Kürbiskerne. Beiträge zu Politik und Kultur in der BRD. Auswahl aus "Kürbiskern" (1965–1975), Teil 1 [Reprint 2021 ed.] 9783112574669, 9783112574652


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German Pages 312 [309] Year 1978

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Kürbiskerne. Beiträge zu Politik und Kultur in der BRD. Auswahl aus "Kürbiskern" (1965–1975), Teil 1 [Reprint 2021 ed.]
 9783112574669, 9783112574652

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Kürbiskerne Teil 1

Literatur und Gesellschaft Herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften der DDR Zentralinstitut für Literaturgeschichte

Kürbiskerne Beiträge Politik und Kultur in der BRD Auswahl aus „.Kürbiskern" (1965-1975) Teil 1

Herausgegeben und mit einer Einleitung versehen von

Ursula Reinhold

Akademie-Verlag • Berlin 1977

Erschienen im Akademie-Verlag, 108 Berlin, Leipziger Str. 3—4 © Akademie-Verlag Berlin 1977 Lizenznummer: 202 • 100/229/77 Gesamtherstellung: IV/2/14 VEB Druckerei »Gottfried Wilhelm Leibniz«, 445 Gräfenhainichen/DDR • 4854 Bestellnummer: 7532768 (2150/56/1 u. 2) • LSV 8090 Printed in GDR DDR 19,50 M für Teil 1 und 2

Inhalt

Erster Teil Ursula Reinhold Einleitung

9

Erich Fried Dichtung 1975?

33

Welche Kultur ist für wen bestimmt? Kultur und Krise Gerd Deumlich Grundgesetz, Freiheit des Geistes, Einheit der deutschen Kultur

37

Hannes Stütz Kultur und kapitalistische Krise

55

Kaspar Maase Amerikanisierung der Kultur in der BRD ?

71

Martin Walser Über die Architektur einer Moral

95

5

Medien, Freizeit, Kulturbetrieb für innen und nach außen Horst Holser ¡Conrad Schuhler Presse, Funk und Fernsehen in der BRD

105

Oskar Neumann ¡Conrad Schubler Stichworte zur Freizeit

133

Dagmar Ploet% „Brigitte" — oder das Geschäft mit der Frau. Zur Funktion der Frauenzeitschriften in der Bundesrepublik . . . 155 Oskar Neumann Am Beispiel Dürer-Jahr 1971

177

Michael Buselmeier ¡Günter Schebl Die Kinder von Coca Cola

187

Uwe Timm Peter Handke oder sicher in die siebziger Jahre

. . . .

209

Gerd Hallenberger/ Heinrich Keim Die Zukunft als Ware

223

Der Rest ist ein heißes Wölkchen Oder: Marktfunktion und Menschenbild. Gespräch mit Burkhardt Kiegeland

243

Wilfried von Bredow Zwischen Kitsch und Krise. Vorstudien zum westdeutschen Film der sechziger Jahre

250

André Müller Über die Fortschrittlichkeit des Gräßlichen. Aus Anlaß von Edward Bonds „Lear"

283

Hans Peter Hohn Schutzmarke: Goethe. Die auswärtige Kulturpolitik der Bundesrepublik am Beispiel des Goethe-Instituts . . . .

295

6

Zweiter Teil Kultur im antiimperialistischen Kampf Wozu Literatur, wie, für wen? Martin

Walser

Wovon und wie handelt Literatur? Friedrieb

315

Hitzer

Literatur heute Dieter

331

Süverkrüp

Rede nach meiner Beerdigung Martin

351

Walser

Strophen Alfred

357

Andersch

Aus der grauen Kladde Klaus

361

Konjetvfy

Schwierigkeiten beim Dokumentieren der Wahrheit

. .

Peter Schutt

Literarische Parteiarbeit

373 389

Gerd Fuchs

Schreiben und Arbeit — Die Arbeit des Schreibens . . . Uwe Timm

Zwischen Unterhaltung und Aufklärung Günter

403 411

Herburger

Über die Zukunft des Romans

429

Theater, Musik, Literatur als Herausforderung Warum Theater?

[Umfrage und Gespräch] 7

437

Martin Walser Theater als Öffentlichkeit

469

Peter Stein/Fran^ Rueb j Frank- Patrick Stecket Positionen und Probleme am Halleschen Ufer

481

R oman lütter Das Theater K

499

Luigi Nono Musik und Revolution

513

Gespräch mit Hans Werner Henze und der Münchner Songgruppe

523

Yaak Karsunke Präsentation einer Wirklichkeit

539

Walter

Frit^sche

Werkkreis und Literatur

553

Zu den Autoren

567

Anmerkungen

571

Personenregister

593

Ursula Reinhold

Einleitung

So richtig hat mir noch keiner erklären können, warum diese weiße Zeitschrift mit den Streifen, die bei jeder Nummer andersfarbig sind, eigentlich Kürbiskern heißt. Nur, daß der Name von Christian Geissler stammen soll. Aber beziehungsreich ist er — man kann sich vieles dabei denken: Ein Kürbiskern geht auf jedem Mist auf, er wird zu einer großen Frucht, die wiederum viele Kerne enthält. Wenn der Samen einmal aufgegangen ist, dann rankt er kräftig, erdrückt alles andere. Man kann ihn in Teilen verzehren, jeder seine Scheibe und so weiter und so weiter. Zehn Jahre ist für die Existenz einer Zeitschrift schon eine lange Zeit. Die Zeitschrift hat sich in diesen Jahren verändert, entwickelt, Profil und Inhalt haben sich den jeweiligen Erfordernissen angepaßt, dennoch aber ist sie ihrer Konzeption, unter der sie angetreten ist, treu geblieben. Sie stellt den Zusammenhang von Gesellschaft, Politik und Kultur in den Mittelpunkt ihrer Bemühungen, versteht sich seit ihrer Gründung als ein Gegenentwurf zu bürgerlichen Literaturzeitschriften, die schwer verständliche literarische Texte und noch schwerer verständliche Texte über Literatur drucken, die elitären Vorstellungen einer Literatur für Literaten huldigen und sich den gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen gegenüber abstinent verhalten. Davon gab es in der Bundesrepublik in den fünfziger Jahren genug; man blieb unter sich, zum Gesellschaftlichen verhielt man sich distanziert, aber kritisch, die Verhältnisse erschienen unersprießlich, aber intakt. 9

Mit den sechziger Jahren begannen sich die Probleme des inneren und internationalen Kampfes zuzuspitzen. Die Hoffnung auf „Angliederung" der DDR und auf Beseitigung des sozialistischen Lagers schwand selbst bei den hartnäckigsten Vertretern der roll back. Der 13. August 1961 schuf politische Realitäten, die auch eine Reihe westdeutscher Schriftsteller zur Bilanzierung der Nachkriegserfahrungen, zur Uberprüfung und Unsicherheit des eigenen Standorts führte. Der Krieg, den der US-Imperialismus gegen das vietnamesische Volk führte, brachte für einige Autoren Zweifel an den langgehegten Illusionen über Freiheit und Demokratie im Kapitalismus. Streikkämpfe in der westdeutschen Industrie, das große Zechensterben an der Ruhr und am Rhein ließen erkennen, „der Klassenkampf ist nicht zu Ende", wie es programmatisch von Rolf Hochhuth ausgesprochen wurde. Gleichzeitig wurde von Seiten der Herrschenden der Klassenkampf forciert: Vorbereitung der Notstandsgesetze, Abbau der Demokratie und der sozialen Errungenschaften zeigten, daß diese Gesellschaft so krisenfrei nicht war, wie viele der von „rechts sogenannten Linksintellektuellen" (Martin Walser) annahmen. Die Zuspitzung innerer und äußerer Krisensymptome in der BRD und in der gesamten kapitalistischen Welt brachte auch jene Haltung in die Krise, die, zwischen den historischen Alternativen stehend, sich allein Vernunft, Humanität und Moral verpflichtet glaubte. Engagierte Nonkonformisten, die hier eine Unterschrift gegen die Atombombe gaben, dort einen Appell gegen die Niederschlagung der Konterrevolution in Ungarn unterzeichneten und zu allem, wie Martin Walser spottete, „nur dieses simple deutsche Nein beizutragen" 1 hatten, sahen durch die gesellschaftliche und politische Realität ihre Illusionen über Freiheit und Demokratie zerfallen und sich vor einen geschichtlichen Entscheidungszwang gestellt, der zuvor nicht in dieser Weise bestanden hatte. Diese Haltung war in der BRD noch in ganz besonderer Weise durch die Totalitarismusdoktrin geprägt, mit deren Hilfe es gelungen war, die Kommunisten in der westdeutschen Öffentlichkeit zu isolieren und durch den Verbotsprozeß 1956 zu kriminalisieren. Dieser forcierte Antikommu10

nismus wurde auch durch die nachfolgenden Politisierungstendenzen nur teilweise abgebaut. Erste Differenzierungen bei der unterschiedlichen Beantwortung der Fragen, die die Geschichte auf die Tagesordnung gesetzt hatte, ergaben sich unter diesen Linksengagierten. Sie fanden auch in der Gründung des Kürbiskern (1965) und der im gleichen Jahr von Hans Magnus Enzensberger und Hans Peter Michel erfolgten Gründung der Zeitschrift Kursbuch ihren Ausdruck. Dieser Name steht wohl mit dem von Enzensberger polemisch gegen eine verschwommene und prätentiös unpolitische Lyrik gerichteten Satz „Lesen Sie keine Oden, lesen Sie Fahrpläne, die sind genauer!" Im Zusammenhang. Die Differenzen entzündeten sich zuerst sichtbar am Problem Vietnam, was auf der Princeton-Tagung der Gruppe 47 (1966) deutlich wurde und 1967 zur Auflösung der Gruppe führte. Die Gruppe konnte sich angesichts der wirklichen Aktionen der außerparlamentarischen Opposition auf keinen gemeinsamen Standpunkt mehr verständigen, vor dem realen Entscheidungszwang zerfiel sie. Die Kontroverse um Vietnam, um die Erscheinungsformen des vergangenen und heutigen Faschismus (in der BRD fanden zwischen 1962 und 1965 die Auschwitz-Prozesse statt, die den bürgerlichen Medien dazu dienten, den Faschismus zu einer Angelegenheit von abartigen Berufsverbrechern zu machen, zu denen jedem BRD-Bürger eine weite Distanz möglich war), setzten sich in allen literarischen Diskussionen fort. Selbst eine Zeitschrift wie Akzente, die bisher einem engen Autonomiekonzept gefolgt war, sah sich veranlaßt, Diskussionen über politische Lyrik und Dokumentartheater zu führen. Die Tatsache, daß politische Themen wie Vietnam und Auschwitz-Prozeß mit Dokumentartheater und politischer Lyrik in Zusammenhang gebracht werden konnten, bewies, daß die bis dahin in der BRD-Literatur vorzüglich gebrauchten literarischen Formen wenig geeignet erschienen, auf politische Fragen und Herausforderungen in einer so direkten Weise zu reagieren. So wurden die politischen Gedichte Erich Frieds . . . undVietnam und ... (1966) und die szenische Dokumentation von Pctcr Weiss Die Ermittlung (1965) zu den 11

ersten sichtbaren Zeichen einer direkten Politisierung in der Literatur. Günter Wallraff näherte sich auf eine andere Weise der westdeutschen Wirklichkeit, er recherchierte und fand die sozialen Antagonismen in der vom Privatkapitalismus beherrschten Produktionssphäre. Auch Christian Geissler begann die sozialen Abhängigkeiten im Alltag von Arbeitern aufzuspüren. Die Erzählung Kalte Zeiten (1965) bezeugte das. Zwar hatten auch H. M. Enzensberger, Günter Eich, Peter Rühmkorf und einige andere in der Vergangenheit politische Lyrik geschrieben, aber Erich Frieds Band steht mit einer für Gedichte ungewöhnlichen Resonanz einzig da. Denn er begnügte sich nicht damit, das eigene Unbehagen angesichts unersprießlicher Verhältnisse zu kultivieren, es in „einen Gegenstand des Genusses zu verwandeln" (Benjamin), sondern er zog politisches Ereignis, Schuldige und Opfer direkt ins Bild und schrieb seine Gedichte gegen die demagogische Darstellung des Vietnam-Krieges in den bürgerlichen Massenmedien. „Hier konnte das Landeskind zum zweiten Mal das Lesen lernen", - schrieb Peter Rühmkorf in der Debatte um diese Gedichte. Günter Grass reagierte gegen diese Protestgedichte „Zorn, Ärger, Wut" ab, bezeichnete das Protestgedicht alsein „zahnloses Schwert" 3 und gab damit erstmals literarisch seine Meinung zu Vietnam kund. Sie lautete: „Mir fehlen die Kompetenzen und die Informationen, um die Amerikaner zu verurteilen und den Sieg des Viet-cong zu wünschen". Auch in den Diskussionen um Peter Weiss ging es nur vordergründig um die Möglichkeiten des Dokumentartheaters, dahinter stand die Frage, wie aktuell der Faschismus ist und welcher Zusammenhang zwischen Faschismus und Imperialismus besteht. Gab es auch bisher in der westdeutschen Literatur kritische Analysen, so war jetzt die Ausweitung zu einer antikapitalistischen Fragestellung unübersehbar. Die Diskussionen waren bereits im Gange, als der Kürbiskern im September 1965 von Christian Geissler, Friedrich Hitzer, Yaak Karsunke, Hannes Stütz und Manfred Vosz gegründet wurde, junge kritisch gesinnte Intellektuelle, von denen nur erst Christian Geissler — der ältere unter ihnen — literarisch einen Namen hatte. Die Zeitschrift stellte 12

sich sofort in diesen angedeuteten Kontext, griff mit Beiträgen über die Lyrik Erich Frieds und zum Fall Peter Weiss in die Diskussion ein. Sie verfocht vom ersten Heft an eine Literaturkonzeption, die vom Zusammenhang zwischen Literatur und Politik ausging und die Literatur von ihrer Funktion für die Demokratisierung der Gesellschaft in der BRD aus beurteilte. Im Unterschied zu Enzensbergers Kursbuch fixierte sie ihren Blick nicht auf die Länder der dritten Welt, die „europäische Peripherie" (H. M. Enzensberger), sondern bezog zwar kritisch im einzelnen, insgesamt aber positiv, die Entwicklung in den sozialistischen Ländern, besonders die Geschichte und Gegenwart der UdSSR und der DDR mit ein. Das war in dieser Konsequenz ein Novum für die westdeutsche Öffentlichkeit, weil bis in die sechziger Jahre hinein politische und kulturelle Kontakte unter Strafe gestellt waren/1 Bei einigen Herausgebern mag die Vorstellung bestanden haben, einen gesamtdeutschen Dialog zustandebringen zu können, das zeigen die Beiträge über die Rolle der Intellektuellen in den sozialistischen Ländern und über die Kulturpolitik in der DDR. Vor allem ging es ihnen aber darum, die gefährliche Informationslücke in Sachen Sozialismus zu schließen. Der Kampf gegen den Abbau der Demokratie und die Verbrechen des internationalen Imperialismus vereinigten innerhalb der demokratischen Bewegung in der BRD ideologisch und politisch sehr unterschiedliche Kräfte. Die Bewegung besaß kein fest organisiertes Zentrum, da sich die KPD seit 1956 in der Illegalität befand. Trotz ihrer Heterogenität wies diese Bewegung im Unterschied zu früheren Volksbewegungen in der BRD, etwa der gegen den Beitritt zur Nato oder gegen die Atombewaffnung der Bundeswehr, auch qualitativ neue Züge auf. Denn es wurden erstmalig antikapitalistische Forderungen laut, wurde eine Perspektive erstmalig außerhalb des bestehenden Systems gesucht und auf diese oder jene, auch verschwommene Weise mit dem Sozialismus in Zusammenhang gebracht. Damit wurde das Verhältnis zu den sozialistischen Ländern immer stärker auch ein Faktor der inneren Auseinandersetzung um eine angemessene antiimperialistische Strategie. Für die Restaurationsphase, bis zu Beginn der sechziger 13

Jahre war ein forcierter Antikommunismus der stabilisierende Faktor für die herrschende Klasse und ein desorientierendes Moment für die Gegner dieser Restauration. Lange Zeit waren die Hoffnungen auf Demokratie und Sozialismus für die westdeutschen Kulturschaffenden mit Erwartungen, die sie in die Sozialdemokratie setzten, verbunden. Immerhin hatte die SPD im Zusammenhang mit den Pariser Verträgen noch die zwar unentschiedene Rolle einer Opposition gespielt. Als es darum ging, einen Volkswiderstand zu organisieren, zog sie sich auf bloße parlamentarische Opposition zurück. Aber 1959 mit dem Godesberger Parteitag und dem dort beschlossenen Programm empfahl sie sich als staatserhaltende Partei und gab ihre programmatischen Sozialisierungsforderungen auf. Dennoch waren kritische Stimmen von Seiten der westdeutschen Schriftsteller immer noch vereinzelt. Erst als der „Parteineintopf" 1965 auch in der Regierungsbildung der großen Koalition zum Ausdruck kam, begruben einige die Hoffnungen, die sie in die SPD gesetzt hatten. Der forcierte Antikommunismus, der in der Öffentlichkeit vorherrschte, war durch die Rolle, die die SPD spielte, mitbedingt. Darüber hinaus bedingte die Nähe der sozialistischen Erfahrungen und Errungenschaften in Gestalt der DDR einen verstärkten Sperriegel, obwohl das Vorbild DDR gewissermaßen bei Tarifabsprachen mit am Verhandlungstisch saß, was das soziale Entgegenkommen der Unternehmerseite mit erklärte. Die Politisierung, die in den sechziger Jahren einsetzte und sich gegen Ende des Jahrzehnts verstärkte, ermöglichte die Konstituierung der Deutschen Kommunistischen Partei (1968). Sie ergab sich aus der objektiven Notwendigkeit eines Orientierungszentrums innerhalb der ideologisch und politisch höchst heterogen bis widersprüchlich zusammengesetzten demokratischen Bestrebungen. Diese Konstituierung erwies sich sofort auch als ein weiterer Differenzierungsfaktor innerhalb dieser Bewegung, was sich bis in die Redaktionsstuben des Kürbiskern fortsetzte und zu einer veränderten Zusammensetzung der Redaktion führte. Mit einer gemeinsamen Erklärung der Redaktion im Heft 1. 1969 schieden 14

Christian Geissler und Y a a k K a r s u n k e aus der Redaktion aus. D i e E r k l ä r u n g hat folgenden Wortlaut: „ I m L a u f e des letzten J a h r e s haben sich innerhalb des K r e i ses der Herausgeber des Kürbiskern zunehmend prinzipielle politische Meinungsverschiedenheiten ergeben. In der F r a g e des Aktions- und Wahlbündnisses, sowie insbesondere in der F r a g e der militärischen A k t i o n der f ü n f verbündeten Staaten des Warschauer Paktes in der C S S R verschärften sich die Differenzen soweit (wie auch an den betreffenden Beiträgen in diesem H e f t erkennbar), daß eine weitere Zusammenarbeit innerhalb einer Redaktion sich als zu schwierig erweist. D i e fünf bisherigen Herausgeber sind daher übereingek o m m e n , daß Christian Geissler und Y a a k K a r s u n k e mit diesem Heft aus d e m K r e i s der Herausgeber ausscheiden. Christian Geissler, Friedrich Hitzer, Y a a k K a r s u n k e , Hannes Stütz, Manfred V o s z . " 5 A n ihre Stelle traten O s k a r N e u m a n n u n d Walter Fritsche in das H e r a u s g e b e r g r e m i u m ein, kurze Zeit später dann auch Conrad Schuhler. D i e genannten Differenzpunkte waren v o n weitreichender B e d e u t u n g : E s g i n g u m das Verhältnis v o n D e m o k r a t i e u n d Sozialismus in einer antiimperialistischen Strategie und u m das Verhältnis v o n D e m o k r a t i e u n d Sozialismus beim A u f b a u des Sozialismus sowie u m das generelle Verhältnis zu den sozialistischen Ländern. E s waren die Probleme, u m die sich innerhalb der gesamten demokratischen B e w e g u n g die D i s kussionen gruppierten. Sie führten einerseits zu einer O r g a nisierung eines Teils der demokratischen K r ä f t e in der D K P , andererseits verhärteten sich Positionen, die nur außerparlamentarische Mittel, vorzüglich den bewaffneten K a m p f u n d Gewaltakte als revolutionär gelten ließen; sie gerieten in eine totale Isolation u n d K a m p f u n f ä h i g k e i t . D i e revolutionäre Strategie in den hochentwickelten staatsmonopolistischen L ä n d e r n muß auf eine schrittweise Z u r ü c k d r ä n g u n g der Monopolherrschaft orientiert sein u n d b r a u c h t dazu ein möglichst weit gefaßtes antimonopolistisches B ü n d nis aller K r ä f t e , die zur imperialistischen Herrschaft i m m e r mehr in Widerspruch geraten. E i n e solche, im einzelnen

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unterschiedene Strategie haben sich die kommunistischen Parteien in den staatsmonopolistisch regierten Ländern erarbeitet, und auch die DKP hat, trotz ihres noch anhaltenden mangelnden Masseneinflusses, ein Programm für die schrittweise Demokratisierung und Zurückdrängung der Monopolherrschaft. Ein wichtiger Punkt ist dabei das Verhältnis zu den sozialistischen Ländern. In den inneren Auseinandersetzungen des Jahres 1968 wurde deutlich, daß jede komplizierte Erscheinung, jede verzögerte Lösung von Widersprüchen in den sozialistischen Ländern zu einem möglichen Differenzierungspunkt in der demokratischen Bewegung des Westens werden kann. Darüber hinaus sind bei vielen Kulturschaffenden, die der Arbeiterbewegung nicht nahe stehen, sondern deren Impuls für einen entschiedenen Antiimperialismus durch ethischen Humanismus bedingt ist, die Vorstellungen von einer klassendifferenten Demokratie verbreitet, die zu ihrem Schutze Machtmittel weder einsetzt noch braucht. Diese ideologisch-politischen Auseinandersetzungen, die alle auch ihre theoretische Dimension haben, standen aufs engste mit den Problemen zusammen, die im engeren Sinne die Literatur bzw. die Frage nach ihrer Funktion innerhalb des antiimperialistischen Kampfes besitzt. Gegen Ende der sechziger Jahre, als gewissermaßen die studentischen Aktionen auf der Straße symptomatisch eine politische Krise des Gesamtsystems signalisierten, entwickelte sich eine Reihe öffentlich operativer Literaturformen, die auf direkte politische Wirkung zielten. Zu nennen wäre hier die politischeLyrik, die Betriebsreportage und der Aufschwung, den für einige Zeit das Straßentheater nahm. Die Autoren, die in dieser Zeit zu schreiben begannen, gaben mit ihrem literarischen Debüt auch ihren politischen Bewußtwerdungsprozeß in die öffentliche Verständigung. In den Gedichten herrschte zumeist ein rhetorischer Gestus vor, man versuchte zu überzeugen, die Leute sehend zu machen, sie durch An- und Aufruf zu aktivieren. Diese zu dieser Zeit vorherrschende Sprechweise begann sich erst mit den siebziger Jahren zu verändern und zu erweitern. Zeugnis für diese Entwicklung legte u. a. auch das Kiirbiskern-Songbuch ab, in 16

dem eine Fülle dieser operativen politischen Texte gesammelt worden sind. Die Veröffentlichung von Literatur in dieser Zeit und die theoretische Reflexion ihrer Funktion brachte den Kürbiskern zu einer korrespondierenden Gegenposition gegenüber dem Kursbuch. Hier hatte Enzensberger, beeinflußt durch die Theorien der „Neuen Linken", 1968 die Überflüssigkeit von Literatur proklamiert, worauf der Literatur, vor allem in den bürgerlichen Feuilletons Begräbniskränze geflochten wurden. Der rationelle Kern dieser These lag darin, daß sie zu einer Bilanzierung der Rolle Anlaß gab, die die westdeutsche Literatur gespielt hatte. Enzensberger kam hier zu dem Ergebnis, daß es der herrschenden Klasse gelungen war, eine bestimmte Form von literarischer Kritik zu absorbieren und durch den Literaturbetrieb in ihrer Wirkung zu neutralisieren. Er rechnete mit der „Alibifunktion" ab, die diese Literatur gespielt hatte, untersuchte dabei aber nicht die Literatur selbst, zeigte nicht, was sie als Funktionselement innerhalb des spätkapitalistischen Systems so gebrauchsfähig gemacht hatte. Vor allem aber wurden hier die falschen Schlußfolgerungen gezogen, denn die Alternative zu dieser Art von Alibiliteratur konnte nicht heißen, gar keine Literatur mehr zu schreiben, sondern eine andere Literatur. Enzensberger selbst, der die Konsequenzen der Theorie Adornos und Marcuses nicht in jeder Beziehung zog (denn hier kam es immer zu einer teilweisen Über-, dann Unterschätzung der Kulturindustrie. Einmal sollte von hier aus die gesamte Gesellschaft revolutioniert werden, dann wurde sie für vollkommen funktionslos erklärt), ließ Wallraffs Reportagen und aufklärerische Publizistik als Faktor der „politischen Alphabetisierung Westdeutschlands" gelten. Er trenntediese operativ literarischen Formen vom eigentlichen Literaturprozeß und negierte die Möglichkeiten einer revolutionären Literatur als Alternative. 6 Im Kürbiskern wurde hierzu Gegenposition bezogen. Die lebendige Auseinandersetzung ist teilweise in der hier vorliegenden Auswahl noch direkt nachvollziehbar. Sie wurde aber nicht nur durch Abwehr dieser Fragestellung beantwortet, sondern vor allem durch den Abdruck neuentstehender Lite2

Rcinhold, K ü r b i s k e m

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ratur und die positive Bezugnahme auf ihre Funktion. Auch die Einbeziehung von Erfahrungen aus der revolutionären Literaturgeschichte spielte hier eine wichtige Rolle. Außerdem werden die Erfahrungen einer Reihe progressiver Künstler nutzbar gemacht: Dieter Süverkrüp, Carlo Schellemann, später Martin Walser, Hans Werner Henze, Luigi Nöno und andere. Dennoch kann man feststellen, daß bis zu Beginn der siebziger Jahre die Diskussion von der Frage nach Rolle und Funktion der Künste im antiimperialistischen Kampf bestimmt wird. Wozu Literatur? ist die am meisten erörterte Frage in dieser Zeit. Bedingt durch die Herausforderung der demokratischen Literatur, die sich verstärkt Öffentlichkeit suchte, und durch die Herausbildung einer sozialistischen Volkskultur, begann gegen Ende der sechziger Jahre auch der BRD-Staat, durch seine offiziellen Kulturinstitutionen eine „Kultur für die Massen" zu profilieren. Dabei erfuhr vor allem das bestehende Angebot an imperialistischer Massenkultur eine Umwertung. Mitbestimmt wurde diese Tendenz durch die veränderte Rolle, die die SPD in ihrem damaligen Reformprogramm der Kultur zumaß. (Erinnert sei nur an das Stichwort „Lebensqualität", an Scheels Aufforderung, „Kultur als Angebot an alle" zu verstehen.) 7 Dieser Versuch umfaßte sehr unterschiedliche, ja z. T. gegensätzliche Tendenzen: Einerseits sollte versucht werden, humanistisches Erbe und demokratische Kultur in das kulturelle Angebot für die Massen einzufunktionieren. Meist auf Initiative sozialdemokratischer kommunaler Kulturpolitiker fanden große Massenspektakuli statt, deren Inhalt jedoch vor allem von dem finanziellen Werbeträger, d. h. dem Großkapital, bestimmt wurde. Erinnert sei hier an die Stadtfestspiele „urbs 71", an die Dürer-Festspiele u. a. Dadurch bestand die Gefahr, die demokratischen Kulturbestrebungen zu neutralisieren, aber dem Anschein nach auf die Interessen der Kulturschaffenden einzugehen. Andererseits ergaben sich dadurch aber auch echte Möglichkeiten, an ein Massenpublikum heranzukommen. In der weiteren Entwicklung wurde immer deutlicher, daß es den Herrschenden darum ging, über kulturelle Massenveranstaltungen dem imperialistischen Kulturersatz für die Massen eine breitere 18

Basis zu verschaffen. Mit den Sparmaßnahmen, dem Scheitern der Reformversprechungen sind diese Bemühungen ohnehin in den Hintergrund getreten. Die demokratischen Kräfte haben sich gegen den forcierten Kulturabbau in den Ländern und Städten zu wehren, gegen das Schließen von Theatern, das Sterben von Orchestern usw. Seit Beginn der siebziger Jahre wurde die DKP zu einem sichtbaren Faktor in den inneren Auseinandersetzungen der BRD und in wachsendem Maße zu einem Orientierungsfaktor innerhalb der linken Kulturschaffenden. Sie geht in ihren programmatischen Überlegungen zur Kultur und Kulturpolitik davon aus, daß die Ziele einer demokratischen Kultur nicht isoliert zu erkämpfen sind, sondern Bestandteil eines umfassenden gesellschaftlichen Alternativprogramms bilden, in dessen Mittelpunkt die Zurückdrängung der Monopolmacht und die erweiterten Rechte und Sicherheiten der arbeitenden Massen stehen. Die Redaktion des Kürbiskern praktizierte seit Jahren eine gesellschaftlich bezogene und politisch fundierte Literaturkonzeption. Das veränderte und präzisierte sich seit dem Beginn der siebziger Jahre insofern, als in den Veröffentlichungen nachdrücklich ein weiter, von der Kenntnis um den Zusammenhang von materieller Basis, Politik und Ideologie, ein von materialistischen Einsichten bestimmter Kulturbegriff praktiziert wurde. Kultur wird als die Gesamtheit der von der Menschheit im Prozeß ihrer gesellschaftlich-historischen Arbeitspraxis geschaffenen materiellen und geistigen Werte gefaßt. Man wendet sich gegen eine Kulturauffassung, die Kultur faktisch nur einer kleinen Schicht von Privilegierten zuspricht. Es geht nicht schlechthin um eine quantitative Ausweitung der traditionell-bürgerlichen Kulturbereiche — eine solche weitere Fassung beginnen sozialdemokratische und bürgerliche Ideologen in dieser Zeit ebenfalls zu verwenden — sondern um die qualitativ-historische Fassung dessen, was Kultur ist: Kultur als die Qualität der Organisationsform menschlicher Lebenstätigkeit, die im Imperialismus von den Verwertungsbedingungen des Kapitals bestimmt ist und eine kulturelle Verelendung der arbeitenden Massen mit sich bringt. Damit wurde der Gesichtspunkt der realen Bedürfnisse 2*

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der arbeitenden Massen in die Analyse des imperialistischen Kulturbetriebs hineingebracht. Seither wurde er wesentlicher theoretisch-methodologischer Gesichtspunkt sowohl für die analytische Behandlung imperialistischer Manipulierungsfunktion durch Kultur als auch für die Ausarbeitung eines perspektivisch auf Veränderung der bestehenden Machtverhältnisse gerichteten Programms, von dem her die Aufgaben für die Funktion der Kultur und Literatur bestimmt wurden. Um keine falschen Vorstellungen aufkommen zu lassen: Der Kürbiskern hat kein Massenpublikum, auch wenn seine Auflagenhöhe zwischen 8000 und 10000 liegt und höher ist, als sie je von einer einschlägigen westdeutschen Zeitschrift erreicht wurde. Er wendet sich an Kulturschaffende, Lehrer, Wissenschaftler, Kulturfunktionäre — also an die große Schar der Mittler und Produzenten von Kultur, die unmittelbar praktische Kulturarbeit zu organisieren haben, von deren Tätigkeit die Entwicklung kultureller Bedürfnisse der Massen mit abhängt. Damit bezog der Kürbiskern in seiner Veröffentlichungspolitik Gegenposition zu solchen Vorstellungen, die die vom Imperialismus entstellten Bedürfnisse der Arbeiterklasse den Verführten selbst anlasteten und sich zu ihnen einfach ignorant verhalten. Mit Beginn der siebziger Jahre bezieht die Zeitschrift verstärkt die historischen Erfahrungen der politischen und theoretischen Kämpfe der Arbeiterbewegung ein, um aus ihnen für die gegenwärtige Entwicklung Schlußfolgerungen abzuleiten. Es begann sich ein praktisch positives Verhältnis zur Tradition zu entwickeln, wobei die Auseinandersetzung nach verschiedenen Seiten geführt werden mußte. Einerseits gegen die SPD-Konzeption, die sich im Rahmen ihrer nationalen Strategie auf demokratische Traditionen als Legitimation der sozial-liberalen Koalition bezog und in der Konstruktion einer deutschen „Kulturnation" ein Stückchen Alleinvertretungsanspruch retten will. Zum anderen mußte man sich ständig gegen die Kommerzialisierung des humanistischen Erbes, die seine positiven Wirkungsmöglichkeiten neutralisierte, wenden. Darüber hinaus mußte Kürbiskern in der praktischen Aneignung des Erbes und der wirklichen Nutzanwendung für die gegenwärtigen Aufgaben auf ultralinke 20

Positionen reagieren, die das humanistische Erbe als bürgerliche Affirmation abtun und für eine proletarische Kultur gewissermaßen vom Nullpunkt an goutieren. Aber auch zu den Traditionen sozialistischer und proletarisch-revolutionärer Literatur wurde durch die Literatur ein positiver Bezug hergestellt, der nach theoretischer Untersuchung und Verallgemeinerung verlangt. Hier ist es vor allem notwendig, die sektiererischen Entstellungen von bürgerlicher und maoistischer Seite zurückzudrängen, die die Entwicklung der sozialistischen Literatur als einen ständigen Kampf fraktionierender Gruppen darstellen, denen jede Gemeinsamkeit fehlt. Diese Betrachtung dient vor allem dazu, Partei und Schriftsteller zu trennen und Positionen, die zusammengehören, auseinander zu dividieren. Maoistische Gruppierungen versuchen dabei, besonders das revolutionär-proletarische Erbe für sich zu reklamieren und die spätere Entwicklung der sozialistischen Literatur in den dreißiger und vierziger Jahren in einen Gegensatz dazu zu bringen. So apostrophiert beispielsweise die maoistische Kulturzeitschrift, die Sozialistische Zeitschrift für Kunst und Gesellschaft, die Kulturpolitik der DKP als revisionistisch, weil sie auf ein breites antiimperialistisches Bündnis mit allen bündnisbereiten Kulturschaffenden orientiert. Diese Attacken sind darauf gerichtet, Arbeiterbewegung und Kulturschaffende voneinander zu isolieren, und unterstützen in ihrer Weise die Erpressungsversuche der imperialistischen Medien. Entsprechend einer materialistisch fundierten Kulturkonzeption, die in thematisch orientierten Heften praktisch-publizistische Realität annimmt, wird ein Literaturbegriff praktiziert, der nicht von einer ä priori gefaßten Trennung von höherer oder niederer, besserer oder schlechterer Literatur ausgeht, sondern danach fragt, was unter welchen Bedingungen als Literatur seine Funktion erfüllt. Und diese Funktion wird von den Bedingungen des Klassenkampfes her abgeleitet. Das bedeutet kein enges, auf politische Pragmatik gerichtetes Konzept, denn „den Klassenkampf verstehen wir als den ganzen Prozeß der Selbstbefreiung der Arbeiterklasse" 8 . Das Schwergewicht der Veröffentlichungen im Kürbiskern liegt auf Literaturfragen. Das entspricht den realen Einflußmöglichkeiten der demokratischen Kräfte in der BRD, denn 21

die gewiß für einen Masseneinfluß wichtigeren Medien sind fester in die imperialistische Staatshierarchie eingegliedert und lassen unter dem derzeitigen Kräfteverhältnis wenig Wirkungsmöglichkeiten zu. Dagegen wird mit der Entwicklung kultureller Massenformen, den Song- und Theatergruppen, Werkstätten für die Literatur der Arbeitswelt u. ä., in ein Vakuum vorgestoßen. Die Literatur ist natürlich, will sie gedruckt werden, ebenso in den kapitalistischen Verwertungszusammenhang eingeschlossen wie jede andere Ware auch, und die Haupttendenz auf dem kapitalistischen Buchmarkt wird durch wachsende Konzentration bestimmt, die den kleinen und mittleren Verlagen mehr und mehr die Existenzmöglichkeiten beschneidet. Viele bekannte Verlage existieren nur noch dem Namen nach und sind längst in einen der großen Verlagskonzerne aufgegangen, die den westdeutschen Buchmarkt beherrschen. Andererseits aber ist das Bedürfnis nach kritischer und sozialistischer Literatur gewachsen, was sich nicht zuletzt auch in der Tatsache ausdrückt, daß ein solcher Mammutkonzern wie Bertelsmann eine Autoren-Edition eingerichtet hat, in der programmatisch realistische Literatur veröffentlicht wird. Diese Bücher werden von den Herausgebern ausgewählt und lektoriert, der Konzern läßt ihnen hier einen verhältnismäßig großen Freiraum. Das hängt einmal damit zusammen, daß sich ein solcher Großkonzern einen Prestigegewinn von einem solchen Autorenmodell verspricht, zum anderen aber auch mit dem gewachsenen Bedürfnis nach realistischer Literatur. Außerdem hat sich unter den linken Verlagen eine gewisse Polarisierung ergeben, die denen mit einem konsequent antiimperialistischen und sozialistischen Programm zugute gekommen ist, während eine Reihe ultralinker Klein- und Kleinstverlage eingegangen ist. Die demokratischen Verleger haben sich in der „Arbeitsgemeinschaft demokratischer und sozialistischer Verleger und Buchhändler" eine organisatorische Basis geschaffen. Obwohl diese Verlegergemeinschaft noch kein wirkliches Gegengewicht gegenüber der ökonomischen und ideologischen Macht der kapitalistischen Verlagskonzerne darstellt, so sind hier doch wichtige Ansätze geschaffen, die es ermöglichen, Literaturproduktion und Literaturvertrieb 22

als einheitliche Aufgabe kultureller Massenarbeit zu organisieren. Von wichtiger methodisch-theoretischer Bedeutung für die Arbeit der Zeitschrift, vor allem auch für die Literaturprogrammatik, ist die Problematik Menschenbild. Sie spielt sowohl in den analytischen Arbeiten über den imperialistischen Kulturbetrieb als auch da eine Rolle, wo nach der Funktion der Literatur im gegenwärtigen Abschnitt des revolutionären Kampfes gefragt wird. Bei der Analyse dessen, was der Imperialismus aus dem Menschen macht, geht man davon aus, daß die imperialistischen Wunschbilder mit der alltäglich erfahrenen Klassenwirklichkeit der arbeitenden Menschen kollidieren, sich also spontan ein negativ kritisches Bewußtsein der bestehenden Realität gegenüber herausbildet. Hier nun setzt die ideologische Funktion der Erzeugnisse imperialistischer Kultursurrogate für die Massen an, die den Menschen als von Natur aus aggressiv, verkrüppelt, vertiert vorstellt. Sie versucht, den Menschen so aggressiv und unmündig zu halten, um ihn in inhumane Verhältnisse besser einpassen zu können. In vielen Beiträgen des Kürbiskern, von denen hier nur einige ausgewählt werden konnten, werden die ideologischen Klischees und die manipulierende Funktion der Schemata der wirkenden Massenkultur untersucht und die Manipulierungsmechanismen freigelegt, durch die diese Erzeugnisse ihre ideologische, die imperialistische Herrschaft stabilisierende Funktion ausüben können. Der Klassenkampf wird im Namen der Lebensrechte der arbeitenden Massen geführt. Daher bilden sich auch die Züge eines positiven Gegenbildes zur imperialistischen Verkrüppelung des Menschen realiter in den Aktionen der Werktätigen um mehr soziale und politische Rechte aus. Sie prägen sich auch in bestimmten Persönlichkeitsqualitäten aus. Es wäre aber zu eng, die Menschenbildproblematik für die Literaturdiskussion darauf zu beschränken. Im Menschenbild ist die weltanschaulich-ethische Handlungsnorm der kämpfenden Klasse begrifflich komprimiert, hier fließen Wirkliches und Werdendes, Handeln und Impuls, Reales und Ideales zusammen. Die in den Diskussionen oftmals erhobene Forderung nach der Gestaltung neuer Persönlichkeitsqualitäten, die im 23

Klassenkampf entstehen, nach der Darstellung aktiv handelnder Figuren ist sicherlich eine wesentliche Seite der idealbildenden Funktion, die die Literatur in der Front der Kämpfenden wahrzunehmen hat. Sie beweist sich aber auch in der Analyse der verstümmelnden und verbildenden Abhängigkeiten und Beziehungen unter den herrschenden Bedingungen, in der ein anderes Bild vom Menschen als Wertmaßstab und ästhetisch-weltanschauliche Norm anwesend ist. Die Menschenbildproblematik bildet ein Moment der Diskussionen um die Funktion der Literatur, die sich in den letzten Jahren zu einer Diskussion um den Realismus entwickelte. Es konnte davon ausgegangen werden, daß zwischen der Entwicklung der Klassenkämpfe und dem Stand realistischer Literatur ein untrennbarer Zusammenhang besteht. Diesen Zusammenhang bezeugt ein Teil der neuentstandenen Literatur aus den letzten Jahren. Die Diskussionen um Parteilichkeit und Realismus, die in der Deutschen Volks^eitung begonnen und im Kürbiskern bzw. in der UZ weitergeführt wurden, fußen auf einem bestimmten Entwicklungsstand realistischer Literatur und bezeugen ein gewachsenes Problembewußtsein der mit der DKP im Dialog stehenden Autoren. Die im Zusammenhang mit der Studentenbewegung alternativ gestellte Frage nach der Existenzberechtigung von Literatur war bereits durch den praktischen Literaturprozeß entschieden. Auch die kurzschlüssige Koppelung von Literatur und Aktion wich einem realistischeren, auf langfristig anzusetzende gesellschaftliche Veränderungen orientierten Verständnis literarischer Wirkungsmöglichkeiten. Dabei werden in wachsendem Maße historische Erfahrungen der sozialistischen Literaturbewegung herangezogen. Zugleich ist die bürgerliche Kritik bemüht, einen Realismusbegriff für sich zu reklamieren, der jeden höchst unverbindlich vagen Bezug zur Realität honoriert. Den sozialistischen Künstlern wird dabei ein naturalistisches Abklatschverfahren als Realismus-Auffassung unterstellt. Wo Literatur auf dieses primitive Schema nicht zu beziehen ist, wird sie außerhalb der Bestrebungen sozialistischer Schriftsteller gestellt. In der Realismus-Diskussion, die durch die geschichtliche Entwicklung auf die Tagesordnung gesetzt wurde, spiegelt 24

sich aber auch die Krise der bürgerlichen Kunst, die mit ihrer strikten Trennung von elitärer Kunst und Kunstersatz für die Massen dem objektiv gewachsenen Bedürfnis nach orientierender Lebenshilfe durch Literatur und dem realen Vorbild einer demokratischen Volkskultur in den sozialistischen Ländern nicht mehr gerecht werden konnte. Sie bemühte sich daher, ihrem Konzept Momente einer realistischeren Kunstvorstellung einzugliedern. Das läßt erkennen, in welchem Maße die Bemühungen demokratischer Künstler eine Herausforderung darstellen, durch die indirekt auch die Feuilletonthesen bürgerlicher Zeitungen diktiert werden. Die Realismus-Problematik in der Literatur steht im Kontext mit dem Problemkreis Parteilichkeit. Denn das Wirklichkeitsverhältnis des Schriftstellers, sein weltanschaulich-ideologischer Standort bestimmen das Konzept literarischer Produktion und Wirkung. Hier ging es zunächst einmal darum, Klarheit darüber zu gewinnen, daß die erklärte Bindungslosigkeit, den bürgerlichen Autoren der B R D jahrzehntelang als Freiheit und Chance suggeriert, eine Fiktion ist und in Wirklichkeit eine Parteinahme für den Status quo bedeutet. Diese Erkenntnis war durch die Entwicklungen der vergangenen Jahre vorbereitet, nicht zuletzt auch durch die sozialökonomische Rechtlosigkeit der Autoren 9 und durch die Art und Weise, wie ihre literarischen Erzeugnisse zu Funktionselementen innerhalb der imperialistischen Kulturindustrie gemacht wurden. Hiervon waren besonders die Autoren berührt, deren Haupterfahrungen mit der Entwicklung der Bundesrepublik zusammenhängen, wie Martin Walser, Peter Weiss, Erich Fried, Günter Herburger u. a. Die jüngeren Autoren, deren politische Bewußtwerdung mit einer wachsenden demokratischen Bewegung einhergeht, die das Glück hatten, auf die Straße zu kommen und die D K P bereits vorzufinden, beginnen vielfach sogleich mit dem einfachen Bekenntnis „parteilich", d. h. einer schnell angeeigneten wissenschaftlichen Weltanschauung und einer ebensolchen politischen Haltung gemäß, zu arbeiten. Sind die Übergangsprobleme der älteren Autoren kompliziert, geht es bei ihnen darum, liebgewordene Denkgewohnheiten und Lebenshaltungen aufzugeben, so liegen die Probleme der jungen gleichsam hinter ihrem Bekenntnis. In beiden Fällen

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wird jedoch Parteilichkeit zu einer Angelegenheit der gesellschaftlichen Praxis, die wesentlich mit dem Einfluß der Partei der Arbeiterklasse zusammenhängt. Die Teilnahme an ihrem tagespolitischen Kampf ist ein Moment dieser Praxis, sie wird umfassender, wenn es der Partei gelingt, auch mit Hilfe der Autoren, die noch bestehende Isolation zu durchbrechen. Die Diskussion zeichnete sich u. a. auch dadurch aus, daß keine übereilten Forderungen nach „Indienstnahme" (Martin Walser) gestellt wurden. Auf der Grundlage einer breiten Bündnispolitik ging man daran, möglichst viele Schriftsteller als Diskussionspartner zu gewinnen. Aber auch seitens der Autoren gab es wenig ungeduldige Radikalität, die etwa alles Bisherige überspringen, aus der eigenen Haut schlüpfen wollte. Im Gegenteil, es wurde offensichtlich, in welchem Maße das sozialistische Literaturkonzept die unterschiedliche Erfahrung und Wirklichkeitssicht der Autoren für die Herausbildung eines differenzierten Funktionsverständnisses braucht, das den Bedingungen des Kampfes um eine antimonopolistische Demokratie entspricht. Die Diskussion ist weiterhin durch ein grundsätzliches Verständnis für die Besonderheiten des künstlerischen Schaffensprozesses gekennzeichnet. Wurde zunächst von der politischen Haltung des Schriftstellers beim Übergang auf sozialistische Positionen ausgegangen, so weitete sich die Erörterung sehr bald zur ästhetisch-weltanschaulichen Fragestellung. Die nachdrückliche Akzentuierung der ästhetischen Qualität, der literarisch r e a l i s i e r t e n Parteilichkeit, die nur durch die volle Identität zwischen Wirklichkeitsaneignung und realisierter Wirkungsabsicht zustande kommen kann, geschieht durch Martin Walsers Beiträge. Dabei liegt der Schwerpunkt bei ihm auf der Kenntnis der wirklichen Lebensverhältnisse, die der Autor nur auf Grund seiner nicht wählbaren Klassenzugehörigkeit erhalten kann. Ein nur touristisches Kennenlernen der Wirklichkeit stellt sich ihm nicht als zuverlässiger, Erkenntnis fördernder Schreibanlaß dar. Bei Walser werden eigene Arbeitserfahrungen in einer Weise reflektiert, die zeigt, vor welchen komplizierten Übergangsproblemen er steht. Über die ästhetische Qualität von Parteilichkeit stellt sich der enge Zusammenhang zur Realismus-Problematik her. 26

In der Diskussion wurden alle Seiten dieser komplexen Problematik berührt. Dabei wurde auf keine wie immer verstandene vorgefaßte Realismus-Definition rekuriert, sondern der Umkreis von Literaturproduktion und Literaturfunktion, Werk — Autor — Literaturbetrieb — Leser unter den gegenwärtigen Bedingungen des herrschenden Systems in der BRD einbezogen. Die zentrale und Ausgangsfragestellung blieb die nach der Funktion der Literatur im Klassenkampf, die mit ihrem Widerspiegelungscharakter in untrennbarem Zusammenhang steht. Denn die Funktion, die sie wahrnimmt, ist aufs engste mit der Qualität der Widerspiegelung verbunden, die den historischen Prozeß durch alle Verdinglichung hindurch als vom Menschen beeinflußbar und veränderbar sichtbar machen muß. Auch hier ist als polemischer Bezugspunkt das Konzept modernistischer Literatur und Endzeitideologie spürbar, die den Status quo als statisch und die Krisen des kapitalistischen Systems in eine Krise der gesamten Menschheit umdeuten. Es geht hier um die Betonung des Erkenntniswerts realistischer Literatur, die handlungsmotivierenden und -orientierenden Anstoß geben soll. Dabei wird der unverwechselbar eigene Erkenntniswert von Literatur betont, der sich von den Formen anderer Wirklichkeitsaneignung unterscheidet. In diesem Zusammenhang gibt es eine Fülle notwendiger Wendungen gegen die oft wohlmeinende Absicht, die Literatur als Transportmittel für schon gewußte Meinungen und Thesen benutzen zu wollen. In der jüngsten Zeit ist auch eine Reihe von polemischen Anmerkungen zu kurzschlüssiger Operativitätserwartung und dem Übergewicht von dokumentarischen Darstellungsweisen zu finden. Diese Akzentsetzung bedeutet keine neue Vereinseitigung, sondern sie plädiert für den Gebrauch a l l e r künstlerischen Ausdrucksformen, für eine Literatur, die die arbeitenden Menschen wirklich erreicht. Die Fülle der operativen Literaturformen, die in den sechziger Jahren wieder in Gebrauch genommen worden waren, stellte ein neues direktes Wirklichkeitsverhältnis für die Literatur her und ermöglichte erst wieder die Frage nach ihrer Funktion im Klassenkampf. Selbst in der kurzschlüssigen Beziehung, die seinerzeit zwischen Aktion und Literatur gesetzt wurde, lagen produktive Momente. 27

Die z. T. falschen oder einseitigen Alternativen sind jedoch in der Literaturentwicklung selbst überwunden worden, und es wurde daher notwendig, auch in der theoretischen Reflexion des Problems umfassendere Antworten zu suchen. Es geht also nicht darum, eine direkte Operativität abzuwehren, sondern die Bedingungen für eine unmittelbar eingreifende Wirkung genauer zu beachten. Beispiele einer literarischgesellschaftlichen Direktwirkung, wie sie durch die Werkkreisbewegung initiiert wurden, sind schwerlich zu einem allgemeinen Kommunikationsmodell für die Wirkung von Literatur zu verallgemeinern. Ähnliches gilt auch für dokumentarische Darstellungsformen. Die Tatsache, daß sie auch durch die bürgerlichen Medien in Gebrauch genommen wurden, hat gezeigt, daß sie kein Allheilmittel gegen Manipulation sind. Die Wahrheit kann durch sie ebenso verdeutlicht wie verschleiert werden. Denn man hat es hier keineswegs mit der Wirklichkeit selbst zu tun, sondern allenfalls mit Aussagen über die Wirklichkeit, und die sind untrennbar mit der Bewertung durch den Autor verbunden, ebenso wie in allen anderen literarischen Ausdrucksformen auch. Daher führt die strikte Entgegensetzung von Fiktion und Dokumentation zu keinem Ergebnis, weil sie die Frage der eigentlichen Wertmaßstäbe ausklammert. Polemiken in diesem Zusammenhang wenden sich gegen diese unfruchtbare Entgegensetzung, versuchen, auf die Nützlichkeit aller literarischen Ausdrucksformen hinzuweisen und bestehende Einseitigkeiten und Verabsolutierungen abzubauen. Trotz der beachtlichen Ergebnisse praktischer Literaturentwicklung und der Anstrengungen um eine Diskussion und Klärung anstehender Probleme für die Kulturschaffenden, kann man bisher jedoch noch nicht davon sprechen, daß es gelungen wäre, eine Literatur zu schaffen, die an die realen, vom Imperialismus entstellten Literaturbedürfnisse der Massen anknüpft. Diese Aufgabe ist selbstredend nicht allein durch die Literatur zu bewältigen. Sie hängt o o einmal mit der Verbreiterung des politischen und ideologischen Einflusses auf die Massen zusammen, und sie ist andererseits nur durch die Organisierung von Literaturverbreitung und Literaturpropaganda als Teil der Parteiarbeit zu leisten. 28

Von Seiten der Schriftsteller gibt es dazu Überlegungen und erste praktische Versuche, mit Kurzkrimis und ähnlichem auf ein massenhaft verbreitetes Lescinteresse Einfluß zu nehmen. Dabei können die Muster der imperialistischen Literaturerzeugnisse nicht übernommen werden, weil in ihren Klischees, beispielsweise dem Superhelden im Detektiv-, Spionage- und Kriminalroman und der Kombination von Superheld und Supertechnik in den Science-Fiktion-Heften, bereits ideologische Gehalte transportiert werden. Der Glaube an die übermächtigen Kräfte des einzelnen untergräbt jede solidarische Regung im Menschen. Die Bemühungen vieler Autoren sind auf die realen Lescbedürfnisse der Massen als Ausgangspunkt für wirkungsstrategische Überlegungen gerichtet. Auch die ebenfalls im Damnitz-Verlag erscheinende „Kleine Arbeiterbibliothek" versucht, zu verhältnismäßig billigen Preisen mit guter Literatur an ein breites Publikum heranzukommen. Das sind Anfänge, deren Weiterführung mit der Verbreiterung des Masseneinflusses eng verbunden ist. Kürbiskern steht in einem komplexen Zusammenhang ideologischer Auseinandersetzungen. Direkte Reaktionen von sciten bürgerlicher Publizisten sind selten. Immer noch bildet die Ignoranz das Hauptmittel des inneren ideologischen Kampfes. Einige bürgerliche Rezensenten, die die Zeitschrift regelmäßig besprechen, beispielsweise Ivo Frenzel in der Süddeutschen Zeitung, loben kenntnisreiche analytische Einzeluntersuchungen, um die Gesamtkonzeption der Zeitschrift dann aber als „kommunistisch-orthodox, als zu einseitig und undifferenziert auf Gesellschaftsveränderung" gerichtet, abzulehnen. Wenn die Zeitschrift in den Zusammenhang politischer Diffamierung und Repressionsmaßnahmen gerät, wird eine andere Sprache gesprochen, als das bei liberalen Kritikern üblich ist. So wird beispielsweise in einem Artikel der Deutschen Universitäts^eitung aus dem Jahre 1972, in dem ein Abwehrbericht über Radikale für den Bundestag referiert wird, folgender Zusammenhang hergestellt: Man berichtet, daß die Zahl schwerer Gewalttätigkeiten, Mordanschläge, bewaffneter Raubüberfälle erheblich zugenommen hat, um dann zu konstatieren, „der ideologische 29

Kampf, den die DKP führt, wird von dem Institut für marxistische Studien in Frankfurt geführt. Der kommunistische Verlag Marxistische Blätter sorgt für die Verbreitung. Als literarisches Sprachorgan benutzt die DKP die in München erscheinende literarische Monatsschrift Kürbiskern."10 Die hier vorgelegte Auswahl will den DDR-Leser mit den Problemen der demokratischen Literaturentwicklung, wie sie sich in literaturtheoretischen und -politischen Debatten spiegeln, bekanntmachen. Dabei sind vor allem solche Beiträge ausgewählt, deren Erkenntnisinteresse sich auf die analytische Untersuchung wesentlicher Züge imperialistischer Massenkultur und auf die Entwicklungsprobleme der entstehenden demokratischen und sozialistischen Literatur 11 richtet. Dabei wird, so die Hoffnung des Herausgebers, dem Leser bewußt, daß er gewissermaßen den Teil eines unabgeschlossenen, im Werden begriffenen Prozesses kennenlernt. Hier gibt es nichts Abgerundetes und Bleibendes, sondern jede Fragestellung, unter bestimmten Bedingungen von der Geschichte neu gestellt, muß immer wieder vor Ort entschieden werden. Historische Erfahrungen o sind dabei sehr wichtig, O7 sie wirklich in einer beiernbaren Weise einzubeziehen, wird aber erst über die aktuelle Präzisierung aufgeworfener Fragen möglich. Dabei wird die zukünftige Entwicklung erweisen, in welchem Maße die versuchten und praktizierten Antworten vor der Geschichte standgehalten haben. Deutlich sollte dem Leser der unmittelbare Zusammenhang zwischen dem Stand der Klassenkämpfe und den Debatten um die Funktion der Literatur in diesen Kämpfen werden. Dabei wurde in der Auswahl versucht, obwohl der Schwerpunkt auf der Literatur liegt, wenigstens annähernd die Breite des materialistischen Kulturkonzepts der Zeitschrift zu dokumentieren.12 Ausgeklammert blieben dabei die Beziehungen zum Ausland, die Einbeziehung der internationalen Erfahrungen, sowohl der des sozialistischen Auslands als auch der des revolutionären Kampfes in anderen kapitalistischen Ländern. So ist beispielsweise ein ganzes Heft dem anderen Amerika und ein weiteres dem kämpfenden Chile und dem lateinamerikanischen Kontinent gewidmet. Ein Heft behandelt die Grundprobleme sowjetischer Kulturentwicklung, es ist anläßlich des 55. Jahrestages der Großen 30

Sozialistischen Oktoberrevolution erschienen. Außerdem blieb weitgehend die Erbeproblematik, die Beiträge, in denen historische Erfahrungen aus der Geschichte der revolutionären Arbeiterbewegung einbezogen wurden, ausgeklammert. Die Herausgeberin bedauert das sehr, aber der zur Verfügung stehende begrenzte Umfang macht es notwendig, sich in der Auswahl auf die innere Entwicklung in der BRD zu beschränken. Aus den gleichen Gründen mußte auch die Probe aufs Exempel, nämlich die schöngeistige Literatur, ausgeklammert bleiben. Es entspricht der Besonderheit der Zeitschrift, ihrem operativ-polemischen, in die Auseinandersetzungen des Tages eingreifenden Charakter, daß für akademische Akribie kein Raum bleibt. Die Auswahl versucht nicht, das im Nachhinein zu verändern. Die Herausgeberin hofft, daß sich der Leser trotz der vom Umfang her knappen Auswahl ein annäherndes Bild von der Widersprüchlichkeit und Kompliziertheit des revolutionären Prozesses in der BRD machen kann. Berlin, Januar 1976.

Erich Fried

Dichtung 1975?

Was Dichtung nicht ist? Das alles niederzuschreiben: Die wachsende Angst und den Kampf gegen allerlei was sich zusammenbraut aus dem Dritten ins Fünfte Reich und was — gewiß nicht unter dem Namen Faschismus und viejleicht sogar ohne K Z aber gründlich gestützt auf Computer mit Berufsverboten und vielen anderen Arten der Existenzvernichtung das Gestern nach Morgen verpflanzt Das alles niederzuschreiben ist sicher nicht Dichtung Und doch was wäre eine Dichtung ohne das alles solange das Land noch nicht ohne das alles ist? (1975) 2, S. 7

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Reinholdi Kürbiskern

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Gerd Deumlich

Grundgesetz, Freiheit des Geistes, Einheit der deutschen Kultur

Was längst zur Propagandastereotype geworden ist und den Kindern in der Schule eingeübt wird wie das Einmaleins — in Jubiläumsreden auf das Grundgesetz wurde es noch einmal zur letzten Wahrheit herausgeputzt: Wir haben die beste und freieste Verfassung in der deutschen Geschichte. Eitel Stolz darauf und eine forsch selbstverständliche Identifikation der bestehenden Zustände mit der Verfassung sollen allein schon die Frage nach dem Verhältnis von Verfassung und Verfassungswirklichkeit oder gar die nach einem möglichen Mißverhältnis in die Zone des Verdachts einer suspekten, wenn nicht gar zur Verfassungsfeindlichkeit neigenden Gesinnung abdrängen. Wo in offiziellen Reden zugestanden wurde, daß n a t ü r l i c h noch gewisse Schönheitsfehler anzutreffen seien, paßte auch dies ins Identifikationsschema; mit einem Schuß Kritik in der Stimme sind die Leute sogar eher dazu zu überreden, die Ordnung der Dinge in diesem Land im großen und ganzen akzeptabel zu finden. Im SVY)-Vorwärts weiß die Bundesvorsitzende der Jungsozialisten, Heidemarie Wieczorek-Zeul, nicht recht, was sie mehr beklagen soll: daß „einzelne Genossen" vor der Strategie der CDU/CSU, bestimmte Reformvorstellungen als verfassungswidrig zu illegalisieren, zurückweichen und sie „gleich selbst öffentlich diffamieren, bevor es die Opposition tut" oder daß „die Argumentation der CDU/CSU und der Arbeitgeberverbände . . . bewußt auf die faktische Unkenntnis breiter Teile der Bevölkerung über Inhalt und Zielsetzung der Verfassung" spekuliert. 1 Zumindest das letztere ist nicht 37

nur ein Problem der Sozialdemokraten. Und manchmal wird es da schon grotesk, etwa wenn das ARD-Magazin report einem größeren Kreis junger Leute Sätze vorlegt, wonach es unter Strafe zu stellen sei, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören und einen Angriffskrieg vorzubereiten, wonach Eigentum zum sozialen Gebrauch verpflichte und zum Nutzen des Gemeinwohles vergesellschaftet werden könne — und die meisten der Befragten auf die Verfassung der DDR schließen. Es wäre wohl zu einfach, darin nur lauter Sympathie für die DDR zu erkennen. Solche Meinungen — ein Kompliment für die DDR sind sie so oder so — können auch das Resultat antikommunistischer Sprachklischees sein. Denn unweigerlich werden durch sie selbst Grundgedanken der geltenden Verfassung in Verruf gebracht, was den Herrschenden nichts ausmacht, ihnen kommt Unkenntnis des Gehalts der Verfassung zu Passe. Die Illusion, in den denkbar freiesten Verhältnissen zu leben, kann sich um so stärker ausbreiten, je mehr Leuten der Maßstab dafür fehlt, wie ganz anders und wirklich demokratisch die Verhältnisse sein müßten und könnten, ginge es nach dem Grundgesetz. Dennoch hat es die Mächtigen nie kalt gelassen, daß das Grundgesetz von 1949 demokratischer ist, als es nach ihren Intentionen hätte ausfallen dürfen. Das zieht die Aufmerksamkeit auf die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes. Es darf darüber nur nicht vergessen werden, daß dem Monopolkapital mit fortschreitender Restauration seiner Macht dieses Grundgesetz zu eng wurde, daß es darum neunundzwanzigmal an über hundert Stellen verschlechtert wurde, daß es immer wieder Vorstöße gab wie den des CDU-Abgeordneten Dichgans, der eine „Totalrevision" des Grundgesetzes forderte 2 oder des Tübinger Politologen Theodor Eschenburg, der beim zwanzigsten Geburtstag des Grundgesetzes der damals regierenden Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD empfahl, „sich als 'Aufräumungsdiktatur' zu betätigen, um allen nicht mehr zeitgemäßen Verfassungsschutt über Bord zu kippen" 3 , daß mit der Notstandsverfassung schließlich das Fallbeil über alle Grundrechte eingebaut wurde. Damit nicht genug, werden die öffentliche Meinung wie die Rechtsprechung, die Bildungsinhalte wie die Programme aller Bundestags38

parteien, immer totaler auf die Linie getrimmt: Die einzig recht- und verfassungsmäßige Ordnung ist die der Machtund Besitzprivilegien des Großkapitals. Offenbar ist den Herrschenden noch immer nicht geheuer ob des Umstands, daß die von der Verfassung postulierten Grundrechte wichtige demokratische Positionen gegen ihren wirtschaftlichen und politischen Machtanspruch darstellen. Was sonst hätte den amtierenden Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Ernst Benda (ehem. CDU-Bundesinnenminister), in einem Vortrag vor Zeitungsverlegern dazu getrieben, gegen die „Radikalisierung von Grundrechtspositionen" zu wettern und darin ein „gern genütztes Kampfmittel zur Schwächung und Überwindung des 'Systems', das mit seinen eigenen Waffen geschlagen werden soll," 4 zu sehen. Nicht unverzeihlicher Leichtsinn im Umgang mit der Macht hatte die Väter des Grundgesetzes dazu gebracht, es mit so viel demokratischen Möglichkeiten auszustatten. Schon gar nicht die Absicht, einer gesellschaftlichen Erneuerung den Weg zu ebnen. Ihr treibendes Motiv war die Rettung und Fortführung der wirtschaftlichen und politischen Macht des Kapitals. Aber dafür mußte ein beträchtlicher Preis an Zugeständnissen gezahlt werden. Die Erfahrung des Volkes mit Krieg und Faschismus war noch zu frisch, und der politische Wille, daraus die Konsequenz gesellschaftlicher Veränderungen zu ziehen, stark und aktiv. Wer da Einfluß aufs Volk behalten wollte, mußte antifaschistisch, ja antikapitalistisch auftreten. Klassisches Zeugnis dafür bleibt das Ahlener Wirtschaftsprogramm der CDU vom 3. Februar 1947, seine Feststellung, daß „das kapitalistische Wirtschaftssystem . . . den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden" sei, daß „eine Neuordnung von grundaus erfolgen" müsse. Anstelle des „kapitalistischen Gewinn- und Machtstrebens" müsse „eine gemeinwirtschaftliche Ordnung" 5 treten. Phrasen — wie der CDU-Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Meyers, Jahre später offen gestand, nur gemacht, um den Sozialismus zu verhindern. In der Tat, liest man heute die damaligen Sprüche christdemokratischer Politiker, nimmt man hinzu die Erklärungen sozialdemokratischer Führer vom „Sozialismus als Tagesaufgabe" (Doktor 39

Kurt Schumacher im Aufruf vom Juli 1945: „Die ungeheure Wirtschaftsmacht der Konzerne muß in die Hand der Allgemeinheit gelegt werden, sonst wirkt sie sich als politische Macht gegen den neuen Staat aus. Die Demokratie ist erst in einem sozialistisch deutschen Staat gesichert. Im Gegensatz zu den Ländern der alten Demokratie des Westens können Kapitalismus und Demokratie in diesem Lande nicht nebeneinanderexistieren". 6 ) — man müßte rätseln, warum die Neuordnung ausgeblieben ist, wäre man auf den naiven Glauben angewiesen, die Leute hätten es ehrlich gemeint. Zumindest erklärt aber dieses Taktieren mit starken Worten, weshalb Konzessionen an den demokratischen Veränderungswillen auch noch ins Grundgesetz gelangten. Das war übrigens keine glatte Sache, die Mehrheit des parlamentarischen Rates sperrte sich gegen alle Anträge der kommunistischen Vertreter, Max Reimann und Heinz Renner, auf weiterreichende demokratische Rechte, z. B. gegen die Zulässigkeit von Volksentscheiden. Gar nicht zu reden von der Peinlichkeit, daß man bei der Zusammensetzung des parlamentarischen Rates diese KPD-Vertreter nicht einfach übergehen konnte, und diese dann als erstes verlangten, die Schaffung eines Separatstaates zu unterlassen und endlich mit den Vertretern Ostdeutschlands über gesamtdeutsche Instanzen, wie Verfassung, Parlament und Regierung zu verhandeln. Erich Kuby erinnert sich: „Als die Abgeordneten in Bonn aufgerufen wurden, es (das Grundgesetz — G. D.) zu unterschreiben und der Schriftführer den Namen Renner aufrief, antwortete dieser: 'Ich unterschreibe nicht die Spaltung Deutschlands'. Daß Renner recht behalten würde, wußten alle." 7 Das wissen sie auch heute noch, die der verlorengegangenen deutschen Einheit Tränen nachweinen und wenigstens in der Fiktion eine einheitliche Nation für sich pachten wollen. Damals entschieden sie sich für ihr Klasseninteresse gegen die Nation. Das war insofern ein außerordentlicher Vorgang, als damit die Nation gespalten wurde, jedoch eine ganz gewöhnliche Sache, weil die Großbourgeoisie die Nation stets nur unter dem Aspekt der Verwirklichung ihres Herrschaftsanspruchs sieht. Dr. Adenauer entsann sich in seinen Memoiren, daß er 40

bereits im Herbst 1945 einem Reporter der New Chronical gesagt hatte, daß die drei Teile des „nicht russisch besetzten Gebietes" zusammengefaßt werden sollten, „es könne das evtl. bundesstaatlich sein". Denn, „der von Rußland besetzte Teil sei für eine nicht zu schätzende Zeit für Deutschland verloren". 8 Was für den Kapitalismus verloren ist, ist für D e u t s c h l a n d verloren. Er hatte unbezweifelbar einen eindeutigen Klassenstandpunkt: „Es gab für uns nur einen Weg, unsere politische Freiheit, unsere persönliche Freiheit, unsere Sicherheit, unsere in vielen Jahrhunderten entwickelte Lebensform, die die christlich-humanistische Weltanschauung zur Grundlage hat, zu retten: Fester Anschluß an die Völker und Länder, die in ihrem Wesen die gleichen Ansichten über Staat, Person, Freiheit und Eigentum hatten wie wir. Wir mußten hart und entschlossen Widerstand leisten gegenüber jedem weiteren Druck vom Osten her." 9 Druck aus dem Osten, das war kein Hirngespinst, wenn man die Tatsache nimmt, daß im sowjetisch-besetzten Teil die Bestimmungen des von den vier Großmächten abgeschlossenen Potsdamer Abkommens über die Ausmerzung von Faschismus und Militarismus, über Bestrafung und Enteignung der Kriegsschuldigen, konsequent durchgeführt wurden. Oder die Tatsache, daß die Vergesellschaftung der Schwerindustrie und der Banken, sowie eine Bodenreform nach demokratischen Volksentscheiden vollzogen wurden. Derartiges mußte die Großbourgeoisie als höchst gefährlichen Druck empfinden. Nur: Er kam nicht allein aus dem Osten. Auch in Hessen hatten sich am 1. Dezember 1946 beim Volksentscheid über den Verfassungsentwurf 71,9 Prozent der Wähler für den Artikel 41 der Landesverfassung und damit für die Uberführung des Bergbaus, der Eisen- und Stahlindustrie, der Energiewirtschaft und des Verkehrswesens in Gemeineigentum und für die Verstaatlichung der Banken und Versicherungsunternehmen entschieden. In Nordrhein-Westfalen hatten 1948 die Sozialdemokraten und Kommunisten einen Landtagsbeschluß über die Sozialisierung des Ruhrbergbaus durchgesetzt. Seine Ausführung unterband die britische Militärregierung, so wie die amerikanischen Besatzungsbehörden die Verwirklichung des Artikels 41 der Hessischen Landes41

Verfassung verboten. Ihr Repräsentant, Oberst Newman, drohte im Rundfunk gar mit dem Belagerungszustand, „falls die Haltung des Volkes sich nicht bessert". Ganz in diesem Sinne behielten sich die Westmächte im Besatzungsstatut, das sie am 10. April 1949 dem Parlamentarischen Rat überreichten, „das Recht vor, . . . die Ausübung der vollen Gewalt ganz oder teilweise wieder zu übernehmen" 10 . Zwar hatten sie gnädig zugestanden, daß die westdeutsche Bevölkerung „das größtmögliche Maß an Selbstregierung genießt" 11 — doch dieser Genuß sollte aufhören und die Militärdiktatur drohen, falls das Volk mit der Entmachtung und Enteignung des Monopolkapitals ernst machen wollte. Und die Selbstregierung war eingegrenzt durch das Verbot für westdeutsche Stellen, selbständige Schritte in Sachen deutsche Einheit zu tun. Doch wurde all dies vom deutschen Großkapital bereitwillig akzeptiert. Seine Repräsentanten hatten die Chancen gewittert, die für die Restauration im Übergang der Westmächte zum Kalten Krieg gegen die Sowjetunion und in der Westdeutschland dabei zugedachten Rolle lagen. Es war mehr als nur symbolträchtiger Zufall, daß die Militärgouverneure 1948 die westdeutschen Länderministerpräsidenten ins Verwaltungshochhaus der I G Farben in Frankfurt-Höchst zitiert hatten, um ihnen dort die Weisung zu geben, einen westdeutschen Separatstaat zu schaffen, und daß dieser ins Leben gesetzt wurde, kurz nachdem die Westmächte die N A T O gegründet hatten. Die deutschen Imperialisten waren noch mal davongekommen. Aus historischer Sicht war die Gründung der Bundesrepublik eine Defensivreaktion auf eine neue, für die Herrschenden qualitativ verschlechterte Gesamtlage. Doch bedeutete die Gründung der Bundesrepublik keinen endgültigen Rückzug des deutschen Imperialismus auf den ihm verbliebenen Machtbereich, keine Abkehr von seinem sprichwörtlichen Drang zur Expansion. Vom ersten Tage an traten die Herrschenden über ihr Rest-Deutschland mit dem Alleinvertretungsanspruch für Ganz-Deutschland auf. Mit dem Anspruch auf Rückgewinnung der „unerlösten Provinzen . . . östlich von Elbe und Werra" 1 2 . 42

Nach innen: die Doktrin der alleinigen Geltung der großkapitalistischen Besitz- und Machtverhältnisse als „freiheitlich-demokratische G r u n d o r d n u n g " , nach außen: der expansive Alleinvertretungsanspruch — so hatte der deutsche Imperialismus sein Selbstverständnis wiedergefunden. Daß es in entscheidenden Punkten mit der eigenen Verfassung kollidiert, stört nicht, solange man die Macht hat, sich darüber hinwegzusetzen. Diese Haltung prägt von vornherein im besonderen Maße auch die Auffassung der Herrschenden von der Rolle, die unter den neuen Bedingungen Kultur und Kulturpolitik spielen sollten. Sie wußten aus Erfahrung zu gut um ihre Wichtigkeit und Brauchbarkeit, als daß sie von der selbstverständlichen Indienstnahme für ihre Interessen hätten abgehen können. Daß sie sich darauf verstanden hatten, im Grundgesetz Artikel 5 Informations-, Meinungs- und Pressefreiheit ohne Zensur, die Freiheit von K u n s t und Wissenschaft, Forschung und Lehre zu konstituieren, bedeutete zu keiner Stunde den Verzicht darauf, diesen F r e i h e i t s r a u m so total wie möglich mit den eigenen Interessen und den Machtmitteln zu ihrer Durchsetzung zu besetzen. Niemand dürfte so naiv sein, anzunehmen, die herrschende Klasse, die soeben zu einer neuen Runde imperialistischer Politik Anlauf nahm, könnte sich den Luxus leisten, den Bereich der Kultur dem „freien Spiel der K r ä f t e " zu überlassen. Alles wurde zwar auf einen solchen Eindruck hin angelegt, weil man um die Glaubwürdigkeit gegenüber der Welt besorgt sein mußte und ebenso gegenüber starken demokratischen und antifaschistischen Tendenzen in der Kultur, in Literatur und Kunst, die von der Erfahrung mit dem Nazismus geweckt worden waren und nun von der Idee der Abrechnung mit dem Faschismus und Imperialismus, des radikalen Neubeginns, des Widerstands gegen Spaltung und Remilitarisierung durch die besten Kräfte des geistigen Lebens mitgetragen wurde. Angesichts dieser B e d r o h u n g mußten die Herrschenden im Z u g e der Restauration ihrer Macht zügig ihre Möglichkeiten und Mittel zur Herrschaftssicherung über den Kulturbereich ausspielen. Den Weisungen der Militärgouverneure folgend, war im 43

Grundgesetz die Bundesrepublik föderalistisch aufgebaut und — welch ein Ausweis der neuen Freiheit! — die Kulturhoheit der Länder festgelegt worden. Sehr bald jedoch erwies sie sich mit zunehmender Stärkung staatsmonopolistischer Strukturen als lästige Schranke für wissenschafts- und bildungspolitische Erfordernisse des Großkapitals. E s wurden darum, jeweils bei starker Präsentation von Konzernvertretern, als Planungs- und Lenkungsorgane der Wissenschaftsund Bildungsrat gegründet. Was einst als L e h r e aus der faschistischen Herrschaft und ihrer Vorgeschichte in der Weimarer Zeit kreiert wurde — die Vermeidung allzu starker staatlicher Zentralisierung — ist längst kräftigen Korrekturen unterzogen worden, nicht zufällig besonders im Kulturbereich. Hochschulrahmengesetz und Presserechtsrahmengesetz signalisieren deutlich die Tendenz zur Verfestigung reaktionärer Strukturen, zur Dominanz von zentralistischer Staatsgewalt und Monopolmacht, zur Abblockung echter Mitbestimmung. Das gravierendste Moment dieses Prozesses ist jedoch der Aufbau von Monopolmacht im Kulturbetrieb selbst. Kulturkonzerne wie Springer, Bertelsmann, Bauer und Holtzbrinck gehören heute in die Spitzengruppe der Monopole mit Milliarden-Umsätzen. Tempo und Volumen des Konzentrationsprozesses in Presse- und Verlagswesen stellen klassische Industrien in den Schatten. Nicht zufrieden damit, daß Rundfunk und Femsehanstalten durch Konzerneinfluß in den Aufsichtsgremien und durch Produktionsabhängigkeit bereits unter der Fuchtel von Monopolen stehen, bauen Springer und andere emsig und zielstrebig am Privatfernsehen. Wie da die Freiheit der Meinung und der Kunst unter die Räder gerät, welche Abhängigkeit von Kulturschaffenden, welcher Stcuermechanismus über das Denken und Fühlen von Millionen da entstanden sind, kommt gelegentlich in der aktuellen medienpolitischen Diskussion zutage. 13 Die These von der Freiheit der Kultur — oft genug nur Vorwand zu zynischer Gleichgültigkeit gegenüber sozialen Sorgen von Künstlern, stets Schlüssel zur Öffnung unseres Kulturmarktes für eine Flut imperialistischer Massenkultur, vornehmlich aus den USA, und probate Ausrede für die 44

Duldung faschistischen Ungeistes — hatte breiteste Vielfalt im Kunstschaffen und im Kulturangebot versprochen. Derweilenfindet sich die größte Vielfalt offenbar in den Methoden, mit denen Kultur auf die Interessen der Herrschenden zugerichtet wird. Darüber geben keine Lexika Auskunft wie über die Palette der Stile und Moden in Nachkriegsliteratur, Kunst, Film und Theater. Und auf das Stichwort Kultur- und Meinungsmanipulation fallen den meisten nur spektakuläre Spitzenleistungen ein, wie Erhards „Pinscher"-Schimpfe, die Aktion „Saubere Leinwand", das denunziatorische Rotbucb des Komitees „Rettet die Freiheit", der versuchte CSURundfunkputsch, Redakteurrausschmisse, Berufsverbote gegen Kunsterzieher wie Klaus Mausner und einen Medienwissenschaftler wie Horst Holzer, samt „Verschwinden" seiner Bücher aus der Münchner Universitätsbibliothek, und vielleicht noch die Absetzung dieser oder jener Fernsehsendung, wie des Stückes Oberösterreich von Franz Xaver Kroetz, samt anschließender Diskussion, welche der für die Zuschauer unnachprüfbaren Behauptung zum Opfer fiel: „Die Diskussion sei nicht so verlaufen, wie man das erwartet habe" l!i , die „Enthüllung" eingeschlossen, zwei der Diskutanten seien, wie der Autor Kroetz, DKP-Mitglieder. Immerhin erregte der Fall einiges Aufsehen, und Die Zeit sah sich zu der Frage veranlaßt: „Wird also künftig vor Fernsehdiskussionen den Beteiligten ein Offenbarungseid über ihre Parteizugehörigkeit abverlangt werden?" 15 Der Ungeist des sogenannten Radikalenerlasses beginnt also bereits über den öffentlichen Dienst hinaus, manipulierend in die öffentliche Meinung einzugreifen. An diesem Punkte übrigens werden die subtilen Methoden der Reglementierung mit Fleiß und Akribie weiterentwickelt. So verfügte das nordrhein-westfälische Ministerium für Wissenschaft und Forschung der Düsseldorfer Kunstakademie den Numerus Clausus — woran sogar die Frankfurter Allgemeine „merkwürdig" findet, „daß der Staat den Bedarf an Künstlern bestimmt" — und dazu am 22. Mai 1974 einen Prüfungserlaß mit einem Katalog von Kriterien, „der es dem aufnehmenden Hochschullehrer ermöglicht, auf dem Wege über das 'Arithmetische Mittel' den Grad der Begabung bis 45

auf eine Stelle hinter dem Komma zu errechnen" 11 . Akademieprofessor Walter Warnach meint dazu: „Es wird erlaubt sein, die Frage nach der Konsistenz dieser Anordnungen mit dem heutigen politischen System zu stellen", wobei er auf das Grundgesetz verweist. Er argwöhnt wohl nicht zu unrecht, „daß unterdes unter dem Druck der Radikalen-Abwehr eine Strukturverschiebung stattgefunden hat, in Richtung auf ein System, mit dem allerdings Erlasse wie der besprochene durchaus konsistent wären" 18 . Indes, dieses System ist hinsichtlich neuer Entwicklungen in der Kultur schier unerschöpflich. Ende vergangenen Jahres hatte die Frankfurter Allgemeine entdeckt, daß die Ölkrise zu einer „Kulturwende" führen und „eines Tages . . . auch ästhetisch, stilistisch Wahrnehmbares zur Folge haben werde", indem uns „von der Produktionsseite . . . etwas mehr Gediegenheit in unseren Beziehungen zu den Dingen, zu gediegeneren Dingen . . . nahegelegt werden" würde. Und: „Für die gediegeneren Dinge werden wir mehr zu bezahlen haben." 19 Nun muß, wie Die Zeit vermeldet, nach der „Öl-(Preis-) Krise . . . jetzt die Papier-(Preis-)Krise herhalten", um uns an „Gesundschrumpfen" und „Rationalisierungsmaßnahmen", diese „ultima ratio jeder Marktwirtschaft, die bei Autofabriken angehen mag", nunmehr auch im Verlagswesen zu gewöhnen und zugleich an saftig steigende Buchpreise.20 Und im gleichen Atemzuge an das Hinausrationalisieren progressiver Literatur. Beispiel: der S. Fischer-Verlag, den die Einordnung in den Holtzbrinck-Konzern vor kapitalistischer Unbill gerade nicht schützt. Erst auf einen offenen Brief der gewerkschaftlichen Betriebsgruppe hin, die von geplanten Entlassungen Wind bekommen hatte, bequemte sich die Geschäftsleitung zu dem Eingeständnis, daß man „Probleme" habe, und „naturgemäß" unter geplanten „Strukturmaßnahmen . . . am meisten ein Programm mit literarischem und intellektuellem Anspruch leidet", und daß schließlich auch im Fischer-Taschenbuchverlag „neue Schwerpunkte im Bereich interessierender, auflagenstarker Themengruppen gesetzt werden" 21 . Noch deutlicher wird da der LuchterhandVerlag, dessen Sammlung Luchterhand die Produktion 1975 um 46

30 bis 35 Prozent reduzieren wird, weil „zuviel für einen Markt produziert worden ist, der sich jetzt nicht als haltbar erweist. Gemeint ist damit vornehmlich linke und Theorieliteratur". Und: „. . . das neue Buch des Rowohlt-Verlages, eine ehrgeizig-auffällige Reihe, die dem Unternehmen linken Chic beibringen sollte, wird statt vicrundzwanzig nur zwölf Titel im Jahr bringen" 22. Linker Chic oder linke Position — im Lager der Herrschenden werden beim Abbau an dieser Ecke kaum Verfassungsskrupel aufkommen, im Gegenteil. Wozu haben sich schließlich die Parteien des Kapitals und die Unternehmerverbände dafür stark gemacht, daß im Bildungswesen wie in den Medien, überall, wo öffentliche Meinung gemacht wird, endlich der Rolle des freien Unternehmertums als Träger unserer freiheitlichen Ordnung der nötige Respekt verschafft wird. Und nicht die Freiheit der Kunst, der Forschung und Lehre, die nur von den S y s t e m v e r ä n d e r e r n frivol ausgenutzt wird, sondern die Freiheit des Eigentums von Springer und Bertelsmann ist Richtmaß und Garant unserer Kultur. Was ist Pressefreiheit im Sinne des Grundgesetzes: die uneingeschränkte Freiheit für Springer, mit seiner Monopolpresse uniformierte Meinung und Profit zu machen oder die Abschaffung des Springer-Konzerns um der Informationsfreiheit willen? Das sind nicht Varianten ein und desselben Freiheitsbegriffes, da treten Klassenlinien in aller Schärfe hervor. Denn an der Frage von Freiheit und Macht kommt niemand vorbei, ohne mehr oder weniger deutlich seinen Klassenstandpunkt zu offenbaren. Bei jeder demokratischen Forderung, und beschränkte sie sich auf Mitbestimmung, lamentieren die Konzerne, ob sie Stahl oder Bücher produzieren, über einen „Eingriff in ihre verfassungsmäßigen Eigentumsrechte". Und übersehen geflissentlich, daß es die Verfassung als Grundrecht, mithin als Gebot, vorschreibt, ins private Eigentum an Produktionsmitteln einzugreifen und es in Gemeineigentum zu überführen, wenn es dem Gemeinwohl im Wege steht. Auch Verfassungen werden durch die Klassenbrille gelesen. Bei dem Umstand, daß die Monopolherren die Bildung eines westdeutschen Staates auch als Abriegelung gegen 47

die Entwicklung in Ostdeutschland vollzogen, war und ist reaktionäre Kulturpolitik nicht nur gegen fortschrittliche Kräfte im eigenen Haus gerichtet. Von Beginn an war sie expansiv, antisowjetisch und antikommunistisch ausgerichtet, eine Stoßrichtung, die sich selbst für Nichtkommunisten als durch und durch antidemokratisch erwies: Wenn fortschrittliche Kulturschaffende am Kontakt mit der Kulturentwicklung in der D D R festhalten wollten, wurden sie als „nützliche Idioten des Ostens" diffamiert und isoliert. Heute hält man sich zugute, für den freien Kulturaustausch einzutreten und glaubt damit, gegenüber den sozialistischen Ländern einen Trumpf zu haben, der für die freizügige Art des Westens spricht — viele Jahre aber wurde diffamiert und verfolgt, wer solchen Austauch mit der D D R pflegte und für seine Ausweitung war, und für Künstler und Wissenschaftler aus der D D R , wenn sie nach hier kamen, war oft genug allein der Staatsanwalt zuständig. Noch im Zeichen des heute so innig befürworteten Kulturaustausches wird 1974 vom Bundesverwaltungsgericht das Verbot des Demokratischen Kulturbundes in Nordrhein-Westfalen bestätigt, das vor fast zwanzig Jahren mit der Begründung ergangen war: Wer für die Kulturkontakte zur D D R eintritt, wolle die „Ordnung der S B Z " mit Gewalt auf die Bundesrepublik übertragen. Eine Neigung der Herrschenden zur Kultur tritt also besonders dann auf, wenn sie im Gespür haben, sie könnte offensiv im antikommunistischen Sinne genutzt werden. „Wir leben am Rande des kommunistischen Ostens, wir stehen mitten in der Auseinandersetzung mit dem Osten . . . und daraus ziehen wir die Konsequenz für die Praxis unserer Kulturpolitik." postulierte Heinrich Krone vor dem ersten kulturpolitischen Kongreß der CDU/CSU 1960 in Gelsenkirchen. Mit den Konsequenzen war es indes nicht so einfach. Hatte man es doch damit zu tun, daß die D D R — während hier die Aufrüstung forciert, das wirtschaftswunderliche Konsumieren zur neuen westlichen Lebensphilosophie stilisiert, und zugleich in die Bildungskatastrophe gesteuert wurde, — ein beispielhaftes, einheitliches, sozialistisches Bildungssystem errichtete, die Pflege des nationalen Kulturerbes international anerkannt vorbildlich betrieb und vielfältige Wege zur E n t 48

wicklung der sozialistischen Kultur und der Verbindung des Volkes mit der Kultur beschritt. Was gesellschaftliche Aufmerksamkeit für die Kultur, frühzeitige Inangriffnahme weitgesteckter Bildungsreformen, einschließlich ihrer ausreichenden Finanzierung, betraf, so war die DDR eindeutig in der Vorhand. Dennoch, oder eben deswegen lautete die Konsequenz der CDU/CSU: Entwicklung einer Strategie der konterrevolutionären Einwirkung auf die Kultursphäre der DDR. Doch dies war, aufgrund der entschiedenen Selbstbehauptung der DDR und dem Erfolg in der Entfaltung ihres Kulturlebens, verbunden mit dem Zwang, den bisherigen Kollisionskurs in flexiblere Vorgehensweisen abzuwandeln, um zu versuchen, so dem Ziel der Aufweichung, am Ende der Einverleibung der DDR näherzukommen. „Man kann der totalitären Gesellschaft nicht mehr mit einer totalitären Verdammung gegenübertreten . . . Unter den besonderen Bedingungen des kommunistischen Systems in Mitteldeutschland ist die Einheit Deutschlands nur möglich, wenn das System transformiert bzw. zur Transformation gezwungen werden kann." 2 3 1967 beschrieb der Vorsitzende des kulturpolitischen Arbeitskreises der CDU/CSU, Bertold Martin, die neue Linie: „Unser Ziel muß sein, eine gemeinsame humanistische deutsche Kultur in der Welt darzustellen, dadurch glaubhaft zu machen, daß die Maxime dieses Landes die Alleinvertretung ist." 2'' Der Versuch, die Kultur der DDR in Auswahl e i n z u g e m e i n d e n , war nicht von Anfang an im kulturpolitischen Konzept der Herrschenden. In den ersten Jahren, als selbst der SPD-Vorsitzende Schumacher die Alleinvertretungsformel so vertrat: „Wir wollen Pankow ausschalten und Bonn auf die höhere Stufe heben" 25, galt die Devise: Totschweigen, was immer sich in der DDR entwickelt. Zwar führte man die Einheit der deutschen Kultur im Munde, reklamierte sie aus der Vergangenheit für sich, für die Gegenwart jedoch sollte sich deutsche Kultur allein im Westen darstellen. Hinter der Elbe war heidnische, dem deutschen Wesen fremde „Ver-Ostung" ins Abendland einge4

Reinhold, Kiitbiskern

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fallen. Damit wurde alles, was drüben in der Kunst und Literatur entstand, zugedeckt. Das Deutsche Buchver^eichnis der Jahre 1951 bis 1960 weist aus, daß in dieser Zeit kaum ein Buch aus der DDR in einem westdeutschen Verlag herauskam. Von deutscher Literatur war viel die Rede, DDR-Autoren kamen dabei nicht vor. Das konnte auf die Dauer nicht aufgehen. „Die Taktik des Totschweigens", so schrieb Die Kultur 1955, „richtet sich früher oder später selbst". 26 Es war jedoch weniger die Einsicht im Westen, als vielmehr die Konsolidierung der DDR und die unübersehbare Entwicklung ihrer Kultur, die das Totschweigen durchbrachen. Der erzwungene Wandel drückte sich schließlich darin aus, daß an die Stelle der grobschlächtigen Alleinvertretungsanmaßung Verhandlungsbereitschaft auf der Basis „innerdeutscher Beziehungen" trat, und die Formel aus der Adenauer-Zeit vom „Fortbestand des deutschen Reiches über den Zusammenbruch vom 8. Mai 1945 hinaus" variiert wurde zum „Fortbestand der Deutschen Nation in zwei deutschen Staaten". Flinke Politiker versuchten aus der Not der Anpassung die Tugend der Initiative zu neuer Politik gegenüber der DDR zu machen. Dieter Haag, Oberregierungsrat im Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen, erklärte 1967 auf einer Tagung zur „DDR-Forschung": „Die bisherige Politik war zu sehr von Illusionen bestimmt . . . Damit ist eine grundlegende Neuorientierung unserer Politik verbunden." 2 7 Laut Willy Brandt, damals Außenminister, ging es über „ein geregeltes Nebeneinander hinaus darum, weitergehende Lösungen der deutschen Frage vorzubereiten 28 . Und die Kultur war neben der Wirtschaft der Bereich, wo „die eigentlichen Möglichkeiten zur Veränderung des Status quo" 29 zu finden sein sollten. Um unter den neuen Bedingungen mit der These von der Einheit der deutschen Kultur überhaupt etwas auszurichten, mußte man nun dazu übergehen, Kultur wenigstens zur Kenntnis zu nehmen. Daraus erklären sich völlig neue Sichten, allerdings jeweils so serviert, als habe man schon immer so gedacht: „Wir betrachten all das, was an deutscher Kultur auf dem Gebiet der Bundesrepublik und der DDR bis 1945 an 50

Gutem und Schlechtem entstanden ist, als Gemeinsames und für beide deutsche Staaten gleichermaßen verfügbares und verbindliches kulturelles Erbe. Und wir betrachten das, was das deutsche Volk in der Zeit nach 1945 in den beiden deutschen Staaten kulturell verwirklicht hat, ganz unabhängig von den grundsätzlichen Unterschieden, als Teil der Kultur einer gemeinsamen deutschen Nation." 3 0 Doch so gerecht, fast wertneutral, stellt sich die Sache in der Praxis nicht. Da wird die Nation geschieden in eine Staatsnation — welche das Bundesverfassungsgericht im Urteil über den Grundlagenvertrag als rechtlich weiter existent, aber nicht handlungsfähig erklärte, — und in eine Kulturnation, die z. B. dank offiziellem Selbstverständnis der Herrschenden zu folgender Handlung durchaus fähig war: Die Kulturschätze, die rechtens den in DDR/Berlin gelegenen Museen zurückgegeben werden müßten, wurden hier der eigens dafür geschaffenen Stiftung Preußischer Kulturbesitz zugeschanzt, dies nachträglich als verfassungskonform abgesegnet und die Ansprüche der D D R für „gegenstandslos" erklärt. So sieht es um das „gleichermaßen verfügbare kulturelle Erbe" aus. Die erwähnten Kulturgüter sollen bald in der geplanten Deutschen Nationalstiftung aufgehen, die nach Meinung der Frankfurter Allgemeinen noch in dieser Legislaturperiode geschaffen werden müßte, u. a. „mit dem Blick auf die rege kulturpolitische Tätigkeit des 2weiten Staates auf deutschem Boden, dem man hier getrost Konkurrenz machen soll" 31 . Konkurrenz per Nationalstiftung — die kulturelle Alleinvertretungsanmaßung ist hier, sicherlich gewollt, nur schwach umschrieben. Wenn heute der Bundesbürger ungleich mehr über D D R Filme, DDR-Literatur usw. als früher erfährt, so verdankt er das dem Umstand, daß die demokratische und sozialistische Bewegung und mit ihr die fortschrittliche Kulturströmung stärker geworden sind, während gleichzeitig auch die Herrschenden hier einiges Material importieren und vorweisen müssen, wobei sie eine neue differenzierte Taktik der Auswahl und der Kritik anwenden. Gezwungen, sich mit dem Nonkonformismus und der Systemgegnerschaft bester Kräfte des eigenen Kulturlebens abzu4»

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finden, wird eine gleiche Position des Intellektuellen in die sozialistische Gesellschaft hineinprojiziert, in die DDRLiteratur hineingelesen. Da entdeckt man „Verwandtschaft in den Gefühlen der Schriftsteller hüben und drüben" und zwar „Gemeinsamkeiten in dem Verhältnis zwischen Geist und Macht". 32 Was es noch nie gab, wird auf einmal in der DDR aufgefunden: eine zweite Literatur. Neben der „parteilichen", eine Literatur, „die sich verblüffend der westdeutschen annähernd, die Züge einer unteilbaren deutschen Literatur entwickelt"^. Da wird der Klassencharakter herausoperiert, da wird nach Spuren einer Nichtübereinstimmung mit der sozialistischen Gesellschaft gefahndet, da wird literarisches Talent von seinem gesellschaftlichen Boden abgelöst, wonach dann die feierliche Aufnahme in die einheitliche deutsche Kultur vor sich gehen kann; in die herrschende Kultur der BRD", die allemal noch daran zu erkennen ist, daß sie nicht-sozialistisch und antikommunistisch ist. Noch immer gilt: wenn schon wahre Kultur und wahre Kunst, dann haben wir die Erbpacht drauf. Was man ja auch daran sieht, so eine weitere These, daß Parteinahme für den Sozialismus nur ins künstlerische Versagen führt. An diesem Punkt allerdings hat sich nichts geändert, der sozialistische Realismus wird diffamiert wie seit Jahr und Tag. „Hier finden wir kaum Ausgesetztsein . . . nichts von Chaos und Zerrissenheit." 3 ' 1 So klagt Lothar von Balluseck, um zu konstatieren, daß „die Richtlinien des 'sozialistischen Realismus' bisher jeden Versuch großer künstlerischer Gestaltung vereitelt" 35 hätten. Nun ist das angesichts der zunehmenden Bekanntschaft mit der DDR-Literatur ein reichlich gewagtes Vorurteil. Doch es wird weiter gepflegt,' weil man das Ziel nicht aufgegeben hat, Schriftsteller und Künstler vom Sozialismus zu trennen, überhaupt „Indifferenz zu den kommunistischen Zielen zu erzeugen", wie es der Spezialist für psychologische Kriegsführung Alard von Schack einmal formulierte. 36 Die Diffamierung des sozialistischen Realismus hat noch einen weiteren Aspekt: Mit dem gleichen Vorwurf der „langweiligen Politkultur" soll realistische Kunst und Literatur, 52

die hier aus den Bedingungen dieses Landes in der Auseinandersetzung mit seiner realen kapitalistischen Wirklichkeit entsteht, abgestempelt und erhoffter Wirkungslosigkeit ausgesetzt werden. In schönen Wendungen, wie z. B. in der Regierungserklärung von 1973, lebt sie fort, die Deutsche Nation: „In der Geschichte — wie in der unzerstörbaren Gemeinsamkeit der Sprache, der Kunst, der Kultur, des Alltags und des geistigen Erlebens." 37 Dabei weiß man sehr gut, daß das Volk in der DDR mit dem Aufbau des Sozialismus seit über zwei Jahrzehnten einen geschichtlich völlig neuen Weg geht, der den totalen Bruch mit der reaktionären Linie imperialistischer Geschichte darstellt, daß der Alltag wie das geistige Erleben der Menschen in der DDR die Erlebniswelt des Sozialismus ist, daß Kunst und Kultur zur sozialistischen Nationalkultur geworden sind. Man beklagt es doch lauthals, man bekämpft es, man wollte es verhindern, und muß nun Jahr um Jahr eine immer erfolgreichere sozialistische Entwicklung hinnehmen. Muß seine eigene Politik darauf einrichten, daß zwei Staaten mit entgegengesetzten Gesellschaftsordnungen existieren. Einheit der Kultur — was in Wirklichkeit in dieser Bundesrepublik fortlebt, ist die Unterdrückung einer selbständigen Kultur der Arbeiterklasse und die Zerstörung demokratischer Elemente, ja sogar bürgerlich-humanistischer Traditionen, so daß nicht einmal für dieses Land von einer einheitlichen Kultur die Rede sein kann. Was Wunder, daß das Ganze auf das Herableiern von Beschwörungsformeln hinausläuft: „Der entscheidende Faktor der Nation ist der Wille" 38, „Allein das permanente Beharren auf der einen deutschen Nation" mache klar, „daß es so etwas wie die eine Nation im Bewußtsein der Deutschen noch geben muß" 3 9 . Gewiß, hier soll eine Fiktion herbeigeredet werden, aber was dahinter steckt, ist ebensowenig fiktiv wie die Gefährdung der verfassungsmäßigen Grundrechte. (1974) 4, S. 103-115

Hannes Stütz

Kultur und kapitalistische Krise

1 Die Neujahrsbotschaften der Herrschenden und ihrer Offiziellen eskalieren von Jahr zu Jahr. Erreichten uns 1973/74 die G r e n z e n d e s W a c h s t u m s , war es dieses Jahr bereits eine T e n d e n z w e n d e . Für 1975/76 ist Schlimmstes zu befürchten: Zurück, zurück — aber wohin? Und w o f ü r ? Unter unseren A u g e n vollziehen sich die merkwürdigsten Dinge. Die gute alte bürgerliche Dampfdemokratie würde heute zu schnell fahren — und wird zum „Diktat der Mehrheit". (Doch davor stehen die Notstandsgesetze.) In der U N O , zu Korea-Kriegszeiten hoch gelobtes Gewissen des Erdballs, wütet jetzt gar die „Tyrannei der Mehrheit". Und was über Jahre als edelste menschliche Tätigkeit und Adelsbrief des Systems gepriesen wurde — Konsumieren —, wird über Nacht zur lästigen Eigenschaft verzogener Arbeiter und Angestellter. Fehlt nur noch, daß der Kanzler im nächsten Bericht zur L a g e der Nation dem „ K o n s u m t e r r o r " den K a m p f ansagt. D e m Gebrodel von künstlichen Nebelwänden, Beschwörungsformeln und Gesundbeterei entsteigt der Geist aus der Flasche — die Krise als solche und an und für sich. Für die C D U / C S U ist die Regierungskoalition daran schuld. Für die Regierungskoalition die „Weltwirtschaft" und die Ölscheichs und für den SPD -Vorwärts die Maßlosigkeit der Arbeiter: „Wir werden nur weiterkommen und 1975 einen besseren K u r s steuern können, wenn wir als Lehre aus dem Jahre 1974 dies mitnehmen, daß es unser aller Maßlosigkeit war, die uns in die Krise geführt h a t . " 1 55

So bietet die Krise fast jedem etwas. Der CDU/CSU Luft zum Aufblasen, der SPD-Führung den alle Zweifel ausräumenden Nachweis ihrer Ehe mit diesem System und den Großaktionären die Möglichkeit zu Beutezügen und Disziplinierungsaktionen größeren Zuschnitts. Nur den Arbeitern, Angestellten, Bauern, der Jugend, der Intelligenz, dem Mittelstand — dieser stets gefährlichen potentiell radikalen Minderheit also im sonst so,.vortrefflich funktionierenden Gefüge des staatsmonopolistischen Kapitalismus — bietet die Krise nichts als Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit, Geldentwertung, Reallohnabbau, gesteigerte Ausbeutung und Existenzunsicherheit. Darüber hinaus im Angebot: Anschauungsunterricht über die „beste und freieste Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung der Welt". Aber angeblich soll die mit der aktuellen Krise nicht das Geringste zu schaffen haben. Vielmehr ist diese über jene h e r e i n g e b r o c h e n , möglicherweise aus dem interplanetarischen Raum. Auf keinen Fall haben die 1,5 Prozent, die bei uns und anderswo westlich über 75 Prozent des Produktivvermögens verfügen, und denen die Regierung, natürlich im Interesse von uns allen, die Milliarden in den Schlund scheffelt (Investitionsneigung kitzeln!), auch nur das Geringste damit zu tun. Infolgedessen ist die Kennzeichnung der T a l f a h r t , des N u l l w a c h s t u m s , der S t a g n a t i o n als verschärfter Ausdruck der allgemeinen Krise der kapitalistischen Besitz- und Machtverhältnisse völlig von der Hand zu weisen.

2 Die Krise der „Weltwirtschaft", der „Regierungskoalition", der „Energie", der „Währung", des „Rationalismus", der „bürgerlichen Moral" — die wechselnde Bezeichnungen, aber nie ihren wahren Namen haben darf — hat einschneidende Auswirkungen im Kulturbereich. Von der Preisflut und der Geldentwertung ist die kommunale Kulturarbeit im Nerv getroffen. Bei Theater, Oper, musikalischem Leben, bei öffentlichen Bibliotheken und Volks56

hochschulen, bei der kulturbezogenen Jugendarbeit, bei der Unterstützung der verschiedensten privaten und kulturellen Initiativen setzen die Rotstifte der Stadtkämmerer an. Der aufgebrachten Bevölkerung sollte das mit der demagogischen Frage schmackhaft gemacht werden: Sollen wir Kindergärten bauen oder Theater spielen? Die Verzichtbereitschaft, die Schicksalsergebenheit, das so forsch aufgemachte Ja zum Kulturabbau, die in dieser Fragestellung enthalten sind, gehören zu den faulsten Früchten auch sozialdemokratischer Ernte. Leider lassen sich immer noch viele fortschrittlich Denkende, vor allem junge Menschen, auf diesen Hinterhalt ein und finden sich unversehens in der Nähe der großkapitalistischen Kulturdemontagetruppen, die inzwischen schon nach der Devise operieren: Weder das alte Theater noch die neuen Kindergärten. Wird durch die staatsmonopolistische Steuerpolitik die Kulturarbeit der Kommunen zunehmend erschwert, so laufen in der Kulturindustrie die Konzentrationsprozesse weiterhin auf Hochtouren. Reihenweise bleiben mittlere und kleine Verlage und Presseunternehmen auf der Strecke, werden ganze Vcrlagsreihen und -programme eingestellt, wird auf Literatur, die nur ungenügend Rendite verspricht, zugunsten der Bestseller-Macherei verzichtet. Die Elefanten liefern sich Zweikämpfe und/oder halten Hochzeit. Auf der Strecke bleibt in jedem Falle die Kultur. Statt über Fusionsstop, reden die Bonner Parteien über Fusionskontrolle, statt Springer zu enteignen und in demokratisch kontrolliertes Gemeineigentum zu überführen, wird er um Klugheit bei der Wahrung seiner Monopolinteressen gebeten. Diese Prozesse und diese Politik schneiden tief in das Leben und die Arbeit aller im Kulturbereich Tätigen ein. Arbeitsplatzunsicherheit, Arbeitsplatzverlust, weniger und schlechter bezahlte Arbeitsmöglichkeiten treffen Schriftsteller, Werbegrafiker, Symphoniker, Sekretärinnen, Bibliothekare, Journalisten, Kameraleute, Bildhauer, Cutter, Maler, Drucker, Setzer, Buchbinder, Tontechniker, Schauspieler, Bühnentechniker — alle. Zur sozialen Lage der Künstler haben inzwischen alle etablierten Parteien bei der Bundestagsdebatte 57

über den vom Bundesarbeitsministerium vorgelegten „Künstlerbericht" ihr Scherflein in den Klingelbeutel geworfen. Alle beteuerten nacheinander ihre „Sorgen". Beschlüsse wurden nicht gefaßt. Ein Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion erklärte, die Künstler hätten ein Anrecht darauf, „daß wir uns um sie mühen", aber das Halten von Versprechen sei leider „schwierig geworden". Die weitere Angleichung der sozialen Lage der Kulturschaffenden an die der Arbeiterklasse und der anderen Werktätigen unseres Landes ist unverkennbar. Wie den Arbeitern wird vermutlich auch den Kulturschaffenden nichts geschenkt werden. Die begonnene Annäherung an die Bewegungen und Organisationen der arbeitenden Bevölkerung fortzusetzen, muß eigentlich die logische Konsequenz dieser Situation bilden. Sicher gehört dazu als erstes der engere gewerkschaftliche Kontakt zwischen technischen, Verwaltungs- und redaktionellen Kräften in den Kulturbetrieben selbst. Dies scheint auch erforderlich, um den immer häufiger offen oder unter dem Vorwand von Einsparungen praktizierten Maßregelungen, Zensurmaßnahmen und politisch bedingten Entlassungen wirkungsvoller entgegentreten zu können. Der Anspruch des Großkapitals auf geistige Gleichschaltung aller Lebensbereiche in seinem Interesse tritt immer unverhüllter auf. Von „Pluralismus" im geistigen und öffentlichen Leben ist kaum mehr die Rede. Er wurde zwar nie praktiziert, aber viel besungen. Auch die Sänger verstummen angesichts der Berufsverbote, der Angriffe auf die Tariffreiheit, auf die Gewerkschaftsbewegung insgesamt, der Eingriffe in Rundfunk- und Fernsehprogramme, des Schachers um Moderatoren, angesichts der mit tierischem Ernst geführten Parlamentsdebatten um ein Lied wie den Baggerfübrer Willibald von Dieter Süverkrüp, angesichts der Staatsaktion um die Plakate und Collagen von Klaus Staeck. Eines wird anhand solcher Praktiken deutlich: Die großkapitalistische Besatzungsmacht unseres Landes, die uns am liebsten auch nach Besatzungsrecht regieren ließe, hat zwar viele Mittel der kulturellen Formierung und Unterdrückung, aber trotzdem schon lange kein Konzept mehr, wie Kunst und Kultur zur höheren Weihe ihrer Dividenden und ihrer 58

Macht zu entwickeln wären. Was bleibt, ist der Köder des Antikommunismus. Aber auch hier haben die Opfer inzwischen bestimmte Erfahrungen sammeln können und sind vorsichtiger geworden. Schließlich haben wir Alexander Solschenizyn aus der Nähe kennengelernt. Wenn es um die Formulierung der eigenen kulturpolitischen Positionen geht, herrscht in der Direktionsetage völliges Chaos. Das beste Anschauungsmaterial dazu lieferte die Novembertagung der Bayerischen Akademie der Künste, von der aus der so exakte Begriff der T e n d e n z w e n d e einer breiteren Öffentlichkeit präsentiert wurde. Die erlauchte Versammlung konstatierte, daß es ihr zwar noch einigermaßen gelänge, die Tendenzwende im Negativen zu umreißen: nämlich im „Innewerden unserer Grenzen und Bedingtheiten", in der „Abkehr von der kulturrevolutionären Bewegtheit der letzten Jahre", dem „neomarxistischen Rumoren", dem „reformerischen Überschwang". Wohin sich nun die Tendenz richtet, also positiv, das war schon schwerer auszumachen. Der Hausherr der Akademie erwartete eine „moralische Umkehr", ein anderer einen „Prozeß der Selbstdisziplinierung", ein dritter „eine neue sinnbegehrende Subjektivität". Den Vogel schoß der Münchner Philosoph Spaemann ab; er definierte, die Tendenzwende bestehe „im Schwächerwerden einer Tendenz". Kein Wunder, daß Dahrendorf vorschlug, statt von Tendenzwende von Themenwechsel zu sprechen. Er z. B. habe schon vor der in Bewegung geratenen politischen Landschaft die Forderung nach „Bildung als Bürgerrecht" aufgestellt, um davon nichts zurückzunehmen. Er wechsle jetzt nur das Thema, indem er feststelle: Die damals postulierte Chancengleichheit habe sich inzwischen in einer für ihn nicht akzeptablen Weise zum Drängen nach tatsächlicher Gleichheit verändert, deshalb rede er heute über Gründe für die Ungleichheit. So stand denn auch am Ende dieser Tagung die mit Unverfrorenheit getarnte Hilflosigkeit des Großkapitals und seiner Sprecher gegenüber den Bedürfnissen der arbeitenden Bevölkerung. 59

3 Unübertroffen hat Springers Welt in einer Neujahrsanzeige in eigener Sache ihre Wünsche an den Nikolaus formuliert: „Der Wind hat sich gedreht. Viele Menschen in unserem Land sind der ideologischen Herausforderung müde. Sie suchen wieder nach der Bewahrung des Bewährten. Sie verlangen nach Sicherheit vor radikaler Gewalt. Sie wollen einen Staat mit Autorität. Sie fragen nach Ordnung in Freiheit. Sie fordern die Rückkehr zur Leistung. Sie sehnen sich nach demokratischer Solidarität. Sie wenden sich von Ideologien ab und Idealen zu. Sie sind wieder bereit, sich zu belasten." 2 Das ist bei aller Blumigkeit ein Programm: Nicht so viel nachdenken, leistungs- und entlassungsbereit sein, so wie es ist, wird es nie wieder. Im Klartext ist das alles schon nachzulesen in der Erklärung 7ji gesellschaftspolitischen Grundsatzragen, die die Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA) am 19. August 1974 der Öffentlichkeit präsentiert hat. Hier wird der totale Machtanspruch des Großkapitals über Wirtschaft, Staat und Gesellschaft in der Deutlichkeit von dermals Mein Kampf ausgesprochen. Schließlich soll jeder wissen, woran er ist. Allen linken Kräften, insbesondere der DKP und den Gewerkschaften, aber auch jenen Sozialdemokraten, die für Reformen im Interesse der arbeitenden Bevölkerung eintreten, wird schonungsloser Kampf angesagt. Die gewerkschaftlichen Mitbestimmungsforderungen erscheinen als die Absichten von Verfassungsfeinden. Die Reallöhne müssen nach dieser Erklärung weiter abgebaut und die staatlichen Sozialleistungen rigoros beschnitten werden. Private Eigentum an den Produktionsmitteln nutzt nicht einer Minderheit, sondern ist zu sozialem Nutzen und mindert Fehlentscheidungen. Das Klischee vom Gegensatz zwischenKapital und Arbeit stammt aus der Mottenkiste des vorigen Jahrhunderts. Kein sozialistisches Rezept wäre mit den Schwierigkeiten der Vergangenheit und Gegenwart auch nur annähernd so fertig geworden wie unsere marktwirtschaftliche Ordnung. Freiheit und privates Unternehmertum sind eine Einheit 60

(fürwahr — für die Unternehmer). Renten sollen eingefroren, die Gesundheitssicherung gelockert werden, demokratische Berufsausbildung, integrierte Gesamtschule, Gesamthochschule dürfen auf keinen Fall stattfinden. Paritätische Mitbestimmung ist des Teufels, ebenso wie die Demokratisierung aller Lebensbereiche oder die „Kollektivierung der Vermögensbildung". Ausgerechnet dieses stockreaktionäre Programm soll dem Kapitalismus helfen, sich in der Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus zu behaupten? Offensichtlich sehen maßgebliche Herren in den Vorstandsetagen keine andere Lösung oder sie scheuen jedes Risiko und treten die Flucht zurück an. Auch wenn es absurd klingt, hat es doch Methode. Es geht um grundsätzliche Positionsgewinne für das System der Großbourgeoisie. Die Bereitschaft der Bevölkerung, alle offenen und versteckten, alle akuten und chronischen Krisen des Kapitalismus bereitwillig hinzunehmen, soll durch Ausschaltung ihrer Organisationen und Indizierung ihrer Erwartungen an die Zukunft erzwungen werden. Der endgültige Bruch selbst mit den Prinzipien des bürgerlichen Humanismus muß zu diesem Zwecke vollzogen werden. Allen Emanzipationsbestrebungen, Entwicklungsprozessen und jedem gesellschaftlichen Fortschritt muß entgegengetreten werden. Ab hier und heute soll Geschichte nicht mehr stattfinden, die Zukunft gestrichen sein. Es ist ein ahistorisches Konzept, das gegen die Menschen und gegen die Arbeiterbewegung entworfen wurde und umgesetzt wird. Es hat deswegen langfristig keine Aussicht auf Erfolg und ist trotzdem für unsere menschliche Existenz eine so tödliche Bedrohung, daß sie über viele Weltanschauungs- und Parteigrenzen hinweg das Verständnis der demokratisch denkenden Bürger untereinander und ihre gemeinsamen Aktionen gegen den Auftritt des Mittelalters im 20. Jahrhundert eiligst befördern muß. Wäre das Großkapital allein auf der Welt, wäre z. Z. unter Umständen die faschistische Form seiner Herrschaftsausübung sein Traum. Aber der Sozialismus, wie immer es gelingen mag, ihn zu attackieren und zu kritisieren, und die Erwartungen, Ansprüche und Forderungen der arbeitenden Be-

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völkcrung unseres Landes sind nicht aus der Welt zu schaffen. Die Rechnung der Herrschenden ist im wahrsten Sinne des Wortes ohne den Wirt und ohne die Welt gemacht. Das begreifen auch die etablierten Parteien, die die Intentionen der Großbourgeoisie gesetzlich und politisch umsetzen. Schönheitskorrekturen, taktische Aufbereitung der Gedankengänge der geschrumpften Flick-Erben sind unumgänglich, will man die Bevölkerung bei der Stange halten. Tendenzwendigkeit wird auf diesem Hochseil zur besthonorierten Parteieigenschaft. Stürzt eine ab, ist das Fangnetz gezogen und die nächste steht bereit — M a c h t w e c h s e l ! Die Kumpanei zwischen den Hauptdarstellern wird neuerdings gerne mit „Solidarität der Demokraten" bezeichnet. Außerdem wissen die Artisten manchmal auch besser als der Impresario, was ankommt und was nicht. So räumte der Generalsekretär der CDU, Biedenkopf, jüngst ein, die CDU habe zu lange ein zu enges Verhältnis zu Unternehmerverbänden gehabt. „Die Union hat jedoch ihre Beweglichkeit schneller und stärker zurückgewonnen, als das Mitte der 60er Jahre zu vermuten war." Außerdem zeichnet sich bei den Sozialdemokraten „ein Wandel im Denken ab, der für die weitere Diskussion des Gegensatzes, der Unterschiede u n d d e r G e m e i n s a m k e i t zwischen der Position der Union und der Position des demokratischen Sozialismus von entscheidender Bedeutung sein wird" 3 . Der Orientierungsrahmen 1985 der SPD läßt vermuten, daß Biedenkopf bei seiner Suche nach den Gemeinsamkeiten fündig werden wird. Vieles steht heute für die Herrschenden auf dem Spiel. In der angeführten BDA-Erklärung ist die Rede von „gesellschaftspolitischer Unruhe", von der „Woge der Kapitalismuskritik" und von der „Wiederbelebung des Marxismus". Mit Recht heißt es weiter: „Der Konflikt über die Richtung, in die sich die gesellschaftliche Ordnung fortentwickeln soll, ist heute totaler und tiefgreifender als zu Beginn der Bundesrepublik." In einer solchen Situation erscheint Elastizität angebracht — elastische Provokation nach außen, elastischen Druck nach innen eingeschlossen. So müßte sich auch eine mögliche 62

CDU-Regierung wohl neben einer Verschärfung gezielter Repressionsmaßnahmen vorwiegend der Methoden der Integration der arbeitenden Bevölkerung in das System und einer „Reformpolitik nach Maß" (wie auch jetzt praktiziert) bedienen. Biedenkopf und Kohl signalisieren es.

4 Es ist einsichtig: Zur Durchsetzung der verschiedenen Roßtäuscherkonzepte muß der Verbreitung der staatsmonopolistischen Ideologie erstrangige Bedeutung zugemessen werden. Die Auseinandersetzungen um Nachrichten-, Kommentar- und Magazinpolitik bei Rundfunk, Fernsehen und Presse, aber auch um Unterhaltungsinhalte in Filmen, Schlagern, Shows usw. sprechen eine deutliche Sprache. Jedoch auch andere Kultureinrichtungen werden beachtet. Eine „Auflösung der linken Diktatur in Universitäten und anderen Bildungseinrichtungen, in Rundfunksendern, Kunstvereinen und Theaterdramaturgien" gehört für Springers Welt zu den schönsten Aussichten des neuen Jahres. In der massenhaft verbreiteten kulturellen Produktion stehen die Aktien des Großkapitals vergleichsweise immer noch am besten. Kulturwaren wie 'Landserhefte oder Lore-Romane, auf ähnlichem Niveau fabrizierte Unterhaltungserzeugnisse in Film und Fernsehen repräsentieren die geistige Impotenz des Systems: mit einem groben Antikommunismus, mit der Propagierung profit- und beherrschungsdienlicher Verhaltensmuster und dazu eines Bildes vom Menschen als Objekt nicht identifizierbarer Gewalten. Aber auch in der massenhaft verbreiteten kulturellen Produktion beginnen sich gewisse Differenzierungen abzuzeichnen. Neben aktuell systemdienlichen oder allgemein systembestätigenden Erzeugnissen tauchen immer öfter Versuche auf, „allgemein menschliche" Positionen zu reflektieren oder gar Ansätze zu Aussagen, die den aktuellen kapitalistischen Interessen z. B. zuwiderlaufen, indem sie zu viel Tendenz zur L e b e n s q u a l i t ä t , zu viel reformerische Akzente aus den frühen siebziger Jahren transportieren: Hej Boss, ich brauch mehr Geldl 63

Ist die massenhaft verbreitete kulturelle Produktion immer noch überwiegend von großkapitalistischen Interessen geprägt, finden wir im Bereich des anspruchsvolleren künstlerischen Schaffens, das inzwischen durch die Entwicklung der Verbreitungstechniken und die gewachsenen Kulturbedürfnisse keineswegs mehr ein Schattendasein zu führen braucht, kaum den Ansatz einer Konzeption der Herrschenden für seine aktuelle Nutzung und relativ wenig Erzeugnisse, die positiv für das System plädieren. Im elektronischen Musikschaffen wächst das Hätschelkind Stockhausen einfach nicht weiter, und allerorten, ob in Donaueschingen oder bei der Gesellschaft für neue Musik, wird tiefe Ratlosigkeit verzeichnet, wie es denn in dieser Ecke weitergehen könnte. Barometer für die Unsicherheit in der bildenden Kunst sind die zaudernden Anleger in modern art, die nicht mehr zu entscheiden vermögen, wo sich hier eine einigermaßen sichere Anlage auftut. Haben die Abstrakten endgültig abgewirtschaftet? Oder kann man sie nochmal hochpäppeln? Was ist mit Op- und Pop- und Landart? Ist es zu verantworten, die Realisten, etwa gar die sozialistischen, auch noch durch Kauf zu fördern? In der ganzen Theaterlandschaft der Bundesrepublik gab es mit einer Ausnahme keine Aufführung der vergangenen Spielzeit, von der das Großkapital sagen könnte, hier wäre etwas unmittelbar seinen Interessen zugeflossen. Meistgespieltes Stück der Spielzeit 1973/74: „Der Tag, an dem der Papst gekidnappt wurde". An dritter Stelle: „Die neuen Leiden des jungen W. Auf vorderen Plätzen Kroetz, Turrini, Faßbinder. Die Ausnahme: Die Aufführung des Archipel Gulag durch die Städtischen Bühnen Essen. Heinrich Boll hat bei seinem couragierten Fernsehauftritt für den zensierten Klaus Staeck das Verhältnis zwischen Großkapital und Literatur mit der Bemerkung umrissen, man solle doch statt seiner (und er stellvertretend genannt für schätzungsweise ein halbes oder ein Dutzend Kollegen) etwa Zehm oder Ziesel oder auch — mit Jugendgedichten — Schleyer dem Ausland als Repräsentanten der Bundesrepublik vorstellen. Das kann sich zumindest im Moment noch niemand vorstellen, weder gegenüber dem westlichen Ausland (Chile und Spanien vielleicht ausgenom64

men) noch gar gegenüber den sozialistischen Ländern. Ein Beamter des Auswärtigen Amtes hat vor Jahren Schwierigkeiten bundesdeutscher auswärtiger Kulturpolitiker am Beispiel Indien umrissen: Es sei eben schwer möglich, die genagelten Bretter eines Bernhard Ücker im Land der Fakire als Kunst auszustellen, wenn man nicht Zusammenstöße riskieren wolle. Dies scheint inzwischen nicht nur für Indien und nicht nur für genagelte Bretter zu gelten. Ein Dilemma der Großbourgeoisie wird hier offensichtlich: Sie muß sich bei ihren immer schwerer werdenden Versuchen, Kunst und Kultur ideologisch in den Griff zu bekommen, auf eine verhältnismäßig kleine Zahl von Künstlern, Redakteuren, Lektoren usw. stützen, die selbst immer stärker von den Auswirkungen der staatsmonopolistischen Oligarchie betroffen sind. Auch den im Kulturbereich selbst Beschäftigten werden durch den Tendenzschutzparagraphen des Betriebsverfassungsgesetzes die einfachsten Mitbestimmungsrechte untersagt, vom Anspruch aller Arbeiter und Angestellten und ihrer Organisationen auf entscheidende Mitbestimmung in diesen für sie selbst und die Entwicklung der ganzen Gesellschaft immer wichtigeren Bereichen ganz zu schweigen. Der Medien- und Kulturbereich soll deshalb von allen Mitbestimmungsbestrebungen hermetisch abgeriegelt werden. Soll paritätische Mitbestimmung in den Großbetrieben der materiellen Produktion in die Ecke der Verfassungsfeindlichkeit gedrängt werden, so grenzt diese Forderung bei den ideologieverbreitenden Einrichtungen und Betrieben an Hochverrat an den Interessen der hundert reichen Familien der B R D . Hier bestätigt sich das Hauptmerkmal der monopolkapitalistischen Strategie: Demokratie selbst ihrer bürgerlichen Inhalte zu entleeren und auf repräsentative parlamentarische Spielregeln zu reduzieren, die von zweieinhalb systemtreuen Parteien im Wechsel oder in wechselnden Koalitionen gesetzgeberisch, ausführend und in der Besetzung der wichtigsten Positionen der Rechtsprechung gehandhabt werden. In der materiellen und geistigen Produktion und in allen anderen gesellschaftlichen Bereichen soll, soweit irgendmöglich, die 5

Reinhold, Kürbiskern

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unmittelbare Verfügungsgewalt des Kapitals erhalten oder wiederhergestellt werden. (Vergleiche dazu z. B. die CSUBemühungen um die Zulassung des Privatfernsehens.) Unvergessen in diesem Zusammenhang ist der Ausspruch des ehemaligen Industriekurier aus den sechziger Jahren: „Die Demokratisierung der Wirtschaft ist so unsinnig wie die Demokratisierung der Schulen, der Kasernen und der Zuchthäuser." Heinrich Lummcr, Westberliner CDU-Fraktionsgeschäftsführer ergänzt noch um Universitäten, Polizei und Kirchen. Anläßlich der Künstlerdebatte im Bundestag baut die Frankfurter Allgemeine weiter aus: „Die Bemühungen der in den letzten Jahren erstarkten Berufsverbände der Künstler zielen auf Demokratisierung, Umverteilung und Mitbestimmung, die es im Bereich qualitativer und ästhetischer Normen nicht geben kann." 4 Wenige Tage später ruft dieselbe Zeitung auf zur Generaloffensive gegen die Mitbestimmung in der materiellen Produktion. Dabei geht es bei der Forderung nach paritätischer Mitbestimmung ja noch keineswegs darum, daß die überflüssigste Klasse, die die Menschheitsgeschichte bisher erlebt hat, auf ihren Profit verzichtet und von der Bühne abtritt. Man möchte als Otto Normalverbraucher, der von den verschiedenen Entscheidungen in seiner Existenz betroffen und getroffen ist, zunächst ja nur mal ganz bescheiden mitbestimmen, ob etwa ein Betrieb ins Ausland verlagert wird oder nicht, w^s mit dem Gewinn angeschafft wird, wie hoch der Lohnanteil sein kann und was man in Gottes Namen dem 1,5 ProzentSyndikat als Dividenden-Lösegeld abtreten muß, damit es einem nicht den Laden demoliert. Aber das Syndikat und seine Parteien weisen diesen noblen Vorschlag zurück. Die alte Gewerkschaftsforderung nach gläsernen Taschen würde damit ihrer Verwirklichung näherrücken, die Frisuren, Toupets und künstlichen Glatzen der Konzernbilanzen wären plötzlich zu besichtigen, der Wirtschaftskriminalität (gesellschaftlicher Einnahmeverlust jährlich bis zu fünfzig Milliarden!) wäre nur noch unter erschwerten Bedingungen nachzugehen, Massenentlassungen, Betriebsstillegungen und -Verlagerungen könnten zumindest nicht mehr aus heiterem Himmel kommen, Arbeiter, Angestellte und ihre Gewerkschaften 66

könnten sich frühzeitig rühren, neben die Planung des maximalen privaten Profits würde als Element die stärkere Berücksichtigung der Bedürfnisse der Werktätigen treten •wollen. Das Syndikat ist offenbar der Ansicht, daß sein Reibach und die Befriedigung von Massenbedürfnissen nicht unter einen Hut gehen. Es hat Recht damit. Wer gegen das Volk planen, wirtschaften und regieren muß, kann keinen brauchen, der ihm über die Schulter schaut. Doch es bleibt die Frage, wie lange noch die arbeitenden Menschen sich mehr oder weniger damit abfinden, Objekt fremder Interessen zu sein, wie lange es noch den etablierten Parteien gelingt, uns alle vier Jahre ihre „Entscheidungsschlacht" vorzuspielen, wie lange noch der Souverän des Grundgesetzes seiner legitimen Rechte beraubt werden kann: seinen entscheidenden Einfluß in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft zum Vorteil von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft auszuüben.

5 Auch im Kulturbereich kann man von einer Verschärfung der Widersprüche zwischen Arbeit und Kapital bzw. kapitalistischem System sprechen, die eine neue, in der BRD bisher nicht gekannte Situation schafft. Sie besteht einmal darin, daß zunehmend breitere Kreise der Arbeiterklasse und der arbeitenden Bevölkerung auch mit den kulturellen Mißständen des Systems konfrontiert sind. Die sich ausweitenden Konfliktfelder reichen vom Lehrstellenabbau, der wohl brutalsten Form des gegenwärtigen großkapitalistischen Kulturabbaus, über die Verschmutzung der Umwelt, die Unbewohnbarkeit der Städte, die Spekulantenschläge in die Altstädte, gerne auch Sanierung geheißen, bis zum Inhalt der Rundfunk- und Fernsehprogramme, zu Theaterabbau und Ausstellungs- und Museumspolitik. Die kulturellen Bedürfnisse der arbeitenden Bevölkerung werden dabei immer deutlicher sichtbar: im Spiegel der Nichtbefriedigung und als Anspruch. Zum anderen nimmt* unter den unmittelbar im Kulturbereich Beschäftigten und den vielen freiberuflichen Kultur5»

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schaffenden die Unruhe über soziale Unsicherheit, Konzentrationsprozesse, Zensur und Kulturabbau zu. Noch scheint es nicht entschieden, wohin sich diese Unruhe wenden wird — ob zu entschlossener und taktisch kluger Wahrnehmung der eigenen Interessen, oder ob die Angst, die von den Herrschenden gezielt verbreitet wird, zunächst die Oberhand gewinnt. Ein dritter Faktor der neuen kulturellen Situation der BRD besteht darin, daß die Herrschenden deutliche Schwierigkeiten zeigen, über primitive Repression hinaus weiterführende Vorstellungen zu entwickeln, wie ihren Interessen in diesem Bereich gedient werden könnte, was sie der kulturellen Entwicklung im Sozialismus, vor allem auch in der DDR entgegensetzen sollten und wie die großkotzig ausgegebenen Aktien auf die „Einheit der Kultur und der Nation" wenigstens an einigen Ramschtischen zu handeln wären. Ist es übertrieben zu sagen, daß nahezu alles, was an wirklicher Kultur heute in unserem Land entsteht oder erhalten wird, trotz und gegen sein gegenwärtiges System entsteht und erhalten wird? Auch daraus wäre die Schlußfolgerung zu ziehen, daß im Kulturbereich der Kampf um Mitbestimmung, demokratische Strukturen und Reformen im Interesse der arbeitenden Bevölkerung an vorderer Stelle der Tagesordnung zu stehen hätte. Er kann aber nicht von den unmittelbar im Medienund Kulturbereich Beschäftigten allein durchgestanden und gewonnen werden. Es ist hier keine Pflichtübung in Sachen „Rolle der Arbeiterklasse" zu erledigen, sondern der in objektiven Prozessen neu begründete Zusammenhang bewußt zu machen: Mitbestimmung in der materiellen und geistigen Produktion gehört zusammen; nur als diese Einheit in den Forderungen, in den Aktionen ist sie zu verwirklichen. „Wie schwer ist es, die eigenen Erfahrungen zu verstehen?" — Martin Walsers Frage, vor reichlich zwei Jahren gestellt, ist aktuell geblieben, auch wenn inzwischen die für die Herrschenden so nützliche These an Wirksamkeit verliert, es gebe eine Besonderheit des Medien- und Kulturbereichs, die Mitbestimmung ausschließe. So haben sich trotz verschärfter antigewerkschaftlicher Attacken auch im letzten Jahr das Verständnis von Gemeinsamkeit und weitere organisationspolitische 68

Konsequenzen durchgesetzt. Das zeigen Beschlüsse des Gewerkschaftstags der IG Druck und Papier, besonders die Forderung nach ersatzloser Streichung des Tendenzschutzparagraphen, die vom Frankfurter VS-Kongreß verabschiedeten Entschließungen für Friedenssicherung und Rüstungsabbau als vorrangige Kulturaufgabe, gegen Berufsverbote und für rasche praktische Schritte in Richtung Medienwirtschaft, schließlich auch die gewerkschaftsorientierten Diskussionen und Entschließungen in anderen Verbänden der Kultur- und Kunstschaffenden. So sind die Voraussetzungen gewachsen, um dem Gedanken der Mitbestimmung auch im Bereich der geistigen Produktion und des kulturellen Lebens unter der Industriearbeiterschaft und in ihren Gewerkschaften breiteren Raum zu verschaffen. Das bedeutet zunächst, Beschlüsse wie die der IG Druck und Papier zum Allgemeingut der Gewerkschaftsbewegung zu machen. Dabei wird es besonders darauf ankommen, das Arbeitsinteresse ganz unmittelbar anzusprechen; stärkere Verbreitung verdient dabei besonders die Arbeiterforderung, daß von den Belegschaften der Großbetriebe gewählte Betriebsräte zusammen mit Gewerkschaftsvertretern die legitimierten Aufsichtsräte in den Medien darstellen, denen mindestens die Hälfte der Sitze gebührt. Aktuelle Anlässe, das gemeinsame Bedürfnis nach Mitbestimmung auch im Kulturbereich zu manifestieren, bieten sich vor allem überall, wo sich Belegschaften und andere Gruppen der Bevölkerung zu wehren haben gegen konzentrationsbedingte Entlassungen in Betrieben, wo sie aktiv werden gegen Kulturabbau, Zensureingriffe und Berufsverbote in Bereichen der Kommunal-, Landes- und Bundespolitik. Und gerade hier bestätigt sich immer wieder: der Erfolg hängt von der Breite des demokratischen Bündnisses ab. Das ist die Antwort an eine Rechte, die sich neu formiert — quer durch alle etablierten Parteien, mit dem Schwerpunkt CSU/CDU. Daß sie zu allem fähig ist, wenn man sie gewähren läßt, wissen wir, seit sie Deutschland ins Elend und die Welt in den Krieg stürzte. Daß sie durch den heroischen Kampf des Sowjetvolkes und der Völker der Antihitlerkoalition besiegt wurde, feiert die fortschrittliche Menschheit 1975 69

zum dreißigsten Male. Daß sie ihre historische Niederlage nicht rückgängig machen konnte, wurde in den Verträgen von Moskau, Warschau und Berlin besiegelt. Daß sie auch in der Bundesrepublik nicht noch einmal an Boden gewinnt, liegt jetzt am gemeinsamen Handeln aller Demokraten und in der Zurückweisung aller Beschlüsse, Verordnungen, Erlasse, Gesetze und Praktiken, die dazu dienen, diese Einheit zu untergraben oder nicht zustande kommen zu lassen. Dies ist die dringendste Forderung der Situation an alle, die arbeiten: Die eigenen Interessen zum Motor des Handelns, die objektiven Gemeinsamkeiten zum Ausgangspunkt gemeinsamer Initiativen zu machen. (1975) 2, S. 157-167

Kaspar Maase

Amerikanisierung der Kultur in der BRD?

Fakten und Thesen Die documenta 5, das Ereignis der BRD-Kunstszene 1972, war dominiert von den Werken des Foto-„Realismus", die damit als vorläufig letzter Schrei ins Geschäft kamen. Schon in der Vorschau auf diese Welle stellte Karl Korn in der Frankfurter Allgemeinen die wesentliche Gemeinsamkeit mit dem vorangegangenen „Kunst-Müll" fest: „Die Wahrheit ist, daß die neuen Schinken eines sogenannten Realismus eben daher kommen, woher auch der Müll gekommen war, aus Amerika. 1 " Der Wirtschaftsteil des gleichen Blattes meldet am 17. Februar 1973: „Die amerikanische, speziell auf jüngere Leserinnen zielende Frauenzeitschrift Cosmopolitan wird durch Gruner & Jahr in der Bundesrepublik etabliert." Laut Vertrag „wird Cosmopolitan ab Mai als fester Bestandteil der Zeitschrift Jasmin erscheinen". Schon auf dem Markt sind drei miteinander konkurrierende Versuche, das amerikanische Konzept der true stories, der angeblich selbsterlebten Geschichten, auch in der BRD profitabel an die Frau zu bringen. Neben Springers Meine Geschichte und Bauers Wahre Geschichten hat der Alsdorfer Williams-Verlag, eine Tochtergesellschaft von Warner Communications, Mein schönster Urlaub herausgebracht.2 Im September 1972 schließlich beteiligte sich die US-Werbeagentur Benton & Bowles mit 25 Prozent an der westdeutschen Firma Brose und Partner, die unter den Werbegesellschaften der BRD den elften Platz einnimmt.3

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Kapital- und Marktpositionen der US-Monopole Beginnen wir mit dem Handfesten: dem US-Kapital in der BRD. Ende 1968 waren nominal 7,862 Milliarden US-Kapital in westdeutschen Firmen angelegt, 43,6 Prozent des gesamten Auslandskapitals (1964: 34,1 Prozent), 8 Prozent des Nominalkapitals aller Kapitalgesellschaften in der BRD. Nach amerikanischen Angaben hatten die Investitionen einen Buchwert von ca. 15 Milliarden, der reale Vermögenswert wird auf 45 Milliarden DM geschätzt. Zunächst hat es den Anschein, als sei der direkte Einfluß in der Kulturindustrie gering. Time International Inc. hat eine 33,3 prozentige Beteiligung am Rowohlt-Verlag, der wiederum mit neun anderen im Deutschen Studien-Verlag am Medien-Verbund profitieren will. Harcourt, Brace & Jovanvich kauften wissenschaftliche Verlage in Frankfurt, München und Bad Homburg; über den Gehlen-Verlag sind sie beteiligt am Multi-Media-Verlag von achtzehn Schulbuch- und Wissenschafts-Verlagen. McGraw Hill gehören 2 Prozent des ¿^»^/-Unternehmens Manager-Magazin; auf diese Weise ist auch Kontakt hergestellt zu Gruner & Jahr sowie Bertelsmann. Schon Ende 1965 waren 81 Millionen DM im Bereich des Holz-, Papier- und Druckgewerbes und 96 Millionen im Verkehrs- und Nachrichtenwesen investiert. Dazu gehörten die beiden nach dpa wichtigsten Nachrichtenagenturen AP und UPI; letztere hat sich mit dpa arrangiert, die nun nach dem gemeinsamen Bilderdienst auch die UPI-Auslandsdienste verbreitet. Zwei der sechs in der BRD führenden Schallplattenkonzerne sind Niederlassungen von US-Gesellschaften: CBS und Kinney (u. a. mit den Labels Warner Brothers, Atlantic, Elektra). Aber auch in anderen Bereichen der Verbreitung des „american way of life" ist US-Kapital aktiv. Unter den 473 US-Gesellschaften, die Anfang 1966 ihren Sitz in Frankfurt/ Main hatten, waren neben sechzehn Nachrichtenagenturen und Verlagen sowie neun Filmgesellschaften auch fünfundzwanzig Unternehmensberater, die die amerikanischen Methoden der „Menschen- und Betriebsführung", der „human relations" lehren, sowie neunzehn Werbe- und PR-Agenturen. Von ihnen haben sich schon vier unter die zehn größten in 72

der BRD vorgekämpft; in Werbespots, von Plakatwänden und aus Illustrierten propagieren geheime Verführer wie die H. K. McCann Corp.; J . W . Thompson; Heumann, Ogilvy & Mather; Young & Rubicam; Doyle, Dane & Bernbach die amerikanische Weise zu konsumieren. Der g e g e n w ä r t i g e Einfluß des US-amerikanischen Monopolkapitals auf die massenhaft verbreitete Kultur in der BRD ist nicht beschränkt auf die Reichweite seiner Direktinvestitionen; p e r s p e k t i v i s c h gewinnt eine Branche überragende Bedeutung, die die US-Bosse schon recht weitgehend im Griff haben: die elektronischen Medien. Elektro- und ElektronikIndustrie bilden einen ausgesprochenen Schwerpunkt der US-Investitionen in der BRD (1968 20 Prozent Anteil am Nominalkapital aller BRD-Firmen dieses Bereichs). Die Aktivitäten sind hier mit der Vormacht der IBM-Computer nicht erschöpft; kontinuierlich machen sich US-Konzerne im Bereich der Phono-, Funk- und Fernsehproduktion und ihrer Weiterentwicklung breit. Die immer aufwendigere Technik führt dazu, daß die Verbreitung von Software — und damit der Inhalte — ohne Zustimmung des hardware-Produzenten zunehmend unmöglich wird. Heute kann man beispielsweise auf seinem Braun-Plattenspieler noch Pläne-Platten abspielen. Morgen aber wird auf dem Bildplatten-Abspielgerät der AEG (General Electric-Anteil 11,7 Prozent) wahrscheinlich nur noch Material laufen können, das AEG direkt oder indirekt durch Lizenzvergabe kontrolliert. Ein Musterbeispiel ist die Konstruktion für das EVR-Kassettensystem von CBS. Der Konzern ging mit ICI und Ciba/Geigy einen Verbund ein, der allein die Lizenzen zum Bau der passenden Abspielgeräte vergibt — in der BRD an Bosch. „Wer immer aber in Europa seine Filme nach dem EVR-Verfahren kassettieren will, muß das Rohmaterial in die englische Zentrale nach Basildon schicken (dort errichteten, die Konzerne ein riesiges Kopierwerk — K. M.), wo die Vorlagen für die 'EVR-Partnerschaft' systemgerecht aufbereitet werden" So wird deutlich, mit welchen Konsequenzen uns hier * Als Lesehilfe wurden die Ziffern, die auf Sachanmerkungen hinweisen, durch einen Stern gekennzeichnet.

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eine Votherrschaft der US-Monopole in Technik und Produktion bedroht. Bundesdeutsche Radio-, Phono- und Fernsehgerätehersteller zählten in den letzten Jahren zu den Vorzugsobjekten US-amerikanischer Einkäufer. Nach dem Erwerb von Schaub-Lorenz und eines Anteils der Firma Graetz betrug der Umsatz von Standard Elektrik Lorenz (SEL), einer 99,4 prozentigen Tochter von International Telephone & Telegraph (ITT), auf diesem Gebiet schon 1966 307 Millionen DM. Weiter in US-Besitz gerieten Loewe-Opta, Kuba-Imperial (als die 1966 erworbene Firma Kuba nicht florierte, stießen die US-Manager sie 1969 an AEG-Telefunken ab), Saba (85 Prozent General Telephone & Electronics), Braun (85 Prozent Gilette Corporation). Dazu kommt noch der 11,7 prozentige Anteil von General Electric an AEG-Telefunken; durch die gemeinsame Beteiligung bei Osram ergibt sich auch eine Verbindung zu Siemens. 5 Über ihre aktuellen Kapitalanlagen in der westdeutschen Elektro- und Elektronikindustrie hinaus, werden die USMonopole ihre technologische Potenz und Kapitalkraft im Geschäft mit audiovisueller Kommunikation und Information, das selbst die Möglichkeiten der BRD-Riesen Springer und Bertelsmann allein übersteigt, in die Waagschale werfen, um in allen internationalen Unternehmungen den Ton anzugeben — und das Geschäft mit Kassetten und Bildplatten wird erst vollends lohnend, wenn die Auflagen auf den internationalen Markt gebracht werden können. Einen Vorgeschmack auf die harten Methoden der US-Konzerne lieferten die Auseinandersetzungen um das IntelsatStatut, das die Errichtung, den Betrieb und die Verwendung der Gewinne eines weltweiten kommerziellen Nachrichtensatelliten-Systems regeln soll. Im ersten Abkommen, das die USA 1964 mit zunächst dreizehn Ländern trafen, war festgelegt, daß der Stimmenanteil der USA in den Entscheidungsgremien nicht unter 50,6 Prozent sinken konnte — obwohl noch vierundfünfzig Staaten beitraten. Diese beherrschende Stellung, die auf dem Monopol in puncto Herstellung und Placierung der Satelliten beruhte, stieß auf wachsenden Widerstand anderer kapitalistischer Länder und führte 1971 zur Neufassung eines endgültigen Abkommens, das den 74

USA 38,3 Prozent der Stimmen im Gouverneursrat von Intelsat sichert — genug, um jede wichtige Entscheidung, für die Zweidrittel-Mehrheit benötigt wird, entsprechend den eigenen Interessen zu beeinflussen. Unter anderem legt das Statut fest, daß die Einrichtung regionaler Satellitensysteme durch Mitgliedsländer der Zustimmung der Vollversammlung bedarf. Schon unternehmen die USA-Behinderungsversuche gegen die Keime eines westeuropäischen Satellitensystems.6 Die Massenwirkung der Produkte der US-Kulturmonopole ist nicht abhängig von ihren direkten Stützpunkten in der BRD. Daß der Schlagermarkt von US-Hits beherrscht wird, daß die meisten Comics aus den Vereinigten Staaten kommen, daß das BRD-Fernsehen sich von US-Serien nährt usw. — der Augenschein allein ist auf vielen Gebieten schlagend. Von 1962 bis 1971 liefen in der Bundesrepublik 1172 US-Filme (europäische US-Produktionen wie z. B. Italo-Western nicht mitgerechnet) als Erst- und Uraufführungen — 28,6 Prozent des gesamten Angebots. Dabei stellte das Jahr 1971 mit 127 von 385 aufgeführten Filmen (33 Prozent) den bisherigen Höhepunkt dar. Der Anteil der amerikanischen Streifen am Verleihumsatz, der die Laufzeit und damit den Besuch widerspiegelt, lag noch höher, bei 37,7 Prozent. Der Publikumserfolg wird bestätigt, z. B. durch eine Statistik der US-Filmtheater, nach der die meisten Zuschauer der Saison 1969/70 zu Disneys Tollem Käfer, der Saison 1970/71 zu Warhols Flesh und Trasb gingen; 1971/72 versprachen Bonds Diamantenfieber, die Aristocats und die Lj>ve Story die großen Kassenfüller zu werden.7 Im Fernsehen (ARD + ZDF + alle Regionalprogramme) liefen 1950 257 abendfüllende Spielfilme aus der USProduktion, 40,4 Prozent der gesamten abendfüllenden Spielfilme. 8 Auf dem Literaturmarkt waren 1970 29,7 Prozent der Titel in der Belletristik und 31,3 Prozent der Jugendschriften Übersetzungen. 32,4 Prozent der insgesamt übersetzten Titel und 40 Prozent der belletristischen kamen aus den USA. Mit 47,5 Prozent war der Übersetzungsanteil an der Taschenbuchproduktion 1970 noch höher; er machte hier bei der Schönen Literatur fast zwei Drittel aus, wobei 31,6 Prozent der übersetzten Titel aus den USA kamen. Die Verbreitung belegt 75

schon ein kurzer Blick etwa auf die J/vVg«/-Bestsellcr]isten, die fast ständig zwei bis drei US-Titel enthalten 9 . Was auf diesen und anderen Wegen aus den USA an Kulturprodukten, Moden, Normen und Verhaltensleitbildern geliefert wird, läßt sich kaum noch überblicken. Was in den letzten Jahren i n war in der bildenden Kunst oder der Jugendkultur, stammte aus den USA, war zunächst dort und dann in der Bundesrepublik mit allen Tricks der Branche durchgesetzt worden (Stich worte wie Pop-art, Land-art, Concept-art, Process-art; Underground-, Hippie- und Jesus-Bewegung mit allen Weiterungen mögen ausreichen). Die Normativität der US-amerikanischen Vorbilder scheint so zwingend, daß auch die BRD-Produzenten von Groschenheften nicht auf das USA-Milieu verzichten mögen. Was für Wild-WestStories obligatorisch, ist den Vätern von Jerry Cotton, J o Walker, Jeff Counter und wie sie alle heißen, angenehme Pflicht; und soweit in den Science Fiction-Serien die Welt noch nicht nach amerikanischem Muster geeint ist, dokumentieren auch ihre Autoren eifrig die allseitige Vorrangstellung der USA. Wie fein die kommerziellen und ideologischen Interessen der internationalen Konzerne ineinandergreifen, war auch auf der Spielwarenmesse 1972 in Nürnberg zu erfahren. Die Mattel GmbH, Tochter des US-Konzerns Mattel Inc., der uns schon die Puppe Barbie und die Suggestion, für sie jede Woche eine neue Ausstattung zu kaufen, beschert hat, lancierte einen neuen Spielzeug-Hit für bundesdeutsche Kinder: „Speziell für Jungen ist eine neue Spielzeugfigur ('Mark Strong') geschaffen worden, zu der im Sommer ein deutscher Verlag auch eine eigene Comic-Serie starten will. 'Mark Strong' ist ähnlich konzipiert wie die 'Barbie'; der Geheimagent kann allerhand, kann — und soll — vor allem immer wieder neu g e t a r n t (gekleidet) werden." 1°

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US-Außenpolitik als

n

Kulturfutter"

Die Vereinigten Staaten betreiben in der BRD und Westberlin in eigener Regie siebenundzwanzig Amerikahäuscr und Deutsch-Amerikanische Institute, den deutschsprachigen Sender RIAS und den AFN. Alle weiteren PR-Aktivitäten leitet offiziell USIS/Germany (United States Information Service), für die BRD zuständige Außenstelle der USIA (US Information Agency), die Senator Fulbright als Relikt des Kalten Krieges auf eine Stufe mit den CIA-Sendern Radio Liberty und Radio Free Europe stellte. Offiziell erhielt USIA 1953 vom Weißen Haus den Auftrag, „den Völkern anderer Nationen mittels der Kommunikationstechniken zu beweisen, daß die Ziele und die Politik der USA mit deren eigenen legitimen Wünschen nach Freiheit, Fortschritt und Frieden übereinstimmen und diese befördern" 1J *. Welche Rolle der Arbeit mit der Kunst zugemessen wird, erläutert eine Untersuchung der auswärtigen Kulturpolitik: „Die offiziellen Ziele der Aktivitäten auf dem Gebiet der Kunst waren: Einfluß und Propaganda von sowjetischer Seite entgegenzuwirken und das Bild anderer Völker vom amerikanischen Volk zu korrigieren und menschlicher zu gestalten, um so ein besser abgerundetes Verständnis der Vereinigten Staaten und größeres Vertrauen in ihre weltpolitische Führungsrolle zu entwickeln." Die Vereinigten Staaten sollen im Ausland nicht nur wegen ihrer technologischen Leistungen, ihrer Fähigkeit zu Massenproduktion und -konsum bekannt und geschätzt sein. Die Kulturpropaganda soll sie fähig erscheinen lassen, „die höchsten Errungenschaften und Werte, die die Menschheit geschaffen hat, zu verstehen und zu teilen" 12 . Diese Aktivitäten, die darauf zielen, die USA als Führungsmacht der „freien Welt" zu profilieren und zu bestätigen, erfahren weitgehende Förderung von staatlicher und privatmonopolistischer Seite der BRD. Daran hat sich auch unter sozialdemokratischer Regierungsführung nichts geändert. Zum fünfundzwanzigsten Jahrestag des Marshall-Plans 1972 hielt Kanzler Brandt in Boston eine Rede, in der er Dankbarkeit, „Sympathie und die Zuverlässigkeit unserer Partner77

schaft" 13 gerade angesichts der Krisen der US-Politik betonte. Am Höhepunkt der Kriegsverbrechen gegen Vietnam zeigte Brandts Schweigen beredt, wie ernst diese Nibelungentreue gemeint ist — und jede neue Dollarkrise bestätigt das. Alle Bemühungen sind im Kern darauf gerichtet, die Vereinigten Staaten, Mutterland der westlichen freiheitlichen Demokratie, nicht allein als die Vormacht, sondern auch als gesellschaftliches Vorbild der kapitalistischen Welt darzustellen. Der „american way of life" fungiert als Symbol aller Annehmlichkeiten, die der Kapitalismus bei ungestörter Entwicklung den Massen bieten werde. „Wenn die Deutschen in die USA reisen, so reisen sie auf sehr wesentlichen soziologischen Gebieten in ihre eigene Zukunft" 14 — und damit den Bundesdeutschen nicht einfällt, sich um eine andersgeartete Zukunft zu bemühen, muß das Amerikabild möglichst attraktiv gestaltet, die Bindung an den Großen Bruder als A und O bundesrepublikanischer Politik stets erneut eingetrichtert werden. Das Spektrum der Maßnahmen reicht vom Personen- und Kulturaustausch, dem sich nach dem Stand von 1965 allein 157 Institutionen widmeten, über die Verlagspolitik bis zum Amerikabild im Schulunterricht.

Das Amerikabild in den Schulen der BBJD Das Image der Vereinigten Staaten als Vorbild und Vormacht wird in den Schulen der Bundesrepublik im Geschichtsund Sozialkundeunterricht, in Englisch und Erdkunde, bei der Beschäftigung mit Kunst und Literatur geformt. 1957 und 1961 fanden beim Braunschweiger Schulbuchinstitut deutsch-amerikanische Konferenzen statt, auf denen das Bild der USA in den BRD-Schulbüchern untersucht und Prinzipien seiner zukünftigen Gestaltung formuliert wurden. Der amerikanische Kulturattache Myers gab klar die Linie an und forderte, „daß der besondere Beitrag der Vereinigten Staaten zur Kultur des Abendlandes in den Schulbüchern so klar und umfassend wie möglich herausgestellt werden müßte" 1 5 . Den Hintergrund des Amerika-Bildes der meisten Schulbücher, Unterrichtsmaterialien und Hilfsmittel für Lehrer 78

bildet der durchgängige Antikommunismus; aus ihm ergibt sich die besondere Rolle der USA bei der Lösung des „bolschewistischen W e l t p r o b l e m s " I n der verblasenen, aber unmißverständlichen Sprache eines Oberstudienrates heißt es: „In seiner besonderen Lage zwischen West und Ost hat sich das deutsche Volk in seiner inneren Zugehörigkeit zur Ö O westlichen, zur abendländischen Welt erkannt und dabei auch begriffen, welche Rolle die Vereinigten Staaten in dieser Weltenstunde spielen. Damit sind die entscheidenden weltpolitischen Zusammenhänge bezeichnet, aus denen heraus heute auch unser Erziehungs- und Bildungswesen seine Orientierung gewinnt." 1 7 So soll der Schüler die USA als „Führungsmacht des Westens" 18 , „stärkste Stütze der freien Völker" 1 9 , „Ordnungshüter der Welt" 2 0 kennenlernen und bereit werden, „die Führungsstellung der USA anzuerkennen". 2 1 So kommt es zur Apologie von US-Interventionen in anderen Ländern („Von seiner weltweiten Verantwortung überzeugt, hat Johnson in der Dominikanischen Republik eingegriffen und die amerikanischen Truppen in Vietnam beträchtlich verstärkt" 22 ), so wird Kritik an der US-Politik u. a. von rechts geübt, mangelnde Härte gegenüber den sozialistischen Ländern gerügt, 2 3 * mehr oder minder deutlich kommt die Hoffnung zum Ausdruck, mit Hilfe des vor der Niederlage der Hitler-Wehrmacht nicht zustandegekommenen Kriegsbündnisses gegen die Sowjetunion, das Rad der Geschichte doch noch zurückdrehen zu können. Im Geschichtswerk des Bayerischen Schulbuchverlags heißt es zunächst mit gedämpftem Vorwurf: „Aber die Amerikaner dachten nicht daran, sich mit Deutschland gegen die UdSSR zu verständigen, sondern hielten sich peinlich genau an die interalliierten Absprachen." 24 Dann aber läßt man die Katze aus dem Sack und zeigt den Schülern, wie man mit dem Russen hätte umgehen müssen. „Inzwischen war es vielen weitblickenden Amerikanern klar geworden, daß Roosevelts Forderung nach bedingungsloser Kapitulation und seine vertrauensselige Politik gegenüber der UdSSR dem Bolschewismus den W e g nach Europa geöffnet hatten. Der entschlossene General Patton versuchte, das Steuer energisch herumzureißen und durch Zusammenarbeit mit der deutschen und westslawischen 79

Bevölkerung der 'von einer dummen Politik heraufbeschworenen Gefahr einer Sowjetisierung Mitteleuropas' entgegenzuarbeiten. Doch als er am 6. Mai 1945 zu einem Vorstoß gegen Pilsen ansetzte, wurde er durch höheren Befehl gestoppt und bald darauf abgesetzt". 25 Dem gleichen Ungeist entspringt die reaktionäre Kritik an der angeblich „fragwürdigen" und demütigenden Entnazifizierung, die keinen Strich unter die Vergangenheit machte, sondern gegen „Nazis" vorging. 26 * Vor allem in den Englischbüchern für die Hauptschulen versucht man, die Sympathien für die USA durch breites Ausmalen des Cowboy-und-Indianer-Milieus und der Wildwest-Romantik zu gewinnen 27 , das Klischee vom „Land der unbegrenzten Möglichkeiten" wird für die Gegenwart gezeichnet durch Anhäufung meist technischer Superlative, Übertreibung des Lebensstandards und Erzeugung der vom „Tellerwäscher zum Millionär"-Stimmung in einem Maße, daß selbst ein wohlmeinender Rezensent die „idealisierende Tendenz der Lehrbücher" konstatiert 28 . Als materielles Argument für die Führungsrolle der USA wird ihre militärische und ökonomische Stärke angeführt 29 . Die Darlegung der US-Wirtschaftserfolge wird — unter Negierung der 50 Millionen in der „Armutskultur" — zugleich genutzt zur Rechtfertigung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung als der freiheitlichen, zur Gleichsetzung von Wohlstand und Freiheit. Da die Geschichtsbücher die Zeit nach 1945 meist nur kurz behandeln 30 *, stammen die Beispiele u. a. aus dem Aufschwung der zwanziger Jahre. „Alles wuchs: Die Industriekonzerne, die Kapitalgesellschaften, Banken, Zeitungstrusts, die landwirtschaftliche und industrielle Produktion, die Städte, Straßen, Häuser, Autos, Hochschulen, Kinos, Radiostationen — die Freiheit. 31 Auch Leute mit bescheidenem Einkommen konnten sich jetzt ein Auto leisten. Radio und Tonfilm, die in diesen Jahren aufkamen, erhöhten die Lebensfreude. 32 Den erhöhten Lebensgenuß verdankt das amerikanische Volk in erster Linie seinen großen Unternehmern, die allerdings inzwischen durch den allgemeinen Volkskapitalismus abgelöst wurden. „Die Verfassung der USA gestattet es dem amerikanischen Bürger, sich so frei wie möglich zu entfalten. Auf wirtschaftlichem Gebiet führte diese Freiheit zu einem Unternehmertum, wie 80

es in der Welt sonst kaum zu finden ist. Ganze Industrien entstanden durch die Tatkraft einzelner Unternehmer . . . Die meisten Fabriken und Konzerne (Zusammenschlüsse von Fabriken) sind heute nicht mehr Privatbesitz, sondern Aktiengesellschaften. Ihre Aktien (Besitzanteile) kann jeder erwerben." 3 3 Den Schülern werden die USA als Modellfall des „modernen Sozialstaats" 3/ », als „moderne Mittelstandsgesellschaft von heute" 3 5 gepriesen. „Die Lehrbücher betonen alle, daß die . . . sozialen Spannungen im Gegen&tz zu der europäischen Entwicklung nicht zu innenpolitischer Feindschaft zwischen den Arbeitern und den Unternehmern führten". 3 6 Vorbild U S A ! Der Erfolg bleibt nicht aus; eine Untersuchung des USA-Bildes von Volksschülern 1966 erbrachte, daß bei weitem die Einschätzung „fortschrittlich" dominierte, mit Abstand gefolgt von „tapfer" und „intelligent". 3 7 Von den Pilgrim Fathers bis zu Johnsons Plan der „Great Society" wird eine aufsteigende Linie demokratisch-freiheitlichen Geistes gesehen: „. . . dann leuchtet mit dem Namen Amerika der Stern politischer Freiheit auf, und dieser Stern hat bis zur Gegenwart hin seine Leuchtkraft nicht mehr verloren". 3 8 Der Versuch, jeden tiefergehenden Zweifel am „american way of live" von den zu formenden Kinderseelen fernzuhalten, führt auf der Schulbuchkonferenz 1961 dazu, daß vor allem die amerikanischen Berichterstatter dafür eintreten, alles aus den Schulbüchern zu entfernen, was nicht der Herstellung eines positiven Bildes der USA-Gesellschaft dient. 3 9 * Diese Taktik hat allerdings ihre Grenzen; um nicht völlig unglaubwürdig zu werden, müssen die Bücher auf das eingehen, was im wörtlichen Sinne schon jedes Kind weiß. Vor allem in der Darstellung des ungelösten Rassenproblems können die Meister der Beschönigung und Verzerrung alle Register ziehen. Grundsätzlich wird das Problem als Frage noch nicht ganz gelungener Durchsetzung der demokratischen Prinzipien betrachtet. Den Regierungen Kennedy und Johnson werden beste Vorsätze und vielfältige Bemühungen bescheinigt, die allerdings am Widerstand „des Südens", den tief verwurzelten Vorurteilen und dem Radikalismus der Neger scheitern. Die menschenunwürdige, großenteils hoffnungslose Lage der Neger und anderer Minderheiten wird fast immer beschönigt;

(i Rcinhold, Kücbiskem

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der Bayerische Schulbuchverlag bringt es sogar zu einem kaum verhüllten Plädoyer für Apartheid-Politik, da erst mit der Ncgerbefreiung alle Probleme entstanden seien: „Als negative Folge des Bürgerkriegs hat sich freilich der Rassenhaß, der nach der Befreiung der Negersklaven im Süden um sich griff, in weiten Schichten des Volkes bis auf den heutigen Tag erhalten.'" 10 Im Diesterweg-Geschichtsbuchwerk wird nach der Problemstellung „Freiheit ohne Gleichheit" unter der eindeutigen Überschrift Langsamer Fortschritt der Gleichberechtigung behauptet, die Lage der Farbigen bessere sich ständig, Vorurteile seien jedoch hartnäckig. Vor allem die Regierung Johnson habe großartige Pläne zum Kampf gegen Armut und Rassismus ausgearbeitet. Daß es nicht zu ihrer Verwirklichung kam, liege außer den hohen Kosten des ungeschickten VietnamKrieges vor allem am schwarzen Rassismus. Er habe zu sich steigernden „Rassenkrawallen" geführt, auf die die Weißen dann „reagierten", „teilweise mit Haß. Der Kongreß stimmte 1967 gegen alle Vorlagen zugunsten der Farbigen . . ," 4t Wo gesellschaftliche Widersprüche ins Schulbuch geraten, erscheinen sie als beinahe schon überwundene Mängel einer Ordnung, die mit allen Problemen fertig wird. Dabei gibt es Unterschiede im Grad der Verniedlichung; in dem Maß, in dem realistische Zustandsschilderungen und auch kritische Ansätze, die stärker zum Klassenwesen der Probleme der staatsmonopolistischen USA vordringen, zugänglich werden, wächst auch die Problematisierung zumindest in den Materialien für die Lehrer/'2 Wenn auch die Schulbücher weiterhin stramm auf Apologie machen, so wachsen doch die Möglichkeiten, daß die aktuellen gesellschaftlichen und politischen Probleme der Vereinigten Staaten durch Schüler oder Lehrer einer kritischen, mit eindeutigem Material fundierten Betrachtung unterworfen werden, die ein Vordringen zu marxistischen Antworten eher möglich macht.

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Ke-education und die Folgen Unter den Gründen für die Erzeugung, ständige Reproduktion und Erhaltung eines fast schattenlosen Amerikabildes und des großen kulturellen USA-Einflusses, spielt eine besondere Rolle der Verlauf der Nachkriegsgeschichte Westdeutschlands, die amerikanische Besatzung, ihre Wirkungen und Folgen. Die amerikanischen Truppen und die US-Militärverwaltung kamen unter für sie günstigen Umständen: als Befreier mit antifaschistischen Parolen, als Bringer der Demokratie erhielten sie das Vertrauen eines großen Teils derjenigen, denen an einem echten Neubeginn gelegen war. Diese Einstellung spiegelt sich wider beispielsweise in einer Vielzahl von Beiträgen der vor allem in der jungen Generation einflußreichen Zeitschrift Der Ruf. Besondere Hoffnungen wurden in die westalliierten Entnazifizierungs- und Umerziehungsvorhaben gesetzt; so äußerte dort im Herbst des Jahres Alfred Andersch die Erwartung, daß „wirklich der ganze Enthusiasmus der angelsächsischen Völker für Erziehung wie eine alles mitreißende Woge über das Land geht". Und weiter: „Mit seiner zweihundertjährigen republikanischen Tradition und seiner Fähigkeit, den Geist der Freiheit zu pflegen und zu behüten, ist Amerika im Begriffe, zur mütterlichen Brutstätte einer europäischen Erneuerung zu w e r d e n . " M i t dem amerikanischen Informations-, Meinungs- und Kulturangebot schien sich nach zwölfjähriger Abkapselung das Tor zur Welt, zur Gegenwart zu öffnen: „Eigene Initiativen gab es kaum. Dagegen schien der Nachholbedarf ungeheuer. Mentalität und Ausdrucksmittel der amerikanischen 'lost generation' wurden zum Vorbild, ihr Sprachstil feierte Triumphe, die 'short story' wurde übernommen, der Jazz, so lange als Negermusik verpönt, eroberte die Jugend . . ."'