . .] Den Ablauf der Geschehnisse zeichnen die ‚Stahlgewitter‘ mit der ganzen Macht der Frontjahre [. . .], ohne jedes Pathos geben sie das verbissene Heldentum 70
Schmitt, Politische Romantik, S. 177. Spengler, Politische Pflichten, S. 21. 72 Markus Pöhlmann, Von Versailles nach Armageddon: Totalisierungserfahrung und Kriegserwartung in deutschen Militärzeitschriften, in: Stig Förster (Hg.), An der Schwelle zum Totalen Krieg. Die militärische Debatte über den Krieg der Zukunft 1919–1939, Paderborn 2002, S. 323–391, hier S. 336. 73 Martin Meyer, Ernst Jünger, München 1990, S. 22. 74 Soldan, Schlacht der Zukunft, S. 18. 75 Ebd., S. 20. 71
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des Soldaten wieder.“76 In der Tat kann In Stahlgewittern als ‚dichte Beschreibung‘ des Weltkriegsgeschehens gelesen werden. Jünger bedient sich dabei auch jener Horrorästhetik, die für pazifistische Romane typisch ist, weil eine schockierende Wirkung beabsichtigt wird: „Der Hohlweg erschien nur noch als eine Reihe riesiger, mit Uniformstücken, Waffen und Toten gefüllter Trichter; das umliegende Gelände war, soweit der Blick reichte, völlig von schweren Granaten umgewälzt. Nicht ein einziger armseliger Grashalm zeigte sich dem suchenden Auge. Der zerwühlte Kampfplatz war grauenhaft. Zwischen den lebenden Verteidigern lagen die toten. Beim Graben von Deckungslöchern bemerkten wir, dass sie in Lagen übereinander geschichtet waren. Eine Kompagnie nach der anderen war dicht gedrängt im Trommelfeuer ausharrend vernichtet. Dann waren die Leichen durch die von den Geschossen hochgeschleuderten Erdmassen verschüttet, und die nächste Kompagnie war an den Platz der Gefallenen getreten. Der Hohlweg und das Gelände dahinter lag voll Deutscher, das Gelände davor voll Engländer. Aus den Böschungen starrten Arme, Beine und Köpfe; vor unseren Erdlöchern lagen abgerissene Gliedmaßen und Tote, über die man zum Teil, um dem steten Anblick der entstellten Gesichter zu entgehen, Mäntel und Zeltbahnen geworfen hatte. Trotz der Hitze dachte niemand daran, die Körper mit Erde zu bedecken.“77
Auch der Realismus der ‚Stahlgewitter‘ formuliert eine Kritik der Romantik. Die aus einem dogmatisierten Clausewitz-Verständnis herrührende, romantische Moralrhetorik wird als Illusion entlarvt. So beginnt Jüngers Darstellung mit der Schilderung der Stimmung, die den Auszug in den Krieg begleitet: „Wir hatten Hörsäle, Schulbänke und Werktische verlassen und waren in den kurzen Ausbildungswochen zusammengeschmolzen zu einem großen, begeisterten Körper, Träger des deutschen Idealismus der nachsiebzieger Jahre. [. . .] In einem Regen von Blumen waren wir hinausgezogen in trunkener Morituri-Stimmung. Der Krieg musste es uns ja bringen, das Große, Starke, Feierliche. Er schien uns männliche Tat, ein fröhliches Schützengefecht auf blumigen, blutbetauten Wiesen. Kein schönerer Tod ist auf der Welt . . . Ach, nur nicht zu Haus bleiben, nur mitmachen dürfen!“78
Wie dieser romantische Stoßseufzer zu bewerten ist, ist dem Leser allerdings schon aus dem Vorwort bekannt: „Das Bild des Krieges war nüchtern, grau und rot seine Farben; das Schlachtfeld eine Wüste des Irrsinns, in der sich das Leben kümmerlich unter Tage fristete. 76 Zit. n. Wojciech Kunicki, Erich Maria Remarque und Ernst Jünger. Ein unüberbrückbarer Gegensatz?, in: Thomas F. Schneider (Hg.), Kriegserlebnis und Legendenbildung. Das Bild des modernen Krieges in Literatur, Theater, Photographie und Film, Osnabrück 1999, S. 291–308, hier S. 291 f. 77 Jünger, In Stahlgewittern, S. 72. 78 Ebd., S. 1.
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[. . .] Nicht wie früher umrauschte Regimentsmusik ins Gefecht ziehende Kompagnien. Das wäre Hohn gewesen. Keine Fahnen schwammen wie einst im Pulverdampf über zerhackten Karrees, das Morgenrot leuchtete keinem fröhlichen Reitertage, nicht ritterlichem Fechten und Sterben. Selten umwand der Lorbeer die Stirn des Würdigen.“79
Dementsprechend ist das ganze Buch nicht nur als realistische Wiedergabe des Geschehens aus der Sicht eines Frontoffiziers und Stoßtruppführers zu lesen, sondern als Kommentar zur Erfahrung und als Lehrstück. In den Bericht schreibt sich eine Deutung der Gewalt ein, die nicht aus der Gewalterfahrung selbst kommt, sondern diese Erfahrung verarbeitet und auslegt. Weiterhin ist der Bericht als Kritik an grundlegenden Fehleinschätzungen der militärischen Entscheidungsorgane aufzufassen. Die Schrift ist gespickt mit kurzen Reflexionen über dem industrialisierten Krieg entsprechende Führungsmethoden, neue taktische Mittel und die Bedeutung von Disziplin. Sie muss daher auch als Anregung zur Modernisierung des Heerwesens für einen weiteren Krieg verstanden werden. Die Kritik der Romantik macht den Weg frei, um sich Gedanken über eine den Forderungen der Zeit angemessene Kriegführung zu machen. Zunächst wird eine neue soldatische Subjektivität gefordert.
III. Individualisierung und sachlicher Heroismus Für den klassischen, ‚lorbeerumkränzten‘ Helden ist die Möglichkeit eines ‚schönen‘ oder ‚magischen‘ Todes konstitutiv. Das setzt Konfliktsituationen voraus, die in der Struktur von Zweikämpfen aufgefasst werden können, in der die Kämpfer individuell erkennbar und ihre Taten und ihr Mut ihnen zurechenbar sind. Der „heroische Kampf hat die Struktur eines Zweikampfes, in dem der eigene Tod symbolische Unsterblichkeit garantiert, die Tötung des Gegners die symbolische Inbesitznahme des gegnerischen Namens ermöglicht.“80 Genau diese Möglichkeit ist in der Materialschlacht nicht gegeben. Das namenlose Töten und Sterben zerstört die romantische Vorstellung des Kampfes Mann gegen Mann. Das Töten und das Getötetwerden ist ein anonymer, technisch vermittelter Vorgang. Zwischen den im Boden des Schlachtfelds bleibenden, zu einzelnen Gebeinen und Körperteilen aufgelösten Toten werden neue Schützengräben gezogen. Und währenddessen erfasst ein ‚body-count‘ das Sterben. 79 80
Ebd., S. III. Müller, Der Krieg und die Schriftsteller, S. 225.
III. Individualisierung und sachlicher Heroismus
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In der „chaotische[n] Leere des Schlachtfeldes“81 kommt es zum „Tod des magischen, ‚schönen Todes‘“.82 Dieser Tod markiert „das einfache Ende, das Ende des Unendlichen eingeschlossen.“83 So genau aber der kriegsgesellschaftliche Diskurs nach dem Krieg diesen Umstand durch die Kritik der politischen Romantik zu bezeichnen vermag, so sicher sucht er, die Sinnleere ins Positive zu wenden und aus ihr Resultate zu gewinnen. Eine dieser Lehren ist die Konstruktion eines neuen Heroismus, dessen Ethos darin besteht, teilzuhaben, aus- und standzuhalten und die Möglichkeit des Todes gleichgültig hinzunehmen. „Amoralisch, kalt, funktional, erfahren, hart sollten die Männer sein, die keine Ideale, mit denen sie sich identifizieren konnten, und keinen Enthusiasmus, um ihren Kampfgeist in Bewegung zu setzen, mehr nötig hatten.“84 Gefragt ist der erfahrene Kriegshandwerker, der genau weiß, was möglich ist. Was diesen Helden führt, ist nicht kollektive romantische Begeisterung, sondern Kompetenz, Härte und Lust an der Gefahr. „Und wenn der Soldat [. . .] sich zu Wagnis und Gefahren meldet [. . .], so wäre es wohl nur ein Knabe, den in schwärmerischer Überspannung des Heldentodes Lorbeer reizte. Nein, was den Mann treibt, sind ganz andere Kräfte, sind hohes Pflichtgefühl, sittlicher Ernst, kühner Wagemut, dämonische Lust an Gefahren, Hoffnung, etwas Tüchtiges zu leisten, und Ehrgeiz. Behändigkeit und schnelle Entschlusskraft werden zu unerlässlichen Eigenschaften des Frontsoldaten, wenn er nicht schnell einem Eisenstück zum Opfer fallen will.“85
Das Idealbild dieses Soldaten verdeutlicht Jünger, in dem er einen „Mann im Stahlhelm“ beschreibt, den er „neben ihm im Schützengraben sitzend [. . .] nach den Verhältnissen in Stellung“ ausfragt: „Das halb vom Stahlhelm umrahmte, unbewegliche Gesicht und die monotone, vom Lärm der Front begleitete Stimme machten den Eindruck unheimlichen Ernstes. Man merkte dem Manne an, dass er jeden Schrecken bis zur Verzweiflung durchgekostet und dann verachten gelernt hatte. Nichts schien zurückgeblieben als eine große männliche Gleichgültigkeit. ‚Wer fällt, bleibt liegen. Da kann keiner helfen. Niemand weiß, ob er lebend zurückkommt. Jeden Tag wird angegriffen, doch durch kommen sie nicht. Jeder weiß, dass es auf Leben und Tod geht.‘ Mit solchen Leuten kann man kämpfen.“86 81
Jünger, In Stahlgewittern, S. 20. Lyotard, Streitgespräche, S. 17. 83 Ebd., S. 16. Lyotard entwickelt die Metapher vom Ende des ‚schönen Todes‘ in Bezug auf Auschwitz. Im Anschluss an Adorno zeigt er, dass ‚Auschwitz‘ ein „Name des Namenlosen“ ist bzw. „ein Name für das Anonyme“ (Ebd., S. 14), das sich der nachträglichen Sinngebung sperrt und nicht in einer Bedeutungskonstruktion bzw. einem Resultat aufgehoben werden kann. 84 Hüppauf, Schlachtenmythen, S. 73. 85 Soldan, Schlacht der Zukunft, S. 58. 86 Jünger, In Stahlgewittern, S. 66. 82
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Die Helden der Materialschlacht haben demnach „Nerven wie Stahl“ und können „den Ruhm für sich in Anspruch nehmen, Sieger über das Material geblieben zu sein.“87 Bei Jünger findet sich dazu folgende weitere Illustration: „Du musst alle Kraft zum Aushalten aus dir allein schöpfen. Du kannst nicht einmal aufstehen und dir mit blasiertem Lächeln eine Zigarette anzünden, dich an den bewundernden Blicken deiner Kameraden aufrichtend. [. . .] Du weißt, wenn es dich trifft, wird kein Hahn danach krähen. Ja, warum springst Du nicht auf und stürzt in die Nacht hinein, bis du in einem sicheren Gebüsch wie ein erschöpftes Tier zusammenbrichst? Warum hältst Du noch immer aus, du und deine Braven? Kein Vorgesetzter sieht dich. Und doch beobachtet dich jemand. Dir selbst vielleicht unbewusst, wirkt der moralische Mensch in dir und bannt dich durch zwei mächtige Faktoren am Platze: die Pflicht und die Ehre. Du weißt, du bist zu diesem Kampfe an diesen Ort gestellt und ein ganzes Volk vertraut darauf, dass du deine Sache machst. Du fühlst, wenn ich jetzt meinen Platz verlasse, bin ich ein Feigling vor mir selbst, ein Lump, der später bei jedem Worte des Lobes erröten muss. Du beißt die Zähne zusammen und bleibst. An diesem Abend hielten alle aus, die dort an der dunklen flanderischen Chaussee lagen. Man sah, dass Führer und Mannschaft in einem heroischen Geiste erzogen waren.“88
Dies ist ein eindrückliches Beispiel für jene von Emile Durkheim als ‚soziale Dinge‘ apostrophierten moralischen „Gussformen, in die wir unsere Handlungen gießen müssen“.89 Der soziologische Funktionalismus Durkheims stellt den Einzelnen an seinen gesellschaftlichen Ort und heroisiert bereits rhetorisch das Erfüllen des moralischen Zwangs: „Er fühlt, dass er zu etwas dient.“90 Und weiter: „Bereite Dich vor, eine bestimmte Funktion nützlich auszufüllen.“91 Ganz ähnlich geht es bei Jünger um den Heroismus, der aus dem Bewusstsein resultiert, „an entscheidender Stelle zu stehen.“92 Die Helden der Materialschlacht gelten als „Männer, die ihrer Stunde gewachsen waren, unbekannte, verwegene Kämpfer.“93 Als Held erweist sich, wer – wie Jünger selbst – in schwerer Stunde durch „Verantwortlichkeitsgefühl“ geleitet seinem „Amt“ gerecht wird.94 87
Soldan, Schlacht der Zukunft, S. 38. Jünger, In Stahlgewittern, S. 137. 89 Durkheim, Die Regeln, S. 126. 90 Dürkheim, Soziale Arbeitsteilung, S. 442. 91 Ebd., S. 87. 92 Ernst Jünger, Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt, Stuttgart 1981 [1932], S. 68. 93 Jünger, In Stahlgewittern, S. 182. 94 Ebd., S. 191. 88
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Diese Idee, den Typus des Helden da zu sehen, wo die Funktion erfüllt, wo aus-, durch- und standgehalten wird, soll im Anschluss an einen Vorschlag Hans-Harald Müllers sachlicher Heroismus heißen.95 Der sachliche Heros erscheint im kriegsgesellschaftlichen Diskurs im Unterschied zu Durkheim nicht nur im Kontext der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, sondern auch im Zusammenhang mit dem ‚technischen Raum‘ des modernen Krieges. Auch Remarque trägt seinen Teil zu dieser Heldenmythologie bei, indem er die Kunst des einfachen Soldaten, in der Hoffnungslosigkeit und im Verlorensein zu überleben, hervorhebt und zu einem „Heroismus des Aushaltens“96 stilisiert. Dieser sachliche Heroismus kreiert ein militantes Arbeitsethos. Vom Einzelnen wird verlangt, dass er seine Aufgabe unter höchstem Einsatz – eben heroisch – ‚erfüllt‘. Dieses Funktionsheldentum bleibt zwar namenlos – aber dennoch geht der kriegsgesellschaftliche Diskurs ganz ähnlich wie Durkheim von einer mit dem Funktionalismus zunehmenden Individualisierung aus. Weil die Einzelnen ausdifferenzierte Funktionen erfüllen müssen, entspricht ein für alle gleiches moralisches „Kollektivbewusstsein“ (Emile Durkheim) nicht mehr der systemisch-funktionalen Gesellschaft. Individualisierung ist nicht bloßes Supplement der funktionalen Gesellschaft, sondern sie folgt vielmehr aus der produktiven Dynamik und permanenten Mobilisierung des modernen Sozialen. Denn Individualisierung heißt auch, dass die Möglichkeit besteht, die Potentiale jedes Einzelnen optimal zu nutzen. Ohne Individualisierung werden die Menschen in den ‚stählernen Gehäusen‘ der Disziplinarinstitutionen und der bürokratischen Staatsapparate eingesperrt gehalten. In der postdisziplinären Gesellschaft geht es dagegen um Identifikation, Motivation, Kreativität, Teamarbeit, Eigeninitiative und Entscheidungskompetenz. Die Freisetzung der individuellen Kräfte erhöht, erfolgt sie nur normativ selbstkontrolliert und durch Informationssysteme gesteuert am richtigen Ort im Funktionszusammenhang, die Produktivität.97 Analog wird auch im kriegsgesellschaftlichen Diskurs festgestellt, dass der disziplinarische Drill keine zeitgemäße Vorbereitung auf den modernen Krieg mehr leisten kann. Auch hier sind Spezialisierung, Eigeninitiative und individuelles Verantwortungs- und Pflichtbewusstsein gefragt. Der 95
Müller, Der Krieg und die Schriftsteller, S. 224. Hubert Rüter, Erich Maria Remarque. Im Westen nichts Neues. Ein Bestseller der Kriegsliteratur im Kontext. Entstehung, Struktur, Rezeption, Didaktik, Paderborn 1980, S. 140. 97 Christian Fuchs, Soziale Selbstorganisation im informationsgesellschaftlichen Kapitalismus. Gesellschaftliche Verhältnisse heute und Möglichkeiten zukünftiger Transformationen. BOD 2001, S. 101–103. 96
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Kämpfer der Zukunft soll keine Drillmaschine mehr sein, sondern selbständig und verantwortungsbewusst handeln können. Daher geht es in Zukunft noch mehr als im Weltkrieg um die Erziehung zur Selbständigkeit. So fordert Jünger: „Je mehr der Mann allein fechten muss, zu desto größerer Selbständigkeit muss er erzogen werden. Je verfeinerter die Waffen, desto mehr verlangen sie Fassungsgabe und technisches Verständnis.“98
Die Konstruktion des sachlich-funktionalistischen Heldentypus erfüllt also normative, das heißt gesellschaftliche Funktion. Ähnlich wie bei Durkheim geht es darum, dass der Einzelne einerseits möglichst umfassend in die ‚organische‘ Arbeitsteilung integriert wird, seine Funktion aber gleichzeitig selbstverantwortlich und eigeninitiativ mit maximaler Produktivität erfüllt. Zweck ist die produktive Vermittlung von Funktion und Individualität, von Notwendigkeit und Freiheit. Dementsprechend propagiert Jünger das gedankliche Einstimmen subjektiver Handlungsmotive auf die Notwendigkeiten des funktionalen Gefüges. Es geht ihm darum, dass „der Einzelne sich der Arbeitswelt zugehörig fühlt“. Seine „heroische Auffassung der Wirklichkeit“ äußert sich darin, dass „er sich in der Gestalt des Arbeiters begreift.“ Insofern fallen „Freiheit“ und „Notwendigkeit“ zusammen.99 Die sachliche Auffassung des Heldentums mündet in eine Apologie der Funktion. Und diese verwandelt sich zwangsläufig in eine Apologie der Gewalt, wenn die technische Schlacht die ‚Wirklichkeit‘ darstellt, innerhalb derer man seinen Platz einnimmt.100 Angestrebt wird dann eine „jederzeit einsatzfähige Kampfmaschine“.101 Über Durkheim hinaus geht es Jünger entsprechend darum, den Krieg in die gesellschaftliche ‚Normalität‘ zu integrieren. Für ihn ist es gerade der Krieg, der den sachlichen Heros hervorbringt und der die Moderne erkennbar macht. Der Krieger, der in der Materialschlacht ernst und mit stählernen Nerven seiner Arbeit nachgeht, avanciert zum übergreifenden Leitbild der sozialen Mobilisierung. Damit wird die Grenze zwischen gesellschaftlicher Normalität und politischem Ausnahmezustand systematisch verwischt. Nun produziert die Dynamik der Moderne systematisch Abstimmungs-, Kommunikations- und Integrationsprobleme. Durkheim nennt diese sozialen Erscheinungen ‚anomisch‘. Er denkt, dass sie auf längere Sicht verschwinden, wenn es zu einer besseren, wissenschaftlich geleiteten Steuerung gesellschaftlicher Mobilisierungsprozesse kommt. Faktisch hat aber die Mas98 Ernst Jünger, Die Technik in der Zukunftsschlacht, in: Militär-Wochenblatt, Nr. 14 vom 1.10.1921, S. 289 f., hier S. 290. 99 Jünger, Der Arbeiter, S. 67. 100 Ebd., S. 185 f. 101 Hüppauf, Schlachtenmythen, S. 73.
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senkultur eine wichtige Rolle dabei übernommen, nicht integrierte normative Widersprüche auszugleichen. Dabei wird die Individualisierung auch kulturell vorangetrieben. Denn wie Hannelore Bublitz im Rahmen ihrer Theorie der Massenkultur hervorgehoben hat, stellt die massenkulturelle Medialität einen kulturellen Raum bereit, der individuelle Chancen der Selbstkonstruktion bietet. Die Einzelnen vergleichen sich mit medial dargestellten Selbstmodellen – insbesondere personifizierten Vorbildern; sie sehen, welche Unterschiede und Abweichungen möglich sind und ‚adjustieren‘ ihre Individualität selbst in diesem kulturellen Raum.102 Was sich nach und nach herausbildet, ist somit ein kulturelles Individualisierungsfeld, das sich nicht mehr an fixen, vorgegebenen Normen und Werten orientiert (Protonormalismus), sondern zu einer flexiblen, zugleich sich anpassenden und sich unterscheidenden Orientierung der Subjekte an medial vermittelten Orientierungsmodellen führt (flexibler Normalismus).103 Im Rahmen dieser massenkulturellen Individualisierung übernehmen herausragende Leitfiguren – Stars, Film- oder Romanhelden – normative Orientierungsfunktionen und mildern damit Abstimmungsprobleme in der ausdifferenzierten Gesellschaft. Letztlich sichern sie den normativen Zusammenhang des Sozialen, indem sie die ‚moralische Gesellschaft‘ personifizieren. Wenn sich Zivil- und Kriegsgesellschaft im Hinblick auf Funktionalismus und Individualisierung vergleichen lassen, liegt die Frage nahe, ob das auch für die massenmedialen Verkörperungen von normativen Adjustierungsprothesen gilt. Gibt es im kriegsgesellschaftlichen Diskurs einen vergleichbaren personifizierten Heldentypus? Und wie ist er möglich? Von neuen Waffentechnologien wie Panzer oder Flugzeug erwartet man die Möglichkeit, den Einzelnen und damit auch den individuellen Heros im technischen Raum der Schlacht wieder zum Tragen zu bringen. Jünger hat auch dies vorformuliert: „Vorbilder des Zukunftskämpfers sind: der M.G.-Schütze, der im wirbelnden Trommelfeuer allein schwierige Ladehemmungen beseitigte, der Flieger, der hinter sausendem Propeller den Feind suchte, und der Mann, der im Motorengewirr des Tanks die Höllenfahrt durch brüllende Trichterfelder wagte.“104
Nicht zufällig stehen diese Vorbilder des Kämpfers in innigem Kontakt zu Apparaturen. Gerade Flugzeuge und Panzer steigern die Beweglichkeit „über die Grenzen organischer Möglichkeiten hinaus“. Es handelt sich dabei auch um „individuelle Maschinen“, die „im Gegensatz zum unpersön102 103 104
Bublitz, In der Zerstreuung organisiert, S. 58 f. Link, Versuch über den Normalismus, S. 75–82. Jünger, Die Technik in der Zukunftsschlacht, S. 290.
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lichen Trommelfeuer der Schützengräben dem persönlichen Heldentum wieder große Aufgaben“ stellen.105 Die Technik wird damit als eine Möglichkeit begriffen, dass der Einzelne sich wieder einen ‚Namen‘ machen kann. Prominente Beispiele sind die Massenkulte um ‚Fliegerasse‘ wie Manfred von Richthofen (Erster Weltkrieg) oder U-Boot-Kommandanten wie Günther Prien (Zweiter Weltkrieg).106 Diese kulturelle Reindividualisierung nutzt systematisch die Möglichkeiten raumrevolutionärer Technologien aus. Die motorisierten Helden erstarren nicht mehr im technischen Raum des Krieges und verschwinden nicht in der dem Material ausgesetzten Masse. Vielmehr nutzen sie ihre technische Verstärkung, um die individuelle Tat wieder hervortreten zu lassen. Gleichzeitig erweist ihr Heldentum sich als immer schon eingebunden in das technisch-funktionale Gefüge der kriegsmobilisierten Gesellschaft, insbesondere ihrer militärischen Institutionen. Der sachlich-individualistische Held fällt nicht aus dem Funktionsgefüge der gesellschaftlichen Mobilisierung heraus, aber weil er sich mittels der Technologie einen Namen machen kann, sticht er hervor. Damit wird im kriegerischen Kontext sichtbar, was in der zivilgesellschaftlichen Massenkultur ein Star ist. Dementsprechend werden diese Helden auch massenkulturell aufbereitet.107 Diese massenkulturelle Normalisierungsstrategie des kriegsgesellschaftlichen Diskurses setzt ein Wissen um die kulturellen und gesellschaftlichen Funktionen von Massenmedien voraus. Carl Schmitt etwa sieht in neuen Medientechnologien ein wesentliches Mittel zur Erzeugung eines homogenen Meinungsraums: „Auf die neuen technischen Mittel, Film und Rundfunk, dagegen muss jeder Staat selbst die Hand legen. [. . .] Kein Staat kann es sich leisten, diese neuen technischen Mittel der Nachrichtenübermittlung, Massenbeeinflussung, Massensuggestion und Bildung einer ‚öffentlichen‘, genauer: kollektiven Meinung einem anderen zu überlassen.“108 105 Oswald Spengler, Jahre der Entscheidung. Deutschland und die weltgeschichtliche Entwicklung, München 1933, S. 39 f. 106 Stefanie Schüler-Springorum, Vom Fliegen und Töten. Militärische Männlichkeit in der deutschen Fliegerliteratur, 1914–1939, in: Karen Hagemann/Stefanie Schüler-Springorum (Hg.), Heimat – Front. Militär und Geschlechterverhältnisse im Zeitalter der Weltkriege, Frankfurt am Main 2002, S. 208–233; Hans Wagener, Günther Prien, der „Stier von Scapa Flow“. Selbststilisierung, Heldenkult und Legendenbildung um einen U-Boot-Kommandanten, in: Krieg und Literatur, Heft 3/4, 1997/1998, S. 651–672. 107 Peter Fritzsche, A Nation of Fliers. German Aviation and the Popular Imagination, Cambridge 1992, S. 74–82. 108 Carl Schmitt, Die Weiterentwicklung des totalen Staats in Deutschland [1933], in: Carl Schmitt, Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar-Genf-Versailles 1923–1939, Hamburg 1940, S. 185–190, hier S. 186.
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Auch in Bezug auf die technische Medialisierung der gesellschaftlichen Kommunikation zeigt sich also die auf innere Homogenität und am Modell der sich verteidigenden Gesellschaft ausgerichtete antipluralistische Auffassung. Die ‚Anderen‘, von denen hier die Rede ist, sind natürlich in erster Linie private Medienunternehmer. Schmitt weist daher auf politische Steuerungsmechanismen wie „intensive Zensur und Kontrolle“109 hin. Das aber wiederum besagt, dass nicht schlicht an eine Verstaatlichung der Medien und an von oben zu oktroyierende Programme und Inhalte gedacht wird, sondern vielmehr an eine ‚starke‘ Regulierung der kulturellen Normalisierung. Daher schließt die medial zu konstituierende ‚kollektive Meinung‘ die normalisierenden Machttechniken der Massenkultur keineswegs aus. Allerdings wird diese Normalisierung der Meinungen nicht allein dem laissez faire des Gesetzes von Angebot und Nachfrage überlassen, sondern steht unter wachsamer politischer Kontrolle. Dies lässt sich durch ein Beispiel illustrieren: Im Bereich der Massenkultur führt der NS-Staat ganz im Sinne Schmitts einen anhaltenden Krieg gegen die Groschenheftserien privater Verlage. Die Kontrollmechanismen reichen von den 1935 erlassenen Richtlinien der Reichsschriftkammer, über das Verbots des Vertriebs bestimmter Serien durch den Buchhandel 1938, der Papiergenehmigungspflicht 1939, bis zur Untersagung englischnamiger Serienhelden nach Kriegsausbruch. Als unerwünscht gelten nach Vorgabe des Propagandaministeriums ganz generell: „Alle sentimentalen Liebes- und Gesellschaftsgeschichten, Backfischgeschichten, Indianererzählungen, Militärhumoresken, Detektiv- und Kriminalserien.“110
Also alles Romantische. Aber auch Zukunftsromane fallen unter das Verdikt. Durch die Vorgaben der Reichsschriftkammer werden sie nach und nach in das Weltbild des Regimes eingepasst, schließlich ganz verboten.111 Aber trotz dieser restriktiven und starren Normierungen – im Sinne Jürgen Links sind sie ‚protonormalistisch‘ – bleiben viele Reihen weiter und in Konkurrenz zu den Serien des parteieigenen Steininger-Verlags auf dem Markt. Damit entsteht faktisch ein massenkulturelles Normalisierungsfeld. Das Verhältnis des NS-Staates zu unabhängigen marktorientierten Kulturprodukten bleibt zwar gespannt, aber der massenkulturelle Raum wird nicht einfach beseitigt. Vielmehr entsteht ein marktförmig organisierter ästhetischer Raum, der durch restriktive Kontrolle und Zensur nachreguliert 109
Ebd. Zit. n. Heinz J. Galle, Volksbücher und Heftromane. Ein Streifzug durch 100 Jahre Unterhaltungsliteratur, Passau 1998, S. 159. 111 Dies lässt sich etwa am Beispiel der utopischen Heftserie Sun Koh nachweisen. Heinz J. Galle, Sun Koh. Der Erbe von Atlantis und andere deutsche Supermänner, Zürich 2003, S. 217–236. 110
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(‚gleichgeschaltet‘) wird. Das ändert allerdings wenig am produktiven Rezeptionshandeln der Konsumenten bzw. Leser, das durch Kauf nach Interesse, Unterhaltung und Kommunikation mit anderen über das Gelesene bestimmt wird.112 Auch unter den Bedingungen einer zunehmenden ‚Gleichschaltung‘ konstituiert sich noch ein massenkultureller Raum. Er dient den ‚sachlichen‘ Heldenepen als Resonanzboden, die im Kontext der kriegsgesellschaftlichen ‚totalen Mobilmachung‘ stehen. Im kriegsgesellschaftlichen Diskurs lassen sich also zentrale Momente moderner Gesellschaftsdiskurse nachweisen: Funktionsbegriff des Sozialen, Individualisierung, massenkulturelle Normalisierung. Alle diese begrifflichen Elemente reflektieren den ‚Verlust der Mitte‘, der allgemeinen ‚großen Form‘, bzw. des ‚Kollektivbewusstseins‘. Nur wird diese moderne, funktional-relationale Gesellschaftsvorstellung ganz in den Zusammenhang des ‚totalen Krieges‘ eingebettet. Der sachliche Heroismus stilisiert und ästhetisiert dabei die eigenständige und selbstverantwortliche Tätigkeit des soldatischen ‚Arbeiters‘. Darüber hinaus bestehen aber weitere kulturelle Individualisierungschancen. So ermöglicht die ‚individuelle Maschine‘ wieder namentliches Heldentum. Diese ‚Namen‘ fungieren dabei als allgemeine normative Leitfiguren im Individualisierungsprozess. Der Star der Massenkultur wie der Held der Kampfmaschine fungieren letztlich als Leuchttürme, an denen gesellschaftliche Individualisierung kulturell gerinnt. Der kriegsgesellschaftliche Diskurs orientiert sich damit im Unterschied zur politischen Romantik definitiv an einer militanten Gesellschaftssemantik. Zwar sind der zivilgesellschaftlichen Massen- und Konsumkultur kriegerische Semantiken und Heldenmodelle durchaus nicht fremd, diese sind jedoch nicht nur in ein ausgedehntes Feld von insgesamt friedlichen Orientierungsmöglichkeiten eingestellt, sondern sie können auch als negative Bezugspunkte fungieren. Außerdem sind die massenkulturellen Kriegerheroen in der Regel Helden im Dienst von Frieden, Freiheit und Menschenrechten. Damit stehen Zivilgesellschaft und Kriegsgesellschaft in entgegengesetzten Orientierungsrahmen der Moderne.113 Der Anmessung von Kriegführung und Gesellschaft an die neuen Kriegsbedingungen ist mit der Einsetzung eines neuen soldatischen Subjekts noch nicht Genüge getan. Vielmehr gilt es darüber hinaus, die Notwendigkeiten und Möglichkeiten des technisierten Krieges zu erkennen und die Führung zu professionalisieren. 112
Zum Begriff des produktiven Rezeptionshandelns im Kontext der Massenkultur: Dierk Spreen, Kleine Massenmedien. Zum Verhältnis von produktiver Rezeption und massenkultureller Vergesellschaftung am Beispiel der Perry-Rhodan-Heftserie, in: Klaus Bollhöfener u. a. (Hg.), Spurensuche im All. Perry Rhodan Studies, Berlin 2003, S. 86–104. 113 Berghahn, Europa im Zeitalter der Weltkriege, S. 12 f.
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IV. Technisierung und Professionalisierung In der Zwischenkriegszeit deuten in Deutschland ein militärischer Expertendiskurs und – öffentlichkeitswirksam – der kriegsgesellschaftliche Diskurs die Potenzen neuer Raumtechnologien in dem Sinne aus, dass Angriff und Bewegung wieder möglich erscheinen und damit ein erneuter Waffengang denkbar wird. Diese militaristisch-bellizistische Technikhermeneutik knüpft dabei an Kriegserfahrungen an und macht die Materialität des Technischen zum Gegenstand ihrer Diskussionen, Hoffnungen und strategischen Entwürfe. Vormals irritierende und häufig unverstandene Wirkungen von (Waffen-)Technologie werden problematisiert. Es wird versucht, sie in die symbolische Ordnung zu integrieren und sie für die eigenen Absichten dienstbar zu machen. Diese diskursiven Verortungen einer ‚entorteten‘ Technik finden in der Materialität des Technischen ihre Referenz, das heißt, es handelt sich um vom Technischen freigegebene Möglichkeiten der Interpretation. Bereits Jüngers Kriegsdarstellung fordert durch viele Bemerkungen zur Modernisierung des Heerwesens auf. Insbesondere ist das von George Soldan verfasste und bereits mehrmals zitierte Werk Der Mensch und die Schlacht der Zukunft (1925) als Manifest dieser Modernisierung zu verstehen. Dieses bislang wenig untersuchte Buch erschien im Traditionsverlag Gerhard Stalling, der in den zwanziger Jahren eine bedeutende Rolle in der konservativen Literaturszene einnahm.114 Sein Autor war vor dem Krieg in der kriegsgeschichtlichen Abteilung des Großen Generalstabs tätig gewesen. Im Krieg wurde er bald Bataillonskommandeur und war als Frontoffizier an der Westfront. Das Ende des Krieges erlebte er als Leiter der Abteilung ‚vaterländischer Unterricht‘. Dort war er mit Flugblattkampagnen gegen revolutionäre Stimmungen in der Truppe und in der Bevölkerung befasst. Von 1919 bis 1929 leitete der Major das Referat G des Reichsarchivs, das mit der Abfassung kriegsgeschichtlicher Schriftenreihen befasst war. So betreute er die Buchreihen Schlachten des Weltkrieges und Erinnerungsblätter deutscher Regimenter. Anfang der dreißiger Jahre übernahm er die Schriftleitung der Zeitschrift Deutsche Wehr. Soldan war also ein sowohl mit wissenschaftlichen Methoden und Diskursen vertrauter als auch fronterfahrener Offizier. Er nutzt diese Kompetenzen, um in seinem Buch einen ‚erfahrungswissenschaftlich‘ fundierten und zukunftsorientierten Paradigmenwechsel in der Sichtweise des Krieges anzuregen. Dass Soldan sich der Bedeutung von Diskursen in der Öffentlichkeit sehr bewusst war, belegt eine von ihm verfasste Denkschrift zur „deutschen Geschichtsschreibung des Weltkrieges als nationale Aufgabe“.115 Daher darf davon ausgegangen 114
Vollmer, Imaginäre Schlachtfelder; S. 82 f.
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werden, dass sein Buch über den zukünftigen Krieg ein Diskursscharnier zwischen dem öffentlichen Kriegsdiskurs und dem Expertendiskurs innerhalb der Reichswehr darstellt.116 Als neues, zugleich aber zentrales Merkmal des Ersten Weltkrieges und damit auch aller zukünftigen Kriege bestimmt Soldan die Bedeutung der Technik bzw. ‚des Materials‘. Das Buch diskutiert hauptsächlich das Verhältnis von Mensch und Technik im modernen Krieg und stellt fest, dass Moral und Begeisterung nichts gegen die Wirkung des Materials vermögen. Die Bewegung durch ‚Moral‘ mit Energie versorgter Massenheere ist „im Zeitalter der Materialwirkung leicht zu stoppen.“117 Der offensive Bewegungskrieg bleibt früher oder später immer in einer neuen „Materialwand“ stecken. Dagegen vermischen sich in der neuen Form des „Stellungskampfes“ Angriff und Verteidigung; Offensiv- und Defensivakte wechseln einander ständig ab.118 Was die Bewegung im taktischen Raum angeht, wird von diesem Diskurs die „starre Linientaktik“ kritisiert. An dieser habe man viel zu lange festgehalten. Bewegliche Verteidigung und „elastische Zonentaktik“ treten an ihre Stelle.119 Weiterhin verbindet Soldans Argumentation sich mit einer auf den Krieg bezogenen Kritik der räumlichen Massierung von Menschen. Mit der Masse gegen das Material anzutreten führt zu „Menschenvergeudung“, ermöglicht Massenpanik und resultiert in der „seelischen Niederringung“ des Einzelnen. Hinzu kommt, dass unter der Materialwirkung die Kommunikation zwischen Offizier und Mannschaften unterbrochen wird. Der Offizier führt keine Massen, sondern ist selbst nur Kämpfer, „der vielleicht auf die nächsten Leute in seiner Umgebung Einfluss hat.“120 Das alles sind Negativposten, die den Kampf behindern. Daraus folgt: „Die Beweglichkeit von Millionenheeren [. . .] erstickt [. . .] in der Materialschlacht.“121 „Die Menschenmasse ist in der Materialschlacht nichts mehr, sie ist sogar ein Übel.“122 Darüber hinaus thematisiert Soldan die Totalisierung des Krieges. Der moderne Krieg tendiert dazu, zu einem psychischen und wirtschaftlichen Krieg auszuarten. Am Ende entscheiden Produktionskapazitäten, Ressourcen an Menschenmaterial und die Möglichkeiten, das feindliche Volk mittels ei115 116 117 118 119 120 121 122
In Auszügen wiedergegeben in: Ulrich/Ziemann, Krieg im Frieden, S. 65–68. Pöhlmann, Von Versailles nach Armageddon, S. 343. Soldan, Schlacht der Zukunft, S. 44. Ebd., S. 43. Jünger, In Stahlgewittern, S. 81. Soldan, Schlacht der Zukunft, S. 39. Ebd., S. 78. Ebd., S. 37.
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nes „psychischen Vergiftungskrieges“123 zu demoralisieren. Die militärische Entscheidung wird demgegenüber bedeutungslos. „Modern ausgestattete Heere können einander entscheidend nicht mehr schlagen. Menschen und Moralverlust gleicht Materialwirkung selbst in kritischer Lage aus.“124 Dieser Analyse der „Wende in der Kriegskunst“ folgen eine Reihe von Vorschlägen, wie die militärische Entscheidung wieder möglich gemacht werden kann. Denn auf dem Feld des lange andauernden, wirtschaftlichen Materialkrieges stehen Deutschlands Chancen auch zukünftig schlecht, einen Krieg zu gewinnen. Daher muss diese Entscheidung so schnell erzwungen werden, „dass der Wirtschaftskrieg und sein Helfershelfer, der psychische Krieg, zur Entwicklung nicht mehr Zeit gewinnen, bezw. sich erübrigen.“125 Um die militärische Entscheidung wieder zu ermöglichen, entwickelt Soldan im Anschluss an andere Autoren einen mehrgliedrigen Entwicklungsplan: Er setzt auf technisch-asymmetrische Kriegführung, auf die Fähigkeit zu operativer Komplexität durch eine Verkleinerung und Professionalisierung des Heeres und eine Flexibilisierung von Kommunikations-, Planungsund Entscheidungsprozessen und auf eine Kombination von gesellschaftlicher Produktions- und Destruktionskraft, die in den Dienst der schnellen militärischen Entscheidung gestellt wird. Die zeitgenössische „Phantasie einer Jules Vernes-Zukunftsschlacht“, die von großangelegten Gas- und Bombenangriffen auf die Bevölkerung aus der Luft ausgeht, findet Soldan übertrieben. Anders als Douhet betrachtet er die „Vernichtungsgeschwader“ selbst wiederum als leichte Ziele, die daher vermutlich einfach zu stoppen seien. Außerdem „ist das nicht mehr Krieg“, sondern „eine Vernichtungspest, ein gegenseitiges Ausrotten von Völkern, ein Rückschritt höchster Kultur in die Zeiten der Völkerwanderung.“126 Dennoch sieht Soldan gerade in neuen Waffentechnologien die Möglichkeit, militärische Entscheidungskraft zurückzugewinnen. Die Kriegstechnik zeige sich „auf allen Gebieten im Werden“. „Vielfach, wie beim Gase, bei den Tanks, beim Flugzeug, beim Ausbau des Präzisionsschießens der Artillerie stehen wir erst am Anfang der Entwicklung.“127 Diese Entwicklung gibt die Möglichkeit einer technisch-asymmetrischen Kriegführung an die Hand, denn nur, „wenn ein Land überraschend und einseitig über ein neuartig und radikal wirksames Kriegsmittel“128 verfügt, lasse sich die katastrophale Ma123
Ebd., S. 93. Ebd., S. 92. 125 Ebd., S. 95 f. 126 Ebd., S. 74. Zur zeitgenössischen Imagination des Gaskrieges vgl. Erhard Schütz, Wahn-Europa. Mediale Gas-Luftkrieg-Szenarien der Zwischenkriegszeit, in: Heinz-Peter Preußer (Hg.), Krieg in den Medien, Amsterdam 2005, S. 127–148. 127 Soldan, Schlacht der Zukunft, S. 97. 124
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terialwirkung auf den Menschen vermeiden. Damit werden Wissenschaft und Technikentwicklung zu einem strategischen Faktor. Dieser Blick auf Technologie setzt auf das Prinzip der Asymmetrie aus Stärke. Dabei wird technologische Überlegenheit insbesondere im Funkraum, im Luftraum und im Weltraum – also in den weitestgehend entterritorialisierten Dimensionen der Raumrevolution – dazu genutzt, die Handlungsfähigkeit gegnerischer bewaffneter Kräfte weitestgehend auszuschalten, bevor man ihnen am Boden entgegentritt.129 Soldans Überlegungen zeigen, dass der Modernisierungsdiskurs der Reichswehr die durch die gesteigerte Bedeutung von Raumtechnologien eröffnete Möglichkeit zur offensiven Asymmetrie sehr genau wahrnimmt. In professionellen Wehrzeitschriften werden sogar Science Fiction-Technologien kritisch diskutiert.130 So wird etwa in der Rubrik „Heer und Technik“ der Zeitschrift Deutsche Wehr die in diversen Zukunftsromanen entwickelte Idee so genannter ‚Todesstrahlen‘ geprüft. Unter Todesstrahlen wird „eine an keine Leitbahn gebundene fernwirksame, lenkbare Energie“ verstanden, „die imstande ist, das Objekt – sei es leblos oder lebend –, auf das gewissermaßen gezielt wird, zu zerstören.“131 Realistisch wird nach eingehender Diskussion der Eigenschaften verschiedener Bereiche des elektromagnetischen Spektrums darauf verwiesen, dass „Todesstrahlen als Kampfmittel – jedenfalls heute noch – im Bereich der Utopien liegen, mit denen zwar ein Romandichter arbeiten kann wie mit allen möglichen Erzeugnissen seiner Phantasie, die aber dem nüchtern denkenden Soldaten noch nichts bedeuten können.“132 Unter der Bedingung einer faktischen Asymmetrie aus Stärke impliziert militärische Hochtechnologie tatsächlich die Wiedererlangung der Bewegungsmöglichkeit. Allerdings ist es wahrscheinlich, dass ein ebenfalls staatlich organisierter und über moderne Wissenschaft und Technologie verfügender Gegner die technologische Entwicklung mitmacht oder nachholt. Deswegen setzen die militärischen Zukunftsszenarien auf einen kurzen Krieg – eben um die Entwicklung zum industriellen „Wirtschaftskrieg“ zu verhindern, die für den Ersten Weltkrieg als charakteristisch angesehen wird.133 Im Kontext dieser Problematisierung der Effekte neuer Technologien und ihrer Raumwirkungen stehen auch Verschmelzungsphantasien. Wenn 128
Ebd. Herfried Münkler, Der neue Golfkrieg, Reinbek 2003, S. 95 f. 130 Pöhlmann, Von Versailles nach Armageddon, S. 341 f. 131 Sft., Todesstrahlen, in: Deutsche Wehr, Nr. 12 vom 26.3.1930, S. 274 f., hier S. 274. 132 Ebd., S. 275. 133 Soldan, Schlacht der Zukunft, S. 92 f. 129
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Mensch und Maschine verschmelzen, wenn der Körper zur „organischen Konstruktion“134 wird, dann kann er sich besser gegen die Materialwirkung schützen. Daher prophezeit Soldan: „der Kämpfer wächst mit [. . .] der Materialmasse zusammen“.135 Diese Phantasien, welche die Verbindung von Mensch und Technik zu einem Organismus zum Inhalt haben, erfüllen allerdings eine weitere, über die realistisch-strategische Einschätzung hinausreichende diskursive Funktion. Denn mit dem gestählten Leib scheinen die strukturellen Ursachen des Stellungskrieges prinzipiell durchbrochen, weil das Gegenüber von übermächtigem Material und schwachem Menschen aufgehoben erscheint. Die Figur des gestählten Kämpfers bzw. der organischen Konstruktion soll die Dialektik der technischen Raumrevolution tendenziell außer Kraft setzen, um im Namen neuer Technologien die Möglichkeit der ‚militärischen Entscheidung‘ zu rekonstituieren. An der Westfront im Ersten Weltkrieg manifestierte sich die bewegungshemmende Kraft neuer Raumwaffen, wobei dieser Wirkung allerdings von beiden Seiten operativ in die Hände gespielt wurde. Die Argumentation des Kriegsdiskurses der Zwischenkriegszeit spielt in Bezug auf zukünftige Kriegführung daher zwei Argumente aus. Zum einen wird auf die bewegungsermöglichenden Potenzen neuer Technologien und auf die Chancen einer technisch-asymmetrischen Kriegführung hingewiesen. Zum anderen wird der operative Fehler kritisiert, auf die massive Materialwirkung mit der Massierung von Körpern zu reagieren. Als der neuen Technologie angemessene Alternative wird das Konzept eines professionellen, auf technischem und psychologischen Expertenwissen beruhenden ‚Qualitätsheers‘ entworfen, das zu flexiblen Kommunikations-, Planungs- und Entscheidungsprozessen in der Lage ist, mittels dieser Fähigkeiten operative Komplexität managen kann und daher hemmende Materialwirkungen unterläuft. Die Ausarbeitung der Fähigkeit zu operativer Komplexität ist daher im Wesentlichen eine Reaktion auf die Erfahrung der zerstörerischen und bewegungshemmenden Wirkung neuer Raumwaffen auf massierte Kräfte und nicht lediglich ein Fortschreiben bereits bestehender taktischer Konzepte, wie Stephen Biddle meint.136 Andernfalls hätte es für die heftige Nachkriegskritik an der militärischen Organisation und an der politischen Romantik kaum einen Grund gegeben. Da die Massenheere der Entfaltung der Materialwirkung nichts entgegenzusetzen haben, wird von Soldan der Aufbau eines vergleichsweise kleinen „aristokratischen Qualitätsheeres“137 projektiert. Dieses ‚Qualitätsheer‘ be134 135 136 137
Jünger, Der Arbeiter, S. 177. Soldan, Schlacht der Zukunft, S. 98. Biddle, The Past as Prologue, S. 46. Soldan, Schlacht der Zukunft, S. 86.
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schränkt sich auf „Freiwillige mit guter Veranlagung“138; sie müssen „Männer im edlen und starken Sinn des Wortes sein“.139 Vor allem bedarf dieses Heer vieler technischer Spezialisten. Auch das Verhältnis zwischen Mannschaft und Offizier muss sich verändern. Es sollte nicht als Herr-Knecht-, sondern als Lehrer-Schüler-Verhältnis aufgefasst werden. Kameradschaft, Waffenbrüderschaft und Vertrauen ersetzen die friderizianische Disziplin. Da Drill keine „Erziehung der Leute zur Selbständigkeit“140 leisten kann, ist die psychologische Ausbildung der Offiziere wichtig. Daher wird empfohlen, „das Führerkorps, vornehmlich aber den Führerersatz, lehrmäßig mit dem psychologischen Gebiete vertraut zu machen. Es wird hierbei in erster Linie an einen [. . .] militärpsychologischen Unterricht auf den Waffenschulen und den Bildungskursen der verschiedensten Art gedacht.“141 Die Idee, die hier entfaltet wird, ist die eines kleinen, aber technisch und psychologisch professionalisierten Offiziersheeres. Die Aufarbeitung der Massenund Individualpsychologie – einschließlich der Freudschen Psychoanalyse142 – nach dem Weltkrieg arbeitet auf eine Professionalisierung der Führung hin. Unter Professionalisierung eines Berufs ist soziologisch der systematische Bezug auf feldspezifisches, technisch-funktionales und wissenschaftlich generiertes Wissen in der Aus- und Weiterbildung von ‚Experten‘ zu verstehen. Für die Führungsausbildung in modernen Armeen heißt das, dass traditionelle militärische Werte und Normen in den Hintergrund treten.143 Professionalisierung zielt dabei unmittelbar auf die Erhöhung der Fähigkeit zu operativer Komplexität.144 Der moderne Krieg wird als kontingentes, technisch-funktionales und alle Kräfte in Bewegung versetzendes Gefüge wahrgenommen, dem starre Bürokratie und Traditionen der Militärkultur nicht mehr entsprechen. Die Anpassung an diesen Krieg erfordert von der militärischen Organisation daher die Flexibilisierung von Kommunikations-, Planungs- und Entscheidungsprozessen. Deshalb werden die „Folgen des Papierkrieges“145, das heißt der Bürokratisierung kritisiert: „Die Form erstickte den Geist.“146 Anciennitätsrücksichten werden als überkommene kulturelle Formen angeprangert, weil es 138
Ebd., S. 81. Ebd., S. 82. 140 Ebd., S. 80. 141 Kurt Hesse, Der Feldherr Psychologos. Ein Suchen nach dem Führer der deutschen Zukunft, Berlin 1922, S. 210. 142 Ebd., S. 189 f. 143 Volker Heins/Jens Warburg, Kampf der Zivilisten. Militär und Gesellschaft im Wandel, Bielefeld 2004, S. 64. 144 Biddle, The Past as Prologue, S. 22. 145 Jünger, In Stahlgewittern, S. 229. 146 Ebd., S. 223. 139
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unsinnig ist, in der „Industrieschlacht“ die Befehlsgewalt formal nach Dienstalter und nicht nach Erfahrung, Vertrautheit mit Gelände, Situation und Mannschaft zu vergeben: „Es war angenehmer, gegen das Fort Douaumont Sturm zu laufen, als gegen dieses uralte Erbübel. Den friderizianischen Geist in hohen Ehren, aber Perücken, Zöpfe und Rangordnung auf Kammer zu den Donnerbüchsen von 1806, wenn es noch einmal losgehen sollte.“147
Diese neue Beweglichkeit im Geiste ist paradoxerweise eine Folge des durch die übermächtige Materialwirkung erzwungenen Stellungskrieges: „Die Materialwirkung zwang zur Annahme ihrer Kampfform, dem Stellungskampf.“ Dabei „will [. . .] die Führung es nicht wahr haben, dass ihre alte Führungsgewissheit zertrümmert wird.“148
Hinter Professionalisierung und Flexibilisierung steht ein Paradigmenwechsel in der Herrschaftsausübung. Der neue Herrschaftstypus beruht nicht einfach auf dem hierarchischen, starren und quasi-automatischen Verhältnis von Befehl und Gehorsam, sondern orientiert sich an dem Modell von Führung und Initiative. Der Soldat kommt als ‚Subjekt‘ mit eigenem Willen, mit Motivationen und mit Ängsten in den Blick. Die Thematisierung soldatischer Subjektivität wendet sich den Möglichkeiten der Steuerung und Kontrolle (im Sinne des englischen control) in zweifacher Hinsicht zu. Einerseits werden Probleme des Kontrollverlusts untersucht, etwa das Phänomen der Massenpanik. Andererseits geht es um ein psychologisch untermauertes Führungsmodell, das bei den Geführten Selbständigkeit, Eigeninitiative und Kreativität freisetzt. Führung wird nicht mehr als starres Hierarchieschema vorgestellt, sondern als in das beschleunigte und hochtechnisierte Kampfgeschehen eingebundene Steuerung. Bis hinunter zur Ebene des einfachen Soldaten sollen Entscheidungsspielräume geöffnet werden. Wenn dabei die Kontrolle nicht verloren gehen soll, muss die Führung zugleich viel unmittelbarer an laufende Prozesse herangeführt werden, als das zuvor der Fall war. Daher bewertet der Modernisierungsdiskurs die im Ersten Weltkrieg zu Tage getretene Frontdistanz zwischen Stab und Kämpfern sehr negativ. Als Vorbild erscheint dagegen der unmittelbar in die Aktualität der Prozesse eingebundene Frontoffizier. Die in diesem Idealbild zu Tage tretende Vorstellung der stärkeren Heranführung höherer Führungsebenen an das Kampfgeschehen setzt einen stärkeren, kontinuierlichen und vor allem reziproken Informationsfluss voraus. Dieses Führungsmodell impliziert daher wiederum eine stärkere Flexibilität von Planungsprozessen, eine größere Kommunikationsdichte und feedbackorientierte Informationskanäle. 147 148
Ebd., S. 127. Soldan, Schlacht der Zukunft, S. 42.
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Im Rahmen der Diskussion neuer technologischer Möglichkeiten und der Projektierung gesteigerter operativer Komplexität, wird auch das Verhältnis zwischen Armee und Gesellschaft thematisiert. Die Problematisierung dieses Verhältnisses orientiert sich an der im Ersten Weltkrieg zu Tage getretenen Einbeziehung der Organisation der gesellschaftlichen Arbeit in die Kriegführung. Vorgeschlagen wird eine Gliederung der Armee in Front-, Etappen-, und Heimatheer. Dies soll im Ernstfall ein schnelles Einbinden der ausdifferenzierten und spezialisierten gesellschaftlichen Funktionen in die Notwendigkeiten der Kriegführung ermöglichen: „Wer Volkswirtschaftler ist, wird für die Ernährungsfragen des Landes gebraucht, wer Eisendreher ist, in den Munitionsfabriken usw. Ob diese Offiziere und Mannschaften hervorragend geeignete Frontkämpfer sind, danach wird nicht gefragt, kann auch nicht gefragt werden. Der überraschend gekommene Materialkrieg fordert auch in der Heimat ein seinen Forderungen angepasstes Berufsheer.“149
Es geht hierbei also nicht um eine allgemeine Mobilmachung und Aufstellung eines ‚Millionenheeres‘, sondern um die rasche und effiziente Einbindung der gesellschaftlichen Arbeit in den Kriegsprozess. Diese soll nicht einem reinen Wirtschaftskrieg dienen, sondern die militärische Entscheidung unterstützen. Deutlich wird an diesen für den kriegsgesellschaftlichen Diskurs zentralen Überlegungen, dass auf die Möglichkeit zu einer technisch-asymmetrischen Kriegführung, auf die Eigenschaften neuer Raumwaffen und auf die Fähigkeit zu operativer Komplexität spekuliert wird. Die schnelle militärische Entscheidung wird gesucht; die Wirtschaft hat in ihrem Dienste zu stehen (und nicht umgekehrt). Die bisherige Analyse des kriegsgesellschaftlichen Diskurses zeigt, wie dieser Diskurs, ausgehend von erfahrungsorientierten Kriegsdarstellungen darauf hin arbeitet, einen in nicht allzu ferner Zukunft zu führenden Krieg mit einer plausiblen Chance auf den schnellen Sieg denkbar zu machen. Dabei wird in sachtechnischer wie machttechnischer Hinsicht auf Modernisierung gesetzt, aber ein Bekenntnis zur Zivilgesellschaft ‚offensiv‘ vermieden, weil die Erhebung des Krieges zur Norm des Politischen dies ausschließt. Hinzu kommt, dass die Kritik der politischen Romantik innerhalb des kriegsgesellschaftlichen Diskurses die Möglichkeit annulliert, zur normativ-friedensorientierten Gesellschaftsvorstellung und zum republikanischen Staatsverständnis ein positives Verhältnis zu entwickeln. Vielmehr tendiert der Diskurs in Richtung auf den Faschismus.150 149 150
Ebd., S. 85. Ebd., S. 88; 104–108.
V. Totale Mobilmachung, militante Semantik des Sozialen und totaler Staat 201
Der kriegsgesellschaftliche Diskurs geht politisch von der Notwendigkeit eines zukünftigen großen Krieges aus. Daher empfiehlt er, die ganze Gesellschaft entsprechend umzuformen.
V. Totale Mobilmachung, militante Semantik des Sozialen und totaler Staat Der kriegsgesellschaftliche Diskurs nimmt die moderne Gesellschaft in einer technisch-kriegerischen Form wahr. Dabei wird dieses militante Modell von Modernität zugleich hypostasiert. Zeigen lässt sich dies anhand der als Gesellschaftsanalyse verkleideten Aufforderung zur ‚totalen Mobilmachung‘ für den zukünftigen totalen Krieg. Die Aufforderung zur totalen Mobilmachung geht einher mit einer militanten Sozialsemantik und einem ‚starken‘ politischen Regulationsmodell. Die Vorstellung der ‚totalen Mobilmachung‘ meint so ziemlich das Gleiche wie der von Durkheim entwickelte Begriff der ‚organischen Solidarität‘. Das arbeitsteilige Funktionsgefüge stellt sich Durkheim als ein idealerweise aufeinander abgestimmtes System verschiedener ‚Organe‘ vor. In diesem System erfüllt der Einzelne seine Aufgabe und erweist sich dabei als von der gesamten Gesellschaft abhängig. Und weil die Gesellschaftsmitglieder im System der Arbeitsteilung voneinander abhängig sind, lernen sie, „sich als Teil eines Ganzen zu betrachten, als Organ eines Organismus.“151 Die Gesellschaft gewinnt so „ein tiefes Gefühl ihrer selbst und ihrer Einheit.“152 Durkheim verbindet diese Beschreibung mit der Prognose eines zunehmenden Individualismus, der aus der funktionalen Ausdifferenzierung und Spezialisierung der Arbeit resultiert. Das erzeugt den Effekt, dass die Stärke dieses moralischen sozialen Bandes von der Entfaltung des Individuums abhängt: „Die Moral arbeitsteiliger Gesellschaften entwickelt sich [. . .] in dem Maß, indem sich die individuelle Persönlichkeit verstärkt.“153 Wie die Durkheimsche Modernisierungsperspektive, erstrebt auch die Idee der totalen Mobilmachung die Einbindung der individuellen Arbeit in einen möglichst reibungslosen Funktionsprozess. Nichts soll der „vollen Entfesselung des Lebens [. . .] in seiner unbarmherzigen Disziplin, mit seinem rauchenden und glühenden Revieren, mit der Physik und Metaphysik seines Verkehrs, seinen Motoren und Millionenstädten“ entkommen. In „diesem rasenden Prozesse“ darf es nichts geben, „das nicht Arbeit ist“.154 Dabei wird 151 152 153 154
Durkheim, Soziale Arbeitsteilung, S. 285. Ebd., S. 228. Ebd., S. 286. Jünger, Totale Mobilmachung, S. 131.
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festgestellt, dass dieser Prozess auf der sozialen Egalisierung der Chancen beruht. Wenn es gilt, die Fähigkeiten eines jeden optimal zu nutzen und seinen Einsatz zu motivieren, dann kann auf traditionelle Anciennitätsprinzipien keine Rücksicht mehr genommen werden.155 Zugleich wird die mit der funktionalen Ausdifferenzierung verbundene Individualisierung erkannt. Denn die Entscheidung, auf dem Posten zu bleiben, stellt eine subjektiv motivierte Entscheidung dar. In der subjektiven Anerkennung der ‚Notwendigkeit‘ der Funktion verbirgt sich also zugleich die Anerkennung des Ganzen und ein Bekenntnis zur total mobilisierten Gesellschaft. Allerdings gelingt es Jünger, das Konzept der gesellschaftlichen Mobilisierung aus dem zivilgesellschaftlichen Kontext herauszutrennen. Eine solche Heraustrennung ist notwendig, wenn die Konstitution der ‚Gesellschaft‘ in einer ursprünglichen Freund-Feind-Stellung, das heißt im Krieg gesucht wird. Die Orientierung auf das zivilgesellschaftliche Modell der Moderne, hätte dagegen notwendig die Anerkennung der außenpolitischen Friedensnorm, der Republik als Modell des Politischen und der Völkergemeinschaft der zivilisierten Staaten zur Folge. Diese Heraustrennung wird durch den Rückgriff auf ein spezifisches ‚Wesen‘ der Gesellschaft in Deutschland gerechtfertigt. In seiner Analyse der ‚totalen Mobilmachung‘ während des Weltkrieges in Deutschland argumentiert Jünger zunächst, dass die Mobilmachung nur halbherzig vollzogen worden sei, weil die Liberalen, die Arbeiter, überhaupt alle Anhänger des westlichen Zivilisationsmodells durch einen „inneren Zwiespalt“ am totalen Einsatz gehindert worden seien. Schließlich hätten sie gegen ihre eigenen Ideale, die in den westlichen Nationen Frankreich, England und USA verkörpert sind, antreten müssen. Dass die Sozialdemokratie überhaupt bereit war, sich „in den Rahmen des Aufmarsches einzuordnen“, erklärt Jünger dadurch, dass sie „ihrer internationalen Dogmatik zum Trotz dennoch aus deutschen Arbeitern, also aus einem Stoffe bestand, der Beziehung zum Elementaren besaß und daher auch heroisch bewegt werden konnte.“156 Aufgrund dieses ‚inneren Zwiespalts‘ der Liberalen und Sozialdemokraten habe die Mobilmachung, sich nur „die technischen Fähigkeiten eines Menschen unterstellt, ohne jedoch in den Kern seines Glaubens eindringen zu können.“157 Fortschritt und Zivilisation gelten in dieser Argumentation als rein ‚oberflächliche‘ Modi gesellschaftlichen Zusammenlebens. Die „innerste Urkraft des Volkes“158 bleibt demnach von ‚Zivilisation‘ und dem ‚Fortschritt‘ un155 Stefan Breuer, Grundpositionen der deutschen Rechten (1871–1945), Tübingen 1999, S. 114. 156 Jünger, Totale Mobilmachung, S. 143 f. 157 Ebd., S. 145.
V. Totale Mobilmachung, militante Semantik des Sozialen und totaler Staat 203
berührt. Diese sprechen gegenüber dem Volk eine „fremde Sprache“. Dagegen „gehört die deutsche Sprache den Ursprachen an, und als Ursprache flößt sie der zivilisatorischen Sphäre, der Welt der Gesittung, ein unüberwindliches Misstrauen ein.“159 Als Beleg für dieses ‚Elementare‘ und für diese ‚Ursprache‘ verweist Jünger auf die skeptische Haltung der ehemaligen Feinde gegenüber der Weimarer Republik: Denn „unsere zivilisatorischen Beteuerungen“ würden nur als „eine oberflächliche Maske der Bosheit, als Maske der Barbarei“ erachtet. Dies sei der Grund „aus dem man dem Lande, das nach einer solchen Niederlage den merkwürdigen Ruhm für sich in Anspruch nahm, die ‚freieste Verfassung der Welt‘ zu besitzen, jenes Maß an Gleichberechtigung versagte, das für jeden Kongoneger selbstverständlich war. Und, Brüder, wenn wir diese Welt und das, was sie bewegt, im Grunde erkennen, sollten wir nicht stolz darauf sein, von ihr als eine ihrer höchsten Gefahren gewittert zu sein?“160
Zwar brachte der Versailler Vertrag tatsächlich „keinen einheitlichen Plan für eine neue europäische Ordnung hervor“ und in den westlichen Demokratien lehnte die öffentliche Meinung aufgrund kriegsbedingter Ressentiments „Deutschland als gleichberechtigten Partner bei Friedensverhandlungen ab“161, aber als Jünger diese Diagnose niederschreibt, ist längst eine deutliche Tendenz zur Integration der Weimarer Republik in die Völkergemeinschaft sichtbar geworden. Durch einen Diskurs der nationalen Selbststilisierung als allgemeiner Feind der Zivilisation sucht Jünger die Vergemeinschaftung der deutschen Gesellschaft voranzutreiben. Um es in Schmitts Kategorien auszudrücken – die Bestimmung Deutschlands als totaler Feind der Zivilisation im Weltkrieg wird zum Grund der eigenen kollektiven Identität erklärt. An dieser Feindbestimmung, so Jünger, sei etwas dran. Sie deute auf „die Schranke, die uns von Europa trennt“162; sie zeige ein „geheimes Deutschland“163, welches den oberflächlichen Mächten von Zivilisation und Fortschritt nicht erlegen sei. Und deshalb führe der Krieg zum „Gewinn eines tieferen Deutschlands“: „In den Tiefen des Kraters besitzt der Krieg einen Sinn, den keine Rechenkunst zu zwingen vermag. Diesen erahnte der Jubel der Freiwilligen, in dem die Stimme des deutschen Dämons gewaltig zum Ausbruch kam, und in dem sich der 158 159 160 161 162 163
Ebd., S. 140. Ebd., S. 147. Ebd., S. 148. Howard, Erfindung des Friedens, S. 68 f. Jünger, Totale Mobilmachung, S. 152. Ebd., S. 151.
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Überdruss an den alten Werten mit der unbewussten Sehnsucht nach einem neuen Leben verband.“164
Der „deutsche Mensch“ begegnete in diesem Krieg „einer stärkeren Macht: er begegnete sich selbst. So war dieser Krieg ihm zugleich und vor allem das Mittel, sich selbst zu verwirklichen. Und daher muss die neue Rüstung, in der wir bereits seit langem begriffen sind, eine Mobilmachung des Deutschen sein, – und nichts außerdem.“165
Zunächst wird der Krieg hier als Konstituens eines sozial-moralischen Lebensgefühls und Selbstverständnisses begriffen, das nicht auf Kollektivismus hinausläuft, sondern mit ‚Selbstbegegnung‘ und ‚Selbstverwirklichung‘ – also Kategorien der Individualisierung – in Verbindung gebracht wird. Dieses Selbst verweist jedoch ontologisch auf eine tiefere deutsche ‚Substanz‘, die im Krieg erkennbar und erfahrbar werde. Wenn man diese ‚Substanz‘ aber funktionalistisch betrachtet, so ist sie nichts als der bloße Reflex der totalen Feindstellung. Totale Feindschaft heißt eben auch totale Fremdheit. Die Interpretation des Krieges, der Versuch, einen Sinn am Grunde des Trichters zu finden, mündet in die diskursive Konstruktion einer spezifischen Substanz des Deutschen, in der die Feindschaft zwischen Deutschland und dem Westen begründet sei. Es handelt sich damit um eine deutende Rückprojektion, die in der totalen Feindschaft einen tieferen Sinn sehen möchte, der sie unvermeidlich macht. Dieser ‚deutschen Substanz‘ korrespondiert keine Erfahrung, vielmehr ist sie ein diskursiv hergestelltes, rein intelligibles ‚Ding an sich‘, das heißt ein nachträgliches Interpretationsprodukt des auf die Kriegserfahrungen gerichteten Diskurses. Dieses ‚Deutsche‘ ist eine „Etikette“ (Mary Kaldor), welche für die ‚moralische Gesellschaft‘ bzw. die Ethik des Sozialen einsteht, ohne die keine moderne Gesellschaft sich als ‚Gesellschaft‘ konstituieren kann. Aber sie wird in einer Form formuliert, welche die Brücke zu anderen modernen Gesellschaften abbricht. Der Rückgriff auf diese Deutung erlaubt es jedenfalls, die gesellschaftspolitische Aufgabe zur Modernisierung und Mobilisierung der Gesellschaft im Kontext einer fundamentalen Feindstellung und des totalen Krieges zu formulieren. Es handelt sich also um eine militante Semantik des Sozialen und um eine kriegerische Modernisierung. In diesen Modernisierungsdiskurs und dem ihm entsprechenden Selbstbild der Gesellschaft sind Feindstellung zur ‚Zivilisation‘, Rüstungspolitik und totaler Krieg von vornherein eingeschrieben. 164 165
Ebd., S. 152. Ebd., S. 153.
V. Totale Mobilmachung, militante Semantik des Sozialen und totaler Staat 205
Die Rede von der ‚Mobilmachung des Deutschen‘ impliziert zugleich, dass man die Übernahme des zivilgesellschaftlich-westlichen Modells der Moderne nicht nur vermeiden kann, sondern dieses Modell sogar bekämpfen soll. Denn die Elemente zivilgesellschaftlich-republikanischen Denkens erscheinen als ein Faktor, der das tiefe, geheimnisvolle Deutschland schwächt. Das geht einher mit der an Liberalismus und Sozialdemokratie adressierten inneren Feindbestimmung. Und es legt eine Interpretation des verlorenen Krieges nahe, die die Niederlage als Ergebnis einer letztlich gescheiterten totalen Mobilmachung interpretiert. Deutschland ist es „versagt geblieben“, „den Geist der Zeit, wie immer er beschaffen gewesen sein möge, in diesem Kampfe für sich überzeugend ins Treffen zu bringen.“166 Der „letzte Grad der Entschlossenheit“167 konnte nicht erreicht werden. Schuld daran seien letztlich die „deutschen Barbusses“, denen es zwar gelang, sich „auf irgendeine Weise in den Rahmen des Aufmarsches einzuordnen“168, deren Mobilisierung aber eben nur ‚auf irgendeine Weise‘ erfolgte, das heißt nicht ‚total‘ war. Unterm Strich ist das nur eine intellektuelle Variante der Dolchstoßlegende. In Wirklichkeit dagegen hat vor allem der „konservative Egoismus“ im Rechtslager und die Verweigerung der politischen Gleichstellung der Arbeiterklasse die von Ludendorff und der 3. OHL ab 1916 betriebene totale Mobilmachung torpediert.169 Mit anderen Worten: Wichtiger als die Kriegsanstrengung war dem rechten Lager der Erhalt privilegierter gesellschaftlicher Positionen. Anders als Jünger verfügt Carl Schmitt nicht über eine unmittelbar gesellschaftstheoretische Begrifflichkeit, denn letztlich denkt Schmitt im Rahmen des Staates. Einer gesellschaftstheoretischen Begrifflichkeit am nächsten kommt noch der Begriff des Politischen, den Schmitt von dem des Staates abhebt. Wenn er darauf besteht, dass der Begriff des Politischen dem des Staates vorgeordnet ist, dann will er damit zuallererst sagen, dass das Politische nicht aus dem Staatlichen hergeleitet werden kann, sondern das der Staat eine – allerdings eine wesentliche Form – des Politischen ist. Dieses gründet in der Fähigkeit zur kollektiv verbindlichen Dezision zwischen Freund und Feind. Dieser Begriff des Politischen konstruiert eine permanente Bedrohungslage für das Kollektiv, in dessen Namen politisch durch einen Träger der Souveränität entschieden wird. Dabei wird von der Fiktion eines permanenten Ausnahmezustands ausgegangen, in der jeder Fremde als potentieller Feind wahrgenommen wird. Gerade aufgrund dieser Gefahrenwahrnehmung scheint es notwendig, dass der Souverän jederzeit 166 167 168 169
Ebd., S. 140. Ebd. Ebd., S. 143. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4, S. 160–174.
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uneingeschränkt entscheiden kann. Diese Entscheidungen orientieren sich an der Norm der Homogenität des Gesellschaftskörpers, das heißt ihnen liegt eine gemeinschaftlich konnotierte, normative Gesellschaftsvorstellung zugrunde. In diesem Diskurs steht ‚die Gesellschaft‘ unter andauernden Kriegsbedingungen. Wenn diese Kriegsbedingungen ‚totale‘ sind, dann hat das Konsequenzen. Nach dem Ersten Weltkrieg stellt Schmitt fest: „Das Ob des totalen Krieges steht heute außer Frage.“170 Zwar lassen sich aus dieser Diagnose noch keine genauen Urteile über die Art des totalen Krieges ableiten, aber für Schmitt scheint auf jeden Fall klar, dass es bereits im Frieden zu einer umfassenden Ausrichtung der Gesellschaft auf den potentiellen totalen Krieg kommen muss. Diese vorgreifende Einbindung der Gesellschaft in die ‚reale Möglichkeit‘ des totalen Krieges erfasst Schmitt mithilfe des Begriffs des ‚totalen Staates‘. Der totale Staat ist dadurch gekennzeichnet, dass er mit dem Gesellschaftlichen zusammenfällt, das heißt dass er zur „Selbstorganisation der Gesellschaft“ geworden ist. Zunächst ist nicht abzustreiten, dass diese Diagnose, rein sachlich genommen, auch auf alle modernen demokratischen Republiken zutrifft: „Organisiert sich die Gesellschaft selbst zum Staat, sollen Staat und Gesellschaft grundsätzlich identisch sein, so werden alle sozialen und wirtschaftlichen Probleme unmittelbar staatliche Probleme und man kann nicht mehr zwischen staatlich-politischen und gesellschaftlich-unpolitischen Sachgebieten unterscheiden. [. . .] Die zum Staat gewordene Gesellschaft wird ein Wirtschaftsstaat, Kulturstaat, Fürsorgestaat, Wohlfahrtsstaat, Versorgungsstaat; der zur Selbstorganisation der Gesellschaft gewordene, demnach von ihr in der Sache nicht mehr zu trennende Staat ergreift alles Gesellschaftliche, das heißt alles, was das Zusammenleben der Menschen angeht.“171
Den gesellschaftstheoretischen Charakter der Überlegungen Jüngers genau erkennend, greift Schmitt auf den Begriff der ‚totalen Mobilmachung‘ zurück, um „diesen erstaunlichen Vorgang“ zu charakterisieren.172 Allerdings entfaltet sich in diesem totalen Staat das Problem der Einheit. Denn die unterschiedlichen gesellschaftlichen Kräfte werden nun unmittelbar politische Kräfte. Damit aber verwandelt sich die ursprüngliche Entscheidungsidentität des über oder neben der Gesellschaft stehenden Staates in eine Entscheidungspluralität, deren Ort das Parlament ist. Aber ohne einigende Gegnerschaft zum alten Beamtenstaat, bricht das 170 Carl Schmitt, Totaler Feind, totaler Krieg, totaler Staat [1937], in: Carl Schmitt, Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar-Genf-Versailles 1923–1939, Hamburg 1940, S. 235–239, hier S. 237. 171 Carl Schmitt, Die Wendung zum totalen Staat [1931], in: Carl Schmitt, Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar-Genf-Versailles 1923–1939, Hamburg 1940, S. 146–157, hier S. 151 f. 172 Ebd., S. 152.
V. Totale Mobilmachung, militante Semantik des Sozialen und totaler Staat 207 „Parlament sozusagen in sich auseinander. Der Staat ist jetzt [. . .] Selbstorganisation der Gesellschaft, aber es fragt sich, wie die sich selbst organisierende Gesellschaft zur Einheit gelangt und ob die Einheit wirklich als Resultat der ‚Selbstorganisation‘ eintritt.“173
Schmitts Analyse zufolge steht nicht zu erwarten, dass Pluralismus, Polykratie und Parlamentarismus aus sich heraus eine Einheit herstellen können. Die Herstellung einer solchen entscheidungsfähigen Einheit ist aber notwendig, weil sonst nicht die Dezision über Freund und Feind getroffen werden kann, weder im Innern noch im Äußeren. Letztlich kann, so muss Schmitts Argumentation verstanden werden, ein pluralistisches System der Norm der gesellschaftlichen Homogenität aus strukturellen Gründen nicht folgen. Erst recht unter den Bedingungen der permanenten Möglichkeit des totalen Krieges erscheint es notwendig, eine die Gesellschaft umfassend bindende und mobilisierende einheitliche Entscheidungsinstanz des totalen Staates einzurichten. Pluralismus wird dagegen als hemmender Faktor in der gesellschaftlichen Mobilisierung betrachtet. Eine einheitliche Souveränität ist nur durch einen Formwandel des totalen Staates zu erreichen. Dieser muss zu einem ‚starken Staat‘ werden, das heißt die pluralistische Verteilung der Entscheidungsgewalt auf die verschiedenen, einander widersprechenden institutionalisierten Mediatoren des gesellschaftlichen Willens muss zugunsten einer zentralen souveränen Entscheidungsinstanz aufgehoben werden. Schmitt entwickelt im Rückgriff auf den faschistischen Staat in Italien folgendes Bild eines solchen Staates: „Ein solcher Staat lässt in seinem Innern keinerlei staatsfeindliche, staatshemmende oder staatszerspaltende Kräfte aufkommen. Er denkt nicht daran, die neuen Machtmittel seinen eigenen Feinden und Zerstörern zu überliefern und seine Macht unter irgendwelchen Stichworten, Liberalismus, Rechtsstaat oder wie man es nennen will, untergraben zu lassen. Ein solcher Staat kann Freund und Feind unterscheiden. In diesem Sinne ist [. . .] jeder echte Staat ein totaler Staat“.174
Die Konsequenz dieser Argumentation liegt auf der Hand: Unter der Bedingung der ‚realen Möglichkeit‘ des totalen Krieges und der im Ersten Weltkrieg seitens der Westmächte scheinbar deutlich gewordenen ‚totalen Feindschaft‘ gegenüber Deutschland175 muss der Staat qualitativ in einen ‚starken‘ totalen Staat umgeformt werden, der in der Lage ist, die totale Mobilmachung der Gesellschaft im Kontext des Krieges zu organisieren. Dieses Modell hat aus Schmitts Sicht den Vorzug, dass mit dieser Transformation des totalen Staates ohnehin nur zu Tage tritt, was am Grunde des 173 174 175
Ebd., S. 155. Schmitt, Weiterentwicklung des totalen Staats, S. 186. Schmitt, Totaler Feind, S. 238; Jünger, Totale Mobilmachung, S. 147 f.
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E. Totale Mobilmachung
Politischen liegt: die reale Möglichkeit des Krieges, die Konstitution der ‚Gesellschaft‘ durch die Unterscheidung von Freund und Feind bzw. wesenhaft Fremdem und Eigenem, die Norm der sozialen Homogenität und die Identität zwischen Souverän und Volk. In diesen allgemeinen Begriffen entwickelt Schmitt das Bild einer Kriegsgesellschaft. Diese erscheint ihm als das Wesen des Sozialen. In diese militante Sozialsemantik ist die Erwartung der Ablösung des pluralistischen und parlamentarischen Systems durch einen ‚Führer‘ eingeschrieben. Ein Führer garantiert durch seine personale Einheit und durch seine herausgehobene Position die Möglichkeit der souveränen Entscheidung. Nur durch eine zentrale und in sich identische Regierung kann „die Verteidigung der Gesellschaft“176 geleistet werden. Weiterhin ist der Führer für Schmitt das Kennzeichen wahrer Demokratie, denn im „Führerstaat“ (Schmitt) kommt die Identität von Volk und Souverän zum Ausdruck. Er schützt die ‚Lebenskraft‘ des Volkes; und er weiß es im Sinne seines eigentlichen Wesens und Willens zu lenken und zu beherrschen. Dass Schmitt das Idealbild der Souveränität an die Integration von Gerichtsbarkeit, Rechtsetzung und Staatsführung bindet, ist daher wenig überraschend. Der ‚Führer‘ wird im kriegsgesellschaftlichen Diskurs nicht als klassische Herrschergestalt vorgestellt, das heißt als Monarch. Vielmehr bildet sich in der Idee der Führertums die moderne militärische Struktur von Führung und Initiative ab. Aufgabe der Führung ist die totale Mobilisierung, nicht das Ersticken der Gesellschaft in mechanischen Gehorsamsverhältnissen. Diese Mobilisierung beruht aber auf der motivierenden Aktivierung der individuellen Kräfte und Fähigkeiten im gesellschaftlichen Maßstab. Diese politische Führervorstellung korrespondiert mit der modernen, unter Bedingungen des totalen Krieges stehenden Kriegsgesellschaft. In vorauseilender Begeisterung wird der kommende Führer etwa folgendermaßen gezeichnet: „Und so wird er sich denn einmal ankündigen, er, auf den wir alle voller Sehnsucht warten, die Deutschlands Not heute tief im Innern empfinden: das tausendund abertausend Hirne ihn malen, Millionen Stimmen nach ihm rufen, eine einzige deutsche Seele ihn sucht. Woher er kommt, niemand vermag es zu sagen. Aus einem Fürstenpalaste vielleicht oder einer Tagelöhnerhütte. Doch jeder weiß: Er ist der Führer; ihm jubelt jeder zu; ihm gehorcht auch ein jeder. Und warum? Weil er eine eigentümliche Gewalt ausübt: Er ist ein Herrscher der Seelen. Und darum nennt man ihn auch den Feldherrn Psychologos.“177 176 177
Schmitt, Der Führer schützt das Recht, Sp. 948. Hesse, Feldherr Psychologos, S. 206.
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Die soziale Herkunft des Führers spielt im neuen leistungsorientierten militärischen Führungsmodell keine Rolle. Wichtig ist vielmehr, dass er gleichzeitig Ausdruck der ‚deutschen Seele‘ wie ‚Herrscher der Seelen‘ ist. Im Führer – dem ‚Feldherrn Psychologos‘ – fallen Allgemeines (die ‚deutsche Seele‘) und Besonderes (die vielen ‚Seelen‘) zusammen. Daher kommt es in ihm zur Identität von Regierung und Gesellschaft, Souverän und Volk. Führer sind zwar, so Kurt Hesse im Rahmen seiner Überlegungen zur militärischen Führung, ein ‚Mysterium‘, aber dennoch entwirft er ein allgemeines Förderprogramm zur „zielbewussten psychologischen Schulung unseres Volkes“.178 Diese Schulung soll der allgemeinen Optimierung im Kontext „einer neuen großen Mobilmachung alle Willen und Kräfte“179 dienen. Die Stärken des Einzelnen sollen gefördert, die Gesellschaft vom Idealbild der Gleichheit auf das der individuellen Leistung umgestellt werden. Insbesondere soll „eine Jugend dazu herangebildet werden [. . .], einmal im Leben unseres Volkes an führender Stelle zu stehen.“180 Dieses Programm kann auch als groß angelegtes Produktionsprogramm verstanden werden, dem in Zukunft der Führer des Volkes entspringen soll: „Was aber bleibt uns, die wir Alltägliche sind, wenn nicht das Schicksal es anders gewollt hat: Ein nüchternes Programm, mit dem Zwecke, Vorbereiter einer Zukunft zu sein.“181
Die Zurichtung der modernen Gesellschaft auf eine militante und homogene Führerdemokratie durch den kriegsgesellschaftlichen Diskurs nutzt das gespannte Verhältnis zwischen dem abgegrenzten, integrierten und funktional-ausdifferenzierten Raum der Gesellschaft und den auf heterogene und komplexe Vernetzung jenseits dieser gesellschaftlichen Holosphäre abzielenden, entterritorialisierenden Effekten der Raumrevolution des 20. Jahrhunderts aus. Mit dieser Raumrevolution werden einerseits Chancen der großräumigen oder imperialen Kontrolle eröffnet, andererseits zeigen sich Risiken, den Wirkungen entorteter Machtkomplexe zum Opfer zu fallen, seien diese Risiken noch mit einem anderen Nationalstaat verbunden oder rein ‚verschwörerischer‘ Natur. Dabei spricht der Diskurs ausschließlich im Namen des Eigenen; er verabschiedet sich von der Idee einer allgemein ausweisbaren normativen Verbindlichkeit. Die Gesellschaftsvorstellung des kriegsgesellschaftlichen Diskurses besteht also aus drei Elementen: 178 179 180 181
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
S. S. S. S.
213. 215. 214. 208.
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E. Totale Mobilmachung
1. der totalen Mobilmachung aller gesellschaftlichen Kräfte nach dem Muster des totalen Krieges, 2. einer militanten Semantik des Sozialen, welche Gesellschaft als Kriegsgesellschaft konzipiert und 3. einem am modernen Krieg entwickelten und im Konzept des totalen Staats auf die Gesamtgesellschaft bezogenen Führungsmodell. Während also der politischen Romantik zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine prozessuale Transformation elitärer politischer Führung in einen republikanischen Staat als innenpolitisches Ideal vorschwebt, strebt der kriegsgesellschaftliche Diskurs die vollständige Umwandlung der parlamentarisch-republikanischen Demokratie in einen demokratischen Führerstaat an. Beide Diskurse gehen von einer Konstitution der ‚Gesellschaft‘ im Kriege aus. Die Verbindung zwischen dem Führermodell und der Vorstellung der Konstitution des Sozialen im Krieg erscheint dabei insofern zwingend, als die Differenz zwischen Normalität und Ausnahmezustand verwischt wird – und zwar in der Art, dass der Ausnahmezustand als ‚normal‘ erscheint. Die Gesellschaftsvorstellung wird dann in die Totalität einer Verteidigungsimagination hineingezogen und folglich auf das Vorbild kriegerischer Institutionen bezogen. Allerdings macht der kriegsgesellschaftliche Diskurs selbst deutlich, dass die Mobilisierung für den Krieg und die kriegsgesellschaftliche Konstitution keineswegs zusammenfallen müssen. Denn die Kritik an der modernen Zivilgesellschaft, das heißt insbesondere an Liberalismus und ‚Zivilisation‘, die von Seiten des kriegsgesellschaftlichen Diskurses formuliert wird, gibt zu, dass gerade die totale Mobilmachung für den Krieg im Namen zivilisatorischer Normen wie Weltfrieden und Menschenrechte von durchschlagender Wirksamkeit ist. Im Auge des kriegsgesellschaftlichen Diskurses können gerade zivilgesellschaftliche normative Gesellschaftsvorstellungen besonders gut leisten, auf was abgezielt wird, nämlich auf die Zurichtung der Gesellschaft auf den Krieg. So weist Jünger auf die Mobilisationsfähigkeit liberaler normativer Gesellschaftsvorstellungen bei den westlichen Kriegsgegnern des Deutschen Reiches während des Ersten Weltkrieges hin. Dieser Krieg stelle sich dem Liberalismus, gerade weil er Krieg als solchen ablehne, dar „als ein Kampf des Fortschrittes, der Zivilisation, der Humanität, ja des Friedens selbst gegen ein all diesem widerstrebendes Element“. Der Liberalismus verleihe „diesem Kriege eine Gloriole [. . .], indem sie ihn als uneigennützigen Kreuzzug darstellt, der der Erlösung des deutschen Volkes selbst aus dem Zustande seiner Unterdrückung gewidmet ist.“182 182
Jünger, Totale Mobilmachung, S. 142.
VI. Apologie der Gewalt
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Auch Carl Schmitts Kritik am „Kreuzzug“ der Zivilisation beinhaltet die Anerkennung der außerordentlichen Mobilisierungsfähigkeit westlicher Zivilgesellschaften für den Krieg: „Im Kriege gegen Deutschland 1914–18 hat es die englische Weltpropaganda verstanden, im Namen der Zivilisation und der Menschheit, der Demokratie und der Freiheit ungeheure geistige und moralische Energien gegen den preußisch-deutschen ‚Militarismus‘ einzusetzen.“183
Mit diesem Eingeständnis, das aus einer sachlichen Analyse der Kriegsgeschichte im Ersten Weltkrieg folgt, sieht sich der kriegsgesellschaftliche Diskurs in einer paradoxen Situation. Denn das naheliegende Argument wäre nun, für eine Übernahme des westlichen Zivilisationsmodells zu plädieren. Man hätte sich damit deutlich zur Weimarer Republik bekennen müssen. Dies ist offensichtlich nicht der Fall gewesen. Das verweist darauf, dass das entscheidende Differenzkriterium, welches den Unterschied der kriegerischen Moderne zu zivilgesellschaftlichen Formen der Moderne (einschließlich der Romantik) markiert, in dem normativen und kulturellen Verhältnis zur Gewalt zu suchen ist.
VI. Apologie der Gewalt Der kriegsgesellschaftliche Diskurs wird letztlich durch eine Apologie der Gewalt bestimmt, die sich sowohl auf politisch-normativer als auch auf kultureller und damit wertekonstituierender Ebene findet. Sie wird in vielfachen Facetten sichtbar. Eher auf den normativ-regulativen Aspekt bezogen zeigt sie sich erstens in der Absicht, die ‚Fortsetzung‘ des Weltkrieges vorzubereiten und zweitens in der begrifflichen Auflösung der Spannung zwischen Macht und Norm. Drittens lockert die Kritik der politischen Romantik die Bindung an zivile Normenmodelle. Eher auf kulturelle Werte bezogen, findet sie sich (unter anderem) viertens in affirmativen Beschreibungen von kriegerischen Gewaltakten, fünftens im Verdun-Mythos, sechstens in der Ikonographie des Stahlhelms als Symbol für den sachlichen Heldentypus und siebtens in der Rekonstitution der Möglichkeit des ‚magischen Todes‘. Dazu ist im Einzelnen festzuhalten: 1. Im Rahmen des kriegsgesellschaftlichen Diskurses haben realistische Kriegserinnerungen die Funktion einer Bestandsaufnahme, wobei es darum geht, in Hinblick auf die Wiederherstellung der vermeintlich in Versailles verlorenen ‚Ehre‘ Lehren für den ‚Zukunftskrieg‘ zu gewinnen. Das heißt nicht, dass jede Form der Gewalt begrüßt würde; wohl aber 183
Schmitt, Totaler Feind, S. 238.
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E. Totale Mobilmachung
heißt es, dass der Krieg nicht länger als ein politisches Mittel unter anderen betrachtet wird, sondern dass er als unausweichlich angesehen und daher auch angestrebt wird. In Zukunft soll wieder Krieg sein. 2. Die Konstruktion eines permanenten Ausnahmezustands kassiert das Spannungsverhältnis zwischen Recht und Gewalt in der Form, dass eine Bindung der Gewalt durch das Recht entfällt. Der permanenten Ausnahmezustand konstituiert eine räumlich umfassende und zeitlich nicht eingeschränkte Bedrohungslage, welche Gesellschaft und Politik auf die bewaffnete ‚Verteidigung‘ ausrichtet. Dabei zählt allein die Entscheidung. Diese Entscheidung orientiert sich zwar an einer Norm – der innerern Homogenität des Gesellschaftskörpers –, aber diese Orientierung bindet nicht, sondern erfüllt die Funktion, Rechtshegungen der politischen Gewalt zu zerstören. 3. Die Kritik der politischen Romantik zerschneidet (fast) das Band zur Zivilisation, das heißt zur außenpolitischen Orientierung an der Friedensnorm und zur innenpolitischen Orientierung am republikanischen Staatsmodell. Diese Kritik ist damit eine der Bedingungen für die sowohl im ‚weißen Terror‘ der Freikorps nach dem Ersten Weltkrieg als auch im Vernichtungskrieg der Wehrmacht im Osten ab 1942 sichtbare ‚Dissoziationsmentalität‘. Diese Mentalität löste „Bindungen an die universellen Ideen der politischen und ästhetischen Traditionen“.184 4. In Kriegserinnerungen wie der Jüngers finden sich eine ganze Reihe affirmativer Gewaltdarstellungen. Einerseits würdigt er das Aushalten auf dem Posten im Trommelfeuer. Andererseits erscheinen direkte Gewaltaktionen etwa im Rahmen von Stoßtruppunternehmen im Glorienschein. Gefeiert wird der „Rausch zur Tat“185: „Der Kämpfer, dem während des Anlaufs ein blutiger Schleier vor den Augen wallte, kann seine Gefühle nicht mehr umstellen. Er will nicht gefangennehmen; er will töten.“186 „Auf nächtlicher Schleiche“ wiederum spürt ein Kämpfer wie Jünger sogar Wildwest-Romantik: „Indianer-Erinnerungen aus Karl May kamen mir ins Gedächtnis“.187 5. Die Schlacht um Verdun von 1916, in der in etwa 82000 deutsche Soldaten fielen188, wird zum Symbol eines heldenhaften Durchhalteethos, der das Erfüllen der Aufgabe selbst unter extremen Bedingungen verherrlicht: 184 185 186 187 188
Hüppauf, Schlachtenmythen, S. 90. Jünger, In Stahlgewittern, S. 203. Ebd., S. 204 f. Ebd., S. 47. Ziemann, Die Eskalation des Tötens, S. 413.
VI. Apologie der Gewalt
213
Abb. 5: Einbandillustration zu Jüngers In Stahlgewittern (3. Aufl., 6.–8.Tsd., 1922)
„Aber eine Schlacht vereinigt in sich alle Schrecken des Krieges, alles Heldentum deutscher und französischer Soldaten und bleibt Symbol des zähen Durchhaltens, die Schlacht um Verdun.“189
‚Verdun‘ ist das Gegenmodell zu ‚Langemarck‘. Der Verdun-Mythos spricht nicht von Kriegsromantik, sondern kündet von der kalten und emotionslosen, unter der Materialwirkung gestählten Kampfmaschine, das heißt dem sachlichen Heros des Krieges. Der Mythos verklärt die Gewalt und stilisiert den technischen Krieg, seine extremen Bedingungen und die ihnen entsprechenden Verhaltensweisen zum „Modell für die künftige Menschheit“.190 Verdun gilt als die Geburtsstätte eines ‚Neuen Menschen‘. Die Titelillustration aus Jüngers In Stahlgewittern bringt die Gewaltapologie des neuen Heldenbildes gut zum Ausdruck. In reduzierten, kühlen Strichen und ohne jedes romantisches Blattwerk wird das Funktionieren im technischen Raum der Schlacht und der Wille zur Tat dargestellt (Abb. 5). 6. Seine Ikonographie findet dieser ‚Neue Mensch‘ im Stahlhelm. Bereits Jünger ist sich der symbolischen Macht ‚des Gesichts unter dem Stahlhelm‘ offenbar sehr bewusst. Zahlreiche Abbildungen, Plakate, Filme 189 190
P. C. Ettighoffer, Verdun. Das große Gericht, Gütersloh 1936, S. 5. Hüppauf, Schlachtenmythen, S. 88.
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E. Totale Mobilmachung
und Dokumentationen machen den Stahlhelm zu einem hochaffirmativen Zeichen für das Gemisch aus Gewalt, Technologie, Willenskraft und Körper, durch das der kriegsgesellschaftliche Diskurs den Weltkrieg charakterisiert sieht: „Das Verschmelzen von Stahl und Fleisch, moderner funktionaler Technik und Erinnerungen an archaische Rüstungen und Zauber machte das Portrait des Verdun-Kämpfers im Stahlhelm repräsentativ für das Bild des ‚Neuen Menschen‘.“191 7. Die Konstruktion eines sachlichen Heroismus rekonstituiert die Möglichkeit des ‚schönen Todes‘. Selbst wenn der Held in der technischen Schlacht umkommt, so sei er der Materialwirkung doch nicht erlegen. Vielmehr habe er einen „persönlichen Sieg“192 davongetragen, weil er seine Funktion im Tode noch erfüllt hat. Damit wird dem industriell produzierten Massentod wieder ein Sinn gegeben, der ‚schöne Tod‘, wenn auch in ‚sachlicher‘ Form wiedereingeführt. Die Bücher, die von diesem Sterben realistisch berichten, sängen, so Soldan, ein neues „Heldenlied“.193 Der Schock des namenlosen Massentodes streift so zwar die Erfahrungsberichte, aber sie überschreiben dieses negative Phänomen durch eine neue, heroische Sinnkonstruktion. Auch darin verbirgt sich eine Apologie der Gewalt, denn immerhin erscheint die totale technische Gewalt des Maschinenkrieges als Bedingung der Möglichkeit dieses Heldendaseins. Wieso kommt es – wenn totale Mobilmachung und organische Gesellschaft formal das Gleiche meinen – nicht zur Übernahme der zivilgesellschaftlichen Perspektive der ehemaligen, ‚westlichen‘ Kriegsgegner? Diese Frage lässt sich letztlich wohl nur aus einer republikfeindlichen, nationalistischen und kriegsverherrlichenden Mentalität erklären. Eine solche Übernahme hätte bedeutet, sich auf die prinzipielle Friedensorientierung der republikanischen Außenpolitik einzulassen. Diese Orientierung hat die Weimarer Republik mit dem Beitritt zum Völkerbund 1926 und der Ächtung des Krieges durch Unterzeichnung des Briand-Kellogg-Paktes 1928 unmissverständlich übernommen. Eine Revision der Versailler Vertrages hätte nur in diplomatischer Kommunikation und durch Integration in die westliche Völkergemeinschaft weiter verfolgt werden können. Die Anerkennung des westlichen Modernisierungsmodells schließt aber die Ausrichtung an der politischen Norm des Krieges definitiv aus und steht daher der normativen Orientierung des kriegsgesellschaftlichen Diskurses fundamental entgegen. Dessen gewaltapologetische Orientierung wird durch die Kritik der politischen Romantik noch unterfüttert, weil damit die Brücke zwischen Kriegs191 192 193
Ebd., S. 82. Soldan, Schlacht der Zukunft, S. 38. Ebd., S. 19 f.
VII. Frieden nach dem Zukunftskrieg?
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diskurs und republikanischem Denken zerschnitten wird. Die ‚Lehren‘ aus dem Krieg münden daher nicht nur in sachliche Heroisierung, Professionalisierung und Technisierung, sondern eben auch in die Apologie der Gewalt und in die Ausrichtung an der politischen Norm des Krieges. Innenpolitisch korrespondiert dieser Orientierung ein militarisiertes Gesellschaftsbild und die Idee des ‚totalen‘ Führerstaates. An die Stelle einer möglichen zivilgesellschaftlich-westlichen Orientierung tritt eine Gesellschaftsvorstellung, die den Krieg als Konstituens eines spezifisch ‚deutschen‘ Sozialen begreift. Wenn die Funktionsmerkmale westlicher Gesellschaften als Entfremdung vom ‚deutschen Wesen‘, der ‚deutschen Seele‘ oder dergleichen beschrieben werden können und als Charakteristikum dieses Wesens die heroische Kampfgemeinschaft ausgewiesen werden kann, dann lässt sich die Mobilisierung für den Krieg im Rückgriff auf diese spezifische Identität legitimieren, womit der Bezug auf Normen, die zur souveränen Machtwirklichkeit und -herrlichkeit in Spannung stehen, tendenziell entfällt. Das ist exakt die Argumentation Jüngers, die von Schmitt darüber hinaus noch ins Allgemeine gehoben wird.
VII. Frieden nach dem Zukunftskrieg? Allerdings lassen sich aus dem Verhältnis des kriegsgesellschaftlichen Diskurses zum nationalsozialistischen Rassendiskurs unterschiedliche Grenzen der politischen Gewaltnormierung herausarbeiten. Für den Rassendiskurs gelten Kampf und Krieg als das zentrale Merkmal der Ordnung des Lebens. Eine weltumfassende Friedensordnung kann es hierbei nicht geben, da der Krieg um das ‚Überleben‘ zwischen den als biologische ‚Rassen‘ gedachten Völkern in die politische Ordnung eingeschrieben ist. Aus dem politischen Ziel des kriegsgesellschaftlichen Diskurses, die Weltordnung nach dem Versailler Vertrag durch einen weiteren Waffengang zu revidieren ergibt sich damit zumindest in Bezug auf die nähere Zukunft eine Übereinstimmung zwischen Kriegs- und Rassendiskurs. Bereits bezüglich dieses Ziels lassen sich nuancierte, nicht bedeutungslose Unterschiede feststellen. Denn für den Kriegsdiskurs ist der ‚Zukunftskrieg‘ ein Übergang zu einer neuen Ordnung. Etwa entwickelt Jünger ein geschichtsphilosophisches Zwei-Phasen-Modell der gesellschaftlichen Mobilisierung, wonach die erste Phase „notwendig zerstörerischer Natur“ sein muss. Danach tritt „die Gestalt des Arbeiters“ in Bezug auf „die konstruktive Tätigkeit“ in Erscheinung.194 Ähnlich steuert auch Schmitts Großraumtheorie auf einen das Kriegerische innerhalb des Großraums beendenden und insofern ‚totalen Raumordnungs194
Jünger, Der Arbeiter, S. 190.
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E. Totale Mobilmachung
frieden‘ zu. Solche Vorstellungen sind jedoch mit einem ewigen Kampf der Rassen ums Überleben nicht in Deckungsgleichheit zu bringen. Bezüge zum Faschismus – insbesondere zum politischen Führermodell – lassen sich ohne Probleme im kriegsgesellschaftlichen Diskurs nachweisen. Diese Bezüge sind nicht bloß akzidentiell, da sich der Diskurs von der faschistischen Gesellschaftsvorstellung und ihrer Nähe zu militärischen Organisationsmodellen fasziniert zeigt. Aber die normative Orientierung des Politischen am Frieden wird dennoch nicht vollständig aufgegeben. Anders auch als im Nationalsozialismus, der die Kategorie der ‚Rasse‘ zur zentralen politischen Kategorie erhebt, bleibt im kriegsgesellschaftlichen Diskurs das Verhältnis von Staat und Gesellschaft im Zentrum des Politischen. Das wirft ein bezeichnendes Licht auf die Wirklichkeitswahrnehmung der Diskursteilnehmer in der Zwischenkriegszeit. Denn die Orientierung an der Norm des Krieges lässt sich widerspruchsfrei nur dann aufrecht erhalten, wenn man davon ausgeht, dass man sich immer noch im Kriegszustand befindet. Die innere Anerkennung des Versailler Friedensschlusses wird verweigert. Das bedeutet allerdings, dass doch noch – bei aller Gewaltfixierung – eine Friedensidee existiert. Angestrebt wird die Revision; maßgebend ist der ‚eiserne Wille‘ zu einem „ehrenvollen Abschluss des Krieges“.195 Es geht also um einen ‚Siegfrieden‘. Die Gesellschaftsvorstellungen für die Zeit nach diesem Frieden sind eher vage. Jünger deutet eine ‚konstruktive‘ Entwicklung der totalen Mobilmachung an; Schmitts totaler Frieden votiert für ein imperialistisches Großraummodell.
VIII. Erfahrung und Wirkung Während die politische Romantik zur Zeit der Befreiungskriege die Erfahrungsdimension ausblendet, wird die Bedeutung dieser Dimension im kriegsgesellschaftlichen Diskurs zentral. Das ist zum einen eine Folge der veränderten strukturellen technischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen. Die technische Destruktionspotenz totaler Gewalt, die Bedeutung von Raumwaffen, die zunehmende Einbindung gesellschaftlicher Prozesse in die Kriegführung und die Entfaltung der modernen Massendemokratie potenzieren die sozialen, psychischen und physischen Folgen des Krieges. Der Krieg streift die Gesellschaften nicht länger, er trifft sie. Ein öffentlicher Diskurs über den Krieg, der dieser Erfahrungsdimension nicht Rechnung trägt, macht sich schlicht unglaubwürdig. Das ist ein Grund, weshalb sich der kriegsgesellschaftliche Diskurs, was die Darstellung der Kriegsschre195
Soldan, Schlacht der Zukunft, S. 104.
VIII. Erfahrung und Wirkung
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cken angeht, sich nicht wesentlich von pazifistischen oder republikanischen Darstellungen unterscheidet. Dennoch ist dies insofern überraschend, als man immerhin plausibel annehmen könnte, dass der Krieg verharmlost und zu einer jugendfreien Abenteuergeschichte gemacht würde. Genau dies wird etwa von Hans-Ulrich Wehler Jüngers In Stahlgewittern fälschlicherweise auch unterstellt.196 Ein weiterer Grund für die Erfahrungsorientierung der Weltkriegserinnerung ist das gesellschaftspolitische Ziel des kriegsgesellschaftlichen Diskurses. Dieser erstrebt die Modernisierung in Militär und Gesellschaft im Hinblick auf einen mittelfristig angestrebten totalen Krieg. Und natürlich soll dieser ‚Zukunftskrieg‘ gewonnen werden. Es geht in dieser Modernisierungsperspektive nicht primär um die Bedeutungsdimension, also um Meinungen, Fiktionen und Ästhetik oder um Begeisterung, sondern es geht um die wirklichen und praktischen gesellschaftlichen Fähigkeiten zur totalen Kriegführung. Die Abstimmung des gesellschaftlichen Funktionsgefüges auf den Krieg, die technische und psychologische Professionalisierung der Kriegsexperten, die Orientierung am politischen Modell des Führertums beziehen sich in erster Linie auf praktische Kompetenzen. Die Bedeutungsdimension steht ganz im Dienste dieses Realismus. Die militante Sozialsemantik verweist auf die ‚reale Möglichkeit des Krieges‘. Der sachliche Heroismus liefert dem kriegerischen Funktionalismus eine passende Moral. Die ästhetische Dimension steht ganz im Zeichen von Sachlichkeit und Technik. Das Wahrheitskriterium der Kriegserinnerung macht diese erfahrungsorientiert und führt zur Kritik romantischer Wallungen. Der nächste Krieg soll nicht mit Illusionen geführt werden. Die politische Orientierung an der Norm des Krieges bedingt den kritischen und in gewisser Hinsicht ‚anti-ideologischen‘ Zug des kriegsgesellschaftlichen Diskurses. Dabei allerdings steht diese Norm gänzlich außerhalb des Rahmens der Kritik. Dieses realistische Denken sieht von der ideellen Verknüpfung zwischen Staatspolitischem und politisch-regulativer Friedensnorm zumindest im kurz- bis mittelfristigen Rahmen ab und suspendiert in diesem Rahmen die regulative Norm des Friedens. Die erfahrungsorientierte Deutung der Kriegserlebnisse im kriegsgesellschaftlichen Diskurs erklärt sich also aus der Funktion dieser Deutungen im Diskursfeld. Diese Deutung steht im Dienste einer ‚realistischen‘ gesellschaftlichen Mobilisierung für den ‚Zukunftskrieg‘. Diese Mobilisierung steht unter strukturellen technischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen, in deren Rahmen romantische Gefühlswallungen bedeutungslos werden. Der romantische Kriegsdiskurs zu Beginn des 19. Jahrhunderts steht 196
Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4, S. 413.
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E. Totale Mobilmachung
dagegen unter der Bedingung, medial die Herzen zu erreichen und das Gesellschaftliche mittels der Gefühle zu mobilisieren. Darüber hinaus war mit dem Krieg noch keine totale, tendenziell die ganze Gesellschaft erfassende Gewalt verbunden. Dennoch übernimmt der kriegsgesellschaftliche Diskurs auch Aspekte des romantischen Mobilisierungsdiskurses. Insbesondere wird die Vorstellung der Konstitution des Gesellschaftlichen in einer allgemeinen Bedrohungslage durch Feinde aufgenommen. Beide Diskurse verwenden einen existenziellen Kriegsbegriff, weshalb der Krieg in beiden Fällen prinzipiell als Verteidigung thematisiert wird. Die darauf aufsitzenden Gesellschaftsvorstellungen sind beide normativ. Da allerdings nicht beide Kriegsbegriffe ‚total‘ sind, der der Romantik vielmehr ausdrücklich in Bezug auf Frieden und Versöhnung gedacht wird, ergeben sich sehr unterschiedliche normative Grundlagen der beiden Gesellschaftsvorstellungen. Beide Diskurse wiederum konzipieren Gesellschaft als funktional-relationales System. Während aber die Romantik hauptsächlich auf Medien und Öffentlichkeit und damit auf allgemeine Meinungs- und Gefühlspolitik setzt, richtet der kriegsgesellschaftliche Diskurs seine Perspektive auf den ‚technischen Raum‘ der Gesellschaft und damit auf sachliche und technische Kompetenzen und auf eine scheinbar rein ‚positive‘ Moral der Pflichterfüllung. Genealogisch betrachtet entstammt dieser moralische Positivismus letztlich dem Saint-Simonismus, von dem aus sich wiederum Verbindungslinien zur politischen Romantik ziehen lassen.197 Auch ist sich der kriegsgesellschaftliche Diskurs der Bedeutung neuer Medien bewusst. Er sieht in ihnen aber ein Mittel zur ‚Massenbeeinflussung‘ und nicht zur Mobilisierung einer widerstreitendvermittelten Öffentlichkeit. Technische Medien gelten ihm als ein Mittel, dessen der ‚starke Staat‘ nicht entbehren kann, will er die widerstrebenden gesellschaftlichen Potenzen und Kräfte zur totalen Mobilmachung bündeln. Dennoch wird das moderne gesellschaftliche Mobilisationsprojekt der ‚öffentlichen Meinung‘ nicht einfach aufgegeben, sondern vielmehr zur homogenen ‚kollektiven Meinung‘ transformiert. Der Vergleich mit dem Konstitutionsdiskurs der politischen Romantik macht insbesondere klar, dass es dem kriegsgesellschaftlichen Diskurs der Zwischenkriegszeit gerade nicht um eine „Verklärung des Krieges“198 geht. Auch erfüllen die in den kriegsgesellschaftlichen Diskurs eingebetteten Kriegsbeschreibungen – insbesondere Jüngers In Stahlgewittern – nicht die Funktion, dass, wie Thomas F. Schneider meint, lediglich „bestätigt“ werde, „was man zuvor schon gewusst hat.“199 Zentral für den kriegsgesellschaftlichen Diskurs ist vielmehr die Kritik des ‚vorher‘ bestehenden, nämlich 197 198
Spreen, Tausch, Technik, Krieg, S. 50–56. Wehler, Deutsche Gesellschaftgeschichte, Bd. 4, S. 413.
VIII. Erfahrung und Wirkung
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romantischen, Kriegsbildes. Leider mangelt es an diachron-vergleichenden Studien, welche die Differenzen und Bezüge zwischen historischen Kriegsbildern herausarbeiten. Die unmittelbare Wirkung des kriegsgesellschaftlichen Diskurses ist vielschichtig. Allein die Auflagenhöhen der deutenden Kriegserfahrungsdarstellungen gegen Ende der 20er Jahre lassen auf eine große öffentliche Resonanz schließen.200 Da in der deutschen Öffentlichkeit „ein unversöhnlicher, mühelos radikalisierbarer Revisionismus [. . .] als Grundakkord“201 auszumachen ist, ist dies nicht sehr überraschend. Nicht zu unterschätzen dürfte die Wirkung auf das konservative Milieu gewesen sein. Dort verstärkt der kriegsgesellschaftliche Diskurs die antirepublikanische und zivilgesellschaftsfeindliche Mentalität. Er verhindert eine selbstkritische Auseinandersetzung mit der eigenen ‚Kriegszielpolitik‘ während des Ersten Weltkrieges, gewöhnt an die Kriegsnorm und führt dieses Milieu an den Nationalsozialismus heran.202 Wie groß die Ausstrahlung dieses Diskurses gewesen ist, mag daran erkenntlich sein, dass ein konservativer Soziologe wie Hans Freyer die Inkraftsetzung der politischen Norm des Krieges in seinem Staatsbegriff übernimmt, ohne sie im Entferntesten auf ihren normativen Hintergrund zu überprüfen: „Alle Politik denkt nach den Kategorien Sieg und Niederlage, ist Kampf, rechnet stets mit allen Mitteln des Kampfs, rechnet also auch stets mit dem Krieg. Alle Politik ist Drohen mit dem Krieg, Vorbereiten des Krieges, Hinausschieben oder Beschleunigen des Krieges, Anzetteln oder Verhindern des Kriegs, kurz (um ein bekanntes Wort umzukehren), Fortsetzung des Kriegs mit veränderten Mitteln.“203
Nicht zu unterschätzen ist insbesondere die Wirkung dieses Diskurses auf die Modernisierer innerhalb der Reichswehr. Zum einen gehören sie wie etwa George Soldan selbst zum Trägerkreis dieses Diskurses, zum anderen verstärkt er die ohnehin ausgeprägte Ablehnung der Republik und die Revanchehaltung. Außerdem bringt er das Offizierskorps in die geistige und politische Nähe des Nationalsozialismus.204 Damit hat dieser Diskurs 199 Thomas F. Schneider, Zur deutschen Kriegsliteratur im Ersten Weltkrieg, in: Thomas F. Schneider (Hg.), Kriegserlebnis und Legendenbildung. Das Bild des modernen Krieges in Literatur, Theater, Photographie und Film, Osnabrück 1999, S. 101–114, hier S. 113. 200 Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4, S. 413; 425. 201 Ebd., S. 410. 202 Ebd., S. 492 f., 543. Diese These wird unterstützt durch die Feststellung Bernd Wegners, dass die Konservative Revolution „als Produzent oder Verstärkler einer für SS-Parolen anfälligen Mentalität“ gelten kann (Bernd Wegner, Hitlers Politische Soldaten: Die Waffen-SS 1933–1945, Paderborn 72006, S. 26). 203 Hans Freyer, Der Staat, Leipzig 1926, S. 142. 204 Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4, S. 422–424.
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E. Totale Mobilmachung
Anteil an der äußerst trüben innenpolitischen Rolle, die die Reichswehr in der Zeit zwischen dem Ende des Krieges und der Machtübernahme Adolf Hitlers spielt.205 Das praxisorientierte Denken des Krieges gehört generell in die professionelle Perspektive von Militärs und markiert an sich noch keine politische Orientierung. Den Akteuren in den intellektuellen Debatten in und um die Reichswehr kann daher nicht prinzipiell vorgeworfen werden, dass sie sich Gedanken machten, wie zukünftig Kriege erfolgreich geführt werden können. Aber da diese Debatten in den kriegsgesellschaftlichen Diskurs eingebunden sind, gehen sie über solche professionsorientierten Überlegungen hinaus. Zu kritisieren ist erstens die politisch-normative Gewaltapologie des kriegsgesellschaftlichen Diskurses. Der Krieg wird zur Norm des Politischen erhoben. Im Innern entspricht der Kriegsnorm die Idee des ‚starken‘ totalen Staats und die Übertragung des militärischen Führermodells auf das Staatspolitische. Der Krieg wird damit zum prinzipiellen Argument gegen die republikanisch verfasste Zivilgesellschaft gemacht. In Verbindung zur normativen Apologie des Krieges steht außerdem die Idee des permanenten Ausnahmezustands und die Kritik der politischen Romantik. Zweitens ist die mit dieser politischen Norm einhergehende kulturelle Gewaltapologie zu kritisieren. Dies umfasst die Idee der totalen Mobilmachung, die militante Sozialsemantik und andere Formen der Gewaltkultur wie sachlicher Heroismus, Mythologisierung des Krieges, auf gewaltaffirmativen Symbolen und Texten beruhende Weltkriegserinnerung oder positive literarische Fiktionen des technischen Zukunftskrieges. Insofern der professionelle Diskurs um die Reichswehr und die normative wie kulturelle Gewaltapologie des kriegsgesellschaftlichen Diskurses sich überlagern, muss gesagt werden, dass mit der Bereitstellung der professionellen Fähigkeit zur Kriegführung ebenfalls die umfassende Militarisierung der Gesellschaft angestrebt wurde. Eine Verbindung von professioneller Kriegsfähigkeit und sozialer Militarisierung ist allerdings, wie selbst Ernst Jünger implizit zugibt, nicht einmal unter den Bedingungen des totalen Krieges zwingend. Mit anderen Worten: Bei der Militarisierung der Gesellschaft handelte sich um eine gewollte politische Präferenz im kriegsgesellschaftlichen Diskurs und seinem sozialen und kulturellen Umfeld. Nicht der Versuch, Kriegsfähigkeit wiederzugewinnen oder auszubauen ist daher sein Wesensmerkmal, sondern die politisch-normative und kulturell-wertende Apologie des Krieges.
205 Ignaz H. Pollmüller, Die Reichswehr in der Republik, in: Frankfurter Hefte, Heft 9, 1946, S. 833–843.
IX. Moderne, Staat und Gesellschaft
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IX. Moderne, Staat und Gesellschaft Moderne heißt: Konstitutiver Verlust der Mitte. Genau dieser Verlust wird im kriegsgesellschaftlichen Diskurs erkannt und produktiv genutzt. Totale Mobilmachung und sachlich-heroische Individualisierung, funktionalistisches Führermodell, Akzeptanz der arbeitsteiligen Ausdifferenzierung der Gesellschaft, Optimierung des gesellschaftlichen Funktionsgefüges durch Vorantreiben der Professionalisierung und positiver Technikbezug sind Kulturformen des gesellschaftlichen Umgangs mit der Moderne. Es geht darum, die gesellschaftliche Dynamik und Produktivität zu stimulieren und zu optimieren. Stimulations- und Optimierungsprozesse sind unhintergehbar auf Zweckund Zielbestimmungen angewiesen. In der militanten Variante der konstruktiven Moderne wird die Ermöglichung der totalen Kriegführung als das Ziel formuliert, welches die Mobilmachung, die Technisierung und die Modernisierung des Gesellschaftlichen legitimiert, ausrichtet und strukturiert. Aus diesem normativen Telos erklärt sich die spezifische Form dieser militanten Moderne: die Verortung gesellschaftlicher Modernisierung im Rahmen einer militanten Sozialsemantik, eine apologetische Gewaltkultur und die binnenpolitische Organisation nach dem militärischen Führungsmodell. Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass nun der Krieg in die leere Mitte der Moderne rücken würde, um sie gewissermaßen zu ‚füllen‘. Denn einerseits wird er als konstitutives Zentrum des Gesellschaftlichen, andererseits als Telos des Mobilisierungsprozesses aufgefasst. Allerdings täuscht dieser Eindruck, denn der Krieg kann diese Leerstelle nicht auffüllen. Gerade das Konzept des totalen Krieges weist auf die unhintergehbare Verschaltung der kulturgeschichtlichen Institution des Krieges mit den gesellschaftlichen Institutionen hin. Wie im totalen Krieg der Krieg die Gesellschaft bedingt, so bestimmen auch die gesellschaftlichen Bedingungen den Krieg. Es gibt keine Möglichkeit, diese Formel in die eine oder andere Richtung aufzulösen und damit zu einem einseitigen Ableitungsverhältnis zu gelangen. Das Funktionsgefüge des totalen Krieges ist seinem Wesen nach durch Bewegung, Dynamik und Verschiebung gekennzeichnet. Im totalen Krieg ist alles unsicher, kontingent und dynamisch; hier muss rein performativ nach Erfahrungen entschieden werden. In einem Konzept, das den totalen Krieg in die Mitte der Moderne stellt, kann dieser Krieg folglich die leere Mitte der Moderne nicht füllen. Vielmehr zeigt er sich selbst als „Leere des Schlachtfeldes“ (Ernst Jünger). Es ist deshalb durchaus berechtigt, in dem ‚technischen Raum der Schlacht‘ eine genuine Form der Moderne zu sehen. Weil sich eine fixe ‚große Form‘ aus dem totalen Krieg nicht herausdestillieren lässt, stellt das Konzept, welches ‚Gesellschaft‘ auf ihn ausrichtet, ein modernes Weltbild dar. Dass der kriegsgesellschaftliche Diskurs sich selbst
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so versteht, ist in jeder Hinsicht offensichtlich – anders als die Romantik, deren Mittelalter- und Christentumskult erst einmal in seiner Funktion entschlüsselt werden muss, zielt dieser Kriegsdiskurs ganz auf die Modernisierung der Gesellschaft im Zeichen der totalen und technisierten Gewalt. Der moderne Krieg wird als Grund und Legitimation benutzt, bürokratische Erstarrungen, soziale Mobilitätsschranken und überkommene Formen außer Kraft zu setzten und die ganze Gesellschaft umfassend in optimierte produktive Bewegung zu versetzen. Daher ist auch der kriegsgesellschaftliche Diskurs als eine genuine Variante von Modernität anzusehen.206 Moderne zivilgesellschaftliche Diskurse setzen dagegen in der Regel die Ökonomie in die gesellschaftliche Mitte. Aber auch für dieses System gilt, dass es einerseits in sich selbst durch Unsicherheit, Kontingenz und Bewegung gekennzeichnet ist und dass es andererseits unhintergehbar auf kontingente Beziehungen zu anderen sozialen Funktionssystemen verwiesen ist. Auch ‚die Ökonomie‘ kann also kein festes Zentrum der Moderne abgeben. Obwohl das kriegsgesellschaftliche Modell in sich sehr kohärent ist, gibt es doch keine Notwendigkeit, die Elemente der Mobilisierung, Individualisierung, Technisierung, Medialisierung, Spezialisierung/funktionale Ausdifferenzierung und der normativen Gesellschaftssemantik in dieser Form zu verbinden. In dem Moment, in dem die Gesellschaftssemantik ‚zivil‘ ausgerichtet wird, ändert sich die ganze Anordnung. Auch die Zivilgesellschaft lässt sich auf den totalen Krieg ausrichten, aber die Mobilisierung für den Krieg erfolgt dann im Namen der Zivilisationsnormen Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenrechte. Daraus resultiert zwar die Gefahr, den Feind zum ‚totalen Feind‘ zu erklären, aber diese Gefahr kann durch reflexive, Werturteile einklammernde Diskursschleifen, die das Reentry der Macht in die Norm beschreiben können ohne die Spannung zwischen Macht und Norm aufzulösen, thematisiert und politisch kontrolliert werden. Im kriegsgesellschaftlichen Diskurs wird für solche Kontrollmechanismen kein systematischer Ort freigehalten, da sie von vornherein als Behinderung der totalen Mobilmachung erscheinen. 206 Der kriegsgesellschaftliche Diskurs erscheint daher, obwohl nicht mit dem Rassendiskurs des Nationalsozialismus identisch, in Vielem wie eine Vorwegnahme der „gewaltsamen Modernisierung“ (Hans-Ulrich Thamer) der deutschen Gesellschaft im Zweiten Weltkrieg. Die Wirkungen der gewaltsamen Modernisierung im Weltkrieg zeigen sich allerdings verstärkt erst im Kontext der sich nach Stalingrad anbahnenden Niederlage und in der Trümmer- und Zusammenbruchsgesellschaft der unmittelbaren Nachkriegszeit. Der kriegsgesellschaftiche Diskurs der Zwischenkriegszeit denkt die Modernisierung dagegen vor dem Hintergund des militärischen Sieges (Hans-Ulrich Thamer, „Es wird alles ganz verwandelt sein.“ Die deutsche Gesellschaft und der Krieg. Eine Schlussbetrachtung, in: Jörg Echternkamp (Hg.), Die deutsche Kriegsgesellschaft 1939 bis 1945. Zweiter Halbband, München 2005, S. 977–992, insbes. S. 978 f., 992).
IX. Moderne, Staat und Gesellschaft
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Aus dieser Sichtweise ergeben sich eine Reihe von Konsequenzen bezüglich der Begriffe Moderne, Zivilität, Gesellschaft und Staat: Zunächst ist der Begriff der Zivilität in Anlehnung an Kant zu definieren als die normative Ausrichtung des gesellschaftsgestaltenden Handelns auf die Verrechtlichung aller menschlicher Beziehungen, basierend auf den Menschenrechten. Darin ist die nach innen wie nach außen orientierte Friedensnorm ebenso enthalten, wie die Verpflichtung auf Freiheit und rechtliche Gleicheit und die Orientierung am Prinzip der Republik.207 Weiterhin ist festzuhalten, dass der Begriff der Moderne nicht auf ein bestimmtes normatives ‚Wesen‘ der Gesellschaft abonniert ist, sondern vielmehr als normativ indifferent betrachtet werden muss. Es handelt sich um einen formalen Kulturbegriff. Das heißt allerdings, dass Zivilität kein notwendiges Kennzeichen moderner Gesellschaften darstellt. Stellen Zivilität und moderne Gesellschaft nicht notwendig verknüpfte Konzepte dar, dann kann die ‚Zivilgesellschaft‘ nicht als das heimliche ‚Wesen‘ des modernen Sozialen angesehen werden. Zivilität ist keine Norm des Sozialen, sondern des Politischen. Sie ist einerseits an die staatliche Organisation der Gesellschaft gebunden und verpflichtet diese staatliche Organisation zugleich auf eine bestimmte Staatsform, nämlich die Republik. Wenn Zivilität nicht im Sozialen, sondern im Politischen wurzelt, dann ist die Trennung von Staat und Gesellschaft als Bedingung ihrer Möglichkeit anzusehen. Und die Etablierung der Republik als ‚Staat der Gesellschaft‘ impliziert durchaus nicht die prinzipielle Aufhebung der staatlichen Eigenständigkeit (Souveränität) gegenüber der Gesellschaft, wie Schmitt meint. Denn alle funktionsfähigen Republiken gründen in Mechanismen der Gewaltenteilung und der balances of power und verleihen damit der staatlich-institutionellen Ebene ein Eigengewicht. Republikanischer Staat und moderne Gesellschaft gehen also nicht ineinander auf. Es kann daher weder von einer Totalität des Sozialen noch des Politischen gesprochen werden, selbst wenn unbestreitbar ist, dass eine starke Durchdringung beider Bereiche stattfindet. Die republikanische Staatsform entspricht also (anders als die demokratische) der Idee der Zivilgesellschaft – a) weil sie die Trennung von Staat und Gesellschaft aufrecht erhält und b) weil sie die der Verrechtlichung gesellschaftlicher Verkehrsverhältnisse korrespondierende Staatsform darstellt. Die Zivilgesellschaft kann also nur in einem bestimmten politischen Kontext Bestand haben. Da der Mensch also nicht als Bürger der Republik in die Welt gekommen ist, sondern sich geschichtlich zu einem solchen entwickelt hat, ist Zivilität 207
Kater, Politik, Recht, Geschichte, S. 125–134.
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E. Totale Mobilmachung
als Ergebnis eines historischen Entwicklungsprozesses der politischen Form des Sozialen anzusehen. Diesen historischen Entwicklungen liegen auf Gewalterfahrungen zurückgehende, Gewalt einfriedende normative Entscheidungen zugrunde (Heinrich Popitz). Diese Entscheidungen resultieren aus der kollektiven, diskursiv-intelligiblen Verarbeitung binnen- und zwischengesellschaftlicher Gewalt. Ihr Zweck ist es, zukünftiges Machthandeln normativ zu binden. Diese normativen Entscheidungen, und nicht die bloße Dezision über Freund und Feind, sind der Kern des Politischen. Umgekehrt heißt das aber, dass Zivilität weder im Wesen menschlicher Interaktion überhaupt, noch in dem der Moderne begründet ist. Vielmehr schließen der Begriff der Moderne bzw. der der modernen Gesellschaft ein konstitutives Verhältnis zwischen Gesellschaft und Gewalt/Krieg nicht kategorisch aus. Folglich können gesellschaftliche Modernitätskonzepte, die nicht ‚zivil‘ ausgerichtet sind, auch nicht als defizitäre Abweichungen vom ‚wahren‘ Weg der Modernisierung oder als ‚pathologische Fälle‘ verstanden werden. Der damit angedeutete Zusammenhang zwischen kultureller Gewaltverarbeitung und politischer Form lenkt den Blick auf die Thematisierung der Kriegserfahrungen nach dem Ersten Weltkrieg. Das als ‚Urkatastrophe‘ wahrgenommene, die bisherigen Deutungsmodi durchbrechende Ereignis des Krieges wird in einen neuen Interpretationskontext eingebettet. In Deutschland setzt sich dabei der kriegsgesellschaftliche Diskurs durch. Das Aushalten auf dem Posten wird heroisiert; die sachliche Funktionsmoral zu einem Idealbild moderner Gesellschaft ausgebaut. Krieg wird als Konstituens und Telos des Sozialen begriffen. Dadurch dass es diesem Diskurs gelingt, einen für viele Zeitgenossen plausiblen Zusammenhang zwischen ‚Gesellschaft‘ und Gewalt herzustellen, werden die aus dem Krieg gezogenen Lehren für das politische Handeln in der Nachkriegsgesellschaft relevant. Es handelt sich dabei allerdings um eine Gewaltverarbeitung, die gerade nicht in normative Bindung von Macht- und Gewalthandeln mündet. Das Scheitern der Zivilgesellschaft in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg ist daher nicht automatische Folge des Weltkrieges und der erlebten/ausgeübten Gewalt selbst, sondern das Ergebnis der erfahrungsorientierten Deutungen des kriegsgesellschaftlichen Diskurses. Diese Interpretationen konnten politisch durchgesetzt werden. Dass es in Deutschland zu einer Brutalisierung der Politik kam, ist eine Wirkung von Diskursen über den Krieg: „In Deutschland verstärkten sie Feindbilder, in Frankreich hegten sie Gewaltimpulse ein.“208 208 Dirk Schumann, Europa, der Erste Weltkrieg und die Nachkriegszeit: eine Kontinuität der Gewalt? In: Journal of Modern European History, Heft 1, 2003, S. 24–43, hier S. 32.
IX. Moderne, Staat und Gesellschaft
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Aber weder Moderne noch ‚Gesellschaft‘ schließen ihrem Wesen nach eine Freisetzung kriegerischer Gewalt aus. Das Weltbild, das sich durch diese Erkenntnis abzeichnet, ist insofern schockierend, als die im normativen Begriff der Moderne verborgenen, Gewalt pathologisierenden kulturellen Selbstschutzmechanismen dekonstruiert werden. Da aber die modernen Gesellschaften im 21. Jahrhundert erneut mit dem Problem des Krieges konfrontiert sehen, ist es nötig, sich genau Rechenschaft über die Potenzen und Möglichkeiten der Moderne abzulegen. Selbstbeschwichtigung und Verdrängung sind für diese Zukunft denkbar schlechte Ratgeber. Nur wenn diese Potenzen erkannt werden wollen, ist es möglich, gewaltbewältigend aus Gewalterfahrungen zu lernen. Moderne Zivilgesellschaft und moderne Kriegsgesellschaft unterscheiden sich im Hinblick auf ihr normatives Verhältnis zu Gewalt. Zivilgesellschaften begrenzen Macht und Gewalt mittels verbindlicher Regeln, während die Kriegsgesellschaft den permanenten Ausnahmezustand hypostasiert und die Rechtsbindung der Souveränitätsmacht außer Kraft setzt. Diese Alternativstellung der beiden Systeme der Moderne kann dazu verleiten, auf die Metaphorik des totalen Staates analytisch zurückzugreifen, wenn Zivilgesellschaften in den Krieg ziehen. Es ist nicht zu bestreiten, dass in diesem Falle auch in Zivilgesellschaften gesellschaftliche Effekte auftreten wie sie für kriegerische Streitfälle typisch sind: Straffung der inneren Organisation, Kürzung der Entscheidungswege, Einschränkung bürgerlicher Freiheiten usw. Im Krieg nimmt sich auch die Zivilgesellschaft, mit Georg Simmel gesprochen, „zusammen“.209 Allerdings genügt bereits der Hinweis auf die politische Romantik, die keineswegs eindeutig dem Modell der kriegsgesellschaftlichen Moderne zuzuordnen ist, um klar zu machen, dass eine konstitutive Funktion des Krieges für die Gesellschaft noch nicht notwendig eine kriegsgesellschaftliche Ordnung anzeigt. Die Tatsache, dass auch die zivilgesellschaftliche Normalität in einer militärischen Sicherheitsordnung gründet, rechtfertigt daher keineswegs die Übernahme der politischen Kategorien des ‚totalen Staates‘, um diese Sicherheitsordnung zu beschreiben. Dies wird insbesondere deutlich, wenn man das globale zivilgesellschaftliche Sicherheitsdispositiv zu Beginn des 21. Jahrhunderts analysiert. Auch hierbei zeigt sich eine gesellschaftskonstitutive Funktion des Krieges. Es kommt aber nicht zu jener, für totale politische Systeme typischen, Entrechtlichung der Machtstrukturen und der Gewaltanwendung.
209
Simmel, Soziologie, S. 350.
F. Global Security: Der andauernde Sicherheitszustand als Weltnomos der Zivilgesellschaft Der ‚Kalte Krieg‘, der die Welt vier Jahrzehnte politisch beherrscht hat, ist die letzte Form des totalen Krieges gewesen. Man möchte fast sagen, dessen Totalität ist so gesteigert worden, dass Krieg kein politisches Ziel mehr sein konnte. Ein Kriegs- und Gesellschaftsbild, wie es etwa der kriegsgesellschaftliche Diskurs in den 20er und 30er Jahren entwickelt, macht in Angesicht der Ausrottungsqualität von Atomwaffen keinen Sinn mehr, wenn eine im Wesentlichen wissenschaftlich, technologisch und ökonomisch symmetrische Konfliktlage unterstellt werden muss. Der kriegsgesellschaftliche Diskurs entwickelt das Bild einer Moderne des Krieges und setzt dabei gerade voraus, dass die mobilisierte und modernisierte eigene Gesellschaft mit ebenfalls modernen Gegnern konfrontiert ist. Unter der Bedingung atomarer Waffentechnologie ist eine Aktivierung des Sozialen mit dem Zwecke der Kriegführung schlicht sinnlos, denn totaler Krieg bedeutet dann nur noch Selbstvernichtung. Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts bricht der Abschreckungsschirm in sich zusammen und der ‚Kalte Krieg‘ wird beendet. Die internationale Ordnung tritt in einen Wandlungsprozess ein, wobei zu Beginn des 21. Jahrhunderts unklar ist, welche genaue Form die Weltordnung in Zukunft annehmen wird. Tendenzen und Entwicklungen lassen sich allerdings durchaus herausarbeiten. Hier wird der Vorschlag gemacht, die an der Wende zum 21. Jahrhundert heraufziehende politische und gesellschaftliche Ordnung als globales Sicherheitsdispositiv zu betrachten. Dieser Begriff soll reflektieren, dass der bislang trotz Blockbildung im Ost-West-Konflikt wesentlich nationalstaatliche und holistisch-gesellschaftliche Bezug politischer und gesellschaftlicher Ordnungsdiskurse um die Ebene globaler gesellschaftlicher Vernetzungen und globaler Ordnungspolitik erweitert wird. Diese Ausdehnung des Problemfeldes von Ordnungsdiskursen bleibt nicht auf einzelne Aspekte weltumfassender Bezüge beschränkt, sondern stellt sich als prinzipielle Erweiterung des modernen Gesellschaftlichen und des modernen Politischen dar. Zielte ‚Sicherheit‘ vormals auf den inneren und äußeren Friedenszustand national verfasster Gesellschaften, so wird der politische Bezugsrahmen von Sicherheit nunmehr zunehmend durch eine weltgesellschaftliche Ebene ergänzt und überlagert.
I. ‚Sicherheit‘ statt ‚Krieg und Frieden‘
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Normativ ist der Begriff der Sicherheit im Rahmen dieses Dispositivs nicht einfach auf die Aufrechterhaltung einer wie immer auch verfassten gesellschaftlichen Ordnung ausgerichtet, sondern er bezieht sich darüber weit hinausgehend auf das Zivilgesellschaftliche. Dieser neue Weltnomos der Zivilgesellschaft zeigt auch neue Gesichter des Krieges. In Absetzung vom symmetrischen, gesellschaftsmobilisierenden und sich totalisierenden Staatenkrieg wird daher oftmals von ‚neuen Kriegen‘ gesprochen. Für die westlichen Zivildemokratien ist eine Wiederkehr des ‚heißen‘ Krieges zu beobachten und kann diskusrsanalytisch eine „Normalität der Gewalt“1 konstatiert werden. Allerdings geht es weder um die Mobilisierung der eigenen staatlich verfassten Gesellschaft zum Zwecke der Verteidigung gegen einen anderen Staat, noch um die Modernisierung der Gesellschaft im Rahmen eines kriegsgesellschaftlichen Diskurses, dessen wesentliche politische Bezugsgröße ebenfalls der Staat ist. Der wiederkehrende und sich wiederholende Krieg der Zivilgesellschaften soll im Folgenden mittels des Begriffs einer auf ‚Sicherheit‘ beruhenden globalen gesellschaftlichen und politischen Anordnung, die die klassische politische Unterscheidung zwischen Normalität (Frieden) und Ausnahmezustand (Krieg) in einen neuen gesellschaftskonstitutiven Diskurs verschiebt, verständlich gemacht und kontextualisiert werden. Dabei soll sich zeigen, inwiefern der Sicherheitskrieg für die westlichen Zivilgesellschaften zu Beginn des 21. Jahrhunderts als konstitutiv angesehen werden kann.
I. ‚Sicherheit‘ statt ‚Krieg und Frieden‘ Um dies zu leisten, bedarf es zunächst einer genaueren Definition des schillernden Begriffs der ‚Sicherheit‘. Nach seinem Auftauchen gegen Ende der 1960er Jahre im binnengesellschaftlichen Kontext der ‚Inneren Sicherheit‘ macht dieser Begriff schnell Karriere. Unter diesem Titel fassen sowohl apologetische als auch kritische Diskurse in der Regel das Verhältnis zwischen ‚gefährlichen‘ strukturellen Bedrohungen gesellschaftlicher Ordnung (etwa gesellschaftspolitischer Protest oder Kriminalität) und den darauf bezugnehmenden staatlichen Repressionsmaßnahmen.2 ‚Sicherheit‘ wird dabei vor allem im Rahmen des Staatspolitischen und der Repressionshypothese konzipiert: „Der Staat erscheint in der öffentlichen Dramaturgie der ‚Inneren Sicherheit‘ als das gute Objekt, mit dem [. . .] ein böses Objekt konkurriert.“3 Während apologetische Ordnungsdiskurse dabei mehr polizei1
Spreen, Böses auf Erden, S. 239. Thomas Kunz, Der Sicherheitsdiskurs. Die innere Sicherheitspolitik und ihre Kritik. Bielefeld 2005, S. 12, 15. 3 Peter Brückner, Versuch, uns und anderen die Bundesrepublik zu erklären, Berlin 1978, S. 172. 2
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liche Möglichkeiten fordern, heben kritische Diskurse hervor, dass die Politik der ‚Inneren Sicherheit‘ zur strukturellen Gefährdung der demokratischen Gesellschaft durch staatliche Macht führe. An dieser Stelle soll dagegen einer Bestimmung des Sicherheitsbegriffs gefolgt werden, die nicht dem Schema von Freiheit versus Unterdrückung folgt, sondern vielmehr die konstitutiven Effekte von Sicherheitspolitik für ‚Gesellschaft‘ im Auge hat. Der Diskurs der ‚Sicherheit‘ markiert demnach ein ordnungspolitisches gesellschaftliches Feld, welches sich auf ein Mehr oder Weniger von Sicherheitsrisiken bezieht, wobei diese Risiken sich auf unterschiedliche Gegenstandsbereiche beziehen, z. B. Kriminalität, Krankheit, Armut, politische Militanz, Terrorismus. Im Rahmen dieser Ordnungspolitik wird demnach rational mit Riskowahrscheinlichkeiten kalkuliert. Zum Beispiel wird in einer aktuellen statistischen Studie die Wahrscheinlichkeit für das Eintreten eines Terroranschlags, bei dem x Opfer zu beklagen sind, als proportional zu der Exponentialfunktion x–a für a ⁄ 2 angegeben.4 Wissenschaftliche Methoden der Klassifizierung von individuenbezogenen Risikoprofilen und der Erfassung und Kontrolle riskanter sozialer Aggregierungen dienen in der Ordnung der Sicherheit einem umfassenden „Management von Kriminalität und Gefährlichkeit“.5 Ziel ist es, markierte Sicherheitsrisiken so zu managen, dass sie sich innerhalb solcher Grenzen halten, „die sozial und ökonomisch hinnehmbar sind und um einen Mittelwert kreisen“, der als „optimal für ein gegebenes soziales Funktionieren“6 angesehen wird. Dieser Sicherheitsoptimierung unterliegen natürlich moralische und/oder rechtliche Normen, die nicht erwünschtes Verhalten diskriminieren.7 Diese normative Dimension der Sicherheit ist nicht bloß ein Restbestand aus – mit Jürgen Link gesprochen – „protonormalistischen“ Zeiten, sondern sie ist aus politischen Sicherheitsdispositiven nicht wegzudenken. Ansonsten wäre Sicherheit nur Ökonomie. Auf den letzten Punkt ist verstärkt hinzuweisen, denn gerät die Sicherheitsoptimierung im Namen des sozialen Funktionierens in das Fahrwasser rein ökonomischer Diskurse, so stellt sie sich als ökonomisches Abwägen zwischen den Kosten der Kriminalität und denen der Sicherheit dar. Ob4 Aaron Clauset/Maxwell Young, Scale Invariance in Global Terrorism, in: arXiv:physics/0502014 v2 1 (2005), http://arxiv.org/PS_cache/physics/pdf/0502/ 0502014.pdf. 5 Henning Schmidt-Semisch, Kriminalität als Risiko. Schadensmanagement zwischen Strafrecht und Versicherung, München 2002, S. 84–97. 6 Michel Foucault, Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, Frankfurt am Main 2004, S. 18 f. 7 Tilman Lutz/Katja Thane, Alles Risiko – oder was? Sicherheitsdiskurse zwischen Rationalität und Moral, in: Widersprüche, Heft 86, 2002, S. 9–20, insbes. S. 9 f., 16–18.
I. ‚Sicherheit‘ statt ‚Krieg und Frieden‘
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wohl dem Sicherheitsdispositiv solche Überlegungen nicht fremd sind, kann es darauf nicht reduziert werden, solange öffentliche Sicherheitsorgane beteiligt sind, die nicht nur in der Pflicht stehen, das Recht zu beachten, sondern es zu schützen. Daher ist das Sicherheitsmanagement nicht an rein ökonomischen Erwägungen, sondern auch an der staatlichen Funktion orientiert, Recht durchzusetzen.8 Das Sicherheitsmanagement verfährt nicht bloß reaktiv, etwa indem es Verstöße nachträglich sanktioniert. Velmehr versucht das Sicherheitsmanagement bereits im Vorfeld, Sicherheitsrisiken aktiv zu manipulieren, indem Räume, Körper und Bewegungen, Wissen, Emotionen und Begehrensströme kontrolliert werden und auf soziales und gesellschaftliches Handeln steuernd eingewirkt wird. Sicherheit wird aktiv hervorgebracht, das heißt sie wird produziert.9 Das Dispositiv ‚Innerer Sicherheit‘ umfasst eine ganze Serie von Machtverfahren, die allesamt darauf zielen, sowohl auf objektives Risiko wie auf subjektive Riskowahrnehmung Einfluss zu nehmen. Sicherheit ist dabei längst keine ausschließliche Domäne des Staates mehr, denn „nicht-staatliche Akteure schließen sich mit staatlichen Instanzen zu temporären, situativen Sicherheitsarrangements zusammen.“10 Hervorzuheben ist dabei insbesondere das Outsourcen von Polizeifunktionen an kommerzielle SecurityAnbieter, das zu einer unübersichtlichen Ausweitung von Risikomarkierungen und zur zunehmenden Ökonomisierung von ‚Sicherheit‘ führt. Wenngleich damit das staatliche Gewaltmonopol aufgeweicht wird, so ist doch hervorzuheben, dass die Legitimität von binnengesellschaftlicher Gewaltanwendung nach wie vor ausschließlich an den Staat gekoppelt bleibt. Alle Sicherheitsarrangements bleiben im Rahmen des öffentlichen Rechts und dieses wird in keiner Weise privatisiert oder kommerzialisiert.11 Von einer Privatisierung des Rechts oder einer Auflösung des Staates kann daher im Kontext des ‚inneren‘ Sicherheitsdispositivs keine Rede sein. Die Ausdehnung der Sicherheitsproduktion in den privaten Bereich und die Orientierung an der verfassungsmäßigen Rechtsordnung zeigt, dass das kontinuierliche binnenpolitische Sicherheitsmanagement nicht als per8
Eppler, Vom Gewaltmonopol zum Gewaltmarkt, S. 121–123. Dazu am Beispiel des „postmodernen“ Stadtraums unter Berücksichtigung der Begehrensstrukturen: Hannelore Bublitz/Dierk Spreen, Architektur einer Geschlechterkonstruktion. Der Potsdamer Platz aus der Perspektive der Gender Studies, in: Joachim Fischer/Michael Makropoulos (Hg.), Potsdamer Platz. Soziologische Theorien zu einem Ort der Moderne, München 2004, S. 139–187. 10 Tom Holert, Sicherheit, in: Ulrich Bröckling u. a. (Hg.), Glossar der Gegenwart, Frankfurt am Main 2004, S. 244–250, hier S. 246. 11 Jürgen Habermas, Der gespaltene Westen, Frankfurt am Main 2004, S. 175. 9
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manenter innerer Ausnahmezustand im Sinne Carl Schmitts zu verstehen ist. Eine solche Deutung wäre insofern verlockend, weil das Sicherheitsdispositiv ebenfalls eine andauernde Bedrohungslage erzeugt, denn die Risiken verschwinden nicht vollständig. Die Differenz zwischen Sicherheits- und Ausnahmezustand erklärt sich aus den unterschiedlichen gesellschaftskonstitutiven Effekten und den damit zusammenhängenden strukturellen Differenzen zwischen beiden ‚Zuständen‘. Die Ordnung des permanenten Ausnahmezustands führt in den totalen, paranoiden, militanten Maßnahmestaat. Ein solcher Staat würde zum Beispiel private und kommerzialisierte Sicherheitsproduzenten nicht akzeptieren können. Ebenso wenig bliebe der Vorrang des Rechts gegenüber der Exekutive gewahrt. Dagegen produzieren die hybriden Sicherheitsarrangements gerade soziale und zivilgesellschaftliche Normalität. Die Aktanten der Sicherheit sind eher als Elemente eines politischen ‚Immunsystems‘ zu verstehen, das permanent den normalen ‚Gesundheitszustand‘ schützt.12 Inwiefern ist ein solcher Begriff von Sicherheit auf das globale Sicherheitsdispositiv übertragbar? Ein Wechsel von der binnenpolitischen zur globalen Analyseebene bedarf der Plausibilisierung des Begriffs globaler Sicherheit, weil durch den Wechsel der letztliche Bezug des inneren Sicherheitsdispositivs auf ein staatlich verfasstes Gewalt- und Rechtsmonopol entfällt. Theoriegeschichtlich lässt sich zeigen, dass auch im Kontext internationaler Politik ‚Sicherheit‘ sich zunächst auf den Nationalstaat bezieht, der die Sicherheit der Gesellschaft gewährleistet.13 Sowenig jedoch „der abendländische Nationalstaat eine überzeitliche Größe ist, sowenig ist auch Sicherheit ein absoluter Wert im internationalen System.“14 Vielmehr ist seit längerem eine strukturelle Veränderung des internationalen Systems zu beobachten, „indem sich Zwischen- und Nebenformen politischer Ordnung bilden“, die auch das Prinzip der staatlichen Souveränität betreffen.15 Das internationale System wird „dadurch weniger homogen und die Regeln und Ressourcen, die seine Struktur bilden, weniger einheitlich“.16 Neben der Aufwertung substaatlicher, jedoch in verschiedener Weise in die Globalisierung eingeschriebener Akteure werden auch überstaatliche Sicherheitsgemeinschaften immer wichtiger, deren umfassendste die Vereinten Natio12 Emily Martin, Toward an Anthropology of Immunology: The Body as Nation State, in: Mario Biagioli (Hg.), The Science Studies Reader, New York/London 1999, S. 358–371, insbes. S. 362 ff. 13 Daase, Kleine Kriege, S. 31–34. 14 Ebd., S. 34. 15 Ebd., S. 250. 16 Ebd.
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nen sind. Im Folgenden sollen einige Charakteristika der globalen Sicherheit bestimmt werden. Die Verschiebung vom Staat als Garanten gesellschaftlicher Ordnung zu multilateralen Sicherheitssystemen impliziert eine Transformation des exekutiven Prinzips der Ordnungsherstellung. ‚Multilateral‘ soll hier heißen, dass Sicherheit mehr meint als die Verfolgung nationaler Interessen und also in irgendeiner Form Absichten und Anschauungen anderer Akteure berücksichtigt. Das heißt auf jeden Fall, dass das Prinzip der autonomen souveränen Dezision durch Formen der Inklusion anderer Perspektiven überlagert (wenn auch nicht einfach aufgehoben) wird. Solche Sicherheitssysteme können auf symmetrischen diskursethischen Verfahren beruhen, die „egalitäre Entscheidungen von vorangegangenen Argumentationen abhängig“ machen, „so dass nur gerechtfertigte Entscheidungen akzeptiert werden“, die „inklusiv“ sind, „so dass sich alle betroffenen Parteien auch beteiligen können“. Die Beteiligten nötigen sich dabei „zur gegenseitigen Perspektivenübernahme“, „so dass eine faire Abwegung aller jeweils berührten Interessen möglich ist“.17 In ihrer Interaktantenstruktur eher symmetrisch angelegte Sicherheitssysteme werden oftmals unter dem Begriff der ‚kollektiven Sicherheit‘ zusammengefasst. Globale Sicherheit kann aber genauso auf der Macht und den Fähigkeiten eines ‚Weltsheriffs‘ basieren. Derzeit und auf absehbare Zukunft füllen die USA die Rolle aus: „Uncle Sam’s is the number you call when truly ‚greater than expected threats‘ menace your neighborhood, and possibly all our neighborhoods.“18 Auch diese asymmetrische Struktur des Sicherheitssystems schließt andere ein: „If the United States seeks to serve only itself, and rides roughshod over the interests of others, [. . .] its career as a functional sheriff would be brief.“19 Aber sie beruht auf der Idee, dass der Sicherheit am besten durch einseitige Überlegenheit, nicht durch kollektiven Konsens gedient ist. Ein zentraler Akteur der global-multilateralen Sicherheitsordnung sind die Vereinten Nationen. In ihrer Charta wird als Zweck der UNO neben der Förderung der „Menschenrechte und Grundfreiheiten“ insbesondere die Wahrung und gegebenenfalls Wiederherstellung des „Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“ durch „wirksame Kollektivmaßnahmen“ bestimmt.20 Der Begriff der ‚internationalen Sicherheit‘ wird zwar in der UNCharta nicht weiter definiert, aber der Verweis auf den kollektiven Charakter der Sicherheit und den ‚Weltfrieden‘, zeigt bereits an, dass es um etwas 17
Habermas, Der gespaltene Westen, S. 184. Colin S. Gray, The Sheriff. America’s Defense of the New World Order, Lexington 2004, S. 56. 19 Ebd., S. 8. 20 Charta der Vereinten Nationen, Art. 1, Abs. 1 und Abs. 3. 18
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anderes geht als um bloße binnenstaatliche Sicherheit auf der Basis klassischer Souveränität. In der Charta wird hervorgehoben, dass kollektive Sicherheitsmaßnahmen sich bereits auf „internationale Streitigkeiten oder Situationen“ beziehen können, „die zu einem Friedensbruch führen könnten“ [Hervorh. DS].21 Neben der Beseitigung von bestehenden Konflikten, geht es also ebenfalls um die Verhütung von Konfliktrisiken bzw. den „Ursachen möglicher Konflikte“.22 Dabei handelt es sich um den Übergang „von einer reaktiven Haltung, die einen Angriff beantwortet, zu einer aktiven Haltung“, die „auf Veränderung zielt“.23 Das politische Handeln im Rahmen der Sicherheitsgemeinschaft der UNO zielt damit auf die präventive und konstruktive Beeinflussung von Riskowahrscheinlichkeiten. Dass der Begriff der ‚Sicherheit‘ in der UN-Charta neben dem des ‚Weltfriedens‘ verwendet wird, deutet außerdem an, dass unter ‚Frieden‘ und ‚Sicherheit‘ nicht ganz das gleiche verstanden werden kann. Kollektive Sicherheit kann bereits in Frage stehen, wenn noch gar kein faktischer Bruch des Friedens vorliegt. Sicherheitspolitik meint damit einerseits mehr als Friedenswiederherstellung. Sie hat einen vorbeugenden Charakter und bearbeitet mögliche Friedensbrüche und ihre Ursachen. Anderseits meint internationale Sicherheitspolitik auch weniger als Krieg, insofern in der UN-Charta ausdrücklich darauf verwiesen wird, dass „friedliche Mittel“24 zur Bereinigung von Sicherheitsrisiken, die in einen Friedensbruch führen könnten, einzusetzen sind. Der Begriff der internationalen Sicherheit bezieht sich damit auf einen Bereich außenpolitischen Handelns, der zwischen Krieg und Frieden liegt. Ein wesentlicher Aspekt des Abschieds von der klaren, das klassische Souveränitätssystem kennzeichnenden Unterscheidung zwischen den gleichwertigen Rechtszuständen ‚Krieg‘ und ‚Frieden‘ ist die generelle Delegitimation des Krieges im Rahmen des UN-Systems. „Ein Recht zum Krieg existiert faktisch nicht mehr.“25 Da allerdings der völlige Verzicht auf gewaltsame Mittel im Bereich kollektiver Sicherheit illusorisch ist, wird kriegerische Gewalt zu einem Mittel der Sicherheitspolitik – gemeinsam mit anderen, friedlichen Mitteln. Insbesondere kann es sich als notwendig erweisen, zum Zwecke der humanitären Intervention auf militärische Mittel zurückzugreifen. Die Einhal21
Ebd., Abs. 1. Günther Unser, Die UNO. Aufgaben und Strukturen der Vereinten Nationen, München 51992, S. 26. 23 Hardt/Negri, Multitude, S. 36. 24 Charta der Vereinten Nationen, Art. 1, Abs. 1. 25 Daase, Kleine Kriege, S. 238. 22
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tung der Menschenrechte wird im neuen internationalen Rechtsverständnis nicht mehr länger als ‚innere Angelegenheit‘ betrachtet. Die „systematische Verletzung der Menschenrechte einer Bevölkerung durch ihre eigene Regierung“ gilt vielmehr als eine Sache, „die die gesamte Staatengemeinschaft betrifft und deren friedliches Zusammenleben [. . .] stört.“26 Aus diesem Argument ist trotz der Diskriminierung des Krieges im Völkerrecht die Erlaubnis zu einer militärischen Intervention zum Schutze der Menschenrechte ableitbar. Obwohl diese Argumentation nicht die Absicht verfolgt, einen neuen Rechtsgrund für die Legalisierung des Krieges zu konstruieren, sondern es ihr vielmehr um die Wahrung basaler Mindestnormen menschlichen Zusammenlebens geht, ermöglicht sie dennoch eine von den Vereinten Nationen mandatierte legale Kriegführung. Wichtig ist allerdings, dass die Gewaltmittel im UN-System gegenüber friedlichen Mitteln ausgezeichnet bleiben, weil sie besonderer Legitimation bedürfen und als ‚letztes Mittel‘ im Rahmen sicherheitspolitischer Maßnahmen gelten.27 Das ändert jedoch nichts daran, dass damit Kriegführung zu einem integralen Moment internationaler Sicherheit wird, das heißt Kriegführung und ‚Sicherheit‘ schließen sich nicht gegenseitig aus, ‚Krieg‘ und ‚Frieden‘ dagegen schon. Im Rahmen des kollektiven UN-Systems kommt es somit zum Einschluss des Krieges in das für internationale Normalität konstitutive globale Sicherheitsdispositiv. Dabei allerdings ist das globale Sicherheitsdispositiv nicht als reines Machtsystem anzusehen, sondern es muss als ein verrechtliches System verstanden werden. ‚Verrechtlichung‘ soll dabei nicht bloß eine positive Fixierung auf Verfahrensregeln des Zwangs meinen, sondern auf den normativen Mehrwert verweisen, der auf die Zähmung der Macht zielt.28 Die Verrechtlichung der internationalen Beziehungen meint, dass staatliche Souveränität nicht mehr Herrschaft über das Recht, sondern eine rechtliche Verpflichtung des Staates gegenüber den Menschenrechten und dem Völkerrecht anzeigt. Das ist eine grundsätzliche Verschiebung, denn Souveränität basiert damit auf Rechten und Pflichten, die durch das Völkerrecht zugewiesen werden. Solche Verpflichtung des Staates weicht das Souveränitätsprinzip auf, weil das völkerrechtliche Interventionsverbot mit der Verpflichtung des Staates auf die Menschenrechte in Konflikt gerät, wenn staatliche Gewalt „selbst zur Quelle für Entwürdigung, Gewalt, Unterdrückung, Mord und Vertreibung wird“.29 Die Einbindung der Sicherheit in Rechtsstrukturen zeigt sich 26 Ulrich K. Preuß, Zwischen Legalität und Gerechtigkeit. Der Kosovo-Krieg, das Völkerrecht und die Moral, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 7, 1999, S. 816–828, hier S. 822. 27 Ebd., S. 825. 28 Kater, Institution und Norm, S. 200.
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daran, dass der Einsatz kriegerischer Mittel zum Zwecke der Rechtsdurchsetzung im Rahmen des UN-Systems stark reglementiert ist und den Prinzipien der Notwendigkeit (‚letztes Mittel‘) und der Verhältnismäßigkeit gehorchen muss.30 Diese internationale normative Diskriminierung des Krieges setzt dabei auf die Rechtsstruktur zivilgesellschaftlicher Republiken auf, in denen der Krieg immer besonderer Zustimmung seitens des Parlaments bedarf. Innerhalb des verrechtlichten globalen Sicherheitsdispositivs besteht die Differenz zwischen Krieg und Frieden fort. Die Faktizität des Rechts im internationalen Kontext kann jedoch nicht analog zur Rechtsgeltung in staatlich organisierten Zivilgesellschaften gesehen werden, weil die Rechtsdurchsetzung von partikulären außenpolitischen Interessen insbesondere der Mitglieder im Sicherheitsrat abhängt.31 Globale Sicherheit stellt sich daher als Spannungsfeld zwischen Macht und Norm dar, das heißt es handelt sich um eine politische Ordnung. Verrechtlichung der internationalen Sicherheit soll im Folgenden daher nur meinen, dass nationale und internationale Rechtsstrukturen von erheblicher Bedeutung sind. Dabei ist jedoch das Spannungsverhältnis zur Macht – insbesondere zur überlegenen Macht der USA – mitzudenken. Aber selbst wenn es Stimmen gibt, welche die „Rücksichtnahme auf ‚völkerrechtliche Fragen‘“ allzu gerne für „eine schlagkräftige Kriegführung“32 opfern möchten und im Theoriefahrwasser Carl Schmitts zur Apologie der Machtpolitik schreiten, ist der andauernde Sicherheitszustand deswegen noch kein Recht außer Kraft setzender permanenter Ausnahmezustand, der die Gesellschaften mit der Identität des Krieges schlägt. Das globale Sicherheitsdispositiv begleitet vielmehr einen fortdauernden Zustand zivilgesellschaftlicher Normalität. Insofern kann dieses Dispositiv – und mit ihm der Krieg als Sicherheitsmittel – als Konstituens des Zivilgesellschaftlichen betrachtet werden. Das Dispositiv selbst umfasst politische, polizeiliche und kriegerische Mittel, die bei aller Verschaltung doch zugleich deutlich differenziert werden. Insbesondere Gewalt wird starken Normierungen unterworfen. Weiterhin kommt es im Rahmen des globalen Sicherheitsdispositivs zu einer Ausdifferenzierung und Vervielfältigung der markierten Sicherheitsrisiken. Zu diesen Bedrohungen der globalen Sicherheit werden insbesondere der internationale Terrorismus, die organisierte internationale Kriminalität, Korruption, Piraterie, Formen politischer Militanz von Rechts und Links, 29
Preuß, Zwischen Legalität und Gerechtigkeit, S. 820. Ebd., S. 825 f. 31 Oliver Dörr, Gewalt und Gewaltverbot im modernen Völkerrecht, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B43, 2004, S. 14–20. 32 Robert Kagan, Macht und Ohnmacht. Amerika und Europa in der neuen Weltordnung, Berlin 2003, S. 61. 30
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‚Cyberotage‘ und soziale Bewegungen gezählt. Das globale Sicherheitsdispositiv umfasst daher nicht nur nicht ausschließlich staatspolitische, sondern auch nicht unmittelbar politische Sicherheitsrisiken, die sich als Folge der Globalisierung und der Informationszeitalters nicht mehr auf lokale Räume begrenzen lassen: „Information-age threads are likely to be more diffuse, dispersed, multidimensional nonlinear, and ambiguous than industrial-age threads.“33 Amerikanische Autoren fassen diese Bedrohungen unter dem Begriff „Netwar“ zusammen. Gemeint sind damit Konflikte mit militärischen, paramilitärischen und nicht-militärischen Akteuren, die als soziale Netzwerke organisiert sind, wobei die Perspektive explizit nicht auf den Informations- oder Cyberkrieg beschränkt wird, ihn aber mit umfasst.34 Im Rahmen dieser Ausweitung und Auffächerung der Gefahrenwahrnehmung interagieren die verschiedenen Ebenen der Sicherheitspolitik. Das Risikomanagement reicht von der Ebene der ‚Inneren Sicherheit‘ über die Ebene begrenzter multilateraler Sicherheitsgemeinschaften35 bis hinauf zur globalen Ebene, wenn etwa durch den Sicherheitsrat festgestellt wird, jeder Akt internationalen Terrorismus „constitutes a threat to international peace and security“ (S/RES 1373 vom 28.9.2001). Der globale Sicherheitsdiskurs kann nicht von niedrigeren Ebenen der Sicherheitsproduktion getrennt betrachtet werden.36 Deshalb wird auch die Unterscheidung zwischen Innen- und Außenpolitik verwischt. Wenn frei nach Bonaparte gilt: „It takes networks to fight networks“37, dann bedeutet das nicht nur eine verstärkte institutionalisierte internationale Vernetzung staatlicher Sicherheitsinstitutionen, sondern auch die Lockerung der Grenzen zwischen verschiedenen staatlichen Institutionen wie Polizei, Geheimdienst, Militär und Finanzverwaltung. Damit verschwimmt die klassische politische Differenz zwischen innen und außen.38 33 John Arquilla/David Ronfeldt, The Advent of Netwar (revisited), in: John Arquilla/David Ronfeldt (Hg.), Networks and Netwars. The Future of Terror, Crime, and Militancy, Santa Monica 2001, S. 1–25, hier S. 2. 34 John Arquilla/David Ronfeldt, The Advent of Netwar, Santa Monica 1996, S. 47–80. 35 Als Beispiel dafür kann die Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP) gelten. Die ENP zielt auf die Schaffung eines die Nachbarschaft der EU miteinbeziehenden ‚Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts‘ (vgl. Wilhelm Knelangen, Nachbarn in Sicherheit, Freiheit und Recht? Inneres und Justiz: Ambivalenzen der ENP, in: Osteuropa, Heft 2/3, 2007, S. 257–272; Lili Di Puppo, Good Governance oder Sicherheit? Die EU-Antikorruptionspolitik im Südkaukasus, in: Osteuropa, Heft 2/3, 2007, S. 297–304). 36 Arquilla/Ronfeldt, The Advent of Netwar (revisited), S. 18. 37 Ebd., S. 15. 38 Daase, Kleine Kriege, S. 224.
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Ein weiterer Hinweis zum Strukturwandel der Innen-außen-Differenz ergibt sich aus der Analyse der Taktik von Netwars. Diese besteht aus dem so genannten Swarming (‚Schwärmen‘). Dabei handelt es sich um den koordinierten Angriff verstreuter und zugleich vernetzter Einheiten aus allen Richtungen auf einen Punkt, der aber erst im Augenblick des Angriffs für den Verteidiger eine Unterscheidung zwischen Freund, Feind und Neutralen ermöglicht. Die Angreifer werden nur momentan sichtbar, um danach rasch wieder zu verschwinden. Dieses Konzept gilt als zentral für den Netzkrieg. Das Schwärmen beherrschen Globalisierungsgegner genauso wie Zapatisten, somalische Ethnonationalisten und Serbische Hacker. Diesen Modus des Angriffs machen sich inzwischen auch Sicherheitskräfte und Militärs zu eigen.39 Swarming ist eine Strategie, die nur im Innern von Gesellschaften möglich ist, weil sie gerade darauf beruht, dass keine klare Grenze zwischen innen und außen markiert und sichtbar ist. Erst im Augenblick der operativen Performanz stellt sich diese Unterscheidung her, um danach sofort wieder unscharf zu werden. Die Differenzierung zwischen innen/außen oder zwischen Freund/Feind verweist daher nicht auf dauerhafte Materialisierungen kollektiver Identität, wie Grenzen oder Fronten, Mauern oder Zäune, die ‚die Anderen‘ entweder ausgrenzen oder internieren. Vielmehr erweist sich die Innen-außen-Differenz als momentan, performativ und gesellschaftlich. Die Innen-außen-Differenz wird gewissermaßen in den gesellschaftlichen Raum ‚hineingefaltet‘. Dieses momentane und flottierende Konstituieren von Grenzunterscheidungen entspricht strukturell dem globalen Sicherheitsdispositiv, in dem Gewaltrisiken als Teil der gesellschaftlichen Normalität gelten und von daher weder ‚ausgegrenzt‘ noch ‚interniert‘ werden können, sondern permanent ‚umschwärmt‘ werden müssen. Ähnlich wie ein Bienenschwarm befinden sich die Sicherheitsorgane in einem andauernden Zustand der Aufmerksamkeit und durchsuchen dabei ständig das Netz der sozialen Beziehungen nach Sicherheitrisiken, um sich im Falle eines positiven Befunds von allen Seiten auf den Gegner zu stürzen. Um begriffliche Unschärfen (die durchaus System haben können) zu vermeiden, soll unter dem Begriff des globalen Sicherheitsdispositivs im Folgenden ein internationales ordnungspolitisches Regime verstanden werden, welches durch folgende Merkmale charakterisiert ist: 1. Das globale Sicherheitsdispositiv ist ein multilaterales Sicherheitsregime, das heißt es basiert auch auf dem Prinzip gegenseitiger Berücksichtigung, nicht bloß auf dem Prinzip souveräner Machtentscheidung. 39 John Arquilla/David Ronfeldt, Swarming and the Future of Conflict, Santa Monica 2001, S. VIII.
I. ‚Sicherheit‘ statt ‚Krieg und Frieden‘
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2. Dabei interagieren im sicherheitspolitischen Feld verschiedene öffentliche und private Sicherheitsproduzenten mit unterschiedlichen politischen und ökonomischen Interessen. Die Rolle der Staaten und ihres Bezugs zueinander bleibt allerdings von zentraler Bedeutung. 3. Globale Sicherheit meint einen andauernden Zustand zwischen Krieg und Frieden: ‚Sicherheit‘ bezieht sich erstens nicht nur auf manifeste Friedensbrüche, sondern auch auf ein vielfältiges und erweitertes Feld möglicher Konfliktrisiken. Zweitens ist auch globale Sicherheitspolitik permanentes Risikomanagement. ‚Sicherheit‘ ist prinzipiell gefährdet, das heißt ein Wahrscheinlichkeitsfeld. Ein ‚totaler Frieden‘ steht nicht in Aussicht. Theologisch formuliert heißt das, dass es darum geht, die Wirkungen ‚des Bösen‘ zu begrenzen, ohne es austilgen zu können.40 Und drittens beschränkt globale Sicherheitspolitik sich weder auf kriegerische, noch auf friedliche Mittel. 4. Das globale Sicherheitsdispositiv ist keine reine macht- und ordnungspolitische Exekutive, sondern zivilgesellschaftlichen Normen unterworfen, das heißt es situiert sich im politischen Spannungsfeld zwischen Institution und Norm. 5. Sicherheitspolitik zielt auf die präventive und konstruktive Beeinflussung von Risikowahrscheinlichkeiten, das heißt sie ist nicht reaktiv, sondern aktiv und produktiv. Die faktische Sonderstellung der USA im System der Weltsicherheit spricht nicht gegen die hier vorgeschlagene Sichtweise, ‚globale Sicherheit‘ im politischen Spannungsfeld zwischen Institution und Norm zu verorten. Die besondere Rolle der USA verweist lediglich auf die Bedeutung der Machtwirklichkeit. Nichts ist gegen die Möglichkeit einer Einbindung der USA in das verrechtlichte UN-System globaler Sicherheit durch die Anerkennung dieser Sonderstellung zu sagen.41 Diese Sonderstellung betont nur, dass das System der globalen Sicherheit eben als politischer Raum und nicht als Aufhebung des Politischen im Normativen zu denken ist. Ungleichgewichte, Interessengegensätze usw. sind vielmehr notwendige Bestandteile der Wirklichkeit der Macht und solange kein grundsätzliches Problem, als dieses Sein nicht zum Sollen verklärt und zur bloßen ‚Machtpolitik‘ zurückgekehrt wird. Das gilt allerdings auch in umgekehrter Richtung. Das Verwechseln von Politik mit der bloßen Exekution von Normen kann dem Prinzip der Verrechtlichung der globalen Sicherheit ebenfalls großen Schaden zufügen. 40 Ulrich K. Preuß, Krieg, Verbrechen, Blasphemie. Gedanken aus dem alten Europa, Berlin 2003, S. 83. 41 Münkler, Der neue Golfkrieg, S. 137.
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Dieser kann etwa dann eintreten, wenn es nicht mehr gelingt, eine Vermittlung zwischen politischen Interessen der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates (insbesondere der USA) und dem normativen Rahmen des Weltfriedens und der Weltsicherheit herzustellen. Wenn eine im binnenpolitischen Raum moralisch gefestigte Macht mit den Normen der internationalen Gemeinschaft so konfrontiert wird, dass nur noch die Alternative zwischen Unterwerfung oder Ablehnung offen bleibt, dann wird Ablehnung die Folge sein, wenn diese Macht (wie die USA) stärker ist als alle anderen Mächte zusammen. Genau auf diese Konstellation hat sich der Streit um den Irakkrieg zugespitzt. Es müssen daher Zweifel angemeldet werden, ob diese radikale Konfrontation, die nicht einseitig den USA, sondern eben auch der Koalition der ‚Unwilligen‘ (Frankreich, Rußland, China, Deutschland) anzurechnen ist, wirklich klug war. Um das globale Sicherheitsdispositiv genauer zu spezifizieren, sollen im Folgenden drei Dimensionen untersucht werden. Zunächst die Machtdimension; es kommt zu einer Ausdifferenzierung der Sicherheitsproduzenten. Nicht mehr der Staat allein sorgt für Normalität, obwohl er weiter von wesentlicher Bedeutung bleibt. Darüber hinaus ist insbesondere die kriegerische Gewaltdimension von Interesse. Diese kommt gesellschaftlich wieder zur manifesten Erscheinung und bleibt nicht mehr nur latent. Dabei lassen sich vor allem drei Formen des Krieges wahrnehmen, die alle im Spannungsfeld Unsicherheit – Sicherheit wahrgenommen werden (Kriegsökonomie, Terrorkrieg, Sicherheitskrieg). Alle diese Formen zeichnen sich im Unterschied zum Staatenkrieg durch eine prinzipielle Asymmetrie zwischen den Konfliktparteien aus, wobei Kriegsökonomien und Terrorismus Bedrohungen der Sicherheit sind, Sicherheitskriege dagegen eines der möglichen Mittel, das diese Bedrohungen verkleinern kann. In Verbindung steht die Gewaltdimension mit technischen, räumlichen, medialen und organisatorischen Aspekten. Schließlich ist die normative Dimension zu unterscheiden: Diese Dimension ist von besonderer Bedeutung, weil sie in Spannung zur Faktizität von Macht und Gewalt das Politische des Sicherheitsdispositivs konstituiert. Kriegführung erscheint den westlichen Zivilgesellschaften nicht als politischer Ausnahmezustand, sondern als legitimes und in bestimmter Hinsicht ‚normales‘ Mittel, um Zivilität aufrecht zu erhalten. Die Untersuchung des globalen Sicherheitsdispositivs entfaltet ein Modell, das zwischen der ‚neuen‘ Kriegführung und der Zivilgesellschaft ein positives Konstitutionsverhältnis herstellt. Bewaffnete Aktionen westlicher Streitkräfte in verschiedenen Krisenbereichen der Welt erscheinen dabei als Akte, die zivilgesellschaftlichen Standards der westlichen Gesellschaften bzw. der westlichen Wertegemeinschaft ‚zu sichern‘ und zugleich in andere gesellschaftliche Räume zu exportieren. Das allerdings gilt nur, wenn im
II. Zur komplexen Machtdimension des globalen Sicherheitsregimes
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Rahmen rechtlicher Legalität die mit dem Krieg als Sicherheitsmittel unvermeidlich gegebene „Verneinung grundlegender demokratisch-konstitutioneller Prinzipien“42 kontrolliert werden kann. Dann kann das Sicherheitsregime als andauernde Verteidigung der Zivilgesellschaft gesehen werden. Krieg ist dabei in zweierlei Hinsicht als für die Zivilgesellschaft konstitutiv anzusehen: Zum einen, insofern er die Standards bestehender Zivilgesellschaften – insbesondere der je eigenen – gegen globale Bedrohungen abzuschirmen versucht. Zum anderen, indem sie nicht einfach einen Krieg gewinnen will, sondern dies vielmehr dazu dienen soll, zerstörten Gesellschaften wieder auf die Beine zu helfen und sie dabei an zivilen Normen und Werten auszurichten. Im Weiteren ist ausschließlich der erste Fall von Interesse.
II. Zur komplexen Machtdimension des globalen Sicherheitsregimes Auch im globalen Kontext zeichnet sich zwar eine legitimitätsspendende Rechtsmonopolisierung ab (Völkerrecht und Menschenrecht), aber diese kann nicht als Vorgriff auf eine Weltstaatsbildung verstanden werden. Vielmehr bleibt die internationale Rechtsordnung auf vielzählige, individualisierte Staaten verwiesen, denn eine allgemeine Identität ‚der Menschheit‘, die eine Weltrepublik vorstellbar machen würde, „kann im globalen Raum kaum als möglich und schon gar nicht als gegeben vorausgesetzt werden.“43 Die globale Gesellschaft wiederum konstituiert keine allgemeine Identität, weil sie lediglich als delokalisierte Netzwerkgesellschaft vorstellbar ist. Die Netzwerke dieser Gesellschaft strukturieren globale Kommunikationsströme durch die Verschaltung zwischen Knoten. Sie neigen dazu, „grenzenlos zu expandieren und dabei neue Knoten zu integrieren, solange diese innerhalb des Netzwerkes zu kommunizieren vermögen“.44 Dem durch die globale Netzwerkgesellschaft konstituierten, weltumspannenden „Raum der Ströme“ (Manuel Castells) fehlt damit der holistische, identitätskonstitutive Charakter des modernen Sozialen. Das hat zwangsläufig zur Folge, dass „die Idee einer globalen Anerkennungsgemeinschaft problematisch“ bleibt.45 Auch die Menschenrechte selbst können keine in einem globalen Rahmen gesellschaftskonstitutive Funktion übernehmen. Sie sind erstens subjektive 42
Ebd., S. 85. Thomas Kater, Regionalität, Identität und Globalisierung: Wie lässt sich das Politische global denken? In: Jahrbuch für Pädagogik 2004. Globalisierung und Bildung, Frankfurt am Main 2004, S. 143–156, hier S. 152. 44 Manuel Castells, Das Informationszeitalter I. Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft, Opladen 2003, S. 528 f. 45 Kater, Regionalität, Identität und Globalisierung, S. 152. 43
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Rechte und zweitens universelle Rechte. Unabhängig von Nationalität, Religion, Geschlecht kommen sie allen Individuen zu. Sie gehören daher in ein kulturelles Koordinatensystem, in dem „Individualisierung und Globalisierung direkt aufeinander bezogen werden.“46 Aber das heißt: Menschenrechte vergesellschaften nicht. Sie sichern zwar „den Entfaltungsraum eines institutionalisierten Individualismus“47, aber zugleich lassen sie die „Regelungsprinzipien des kollektiven Lebens [. . .] außer acht“.48 Wenn aber die Menschenrechte selbst keinen vergesellschaftenden Rahmen abgeben können und eine Weltrepublik ebenso eine Illusion bleiben muss wie eine durch Vernetzung konstituierte Welt-‚Gesellschaft‘, so bleibt die globale Geltung der Menschenrechte notwendig auf die einzelnen, staatlich verfassten Gesellschaften bezogen, die ihnen als lokale Anerkennungsgemeinschaften des Rechts diese Geltung verschaffen können. Also können weder die globale Vernetzung noch die Menschenrechte eine welt-gemeinschaftlich konnotierte ‚Weltgesellschaft‘ konstituieren. Internationales Recht und globale Sicherheitspolitik bleiben auf Gesellschaften und Staaten verwiesen. Die Emergenz der weltgesellschaftlichen Ebene von Sicherheit rechtfertigt es deshalb nicht, von ‚Gesellschaft‘ nur noch im Singular, das heißt als einer Weltgesellschaft, zu sprechen, wie dies von systemtheoretischen Soziologen in Anschluss an Niklas Luhmann vorgeschlagen wird.49 Vielmehr ist es sinnvoll, mit Friedrich H. Tenbruck von einem pluralistischen Gesell46 Ulrich Beck, Über den postnationalen Krieg, in: Reinhard Merkel (Hg.), Der Kosovo-Krieg und das Völkerrecht, Frankfurt am Main 2000, S. 232–241, hier S. 235. 47 Ebd. 48 Hondrich, Wieder Krieg, S. 125. 49 Niklas Luhmann, Die Weltgesellschaft, in: Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung 2, Wiesbaden 52005, S. 63–88, insbes. 66 ff., 82; Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1998, S. 145; Armin Nassehi, Geschlossenheit und Offenheit. Studien zur Theorie der modernen Gesellschaft, Frankfurt am Main 2003, S. 188–228; Rudolf Stichweh, Die Weltgesellschaft. Soziologische Analysen, Frankfurt am Main 2000, S. 31, 241; Helmut Willke, Die Gesellschaft der Systemtheorie, in: Ethik und Sozialwissenschaften, Heft 2, 2000, S. 195–209, hier S. 199, 201 f. Vgl. dazu kritisch: Niels Werber, Warme Risse in der Kalten Theorie. Neue globale Weltordnung: Die verdeckten normativen Implikationen des Systemsoziologie, in: Frankfurter Rundschau vom 11.9.2001, S. 20. Charakteristisch für das systemtheoretische Konzept der Weltgesellschaft ist die Negierung jenes zellenbildenden Vergesellschaftungsprinzips, auf das insbesondere Heinrich Popitz hinweist. Systemtheoretisch gesehen gibt es keine voneinander abgrenzbaren Gesellschaften, sondern nur eine Gesellschaft, da (u. a.) die Kommunikationsgrenze nicht mit einer politischen Grenze zusammenfällt. Diese Ansicht ist nicht neu. Bereits Ferdinand Tönnies beschreibt Gesellschaft als marktförmig und konventionell organisiertes soziales Verhältnis der Privatinteressen und Privatbedürfnisse. Nach Tönnies ist diese Gesellschaft „ihrer Idee nach, unbegrenzt; ihre wirklichen und zufälligen Grenzen durchbricht sie fortwährend.“ (Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, S. 45).
II. Zur komplexen Machtdimension des globalen Sicherheitsregimes
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schaftsbegriff auszugehen, der gleichwohl die Emergenz und Wirkung zwischen- und überstaatlicher gesellschaftlicher Ebenen berücksichtigt.50 Einerseits erfüllen der Staat und der durch ihn definierte gesellschaftliche Rechtsraum weiterhin eine bedeutende Rolle im globalen Sicherheitsdispositiv, andererseits ist unbestreitbar, dass die Analyse globaler Sicherheit nicht allein auf die staatspolitische Ebene reduzierbar ist.51 Dementsprechend kann Sicherheit im globalen Rahmen nicht das Ergebnis einer weltumfassenden republikanischen Souveränität sein. Ebenso wenig kann sie durch das Wirken einer Supermacht wie den USA hergestellt werden, die in machtpraktischer Hinsicht quasi als Vertretung einer solchen Weltrepublik agieren würde, denn eine solche ‚Vertretung‘ bliebe notwendig partikulär.52 Faktisch ist sie Produkt eines Netzwerkes strukturell heterogener und unterschiedlich mächtiger Akteure, die auf verschiedenen Ebenen miteinander interagieren. Unter den Akteuren dieses Netzwerks sind die Staaten besonders herausgehoben, weil nur in Bezug auf sie als begrenzter Anerkennungsgemeinschaften des Rechts ein normativer Legitimationsrahmen des globalen Sicherheitsdispositivs denkbar ist. Weil der Staat Bürger- und Menschenrechte, sozialen Frieden und Zivilität verortet und institutionell durchsetzen kann, bleibt er auch im globalen Rahmen letzter Bezugspunkt. Daher kann eine zivilgesellschaftliche Weltrepublik nicht „als globale und zugleich homogene Institution“ gedacht werden, „sondern immer nur abgeleitet aus regionalen Anerkennungsgemeinschaften des Rechts“.53 Das globale Rechtssystem bleibt damit von „den gleichsam vorgeschossenen Legitimationsleistungen der demokratischen Verfassungsstaaten“ abhängig.54 Diese Fundierung der globalen Sicherheit im Souveränitätsprinzip ist unumgänglich, weil Weltrepublik und Weltgemeinschaft Illusionen sind, die an den politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Realitäten vorbei ge50 Friedrich H. Tenbruck, Gesellschaftsgeschichte oder Weltgeschichte?, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Heft 41, 1989, S. 417–439. Vgl. dazu: Hartmann Tyrell, Singular oder Plural? Einleitende Bemerkungen zu Globalisierung und Weltgesellschaft, in: Bettina Heintz u. a. (Hg.), Weltgesellschaft. Theoretische Zugänge und empirische Problemlagen, Stuttgart 2005, S. 1–50, hier S. 38 ff. 51 Michael Wieviorka, Die Gewalt, Hamburg 2006, S. 69–78. 52 Für die globale Sicherheitspolitik der USA gilt, dass sie sich an Staaten als regionalen politischen und kulturellen Stabilitätsgaranten orientiert. Als Beispiel für diese Orientierung kann der Irakkrieg dienen. Er ist nicht zuletzt die Folge des Mangels eines solchen Garanten in der Golfregion (Münkler, Der neue Golfkrieg, S. 41 f.). 53 Kater, Regionalität, Identität und Globalisierung, S. 153. 54 Habermas, Der gespaltene Westen, S. 139.
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hen. Möglich ist globale Sicherheit, weil das Prinzip staatlicher Souveränität bereits seit dem Ende des Ersten Weltkrieges nach und nach geöffnet wird. Zunächst durch die Diskriminierung der Gewalt als legitimes Mittel des Staatspolitischen, schließlich nach dem Zweiten Weltkrieg durch die globale Verpflichtung staatlicher Souveränität auf die Menschenrechte. Der Staat wird zu einer Körperschaft, „die völkerrechtlich vielfach verpflichtet ist, und zwar auch ohne ihre Zustimmung, ja sogar gegen ihren Willen.“55 Diese „historisch beispiellose Durchlässigkeit und Offenheit des staatlichen Souveränitätspanzers für die Einwirkung internationaler rechtlicher Prinzipien“56 verknüpft das Souveränitätsprinzip mit dem Prinzip einer kosmopolitischen Rechtsordnung, ohne zu einer Auflösung des Staates und der einzelgesellschaftlichen Legitimationsgrundlage zu führen. Die kosmopolitischen Rechtsordnung bleibt auf „eine mittelbare ‚Rückendeckung‘ durch demokratische Meinungs- und Willensbildungsprozesse“ angewiesen, „die allein in Verfassungsstaaten [. . .] voll institutionalisiert werden können.“57 Diese Verknüpfung zwischen Souveränität, Lokalität der Anerkennungsgemeinschaften des Rechts und gesellschaftlicher Identität einerseits und globalen politischen Institutionen, kosmopolitischer Rechtsordnung und globalisierten sozialen Netzwerken andererseits generiert daher ein eigenständiges globales Sicherheitsmodell. Im Rahmen dieses Modells ist die Öffnung der Souveränität nicht als Vorgriff auf eine Abschaffung derselben zugunsten einer Weltrepublik zu verstehen. Vielmehr wird das Prinzip des Staates mit globalen humanitären rechtlichen Mindeststandards verbunden. Das hat zur Folge, dass die Staaten als Garanten dieser Standards auftreten können. Diese Rolle können sie als ‚internationale Gemeinschaft‘, als Bündnis oder sogar als einzelner Staat übernehmen. Zugleich erscheinen auch staatliche Verstöße gegen diese Standards als Bedrohung des zwischenstaatlichen Friedens und damit der internationalen Sicherheit.58 Drei Implikationen der hier vertretenen Auffassung über das globale Sicherheitsdispositiv sollen hervorgehoben werden, um zu verdeutlichen, was damit gemeint ist: • Die Funktionsweise des Sicherheitsdispositivs ist nicht ohne Bezug zur Faktizität der Macht zu verstehen. Die Interessen der politisch und militärisch potenten Staaten (unter ihnen in nicht unerheblichen Maße zivilgesellschaftliche Republiken und von zentraler Bedeutung: die USA) be55 Bardo Fassbender, Die souveräne Gleichheit der Staaten – ein angefochtenes Grundprinzip des Völkerrechts, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B43, 2004, S. 7–13, hier S. 10. 56 Preuß, Krieg, Verbrechen, Blasphemie, S. 120. 57 Habermas, Gespaltener Westen, S. 140. 58 Preuß, Zwischen Legalität und Gerechtigkeit, S. 820.
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stimmen, was konkret unter ‚globaler Sicherheit‘ zu verstehen ist, da sie allein die oberste Sicherheitsinstitution, das heißt den Weltsicherheitsrat, kontrollieren. Sie sind durchaus in der Lage „sich die Kompetenznormen der Charta wie ein ‚aufgeklärter Despot‘ nach eigenem Gusto“ zurechtzulegen.59 • Daher ist auch für das globale Sicherheitsdispositiv eine Spannung zwischen Machtfaktizität/Interessen und normativen Ansprüchen zu konstatieren. Insbesondere betrifft das die Geltung der Normen des Völkerrechts und der Menschenrechte. Diese Spannung zwischen Macht und Norm ist genuin politisch. Sie verweist auf die herausgehobene Bedeutung regionaler Anerkennungsgemeinschaften des Rechts in der internationalen Rechtsordnung. Zur Folge hat diese Spannung unter anderem, dass die Einhaltung internationaler Mindestnormen zuallererst da eingefordert wird, wo auch Interessen der politisch und wirtschaftlich potenten Staaten berührt werden. Auch wenn dabei die Moral als „Parasit des Interesses“ (Ulrich K. Preuß) erscheinen mag, spricht dies doch weder gegen die eingeforderten Normen noch gegen das staatliche Interessiertsein als solches, denn ohne den Bezug auf Staaten und damit auf partikulare Interessen gäbe es gar keine internationalen Rechtsstandards.60 • Die ‚normale‘ Situation in holistischen und identifikatorisch auf einen Staat bezogenen ‚Gesellschaften‘ (Nationen) bildet den grundlegenden Bezugspunkt auch des globalen Sicherheitsdispositivs. Denn ohne ein funktionierendes, stabiles und friedliches Wechselverhältnis von ‚Staat‘ und ‚Gesellschaft‘ bildet ein Staat auch keine Rechtsgemeinschaft, weil ihm die Anerkennung der Bürger fehlt. Aus der Perspektive zivilgesellschaftlich verfasster Staaten heißt das, dass das globale Sicherheitsdispositiv letztlich im Dienste der nationalen Zivilgesellschaften steht, auch wenn diese in kollektive Sicherheitssysteme oder sogar partiell „postnationale“ (Jürgen Habermas) politische Raumordnungen wie die Europäische Union eingebunden sind.61 59
Dörr, Gewalt und Gewaltverbot, S. 20. Preuß, Krieg, Verbrechen, Blasphemie, S. 127–129. 61 Wenn eine gesellschaftliche und politische Einheit und Identität Europas sich ausbilden würde, spräche nichts dagegen, in Europa von einer ‚postnationalen Konstellation‘ zu sprechen. Dann gäbe es eben ein gemeinsames europäisches politisches Gemeinwesen, das einem Staat vergleichbar wäre, wie auch immer es im Einzelnen nun verfasst wäre. Allerdings läge diesem Gemeinwesen immer noch die identitätskonstitutive Unterscheidung zwischen innen und außen zu Grunde. Auf Weltebene fällt eine solche Unterscheidung (Science-Fiction-Szenarios einmal ausgeschlossen) prinzipiell weg (Jürgen Habermas, Die postnationale Konstellation, Frankfurt am Main 1998, S. 91–169, insbes. S. 161 ff.). Wie vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis Habermas (normativ vorgreifend) von einer ‚Weltinnenpolitik‘ reden kann, bleibt allerdings ein Rätsel, denn das Aufkommen des globalen Sicherheitsdisposi60
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Es wird erkennbar, dass das globale Sicherheitsdispositiv auf komplexen Verhältnissen zwischen staatlicher Souveränität und der internationalen Rechtsordnung einerseits und nationalen Gesellschaften und globalen Netzwerken andererseits basiert. Dabei ist jedoch vor allem wichtig, dass die Bezugsgrößen ‚Staat‘ und ‚Gesellschaft‘ aus dem globalen Sicherheitsdispositiv nicht wegzudenken sind. Der Staat bleibt also sowohl als Machtmittel als auch in seiner Funktion als basaler Anerkennungsraum des Rechts im Zentrum des neuen Sicherheitsdispositivs. Allerdings verschieben sich die normativen Koordinaten des politischen Projekts zivilgesellschaftlicher Ordnung. Diese orientieren sich nicht mehr in erster Linie an den ‚großen‘ Differenzen Krieg/Frieden und Devianz/Normalität, sondern sowohl im außen- wie im innenpolitischen Bereich an dem Spannungsfeld Risiko-Sicherheit. Aber auch im Rahmen dieser Verschiebung bleibt aufgrund der Rechtsmonopolisierung durch staatliche und staatlich-kollektive politische Einheiten die von Dolf Sternberger und anderen Autoren herausgestellte prinzipielle normative Orientierung des Staatlichen auf inneren und äußeren Frieden erhalten. So geht es im Bereich des Außenpolitischen zum einen um die Abwendung von Gefahren für die ‚internationale Sicherheit‘ und den ‚Weltfrieden‘. Zum anderen wird in Bezug auf die Sicherheitsmittel zwischen kriegerischen und friedlichen Mitteln unterschieden, wobei die friedlichen Mittel positiv, die kriegerischen negativ bewertet werden. Allerdings erscheint im Sicherheitsdispositiv ein gewisses Maß an Risiko und Unsicherheit aufgrund des zugrunde gelegten Wahrscheinlichkeitskalküls als ‚normal‘ und unhintergehbar. Im Rahmen dieses Kalküls fügen sich sogar Terroranschläge wie die auf das World Trade Center einem „statistically significant global pattern“.62 Diese permanente Gegenwärtigkeit von Gefahren hat zu Folge, dass ‚Sicherheit‘ nicht nur als politisches Projekt staatlicher Ordnungsproduktion, sondern darüber hinaus als Markt erscheinen kann, auf dem es eine beständige Nachfrage nach Schutz, Prävention, Consulting, Sicherheitslogistik und -technologie durch Privatpersonen und Unternehmen, aber auch durch öffentliche Körperschaften gibt.63 Auf diesem Markt bieten nicht nur Schlossereien, sondern auch professionelle Sicherheitsfirmen und militärische Dienstleistungsunternehmen ihre Dienste an. Im internationalen Geschäft tivs und der ‚global governance‘ einerseits und das Zurückdrängen des Souveränitätsprinzips als Grundlage des klassischen Völkerrechts andererseits heben weder das Prinzip der Lokalität der Anerkennung des Rechts noch das Prinzip der identitätskonstitutiven Unterscheidung zwischen innen und außen auf. 62 Clauset/Young, Scale Invariance in Global Terrorism, S. 5. 63 Schmidt-Semisch, Kriminalität als Risiko, S. 89.
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spielen PMFs wie die US-Firmen Blackwater, Vinell Corporation, Military Professional Resources Inc., die britischen Firmen Henderson Risk, Sandline International oder die (1998 aufgelöste) südafrikanische Firma Executive Outcomes inzwischen eine bedeutende Rolle. Dabei geht es um „Security im großen Stil.“64 Im besetzten Irak hat auch die US-Regierung eine ganze Reihe solcher Firmen unter Vertrag.65 Die hinzutretende Privatisierung von Sicherheit im Feld der internationalen Politik zeitigt natürlich neue Effekte: Selbst wenn sich die „neuen Söldnerfirmen im Nadelstreifen“ (Michael Sikora) an die Gesetze halten – was nicht immer auf den ersten Blick klar zu entscheiden ist –, verfolgen sie doch andere Ziele als exekutive Staatsorgane. Letztere handeln im Kontext von Macht, Strategie und Norm, erstere wollen Geld verdienen, das heißt sie denken im Rahmen ökonomischer Kategorien. Während Staatsorgane nicht im Rahmen eines neoliberalen Weltbildes handeln müssen (und dies auch immer nur begrenzt tun werden), können private Sicherheitsanbieter gar nicht anders. ‚Frieden‘ bedeutet für sie Insolvenz. Aus einer rein staatspolitischen und an der klassischen Differenz von Krieg und Frieden orientierten Perspektive muss die Privatisierung von Sicherheit daher problematisch erscheinen, da zwischen privaten Sicherheitsdiensten und bewaffneten Staatsorganen nur bezüglich einzelner Aufträge, nicht aber in der generellen Orientierung Interessenidentität unterstellt werden kann.66 Die Privatisierung von Sicherheit verweist damit sowohl binnengesellschaftlich wie global auf die gesellschaftliche Institutionalisierung und Verfestigung des Sicherheitsdispositivs. Allerdings darf von dieser Institutionalisierung nicht auf ein ‚Verschwinden des Politischen‘ zugunsten einer totalen ‚Ökonomisierung‘ der Gesellschaft geschlossen werden, denn die Funktion des Staates als regionalem Rechtsmonopol und die Spannung zwischen Machtwirklichkeit und regulativer Norm, die das Politische konstituiert, bleiben erhalten. Von einem Ersetzen des Rechts durch den Markt kann keine Rede sein. Statt vom Verschwinden des Politischen zu sprechen, ist es sinnvoller, sich die Komplexität der Machtwirklichkeit des globalen Sicherheitsdispositivs 64 Michael Sikora, Der Söldner, in: Eva Horn u. a. (Hg.), Grenzverletzer. Von Schmugglern, Spionen und anderen subversiven Gestalten, Berlin 2002, S. 114–135, hier S. 133. 65 Hujer, Der Irakkrieg ist eine Goldmine, S. 3. Vgl. Boris Kanzleiter, Krieg und Frieden GmbH. Privatarmeen und private Militärunternehmen als Akteure der neuen Kriege, in: Dario Azzellini/Boris Kanzleiter (Hg.), Das Unternehmen Krieg. Paramilitärs, Warlords und Privatarmeen als Akteure der Neuen Kriegsordnung, Berlin 2003, S. 175–191. 66 P. W. Singer, Corporate Warriors. The Rise of the Privatized Military Industry and Its Ramifications for International Security, in: International Security 26, No. 3, 2001, S. 186–220, insbes. S. 203, 214 f.
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vor Augen zu halten, das als Arrangement zwischen öffentlichen und privaten Akteuren zu sehen ist.
III. Bedrohungen durch Gewalt und die Gewalt der globalen Sicherheit Gegen Ende des 20. Jahrhunderts werden neue Formen des Krieges sichtbar, die entweder neu entstehen oder aus dem Schatten des Ost-West-Konflikts heraustreten und neue Wirkungen entfalten. Im Folgenden sollen insbesondere drei Formen der Kriegführung voneinander unterschieden und idealtypisch als bestimmende Formen der Bedrohungs- und Gewaltdimension im Zeitalter des globalen Sicherheitsregimes dargestellt werden. Diese drei Typen sind: Kriegsökonomie, Terrorkrieg und Sicherheitskrieg. Die durch diese drei Idealtypen ‚neuer Kriege‘ beschreibbare Gewaltdimension zeichnet sich durch eine strukturelle Asymmetrie der Gewalt und des Krieges aus. Einerseits entfalten sich in den Territorien ‚gescheiterter Staaten‘ Kriegsökonomien, die auf der bewaffneten Ausbeutung der Zivilbevölkerung beruhen und es entsteht ein neuer internationaler Terrorismus, der auf die unterschiedslose und maximale Freisetzung von Gewalt im zivilen Raum zielt. Andererseits basieren auch die Sicherheitskriege, die terroristische oder kriegsökonomische Sicherheitsrisiken eindämmen sollen, auf einem technologisch und organisatorisch bedingten asymmetrischen Gewaltverhältnis, insofern sich die wesentlichen Akteure der Sicherheit, die Soldaten westlicher Streitkräfte, dem Gewalteinfluss ihrer Gegner weitgehend entziehen können. 1. Kriegsökonomien Unter Kriegsökonomien sollen gesellschaftliche Verhältnisse verstanden werden, in denen paramilitärische Gefolgschaften sich zuallererst gegen unbewaffnete Zivilisten richten, um aus ihnen Ressourcen herauszupressen. Solche Gefolgschaften können sich um einen Kriegsunternehmer oder Warlord scharen oder eine politisch motivierte Gruppierung darstellen, wobei die Gesinnung mit zunehmender Bedeutung der ökonomischen Funktion der Gewalt mehr und mehr zurücktritt. Das Motiv der Gewaltanwendung ist in erster Linie das der Bereicherung. Plünderung, Raub und Ausbeutung werden durch ein Regime der Angst und der unregulierten Gewaltanwendung der Bewaffneten gegen die Zivilisten abgesichert. Kriegsökonomien setzen sich in Gegenden fest, in denen moderne Staatenbildungsprozesse gescheitert oder bestehende Staaten faktisch zerfallen sind. Die bewaffneten Banden haben dabei nicht die Absicht, einen Staat
III. Bedrohungen durch Gewalt und die Gewalt der globalen Sicherheit
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zu errichten. Sie kontrollieren Gebiete oder Zonen, um sie als Ressource nutzen zu können. Dabei entsteht eine kriminelle Wirtschafts- und Sozialstruktur, der eine staatliche Ordnung nur hinderlich ist. Selbst wenn mehrere bewaffnete Gruppen um oder in einer Kriegszone gegeneinander konkurrieren, es zum Teil sogar zu Gefechten kommt, richtet sich die Gewalt doch im Wesentlichen „nicht gegen eine gegnerische Seite, sondern gegen die Zivilbevölkerung“.67 In diesen destabilisierten Zonen geht es also wesentlich nicht um politische Auseinandersetzungen, sondern um eine auf Dauer gestellte Gewalt Bewaffneter gegen Zivilisten, die dem ökonomischen Prinzip der „Aneignung durch Gewalt“68 gehorcht. Die Asymmetrisierung der Gewalt zeigt sich in dem ungleichen Verhältnis zwischen den bewaffneten Banden und der von ihnen bedrohten Zivilbevölkerung. Da sich die Gewalt sowohl gegen unbewaffnete Zivilisten als auch gegen zivile Sozialformen richtet, kommt die Kriegsökonomie mit billigen Waffen aus. Leichte und einfach zu benutzende automatische Waffen können auch von Kindern und Jugendlichen geführt werden. Gerade diese werden bevorzugt durch Kriegsunternehmer als „Wegwerfmenschen“ (Birgit Virnich und Bartholomäus Grill) rekrutiert, weil sie ein geringes Risikobewusstsein haben und moralisch weniger ‚vorbelastet‘ sind. Selbst Opfer von Verschleppung und Raub werden sie einer Erziehung zum Terror unterworfen, um moralische Vorbehalte auszuschalten. Hinzu kommen Drogen und Alkohol; sie dämpfen Hunger, Angst und Skrupel. Der emotionale Bonus sowohl bloßer als auch in Drohungen übersetzbarer bindender ‚Aktionsmacht‘ (Heinrich Popitz) tut ein Übriges. Bedroht von Arbeits- und Perspektivlosigkeit bietet ihnen die Waffe die Möglichkeit, Erwachsene zu terrorisieren und dadurch Machtphantasien auszuleben. Ebenso sichern Kalaschnikow, M-16 oder G-3 ihnen den Zugang zu Nahrung, Kleidung und den begehrten Gütern der westlichen Massen- und Konsumkultur.69 „Rap und Reggae sowie die entsprechenden Konsumversprechen und Statusgüter“70 erweisen sich als mächtige Motivationsmittel, um Minderjährige als Kämpfer anzuwerben. „Ihr Gebaren imitiert das gestische Repertoire der Hip-Hop-Choreographien.“71 Zugleich wird dadurch der emotionale Mehrwert der Aktionsmacht noch unterfüttert, denn mit Insignien westlicher Popkultur ausgestattet und einem entsprechenden Sound unterlegt, wird der Habitus der Willkür in ‚Coolness‘ überführt. 67
Kaldor, Neue und alte Kriege, S. 82. Herfried Münkler, Die neuen Kriege, Reinbek 2002, S. 162. 69 Birgit Virnich/Bartholomäus Grill, Krieg der Kinder, in: Die Zeit vom 28.8.2003, S. 13. 70 Münkler, Neue Kriege, S. 35. 71 Paul Russmann, Kindersoldaten, in: Der Bürger im Staat, Heft 4, 2004, S. 205–209, hier S. 206. 68
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Söldner spielen in den kriegsökonomischen Zonen ebenfalls eine bedeutende Rolle, weil der Söldner „an der Grenze von Staatlichkeit schlechthin“ steht.72 Dies treibt die Entgrenzung und Verstetigung der Gewalt weiter voran, denn in Gebieten, in denen Söldner sich wohlfühlen, kommt Recht und Ordnung kein großer Wert zu. Über die Gewalt, die von bewaffneten Gruppen in Gebieten der Kriegsökonomie gegenüber Zivilisten ausgeht, darf man sich keine Illusionen machen: Blutrausch, willkürliche Exzesse des Verstümmelns, Vergewaltigens und Mordens sind keine Ausnahme. Die im Massaker zum Ausdruck kommende „reine Gewalt“ (Wolfgang Sofsky) mündet in „eine negative Communitas, ein Brüderband der Destruktion, zusammengeschweißt durch die Bande der Grausamkeit.“73 Sie lässt keinen zivilen sozialen Verkehrsraum neben sich bestehen, denn sie richtet sich gerade gegen diejenigen, „die es zu einem geregelten Lebensunterhalt und gelegentlich auch bescheidenem Wohlstand gebracht haben.“74 Unter globalen Sicherheitsgesichtspunkten werden Kriegsökonomien als Risiko wahrgenommen, weil sich ihre Wirkung nicht nur auf die unmittelbare Gewaltzone beschränkt. Es besteht erstens die Gefahr des Übergreifens einer innergesellschaftlichen Auseinandersetzung auf Nachbarländer. Zweitens können ‚negative‘ Lernprozesse in Gang gesetzt werden, die eine ganze Region destabilisieren. Gelingt es etwa einer Gruppe, sich mit der „Politik der ‚ethnischen Säuberung‘ durchzusetzen, ohne dass sie auf den massiven Widerstand der Staatengemeinschaft stößt, kann das die machtorientierten Politiker der Region dazu ermuntern, bei nächster Gelegenheit ebenfalls die ‚ethnische Karte‘ zu spielen, um sich Unterstützung und Folgebereitschaft der begünstigten Bevölkerungsgruppe zu verschaffen.“75 Drittens schalten sich die lokalen Kriegsökonomien in globale Kommunikations- und Wirtschaftsstrukturen ein. Sie verwandeln sich in offene Kriegsökonomien, die an internationale Waren-, Geld- und Kommunikationsströme ‚andocken‘, um ihren Bedarf an Waffen, Ressourcen und Luxusgütern zu decken und Gewinn zu erwirtschaften. In Verbindung mit grenzübergreifenden kriminellen Netzwerken und den informellen Sphären der Weltwirtschaft bildet sich daraus die schwer zu kontrollierende globale Schattenökonomie, die immerhin ungefähr die Hälfte der gesellschaftlichen Lebenswelten auf der Welt prägt.76 Viertens strahlen Kriegsökonomien auf 72
Sikora, Der Söldner, S. 116. Sofsky, Gewalt, S. 189. 74 Münkler, Neue Kriege, S. 140. 75 Ebd., S. 228. 76 Peter Lock, Ökonomie der neuen Kriege, in: Der Bürger im Staat, Heft 4, 2004, S. 191–196, hier S. 193 f. 73
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Diasporagemeinschaften in den westlichen Zivilgesellschaften aus. Diese Gemeinschaften, deren Handeln häufig von imaginären Vorstellungen über ihre Herkunft geleitet wird, heizen die Konflikte in den Kriegszonen weiter an, indem sie Ideen, Wissen, Geld, Waffen und wirtschaftliche sowie politische Kontakte zur Verfügung stellen. Häufig ergeben sich über diese Gemeinschaften auch die Beziehungen zur organisierten Kriminalität.77 Fünftens besteht die Gefahr, dass in dem globalen Raum der Ströme auch aus den Kriegszonen stammende soziale Verhaltensformen in die westlichen Zivilgesellschaften importiert werden. So werden etwa erfolgreiche Kriminelle zu „Rollenmodellen für eine junge Generation [. . .], die keine einfache Möglichkeit sieht, der Armut zu entkommen“.78 Die sich nicht nur unter derjenigen Diasporajugend, welche mit globalen kriminellen Netzwerken in Verbindung steht, in den westlichen Gesellschaften ausbreitenden Habitusformen, die auf die „Befriedigung“ setzen, „Angst auszulösen, sich mit Knarren mächtig zu fühlen“79, entstammen eben jenen Gewaltökonomien, in denen gegen die Zivilbevölkerung Krieg geführt wird. Und sechstens erweisen sich Kriegsökonomien als idealer Unterschlupf für den internationalen Terrorismus. 2. Terrorkrieg Gegen Ende des 20. Jahrhunderts wandelt sich das Koordinatensystem terroristischer Gewalt. Vor dem Hintergrund einer monopolaren Weltordnung richten vor allem fundamentalistisch-islamistische Gruppen dieses System neu aus. Sie verfolgen unerfüllbare politische Ziele und stützen sich auf einen existenziellen Kriegsbegriff. Der Terrorkrieg ist eine Form der Low Intensity Warfare.80 Er ist gekennzeichnet durch Ausweitung der Feinddefinition, semantische Entdifferenzierung, kulturelle Trennung, Selbstradikalisierung, Fiktionalisierung des Legitimationsgrundes, medialen Spektakelcharakter, Diffusion der politischen Botschaft, Entgrenzung der Gewalt und Entortung der terroristischen Organisationsstrukturen. Der Diskurs des religiös-islamistischen Fundamentalismus nimmt eine Ausweitung der Feinddefinition vor. Anders als bei Partisanen oder sozialrevolutionären Terroristen geht es um einen Krieg gegen das westlich-zivilisatorische Modell der Zivilgesellschaft überhaupt. Innerhalb solcher Zivilgesellschaften möchte man nicht um Anhänger oder um Verständnis für 77
Kaldor, Neue und alte Kriege, S. 136 f., 132 f. Manuel Castells, Das Informationszeitalter III. Jahrtausendwende, Opladen 2003, S. 219. 79 Ebd., S. 220. 80 Peter Waldmann, Terrorismus. Provokation der Macht, München 1998, S. 13 f. 78
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seine politischen Ziele werben, sondern diese Gesellschaften und die Menschen, die in ihren Orientierungen mit ihnen verbunden sind, sollen angegriffen werden. Fordert die Rede vom ‚Jihad‘ (eigentlich: ‚Anstrengung‘, ‚Bemühung‘) im gewöhnlichen Gebrauchssinne eine Beteiligung des Individuums zum Zwecke der Verteidigung des ‚Landes des Islam‘, so geht es dem offensiven Jihad darum, „to attack the land of the infidels to submit it to Sharia, the strict Quranic law“.81 Vor allem geht es darum, Angst und Schrecken zu verbreiten, das heißt existenzielle Unsicherheit. „Allen in der westlichen Welt Lebenden und Arbeitenden“ wird die Botschaft zugestellt, dass es „für sie von nun an keinerlei Sicherheit mehr geben [wird], nirgendwo und niemals.“82 An eine ‚Verständigung‘ wird nicht gedacht. Im Unterschied etwa zum deutschen kriegsgesellschaftlichen Diskurs in den 20er und 30er Jahren, der ebenfalls eine tiefe Feindschaft zur zivilgesellschaftlichen Moderne entwickelt, ist der fundamentalistische Diskurs offensiv eingestellt. Es geht nicht nur um die Verteidigung einer Homogenitätsnorm, sondern darüber hinaus um die kompromisslose Schädigung und Verunsicherung des Feindes, weil er existiert. Und im Gegensatz zum kriegsgesellschaftlichen Diskurs gibt es keine Möglichkeit, einen Frieden zu denken. Diese unversöhnliche und offensive Feindbestimmung ist nicht einfach als Ausdruck eines Zusammenpralls der Moderne mit einer vormodernen Kultur zu interpretieren. Vielmehr steht sie im Kontext einer religiös-fundamentalistischen Einheitssemantik, die auf die gesellschaftlichen Ausdifferenzierungs- und Modernisierungstendenzen im islamischen Kulturraum reagiert. Soziologische Beobachter konstatieren insbesondere einen Konflikt zwischen der islamischen Identität von Politik und Glaube und den modernisierenden Versuchen, Politik und Religion zu trennen. In der Moderne, das heißt unter der kulturellen Bedingung des ‚Verlusts der Mitte‘, stellt sich jede Handlungssituation als Problem dar, in der eine Vielzahl von möglichen Anschlussmöglichkeiten permanent zur Debatte stehen. Diese Öffnung des Kontingenzhorizonts gesellschaftlichen Handelns verweist auf funktionale Ausdifferenzierung, insofern es keine einheitliche, in vormodernen Gesellschaften von der Religion bereitgestellte soziale Norm gibt, die vorschreiben könnte, wie ein Phänomen zu interpretieren oder wie weiter zu handeln sei. Jede Deutung und jede mögliche Anschlusshandlung kann (und muss) unter verschiedenen Perspektiven – ökonomisch, politisch, ethisch, ästhetisch, romantisch und eben auch: religiös – reflektiert werden, wobei die Möglichkeit des Konflikts zwischen diesen Perspektiven systematisch möglich ist. Dieser ‚anomischen‘ Perspektivenvielfalt ent81 82
Sageman, Understanding Terror Networks, S. 2. Münkler, Neue Kriege, S. 202.
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spricht die Herausbildung des modernen Individualbewusstseins, das sich der Kontingenz des Handelns stellen kann. Im Gegensatz zum religiösen Kollektivbewusstsein „erlaubt es die [moderne] Gesellschaft dem Einzelnen, wenn er will, auch ohne Religion zu leben, und gut zu leben.“83 Funktionale Ausdifferenzierung und Kontingenz provozieren allerdings Diskurse und Praxen, die eine einheitliche und zentrierte kulturelle Form wiedergewinnen und damit dem offenen Kontingenzmanagement der Moderne ausweichen möchten. Der islamistische Fundamentalismus stellt eine solche Einheitssemantik und -praxis dar. Er reduziert moderne Kontingenz durch „ultimative Kommunikation“ (Klaus P. Japp). Gewalt wird zum Medium und zugleich zur Botschaft: „Alles, was sie sagt, ist alles, was sie ist.“84 Als in diesem Sinne „totalitäre ideologische Proklamation“ (Guy Debord) schließt das selbstmörderische Attentat offene Kommunikationsanschlüsse aus. Über die Gewalt hinaus soll nichts mehr zu sagen sein. Das an jede Handlung und jede Kommunikation anschließende Feld weiterer (und eben immer fraglicher) Möglichkeiten soll zur Implosion gebracht werden. Damit richtet sich diese Gewaltbotschaft strukturell „gegen die Gesellschaft“, so „wie sie beobachtbar ist: nach vielen Kriterien geordnet, nicht nach einem einzig wahren und schon gar nicht einem religiösen Kriterium.“85 Die Gewaltstrategie des offensiven Jihad begegnet der modernen funktionalen Ausdifferenzierung und der Öffnung der Handlungskontingenz daher durch eine radikale semantische Entdifferenzierung. Zugleich wendet sie sich gegen Herausbildung des multiple soziale Rollen übernehmenden modernen Individuums.86 Paradoxerweise lässt sich der fundamentalistischislamistische Terrorismus daher als ein radikaler Versuch verstehen, gesellschaftliche und kulturelle Kontingenz zu regulieren, das heißt Unsicherheit abzubauen. Gerade in dieser Absicht liegt seine Modernität, und seine Radikalität widerspricht ihr nicht.87 Ideologische Grundlage der fundamentalistischen Radikalisierung ist eine ganz bestimmte Interpretation des Islam (Salafismus). Im Kontext der Modernisierungstendenzen im islamischen Raum wird die Idee einer ursprünglichen und authentischen Umma (Gemeinschaft der Gläubigen) propagiert. Auch dies ist ein Aspekt der semantischen Entdifferenzierung. Die Rückbesinnung auf einen ‚wahren Islam‘ richtet sich nicht nur gegen die moderne Gesellschaft, sondern auch gegen die historische Erfahrung akkumu83
Luhmann, Beobachtungen der Moderne, S. 126. Guy Debord, Die Gesellschaft des Spektakels, Hamburg 1980, S. 57. 85 Klaus P. Japp, Zur Soziologie des fundamentalistischen Terrorismus, in: Soziale Systeme, Heft 1, 2003, S. 54–87, hier S. 72. 86 Ebd., S. 76; Waldmann, Terrorismus, S. 118. 87 Japp, Soziologie des fundamentalistischen Terrorismus, S. 65. 84
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lierenden, institutionalisierten Traditionen des Islam selbst. Einzig die Autorität des Korans und die Worte und Taten des Propheten scheinen maßgeblich.88 Das impliziert eine Trennung von der kulturellen Umgebung, weil das geschichtliche Band der Interpretation und Anpassung an veränderte gesellschaftliche Bedingungen durchschnitten wird. Der Bezug auf Gott kommt ohne vermittelnde historisch-kulturelle Traditionen aus, so dass die Religion nicht mehr als ideelles Bindeglied zur umgebenden Gesellschaft fungiert. Es handelt sich damit nicht um begrenzte und raumgebundene vorgestellte Gemeinschaften, sondern um „postulierte Gemeinschaften“, das heißt um Gemeinschaften, „die ‚noch nicht geworden‘ sind.“ Sie existieren „nur im Futurum“.89 Auch solche Gemeinschaften sind „vorgestellte“ im Sinne Benedict Andersons, schlicht weil alle Gemeinschaften, die nicht auf unmittelbarer Face-to-face-Kommunikation beruhen, vorgestellte Gemeinschaften sind.90 Aufgrund ihrer unsicheren Konstitutionsbedingungen erweisen sich die postulierten Gemeinschaften als fragil, unberechenbar und zutiefst neurotisch. Um ihre Existenz zu sichern, werden die inneren Loyalitäten extrem verstärkt. Gewalt ist dafür ein probates Mittel. Nach innen wird von den Mitgliedern bedingungslose Hingabe und Märtyrertum gefordert; nach außen sichert die Gewalt Differenz zu ‚den Anderen‘ und bestätigt damit die gemeinschaftliche Identität. Je boshafter, sinnloser und grundloser diese Gewalt erscheint, umso größer wiederum die die Differenz beobachtende Aufmerksamkeit der Anderen und umso größer damit auch die Gewissheit der eigenen kollektiven Existenz.91 Diese Differenz-Identitäts-Logik begründet einen sich selbst verstärkenden Vorgang: Je mehr sich die radikale Glaubensgemeinschaft von der Gesellschaft entfremdet sieht, umso stärker werden ihr kommunikativer Selbstbezug und ihre ideologische Radikalität. Es kommt zu einer „autokatalytischen Selbstradikalisierung“, wobei „alles Handeln unter dem Gesichtspunkt der Gegnerschaft“ gesehen wird.92 Weiterhin zielen die Aktionen zunehmend weniger auf die Konstitution eines „zu interessierenden Dritten“ (Herfried Münkler). Bei solchen im 88
Sageman, Understanding Terror Networks, S. 3–24. Zygmunt Bauman, Gewalt – modern und postmodern, in: Max Miller/HansGeorg Soeffner (Hg.), Modernität und Barbarei. Soziologische Zeitdiagnose am Ende des 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1996, S. 36–67, hier S. 60. 90 Benedict Anderson, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt am Main 21996, S. 16. Ergänzend ist allerdings darauf hinzuweisen, dass selbst dörfliche Face-to-face-Gemeinschaften einen konstitutiven imaginären Überschuss mitführen. 91 Bauman, Gewalt, S. 59 f. 92 Japp, Soziologie des fundamentalistischen Terrorismus, S. 65 f., Hervorh. D. S. 89
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Kontext des Terrorismus bedeutsamen ‚Dritten‘ handelt es sich um jeweils diejenigen kollektiven Akteure, für deren Interessen die Terroristen zu kämpfen behaupten. Solchen ‚Dritten‘ soll durch die Gewalt die Möglichkeit vor Augen geführt werden, sich als Gemeinschaft zu konstituieren. Der islamistisch-fundamentalistische Terror greift allerdings über dieses politische Ziel hinaus. Der zu interessierende Dritte wird politisch diffus, weil er im Jenseits verortet wird. Für religiös-fundamentalistische Gruppen gibt es letztlich „keinen innerweltlichen Adressaten mehr [. . .], demgegenüber sie sich rechenschaftspflichtig fühlen.“93 Der konkret zu interessierende Dritte büßt vielmehr an Bedeutung ein. An seine Stelle tritt die Idee Gottes als eines außerweltlichen Dritten. Die Bedeutung dieser transzendentalen Dimension für den fundamentalistisch-religiösen Terrorismus ist nicht zu unterschätzen. Denn die Idee Gottes gerät in die Hände kulturell entbetteter Interpretationsgewalten und wird dadurch ihren Zwecken angepasst, das heißt der Legitimationsgrund der Gewalt wird fiktionalisiert. ‚Gott‘ tritt in den Dienst der terroristischen Gewalt und hilft, moralische oder kulturelle Schranken weitgehend einzureißen.94 Auch diese Abwendung vom zu interessierenden Dritten bestätigt die Annahme, dass es dem fundamentalistischen Terror nicht in erster Linie darum geht, einen kollektiven Raum zu schützen. Für die Absicht der Terrorkrieger, in modernen Zivilgesellschaften existenzielle Unsicherheit zu produzieren und gemeinschaftsintern existenzielle Identitätssicherheit zu gewinnen, sind vor allem solche Gewaltakte zweckvoll, die den Alltag, das heißt die ‚normale Situation‘, ereignishaft aufbrechen. Die offensive Gewalt ist daher nicht an militärisch-strategischen und/ oder politischen Zielen orientiert, sondern vielmehr muss sie möglichst spektakulär sein. Sie soll ins Auge stechen und generelle Rationalitätserwartungen in Frage stellen: • Häufig wird sie von Selbstmordattentätern ausgeübt. Das macht die Gewalt unberechenbar, weil der Täter sein eigenes Leben nicht mehr beschützen will. Der Selbstmordattentäter dokumentiert darüber hinaus, dass er außerhalb der Reichweite westlicher Macht und Werte steht.95 Durch beide Momente wird gezielt das alltägliche Sicherheitsgefühl irritiert, in der Welt ‚zu wohnen‘. Zugleich erhöhen Selbstmordattentate, weil sie auf Basis westlicher Werte ‚irrational‘ erscheinen, die öffentliche Aufmerksamkeit, die dem Anschlag entgegengebracht wird. 93
Münkler, Neue Kriege, S. 201. Bruce Hoffman, „Holy Terror“: The Implications of Terrorism Motivated by a Religious Imperative, in: Studies in Conflict and Terrorism, No. 18, 1995, S. 271–284, hier S. 272, 280. 95 Christoph Reuter, Mein Leben ist eine Waffe. Selbstmordattentäter – Psychogramm eines Phänomens, München 2002, S. 10 f. 94
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• Die Terrorgewalt trifft beliebige Opfer, das heißt Angstgefühle werden generalisiert. Durch diese Beliebigkeit dokumentiert sie die Indifferenz gegenüber dem Leben wie dem Tod der Opfer. Der Tod des Terroropfers steht für nichts, was mit seinem Leben zu tun hat und ist insofern bedeutungslos. Das Opfer wird im Tode auf das „nackte Leben“ (Giorgio Agamben) reduziert. • Die Gewalt gehorcht einer Logik der Maximierung des Schadens. Je mehr Menschen und Dinge zerstört werden, umso besser. Schadensmaximierung erhöht zugleich die statistische Streuung der Opfer in Bezug auf Klasse, Herkunft, Religionszugehörigkeit, Alter und Geschlecht. • Gerne werden symbolische Ziele ausgewählt, wie etwa das World Trade Center in New York. Das erhöht die Resonanz der Gewalt in den westlichen Medien und damit im alltäglichen Lebensgefühl. Aber verlassen kann man sich auf diesen symbolischen Charakter möglicher Ziele nicht, weil das bereits Berechenbarkeit erzeugen würde. Dieser Spektakelcharakter des Terrorkrieges korrespondiert mit der Struktur der medialen Aufmerksamkeit in den westlichen Mediengesellschaften, insbesondere mit der spezifischen Haltung des Zuschauens. Diese Haltung zielt nicht auf aktive Mobilisierung des Sozialen, sondern auf Beobachtung und emotionale Beteiligung. Aber gerade dies nutzen die Terroranschläge aus, wie der Politikwissenschaftler Colin McInnes darlegt: „In watching the destruction, the citizens of the West were made aware of their vulnerability to subsequent acts. Beeing a spectator was used by the terrorists not to distance the citizens of the West from the attacks but to bring them closer. [. . .] The attacks on the World Trade Center in particular produced feelings of empathy: not only were these ordinary citizens working in the West, but they were in one of the most famous buildings of one of the most visited cities of the West. Second, the idea of being a spectator implies a degree of helplessness, of merely watching rather than being able to intervene. [. . .] Finally, being a spectator creates the expectation of removal from events, of watching rather than participating. That citizens of the West were suddenly made targets and victims upsets these expectations and creates a sense both of outrage and that government must react.“96
Sicherheit wird zerstört, indem durch aufmerksamkeitsfixierende und sich ständig überbietende Anschläge und Attentate die gewöhnlich vorhandene Distanz zwischen Zuschauer und Gewalt aufgelöst wird. So entstehen Bedrohungsängste und Gefühle der Hilflosigkeit – m. a. W. es wird existenzielle Unsicherheit produziert. Diese Unsicherheit wird durch das kommunizierte (das heißt vom Publikum geforderte und von der Politik inszenierte) und reaktive Sicherheitsmanagement der Regierung paradoxerweise nicht 96 Colin McInnes, Spectator-Sport War. The West and Contemporary Conflict, London 2002, S. 151 f.
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aufgehoben, sondern verstärkt, weil in der Öffentlichkeit ständig weitere spektakuläre Gefahren erwartet werden. Dadurch wird wiederum Verunsicherung erzeugt.97 Mit diesem Spektakelcharakter des Terrors hängt auch die Diffusion der politischen Botschaft zusammen. Auf Bekennerschreiben wird häufig verzichtet. Stattdessen stehen mediale Bilder, die entweder durch die Presse oder durch die Terroristen selbst produziert worden sind, für sich selbst. Idealtypisch gesehen hat die terroristische Aktion keinen konkreten politischen Referenten im Sinne eines zu interessierenden Dritten mehr. Auch verfolgt sie kein erreichbares politisches Ziel, welches jenseits ihres medialen Spektakelcharakters stünde. Der Akt der Gewalt soll den Gegner gar nicht mehr zur Erfüllung eines Willens zwingen, sondern bei ihm permanente Unsicherheit generieren. Ausweitung der Feinddefinition, Entdifferenzierung, kulturelle Trennung, Selbstradikalisierung, Fiktionalisierung des Legitimationsgrundes, medialer Spektakelcharakter und Diffusion der politischen Botschaft kulminieren in der Entgrenzung der Gewalt. Es muss nicht auf einen konkreten Dritten Rücksicht genommen werden. Und gibt keine moralische oder politische Grenze, welche die Auswahl der Gewaltmittel und die Bestimmung der Opfer prinzipiell einschränken könnte. Weil es sich im Kern um einen Vernichtungsterrorismus handelt, ist es durchaus realistisch, mit dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen seitens fundamentalistischer terroristischer Organisationen zu rechnen. Darüber hinaus zeigt die auf Maximierung der Todesrate angelegte Praxis dieses Terrors in Israel, den USA, Spanien oder Großbritannien, dass keinerlei Unterscheidung bezüglich der Opfer getroffen wird. Weder wird nach den gesellschaftlichen Funktionen der ‚Ziele‘, noch nach Geschlecht, Alter, Religion oder Herkunft differenziert. Gerade in dieser Indifferenz der Gewalt kommt die Absicht des fundamentalistischen Terrorismus zum Vorschein: Zerstörung der Normalität bzw. Produktion von Unsicherheit. Das Ziel der Terrorkrieger lautet ganz einfach: „Trefft den Westen, wo ihr könnt“.98 Die Entortung der terroristischen Organisation schließlich manifestiert sich in ihrer Struktur als globales Netzwerk. Terrornetzwerke organisieren sich wie alle sozialen Netzwerke als Kommunikationsknoten und -links um einige zentrale Hubs, das heißt um Personen, die im Netzwerk eine besonders wichtige Rolle spielen. Die Stabilität eines sozialen Netzwerks ist nicht von Hierarchien, sondern von der Vielzahl der Verbindungen abhängig. Daraus folgt, dass Netzwerke sich nur treffen lassen, wenn viele Hubs gleich97 98
Holert, Sicherheit, S. 247. Reuter, Mein Leben ist eine Waffe, S. 318.
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zeitig ausgeschaltet werden. Netzwerke sind zudem räumlich ungebunden; sie überschreiten feste Grenzen. Entsprechend ist das Netzwerk des Jihad weder auf Territorien noch auf lokale Bevölkerungen bezogen. Auch das hat zur Folge, dass es nicht im Rahmen einer symmetrischen Kriegführung bekämpft werden kann. Eine besondere Rolle spielen in Netzwerken dagegen solche Orte, an denen sich interne Kommunikationsmöglichkeiten, soziales Vertrauen und Sozialisation verdichten. So geschieht die Werbung neuer Mitglieder, wie es für soziale Netzwerke typisch ist, über persönliche Face-to-face-Beziehungen. Freundschaften und Cliquenstrukturen sind die Schnittstellen, an denen Kontakte zwischen dem islamistischen Terrornetzwerk mit sympathisierenden Personen hergestellt werden.99 Für diese Schnittstellen spielen weltweit in einigen großen Metropolen sich befindende private Moscheen eine unterstützende Rolle. An diesen über den ganzen Globus verstreuten Orten konstituieren sich Räume des Vertrauens.100 Außerdem haben die Kommunikationsstrukturen des Internet eine erhebliche Bedeutung für den terroristischen globalen Jihad. Das Internet erzeugt a-topische virtuelle Orte (z. B. Chatrooms oder Websites), die allen Orten der realen Welt gleich nah sind, sofern vernetzte Computer, z. B. in Internetcafés, zugänglich sind.101 Diese Virtualität des Raums ermöglicht eine globale Verschaltung einzelner Gruppen und ist daher auch eine Bedingung für die Bildung einer postulierten imaginären Gemeinschaft, die ihre Einheits- und Homogenitätsvorstellungen nicht auf nationale Bindungen bezieht. Die Struktur der virtuellen Gemeinschaft korrespondiert darüber hinaus sehr gut mit der salafischen Version der Umma, da auch diese sich von nationalen und territorialen Beschränkungen löst.102 Das soziale Vertrauen innerhalb des Netzwerks wird durch das „Herausheben“ der Terrornetzwerke aus ortsgebundenen Interaktionszusammenhängen und territorial gegründeten kollektiven Bindungen kontrastiert. Dieser mit Anthony Giddens als Entbettung103, in Anlehnung an Carl Schmitt als Delokalisierung des irregulären Kämpfers und seiner sozialen Organisation104 zu beschreibende Vorgang erzwingt wiederum die Zuwendung zu fiktiven Legitimationshorizonten und die Abwendung von zu interessierenden Dritten. Sie unterstützt die autokatalytische Radikalisierung und die Entgren99
Sageman, Understanding Terror Networks, S. 154–157. Ebd., S. 137–146. 101 Philippe Quéau, Die virtuellen „Orte“, in: Telepolis vom 1.1.1996, http:// www.telepolis.de/r4/artikel/6/6021/1.html. 102 Sageman, Understanding Terror Networks, S. 161. 103 Giddens, Konsequenzen der Moderne, S. 33–43. 104 Schmitt, Theorie des Partisanen, S. 27. 100
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zung der Gewalt: „Unrestrained by responsibility to any society, this free floating network was free to follow the logic of its abstract ideology and escalate the scale of terror, culminating in the 9/11 operations.“105 Die taktische Funktion virtuell vermittelter Kommunikation liegt vor allem in der erhöhten Flexibilität der Organisation (flache Hierarchien, Anpassungsfähigkeit, Reziprozität) und in der globalen Erweiterung des Kommunikations- und Aktionsraums. Der Zugang zu den virtuellen Orten der terroristischen Netzkrieger setzt allerdings bereits die Integration in das entsprechende soziale Netzwerk voraus.106 Diese Integration basiert nicht auf virtueller, sondern auf unmittelbarer Face-to-face-Kommunikation. Man wird nicht per Mausklick Mitglied bei Al-Qaida. Einen völlig vom Boden gelösten irregulären Kämpfer hält Schmitt nicht für möglich, weil sein Begriff des (totalen) Krieges immer an die symmetrische Situation der Staaten- oder Blockkonfrontation gebunden bleibt. Krieg ist kollektive Verteidigung und kollektive Verteidigung schützt ein angebbares Territorium. Im Rahmen dieser Konstellation bleibt auch der irreguläre Kämpfer, das heißt der Partisan, immer auf einen interessierten Dritten – und das heißt auf ein räumlich begrenztes historisch-gesellschaftliches Kollektiv – verwiesen. Entsprechend bleibt Schmitts Anthropologie auf den erdverbundenen Menschen ausgerichtet. Er meint, dass der Mensch „ein Sohn der Erde“ sei, und es „bleiben“ wird, „solange er Mensch bleibt.“107 Aber im Zeitalter des asymmetrischen Krieges löst sich die Bindung des irregulären Kämpfers an ein bestimmtes Territorium und an die Defensive, denn jede solche Bindung würde ihn letztlich in die Struktur des symmetrischen Krieges zwingen und damit schon seine Niederlage besiegeln. Die Netzwerke des internationalen islamistischen Terrors sind zu Erscheinungsformen eines „Industrie-Partisanen“108 geworden, der aus dem Schatten des atomaren Gleichgewichts herausgetreten ist. Dieser neue ‚Partisan‘ hat sich von politisch-territorialen und kulturellen Bindungen gelöst und sein Kampf ist prinzipiell offensiv ausgerichtet. Der deterritorialisierte Terrorkrieger erweist sich dabei auch als Effekt der zu Beginn des 20. Jahrhunderts einsetzenden Raumrevolution. Seine Möglichkeitsbedingungen sind die moderne Informationstechnologie und komplexe operative Kommunikations- bzw. 105
Sageman, Understanding Terror Networks, S. 150. Michele Zanini/Sean J. A. Edwards, The Networking of Terror in the Information Age, in: John Arquilla/David Ronfeldt (Hg.), Networks and Netwars. The Future of Terror, Crime, and Militancy, Santa Monica 2001, S. 29–60, hier S. 36 f. 107 Carl Schmitt, Der Aufbruch ins Weltall. Ein Gespräch zu dritt über die Bedeutung des Gegensatzes von Land und Meer, in: Christ und Welt, Nr. 25 vom 23.6.1955, S. 9 f., hier S. 10. 108 Schmitt, Theorie des Partisanen, S. 81. 106
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Organisationskompetenzen, die es erlauben, weltweit zu agieren und Prozesse zu koordinieren. Allerdings ist das religiös-fundamentalistische Terrornetzwerk keineswegs die militante Variante der Idee der ‚virtuellen Gemeinschaft‘, die mit der Entstehung des Internets aufkommt. Im Rahmen dieser Idee verspricht man sich von internetbasierter Kommunikation eine Renaissance verbindender sozialer Kommunikation und der ‚spirituellen‘ Einheit.109 Aber selbst in den postmodernen Diskursen der virtuellen Gemeinschaften taucht die Bindung an den Raum noch auf. Nicht nur das metaphorisch von ‚virtuellen Orten‘ und ‚Cyberspace‘ die Rede ist – die Konzepte der Netzbürgerschaft halten sehr wohl an der Idee der Verkörperung und Verräumlichung des Politischen fest. Denn auch vernetzte und verschaltete Cyborg-Bürger müssen ihre Rechte einfordern können; dazu bedarf es konkreter Institutionen, an die sie sich wenden können und die diese Rechte garantieren.110 Umgekehrt heißt das, dass auch die Bindung an den virtuellen Raum und den kybernetischen Körper sich im Terrornetzwerk auflöst. Wie andere Medien auch ist der Cyberspace für das Terrornetzwerk lediglich Mittel der Kommunikation und Organisation. Er ist kein Raum, dem eine symbolische Macht der Vergemeinschaftung zugeschrieben wird. Der Gemeinschaftsdiskurs der Terrorkrieger wendet sich vielmehr von allen Formen des diesseitig-faktischen Seins und der räumlich-weltlichen Gebundenheit ab. Ihn zeichnet eine totale Indifferenz gegen das Sein aus, was sich nicht zuletzt in der Aktionsform des Selbstmordattentats manifestiert. Ist der Terrorkrieger also eine Gestalt der Neutralisierung des Politischen? In Schmittschen Kategorien bedeutet die Loslösung des offensiven Jihad vom Boden eine Entpolitisierung. Es fällt allerdings schwer, sich den Terrorismus als quasi ‚neutrale‘ Erscheinungsform einer allgemeinen Entpolitisierung durch technisch-mediale Raumüberwindung im „Zeitalter der Neutralisierungen“ vorzustellen.111 Versteht man dagegen das Politische als Spannungsfeld zwischen gesellschaftlicher Machtwirklichkeit und normativen Ansprüchen, so kann der offensive Jihad als eine Form des Politischen aufgefasst werden, die diese Spannung zugunsten des Sollens auflöst. Die Tendenz zur Abwendung von der Welt führt letztlich dazu, dass die Idee der kommunikativen Vermittlung der eigenen normativen Ansprüche in einem Diskurs mit Andersdenkenden entfällt. An ihre Stelle tritt die kompromisslose Totalisierung des Sollens und die dadurch legitimierte Gewalt. Die Ge109 Howard Rheingold, Virtuelle Gemeinschaft. Soziale Beziehungen im Zeitalter des Computers, Bonn 1994, S. 147 f. 110 Chris Hables Gray, Cyborg Citizen. Politik in posthumanen Gesellschaften, Wien 2002, S. 49 f. 111 Schmitt, Begriff des Politischen, S. 79–95.
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fahr der autokatalytischen Selbstradikalisierung ist in das Spannungsfeld des Politischen von vornherein eingeschrieben – ebenso wie die, sich ganz der normativen Kraft des Faktischen zu verschreiben. Die Raumrevolution der Netzwerkgesellschaft stellt lediglich die Möglichkeit bereit, den Krieg für die verabsolutierte Norm weitgehend von räumlichen Beschränkungen zu befreien. Damit allerdings wird dieser Krieg allgegenwärtig und zu einem zentralen globalen und inneren Sicherheitsrisiko. Die Terroristen führen einen ‚heiligen Krieg‘ gegen den Westen und die Werte der Zivilgesellschaft. Die westlichen Zivilgesellschaften wiederum nehmen den Terrorkrieg als andauerndes Sicherheitsrisiko wahr, das als eine feste Größe gilt und der Öffentlichkeit gegenüber auch so dargestellt wird: „Der Terror ist zurück“, schreibt etwa Der Spiegel nach den Anschlägen in London im Juli 2005, „und es wird immer wahrscheinlicher, dass er bleiben wird. Bereits im vorigen Jahr hatte Londons [. . .] Bürgermeister Ken Livingstone klar gemacht, dass es keine Frage sei, ob der Terror zuschlage, sondern wann.“112
Dabei wird der Terror als eine Art politische Krankheit definiert. ‚Terrorzellen‘ gefährden demnach den Körper der Gesellschaft. Ihre „Metastasenbildung“ (Otto Schily) erschwere ihre Bekämpfung durch die Sicherheitsorgane der Immunabwehr. Dieser immunologische Sicherheitsdiskurs formuliert ein biopolitisches Kollektivbild, in dem eine globale zivilgesellschaftliche „Lebensweise“ sich gegen Erreger der Krankheitsüberträger schützen muss.113 Aber wie Krankheit ein normaler Aspekt des Lebens ist, heißt es auch über den islamistisch motivierten Terror in Europas Metropolen: „Das widerwärtige Phänomen wird in die Risikobilanz des Lebens in diesen offenen Systemen eingerechnet. Mit anderen Worten: Der Terror ist normal geworden. Normal für wen? Für die Davongekommenen. Es ist wie im Krieg: Die einen fallen, für die anderen geht das Leben weiter.“114
Der islamistische Terrorkrieg gegen den Westen wird damit in eine politische und mediale Normalisierungsstrategie eingebaut. Soziologisch ist das wenig verwunderlich, denn an das Terrorrisiko ‚gewöhnt‘ sich die Gesellschaft in dem Maße, wie sie an Risikoroutine gewinnt.115 Der ‚Kriegs112
Der Spiegel, Heft 28, 2005, S. 26. In der Rede, in der George W. Bush am 20.9.2001 den „Krieg gegen den Terror“ ankündigt, spricht der amerikanische Präsident auch davon, dass des den Terroristen darum gehe, „eine ganze Lebensweise zu sabotieren“ (http://usa.usembassy. de/etexts/docs/ga1-092001d.htm). Seitdem wird in vielen öffentlichen Stellungnahmen zum Terror von einem Angriff auf „unsere Lebensweise“ gesprochen. 114 Gero von Randow, Das Böse liegt so nah. Die Londoner haben auf den Terror vorbildlich reagiert. Die Politik muss es noch tun, in: Die Zeit vom 14.07.2005, S. 1. 115 Ortmann, Regel und Ausnahme, S. 81 ff. 113
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Abb. 6: Illustration in der Süddeutschen Zeitung nach dem ersten Terroranschlag in London Anfang Juli 2005 unter dem Titel „Die Globalseuche“ (SZ 3.7.2005, S. 4).
zustand‘ gilt dann als Teil des gesellschaftlichen Alltags, das heißt der ‚normalen Situation‘, die gerade vom Leben im Ausnahmezustand zu unterscheiden ist. Der Terror gilt als ein Risiko des normalen Lebens. Demnach stellen Anschläge „ein permanentes Hintergrundrisiko dar, wie der alltägliche Unfalltod auf den Straßen, an den wir uns gewöhnt haben.“116 Die latente terroristische Bedrohung hebt den andauernden Sicherheitszustand der Zivilgesellschaft nicht auf, sondern wird Teil ihrer Normalität: Vergleichbar der allgemeinen ‚Rattenplage‘ wird man auch die Terroristen nicht mehr los werden (Abb. 6). Gestritten wird in Öffentlichkeit und Politik dabei nur über das ‚richtige‘ Verhältnis zwischen hinnehmbaren Risikowahrscheinlichkeiten und vertretbaren Einschränkungen individueller Freiheiten. Solcher Streit ist ein charakteristischer Bestandteil des Sicherheitsdispositivs117, macht aber zugleich deutlich, dass dieses im Dienst der Werte und Normen der bestehenden Zivilgesellschaften steht und ihren Rechtsstrukturen unterworfen bleibt. Normalisierung des Terrorrisikos heißt auch, dass eine totale Mobilmachung nicht stattfindet. Erst ganz am Rand dieses Streits lauert die verteidigungspolitische Versuchung des totalen Staates, das heißt eines Staa116 Hans Magnus Enzensberger, Der radikale Verlierer, in: Der Spiegel, Heft 45, 2005, S. 174–183, hier S. 183. 117 Kunz, Sicherheitsdiskurs, S. 11–14.
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tes, der die islamistische Kriegserklärung aufnimmt, die eigene Gesellschaft als Kriegsgesellschaft mobilisiert und ohne rechtliche oder moralische Einschränkung der eigenen Gewaltmöglichkeiten zur Verteidigung schreitet. Eine solche Antwort wäre keine zivil-, sondern eine kriegsgesellschaftliche. Daher macht es einen Unterschied ums Ganze, ob die terroristische Gewalt als ubiquitärer Kriegszustand oder als andauernder Sicherheitszustand konzipiert wird. Auch letzterer ist ein Machtdispositiv – allerdings eines, das mit den sozialen, rechtlichen und politischen Formen der Zivilgesellschaft und ihren Normen und Werten vereinbar bleibt. 3. Sicherheitskrieg Die dritte Form des asymmetrischen Krieges ist der von den hochtechnisierten Armeen der westlichen Nationen und insbesondere von den USA geführte Sicherheitskrieg. Diese Kriegführung dient nicht in erster Linie dazu, einem als prinzipiell gleich anerkannten Gegner seinen Willen aufzuzwingen, sondern sie steht, vor dem Hintergrund einer rechtlichen und/ oder moralischen Legitimation, im Dienste der globalen (und nationalen) Sicherheit. Der Sicherheitskrieg ist in zweierlei Hinsicht asymmetrisch: Erstens kommt sowohl eine überlegene Technologie als auch die überlegene Fähigkeit zu operativer Komplexität zum Einsatz, so dass ‚im Felde‘ Asymmetrie herrscht. Die Sicherheitsstreitkräfte haben im Gegensatz zu ihren Gegnern sehr geringe Verluste. Zweitens wird der Gegner, handelt es sich nun um terroristische Netzwerke, verbrecherische Warlords oder um ‚Schurkenstaaten‘, moralisch abgewertet. Im Folgenden soll es zunächst um den ersten Aspekt gehen. Bereits im Golfkrieg 1991 wurde die Asymmetrie der Kriegführung augenfällig, obwohl den Koalitionstruppen unter Führung der USA in Kuweit reguläre staatliche Streitkräfte gegenüberstanden. Verlauf und Ergebnis dieses Krieges waren jedoch auffallend einseitig. Während die irakische Armee hohe Verluste an Personen und Material zu verzeichnen hatte und es ihr niemals gelang, die Initiative zu übernehmen, gilt für die Koalitionstruppen genau das Gegenteil. Insbesondere ist ihre geringe Verlustrate hervorzuheben. Von 795.000 eingesetzten Soldaten wurden 240 getötet. Die USA setzten 540.000 Mann ein und beklagten 148 Tote.118 Diese extrem geringe Opferrate ist bemerkenswert, weil sich die Wirkung der modernen technischen Zerstörungsmittel im Laufe des 20. Jahrhunderts um ein Vielfaches gesteigert hat. War der exponierte und massierte Körper ‚dem Material‘ schon im Ersten Weltkrieg hilflos ausgeliefert, so gilt das erst recht am 118
Biddle, Military Power, S. 133, 296.
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Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Dennoch hatten die Koalitionstruppen im Golfkrieg, in dem auf beiden Seiten moderne Waffensysteme zum Einsatz kamen, nur sehr geringe Verluste. Für die Opfer auf irakischer Seite gibt es nur Schätzungen, weil das US-Militär erstmalig darauf verzichtete, die Verluste ihrer Gegner zu zählen. Diese Schätzungen schwanken zwischen 10.000 und 200.000 Gefallenen.119 Das Medienbild des Golfkrieges, das sich im Kosovokrieg, im Afghanistankrieg und im Irakkrieg wiederholte, liefert eine Erklärung für die Asymmetrie der Gewalt. Sinnbild des Krieges wurde der „bomb’s-eye view“.120 Die im Kopf einer ‚smarten‘ Präzisionslenkwaffe untergebrachte Kamera filmt den Zielanflug und stoppt die Aufnahme im Moment der Detonation. Dieses Bild gilt als Signum einer technischen Mediatisierung und ‚Informatisierung‘ des Krieges, die das Ausüben und Erleiden kriegerischer Gewalt entlang der Achse technischer und wissenschaftlicher Kompetenz ungleich verteilt. Dabei wird die konkrete Waffenwirkung einerseits weiter gesteigert, ihre mediale Erfahrung seitens der westlichen Zivilgesellschaften aber anderseits regelrecht abgeschaltet.121 Der Golfkrieg gilt daher vielen Autoren als Beginn einer neuen technischen Ära der Kriegführung. Entsprechend hat sich eine Position als maßgeblich herauskristallisiert, die in der technologisch induzierten Revolution in militärischen Angelegenheiten (RMA) den Grund für die überwältigende militärische Macht westlicher Armeen, insbesondere aber der US-Streitkräfte sieht. Im Zentrum dieser Anschauung steht dabei der Wandel von der Industrie- zur Informationsgesellschaft und von Produktions-/Destruktionstechnologien zu Informations-/Desinformationstechnologien. Im Gegensatz zum „Krieg der zweiten Welle“, in dem Massenheere an den Fronten zwischen den total mobilisierten Gesellschaften aufeinander prallen, gehe es nun darum, sich auf den „Krieg der dritten Welle“ vorzubereiten, in dem Wissen und Technologie die entscheidenden Ressourcen sind, welche neue integrierte Taktiken erfordern, die auf dem „Verschwinden der Front“122 aufbauen. Am Beispiel des Golfkrieges 1991 führen die für die frühe RMA-Debatte maßgeblichen Alvin und Heidi Toffler aus: „Luftwaffe und Bodentruppen führten tief im Hinterland des Feindes Angriffe durch, um die Bewegungen der nachrückenden Feindverbände zu unterbinden. 119 Ramsey Clark, Wüstensturm. US-Kriegsverbrechen am Golf, Göttingen 1995, S. 77 f. 120 John Broughton, The Bomb’s-Eye View: Smart Weapons and Military T.V., in: Stanley Aronowitz u. a. (Hg.), Technoscience and Cyberculture, New York 1996, S. 139–165. 121 Paul, Bilder des Krieges, S. 376–382. 122 Alvin Toffler/Heidi Toffler, Überleben im 21. Jahrhundert, Stuttgart 1994, S. 101.
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[. . .] Zerstört die Kommandozentralen des Feindes. Zerstört sein Kommunikationssystem und unterbindet den Informationsfluss in beiden Richtungen der Befehlskette. Ergreift die Initiative. Führt Schläge im Hinterland des Feindes durch. Hindert die nachrückenden Staffeln des Feindes daran, in den Kampf einzugreifen. Integriert Land-, Luft- und Seeoperationen. Stimmt gemeinsame Operationen aufeinander ab. Vermeidet Frontalangriffe dort, wo der Feind am stärksten ist. Vor allem aber müsst ihr wissen, was der Feind tut, und er darf nie wissen, was ihr tut.“123
Im Einzelnen werden die gesteigerten Qualitäten der Präzision, der Reichweite und der ‚Intelligenz‘ von Waffensystemen hervorgehoben. Diese erlauben es, Ziele exakt zu treffen, ohne dass sich größere eigene Verbände feindlichem Feuer aussetzen müssen. Statt dessen sollen kleine, vor Ort verborgen eingesetzte Teams von Spezialkräften dazu dienen, die Zielgenauigkeit dieser Waffensysteme zu erhöhen und zusätzlich notwendige Operationen durchzuführen. Hinzu kommt die Digitalisierung des Schlachtfeldes. Die Wirkung neuer, nicht zuletzt auch weltraumgestützter Aufklärungs-, Verortungs- und Informationsverarbeitungstechnologien soll es ermöglichen, den Nebel des Krieges zu lüften und ein transparentes real-time-Kriegstheater zu offenbaren, indem zerstört werden kann, was sichtbar ist. Transparenz des Wissens und beinah verzögerungsfreie Informationsverarbeitung sollen darüber hinaus sowohl die horizontale Vernetzung der Kampfverbände als auch ihre permanente Bindung an übergeordnete Stäbe erlauben. Große und schnelle Transportkapazitäten und globale Kommunikation, Steuerung, Führung und Aufklärung führen zu einer weiteren Steigerung der Effizienz und sichern damit die militärische Asymmetrie.124 Die These einer informationstechnologisch und -gesellschaftlich induzierten Revolution in der Kriegführung erscheint verlockend und auf den ersten Blick recht plausibel. Bei näherer Betrachtung erweist sie sich jedoch als Trugbild. Drei zentrale Argumente hebeln die RMA-These aus: 1. Die Steigerung der Raumwirkung und Zerstörungskraft von Waffen ist kein neues Phänomen, sondern beherrscht die Kriegsdiskurse seit dem Ersten Weltkrieg. Bereits gegen Ende des Ersten Weltkrieges wurden als Folge der Erfahrungen in der ‚Materialschlacht‘ neue taktische Mittel 123
Ebd., S. 102. Dazu u. a.: Ralf Bendrath, Militärpolitik, Informationstechnologie und die Virtualisierung des Krieges, in: Peter Bittner/Jens Woinowski (Hg.), Mensch – Informatisierung – Gesellschaft, Münster 1999, S. 141–161; Biddle, The Past as Prologue, S. 1–11; Norman C. Davis, An Information-Based Revolution in Military Affairs, in: John Arquilla/David Ronfeldt (Hg.), In Athena’s Camp, Santa Monica 1997, S. 79–98; Stefan Kaufmann, Network Centric Warfare, in: Daniel Gethmann/Markus Stauff (Hg.), Politiken der Medien, Zürich 2005, S. 245–264; McInnes, SpectatorSport War, S. 115–141; Sammi Sandawi, Krieg als Chamäleon. Über „Revolution in Military Affairs“, in: Berliner Debatte Initial, Heft 15, 2004, S. 160–169. 124
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entwickelt, die es erlauben, die Wirkung des Materials bei Angriff und Verteidigung zu unterlaufen. Körper und Gerät werden unsichtbar gemacht, Massierungen werden aufgelöst, Bewegung wird individualisiert und vernetzt. Dabei sind insbesondere Tarnung, Deckung, Schutz, Verstreuung in der Tiefe des Raums, Koordination von Bewegung und Feuer und die Verbindung verschiedener Waffen als neue soziokulturelle ‚Kriegstechnologien‘ hervorzuheben. Diese neuen Weisen, der extrem tödlichen Materialwirkung auszuweichen, sind weniger technologisch determiniert, sondern beruhen vor allem auf Organisation, Vernetzung, Planung, Abstimmung, Training und Verteilung von Verantwortung und Wissen, was wiederum durch eine allgemeine Individualisierung von Motivation und Moral unterstützt wird. Es handelt sich um die Fähigkeit zu operativer Komplexität. Neue Technologien in den Bereichen Kommunikation, Störung, Panzerung und Tarnung unterstützen lediglich diese Mittel. Die Wiedergewinnung der Bewegung selbst unter ‚totaler‘ Waffenwirkung ist daher nicht einfach das Ergebnis einer technischen Revolution (etwa der Erfindung des Panzers oder Flugzeugs), sondern soziokultureller Natur.125 2. Die Entscheidung auf dem Schlachtfeld ist nicht Funktion technologischer Überlegenheit oder überlegener Ressourcen, sondern viel mehr das Ergebnis des Verhältnisses in der Fähigkeit zu operativer Komplexität zwischen den beiden Kontrahenten. Mit gesteigerter Technisierung des Krieges wird es allerdings immer schwieriger, diese Fähigkeit umzusetzen.126 So verfügte die irakische Armee 1991 über ein beeindruckendes Kontingent an hochmodernen sowjetischen Kampfpanzern. Es gelang ihr aber nicht, dieses Waffensystem in einer „modernen“127 Weise zu verwenden, so dass es den angreifenden Koalitionstruppen auch keine Verluste zufügen konnte.128 Die Koalitionstruppen wiederum verstanden es nicht nur, der schlecht koordinierten Waffenwirkung des irakischen Feuers auszuweichen, sondern sie fügten ihrem Gegner darüber hinaus hohe Verluste zu, weil dieser sich der Waffenwirkung nicht entziehen konnte. „The Iraqis’ failure to implement the modern system thus exposed them to a new variation on modern-system combined arms warfare by the Coalition, in which new U.S. air technology magnified the effects of the asymmetry in the two sides’ ground force employment.“129 Asymmetrie 125 Im Verlauf des 20. Jahrhunderts steigt die Lethalität der Waffen um ein Vielfaches. Gleichzeitig sinken die Verlustraten um ca. 60% (Biddle, Military Power, S. 23). 126 Biddle, Past as Prologue, S. 18. 127 Stephen Biddle bezeichnet die Fähigkeit, komplexe Operationen durchzuführen auch als „modern system“. 128 Biddle, Military Power, S. 145.
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in der modernen Kriegführung ist somit das Ergebnis unterschiedlicher operativer Fähigkeiten. Technologische Innovation wirkt dabei, indem sie es schwieriger macht, diese Fähigkeit organisatorisch zu implementieren und indem sie die Folgen des Scheiterns solcher Umsetzung dramatisch erhöht. 3. Der auf der Fähigkeit zu operativer Komplexität beruhende strategische Handlungsrahmen wurde gerade im Kontext der technologisch bedingten Raumrevolution und aus der Erfahrung mit absoluter technischer Gewalt heraus entwickelt, so dass nicht einzusehen ist, wieso eine graduelle Steigerung der technischen Möglichkeiten plötzlich zu einer völligen Umwälzung der Prinzipien der modernen Kriegführung führen sollte. Vielmehr sind PGMs (Precision Guided Munition), erhöhte Reichweite von Luft- und Raketensystemen und die verbesserte Fähigkeit und Geschwindigkeit, Informationen zu sammeln, zu verarbeiten und darzustellen Weiterführungen seit langem bestehender Trends und keine plötzlichen Entwicklungen, die fundamental neue Probleme erzeugen.130 Die Leitfunktionen der behaupteten RMA – insbesondere Distanz und Raum, Präzision, Intelligenz, Transparenz, Information und ihre Verarbeitung, Kommunikation, Vernetzung, Steuerung, Führung – enthüllen keine ‚revolutionären‘ Neuerungen, sondern sie sind vielmehr Aspekte der seit Beginn des 20. Jahrhunderts sich entfaltenden Raumrevolution. Sogar eine erst nach dem Zweiten Weltkrieg zum Einsatz kommende Technologie wie die Weltraumfahrt bleibt letztlich im Rahmen dessen, was in den 20er und 30er Jahren vorgedacht worden ist und keineswegs die Logik der Raumrevolution gesprengt hat. Derzeit und für die absehbare Zukunft können als Effekte der Weltraumfahrt angegeben werden: Positionsbestimmung und Navigation (z. B. GPS), Aufklärung und Überwachung, globale Kommunikation und Einwirkung vom Orbit aus auf die Erdoberfläche in Form von Störung oder Zerstörung.131 Das alles sind Funktionen, die bereits gedanklich, wenn auch in technologisch anderer Form vorweggenommen worden sind und die sich ohne prinzipielles Problem im Rahmen der Fähigkeit zu operativer Komplexität ‚verarbeiten‘ lassen.132 129
Ebd., S. 147. Ebd., S. 197. 131 Thomas Petermann/Christopher Coenen/Reinhard Grünwald, Aufrüstung im All. Technologische Optionen und politische Kontrolle, Berlin 2003, S. 43–104. 132 GPS ist eine neue, effizientere Variante der Positionsbestimmung, aber ältere Mittel sind auch wirksam. Aufklärung und Überwachung aus dem Orbit ist in der Regel ebenso wenig permanent, wie die aus der Luft und schon gar nicht total. Außerdem kann sie getäuscht werden (Biddle, Military Power, S. 55–59). Für Störung und Zerstörung ergeben sich ebenfalls lediglich erweiterte, aber keineswegs ‚revolu130
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Auf funktionaler und kommunikativer Vernetzung und Komplexität, Raumorientierung, Flexibilisierung und Individualisierung basierende und mit Technisierung und Gewaltsteigerung verbundene Kriegführung ist also nichts Neues. Sogar noch der Afghanistankrieg 2002 lässt sich auf diese Prinzipien und ihre Wechselwirkung zurückführen.133 Nur vor dem Hintergrund eines Kriegsbegriffs, der den Krieg als Aufeinanderprallen national begeisterter Massen an der Frontlinie versteht, kann die Kriegführung im Golfkrieg oder nachfolgenden Kriegen als neu erscheinen. Ein solcher Kriegsbegriff gehört aber ins 19. Jahrhundert; er entspricht dem der politischen Romantik. Und selbst zu dieser Zeit sind bereits Elemente operativer Komplexität auffindbar. So empfiehlt Clausewitz beim Angriff den raschen Vorstoß in den Raum. Verteidigende Festungen seien dabei vorerst zu umgehen.134 Der Grund für die scheinbare Plausibilität der RMA-These liegt weniger in neuen technologischen Möglichkeiten oder in einem Umschwung vom Industrie- zum Informationszeitalter, sondern in der zunehmenden Bedeutung ‚neuer Kriege‘ und neuer Formen der Bedrohung der inneren und globalen Sicherheit durch nicht-staatliche und deterritorialisierte ‚Netzkrieger‘. In einem politischen Sinne muss hierbei tatsächlich vom Verschwinden der Front gesprochen werden, denn die ‚Netzkriege‘, um die es dabei geht, finden im Innern von Gesellschaften und nicht an ihren Rändern statt. Auf der Ebene der kriegerischen Operation, das heißt dem Gefecht oder einem zusammengehörenden Komplex von Gefechten gilt dies aber nicht. Denn in einer konkreten gewaltsamen Auseinandersetzung muss der Verteidiger gegen einen Angreifer einen räumlichen Bereich behaupten. Das gilt erst recht, wenn keine Rückzugsmöglichkeit besteht, etwa wenn der Angriff gleichzeitig von allen Seiten erfolgt.135 Der politische Status dieses Raums kann ganz unterschiedlich sein (Staatsgebiet, beanspruchtes Gebiet einer tionäre‘ Möglichkeiten. Der Orbit garantiert natürlich eine gewisse Unangreifbarkeit gegenüber technologisch unterlegenen Gegnern. Aber dennoch ist er vom Boden aus, aus der Luft und aus dem Weltraum selbst heraus erreichbar, so dass Satelliten oder Raumstationen wiederum angegriffen werden können. Darüber hinaus stehen alle Satelliten mit dem Boden in Informationsaustausch und können daher Ziel von Hackerattacken werden. 133 Stephen Biddle, Afghanistan and the Future of Warfare: Implications for Army and Defense Policy, hg. vom Strategic Studies Institute, Carlisle 2002, insbes. S. 44, 48. 134 Clausewitz, Vom Kriege, S. 811 f. 135 Es ist wichtig zwischen politischer und operativer Deterritorialisierung zu unterscheiden. Erstere bedeutet die Lösung von einem politisch-kulturellen Bezugsraum, das heißt sie meint eine kulturelle Entbettung und politische Entortung. Letztere bezieht sich auf konkretes strategisch-kriegerisches Handeln zwischen zwei feindlichen Kampfverbänden. Der Bezug auf einen umkämpften Raum konstituiert dabei überhaupt erst die Möglichkeit einer konkreten kriegerischen Konfrontation.
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Ethnie oder Glaubensgemeinschaft, Bezug auf einen zu interessierenden Dritten oder auch rein kontingente Zonen). Er muss auch nicht Teil einer zusammenhängenden Fläche sein. Aber das heißt, dass auf der Ebene der einzelnen militärischen oder polizeilichen Operation nach wie vor zwischen innen und außen unterschieden werden muss. Dabei kann allerdings weder davon ausgegangen werden, dass diese Unterscheidung an den Rändern der Gesellschaften fixierbar ist, noch dass sie sich auf klar lokalisierbare Zonen begrenzen lässt. Es handelt sich hierbei nicht um ein Verschwinden der Differenz innen/ außen, sondern um das Hineinfalten dieser Differenz in den Raum des normalen gesellschaftlichen Lebens. Im Augenblick des Vollzugs von Angriff oder Verteidigung kommt die räumliche Grenze zum Vorschein, nur um danach sofort wieder zu verschwinden. Gerade dieses Hineinfalten der Grenzen in die Gesellschaften und die Dialektik von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit der politischen Innen-außen-Unterscheidung macht die Ubiquität der Bedrohung der Sicherheit im Normalen aus. Deutlich wird der Momentcharakter eingefalteter Innen-außen-Differenzen am Beispiel des Swarming. Neu am Swarming als operative Doktrin von Sicherheitsakteuren ist dabei jedoch nicht, dass im Raum verteilte Einheiten verschiedener Waffengattungen durch „robust, rapid communications“136 miteinander interagieren, sondern dass sich die räumliche Grenze zwischen Angriff und Verteidigung, Freund und Feind, innen und außen erst im Moment der Operation herstellt und daher keine klar fixierte und allseits sichtbar markierte politische Größe mehr ist. Insofern Swarming also in erster Linie als Element einer gewandelten Sicherheitsvorstellung und weniger als radikal neues taktisch-technisches Vernetzungskonzept zu verstehen ist, manifestiert sich in ihm nicht eine Revolution der Kriegführung, sondern eine zeitgemäße Form der Fähigkeit zu operativer Komplexität. Asymmetrie in der Kriegführung basiert auf dem Zusammenspiel vierer selbständiger und nicht ineinander auflösbarer Faktoren: Überlegene politische Organisation der Gesellschaft, überlegene Ressourcen, überlegene Technologie und überlegene soziokulturelle Techniken. Insbesondere die letzten beiden Faktoren werden dabei durch ein spezifisches Raumverständnis vermittelt, das auf Prinzipien wie Grenzüberschreitung, Tiefe, Dreidimensionalität, medialer Delokalisierung und tendenzieller Globalisierung beruht. Die Technologien, die in dieses Raumverständnis eingeschrieben sind, verstärken seine gesellschaftlichen Wirkungen und machen nach und nach neue Effekte der Raumrevolution sichtbar. Effekte wie Flexibilisierung von Grenzen, Globalisierung und Vernetzungen überraschen insbesondere dann die gesellschaftlichen Sinnhorizonte, wenn sie sich als Gewalterfah136
Arquilla/Ronfeldt, Swarming, S. VII.
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rungen geltend machen. Bisher allerdings wurden diese Erfahrungen in gesellschaftliche Umgangsweisen mit dem Raum verwandelt, die den Rahmen der Moderne nicht verlassen haben, denn Bodenlosigkeit, Dezentrierung, Bewegung und Produktivität sind Kennzeichen der Moderne. Vielmehr wurden diese Gewalterfahrungen in der Kriegführung durch erhöhte operative Komplexität beantwortet. Die Sicherheitskriegführung des Westens beruht auf der Überlegenheit in allen vier Bereichen. Dieses Zusammenspiel erklärt auch die extrem geringen Verlustraten unter den eigenen Soldaten in den bisherigen Sicherheitskriegen. Diese ist nicht nur deshalb gering, wenn überlegene Technologie die eigenen Soldaten für den Gegner unerreichbar macht, sondern auch, wenn es, wie etwa im Golfkrieg, zum unmittelbaren Gefecht am Boden kommt. Im letzten Fall zeichnet vor allem die Differenz in der Fähigkeit zu operativer Komplexität für die Asymmetrie der Opferraten verantwortlich. Während der Gegner sich der Gewaltwirkung moderner Waffen ausgesetzt sieht, sind die eigenen Leute in der Lage, dieser Wirkung auszuweichen. Dabei lässt erst diese geringe eigene Opferquote den Krieg als Mittel der Sicherheit vertretbar erscheinen. Denn Sicherheitskriege stehen nicht mehr im Kontext unmittelbarer Bedrohung durch existenzielle Feinde, so dass sie der zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit nur zu vermitteln sind, wenn der Blutzoll gering bleibt.137 Aber was ist mit den Opfern auf der anderen Seite? Diese sind ja gerade umgekehrt sehr hoch. Die westlichen Militärs und Regierungen versuchen den Krieg als eine saubere, medizinische Operation darzustellen, als einen ‚chirurgischen Schnitt‘ bei dem möglichst keine Opfer sichtbar werden sollen. Dadurch werden „positive Vorstellungen von Heilung und Gesundung“138 aufgerufen. Der Krieg wird in den Rahmen eines biopolitischen Kollektivbildes gestellt, das Sicherheit mit der Bekämpfung von Erregern oder Geschwüren assoziiert. Die „Unsichtbarmachung von Gewaltspuren“139 wird darüber hinaus dadurch erreicht, dass der Krieg als eine Art ‚Videospiel‘ erscheint, in dem die Präsentation der technischen, quasi ‚medizinischen‘ Systeme und die Beobachtung ihrer Performanz die Diskursivierung von Gewalterfahrungen ersetzt. Dargeboten wird „eine geradezu referenzlose Welt ohne Körper, ohne Schmerz, ohne Schreien“.140 Wie erfolgreich diese Medienstrategie ist, lässt sich daraus ermessen, dass es leichter fällt, Eindrückliches über die Gewalterfahrungen in den Materialschlachten des Ersten Weltkrieges oder die Folgen der Bomber137
McInnes, Spectator-Sport War, S. 72. Paul, Bilder des Krieges, S. 377. 139 Heins/Warburg, Kampf der Zivilisten, S. 77. 140 Andrea Gnam, Körper – Krieg – Sprache. Einige Überlegungen zur kriegerischen Wahrnehmung, in: Tacho, Heft 2, 1991, S. 67–71, hier S. 69. 138
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angriffe auf Städte im Zweiten Weltkrieg zu erfahren, als über die Wirkung zeitgemäßer Waffentechnologien. Man muss sich in der Fachliteratur schon etwas umschauen, bis man eine Beschreibung dieser Wirkung findet, die sich in ihrer szenischen Dichte mit der Ernst Jüngers oder Gert Ledigs messen kann: „Die Wirkung der neuen Waffen ist anders als die des Schusses in Herz oder Hirn. Im Stereotyp des Krieges fällt der so getroffene Soldat um. Nun aber werden sie im Explosionskern zu Blitzasche gewandelt. Sie hinterlassen keine Spuren. Aber fünf, zehn, dreißig, hundert Meter jenseits dieses gnädigen Verbrennungskerns beginnen die grausigen Variationen. Meist lässt der Explosionsdruck die Opfer in ihren weichsten Teilen aufplatzen. Sie sind keine Gefallenen mehr, sie sind Geplatzte. Der Bauchinhalt wird zusammen mit dem Blut im großen Umkreis versprüht. Durch die Druckwelle kann es auch vorkommen, dass zwei solcher geplatzter Leichen ineinander geschweißt werden. [. . .] Das Flashburning der Körper ist nicht immer gleichmäßig. Manche Teile werden schwächer oder gar nicht verbrannt, andere werden zu dürren Ästen verkohlt, die bei Berührung sofort abbrechen. [. . .] Manchmal wird durch Druck und Entfernung bedingt der Bauch aufgerissen und die Haut verkohlt. Später quellen durch die klaffende Öffnung gelb bis rosafarbene unverletzte Gedärme hervor. Das Blut verdunstet, lässt aber Chiffren, Krusten und Signaturen zurück. Es kann auch sein, dass der ganze Mensch verdampft und ein schwarzer Umriss im Sand zurückbleibt.“141
IV. Der normative Rahmen der globalen Sicherheit Die Wiederkehr kriegerischer Gewalt nach dem Ende des Ost-West-Konflikts bezieht sich auf eine deutlich veränderte politische Diskurslage. Es geht weder um die Mobilisierung der eigenen staatlich verfassten Gesellschaft zum Zwecke der Verteidigung gegen einen anderen Staat, noch geht es um die Modernisierung im Rahmen eines kriegsgesellschaftlichen Diskurses, dessen wesentliche politische Bezugsgröße ebenfalls der Staat ist. Vielmehr werden normative Regulative der Zivilgesellschaft in das globale Sicherheitsdispositiv eingetragen, das auch bewaffnete Interventionen gestattet. Diese sollen diesen Normen weltweit zu Anerkennung verhelfen und dienen zugleich der Sicherheit sowohl binnengesellschaftlicher Räume als auch der internationalen Strukturen. Der entsprechende Diskurs kann recht gut am Beispiel der den Kosovokrieg begleitenden moralischen Argumente in Deutschland rekonstruiert werden. Mit den Kampfeinsätzen von Verbänden der Bundesluftwaffe im Kosovokrieg 1999 nehmen deutsche Soldaten erstmalig seit Ende des Zweiten Weltkrieges an bewaffneten Auseinandersetzungen in einem Krieg teil. Ob141 Malte Olschewski, Krieg als Show. Die neue Weltinformationsordnung, Wien 1992, S. 65 f.
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wohl die aktive Beteiligung an kriegerischen Aktionen für die politische Kultur der Bundesrepublik Deutschland daher ein Novum darstellt, sind die um die Frage des Krieges kreisenden Diskurse in Deutschland jedoch in den Rahmen der westlich-zivilgesellschaftlichen Wertegemeinschaft eingebunden. Legitimiert werden die militärischen Operationen entweder als „Vorgriff auf einen künftigen kosmopolitischen Zustand, den sie zugleich befördern will“142 oder sogar – darüber hinausgehend – „als geboten [. . .] aus völkerrechtlichen Gründen“.143 Das militärische Eingreifen wird trotz der in diesem Falle vorliegenden Übertretung des Völkerrechts im Kontext einer humanitären internationalen Rechtsordnung gesehen, in der von staatlichen Gewalten ausgeübte systematische Verstöße gegen die Menschenrechte durch die internationale Gemeinschaft sanktioniert werden.144 Normative Überlegungen sind kein deutscher Sonderfall. Denn beim Kosovokrieg handelte es sich um eine militärische Operation der NATO, die mit humanitären Argumenten gerechtfertigt wurde (Schutz der Menschenrechte der albanischen Bevölkerung gegen eine von Serbiens Regierung betriebene Politik der ‚ethnischen Säuberung‘), aber ohne ausdrücklichen Auftrag des Weltsicherheitsrates stattfand. Es handelte sich also nicht um einen klassischen Staatenkrieg zwischen sich moralisch als gleichwertig Anerkennenden, sondern um einen Krieg, in dem die Anwendung militärischer Gewalt seitens der NATO mit einem universellen normativen Anspruch verbunden wurde. Die serbische Repression im Kosovo übersteige „die Grenze der legitimen Selbstverteidigung“ und gebe dadurch Außenstehenden den „Grund – wenn nicht sogar das Recht – [. . .] zu intervenieren.“145 Zum Teil steigerte sich diese Legitimation allerdings in moralische Hysterie, denn wie schon beim Golfkrieg blieben unsägliche Hitlervergleiche nicht aus.146 Von Anfang an wurde außerdem nicht verleugnet, dass auch Sicherheitsinteressen im Spiel waren. Eine umsichgreifende Politik der ‚ethnischen Säuberung‘ hätte, so die begründete Befürchtung, zur Destabilisierung der ganzen südosteuropäischen Region geführt. Das wäre nicht ohne Folgen auf die Sicherheit und die Friedensökonomien selbst in den Kernstaaten der Europäischen Union geblieben.147 Beim Kosovokrieg handelt es sich also nicht 142 Jürgen Habermas, Bestialität und Humanität, in: Reinhard Merkel (Hg.), Der Kosovo-Krieg und das Völkerrecht, Frankfurt am Main 2000, S. 51–65, hier S. 61. 143 Dieter Senghaas, Recht auf Nothilfe, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12.07.1999, S. 12. 144 Michael Schwab-Trapp, Kriegsdiskurse. Die politische Kultur des Krieges im Wandel 1991–1999, Opladen 2002, S. 292–308. 145 Michael Ignatieff, Virtueller Krieg. Kosovo und die Folgen, Hamburg 2001, S. 24. 146 Norbert Seitz, Nicht ohne meinen Nazi, in: Die Zeit vom 18.12.2002, S. 11. 147 Münkler, Neue Kriege, S. 228 f.
IV. Der normative Rahmen der globalen Sicherheit
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um eine durch Kampfjets prothetisierte reine Moral, sondern auch um eine erweiterte sicherheitspolitische Maßnahme westlicher Zivilgesellschaften. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts kann auf eine ganze Reihe Kriege und bewaffnete Interventionen zurückgeblickt werden, die im Kontext des globalen Sicherheitsparadigmas stehen, deren normativer Hintergrund aber nicht immer auf ein UN-Mandat zur humanitären Intervention eingegrenzt werden kann. Aufzählen lassen sich insbesondere: • Der Golfkrieg von 1991, der gedeckt durch eine Ermächtigung des UNSicherheitsrates (S/RES 678 vom 29.11.1990) der Wiederherstellung der Souveränität Kuweits dient, • die humanitäre Intervention im Nordirak zum Schutze der kurdischen Bevölkerung 1991 (S/RES 688 vom 5.4.1991), • die humanitäre Intervention in Somalia durch UN-Truppen (UNSOM I, UNITAF, UNSOM II) 1992–1995 und US-Marines (bis 1994) zum Zwecke der Unterbindung schwerer Menschenrechtsverletzungen (S/RES 794 vom 3.12.1992), • im Zusammenhang mit dem Krieg in Bosnien 1992–1995 die Entsendung von ‚Blauhelmen‘ in die Krisenregion (S/RES vom 21.2.1992 und weitere), der Einsatz von NATO-Luftstreitkräften mit UN-Mandat zur Unterstützung der UNPROFOR (S/RES 781 vom 9.10.1992) und die Verhaftung von vom International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia gesuchten Kriegsverbrechern durch SFOR-Truppen in Bosnien, • der Kosovokrieg 1999, in dem die NATO ohne Billigung des Weltsicherheitsrates durch Luftschläge gegen die Bundesrepublik Jugoslawien die Annahme des Rambouillet-Friedensplanes erzwingt und damit die ‚ethische Säuberung‘ des Kosovo unterbindet, • der Krieg gegen die Taliban und gegen Al-Qaida in Afghanistan 2001 nach dem terroristischen Angriff auf die USA vom 11.9.2001, der durch das Selbstverteidigungsrecht nach Art. 51 der UN Charta gedeckt ist (S/RES 1368 vom 12.9.2001) und schließlich • der Irakkrieg von 2003, in dem die USA ohne Mandat der Vereinten Nationen den ‚Schurkenstaat‘ Irak angreifen, um eine Gefährdung der Weltsicherheit zu beenden, die durch eine Zusammenarbeit zwischen dem Irak und islamistischen Terroristen und durch die Aufrüstung des Irak mit Massenvernichtungswaffen entstanden sei. In Bezug auf die normative Dimension solcher Sicherheitskriege sind insbesondere vier grundlegende Problematiken hervorzuheben. Dabei handelt es sich um das Spannungsverhältnis zwischen Moral und Recht, um die Frage der normativen Asymmetrie, um die Lockerung des völkerrechtlichen
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Souveränitätsprinzips und um strukturelle Legitimationsprobleme der Kriegführung. Gerade die Debatten um den Kosovokrieg und den Irakkrieg machen die Spannung zwischen Moral und Recht in der normativen Dimension des Sicherheitsdispositivs sichtbar, weil beide Kriege ohne Zustimmung des Weltsicherheitsrates geführt worden sind. Viel mehr als der Kosovokrieg geriet dabei der Irakkrieg in das Kreuzfeuer der Kritik. Weil es bezüglich dieses Krieges im Weltsicherheitsrat zu einer direkten Konfrontation zwischen ‚Willigen‘ und ‚Unwilligen‘ kam, ließ sich schlecht argumentieren, dass er einen kosmopolitischen Rechtszustand befördern wolle. Trotzdem handelt es sich um einen Sicherheitskrieg, der sowohl im Dienste der nationalen Sicherheit als auch der Weltsicherheit steht. Diese unilaterale, aber dennoch globale sicherheitspolitische Rolle der USA wird gut durch die Metapher des internationalen „Sheriffs“ (Ronald Kagan, Colin S. Gray) eingefangen, mit der der Sicherheitsakteur ‚Uncle Sam‘ seine globale Rolle selbst beschreibt. Ihr Gebrauch soll bezeichnen, dass „the United States will act on behalf of others, as well as itself, undertaking some of the tough jobs of international security that no other agent or agency is competent to perform.“148
Zur Frage steht natürlich, woher der ‚Globocop‘ seine Legitimation bezieht. Aus dem Ordnungseffekt der bloßen ‚Machtpolitik‘? Diese Antwort wäre wenig überzeugend, weil dieser Effekt auf ein Gleichgewicht der Kräfte verweist, von dem unter den asymmetrischen Machtverhältnissen zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht die Rede sein kann.149 Die Legitimation bezieht sich (natürlich!) vielmehr auf Ideen wie Demokratie, Freiheit, Pluralismus, Fortschritt und Toleranz sowie eine entschlossene Feindstellung zu totalitären Staats- und Gesellschaftsformen.150 Der globale Sheriff kämpft 148 Colin, The Sheriff, S. 7. Kagan schreibt (Macht und Ohnmacht, S. 43): „Die Vereinigten Staaten agieren als ein vielleicht selbst ernannter, aber dennoch weithin mit offenen Armen begrüßter internationaler ‚Sheriff‘, der sich darum bemüht, in einer in seinen Augen gesetzlosen Welt, in der Verbrecher oftmals mit Waffengewalt abgeschreckt oder ausgeschaltet werden müssen, ein gewisses Maß an Frieden und Gerechtigkeit durchzusetzen.“ 149 Münkler, Der neue Golfkrieg, S. 127, 135 f. 150 Vgl. die Rede des amerikanischen Präsidenten George W. Bush vom 20.9. 2001, in der er den „Krieg gegen den Terror“ ankündigt (http://usa.usembassy.de/ etexts/docs/ga1-092001d.htm), sowie die neue Nationale Sicherheitsstrategie der Vereinigten Staaten vom September 2002, in der das unilaterale Recht auf „preemptive actions“ formuliert wird (The National Security Strategy of the United States of America, Washington 2002, http://www.whitehouse.gov/nsc/nss.pdf). Die Erklärung amerikanischer Intellektueller zum Anti-Terror-Krieg betont ebenfalls den normativen Bezug dieses Krieges. Verwiesen wird auf universelle und damit zugleich zivilgesellschaftliche Werte. Zugleich bezieht sich diese Erklärung auf die Theorie des
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und handelt im Namen zivilgesellschaftlicher Ideale. Dabei orientiert er sich durchaus am internationalen Recht und am UN-System, stellt jedoch seine Interessen und seine eigenen regulativen Ideen, Moralvorstellungen und Rechtsnormen in den Vordergrund.151 Subjektive moralische Gewissheit, das heißt das Wissen, im Namen einer höheren Gerechtigkeit zu handeln, hat die Eigenschaft, sich über geltendes Recht hinwegsetzen zu können. Obwohl damit die Legalitätsbedingung normgerechten politischen Handelns aufgehoben wird, bleibt solches Handeln an einem Sollen orientiert, das in Spannung zum bloßen Sein steht. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Moral und Recht hat es der US-Regierung ermöglicht, im Irak einen völkerrechtswidrigen Sicherheitskrieg zu führen. Auch der Kosovokrieg lässt sich auf dieses Spannungsverhältnis zurückführen, denn was bezeichnet die Rede eines Vorgriffs auf eine kosmopolitische Rechtsordnung anderes, als die Legitimation durch höhere Moral gegen das Prinzip der Legalität? Dabei zeigen beide Sicherheitskriege unterschiedliche Variationen moralischer Legitimation. Die eine hegt Zweifel am UN-System in seiner derzeitigen Form, ‚das Gute‘ wirklich durchsetzen zu können und beharrt außerdem auf dem Primat der subjektiven Moralvorstellung, die andere benutzt den Verweis auf eine allgemeine kosmopolitische Rechtsordnung, um sich über bestehendes Recht hinwegzusetzen. Das Sicherheitsdispositiv der Zivilgesellschaft basiert damit auf einem legitimatorischen normativen Kontinuum zwischen Legalität und Moral: Legales Mandat, Vorgriff, subjektive moralische Gewissheit – diese drei Elemente vermischen sich. Der normative Horizont des Sicherheitsdispositivs lässt sich also nicht allein auf das UN-System begrenzen. Problematisch ist die Spannung zwischen subjektiver Moral und allgemeinem Recht, weil sie zu einer „Zerreißprobe“ für das Völkerrecht und seine ordnungspolitischen Errungenschaften führen kann.152 Die Verrechtlichung des globalen Sicherheitsdispositivs würde dann schwer beschädigt. Das ist auch im Kontext des Sicherheitsregimes problematisch, denn allein durch Moral legitimierte Kriegführung erschwert eine Nachkriegspolitik der Einbeziehung, die versucht die Herzen und Köpfe in der besiegten Gesellschaft für die Idee und Praxis der Zivilgesellschaft zu gewinnen.153 Aus gerechten Krieges. Außer in einer Fußnote wird allerdings über das kollektive Sicherheitssystem der Vereinten Nationen kein Wort verloren. In besagter Fußnote geht es um die Frage, ob eine UN-Legitimation für einen gerechten Krieg notwendig ist. Diese Frage wird als „problematic“ ausgewiesen und eher ablehnend beschieden (What we are fighting for. A letter from America, dokumentiert in: Ästhetik & Kommunikation, Heft 118, 2002, S. 64–74, insbes. S. 64, 73). 151 Jochen Hippler, Unilateralismus der USA als Problem der internationalen Politik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B31–32, 2003, S. 15–22, insbes. S. 17. 152 Münkler, Der neue Golfkrieg, S. 135.
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Sicht der im Sicherheitskrieg Besiegten steht in einem solchen Fall nur eine partikulare Perspektive gegen eine andere. Anzunehmen ist in diesem Fall, dass Erinnerungsdiskurse, die dieses Verhältnis wachhalten und Gesetz und Frieden nur als vorübergehenden Waffenstillstand verstehen, eine Politik der Inklusion erschweren oder sogar verhindern.154 Die Beschädigung der Verrechtlichung wäre auch deshalb ein Problem, weil sie ein Schutz gegen die Gefahr einer Enthumanisierung des Gegners ist. Diese Gefahr entsteht, wenn die kriegerische Freund-Feind-Konstellation mit moralischen Vorstellungen aufgeladen wird und zu einer normativen Asymmetrie führt. Eine solche Asymmetrie ist im Kontext von Sicherheitskriegen in zweifacher Hinsicht gegeben, denn im Sicherheitskrieg gilt der Gegner weder in einem rechtlichen noch in einem moralischen Sinne als gleichwertig. Soweit Kriegführung im Namen der globalen Sicherheit seitens eines Beschlusses des Weltsicherheitsrates legitimiert ist, kann sie kein klassischer Staatenkrieg zwischen wechselseitig Gleichen sein, da der symmetrische Krieg im Rahmen des UN-Systems rechtlich diskriminiert wird. Legale Kriegführung ist vielmehr nur im Namen der Weltsicherheit möglich. Sie zielt auf die Beseitigung von ‚Bedrohungen der internationalen Sicherheit und des Weltfriedens‘ und setzt daher voraus, dass der diese Bedrohung Verursachende rechtlich als Delinquent betrachtet wird (der gleichwohl gewisse grundlegende Rechte genießt). Da inzwischen auch die systematische Verletzung der Menschenrechte im Hoheitsgebiet eines Staates als Bedrohung der internationalen Sicherheit gewertet werden kann, gilt dies auch für im Namen der Vereinten Nationen durchgeführte humanitäre Interventionen.155 Und entgegen aller Illusionen handelt es sich bei Sicherheitskriegen nicht um vergrößerte Polizeiaktionen, sondern eben um ‚Kriege‘, die auf einen politischen Akt angewiesen bleiben. Sie sind nicht Folge eines weltpolizeilichen Automatismus, der bei Rechtsverstößen in Aktion tritt. In Zivilgesellschaften heißt ‚politisch‘ immer auch ‚öffentlich‘. Sicherheitskriege bedürfen in Zivilgesellschaften daher immer einer besonderen öffentlichen Legitimation. Dieser Legitimationsbedarf wird noch dadurch verschärft, dass in Sicherheitskriegen niemals nur individualisierbare Verbrecher Schaden erleiden. Sie beschwören damit zwangsläufig moralische Probleme herauf.156 „Die kontinuierliche Wiederkehr der Moral ist nicht zu vermeiden“.157 153
Kaldor, Neue Kriege, S. 179 f. Foucault, Verteidigung der Gesellschaft, S. 61. 155 Preuß, Zwischen Legalität und Gerechtigkeit, S. 822. 156 Hierbei ist nicht nur an Zivilisten zu denken, sondern auch an die Soldaten (von denen viele möglicherweise gezwungene Wehrpflichtige sind). 154
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Selbst im Falle einer UN-Legitimation ist öffentliches moralisches Einverständnis nicht einfach vorhanden, sondern muss in den einzelnen politischen Gesellschaften ständig ausgewiesen werden. Da es dabei nicht nur um rationale Einsicht, sondern auch um emotionale Zustimmung geht, wird die Öffentlichkeit mittels Diskurs und Bild erheblich moralisiert. Um Krieg zu führen, muss in den Gesellschaften eine Diskurspolitik greifen, die Emotionen weckt und moralische Gewissheit erzeugt. Daher müssen Sicherheitskriege immer als gerechte Kriege erscheinen.158 Gerechte Kriege können aber nur von einer Seite aus legitimiert sein.159 Der Gegner, gegen den Krieg geführt wird, kann nicht als jemand erscheinen, der mit dem gleichen moralischen Recht die Waffen führt. Daher ist Kriegführung im Rahmen des Sicherheitsregimes immer in ein moralisch asymmetrisches Verhältnis eingetragen.160 In die Sicherheitskriegsführung ist daher von vornherein eine normative Asymmetrie eingeschrieben, die die faktische Asymmetrie in der Kriegführung begleitet. Das hat zur Folge, dass im globalen zivilgesellschaftlichen Sicherheitsdispositiv immer die Möglichkeit besteht, dass eine moralpolitische Dynamik in Gang kommt, die den gerechten Krieg in einen Kreuzzug verwandelt und „die Mächte des Guten gegen die Mächte des Bösen antreten“ lässt.161 Dabei allerdings droht die Norm zum bloßen Sekundanten der Macht und der Gewalt zu werden. Dieses Reentry der Souveränitätsmacht in die Norm gilt es kritisch zu reflektieren und rechtlich zu fesseln. Gelingt dies nicht, beschädigt es den normativen zivilgesellschaftlichen Rahmen des Sicherheitsdispositivs, weil es in letzter Konsequenz zur Dehumanisierung des Kriegsgegners führt, der dann nicht mehr als Rechtssubjekt, sondern als ‚bloßes Leben‘ betrachtet wird. Moralische Selbstermächtigung im Namen der Sicherheit ist nicht deshalb etwas Außergewöhnliches, weil sie moralisiert. Es entfällt zwar die 157 Herlinde Pauder-Studer, Ethik des gerechten Krieges, in: Paul Liessmann (Hg.), Der Vater aller Dinge. Nachdenken über den Krieg, Wien 2001, S. 93–117, hier S. 105. 158 Zur Lehre vom gerechten Krieg u. a.: Kater, Institution und Norm, S. 157–183; Herfried Münkler, Selbstgerechter Krieg, in: Der Tagesspiegel vom 20.03.2002, S. 27; Pauder-Studer, Ethik des gerechten Krieges; Schmitt, Nomos der Erde, S. 298 f.; Christina Schildmann, Die Bomben aus Stahl, das Pathos aus Hollywood. Die Wiederentdeckung des „gerechten Krieges“ im Medienzeitalter, in: Vorgänge, Heft 3, 2002, S. 71–81; Michael Walzer, Gibt es den gerechten Krieg? Stuttgart 1982; Michael Walzer, Erklärte Kriege – Kriegserklärungen, Hamburg 2003, S. 31–51. 159 Kater, Institution und Norm, S. 174. 160 Ebd., S. 160. 161 Walzer, Erklärte Kriege, S. 38.
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Legitimation durch das Völkerrecht. Aber auch mit dieser Legitimation kommt der öffentliche Diskurs nicht ohne Moral aus. Darüber hinaus muss das Entfallen der völkerrechtlichen Legitimation keineswegs notwendig eine Dehumanisierung des Kriegsgegners zur Folge haben. Internationales Recht ist schließlich nur ein Mittel der Kontrolle der Macht. In demokratischen Zivilgesellschaften steht vielmehr auch nationales Recht der Logik der reinen Souveränitätsmacht entgegen. Die Faktizität dieser Macht kann sich daher (scheinbar paradox) nur in exterritorialen Zonen entfalten, die außerhalb des nationalen Rechts stehen. Ein Beispiel für solches hochproblematisches, weil widerspruchsloses Ineinanderlaufen von Macht und Norm ist die amerikanische Internierungspraxis in Guantánamo Bay nach dem Anti-Terror-Krieg in Afghanistan.162 Diese Praxis widerspricht in ihrem Geiste der grundlegenden ‚due process‘ Klausel der amerikanischen Verfassung und des amerikanischen Prozessrechts. Die Formel ‚due process of law‘ sichert in Anknüpfung an die Rechtstradition der Magna Charta, „dass kein freier Mann festgenommen und eingekerkert werden [darf], es sei denn im Einklang mit dem Recht des Landes.“163 Mit der Verlegung des Einsperrungslagers nach Guantánamo Bay versucht die Exekutive dieses lex terrae außer Kraft zu setzten und sich so dem Einfluss der Gerichtsbarkeit zu entziehen. Die weltumfassende Sicherheitsordnung bleibt in ihrer normativen Dimension grundsätzlich auf Staaten als lokale Anerkennungsgemeinschaften des Rechts und auf holistische Gesellschaften als imaginäre Gemeinschaftsverbände verwiesen. Nur im Wechselverhältnis von ‚Staat‘ und ‚Gesellschaft‘ wird die Zivilgesellschaft lebensweltlich konkret. Dieses Verhältnis ermöglicht soziale Normalität und Alltäglichkeit. Und es verknüpft kollektive Identität und Rechtsgeltung. Aber gleichzeitig wird das politische und völkerrechtliche Prinzip staatlicher Souveränität sowohl durch das Recht zur humanitären Intervention durch Organe der kollektiven Sicherheit als auch durch das unilateral beanspruchte Recht auf ‚präemptive Verteidigung‘ aufgeweicht, das 2002 von den USA im Rahmen der Nationalen Sicherheitsstrategie formuliert wurde. Beide Doktrinen stehen in Konflikt zum Schutz der staatlichen Souveränität und zum Verbot zwischenstaatlicher Gewalt nach Art. 2 Nr. 4 der UNCharta, weil sie gewaltsame Aktionen innerhalb der Territorien anderer Staaten gestatten.164 Diese Problematik verweist nicht nur auf die sehr kom162 Ronald Dworkin, Amerika zerstört seine Selbstachtung, in: Die Zeit vom 07.07.2005, S. 35. 163 Ernst Fraenkel, Das amerikanische Regierungssystem. Eine politologische Analyse, Köln/Opladen 21962, S. 173. 164 Fassbender, Souveräne Gleichheit, S. 13.
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plexe Machtdimension globaler Sicherheit, sondern auch auf ihre normativen Implikationen. Staatlichkeit fungiert zunehmend weniger als ein Wert an sich, sondern nur in Bezug auf normative Ansprüche. Im Rahmen des UNSystems beispielsweise gilt die „Verpflichtung jedes Staates, die grundlegenden Menschenrechte der seiner Gewalt unterworfenen Personen zu achten“.165 Aus dieser Verpflichtung erwächst das Recht der internationalen Gemeinschaft zur humanitären Intervention. Ähnlich verhält es sich mit der Nationalen Sicherheitstrategie der USA. Im Hinblick auf drei normativ diskriminierte Sicherheitsbedrohungen – Terrorismus, Genozid und Massenvernichtungswaffen – schränkt sie das Prinzip der Unantastbarkeit der Souveränität ein. Im Falle solcher Bedrohungen wird auch der präventive Einsatz militärischer Mittel angedroht und einer entsprechenden UN-Legitimation entkoppelt. Ansonsten enthält die Sicherheitsdoktrin ein klares Bekenntnis zur UNO und ist als Ergänzung zum UN-System oder sogar als Aufforderung zur Reform des bestehenden Völkerrechts zu verstehen.166 Die Angewiesenheit des globalen Sicherheitsdispositivs auf das Prinzip staatlicher Souveränität impliziert also nicht dessen unbedingte Geltung, sondern konfrontiert Staaten von außerhalb mit normativen Ansprüchen, an denen sie sich messen lassen müssen. Im globalen Sicherheitsdispositiv ist eine deutliche Tendenz zur Normierung von Staatlichkeit festzustellen. Zunehmend können Staaten für sich Souveränität nur noch in Anspruch nehmen, wenn sie grundlegende Normen einhalten. Definiert werden diese Normen sowohl multilateral von den Vereinten Nationen als auch unilateral von den USA. Neu ist an dieser Normierung im Prinzip nur, dass sie sich nicht länger nur auf die moralphilosophische Idee der Staatlichkeit und auf aus Gewalterfahrungen erwachsene kritische Öfftlichkeitskulturen verlassen muss, sondern dass sie nun von außen mit Macht eingefordert werden kann. Globaler Sicherheit ist am besten mit einer möglichst weiten Verbreitung zivilgesellschaftlicher Prinzipien und Formen gedient. Der normative Hintergrund der weltumfassenden Sicherheitsordnung reflektiert genau dies: Von den einzelnen Staaten wird erwartet, dass sie zivilgesellschaftliche Mindeststandards einhalten. Eine solche Transformation des Sozialen entzieht Kriegsökonomien, Terrorismus und der Versuchung, mit Massenvernichtungswaffen abzuschrecken oder zu bedrohen letztlich den Boden. Aber was ist daran auf einer grundsätzlichen Ebene problematisch? Souveränität bedeutet zunächst: letztverbindliche Rechtsetzung nach innen, rechtliche Weisungsfreiheit von außen.167 Das gilt insbesondere für Zivilgesellschaf165
Ebd., S. 11. Joachim Krause/Jan Irlenkaeuser/Benjamin Schreer, Wohin gehen die USA? Die neue Nationale Sicherheitsstrategie der Bush-Administration, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B48, 2002, S. 40–48, insbes. S. 45. 166
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ten, denn das Politische als Spannung zwischen Institution und Norm bestimmt sich in demokratischen Republiken von innen her. Ihr politischer Prozess verweist auf das Prinzip der Volkssouveränität, auf innere Öffentlichkeit und Kritik, auf das Primat des nationalen Rechts und auf die rechtliche Auszeichnung des Eigenen, das heißt der eigenen Bürger im Unterschied zu Ausländern. Diese Bezugspunkte können nicht einfach aufgegeben werden und bedingen damit einen double bind zwischen den Verpflichtungen nach innen und denen nach außen. Das Problem liegt also auch hier in der Differenz innen/außen. Diese Unterscheidung wird einerseits nicht aufgehoben, weil mit (zivil-)‚gesellschaftlicher‘ Identität verkoppelte Staaten eine fundamentale politische Bezugsgröße im globalen Sicherheitsdispositiv bleiben. Andererseits wird der Souveränitätspanzer durchlöchert, weil an die Staaten von außen mit politischer Macht armierte normative Ansprüche herangetragen werden. Kein Land, nicht einmal die USA, können dieser Problematik entgehen. Der amerikanische Versuch, nach außen als moralischer Normgeber gegenüber anderen Staaten aufzutreten und nach innen autonome Souveränität zu verabsolutieren, lässt sich in diese Problematik ebenso eintragen wie das kollektive System der Europäischen Union. Dieses System stellt zumindest zu Beginn des 21. Jahrhunderts keine ‚postnationale Konstellation‘ dar, sondern es schwankt zwischen politischer Einheit und funktioneller Integration. Dabei kreist es ebenfalls um das Problem der Souveränität.168 Trotz unterschiedlicher normativer Begründungslage und unterschiedlich überzeugender sicherheitspolitischer Argumente sind bislang alle Sicherheitskriege in der Öffentlichkeit sehr umstritten gewesen. So schien zeitweise die serbische Medienstrategie während des Kosovokrieges aufzugehen, die die Folgen des Krieges in der serbischen Zivilgesellschaft thematisierte. Es drohte ein Stimmungsumschwung in der Bevölkerung der NATO-Länder.169 Diese Dopplung von Legitimation und öffentlicher Kritik ist typisch für Sicherheitskriege. Sie ist nicht einfach die Folge widersprüchlicher moralischer und völkerrechtlicher Imperative, denn auch wenn völkerrechtliche Legitimität eindeutig besteht, wie im Falle des Golfkrieges 1991, kommt es zu teilweise heftigen öffentlichen Protesten. Zustimmung zum kriegerischen globalen Sicherheitsengagement versteht sich nicht von selbst; es handelt sich vielmehr um ein strukturelles Legitimationsproblem. Weil es nicht um totale Verteidigungskriege geht, erscheint die Notwendig167
Fassbender, Souveräne Gleichheit, S. 8. Rüdiger Altmann, Guten Morgen, Abendland. Notizen zu einer politischen Theorie der Vereinigung Europas, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, Heft 9, 2001, S. 541–559, insbes. S. 546. 169 Paul, Bilder des Krieges, S. 417 f. 168
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keit des Krieges in der zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit immer fraglich. Zu tun hat dies mit der spezifischen Reaktion ziviler moderner Gesellschaften auf mediatisierte reale Gewalt. Die modernen Zivilgesellschaften sanktionieren Gewalt und generalisieren zugleich die Imagination der Gewalt. Weil die Sozialbeziehungen kontingent sind und keine große Form sie mehr fixiert, wird permanent mit Gewalt gerechnet. Das hat den paradoxen Effekt, „dass die Industriegesellschaft der Gegenwart die Gewalt gezähmt hat, aber den Schein der Gewalt sich nicht nehmen lässt.“170 In den imaginären Formen des Verdachts und der Angst, der Scham und der Schuld, der Versuchung und der Faszination bleibt Gewalt virulent. Aber Medienbilder über Kriegsgewalt gehorchen nicht dieser Alternative zwischen dem Verbot im Realen und der Allgegenwärtigkeit im Fiktiven. Sie bringen Gewalt als ein Phänomen zur Erscheinung, das zwar einerseits auch mediale ‚Simulation‘ ist, andererseits durch die Art der Berichterstattung, etwa in Nachrichtensendungen, als ‚real‘ erkennbar wird. Diese reale Gewalt erzielt beim Publikum andere Wirkungen als fiktive Gewalt. Sie produziert Erschütterung, Mitleiden, Empörung, das heißt Gefühle, die keine Ironie kennen. Tatsächliche Verletzungen ‚durchschlagen‘ als Erfahrung somit immer wieder die gewohnten Sinnoberflächen der Medien.171 Diese zur Darstellung gebrachte reale Gewalt ist daher etwas Besonderes in der alltäglichen Aufmerksamkeitsökonomie von Zivilgesellschaften. Aber gerade weil in (bewegten) Bildern mediatisierte Gewalt sich dem Gewohnten nicht problemlos fügt, ruft sie zugleich danach, in mediale Sinnkonstruktionen eingebaut zu werden. Gewalt wird damit für Öffentlichkeitspolitik und Public Relations zu einer bedeutsamen und zugleich problematischen Ressource. Im Falle kriegerischer Gewalt versuchen insbesondere die politisch interessierten Akteure diese Ressource unter Kontrolle zu bringen, weil sie sowohl zur moralischen Legitimation wie zur moralischen Delegitimation von sicherheitskriegerischem Engagement genutzt werden kann. Von 170 Trutz von Trotha, Distanz und Nähe. Über Politik, Recht und Gesellschaft zwischen Selbsthilfe und Gewaltmonopol, Tübingen 1986, S. 48. 171 Im Anschluss an Thomas Hausmanninger lässt sich hier argumentieren, dass spezifische Sicherungsformen der fiktiven Gewaltdarstellung, die bei Spielfilmen oder TV-Serien das ästhetische „Erlebnis des Schreckend-Erhabenen“ ermöglichen, bei der Darstellung realer Gewalt in den Medien entfallen. Weder distanziert eine genrespezifische Künstlichkeit, noch wird eine zweckfreie, interesselose und entlastete Rezeptionshaltung eingenommen. Darüber hinaus destruiert gerade der Spektakelcharakter des Terrorkrieges die von der Gewaltwirkung distanzierte Position des nicht-beteiligten Zuschauers (vgl. Thomas Hausmanninger, Vom individuellen Vergnügen und lebensweltlichen Zweck der Nutzung gewalthaltiger Filme, in: Thomas Hausmanninger/Thomas Bohrmann (Hg.), Mediale Gewalt. Interdisziplinäre und ethische Perspektiven, München 2002, S. 231–259, insbes. S. 232 ff., 240).
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entscheidender Bedeutung ist dabei, wer als gewaltsamer Täter erscheint. Während des Kosovokrieges dienten die Bilder von Flüchtlingen und Berichte über Gräueltaten im Zusammenhang mit der serbischen Politik der ‚ethnischen Säuberung‘ im Kosovo als Legitimation des NATO-Sicherheitskrieges. Erscheinen dagegen die Sicherheitsstreitkräfte als Agenten einer in der westlichen Öffentlichkeit für nicht legitim erachteten Gewalt, so wendet sich die öffentliche Meinung schnell gegen sie. Die Wirkung von Bildern der Gewalt und des Leidens ist dabei nicht etwa als eine ‚natürliche‘ Folge der mediatisierten Gewalt anzusehen, sondern sie erklärt sich aus der Gesellschaft, in der diese Erfahrungen gemacht werden.172 Sie hat mit dem zivilen Charakter der westlichen Gesellschaften und der Form des auf Dauer gestellten Sicherheitsdispositivs zu tun. Denn diese Bedingungen verschließen die Chance einer kriegsgesellschaftlichen Interpretation. Die auf Mobilisierung zielende ästhetische Apologie der Gewalt passt zum permanenten Ausnahmezustand und zum Diskurs der existenziellen kollektiven Bedrohung. Aber gerade um den geht es nicht. Statt dessen fordert der Sicherheitszustand vom Bürger zwar gewisse Kosten insbesondere an Freiheitsrechten und am Recht auf informationelle Selbstbestimmung und gelegentlich mobilisiert er die Aufmerksamkeit im öffentlichen Raum, aber er zielt eben nicht auf eine propagandistische Mobilmachung, sondern steht im Dienste der zivilen Ordnung und ihrer Normen und Werte.173 Er hebt die soziale Normalität nicht auf, sondern begleitet sie. Krieg ist daher im Sicherheitsdispositiv ein konstitutives Ordnungsmittel, das besonderer Rechtfertigung bedarf. Die in der Öffentlichkeit vertretene normative Legitimation schließt jedoch das Leiden Unschuldiger im Prinzip aus. Solches Leiden ist aber unter Kriegsbedingungen letztlich nicht zu vermeiden. „Als eine auf das staatlich organisierte Kollektiv gerichtete Gewaltsamkeit vernichtet [der Krieg] notwendigerweise [. . .] auch Unschuldige, bei empirischer Betrachtung sogar mehr Unschuldige als Schuldige.“174 Hinzu kommt, dass auch die zum Teil extrem hohen Gewaltkosten unter den Zivilbevölkerungen in nichtstabilisierten Nachkriegsgesellschaften (insbesondere dem Irak nach der US-Invasion 2003175) zu den normativ proble172
So ist die immer wieder geäußerte Behauptung, dass die ‚wahrhaftige‘ Berichterstattung über den Vietnamkrieg zu seiner breiten Ablehnung in der Bevölkerung geführt habe, ein „zweckdienlicher Mythos, mit dem US-Militärs auch heute noch ihre Niederlage in Vietnam zu erklären versuchen.“ (Dominikowski, „Massen“medien und „Massen“krieg, S. 45 f.; vgl. Mira Beham, Kriegstrommeln. Medien, Krieg und Politik, München 1996, S. 79–91). 173 McInnes, Spectator-Sport War, S. 147. 174 Preuss, Krieg, Verbrechen, Blasphemie, S. 81. 175 Gilbert Burnham/Riyadh Lafta/Shannon Doocy/Les Roberts, Mortality after the 2003 invasion of Iraq: a cross-sectional cluster sample survey, in: The Lancet, No. 368, 2006, S. 1421–1428, insbes. S. 1427.
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matischen Folgen von Sicherheitskriegen gezählt werden müssen. Weil er nicht nur eine ‚erweiterte‘ Polizeiaktion darstellt, verletzt der sichtbar werdende Sicherheitskrieg zugleich auch die moralischen Empfindungen, die ihn legitimieren. Ins Wohnzimmer übertragene Bilder realer Gewaltkosten der eigenen Sicherheit passen nicht in den zivilen Normen- und Wertekanon. Sie erscheinen als eine Störung und ein Aufbrechen der Normalität. Solche Bilder durchbrechen die Deutungsmaschinen der Zivilgesellschaft. Sie sperren sich gegen die Bezeichenbarkeit und fungieren damit je als „Ereignis einer Präsenz“ (Dieter Mersch). Weil die Möglichkeit, sie kriegsapologetisch zu deuten in der zivilen Diskursordnung nicht besteht, führen sie regelmäßig zur öffentlichen Infragestellung des kriegerischen Sicherheitsengagements. In diesem Rahmen können sie im öffentlichen Diskurs als „Argumente“ verwendet werden.176 Kriegerische Gewalt wird daher in den Medien eher abgeblendet, als ästhetisch benutzt. Dem „Kampf um die ‚richtigen‘ Bilder“177 dienen eine ganze Reihe medialer und politischer Strategien. Ziel ist es, Bilder sowohl eigener getöteter Soldaten als auch von Opfern der Gegenseite zu verhindern. Im Golfkrieg wurden zum Zweck der Regulierung der Bilder und Nachrichten Pressepools eingerichtet, im Irakkrieg wurden Journalisten in die militärischen Operationen ‚eingebettet‘ und dadurch kontrolliert. Was die Opfer der Gegenseite angeht, kann man darauf verzichteten, sie überhaupt zu zählen. Man kann auch PGMs einsetzen und behaupten, ‚chirurgische Schnitte‘ würden durchgeführt. Oder man lässt das Publikum durch die im Moment der Zerstörung sich schließenden Augen der ‚smarten‘ Bomben blicken. Sichtbar gewordene Opfer werden einerseits als Unfälle, Versehen oder ‚Kollateralschäden‘ dargestellt. Schlussendlich soll das Töten und Sterben als Nebensache der Kriegführung erscheinen. Wie um diesen Schein zu bestätigen, kommt es zu einer symbolischen Reproduktion und damit Verharmlosung des Krieges in allen möglichen Bereichen der zivilen Massenkultur. „Zwischen Cargo-Hose, Waschbrettbauch und Four-Wheel-Drive“ findet zwar keine „symbolische Aufrüstung“178 statt, sondern vielmehr eine Entdramatisierung und Veralltäglichung von Kriegszeichen. Allerdings ist die Annahme nicht ganz unplausibel, dass 176 Markus Lohoff, Krieg zwischen Science und Fiction. Zur Funktion technischer Bilder im Zweiten Persischen Golfkrieg, in: Arbeitskreis Historische Bildforschung (Hg.), Der Krieg im Bild – Bilder vom Krieg, Frankfurt am Main 2003, S. 105–130, hier S. 105. 177 Münkler, Neue Kriege, S. 229. 178 Tom Holert/Mark Terkessidis, Entsichert. Krieg als Massenkultur im 21. Jahrhundert, Köln 2002, S. 13.
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diese massenkulturelle Zeichenpolitik auch etwas mit der Kriegführungsfähigkeit ‚postheroischer‘ Gesellschaften zu tun haben könnte.179 Aber alle medialen Abblendungs- und Gewöhnungsstrategien können Opferbilder nicht verhindern, weil sie von der Gegenseite wiederum als Waffe benutzt werden. Auf dem virtuellen Schlachtfeld der öffentlichen Meinung soll jener Sieg errungen werden, der im Felde aufgrund der asymmetrischen Kräfteverhältnisse nicht errungen werden kann.180 Entsprechend verstehen die Sicherheitskrieger inzwischen mediale Repräsentation und öffentliche Meinung als wichtige Aspekte des Kriegsgeschehens. Sie erkennen damit an, dass es in der zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit ein strukturelles Legitimationsproblem des Sicherheitskrieges gibt. Um die öffentliche Zustimmung nicht zu verlieren, muss sich die militärische Sicherheitsoperation daher in bestimmten Grenzen den Normen und Erwartungen der zivilen Öffentlichkeit und ihres Publikums unterwerfen.181 Das strukturelle Legitimationsproblem verweist ebenfalls auf Veränderungen der politischen Innen-außen-Differenz. Globale Sicherheitspolitik – die aus der Perspektive einzelner Öffentlichkeiten als Außenpolitik wahrgenommen wird – wird zu einem innenpolitischen Thema und nimmt zunehmend Einfluss auf Entscheidungen der Wähler. In der hier entwickelten Perspektive steht das globale Sicherheitsdispositiv also in einem politischen Spannungsfeld zwischen Machtordnung und Gewalt einerseits und zivilgesellschaftlichen Normen und Werten andererseits. Es handelt sich damit wesentlich um eine Anordnung des Politischen (und nicht etwa des Ökonomischen). Das Verhältnis zwischen Recht und Moral, die normative Asymmetrie, die Lockerung des Souveränitätsprinzips und die Legitimitätsprobleme können dabei als die Matrix angesehen werden, die das politische Feld und die Diskurse des Sicherheitsdispositivs strukturiert. Dabei ist davon auszugehen, dass das politische Handeln jedes Sicherheitsakteurs in irgendeiner Weise in dieser normativen Matrix zu verorten sein wird. Das ist auch der Grund, warum in dieser Arbeit nicht von einem amerikanischen Imperium gesprochen wird. Begriffe, welche die globale Sicherheitsordnung als amerikanisches „Empire“ (Michael Hardt/Antonio Negri) oder „neuer Imperialismus“ (Michael Mann) beschreiben, führen das theoretische Verständnis eher auf eine falsche Fährte, weil sie einseitig die Herrschaftsdimension hervorheben. Wenn in imperialismustheoretischen Kategorien gesprochen wird, so wird in der Regel von einer substanziellen Diffe179 180 181
Ebd., S. 11. Ignatieff, Virtueller Krieg, S. 184. McInnes, Spectator-Sport War, S. 149.
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renz zwischen Herrschendem und Beherrschten, Zentrum und Peripherie oder dergleichen ausgegangen. In einer solchen machtzentrierten Perspektive erscheint das Moment des Normativen rasch nur als Reflex der Herrschaftsordnung.182 Das ist aber nicht der Fall. Daher wird hier eine andere Perspektive vorgeschlagen; ihre Rechtfertigung bezieht sie aus dem Anspruch, Differenzierungsmöglichkeiten anzubieten. Mit dem Begriff des globalen Sicherheitsdispositivs soll der Weltnomos der Zivilgesellschaft bezeichnet werden. Dieser Nomos verfügt demnach über eine in der Spannung zwischen Macht und Norm zu situierende politische Struktur, in die das politische Handeln aller zivilgesellschaftlichen Sicherheitsakteure sich einschreibt. Im Rahmen dieser Perspektive markieren selbst gravierende Machtunterschiede wie die zwischen den USA und dem Rest der Welt lediglich einen graduellen Unterschied zwischen politischen Akteuren.
V. Erfahrung und Wirkung Gewalterfahrung im Kontext von Krieg ist in modernen Zivilgesellschaften erstens eine Zuschauererfahrung und zweitens ein lebensweltliches Risikokalkül, das ebenfalls nicht ohne mediale Bezüge bleibt. Alltägliche zivile Sicherheit ist konstitutionell nur eine relative. Wiederkehrende Sicherheitskriege machen die Gewaltkosten der Risikominimierung im Fernsehen, in Zeitungen und im Internet sichtbar, was drittens moralische Fragen aufwirft. Die Annahme, dass ‚Krieg‘ nur noch eine simulierte Erfahrung sei, hat sich damit erledigt. Im Sicherheitsregime sieht sich vielmehr jeder Bürger ziviler Gesellschaften mit der Möglichkeit konfrontiert, Opfer des Terrorkrieges zu werden. Die Folgen der Kriegsökonomien und der globalen Schattenökonomie sind aufgrund ihrer engen Verschränkung mit der Weltwirtschaft ohnehin nicht aus dem Alltag herauszuhalten, auch wenn sie sich in den westlichen Zivilgesellschaften zumeist nicht unmittelbar als Gewaltphänomene äußern, sondern auf ökonomische Wirkungen beschränken. Der Krieg findet also nicht nur hinter der Mattscheibe statt, sondern dringt darüber hinaus als Risikobewusstsein und Bedrohungsgefühl und als morali182 Michael Hardt behauptet, dass „die Herrschaft des Empire [. . .] keine Schranken“ kenne. Diese Behauptung erscheint ihm plausibel, weil er Macht und Norm ineinander aufgehen lässt: „Das Empire [ist] in der Praxis ein fortwährendes Blutbad – dem Begriff nach aber der ewige und allumfassende Frieden außerhalb der Geschichte.“ (Michael Hardt, „Die globalen Institutionen sind nicht demokratisch reformierbar“, in: So oder So, Heft 11, 2002, S. 6 f., hier S. 6) Michael Mann erscheinen die normativen Vorstellungen der Bush-Administration „Frieden, Ordnung und Demokratie“ lediglich als Ausdruck eines „neuen Militarismus“ (Michael Mann; Die ohnmächtige Supermacht. Warum die USA die Welt nicht regieren können, Frankfurt am Main 2003, S. 321).
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sches Problem in die Lebenswelt ein. Die Wiederkehr des Krieges als Risiko gestaltet sich dabei so, dass die konkrete Erfahrung der Kriegsgewalt den allermeisten Menschen erspart bleibt. Zum einen, weil die Sicherheitskriegführung zunehmend professionalisiert und von der allgemeinen Wehrpflicht entkoppelt wird. Zum anderen, weil die rein statistische Wahrscheinlichkeit, Opfer eines Terroranschlags zu werden, verschwindend gering ist. Öffentlich wird der Krieg daher als Gegenstand der medialen Wahrnehmung, als Sicherheitsproblem und als moralische Frage. Diskutiert werden soll im Folgenden, wie die Gesellschaften im 21. Jahrhundert mit dieser öffentlichen Wiederkehr des Krieges umgehen können. Wie gestalten sich die Diskurse des Krieges? Welche gesellschaftlichen Auswirkungen des Krieges lassen sie sichtbar werden? Da die genauen Konturen des globalen Sicherheitsdispositivs erst langsam erkennbar werden, können solche Fragen nicht abschließend und umfassend beantwortet werden. Sie sind aber von zentraler politischer Bedeutung, weil sich an ihren Antworten entscheidet, wie sich das Verhältnis von Gesellschaft und Krieg und damit auch die gesellschaftliche Verfassung selbst in der Zukunft gestaltet. Im Folgenden sollen zwei Positionen beschrieben und beurteilt werden, die in diesen Fragen auf den kriegsgesellschaftlichen Diskurs zurückgreifen. Diese Positionen reagieren auf das strukturelle Legitimationsproblem des globalen Sicherheitsdispositivs, das aus der Verwendung des Krieges als quasi-polizeiliches Mittel resultiert. Das im Rahmen des National Defense Research Institute mit Unterstützung des amerikanischen Verteidigungsministeriums von John Arquilla und David Ronfeldt formulierte Netwar-Konzept dehnt die Metapher des Krieges auf eine Vielzahl verschiedener Sicherheitsprobleme aus, denen nur gemein ist, dass sie als soziale Netzwerke organisiert sind und in irgendeiner Form politisch oder ökonomisch nicht unmittelbar mit den Interessen legitimer politischer Herrschaft kurzgeschlossen werden können. Insbesondere entfällt das Gewaltkriterium, wenn nicht nur Terrorismus oder politische Militanz, sondern auch internationale Kriminalität, Computerhacker, der ‚social Netwar‘ lokaler sozialer Bewegungen oder das Engagement globaler zivilgesellschaftlicher Aktivisten unter der Rubrik des Netzkrieges gefasst werden. Diese recht „flexible Definition des Krieges“ (Chris Hables Gray) macht aus jeder Form der organisierten Kritik, Dissidenz oder Abweichung eine Form des Low Intensity Warfare.183 Die weitgefasste Metaphorik führt letztlich auf einen Gesellschaftsbegriff, der gesellschaftliche Beziehungen prinzipiell als Netzkrieg denkt, wobei 183 Chris Hables Gray, Postmodern War. The new Politics of Conflict, New York 1997, S. 24.
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zwischen „dark-side criminals and terrorists on the one hand, but enlightening civil society forces on the other“184 unterschieden wird. Dieses ausgeweitete Kriegskonzept hat zwingend zur Folge, dass Sicherheitspolitik prinzipiell als ‚Counternetwar‘ begriffen wird, wodurch ‚Sicherheit‘ zu einem permanenten ‚Netzkrieg‘ zwischen zwei Seiten umdefiniert wird: „Thus, netwar has two faces, like the Roman god Janus. [. . .] At the start of the 21st century, the world is [. . .] at a new beginning. It is uncertain wether it will be an era of peace or conflict, but how matters turn out will depend to some degree on which face of netwar predominates.“185
Die zukünftige Weltordnung stellt sich als Krieg zwischen unzivilisierten und zivilisierten Netzakteuren dar. Die Differenz zwischen ‚Krieg‘ und ‚Frieden‘ als politisch-gesellschaftlichen Zuständen gilt dabei lediglich als eine Funktion des Netwars. Es kommt immer darauf an, welche Seite im Netwar stärker ist, wobei die Ordnung dieses Krieges selbst eine übergeordnete und ewige, weil quasi ‚göttliche‘ ist. Im Prinzip bezeichnet die Metapher des andauernden Netwars das auf Permanenz ausgelegte globale Sicherheitsdispositiv. Allerdings wird dieses durch die Kriegs-Metaphorik als permanenter Ausnahmezustand begriffen. Die Metaphorik des permanenten Ausnahmezustands gehört in den Rahmen des kriegsgesellschaftlichen Diskurses. Sie soll die Maßnahmeexekutive und das ihr entsprechende biopolitische Polizeirecht legitimieren und bezeichnet „grundsätzlich anormale“ gesellschaftliche Verhältnisse.186 Wie erklärt sich ihre Wiederkehr im zivilgesellschaftlichen Rahmen? Erstens kommt das Netwar-Konzept aus dem intellektuellen Umfeld des US-Militärs. Dieses Umfeld bezieht sich auf die funktionsspezifische Sinnwelt von Militärs und übernimmt damit auch in vielem deren Perspektive. Das führt nicht erst neuerdings zu einer „Blickverengung, die Konflikte auf strategische Beziehungen zwischen Feinden [. . .] reduziert.“187 Zum Zweiten erklärt sich die Wiederkehr der Rede vom permanenten Ausnahmezustand auch daraus, dass es keine theoretischen Konzepte gibt, die Moderne und Zivilität einerseits mit Gewalt und Krieg andererseits konstitutionslogisch verknüpfen. Allein die Feststellung, dass Modernität Krieg nicht ausschließt (Hans Joas), genügt dazu nicht; es muss vielmehr positiv entwickelt werden, wie sich dieses Verhältnis gestaltet. Ein solcher theoreti184
Arquilla/Ronfeldt, The Advent of Netwar (revisited), S. 20. Ebd., S. 21. 186 Hans Boldt, Ausnahmezustand. Necessitas publica, Belagerungszustand, Kriegszustand, Staatsnotstand, Staatsnotrecht, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Kosellek (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1972, S. 343–376, hier S. 373. 187 Krysmanski, Soziologie des Konflikts, S. 195 f. 185
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scher Mangel führt dann natürlich zum Rückgriff auf bekannte Konzepte, das heißt auf Carl Schmitt, der daher wieder en vogue ist. Drittens ist eine solche Ausdehnung des Kriegsbegriffs als eine öffentliche Diskursstrategie zu verstehen.188 Für den Bedarf der kriegerischen Sicherheitspolitik ist diese Ausweitung funktional. Das Sicherheitsregime beantwortet sein strukturelles Legitimationsdefizit mit dem Verwischen von Gewaltspuren. Dazu gehört aber nicht nur die Kontrolle der Medienbilder, sondern auch umgekehrt eine Ausweitung des Kriegsbegriffs, die auch eine Entdramatisierung des Krieges zur Folge hat. Weil überall Krieg geführt wird, fällt der Krieg gewissermaßen nicht mehr so sehr ins Auge. Der Sicherheitskrieg verwischt seine Gewaltspuren, indem er sich diskursiv unauffällig macht. Militärisch ausgedrückt: Er wird getarnt. Diese Tarnung des Sicherheitskrieges in der Öffentlichkeit trägt dazu bei Legitimationsprobleme zu reduzieren. Und viertens verhält sich die Militarisierung der Sicherheitssemantik zur Moralisierung der Legitimationsdiskurse kongruent. Auch hier ist eine diskursstrategische Funktionalität der Erweiterung des Kriegsbegriffs zu konstatieren. Zweck dieser Erweiterung ist es, die gesellschaftliche Legitimität von Sicherheitsmaßnahmen an konfrontative und moralisierende Diskurse zu binden und sie damit von der Frage nach ihrer Legalität zu lösen. Die Ausdehnung des Kriegsbegriffs steht damit auch im Kontext des Spannungsveshältnisses von Moral und Recht. In letzter Konsequenz kann das in einen Diskurs führen, in dem Macht und Norm in einem „Furor des Guten“189 zusammenfallen. Im Zusammenhang mit der ‚Inneren Sicherheit‘ wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Annahme eines permanenten Kriegs- bzw. Ausnahmezustands hoch problematisch ist. Das Argument, ‚Sicherheit‘ werde damit falsch eingeschätzt und in einem nicht mehr ausreichenden Begriffssystem – nämlich dem klassischen politischen Begriffssystem der staatlichen Souveränität und des Westfälischen Friedens – repräsentiert, gilt nicht nur für das innere, sondern auch für das globale Sicherheitsdispositiv. Denn auch hier ist festzuhalten, dass ‚Sicherheit‘ doch zuallererst auf Normalität und nicht auf die permanente Aufhebung von Normalität verweist – was freilich einen vorübergehenden Ausnahmezustand nicht ausschließt. Selbst wenn es zu Verletzungen des internationalen Rechts durch staatliche Sicherheitspolitik kommt wie im Kosovokrieg oder im Irakkrieg, werden die nationalen, kollektiven und globalen Rechtssysteme nicht schlicht außer Kraft gesetzt.190 188 189
Gray, Postmodern War, S. 170. Preuß, Krieg, Verbrechen, Blasphemie, S. 85.
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Genau da aber liegt die Gefahr kategorialer Unschärfe. Das globale Sicherheitsdispositiv schließt kriegerische Mittel ein, ohne deshalb mit einem Kriegszustand identisch zu sein. Das Netwar-Konzept verwandelt diesen Einschluss allerdings in eine Identität. Ebenso verfahren viele Kritiker des globalen Sicherheitsdispositivs: So meint Giorgio Agamben, dass „die Maßnahmen der Sicherheit“ den „dauerhaften Bezug auf einen Notstand erfordern“ und sich damit „auf lange Sicht“ als „unvereinbar mit der Demokratie“ erweisen werden.191 Ähnlich argumentieren Antonio Negri und Michael Hardt. Sie konstatieren zwar durchaus zutreffend, dass der Krieg im weltweiten Sicherheitsregime „keine Ausnahmesituation mehr darstellt“, aber sie schließen daraus, dass „wir also in einen permanenten Kriegszustand eingetreten sind“.192 In der neuen globalen Machtordnung werde „der Kriegszustand zur permanenten Bedingung“ und damit „selbst zur Herrschaftsform“.193 Auch in der politischen Presse findet sich immer wieder die Behauptung, dass im Zuge des Anti-Terror-Krieges die „innenpolitischen Kontrollmechanismen [. . .], die in einer demokratischen Gesellschaft normalerweise die willkürliche Anwendung staatlicher Zwangsgewalt beschränken oder verhindern“, in den westlichen Zivilgesellschaften (insbesondere in den USA) bereits „beseitigt“ worden wären.194 Eine solche Perspektive nimmt die durch das globale Sicherheitsdispositiv bedingten ordnungspolitischen und rechtlichen Verschiebungen in den westlichen Zivilgesellschaften von vornherein im Begriffsrepertoire der Theorie des totalen Staates wahr. Die Macht begrenzende normative Funktion des Rechts wird leichtfertig ignoriert, wenn das Sicherheitsdispositiv als permanenter Ausnahmezustand, das heißt als fortdauernder ‚anomischer‘ Zustand, „in dem eine Gesetzeskraft ohne Gesetz [. . .] zum Einsatz kommt“195, begriffen wird. Denn dann kann ‚Recht‘ nur als legalisierende Verschleierung und als bloße Funktion der ‚entsicherten‘ Sicherheitsmacht begriffen werden. Recht erscheint dann nur noch als „Gesetzeskraft“ (Giorgio Agamben), das heißt als schlichte Funktion des Sicherheitsdispositivs bzw. des Krieges: „Das Recht bleibt in Kraft, es wird (mit Hilfe des Ausnahmezustands und der Polizeimaßnah190 Patrick Sutter, Das humanitäre Völkerrecht in der Krise? in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B43, 2004, S. 30–36. 191 Giorgio Agamben, Heimliche Komplizen. Über Sicherheit und Terror, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20.9.2001, S. 45. 192 Hardt/Negri, Multitude, S. 37. 193 Hardt, Die globalen Institutionen, S. 7. 194 Philip S. Golub, Der permanente Ausnahmezustand. In den USA und Großbritannien wurde die Macht der Exekutive auf Kosten der Bürgerrechte ausgebaut, in: Le Monde Diplomatique, Heft 9, 2006, S. 18 f., hier S. 18. 195 Agamben, Ausnahmezustand, S. 49.
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men) zum Verfahren.“196 Solche Apologien des Ausnahmezustands, mögen sie auch kritisch gemeint sein, heben ebenso wie die Generalisierung und Moralisierung des Krieges die Spannung zwischen Machtwirklichkeit und Norm auf und tragen damit zur Delegitimation des Rechts bei. Diese begriffliche Großzügigkeit der Kritik droht somit, genau das hervorzubringen, wovon sie kritisch spricht. Während der Rückgriff auf kriegsgesellschaftliche Diskurselemente im Kontext von Wissensproduktion und Öffentlichkeitsmanagement des Sicherheitsregimes als funktional anzusehen ist, ist der Diskurs der Kritiker substanziell zu verstehen. Sie behaupten eine tatsächliche, sich nach und nach vollziehende Transformation der Demokratie in ein globales Regime des permanenten Ausnahmezustands. Genealogisch ist das wenig überraschend, wenn man in der Theorieproduktion der ‚neuen Linken‘ eine Linie von Johannes Agnioli über Agamben zu Hardt und Negri zieht. Schon Ende der sechziger Jahre lautete die These, dass „der Notstandsstaat“ sich „als Fortsetzung und Krönung des Wohlstandsstaates“ zeige.197 Im Prinzip handelt es sich bei solchen Rückführungen um Nazi-Vergleiche in Nadelstreifen. Was diese Form der Kritik nicht denken kann, ist ein konstitutiver Zusammenhang zwischen Gewalt bzw. Krieg und Zivilgesellschaft bzw. republikanischer Demokratie. Sie kennt daher nur die analytische Alternative zwischen ‚Kriegsgesellschaft‘ und ‚Zivilgesellschaft‘. Wenn unter dieser Voraussetzung ein konstitutives Verhältnis zwischen Krieg und Gesellschaft festgestellt werden muss, dann kann es zumindest keine Zivilgesellschaft mehr bezeichnen. Der Krieg spricht in dieser Sichtweise dann eine substanzielle, aber vor dem oberflächlichen Blick verborgene Wahrheit über die Gesellschaft aus; er ‚entlarvt‘ ihr eigentliches Wesen. Dieses kann dann nur noch das politisch ‚Böse‘ an sich sein, das heißt die Ordnung des permanenten Ausnahmezustands. Würde die Gesellschaft sich selbst umfassend in Kriegsbegriffen verstehen – das heißt als Selbstmobilisierung gegen innere und äußere Feinde – dann gäbe es tatsächlich ein Regime des Ausnahmezustands. Das allerdings wäre dann keine Zivilgesellschaft mehr. Recht wäre nur noch Polizeirecht. Zivile Werte und Normen ließen sich letztlich nicht aufrechterhalten, sondern würden durch Kampfmoral ersetzt. Ein solcher Regimewechsel ist natürlich immer eine politische Gefahr, weil die Moderne eben auch eine kriegsgesellschaftliche sein kann. Allerdings ist er schon in der Alltagserfahrung deutlich von einer zivilgesellschaftlichen und ‚postheroischen‘ 196
Michael Hardt/Antonio Negri, Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt am Main 2002, S. 41. 197 Johannes Agnoli, Die Transformation der Demokratie und andere Schriften zur Kritik der Politik, Freiburg 1990, S. 65.
VI. Die reflexive Moderne, ihre Kriege und ihr Frieden
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Lebensweise zu unterscheiden. Man kann daher mit Recht gegen das Herbeireden des permanenten Ausnahmezustands festhalten: „Ungeachtet der Kriege, die von unseren Gesellschaften aus geführt werden, findet eine soziale Militarisierung, die das Denken und Fühlen der Zivilisten an den Erfordernissen des Krieges ausrichtet, nicht statt.“198
Sowohl die lebensweltliche Erfahrung der Menschen in den westlichen Gesellschaften als auch ihr moralisches Universum bleiben zivil. Unmittelbare kriegerische Gewalterfahrung bleibt marginal. Aber abzutrennen ist der Krieg von diesen Wirklichkeiten auch nicht. Als Risikobewusstsein, als Bilderschock und als moralisches Problem begleitet er den Alltag. Der Rückgriff auf kriegsgesellschaftliche Diskurselemente findet in dieser dauernden virtuellen Anwesenheit der kriegerischen Gewalt seine reale Entsprechung. Allerdings ist dieses Da-sein des Krieges in der Zivilgesellschaft von grundsätzlich anderer Natur als in der Kriegsgesellschaft. Umso wichtiger ist es daher, die Differenz zwischen Sicherheits- und Ausnahmezustand begrifflich bei der Gesellschaftsanalyse zu berücksichtigen und die normativen Problemfelder des Sicherheitsdispositivs klar zu kennzeichnen.
VI. Die reflexive Moderne, ihre Kriege und ihr Frieden Die westlichen Zivilgesellschaften kommen um die Erfahrung der Gewalt nicht herum, auch wenn sie sie im Wesentlichen als Medienereignis wahrnehmen. Auch in diesen Gesellschaften geht es um die Deutung von Gewalterfahrungen. Aber ganz im Gegensatz zu Kriegsgesellschaften steht dabei nicht die apologetische Ästhetisierung der Gewalt, nicht die Konstruktion eines kriegerischen Heros und auch nicht die totale Mobilmachung auf der Agenda. Vielmehr unterliegt die Verwendung militärischer Gewaltmittel internationalen und nationalen rechtlichen Einschränkungen. Militärs sehen sich noch während der Kriegführung permanent mit zivilen Normen, Werten und Ideen konfrontiert. Zugleich hat die zivilgesellschaftliche Moderne gelernt, den moralischen Überschuss normativer Gesellschaftsvorstellungen zu kontrollieren. Die Verrechtlichung des Krieges und Diskurse, die die Wirkungen dieses Überschusses thematisieren, schieben der Versuchung, über dem Feind auch noch den Bann zu brechen und ihn damit aus der Menschheit auszuschließen, wirksame Riegel vor. Dagegen zeigt die Analyse des Diskurses der politischen Romantik, wie es zu einem solchen Bannspruch kommen kann. In der zivilgesellschaftlichen Moderne aber wird der Krieg von der Diskursordnung des Ausnahmezustands getrennt. Gerade aufgrund rechtlicher 198
Heins/Warburg, Kampf der Zivilisten, S. 122.
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und öffentlicher Kontrolle kann er zusehends als ein Mittel zur Generierung von Sicherheit gelten. Zwar ist dieses Mittel als ‚problematisch‘ anzusehen, aber seine Verwendung markiert keinen grundlegend veränderten Zustand der Gesellschaft mehr. Deren zivile Verfasstheit setzt sich auch im Kriegsfall einfach fort. Es kommt zu verstärkter öffentlicher Aufmerksamkeit und Kritik, zu Demonstrationen, Sondersendungen usw. Dass diese Formen des öffentlichen Disputs bei Sicherheitskriegen selbstverständlich sind, ja als Strukturmerkmal ihrer normativen Dimension gelten müssen, zeigt aber, dass die gesellschaftliche und soziale Normalität erhalten bleibt. Sicherheitskrieg und zivilgesellschaftliche Normalität schließen daher einander ein. Der Krieg ist ein Mittel, diese Normalität abzusichern und zu erhalten. Er ist genuines Element des globalen Sicherheitsdispositivs, das für die zivile Ordnung konstitutiv ist. In diesem Sinne ist der Krieg ein konstitutives Moment der modernen Zivilgesellschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Und in diesem Sinne ist er ‚normal‘ geworden. Dieses Konstitutionsverhältnis und diese Normalität bedingen, dass der Krieg die gesellschaftliche Ordnung nicht diskursiv oder habituell beherrscht, wie das wiederum im kriegsgesellschaftlichen Modell generell und im romantischen Modell unter bestimmten Bedingungen der Fall ist. Diese Normalisierung des Krieges durch die Zivilgesellschaften muss normative Gesellschaftsdiskurse irritieren, die Zivilität als Wesen moderner Gesellschaftlichkeit begreifen und deshalb dazu neigen, den Krieg zu pathologisieren. Ein solcher methodischer Pazifismus erscheint in dem deutlicher werdenden globalen Sicherheitsdispositiv zunehmend unplausibler. Umgekehrt werden theoretische Konzepte interessanter, die sich sachlich der Frage des Krieges stellen. Seit den 90er Jahren sind vermehrt Darstellungen aufzufinden, die aus philosophischer Sicht die ethischen Dimensionen des Sicherheitskrieges beleuchten, die anthropologisch und soziologisch der Frage der permanenten Gegenwärtigkeit der Gewalt nachspüren oder die aus betont realistischer Perspektive phänomenologisch die Facetten des Krieges und der Gewalt nachzeichnen. Bereits nach dem Vietnamkrieg und durch diesen motiviert, setzt in den USA eine Debatte über den ‚gerechten Krieg‘ ein. Sei dem Golfkrieg gewinnt die Diskussion zunehmend an Boden und Plausibilität. Jürgen Habermas etwa führt den Begriff des „gerechtfertigten Krieges“ ein.199 Unter den Bedingungen des Sicherheitsdispositivs und der Spannung zwischen Recht und Moral ist eine solche moralphilosophische Debatte unvermeidlich. Auch seitens der Soziologie in Deutschland lassen sich entsprechende Verschiebungen bemerken. Bereits Mitte der achtziger Jahre veröffentlicht 199
S. 40.
Jürgen Habermas, Wider die Logik des Krieges, in: Die Zeit vom 15.2.1991,
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Heinrich Popitz eine anthropologisch-soziologische Studie zur Gewalt, die zwar lange nicht zur Kenntnis genommen wurde, inzwischen aber zu einem paradigmatischen Text avanciert ist. Popitz fasst Gewalt als eine immer gegebene Möglichkeit des von instinktiver Umweltgebundenheit freien Menschen.200 Der zentrale Punkt an Popitz’ Überlegungen ist, dass Gewalt eine immer gegebene und in dieser Hinsicht ‚normale‘ Möglichkeit des Menschen ist. In den neunziger Jahren dekonstruiert dann Hans Joas die Vorstellung, Krieg und Moderne würden einander ausschließen201, während Karl Otto Hondrich den kriegserklärenden Topos der „entgleisten Modernität“ kritisiert.202 Ebenfalls auf jeder Literaturliste zu finden ist eine Ende der neunziger Jahre von Trutz von Trotha herausgegebene Aufsatzsammlung, die sich dem Problem einer Soziologie der Gewalt widmet.203 Weiterhin sind die Studien Wolfgang Sofskys und Herfried Münklers hervorzuheben. Diese Liste kann inzwischen keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit mehr erheben; Gewalt und Krieg sind heftig debattierte Themen, so dass vom „Ende einer Soziologie der Politik ohne Krieg“ gesprochen werden kann.204 Diese Diskussion ist ein Indikator dafür, dass der Pathologisierungsdiskurs seine Macht verliert. Das Verhältnis von Krieg und Zivilgesellschaft wird in ein neues Koordinatensystem eingetragen. In diesem Koordinatensystem erscheint der Krieg als Mittel globaler Zivilität und Sicherheit. Insofern er keine Ordnung des Ausnahmezustands konstituiert, wird er ‚normalisiert‘. Weil die normative Dimension des Sicherheitskriegs aber konstitutionell durch die Problemfelder Moral/Recht, normative Asymmetrie, Souveränität/Intervention und öffentliche Legitimation strukturiert ist, gilt er zugleich immer als ‚problematisch‘. Vorausgesetzt die Weltordnung konstituiert sich weiter im hier angerissenen Rahmen des globalen Sicherheitsdispositivs, wird der Sicherheitskrieg damit im 21. Jahrhundert zu einem – so muss an der Grenze zum Paradoxon formuliert werden – normalen Problem der Zivilgesellschaften. Diese normale Problematik fügt sich in die Diskursordnung der reflexiven Moderne ein, wie sie von Anthony Giddens beschrieben wird. Diese Modernität ist strukturell von „Problemen und Gefahren geprägt“ und gleichzeitig von der Zukunfts- und Entscheidungsgewissheit der „historischen ‚Erzählungen‘“ abgeschnitten.205 Der politische Horizont der ‚großen Erzäh200
Popitz, Phänomene der Macht, S. 43–78. Joas, Kriege und Werte, S. 49–125. 202 Hondrich, Wieder Krieg, S. 32. 203 Trutz von Trotha (Hg.), Soziologie der Gewalt, Opladen 1997. 204 Trutz von Trotha, Perspektiven der politischen Soziologie, in: Soziologie, Heft 3, 2006, S. 283–302, hier S. 285. 205 Giddens, Konsequenzen der Moderne, S. 17. 201
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lungen‘ wird durch wissensbasierte, aber konstitutiv auf unsicherer Information beruhende politische Prozesse ersetzt, die in Bezug auf ihre Performativität und ihre möglichen Konsequenzen daher ständig befragt, diskutiert und reflektiert werden. Reflexive Modernität kennzeichnet also eine Gesellschaft, die immer zwischen Vertrauen und Risiko steht. Vertrauen entsteht durch normativ begründbares und sich nachvollziehbar auf vorhandenes Wissen beziehendes Handeln. Aber zugleich ist klar, dass Vertrauen unter den Kontingenzbedingungen der modernen Gesellschaft Risiken und Gefahren nicht vollständig aufheben kann, sondern dass diese als ‚akzeptable Risiken‘ in Rechnung gestellt werden müssen. Unter dieser Perspektive lässt sich auch ‚Sicherheit‘ als „eine Situation definieren, in der einer spezifischen Menge von Gefahren etwas entgegengesetzt oder diese Menge auf ein Minimum reduziert wird.“ Sicherheitgefühle zeigen sich dabei als „Gleichgewicht zwischen Vertrauen und akzeptablem Risiko.“206 Da Sicherheit immer eine unsichere Angelegenheit ist, wird das politische Handeln, das im Namen der Sicherheit erfolgt, in Bezug auf mögliche gesellschaftliche, politische und normative Konsequenzen immer infrage gestellt. Es gilt abzuwägen, ob Sicherheit erhöht oder als ungewollte Konsequenz sogar verringert wird. Dabei steht auch infrage, welche Zeitperspektive der Prognosen relevanter ist (kurzfristig, mittelfristig, langfristig). Weiterhin ist die Akzeptanz der gesellschaftlichen und politischen Kosten des Sicherheitshandelns ebenso wenig unstrittig, wie die Frage nach dem moralischen Kosten-Nutzen-Verhältnis, denn auch das Unterlassen von Handlungen kann im Rahmen des globalen Sicherheitsdispositivs problematisch werden. Ist es richtig, dem Völkermord zuzusehen, nur weil eigene Interessen nicht ausreichend berührt werden? Derartige Fragen stellen sich letztlich bezüglich jeder Form des Sicherheitshandelns, das heißt sowohl für kriegerische wie für friedliche Mittel. Schließlich können Fälle nicht ausgeschlossen werden, in denen die Beschränkung auf friedliche Mittel schlimmere Folgen hat als eine militärische Intervention. Welche Folgen hat die vielschichtige Annäherung zwischen ‚Krieg‘ und ‚Frieden‘ in der reflexiven Moderne für die Idee des Friedens als normativem Regulativ des Politischen? – Frieden umfasst immer auch das Bild einer ‚guten‘ gesellschaftlichen, das heißt bürgerlich-zivilen Ordnung. Diese Vorstellung wird zum Beispiel durch die Allegorie der guten und der schlechten Regierung des Ambrogio Lorenzetti aus dem 14. Jahrhundert illustriert. In diesen Fresken wird der Krieg als Wirkung der ‚schlechten Regierung‘ der Friedensordnung als Ausdruck der ‚guten Regierung‘ gegenübergestellt. Verbildert wird der Frieden dabei durch „das alltägliche Treiben ‚bürgerlichen‘ Lebens: Eine Hochzeitsgesellschaft, tanzende Mädchen, 206
Ebd., S. 51.
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Händler und Handwerker, die ihren Gewerben und Geschäften nachgehen, Männer, in ein Spiel vertieft.“207 Dieses klassische Friedensbild stellt Krieg und Frieden als einander ausschließende Alternativen dar. Im globalen Sicherheitsregime des 21. Jahrhunderts werden friedliche und gewaltsame Sicherheitsmittel zwar rechtlich differenziert und Krieg wird als ‚letztes Mittel‘ diskriminiert. Auch orientiert sich dieses Regime politisch am Leitbild einer friedlichen Weltordnung. Zugleich findet aber auch eine gewisse Gleichstellung von Krieg und Frieden statt. Einerseits werden ergänzend zu friedlichen Sicherheitsmitteln auch kriegerische denkbar. Wie kriegerische werden auch friedliche Sicherheitsmittel in Bezug auf Konsequenzen reflektiert. Außerdem sind Sicherheitskrieg und zivile gesellschaftliche Ordnung miteinander vereinbar. Es kommt zu einem völlig neuen Verhältnis zwischen Krieg und Frieden. Krieg und Frieden werden als Mittel vergleichbar. Krieg und Frieden können gleichzeitig der Fall sein. Ein solcher Wandel kann nicht ohne Konsequenzen für die kulturellen Möglichkeiten bleiben, sich Frieden vorzustellen. Der ohnehin konstatierbare Mangel moderner Friedensbilder bekommt damit eine neue Dimension. Bisher galt, dass die Annahme eines grundlegenden friedlich-zivilen Wesens moderner Gesellschaftlichkeit, die Möglichkeit der Verbildlichung des Friedens als Regulativ politischen Handelns aushebelte, weil die Unmöglichkeit, den Krieg als Aspekt der Moderne zu denken auch die Möglichkeit nimmt, den Frieden explizit als normatives Regulativ des modernen Politischen abzubilden. Globale Sicherheit aber liegt zwischen Krieg und Frieden und bringt beide Zustände der Möglichkeit nach zur Deckung. Innerhalb des Rahmens des globalen Sicherheitsdispositivs ist daher kein Bild einer friedlich-zivilen Gesellschaftsordnung als prinzipieller Alternative zum Krieg denkbar. Nicht einmal die romantische Vorstellung einer wachsamen Versöhnung, die in der Illustration von Bacchus und Amor im Phöbus zum Ausdruck kommt, erscheint mehr sinnvoll (vgl. Abb. 4). Unterscheidet sich dieses Bild von Lorenzettis Alternativdarstellung doch schon insoweit, als die Waffe im Bild des Friedens sichtbar bleibt, so ist die Vorstellung, den Bogen zeitweise abzuspannen, im globalen Sicherheitsdispositiv völlig undenkbar. Weil dieses Dispositiv auf einem Risiko- und Wahrscheinlichkeitskalkül beruht, sind seine Sicherheitsorgane in ständiger Bereitschaft. Rapid Reaction Forces stehen allzeit bereit. In Zukunft wird der Krieg eher ein Mittel des permanenten Friedens sein, denn ein Mittel, den Frieden wieder herzustellen. Und umgekehrt wird ‚Frieden‘ im Sinne ziviler bürgerlicher Ordnung damit zu einem Argument des Krieges werden. Die Diskurse werden den Krieg als normales Problem 207
Kater, Lorenzetti, Hobbes, Kant, S. 54.
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umkreisen, um im je konkreten Fall seinen möglichen Nutzen und seine erwartbaren Schäden sowie die moralischen Gründe abzuwägen, die für und gegen ihn sprechen. Selten wird die Öffentlichkeit dabei einer Meinung sein. Vielmehr sieht sie sich bei der Diskussion des Problems der der Situation angemessenen Sicherheitsmittel auf die konstitutionell unsicheren Prozesse der Wissensverarbeitung der reflexiven Moderne bzw. der „Risikogesellschaft“ (Ulrich Beck) verwiesen. Dabei wird letztlich auf unsicherer Wissenbasis und orientiert an normativen Regulativen, die weit davon entfernt sind, politische Verantwortung aufzuheben, entschieden werden müssen.
Schluss Eine der Grundfragen der Soziologie lautet: Wie ist Gesellschaft möglich? Die vorliegende Untersuchung kann zeigen, dass in mindestens dreierlei Hinsicht von einer konstituierenden Funktion des Krieges für die moderne Gesellschaft gesprochen werden kann. Der Krieg ist Anlass für einen öffentlichen Aktivierungsdiskurs und eine Bedeutungsproduktion, die die Hervorbringung oder Begründung eines sozialen Ganzen und einer sozialen Moral im Auge haben. Im Kontext seiner Totalisierung wird der Krieg zum Motor der Steigerung der gesellschaftlichen Produktivität und systemischen Funktionalität. Damit verstärkt er zugleich die „organische Solidarität“ (Emil Durkheim), das heißt die Kohäsion der arbeitsteilig und funktional differenzierten ‚Organe‘ der modernen Gesellschaft zu einem sozialen Ganzen. Und der Krieg ist ein Mittel, um den Raum zivilgesellschaftlicher Normalität im Rahmen eines globalen politischen Sicherheitsmanagements zu sichern. In diesen drei Fällen erweist sich Krieg als integraler Bestandteil bei der Konstitution je moderner Formen von Gesellschaft. Dieses Ergebnis macht deutlich, dass die modernisierungstheoretische Semantik zu kurz reicht, um die Konstitutionsprozesse moderner Gesellschaften umfassend verstehen zu können. Einen rein formalen Begriff der Moderne zu verwenden und normative Implikationen aus dem Gesellschaftsbegriff herauszuhalten, erweist sich damit als notwendige Voraussetzung, um die Funktionalität der kulturhistorischen Institution des Krieges in der Moderne zu verstehen. Modernität und moderne Gesellschaft schließen den Krieg keineswegs prinzipiell aus, vielmehr muss er als konstitutionelle Möglichkeitsbedingung moderner Gesellschaften angesehen werden. Allerdings erweist sich mit dem Nachweis des Zusammenhangs von moderner Gesellschaft und Krieg auch die These einer vornormativen Konstitution der Gesellschaft durch die „reale Möglichkeit des Krieges“ (Carl Schmitt) als theoretische Fiktion. Um einen gesellschaftlichen Raum verteidigungsbereit zu machen, bedarf es nicht nur kultureller und sprachlicher Voraussetzungen, sondern der Wirkung von öffentlichen Diskursen, die Gesellschaft als eine ‚Gesellschaft‘ bezeichnen, die sich durch eine gemeinschaftliche Identität auszeichnet und von anderen Gesellschaften unterscheidet. Eine gewaltsame Bedrohung des Kollektivs erweist sich dabei als ein ausgezeichneter Anlass, um den gesellschaftlichen Zusammenhang diskursiv als politischen Raum hervorzubringen, zu verstärken oder die Produktivität
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Schluss
des gesellschaftlichen Funktionssystems zu steigern. Ohne einen solchen Diskurs bleibt die Verteidigung aber einfach aus; es findet kein Krieg statt, vielmehr zieht der Eroberer, „friedliebend“ wie er von Natur aus ist, dann „ruhig in unseren Staat ein“.1 Die Konstitutionsfunktion des Krieges kommt also niemals unmittelbar, sondern nur im Medium von Verteidigungs- und Gesellschaftsdiskursen zur Geltung. Nur wenn der Krieg veröffentlicht wird, kann ‚Gesellschaft‘ durch den Krieg mobilisiert werden. Dabei können die gesellschaftsmobilisierenden Kriegsdiskurse ihre Wirkung nur entfalten, indem sie von den spezifischen Qualitäten des Krieges sprechen. Das sind einerseits emotionale Qualitäten, die die gefühlte Verbundenheit und soziale Moral des sich verteidigenden Kollektivs anzeigen. In dieser Hinsicht geht es um die Mobilisierung der Herzen. Deren Zweck ist es, einen bereits bestehenden Kommunikationsraum zu einer abgegrenzten ‚Gesellschaft‘ zu formen. Eng damit zusammen hängt die existenzielle Qualität des Krieges. Im Krieg geht es um Schädigung, Verletzung und Tötung. In der Spur der Verletzung aber wird die kollektive Bedeutung eines Kriegsdiskurses besonders wirksam und mächtig. Hinzu kommt, dass Kriegsdiskurse umso mehr über die Gewalt des Krieges sprechen müssen, je mehr diese Gewalt auch die Gesellschaft ‚trifft‘, also nicht länger an letztlich außerhalb der Gesellschaft stehende Fürstenheere deligiert wird. Die Veröffentlichung des Krieges steht damit im Kontext der Einbeziehung der Gesellschaft in den modernen Krieg, die in der levée en masse, der Totalisierung der Gewalt oder dem andauernden Sicherheitszustand in je spezifischer Weise zum Ausdruck kommt. Einschränkend ist zu vermerken, dass die mobilisierende Bedeutung der Rede über den Krieg von den hier untersuchten Diskursen vor allem den Diskurs der politischen Romantik zur Zeit der Befreiungskriege und den kriegsgesellschaftlichen Diskurs der Zwischenkriegszeit betrifft. Die politische Romantik spart die konkrete Gewaltdimension des Krieges aus, weil die Gesellschaft faktisch nur auf der emotionalen und der intelligiblen Ebene vom Krieg erfasst wurde. Der Krieg ist dem romantischen Diskurs wesentlich eine occasio, um eine kollektive Bedeutung und ein kollektives Gefühl zu inaugieren.2 Die Rede von der totalen Mobilmachung thematisiert die Gewalt, um einen militanten sozialen Funktionalismus zu begründen. Er heroisiert das Ausfüllen der je individuellen Funktion im Raum der technischen Schlacht und nutzt dabei die Aura der existenziellen Gefährdung, um die Produktivität aller gesellschaftlichen Funktionen zu steigern. Im Rahmen des globalen Sicherheitsdispositivs des beginnenden 21. Jahrhunderts ist die Rolle der öffentlichen Thematisierung kriegeri1 2
Clausewitz, Vom Kriege, S. 532. Schmitt, Politische Romantik, S. 22 f.
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scher Gewalt dagegen komplexer und widersprüchlicher, weil der rechtliche Legitimationshorizont der Zivilgesellschaft Gewaltäußerungen normativ diskriminiert, die von ihr selbst ausgehen. Gewaltdiskriminierende Regulative führt zwar auch die normative Gesellschaftsvorstellung der Romantik mit, aber insofern es diesem Diskurs gelingt, den Feind als Feind der Versöhnung erscheinen zu lassen, schlägt er in Hasssemantik um und führt damit gerade zur semantischen Entgrenzung der kriegerischen Gewalt. Dagegen werden die Gewaltmöglichkeiten der Zivilgesellschaften im globalen Sicherheitsdispositiv prinzipiell rechtlich eingeschränkt. Eine kritische, ‚postheroische‘ Öffentlichkeit unterstützt diese Begrenzung noch. Die seit den Anschlägen auf das World Trade Center verbreitete Rede von einer Bedrohung „unserer Lebensweise“ durch den fundamentalistisch-islamistischen Terrorismus erfüllt zwar durchaus mobilisierende Funktionen, jedoch bleiben diese wesentlich auf die Aktivierung öffentlicher Unterstützung für die Sicherheitskriegführung beschränkt. Darüber hinaus geht es auch darum, die Traumatisierung der nationalen Identität aufzufangen und das Terrorrisiko in der Öffentlichkeit bewusst zu halten. Eine kriegsgesellschaftliche totale Mobilmachung ist allerdings weder Zweck noch Effekt dieser Redeweise. Auch die Mediendiskurse über den Sicherheitskrieg kommen um die Darstellung der Gewalt nicht herum, weil der Krieg der Zivilgesellschaften auch immer ein Kampf um die Sichtweise des Krieges in diesen Gesellschaften ist und Bilder von den Opfern westlicher Sicherheitsakteure damit selbst zu einer Art Waffe werden. Deshalb ist der Krieg in einer strukturellen Legitimationsproblematik zu verorten, obwohl er Teil der zivilen Sicherheitsordnung und insofern konstitutives Moment moderner Zivilgesellschaften westlichen Zuschnitts ist. Von einem solchen strukturellen Legitimationsproblem kann weder in Bezug auf die politische Romantik noch in Bezug auf den kriegsgesellschaftlichen Diskurs die Rede sein. Deutlich wird jedoch in allen drei beschriebenen Fällen, dass die Rede über den Krieg auf körperliche Reaktionsweisen referiert, die nicht als rein sprachlich-diskursive Materialisierungen aufzufassen sind, und somit die Möglichkeit eines leiblichen Sich-Äußerns voraussetzt. Insbesondere ist das öffentliche Sprechen über den Krieg nicht von der Erfahrung der Gewalt und der Thematisierung und Interpretation dieser Erfahrung zu trennen. Methodologisch wird in dieser Arbeit daher der Vorschlag gemacht, den Begriff der ‚Erfahrung‘ von dem der ‚Deutung‘ zu trennen, so dass die Phänomenalität leiblicher Präsenz, ereignishaften Geschehens und technischer Materialität als Konstituens diskursiver Rede und gesellschaftlicher Bedeutungsproduktion berücksichtigt werden kann. Aus diesem Grund rekapituliert die vorliegende Untersuchung einerseits die technischen, organisatori-
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Schluss
schen und kulturellen Bedingungen der Kriegführung und berücksichtigt andererseits systematisch die Erfahrungsdimension des Krieges. Kriegsdiskurse und ihre gesellschaftliche Wirkung werden nicht verständlich, wenn man sie lediglich als ‚soziale Konstruktionen‘ versteht. Die Ebene des sich in der Erfahrung Zeigenden, Sprache und Bedeutung Irritierenden ist unbedingt in entsprechende Diskurs- und Bedeutungsanalysen einzubeziehen. Gerade soziologische Studien zu Begriff und Phänomenologie der Gewalt leisten in diesem Kontext einiges. Sie verweisen auch auf die methodologischen Grenzen des Sozialkonstruktionismus, der ausgehend von den Arbeiten Alfred Schütz’, Peter L. Bergers und Thomas Luckmanns zu einer verbreiteten Mode geworden ist.3 Es sind neuere Entwicklungen in der Geschichtswissenschaft, die den problematischen Sozialkonstruktionismus gerade in Hinblick auf Kriegserfahrungen reaktivieren. So ist in einem programmatischen Sammelband zur Kriegserfahrung von „neuen Wegen zu einer Erfahrungsgeschichte des Krieges“ die Rede.4 Wirklichkeit wird in dieser Perspektive entschlüsselt als „soziale Konstruktion, die über Erfahrung reproduziert und modifiziert wird“.5 Dabei gilt Erfahrung als „immer schon in Wissensbestände eingebettet“6 und es wird der Schluss gezogen, dass Erfahrung eine „soziokulturelle Konstruktionsleistung“7 sei. Diesem theoretischen Schluss kann im Rahmen der hier entwickelten Perspektive nicht zugestimmt werden, da ihr Erfahrung als sinnlich-phänomenales Begegnen und nicht als bereits sinndurchdrungene ‚Erscheinung‘ gilt. Sinnliche und sinngebende Prozesse laufen demnach zwar im alltäglichen Normalfall parallel und ergänzen sich dabei unproblematisch. Allerdings gehen Erfahrung und Sinnkonstruktion nicht ineinander auf, weshalb es in Ausnahmesituationen zu einem Bruch zwischen ihnen kommen kann. Gerade im Zusammenhang mit kollektiven Gewaltereignissen wird dies deutlich. Körperliche Gewalt verletzt nicht nur das Haut-Ich, durchbricht 3 Ian Hacking, Was heißt „soziale Konstruktion“? Zur Konjunktur einer Kampfvokabel in den Wissenschaften, Frankfurt am Main 1999, S. 11 ff. 4 Nikolaus Buschmann/Aribert Reimann, Die Konstruktion historischer Erfahrung. Neue Wege zu einer Erfahrungsgeschichte des Krieges, in: Nikolaus Buschmann/ Horst Carl (Hg.), Die Erfahrung des Krieges. Erfahrungsgeschichtliche Perspektiven von der Französischen Revolution bis zum Zweiten Weltkrieg, Paderborn 2001, S. 261–272. 5 Nikolaus Buschmann/Horst Carl, Zugänge zur Erfahrungsgeschichte des Krieges. Forschung, Theorie, Fragestellung, in: Nikolaus Buschmann/Horst Carl (Hg.), Die Erfahrung des Krieges. Erfahrungsgeschichtliche Perspektiven von der Französischen Revolution bis zum Zweiten Weltkrieg, Paderborn 2001, S. 11–26, hier S. 18. 6 Buschmann/Reimann, Konstruktion historischer Erfahrung, S. 262. 7 Ebd., S. 267.
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nicht nur die Kältehülle des Subjekts, sondern im Kontext des Krieges durchschlägt sie auch den semantischen Schutzschirm der Gesellschaft und fordert daher diskursive Problematisierung. Diese Nachbearbeitung richtet sich insbesondere auf normative Aspekte, aber sie umfasst auch strategische und ästhetische Überlegungen. Wird Erfahrung dagegen als soziokulturelle Konstruktion begriffen, ist ein solcher Bruch zwischen gesellschaftlich-diskursivem Sinnhorizont und sinnlicher Erfahrung letztlich nicht vorstellbar. Damit wird auch das diskursauslösende Hereinbrechen ‚des Realen‘ in den kulturellen Deutungshorizont undenkbar. Die von den zitierten Autoren darüber hinaus unterstützend angeführte Behauptung, schon Kant habe gezeigt, dass alle empirische Erfahrung begrifflich-diskursiv vermittelt sei8, erscheint vor den in dieser Arbeit zum Verhältnis von Gesellschaft und Erfahrung angestellten, an Kant und Mersch orientierten Überlegungen ebenfalls nicht nachvollziehbar. Der Erfahrungsbegriff zeigt vielmehr eine antinomische Struktur. Einerseits fällt sinnliche Erfahrung aus der symbolischen Ordnung heraus. Andererseits ist sie als Anlass von Erwartungen zugleich ein konstitutives Moment gesellschaftlichen Handelns. Zwischen (Gewalt-)Erfahrungen und deutenden Diskursen ist begrifflich zu unterscheiden – eine Unterscheidung, die durch überzogenen sozialbzw. kulturwissenschaftlichen oder diskurs- und texttheoretischen Konstruktionismus verunmöglicht wird. Deshalb wird auch in der Geschichtswissenschaft gegen eine einseitig konstruktionistische Perspektive die Forderung erhoben, „zwischen unmittelbaren Erfahrungen und deutenden Diskursen methodisch klar zu differenzieren.“9 Diese Forderung wird in der vorliegenden Arbeit theoretisch fundiert und ihr in der diskursanalytischen und empirischen Untersuchung nachgekommen. Nur dann kann jeweils die Gewalterfahrung interpretierende politische Kultur genau in den Blick genommen werden; nur dann kann etwa begriffen werden, dass Gewaltereignisse und Gewaltdarstellungen zu differenten Interpretationen und Schlussfolgerungen führen können. Auf die methodische Differenzierung zwischen Erfahrung und Deutung aufbauende Analysen zeigen, wie der Krieg moderne Gesellschaften konstituiert, das heißt wie Krieg und Gewalt in die Moderne eingeschlossen werden. Das impliziert den Abschied von einem modernisierungstheoretischnormativen Gesellschaftsbegriff und nötigt zugleich dazu, sich über die historisch-politischen Voraussetzungen basaler soziologischer Kategorien, wie ‚Gesellschaft‘ und ‚Alltag‘ Rechenschaft abzulegen. Moderne Gesellschaf8 9
Buschmann/Carl, Erfahrungsgeschichte des Krieges, S. 16. Schumann, Europa, der Erste Weltkrieg und die Nachkriegszeit, S. 29.
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ten, die sich als ‚Gesellschaft‘ verstehen, konstituieren sich selbst unter Globalisierungsbedingungen als holistische, auf einen kulturellen und politischen Identitätskern bezogene Systeme. Sie unterscheiden zwischen innen und außen (auch wenn diese Unterscheidung nicht mehr unbedingt an einer einhegenden ‚Hecke‘, die das ‚soziale Feld‘ umstellt, sondern performativ im Innern der Gesellschaften erfolgt) und setzen eine politische Befriedung der gesellschaftlichen Kräfte durch den Staat voraus. Erst damit wird so etwas wie gewaltfreie alltägliche Normalität möglich. Der binnen- und der zwischengesellschaftliche Frieden ist somit eine politische Errungenschaft. Sie wurzelt, wie Herrschaftssoziologie bzw. politische Soziologie zeigen können, in institutionalisierter gewaltbewältigender Gewalt. Die Annahme, dass dem modernen Gesellschaftlichen seinem ‚Wesen‘ oder seiner ‚Natur‘ nach Gewaltfreiheit innewohne, ist daher zurückzuweisen. Dabei markiert insbesondere die Bindung an das Recht eine grundlegende Kontrolle der Gewalt (auch der des Staates). In der Spannung zwischen Souveränitätsmacht einerseits und rechtlicher Norm andererseits konstituiert sich somit das Politische moderner Zivilgesellschaften. Ausgehend von diesem Begriff des Politischen ist insbesondere bei der Analyse der gegenwärtigen gesellschaftlichen Ordnung des globalen Sicherheitsdispositivs Differenzierungsfähigkeit einzuklagen. Die analytische Alternative zwischen moderner Zivilgesellschaft und moderner Kriegsgesellschaft ist eine falsche Alternative, denn es sind verschiedene ‚Mischungsverhältisse‘ zwischen moderner Gesellschaft und modernem Krieg möglich. Es gibt daher keine Notwendigkeit, bei der Analyse des globalen Sicherheitsdispositivs auf das Begriffsrepertoire der Theorie des permanenten Ausnahmezustands und des totalen Staates zurückzugreifen. Obwohl die ‚große‘ Differenz zwischen Kriegs- und Friedenszustand im globalen Sicherheitszustand aufgegeben wird, werden kriegerische und friedliche Sicherheitsmittel doch klar unterschieden, wobei erstere rechtlich und politisch besonders strengen Beschränkungen unterliegen. Wie Krieg ist damit auch der Frieden Teil des Sicherheitsdispositivs. Die undifferenzierte Rede von der „Schaffung eines permanenten Ausnahmezustandes“ als „eine der geläufigen Praktiken der heutigen Staaten, einschließlich der so genannten demokratischen,“10 ignoriert solche Feindifferenzen, die einen Unterschied ums Ganze markieren. Die Bedeutung normativer Regulative des Politischen, die nicht zuletzt in der Unterscheidung zwischen kriegerischen und friedlichen Mitteln zum Ausdruck kommt, wird dabei systematisch unterschlagen. Der Theorie des permanenten Ausnahmezustands und des totalen Staates gilt die Spannung zwischen Macht und Recht per se als Illusion; daher 10 Giorgio Agamben, Der Gewahrsam. Ausnahmezustand als Weltordnung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19.4.2003, S. 33.
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kann sie auch keine Zivilgesellschaft denken, die konstitutionell auf einer Sicherheitsordnung basiert, welche Kriegführung als ein mögliches Mittel inkludiert. Folglich kann diese Gesellschaft nur als eine heraufdämmernde imperiale Machtordnung, als ein sich abzeichnender Totalitarismus oder dergleichen erscheinen. Satt dessen gilt es Begriffe zu entwickeln, die auch bei der Analyse des globalen Sicherheitsdispositivs die Spannung zwischen Macht und Norm erkennen lassen. Nur im Rahmen einer solchen Analyse ist es möglich, wirkliche Gefahren für das Zivilgesellschaftliche zu erkennen und die republikanische Gesellschaft gegen Gefährdungen durch eine gefräßige Souveränitätsmacht zu verteidigen. Dabei wird zugleich vorausgesetzt, dass die Zivilgesellschaft das Recht und die Pflicht hat, sich nötigenfalls auch mit Gewalt gegen Sicherheitsrisiken zu schützen, die von Kriegsökonomien und Terrorkriegern ausgehen. Denn nur dann ist es möglich, alltägliche Normalität als Bedingung der Möglichkeit zivilgesellschaftlicher Ordnung herzustellen. Abschließend noch eine Bemerkung zum Begriff des Krieges: In der vorliegenden Arbeit wird empfohlen, den Begriff des Krieges von dem des Politischen zu trennen und statt dessen vorgeschlagen, Krieg als eine kulturhistorische Institution zu begreifen. Das hat einerseits den Sinn, auch neue Kriegsformen, die nur noch einseitig auf einem staatlichen Akteur beruhen oder sogar ganz ohne staatlich organisierte Streitparteien auskommen, in die Betrachtung mit aufzunehmen. Diese Loslösung erfolgt jedoch nicht nur aus empirischen Gründen. Vielmehr ist die Entkopplung des Krieges vom Staatspolitischen die Bedingung der Möglichkeit dafür, ihn mit dem Gesellschaftlichen in Verbindung zu bringen und insofern eine Voraussetzung für die Fragestellung der Studie. Umgekehrt werden Theorien, die eine solche Verbindung ausschließen möchten (wie die Modernisierungstheorie), dazu neigen, den Krieg wesentlich auf das Politische bezogen zu sehen. Insofern ist ein kulturhistorischer Begriff des Krieges notwendige Voraussetzung für eine noch zu entwickelnde Soziologie des Krieges.
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Sachregister Afghanistankrieg 262, 266 Aktionsmacht 32, 247 Al-Qaida 257, 271 Anerkennungsgemeinschaft des Rechts 240–243, 276 Angriff 58, 102, 176, 178, 185, 193–194, 232, 236, 250, 259, 264, 266–267, 271 Anomie 12, 144, 156, 188 Anthropologie 16, 24, 51, 60, 144, 257, 290–291 Anti-Terror-Krieg 259, 272, 276, 287 Antinomie 44, 50 Antisemitismus 98, 106 Apologie der Gewalt 47, 165, 188, 211, 213–215, 220, 280 Arbeitsteilung 12, 16, 127, 129, 141, 187–188, 201, 295 Artillerie 27, 125, 153, 172–173, 177–178, 195 Asymmetrie der Kriegführung 261 Aufmerksamkeitsökonomie 279 Ausbeutung 101, 107, 246 Ausnahme- und Sicherheitszustand 230, 260, 286, 288–289, 291, 300 Ausnahmezustand als Konstruktion 97–98 Ausnahmezustand und Krieg 80, 86, 90–91, 97, 289 Ausnahmezustand, permanenter 19, 25, 28, 92, 97, 99–101, 104, 109, 133, 205, 212, 220, 225, 230, 234, 280, 285–289, 300 Bann 56, 79, 101, 151, 289 Bedrohung durch Gewalt/Krieg 19, 25, 28, 32, 68, 96–97, 115, 121, 159, 176, 205, 212, 218, 230, 234,
238–239, 242, 246, 254, 260, 266–268, 274, 283, 295, 297 Befreiungskrieg 119 Befriedung 13, 300 Bellizismus 147, 157 Berliner Abendblätter 138 Biomacht 84 Botschaft, politische 249, 255 Bundesrepublik Deutschland 9, 270 Bürgerkrieg 95, 154 Burgfrieden 167 Christlich-deutsche Tischgesellschaft 158 Computerspiel 32 Cyberspace 235, 258 Cyborg 258 Deep Battle 178 Dekonstruktion 19, 46, 75–76, 92, 225, 291 Delokalisierung 256, 267 Demokratisierung 122, 166 – der Armee 168 Deterritorialisierung 266 Deutung und Diskurs 24, 30–31 Deutung und Erfahrung 23–26, 30–31, 44–47, 50–52, 54, 60, 65, 107, 299 Differenzierung, funktionale 12, 20, 27, 127, 143, 201–202, 222, 250–251 Dimensionen der Gewalt 25, 28, 124–125, 152–154, 160, 238, 246, 296 Dinge/Dinglichkeit 35, 65–67, 123, 153, 186, 254 Diskriminierung des Feindes 79, 86, 106–107, 121, 151, 155, 159, 297
Sachregister Diskriminierung, normative 14, 234, 277, 297 Diskurs der ‚Gesellschaft‘ 21–22, 113, 129, 147, 155, 192, 222 Diskurs der Gewalt 18, 161, 268 Diskurs des Krieges 23, 93, 115, 147, 160–161, 179, 194, 215–216, 218, 222 Disziplin 61, 88, 90, 107, 124, 184, 187, 198, 201 Disziplinarmacht 90, 125, 187 Dritter, interessierter 257 Dritter, zu interessierender 252, 255–256, 267 Eigeninitiative 177, 187, 199 Eingrenzung von Gewalt 81–82, 91 Einzelkämpfer 125, 177 Empire 28, 104, 209, 216, 282–283, 301 Entbettung 143, 256, 266 Entdifferenzierung 133, 168, 249, 251, 255 Entdramatisierung 281, 286 Entfremdung 151, 155, 174, 215, 252 Entgrenzung 151, 159–160, 248–249, 255, 257, 297 Entortung 170, 172, 249, 255, 266 Entpolitisierung 258 Entscheidung im Ausnahmezustand 98 Entscheidung über den Ausnahmezustand 83, 93, 97–98, 106 Ereignis 24, 30–31, 34, 45–46, 53–54, 62–63, 224, 253, 281 Erfahrung und Diskurs 179 Erfahrung und Kausalität 41, 49–50 Erfahrung, sinnliche 22–23, 26, 34, 41, 43, 45, 49–50, 65–67, 69, 154, 161–162, 299 Erfahrungsbegriff 49, 299 Erfahrungsdimension 65, 75, 123, 152, 216, 298 Erinnerung 10, 22, 139, 161–162, 175 Erwartung 25, 73–74, 90, 122, 139, 146, 182, 189, 207–208, 255, 277
321
Ethik/Moral des Sozialen 12, 23, 27, 117–119, 122, 127, 129, 141–142, 146, 152–153, 155, 157–160, 204, 206, 210, 290, 295–297 Europäische Nachbarschaftspolitik 235 Existenzialität von Gewalt/Krieg 24, 27, 31–33, 60, 92, 94–95, 98–99, 102, 112–113, 146, 250, 252–254, 268, 280, 296 Exzentrizität 20–21, 24, 51–52, 129, 144 Familie 96, 144 Feind – innerer 78, 92, 95, 98, 103, 157, 167–168, 205, 288 – öffentlicher 106 – totaler 151, 203–204, 207, 222 – verborgener 98 Feind der Freiheit 79 Feind und Fremder 94–99, 101, 151, 205 Feindberührung 32 Feindbestimmung, offensive 250 Flexibilität 195, 198–199, 257, 266–267 Flugzeug 170–172, 177–178, 189, 195, 264 Freiheit – transzendentale/Willensfreiheit 36–39, 41–43, 50, 65–66, 73, 80, 90, 108, 115, 188 – völkische 104 Freiheitskampf 102 Freiheitssemantik 118 Freikorps 212 Fremdherrschaft 27, 120, 145 Freund und Feind 18, 71, 92, 94–95, 97–98, 101, 111, 168, 202, 205, 207–208, 224, 236, 267, 274 Frieden – innerer 94 – positiver 118 – totaler 104, 216, 237
322
Sachregister
Friedensbilder 118–119, 121, 148–149, 152, 293 Friedensforschung 9–10 Friedensideal 118, 157 Friedensnorm 11, 21, 25, 29, 80–82, 87, 92, 94, 105, 108, 119–120, 150, 155, 157, 159–160, 202, 212, 217, 223 Friktion 73, 89–91, 141 Frontkämpfer 182, 200 Führerstaat 208, 210 Führungsstruktur 176 Fundamentalismus 249, 251, 253, 297 Funktionalismus 28, 186–187, 189, 217, 296 Funktionsmoral 159, 224 Gedächtnis, kollektives 25, 62, 64, 160–161 Gefecht 88, 184, 266, 268 Gegensatzphilosophie, romantische 135, 138, 151–153 Gegenständlichkeit 22, 30, 46, 65, 69, 174 Gemeinschaft – imaginäre 252, 276 – politische 95, 97–99, 102, 111, 142 – postulierte 252, 256 – religiöse 100 – virtuelle 112, 256, 258 Gemeinschaft und Gesellschaft 70, 94–96, 112–113 Gemeinschaftshandeln 70 Gemeinschaftskonnotation 12, 21, 96, 113, 144 Germania (Zeitschrift) 138 Geschichtswissenschaft 15, 298–299 Gesellschaft, ‚schöne‘ 138, 140, 156 gesellschaftliche Institutionen 18, 38, 42, 61, 67, 81, 90–91, 221, 245 gesellschaftliche Phänomene 34, 42–43 Gesellschaftsbegriff 11–12, 22, 28, 92, 114, 117–118, 121, 132, 143, 152, 158, 241, 284, 295, 299
Gesellschaftssemantik 117, 119, 152, 155, 161, 192, 201, 204, 208, 210, 217, 220–222 Gesellschaftstheorie 134 Gesellschaftsvorstellung, romantische 121, 127–128, 143–144, 150, 155–156 Gewalt – asymmetrische 246–247, 262 – äußere 13, 15, 80 – Begriff der 24, 54, 59–60 – Bilder der 262, 279–280, 297 – Botschaft der 251 – Doppelcharakter der 23 – gewaltbewältigende 92, 300 – innere 13, 15, 229 – kriegerische 30–31, 33, 62, 71, 90, 100, 119, 122, 148, 152–153, 211, 225, 232, 238, 262, 269, 279, 289, 297 – reale 279, 281 – reine 248 – strukturelle 10, 118, 157 – symbolische 24, 60, 68, 254 – technisierte 74, 222 – totale 174, 176–177, 216 Gewalt- und Opferbereitschaft 15, 18, 108, 112, 119, 121, 131, 137, 151 Gewalt gegen Nichtkombattanten 151, 166, 168, 170, 247 Gewalt und Macht 10, 25, 79, 82, 225, 238 Gewaltdynamik 17, 89 Gewaltenteilung 21, 29, 79, 109, 223 Gewaltentgrenzung 151, 159–160, 248–249, 255, 257 Gewalterfahrung 16–17, 23, 26, 30–31, 33, 47, 49, 54, 60, 62, 64, 74, 81, 83, 126, 152, 161, 182, 184, 283, 289, 297, 299 Gewaltfreiheit 300 Gewalthandeln 16, 22, 54, 70, 73, 86, 118, 121, 158, 224
Sachregister Gewaltmonopol 13, 21, 76–77, 79–80, 84–85, 117, 229–230 Gewaltrisiko 28, 236 Gewaltsoziologie 11, 16, 291 Gewaltsteigerung 27, 32, 91, 124, 126, 176, 263, 266 Gewaltursachen 17, 22 Globalisierung 230, 235, 240, 267 Golfkrieg 261–262, 264, 266, 268, 270–271, 278, 281, 290 GPS (Global Positioning System) 265 Grenzen 32–33, 48, 51, 60–61, 66, 143, 170, 188, 236, 240, 248, 255, 267, 270, 291 Guantánamo Bay 276 Habitus 247, 290 Handeln – kreatives 69, 72–73 – politisches 10, 104, 108, 119, 122, 170, 273, 293 Handlungsbegriff 25, 54, 69–73, 139 Hass und ‚Ethik‘ 151 Hasssemantik 57–58, 121–122, 160, 297 Haut-Ich 54, 57–59, 298 Hegung der Gewalt 16–17, 91 Heimatfront 166, 174, 176 Heroismus – neuer 185 – sachlicher 27, 159–160, 187–188, 190, 192, 211, 213–215, 217, 220–221 Herrschaft 19, 48, 77–78, 80, 82–83, 85, 118, 127, 130–132, 233, 283–284 Hervorbringung der Gesellschaft 11, 120, 140, 146, 180, 295 Hiatus 17 Holismus 115, 144, 226, 239, 243, 276, 300 Homogenitätsnorm 19, 25, 94–95, 98–100, 104, 109, 114, 143, 206–208, 212, 250, 256
323
Immunabwehr 259 Imperium siehe Empire Individualisierung 21, 27, 127–129, 141, 159–160, 187–190, 192, 201–202, 204, 221–222, 240, 264, 266, 274 Informationstechnik 177, 190, 196, 257, 262–264 Innovation 126, 265 Institution der Gewalt 25, 87 Institutionen des Politischen 87, 117, 133, 242 Integration – normative 112–113, 142 – politische 167 – soziale 11, 117, 144–145, 156, 164, 167, 188, 257 – sozialtechnische 118 Irakkrieg 85, 238, 241, 245, 262, 271–273, 281, 286 Islam 249–253, 256–257, 259–260, 271, 297 Islamismus 249, 251, 253, 256–257, 259–260, 271, 297 Judenvernichtung 64 Kampf 71–72, 88–89, 92, 102–103, 114, 120, 122, 126, 153, 170, 172, 181, 184–185, 194, 210, 215, 219, 253, 257, 263, 281, 297 Kampfmaschine 188, 192, 213 Kapitalismus 12, 14, 131 Kindersoldaten 247 Kollektivbewusstsein 20, 115, 127, 141, 187, 192, 251 Kollektivbild 259 Kommunikation – Face-to-face 88, 92, 117, 252, 256–257 – ultimative 251 – virtuelle 257–258 Kommunikationsraum 240, 257, 296 Komplexität, operative siehe Operativität
324
Sachregister
Konflikt 87, 89, 142, 176, 233, 250, 276 Konservatismus 21, 93, 99, 156–157, 164, 193, 205, 219 Konstitution der Gesellschaft 16, 18–19, 25–26, 30–31, 52, 63, 74–75, 83, 94, 112–113, 143, 147, 152, 155, 160, 202, 208, 210, 218, 295 Konstitutionsfunktion des Krieges 9, 18–19, 25, 27, 30, 33–34, 92, 111–113, 115, 122, 147–148, 155, 159, 204, 210, 215, 224, 280, 295–296 Konstruktion – diskursive 23, 26, 56, 58, 60, 62, 204, 299 – organische 197 Körper 24–25, 30, 33–34, 51, 53–62, 74, 77–78, 88, 93, 112, 128, 154, 176, 183, 197, 229, 242, 259, 261, 264, 268–269 Kosovokrieg 262, 269–273, 286 Kreativität 19, 73, 89, 187, 199 Krieg und Frieden 28, 94, 152, 155, 227, 232, 234, 237, 244–245, 293 Krieg und Zivilgesellschaft 28, 74, 165, 220, 222, 225, 227, 234, 238–239, 278, 288–291 Krieg, Begriff vom 71, 75–76, 86–87, 91, 106, 112–113, 154, 218, 249, 257, 266, 301 Krieg – gerechter 105–106, 273, 275, 290 – gerechtfertigter 290 – heiliger 250–251, 256, 258–259 – hochtechnisierter 26, 47 – idealtypische Definition 25, 30, 76, 91, 246, 284 – moderner 14, 17, 29, 32, 47, 53–54, 62, 65, 74, 161, 187, 194, 198, 210, 222, 265, 291, 296, 300 – totaler 93, 102–103, 106, 159, 166–168, 173, 192, 201, 204, 206–208, 210, 217, 220–221, 226
Kriege, neue 85, 227, 238, 246, 266, 301 Kriegführung, asymmetrische 195, 197, 200, 257, 260–261 Kriegserfahrung 25, 69, 112, 298 Kriegsgesellschaft 159, 189, 192, 208, 210, 225, 260, 288–289 Kriegsgott 145 Kriegsökonomie 74, 238, 246–248 Kriegsromantik 213 Kriegssoziologie 301 Kriegstechnologien, soziokulturelle 177, 264 Kriegsursachen 9, 14, 17, 232 Kriegsursachenforschung 9, 14 Kriegszustand 80, 92, 97, 146, 216, 260, 287 Kriminalität 12, 227–228, 234, 249, 284 Langemarck-Mythos 155, 167, 180, 213 Legitimationsgrund/-horizont 242, 253, 255–256, 297 Legitimationsproblem 278, 280, 282, 284, 289–291, 297 Legitimität 107, 121, 130, 229, 278, 286 Leiblichkeit 22, 24, 31, 44, 47, 55–56, 58, 60–62, 69, 197 levée en masse 154, 296 Liberalismus 114, 131, 140, 156, 205, 207, 210 Low Intensity Warfare 249, 284 Luftraum 170, 196 Macht, absolute 32, 89, 107 Machtaktion 56 Machtanordnungen, soziale 18, 28, 55, 58, 78, 111, 227, 282 Machtdispositiv/-konfiguration 10, 18, 42, 55, 260 Machtordnung 287, 301 Magna Charta 276 Mängelwesen 51
Sachregister Markt 131, 191, 244–245 Maschinengewehr 27, 173, 178, 180 Masse 27, 103, 176–177, 190, 194, 197 Massenkultur 21, 164–165, 189–192, 281–282 Massenmedien 157, 189–190 Materialität 22–25, 32, 34, 46, 53–55, 65–69, 179, 193, 297 Materialschlacht 153, 173, 179, 181, 184, 186, 188, 194, 263 Medien 16, 20, 27, 32, 115, 119, 131, 133–134, 137, 139–141, 146–147, 155–157, 167, 171, 189, 191, 218, 251, 254, 258, 279, 281 Menschenrechte 79, 84, 109, 192, 210, 222–223, 231, 233, 239–240, 242–243, 270, 274, 277 Messer 67–68 Mittel, friedliche 9, 232–233, 237, 244, 292, 300 Mobilisierung des Sozialen 27, 119–120, 133–134, 140, 144, 146, 161, 204, 207, 254 Mobilisierung für den Krieg 96, 120, 147, 179, 210, 215, 222 Mobilmachung – allgemeine 180, 200 – totale 27, 167, 192, 201–202, 205–210, 214, 216, 218, 220, 222, 260, 289, 296–297 Moderne – Begriff der 19, 21, 223–225, 295 – konstruktive 221 – reflexive 291–292, 294 Moderne und Gesellschaft 9, 11, 13–14, 16, 18, 20–21, 26–27, 29–30, 34, 47–48, 53, 74–75, 92, 115, 117, 119, 127, 129–130, 142, 144, 148, 152, 156–157, 166, 187, 201, 204, 209, 223–226, 239, 251, 290, 292–293, 295, 299 Moderne und ‚große Form‘ 20, 129, 156, 221, 279 Moderne und Krieg 14, 17, 19, 29, 32, 47, 53–54, 62, 65, 74, 161, 187, 194, 198, 210, 222, 265, 291, 296, 300
325
Moderne und Zivilgesellschaft 15, 21, 157, 202, 205, 210, 253, 279, 283, 290, 297, 300 Modernisierung 15, 27, 132, 160, 184, 193, 200, 204, 217, 221–222, 224, 227, 269 Modernisierungstheorie 299 Möglichkeit, objektive 38–39, 66, 98 Moral – positive 141 – soziale 12, 23, 27, 141, 146, 153, 204, 295–296 Nationalismus 81, 120–121, 130–131, 138, 146, 151, 180, 203, 214, 236, 266 Nationalsozialismus 28, 93, 106, 191, 215–216, 219, 222 Nationalstaat 11, 13, 143, 209, 226, 230 NATO 270–271, 278, 280 Nazi-Vergleich 270, 288 Netzkrieg/Netwar 28, 235–236, 284–285, 287 Netzwerk 57, 255, 257 Neutralisierung 76, 258 Neutralität 78, 168, 173 Nomos der Erde 172 Normalisierung des Ausnahmezustands 188, 210 Normalisierung des Krieges 260, 290–291 Normalisierung, kulturelle 191 Normalismus/Normalisierung 14, 42, 189–192, 228, 259 Normalität 13, 21, 28, 46, 74, 85–86, 94, 98, 101, 176, 188, 210, 225, 227, 230, 233–234, 236, 238, 244, 255, 259–260, 276, 280–281, 286, 290, 295, 300–301 Normalität der Gewalt 227 Normativität 15, 80, 165 Notstandsstaat 288
326
Sachregister
Öffentlichkeit – diskursive 131–132, 134, 138, 193, 218, 260, 275, 278, 294 – mediale 119, 132, 143, 146, 157, 167, 218 – räsonierende 156 OHL (Oberste Heeresleitung) 180, 205 Operation ‚Michael‘ 177 Operativität, komplexe 166, 177, 179, 195, 197–198, 200, 257, 261, 264–268 Ordnung der Dinge 20, 24, 48 Ost-West-Konflikt 85–86, 158, 226, 246, 269 Panzer 69, 172, 174, 177–178, 189, 264 Partisan 124, 257 pax civilis 10–11, 19 Penthesilea 145, 148 Phänomene, gesellschaftliche 34, 42–43 Phänomenologie 45–46, 50, 290, 298 Phöbus (Zeitschrift) 134–136, 138, 145, 148–149, 293 Pluralismus 29, 102, 167, 207, 272 PMF (Privatized Military Firm) 85–86, 244 Politischen, Begriff des 82, 84, 94, 104–105, 205, 300 Positionalität, exzentrische 24, 51–52, 61 Postnationale Konstellation 243, 278 Präsenz 22–24, 32, 45–46, 53–55, 59, 281, 297 Privatisierung – des Krieges 85–86, 245 – des Rechts 229 Produktivkraft 19, 127, 131, 153, 156 Professionalisierung 27, 159–160, 169, 177, 195, 198–199, 215, 217, 221 Protonormalismus 189, 191, 228 Public Relations 167, 279
Raum – massenkultureller 191 – technischer 178, 187, 189–190, 197, 213, 218, 221 – virtueller 258 Räume, neue 143, 169, 177, 179, 193, 197, 200 Raumfahrt 170, 172–173, 265 Raumrevolution 166, 169–170, 173, 177–179, 190, 196, 209, 257, 259, 265, 267 Raumtechnologie 176, 196 Raumvorstellung 126 Raumwaffe 168, 172–173, 176–178, 197, 216 Recht, internationales 106, 109 Rechtsstaat 10–11, 21, 29, 79, 93, 207 Reentry 105, 108, 110, 222, 275 Regulative, normative 10, 22, 121, 269, 293, 297, 300 Regulierungsmacht/Regulation 13, 21, 38, 70, 74, 78, 90, 103, 118, 144, 151, 162, 191, 201, 251 Reichsschriftkammer 191 Republik 79, 84, 145, 157, 160, 163, 182, 202–203, 211, 214, 219–220, 223 Requisition 123–124, 153, 256 Rezeptionshandeln, produktives 192 RMA (Revolution in Military Affairs) 262–266 Romantik und Moderne 130–132, 141, 144, 152, 154–157, 211, 218, 225 Romantik, frühe 127 Romantik, politische 27, 119, 121, 127–129, 132, 134, 141, 143, 145, 147–148, 150, 152, 154–157, 159–160, 180, 183–184, 211, 216, 218–219, 222, 225, 296–297 Romantik, späte 127 Sachen 24, 30, 46, 53, 65–67, 69 Schadenszufügung 60, 71, 88, 112
Sachregister Schlachtfeld 125, 145, 183–185, 221, 263–264, 282 Schmerz 31, 47–48, 50, 57–58, 61, 63, 69, 268 Science Fiction 173, 191–192, 196, 243 Security 229, 245 Selbstmordattentat 251, 253 Selbstradikalisierung 249, 252, 255, 259 Selbstverteidigung 270 Sheriff, internationaler siehe Weltsheriff Sicherheit – globale 226, 230, 233–238, 240–244, 269, 277, 282, 285–287 – innere 230, 259 – kollektive 231–232, 243, 273, 276 – multilaterale 109, 231, 235–236, 277 Sicherheitsdispositiv 28, 225, 229–230, 236, 244, 273, 275, 277–278, 280, 287, 290, 293, 297 Sicherheitsgemeinschaft 232 Sicherheitskrieg 227, 238, 246, 260, 272–274, 280–281, 286, 290–291, 293, 297 Sicherheitspolitik 228, 232, 235, 237, 282, 285–286 Sicherheitszustand 28, 234, 260, 280, 296, 300 Solidarität – organische 12, 60, 141, 201, 295 – soziale 96, 141 Souverän, der 77–79, 83, 97, 101, 205, 208–209 Souveränität 18, 78, 97, 100, 104–105, 109, 116, 205, 207–208, 223, 230, 232–233, 241–242, 244, 271, 276–278, 286, 291 Souveränitätsmacht 19, 29, 76–77, 79, 83, 85, 93, 100–101, 105, 108–109, 111, 133, 225, 275–276, 300–301 Sozialkonstruktionismus 22–25, 32, 34, 39, 45, 47–50, 52–55, 62, 65, 67, 162, 298–299
327
Soziologie – Entstehung der 11, 22, 142 – verstehende 36, 44 Spannung zw. Institution und Norm 87, 93–94, 100, 107, 109–111, 237, 278 Spannung zwischen Macht und Norm 19, 25, 29, 80–83, 103, 105, 107, 133, 211, 222, 234, 243, 258, 276, 282–283, 286, 301 Spannung zwischen Macht und Recht 84, 93, 110, 300 Spannung zwischen Sein und Sollen 10, 108 Spannungsfeld des Politischen 80, 237, 258, 282 Spektakel 249, 254–255, 279 Sprechfunk 171–172 Staat – absoluter 79, 124, 130 – organischer 140–141 – totaler 19, 25, 27, 133, 206–207, 210, 220, 225, 260, 287, 300 Staatengemeinschaft 233, 238, 242, 248, 270, 277 Staatsbürger 78, 108 Staatspolitische, das 29, 206, 220 Staatsverfassung 21, 160 Stahlhelm 185, 213 Stalingrad 222 Statistik 12–13, 89, 228, 244, 254, 284 Stellungskrieg 176 Strategie, Logik der 69, 71–72, 87–89, 179 Swarming 236, 267 System, soziales 14, 27, 141, 156 Systemtheorie 240 Teamarbeit 187 Telegraf – elektrischer 171 – Funk- 171 – optischer 125, 152, 171, 173 Territorium 77–78, 143, 168, 170, 172, 257
328
Sachregister
Terror – des Raums 173, 175–176 – religiös-fundamentalistischer 250–251, 253, 256–260, 271, 297 – weißer 212 Terrorismus 228, 234–235, 238, 246, 249, 251, 253, 255, 258, 277, 284, 297 Terrorkrieg 238, 246, 249, 259 Terrorkrieger 253, 255, 257–258 Terrorrisiko 28, 259, 297 Tiefe des Raums 172, 177–178, 264 Tirailleur 124 Tod, schöner 183–185, 214 Todesstrahlen 173, 196 Totalitarismus 301 Tötungsmacht 68, 107 Trommelfeuer 27, 175–176, 183, 189–190, 212 U-Boot 168–170, 173, 190 Umma 251, 256 UN-Charta 231–232, 276 Unmittelbarkeit der Gewalt 32 UNO 81, 105, 231–234, 237, 271, 273–277 USA 173, 202, 231, 234, 237–238, 241–242, 245, 255, 260–262, 271–273, 276–278, 280, 283, 285, 287, 290 Utopie 118, 128–129, 150–151, 161 Verdinglichung 45, 47, 66, 68, 92, 201, 225 Verdun-Mythos 211–214 Vergemeinschaftung 203, 258 Vergesellschaftung 14, 18, 33, 39, 46, 141, 155, 240 Verkörperung 26, 44, 47–49, 58, 113, 258 Verletzungsmacht 16, 54, 56, 68 Verletzungsoffenheit 16, 54 Verlust der Mitte 20, 129, 192, 221, 250
Vernetzung 177, 209, 235, 240, 263–266 Vernichtung des Feindes 164 Vernichtungskrieg 104, 106, 212 Vernichtungsterrorismus 255 Versöhnungsfrieden 150 Verteidigung 18, 28, 32, 54, 76, 82, 86, 89, 96, 99, 112, 114, 123, 159, 178, 194, 208, 212, 218, 227, 239, 250, 257, 260, 264, 267, 269, 276, 296, 301 Videospiel 268 Vietnamkrieg 280, 290 Völkerrecht 233, 239, 242, 273, 276 Volkskrieg 27, 81, 122–123, 168 Warlord 246 Wechselwirkung 25, 91, 132, 142, 266 Weltgesellschaft 32, 119, 151, 226, 240 Weltinnenpolitik 243 Weltkrieg – Erster 69, 96, 102, 152, 159–161, 166–167, 169, 172–174, 176–180, 190, 194, 196–197, 199–200, 206–207, 210–212, 219, 224, 242, 261, 263, 268 – Zweiter 47, 64, 159, 169, 190, 222, 242, 265, 269 Weltnomos 227, 283 Weltordnung 80, 215, 226, 249, 285, 291, 293 Weltraumstation 173 Weltraum/Weltall 170, 172–173, 196, 265 Weltsheriff 231, 272 Weltsicherheit 237–238, 271–272, 274 Wertegemeinschaft 238, 270 Wesen der Gesellschaft 92, 118, 150–151, 157, 202, 208, 223 Wiener Kongress 81, 132 Wildwest-Romantik 212 World Trade Center 244, 254, 297 Ypern 180
Sachregister Zivilgesellschaft und Moderne 15, 21, 157, 202, 205, 210, 253, 279, 283, 290, 297, 300 Zivilgesellschaft – Begriff der 21, 117, 126 – Scheitern der 164, 224
329
Zivilität 11, 15, 69, 85, 164, 168, 211, 222–223, 238, 241, 260, 278, 283, 285, 289–291, 293 Zukunftskämpfer 188 Zusammenhalt der Gesellschaft/soziales Band 11, 117, 141–142, 146–147, 159, 201
Personenregister Achill 145 Adorno, Theodor W. 64, 185 Agamben, Giorgio 56, 78, 83–84, 105, 107, 109, 111, 254, 287–288 Agnioli, Johannes 288 Amor 149–150, 293 Anderson, Benedict 252 Anzieu, Didier 54, 57 Apollon 135, 149 Arendt, Hannah 101 Arndt, Ernst Moritz 151 Arquilla, John 284 Bacchus 149–150, 293 Bahrdt, Hans Paul 76 Beck, Ulrich 294 Benjamin, Walter 83–84, 111 Berger, Peter L. 22, 44, 48, 65, 67–68, 117, 298 Berghahn, Volker 165 Biddle, Stephen 197, 264 Bonaparte, Napoleon 120, 130, 134–135, 145–146, 152, 235 Bublitz, Hannelore 189 Bush, George W. 272, 283 Butler, Judith 54–59, 61 Castells, Manuel 239 Clausewitz, Carl von 17, 89–90, 103, 109–110, 120, 123, 125, 130–131, 147, 158, 183, 266 Debord, Guy 251 Douhet, Giulio 170, 173, 195 Dubiel, Helmut 142 Durkheim, Emile 12, 20, 127, 131, 141, 186–188, 201, 295
Eppler, Erhard 14 Foucault, Michel 18, 26, 69–70, 74, 108–110, 162 Freud, Sigmund 83 Freyer, Hans 219 Friedrich, Caspar David 148 Friedrich der Große (Friedrich II) 152 Fuller, John F. C. 172 Galtung, Johan 10, 118 Gehlen, Arnold 51 Giddens, Anthony 21, 143, 256, 291 Goethe, Johann Wolfgang 136 Goya y Lucientes, Francisco José de 154 Gray, Chris Hables 284 Gray, Colin 272 Greiffenhagen, Martin 157 Grill, Bartholomäus 247 Guderian, Heinz 178, 182 Habermas, Jürgen 71, 243, 290 Hardt, Michael 110–111, 282–283, 287–288 Hausmanninger, Thomas 279 Hesse, Kurt 27, 208 f. Hitler, Adolf 93, 220 Hobbes, Thomas 10, 77, 80, 83 Hondrich, Karl Otto 105, 291 Jankélévitch, Vladimir 62 Japp, Klaus P. 251 Joas, Hans 17, 69, 72, 74, 285, 291 Jünger, Ernst 27–28, 47, 161, 163, 167, 182–183, 185–186, 188–189, 193, 202–203, 205–206, 210, 212–213, 215–218, 220–221, 269
Personenregister Kagan, Robert 234, 272 Kaldor, Mary 99, 204 Kant, Immanuel 10, 23, 34–39, 41, 43, 47, 49–50, 73, 78, 84, 110, 157, 223, 299 Kater, Thomas 10 Kaufmann, Erich 99 Kleist, Heinrich von 134–136, 138, 145, 148, 156, 158 Koh, Sun 191 König, René 34 Latour, Bruno 69 Lederer, Emil 96 Ledig, Gerd 47, 269 Lilienstern, Rühle von 158 Link, Jürgen 15, 191, 228 Luckmann, Thomas 22, 44, 48, 65, 67–68, 117, 298 Ludendorff, Erich 93, 102–104, 108, 111, 205 Luhmann, Niklas 20, 240 Luttwak, Edward 71 Lyotard, Jean-François 185 Maase, Kaspar 165 Mann, Michael 282–283 Mannheim, Karl 119 May, Karl 212 McInnes, Colin 254 McLuhan, Marshall 139 Mersch, Dieter 24, 45–46, 49–50, 62, 281, 299 Mommsen, Katharina 136 Müller, Adam Heinrich 27, 127, 130, 132–143, 145–147, 150, 152–153, 156–158 Müller, Hans-Harald 187 Münkler, Herfried 17, 252, 291 Negri, Antonio 110–111, 282, 287–288
331
Penthesilea 145 Plessner, Helmuth 24, 44, 51, 54, 60–61, 65, 69 Popitz, Heinrich 16–17, 22, 35, 56, 59, 74, 81–83, 143, 174, 224, 240, 247, 291 Portmann-Tinguely, Albert 157 Preuß, Ulrich K. 243 Prien, Günther 190 Remarque, Erich Maria 163, 182, 187 Richthofen, Manfred von 190 Ronfeldt, David 284 Saint-Simon, Claude-Henri de 141 Scarry, Elaine 31, 48, 50 Schelling, Friedrich Wilhelm 148 Schelsky, Helmut 118 Schiller, Friedrich 136 Schily, Otto 259 Schmitt, Carl 18–19, 25, 27, 83–84, 92–100, 102–114, 129, 133, 142, 181, 190–191, 203, 205–208, 211, 215–216, 223, 230, 234, 256–258, 286, 295 Schneider, Thomas F. 218 Schütz, Alfred 44, 298 Schwab-Trapp, Michael 158 Sedlmayr, Hans 20, 127, 129 Sembdner, Helmut 135 Sikora, Michael 245 Simmel, Georg 32–33, 225 Smith, Adam 130–131 Sofsky, Wolfgang 17, 22, 48, 248, 291 Soldan, George 181–182, 193–197, 214, 219 Sorel, Georges 110–111 Spengler, Oswald 182 Spreen, Dierk 21 Sternberger, Dolf 10, 82, 244 Tenbruck, Friedrich H. 118, 240 Thamer, Hans-Ulrich 222 Toffler, Alvin 262 Toffler, Heidi 262
332 Tönnies, Ferdinand 70, 95, 240 Trotha, Trutz von 17, 22, 291
Personenregister Weber, Max 11, 25, 36, 38, 42–43, 69–72, 78, 90, 93, 139 Wegner, Bernd 219
Veblen, Thorstein 15 Vernes, Jules 195 Virnich, Birgit 247
Wehler, Hans-Ulrich 217–218 Windelband, Wilhelm 40