Konsens und Konflikt: Die Begriffe des Politischen bei Carl Schmitt [1 ed.] 9783428468447, 9783428068449


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German Pages 278 Year 1990

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Konsens und Konflikt: Die Begriffe des Politischen bei Carl Schmitt [1 ed.]
 9783428468447, 9783428068449

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VILMOS HOLCZHAUSER

Konsens und Konflikt

Konsens und Konflikt Die Begriffe des Politischen bei Carl Schmitt

Von

Vilmos Holczhauser

Duncker & Humblot · Berlin

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek

Holczhauser, Vilmos:

Konsens und Konflikt: die Begriffe des Politischen bei Carl Schmitt / vn Vilmos Holczhauser. - Berlin: Duncker u. Humblot, 1990 Zugl.: München, Univ., Diss., 1989 ISBN 3-428-06844-0

Alle Rechte vorbehalten © 1990 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Satz: Hagedornsatz, Berlin 46 Druck: Druckerei Gerike GmbH, Berlin 36 Printed in Germany ISBN 3-428-06844-0

... und würden wir sagen: Das Recht ist Kampf- sie würden uns nicht verstehen, denn sie kennen dasselbe nur als Zustand des Friedens und der Ordnung. Rudolf Jhering

Vorwort Das Thema der vorliegenden Arbeit sind Carl Schmitts Begriffe des Politischen - nicht, wie man meinen könnte, der Aufsatz "Der Begriff des Politischen" (BdP). Daß Schmitt sich mehrerer Begriffe des Politischen bedient hatte, war keine vorgefaßte Arbeitshypothese, sondern eine Erkenntnis, die sich während der Arbeit ergab und den ursprünglichen Plan modifizierte. Den Unterschied, die Spannung und die mögliche systematische Einheit der verschiedenen Begriffe auszuloten, schien mir wichtiger als Schmitts BdP bis ins Detail gehend aufzuarbeiten. Die Verarbeitung des Themas hat einen Mischcharakter, und zwar in doppelter Hinsicht. 1. Erstens erfordert das Thema sowie die Eigentümlichkeit des Schmittschen Vorgehens selbst, zwischen dem "juristischen" und dem "soziologischen" Aspekt (bleiben wir vorerst bei dieser oberflächlichen Bezeichnung) zu unterscheiden. Dies machte erforderlich, bei der (noch so bescheidenen) Klärung und Entwicklung von Begriffen bald mehr die normative, bald mehr die empirische Seite zu berücksichtigen und schließlich die Stellen aufzuspüren, an denen Schmitt m. E. die beiden Gesichtspunkte vermengt. Das wichtigste Ergebnis dieser Unterscheidung sind gerade die beiden Hauptbegriffe des Politischen. Die Politik als Konflikt (BdP), dessen Ausgangspunkt und Austragungsort der nicht normierte (absolute oder relative) Naturzustand ist, ist das Produkt der "soziologischen" Betrachtung. Schmitts "Verfassungslehre" (VL) knüpft dagegen, trotzder Tatsache, daß sie eine allgemeine Theorie des demokratisch-rechtsstaatliehen Verfassungsstypus sein will, allzu massiv an die geltende WRV an und ist genötigt, der Konstruktion die Grundfiktion einer jeden Demokratietheorie, die "Einheit" zugrundezulegen. Aus diesem Doppelcharakter ergibt sich auch, daß Schmitt den nonnativen und den soziologischen Aspekt seiner Auffassung von der Politik (wenn man von aktuellen bzw. historisch-soziologischen Exkursen der VL absieht), in verschiedenen Schriften aus veränderter Perspektive erörtert. Schmitts Stellungnahmen zum Zeitgeschehen scheinen mir gerade die Schwächen seiner hauptsächlich und einseitig konsensorientierten Verfassungslehre aufzudecken. Sie ließen zugleich den Verdacht aufkommen, daß die Verfassungslehre des Rechtsstaates einen dritten Begriff des Politischen erfordert. Was nun den methodologischen Standpunkt der Arbeit betrifft, befinde ich mich in Definitionsschwierigkeiten. Ich könnte die Heterogenität der Perspektiven mit der modischen Zauberformel "interdisziplinär" als eine Tugend hinstellen. Ich würde dabei kein gutes Gefühl haben. Alle Schwierigkeiten sind,

8

Vorwort

so scheint es mir, Folgeerscheinungen des tieferen theoretischen Problems, zwischen Tatsache und Norm zu vermitteln. Es ist nicht mit Schlagworten zu erledigen. Umfang und Charakter der Arbeit ließen nicht zu, tief ins Methodologische oder Philosophische einzudringen. Um den Standpunkt trotzdem einigermaßen einzuschränken, habe ich den Ausdruck "handlungstheoretisch" gewählt. Darin steckt zunächst eine zweifache Abgrenzung. Unser Standpunkt ist nicht "soziologisch", d. h. ich versuche nicht, Annahmen über individuelles Verhalten mit Hinweis auf die Eigenständigkeit "sozialen" Handeins als "Kleinkram" abzutun. Andererseits ist er auch nicht "psychologisierend", d. h. ich versuche nicht, Gesetzmäßigkeiten individuellen Verhaltens unmittelbar, ohne die nötige "Transformation" (Widmaier) auf das Verhalten großer Gruppen zu übertragen. Die Mitte zwischen diesen Extremen erweist sich als die Verallgemeinerung utilitaristischer Axiome zu einer subjektivistischen Handlungstheorie, wie sie vor allem von Mises ("Nationalökonomie") versucht wurde, bzw. ihre Anwendung durch die sog. "Neue Politische Ökonomie" auf Vorgänge, die ursprünglich nicht als "ökonomisch" gelten. Diese Methodenwahl könnte für viele als doppelt verfehlt erscheinen: im allgemeinen wegen der immanenten Nicht-Subjektivität von Theorien, die Aussagen und Erklärungen über das "Normative" aufstellen, und im Speziellen wegen Schmitts (angeblichen) antiindividualistischen, antiliberalen Etatismus. Mir scheint, dieser Einwand wäre verfehlt. Ich glaube, gerade die handlungstheoretische Orientierung hat es ermöglicht, Schmitts Begriffe des Politischenanders als die bekannten Deutungen aufgrund von Ästhetik, Pathologie, Charakterologie oder Dämonologie - als rational zu begreifen. 2. Unsere Analyse besitzt einen Doppelcharakter auch dadurch, daß sie Schrnittsche Gedankengänge neutral, wenn auch mit eingestandener Sympathie, rekonstruieren will und andererseits Schrnittsche Konstruktionen zum Anlaß nimmt, sich an einen eigenen Lösungsversuch heranzuwagen. Dabei ist es unumgänglich, Verfehlungen Schrnittscher Lösungen schonungslos aufzudecken. Ich meine die Aufdeckung sachlicher Fehler, vorschneller Verallgemeinerungen und Inkonsequenzen der Argumentation, nicht ein politisches oder moralisches Urteil. Ein Urteil über den Menschen Schrnitt steht mir nicht zu. Der Anteil, in dem sich Analyse und Kritik mischen, ist schwer feststellbar, er wurde auch nicht bewußt und im voraus geplant. Dieser Umstand kann gewiß den VorWilrf der Einseitigkeit und Unvollständigkeit heraufbeschwören. Bewußt vermieden und auf ein unumgängliches Minimum reduziert wurde der "philosophische" Aspekt, der in zahlreichen Erörterungen über Schmitt allzu sehr im Vordergrund steht- nicht weil ich diesen Aspekt gering, sondern im Gegenteil, weil ich ihn zu hoch schätze. Schmitt war zweifellos belesen und für "philosophische" Ideen empfänglich. Originelles hat er jedoch nicht produziert, seine Stärke lag woanders. Es wäre sinnlos, seine Philosophie-

Vorwort

9

Rezeption um der Veredelung des Themaswillen an herabgesetzten Maßstäben zu messen. Nicht alles, was über Gesichtspunkte des Alltags oder des Positiven hinausgeht, ist Philosophie. Nun zum Aufbau der Arbeit. Unsere Argumente wurden in drei größere Einheiten gegliedert: Der Erste Teil (Kapitell bis 5) hat einen vorbereitenden Charakter. Kapitell versucht, den Stand des Themas "Dezision" in der juristischen Methodenlehre zu ermitteln, Kapitel 2 beleuchtet Schrnitts Wende zum Institutionalismus. Kapitel 3 und 4 skizzieren den anderen, "handlungstheoretischen" Strang der Untersuchung: das Ordnungs- und das Kostenproblem. Kapitel 5 definiert schließlich die idealtypischen Grundsituationen des Handelns, aufgrund der Anzahl der Akteure - den engeren theoretischen Rahmen unserer Begriffsbildung. Im Zweiten Teil (Kapitel 6,7 und 9) werden die drei Begriffe des Politischen herausgearbeitet und voneinander abgegrenzt. Kapitel 8 versucht, juristische Institute der "Einheitsbildung" mit dem Organisations- und Kostenproblem in Verbindung zu setzen. Im Dritten Teil versuche ich, i) die Ergebnisse des zweiten Teils auf Schrnitts Schriften zur politischen und Verfassungslage Weimars anzuwenden und ii) Ansätze einer konfliktual begründeten Verfassungstheorie anzudeuten. Insbesondere werden die drei Begriffe des Politischen auf Schmitts verschiedene Staatsmodelle (Kapitel10), aufverschiedene Begriffe des Rechtsstaates (Kapitel 12) angewandt und auf ihre Tauglichkeit hin geprüft. Ein Exkurs (Kapitel 11) geht auf Schrnitts Verhältnis zur "Pluralismustheorie" ein. Kapitel 13 und 14 enthalten den eigenen Entwurf. Zum Schluß möchte ich die folgenden Grundthesen der Arbeit besonders hervorheben: 1. Es gibt bei Schrnitt drei Hauptbegriffe des "Politischen", die er nicht auseinanderhält. Sie unterscheiden sich voneinander in der Anzahl der maßgeblichen Akteure: B1: die Entscheidung des isolierten Subjekts (VL) B2: die Entscheidung gegen den Feind (BdP) B3: die Entscheidung (Unterscheidung) zwischen Freund und Feind (BdP) Vgl. hierzu Kapitel 5 2. Der BdP enthält, neben den beiden bekannten Varianten ("zwischenstaatli-

cher" und "innerstaatlicher" Konflikt) einen dritten Ansatz: das Politische als das "Vorstaatliche". Politisch im Sinne des "Vorstaatlichen" ist der Akt, der aus dem vorstaatlichen (Natur-) Zustand den staatlichen Verband hervorbringt. Die Feindentscheidung löst einen Integrationskonflikt Vgl. die Abschnitte 7-1 und 7-3

3. Im (absoluten oder relativen) Naturzustand sind soziales Handeln (Tausch) und technisches Handeln (Zwang) ununterscheidbar. Die Entscheidung des

Vorwort

10

Integrationskonflikts macht sie unterscheidbar und begründet dadurch den Rechtszustand. Vgl. Kapitel 3 4. Schmitts Verfassungslehre beruht auf einem strikt konsensualen Begriff des

Politischen (Homogenität, die politische "Einheit"). Dessen Verbindung mit der Feindentscheidung (sowohl in der VL als auch im BdP) ist äußerlich und inkonsistent. Vgl. Kapitel 7

5. Schmitt verwirft B2 als "Verfassungsprinzip", weil es unvermeidliche "plura-

listische" Konsequenzen hat ("Ethik des Bürgerkriegs"). Diese sind durch die Verteilung "Normalität-Ausnahme" vermeidbar. Vgl. Kapitel11 und 14

6. "Neutralität" kann erst in einem Spiel mit drei Akteuren fingiert werden-B2

ist dazu ungeeignet. Vgl. Abschnitt 9-3

7. Eine jede Verfassung, die einen unabänderlichen Kern enthält, hängt systematisch mit einer konstitutiven Feindentscheidung zusammen. Die Feindschaft wird gehegt, indem ihr der Status einer Ausnahme im juristischen Sinne zugewiesen wird. Vgl. die Abschnitte 14-6 bis 14-8 8. Die konfliktuale Konstitution ist mit einem Marktmodell, der oligopolischen

Konkurrenz, isomorph. Die Entscheidung des Integrationskonflikts nach B 3 beschafft ein öffentliches Gut. Vgl. die Abschnitte 13-9, 14-9.

Die Arbeit wurde 1989 an der Ludwig-Maximilians-Universität München als Dissertation angenommen. Erlangen, im Frühjahr 1990

Vilmos Ho/czhauser

Inhalt Erster Teil 1. Die Wende in der juristischen Methodenlehre

13

2. Die Typen rechtswissenschaftliehen Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

41

3. Die Ununterscheidbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

64

4. Die Konsenskosten

74

5. Die Grundsituationen des Handeins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85

Zweiter Teil 6. Das Politische als Konsens: B I

100

7. Das Politische als Konflikt: B2

120

8. Die Rechtsformen der Einheitsbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 9. Das Politische als der "Dritte". Die Neutralität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155

Dritter Teil

167

10. Die drei Stadien. Der "totale" Staat 11. Zusammenhang und Konfusion. Der Pluralismus 12. Der Rechtsstaat

..................... . 181

............ . ....... . ....... . ..................... . 196

13. Einheit und Vielheit. Der Doppelkonflikt

212

14. Die Approximation: Ausnahme und Normalität . . ......... . . . . . .. .. .... 231

Anhang

15. Zu den Methodenfragen der Schmitt-Literatur

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259

Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273

Erster Teil 1. Die Wende in der juristischen Methodenlehre 1-1. Das formallogische Denken begann bereits im 19. Jahrhundert einem teleologischen zu weichen, nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Rechtsanwendung 1 • Wir beschäftigen uns hier weder mit den historischen Bedingungen und aktuellen politischen Anlässen noch mit den institutionellen Folgen dieser Entwicklung, sondern mit einem einzigen Aspekt ihrer methodologischen Auswirkungen. Wir meinen weder die Erschließung neuer Rechtsquellen noch den lockereren Rückgriff auf verschiedene Arten außerrechtlicher Materie. Denn diese sind nur Folgen eines tieferen Wandels, der die Struktur des juristischen Denkens, die Grundlagen der juristischen Rationalität veränderte. Das Wesentliche am Positivismus jeglicher Observanz war, grob gesagt, nicht die Tatsache, daß der wie auch immer geartete Setzungsakt als die alleinige Rechtsquelle anerkannt war, sondern die Art, wie das übrige System aus den Quellen entwickelt wurde. Die Annahme eines vollständigen ("lückenlosen") und widerspruchsfreien Herleitungssystems, einer Anzahl von gewissen Herleitungsregeln wie sie etwa in der klassischen Hermeneutik entwickelt wurden, beruhten insgesamt auf der Vorstellung, daß das System des Rechts (zumindest der Idee nach) ein logischer Automatismus ist, in dem das Urteil im wesentlichen durch Subsumtion gewonnen wird. Die Ansicht, das Urteil "stecke" in der Norm, und derjenige, der sie anwendet, es durch einen restlos rationalen Erkenntnisvorgang aus ihr "heraushole", wurde durch die Freirechtslehre und die Interessenjurisprudenz gründlich widerlegt 2 • Insbesondere die erstere öffnete das Tor "für Werturteil und Willensentscheidung des Richters" 3 • Die gewandelte Auffassung über die Natur der rechtserzeugenden Tätigkeit läßt sich vorläufig durch das folgende Schema einigermaßen anschaulich darstellen. Die verschiedenen Typen von Rechtssprechung oder -fortbildung werden entlang einer virtuellen Skala untergebracht. An einem Ende der Skala stehen "die Rechtssituationen mit eindeutigen, vollkommen klaren Normen", wo das Urteil durch lupenreine Subsumtion entsteht. Am entgegengesetzten Ende findet man Situationen, in denen "die Entscheidung vollkommen undeter1 2

3

Dahm 141. Zippelius 198. Dahm 130.

Erster Teil

14

miniert" ist und das Urteil sozusagen aus dem Nichts entsteht. Zwischen diesen idealtypischen Extremen stünden die, für die Alltagspraxis wichtigen, Situationen, in denen gesetzlich vorbestimmte und freie richterliche Wertungen in nicht genau feststellbarem Anteil gemischt sind4 . Wir können uns dieses Schemas um so unbedenklicher bedienen als es das Verhältnis auf dieselbe Art und Weise darstellt wie Schmitt es in einer Frühschrift vorgeschlagen hat: eine Linie mit den beiden Extremen "eindeutige inhaltliche Bestimmtheit" bzw. "gleichgültige" Entscheidung 5 • Bereits hier betont Schmitt die Eigenständigkeil der Entscheidung (gegenüber der Subsumtion), wenn auch die nachträglich hervorgehobene Kontinuität zur Politischen Theologie durch den Text nicht gerechtfertigt wird. Die Grundfrage des Werkes lautet nämlich: Wann ist eine Entscheidung "richtig"? Den Vorzug der eigenen Antwort erblickt Schmitt noch gerade darin, daß die Subjektivität des Richters, das Willensmoment also, zugunsten einer idealtypischen Konsensvorstellung eliminiert wird 6 • Daß die Entscheidung ein "Element inhaltlicher Indifferenz" enthalte, nimmt tatsächlich die Kernaussage der Politischen Theologie vorweg. Sie läßt sich jedoch schlecht vereinbaren mit der eher begriffsjuristisch anmutenden Feststellung: Die Entscheidungsgründe seien ein "wesentlicher Bestandteil jeder Entscheidung" 7 , bzw. mit der Tatsache, daß dieses Frühwerk von Schmitt vorwiegend von dem im Recht enthaltenen Sicherheitsinteresse dominiert wird. Hierarchische Organisationen erlauben die räumliche Analogie, das Subsumtionsende der Skala mit "unten", das Entscheidungsextreme mit "oben" zu identifizieren. Urteile, die unten zustandekommen, werden durch eine größere Normdichte vorbestimmt. Das erhöht ihre Berechenbarkeit und damit die Rechtssicherheit Dafür sind sie starrer, dem Einzelfall weniger angepaßt. Urteile auf den höheren Etagen entstehen in einem immer lichter werdenden Rechtsraum, die dadurch ermöglichte Einzelfallgerechtigkeit wirdjedoch immer durch die Gefahr von Willkür überschattet. Je nachdem, welche Komponente der Gerechtigkeitsidee im Augenblick als wichtiger erscheint, versucht man den Urteilstypus zu "verschieben". Die dabei implizit in Kauf zu nehmenden Nachteile werden in der Regel heruntergespielt. Henkel z. B. bedauert nicht, "daß das logische Denken[...] seinen Ausschließlichkeitsanspruch verloren hat", denn dies ermögliche "die Einwirkung der Individualität des Falles auf die teleologisch und irrational-wertend bestimmte Entscheidung". Die dadurch entstehende Unsicherheit werde heute nicht nur ertragen, sondern in ihrer günstigen Auswirkung auf die Auslegungsergebnisse anerkannt 8 . 4 5 6

7 8

Brusiin, Über die Objektivität der Rechtssprechung, 1949, S. 62. G&U 104. G&U 115. G&U 108 bzw. 82. Henkel 60.

1. Die Wende in der juristischen Methodenlehre

15

Dagegen möchte Coing (der ebenfalls einsieht, daß die Interpretation eines Textes eine letzte Entscheidung in sich schließt) das subjektive Moment möglichst weit zurückdrängen 9 . Forsthaffs Sorge um die "Auflösung des Verfassungsgesetzes" findet ihren Ausdruck in der Feststellung (die ihm übrigens den Vorwurf "Rückkehr zum Positivismus" eingebracht hat): die Jurisprudenz vernichte sich selbst, wenn sie nicht unbedingt daran festhalte, daß "die Gesetzesauslegung die Ermittlung der richtigen Subsumtion im Sinne des syllogistischen Schlusses" sei 10 . Welcher Meinung man auch immer sein mag hinsichtlich der "richtigen" Mischung zwischen Subsumtions- und Entscheidungsanteil, die Erkenntnis, daß in jedem, noch so begründeten Urteil ein Residuum von Dezision verbleibt, ist nicht mehr ungeschehen zu machen. Die logische Armatur des Gesetzes führe den Richter nur bis zu jenem Punkt, an dem die entscheidenden Wertungen auftreten 11 • (Der Ausdruck "Wertung" könne "ohne Problemverlust" durch den Ausdruck "Entscheidung" ersetzt werden 12 .) Dann wäre es jedoch eine "Unwahrhaftigkeit", Gründe auch für das vorzuschieben, "was in Wahrheit nicht auf Erkenntnis, sondern auf einer Willensentscheidung beruht" 13 • Diese Ansicht, seinerzeit ein zentrales Thema der sog. Weimarer Grundlagendiskussion 14, ist heute eher ein ehrwürdiger Gemeinplatz der methodologischen Literatur als ein Stein des Anstoßes. Sie wurde u. a . auch von Schmitt vertreten, u.z. genau im oben geschilderten Sinne. "Jede konkrete juristische Entscheidung enthält ein Moment inhaltlicher Indifferenz, weil der juristische Schluß nicht bis zum letzten Rest aus seinen Prämissen herleitbar ist, und der Umstand, daß eine Entscheidung notwendig ist, ein selbständiges determinierendes Moment bleibt" 15 • Die Dezision war (von einem institutionalistischen Zwischenspiel abgesehen) die zentrale Kategorie im Denken Schmitts. Während die Freirechtslehre mit ihrer Hilfe die Rechtssprechung reformieren wollte, konzentrierte sich Schmitt auf das unmittelbar weniger praktische Problem der juristischen Staatskonstruktion und der Verfassungstheorie. Ihr "politischer" Charakter ist jedoch auffälliger als der der freirechtlichen Variante. Inwiefern diese Spielart des "Dezisionismus" einen eindeutigen politischen Standort definiert, soll hier nicht erörtert werden.

9

Coing 330.

° Forsthoff (IV) 153.

1

Weinkauff, Richterturn und Rechtsfindung in Deutschland, Tübingen t 952, S. 15. Podlech 9. 13 Zippelius 2. 14 Vgl. als Einführung zum Thema : Friedrich, Manfred.: Der Methoden- und Richtungsstreit. Zur Grundlagendiskussion der Weimarer Staatsrechtslehre, in: AöR 102 (1977), S. 161 ff., sowie Joachim Lege: Neue methodische Positionen in der Staatsrechtslehre und ihre neue Position nach der Machtergreifung, in Böckenförde (IV), S. 23 ff. 15 PT 41. 11 12

16

Erster Teil

Im folgenden knappen Überblick werden einige Themen der juristischen Methodenlehre unter dem Blickwinkel der Entscheidung ins Auge gefaßt. Dies scheint eine Mindestanforderung zu sein, wenn man Schmitts politische Theorie von seiner juristischen Grundposition her nachzuvollziehen versucht. (Der umgekehrte Weg ist natürlich auch denkbar, wird hier jedoch nicht gewählt.) Neue Probleme werden nicht gestellt, neue Lösungen nicht vorgeschlagen. Aus diesem Grunde schien ein ausufernder Quellennachweis nicht angebracht. Die Kürze und die fragmentarische Art der Darstellung möge manch kantige Formulierung entschuldigen. 1-2. Engisch begründet die Notwendigkeit, neben der Herleitung auch Entscheidungsakte zu berücksichtigen, mit einem praktischen Argument: sonst wäre die unübersichtliche Fülle der Materie nicht zu bewältigen 16 • Die Entscheidung erscheint hier als das kleinere Übel im Vergleich zur Rechtsverweigerung, als ein Notbehelf für die Überwindung praktischer Schwierigkeiten, nichtjedoch als ein "prinzipielles" Problem. Es bleibt bei ihm zunächst offen, ob die fortschreitende technische Entwicklung nicht doch einen Gesetzesautomatismus ermöglichen werde oder aber ob dieser Albtraum wegen der "Natur der Sache" ausgeschlossen ist. Auch Kriele greift unbefangen auf die althergebrachte Weisheit zurück: "besser eine fehlerhafte Entscheidung als gar keine" - weil u. U. auch die Unterlassung eine Entscheidung sein kann, nämlich zugunsten des status quo. Die Dezision sei jedoch nur "einstweilen", bis zu ihrer Korrektur, unentbehrlich. Wüßte man immer klar, was Recht und Unrecht sei, so müßten die Kontroversen nicht durch die Dezision abgeschnitten werden 17 • Daß die Entscheidung ein praktisches Problem ist, erscheint bereits bei Kant, natürlich mit einem anderen Akzent. Zwischen Theorie und Praxis sei "ein Mittelglied der Verknüpfung und des Übergangs" erforderlich. Dem Verstandesbegriff, welche die Regel (das Allgemeine) enthalte, "muß ein actus der Urteilskraft hinzukommen", wodurch der Praktiker "unterscheidet, ob etwas der Fall der Regel sei oder nicht" 18 • Es kommt natürlich darauf an, wie Kant das "unterscheiden" versteht. Er spricht zwar von Subsumtion, in Wahrheit handelt es sich eher um eine Entscheidung 19 • Denn der Akt ist nicht weiter begründbar: "da für die Urteilskraft nicht immer wiederum Regeln gegeben werden können", weil das "ins Unendliche gehen würde". Des weiteren deutetjedoch auch Kant eine Entwicklungsmöglichkeit an, die dieses "Mittelglied" doch überflüssig machen könnte: durch "Versuche und Erfahrungen" könne man neue Regeln 16 Kar! Engisch: Sinn und Tragweite juristischer Systematik, in: Studium Generale, Bd. 10 (1957), S. 173ff. 17 Kriele 193. 18 Über den Gemeinspruch, in: Kant, Werke in sechs Bänden, Darmstadt t 966, Bd. VI., s. 27. 19 so auch Goerlich t 70.

l.

Die Wende in der juristischen Methodenlehre

17

gewinnen und die unvollständige Theorie "vollständig machen". Hier wird die Entscheidung, trotz besserer Einsicht, eliminiert, und der Verstand ist der Konvergenzpunkt, gegen den die Bewegung der Wissenschaftsgeschichte strebt. Weiteres zum Thema erfahren wir in der "Kritik der Urteilskraft". Die mangelhafte Unterscheidung zwischen Subsumtion und Dezision ist jedoch auch hier die Quelle mancher Unklarheit. Die Urteilskraft sei das Vermögen, "das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken" 20 , vielmehr jedoch die Fähigkeit, die Verbindung zwischen den beiden herzustellen. Die bestimmende Urteilskraft subsumiere das Besondere unter das (vorgegebene) Allgemeine. Ist dahingegen "nur das Besondere gegeben, wozu sie das Allgemeine finden soll", so ist die Urteilskraft reflektierend. Berücksichtigt man die Überproportionalität der reflektierenden Urteilskraft in der dritten Kritik, so erscheint ihre Definition als gewichtiger. Dann fällt auch auf, daß die bestimmende Urteilskraft nicht symmetrisch zu ihr definiert wurde. Wenn die reflektierende Urteilskraft das Allgemeine zum Besonderen suchen und finden, vom Besonderen zum Allgemeinen hinaufsteigen soll, so würde man erwarten, daß die entgegengesetzte Bewegung, das Suchen des Besonderen, das Hinabsteigen vom Allgemeinen auch als eine Spielart der Urteilskraft definiert wird. Dadurch wären gerade die wichtigsten, gegenläufigen Bewegungen der sich fortbildenden Rechtswissenschaft vorweggenommen: die Suche nach Einheit unter höheren Prinzipien, das "Erkennen" oder "Entdecken" allgemeiner Rechtsgedanken oder von Systemzusammenhängen einerseits, und das Hinabsteigen vom Allgemeinen, von den unbestimmten Rechtsgedanken, Generalklauseln usw. zu ihrer besonderen Ausprägung - also Konkretisierung. Es ist hier nicht der Ort, durch eingehende Textanalyse die Vermutung zu begründen, daß Kant unter der bestimmenden Urteilskraft tatsächlich "Konkretisierung" versteht. Ich möchte die Plausibilität dieser Behauptung nur mit dem Hinweis nahelegen, daß Kant, obwohl er die Tätigkeit der reflektierenden Urteilskraft (insbesondere das Geschmacksurteil) ohne Bedenken "Subsumtion" nennt, in der Ausführung einen wesentlichen Vorbehalt geltend machen muß. Das ästhetische Urteil gründe sich nur auf der subjektiven formalen Bestimmung eines Urteils überhaupt, es sei keine eigentliche Subsumtion, d. h. die Subsumtion von "Anschauungen unter Begriffe, sondern des Vermögens von Anschauungen[ ...] unter das Vermögen der Begriffe" 21 • Das ästhetische (Geschmacks-) Urteil sei nicht logisch (analytisch), sondern synthetisch. Es sei überhaupt kein Erkenntnisurteil, es sei nur subjektiv begründbar. Es schreibe einem einzelnen Gegenstand das Prädikat "schön" zu und verbinde dieses Urteil mit dem subjektiven Anspruch auf allgemeine Anerkennung. Das Auffälligste in dieser Charakterisierung ist, daß das Geschmacksurteil nicht durch die Angabe von Gründen beweisbar ist. Es sei

° Kant 15.

2

21

Kant 117.

2 Holczhauser

Erster Teil

18

schlechterdings unmöglich, ein Prinzip des Geschmacks, einen Grundsatz zu finden, "unter dessen Bedingung man den Begriff eines Gegenstandes subsumieren und alsdann herausbringen könnte, daß es schön sei" 22 • Über das Geschmacksurteil könne "durch Beweise nichts entschieden werden" 23 • Man müsse unmittelbar an der Vorstellung des Gegenstandes Lust empfinden- "sie kann mir durch keine Beweisgründe augeschwatzt werden" 24 • - Ist dieser rabiate Ausbruch der Ansatz zu einer "Kritik der kommunikativen Vernunft"? Unter Entscheidung versteht hier Kant offensichtlich eine Entscheidung aufgrundvon Argumenten, Begriffsmerkmalen oder sonstigen Gründen- also eine Herleitung. In der Sache sind seine Geschmacksurteile echte Entscheidungen, genauer: Konkretisierungen eines unbestimmten Begriffs. Das "Schöne" ist in Wirklichkeit eine ästhetische GeneralklauseL Zeigt man einen "schönen" Gegenstand oder eine ganze Klasse solcher vor, so wird dadurch nicht so sehr der gemeinsame Oberbegriff, das Allgemeine gefunden, sondern im Gegenteil, das unbestimmte Allgemeine konkretisiert. (Das ist, nebenbei gesagt, nicht einmal reflektierende- wie Kant vorgibt-, sondern bestimmende Urteilskraft.) Während das Ansichsein für den Verstand (Theorie) als das Wahre transzendent bleibt und für die Vernunft (Praxis) als das Gute unmittelbar einsichtig ist, erhält die Urteilskraft eine nicht-triviale Aufgabe: sie muß das Allgemeine mit dem Besonderen vermitteln. Hege! sagt, in der Kritik der Urteilskraft sei der Gedanke der Idee ausgesprochen, allein hierin sei die Kantsche Philosophie spekulativ 25 . Hege! präzisiert hier, indem er die Entscheidung mit der Idee oder dem Spekulativen verbindet, indirekt auch die eigene Philosophie. Daß mit ihm (oder vorsichtiger: nach ihm) eine Wende in der neuzeitlichen Philosophie stattgefunden hat, hat u. a. Karl Löwith hervorgehoben. Die Zäsur bestehe in der Wendung zu einer "Theorie der Entscheidung" hin. Er sieht zwei große, einander entgegengesetzte Varianten: Kierkegaards "antiromantische [...)These vom existenziellen Denker und dessen leidenschaftliche[ ...) Subjektivität" sowie Marxens "antibürgerliche Forderung eines Praktischwerdens der Theorie". Beide, Kierkegaard und Marx, glaubtenjedoch noch an "eine höchste Instanz", an "Gott" und "Menschheit", als den Maßstab ihrer Entscheidung 26 • Schmitts Dezisionismus sei dagegen lediglich eine späte, "den wörtlichen Sinn der Philosophie verkehrende" Mißgeburt. Nun zurück zu Kant. Er hat die Urteilskraft nur als ein besonderes Erkenntnisvermögen neben anderen, nur als eine eigentümliche Art, Urteile zu 22

23 24 25 26

Kant 135. Kant 196. Kant 135. Hege!§ 55. Löwith 115 f.

1. Die Wende in der juristischen Methodenlehre

19

gewinnen, oder aber als das regulative Prinzip der Reflexion über das Organische, erkannt. Die neukantische Rechtsphilosophie verstand jedoch die Jurisprudenz nicht als Kunst, Rechtsurteile sollten nicht im subjektiven Belieben gründen, und das Prinzip des Organischen wurde von anderen Schulen aufgegriffen. Auch lag es an der Hand, in der Kant-Rezeption denjenigen Teil seiner Philosophie zu bevorzugen, der explizite Reflexionen über das Recht aufstellte - seine praktische Philosophie. (Natürlich auch die Kategorien der reinen Vernunft- doch das fliesse bei den Neukantianern in unkantischer und unklarer Weise ineinander 27 .) Kants dritte Kritik, mit seinen Anhaltspunkten für einen Entscheidungstypus "aus dem Nichts" blieb außer Acht, weil sie nicht einmal für reine Methodenfragen etwas Verwertbares bot. 1-3. Im Folgenden wollen wir versuchen, die Entscheidung als ein nicht nur praktisches, sondern auch theoretisches Problem darzustellen. Damit meinen wir, daß sie eine Kategorie der "theoretischen" Vernunft ist. Zunächst müssen wir jedoch ein mögliches Mißverständnis ausräumen. Der Begründungsprozeß, der einen Konsens wirklicher Subjekte herbeiführen soll, ist ein schwer zu entwirrendes Geflecht von Überzeugungen, unbewußten Annahmen, Interessen, Wertvorstellungen usw. Wir werden diesen Prozeß als "Herleitung" auffassen. Man kann einwenden, durch diese Reduktion werde der Reichtum des intuitiven Räsonnierens verkannt. Der Punkt dabei ist nur, daß dieser Reichtum das Vehikel der Dezision ist. Dort nämlich, wo man stillschweigend Zusatzannahmen einführt und dabei die entgegengesetzte Annahme ausschließt, fallt eine Entscheidung, die in der Regel nicht als solche erkannt wird. Wenn wir also die alltägliche Begründung (zumindest der Idee nach) als Herleitung auffassen, so nicht, um uns ein Modell zu verschaffen, das zwar einfach ist, das Problem jedoch verfälscht. Die Reduktion erleichtert nicht, sondern im Gegenteil, sie erschwert uns die Sache: sie läßt nicht zu, die Lücken der Begründung durch verdeckte Dezisionen zu überbrücken. Es muß auch gezeigt oder zumindest plausibel gemacht werden, daß die Entscheidung kein nur vorläufiges und praktisches Hilfsmittel ist, zu welchem man greift, um mit der Komplexität des Stoffes fertig zu werden, sondern daß sie ein logischer Akt ist. Gelingt dies, so muß einleuchten, daß man nichts gewinnt, wenn man versucht, die Entscheidung unter verschiedenen Vorwänden und unter mannigfachen Verschleierungen in eine ideale Herleitung umzuwandeln. (Einen solchen Versuch werden wir im Abschnitt 1-10 untersuchen.) Die Vorstellung der Wahrheitstindung ohne Entscheidung ist nicht so sehr eine begriffsjuristische Reliquie, sondern zugleich die Verfälschung des wirklichen Sachverhaltes. Die logische Herleitung ist Induktion, die Erzeugung einer Formelmenge aus vorgegebenen Formeln. Sie überträgt eine Eigenschaft der Anfangselemente (hier das Prädikat "wahr") auf die erzeugten (deduzierten) Elemente. Fixiert 27

2*

Kaufmann (II) 5.

Erster Teil

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man den Blick auf die Menge der erzeugten Sätze, so erscheinen sie alle als begründet, als nicht unmittelbar geltend, sondern durch einen Vermittlungsakt hervorgebracht. Die Tätigkeit der Erzeugung, die Anwendung einer Herleitungsregel (z. B. die Beseitigung der Implikation) ist ein Schritt, die Ausführung einer Operation, ein Handlungsakt. Natürlich betrachtet man ihn als einen "idealen" Akt, der der Subjektivität des Handelnden keinen Raum offen läßt. Das vom Willen gereinigte "logische" Subjekt kann nicht abwägen und überlegen, ob und wie ein Schritt auszuführen, eventuell zu unterlassen sei. Der mechanische Charakter der Herleitung, das Fehlen jeglicher Entscheidungsfreiheit nährt mit die Hoffnung auf willkürausschließende Objektivität und eine automatisierbare Rechtssprechung. Zur Induktion gehört nicht nur der Induktionsschritt, sondern auch der Induktionsanfang. Man kann erst schließen, nachdem man die Voraussetzungen gewählt, die Axiome gesetzt hatte. Während man jedoch ohne Umstände anerkennt, daß die Folgenkraft eines Herleitungsaktes wahr sind, so herrscht oft Unklarheit darüber, wie die Anfangselemente ihren Wahrheitswert erhalten. Man begegnet in der methodologischen Literatur manchmal der Behauptung, daß die Objektivität oder die Wahrheit mathematischer Axiome nicht vom menschlichen Willen, von irgendeinem Setzungsakt abhänge. So auch Kelsen 28 , der andererseits die Möglichkeit einer selbständigen "statischen" Normlogik gerade deswegen verwarf, weil es keine unmittelbar einleuchtenden Normen, keine normsetzende praktische Vernunft gäbe 29 • Man kann nun klarstellen, ohne auf die moderne axiomatische Methode einzugehen, daß die mathematischen Axiome keine unmittelbar einleuchtenden und unwiderlegbaren Wahrheiten sind. Diese Tatsache ist gerade bei denjenigen Axiomen am deutlichsten erkennbar, deren Negation selbst zu Theoriebildung geeignet ist, z. B. beim euklidischen Postulat. Einzig und alleine der Setzungsakt entscheidet, welches Glied der Alternative hier und jetzt als "wahr" gilt. Man kann die Notwendigkeit von Setzungsakten anerkennen und gleichzeitig versuchen, sie ins Vorfeld der Theorie (ins Subjektive, ins Erkenntnistheoretische oder -psychologische usw.) hinauszudrängen. Wiederum Kelsen ist es, der eindringlich beschwört, kein Gedanke sei möglich ohne "einen psychischen Akt", wobei der Sinn, der Wahrheitswert des Gedankens nicht im seelischen Prozeß, der ihn trägt, begründet werden könne 30 • - Die Bemühung nach Objektivität der Herleitung verlangt, den ursprünglichen Setzungsakt vonjeder Partikularität, insbesondere von einem beschränkten Willen, zu reinigen. Das Ergebnis ist dann oft, daß selbst der Setzungsakt beseitigt wird. Dabei hat gerade Kelsen die Erfahrung gemacht, daß ein ursprünglicher Setzungsakt nicht nur notwendig, sondern auch möglich ist, und daß er der 28

29

°

3

Kelsen (I) 16. Kelsen (II) 198. Kelsen (I) 97 FN.

1. Die Wende in der juristischen Methodenlehre

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Theorie selbst angehören muß. Gerade dies hat er vor Augen, wenn er die kritische Frage an die Adresse der Reinen Rechtslehre: "Wer setzt die Grundnorm?" als grundsätzlich verfehlt zurückweist. Sie werde nicht (durch einen Willensakt) gesetzt, sondern (durch einen Denkakt) vorausgesetzt 31 • "Voraussetzen" ist die Formel für den "transzendentallogischen" Denkakt, die reine Vernunfthandlung. (Die klare Erkenntnis von der Notwendigkeit eines Setzungsaktes wird übrigens von Kelsen durch den weiteren Versuch getrübt, den Anfang, den Grund durch denkökonomische Postulate doch weiter zu begründen.) Die Idealität des Setzungsaktes läßt sich übrigens nur in einer Weh mit einem einzigen Handlungssubjekt fingieren, und insofern kann Kelsen den Vorwurf, die Grundnorm habe eine apologetische Funktion, schwer von der Hand weisen. Denn angesichts konkurrierender Normsetzer wird aus dem interessenfreien Voraussetzen notwendigerweise Parteinahme, aus der Entscheidung gegen einen Inhalt eine Entscheidung gegen einen Willen. Handlungen, denen die Normqualität nicht zukommt, werden nicht einfach "soziologisch" (statt "normativ" 32 ) betrachtet, sondern sie sind "Unrecht". Um dieser Konsequenz zu entrinnen, ist Kelsen genötigt, den Konflikt innerhalb der Rechtsordnung durch fragwürdige ad-hoc-Hypothesen wegzuinterpretieren33 bzw. den Konflikt zwischen verschiedenen Rechtsordnungen durch die Auflösung der letzteren in einer einzigen Völkerrechtsordnung tendenziell zu beseitigen. Eine dritte Position, die hier noch erwähnt werden soll, kann den Setzungsakt ebenso wenig wegdenken wie die ersten beiden, sie gelangt jedoch zu anderen Schlußfolgerungen. Le Mercier De La Riviere nennt Euklid einen veritable despote und die geometrischen Wahrheiten despotische Gesetze. Er zieht damit die letzte Konsequenz aus dem Entscheidungscharakter des Setzungsaktes. Dieses Ergebnis ist natürlich nur in dem von ihm entwickelten "Axiomensystem", der Theorie des legalen Despotismus der aufgeklärten Vernunft folgerichtig. Hier fällt nämlich die Entscheidung nicht so sehr zwischen "falsch" und "wahr", sondern vielmehr zwischen zwei Akteuren: "Wer die richtige, natürliche und wesentliche Einsicht hat, darf gegenüber jedem, der sie nicht hat oder sich ihr verschließt, Despot sein" 34 • Formalisierte Logikkalküle haben der Tatsache, daß der Setzung von Axiomen ein ähnlicher Status zukommt wie den gewöhnlichen Induktionsschritten, längst Rechnung getragen. Die Setzungsakte wurden auch formal den übrigen Regeln gleichgesetzt: die Axiome werden als "uneigentliche" Herleitungsregel, als nullsteilige Funktionen eingeführt. Solche Funktionen werden durch die "Angabe", die "Festlegung", die "Auswahl" usw. eines Elementesalles Umschreibungen der Entscheidung- definiert. 31 32 33 34

Kelsen Kelsen Kelsen Vgl. D

(II) 206. (II) 224. (II) 210f., 271ff. 111f.

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Erster Teil

Das praktische Begründungsverfahren ist das Spiegelbild der Deduktion. Man schreitet nicht von den Gründen zu den Folgen, sondern "rückwärts", von einem zu Beweisenden zu den Gründen. Keine innere Notwendigkeit, sondern nur ein fremder Anlaß hält die Bewegung im Gange, für jeden Schritt braucht man äußere Impulse: Einwände und Gegenargumente, die widerlegt werden. Der Prozeß bleibt immer an der Grenze eines vorgegebenen Personenkreises stehen. Mögliche Einwände, die aktuell nicht erhoben werden, bleiben unberücksichtigt. Das ist auch nicht nötig, denn man strebt nicht nach einem objektiv geltenden Grund, sondern man will nur das subjektive Bedürfnis nach Begründung befriedigen. Der Handelnde strebt keine absolute Wahrheit an, sondern er will Widerstand, einen fremden Willen aus dem Wege räumen, einen Freiheitsraum abstecken. Wird der Konsens erzielt, so wird auch die Begründung abgebrochen, genau wie bei der Dezision. Daß der Konsens nicht als Entscheidung erscheint, liegt daran, daß die möglichen Gegeninhalte von keinem (wenigstens von keinem relevanten) Subjekt gewollt werden. Oder wie man auch sagen kann: die durch Konsens gesicherten Inhalte werden "nicht attackiert" 35 . Der Konsens als Entscheidung richtet sich nur gegen einen Inhalt (der insofern nicht mehr widerlegt, sondern einfach ignoriert wird), nicht jedoch gegen einen Willen oder ein Subjekt. Auch Schmitts früher Versuch, die "inhaltliche Indifferenz" der Entscheidung und die darin enthaltene Willkür durch den Rückgriff auf den Konsens zu begrenzen, war eine hilflose Lösung. Daß die Entscheidung "richtig" sei, wenn anzunehmen ist, daß ein "anderer Richter" (d. h. der "empirische Typus des modernen rechtsgelehrten Juristen") genauso entschieden hätte 36 , ist die Flucht in den antizipierten Konsens. Dieser ist noch weniger als der tatsächlich gefundene Konsens geeignet, die Entscheidung in Richtigkeit zu transformieren. Bereits die Grenze des "relevanten" Personenkreises enthält eine Entscheidung. Die wie auch immer gearteten Kriterien der Gruppenbildung sind bestimmte und begrenzte Inhalte, die gegenüber und außerhalb ihrer Negation stehen. Daß sie "unmittelbar" einsichtig sind, ist der Ausdruck der Tatsache, daß ihre Vermittlung, das (individuelle oder kollektive) Begründungsverfahren im Bewußtsein nicht mehr gegenwärtig ist. Kultur, Tradition, als legitim akzeptierte Institutionen usw. sind geronnene Entscheidungen, deren einstige Widersacher untergegangen sind; sie sind die institutionalisierten Dezisionen früherer Epochen und Kulturen. Selbst so weit gefaßte Integrationskriterien wie "vernünftige" Menschen oder "verallgemeinerungsfähige" Interessen usw. enthalten eine Dezision. "Verallgemeinerungsfähigkeit" ist ein Begriff, der den Willen zur Einigkeit in eine objektive Gegebenheit und damit das praktische Problem der Handlung in ein theoretisches der Vernunft verwandelt. Die scheinbare Überlegenheit des 35 36

Podlech 137. G&U 71 .

1. Die Wende in der juristischen Methodenlehre

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Zugeständnisses, daß man in der Konsenstindung von der Partikularität des Willens nicht zu abstrahieren braucht (wie etwa bei Kant), wird in Handumdrehen zurückgenommen, wenn i) nur der "vernünftige" Wille beachtet und ii) nicht die tatsächlich erzielte Übereinkunft, sondern deren Idealbegriff gefordert wird. Ihr Kriterium ist das Axiom oder aber die Dezision, "daß jederzeit und überall [...] ein Konsens unter Bedingungen erzielt werden kann, die diesen als begründeten Konsensus ausweisen" 37 . Wer ihr nicht zustimmt, riskiert, als "unvernünftig" denunziert zu werden.

1-4. Die Präferenztheorie sieht einen grundlegenden Unterschied zwischen Basis- und Einzelkonsens. Die Unterscheidung ist auf die Entscheidung übertragbar. Es gibt einen grundlegenden Unterschied zwischen einer Basisentscheidung und der "verdünnten" Entscheidung einer in ihren Kompetenzen eingeschränkten Instanz. Wenn es heißt, daß der Basiskonsens nicht formalisierbar ist, sondern aufinformelle Weise gefunden wird, so gilt entsprechend, daß es für die Basisentscheidung keinen Algorythmus zur Herstellung einer Ordnung gibt 3 8 • Die formalisierte Logik drückt diesen Sachverhalt mit unübertrefflicher Klarheit aus: Theoreme folgen aus den Axiomen, die Axiome selbst folgen aus der leeren Formelmenge- d. h. aus dem Nichts. Das Gleiche sagt Schmitts Formel, die Entscheidung werde aus dem Nichts geboren, aus. Die darob häufig entbrannte Aufregung läßt übersehen, daß der Satz weitaus präziser gefaßt wurde. Die Entscheidung, insbesondere diejenige, die eine Ordnung (eine Rechtsordnung) begründet, sei aus dem normativen Nichts geboren 39 • Das Nichts wird qualifiziert und mehr oder weniger explizit auf ein konkretes "Herleitungssytem" bezogen. Die Basisentscheidung eines normativen Systems erfolgt naturgemäß aus dem normativen Nichts, wie etwa die Axiome der Mengenlehre aus dem mengentheoretischen, Kants Geschmacksurteile aus dem ästhetischen Nichts geboren werden. Gerade die "Mehrheitsentscheidung" offenbart, daß sie inhaltlich aus dem Nichts entsteht. Sie gilt einzig und alleine wegen der Kräfte-, d.h. der Mehrheitsverhältnisse. "Redliche Mehrheitsdezisionen" seien auch besser zu ertragen als die hoheitsvolle Gebärde "eindeutiger" Rechtsanwendung. Gerade die Meinungsverschiedenheit mache es jedermann einsichtig, daß eine Instanz "mit der Vollmacht zu streitbeendenden Dezisionen" nötig sei 40 . Daß die abweichende Meinung eines Richters keine Begründung des Urteils ist, versteht sich von selbst. Die Existenz konkurrierender Meinungen und Gründe offenbart die wahre Beziehung zwischen Grund und Begründetem: die eigentlich bestimmenden Entscheidungsgründe sind die "Gründe für die 37

38 39 40

Haberrnas 219. Podlech 12, 15. D 23; vgl. auch PT 42. Kriele 308 f.

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Heranziehung oder Nichtheranziehung eines Gesichtspunktes" 41 , die in der Regel unausgesprochen bleiben. Dem entspreche, daß lediglich die Entscheidung, nicht jedoch ihre Gründe präjudiziell binden 42 • Friedeich Müller hat versucht, eine Typologie von Dezisionen "in technischem Sinne" aufzustellen. Sie seien Entscheidungstypen, die allgemein anerkannte Regeln der Dogmatik subtil oder grob verletzen und Urteile hervorbringen, die sich auf den angenommenen Obersatz nicht zurückführen lassen43 • Ich will diese Typologie, unabhängig von den angeführten Beispielen, kurz ins Auge fassen. Zum ersten Typus gehören Entscheidungen über Fragen, die rechtlich geregelt sind, wobei die vorgeschobene Begründung behauptet, sie seien gar nicht oder anders geregelt (Dezision durch "Rechtsverbiegung"). Die Dezisionen des zweiten Typus hätten dagegen wirklich keinen Obersatz, die Frage wurde nicht geregelt. Die Urteilsbegründung behaupte jedoch, sie sei geregelt, u.z. im (politisch) erwünschten Sinn (Dezision durch "Rechtsunterstellung"). Schmitts "Dezisionismus" (Müller: eine "Mythologie" der Entscheidung) paßt natürlich in keinen dieser Typen, welche in verschiedenen Ausgangssituationen versuchen, die Entscheidung als eine Deduktion erscheinen zu lassen. Im zweiten Typus kann man (zumal voraussetzungsgemäß keine Regelung vorhanden ist) nicht so sehr die Tatsache, daß es überhaupt entschieden wurde, beanstanden, sondern nur das Verschleierungsmanöver mißbilligen, evtl. den Kompetenzmangel der Entscheidungsinstanz bloßstellen. Komplizierter ist die Lage beim ersten Typus. Läßt sich eindeutig feststellen, wie die Frage geregelt wurde, so kann nichts über den rechtsbeugenden Charakter des Urteils hinwegtäuschen. Müllers (fairerweise) nachgetragene "Selbstkritik" weist jedoch auf eine Schwierigkeit hin, die das Kriterium der Typisierung ins Wanken geraten läßt. Denn das zunächst kategorisch geforderte Merkmal: die Frage wurde so und so geregelt, sei, "wie in jedem juristischen Normalfall", nicht zwingend. Kann nämlich die Regelung unterschiedlich ausgelegt werden, so erscheint das Urteil bald als rechtsbeugende Dezision, bald als korrekte Entscheidung nach der Rechtslage - je nach dem, welcher Auslegung man zustimmt. Es ist eine Entscheidung über die "richtige" Auslegung nötig. Das dezisionistische Element verlagert sich von der Frage: quis iudicabit auf die Frage: quis interpretabitur. Dann ist aber der Obersatz keine prinzipiell unanfechtbare Wahrheit mehr, sondern höchstens Basiskonsens, "herrschende Meinung". Es ist keineswegs ihre Herabsetzung, wenn man sie als Entscheidung bezeichnet. Doch dann stehen nicht mehr Wahrheit und Willkür einander gegenüber, und die "Anmaßung" der entscheidenden Instanz besteht womöglich nur darin, eine andere, mögliche Entscheidung nicht gewählt zu 41 42

43

Kriele 310. Kriele 308. Müller (li) 21 ff.

1. Die Wende in der juristischen Methodenlehre

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haben. Ob dies vetretbar ist oder nicht, läßt sich nicht allein aufgrund dieses abstrakten Schemas beurteilen. 1-5. Das "juristische Nichts" bleibt natürlich nicht ganz leer, sondern man versucht, es mit außerrechtlicher Materie zu füllen. Die verschiedenen Arten des Rückgriffs auf die "Natur der Sache", die konkreten Institutionen und ihre soziale Funktion, die herrschende Rechtsmoral, das Rechtsempfinden des Volkes, das Sittengesetz, Religion und Wissenschaften usw. sind Wege, außerjuristische Maßstäbe für die Entscheidung zu finden. Wenn Kelsen die Grundnorm mit denkökonomischen Postulaten begründet, wenn das BVerfG eine Entscheidung mit ihren antizipierten sozialen Folgen gerechtfertigt (und dadurch die Deduktion mit teleologischen Elementen überlagert44) usw., so wirkt darin das Bedürfnis, die juristische Herleitung über die jeweiligen Anfangselemente hinaus, in einem "fremden" Element, fortzusetzen. Die Dezision wird dabei nicht eliminiert, sondern nur ins Vorfeld des Juristischen verlegt. Die Naturrechtskonstruktionen prägten der außerrechtlichen Materie den Charakter des - wenn auch anders gearteten - Rechts auf, um die Fiktion der restlosen Subsumtion zu retten. Angesichts der modernen Interdisziplinaritäts-Euphorie braucht man nicht die fremde Materie als Recht zu übertünchen. Der Rückgriff auf irgendwelche außerjuristische Materie ist berechtigt und funktioniert, solange ihre Beurteilung einheitlich ist, oder wie Schmitt sagt: die Homogenität vorausgesetzt werden kann. Im Konfliktfall, wo die Homogenität zerrissen wird, ist der Verweis auf die außerrechtliche Materie, z. B. auf die Rechtssauffassungen des Volkes, keine Lösung der Schwierigkeit. Die Verlängerung der Subsumtion gelingt nur, solange die außerrechtliche (oder überpositive) Materie einheitlich ist. Nicht von ungefähr spricht man von "der" Funktion der Grundrechte, "der" sozialen Wirklichkeit usw.: eine Einheit muß vorgetäuscht werden. Zerfällt nämlich diese Materie etwa in verschiedene Naturrechtsdoktrinen, in entgegengesetzte moralische Gebote, in konkurrierende Interessen, in unvereinbare sozio-ökonomische Analysen und Prognosen, in einander widerspechende Erklärungen und Meinungen über die "Natur der Sache" usw., so kann sie nicht mehr als Entscheidungsgrund und -maßstab dienen, sondern erst eine Entscheidung verhilft der einen oder anderen Alternative zur Geltung. Hier kann man die Kritik, sie sei aus dem Nichts getroffen, nicht wörtlich nehmen: der Kritiker signalisiert nur, daß er den Grund nicht gelten läßt45 • Es wurde häufig auf die Grenzen des Griffs nach außerrechtlicher Materie hingewiesen. Zippelius zeigt, wie trügerisch die Erwartung sein kann, von der Vgl. etwa Kriele 194. Hermann Heller z. B. verwarf Schmitts Dezisionismus nicht etwa wegen seiner Inhaltslosigkeit, sondern weil dessen Inhalt mit dem des eigenen Dezisionismus nicht übereinstimmte. 44 45

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Erster Teil

"herrschenden Rechtsmoral" Entscheidungsobersätze zu gewinnen. Die Ermittlung dessen, was herrschende Rechtsmoral ist, werde erschwert durch ihre Verfalschbarkeit oder ihren Wandel. Sie sei in einem sozial, kulturell usw. inhomogenen Medium naturgemäß vielschichtig. Sie sei andererseits in der Regel weniger artikuliert, dafür aber lückenhafter als die rational durchgearbeitete Rechtswissenschaft. All dies ermögliche keine eindeutige Erkenntnis darüber, wo die Grenzen nachvollziehbarer Werterfahrung liegen und wo die verdeckte, unkontrollierbare Entscheidung des Rechtsanwenders beginne. Nicht zuletzt könne ihre Berücksichtigung auf Kosten der Rechtssicherheit gehen. Sie begünstige eine Opportunitätsjudikatur (ob gerecht oder nicht, das Urteil fordert die gerade herrschende und wie auch immer herbeigeführte Öffentlichkeit nicht heraus) und die Bindung des Richters an Interessen- und Machtgruppen46 • Nicht weniger problematisch ist der Hinweis auf die "soziale Wirklichkeit". Mit Hinblick auf sie unterscheidet Hirsch einerseits Gesetze vom normativen oder teleologischen Typus 47 , die gestaltend in die Wirklichkeit eingreifen, andererseits Gesetze, die der Wirklichkeit "nachgeben", die Sachverhalte des sozialen Lebens nur "nachzeichnen" 48 . Auch die ersteren sind auf die Kenntnis sozialer Zusammenhänge angewiesen, um den beabsichtigten Erfolg nicht zu verfehlen. Die Annahme bloß nachzeichnender Gesetze kann jedoch dazu verleiten, das soziale Vorfeld als eine Materie zu handhaben, welche die Subsumtion in einen Sachbereich hinein verlängert und die Entscheidungskomponente minimalisiert. Sie suggeriert, es gäbe neutrale und sachliche Normbereiche, deren Bestand weder gesichert noch garantiert, sondern nur erkannt und nachgezeichnet werden soll. Das wäre eine trügerische Annahme. Denn selbst Gesetze, die nur Teilbereiche bestehender Institutionen regeln, um ihnen ein Maximum an Effektivität zu sichern, sind nicht rein nachzeichnend, sondern sie enthalten die grundsätzliche Entscheidung, daß die Institution schützenswert ist. Sie sind alles andere als "ontologisch vorgezeichnete" Strukturen, es sei denn, man nennt alles, was da ist, ontologisch. Daß eine Regelung überhaupt notwendig wird, ist meist das sichere Zeichen dafür, daß die Existenz der Institution nicht mehr unproblematisch ist. Wirksame soziale Kräfte können ihre Zweckmäßigkeit oder Legitimität in Frage stellen, haben zumindest abweichende Meinungen über ihre optimale Funktionalität usw. Berücksichtigt man noch die Vielfalt und die häufige Unvereinbarkeit von Bestandsaufnahmen und Prognosen, so kommt der Verdacht auf, daß die soziale Wirklichkeit vielmehr Entscheidungen erfordert als die Entscheidung durch verlängerte Subsumtion überflüssig zu machen.

46 47 4S

Zippelius 193 f. Hirsch 162. So Henkel 74f.

1. Die Wende in der juristischen Methodenlehre

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1-6. Subsumtion bedeutet zweierlei in der wissenschaftlichen Umgangssprache: i) das Urteil, das einem Objekt ein Prädikat zuschreibt (eigentliche Subsumtion), und ii) den Schlußakt, der aus einem Merkmal andere herleitet. Ausdrücke wie "dieses Objekt ist ein Tier" oder "Waffen sind bewegliche Sachen" werden oft unterschiedslos Subsumtion genannt. Die Gleichsetzung ist im Grunde nicht unberechtigt. Engisch unterscheidet eine "prädikative" und eine "konditionale" Interpretation des Rechtssatzes und hält die beiden offensichtlich für gleichwertig49. Unter der Annahme, daß jedem Prädikat eindeutig Klassen von Objekten zugeordnet werden können, kann man die obigen Subsumtionsarten in Klasseninklusionen verwandeln. Dann lauten die Beispiele wie folgt: i) die "Einzelklasse" des vorgegeben Objekts ist in der Klasse" Tier", und ii) die Klasse"Waffe" ist in der Klasse "bewegliche Sache" enthalten. Nach dieser etwas pedantischen Vorbereitung kann man die möglichen Subsumtionen einheitlich durch ein Netz darstellen, dessen Knotenpunkte Klassen (Prädikate), die sie verbindenden gerichteten Segmente die Inklusionsrelation darstellen. Eine jede Theorie bearbeitet ein solches Netz auf doppelte Weise. Erstens sucht sie die Punkte auf, die ins Netz überhaupt aufgenommen werden. Das ist natürlich keine Herleitung, sondern Invention und Entscheidung, welche die für eine Wissenschaft relevanten Begriffe ausarbeitet und sie durchsetzt. Zweitens muß man im Netz Wege, die einem Spezialgebiet charakteristischen "Subsumtionsgewohnheiten", bahnen. Daß der Punkt "Waffe" mit "beweglicher Sache" und nicht mit "Schwermetall" oder aber "Flugkörper" verbunden wird, beruht auf materiellen Überlegungen, die die Jurisprudenz von der Chemie bzw. von der Ballistik unterscheiden. In allen drei Fällen handelt es sich um Entscheidungen, die sich zur typischen Denkweise einer Disziplin verfestigt haben. Spricht man gelegentlich von einer "Begriffsleiter", so bedeutet dies, daß irgendeine Bahn eindeutig und endgültig gezogen wurde. Erst dort, wo die vielen Wege, die aus einem Punkt ausgehen, auf einen einzigen reduziert wurden, und daher keine Wahlmöglichkeit mehr besteht, kann man von Subsumtion (anstelle von Entscheidung) reden. Daß in diesen Punkten keine Entscheidungsfreiheit besteht, ist wiederum nicht exakt oder abstrakt, sondern situational-konkret zu verstehen. Unsicherheitsfaktoren, die einen Laien vor eine schwere Entscheidung stellen würden, sind für den Fachmann irrelevant, also praktisch inexistent. Für den ersten ist die Freiheit qualvoll, für den zweiten ist sie gar nicht vorhanden. Der Unterschied zwischen Subsumtion und Dezision begründet Qualitätsunterschiede zwischen den Knoten. Larenz versucht, durch eine Liste von Gegensatzpaaren Begriff und Typus auseinanderzuhalten. Der Begriff werde gewöhnlich durch einfache, voneinander unabhängige Merkmale definiert. Dagegen werde der Typus durch konkretisierungsbedürftige Ausdrücke be49

Engisch (II) 35 ff.

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Erster Teil

schrieben. Unter einen Begriff könne man subsumieren, d. h. das Wahrnehmungsvermögen und die Intelligenz des Durchschnittsmenschen genügen, um ein Objekt einzuordnen. Dem Typus könne man, aufgrunddes "Gesamtbildes", lediglich "zuordnen". Was dies auch bedeuten mag, es steht fest, daß die Zuordnung eine größere Entscheidungsfreiheit gewährt als die Einordnung, auf das Vorhandensein oder Fehlen eines einzelnen Kriteriums kommt es u. U. nicht an. Das mache die Grenze des Typus fließend, im Gegensatz zum Begriff, der starr umrissen ist 50 • Ein Beispiel soll das obige verdeutlichen. "Schußwaffe" ist ein durch einfache, konkrete Merkmale definierter Begriff. Demgegenüber ist Waffe "im technischen Sinne" ein durch konkretisierungsbedürftige Ausdrücke ("Auffassung des Handelnden", "geeignet", "beabsichtigte Anwendung" usw.) beschriebener Typus 5 1 • Die durch den Typus ermöglichte Entscheidungsfreiheit des Rechtsanwenders dient nicht dazu, die Kriterien laxer zu handhaben als im Falle des Begriffs. Sondern sie muß eine feinere und präzisere, vielleicht unvorhergesehene Erfassung des Einzelfalles ermöglichen. In unserem Beispiel genügt nicht, daß der Rechtsanwender vorgegebene Merkmale mechanisch nachprüft, sondern er muß sachlich-kausale und teleologisch-funktionale Zusammenhänge, Absichten, Annahmen und Erwartungen, Irrtümer usw. - nicht nur desjenigen, der von der Waffe Gebrauch macht, sondern auch des Bedrohten- untersuchen. Er darf sich nicht am Durchschnittsfall orientieren, sondern er muß die Eigenheiten der konkreten Situation ins Auge fassen. Kausalität und Teleologie werden dabei nicht als "natürliche", d. h. prinzipiell insUnendliche beliebig fortsetzbare Relationen, die Beteiligten nicht als ideale, mit einer unbestimmten "Fülle" von Eigenschaften (insbesondere mit unbegrenztem Wissen) ausgestattete Subjekte angesehen. Sondern der Rechtsanwender muß Korrektive anwenden. Er muß entscheiden, ob der Erfolg den Bedingungen, das Mittel dem Zweck zuzurechnen oder die kausale (teleologische) Kette abzubrechen, ob eine Kenntnis, eine Erwartung, eine bestimmte Reaktionsweise zurnutbar sei oder nicht usw. Konkretisiert der Gesetzgeber die Beschreibung des Typus, füllen die Kommentare das juristische Nichts auslegungsbedürftiger Merkmale, so erhärtet sich der Typus und nähert sich allmählich einem geschlossenen Begriff. Überall, wo die Rechtssicherheit der Einzelfallgerechtigkeit vorzuziehen ist, wird die Erstarrung von Typen zu Begriffen gefördert. Die Bewegung kann jedoch auch in der anderen Richtung stattfinden. Starre Begriffe werfen in atypischen Situationen die schwierigsten Interpretationsfragen auf52 , scheinbar bestimmte Begriffe werden - falls man die teleologisch-wertende Betrachtung mit einbezieht - offen 53 • 50 51

52 53

Larenz 440 f. Dreher /Tröndle; Strafgesetzbuch 1983, § 244 Rdnr. 6 - 8. Kaufmann (I) 85. Henkel 59.

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Bei "subsumtionsartigen" Entscheidungen findet ein Übergang von "unten" nach "oben" statt, d. h. Klassen kleineren Umfangs werden in größere Klassen eingefügt. Die Konkretisierung ist die entgegengesetzte Bewegung: Aus der vorgegeben Klasse muß eine Teilklasse, u. U. ein einziges Individuum ausgesondert werden. Den Generalklauseln, unbestimmten Begriffen usw. gehört nicht von vornherein ein "sachgeprägter Normbereich" an. Die Falltypen werden, vor allem durch die Rechtssprechungstradition, allmählich ausgestaltet und zu Normbereichsektoren verdichtet 54 • Während das Auffinden allgemeiner Rechtsprinzipien das Netz nach "oben" ergänzt, bahnt die Konkretisierung Wege nach "unten". Nach der extensionalistischen Auffassung ist das Individuelle (das einzelne Objekt, das natürliche Subjekt, der Einzelfall usw.) die natürliche Grenze der Konkretisierung. Berücksichtigt man auch kausale und teleologische Beziehungen, so wird die Sache komplizierter. Betrachten wir ein Beispiel. Es gehört zu den Grundsätzen demokratischer Mehrheitsbildung, daß die abgegebene Stimme der Endpunkt der Zurechnung ist. Indessen ist allgemein bekannt, daß zwei Ja-Stimmen durchaus verschiedene Dinge bedeuten können, daß eine Zustimmung u. U. einer Nein-Stimme gleichkommen kann. Die Unsicherheit der Bedeutung beruht darauf, daß die abgegebene Stimme in einem komplizierten Willensbildungsprozeß nicht Endziel des Handelnden zu sein braucht, sondern für verschiedene Akteure Mittel zu unterschiedlichen Zielen ist. Nimmt man z. B. die gleichlautenden Stimmen einer Interessenorganisation unter die Lupe, so ergibt sich, daß der Einzelne letzten Endes nicht die gemeinsamen, sondern die eigenen Interessen verfolgt, den eigenen Gewinn maximieren will. Entfallt der Interessengegensatz nach außen (der das gemeinsame Handeln überhaupt nötig macht), so kann die Koalition ihren Zweck verlieren, und damit wird auch das Mittel überflüssig. Die einstigen Genossen können zu Konkurrenten werden. Hier liegt ein Problem vor, das von der Präferenztheorie schwer untersucht werden kann. Denn die Elemente einer wirklichen Alternativenmenge sind selten voneinander unabhängig, sondern sie werden durch die Teilnehmer in schwer überschaubare oder empirisch zu ermittelnde (wirkliche oder vermeintliche) kausale und teleologische Beziehungen gebracht. Ein Abstimmungsergebnis kann weitere Ereignisse, weitere Entscheidungen vorbestimmen. Ob Güter, über die im ersten, zweiten usw. Gang der Abstimmung entschieden wird, auch in Wirklichkeit und bei jedem Teilnehmer an der ersten, zweiten usw. Stelle stehen, läßt sich selten mit Sicherheit sagen. Es ist ein nie gänzlich zu vernachlässigender Unsicherheitsfaktor politischer Koalitionen, daß die bekannten Präferenzordnungen nur die bekanntgegebenen Segmente latenter oder absichtlich geheimgehaltener Ordnungen sind. Was für einige Teilnehmer bereits ein "Grundkonsens" ist, kann für andere nur Mittel zu weiteren Zwecken, also 54

Müller (I) 80.

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Oberflächenkonsens sein. Dieser Umstand birgt viel größere Gefahren in sich als etwa die Tatsache, daß es kein allgemeingültiges Verfahren zur Erzeugung nicht-diktierter sozialer Präferenzordnungen gibt (Theorem von Arrow). Schmitt hat dieses Problem im Zusammenhang mit den "unechten Mehrheiten" des Weimarer Reichstags untersucht. Seine Forderung, daß eine Regierung nur dann zurücktreten soll, wenn die Abstimmung homogen ist, ist ein Konkretisierungsgebot. Natürlich war er sich bewußt, daß dadurch eine Konkretisierung ins Bodenlose ausgelöst werden kann: "Man muß befürchten, in eine praktisch unmögliche Detaillierung hineinzugeraten, wenn man überhaupt einmal damit beginnt, die verschiedenen Motive der verschiedenen Parteien zu beachten" 55 • Das sog. konstruktive Mißtrauensvotum setzt ein Ziel (den Willen zur Regierungsbildung und zum Regieren überhaupt) voraus, über welches hinaus jede weitere Konkretisierung, jede bedenkliche politische "Motivforschung" abgeschnitten wird 56 • Das Abbrechen der Zurechnung von Handlungsmotiven kann auch für eine Wissenschaft konstitutiv werden. So z. B. für die Nationalökonomie. Wenn man sagt, das typisch ökonomische Individuum sei "gewinnorientiert", so ist dies eine Abstraktion, die jedes weitere Motiv hinter dem Gewinnstreben bewußt ausklammert 57 • 1-7. Schleiermacher war das Bewußtsein, daß der Zirkel 58 (zumindest für den gewöhnlichen, "endlichen" Verstand) ein logischer oder methodologischer Fehler ist, noch nicht abhandengekommen. Der Übergang vom Teil zum Ganzen (und umgekehrt) war für ihn keine diskursive Erkenntnis, sondern ein transzendentaler Akt. Sein Begriff vom "divinatorischen Akt" oder von der "divinatorischen Transposition" ist übrigens weniger eine Entscheidung als eine mit der Gabe des Genies vergleichbare Fähigkeit unmittelbaren Erkennens. Die "Hin und Herbewegung" zwischen Teil und Ganzem ist nur als "spekulative Relativierung" gemeint, nicht "grundsätzlich", sondern nur "vorläufig" 59 - ein Surrogat für den Fall, in welchem die Divination ausbleibt oder bevor sie wirksam wird. Heidegger präsentiert den Zirkel in einer Form, die in der Sache ähnlich gelagert ist. "Alle Auslegung [...] muß schon das Auszulegende verstanden haben". Es handele sich hierbei nicht um einen trivialen Kurzschluß des VL 345. Die Ausübung des Stimmrechts ist im privatrechtliehen Verband interessengebunden, s. Müller-Erzbach (I) 118. Hier ist die Motivforschung erlaubt, um dem Mißbrauch des Stimmrechts vorzubeugen. 57 Buchanan / Tullock 18. 58 Die Ausweitung Schleiermachers hermeneutischer Regeln zu einer allgemeinen Methodologie der Geisteswissenschaften gehe an den Problemen der Rechts- und Verfassungskonkretisierung im Ansatz vorbei (Müller (IV) 185). 59 Gadamer: Wahrheit und Methode, Tübingen, 1960, S. 177 ff. 55 56

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Denkens, sondern um den "Ausdruck der existentiellen Vor-Struktur des Daseins selbst". In ihm verberge sich die "positive Möglichkeit ursprünglichen Erkennens", die nur dann wahrgenommen werde, wenn die Auslegung das wissenschaftliche Thema "aus den Sachen selbst" sichere 60 • Das klingt so, als wäre die "Sache selbst" ein Drittes, das ein unvermitteltes Erkennen ermöglicht und den Zirkel abbricht. Helmut Kuhn faßt schließlich den Zirkel in einer Form, die den Zusammenhang zu unserem Problem durch eine leichte Übersetzung in voller Schärfe offenbart. "Die richtige Wahl der Seele lenkt die Blickrichtung auf das Gute. Zugleich aber soll die Erkenntnis des Guten die Richtigkeit der Wahl bestimmen. Dieser Zirkel liegt in der platonischen Philosophie und der Metaphysik überhaupt zugrunde" 61 • Der Zirkel tritt bei jedem Versuch, das Besondere aus dem Allgemeinen diskursiv, in einer Reihenfolge von Grund und Begründetem zu bestimmen, auf. Man ersetze das "Gute" mit dem "Gerechten", um in den Kreis des rechtlichen Sollens hineinzukommen. Dann heißt es: Um im Einzelfall gerecht zu urteilen (Besonderes) muß das Subjekt an der Gerechtigkeit (Allgemeines) Teil haben; doch daß es Teil hat, erkennt man daran, daß er im Einzelfall gerecht urteilt. Es geht also nicht so sehr darum, in den Zirkel "nach der rechten Weise hineinzukommen" (Heidegger), sondern doch um etwas banaleres: das ewige Hin und Herwandern abzubrechen. Aufgabe ist die Konkretisierung eines allgemeinen Prinzips. Der Lösungsprozeß kann durch (evtl. eine Kette von) Entscheidungen beschrieben werden. Man muß hier nachdrücklich betonen, daß es sich um eine Aufgabe handelt, weil in der methodologischen Literatur die Tendenz besteht, im Zirkel mit mehr oder weniger Zurückhaltung die Konturen einerneuen Auslegungsfigur, wenn nicht gar die Grundstruktur des "Verstehens" zu erblicken. Insbesondere Larenz versäumt keine Gelegenheit, den sog. "hermeneutischen Zirkel" zu preisen, weil er ihn (Stichwort "Wechselwirkung") mit dem "Dialektischen" überhaupt identifiziert62 • Es ist hier nicht der Ort, die Regel-Rezeption der Rechtswissenschaft zu würdigen. Es kann jedoch nicht unerwähnt bleiben, daß für Hege! die Wechselwirkung mit Dialektik gar nichts zu schaffen hat. Sie ist, im Gegenteil, eine "Zuflucht" der Reflexion, wenn die lineare Kausalität versagt. Einen Inhalt bloß "unter dem Gesichtspunkt der Wechselwirkung zu betrachten" sei ein "durchaus begriffsloses Verhalten" 63 •

60 61 62 63

Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen "1967, S. 152. Kuhn: Das Sein und das Gute, München 1962, S. 219. Larenz 47. Hege! § t 56 (Zusatz).

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Erster Teil

Die Fülle der Abwandlungen, in denen der Zirkel nachgewiesen wird, verdichtet sich zu zwei Typen, die man gewöhnlich nicht klar voneinander unterscheidet. Der eine Typus ist eher ein Prozeß, der sich in der Materie selbst abspielt. Hier ist begründet, von Wechselwirkung zu sprechen. Für diese "objektivistische" Deutung sind Wendungen charakteristisch wie: Willenserklärungen "bedingen", Interessen, Grundrechte usw. "begrenzen" sich gegenseitig usw. Die zu lösende Aufgabe ist auch hier, die Wechselseitigkeit zu überwinden. Nie würde ein Vertrag erfüllt, wenn er auf der logischen Gegenseitigkeit beruhte, d. h. jeder Vertragspartner darauf warten würde, daß der andere die Bedingung des eigenen Handels herbeiführt. Erst die vereinbarte Vorleistung, die zunächst ohne eine kausale Bedingung erfolgt, bricht die unendliche Reflexion ab. Genauso wenig könnten sich Grundrechte oder "allgemeine Gesetze" wechselseitig beschränken64 , wenn im konkreten Fall eine Entscheidung den Zirkel nicht durchbrechen würde. Die Kritiker der sog. "Güterabwägungslehre" des BVerfG heben meist gerade dies hervor: die Wertung entbehre eines leitenden Verfassungsprinzips 65 , sie sei reine Entscheidung. Der zweite Typus des Zirkels ist ein subjektiver Prozeß im Bewußtsein des Rechtsanwenders: das Hin- und Herwandern des Blicks (Engisch). Kriele hat es ausführlich dargestellt. Die Anfangssituation seines Gedankenexperiments ist eine "rechtssatzfreie" aber doch normative Welt, in der zwar ein abstraktes Gerechtigkeitsgebot, jedoch keine konkrete Norm vorhanden ist. Die Inhaltsleere des allgemeinen Prinzips lenkt den Blick auf die Materie der Interessenkonflikte. Die streitenden Parteien stellen, durch ihre Forderungen, "Normhypothesen" auf, deren eine schließlich zu Norm erhoben wird und der Blick kehrt in die Sphäre des (objektiv) Normativen zurück 66 • Die erste, grundlegende Dezision, die hinter dem Hin- und Herwandern stattfindet, liegt außerhalb der Situation, in der der konkrete Streitfall entschieden werden muß. Sie besteht darin, daß es den Prozeßparteien nicht überlassen wird, ihre juristischen Geschmacksurteile (Normhypothesen) selbst durchzusetzen. Die Abwägung von Interessen, die Bevorzugung der einen Normhypothese (evtl. das Vorschlagen einer dritten) ist die zweite Entscheidung. Beide erfolgen aus dem normativen Nichts- anders könnte es in einem voraussetzungsgemäß rechtsfreien Raum gar nicht gehen. Die Vorstellung, die hinter diesem zweiten Typus des Zirkels steht, läuft Gefahr, die ursprüngliche Situation des logischen Zirkels zu verfälschen. Wenn der Rechtsanwender verschiedene Nonnvorschläge, Gesichtspunkte, ihre Folgen usw. abwechselnd betrachtet, so wandert zwar sein Blick, nicht jedoch aus einer inneren Notwendigkeit heraus, nicht weil die eine Position immer wieder auf die andere zurückverweist (wie etwa in einem mathematisch-logischen BVerfGE 7, 198, 207ff. Hesse 29. 66 Kriele 197ff. Die zweite Stufe der Konstruktion, in der die Anfangssituation nicht mehr vollkommen undeterminiert ist, bringt im Prinzip nichts Neues. 64

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I. Die Wende in der juristischen Methodenlehre

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Paradoxon). Wer Alternativen, Gesichtspunkte, Interessen, Normvorschläge usw. prüft und dabei mal das eine, mal das andere ins Auge faßt, wird genauso wenig in einem "logischen" Kreise geführt wie derjenige, der beim Einkaufsbummel verschiedene Kaufhäuser aufsucht und ins eine oder andere öfters einkehrt. Es wäre nicht so sehr die Trivialisierung des Begriffs als vielmehr ein tiefes Mißverständnis, wenn hier auch nur die vage Assoziation einer "Wechselwirkung" aufkäme. Ein mögliches Zirkelschema, das zugleich ein Hin- und Herwandern des Blicks auslösen würde, könnte man korrekterweise so konstruieren: ein Interessenkonflikt soll entschieden werden, entweder dadurch, daß man das stärkere Interesse wählt oder aber dadurch, daß die "herrschende" Moral berücksichtigt wird. Sind nun die Interessen gleich stark und ist die herrschende Moral gespalten, so kann (muß) der Blick in Ewigkeit wandern, weil die (explizit formulierten) Abbruchsbedingungen nie erfüllt werden. Essers Einwand gegen den Zirkel (daß ohne einen Wertungsgrund das Hinund Herwandern ohne Ende fortgesetzt werden müßte 67 ) bezieht sich theoretisch auf die beiden Typen des Zirkels. Faktisch trifft er jedoch keine. Denn man wird sich natürlich nicht ewig im Kreise drehen, sondern bei anderen, evtl. ursprünglich gar nicht vorgesehenen Kriterien Zuflucht suchen. Der Blick wandert nur, bis man ein Unmittelbares, nicht mehr Bezweifeltes (u. U. Außerjuristisches) finden und damit die Entscheidung (scheinbar) begründen kann. Die Entscheidung bleibt dann verborgen hinter der Tatsache, daß der entgegengesetzte Grund in der aktuellen Situation "inaktiv" ist. Daraus entsteht jedoch keine neue Argumentationsfigur. Dieses Suchen kann man ohne Problemverlust auch linear darstellen, als eine Folge von Schritten vom zu Beweisenden zurück zum Beweisgrund. 1-8. Bei Bertrand Russell findet man einen Ansatz, die viel beschworene Subsumtion in den logischen Formalismus explizit einzuführen 68 • Ein zusätzliches logisches Zeichen zwischen Individuen- und Prädikatszeichen sollte ausdrücken, daß zwischen dem bezeichneten Objekt bzw. einer Eigenschaft die Relation der "Prädikation" besteht. Das soll das Ergebnis des logischen Aktes, mit welchem das Objekt unter das Prädikat subsumiert wird, festhalten.

Der Vorschlag hat sich nicht durchgesetzt, nicht nur wegen der syntaktischen Komplikationen, die er verursacht hätte, sondern wegen besonderer Schwierigkeiten für die Modelltheorie. Man hätte nämlich entscheiden müssen, ob die Prädikation mit einer Konstante oder einer Variable bezeichnet werden sollte. Im ersten Fall wäre sie eine logische oder analytische Relation, wie etwa die Gleichheit (Identität). Diese Möglichkeit hat Russell selbst verworfen, indem er das Subjekt-Prädikat-Urteil für grundsätzlich nicht-analytisch erklärte 69 • Esser: Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1970, S. 76. Universalien und Individuen. In: Bertrand Russell: Die Philosophie des logischen Atomismus, München 1976, S. 86. 67

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3 Holczhauser

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Erster Teil

Dann bleibt nichts mehr übrig, als die Prädikation mit einer Variable zu bezeichnen. Dann ist sie keine wohldefinierte logische Operation, sondern ein Prädikatzeichen. Andererseits ist es ein universales Schema, eine Art "logische Generalklausel". Erst die Konkretisierung, d. h. die Abbildung in einen Modellbereich, würde entscheiden, was die einzelne Wissenschaft unter Subsumtion versteht. Man müßte bereits vor der Konstruktion von Modellen unausweichlich aufMethodenfragen der Einzelwissenschaften reflektieren, und so weiter ins Unendliche, denn Reflexionen über die Methode entstehen auch in der Form von Subjekt-Prädikat-Urteilen. Um dieser Schwierigkeit aus dem Wege zu gehen, ist die Logik genötigt, die Art und Weise, wie einem Subjekt ein Prädikat zugeschrieben wird, auszuklammern und die Existenz von Urteilen als ein Faktum hinzunehmen. Engisch verdeutlicht diese Schwierigkeit mit einem interessanten Beispiel. Er zeigt, wie die Rechtswissenschaft die "Prädikation" in ihren Modellbereich abbildet. Dazu identifiziert er zunächst die Subsumtion mit der Implikationsstruktur des Rechtssatzes: aus dem Tatbestand "folgt" die Rechtsfolge, wie aus der "Natur" des Objekts seine Prädikate folgen. Dann ordnet er dem sprachlichen Ausdruck "Tatbestand" einen konkreten Fall, einen "Lebenssachverhalt", dem Ausdruck "Rechtsfolge" einen anderen Sachverhalt, die konkrete Strafe zu. Natürlich ist diese Zuordnung keine dritte Art der Subsumtion (wie Engisch meint), sie gehört nicht der (juristischen) Logik, sondern ihrem Modell an. Der "Lebenssachverhalt" wird nicht unter den sprachlichen Ausdruck subsumiert, sondern ihm zugeordnet als ein Element des Modellbereichs, der Wert einer "Belegung". Doch dann kommt Engisch, trotz der unklaren Stellung des Problems, zu einer erstaunlich folgerichtigen Ansicht: nicht nur Tatbestand und Rechtsfolge (die Elemente des Rechtssatzes) müssen in das Modell, in einen rechtlich geregelten Lebensbereich, abgebildet werden, sondern auch die Prädikation, die "Implikation" zwischen ihnen 70 • Ihr Bild definiert er als die rechtliche Kausalität zwischen zwei Lebenssachverhalten. M.a. W. konkretisiert er die Generalklausel "Subsumtion" als die juristische Kausalität, eine Relation, die (anders als die natürliche), grundsätzlich auf der Entscheidung (Zurechnung) beruht. Daß die Subsumtion "keine Operation der reinen Logik" sei1 1 , ist eine folgerichtige Fassung des bisher Gesagten. Es besteht jedoch häufig der Eindruck, als würde das Entscheidungsmoment erst durch die Berücksichtigung teleologisch-wertender Gesichtspunkte in die Jurisprudenz hineingetragen. Wenn Coing feststellt, Jhering habe an die Stelle der Logik den Zweck gesetzt72 , so klingt dies, als gäbe es doch die reine Subsumtion, der man die Teleologie gegenüberstellen könnte. 69 70

71 72

a.a.O., S. 101. Engisch (li) 37. Coing 327. Coing 328.

1. Die Wende in der juristischen Methodenlehre

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Teleologische Überlegungen waren von ihrer Materie her besonders geeignet, das Willens- und Entscheidungsmoment sichtbar werden zu lassen und begriffsjuristische Konstruktionen in Frage zu stellen. Das war jedoch nicht das Entscheidende: teleologische Begriffe kann man eigentlich auch tatbestandsmäßig gestalten. Ausdrücke wie "der eigentliche Wille", der "Wesenszweck" usw. erscheinen in dem Maße als wirkliche Deduktionsanfänge, als sie konkretisiert wurden und der Auslegung keinen Spielraum lassen. Spezifisch teleologische Bewußtseinselemente wie "Absicht" oder "Vorsatz" werden ohne Bedenken als Tatbestandsmerkmale qualifiziert 73 • Auch eine hinreichend konkretisierte teleologische oder Ordnungsrelation würde die herkömmliche Klassenbildung begriffsjuristischer Art erlauben 74 • Andererseits sind selbst die herkömmlichen hermeneutischen Regeln oder naturwissenschaftlichen Kategorien ohne die Entscheidung unbrauchbar. Die "Analogie" z. B. setzt gerade mit der Entscheidung an, welches Merkmal wesentlich ist, und die Kausalität, die scheinbar keiner Willkür zugänglich ist, mußte bereits zu Puchtas Zeiten durch Entscheidungen des Rechtsanwenders verendlicht werden. Der Unterschied zwischen Subsumtion und entscheidungsgestützter Zuordnung wurde oft nicht einmal Autoren bewußt, die zur Überwindung der Begriffsjurisprudenz Wesentliches beigetragen hatten. Erich Kaufmanns Forderung, der Richter solle sich auf das Wesen des Rechtsinstituts besinnen, zu dessen "Gattung" der vorliegende Fall als "Spezies" gehöre, ist in der Sprache der "Subsumtion" formuliert. Die Fortsetzung: dies sei nur möglich durch die Erwägung ihrer Funktion innerhalb des Ganzen der staatlichen Zwecke 75 gleitet nicht nur in die Teleologie hinein, sondern nimmt Probleme vorweg, die z. T. die heutige Grundrechtsjudikatur belasten. An anderer Stelle nennt er die Konkretisierung eines legislativen Prinzips, eines generalklauselartigen Rechtsgedankens in einem Atemzug Entscheidung und Subsumtion 76 • In einer Auseinandersetzung mit Bergbohm (es geht um die Frage, ob es "rechtsfreie" Räume oder aber "Lücken" im Recht gäbe) sagt Kaufmann, daß "jedes positive Urteil, jede determinatio nicht nur eine negatio in sich schließt, sondern unendlich viele negative Urteile zur Voraussetzung und Grundlage hat" 77 • Damit behauptet er, es sei möglich, ein Objekt vollständig, oder wie er Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Berlin 3 1978, S. 328 f. Smends Begriff "allgemeine Gesetze" wird in bezug auf ein konkretes Rechtsgut (Meinungsfreiheit) mit Hilfe einer Ordnungsrelation definiert, u.z. als die Klasse derjenigen Normen und Normkomplexe, die ein höheres Rechtsgut schützen (vgl. in Smend (I) 97f.). Interessant ist hier nur die begriffsjuristische Tendenz. Die eigentliche Frage ist eher, ob eine solche- vorgegebene- Ordnungsrelation, etwa die " Wertordnung des Grundgesetzes", tatsächlich existiere (vgl. dazu Goerlich 140ff.). 75 Kaufmann (I) 211 . 76 Kaufmann (I) 229. 77 Kaufmann (I) 51 f. 73

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3*

Erster Teil

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sagt: "durchgängig" zu bestimmen. Dies könne nur gelingen, wenn ein Gegenstand "mit allen Prädikaten der Erscheinung verglichen und durch dieselbe bejahend oder verneinend vorgestellt wird"- dieses Kant-Zitat 78 soll die eigene Position unterstützen. Sie wiederholt, in abgewandelter Form, die begriffsjuristische These, das System des Rechts sei vollständig (entscheidbar). Kaufmann sieht sich auch durch Zitelmann bestätigt, dessen Polemik gegen Bergbohm "auf dem dunkelenGefühl für die oben genannten erkenntnistheoretischen Tatsachen" beruhe 79 • - In Wirklichkeit beruht Zitelmanns Polemik weder auf einem dunklen Gefühl noch auf einer Tatsache, sondern auf der wohl bewußten Anwendung einer Annahme, seines "allgemeinen negativen Grundsatzes" 80 . Ob dieser ein "Phantasieprodukt" 81 ist, soll hier nicht erörtert werden. Jedenfalls ist er ein Prinzip, welches dreierlei leistet. Erstens füllt es die Lücken der Rechtsordnung, indem es jede Handlung, die nicht explizit verboten ist, als erlaubt fingiert. Hat der Gesetzgeber weder die Handlung A noch die Handlung non-A verboten, dann sind beide erlaubt - der Grundsatz fingiert also zweitens eine geschützte Sphäre der Privatautonomie. Drittens instituiert es ein sehr strenges Analogieverbot, weil die positiven Normen der Rechtsordnung als Ausnahmen von dem Grundsatz erscheinen. Auf ein klassisches Beispiel des Privatrechts angewandt: weil der historische Gestzgeber des BGB den Diebstahl von Elektrizität nicht explizit unter Strafe gestellt hat, ist nach dem Grundsatz das Anzapfen einer Stromleitung erlaubt. Dies bedeutet nur, daß der Rechtsanwender nicht befugt ist, den Diebstahl von Elektrizitätkraft Analogie zu anderen "Sachen" zu strafen, sondern er muß die Entscheidung des Gesetzgebers abwarten. Besteht der von Kaufmann behauptete Zusammenhang, so läßt sich jede Kritik am "allgemeinen negativen Grundsatz" auf Kaufmanns Erörterungen übertragen. So wenig in der Gesamtheit der positiven Rechtssätze tatsächlich eine unendliche Anzahl verneinter Normen, ein absolut-pauschales Analogieverbot mitgedacht wird, genauso wenig strebt das endliche Subjekt eine "durchgängige" oder vollständige Bestimmung der Gegenstände an. Bestimmt wird ein Objekt durch diejenigen Merkmale, die durch Erkenntnis- und Wertungsakte wirklich gesetzt wurden, nicht jedoch durch eine uno-actuRezeption eines unausschöpflichen Kontinuums von Bestimmungen. Was nicht entschieden wurde, bleibt eben unentschieden und einer späteren Entscheidung vorbehalten. Heide Prinzipien sind Produkte des An-sich-Denkens und haben eine begriffsjuristische oder naturrechliehe Note. Die fiktive Vollständigkeit ist die notwendige Bedingung, Urteile als bloße Subsumtion, als das Erkennen von 78 79 80 81

Kritik der reinen Vernunft, ed. Kehrbach, S. 461. Kaufmann (I) 52. Zitelmann 43. So Engisch, in: Festschrift für Sauer, S. 95f.

l. Die Wende in der juristischen Methodenlehre

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bereits vorhandenen, wenn auch vielleicht bisher unbekannten Rechts 82 hinzustellen und die Rechtsfortbildung für nur deklaratorisch zu erklären. Keine dieser Tendenzen kann man Kaufmann nachsagen. Daß er solchen Prinzipien nicht mißtraute, zeigt die Schwierigkeit der Aufgabe, den Unterschied zwischen Subsumtion und Dezision in verschiedenen Gestalten zu erkennen. An einer späteren Stelle sagt er: Begriffsbildung sei eine unendliche Aufgabe, die sich im Laufe fortschreitender Gesetzgebung oder Auslegung verwirkliche 83 - ohne zu merken, daß die Vorstellung einer "mitgedachten Unendlichkeit" himmelweit entfernt von dieser Position liegt. 1-9. Die Bezeichnung "Normlogik" erweckt die Erwartung, es handele sich um eine besondere Art Deduktion -jedenfalls den Gegensatz von Dezision. Dies trifft allenfalls auf die sog. "statische" Normlogik zu, in der die höchsten Normenkraft ihres Inhaltes gelten und die "niederen" Normen aus den höheren "im Wege einer logischen Operation, durch einen Schluß vom Allgemeinen auf das Besondere, deduziert werden" 84 • Kelsen hat nie versucht, diese Operation zu präzisieren, geschweige denn formal zu fassen. Unter Deduktion versteht er eine bunte Vielheit von intuitiven Methoden, Faustregeln, von der Anwendung eines Prädikats auf ein Objekt bis zur Konkretisierung eines allgemeinen Rechtsprinzips hin. Zumal Kelsen keine unmittelbar einleuchtenden Inhalte anerkennt, kann (und will) er seine Rechtslehre nicht als eine statische Normlogik konstruieren. Seine "Grundnorm" postuliert auch nicht irgendeinen materiellen Inhalt, sondern sie bewirkt lediglich die "Einsetzung eines normerzeugenden Tatbestandes, die Ermächtigung einer normsetzenden Autorität" 85 • Sie begründet ein Normsystem dynamischen Charakters, welches den Prozeß, in dem das Recht erzeugt und angewendet wird, zum Gegenstand hat. Die statische Normlogik kommt allenfalls als Teilsystem der dynamischen Herleitung in Frage. (In seiner berühmten Formel setzt er den Staat natürlich mit dem dynamischen System gleich.) Jede Stufe der Rechtsordnung, von der Verfassung bis zu den niedrigsten Normen, verweist auf eine Teilordnung, in der Entscheidungen getroffen werden. Die Verweisungen sind Blankette, die alle denkbaren Variationen ihres Inhaltes in sich bergen 86 . Damit wird klar, daß die Elemente einer Rechtsordnung, insbesondere die Grundnorm, etwas anderes sind als "Normen". Für die Norm ist eigentümlich, daß sie "durch Regelgebung Entscheidungsobersätze ausprägt" und dadurch die Beurteilung des Einzelfalles antizipiert. Davon strikt zu unterscheiden ist das "Regulativ". Dieses enthält "keinen Entscheidungsobersatz, keinen anwendba82 83 84

85 86

Zitelmann 25. Kaufmann (I) 84. Kelsen (II) 198. Kelsen (II) 199. Kelsen (I) 119.

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Erster Teil

ren Beurteilungsmaßstab, sondern eine[...] Verweisung: a) an einen Ordnungsbereich, dem der Beurteilungsmaßstab zu entnehmen ist, b) an eine Instanz, die diese Beurteilung durchzuführen hat" 87 . - Produzierte die Begriffsjurisprudenz eine "Begriffspyramide", so unterscheidet sich die Reine Rechtslehre von ihr zunächst einmal dadurch, daß ihr Produkt eine Pyramide von Regulativen, genauer: ein Stufenbau normsetzender Autoritäten, eine "Hierarchie des Entscheidens" 88 , ist. Die konkrete, außernormative Ordnung einerseits, die Dezision andererseits sind also die "nicht-reinen" Kräfte, die den Normativismus über den Stillstand der Grundnorm hinaus bewegen. Damit muß sich auch das narrnativistische Pathos verflüchtigen. Das Regulativ herrscht nicht, wie man es von der Norm noch behaupten konnte, sondern es überträgt dem Menschen die Herrschaft. Kelsens Normativismus ist verhüllter Dezisionismus 89 • Schmitt hätte die Grundnorm: Man habe der höchsten normsetzenden Autorität zu gehorchen, voraussetzen können, ohne den Dezisionismus auch nur um ein Haar zu kürzen. Die Reine Rechtslehre belegt übrigens exemplarisch, daß es zur Überwindung des Positivismus nicht ausreicht, die Rolle der Entscheidung in der Rechtsfortbildung zu erkennen. Kelsens Interpretationstheorie zieht jedenfalls keinen Nutzen aus dieser Erkenntnis. Erfolgt die Interpretation durch ein zur Rechtssetzung ermächtigtes Organ, so ist sie stets authentisch" 90 ; Begriffe wie "rechtswidriges Gesetz", "normwidrige Norm" usw. sind Nonsens 91 • Die herkömmlichen Interpretationsregeln seien "völlig wertlos", weil es schon dazu einer Entscheidung bedarf, welche von ihnen angewandt werden soll. Diese Auffassung, der die Freirechtslehre unschwer hätte zustimmen können, ermöglicht tatsächlich keine Rückkehr zur Begriffsjurisprudenz92 • Andererseits mündet sie jedoch in einem anders gearteten Positivismus. Der Prozeß der Rechtsgewinnung wird nur als die Form der Handlung, der Entscheidung berücksichtigt, es zählt nur dasoutputdes autorisierten Setzungsaktes. Dadurch schlägt die Normlogik in eine Art juristischen Behaviorismus um. Der methodologische Grundsatz Kelsens, den Begriff des Rechts und des Staates durch voraussetzungslose Beobachtung zu finden, ist der Grundgedanke jeglichen Empirismus: Begriffe sollen "induktiv" ermittelt werden. Die Methode Henkel 35. Krawietz: Reinheit der Rechtslehre als Ideologie? In: Ideologiekritik und Demokratie bei Hans Kelsen, Berlin 1982, S. 419. 89 ·vgl. Ehmke 33, Müller (III) 28. So auch Ch. Müller, in Müller /Staff704ff. Krockow 65 sieht dagegen die Dezision hinter der "allgemeinen Normlogik" verschwinden; sie führe als Grundnorm nur noch eine "Schattenexistenz". 90 Kelsen (II) 352. 91 Es ist schwer begreiflich, wie Kelsen von dieser Position heraus zum entschiedenen Befürworter der Verfassungsgerichtsbarkeit wurde. 92 Kelsen lehnte die Begriffsjurisprudenz vorbehaltlos ab (Kelsen (Il) 352 1). Andere erhofften dahingegen gerade von der Reinen Rechtslehre eine "Renaissance der Begriffsjurisprudenz" (Heck (I) 223). 87 88

1. Die Wende in der juristischen Methodenlehre

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beruht auf dem Postulat des Extensionalismus, daß Eigenschaften (Prädikate, Merkmale, Kriterien usw.) restlos durch Klassen von Objekten ersetzt werden können. Bekannterweise verdrängt beinahe jede Spielart des Positivismus, daß der Bereich der Beobachtung durch eine ursprüngliche Dezision, die sich hinter der Definition verbirgt, abgegrenzt wird. Sie ist trotzdem berechtigt, weil sie ein anderes Ziel verfolgt als sie vorgibt. Denn sie strebt nicht die Begriffsbildung durch Abstraktion, sondern das Gegenteil, die Konkretisierung einer abstrakten Definition, an. Man setzt z. B. einen abstrakten Staatsbegriff voraus und grenzt dadurch einen Objektbereich ab. Was man des weiteren beobachtet und empirisch ermittelt, ist nicht das vorausgesetzte Allgemeine, sondern ihre besondere Ausprägung und Entwicklung. An diesem Punkt besteht, nebenbei gesagt, eine interessante methodologische Gemeinsamkeit zwischen Positivismus und Phänomenologie. Auch die letztere billigt der Induktion eine zentrale Rolle zu. Sie ist insofern unabdingbar, als sie uns- zum Beispiel- darüber aufkläre, "in welchen besonderen Formen sich die allgemeinen Grundmotive des Menschseins hier und dort konkretisiert haben und fort und fort konkretisieren" 93 • Daß das Besondere aus dem Allgemeinen nicht durch Deduktion, sondern durch Konkretisierung entsteht, wurde hier zu einem methodologischen Grundsatz erhoben. Die Phänomenologie vermeidet jedoch die dezisionistische Konsequenz auf dieselbe Art wie der Positivismus: sie bezieht eine externe Position, sie beobachtet nur. Die Arbeit, das Allgemeine zu konkretisieren, tun die "anderen". Die Reine Rechtslehre kann rein bleiben, weil sie die Dezision den durch die Grundnorm ermächtigten Instanzen überläßt. Dieses Programm läßt sie letztendlich zwischen Sein und Sollen landen. Angesichts der "positiven" (zu normierenden) Handlung ist Kelsen ein "Normativist": ihn interessiert nur, was sein soll, nicht das, was ist. Angesichts der "normierenden" (normschaffenden) Handlung ist er ein "Positivist": ihm zählt nur das, was ist. Als "Normativist" betreibt er reine Theorie und kümmert sich nicht um Modelle. Als "Positivist" betreibt er Soziologie: er beobachtet nur, wie die (von anderen aufgestellten) "Axiome" sind. Die Frage: Wie sie sein sollten, um den Gegenstand unseres intuitiven Denkens richtig zu erfassen (die einzig wichtige Frage für den "reinen" Mathematiker)- weist er als unwissenschaftlich zurück. 1-10. Der Vertrag ist ein Komplex aufeinander bezogener Willenserklärungen und man könnte daher meinen, die Vertragskonstruktion des Staates habe (schon alleine wegen des in ihr enthaltenen Entscheidungsmoments) die Wende der modernen Jurisprudenz vorweggenommen. Wie grundfalsch diese Annahme wäre, möchte ich an einem Beispiel verdeutlichen, an der Theorie der Gerechtigkeit von Rawls, die mit dem Anspruch auftritt, die herkömmliche Theorie des Gesellschaftsvertrags verallgemeinert und auf eine höhere Abstraktionsstufe gehoben zu haben. 93

Litt (V) 13.

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Erster Teil

Die legitimative Intention von Konsenstheorien verlangt, daß die angestrebten Grundsätze (etwa die Gerechtigkeitsprinzipien) nicht nur richtig, d. h. für vernünftige Menschen einsichtig, sondern auch gewollt sind. Der gemeinsame Wille kommt jedoch immer in einer besonders gearteten Anfangssituation zustande, und die hier am Willens- oder Subjektbegriff unternommenen kosmetischen Eingriffe verkehren meist den guten Ansatz in sein Gegenteil. Auch Rawls präpariert den Urzustand, u.z. nach dem Kantschen Muster: er läßt alles Partikulare (die "Materie der Glückseligkeit") weg- alles entfällt, was den Menschen zu einem wirklichen, konkreten Individuum macht. Das "Ursubjekt" ist das vom partikularen Wissen, Willen und Interessen gesäuberte "noumenale" Mensch, und es ist überflüssig, ja irreführend, ihn zwecks Vertragsschliessens zu vervielfältigen. Denn selbst Rawls gibt zu, daß sie voneinander nicht unterscheidbar sind: alle seien gleich vernünftig und in der gleichen Lage. Wählt jemand ein Gerechtigkeitsprinzip, so wählen es alle und "es kommt Einstimmigkeit zustande" 94 • Es wird also beim Vertragsschliessen weniger eine ursprüngliche Dezision gefaßt als eine Deduktion ins Rollen gebracht. Die verinnerlichten Bedingungen der Anfangssituation sind die Axiome, aus denen ein Gerechtigkeitsprinzip durch Herleitung entsteht. Ihre Inszenierung als Vertrag ist eine Fassade, eine Tarnung für die ideale Deduktion. Gerade aus diesem Grunde sind die meisten Einwände, die man gegen die Vertragstheorie inuner wieder erhoben hat, eigentlich gegenstandslos. Die im Konzept enthaltene Unklarheit ermöglicht auch, die Freiheit (Entscheidung, Wille, Zustimmung) und die Notwendigkeit (Vernunft, Objektivität) miteinander zu verbinden und je nach Bedarf die gewünschte Komponente in den Vordergrund zu rücken. Wegen dieser Zweideutigkeit ist die Vertragstheorie besonders anpassungsfähig und zählebig. Rawls ist sich der Doppeldeutigkeit, nicht jedoch des Gegensatzes, bewußt. Er hält die beiden methodologischen Vorgehensweisen für äquivalent. "Daß eine Gerechtigkeitsvorstellung im Urzustand gewählt würde, ist gleichbedeutend damit, daß vernünftige Überlegungen [...] zu diesem Ergebnis kämen" 9 5 • Ihm schwebe das Ideal einer "moralischen Geometrie" großer Strenge, eine reine handlungstheoretische Deduktion vor, wie sie insbesondere von der Nationalökonomie betrieben wird. Er wähle die Vertragsform nur wegen ihrer Sparsamkeit und Anschaulichkeit, er ist jedoch der Überzeugung, daß man die Argumente auch stärker formalisieren könnte. Untersucht man diese Konstruktion von der Deduktionsseite her, so muß man ihre Grundvoraussetzungen, ihre Axiome ins Auge fassen. Die gezielte Einschränkung der Bedingungen des Urzustandes gewährleistet, daß nur noch ein einziges Gerechtigkeitsprinzip mit ihnen vereinbar ist. Rawls gibt mit bewundernswerter Offenherzigkeit zu, daß er den Subjekten im Urzustand 94

95

Rawls 162. eda.

2. Die Typen rechtswissenschaftliehen Denkens

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partikulare Kenntnisse nicht aus technischen Gründen vorenthält (etwa um die Herleitung zu vereinfachen und übersichtlicher zu gestalten), sondern "wir möchten den Urzustand so bestimmen, daß die gewünschte Lösung herauskommt" 96 . Er überläßt also das Ergebnis nicht leichtfertig dem Zufall, sondern er baut "die üblichen Gerechtigkeitsideale unmittelbar in die ersten Grundsätze" ein 97 • Da es natürlich mehrere, miteinander konkurrierende Gerechtigkeitsvorstellungen gibt, liegt nahe, daß Rawls gerade das zu Beweisende voraussetzt. Die "Arbeitsteilung zwischen allgemeinen Tatsachen und moralischen Bedingungen bei der Findung einer Gerechtigkeitsvorstellung"98 ist eine keineswegs originelle Variante des "hermeneutischen Zirkels". Der ungeheuere Aufwand eines Begründungsverfahrens soll Objektivität vortäuschen, soll verdecken, daß lediglich ein Glaubensbekenntnis vorliegt. Henkel schildert eindrucksvoll die Spannung zwischen den gegensätzlichen Tendenzen der Rechtsidee, der generalisierenden bzw. der individualisierenden Gerechtigkeit und mahnt eindringlich, man müsse die Gegensätzlichkeit ins Auge fassen und dürfe ihr nicht dadurch ausweichen, daß man den Blick auf die eine oder die andere Tendenz beschränke99 . Genau dies tut jedoch Rawls: er trifft die Entscheidung zugunsten der generalisierenden Gerechtigkeit, indem er das Individuelle unterschlägt. Damit scheint er sich nicht einmal auf der Höhe des "Zeitgeistes" zu befinden. Henkel wertet den Übergang der höchstrichterlichen Rechtssprechung von der abstrakt-generalisierenden zur individualisierenden Beurteilung als eine geradezu "sensationelle Wendung" der Judikatur 100 • Er spricht zwar vom Strafrecht, macht jedoch klar, daß es sich um ein Problem größerer Tragweite handele: die individualisierende Betrachtung ist sozialer 101 • Diese Wendung ist übrigens nicht weniger sensationell. Mit dem Begriff des "Sozialen" verbindet man gewöhnlich eher die generalisierende Gerechtigkeit, und auch die Entscheidung von Rawls wird offensichtlich durch diese Assoziation vorbestimmt.

2. Die Typen rechtswissenschaftliehen Denkens

2-1. "Ohne einen sinngebenden Berufsgedanken steht am Ende der politischen Instanzenreihe immer die normativ indifferente Dezision Carl Schmitts, das heißt die reine, maßstablose Faktizität" 1 - sagte ein berühmter StaatsrechtRawls 165. Rawls 184. 98 eda. 99 Henkel 16. 100 Henkel 56. 101 Henkel 55. Zur juristischen Verwertbarkeit der Rawlsschen Gerechtigkeitstheorie s. Zippelius, AöR 103 (1978), S. 248ff. 96

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Erster Teil

!er, der es eigentlich hätte besser wissen sollen. In Smends Buch Verfassung und Verfassungsrecht aus dem Jahre 1928 war Schmitt noch einer der meistzitierten Autoren. Insbesondere war er Kronzeuge gegen eine Auffassung, die "vom Wesen und Substanz des Staates" nichts wisse 2 • Daselbst versichert Smend dem Leser, er wolle die (ebenfalls von Schmitt behauptete) "Untrennbarkeit der Autorität des Staates von seinem Wert" nicht bestreiten 3 • Und schließlich verweist er im Zusammenhang mit dem Bekenntnis, hinter der volonte generale stünde "ein Bestand von [...] dem Staat transzendenten Werten", auf eine Analogie zu Schmitt4 • Es ist überflüssig, die Zahl der Hinweise zu vermehren. Der vom Smend geprägte Aussagetypus läßt vielfache Abwandlungen zu. So wurde die moralisch, inhaltlich indifferente, die wert- oder sinnentleerte, die substanz- oder maßstablose, die bloß funktionalistische oder rein willkürliche usw. Dezision zum Gegenstand der Entrüstung gemacht. Der unmittelbare Sinn solcherFormelnist ungefähr dieser: der Dezisionismus von Schrnitt befürworte die Entscheidung um ihrer selbst willen. Die einschlägige Quelle dieser Auslegung ist dann der Satz: "Das Beste in der Welt ist ein Befehl". Die Zitate geben nur selten wieder, daß er bereits bei Schmitt in Anführungszeichen steht: er gibt das Selbstverständnis des Regierungs- oder Verwaltungsstaates wieder. Dieses manifestiere sich nach Schmitt in der Praxis diktatorischer Maßnahmen 5 • Die Kernfrage ist natürlich, ob er den Verwaltungsstaat herbeiführen oder eher verhindern wollte. Darauf kommen wir noch zu sprechen. Hier sollte nur die, durch den Text gegebene Möglichkeit einer anderen Auslegung angedeutet werden. Schmitt will hier, wie bereits in seiner Verfassungslehre, die politischen Konsequenzen des staatsrechtlichen Unterschieds zwischen genereller Norm (Gesetz) und dem "bloß willensmäßigen Befehl oder einer Maßnahme" eindringlich vors Auge führen 6 . Auf eine Eigenschaft könne man nicht verzichten, "ohne daß der Rechtsstaat selbst entfällt: auf den generellen Charakter der Rechtsnorm" 7 • Schmitts Kritik galt der herrschenden Lehre, die diese Unterscheidung als einen geistvollen Einfall abgetan hat 8 • Das verbale Bekenntnis zur Dezision läßt noch keinen Schluß auf seine praktischen Konsequenzen zu. Dezision als Selbstzweck hat etwas vom l'art Smend (IV) 514. Smend (II) 184. 3 Smend (Il) 186. 4 Smend (II) 204. 5 L&L 335. 6 VL 138. 7 VL 142. 8 L&L 320. Auch Hermann Heller übersieht das rechtsstaatliche Anliegen dieser Unterscheidung. Er spricht von einer unverständlichen Gemeinsamkeit mit dem Normativismus Kelsens (vgl. Der Begriff des Gesetzes in der Reichsverfassung, in: Hermann Heller: Gesammelte Schriften 1971, Bd. 2, S. 215). 1

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pour l'art an sich und kann leicht als ästhetisierende Attitüde umgedeutet werden. Man kann sie auch, vermittels der Soziologie, ins Tiefenpsychologische umbiegen und für den Ausdruck von Verzweiflung und Selbsthaß des Bürgertums erklären9 • Nicht einmal dies bestimmt jedoch eindeutig, welche politische Bedeutung dem Dezisionismus beigemessen wird. Man kann dabei stehen bleiben, daß er in Wirklichkeit eine entscheidungsscheue und weltflüchtige, politisch nicht ernstzunehmende Pose ist. Man kann seinen occasionalistischen Charakter hervorheben: wegen seiner Entscheidungsbesessenheit soll der Dezisionist in viel größerem Maße anfällig sein, Wegbereiter und Werkzeug jeder, entschlossen genug agierenden, politischen Bewegung zu werden, als der der Gegenwart (zumindest seinem Anspruch nach) erhabene Romantiker. Auch kann man beide Positionen gleichzeitig beziehen, ohne sich um ihre Vereinbarkeit zu kümmern 10 • Und man kann schließlich am aktionistischen Potential des Dezisionismus ansetzen und zur Schlußfolgerung gelangen, daß der Dezisionist kein verführtes Objekt, sondern aktiver Betreiber von - möglicherweise miteinander konkurrierenden - Diktaturen ist. So kann man Sehnritt in jeden Topf werfen, in dem die Diktatur gart: vor 1933 habe er sich noch bemüht, die Diktatur des Reichspräsidenten auszubauen und dabei "den Nationalsozialismus verfassungsrechtlich einzudämmen", war später dem letzteren "hoffnungslos verfallen" und er wäre es wohl auch gewesen, wenn es sich "um eine gelungene kommunistische Revolution gehandelt hätte" 11 • Auffassungen, nach denen Carl Schmitt schon immer ein Nazi war und blieb, heben sich erquickend von den wirren Vermutungen obiger Art ab, die übrigens zusätzlich die vielleicht unerwünschte Nebenwirkung zeigen, daß Schmitt nur zufällig bei der NSDAP landete. Bei geschichtsphilosophisch "günstigerem" Verlauf der Ereignisse hätte ihm das Ansehen und der Ruf eines Georg Lukäcs zuteil werden können. Andererseits macht die Konstruktion von der wesensmäßigen und inhaltlich vorbestimmten Bindung Schmitts an die NS-Ideologie die Behauptung der Inhalts- und Ideallosigkeit seines Dezisionismus gegenstandslos. Übrig bleibt nur der Vorwurf, die Dezision nicht für die richtigen Werte dienstbar gemacht zu haben. Vor diese Schwierigkeit wird zumindest derjenige Teil der Forschung gestellt, der etwa Kelsens Liberalismus oder Hellers Sozialismus mit ihrem Dezisionismus vereinbaren muß. Eine Kostprobe aus einem jüngst erschienenen Buch soll stellvertretend für die Fülle dieses Auslegungstypus stehen. Die Behauptung, Schmitt "sprach sich für eine ,gleiche Chance politischer Machtgewinnung' aus, und er meinte damit, ohne sie beim Namen zu nennen, die Chance für die NSDAP" 12 , ist in doppelter Hinsicht, wenn auch auf eine Krockow 91 ff. eda. 11 Bentin: Johannes Popitz und Carl Schmitt, München 1972, S. 84.

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simple Weise, falsch - das Gegenteil ist nämlich richtig. Schmitt sprach sich gegen die Chance politischer Machtgewinnung verfassungsfeindlicher Parteien aus: "Denn man kann die gleiche Chance selbstverständlich nur demjenigen offenhalten, von dem man sicher ist, daß er sie einem selber offenhalten würde; jede andere Handhabung eines derartigen Prinzips wäre nicht nur im praktischen Ergebnis Selbstmord, sondern auch ein Verstoß gegen das Prinzip selbst" 13 • Man soll dem Autor dankbar sein, der Schmitt bescheinigt, seine Polemik "richtete sich gegen jene selbstmörderische Auffassung der Demokratie, derzufolge über Art. 76 WRV die wesentlichen Elemente der Verfassung legal beseitigt werden konnten" 14 • Mit Hinweis auf denselben Artikel der WRV wollte Schmitt die gleiche Chance mindestens zwei, namentlich genannten Feinden der Weimarer Republik ("Faschismus und Bolschewismus") verwehren 15 • Wenn Christoph Müller feststellt, Schmitt "antizipiert (die nicht stattfindende) soziale Revolution, um sich gedanklich und praktisch der Gegenrevolution zu verschreiben, der er die großen Traditionen des bürgerlichen Rechtsstaates bedenkenlos zum Opfer bringt" 16 , so ist darin zumindest die Bemühung zu würdigen, eine Begründung und einen Inhalt zu suchen. Hier erscheint Schmitts Dezisionismus nicht mehr als normativ indifferent, sondern als der Ausdruck "falschen Bewußstseins": er suche, mit falschen Mitteln, dem Ausweg aus einer falsch beurteilten Lage. Auch diese Konstruktion verlagert den Schwerpunkt von der Frage: "Leere oder Substanzhaftigkeit der Dezision?" auf ihre geschichtsphilosophische Richtigkeit - der vom Autor bemühte Gegensatz Revolution-Gegenrevolution verrät es. Es stechen jedoch auch hier manche Unklarheiten ins Auge. Der Weimarer Republik drohten in Wirklichkeit gleich zwei "soziale" Revolutionen, die die Andreas Kaiser: Preußencontra Reich, in: Müller / StatT 306. L&L 289f. 14 Sontheimer: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik, München 1978, S. 81 -mit der schwer nachvollziehbaren Einschränkung, solche Überlegungen, die "schließlich" (in Wirklichkeit schon früher, nämlich in der VL) zur Lehre von der Unantastbarkeit der Grundrechte führten, waren nur Mittel, um das funktionalistische Legalitätssystem ad absurdum zu führen. Nach diesem Denkmuster hat das GG seine eigene Absurdität zum Verfassungsrang erhoben. 15 L&L 301; vgl. auch Hofmann 89 - Wenn die Minderheitsregierung in Preußen der Mehrheitsfraktion NSDAP die gleiche Chance politischer Machtgewinnung verwehrte, so handelte sie gerade im Sinne der Schmittschen Legalität und Legitimität - so Schmitts Prozeßgegner Amold Brecht (Lebenserinnerungen, Stuttgart 1967, S. 180ff.). Die Kampagne der SS-Zeitschrift "Das Schwarze Korps" gegen Schmitt gipfelte 1936 (neben dem Nachweis seines Philosemitismus) in der "unwiderlegbaren Dokumentation", daß die Spitze seiner Theorie der "gleichen Chance" ausdrücklich gegen die NSDAP gerichtet war (vgl. Bendersky 240). Auch nach Hili 190 war bei Schmitt der "eigentlich sichtbar gemachte und sichtbar bleibende Feind der Nationalsozialismus". 16 In Müller / StatT 706. 12 13

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Tradition des Rechtsstaates opfern wollten 17 . Eine Gegenrevolution zu beiden hätte vielleicht den Sinn haben können, den Rechtsstaat zu verteidigen. Auch wenn Schmitt nur eine Drohung antizipiert hätte, so hätte er immer noch zwischen zwei "Gegenrevolutionen" zu wählen gehabt. Erst die Verwischung des Unterschieds, ja die Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Konservativismus18 läßt die Konstruktion reibungslos funktionieren. 2-2. Man findet bei Schmitt mühelos Stellen, die zweifelhaft machen, ob er es so dringend nötig hat, über Wesen und politische Auswirkungen der normativ oder wie auch immer "indifferenten" Dezision belehrt zu werden. Gerade in seinem "Manifest" des Dezisionismus warf er dem technisch-ökonomischen Denken vor, in ihm sei "der Kern der politischen Idee, die anspruchsvolle moralische Entscheidung umgangen " 19 . In der "ominösen" Schrift Legalität und Legitimität häufen sich geradezu die Warnungen. Eine voraussetzungslose Gleichsetzung des Rechts mit dem Ergebnis irgendeines formalen Verfahrens wäre "blinde Unterwerfung unter die reine, das heißt von jeder inhaltlichen Beziehung zu Recht und Gerechtigkeit losgelöste Dezision der mit der Gesetzgebung betrauten Stellen, voraussetzungsloser Verzicht auf jeden Widerstand" 20 . Wenn er die herrschende Lehre angegriffen hat, so aus demselben Pathos heraus, der die gegen den Dezisionismus auch heute noch gerittenen Attacken beseelt: sie machte den Weg offen "zu einer absolut ,neutralen', wert- und qualitätsfreien, inhaltlos formalistisch funktionalistischen Legalitätsvorstellung" 21 . Solche Stellen könnten zumindest die Arbeitshypothese plausibel machen, daß das in einem politischen Frühessay stürmisch angekündigte Prinzip im Laufe der Zeit fortwährend Korrekturen, Begrenzungen und Relativierungen erfahren hat. Um so mehr, als Schrnitt später vom Dezisionismus als Typus juristischen Denkens lossagte und sich zum Institutionalismus wandte. Die Zäsur wurde 1934 ebenso bombastisch verkündet wie seinerzeit die Hobbessche Formel: autoritas, non veritas facit Iegern. Schmitt ging soweit, die früher gegen den Positivismus gerichtete Kampfformel für den wesentlichen Bestandteil des positivistischen Selbstverständnis zu erklären. Es bewirkt ja die Diskreditierung des Dezisionismus (nicht die Aufwertung des Positivismus), wenn er sagt: Der Positivismus sei kein selbständiger Träger juristischen Denkens; er unterwerfe sich "dezisionistisch" des jeweilig im Besitz der Macht stehenden Gesetzgebers, aber verlange gleichzeitig, daß die Entscheidung als unverbrüchliche Norm 17 Vgl. etwa Parker: Das zwanzigste Jahrhundert 1968, Bd. 1, Kap. 10 falls diese Feststellung noch eines Belegs bedürfen sollte. Zum "sozialen" Charakter der NSBewegung vgl. Schoenbaum. 18 Dagegen vgl. etwa Schmitz 64ff. 19 PT 83 (Hervorhebung von mir). 20 L&L 278. 21 L&L 280.

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gelte 22 • Zugleich meldet Schmitt den Anspruch an, mit Hilfe des Institutionsbegriffs beides, Normativismus und Dezisionismus, zu überwinden 23 • Man mag diese Deutung des Positivismus bewerten wie man will. Die mögliche politische Brisanz der Konstruktion zu einer Zeit, wo eine demokratiefeindliche Partei sich gerade anschickt, durch eine Reihe von Entscheidungen das Gemeinwesen umzugestalten, dürfte einleuchten. Nicht daß eine solche Partei sich durch eine antidezisionistische Ideologie würde stören, ja aufhalten lassen. Es wäre jedoch vorstellbar, daß in ihr eine hemmende, mäßigende, vielleicht oppositionelle Haltung verklausuliert wurde. Man stelle sich die Entrüstung der Fachwelt, die Flut von Belehrungen vor, wenn eine Arbeit mit wissenschaftlichen Ansprüchen etwa Jhering endgültig als den Repräsentanten der "naturhistorischen Methode" hinstellen würde, von seiner Wende zum teleologischen Denken nicht unterrichtet wäre! Schmitts Abkehr vom Dezisionismus ist nicht weniger spektakulär. Sie wird jedoch, ein halbes Jahrhundert nach ihrem Vollzug, in einem Teil der Literatur hartnäckig ignoriert. Andere tun (trotz besseren Wissens) so, als hätte sie nicht stattgefunden. In dieser Situation ist es schon ein Wert für sich, wenn jemand überhaupt darauf hinweist, daß Schmitt diese Position aufgegeben hat. Das bedeutet natürlich nicht, daß man der Art und Weise, wie Schmitts Paradigmawechsel erklärt (und u. U. begatellisiert) wird, immer zustimmt. Krockow z. B. sieht in Schmitts Hinwendung zum konkreten Ordnungsdenken erstens nur das wohlberechnete Taktieren eines politischen Schlitzohrs, der bereits 1932 nicht nur die baldige Machtübernahme vorhergesehen, sondern auch erkannt hat, daß die Ideologie des neuen Regimes nicht auf dem "autoritären" Dezisionismus, sondern dem Gedanken einer "substanziellen" oder "substanzhaften" Ordnung beruhen werde. Zweitens stellt Krockow fest, die Notwendigkeit des Übergangs vom Dezisionismus zum Ordnungsdenken sei gar keine Schrnittsche Erfindung, sondern Ausdruck einer allgemeinen Rechtsentwicklung. Schmitt habe das Ordnungsdenken nur "überspannt", indem er es auf das "deutsche Wesen" beschränkte. Und drittens habe er den Unterschied, ja den Widerspruch der neuen Position zur früheren Auffassung gar nicht wahrgenommen 24 • Wie das konkrete Ordnungsdenken inhaltlich bestimmt ist, ist Krockow "praktisch, angesichts der zur Herrschaft gelangten Blut-und-Boden Weltanschauung, nur allzu klar": es handele sich um konkretes völkisches OrdnungsdArD 35. dArD 56. 24 Krockow 94ff. Es würde sich eigentlich erübrigen, uns auf die unglaublichen Mißgriffe dieses Buches einzulassen, wenn die in ihr dargebotene Darstellung des Dezisionismus für die breitere Öffentlichkeit nicht auch heute noch als maßgeblich gelten würde. Haberrnas würdigt es als eine "immer noch lesenswerte Dissertation" (Die Schrecken der Autonomie, in: BabyIon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart, 1/ 1986, S. 114). 22

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denken 25 . Mit diesem Floskel ist der Beweis erbracht, jede weitere Interpretation geht von diesem "gesicherten Ergebnis" aus. Als Quelle zitiert er Schmitts Aufsatz "Über die drei Arten" aus dem Jahre 1934. Hier nennt Schmitt übrigens den ideengeschichtlichen Zusammenhang: den Institutionalismus des Franzosen Maurice Hauriou und des Italieners Santi Romano, übrigens beruft er sich auch auf den Deutschen Savigny. In "diesem Zusammenhang" ist jedoch Krockow eher Tönnies wichtig, was an sich noch kein Übel wäre, zumal ihm der kleine Exkurs das gleiche Ergebnis einbringt, das er auch bei Savigny hätte finden können: den "Bruch zwischen Dezisionismus und konkretem Ordnungsdenken". Die Berücksichtigung des von Schmitt selbst genannten Zusammenhangs hätte natürlich nahelegen können, daß seine Wendung zum Institutionalismus nicht erst Mitte 1932, sondern frühestens seit 1928 schrittweise vollzogen wurde 26 . Ein Blick in Schmitts Schriften vermittelt einen anderen Eindruck über den tatsächlichen Inhalt der "substanzhaften Ordnung" . Besonders aufschlußreich ist in dieser Hinsicht gerade der Text, in dem Schmitt die Notwendigkeit einer Neugestaltung des deutschen Staatswesens erkannt haben soll. Die grundlegende Alternative heiße "Anerkennung substanzhafter Inhalte und Kräfte des deutschen Volkes oder Beibehaltung und Weiterführung der funktionalistischen Wertneutralität". Hier nennt Schmitt seine Entscheidung hinsichtlich dieser Alternative: zugunsten der substanzhaften Ordnung, d. h. "für das Prinzip der zweiten Verfassung" 27 • Was sie ist, erfahrt man an der gleichen Stelle: die dem organisatorischen Teil der WRV gegenüberstellten "Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen".- Was beim punktuellen Lesen des Aufsatzes als eine großangelegte Diffamierung und Diskreditierung der Weimarer Verfassung erscheinen könnte, ist in Wirklichkeit ein Angriff auf ihre herrschende Auslegung, die die Notwendigkeit der Grenzen des Verfassungsänderungsbefugnis nicht erkennen konnte oder wollte, die es ablehnte, "nach Freund und Feind der Verfassung zu fragen" 28 . "Die allgemeinen Freiheitsrechte umschreiben die soziale Struktur einer individualistischen Ordnung, deren Aufrechterhaltung und Wahrung die organisatorische Struktur des ,Staates' dienen soll"; dadurch seien sie die wirklichen Fundamentalprinzipien der öffentlichen Ordnung. Sie hätten eine "überlegale Würde", eine superh!galite constitutionnelle, wie Hauriou gesagt habe, "die sie nicht nur über die gewöhnlichen, einfachen Gesetze, sondern auch über die Krockow 100. Vgl. "Grundrechte und Institutionelle Garantien" (VL 170ff.), "Freiheitsrechte und institutionelle Garantien der Reichsverfassung" (in VrA 140fT.) sowie "Grundrechte und Grundpflichten" (VrA 181fT.). Auch Hofmann 167 übersieht diese stille Vorbereitung der Akzentverschiebung. 27 L&L 344. 28 L&L 345 (Kommentar Schmitts aus dem Jahre 1957). 25

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Erster Teil

Verfassungsgesetze erhebt und ihre Beseitigung durch verfassungsändernde Gesetze ausschließt" -die Grundrechte gehörten zum grundsätzlich unveränderlichen ,Verfassungssystem' 29 . "Was schattenhaft und verschwommen in der Absicht Friedeich Naumanns lag, als er - verhöhnt von dem Gelächter eines ahnungslosen Vorkriegspositivismus- seinen Grundrechtsentwurf aufstellte, hatte doch noch mehr Beziehung zum Wesen einer deutschen Verfassung, als die Wertneutralität eines funktionalistischen Mehrheitssystems" 30 (welches mit Zweidrittelmehrheit auch die Grundrechte beseitigen konnte). Eine Verfassung, die hier nicht wagen würde, zu entscheiden, sondern statt einer substanzhaften Ordnung den kämpfenden Klassen, Richtungen und Zielsetzungen die Illusion geben wollte, daß sie legal auf ihre Rechnung kommen, alle ihr Parteiziel erreichen und alle ihren Gegner legal vernichten können, "würde im praktischen Ergebnis auch ihre eigene Legalität und Legitimität zerstören" 31 . Hilfreich wäre für Krockow gewesen, beim Entlarven des konkreten Ordnungsdenkens auch einem anderen Faden zu folgen. Die "Volksgeistidee" der historischen Schule ist ihm verdächtig, und "in diesem Zusammenhang" nur zu verständlich, daß Schmitt schließlich Savigny als das große Vorbild echten juristischen Denkens feiert. Solches Denken tauche immer auf, wenn es darum gehe, den Einzelnen "jeder eigenständigen Entscheidungsmacht zu berauben" 32 . Solche Assoziationen scheinen, oberflächlich gesehen, durch gewisse Indizien gerechtfertigt zu sein. Denn erstens bezeichnen einige Autoren den Volksgeist tatsächlich als "völkisch" 33 . Zweitens ist eine gewisse "quietistische Tatenlosigkeit'' - auch als politische Konsequenz - der historischen Schule nicht zu leugnen 34 • Was hat aber dies mit Savigny zu tun? Die "Selbstentfaltung des völkischen Rechtsbewußtseins" dürfe nicht durch Laune und Willkür des Gesetzgebers beeinträchtigt werden, der Lebenszusammenhang des Volkes dürfe "nicht durch gewaltsame Eingriffe in die überkommenen Ordnungen gestört werden" . Das war die politische Idee Savignys gewesen, mit der er der Revolution, aber auch dem aufgeklärten Absolutismus begegnete 35 . Es ist ein grober Mißgriff, hinter seinem "Volksgeist", einem dem Geiste des Humanismus entsprungenen Begriff unbewußter Bildungserfahrung36 Blut-und-Boden zu riechen. Savigny sagt "Volk" und meint den Stand der Rechtsgelehrten, etwa nach der Gewohnheit der alten monarchomachischen Literatur, die ebenfalls "Volk" sagte und die ständische Repräsentation meinte. » L&L 311. 30

L&L 344.

31 eda.

Krockow 94. Dahm 117 ff. 34 Dahm 120. 35 Dahm 121. 36 Wieacker 235. 32 33

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Savigny identifizierte das Rechtsbewußtsein des Volkes letztendlich mit der Rechtsüberzeugung der Juristen, mit der Rechtswissenschaft. So wird auch verständlich, warum Schmitt- in Anlehnung an Savigny- weder Staat noch Bewegung oder Volk, sondern die Rechtswissenschaft als die letzte "Hüterin der absichtslosen Entstehung und Entwicklung des Rechts" ansah 37 • In einer Zeit, in der die Legalität zu einer vergifteten Waffe geworden ist, "die eine Partei der anderen in den Rücken stößt, wird die Rechtswissenschaft zum letzten Asyl des Rechtsbewußtseins" 38 • Und wer immer noch versucht, einen "Zusammenhang" zwischen Volksgeist und Völkischem herzustellen, wird endgültig eines besseren belehrt: Savigny und seine Schüler hätten sich in der Besinnung auf das eigentlich Deutsche versagt, sie hätten das fremde, römische Recht eingedeutscht, welches schließlich zur "Waffe des sozialen und wirtschaftlichen Liberalismus" wurde 39 • Man hätte seinerzeit hinzufügen können: zur Waffe des "internationalen Judentums". 2-3. Schmitt verbindet das konkrete Ordnungsdenken mit einem Vorgang, der in den vorangehenden als Ausdruck bzw. auslösender Grund des Wandels juristischen Denkens, des Übergangs von der Deduktion zur Entscheidung, bewertet wurde: dem unaufhaltsamen Vordringen von Generalklauseln, unbestimmten oder" wertausfüllenden Rechtsbegriffen" 40 • Wer von Schmitts Diktaturbessenheit überzeugt ist, kann hier eine weitere Selbstbestätigung erblicken, vermutet man doch gewöhnlich einen direkten Zusammenhang zwischen Generalklausei-Gesetzgebung, verminderter Rechtssicherheit, Diktatur. Doch Schmitt gibt diesem Vorgang überraschend eine antidezisionistische Wendung. Er geht dabei weder willkürlich noch in Unkenntnis der wirklichen Zusammenhänge vor, sondern er bedient sich einer Doppeldeutigkeit des Ordnungsdenkens. Diese Doppeldeutigkeit ist keine Verfehlung der Sache, sondern sie wurzelt vielmehr in ihrer Natur. Die konkrete Ordnung kann erstens als Rechtsquelle und Entscheidungsmaßstab verstanden werden. Diese Auffassung drückt man mit Formeln aus wie: "ein den besonderen, den spezifischen Ordnungen angemessenes Rechtsdenken" 41 , oder: "der konkreten Lebenswirklichkeit eines Lebensverhältnisses gerecht zu werden" 42 • Das so verstandene Ordnungsdenken hat nur unter zwei Bedingungen einen Rückhalt: i) man setzt stillschweigend voraus, daß die Ordnung unangefochten 37

38

39 40 41 42

LeRW 423. LeRW 426. Dahm 122f. dArD 58. Engisch (I) 148 (Hervorhebung von mir). dArD 62 (Hervorhebung von mir).

4 Holczhauser

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und schutzwürdig ist, und ii) auch über Begriff, Wesen, Funktion, Ziel der Institution usw. herrscht Übereinstimmung. Die erste Annahme schaltet die ursprüngliche Dezision (als bereits vollzogen) zugunsten der Institution aus, die zweite macht eine eventuelle Entscheidung darüber, was "Natur der Sache" sei, überflüssig. Erst nach der Erfüllung dieser Voraussetzungen kann die konkrete Ordnung als objektives Richtmaß der Konkretisierung bzw. der Auslegung dienen. Die Vorstellung einer vorhandenen, nur wahrzunehmenden Ordnung verschiebt die Art der Rechtsgewinnung gegen das idealtypische Extrem "Deduktion". Am prägnantesten zeigt sich diese Tendenz gerade bei Savigny, der die Institution nur noch "anschauen" will. Larenz sieht eine innere Folgerichtigkeit darin, daß Savignys Institutionalismus zunächst in Puchtas Begriffsjurisprudenz mündete 43 • Andererseits konnte das Ordnungsdenken die Entscheidung gar nicht ausschalten, gerade weil es mit Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen verbunden war. Diese machen die Entscheidung in viel größerem Maße unausweichlich als die erschöpfenden Normierungen. Das Wesentliche dabei ist jedoch, daß die Regulativen die Entscheidungsbefugnis nicht dem Gesetzgeber vorbehalten, sondern sie auf andere Organe übertragen. Unbestimmte Rechtsbegriffe enthalten eine Delegation zugunsten des Rechtsanwenders44 • Die Motive und die politische Bedeutung dieser Übertragung können natürlich sehr unterschiedlich sein. Ist der Gesetzgeber überfordert, so flüchtet er gern in die Generalklauseln (Hedemann) und wälzt dadurch Entscheidung und Verantwortung ab. Er kann sie auch bewußt und planmäßig mit der Judikative teilen (s. die Verfassungsgerichtsbarkeit nach dem GG). Und schließlich kann ihm die Entscheidung durch einen politisch aktiv werdenden oder nicht restlos gleichgeschalteten Richterstand abgetrotzt werden. Nimmt man (entgegen Krockow) an, daß Schmitt ähnliche Zusammenhänge doch geläufig waren, so ist es eine zumindest diskutable Hypothese, daß er eine, anfangs zur NS-Ideologie gehörende Idee im letzteren Sinne aufgegriffen hat: "in einem ständisch gegliederten Volk herrscht immer eine Mehrheit von Ordnungen, deren jede ihre Standesgerichtsbarkeit [...] aus sich selbst heraus gestalten muß" 45 • Zwei Elemente verbinden sich hier miteinander: Pluralität und Autonomie.

Beide .sind wesentliche Topoi nicht nur der ständischen Opposition gegen

zentralistisch-absolutistische Tendenzen, sondern auch der modernen Demokratie46. Mit dem Institutionalismus hat sich auch Schmitts Verhältnis zum

Larenz 14. Henkel :l'i. 45 dArD 63 l(lcrvorhcbung von mir). 46 Heck (III) 45 wertet das konkrete Ordnungsdenken als den Gegensatz zum "durch den Staat gebotenen Denken". 43

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Pluralismus geändert: in Weimar bekämpft (bleiben wir zunächst bei dieser summarischen Feststellung), wird er jetzt gefordert 47 . Wie wenig dies alles in die NS-Praxis hineinpaßte, zeigt die Tatsache, daß das Programm der ständischen Gliederung nach 1933 fallengelassen wurde, weil es sich "nicht mit dem autoritären Führerstaat vertrug" 48 . Das konkrete Ordnungsdenken war unpraktikabel, denn der Nationalsozialismus brauchte weiterhin eine dezisionistische Ideologie zur Rechtfertigung ihrer Praxis, und er fand sie nicht einmal in Schmitts früherem Dezisionismus. Der Nationalsozialismus hat die Freirechtslehre vereinnahmt49 , nicht weil sie eine nach totalitärer Diktatur lechzende Ideologie bereitgestellt hätte, sondern weil ihr Dezisionismus technisch geformter und für die Alltagspraxis brauchbarer war als Schmitts staats- und rechtsphilosophische Essays. Schmitts NS-Karriere hängt mit dem konkreten Ordnungsdenken zusammen, wenn auch in einem anderen Sinn als gewöhnlich vermutet. Die geschichtssoziologische Erfahrung, daß einer revolutionären Macht selten gelungen ist, intakte Institutionen in kurzer Zeit aufzubrechen und umzugestalten, ohne daß dabei die eigene Struktur "korrumpiert" (oder zumindest in Mitleidenschaft gezogen) worden wäre, ist nicht von heute. Die Wirkung von Revolutionen war oft oberflächlich, und die Institutionen, wenn auch nicht völlig unverändert, überdauerten sie häufig 5°. Erst recht sollte diese Erkenntnis auf eine Sammelbewegung mit konfusem Programm, das den Erfordernissen einer modernen Industriegesellschaft nicht gewachsen war, zutreffen 51 . Die Erwartung, daß die neuen Machthaber bald abwirtschaften und die politische Bühne räumen (ein Glaube, der durch die russische Oktoberrevolution bereits auf eine folgenschwere Weise widerlegt wurde), war weit verbreitet 52 . Unpolitische, aber auch Gegner des Nationalsozialismus konnten sogar in NS-Organisationen mitarbeiten, als Mitläufer wichtige Funktionen in der Hand behalten, um zu sabotieren, zu lenken oder zu bremsen, evtl. einfach um Schlimmeres zu verhüten 53 • 47 Joseph H. Kaiser: Konkretes Ordnungsdenken S. 323 (in: Quaritsch (II) 319ff.). Krockow 102 übersieht hier gerade das Wesentliche: Schmitt verlangt die Pluralität nicht so sehr als das Nebeneinander von verschiedenen - möglichst monotitischen nationalen Ordnungen, sondern gerade als innerstaatliche Pluralität. 48 Walter Tormin, Die Machtergreifung (in Alefl), S. 36; vgl. auch Dahlheimer, Manfred: Ständische Ordnung statt pluralistischer Gesellschaft, in: Böckenförde (IV) 122ff. 49 Radbruch (I) 82. 50 Vgl. Tocqueville: Der alte Staat und die Revolution, München 1978, S. 199f., und aus der entgegengesetzten Perspektive: Lenins "Politisches Testament", in: I ring Petscher (Hrsg), Lenin Studienausgabe, Frankfurt 1970, 269ff. 51 Die nationalsozialistische Revolution erzeugte weitreichende Unordnung (Schoenbaum 152ff.); die Finanzen wurden nicht durch ein eigenes Konzept sondern durch die Fortführung von Brünings Deflationspolitik saniert (Schoenbaum 156; ähnlich auch Tormin, in Aleff 37). 52 Golo Mann, Deutsche Geschichte 1919-1945, Frankfurt 1958, S. 106. 53 Tormin, in Aleff 46.

4*

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Es ist nicht die Aufgabe dieser Arbeit, einen Prozeß zu analysieren, an dessen Beginn die Unterstützung der konservativen Mehrheitsfraktion gegen den revolutionären Koalitionspartner stand, wie diese Arbeit unter dem Druck der Ereignisse, unter Terror und Angst sich in kompromittierende Mitwirkung verwandelte und zum Schluß nur noch frei verfügbares Propagandainstrument war, dessen man sich ohne viel Federlesen erledigte 54 . Nicht einmal traditionsreiche Institutionen, geschweige denn der isolierte Einzelne, konnten der Revolution von oben standhalten, deren Dynamik und Tragweite alle historischen Präzedenzfälle, die Schmitt in der "Diktatur" auf ihre zentralisierende Wirkung hin untersuchte, übertraf. Es gehörte "zu dem inneren Widerspruch zwischen den Regierungsmethoden Hitlers und den Traditionen eines Beamtenstaates, daß alle Bemühungen um die Rettung dieser Tradition das, was sie vor der zerstörenden Macht Hitlers retten wollten, ihr gleichzeitig in die Hand gaben und ihr gefügig machten" 55 • Der innere Widerspruch der Situation, oder wenn man will, die Dialektik von Kollaboration und zivilem Widerstand, die auch für andere Revolutionen gilt, macht das Urteil so hoffnungslos schwer. Denn man kann die beiden Komponenten beliebig ausspielen, ohne daß dabei das Bewußtsein von Vereinseitigung oder gar Fälschung aufkommen würde. Schmitt wurde Mitglied der NSDAP und bekleidete auch öffentliche Funktionen, deren Bedeutung und die mit ihnen verbundene Macht heute maßlos übertrieben wird. "But he never became an ideological convert to Nazism" - an diesem Urteil eines schonungslosen aber fairen Kritikers (Bendersky) möchte ich als an einem methodologischen Grundsatz festhalten. 2-4. Die letzte Vorstellung, aus der alles andere Juristische abgeleitet wird, sei entweder eine Norm, eine Dezision oder eine Institution 56 • Das ist zunächst eine logisch-reduktionistische Vorstellung: dasselbe Gebäude der Theorie aus verschiedenen Grundbegriffen zu rekonstruieren. Wären alle drei Programme gleichermaßen durchführbar, so wären die drei Typen äquivalent und eine Frage persönlichen Geschmacks, welchen man bevorzugt. Auch jede Kritik an den beiden ersten (wenn man den letzteren wählt), erübrigte sich. So meint es Schmitt jedoch nicht. Seine Entscheidung für den Institutionalismus ist mit dem Anspruch verbunden, die Unzulänglichkeit der beiden anderen nachzuweisen. Die institutionalistische Kelsen-Kritik Schmitts konzentriert sich auf die (angebliche) Grundanschauung des Normativismus: nicht Personen, sondern Gesetze herrschen. Schmitt vermißt das personale Element: ein Gesetz könne siCh selbst nicht handhaben, anwenden oder vollstrecken. Auch der "dem Gesetz unterworfene Richter ist kein normativistischer sondern ein Ordnungsbegriff, eine zuständige Instanz, ein Glied eines Ordnungssystems von Ämtern und Behörden" 57 • So richtig dieser Einwand ist, so wenig trifft er Kelsen. Denn die 54 55 56

57

Vgl. Bendersky, insb. Kap 10 und 11. ZMh 433. dArD 7. dArD 16.

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Ironie der Lage ist, daß Kelsen dieser Feststellung genauso vorbehaltlos zustimmen konnte wie etwa Hellers dezisionistischen Angriffen auf die Reine Rechtslehre 58 • Denn Kelsens "Prinzip der Effektivität" setzt den ,,soziologischen", d. h. "wirksamen" Staat geradezu voraus. Die Grundnorm wird-wenn überhaupt- nur dort vorausgesetzt, wo eine "im ganzen und großen wirksame Ordnung"erzwungen wurde 59 _ Der Stufenbau der Rechtsordnung ist nicht lediglich eine Hierarchie von Normen, sondern diese letztere wird auf einen Stufenbau von wirksamen Instanzen, ohne welche eine dynamische Normlogik unvorstellbar ist, bezogen60 • Kelsens Begriff "Wirksamkeit" enthält sowohl die Institution als auch die Dezision. Daß er sie nicht für entscheidend erklärt, bedeutet nicht, daß er sie ausklammert oder ignoriert. Sondern s.ie werden, ganz im Gegenteil, als unerläßliche Faktoren gefordert. Kelsen will siejedoch weder herleiten noch aus dem Normbegriff rekonstruieren, sondern er betrachtet sie als irreduzible Elemente der, der Norm wesensfremden, Seinssphäre. Wirksamkeit sei die notwendige Bedingung, die Grundnorm der Grund der Geltung einer Rechtsordnung. Das sind keine Termini der Deduktion, sondern die einer Art "Begriffs-" oder "Denkkausalität". Kelsen geht hier nach dem traditionellen Schema der Kausalität vor, er sucht unter mehreren Bedingungen die ausschlaggebende. Die in verschiedenen Fällen gleichermaßen vorhandenen oder aber zeitlich invariablen Faktoren werden als conditio sine qua non bewertet, sie kommen jedoch als causae nicht in Frage. Es ist eine elementare Forderung der kausalen Zurechnung, daß man den Grund unterschiedlicher Wirkungen unter den variablen Faktoren sucht. Wenn Kelsen z. B. sagt, daß die Aufforderung durch einen Finanzbeamten rechtlich gültig ist, die durch einen Straßenräuber jedoch nicht, weil die Grundnorm nur für den ersten vorausgesetzt wurde, dann wendet er gerade diese Denkkausalität an. Die Wirksamkeit (die Dezision, vielleicht auch die "institutionelle" Ausgestaltnng der beiden Akteure) ist in beiden Fällen vorhanden, kann also nicht entscheidend sein. Es gibt Teilbereiche der Kelsenschen Konstruktion., wo dieser Denkmechanismus den Dezisionismus nicht verschleiern läßt. Konkurrierende Rechtsorgane, die einander widersprechende Normen setzen, gefährden die Einheit (d. h. die Konsistenz) der Rechtsordnung. Um den Konflikt zu lösen, schreibt Kelsen nur dem einen, nämlich dem stärkeren, tatsächlich durchgesetzten Befehl die Normqualität zu. Hier ist der rein faktische Zwang entscheidend. Kelsen kann nicht einmal (wie sonst, wenn es darum geht, die Unmittelbarkeit der Dezision zu verschleiern) auf den bloß gesollten, nicht jedoch faktischen Zwang ausweichen, denn ermächtigt sind die beiden Rechtsorgane. 58 59 60

Vgl. Christoph Müller in Müller / Staff693ff. Kelsen (II) 204ff., 219. Kelsen (II) 228 ff.

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Schließlich läßt sich nach diesem Mechanismus auch ein (wenn auch anders gearteter als der Schmittsche) Institutionalismus rekonstruieren. Ist ein Recht (z. B. ein Grundrecht) als Dezision der verfassunggebenden Gewalt und daher auch als positive Norm vorhanden, so verlangt man etwas mehr, um von ihrer wahren Geltung zu sprechen: nämlich die instrumentale Ausgestaltung ihrer Durchsetzung, ein Verfahren oder eine Institution. Sind sie etwa auf der Verwaltungsebene oder als die entsprechende Institutionen der Rechtssprechung nicht vorhanden, so bleiben sie leere Programmsätze. Die Erkenntnis, daß der Normativismus verschleierter Dezisionismus ist, verringert die Anzahl der Typen auf zwei. Dies stellt auch den zwingenden Charakter der Schmittschen Einteilung in Frage. (Es ist auch zu vermuten, daß die Aufzählung der zu berücksichtigenden Faktoren nicht vollständig ist. Es ist merkwürdig, daß ein Kritiker des Positivismus einen Topos wie die "Rechtsidee" außer Acht gelassen hat.) Das Besinnen auf die Typen juristischen Denkens als die Produkte einer Begriffskausalität erklärt auch, in welchem Sinne der Positivismus außerrechtliche Materie oder überpositive Motive aus der Wissenschaft auszuklammern versuchte. Das aus der Wissenschaft als Ideologie verbannte Ethos setzten sie beim Wissenschaftler als eine unausrottbare anthropologische Tatsache voraus61, genauso wie die Funktionsfähigkeit der konkreten Gesamtordnung der parlamentarischen Vorkriegszeit, die noch durch keine nennenswerte Vertrauenskrise erschüttert wurde 62. Sie wurden nicht ignoriert, sondern als gegeben vorausgesetzt. Nur unter dieser Voraussetzung waren die verschiedenen Gleichsetzungen oder Identitäten (Recht = Gesetz, Repräsentanten = Repräsentierte, Verfassung = Gewaltenteilung, Legitimität = Legalität usw.) berechtigt. Schmitts Parlamentarismuskritik versuchte gerade dieses Moment ins Bewußtsein zu bringen, daß solche Gleichsetzungen nur solange als annehmbare Approximationen gelten können, bis die vorausgesetzten Faktoren tatsächlich vorhanden sind. Interpretiert man die Typen juristischen Denkens nach dem Muster der Begriffskausalität, so springt die Analogie zur gewöhnlichen Typenbildung in der Rechtswissenschaft ins Auge. Man verlangt eine mehr oder weniger feste Anzahl von Merkmalen (Bedingungen), die gleichermaßen vorhanden sein müssen, die manjedoch unterschiedlich bewerten darf. Wegen dieser Eigentümlichkeit halte ich die Versuche, Schmitts Typen mit Max Webers Idealtypen zu vergleichen63 , für nicht begründet. Charismatische, bürokratische und traditionelle Herrschaft bestehen nicht nebeneinander, so daß nur die Auslegung die eine oder die andere als entscheidend hervorheben würde, sondern sie schließen sich aus und verdrängen einander. 61 62 63

Larenz 43. L&L 277, dArD 38, vgl. auch Dahm 134. Engisch (I) 294, vgl. auch Larenz 162.

2. Die Typen rechtswissenschaftliehen Denkens

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2-5. Die Lage der europäischen Rechtswissenschaft sei immer "durch zwei Gegensätze bestimmt gewesen". Sie mußte sich einerseits gegen Philosophie, Theologie und Metaphysik, andererseits gegen das bloße Handwerk, den "Positivismus der bloßen Setzung von Setzungen" behaupten64 • Es entsteht der Eindruck, als wäre die Rechtswissenschaft ein Drittes, das seine Autonomie nur bewahren kann, wenn es sich auf beiden Seiten abgrenzt. Es wäre indessen auch vorstellbar, daß die Gefahr nicht von außen her kommt, sondern darin besteht, daß der Gegensatz die Jurisprudenz von innen her zu sprengen droht. Der überpositive und der positive Standpunkt, die Schmitt als Grenze hinstellte, könnten vielmehr als die eigentlichen (wenn auch nicht so spektakulär angekündigten) Typen juristischen Denkens angesehen werden. Schmitt hielt es für eine der großen Versäumnisse seines Lebens, auf das Verhältnis Savignys zu Hege! nicht näher eingegangen zu sein. Sein Hinweis auf den § 211 der Rechtsphilosophie betrifft jedoch nur Hegels Polemik gegen Savigny, ohne den Zusammenhang zu der hier aufgestellten Problematik zu berühren 65 . Hege! spricht an der genannten Stelle die Schwäche der Historischen Schule an: was an sich Recht ist, wird erst als Gesetz in seinem objektiven Dasein gesetzt, erst durch den Setzungsakt erlange es seine Bestimmtheit und komme "zu seiner Ehre" 66 . Fehlt der positivierende Setzungsakt, so wird dadurch die Entscheidung nicht aus der Welt geschaffen, sondern nur die Willkür des Rechtsanwenders begründet und gefördert. Andererseits verkennt Regel nicht, daß die Entscheidung des Gesetzgebers nicht weniger durch "das Zufällige des Eigenwillens" behaftet ist, und daher könne "das, was Gesetz ist, in seinem Inhalte noch von dem verschieden sein, was an sich Recht ist" 67 • Die beiden Standpunkte beschreiben den altbekannten Gegensatz: "natürliches" versus "positives" Recht - nicht in ihrer inhaltlichen Bestimmtheit, sondern als Typen, als "ewige Positionen" 68 juristischen Denkens. Insbesondere Bergbohm hat bei der Konstruktion seiner Begriffe vom positiven und vom Naturrecht diesen Unterschied explizit zum Kriterium gemacht - mit einem Hinweis auf Kant, aber auch auf den § 211 der Rechtsphilosophie Hegels 69 (aufgrund dessen er Regel, vorsichtig und mit Vorbehalt, naturrechtliche Affinitäten zuschreibt). Die beiden Positionen definiert er bewußt (wenn auch nicht wörtlich) als Typenjuristischen Denkens 70 • 64 65

66 67

68 69 70

LeRW 420f. LeRW 428. Hege!, Rechtsphilosophie, § 211, Zusatz. a.a.0.,§212. Dahm 135. Bergbohm 411, 179 ff. Bergbohm 358ff., vgl. auch 141.

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Erster Teil

Positives und überpositives Recht seien vollständige, maximal konsistente, geschlossene Satzmengen 71 • Wer nur ein einziges Prinzip, einen einzigen Satz z. B. des Naturrechts aufstelle, könne nicht verhindern, daß logisch notwendig ein "vollständiges ideelles Rechtssystem" entstehe 72 • Diesem System stehe das (ebenfalls vollständige) positive Recht gegenüber. Die beiden Satzmengen sind notwendig komplementär: wenn die Norm A positiv ist, so gehört non-A dem Naturrecht an, und umgekehrt. Das Naturrecht könnte also höchstens kritischer Maßstab, nicht jedoch legitimierender Grund des positiven Rechts sein 73 (denn der Grund und das Begründete gehören demselben System an). Ist nun der Gattungsbegriff "Recht", dem die beiden, positives und Naturrecht als Spezies angehören, konsistent, so kann nur eine der beiden Satzmengen als Recht gelten. Man mag diese (aus der Sicht der modernen Logik erstaunlich konsequente) Konstruktion als formalistisch abtun. Ihre eigentliche Schwäche wird aber dadurch noch nicht gezeigt. Diese besteht nun darin, daß sie das Überpositive nur in seiner groben Erscheinung (als Produkt der reflektierenden Vernunft, sittliche Idee oder politischer Zweck), nicht jedoch als Typus juristischen Denkens beseitigt. Denn Bergbohms Feststellung, die Lückenhaftigkeit des Rechts sei nur subjektiver Schein, besagt der Sache nach nichts anderes, als daß das positive Recht an sich lückenlos ist. Nur seine Erscheinung, sein Sein-fürdas-Andere, das Gesetz sei unvollständig. ("Existenz" und "Evidenz" des Rechts sind nur geringfügige Abwandlungen dieser Unterscheidung.) Bergbohm kann die Vollständigkeit des Rechts nur dadurch erzwingen, daß er das tatsächlich Deduzierte (Gesetzte) und das potentiell Herleitbare nicht auseinanderhält. Man braucht ihm dies nicht zum Vorwurf zu machen, denn erst Gödeis Unvollständigkeilssatz hat die fundamentale Andersartigkeit der beiden in voller Schärfe herausgestellt. Der Versuch, den Objektbereich dessen, was "Recht" ist, durch die Ausschaltung des Überpositiven zu homogenisieren, ist also nicht erst infolge inhaltlicher Inkonsequenz fehlgeschlagen. Solange man an der Vollständigkeit festhält, muß der Gegensatz innerhalb des Positiven wiederentstehen, und umgekehrt: der Anspruch auf Vollständigkeit muß aufgegeben werden, wenn man zu einem engeren Begriff des Positiven übergeht14 • Auf dem Hintergrund dieser zweiten Typisierung scheint Schmitts in den "Drei Arten" unternommene Unterscheidung brüchig. Wie Schmitt dort etwa die Dezision zum Kriterium eines Typus macht, hat mit einer Denkweise wenig zu tun, sondern sie ist eher Rechtsquelle. Es ist nur folgerichtig, wenn Engisch sie nicht so sehr für Typen juristischen Denkens, sondern für "Idealtypen von materiellen Rechtsgrund und Rechtswesensvorstellungen" hält 75 . Bergbohm 407, 357. Bergbohm 393 f. 73 Bergbohm 197. 74 Was der sog. Gesetzespositivismus inkonsequenterweise nicht getan hat Wieacker 272. 11

72

vgl.

2. Die Typen rechtswissenschaftliehen Denkens

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Wer angibt, welche Rechtsquelle er für maßgeblich hält, gibt damit noch nicht an, welche Position er zwischen Sein (Gesetzt-Sein) und Sollen (Ansieh) bezieht. Positionen, die sich vordergründig auf die gleiche Quelle berufen, können miteinander unvereinbar sein. Dabei sind die subtilen Abwandlungen und Varianten des Gegensatzes zwischen Ansieh- und Satzungs-Typus viel wichtiger als die reine, gröbliche Einteilung: Naturrecht-positives Recht. Sie ziehen sich durch alle Rechtsquellen hindurch, auch durch die von Schmitt genannten Quellen. Die Unterscheidungen Gesetz-Recht, Legalität-Legitimität, usw. lassen sich mühelos auf den Gegensatz von Ist- und Soll-Zustand zurückführen 76 • Derselbe Gegensatz spaltet z. B. die Auslegungstheorie hinsichtlich des maßgeblichen Willens auf "subjektive" und "objektive" Willenstheorie und stellt der positiven Entscheidung des historischen Gesetzgebers einen fiktiven "Willen des Gesetzes", der in der "Rechtsidee" beschlossen werden so!J77, gegenüber. Augenfällig ist diese Doppeldeutigkeit gerade im konkreten Ordnungsdenken. Der programmatisch verkündete Institutionalismus gehört dem positiven Typus an: es gebe Bereiche menschlichen Daseins, deren innere Ordnung jedem Versuch restloser Normierung widerstehe. Das ist die traditionalistisch verstandene "gewachsene" Struktur, die positive Institution. Die Forderung, daß das ihr zugrundeliegende substantielle Recht vom Gesetzgeber übernommen und respektiert werden solle, daß es gelten soll kraft seines Daseins, ist eine (nicht einmal subtile) Wiederkehr der auch von Schmitt bekämpften Jellinekschen Formel: das Faktische besitze, soweit es eine konkrete Ordnung ist, normative Kraft. In seinen konkreten staatsrechtlichen Auseinandersetzungen verwendete Schmitt mitunter einen anderen Begriff der Institution. Seine Polemik gegen die Praxis des destruktiven Mißtrauensvotums nach WRV beruhte auf dem Idealbegriff des Parlaments, der "vernünftigen Natur" einer Institution, die nicht nur die Kontrolle über die Exekutive beanspruchen, sondern auch für das Zustandekommen handlungsfahiger Regierungen verantwortlich sein soll 78 • In seiner späteren Schrift über die Lage der europäischen Jurisprudenz geriet noch eindeutiger die "Logik und Folgerichtigkeit der Begriffe und Institutionen" in den Vordergrund 79 - gegen ihre Gestaltung durch den positiven Gesetzgeber. Auch Larenzweistauf die Zweideutigkeit hin. Schrnitts Begriff der Institution könne im Sinne des faktisch geübten, "soziologischen", aber auch "ontologischnaturrechtlich", d. h. im Sinne einer Ordnung, die einen "ethischen oder Engisch (I) 293 f. LeRW 422ff. 77 Engisch (II) 179. 78 VL 343 ff. Schmitt versuchte mit beeindruckender Sorgfalt, eine vermittelnde Position einzunehmen zwischen der buchstabengtreuen aber Selbstzerstörerischen Auslegung durch die herrschende Lehre einerseits, und der Logik der Institution, die mit dem Verfassungstext nicht vereinbar war, andererseits. 79 VrA 423. 75

76

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Erster Teil

metaphysischen Sinngehalt in sich schließt", verstanden werden 80 • Das ist natürlich eine andere Unterscheidung als die unsrige. Ihr Kriterium ist die Stellungnahme des Beobachters, der in beiden Fällen die vorhandenen Institutionen betrachtet - bald neutral-gleichgültig, bald mit der Überzeugung ihrer überpositiven Legitimität. Schmitts Einteilung stellt der seienden Institution die seinsollende gegenüber, nicht mit der Absicht, die erste zu legitimieren, sondern im Gegenteil, sie zu verändern, ihrer Idee anzugleichen und dadurch funktionsfähig zu machen. Diese Doppeldeutigkeit scheint bereits die Historische Schule belastet zu haben. Schmitt wollte sie gegen den Positivismus ins Felde führen. Indessen wurde sie, bereits eine Generation früher, vom "wissenschaftlichen" Positivismus in Anspruch genommen. Bergbohm glaubte, in ihr das "thatsächlich leitende Prinzip" des Positivismus entdecken zu können, und dieser Zusammenhang ließ uns bei diesem, heute kaum mehr zitierten, Juristen verweilen. Es scheint nämlich, daß sein Positivismusbegriff der Ausdruck einer viel konkreteren Einsicht war, als Schmitts hastig aufgebaute Gegenposition. Schmitt nannte (neben Kelsen) gerade Bergbohm, um zu belegen, wie einseitig der Positivismus sich im Dualismus Dezision-Norm verfing und alles andere ausklammerte 81 • In Wirklichkeit berücksichtigte Bergbohm eine geradezu erdrückende Fülle von Materie im Vorfeld des Juristischen: Ideen, Zwecke, Interessen, Institutionen. Das Entscheidende war für ihn jedoch das Gleiche, was Schmitt in der Politischen Theologie dem Normativismus entgegenstellte und in der "Drei Arten" ausklammerte: sie würden nicht unmittelbar, durch Offenbarung, philosophische Reflexion oder Kraft der Vernunft zu geltendem Recht. Sondern sie müßten einen geschichtlichen Werdeprozeß durchmachen, mittels dessen "irgendein Rechtsbildungsmotiv oder die Diagonale aus den miteinander kämpfenden Motiven aus dem Vorstadium des Sittlichen oder des Politischen, Vernünftigen oder Ideenhaften usw. in das Stadium des formell verbindlichen Rechts überführt" werde 82 • Den formellen Rechtsakt einer kompetenten Instanz stuft Bergbohm zu einer bloßen Deklaration zurück. Positives Recht ist nicht das Ergebnis eines Willküraktes, sondern dasjenige, was sich im geschichtlichen Prozeß durchgesetzt habe. Damit verzichte man weder auf die Unterscheidung zwischen "gutem" und "schlechtem" Recht noch an den Glauben, daß "es etwas Höheres als das formell giltige Recht gibt" 83 • Bedenklich sei nur, die aus solchen Quellen fließenden Anforderungen an das Recht unmittelbar für Recht auszugeben: dies münde in Fehden, in zweizüngiger Opportunitätsjudikatur, es "lähme die Thatkraft", die erforderlich ist, um sie in positives Recht zu verwandeln. 80 81 82 83

Larenz 162.

dArD 32.

Bergbohm 546. Bergbohm 533.

2. Die Typen rechtswissenschaftliehen Denkens

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Der wahre Sinn der Historischen Schule ist für Bergbohm, daß die eigentliche Rechtsquelle der historische Werdegang ist. Diese Erkenntnis erklärt er für eine universale Voraussetzungjeder Art juristischen Denkens, insbesondere ist sie die Konkretisierung dessen, was positiv ist. Natürlich erinnert diese Auslegung eher an Hegels Kritik an Savigny als an dessen tatsächliche Ausführungen, und sie fördert nicht so sehr den wahren Kern der Historischen Schule zutage als sie ihre Verschleierungstendenz enthüllt. Nur wenn man die Fiktion eines restlosen Konsenses annimt oder den Konflikt hinter dem verharmlosenden Bild des Organischen zurücktreten läßt, erübrigt sich das "juristische Formelement", die Entscheidung. Auch das konkrete Ordnungsdenken Schmitts muß (zumindest in dieser programmatischen Standortsdefinition) den Konflikt gleich auf drei Ebenen verschweigen: i) innerhalb der Institution, ii) zwischen Institutionen mit unvereinbaren Zielen, und iii) zwischen Verfassung und Institutionen, deren Wandel nicht unmittelbar in Verfassungsänderung umgedeutet werden kann. 2-6. Ideengeschichtlich einmalig ist am Rechtspositivismus des 19. Jahrhunderts nicht, daß für ihn das Gegebene das allein maßgebliche war, auch nicht der daraus folgende Relativismus. Seine Einmaligkeit rührt vielmehr einer eigenartigen Verbindung her, der zuerst Hobbes zum Durchbruch verhalf. Die Widersprüchlichkeit dieser Verbindung fand ihren Ausdruck in den beiden, schon auf den ersten Blick so unvereinbaren Bildern des Staates: großer Mensch und große Maschine. Der Hinweis, daß Hobbes den Descartesschen Gedanken vom l'homme-machine folgerichtig zum l'etat-machine weiterführte und damit das Manifest des industriellen Zeitalters entwarf84, deutet die Herkunft dieser Symbolik gewiß zutreffend, ohne jedoch die Spannung aufzulösen. Denn einerseits wird das Bild des großen Menschen im Prinzip des Wollens, des autoritas- non veritas auf den Begriff gebracht, andererseits mündet das Bild der Maschine notwendig in Vorstellungen des Gesetzgebungs- und Verwaltungsmechanismus, der Vision einer automatisierten Rechtssprechung, der unpersönlichen Herrschaft der Norm. Es ist also keine freie Erfindung, daß der Positivismus die Verbindung von Dezisionismus und Normativismus ist, die nähere Natur der Verbindung wurde jedoch dadurch noch nicht geklärt. Handelt es sich um eine Ergänzung, eine harmonische Kooperation oder aber um einen unvereinbaren Gegensatz? In der Politischen Theologie führte Schmitt seine Angriffe gegen einen Positivismus (den er mit dem Normativismus identifizierte) im Namen der "Dezision". Das läßt einen Gegensatz vermuten, es sei denn, Schmitt hat den wahren Sachverhalt verkannt. Andererseits ist zu fragen, wie der Positivismus (wenn er eine dezisionistische Komponente hat) Assoziationen des Mechanischen hervorrufen konnte? 84

Schmitt: Der Staat als Mechanismus bei Hobbes und Descartes, in: ARSP, Bd. 30,

s. 622fT.

60

Erster Teil

Der Positivismus trennt die beiden Momente und verteilt sie aufverschiedene Elemente der Theorie. Darin besteht das eigentlich Mechanische. Die Entscheidung wird, sei es in reiner Gestalt, sei es in der Form eines "historischen Werdegangs" usw., dem Induktionsanfang zugeordnet und dort zugleich isoliert. Dagegen wird der Induktionsschritt von jeder Spur von Entscheidung gereinigt und tendenziell in reine Herleitung, Subsumtion verwandelt. Der Anfang ist dezisionistisch, die Entwicklung des Systems begriffsjuristisch. Der wunde Punkt dieses Positivismus ist gerade sein Herleitungsbegriff, die Regeln und Prinzipien der Rechtsfortbildung. Die herrschende Lehre einer sich durchsetzenden Mehrheit des Juristenstandes verwandelt sie in eine soziologisch-politische Wirklichkeit; sie sind also positiv im Sinne des historisch Wirksamen. Nur die Fiktion der rein subsumtiven Rechtsfortbildung läßt sich nicht aufrechterhalten. Die Freirechtslehre ist dieser begriffsjuristischen Illusion, lange vor Schmitt, vehement entgegengetreten und auch Kelsen nannte die üblichen Interpretationsmethoden "völlig wertlos" 85 • Besonders bei Bergbohm zeigt sich deutlich, wie weit man den Herleitungsbegriff fassen muß, wenn man einen unvollständigen Induktionsanfang ("Gesetz") zu einem vollständigen System ("Recht") fortentwickeln will. Alle Argumente gegen die Engherzigkeit einer Auffassung, die alles Überpositive ausklammern will werden gegenstandslos angesichts einer Hermeneutik, für welche die Analogie eine "Schlußform" ist und Figuren wie die "Natur der Sache" oder der "Geist der Rechtsordnung" als unverdächtige "Direktionsmittel", die den Rahmen des Logischen nicht sprengen, gelten konnten 86 • 2-7. Bisher haben wir stillschweigend das Ansich-Denken mit Wahrheit und Deduktion (Subsumtion), bzw. das Sein-für-anderes (Setzung) mit Dezision gleichgesetzt. Dies bedarf nun einer Klarstellung, die zugleich einen scheinbaren Widerspruch auflösen soll. Ich habe oben behauptet, daß i) der Entscheidung der gleiche Status zukomme wie der Subsumtion (Kap. 1-3), und anschließend ii) die Entscheidung als einen rein logischen Akt, die Subsumtion dagegen als keinen Akt der reinen Logik genannt (Kap. 1-8). Die Klarstellung soll zu Bewußtsein bringen, daß der Gegensatz: Ansich-sein und Sein-für-anderes eine präzisere Fassung des Sachverhaltes ist als die Gegenüberstellung Subsumtion-Dezision. Denn die Entscheidung kann auch als Konsens, Entscheidung für (gegen) einen Inhalt (nicht gegen ein Subjekt) verstanden werden. Dann verliert sie gerade das Merkmal, Sein für (gegen) ein Anderes (ein Subjekt) zu sein. Dadurch verflüchtigt sie unversehens zu einem 85 Der Grundsatz nulla poena (Kelsen (li) 118), Zitelmanns allgemeiner negativer Grundsatz (a.a. O. 16, 43), das Prinzip der "Effektivität" (das auf dem Umweg des Völkerrechts " positiviert" wird- a.a.O. 221 , 236) garantieren der Reinen Rechtslehre das, was sie den konkurrierenden Rechtstheorien abspricht: objektiv und rein deduktiv das "Wesen" des Rechts zu erkennen. 86 Bergbohm 384.

2. Die Typen rechtswissenschaftliehen Denkens

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idealen Akt, zu einem Ansieh, und hat den gleichen Status wie der ideale Deduktionsschritt. Sie ist nicht mehr konstitutiv, sondern nur deklaratorisch. Wenn wir nun auch sagten: die Subsumtion sei kein logischer Akt, so meinten wir stillschweigend nicht den idealen Induktionsschritt, sondern die Tätigkeit des wirklichen, endlichen, von Interessen geleiteten Subjekts, welches seine Begründungsakte nicht nur an sich, sondern gegen ein Anderes vollzieht und an dem Ergebnis der "Deduktion" festhielt, auch wenn andere Subjekte zu anderen Schlußfolgerungen kommen. In diesem Fall ist seine Tätigkeit nicht deklaratorisch, sondern konstitutiv. Nur wenn man diese Klarstellung nicht aus den Augen verliert, können die beiden Gegensatzpaare miteinander ersetzt werden. Das dritte Gegensatzpaar, das in der Erklärung auftauchte (deklaratorischkonstitutiv) führt uns zugleich zu einer dritten Typisierungjuristischen Denkens. Schmitt hat die "inhaltliche Indifferenz" jeder juristischen Entscheidung nicht im Sinne politischer oder moralischer Gleichgültigkeit verstanden. Sie ist vielmehr die äquivalente Formel für die Erkenntnis, daß in "jeder Feststellung und Entscheidung mit rechtslogischer Notwendigkeit ein konstitutives Element" enthalten ist 87 , oder anders gesagt: daß es "überhaupt keine absolut deklaratorischen Entscheidungen geben kann" 88 • Daß die Entscheidung "die ursprüngliche Art juristischen Denkens" ist, gilt als ein gesichertes Ergebnis der neueren Methodenlehre 89 • Diese Feststellung beantwortet keineswegs die Frage, worin der qualitative Unterschied zwischen der obigen Erkenntnis und dem sog. "Dezisionismus" besteht. Daß er ein Typus juristischen Denkens ist, wollen wir nicht mehr in Zweifel ziehen. Doch anstatt seine Bestimmung in der fragwürdigen Dreiteilung zu suchen, möchte ich an eine frühere Typisierung von Schmitt zurückgreifen. In der Politischen Theologie deutete Schmitt "zwei Typen juristischer Wissenschaftlichkeit" 90 an, denen der Gegensatz von autoritas und veritas zugrunde liegt. Der Zusammenhang mit den "ewigen Positionen" ist offenbar, ihr Gegensatz wurde jedoch gerade durch die Unumgänglichkeit der Entscheidung erschüttert: den Veritas-Typus gibt es eigentlich gar nicht mehr. Auch Schmitt sucht das Kriterium der Typenbildung nicht in ihrem wirklichen oder objektiven Unterschied, sondern in etwas anderem: darin, "wie weit ein wissenschaftliches Bewußtsein von der normativen Eigenheit der rechtlichen Entscheidung besteht oder nicht besteht" 9 1 . Damit erfahrt der Begriff "Dezisionismus" eine Wendung: der Akzent wurde verschoben von der Tatsache auf ein 87 88

89 90 91

PT 37. PT 42. Zippelius 198. PT 44. eda.

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Erster Teil

Bewußtseinselement. Er ist nunmehr mit Ideologiekritik verbunden. Er stellt den Versuch, die Konkretisierung dessen, was im konkreten Fall als vernünftig, gerecht usw. gelten soll, für veritas auszugeben, in Frage. Als Ideologiekritik verstand sich übrigens auch der narrnativistische Dezisionismus der Reinen Rechtslehre 92 . Schmitts erster Entwurf einer "politischen Theologie" erfüllt diese ideologiekritische Funktion noch nicht. Diese Tatsache steht in einem auffallenden Gegensatz zu dem in derselben Schrift vertretenen Dezisionismus. Seine "Soziologie der Begriffe" sucht (nach einigen Abgrenzungen, die hier nicht von Belang sind) die Korrespondenz zwischen zwei Sphären: dem metaphysischen Weltbild eines Zeitalters und der Form seiner politischen Organisation. Um die Natur dieser Korrespondenz zu ermitteln, verwendet Schmitt Formeln, die um "Identität" und "Unmittelbarkeit" kreisen. Die Form der politischen Organisation, die "ohne weiteres einleuchtet" werde unmittelbar im metaphysischen Bild beschlossen, ist dessen Abbild und legitimiert sich an ihm überpositiv. Die Entsprechung der beiden Sphären ist im wesentlichen "substantielle Identität", die Abwesenheit eines vermittelnden Willensaktes. Die irdische Ordnung entsteht aus der transzendentalen gleichsam durch Subsumtion, nicht durch Entscheidung 93 • Nach der im Abschnitt 2-5 entwickelten Typisierung ist diese Art politische Theologie eine Variante des Naturrechts. Auch die gegenwärtige Diskussion schreibt ihr Bedeutungsgehalte94 zu, die die Funktion legitimatorischen Guristische bzw. institutionelle politische Theologie) oder kritisch-revolutionäre (appellative politische Theologie) Naturrechts haben 95 • In der Analyse einiger politischen Begriffe zeichnet sich jedoch eine stille Abwendung von diesem Konzept ab. Ein Beispiel: In der "Diktatur" sieht Schmitt noch eine "vollkommene systematische und methodologische Analogie" zwischen dem Verhältnis von konstituierenden und konstituierten Gewalten einerseits, zwischen dem von natura naturans und natura naturata (Spinoza) andererseits 96 • Einige Jahre später ist bereits wichtiger, die "positive Lehre von der verfassunggebenden Gewalt [...] von jener pantheistischen Metaphysik zu unterscheiden". Die politische Theologie, der Ort, wo diese Analogie ihre Berechtigung hat, tritt im Vergleich zur positiven Verfassungslehre in den Hintergrund 97 •

Kelsen, Was ist die Reine Rechtslehre. In: Festschrift für Giacometti, 1953, S. 154 ff. PT 59f. 94 E-W. Böckenförde, Politische Theorie und politische Theologie. In: Jacob Taubes (Hrsg), Der Fürst dieser Welt. Carl Schmitt und die Folgen, München 1983, S. 19ff. 95 Vgl. Wolf 154ff. 96 D 142. 97 VL 80. 92

93

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Erst in späteren Schriften98 verbindet Schmitt die politische Theologie explizit mit Ideologiekritik. Der "Zusammenhang" politischer Theorien und theologischer Dogmen steht nicht mehr im Vordergrund, ihre Korrespondenz erscheint nicht mehr als unproblematisch. Die "theologische Unterstützung verwirrt öfters die politischen Begriffe, weil sie die Unterscheidung" (zwischen Freund und Feind) ins Moraltheologische verschiebe, die Erkenntnis existentieller Gegensätzlichkeiten trübe und die Tendenz, die eigene Vorstellung vom Guten, Gerechten, Wahren usw. für absolut zu setzen, begünstige99 . Doch erst in einem Aufsatz über Donoso Cortes distanziert sich Carl Schmitt radikal von seiner früheren Bewertung der politischen Theologie. Der Begriff bezeichne nunmehr die "Mythisierung der Antriebe und Wunschbilder großer Massen, die von kleinen Gruppen gelenkt werden" 100 • Sie ist keine "Theologie", sondern eher eine "Metaphysik" des Politischen. Die irreführende Bezeichnung rühre daher, daß sie in ihrem ersten Stadium mit Resten einer säkularisierten Theologie arbeitete. Das habe sich geändert. Die neuen Mythen sind geschichtsphilosophischen Ursprungs, sie arbeiten mit Zersetzungsprodukten des Deutschen Idealismus. Alle suchen die eigene Legitimität im Glauben, geschichtsphilosophisch "richtig zu liegen, während der Gegner falsch liegt" 101 . Nicht die Definition hat sich in dieser späteren Fassung geändert, und auch die Akzentverschiebung von der Theologie auf die Metaphysik ist nicht neu. Auch die Notwendigkeit, daß politisches Handeln einer überpositiven Legitimation bedarf, wenn es nicht zum Autismus eines selbstermächtigenden Immanenzdenkens führen soll 102 , wird nicht geleugnet. Was Schmitt bestreitet, ist die direkte Kommunikation zwischen den beiden Sphären. Forderte 103 er in der ersten Fassung der politischen Theologie noch radikale Begrifflichkeit, eine bis zum Metaphysischen und zum Theologischen weitergetriebene Konsequenz , so erscheinen diese hier als die Grundlage für eine "Tyrannei der Werte". "Die Idee bedarf der Vermittlung, und wenn sie in nackter Unmittelbarkeit oder in automatischer Selbstvollzug in die Erscheinung tritt, dann ist der Schrecken und das Unglück furchtbar" 104 • Das arcanum der modernen Massenbeeinflussung ist die Suggestion, unmittelbaren Zugang zu den ewigen, unwandelbaren Quellen und Motiven der Legitimität zu haben. Fehlt das Bewußtsein (oder wird es wohlkalkuliert verdrängt), daß das Rechte und Gerechte-an-sich nur vermittels der Dezision in Die Politische Theologie II lasse ich hier unberücksichtigt. BdP 64f. 100 DCgl 11. 101 a.a.O. 12. 102 Politische Theologie II, Berlin 1970, S. 114. 103 Wohlgemerkt: nicht konstatierte, wie dies von einer "Soziologie der Begriffe" zu erwarten wäre. 104 TW 62. 98 99

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Erster Teil

positive Normen transformiert werden können, daß sie mit ihrer Unmittelbarkeit auch ihre nicht- oder antidezisionistische Unschuld verlieren, so wächst die Bereitschaft, sich über die positive Norm zu stellen. Als "Dezisionist" gilt heute, wem dieses Bewußtsein noch nicht verlorengegangen ist.

3. Die Ununterscheidbarkeit 3-l. Es gehört zu den grundlegenden Glaubenssätzen politischen Denkens, daß das sog. Hobbessche Ordnungsproblem (wie ein Gemeinwesen zusammengehalten, sein Bestand garantiert wird) prinzipiell zwei Lösungen zuläßt: Integration durch Zwang bzw. durch Konsens. Für die erste steht der Name von Hobbes als Kürzel, für die zweite der von Rousseau 1 • Es entspricht einer legitimatorischen Absicht, daß die Integrationsweise nicht in beiden Fällen auf den (fiktiven) Begründungsakt des Staates erstreckt wird (was an sich folgerichtig wäre), sondern am entscheidenden Punkt beide Varianten auf den Konsens zurückgreifen. Der Souverän wird auch bei Hobbes durch Vertrag eingesetzt. Die Legitimität der darauf folgenden Zwangsanwendung, der Herrschaft, wird dann durch den ursprünglichen Konsens gedeckt. Dieses asymmetrische Vorgehen ist weder axiomatisch befriedigend (denn der Unterschied zwischen den verschiedenen Arten der Garantie bei gleicher Begründung des Gemeinwesens müßte durch Zusatzannahmen erklärt werden), noch ist es aus soziologischem Gesichtspunkt zu rechtfertigen: man könne den Konsens höchstens aus ideologischen Gründen bevorzugen 2 • Die Soziologie definiert sowohl den Konsens als auch die konfliktbedingte und -entscheidende Zwangsanwendung als Spielarten des "sozialen Handelns" oder aber von "sozialen Beziehungen" 3 . Im Prinzip sind also beide geeignet, ein Gemeinwesen zu begründen. Die homogene Verlängerung der beiden Ordnungsmodelle bis zu ihrem jeweiligen Ausgangspunkt würde dann zwei Konstituierungsmuster des Staates ergeben, die konsensuale und die konfliktuale (Zwangs-) Konstitution4 . Eine besonders scharfe Unterscheidung der beiden Formen der Begründung und des Handeins überhaupt hat die utilitaristische Theorie gemacht und dabei zur Konkretisierung der Begriffe "Gesellschaft" und "soziales Handeln" 1 · Dahrendorf28. Etzioni (Soziologie der Organisation, München 1969) berücksichtigt einen dritten Faktor: die "Verbindlichkeit" sozialer Normen. Das ist jedoch nur eine Scheinalternative, weil "Verbindlichkeit" synonym zur "Ordnung" ist. 2 Freund (II) 50. 3 Simmel 195 ff. 4 Die Gleichsetzung Konflikt Zwang scheint auf den ersten Blick nicht gerechtfertigt, können doch Konflikte auch ohne Zwang, etwa durch gegenseitige, freiwillige Zustimmung zu einem Friedensvertrag, gelöst werden. Die Beantwortung dieses Einwandes ist das Thema des vorliegenden Abschnitts.

3. Die Ununterscheidbarkeit

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beigetragen. Die Definition der Gesellschaft als eines Marktes im weitesten Sinne (Tauschgesellschaft) ist nur die institutionelle Transformation des Gedankens, daß soziales Handeln ein Mindestmaß an "Gegenseitigkeit" enthalte 5 , wobei das eigene Handeln ein Mittel zum Erfolg des anderen Akteurs ist 6 • Soziales Handeln ist "Katallaxis", Tausch von Gütern im weitesten Sinne 7 • Der sozial Handelnde erweitert, durch sein Leistungsangebot, den Objektbereich der Präferenzordnung seines Gegenspielers, so daß dieser mindestens zwischen zwei Gütern (Alternativen) wählen, das eine dem anderen vorziehen, kann. Große Schwierigkeiten hat dagegen die herkömmliche utilitaristische Theorie mit der Erklärung des Herrschaftsverbands, der "Zwangsgemeinschaft". Hier handele der eine der beiden Akteure überhaupt nicht, er sei lediglich das Objekt fremden Handelns8 • Insbesondere läßt die liberale Konstruktion des Herrschaftsverbands offen, ob der Gründungsakt selbst Zwang ist oder nicht. Mises z. B. erkennt ausdrücklich an, daß der einzelne auch die Zwangsgemeinschaft wählt: keine Gewaltandrohung kann einen zwingen, der die angedrohte Strafe dem Gehorsam vorzieht. Andererseits hält er die Unterwerfung für keine echte Katallaxis, sondern höchstens für einen "inneren" Tausch9 , und will damit sagen, daß der eine Akteur, der Gezwungene, zwar etwas leistet, dafür jedoch keine echte oder aber nur eine "unbestimmte" Gegenleistung erhält. Diese Erklärung ist nun ungenau, und die im Folgenden vorgeschlagene Klärung der Ungenauigkeit ist der kardinale Punkt unserer weiteren Ausführungen. Zur Vorbereitung unserer These ist die Klarstellung nötig, daß auch derjenige, der der Gewaltandrohung (Erpressung) nachgibt, eine bestimmte Gegenleistung erhält, nämlich daß der Gegenspieler auf die Ausübung des Zwanges verzichtet. Solange man Handlung und Unterlassung als gleichwertige Spielarten des Handeins auffaßt, ist der Verzicht auf die Zwangsanwendung eine besondere Art Leistung, das eine Element eines Tauschaktes. Mag sein, daß er nach der Abänderung der aktuellen Situation als echter Zwang definiert werden kann. Es gilt daher, die Bedingungen der Situation, in der Tausch und Zwang unterscheidbar sind, zu finden. Wir können das Ergebnis vorwegnehmen und feststellen, daß diese Bedingungen jedenfalls im sog. Naturzustand nicht vorhanden sind. Wir halten hier unsere These (Ununterscheidbarkeit) zunächst in vorläufiger Form fest: Im Naturzustand sind Tausch und Zwang voneinander nicht unterscheidbar.

Es ist interessant, daß Schmitt die These der" U nunterscheidbarkeit" in einem Exkurs kurz streift, ohne es als Prinzip auszusprechen und aus ihm weitere s Weber 12. 6 7 8 9

Mises (II) 139. Lehner (IV), Widmaier (insb. Kap. 4.1). Mises (li) 182 ff. Mises (II) 182.

5 Holczhauser

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Erster Teil

Schlußfolgerungen zu ziehen. Das Problem stellt sich für ihn in einer anderen Terminologie, u.z. als der Unterschied zwischen "ökonomischen" und "politischen" Mitteln, genauer zwischen Tausch und "außerökonomischer" Gewalt: "Raub, Eroberung und Verbrechen aller Art". Der Begriff des Tausches schließe es keineswegs "begrifflich aus, daß einer der Kontrahenten einen Nachteil erleidet und daß das System von gegenseitigen Verträgen sich schließlich in ein System der schlimmsten Ausbeutung und Unterdrückung verwandelt". Letztendlich verbleibt er jedoch bei der (ebenfalls moralisierenden) Feststellung, es sei nicht zulässig, die beiden Sphären mit moralisierenden Sentenzen voneinander zu unterscheiden. Denn eine analoge Disqualifikation des "Ökonomischen" wäre genauso denkbar: Politik als "ehrlicher Kampf' und Wirtschaft als eine "Welt des Betruges" 10 • Die Behauptung, daß Tausch und Zwang ununterscheidbar sind, widerspricht aufs erste einer scheinbar unbedingten, d. h. "natürlichen" Fähigkeit des Menschen, zwischen Erpressung und "fairem" Tausch zu unterscheiden. Wer wäre wohl nicht imstande, die Transaktion "Geld gegen Brot" vom angeblichen Tauschakt 11 "Geld gegen Leben" zu unterscheiden? Und wer besäße nicht so viel Gerechtigkeitsgefühl, den ersteren zu bejahen und den zweiten zu verwerfen? In der Handlungstheorie geht es jedoch darum, die unausgesprochenen Annahmen solcher Gerechtigkeitsvorstellungen aufzudecken. Diese Annahmen gehen letztendlich auf die Unterstellung einer objektiven Wertordnung, einer natürlichen Rechtsordnung usw. hinaus und postulieren damit eine der reinen Tauschsituation externe Bedingung. Am häufigsten beruft man sich stillschweigend auf das Eigentum: mein Leben, mein sonstiges Hab und Gut gehört mir, die Zwangssituation stellt die Verletzung oder gar den Verlust meines Eigentums in Aussicht. Im allgemeinen unterstellt man, daß die Handlung, die mich zu einer Zwangsalternative stellt, unerlaubt, ungerecht, unmoralisch usw. ist. Doch der entscheidende Punkt in diesen hypothetischen Situationen ist gerade, zu definieren, was erlaubt, gerecht, rechtens usw. ist u.z. nicht lediglich in einem abstrakten Sinne, vom Standpunkt eines "externen" oder unparteiischen Beobachters, sondern nach einem für alle Beteiligten geltenden Kriterium 12 • Das gilt insbesondere dann, wenn die Beteiligten entgegengesetzte Vorstellungen haben darüber, was gerecht, rechtens usw. ist, d. h. im KonfliktfalL Das zu lösende Problem ist also, die subjektiven Meinungen in eine objektive Ordnung zu transformieren. BdP 75f. Das Beispiel hat Tradition in der juristischen und soziologischen Literatur. Für Kelsen gibt es keine Schwierigkeit, denn der "Tauschakt" findet innerhalb der Rechtsordnung statt. Blau ll6f. glaubt, im Gegensatz zu uns, im außerrechtlichen Raum zwischen Zwang (coercive power) und Belohnung (Tausch) unterscheiden zu können - oder aber er übersieht das Problem. 12 In diesem Sinne sagt Forsthoff, daß ohne Ordnung "die Unterscheidung von Recht und Unrecht nicht möglich ist" (Christ und Welt, 17. Juli 1958). 10

11

3. Die Ununterscheidbarkeit

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Die Ununterscheidbarkeit stellt sich für Theorien, die den Konflikt auf die sog. "relative Deprivation" zurückführen, in einer nicht unmittelbar einsichtigen Form. Ihr Ausgangspunkt ist, daß sich ein Akteur berechtigt fühlt, ein Gut zu besitzen, das ihm nicht (oder noch nicht) gewährt wird. Die Grundlage seines Anspruches ist eine Eigenschaft oder eine Statusdimension, die der Akteur mit dem Bessergestellten gemeinsam hat (partielle Homogenität). Es gilt als eine Stärke der ursprünglichen Theorie der relativen Deprivation, daß für sie sowohl die Deprivation als auch die ihr unterliegende Homogenität eine "reale" ist. Dagegen betont z. B. Dahrendorf, daß die Intensität des Konflikts, d. h. der "Grad der Betroffenheit" durch "Gerechtigkeitsvorstellungen subjektiver Art bei der Bewertung von Ungleichheit" zustandekomme. Eine Korrektur der objektivistischen Sicht mißt die relative Deprivation "nicht mehr absolut, sondern an dem, was das Individuum als gerechterweise ihm zustehend glaubt" 13 • In einem rechtlich nicht geregelten Raum sind die Gerechtigkeitsvorstellungen beider Kontrahenten nur subjektiv, und die Unterscheidung, ob die Deprivation "real" oder nur "vermeintlich" ist, wäre nicht begründbar. Wie sehr die U nterscheidbarkeit von Tausch und Zwang von den unterstellten Rechts- oder Gerechtigkeitspostulaten abhängt, soll das folgende Beispiel nahelegen. Das bloße Vorhandensein von Konsumgütern erweitert ständig den Objektbereich individueller Präferenzordnungen und erinnert den einzelnen an einen Mangel seines Zustandes. Dies kann einem als eine Zwangssituation erscheinen. Wer die geltende Eigentumsordnung nicht anerkennt und der Meinung ist, daß ihm die angebotenen Güterkraft eines "natürlichen" Rechtes zustehen, kann von "Konsumterror" sprechen. Damit wird gemeint, daß derjenige, der ihren kostenlosen Konsum verhindert und sie nur gegen eine Leistung (Arbeit, Geld usw.) "herausgibt", genauso erpresserisch handelt wie der Straßenräuber, der mich hindert, mein "eigenes" Leben ohne Gegenleistung zu genießen. In der modernen Industriegesellschaft stellt sich das Problem, daß sich hinter der bloßen Unterlassung Zwang verbirgt, mit besonderer Akuität. Unterlassung bzw. ihre Androhung ist der wichtigste Faktor der Konfliktfähigkeit 14, d. h. der Durchsetzung von Gruppeninteressen, insbesondere im Arbeitskampf1 5 • Man hat zwar keinen Rechtsanspruch auf eine Leistung, auf die man infolge der Arbeitsteilung angewiesen ist. Es ist trotzdem nicht zu übersehen, daß man die Risiken der Arbeitsteilung in dem Vertrauen hinnimt, daß die erwarteten Leistungen störungsfrei erfolgen werden. Die Frage, ob die Androhung der Unterlassung Zwang ist oder aber die Unterlassung des Angedrohten der Gewährung eines Gutes gleichkommt, läßt sich nur aufgrund der positiven Vgl. die Übersicht bei Widmaier 42ff., 59. Claus Offe: Das pluralistische System von organisierten Interessen, in H. J. Varein (Hrsg): Interessenverbände in Deutschland, Köln 1973, S. 369. 1s Vgl. Widmaier 163. 13

14

s•

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Erster Teil

Rechtslage beantworten. Die Entwicklung der "pluralistischen" Demokratien, die Legitimierung des Arbeitskampfes haben dazu geführt, daß man keine allzu großen Schwierigkeiten hat, die zweite Alternative mit Ja zu beantworten. 3-2. Neben der möglichen Ununterscheidbarkeit von Tausch und Zwang müssen wir nun auf eine andere Ununterscheidbarkeit der abstrakten Handlungstheorie hinweisen. Außerhalb einer animistischen Kultur würde man Aufwendungen, die vorhandene Güter gegen die Natur (schlechte Witterung, Zufallsereignisse usw.) sichern sollen, vielleicht als "unproduktiv", keineswegs jedoch als ein Handeln unter Zwang auffassen. Das Handeln gegen "Objekte" 16 oder "Natur" ist nicht ,;soziales", sondern "technisches" Handeln 17 • Warum könnte man nun diese Auffassung nicht auf "Verteidigungsausgaben" erstrecken? Dann wären die Leistungen, die man in die Verteidigung investiert oder aber mit denen man den Frieden ohne Kampf erkauft, nicht von den Schutzmaßnahmen gegen die Natur zu unterscheiden. Es würde nicht nur der Unterschied zwischen Tausch und Zwang, sondern auch der zwischen sozialem und technischem Handeln verschwinden. Man kann natürlich sehr wohl unterscheiden, ob der Angreifer ein Mensch oder aber ein Tier ist. Der phänotypische Unterschied zwischen den beiden begründet jedoch nicht, den ersteren anders als .,Natur" aufzufassen. Oder anders gesehen: die biologische Gleichartigkeit reicht nicht aus, im Angreifer etwas mehr als eine Naturgewalt zu erblicken 18 • Soziales Handeln liegterst vor, wenn derGegnerals Person anerkannt wirdnicht im allgemein-philosophischen, moralischen oder naturrechtliehen Sinne. Sondern man. muß ihm die Fähigkeit, sanktionierbare Rechte und Pflichten gegenüber anderen Akteuren zu besitzen, zuschreiben. Dies bedeutet insbesondere, daß die Kontrahenten derselben positiven Rechtsordnung angehören 19 sollen. Person zu sein ist keine Qualität, die etwa bereits in einem vorvertragliehen Naturzustand vorhanden ist, sondern es ist das Ergebnis eines Personifikationsaktes: ,,Alle Personen[...] sind Geschöpfe der Rechtsordnung" 20 • Man kann die Züge eines Kannibalenstammes gegen ihre Beute schwer als "soziales Handeln" betrachten- "Jagd" wäre eine geeignetere Bezeichnung. Man kann auch andere Bei.spi.ele nennen: die Kriege der Griechen gegen die Barbaren 21 , Raub- und Ausrottungskriege der Mongolen in Europa usw. Allen Weber 11. Vgl. Hayek: Sozialistische Wirtschaftsrechnung, in: ders.: Individualismus und wirtschaftliche Ordnung, 1952, S. 159. 18 Hierin liegt eine Schwäche der Konfliktdefinition von Freund (II) 65. 19 Damit wird das "Soziale" in die innerstaatliche Gesellschaft verlegt. Wir müssen diese Einschränkung des Begriffs in Kauf nehmen. 20 RadbruCh (li) 227. 21 Die Wissenschaft, Sklaven zu erwerben, ist "eine Art von Kriegskunst oder Jagdkunst" - Aristoteles, Politik 1255-639. 16 17

3. Die Ununterscheidbarkeit

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gemeinsam ist die Tatsache, daß die Parteien nicht einmal einer "natürlichen", geschweige denn einer positiven Rechtsordnung unterstehen und ihre PersonQualität nicht gegenseitig anerkannt wird. Diese Beispiele zeigen zugleich, wie voreilig es ist, den Konflikt pauschal unter den Begriff "soziales Handeln" einzuordnen 22 • Wer das Verhalten des zu erlegenden Tieres, die taktischen Bewegungen des auszurottenden Feindes beobachtet und sich ihnen anpaßt, handelt nicht sozial, sondern versucht lediglich, der technischen Beschaffenheit des "Objekts" gerecht zu werden. 3-3. Die These von der Ununterscheidbarkeit von Tausch und Zwang hat zwei lmplikationen, die kurz angesprochen werden müssen. Die erste bezieht sich auf die Externalitäten, d. h. einseitige Leistungen 23 (externe Kosten oder Gewinne). "Notwendige" Produktionskosten, die die Produktmenge zwar nicht vermehren, zu ihrer Erhaltung jedoch unerläßlich sind, betrachtet man nicht als Externalitäten. Dagegen werden die Kosten, die sich aus vermeidbarem Verhalten von Gegenspielern ergeben (Erpressung, Trittbrett-Fahrer usw.) als Externalitäten eingestuft. Auch hier reichen die Begriffe der natürlichen Kausalität nicht aus, um einen Unterschied in absolutem Sinne zu begründen. Denn für den konkreten Akteur sind einerseits auch die Eigenheiten seines sozialen Umfeldes bis zu einem gewissen Grade unvermeidbar. Und andererseits führt die technische Entwicklung häufig dazu, daß Kosten, die früher unumgänglich waren, später entfallen. Wichtiger als die Leistungen ganz ohne Gegenleistung sind die "relativen" Externalitäten: Fälle, in denen Leistung und Gegenleistung einander nicht "angemessen" sind und die Externalität im Überschuß des einen oder des anderen besteht. Ob etwa die Zahlung von "Monopolpreisen" als natürliche Produktionskosten oder aber als Externalität einzustufen sind usw., ist eine Frage, die nur innerhalb einer positiven Rechtsordnung eindeutig beantwortet werden kann. Die zweite Implikation der Ununterscheidbarkeit ist institutioneller Natur, und damit kommen wir zum Hobhesseben Ordnungsproblem zurück. Es stellt sich nämlich auch die weitere Frage, inwiefern die beiden Institutionstypen (Tauschgesellschaft in weitestem Sinne und Zwangsverband) vom Standpunkt des Naturzustandes heraus voneinander zu unterscheiden sind? Die vorangehenden Ausführungen legen die Antwort nahe, daß die Schwäche der Vertragstheorien nicht so sehr darin besteht, daß der Vertrag beliebig aufkündbar ist, wenn ihre Einhaltung durch keine Instanz erzwungen wird. Sondern die Schwierigkeit ist, daß der sog. "gegenseitige" Vertrag, dem die beiden Seiten gleichermaßen "frei" zustimmen, vom gewaltsam erzwungenen Diktatfrieden gar nicht unterscheidbar ist. Die alten Doktrinen vom Gesellschaftsvertrag waren sich dieser Schwierigkeit natürlich bewußt und halfen sich dabei auf eine 22 23

Vgl. etwa Freund (II) 77. Vgl. Lehner (III) 12.

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Erster Teil

Art und Weise, die ohne die stillschweigende Annahme der Ununterscheidbarkeit als höchst willkürlich erscheint: sie faßten den vertragsbegründenden Konsens "als eine trotz aller etwa voranliegenden inneren oder äußeren Nöthigung juristisch freie und deshalb bindende Willenserklärung" auf24. Um Mißverständnissen vorzubeugen, will ich hier nochmals besonders hervorheben: die Ununterscheidbarkeit gilt nur auf dem Standpunkt des Naturzustandes, d. h. in der gedachten oder wirklichen Gründungssituation eines jeden Gemeinwesens, oder innerhalb des Staates in einer rechtlich (noch) nicht geregelten Situation- im sog. "relativen Naturzustand", in Freiräumen oder Lücken der Rechtsordnung. Insbesondere ist es per definitionem unentscheidbar, ob der Akt, der den rechtlosen Raum in eine Rechtsordnung überführt, in objektivem Sinne Tausch oder Zwang ist. Die Leistung des Gründungsaktes ist, die er eine objektive Grundlage der Unterscheidbarkeit von Tausch und Zwang schafft. 3-4. Um den institutionellen Aspekt der These von der U nunterscheidbarkeit zu verdeutlichen, wollen wir eine besonders konkret ausgearbeitete Variante ökonomischer Vertragstheorien von näher betrachten. Sie bedient sich einer Herleitung der klassischen liberalen Nationalökonomie, des Ricardoschen Vergesellschaftungsgesetzes. Dieses besagt, daß zwei Subjekte größere Erträge erzielen, wenn sich jeder auf diejenige Tätigkeit spezialisiert, in der er dem anderen überlegen ist. (Die Arbeitsteilung führt selbst dann zu einem größeren Nutzen, wenn der eine Akteur dem anderen in jeder Hinsicht, jedoch in unterschiedlichem Maße, überlegen ist.) Die These sollte ursprünglich ein Problem der internationalen Arbeitsteilung erklären und ist als das "Gesetz der komparativen Kosten" in die Literatur eingegangen. Mises versteht es als den Spezialfall eines (auch für Ricardo bewußten) "allgemeinen Gesetzes, das die Wirkungen der interpersonellen Arbeitsteilung", insbesondere den Zusammenschluß der Individuen zu Gesellschaften, erklärt 25 •

Um den Übergang von einem feindlichen Naturzustand in die kooperative Gesellschaft zu erklären, brauche man weder metaphysische, philosophische Postulate oder naturrechliehe Annahmen über die Natur des Menschen noch Konstruktionen des förmlichen, gesellschaftsstiftenden Vertrags. Sondern er lasse sich hinreichend erklären aus zwei Annahmen: i) aus der "Mannigfaltigkeit der Natur", d.h. der natürlichen Ungleichheit der Menschen und ihrer Umgebung, und ii) aus dem Prinzip, daß das Individuum nach Gewinnmaximierung im weitesten Sinne strebt. Mises sagt, daß diese beiden Annahmen tatsächlich zur Vergesellschaftung führen: "Die höhere Produktivität der arbeitsteilig verrichteten Arbeit ist es, die 24 25

Gierke (V) 110. Mises (Il) 127.

3. Die Ununterscheidbarkeit

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die Menschen dazu bringt, einander nicht mehr als Konkurrenten im Kampfe ums Dasein anzusehen, sondern als Genossen zur gemeinschaftlichen Förderung ihrer Wohlfahrt. Sie macht aus Feinden Freunde, aus Krieg Frieden, aus den Individuen die Gesellschaft" 26 • Diese Beschreibung enthält drei Präferenzaussagen: 1. die Kooperation werde der Autarkie, 2. der Konsens (d.h. der Tausch) dem Zwang und 3. die Tauschgesellschaft (Markt) dem Herrschaftsverband, vorgezogen. Sie sind ausnahmslos unzutreffend. Genauer gesagt: sie sind im Rahmen der zugrundegelegten Axiomatik nicht herleitbar. Denn aus dem Prinzip der Gewinnmaximierung läßt sich nicht herleiten, was in der konkreten Situation dem einzelnen einen größeren Nutzen bringt. Das "Gesetz" der Vergesellschaftung widerspricht dem Prinzip der subjektiven Werttheorie, weil es der Aufstellung objektiver Präferenzordnungen gleichkommt. Die Forderung, daß etwa die Kooperation der Autarkie immer vorzuziehen sei, ist der Behauptung der objektiven Wertlehre, "Gold" sei höherwertig als "Eisen", analog 27 • Das Vergesellschaftungsprinzip ist, zumindest in dieser Anwendung, der letzte Rest der objektiven Werttheorie in der subjektivistisch fundierten Handlungstheorie von Mises. Man betrachte die Situation, in der zwei Akteure, x und y ihre Gesamtmitteln (Zeit und Arbeit usw.) auf die Herstellungzweier Güter (A und B) in einem flir sie optimalen Verhältnis verwenden. Nehmen wir an, daß A alle Güter und Dienstleistungen umfaßt, die sie zum Lebensunterhalt brauchen (Nutzgüter), während Balle kriegerischen oder Zwangsmaßnahmen enthält, die zur Abwehr eines potentiellen Angreifers (z) erforderlich sind (Machtgüter und Verteidigungsleistungen). Die Akteure werden versuchen, ihre Mittel optimal zu verteilen, d. h. genauso so viel zu produzieren als sie verteidigen können. (Verteidigungsausgaben für Güter, die gar nicht erst produziert werden, oder Produktion von Gütern, die nicht verteidigt werden können, sind Verschwendung.) Zwei unterschiedlich produktive Akteure können ihre individuellen Erträge durch arbeitsteilige Kooperation erhöhen. Nehmen wir an, daß sich die beiden Akteure spezialisiert haben - x auf A, y auf B - und daß sie miteinander dauerhaft verbunden sind und Nutzgüter gegen Machtgüter tauschen. Die beiden utilitaristischen Axiome beschreiben diese Situation unvollständig. Aus ihnen folgt nämlich nicht zwingend, daß x die Kooperation mit y wählt. Wenn der Angreifer (z) bereit ist, auf den Angriff gegen denselben Preis zu verzichten, den x in der Form von Verteidigungskosten an y zahlt, so fUhren beide "Geschäfte" zu demselben Gewinnzuwachs, und es läßt sich allenfalls mit der stillschweigenden Hinzunahme externer Faktoren (weiterer Axiome) erklären, warum x die Vergesellschaftung dem Zwangsfrieden vorzieht 28 • 26

27

Mises (I) 264. Mises (II) 35.

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Erster Teil

Dieser Schwierigkeit wird man nicht dadurch entgehen, daß man den feindlichen Dritten aus der Welt schafft. Denn nehmen wir an, daß x die Kooperation mit y gewählt hat, und nach einer Zeit gemeinsamer Anstrengung die externe Bedrohung nicht mehr besteht. x meint, er könnte seine ganzen Mitteln auf A verwenden. Die Verteidigungskosten erscheinen plötzlich als Externalitäten, der bisherige Bündnispartner als Ausbeuter. Er kündigt die Verteidigungsgemeinschaft und kann die Nutzenmaximierung von der Autarkie oder aber einer anders gearteten Arbeitsteilung erhoffen. Das Problem ist nur, daß die Kosten-Nutzen-Rechnung von y keine eindeutige Lösung zuläßt. 1. Fall: y war x entweder in der Produktion von Konsumgütern unterlegen oder aber in der Verteidigung überlegen. Daher ist für ihn die Spezialisierung auf B weiterhin vorteilhafter als die Autarkie. Daher kann er versuchen, seine Mittel, die er bisher auf die gemeinsame Verteidigung verwendet hat, in den Angriff gegen x zu investieren und die Fortsetzung der Kooperation zu erzwingen. 2. Fall: y ist x in beiden Hinsichten, aber in verschiedenen Maßen, unterlegen -sagen wir: etwas weniger unterlegen in der Verteidigung. Daraus ergibt sich auch seine Spezialisation, die Quelle seiner aktuellen Überlegenheit im Vergleich zu x. x muß also diese Art Arbeitsteilung verhindern, er muß selber in die Verteidigung investieren. In keinem der beiden Fälle ist der Friede kostenlos. Entfällt der externe Konfliktpartner, so wird sich allenfalls des Verhältnis ändern, in dem sich die Gesamtmitteln der beiden Akteure auf Nutz- und Machtgüter verteilt werden. Die aus dem (aktuellen oder potentiellen) internen Konflikt resultierenden "Extemalitäten" lassen sich jedoch nicht vermeiden. Die Vergesellschaftungsthese ist daher nur mit einer gewissen Präzisierung gültig. Es ist richtig, daß in einer Situation mit zwei Spielern das Streben nach Gewinnmaximierung mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Kooperation führen wird. Es läßt sich jedoch nicht sagen, daß die Kooperation von den beiden gleichermaßen und in demselben Sinne gewollt wird. Das gilt insbesondere für die spezielJen Güter (Leistungen) Angriffund Verteidigung. Das rein ökonomische Modell kann die beiden Arten der Vergesellschaftung nicht voneinander unterscheiden, weil das unterscheidende Kriterium: das Recht, die Unterscheidung ~ischen erlaubten und unerlaubten Mitteln (oder Bedingungen) des Tausches erst im Staat vorhanden sind. Der Begriff "natural distribution" (Buchanan) wird gerade dieser Situation gerecht. Man kann eine ungleiche Verteilung von Gütern und Machtpositionen, eine regelmäßige wirtschaftliche "Ausbeutung" usw. hinnehmen, weil man solche Situationen einem möglichen, drohenden, noch schlechteren Zustand 28

Vgl. den ähnlichen Gedankengang in Buchanan /Tullock 50.

3. Die Ununterscheidbarkeit

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vorzieht. Man "erkauft" seine Freiheit, seine Handlungsfahigkeit, seine Ruhe z. B. durch die regelmäßige Zahlung einer Summe, die vom Erpresser gefordert wird. Man kann es sogar als ein rentables Geschäft auffassen, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist. Nicht nur der (fiktive oder reale) vorstaatliche Zustand, sondern auch die Lücken in der öffentlichen Sicherheit hochzivilisierter Länder schaffen Räume, in denen Tausch und Zwang nur subjektiv, nicht jedoch objektiv unterscheidbar sind. Buchanan korrigiert die klassisch liberale Marktanalogie dahingehend, daß der "freiwillige Tausch" eine minimale Ordnung erfordere, die individuelle Rechts- und Eigentumstitel klar definiert und sie durchsetzt (minimaler oder protektiver Staat)29 • Dem können wir, aufgrundder bisherigen Erörterung, mit einem Vorbehalt zustimmen. Buchanan sagt, der minimale Staat werde mit Zwangsgewalt konstituiert. Das klingt sehr realistisch im Vergleich zu den konsenstheoretischen Beschwörungen. Buchanan unterschätzt jedoch gerade die hier hervorgehobene Schwierigkeit. Das grundlegende Defizit eines (absoluten oder relativen) Naturzustandes besteht nicht darin, daß man in ihm statt Tausch und friedlichem Konsens den Zwang praktiziere, sondern darin, daß er den Unterschied zwischen den beiden gar nicht erst begründen kann. Die Ununterscheidbarkeit ist übrigens ansatzweise auch bei Mises erkennbar. Nach der scharfen Gegenüberstellung von Tausch und Zwang, Gesellschaft und Zwangsverband kommt er zur Feststellung, daß es "ein erster Schritt auf dem Wege, der zu gesellschaftlicher Zusammenarbeit führt", war, als man die Kriegsgefangenen nicht getötet sondern versklavt hatte 30 • Betrachtet man die Sklaverei als eine Form der Vergesellschaftung, dann wird die Aussagekraft der Unterscheidung zwischen Markt und Herrschaftsverband denkbar gering. Die Korrektur der Vergesellschaftungsthese kann nun gerade darin bestehen, daß man die Grundsätze der subjektiven Werttheorie bis zur letzten Konsequenz anwendet. Dann kann nicht mehr die Rede sein von einer objektiven, kollektiven Präferenzordnung, an deren Spitze der Wille zur Kooperation (statt Zwangsanwendung) steht. Es spricht jedoch nichts gegen die Annahme, daß es einige Akteure gibt, die in der konkreten Situation ein vorrangiges Interesse an der Kooperation haben. Wir wollen Konflikte, deren Lösung in der Errichtung einer Organisation besteht, Integrationskonflikte nennen. Die bestimmte Art und Weise der "Integration" ist dann das Konfliktsobjekt ein Gut für einige Akteure, die es beschaffen, ein Übel für die anderen, die es verhindern wollen. Erweitert man die Konfliktsituation um einen dritten Akteur, so erhält die Integration eine weitere Dimension. Ist der Dritte den beiden anderen Subjekten überlegen, so tritt der Befriedungseffekt deutlicher hervor. Der Friedenszustand, in dem die beiden anderen sich befinden, ist dann nicht nur eine 29 30

Buchanan, insb. Kapitel 4. Mises (II) 140.

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Erster Teil

gegenseitige Übereinkunft, sondern er wird durch eine "objektive", jedenfalls für sie externe, Instanz garantiert. Auch hier muß man, im Sinne der subjektiven Werttheorie, voraussetzen, daß der Dritte in der konkreten Situation ein größeres Interesse hat an der Befriedung des Konflikts zwischen den beiden anderen als an ihrer gegenseitigen Schwächung durch Kampf. Integration und Befriedung sind nach dieser Auffassung keine "Werte", keine Elemente einer objektiven Wertordnung. Sondern sie sind subjektive Interessen, die dem Interesse an Desintegration und Kampf vorgezogen werden können.

4. Die Konsenskosten 4-l. Das handlungstheoretisch begründete Ordnungsproblem muß die folgenden Aspekte berücksichtigen: i) der ursprüngliche Dissens (ggf. Konflikt) muß in Konsens verwandelt werden, und ii) als alternative Mittel dazu bieten sich Tausch und Zwangan-unter der herkömmlichen Annahme, daß sie überhaupt unterscheidbar sind. Die Parsoussehe Formulierung des Ordnungsproblem (Integration durch Zwang oder Konsens) scheint also von vornherein schief gestellt zu werden. Denn sie setzt Mittel (Zwang) mit dem Produkt (Konsens) auf die gleiche Ebene und erwähnt das wirklich alternative Mittel zum Zwang, den Tausch überhaupt nicht. Die Problemstellung der utilitaristischen Theorie ist nicht nur deswegen präziser, weil sie die richtige Alternative nennt, sondern weil ihr Axiom von der Mannigfaltigkeit der Natur (Mises) impliziert, daß die individuellen Präferenzordnungen voneinander abweichen und die Anfangssituation mit sehr großer Wahrscheinlichkeit eine konfliktuale ist. Der wichtigste Mangel der Auffassung, die den Konsens allenfalls als Mittel, nicht jedoch ausdrücklich als Produkt, als outputvon Handlung ansieht, besteht darin, daß sie die Kosten seiner Herbeiführung beinahe zwangsweise vernachlässigen muß 1 • Es ist zwar ein methodologisch berechtigtes Verfahren, von den Konsenskosten unter gewissen Bedingungen zu abstrahieren. Es kannjedoch zu theoretischen Mißgriffen führen, wenn man sie einfach ignoriert und den Konsens als eine Gegebenheit, ein undifferenziertes Faktum einführt. Der Grundmechanismus der Konsensherstellung kann durch das folgende einfache Schema wiedergegeben werden. Der Akteur x placiert das Gut G (genauer: das Ziel, das er erreichen will) an die erste Stelle seiner Präferenzordnung, y setzt es etwa auf Platz zwei. Das bedeutet, daß x in der aktuellen Situation G verfolgt, für y gibt es hingegen etwas wichtigeres, nämlich das Gut, das auf der ersten Stelle seiner Präferenzordnung steht. Der Konsens, d . h. der 1 Zur Problematik der Konsenskosten s. Lehner (I) 52 ff. , 85ff. mit weiterführender Literatur.

4. Die Konsenskosten

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Gemeinwille kommt zustande, wenn y veranlaßt werden kann, seine Präferenzordnung zu ändern und G an die erste Stelle zu rücken. Tut er dies, so handelt es sich um eine Leistung, die x etwas kosten kann: er kann Güter anbieten oder aber ein Übel androhen. Damit ändert er die früheren Bedingungen, unter denen y das Gut G erst an der zweiten Stelle seiner Präferenzordnung rangieren ließ. Setzt man den Konsens als gegeben voraus, so abstrahiert man nicht nur von den Kosten seiner Herbeiführung, sondern auch von den Bedingungen, unter denen eine Präferenzordnung aufgestellt wird. Die Folge ist, daß der abstrakte Konsensbegriff grundverschiedene Situationen, in denen die Kosten horrende Unterschiede zeigen, über einen Kamm schert. Er wirft z. B. die einhellige Übereinstimmung in einer Religionsgemeinschaft, die sachliche Einigung von Käufer von Verkäufer, die vielleicht zähneknirschende Zustimmung der Tarifparteien im Arbeitskampf, einen Friedensvertrag wie den Versailler (der schließlich doch von beiden Seiten unterschrieben und als Ausdruck des "eigenen Willens" anerkannt wurde) usw. durcheinander. Denn so sehr es zutrifft, daß es keine objektiven, d. h. für beide Seiten gültige Kriterien oder Instanzen gibt, die den Tausch- oder Zwangscharakter der Konsensakte entscheiden können, so wenig kann man außer Acht lassen, daß die subjektiven Unterschiede beträchtlich sind. Im ersten Fall handelt es sich um einen unbedingten und daher "kostenlosen" Konsens. Die Mitglieder einer Sekte würden ihr Glauben auch unter verschlechterten Bedingungen aufrechterhalten, oder sie wären sogar bereit, Opfer zu bringen, um andere Mitglieder zu gewinnen. Auch in den anderen Fällen besteht der Konsens, selbst wenn einige Teilnehmer andere Bedingungen herbeiwünschen, unter denen sie ihn eventuell nicht mehr eingehen würden. Kurz: der undifferenzierte Konsensbegriffunterscheidet nicht zwischen den aktuellen und den idealen Präferenzordnungen der Akteure 2 • Betrachtet man eine größere Menge von Akteuren in einer konkreten Situation, so wird vorkommen, daß bei einigen Teilnehmern die konkrete und die ideale Präferenzordnung (genauer: ihre Spitzen) übereinstimmen. Wir nennen diese Gruppe Kern (Konsenskern, Zentrum). Erst hinsichtlich des Kerns dürfen wir uneingeschränkt und ohne weitere Präzisierung von einem vorgegebenen (kostenlosen) Konsens sprechen. Diese Gruppe wünscht keine andere Situation herbei, um eine andere Präferenzordnung aktualisieren zu können. Bei anderen Teilnehmern rutscht das (konsens-) relevante Gut auf immer niedrigere Positionen. Es wäre immer kostspieliger, die aktuelle Situation so zu verändern, daß das relevante Gut auch bei ihnen nach oben, auf die erste Stelle 2 Genau genommen müßte man der aktuellen Präferenzordnung eine Reihe virtueller Präferenzordnungen gegenüberstellen, die angesichts möglicher Situationen definiert werden. Die ideale Präferenzordnung wäre dann diejenige virtuelle Präferenzordnung, die unter den günstigsten Bedingungen aufgestellt würde. Doch diese Differenzierung ist hier nicht erforderlich.

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bewegt wird. Wir nennen die Teilnehmergruppe, die in der aktuellen Situation zwar ebenfalls das konsensrelevante Gut wählt, ihre ideale Präferenzordnung von der aktuellen jedoch mehr oder weniger abweicht, Peripherie3 . Die idealen Präferenzordnungen von Peripherie-Mitgliedern enthalten an ihrer ersten Stelle teils verschiedene, teils übereinstimmende Güter. Uns interessieren diejenigen Akteure aus der Peripherie, deren idealen Präferenzordnungen übereinstimmen (mit dieser Wendung werde ich in den folgenden abkürzen, daß ihre ersten Stellen übereinstimmen, d. h. daß sie im Idealfall dasselbe "höchste Gut" wählen würden). Man ist versucht, diese Personen zusammenfassen, aufgrund der plausiblen Vermutung, daß zwischen ihnen im Idealfall ein kostenloser Konsens zustande käme. Es soll damit nicht behauptet werden, daß sie auch in der konkreten Situation eine handlungsfähige Organisation bilden, die dem Kern als einheitlicher Gegenspieler entgegentritt. Die Differenzierung der Akteure bzw. ihre mögliche Gruppierung offenbart, daß der unter den aktuellen Bedingungen zustandegekommene Konsens eine sehr vereinfachende Beschreibung der ganzen Handlungskonstellation ist. Berücksichtigt man nur die aktuellen Präferenzordnungen, so kann man den nahtlosen Konsens aller feststellen. Berücksichtigt man dagegen die idealen Präferenzordnungen, so zerfällt das scheinbar homogene Handlungsfeld in mehrere Bereiche, in "latente" Gruppen, deren Existenz die möglichen, künftigen Verschiebungen und Gefährdungen des aktuellen Konsenses vorzeichnet. Im Völkerrecht besteht ein besonderes Interesse an der Differenzierung von Konsensbereichen. Das "gemeinsame" oder "Kollektivinteresse", die "Interessenübereinstimmung" (das sind alles Variationen des Konsensbegriffs) können "unter dem schweren Druck einer politischen Zwangslage zustandekommen und von einem Teil nur zur Abwendung größerer Nachteile zugestanden werden" 4 • (Hier kommt beiläufig auch die Ununterscheidbarkeit von Tausch und Zwang als eine Selbstverständlichkeit zum Ausdruck: coactus voluit, attamen voluit.) Wichtiger ist jedoch Kaufmanns Hinweis auf die unterschiedlichen idealen Präferenzordnungen ("Preußen hatte beim Beitritt zum Deutschen Reich ganz andere Motive als Reuß und Bayern, wollte ganz andere Bedürfnisse befriedigen als diese" 5 ) sowie auf die unterschiedlichen Opportunitätskosten, die aufgeopferten Interessen. Das Institut der clausula rebus sie stantibus, der Vorbehalt der Kündigung bei geänderten Verhältnissen wäre sinnlos bei der Unterstellung, daß die Zustimmung beider Partner bedingungslos erfolgte und der Ausdruck "eigener Wille" nicht konkretisierungsbedürftig ist. 3 Diese Differenzierung der Akteure folgt im wesentlichen Olson 21 ff. Die unterschiedliche "Größe" (sprich: Leistungsfahigkeit) der Akteure will ich an dieser SteHe noch nicht berücksichtigen. 4 Kaufmann (I) 160. 5 Kaufmann (I) 163.

4. Die Konsenskosten

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Schmitt betrachtet die Problematik des abstrakten (kostenlosen) Konsenses in der besonderen Form der "Homogenität". Es läßt sich unschwer nachweisen, daß die "seinsmäßige" oder "substantielle" Gleichartigkeit ein abgewandelter Konsensbegriff ist. Ihre Motive sind unterschiedlich: gemeinsamer Wille (Schmitt zitiert zustimmend Rousseau), gemeinsame Überzeugungen mit historisch wechselndem Inhalt (Vorstellungen gemeinsamer Rasse, Religion, Schicksal und Tradition, Nation, soziale Klasse 6 ); selbst die "Gleichartigkeit der Verfassungszustände der Gliedstaaten" im Norddeutschen Bund 7 gilt als ein Kriterium der Homogenität. Sie ist nicht etwa ein Motiv, das die Pluralität unterdrücken sollte, sondern einerseits die unerläßliche sachliche Grundlage für die demokratische Verfassungstheorie, um die verschiedenen Gleichheitsrechte zu begründen, andererseits die Voraussetzung des Prinzips der Mehrheitsentscheidungs. Schmitt klärt indessen nicht, worin die "Existentialität" der Homogenitätskriterien besteht: in ihrer Anerkennung oder Verinnerlichung in der konkreten historischen Situation, oder ob sie im Sinne idealer Präferenzordnungen gemeint werden. Daraus möchte ich keineswegs die Schlußfolgerung ziehen, daß Schmitt die Notwendigkeit einer Differenzierung nicht sieht. Das auffälligste, wenn auch theoretisch nicht wichtigste Zeichen dafür ist, daß er die Feststellung: Zur Demokratie gehöre notwendig Homogenität, gleich mit der Verfassungswirklichkeit konfrontiert und feststellt, daß sie in den als klassisch geltenden Fällen nicht erfüllt wird. Sie traf allenfalls auf einen Teil der Beteiligten zu, dem anderen Teil verweigerten selbst Demokratien die Anerkennung der Gleichartigkeit9 . Ob diese Differenzierung mit unserer Unterscheidung zwischen Zentrum und Peripherie zusammenfällt, soll hier dahingestellt bleiben. Ich möchte nur darauf hinweisen, daß sie in der Schrift Legalität und Legitimität tiefgehender erörtert wird. Es gebe zahlreiche Regeln, Verfahren und Institutionen, die als legal gelten und zum Instrumentarium, zu den elementaren Spielregeln der parlamentarischen Demokratie gehören. Darf man nun sagen, daß alle, die sich ihrer bedienen, d. h. keine unerlaubten Mitteln anwenden, diese Regel faktisch anerkennen und sich in einem Konsens zusammenfinden, der eine ausreichende Grundlage für den institutionellen Zusammenhalt des Gemeinwesens ist? Schmitt hat die Frage verneint und darauf hingewiesen, daß man dem Bestehenden auch aus taktischen Gründen zustimmen kann, um seine Beseitigung zu betreiben. Das ist, in unserer etwas trockenen und künstlichen Sprache ausgedrückt, gerade die Unterscheidung zwischen aktueller und idealer Präferenzordnung. Die Gleichheit erscheint hier als die gleiche Chance der Machtgewinnung, und Schmitt warnt vor der Blindheit, ihre Grundlage, die Homogeni6 7 8 9

VL 228fT. VL 57. Vgl. den Abschnitt 13-2 unten. GgLP 14fT.

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Erster Teil

tät unterschiedslos auf die ganze Parteienlandschaft auszudehnen. Damit fordert er praktisch die Differenzierung des faktischen Konsenses. 4-2. (Exkurs) Das Unmöglichkeits-Theorem von Arrow 10 transformiert das handlungstheoretische Problem der Konsensbildung in eine abstrakt mathematische Aufgabe. Den individuellen Präferenzordnungen muß, wie den Argumenten einer mehrsteHigen Funktion, eine kollektive Präferenzordnung als Funktionswert zugeordnet werden. Dadurch, daß die individuellen Präferenzordnungen im Wege einer Abstimmung ermittelt, daß "irrelevante" Alternativen ausgeschlossen werden, beschränkt man sich zwangsweise auf die idealen Präferenzordnungen. Das ist nämlich immer der Fall, wenn man nach der Meinung des einzelnen fragt, was er für das Beste hält, ohne die Bedingungen seiner Verwirklichung in der konkreten Situation berücksichtigen zu müssen. Die Problemstellung von Arrow beschränkt sich, mit einem Wort, auf die Frage, wie aus idealen individuellen Präferenzordnungen eine kollektive Präferenzordnung kostenlos, wie etwa im Wege von Meinungsfragen, entsteht. Ob die Bedingungen dieser Situation eine adäquate Definition "demokratischer" Verfahren hergeben, will ich hier nicht diskutieren. Fest steht dagegen, daß das Arrowsche Problem mit dem utilitaristischen Ansatz sehr wohllösbar ist. Es müssen nur einige Teilnehmer durch einen Tauschakt veranlaßt werden, ihre idealen Präferenzordnungen durch die erforderlichen aktuellen Präferenzordnungen zu ersetzen. 4-3. (Exkurs) Die Theorie des "herrschaftsfreien Diskurses" bietet scheinbar ein drittes Mittel zur Herstellung von Konsens, eben den herrschaftsfreien Diskurs, der weder Androhung eines Übels noch das Anbieten einer Leistung ist. Damit entfallt auch die Kostenfrage restlos. Ein Tauschakt wäre der Diskurs allenfalls in dem "uneigentlichen" Sinne, daß die Teilnehmer auf beides (Tausch und Zwang) gegenseitig verzichten. Hätten die Akteure in der Ausgangssituation des Diskurses wirklich unterschiedliche Präferenzordnungen, so wäre es schwer einzusehen, wie die einen die anderen zu ihrer Änderung bewegen könnten, wenn der Diskurs die Bedingungen der Situation nicht ändert (ändern darf) und die aktuelle Situation (schon wegen der Abwesenheit von Zwang) für jedes Subjekt gerade die ideale ist. In der idealen Situation wäre ein Diskurs nur dann erforderlich, wenn es mindestens zwei Teilnehmer mit abweichenden Meinungen gäbe. Da sie jedoch durch die rigorose Gleichheit der Teilnehmer charakterisiert wird, ist es schwer vorstellbar, daß sie inhaltlich unterschiedliche Interessen hätten. Und wenn dies trotzdem zutreffen sollte, so müßten die Teilnehmer zumindest formal gleich sein: die Interessen beider wären entweder gleichermaßen verallgemeinerungsfahig oder aber gleichermaßen partikular. Der Diskurs führte also in beiden Fällen zu demselben Ergebnis wie der uns vertraute "empirische" Interessenkampf. 10

Vgl. seine Besprechung etwa in Lehner (I) 46fT.

4. Die Konsenskosten

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Beseitigt man konsequent alles Partikularen, so bleibt nur noch das Abstraktum des idealen Handlungssubjekts übrig. Selbst wenn man es personifiziert, hat man nur ein isoliertes Subjekt, dessen "Diskurs" ein Monolog, ein lediglich technisches (nicht soziales) Handeln ist. Der Schein wirklichen Handelns, eines Prozesses usw. entsteht nur durch die fiktive Vervielfältigung desselben idealen Subjekts, bzw. dadurch, daß man unter der Hand gewisse Partikularitäten doch zuläßt, d. h. durch die stillschweigende Zurücknahme der Grundvoraussetzung. Unter der Annahme, daß die Partikularität dem konkreten Handlungssubjekt wesentlich ist, kann der ideale oder "wahre" Konsens weder als regulative Idee noch als kritischer Maßstab des in wirklichem, interessenbedingten Handeln erzielten Kompromisses dienen. Sondern er ist vielmehr die Abstraktion des Ansichsein. Er verhält sich zum faktischen Kompromiß wie das Ding an sich zu dem der sinnlichen Erfahrung. Der ideale (kostenlose) Konsens ist dem empirischen Bewußtsein transzendent, er ist nur dem noumenalen Menschen zugänglich. 4-4. Die Konsensbildung ist nicht nur um ihrer selbst willen von Bedeutung, sondern vielmehr aus der Sicht, daß sie die Grundlage oder das Instrument zur Herstellung einer handlungsfähigen organisatorischen Einheit, eines überindividuellen Handlungssubjekts, ist. Wir werden sehen, daß verschiedene Vorstellungen von der Konsensbildung verschiedene Einheitsbegriffe ergeben 12 •

Theorien, die die Konsens- oder Organisationskosten nicht berücksichtigen, führen normalerweise zu einem extensionalistischen Prinzip der Gruppenbildung, die aus den Zielen der einzelnen theoretisch herausdestillierte "Gemeinsame" oder "Allgemeine", den kleinsten gemeinsamen Nenner als einen wirklichen Konsensinhalt oder aber einen Gemeinwillen hinstellt. Dabei braucht man nicht einmal den trivialen Fehler zu begehen, jeder auf logischem Wege erhaltenen Abstraktion eine Gruppe zuzuordnen, sondern man kann durchaus nur soziologisch nachweisbare Gesamtheiten berücksichtigen. Bei diesem Verfahren gelangt man zunächst zu einer Vielheit von Gruppen. Die wichtigste Aufgabe, die sich dem extensionalistischen Vorgehen stellt: die Handhabung von Interessenkonflikten, stellt sich in zwei Formen. Konflikte entstehen subjektiv, wegen der "Überschneidung" von Gruppen mit unvereinbaren Zielsetzungen. Wirklich konfligierende Interessen separieren jede Menge und lassen keine Überschneidungen zu. Man kann in einer Massendemonstration oder in einem Bürgerkrieg nicht gleichzeitig in den beiden Lagern anwesend sein, wenn auch die Entscheidung manchmal schwer fällt. Daß diese Entscheidung letztendlich dem einzelnen anheimgegeben wird, stellt nach Schmitt eine Inkonsequenz der pluralistischen Theorie dar. Dadurch 11 12

Vgl. den sog. "Grundsatz der Universalisierung" - Habermas 251. Vgl. das Kapitel 8 unten.

Erster Teil

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werde nämlich preisgegeben, was an ihr "interessant und wertvoll war, nämlich die Berücksichtigung der konkreten empirischen Macht sozialer Gruppen" 13 • Empirische Untersuchungen haben längst erwiesen, daß die von der mehrfachen Mitgliedschaft erwartete mäßigende Funktion allenfalls auf die Führung von Gruppen zutreffe 14 und für die übrigen Mitglieder eher die Möglichkeiten von "Abwanderung und Widerspruch" 15 ( d. h. der manifeste gruppeninterne Konflikt) dafür sorgen, daß eindeutige extensionale Verhältnisse wiederhergestellt werden. Die weitaus wichtigere Form der Handhabung von Konflikten ist diejenige zwischen Gruppen und Organisationen 16 • Die Aufgabe, die wir uns in dieser Untersuchung stellen, ist die Herstellung von Einheit aus der Vielfalt unterschiedlicher, konkurrierender, ja konfligierender Inhalte. Die typisch extensionalistische Lösung bedient sich einer logischen Operation, die aus entgegengesetzten Bestimmungen ein "Gemeinsames" und "Verbindendes" (allgemeine Interessen, gemeinsame Werte, Verfahrensregeln usw.) herausschält und als den Willen des "Ganzen" oder der "Gesamtheit", als einen (auch wenn noch so schmalen, so doch restlosen) Konsens fingiert. In der Regel sind jedoch diese Inhalte konkretisierungsbedürftig, und was entscheidend ist: auf entgegengesetzte Weise konkretisierbar. In der demokratischen Verfassungstheorie und -praxis wirkt die extensionalistische Vorstellung in Formeln, die die Entscheidung gewisser Instanzen (des Abgeordneten, des Staatspräsidenten, des Richters usw.) mit dem Willen eines allumfassenden Personenkreises identifizieren. Die soziologisch ermittelten Tatsachen stehen natürlich mit dieser Konstruktion in Spannung, und die relativierende Hilfskonstruktion: daß die Gruppe, die die "gemeinsamen" Werte vertritt, lediglich "latent", wenn auch im Notfallleicht mobilisierbar usw. sei, gilt längst als widerlegt 17 • Die Identifizierung der Einheit mit einem Konsensinhalt der "Gesamtheit" mag als eine brauchbare Approximation im zwischenstaatlichen Handlungsraum funktionieren. Innerhalb des Staates bereitet sie jedoch Schwierigkeiten. Das teleologische Prinzip der Einheitsbildung führt über das extensionalistische hinaus. Die Teleologie bietet eine sachliche und scheinbar zureichende Grundlage einer überindividuellen Einheit. Der durch die liberale Nationalökonomie konstruierten "Tauschgemeinschaft" unterlag stillschweigend die MittelZweck Relation. Subjekte, die miteinander Güter und Leistungen tauschen, bieten gegenseitig Mittel zur Erfüllung der Zwecke des jeweils anderen an. Das Privatrecht erkennt zwar an, daß diese Leistungen aufeinander bezogen sind 13 14 15

16 17

StE 138. Vgl. Scharpf 30 (mit Literaturhinweisen). Vgl. Hirschmann im gleichnamigen Buch (Tübingen 1974). Den gruppeninternen Konflikt können wir zunächst vernachlässigen. Olson; vgl. auch Scharpf 30.

4. Die Konsenskosten

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und in einem funktionalen Zusammenhang stehen 18 • Dies berechtigt uns jedoch nicht, die Gruppe der Beteiligten als eine "Einheit" aufzufassen- insbesondere dann nicht, wenn aus punktuellen Verträgen kein übergeordnetes Handlungssubjekt hervorgeht. Die Tauschgemeinschaft gehört dem Organisationstypus "Markt" an, welcher - trotz faktischer Herrschaftsverhältnisse (die Ausflüsse von Monopolstellungen oder arbeitsteilig bedingter Schlüsselpositionen sind) -keine Institution mit einem definierbaren und repräsentationsfähigen Zweck ist. Formel, die es auf eine "Interessengemeinschaft", etwa gegenseitige Gewinnmaximierung usw. abstellen, können nur das individualistische Axiom, daß jeder Teilnehmer den eigenen Gewinn zu maximieren bemüht ist, sprachlich überdecken und verfälschen. Für die reine Nationalökonomie besteht übrigens keine Notwendigkeit, aus der Vielfalt der Handlungssubjekte, die sich auf dem Markt einander begegnen, eine Einheit zu konstruieren. Um so mehr stellt sich diese Aufgabe für die Staatstheorie, und es ist bemerkenswert, daß die teleologische Staatskonstruktion das Problem der Einheitsbildung nicht lösen kann. Die Teleologie ist die Grundlage der organischen Staatsauffassung, wobei ich nicht die ältere Organismustheorie etwa der Romantik, sondern ihre moderne Variante meine, wie etwa Erich Kaufmann im Gefolge von Gierke vertrat 19 • Der "moderne" Gedanke der organischen Einheit geht auf Kants "Kritik der Urteilskraft" zurück und wird wie folgt charakterisiert: die Teile des Ganzen verbinden sich dadurch "zur Einheit des Ganzen", daß sie von einander "wechselseitig Ursache und Wirkung ihrer Form sind" 20 (natürlich meint hier Kant nicht die Kausalität sondern die Teleologie). Die Schwierigkeit mit der "Wechselseitigkeit" ist nun, daß sie höchstens zum Marktmodell, nichtjedoch zu einer Einheit führt 21 • Sie wird häufig bemüht, weil man sie vage mit der Vorstellung des Lebendigen assoziiert. Am entscheidenden Punkt erweist sich jedoch in den meisten Fällen, daß sie zugunsten einer "einseitigen" Relation aufgegeben werden muß. So auch Kaufmann: der Staat ordne den einzelnen in einen"Gesamtplan des menschlichen Kulturlebens" ein, dessen Zweck daher "jedem zugemutet werden kann" 22 • Oder vom einzelnen her gesehen: der individuelle Wille sei "Organ einer subjektiven überindividuellen Ordnung", die individuellen Interessen würden dazu "benutzt, der Verwirklichung dieser Ordnung zu dienen" 23 • Larenz 455. Vgl. Kaufmann: Über den Begriff des Organischen in der Staatslehre des 19. Jahrhunderts, 1908; in: Kaufmann (lll) Bd. 3. S. 32. 20 eda. 21 Vgl. unsere Bedenken gegen die Kategorie der Wechselwirkung im Abschnitt 1-7 oben. 22 Kaufmann (I) 134. 23 Kaufmann (I) 175ff. 18

19

6 Holczhauser

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Die "natürliche" teleologische Relation bietet keine objektive Hierarchie von Zwecken und Mitteln, geschweige denn "höchste" Zwecke, mit denen die Einheit gleichzusetzen wäre. Für eine "normative" Teleologie stellt sich unabweislich die Frage: Wer setzt die (höchsten) Zwecke? An diesem Punkt gibt auch die moderne Organismustheorie keine klare Antwort, sondern sie verweist auf die "Gemeinschaft". Gierke geht manchmal sogar hinter die teleologische Auffassung zurück, z. B. wenn er sagt, sein Organismusbegriffwill nichts weiter aussagen als "daß wir in dem gesellschaftlichen Körper eine Lebenseinheit eines aus den Teilen bestehenden Ganzen erkennen" 24 • Auch bei Kaufmann gehen mechanische und organische Begriffe (Ganzes, Gesamtheit bzw. Gemeinschaft, Einheit) ziemlich unterschiedslos ineinander25 • Stahls Kritik an der Organismustheorie (die sehr wohl auch die "moderne" Variante trifft) hat gerade dies hervorgehoben: das bloße "Zusammenwirken" und "Ineinandergreifen" könne höchstens eine "aggregatsmäßige" Einheit, also lediglich eine "Gesamtheit" herstellen. Ein Organismus sei "überall" Peripherie. Zur Einheit bedürfe es jedoch eines Zentrums, das ein wirkliches Handlungssubjekt ist. Diese Forderung ist keineswegs nur "die Personalisierung des alten naturrechtliehen Staasbegriffs" 26 , sondern vielmehr die konsequente Vervollständigung einer (der Sache nach) handlungstheoretischen Begründung des Staates- gerade an dem Punkt, wo die meisten Konstruktionen auf heteronome Prinzipien ausweichen 27 • 4-5. Die hier vertretene und auszuarbeitende Vorstellung von "Einheit" bezeichne ich als "konfliktual". Ihr liegt die Differenzierung zwischen Konsenskern (Zentrum) und Peripherie zugrunde. Sie kann das teleologische Moment natürlich nicht ausschalten. Sie gesteht jedoch ein, daß sie weder auf die Gegenseitigkeit und Gleichwertigkeit aller Ziele und Mittel einerseits, noch auf ihre naturgegebene Hierarchie bauen kann. Die konfliktuale Einheit geht aus der Vielheit dadurch hervor, daß das Zentrum seine eigenen Ziele gegen diejenigen der Peripherie durchsetzt 28 . Das auf diese Weise "übergeordnete" Ziel ist der verbindliche Konsensinhalt und zugleich Zweck der Institution. Es ist ein "objektives" Ziel, im Sinne, daß es gegenständlich in der Welt gesetzt wurde. Für das Zentrum ist das Ziel der Institution nicht nur aktuell, sondern auch ideell erstrebenswert. Daher können wir sagen, daß sich das Zentrum mit dem Institutionsziel in größerem Maße identifiziert als die Peripherie, deren Zustimmung von Bedingungen abhängt. Die Leistungen der Peripherie sind in Gierke (II) 18. Kaufmann (I) 131 ff. 26 So aber Kaufmann (111) 10ff. 27 Zu Stahl s. Dieter Grosser: Grundlagen und Struktur der Staatslehre F. J. Stahls, Köln 1963, insb. 74fT. 28 s. weiteres im Kapitel 13 unten. 24

2s

4. Die Konsenskosten

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doppeltem Sinne instrumental (Mittel zum Zweck): im Vergleich zum Institutionsziel bzw. im Hinblick auf die Prämien, die vom Zentrum gewährt werden. Sie können sehr unterschiedliche Formen haben: Unterlassung von Handlungen, die das Institutionsziel stören, formale Zustimmung (etwa Mehrheitsbeschaffung), qualifizierte arbeitsteilige Mitwirkung usw. Das wichtigste Unterscheidungsmerkmal der konfliktualen Einheit (im Gegensatz zur extensionalen oder der organischen) ist, daß der entscheidende Integrationsfaktor ein mit der "Gesamtheit" nicht identisches Handlungssubjekt ist. Dies hat zwei wichtige Implikationen: i) Der Begriff der konfliktualen Einheit soll einer auf das ganze Gemeinwesen erstreckten Konsens- oder Homogenitätsvorstellung vorbeugen. Sie scheint eine unausrottbare Denkgewohnheit zu sein und kehrt auch bei denjenigen, die etwa Schmitts Homogenitätsthese denunzieren 29 , auf verschiedenen Schleichwegen und unter scheinbar unverdächtigen Bezeichnungen (Gemeinwohl, Minimalkonsens, Grundbestand nicht-diskutierter Werte oder Integrationsfaktoren, "nichtkontroverser" Sektor usw.) hartnäckig wieder. ii) Er soll den Konflikt als zentralen Begriffins Bewußtsein heben. Die Einheit wird nicht als eine Aggregation Gleichgesinnter konstruiert, liegt auch nicht als eine nur hinzunehmende Lebenstatsache vor, sondern sie ist das Ergebnis von Konfliktlösung. Sie enthält nicht nur ein siegendes und ein besiegtes Interesse (Heck), sondern auch die entsprechenden Akteure. Die Verwischung von Kern und Peripherie, ja die Gleichsetzung des ersteren mit der Gesamtheit, täuscht nur darüber hinweg, daß der "Konsens" von der einen Seite subjektiv als "Herrschaft" empfunden werden kann. Sie verdrängt u. U. auch, "wie wenig die Vorstellung über einen breiten Konsens über die Grundwerte und Spielregeln" der Wirklichkeit entspreche 30 , daß der Konsens in erster Linie innerhalb des Zentrums, der politischen und gesellschaftlichen Elite bestehe 31 • Man kann also den Einheitsbegriff, der auf der Differenzierung von Konsensbereichen und der ihnen entsprechenden Akteuren beruht, sehr wohl eine "Elite-Theorie" nennen. Das Zentrum ist eine Elite, zumindest in technischem Sinne. Ihre "Privilegierung" besteht vor allem darin, daß ihre aktuelle Präferenzordnung der idealen zumindest sehr nahe steht. Die weitere Präzisierung des Zusammenhangs zur Elite-Theorie interessiert uns in dieser abstrakten Betrachtung nicht weiter. Es gibt sehr interessante Fragen der empirischen Politikwissenschaft bezüglich von Eliten: wie stark die Mobilität zwischen Peripherie und Zentrum ist, nach welchen Kriterien die Mitglieder des letzteren rekrutiert werden, welches Ethos es zusammenhält, ob es homogen ist oder aber es konkurrierende Eliten gibt, ob sie Stände, Klassen, politische Parteien oder 29 30 31

6*

Vgl. etwa Oberreuter 15 f., mit den üblichen Fehldeutungen. Scharpf 35, 41. Massing 26.

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Erster Teil

nationale Befreiungsbewegungen und -Organisationen sind, wie stark und (wenn überhaupt) durch wen sie kontrolliert werden usw. Sie können hier leider nicht einmal gestreift werden. 4-6. Zum Schluß dieses Kapitels muß noch erwähnt werden, daß es Bereiche, oder vielmehr Gesichtspunkte der Problembetrachtung gibt, in (unter) denen die scharfe Unterscheidung zwischen Einheit und Gesamtheit nicht erforderlich ist, z. B. in der zwischenstaatlichen Politik oder aber innerhalb des Staates unter "normalen" Verhältnissen, d. h. wenn die Ordnung nicht in Frage gestellt wird. Dieextensionale oder die organische Einheit, die Gesamtheit usw. sind dann akzeptable Approximationen der konfliktualen Einheit, der undifferenzierte Konsens kann den differenzierten ersetzen. Diese Gleichsetzung kann den guten Sinn von Toleranz haben: man begnügt sich mit der förmlichen Zustimmung der Peripherie. Die Rechtsordnung kann die innere Freiheit zur Pflege idealer Präferenzordnungen gewährleisten, ja garantieren, indem sie verbietet, daß das Zentrum ihre Aufdeckung verlangt, die "wahren" Motive der Zustimmung erforscht. Sie kann jedoch auch einen schlechten Sinn haben, den die meisten Partizipationsforderungen übersehen. Die angebliche Tatsache der allgemeinen ( = undifferenzierten) Zustimmung kann leicht in eine Norm, in das Ideal, in die Forderung nach gleichwertiger Beteiligung aller an der Entscheidungstindung transformiert werden. Dies läßt entweder jeden Institutionstypus in einen "Markt" zerfallen (weil es keine zentralen Entscheidungsinstanzen mehr gibt), oder aber trägt dazu bei, daß der Beteiligungsdrang einiger in das Interesse aller, in einen objektiven Wert, in ein ethisches Gebot usw. umgedeutet wird und es kann schließlich in Partizipations-Terror umschlagen. Die Gleichsetzung von Einheit und Gesamtheit führt zu theoretischen Schwierigkeiten im Ausnahme- oder KonfliktfalL Wenn die Peripherie die Tauschbedingungen nicht mehr hinnimmt und die eigene ideale Präferenzordnung durchsetzen möchte, dann kann man nicht mehr sagen, daß sie lediglich partikulare Interessen eines Teiles, während ihr Gegenspieler universale Werte oder die Interessen der Gesamtheit verfolge. Man kann nicht sagen, daß sich die "Teilmenge" mit der "Gesamtmenge" in Konflikt und Kampfverwickele und daß die eine parteipolitisch, die andere dagegen neutral handele. Die Klärung des Unterschieds zwischen verschiedenen Einheitsbegriffen ist von zentraler Bedeutung im Hinblick auf den Zusammenhang zwischen Schmitts verschiedener Politikbegriffe. Ohne die Ergebnisse späterer Kapitel vorwegzunehmen, ist hier nur soviel zu sagen, daß die Konfusion verschiedener Einheitsvorstellungen manche Unzulänglichkeit seiner Analysen vorbestimmt hat. Einerseits erkennt Schrnitt mit besonderer Schärfe, daß in der "vom Gesetz des Pluralismus beherrschten geistigen Welt" ein Stück "konkreter Ordnung" wertvoller sei als "die leeren Allgemeinheiten einer falschen Totalität" 32 • Diese

5. Die Grundsituationen des Handeins

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Bemerkung bezieht sich auf die zwischenstaatliche Politik: "Menschheit'" sei kein "politischer" Begriff, weil ihr "keine politische Einheit oder Gemeinschaft und kein Status" -kurz: kein handlungsfähiges Subjekt- entspreche. Wenn ein Staat seinen politischen Feind im Namen der Menschheit bekämpfe, so versuche er nur "einen universalen Begriff zu okkupieren''. Abstraktionen einer fiktiven Totalität seien "ein besonders brauchbares Instrument imperialistischer Expansionen" 33 • Andererseits identifiziert er die aus der innerstaatlichen Pluralität hervorgehende staatliche Einheit allzu schnell und unbedacht mit der Vorstellung einer extensionalen Totalität, mit Sammelbegriffen. Wendungen der Art: "das Ganze der politischen Einheit"34 , "Einheit und Ganzheit"~5 usw. kehren mit einer Häufigkeit wieder, die darauf schließen läßt, daß er die Verbindung als unproblematisch ansah.

5. Die Grundsituationen des Handeins 5-1. Es ist hinlänglich bekannt, daß Schmitts Begriff des Politischen eigentlich zwei Varianten enthält, nämlich eine "inner-" und eine "zwischenstaatliche", und daß er den Akzent schließlich einseitig auf die letztere verschiebt. Es wird dabei m. E. übersehen, daß in der genannten Schrift ein dritter Anspruch steht, der zwar angekündigt, jedoch nicht eingelöst wurde. Das ist die Auffassung des Politischen als des "Außerstaatlichen" im Sinne des "Vorstaatlichen" oder aber eines Konstruktionsprinzips. Um diese Behauptung näher zu erläutern, müssen wir jetzt die möglichen konstituierenden Handlungssituationen systematisch umreißen; sie werden in den folgenden Kapiteln herausgearbeitet. Ich will diese Situationen nach der Anzahl der handelnden Akteure typisieren. Daß dieses Kriterium nicht als "bloß" quantitativ (und daher als irrelevant) abgetan werden kann, braucht nicht erst hier begründet zu werden 1 • Hier witl ich nur erwähnen, daß die "qualitativen" Begriffe Konsens, Konflikt und Neutralität an eine Mindestzahl von Spielern gebunden sind. Es sind demnach drei idealtypische Situationen zu unterscheiden, in denen der Voraussetzung nach jeweils ein, zwei bzw. drei Handlungssubjekte agieren. Es macht dabei keinen wesentlichen Unterschied, ob man sie als natürliche Individuen, als juristische Personen oder aber als soziale Gruppen, Organisationen, Verbände usw. auffaßt. Im letzteren Fall tritt ihre Struktur in den Hintergrund, und sie werden als einheitlich handelnde Akteure betrachtet. Daß StE 143. BdP 55. 34 VL 21, HdV 157. 3 5 HdV 115, 159. 1 Vgl. Simmel 58; s. auch Freund (II) 14f. Vgl. auch die Systematik der Gruppen in Olson 45ff. 32

33

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ein kollektives Subjekt beim Wechsel des Standpunktes wieder als ein komplexes Gebilde mit mehreren Subjekten erscheint, beeinträchtigt nicht die Berechtigung dieser Typisierung. Der Sache nach die gleichen Kriterien legt auch Heck einer eher beiläufigen Typisierung von Konflikten zugrunde2 • Der (i) "innere" Konflikt des Gesetzgebers, der zwischen verschiedenen legislativen Idealen zu wählen hat, ist kein echter Konflikt (zwischen Subjekten), sondern lediglich die Unvereinbarkeit der verfolgten Zwecke. Ein einziges Subjekt muß also zwischen zwei Inhalten wählen (entscheiden). Im (ii) "Zwangskonflikt" stoßen dagegen verschiedene (private und öffentliche) Interessen aufeinander. Die Entscheidung besteht darin, daß sich das eine von zwei Subjekten gegen das andere durchsetzt. Im (iii) "Privatkonflikt" sind zwei kollidierende Interessen vorhanden, und der Gesetzgeber entscheidet den Konflikt entsprechend einem dritten (seinem eigenen) Interesse, das als Normierungsgrund und Maßstab dient. Betrachtet man nun die in Schmitts verschiedenen Schriften aufgestellten "Begriffe" des Politischen, so stellt sich heraus, daß alle drei Typen vorhanden sind. 1. Die Grundsituation der Verfassungslehre enthält ein einziges Handlungssubjekt, die "verfassunggebende Gewalt" (pouvoir constituant). Sie wird als gegeben vorausgesetzt, der Vorgang ihrer Konstituierung ausgeklammert, auch wenn er meistens nicht gänzlich untergeht. In der These von der "Homogenität" verbleibt zumindest die wichtige Aussage enthalten, daß ein kollektives Subjekt ohne die Gleichartigkeit oder den (herbeigeführten) Konsens der Beteiligten (dessen Entstehung jedoch nicht zum Gegenstand der Theorie gemacht wird) nicht bestehen kann. Die übrigen Handlungssubjekte und ihr Gegensatz befinden sich auf einer anderen Ebene: Sie sind keine Gegenspieler des pouvoir constituant, und wenn sie gelegentlich als solche erscheinen, so verdankt sich dies der falschen Gegenüberstellung vom "Ganzen" und dem "Teil". In der gerade beschriebenen Konstellation sind alle typischen Vorstellungen da, die die Handlung eines isolierten Subjekts ohne Gegenspieler kennzeichnen. Ich nenne sie als das Schema B1 oder aber das Konsensschema der Handlung. Mit "isoliertem" Subjekt bezeichne ich übrigens nicht die soziale Wirklichkeit, sondern die, u. U. für die Beteiligten selbst relevante, eventuell auch fiktive, Rekonstruktion einer Handlungssituation. Eine unabweisbare Konsequenz des Schemas Bl ist, daß die nach ihm stattfindende Handlung nicht "sozial", sondern nur "technisch" sein kann. Die verfassunggebende Gewalt "gibt" die Form des Gemeinwesens "für sich selber" 3 , sie "wählt" zwischen Formen und handelt letztendlich wie gegen "Natur". Die Vorstellung, daß ein isoliertes Subjekt gegen "Natur" handelt, kam bereits in der Auffassung Sieyes' zum Ausdruck, daß die Nation "im Naturzustande" sei. Schmitt stellt ausdrücklich 2 3

Heck (I) 39, FN 2. VL 21.

5. Die Grundsituationen des Handeins

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klar, daß es sich hierbei "nicht um eine völkerrechtliche Konstruktion", d. h. das Verhältnis mehrerer Subjekte zueinander, handele, sondern "um das Verhältnis der Nation zu ihren eigenen vefassungsmäßigen Formen" 4 • Das ist in der Tat kein Verhältnis zwischen Subjekten! Die Fiktion, daß ein Subjekt ohne Gegenspieler handelt, wird durch unterschiedliche Kriterien fingiert: durch seine "inkommensurable" Macht, durch den unbezweifelten, unanfechtbaren, richtigen Inhalt seiner Entscheidungen, durch die allgemein anerkannten Werte, deren Träger die Entscheidungsinstanz ist, durch die Alleinberechtigung des Subjekts usw. Dadurch werden die übrigen Subjekte (wenn in der Sprache der Theorie überhaupt wahrgenommen) für ihm nicht ebenbürtig erklärt. Gegebenenfalls wird zwischen ihnen ein "Wesensunterschied" postuliert. Das Schema B1 bekommt unterschiedliche Akzente, je nach dem man den Handelnden als Individuum oder aber als kollektives Subjekt auffaßt. Im zweiten Fall überwiegt gegenüber dem isolierten Handeln die Konsenskomponente. Dies rechtfertigt, B1 als "Konsenstheorie" zu bezeichnen, auch wenn diese Einordnung auf Unverständnis stoßen kann. Denn auch der Konsens erfordert mindestens zwei Subjekte. Wir haben andererseits gesehen 5 , wie schwer die Theorien des undifferenzierten Konsenses (um den es hier geht) die Fiktion mehrerer Handlungssubjekte aufrechterhalten können. Von entscheidender Bedeutung ist für B1, daß der Konsens eindeutig als undifferenzierter Konsens gilt und nur als solcher gelten kann. Wenn wir das Schema B1 mit dem Konsens identifizieren, so bedeutet dies nicht, daß es nicht durch das Moment des Konflikts und damit durch die Begrenzung des Handlungssubjekts gefarbt werden kann. Seine Eigenart ist jedoch, daß der begrenzende, dem maßgebenden Willen entgegengesetzte Inhalt nicht zu einem wirklichem Gegner, zu einem Kontrahenten verdichtet wird. Die äußerste Möglichkeit, die B1 im Hinblick auf den Konflikt bereitstellt, sind die verschiedenen Spielarten des sog. "kritischen" oder "revolutionären" Naturrechts. Schmitts gleichnamige Schrift enthält weitere zwei Begriffe des Politischen. 2. Die Entscheidung "gegen" den Feind, die Austragung eines Konflikts spielt sich zwischen zwei Akteuren ab. Der eine von ihnen entscheidet oder unterscheidet, genau genommen, nicht "zwischen" Freund und Feind, sondern er prüft, in welche Kategorie sein einziger Gegenüber einzuordnen ist. Wenn er sich für "Freund" entscheidet, dann ist kein "Feind" vorhanden - und umgekehrt. Der Konflikt tritt nur ein, wenn er seinen Gegenspieler als "Feind" identifiziert. Ich nenne diese Situation, in der genau zwei Subjekte vorhanden sind und die eigentliche Entscheidung darin besteht, den Kampf auszufechten und sich gegen den Feind durchzusetzen, Konfliktschema oder aber das Schema B2 des Politischen. 4

5

D 143. Abschnitte 1-10, 4-3.

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Der entscheidende Unterschied zu B1 besteht darin, daß die Handlung zwischen zwei Akteuren, nicht zwischen einem Subjekt und "Natur" stattfindet. Das Handeln nach dem Schema B2 ist "soziales" (nicht-technisches) Handeln. 3. Dem dritten Begriff des Politischen liegt eine Situation zugrunde, in der drei Subjekte einander begegnen. Erst hier ist möglich, "zwischen" Freund und Feind zu unterscheiden bzw. zu entscheiden, welches der beiden anderen Subjekte als Freund, welches als Feind gilt. Während der unmittelbare Zweck der Entscheidung gegen den Feind (B2) die Austragung des Konflikts, der Kampf ist, so wird in B3 ein Zwischenschritt eingeschaltet: man bildet zunächst Koalitionen. Die Dreierkonstellation ermöglicht ferner eine weitere Variante des Politischen, die nicht durch die getroffene, sondern durch die unterlassene Unterscheidung zwischen Freund und Feind konstituiert wird: das Politische im Sinne der Neutralität. Neutralität ist weder in B1 noch in B2 definierbar. (Ein weiterer, nur in einem Spiel mit drei Akteuren definierbarer Begriffist die Repräsentation 6 • Er spielt übrigens in den Folgenden keine größere Rolle.) In der politischen Wirklichkeit findet ein ständiges Ineinandergehen der drei Grundsituationen des Politischen statt. Nach erfolgter Koalition können die beiden Partner in ein übergeordnetes Subjekt verschmelzen und dann sind nur noch zwei Spieler vorhanden. Setzt sich die eine Partei gegen die andere durch und zwingt ihr die eigenen Ordnungsvorstellungen auf, so bleibt nur noch ein einziges bestimmendes Subjekt sichtbar, das scheinbar ohne Gegenspieler entscheidet. Nach dem Erreichen eines begrenzten Ziels oder bei Änderung der Kräfteverhältnisse können die Umgruppierungen in der umgekehrten Richtung stattfinden: die Verbände lockern oder lösen sich auf, die Spieler trennen sich, möglicherweise wenden sich gegen einander. Die Unbeständigkeit eines komplexen Handlungsfeldes, der Wechsel der Konstellationen von Spielern und ihrer Gruppierungen stellen den idealtypisierenden Versuch nicht in Frage - im Gegenteil, sie heben sogar seine Notwendigkeit hervor. Er ist nicht lediglich das Instrument des Beobachters, der die wirkliche, komplexe Situation auf ein verständliches Muster reduzieren will. Es ist viel wichtiger, zu ermitteln, ob die Beteiligten selbst ihre eigene Situation auf eine analoge Weise auffassen oder nicht. Denn nicht das "objektive" Wissen eines unbeteiligten Beobachters, sondern die Lagebeurteilung der Akteure selbst erklärt ihre Handlungen. Es scheint mir, daß sich Schmitt nicht bewußt war, wie grundverschieden diese drei Politikbegriffe sind. In der Verfassungslehre werden die beiden Definitionen nach B1 und B2 als gleichwertige häufig in einem Atemzug erwähnt; im "Begriff des Politischen" gehen B2 und B3 ziemlich unterschiedslos ineinander über. 6 Vgl. den Abschnitt 11-1 unten bzw. meinen Artikel Konflikt und Repräsentation, in: Der Staat 3 I 1988, S. 351 ff.

5. Die Grundsituationen des Handeins

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Daraus ergeben sich Mißverständnisse, unerklärliche Spannungen und ihre unzulängliche Auflösung. 5-2. Die drei Begriffe des Politischen, die wir hier betrachten wollen, erschöpfen nicht alle Vorschläge und Versuche, die man in Schmitts verschiedenen Schriften findet. Wir werden sie nicht alle untersuchen, sondern wir beschränken uns auf diejenigen Definitionen, die explizit auf eine Entscheidung abstellen, also handlungstheoretisch orientiert sind. Trotzdem wollen wir einige von ihnen kurz ins Auge fassen. In einem seiner ersten Versuche, sich an eine Definition des Politischen heranzutasten, suchte Schmitt das Merkmal in unspezifischen F ormbestimmungen. Kennzeichnend für diesen Assoziationenkreis ist der Titel seines Aufsatzes über römischen Katholizismus und politische Form. Der Ausdruck hat hier nicht die enge Bedeutung von "Staatsform", auch wenn Schmitt zu dieser üblichen Bedeutung gelegentlich zurückkehrt'. Sondern er versucht ganz abstrakt, offensichtlich unter dem Einfluß von Wolzendorff und Max Weber8 , begriffliche Unterschiede von Handlungs- und Entscheidungsstrukturen auf Formunterschiede zurückzuführen. Für Wolzendorff war die Form ein wirkender Faktor des historischpolitischen Lebens und der Staat eine "Form im Sinne einer Lebensgestaltung" oder berechenbaren Funktionierens. Schmitt läßt das Handeln in zwei Typen auseinanderfallen, die er auf den aristotelischen Gegensatz von deliberare und agere zurückführt. "Agere" ist das Prinzip einer technischen Formierung, es kommt dem Ideal einer präzisen, mechanischen Ausführung nahe. "Deliberare" ist dagegen die Anwendung einer Norm, ihre Umsetzung in die Wirklichkeit, die eine besondere "Gestaltung und Formung" verlange 9 • Berücksichtigt man den Kontext dieser Erörterung, so verfehlt man die Intention dieser Unterscheidung gewiß nicht, wenn man hinter ihr Abwandlungen der (technisch-berechenbaren, deklaratorischen) Deduktion und der (schöpferischen, konstitutiven) Dezision vermutet. Mit Hilfe dieses Unterschieds setzt sich Schmitt daran, die Eigenart der römischen Kirche zu erfassen. Wir müssen hier darauf verzichten, uns in der Fülle seiner literarischen, soziologischen und ideengeschichtlichen Assoziationen zu verlieren. Es interessiert uns auch nicht, ob seine Konstruktion der soziologischen Wirklichkeit dieser Institution gerecht wird 10 • Uns interessiert allein, wie der obige Formunterschied mit Inhalten gefüllt wird, die dann die Eigenart des Politischen abgeben.

VL 292. Vgl. PT 37. 9 PT 39. to Vgl. hierzu Rumpf 17ff. 7

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Die Kirche verkörpere nicht die Irrationalität, sie ist kein Gegenpol eines mechanischen Zeitalters, sondern es wohne ihr eine andere Rationalität inne, die "wesentlich juristisch" ist 11 • Eines der "soziologischen Geheimnisse" der Kirche liege in ihrer Fähigkeit zur juristischen Form 12 • Die juristische Rationalität gewinnt in der Gegenüberstellung mit der naturwissenschaftlich-technischökonomischen Rationalität Konturen. Ihre Eigenart kommt wesentlich aus der Unterscheidung zwischen agere und deliberare hervor. Schmitt mischt jedoch weitere Elemente, die Teleologie und die Wertsetzung, hinein. Die technische und die juristische Form verhielten sich zueinander wie Mittel und Zweck. Die moderne Technik mache sich zum Diener irgendwelcher Bedürfnisse. Die Rationalität der politischen Form beginne dagegen erst dort, wo die Technik aufhört: sie frage "nach der allein wesentlichen Rationalität des Zweckes" 13 sie gebe eine Richtung, sie setze Werte. Es fällt einem, der gegenüber dem Pathos der Schrift reserviert bleibt, nicht schwer, hinter dem verwirrenden Ideenreichtum Ungereimtheiten aufzuspüren. Es ist überflüssig, Belege dafür auszubreiten, daß Schmitt eine Fülle von Stoff zusammenträgt, mit der er zunächst theoretisch nicht fertig wird. Daß die politische Überlegenheit der Kirche darin bestehe, daß sie sich nicht zu entscheiden brauche 1\ läßt sich zwar aufgrund des späteren Schema B3 erklären. Hier steht jedoch die Behauptung ziemlich unvermittelt da; denn die Neutralität läßt sich aus dem Begriff von agere nicht ohne weiteres herleiten. Auch kann sich Schmitt offenbar nicht entscheiden, die juristische und die politische Form (als "Gegenformen" des Technischen) miteinander gleichzusetzen oder sie eher auseinanderzuhalten. Neigte er zu Beginn des Aufsatzes dazu, sie stillschweigend zu konfundieren, so drängt sich ihr Unterschied später doch in den Vordergrund, insbesondere wo er danach fragt, wann ein Gerichtshof wirklich politisch handeln würde. Die Antwort nimmt ein späteres Thema vorweg: wenn es "aus eigener Macht" entscheiden könnte, wenn es ein "Übersouverän" wäre. Weitere Schlußfolgerungen zieht hier Schmitt noch nicht. 5-3. Man könnte beanstanden, daß wir eine wichtige Frühschrift Schmitts, in der das Politische ebenfalls eine zentrale Rolle spielt, die Politische Theologie bisher nicht erwähnt haben. Wir haben sie bei der Begrenzung des Umfangs der Untersuchung weder ausgeklammert, noch in die Schematisierung der Strukturtypen eingereiht. Dieses Versäumnis wollen wir jetzt nachholen. Der provozierende Auftakt der Politischen Theologie nennt denjenigen "souverän", der über den "Ausnahmezustand" entscheidet. Anschließend RK 16ff. RK 26. 13 RK 20ff. 14 RK 52; vgl. auch Barion: Kirche oder Partei? Römischer Katholizismus und politische Form, in: Der Staat 2 I 1965, S. 132. 11

12

5. Die Grundsituationen des Handeins

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macht Schmitt eine Präzisierung von zentraler Bedeutung: der Ausdruck bezeichnet nicht jeden beliebigen Not- und Belagerungszustand. "Nicht jede außergewöhnliche Befugnis, nicht jede polizeiliche Notstandsmaßnahme oder Notverordnung ist bereits Ausnahmezustand" 15 . Der Ausnahmezustand, wie Schmitt ihn in diesem Kontext definiert, ist kein Institut des positiven Rechts, sondern "ein allgemeiner Begriff der Staatslehre" 16 • Damit hat er den Ausnahmezustand insbesondere von dem, in der "Diktatur" untersuchten Ausnahmebegriff, vom verfassungsmäßigen Institut des Notstandes oder des Belagerungszustandes scharf abgegrenzt. Die im Ausnahmezustand getroffene Entscheidung besteht in der "Suspendierung der gesamten bestehenden Ordnung", der "Verfassung in toto" 17 . Die Norm werde nicht nur durchbrochen, wie im geregelten, verfassungsmäßigen Ausnahmezustand, sondern sie werde vernichtet 18 • Es ist besonders hervorzuheben, daß "Norm" hier nicht das einfache Gesetz, sondern die Verfassung bedeutet, denn das Gesetz könnte auch durch ein verfassungsmäßiges Organ, z. B. den Gesetzgeber oder ein Verfassungsgericht, und zwar im Normalzustand, vernichtet werden 19 . Das ist nur der eine Aspekt der Entscheidung, die der Souverän treffen kann bzw. durch die er sich als souverän erweist. Rechtsnormen sind nur anwendbar, wenn eine Ordnung vorhanden ist. Es müsse also "eine normale Situation geschaffen werden, und souverän ist derjenige, der definitiv darüber entscheidet, ob dieser normale Zustand wirklich herrscht". Der Souverän "schafft und garantiert die Situation als Ganzes in ihrer Totalität" 20 • Die Souveränität ist demnach die faktisch "höchste" Macht, eine Verfassung zu beseitigen oder sie zu geben. Ausnahmezustand ist der verfassungslose Naturoder Urzustand, den der Souverän in eine rechtliche Ordnung überführen, und diese wiederum, zum Zwecke der Durchsetzung einer anders gearteten Ordnung, zu beseitigen imstande ist. Man kann also die beiden Varianten auf eine einheitliche Formel bringen: Souverän ist derjenige, der eine Zustandsänderung bewirken, den Naturzustand in einen Rechtszustand (und umgekehrt) überführen kann. Damit verschwindet zwar die bombastische Aufmachung und die vermeintliche Originalität der These. Es bleibt jedoch immerhin ein zutreffender und brauchbarer handlungstheoretischer Kern zurück. Aus dieser Perspektive erscheinen die beiden Komponenten: Ausnahme- und Normalzustand als gleichermaßen wesentlich, PT 18. PT 11. 17 PT 18, 13. 18 PT 19. 19 Die deutsche Theorie über die ipso iure Nichtigkeit (als Gegensatz von Vernichtbarkeit) von Gesetzen (BVerfG) wollen wir außer Acht lassen. 20 PT 20. 15

16

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Erster Teil

denn sie sind abwechselnd input und output der souveränen Handlung. Hätte Schmitt seine Definition der Souveränität tatsächlich in der einseitig kolportierten Form 21 gefaßt, so wäre nicht so sehr seine Orientierung an der Ausnahme zu beanstanden, sondern eher die Tatsache, daß er sich nicht im Klaren war, welche notwendigen Komponenten zu einer handlungstheoretischen Definition überhaupt gehören. Wenn man trotz dieser Symmetrie von Ausnahme- und Normalzustand geneigt ist, dem ersteren eine gewisse Priorität bei der Definition einzuräumen, so nur aus einem Grunde, der nicht nur mit Schmitts eigener Verfassungslehre, sondern überhaupt mit einer Tendenz der neuzeitlichen Verfassungsentwicklung zusammenhängt. Sie besteht darin, daß der Souverän zu normalen Zeiten aus der Verfassung hinausgedrängt wird 22 undjede Initiative den nichtsouveränen, konstituierten Organen überläßt (überlassen muß!). Die Entwicklung von der absoluten zur konstitutionellen Monarchie und noch mehr zum Parlamentarismus war die Vervollständigung und die lnstitutionalisierung vorangehender Versuche, dem Souverän bei jeder günstigen Gelegenheit die Befugnis zur unmittelbaren Handlung zu nehmen. Dem entspricht die Auffassung in der demokratischen Staatsform, daß das "Volk" als das Subjekt vom Volksentscheid oder Volksbegehren nicht als Souverän, sondern als konstituiertes und nur von Fall zu Fall aktiviertes Organ auftritt 23 • Zu normalen Zeiten ist der Souverän gar nicht anwesend, also auch nicht wahrnehmbar 24 • Das der Souveränität unterliegende Handlungsschema kann nun in unsere oben skizzierten Grundsituationen deswegen nicht eingeordnet werden, weil es offen ist. Es bedarf keines umständlichen Nachweises, daß die Situation, in der eine Entscheidung über den Ausnahmezustand aktuell wird, eine (bereits eingetretene oder bevorstehende) Konfliktsituation ist 25 • Daß Maßnahmen, welche die Grenzen der Normalität überschreiten, notwendig sind, daß die rechtsstaatliche Hemmung der Staatsgewalt teilweise oder ganz entfällt und die Zweckmäßigkeit der Aktion vorrangig wird, ist ein Zeichen dafür, daß die innenpolitischen Gegensätze an Intensität gewonnen haben, der für besiegt und befriedet geglaubte Gegenspieler zu einem Feind zu werden droht, daß ein Kampf mit beinahe gleichen Chancen für beide Seiten bevorsteht. Souverän ist dann derjenige, der sich gegen den (innenpolitischen) Feind durchsetzt. In diesem Sinne kann das offene Schema der Souveränität in die Richtung des Konfliktschemas, des Begriffs B2 des Politischen präzisiert und weiterentwickelt werden. Man kann aber das Gewicht auch auf einen anderen Aspekt der Situation verlegen: der Souverän hat über den Ausnahmezustand bereits entschieden, er 21 22 23

24 25

Seit Hermann Heller gehört sie zur Folklore der Schmitt-Literatur. Vgl. die Abschnitte 6-7 bis 6-9 unten. Vgl. L&L 313fT. Vgl. den Abschnitt 6-9 unten. Vgl. die Wendung: "den Konfliktfall entscheidende Souveränität" StkB 376f.

5. Die Grundsituationen des Handeins

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hat einen Normalzustand durchgesetzt. Der besiegte Gegner tritt hinter dem Sieger zurück, der Normalzustand erscheint nur noch als das Werk eines Einzelnen (persönlicher Souverän) oder aber der "Gesamtheit" (kollektiver Souverän), in welcher die Bürgerkriegsparteien aufgegangen sind. In beiden Fällen bleibt nur noch ein isoliertes Handlungssubjekt zurück und der Souverän übergeht in die undifferenzierte "verfassunggebende Gewalt". Diese Konkretisierung der Situation führt nicht mehr in die Richtung des Konflikts-, sondern des Konsensschemas. Die Politische Theologie ist eine unvollständige Fassung, der "Vorbegriff' beider Politikbegriffe, der einerseits im Begriff des Politischen, andererseits in der Verfassungslehre konkretisiert wurde. Sie erlaubt sowohl eine konsens- als auch eine konflikttheoretische Begründung des Staates. Sie hält beide Optionen offen, oder genauer gesagt: Schrnitt hat nicht wahrgenommen, daß der Übergang zur einen oder anderen Variante nicht deduktiv, sondern nur durch eine konkretisierende Ergänzung möglich ist. D.h.: man expliziert nicht lediglich verborgene Eigenschaften der Situation, sondern man führt stillschweigend Zusatzannahmen ein. 5-4. Die zwei Arten des Ausnahmezustandes sind eine wesentliche Voraussetzung für Schmitt, um zwischen zwei Arten von "Diktatur" zu unterscheiden. Die "souveräne" Diktatur ist eine nicht leicht nachvollziehbare Konstruktion Schrnitts. Am besten läßt sie sich als die konfliktuale Repräsentation eines Subjekts, das nicht an eine bestimmte Rechtsordnung (Verfassung) gebunden ist, rekonstruieren 26 • Daher ist die Fiktion zulässig, daß der Auftrag des souveränen Diktators sowohl die Beseitigung einer alten und die Durchsetzung einer neuen Verfassung zum Gegenstand haben kann 27 • Er übt dann echte Souveränitätsakte aus. Der rechtlich wahrnehmbare Unterschied zum Souverän ist, daß er nicht im eigenen, sondern im fremden Namen handelt. Der Ausnahmezustand, in dem oder über den er entscheiden kann, ist im Sinne des "allgemeinen Begriffs der Staatslehre" zu verstehen. Der "kommissarische" Diktator ist dagegen ein typischer Mandatar 28 . Seine Unterscheidung vom souveränen Diktator bereitet keine Schwierigkeiten, solange der Souverän als eine natürliche Person, eine im Staat anwesende Institution usw. faßbar ist. Die wichtigsten Einwände gegen die Unterscheidung zwischen den beiden Arten der Diktatur ergeben sich im demokratischen Staat, in dem der Souverän mehr oder weniger eine juristische Fiktion, wie die "Gesamtheit", die "Nation", die "verfassunggebende Gewalt des Volkes" usw. ist. DerUnterschied ist nicht von der Person des Auftraggebers, sondern nur von der Natur des Auftrags her nachvollziehbar. Der kommissarische Diktator entscheidet nicht über den Ausnahmezustand im "allgemein staatsrechtlichen" 26 27

28

Vgl. meinen Artikel "Konflikt und Repräsentation", in: Der Staat 3 f 1988, S. 351 ff. D 137. D 130f.

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Sinne, sondern im beschränkten Sinne eines Verfassungsinstituts. Die Grundlage seines Handeins ist nicht der ungebundene oder nichtformierte Wille des Souveräns zu dieser oder jener Form des Gemeinwesens, sondern sein in der Form einer Verfassung kodifizierter Wille. Die geltende Verfassung ist die Ermächtigungsgrundlage und zugleich die Grenze seines Handelns. Daraus ergibt sich die Natur seines Auftrags im Vergleich zu dem des souveränen Diktators. Der kommissarische Diktator kann aus der Verfassung nur ein Mandat auf die Wiederherstellung, nie auf die Beseitigung der geltenden Rechtsordnung, geschweige denn auf die Etablierung einer neuen Verfassung, ableiten. Er kann nie eine constitutio, sondern nur eine restitutio betreiben, er schützt die Verfassung gegen einen Angriff, der sie aufzuheben droht 29 . Um den Unterschied zwischen den beiden Arten der Diktatur weiter zu verdeutlichen, stellen wir uns eine Bürgerkriegssituation vor, in der beide Parteien i) im jeweils kontrollierten Gebiet den Ausnahmezustand verhängen und ii) ihre Aktionen auf den Auftrag desselben Souveräns (z. B. des "Volkes") zurückführen. Die eine Partei legitimiert sich dabei an der alten, zwar erschütterten jedoch nicht beseitigten, Verfassung, am positivierten Willen des Souveräns. Die andere Partei beruft sich auf den "eigentlichen" oder "wahren" Willen desselben. Nach dem obigen Kriterium handelt es sich im ersten Fall um kommissarische, im zweiten Fall um souveräne Diktatur. Das bedeutet natürlich nicht, daß ein kommissarischer Diktator seine Machtstellung, die "Prämie" auf die Besetzung seines Amtes nicht zur Beseitigung der alten Verfassung und der Errichtung einer neuen Verfassung mißbrauchen kann. Dadurch wird er natürlich zu souveränem Diktator (falls er die Souveränität selbst nicht in Anspruch nehmen kann oder will). Doch man muß da genau unterscheiden: er hat dadurch nicht die kommissarische Diktatur rechtmäßig in eine souveräne verwandelt. Sondern er hat die alte Verfassung, einige ihrer Ämter und Instanzen beseitigt und sich unter der neuen Verfassung als souveräner Diktator etabliert. Die Besetzung der beiden Funktionen durch dieselbe Person ist eine faktische Kontinuität, keine im Sinne der Diktaturtheorie von Schmitt. Um das Bisherige kurz zusammenzufassen: die Frage, wie die kommissarische von der souveränen Diktatur zu unterscheiden ist, kann nur in bezugauf den Inhalt und die Grenzen des Ausnahmezustandes beantwortet werden. Entscheidet der Diktator über den Ausnahmezustand im allgemein staatsrechtlichen Sinne, disponiert er über die Verfassung selbst, so ist er souveräner Diktator. Entscheidet er dagegen über den Ausnahmezustand im Sinne eines positiven Rechtsinstituts, das von einer Verfassung normiert wird, über die er nicht disponiert, so ist er nur kommissarischer Diktator. Das Kriterium der Unterscheidung ist also der Umstand, ob der Diktator an der alten Verfassung festhält und sie wiederherstellen will, oder aber im 29

D 136.

5. Die Grundsituationen des Handeins

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Gegenteil, sie zu beseitigen und eine neue Verfassung zu errichten beabsichtigt. Gerade aus diesem Grunde ist es nicht möglich, die eine Form der Diktatur durch Interpretation in die andere zu überführen. Und umgekehrt: betreibt der (bisher) kommissarische Diktator die Beseitigung der Verfassung, so wird er zum souveränen Diktator und kann die legitimative Kraft der alten Verfassung nicht mehr in Anspruch nehmen. Die Unterscheidbarkeit der beiden Formen der Diktatur hängt nun von zwei Bedingungen ab, die bisher nicht erwähnt wurden. Die erste ist, daß die Verfassung einen, für konstituierte Organe unantastbaren Kern, die Befugnis zur Verfassungsänderung eine unübersteigbare Grenze haben muß. Die zweite ist, daß diese Grenze nicht einmal durch das Rechtsinstitut des Ausnahmezustandes überschritten werden darf. Unter einer Verfassung, in der konstituierte Organe echte Souveränitätsakte (Beseitigung der Verfassung) vornehmen können, verschwindet der Unterschied zwischen dem Souverän und dem souveränen Diktator, und folglich auch der Unterschied zwischen kommissarischem und souveränem Diktator. Denn der letztere kann sich, während er wesentliche materielle Bestimmungen beseitigt, darauf berufen, nur von den Änderungskompetenzen, die ihmkraftder alten Verfassung zustehen, Gebrauch zu machen. Diese Klarstellungen waren nötig, um eine Konstruktion zu beurteilen, die Schmitts "Entscheidung gegen den status quo" von Weimar mit dessen eigener Theorie zu untermauern versucht. Den Ausführungen Schmitts, die die souveräne Diktatur von der kommissarischen auseinanderhalten wollen, entgegnet Hasso Hofmann zweierlei. Erstens müsse der Widerspruch geklärt werden, "inwiefern der Reichspräsident über den Ausnahmezustand entscheiden, also Souveränitätsbefugnisse ausüben kann, ohne souverän zu sein" 30 • Diese Frage ist leicht zu beantworten. Der Schein eines Widerspruchs entsteht hier durch ein ganz triviales quaternio terminorum: Der Ausnahmezustand, über den der Reichspräsident entscheidet, ist nicht der "allgemeine Begriff der Staatslehre" (wie Hofmanns unbedachte "also" suggeriert), sondern der Notstand im Sinne von Art. 48 WRV- also gerade kein Souveränitätsakt. Diese Verwechslung durch Hofmann 31 ist kaum begreiflich, hatte er doch die beiden Begriffe von Ausnahme an früherer Stelle vielversprechend sauber auseinandergehalten. Zweitens war, so Hofmann, der Unterschied der beiden Arten von Diktatur nur solange aufrechtzuerhalten, bis die Weimarer Verfassung eine intakte Ordnung war. "In dem Augenblick jedoch, in welchem für Schmitt die Weimarer Verfassung in heterogene Bestandteile auseinanderzufallen schien, wurden für ihn auch kommissarische und souveräne Diktatur ununterscheidbar; denn Hofmann 71, in Anlehnung an Hermann Heller. Analog bei Leibholz, Strukturprobleme der modernen Demokratie, S. 257 (Anmerkung), auf den sich Hofmann beruft. 30 31

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kommissarische Diktatur war bei dieser Sachlage unausweichlich gleichbedeutend mit souveräner Neuschaffung aus einem der angeblich heterogenen Elemente" 32 . Bevor ich auf den Inhalt dieser Aussage eingehe, muß ich darauf aufmerksam machen, wie in ihr die eigenen Gedankengänge Hofmanns mit denen von Schrnitt vermengt werden. Daß kommissarische und souveräne Diktatur "unausweichlich gleichbedeutend" waren, ist keine Tatsachenfeststellung, sondern eine beachtenswerte Meinung Hofmanns. Daß sie auch "für Schrnitt" ununterscheidbar waren, ist eine Behauptung, die erst bewiesen werden sollte. Tatsache ist, daß Schmitt nicht nur an der Unterscheidbarkeit selbst, sondern auch an ihren Bedingungen (unantastbarer Kern, keine Befugnis zur Verfassungsänderung über Art. 48 WRV) z. T. gegen die herrschende Lehre, bis zum bitteren Ende festgehalten hat. Falls Hofmanns These über ihre U nunterscheidbarkeit trotzdem zutreffen sollte, so wäre Schmitts gegenteilige Auffassung zweifellos unrichtig. Doch als politische Entscheidung- nicht gegen, sondern für den status quo! - wäre sie, unabhängig von der Richtigkeitsfrage, vorhanden. Nach dieser Vorbemerkung müssen wir untersuchen, inwiefern Hofmanns Schlußfolgerung Bestand hat. Dazu müssen wir konkret in Erinnerung bringen, was Schrnitt darunter versteht, daß die Verfassung in heterogene Bestandteile auseinanderzufallen drohe. Die erste mögliche Variante der "Zerfallsthese" betrifft den Wortlaut, den Text der Weimarer Reichsverfassung. Die Hauptfundstelle, wo Schrnitt sie ausführlich erörtert, ist das Kapitel Il.1 seiner Schrift Legalität und Legitirnität33. Die beiden Teile sind der formal-organisatorische (wertneutrale) erste Hauptteil und der materielle (werthafte) zweite Hauptteil der WRV. Der letztere bestand seinerseits ebenfalls aus zwei Teilen: den bürgerlichen Freiheitsrechten bzw. einer Menge von Sonderinteressen, die (durch erschwerte Veränderung) dem innerstaatlichen Interessenkampf entzogen wurden und gewisse "Sondergemeinschaften" privilegierten 34 • Diese Unterscheidung Schmitts ist keineswegs ein improvisierter Versuch, die Weimarer Verfassung zu diskreditieren. Sondern die Unterscheidung geht auf ein viel tieferes Konstruktionsproblem zurück, nämlich auf die Frage, wie Homogenität und Pluralität zu einem konsistenten System der Verfassung vereinbart werden können. Wir werden diese Frage noch erörtern 35 • Hier genügt es, -auf den wesentlichen Punkt hinzuweisen. Die Spannung der beiden Verfassungsteile wird für Schrnitt nur unter der Bedingung zerstörerisch, daß der erste, organisatorische Teil die Wertneutralität bis zur Aufgabe seiner Hofmann 71 f. Der außerordentliche Gesetzgeber ratione materiae; der zweite Hauptteil der Weimarer Verfassung als eine zweite Verfassung, in: VrA 293ff. 34 L&L 297. 35 Vgl. den Abschnitt 13-2 unten. 32 33

5. Die Grundsituationen des Handeins

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eigenen Substanz treibt, d. h. wenn das Befugnis zur Verfassungsänderung lediglich der Forderung einer qualifizierten Mehrheit, ansonsten keiner materiellen Beschränkung unterliegt 36 • Da Schmitt diese Auffassung niemals vertreten hat, kann die Zerfallsthese für ihn nicht gegolten haben. Sondern sie trat nur unter der Auffassung der herrschenden Lehre ein. Wenn man also die Zerfallsthese in diesem primären Sinne versteht, dann kann sie höchstens den Auslegungskonflikt zwischen der herrschenden Lehre (Anschütz) bzw. ihren Gegnern bedeuten. Die Beseitigung der "Zerrissenheit" bedeutet dann nichts weiter, als die These über den unantastbaren Kern der Verfassung gegen die herrschende Lehre durchzusetzen. Daß Schmitt diese Art "Neuschaffung" der Verfassung vom Reichspräsidenten, insbesondere über Notverordnungen erwartet hätte, wäre wohl eine mehr als kuriose Unterstellung. Die zweite mögliche Variante der Zerfallsthese bezieht sich nicht auf den Verfassungstext, sondern (nur) auf die Verfassungswirklichkeit Sie ist schon beachtenswerter, nur muß man wiederum differenzieren. Wenn man unter Zerfall der Verfassung in heterogene Bestandteile nunmehr die zerrissene politische Lage, die Unversöhnlichkeit der Parteienlandschaft usw. versteht, so wird die These noch nicht überzeugender. Der Zerfall des Gemeinwesens kann zwar die konsenstheoretische Fiktion einer einheitlichen verfassunggebenden Gewalt bloßlegen. Sie beseitigt jedoch nicht eo ipso die andere verfassungstheoretische Fiktion, daß die alte Verfassung solange gilt, bis die durch sie konstituierten Gewalten nicht restlos beseitigt und die neue Ordnung endgültig durchgesetzt wurden. Diese Zerrissenheit ist dann nicht der Zerfall der Verfassung selbst, sondern lediglich der Tatbestand, an dem die Rechtsfolge, die Verhängung des innerstaatlichen Ausnahmezustandes, anknüpft. Dementsprechend ist die Tätigkeit des Aktionskommissars nicht die "Neuschaffung" der Verfassung (wie Hofmann etwas vorschnell behauptet), sondern lediglich die Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung, also ein reiner Fall kommissarischer Diktatur. Eine mögliche dritte Variante der Zerfallsthese verbindet die beiden Momente, Verfassungstext und -Wirklichkeit, miteinander. Die Zerrissenheit der politischen Lage wird hier unmittelbar durch die Verfassung bedingt und begünstigt. Daraus, daß die WRV verschiedene Grundrechtstypen mit unterschiedlicher Stärke verankert und schützt, ergäben sich eine "höhere" und eine "niedere" Art von Legalität. Dies würde zwar den gegebenen organisatorischen Aufbau des parlamentarischen "Gesetzgebungsstaates" in Frage stellen, zumal wenn die niedere Instanz oder ein Ausführungsorgan dem höheren den Gehorsam im Namen der höherenN orm verweigert 37 • Es käme jedoch nicht von Verfassungs wegen zum Zerfall, wenn die beiden Arten der Legalität im großen und ganzen an wohldefinierte, justiziable Normen geknüpft wären, sondern 36 37

L&L 310f. L&L 308.

7 Holczhauser

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Erster Teil

höchstens zur Ablösung des Gesetzgebungsstaates durch den Regierungs(Verwaltungs-) oder den Jurisdiktionsstaat. Doch gerade diese Bedingung wird nicht erfüllt: der Umfang der materiell-rechtlichen Sicherungen der WRV sei "außerordentlich weit und unbestimmt" und er könnte, mit Hilfe von unbestimmten Begriffen, Grundsätzen und Richtlinien "noch weiter ins Unabsehbare ausgedehnt werden". Es bestehe daher die Möglichkeit (die im Hinblick auf die innerpolitische Lage der letzten Jahre der Republik keine nur "theoretische" war), daß selbständige Machtkomplexe (legal) gegeneinander Obstruktion betreiben. Diese Zerrissenheit wäre nun höchst beachtenswert für die These von Hofmann: denn i) sie entsteht nicht aus den verfassungsunabhängigen Zielsetzungen der politischen Parteien, sondern sie ist die institutionelle Folge des Zerfalls des Verfassungstextes selbst; ii) weil dieses "gemischte Staatswesen" nur solange bestehen könne, bis ihr die Not oder- was hier entscheidend ist: -die "Gewalt einer vereinheitlichender Dezision" ein Ende mache 38 ; und schließlich iii) weil die angenommene Offenheit der Verfassungsbestimmungen (kein unabänderlicher Kern der Verfassung) die Ununterscheidbarkeit von kommissarischer und souveräner Diktatur tatsächlich plausibel macht. Es ist zweifelsohne richtig, daß Schmitt die Dezision gerade vom Reichspräsidenten erwartet hatte - übrigens aufgrund einer positiven Kompetenzbestimmung der WRV, die nicht einmal konkretisierungsbedürftig war. Hätte in dieser Situation ein anderes Organ, etwa ein Verfassungsgericht, die Entscheidung erzwingen wollen, so wäre dies in nicht kleinerem Maße "Diktatur" gewesen. Die Ununterscheidbarkeit der beiden Arten von Diktatur würde in beiden Fällen davon abhängen, was in der Verfassung beschlossen wurde: ein gelähmter Staat oder aber der Vorrang irgendeines letztentscheidenden Organs? Wenn nicht einmal diese Frage objektiv entscheidbar ist, so hängt die Antwort nur noch von der subjektiven Auffassung des tatsächlich Entscheidenden (in diesem Falle von der des Reichspräsidenten) ab. Souverän wäre seine Diktatur (auch für ihn selbst), wenn er der Überzeugung wäre, daß die Verfassung das erstere wollte und er trotzdem das letztere durchzusetzen versuchte, oder umgekehrt, wenn er der letzteren Meinung wäre, den Zustand der Handlungsunfähigkeit jedoch tolerieren würde (souveräne Diktatur durch Unterlassung). Insbesondere würde die Beurteilung nicht von der Rechtsauffassung anderer Organe, erst recht nicht von der Meinung privater Rechtsgelehrten, abhängen. Wobei n.o~hmal hervorzuheben ist, daß die Diktatur des Reichspräsidenten (weniger heroisch oder apokalyptisch ausgedrückt: die Praxis von Notverordnungen) faktisch gesehen sowohl für Schmitt als auch für den Reichspräsidenten eine kommissarische Diktatur war, die zur Wiederherstellung der Normalität, der Handlungsfähigkeit parlamentarischer Regierungen dienen und sich selbst durch die Erreichung dieser Ziele überflüssig machen sollte. 38

L&L 309.

5. Die Grundsituationen des Handeins

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Die Schwierigkeit, den Charakter der präsidentiellen Diktatur objektiv zu beurteilen, entsteht also aus einem analogen Grunde wie im "Naturzustand": es sind keine eindeutig auslegbaren und unmittelbar justiziablen Normen vorhanden. (Schmitt verglich die Weimarer politische Wirklichkeit des "aus Schwäche" totalen Staates gelegentlich explizit mit dem Naturzustand.) Die objektive Ununterscheidbarkeit von kommissarischer und souveräner Diktatur ist daher ein Spezialfall unserer These von der U nunterscheidbarkeit 39 . Hofmanns These meinte jedoch etwas anderes: die subjektive Ununterscheidbarkeit für Schmitt. Darauf bezogen ist sie unrichtig. Die Tatsache, daß die beiden Arten von Diktatur für Schmitt sehr wohl unterscheidbar waren, hat eine weitere Implikation für Hofmanns Gedankengang. Die unbewiesen angenommene Ununterscheidbarkeit der beiden ist die einzige Grundlage für Hofmanns weitere These, daß Schmitts Diktatur des Reichspräsidenten das "bürgerliche Gegenstück" zur marxistischen Diktatur des Proletariats ist40 . In Wirklichkeit hielt Schmitt die Diktatur des Proletariats für eine souveräne Diktatur, weil sie keine bestehende, positive Verfassung wiederherstellen, sondern eine neue (wahre oder geschichtsphilosophisch richtige) Verfassung herbeiführen, oder genauer gesagt: mit der tendenziellen Abschaffung des Staates Verfassungen überhaupt überflüssig machen will. Dagegen war die Diktatur des Reichspräsidenten niemals in irgendwelchem revolutionären Sinne oder aber als Staatsstreich verstanden, sie brachte "nicht ein neues staatliches Prinzip zur Geltung", sondern sie suchte die "geltende Verfassung [...] zu schützen" 41 • Die Richtigkeit der "Gegenstück"-These hängt also von der "Ununterscheidbarkeitsthese" Hofmanns ab und fällt auch mit ihr. So stürzt einer der Eckpfeiler, die die These über Schmitts Entscheidung gegen den status quo unterstützen sollen, ein.

40

V gl. den Abschnitt 3-1 oben. Hofmann 124.

41

stBN 260.

39

7*

Zweiter Teil 6. Das Politische als Konsens: Bl 6-l. Die Theorie, die Theodor Litt in seinem "Individuum und Gemeinschaft", dem methodologischen Vorbild für Smends Integrationslehre, entwickelt hat, ist nicht die des Politischen oder des Staates, sondern die des "Sozialen". Die Theorie des "geschlossenen Kreises" 1 ist ein Interaktionsmodell mit mehr als zwei Akteuren, das einige Motive der strukturell-funktionalen Soziologie vorwegnimmt. Die erste Stufe des Modells ist die der primären (face to face) Gruppe- "jeder kenntjeden" 2 • Die Mitglieder stehen zueinander in unmittelbaren, gegenseitigen Beziehungen des Gebens und Nehmens. Dieser Prozeß, sprachlich überflutet durch ein "dialektisches" Vokabular (Wechselwirkung, Verschränkung usw.) bzw. eine Metaphorik des "Lebens" (durchpulsen, schöpferische Unruhe, System von Polantäten usw.) erweist sich bei nüchternem Hinsehen als das Grundelement der utilitaristischen Theoriebildung: ein Tauschakt von Gütern körperlicher und geistiger Natur. Der geschlossene Kreis werde wegen seiner quantitativen Ausdehnung bzw. infolge historischer Widrigkeiten zeitlich und räumlich unterbrochen. Daß er nicht auch zerstört wird, verdanke sich der "sozialen Vermittlung" 3 . Das sind teils Handlungen zwischen wirklich anwesenden Subjekten (Kommunikation: Diskussion und Erziehung), teils sind sie aufvergegenständlichte Kulturobjekte (kollektive Erinnerung, Geschichtsbewußtsein, diffuses Gefühl bzw. Symbole der Zusammengehörigkeit usw.) gerichtet. Wegen der Herauskristallisierung gewisser Zentren (Träger der sozialen Vermittlung) löst sich die ursprüngliche, strukturlose Homogenität der Gruppe auf, und auch der Anspruch aufWechselund Gegenseitigkeit wird immer weniger haltbar. Mit Hilfe dieser Mechanismen überstehe die Gesellschaft Generationenwechsel und gewaltsame Teilung und verkrafte die Ausdehnung bzw. die Verschmelzung mit anderen Gruppen. Diesem letzteren Vorgang scheint nichts, insbesondere kein Widerstand gegen die Auslöschung von Gruppenidentität, im Wege zu stehen. Litt vervollständigt folgerichtig seinen geschlossenen Kreis bis zum Idealbild der maximal verschränkten Gemeinschaft, der "Kulturmenschheit"4 • Die soziale Vermittlung und Verschränkung bringen zwar ein "Ganzes", nicht jedoch unbedingt eine Einheit (allenfalls eine latente Einheit) hervor 5 • Denn z. B. I

2 3 4

Litt (I) Litt (I) Litt (I) Litt (I)

234 f. 266. 267. 296 f.

6. Das Politische als Konsens: BI

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der Komplex gegenseitiger Verträge rechtfertigt nicht, den Markt als eine Institution mit einheitlichem Willen zu betrachten. Andererseits ist auch die gegenseitige Befehdung ein Modell des geschlossenen Kreises, ohne daß einem die Assoziation von Gemeinschaft, geschweige denn von Einheit aufkommen würde. Um die Eindeutigkeit der Theorie zu erzwingen, klammert Litt den Konflikt, die "Bekämpfung des Andersartigen" ausdrücklich aus. Zwar erwähnt er die Möglichkeit, daß die Gemeinschaft in mehrere Kreise desintegriert wird. Doch die Feindschaft und der Kampfbleiben flüchtige Andeutungen, und selbst das gewaltsam Getrennte bleibe "ewig verbunden" 6 • Diese, innerhalb der "formalen" Soziologie bleibende Konstruktion interessiere sich "einzig um die Wesensverknüpfungen der Lebenseinheiten, nicht um deren Auswirkung in den Handlungen organisierter Willensverbände" 7 und auch nicht um die Institutionen des "geregelten und vereinheitlichten Handelns" 8 • Kurz: Litts Individuum und Gemeinschaft untersucht nur, was vom Gemeinwesen nach dem sorgfältigen Entfernen des Staates übrig bleibt. Dies sollte eine methodologische Grundsatzfrage ins Bewußtsein heben. Man zerstöre "das Gefüge des lebendigen Geistes, wenn man den Staat aus ihm herauslöse" -so eine spätere Bemerkung Litts 9 • Kann man dann noch sagen, daß die in seinem Hauptwerk angewandte Methode wirklich eine geisteswissenschaftliche war? Daß die hier skizzierte konsensuale Theorie zur Erfassung des Politischen ungeeignet ist, hat kein anderer besser gezeigt als Litt selbst. Das Politische und das Soziale seien strukturell verschieden, sie können nicht als die Spielarten desselben Verhaltens einander nebengeordnet werden. Man müsse "die Eigenart des Politischen gegen den Versuch der Grenzverwischung" verteidigen 10 • Im Staate müssen getrennte, ja verfeindete Interessen zum Zusammenwirken vereinigt werden 11 • Doch "anders als die freien Geistesmächte", halte der Staat auch den Widerstrebenden bei sich fest, er sei dem Sozialen vorgeordnet, er schaffe den befriedeten Zustand - die Gesellschaft - und garantiere ihren Bestand. Keine der beiden Funktionen könnte er wahrnehmen, wenn er dabei nur "kooperativ" und "partnerschaftlich" verfahren würde 12 • Sein spezifisches Mittel sei die physische Gewalt, die dem "Hin und Her der Diskussion" ein Ende bereite und das Vielerlei der Interessen zur Einheit bringe. Das letzte Integrationsmittel sei die Entscheidung, der Staat ist ihre "zur Form gediehene Instanz" 13 • Litt (I) 280. Litt (I) 392 f., 243 f., 250 ff. 1 Litt (I) 392. 8 Litt (I) 410. 9 Litt (V) 59. 10 Litt (IV) 56. 11 Litt (IV) 47. 12 Litt (II) 52. 5

6

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Zweiter Teil

Der Kampf, aus dem der Staat als eine Friedensordnung hervorgehe, sei ein Konstruktions- und Lebensprinzip der Demokratie 14 . Nur ein "undifferenzierter Friedensgedanke" könne in Abrede stellen, daß Konflikt und Kampf zum Wesen der Politischen gehörten 15 • Die "Wahrhaftigkeit" verbiete, "den Ernst der politischen Wirklichkeit durch Schönfärberische Vorstellungen zu verschleiern", denn dies bringe nur die Gefahr der Steigerung der Feindschaft, die Vergiftung des politischen Kampfes, den "heiligen Krieg" gegen das RadikalBöse, das "mit allen Mitteln des Daseins" ausgetilgt werden solle 16 • Das alles klingt nach einer umfassenden und getreuen Rezension Schmittscher Gedanken, denen sich Litt nicht verschließen kann: "Soweit die Theorie von Schmitt es sich angelegen sein läßt, diesem Moment zu seinem Recht zu verhelfen, ist ihm nicht zu widersprechen" 17 • Das ist nun eine wichtige Feststellung. Litt entgeht nicht, wie sehr er in das "zwielichtige" Umfeld des Begriffs des Politischen geraten ist, dessen" vernünftigen Kern" er soeben so offenherzig dargelegt hat. Die weitgehende Übereinstimmung mit der "existenziellen Kampformel" erfordert eine differenzierte Distanzierung Schmitt gegenüber. "In der Absage an Carl Schmitt liegt ein klares Bekenntnis Litts zu einer auf Konflikt und Kampf bis zur äußersten Auseinandersetzung gestellten Sicht des Politischen" -das klingt bisher nicht gerade nach Absage. Daran ändert auch die Fortsetzung des Satzes wenig, sondern sie legt eher das Ritual mancher Schmitt-Kritik offen: "der gegenüber die Aufgabe des Friedens und des Rechts dargelegt wird" 18 . Litt selbst formuliert noch eindeutiger: bei Schmitt gelten die Feindschaft und der Kampf nicht wegen ihrer ordnungsstiftenden Bestimmung, sondern um ihrer selbst willen, ja sie hätten "ihr sinngebendes Endziel" in der physischen Vernichtung des Gegners 19 • Lassen wir es vorerst dabei bewenden: nicht ihr sachlicher Gehalt soll die beiden Auffassungen voneinander unterscheiden, sondern ihre Intention eingestanden gut bei Litt, der Vermutung nach verwerflich bei Schmitt. Als das Fazit dieser Übersicht ergibt sich nun eine interessante "Dreierbeziehung". Smends summarische und rabiate Abrechnung mit der Staatstheorie seiner Vorgänger und Zeitgenossen baute auf Sand. Denn die Methode, die Smend als die Grundlage seiner Staatslehre fruchtbar gemacht haben soll 20 , 13

L itt (II) 72 f.

14

Litt (IV) 55. So Scheuner 190. Litt (IV) 54. Litt (IV) 53. Scheuner 187, FN 37. Litt (IV) 58. Smend (I) 119. Vgl. auch Scheuner 182, mit weiteren Hinweisen.

1s 16 17 18 19 20

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wurde von Litt unmißverständlich für dazu ungeeignet erklärt, und er hat eine eigene Theorie des Politischen entwickelt, die mit Smends rein konsensualem Ansatz nicht vereinbar ist. Um so mehr stinunt sie (zumindest in ihrem "sachlichen Gehalt") mit Schmitts Begriff des Politischen überein-den Smend wiederum kurzerhand als "unglücklich" abtut 21 (wohlgemerkt: zunächst ohne schauderhafte Absichten dahinter zu argwöhnen). 6-2. In einer späteren Kurzfassung hat Smend seinen Entwurfzur Verfassungslehre auf den Punkt gebracht. Der Staat beruhe letztendlich nicht auf seinem Recht und seiner tatsächlichen Macht, sondern "auf der immer freiwilligen Zustinunung seiner Angehörigen" 22 . Damit hat er die Eigenart des Prozesses "Integration" schlagartig präzisiert. Die zwei Pole eines jeden Integrationssystems, die zwei "Momente" der Integration, sind die sachlichen Werte bzw. deren dynamischer Konterpart, die funktionelle Integration (die sog. "personale" Integration stuft Smend als eine Spielart der sachlichen Integrationsfaktoren ein). Der Staat sei "Wertverwirklichung", das einheitliche Erlebnis einer "Werttotalität" 23 • Nicht als extensive Totalität (etwa als eine Summe von Werten oder Zwecken) werde der Staat erlebt, sondern nur als eine intensive "Wertfülle", und nicht einmal diese könne direkt in ihrer Komplexität wahrgenommen werden, sondern nur als symbolisierter und repräsentierter Wertgehalt An diesem Punkt offenbart sich eine Schwierigkeit der Integrationslehre im Ansatz, die im Laufe der Ausführung immer größere Ausmaße annimt. Smend spricht anfangs von einer "ungeheuerlich" großen, später geht er unmerklich zur "unausschöpfbaren", Wertfülle über. Das ist natürlich ein aliud. Führt man die Legitimitität oder ihre verschiedenen Grade auf den Wertgehalt des Staates zurück, dann schließt die allumfassende und undifferenzierte Wertfülle gerade jede Möglichkeit aus, zwischen verschiedenen Legitimitäten zu unterscheiden. Zwei individuelle Staaten als Träger derselben Wertfülle könnten sich voneinander allenfalls darin unterscheiden, was wertindifferent oder gar wertlos ist. Auch der Widerstand des einen, gegen Versuche des anderen, ein gemeinsames Integrationssystem zu schaffen, müßte auf der Unwertseite liegen. Aus demselben Grunde wäre die Voraussetzung des Rechtsstaates, ein Konflikt zwischen Staat und Individuum, nicht denkbar. Besser gesagt, man müßte folgern, daß im Falle eines Konflikts der eine von den beiden in betrügerischer Absicht versucht, wertindifferente Inhalte oder Unwerte für Werte auszugeben. Die unausschöpfbare Wertfülle absorbiert jeden konkreten Inhalt, und das Besondere erscheint nur noch als ein heterogener, unorganischer Zusatz. 2t 22 23

Smend (I) 219, FN 11. Smend (III) 485. Smend (II) 162.

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Zweiter Teil

Die "unausschöpfliche" Wertfülle zielt offensichtlich darauf ab, die Bindung des Individuums an die Gemeinschaft, an den Staat, als einen höchsten Wert zu rechtfertigen. Diese Formulierung des Problems wäre präziser und frei von den oben gezeigten Schwierigkeiten. Man kann es, von der subjektiven Seite her, so ausdrücken, daß das integrierte Individuum den wohldefinierten Wert: "Zugehörigkeit gerade zu diesem Staat" als das größte Element seiner Präferenzordnung betrachtet. Oder man kann, von der objektiven Seite her, sagen, daß Integration ein höchstes Ziel, ein höchster Wert des Staates ist. Smend wählt diesen zweiten Weg, und die unbestimmte Wertfülle rinnt unmerklich zu einem "formalen" Wert (eben dem "Integrationswert") zusammen. Er wird als das Gebot der Selbsterhaltung des Staates, als Selbstzweck, als "einzig wesentliche Aufgabe" der Verfassung präzisiert24 • Integration um der Integration willen ist nun offenbar keine überwältigende Staatsidee. Der Integrationswert "ist eben kein Wert" , er kann keine dauerhafte Legitimität begründen (auch der brutalste Unrechtsstaat werde zu einer politischen Einheit integriert 25 ). Daher muß sich Smend auf weitere Konkretisierungen einlassen. So kehrt die ganze Materie der von ihm verpönten positivistischen Staatstheorie über die "Staatszwecke" auf einem Umweg wieder. Der Staat hat Rechts- und Wohlfahrtszwecke, ihre Verwirklichung ist also ein Wert. Das Novum der Integrationslehre soll nun darin bestehen, daß diese Zwecke nicht für sich gelten, sondern sie werden dem Integrationswert untergeordnet. Sie sind bloß "technische" Zwecke, ihnen kommt die Würde eines Integrationswertes nicht zu. Diese "mit aller Schärfe" betriebene Abgrenzung kann man schlecht nachvollziehen. Denn man kann nicht abstrakt "integrieren", die Einheit kann nur durch die Entscheidung eines inhaltlich definierten Konflikts herbeigeführt werden. Die technischen Zwecke und Werte werden notwendig zum Vehikel des Integrationswertes. Die Möglichkeit der Wahl, einen konkreten Wert entweder isoliert zu betrachten oder aber ihn auf den Integrationswert zu beziehen, verleiht dem Wertgefüge in der Tat etwas "Fließendes". Die bloße Möglichkeit, einen gegebenen "Sinnzusammenhang" zu erweitern oder zu verengen, ist immer gegeben. Denn es ist eine Frage der Dezision, wo man die teleologische Zurechnung abbricht. Der Verweis auf den Sinnzusammenhang der Verfassung, auf das "Ganze", das "Wertsystem" usw. ist immer eine Aufforderung, die Zurechnung über das Gegebene oder Vereinbarte hinaus zu verlängern. Es ist ein handfestes Interesse damit verbunden, zumindest im Bezugssytem der Integiationslehre. Denn bloß "technische" Zwecke unterliegen dem Gesetz, der Verfassung. Wenn sie jedoch unmittelbar der "Integrationsaufgabe" zugerechnet werden dürfen, erlauben sie nicht nur, sondern fordern sogar eine "von aller sonstigen Rechtsauslegung weit abweichende Verfassungsauslegung" 26 • Die 24 25 26

Smend (II) 197. So Kaufmann (III) S. XXXIV. Smend (II) 190.

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rechtstaatliche Begrenzung des "Sinnzusamrnenhangs" wird aufgeweicht und dem politischen Wettlauf anheimgegeben. Wer die Ansicht, seine Handlung erstrebe nicht nur den unmittelbaren technischen Erfolg, sondern darüber hinaus die "Integration", durchsetzen kann, hat Anspruch auf Exemtionen aus der Verfassung. Der Kampf um die Begriffe konkretisiert sich als ein Ringen um die richtige Zurechnung, den richtigen "Sinnzusammenhang", und eine konkrete politische Forderung wird als die "Wertgesetzlichkeit des Geistes" getarnt. Die staatliche Einheit werde nun nicht ausschließlich durch einen integrierenden Sachgehalt garantiert. Der Staat als eine bloße Wertegemeinschaft wäre eine Utopie - das gelte insbesondere für die marxistische Theorie von der Abschaffung der Herrschaft. Der Staat erlange seine Einheit vermöge sämtlicher Integrationsfaktoren. Das bedeutet, daß zu den sachlichen Gehalten die Wirklichkeit des politischen Lebens, eine Welt der "lebendigen und deshalb kämpfenden und in diesem Kampf den Staat bildenden[...] Willen" hinzutrete 27 • In dieser Formel scheint das Politische, in demselben Sinne wie bei Litt oder Schrnitt (B2), zur Geltung zu gelangen. Dafür spricht etwa auch die Feststellung, daß sich der Staat "trotz aller Passivität und Widerstände Einzelner und ganzer Gruppen, ja überwältigender Mehrheiten" verwirkliche 28 • Dies erweckt nicht gerade die Assoziation vom ungetrübten Konsens. Die integrierenden Funktionen sind vor allem die Vorgänge der Willensbildung. Sie verfolgen keinen bestimmten sachlichen Gemeinschaftszweck, sondern nur eine "zwecklose integrierende Wirkung" (wie schon oben gesehen). Smend kennt zwei Grundformen: den "verfassungsmäßig vorgesehenen Kampf'' (Vertrag, Abstimmung, Wahlen, parlamentarische Kabinettsbildung usw.), und die Herrschaft. Die letztere ist die "allgemeinste Form funktionaler Integration", die die Bildung und Äußerung des herrschenden Willens zum Ziel habe 29 • Diese beiden Vorgänge könnten ihre integrierende Funktion nur unter zwei Bedingungen erfüllen: es muß erstens eine Wertegemeinschaft vorhanden sein, die durch den politischen Kampf nicht in Frage gestellt wird, und zweitens muß sie eine "Erlebnisgemeinschaft" sein. D.h.: der einzelne muß am Kampf tatsächlich teilnehmen, wobei die Intensität der Beteiligung usw. von den Umständen abhängen mag. Hier fallt auf, daß die formale Integration das wichtigste Moment (auf das es hier alleine ankommt!) ohne weitere Erklärung voraussetzt. Die Wertegemeinschaft ist vorhanden, sonst funktioniert die Konstruktion gar nicht. Die Frage, wie sie zustandekommt, wird umgangen. Denn die formalen Integrationsfaktoren schaffen sie nicht. Das führt Smend vortrefflich ins Auge, ohne sich der Folgen der Klarstellung bewußt zu werden: Obstruktion von Parteien und 27 28 29

Smend (11) 174. Smend (11) 171. Smend (II) 145 ff.

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Zweiter Teil

Interessengruppen, partikularistische Transaktionen in einem "problematischen Nationalitätenstaat" usw. sind Formen der Ausübung von lntegr~tionsfunktio­ nen mit dem Ziel der Desintegration 30 ! Die Teilnahme am Integrationsprozeß kann die Bindung an die Gemeinschaft allenfalls bei denjenigen verstärken, die sich ihr ohnehin schon zugehörig fühlen, und braucht keine Partizipation bei denjenigen herbeizuführen, die sich nach einer anderen Gemeinschaft sehnen. Wenn man die Integration in die Bahnen des Verfassungsmäßigen hineinzwängt, dann ist es natürlich folgerichtig, daß dem "Kampf' die Ernsthaftigkeit und Intensität des Existenziellen fehlt. Er entspricht bei Smend allenfalls dem, was bei Schmitt das Politische in "sekundärem" Sinne ist. Er löse sich in einer "wohltuenden Entladung von Spannungen, einer Katharsis, ähnlich wie beim Ausgang eines Spieles" 31 • Auch die Herrschaft wird, unter diesem Aspekt des olympischen Ideals, zur Idylle: sie sei nur eine Verwirklichung von Werten, die Lebensform der Gemeinschaft, die durch diese Werte zusammengehalten wird und in welcher Herrscher und Beherrschte in einer geistigen Wechselwirkung stünden. Wir können also feststellen: was Smend hier beschreibt, ist nicht das Politische als Konflikt, sondern allenfalls das Agonale 32 . 6-3. Der herkömmliche Gesellschaftsvertrag wollte die Herrschaft nicht nur legitimieren, sondern die Einheit überhaupt hervorbringen. Das durch den ursprünglichen Akt beschlossene allgemeine Prinzip (die Festlegung eines Verteilung- oder Gerechtigkeitsprinzips, die Einsetzung einer höchsten Entscheidungsinstanz usw.) bringt die Vielheit der Handlung zur Einheit. Das Problematische an dieser Reduktion konnte weder dem Naturrecht noch dem mit ihm (zumindest in dieser Hinsicht) verwandten Positivismus einleuchtenübrigens aus einem Grund, den man ihnen nicht anlasten kann. Solange nämlich der Glaube an die Leistungsfahigkeit der Subsumtion ungebrochen war, reichte ein einmaliger Willensakt aus, um die Vielfalt des Handeins subsumtiv, also ohne weitere Willensakte zu bewältigen. Daß zumindest die Anfänge der "Deduktion" nicht mehr als irgendwie gegebene Wahrheiten, Normen oder Werte galten, sondern aus Dezision hervorgehen mußten, war ein Schritt zur handlungs- (entscheidungs-) theoretischen Rekonstruktion des Staates, dessen Bedeutung nicht hoch genug geschätzt werden kann. Wenn der herkömmlichen Vertragstheorie ein einmaliger ur~ptii,nglicher Akt als hinreichend erschien, um mit der alltäglichen Entscheidungsmasse fertig zu werden, so gewiß nicht, weil ihr das "Prozeßartige", der "Wandel" oder das "Dynamische" des Lebens entgangen war. Sondern dieser Glaube entsprang der theoretischen Überzeugung, daß all das Besondere, das sich im Alltag ergibt, aus dem allgemeinen Prinzip subsumtiv, d. h. ohne weitere 30

31 32

Smend (II) 156, 165. Smend (II) 151. Freund (li) 79 ff.

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Willensakte, bewältigt werden kann. Die "statische" Perspektive der herkömmlichen Vertragstheorie wie des Positivismus war nur die Kehrseite des begriffsjuristischen Glaubens: ein jedes System des Rechts oder der Handlung sei vollständig (lückenlos) oder könne zumindest im Prinzip (d. h. nicht-konstitutiv) vervollständigt werden. Diese Vorstellung wurde, wie schon öfters erwähnt, durch die neuzeitliche Wendung der Judikatur erschüttert. Die obersten Prinzipien, Normen und Wertvorstellungen sind keine unmittelbar judiziablen Rechtssätze, sondern vielmehr Generalklauseln oder aber "Zwecke" (Gerechtigkeit, Wohlfahrt, Menschenwürde usw.), die mit unterschiedlichen, ja entgegengesetzten Mitteln verwirklicht werden können. Es ist eine kaum bestrittene Erkenntnis der Grundrechtsjudikatur, daß solche Bestimmungen erst nachträglich, durch Konkretisierung gefüllt werden 33 • Die Reduktion der Vielfalt ist nicht mehr durch Subsumtion zu leisten. Daß auch Smends "tägliches Plebiszit" in Wirklichkeit eine tägliche Dezision ist, ergibt sich schon aus der Standortsbestimmung der Integrationslehre, aus dem Vergleich mit Hellers und Schmitts "souveräner Dezision": die Integrationslehre versuche "die Wirklichkeit dieser Dezision als politischer Selbstgestaltung nachzuweisen" 34 . Auch die Integration durch die Verfassung liege nicht anders als die Konstituierung sonstiger Gruppen. Nur das "formaljuristische" Denken verstehe darunter den Einzelakt der Gründung. Der Konstituierungsakt müsse vielmehr jeden Augenblick erneuert, immer wieder neu hergestellt werden. Das ist der eigentliche Kern der Integrationslehre. Smends Feststellung, eine Verfassung sei "nicht nur Norm,. sondern auch Wirklichkeit" 35 , geht auf das Gleiche hinaus. Man kann sie begriffiich auf zweierlei Art auf den Punkt bringen: a) Smend betont das "dynamische" Moment gegenüber dem "statischen, oder aber b) das "Besondere" neben dem abstrakten "Allgemeinen", der Norm. Es ist ein wichtiger und zutreffender Gedanke, daß eine Institution, ein Recht usw. nur abstrakt existieren, wenn etwa der Zweck der Institution nicht mehr verfolgt, das Recht nicht geltend gemacht werden. Es wäre zugleich unzutreffend, wenn man hier ein spezifisches Merkmal der Integrationslehre entdecken wollte. Die VL unterscheidet sich von ihr nicht dadurch, daß Schmitt für eine statische, Smend für eine dynamische Variante der volonte generate optiert. Denn die überragende Bedeutung, die Schmitt der Dezision zuschreibt, erlaubt ihm keine Rückkehr zur herkömmlichen Vertragstheorie. Andererseits setzt Smend, genauso wie Schmitt, sehr wohl Verfassungsnormen voraus, die "ausdrücklich als starr und unelastisch gegenüber jenen fließenden soziologi33 34 35

Müller (III) 168 ff. Smend (li) 186. Smend (li) 192.

Zweiter Teil

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sehen Mächten gemeint sind" 36 • Die Betonung des Dynamischen und des Prozeßartigen verliert ihre unterscheidende Kraft gegenüber einer Theorie, für die die Dezision eine zentrale Kategorie ist. Das gilt sogar, wegen ihres verkappten Dezisionismus, für die Reine Rechtslehre. Denn Kelsens Grundnorm wird nur dort "vorausgesetzt", wo die Gemeinschaft bereits "integriert" wurde, d. h. ein rechtssetzendes Subjekt sich durchgesetzt hatte. Die Ausübung des Zweckes, die Wahrnehmung des Rechtes usw. übersetzen beide "ins Leben". Falsch ist jedoch die Ansicht, daß jeder Akt der Ausübung den ursprünglichen Akt "erneuert". Wer ein Rechtsgeschäft abschließt, erfindet keineswegs den Vertrag und setzt ihn nicht als Rechtsinstitut durch, und wer heiratet, gründet keineswegs die Institution der Ehe neu oder überhaupt. Erst recht übt derjenige, der eine Petition einreicht oder die Freiheit zur Meinungsäußerung in Anspruch nimmt, keineswegs ein Stück Verfassunggebung aus. Ein Recht erkämpfen und durchsetzen einerseits, und es ausüben andererseits, sind Handlungen, die man strengtens auseinanderhalten müßte, auch wenn - oder besser: gerade weil- der obige Zusammenhang zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen besteht. Gerade aus diesem Grunde ist die innerhalb des Integrationssystems täglich ausgeübte Dezision keineswegs immer souverän, selbst wenn sie evtl. letztinstanzlieh ist 37 • Auch der abstrakt ausgesprochene Zusammenhang zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen muß etwas verfeinert werden. Er besteht gewissermaßen nur "negativ": wenn das Besondere dem Allgemeinen inhaltlich widerspricht, dann können nicht beide gleichzeitig bestehen. Wenn eine Norm dauerhaft verletzt wird, ohne daß eine Sanktion erfolgt, so kann man mit gewissen Vorbehalten sagen, daß die Praxis der Rechtsprechung sie stillschweigend kassiert hat. Jedenfalls wäre die Behauptung, daß sie noch gilt, ohne jede praktische Bedeutung, und es wäre ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz, wenn man sie hin und wieder anwenden würde. Es ist jedoch eine vollkommen andere Situation, wenn eine Norm nicht angewandt wird, weil ihr Tatbestand dauerhaft nicht erfüllt wird. Die nicht angewandte Norm, das nicht wahrgenommene Recht "leben" vorerst nicht, doch dies bedeutet zunächst nur ihren "Scheintod". Das Allgemeine hat sich gewissermaßen verselbständigt, und es ist unzulässig, aus der Nichtexistenz des Besonderen auf die des Allgemeinen zu schließen. Das ist nichts weiter als eine äquivalente Umformung der Feststellung, daß vom Allgemeinen {aus seiner Existenz oder seinem Inhalt) kein Schluß auf das Besondere zulässig ist. 6-4. Wir wiederholen: Nach dem Entfallen des begriffsjuristischen Glaubens ist eine Kluft zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen entstanden, die durch Subsumtion nicht mehr zu füllen ist. Es erhob sich gleichzeitig die Forderung, die Kluft durch neuartige Verfahren zu schließen, und sie führte in 36 37

Smend (II) 189. So aber Smend (li) 196.

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der Methodenlehre zur Aufwertung verschiedener Spielarten des Dezisionismus. Auch die Wandlung der Vertragstheorie im 20. Jahrhundert, insbesondere in der Form der continuing contract (Buchanan) folgt, auf unabhängigen Wegen, dieser Forderung. Daran ändert nichts, daß sich Buchanan gelegentlich klassische begriffsjuristische Vorstellungen zu eigen macht 38 • Buchanan setzt beim ursprünglichen Vertrag an, welcher die natürliche Distribution, das Gleichgewicht des Urzustandes Hobhesseher Prägung in den Rechtszustand verwandeln soll 39 • Der Urakt ist folgerichtig ein Friedens- oder Abrüstungsvertrag- ein Sieg auf der einen, eine Kapitulation auf der anderen Seite. Er enthält die Entscheidung, daß der status quo, die aktuelle Machtverteilung respektiert wird 40 • Daß diese Vertragstheorie die Zeitdimension mit berücksichtigt, ist der sinnbildliche Ausdruck dessen, daß die Verwirklichung des allgemeinen Prinzips nicht nur unproblematische "Anwendung" ist, sondern ein wesentlicher Bestandteil der Theorie selbst. Das Leben des Gemeinwesens entfaltet sich nach Smend im Prozeß des permanenten Kontraktierens. Es scheint also, von methodologischen und wertphilosophischen Eigenheiten abgesehen, daß die Integrationslehre gerade das System des continuing contract vorweggenommen hat. Dem ist jedoch nicht so. Denn bei Buchanan behält der ursprüngliche Vertrag seine ausgezeichnete Stellung, und dies garantiert, daß der Prozeß einen wirklichen Sinnzusammenhang, ein wirkliches und nicht nur gedachtes Zentrum hat. Es gilt, so fließend der Prozeß auch immer sein mag, welche Korrektionen auch immer vorgenommen werden, daß der Verfassungsvertrag nicht angetastet werden darf. Mit anderen Worten: die statische Auffassung der alten Vertragstheorien wird bei Buchanan nicht durch einen dynamischen Prozeß ersetzt, sondern durch ihn ergänzt. Im Gegensatz hierzu scheint die Wendung, die die Staatskonstruktion durch Smends Dynarnisierung erfährt, darin zu bestehen, daß die ursprüngliche Dezision preisgegeben wird. Es geht dadurch nicht so sehr eine historisch lokalisierbare Wertentscheidung verloren, sondern das zentrale oder höchste Prinzip, dem die tägliche Dezision untergeordnet oder zugerechnet werden könnte. Die Gemeinschaft wird zwar immer wieder neu integriert, ihre Identität kann jedoch dabei verlorengehen. Es ist unter diesem Gesichtspunkt sehr aufschlußreich, wie Smend eine Rousseau-Interpretation kommentiert. Hauriou habe zu zeigen gesucht, die 38 So spricht er z. B. davon, daß der sog. "produktive" Staat (die Verwaltung), dessen Entscheidungen ohne moralische oder Interessenbewertung nur Tatsachen feststellen, letztendlich durch einen "Automaten" ersetzt werden könne (Buchanan 95 ff.). 39 Buchanan 24ff. 40 Buchanan 59.

Zweiter Teil

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volonte generate sei eine soziologische Realität, die den Staat trage. Sie sei nicht so sehr als einmaliger, punktueller Vertrag, sondern als die Dynamik des täglichen Plebiszits zu verstehen 41 • Es ist unerheblich, ob diese Auslegung des contrat social Rousseaus Absichten gerecht wird. Wichtiger ist, daß Smend gerade das für Hauriou Wesentliche preisgibt. Denn der Gegenstand des Staatsvertrags, der "bloc des idees incontestables", in dem Schmitt seine eigene Lehre vom unabänderlichen Kern der Verfassung vorweggenommen und zugleich bestätigt sieht, wird durch Smend mit einer Bemerkung über "einer gewissen antikisierenden Starrheit" der idees politiques abgetan. Diese Bemerkung offenbart den Grundzug der Integrationslehre: die Dynamik der täglichen Integration (Vertrag, Entscheidung, Konsenstindung usw.) wird gegen die "Starrheit" der ursprünglichen Dezision ausgespielt, und damit wird auch jede Grenze der Verfassungsänderung beseitigt. Das ist der Grund, warum Schmitt gegen die Integrationslehre polemisiert: die restlose Dynamisierung führe zu Desintegration42 • Man kann hiergegen einwenden: Smend habe ausdrücklich vorausgesetzt, daß die ursprüngliche Wertegemeinschaft bestehen bleibt. Doch gerade dies belegt am besten, daß die Identität des Staates, bei seiner gleichzeitigen restlosen Dynamisierung, nur durch einen "transzendentalen" Akt gewährleistet werden kann. Die Entscheidungen, die den "nicht-diskutierten" Werten zur Geltung verhelfen, werden aus dem lntegrationsprozeß herausgenommen, sie verlieren überhaupt ihren Entscheidungscharakter und verblassen, genauso wie bei Kelsen, zu einer bloßen Voraussetzung. 6-5. Zur Verfassunggebung gehört "immer ein handlungsfähiges Subjekt": der Souverän, die "politische Einheit des Volkes", der "Staat", die "verfassunggebende Gewalt" 43 • Diese Feststellung unterscheidet die VL von anderen konsenstheoretischen Konstruktionen, die einen Konsens ohne Subjekt annehmen. Schmitt fordert ein Subjekt, dem alle staatlichen Handlungen, insbesondere die Verfassunggebung, zugerechnet werden44 • Es hat dieselbe oder zumindest eine analoge Funktion wie die Verbandsperson für den innerstaatlichen Verband. Anfangs betonte Schmitt noch ausdrücklich, daß es sich beim pouvoir constituant um eine juristische Fiktion handelt, die ermöglicht, den Akt der Verfassunggebung, u. a. auch den revolutionären Durchbruch oder die Beseitigung einer Verfassung aus einer bloßen Machtfrage in eine Rechtsfrage zu verwandeln. Dies geschieht dadurch, daß "eine Gewalt angenommen wird", die (ohne verfassungsmäßig begründet zu sein) für jede Verfassung "als die begründende Gewalt erscheint"45 • In der Verfassungslehre befördert sie Schmitt dagegen zu einem real existierenden Subjekt (positiver Verfassungsbegriff). 41 42 43

44

Smend (II) 182. RG 68, FN 11 . VL 21. Hofmann 132.

6. Das Politische als Konsens: BI

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Die Annahme eines verfassunggebenden Subjekts hat ihre Stärke darin, daß sie das Ordnungsproblem in seinem eigenen, spezifischen Element, in und durch Handlung (Entscheidung) begründet. Die Einwände gegen den realen Charakter des pouvoir constituant scheinen mir nicht so gravierend zu sein, denn sie wiederholen im Wesentlichen nur die Argumente gegen Gierkes Begriffvon der "realen Verbandsperson", die jedoch ihre Brauchbarkeit Ga Notwendigkeit) als Fiktion nicht erschüttern. Aus diesem Grunde greife ich aus den vielen kritischen Anmerkungen nur eine einzige heraus: Schrnitt klammere die Genese des pouvoir constituant aus. Er macht dies zwar nicht zufallig oder unbewußt. Doch dies ändert nichts daran, daß sein handlungstheoretischer Ansatz Jetztendlich im Status einer "Annahme" stecken bleibt und daher nur scheinbare Vorteile hat gegenüber konkurrierenden Annahmen (Grundnorm, Integrationsfaktoren, Minimalkonsens usw.). Für die Verfassungslehre (B1) ist es wesentlich, daß die Einheit vorhanden ist, nicht erst hervorgebracht werden soll. Schmitt stellt auch unmißverständlich klar, daß die politische Einheit nicht erst durch eine Formentscheidung konstituiert werde, sondern vor dieser Entscheidung bestehe. Insofern ist fehl am Platze, hier Schmitt eine "Zwiespältigkeit" vorzuwerfen46 • Er geht zwar bei der Besprechung der klassischen Lehre von der verfassunggebenden Gewalt (Sieyes) explizit auf die Konstituierung der politischen Einheit ein. Zugleich hält er diesen Vorgang für unerheblich: er sei nur das Bewußtwerden dessen, daß ein handlungsfahiges Subjekt (Volk) vorhanden ist. Man könne zwar sagen, daß das Volk mit diesem Akt in gewissem Sinne sich selbst konstituiere. Er ist jedoch kein Gegenstand der Verfassungslehre. "Der Akt, durch den das Volk sich selbst konstituiert, eine Verfassung gibt, [ist] von der Konstituierung des Staates zu unterscheiden" 47 • Vollständigkeitshalber muß man jedoch erwähnen, daß Schmitt an anderer Stelle auf die Konstituierung der politischen Einheit sehr wohl eingeht. Er sieht viele Gestaltungsmöglichkeiten, die letztendlich auf zwei Grundvarianten zurückgehen: i) Einheit durch "Macht" (von "oben", von "außen" her, durch Befehl) und ii) Einheit durch "Konsens" (von "unten" oder von "innen", von der substanziellen Homogenität des Volkes her, durch fortwährende Vereinbarungen und Kompromissen sozialer Gruppen).

Diese Gegenüberstellung, die dem anfangs gestellten "Ordnungsproblem" weitgehend entspricht, beherrsche die "Staatsethik des Pluralismus", dessen ethischer Sinn darin liege, daß sie nur die Einheit durch Konsens gelten lasse. D 137. Hofmanns Feststellung: der einheitliche politische Wille werde einerseits als "konkretes Sein" vorgegeben, andererseits sei er "das Produkt solcher Entscheidung", beruht auf (sehr wahrscheinlich unbewußter) Zitatenmanipulation - vgl. S. 134, 144. 45

40

47

VL 50.

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"Mit recht" 48 -so der lapidare Kommentar Schmitts. Anschließend stellt er zwei Fragen: i) Wie könne der Konsens durch Macht bewirkt werden, und ii) ob die durch Konsens herbeigeführte Macht nicht zu ethisch verwerflichen Zwecken mißbraucht werden könnte. Unter "Macht" versteht Schrnitt auch die "wirtschaftlichen, pädagogischen, psychotechnischen Mittel[...]", mit denen der Konsens erzwungen werden könne, und damit stellt er indirekt das Problem der Konsenskosten in seiner allgemeinsten Form. - Die Antwort auf die erste Frage würde den Rahmen der VL sprengen, weil sie zur konfliktualen Begründung führt. Die zweite Frage beruht auf dem Zweifel, ob die konsensuale Lösung des Ordnungsproblems ethisch unbedingt überlegener sei als die konfliktuale. Schmitt verwirft die Trennung der beiden Aspekte als eine falsche Alternative. Macht bewirke Konsens und Konsens bewirke Macht49 • Das ist zweifelsohne richtig, nichtdestoweniger die Auffassung, daß es sich um verschiedene Aspekte derselben Sache handele. Man muß sich trotzdem bewußt werden, daß die beiden Akzentsetzungen zu verschiedenen theoretischen Konstruktionen führen müssen. Im ersten Fall ist die als gegeben vorausgesetzte Macht der Erklärungsgrund. Es liegt hier nahe, den Konsens als einen differenzierten, mit Kosten verbundenen Konsens zu betrachten. Hinter der Einheit sind die Konfliktpartner noch nicht verschwunden. Es ist nicht nur eine faktische, sondern eine auch theoretisch oder normativ zu berücksichtigende Überlegung, daß die Änderung der Machtverhältnisse auf den Konsens zurückwirken würde. Im zweiten Fall ist die aus einheitlichem Handeln resultierende Macht das zu Erklärende. Hier wäre die Differenzierung des Konsenses überflüssig. Die (juristische) Fiktion des einen (einheitlichen) Willens beschreibt die Situation zweckmäßiger als die soziologische Aufnahme von Differenzen, die in der aktuellen Situation unbedeutend sind und deren Inventarisierung nur zu unnötigen Komplikationen führt. Es ist also keine natürliche oder objektive Notwendigkeit, sondern eine interessenbedingte Dezision, die zur Bevorzugung des einen oder anderen, des konflikt- oder des konsensorientierten, Modells führt. 6-6. Die typische Form, in der sich das Volk äußert, sei die " Akklamation". Die Akklamation ist ein übersteigerter Konsensbegriff, das akklamierende Volk erscheint als ein einziges Subjekt. Die Kritiker Schmitts haben in diese Vorstellung einiges hineingedeutet, ohne sich darum zu kümmern, wie Schmitt sie verwendet. Sie ist keineswegs eine nur antikisierende Marotte (Smend). Schmitt benutzt das Wort als Synonym für die "öffentliche Meinung", nicht zuletzt um Ursprung und Funktionswandel der Erscheinung ins Bewußtsein zu 48

49

StE 139f. MPSt 370.

6. Das Politische als Konsens: BI

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heben. Typisch für diese Deutung sind Wendungen wie: das Volk als unorganisierte Größe könne sich nur "auf dem Wege der Akklamation, also heute als öffentliche Meinung zur Geltung kommen" 5°; die öffentliche Meinung sei die "moderne Art der Akklamation" 51 ; das Volk als "Träger der öffentlichen Meinung und Subjekt von Akklamation" 52 • Der Akzent liegt bei Schmitt nicht auf "Meinung", sondern auf "öffentlich". Die Unterscheidung ist nicht trivial, und auf ihr beruht Schmitts Kritik an der geheimen Abstimmung, die den Abstimmenden im entscheidenden Augenblick isoliere, "Staat und Öffentlichkeit" restlos privatisiere und die Akklamation unmöglich mache 53 • Es ist angebracht, auf diesen Punkt ausführlicher einzugehen, weil Schmitt hier scheinbar das grundlegende Verfahren der modernen Demokratie angreift. Die unbezweifelte Legitimität der isolierten Abstimmung beruht nach Schmitt auf dem landläufigen Mißverständnis, der Gemeinwille sei identisch mit dem Willen aller, der volonte de tous. Man kann diese Unterscheidung auch anders auf den Punkt bringen: die Abstimmung ersetzt den politischen "Willen" mit der politischen "Meinung", verwandelt den politischen Kampf in Demoskopie. Eine politisch aktive Öffentlichkeit ist eine Wollende, nicht eine nur unverbindlich Meinungsäußernde. Wird eine Frage zur Abstimmung vorgelegt, so kann sie von allen, so oder so, beantwortet werden- auch von denjenigen, die überhaupt keine Meinung haben und sonst nichts unternommen hätten, um eine Entscheidungssituation herbeizuführen. Indiz und Maßstab dessen, daß man überhaupt und wie stark will, ist die Höhe der Kosten, die man zu tragen bereit ist. In der Abstimmung, gleich ob sie geheim oder öffentlich ist, werden nicht die aktuellen, sondern die idealen Präferenzordnungen genannt - ohne Rücksicht auf die Kosten 54. Dies verfälscht die gesellschaftliche Aggregation, täuscht eine Interessengemeinschaft, eine aktive politische Kraft vor, wo ihre wirkliche Organisation aus Kostengründen scheitern würde: der unpolitische Wille gleichgültiger Menschen "ergibt in der Addition keinen gerechterweise beachtlichen politischen Willen" 55 . Gesetzliche Regelungen, die den politischen Kampf aus einem wirklichem Konflikt in eine Abstimmungssituation verwandeln, senken die Organisationsund Konfliktskosten. Ob dies aus "demokratischem" Gesichtspunkt wünschenswert ist oder nicht, läßt sich keineswegs eindeutig beantworten, weil die Antwort selbst interessenabhängig ist. Es ist die Grundthese der Logik VL 277. Vgl. auch 83f., 279. VL 244. 52 VL 251. 53 VL 245f. 54 Schmitt nimmt eine Entwicklung vorweg (VL 245), die die Kosten politischen Handeins tendenziell auf Null senken würde: die "maschinelle" Abstimmung (etwa Parlamentswahlen durch Ausschalten des Fernsehgeräts). 55 VL 252. Über Wählerverhalten und Kosten-Nutzen-Verhältnis vgl. Downs, Kap. 14. 50 51

8 Holczhauser

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Zweiter Teil

kollektiven Handelns, daß kleinere, aber gut organisierte Gruppen ihre Interessen gegen zahlreiche, wegen der hohen Kostenjedoch nicht organisierbare Betroffene durchsetzen können (Stichwort: Fluglotsenstreik). Umfragen unter den Fluggästen, evtl. innerhalb der Gesamtbevölkerung, würden mit hoher Wahrscheinlichkeit einen anderen "Gemeinwillen" ermitteln, und die erwähnte Minderheit würde gewiß als unerträglich empfinden, wenn der Streik durch Abstimmung ersetzt würde. Sie könnte sich Schmitts Meinung, es sei "keineswegs demokratisch", daß diejenigen, die keinen politischen Willen (sondern eben nur eine Meinung) haben, "gegenüber den anderen, die einen solchen Willen haben, entscheiden sollen" 56 , ohne Schwierigkeiten zu eigen machen. Das Beispiel zeigt, daß demokratische und pluralistische Verfahren in unüberbrückbarem Gegensatz stehen können 57 • Die Position, von der heraus Schrnitt die isolierte Abstimmung angreift (weil sie das "politische" Subjekt in einen Privatmann verwandele 58), ist jedoch keine demokratische, wie er irrtümlich annimt, sondern eine pluralistische. Sie entspricht nicht der Situation, in der der "wahre Wille" eines Kollektivssubjekts ermittelt werden soll (Bl), sondern dem Kampf, in dem sich das eine Subjekt auf Kosten des anderen durchsetzt - dem Politischen im Sinne von B2. 6-7. Die verfassunggebende Gewalt ist konkreter politischer Wille, konkrete Entscheidung, konkretes politisches Sein, etwas Existenzielles 59 • Das sind im wesentlichen die Merkmale, die den Begriff: "Verfassung im positivem Sinne" kennzeichnen. Im Laufe der weiteren Ausführungen bekommt jedoch die "verfassunggebende Gewalt" immer mehr Züge, die gewissermaßen im "Negativen" liegen, so daß die Bezeichnung: "negativer Verfassungsbegriff'' zutreffender wäre. Wir müssen sie einigermaßen systematisch zusammenfassen, weil sie mit der grundlegenden Unzulänglichkeit des konsensualen Begriffs des Politischen zusammenhängen. i) "Diese negativ bestimmte Größe Volk" stehe "vor und über der Verfassung". Es sei weder an Inhalte noch an Verfahren gebunden, es ist unfaßbar und unorganisierbar 60 , es entziehe sichjeder Normierung. Es ist nicht-konstituiert, kein Magistrat, kein Organ. Das Spezifische des Begriffs "Volk" ist, daß es eine "nicht formierte und niemals restlos formierbare Größe ist" 61 • VL 279. Olson 161 veranschaulicht die Diskrepanz zwischen den beiden mit einer Anekdote aus dem 18. Jh.: die Engländer würden nichts riskieren, keine 20 Schilling ausgeben, um die verbannte Königsfamilie zurückzuholen. "Wäre es aber mit einer einfachen Abstimmung getan, so stände das Ergebnis zwanzig zu eins". 58 VL 245. 59 VL 76. 60 VL 248ff. 61 VL 238 ff.; vgl. auch 272 ff. 56

57

6. Das Politische als Konsens: B 1

115

ii) Sein Wille ist unklar; es habe eigentlich "nur in entscheidenden Augenblicken einen entscheidenden Willen" und äußere ihn erkennbar. Es könne nur "Ja" und "Nein" sagen. Das "Nein", nur selten ("in kritischen Zeiten") gesprochen und gegen eine bestehende Verfassung gerichtet, sei "nur als Negation klar und entschieden [...], während der positive Wille nicht ebenso sicher ist". Die positive Bestimmung seines Willens "bedarf irgendeiner Organisation, eines Verfahrens, für welche die Praxis der modernen Demokratie gewisse[ ...] Übungen und Gewohnheiten entwickelt hat" 62 • -Das ist bereits eine Abschwächung seiner früheren Auffassung, daß der Wille des pouvoir constituant inhaltlich gar nicht vorhanden ist, sondern erst durch die Formierung, die Repräsentation entstehe63 •

Die negative Bestimmtheit der verfassunggebenden Gewalt schafft die Grundlage für einen Kunstgriff, die mancher Unstimmigkeit der VL gut abhelfen könnte- mag sein, daß Schmitt (m. E. eherunbewußt als absichtlich) gerade deshalb auf sie aufmerksam macht. Man kann das negative und das positive Moment, die jeder Entscheidung immanent sind, voneinander trennen und (wie Schmitt es hier offensichtlich tut) gewissermaßen "arbeitsteilig" verschiedenen Akteuren zuweisen. Die negative Komponente, die Ablehnung des alten Zustandes, wird der verfassunggebenden Gewalt zugeschrieben: "Das deutsche Volk hat im November 1918 das bisher bestehende monarchische Prinzip verneint" 64 • Die positive Gestaltung der neuen Verfassung ist dagegen das Werk der, innerhalb der Verfassunggebenden Versammlung miteinander ringenden Repräsentanten verschiedener sozialer Gruppen. Der politische Kampf kann dann als die Konkretisierung einer im Prinzip vorhandenen Gesamtentscheidung fingiert werden. Auch der mögliche Einwand, daß der Repräsentant faktisch zum Souverän wird, wenn der Auftraggeber keinen erkennbaren Willen hat, wird dadurch befriedigend abgewehrt. Und schließlich ermöglicht der Kunstgriff, die "dilatorischen Formelkompromisse" der WRV nicht der verfassunggebenden Gewalt selbst (wie es konsequenterweise geschehen müßte), sondern ihrem Repräsentanten, der Verfassunggebenden Nationalversammlung anzulasten. Andererseits ist es unvermeidlich, daß die Unterscheidung zwischen der negativen und der positiven Komponente des Handeins ungünstig auf den Status der verfassunggebenden Gewalt auswirkt. Wird das Volk durch den Gegensatz gegen das amtlich organisierte System von Behörden und Magistraturen definiert 65 , so ist dies kein abstrakter Gegensatz, sondern ein wirklicher Konflikt. Auch die öffentliche Meinung (Akklamation), die für Schrnitt dieselbe Kontrollfunktion hat wie für die Verfechter eines pluralistischen Gemeinwe62

63 64 65

8*

VL 84f. D 143. VL 84. VL 241.

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sens 66 , wird notwendig zum Ausdruck konfligierender Willen - "einmütig" und "homogen" ist dann allenfalls der "unorganisierte" Teil. Das" Volk" verliert den Charakter eines isolierten Gesamtsubjekts, es ist nicht mehr das "Ganze", sondern Teil. Es trifft fernerhin auch nicht zu, daß die öffentliche Meinung der "unorganisierte" Teil des Volkes ist, sondern es ist nur anders organisiert. Akklamation ist nicht nur die spontane Versammlung, sie entstehe nicht aus dem Nichts, sondern sie werde "beeinflußt und auch gemacht" -es gebe soziale Mächte und Mittel, die den Willen des Volkes "dirigieren" 67 • Eine Organisation also, wenn auch keine "magistratische"! Dies kann auch nicht anders sein, wenn die öffentliche Meinung das "anwesende" Volk sein soll, denn Anwesenheit hängt, wie oben angedeutet, von der Tatsache und dem Maß der Organisation ab. Aus diesem Grunde gebe es "keine Demokratie ohne Parteien". An dieser Stelle, wo Schmitt das Parteiwesen ausnahmsweise und irrtümlich nicht mit dem liberalen (pluralistischen), sondern dem demokratischen Prinzip verbindet, läßt er sich zu einer, in seinem Gesamtwerk einmaligen, Aufwertung der Parteien hinreißen und spricht von der "Überlegenheit der Parteiorganisationen gegenüber dem Parlament" 68 • Seine spätere Korrektur: der Gegensatz der Parteien dürfe nicht "den Rahmen der rationalen und sozialen Einheit durchbrechen", nimmt im Ansatz eine Entwicklung vorweg, die das Unorganisierte und nicht nonnierbare doch der Verfassung unterstellt und normiert. Wenn die Parteien "aus dem Bereich des Politisch-Soziologischen in den Rang einer verfassungsrechtlichen Institution erhoben" 69 und der Verfassungsgerichtsbarkeit unterstellt werden, so bleibt dies nicht ohne Auswirkungen auf die Fähigkeit und die Chancen einzelner Gruppen, in der Öffentlichkeit anwesend zu sein. 6-8. Das "Volk" ist, wenn es sich im Konflikt mit innerstaatlichen Akteuren befindet und nur "partikulare" Interessen vertritt, schlecht mit dem "Ganzen" zu identifizieren. Diese Tatsache gefährdet das Grundkonzept der VL im Ansatz und ist möglicherweise einer der Gründe, die Schmitt dazu bewegen, die anfängliche, bedingungslose Gleichsetzung von "Volk" und "politischer Einheit" 70 aufzulockern. So entsteht schließlich ein Schwebezustand, in dem nicht mehr eindeutig feststellbar ist, a) "was" eigentlich das Subjekt der verfassunggebenden Gewalt ist und b) ob die verfassunggebende Gewalt überhaupt ein Subjekt oder nur eine (wenn auch unbegrenzte) "Kompetenz" ist. Das Volk oder das Subjekt der verfassunggebenden Gewalt könne auf zwei verschiedene Weisen politisch aktionsfähig sein: es ist 1. "in seiner Identität mit sich selbst eine politische Einheit", und 2. es muß repräsentiert werden 71 • Das 66 67

68 69 70

VL 250. VL 247. VL 247. Vgl. BVerfGE 11, 239ff. VL 21 , 61 , 77ff., 262, 272.

6. Das Politische als Konsens: B 1

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sind zunächst nichts weiter als die bekannten, entgegengesetzten "politischen Gestaltungsprinzipien". Hier stellt Schmitt noch unmißverständlich fest, daß das Volk erstens der Repräsentierte, zweitens die Einheit selbst ist. In der weiteren Ausführung wird jedoch die eindeutige Aussage stückweise zurückgenommen. Es werde "die politische Einheit des Volkes- nicht das Volk in seinem natürlichen Vorhandensein - repräsentiert" 72 • Die Kluft wird größer in der Feststellung: "repräsentiert wird nicht das Volk, sondern die politische Einheit als Ganzes" 73 , bis schließlich möglich wird, daß zwei Repräsentationen: einerseits die der "politischen Einheit" durch den Monarchen, andererseits die "des politisch geeinten Volkes" nebeneinander bestehen 74 • Mit dieser Schwankung hängt auch die Unklarheit zusammen, ob die verfassunggebende Gewalt "Subjekt" oder nur "Repräsentant" der politischen Einheit ist. In der Wendung vom "Subjekt der verfassunggebenden Gewalt und dem entscheidenden Repräsentanten der politischen Einheit" werden sie etwas bedenkenlos gleichgesetzt. Daselbst heißt es, diesmal auf die monarchische verfassunggebende Gewalt gemünzt: der König als "Träger der Staatsgewalt und der entscheidende Repräsentant der politischen Einheit" 75 • Die Gleichsetzung ist, gerade nach Schmittscher Voraussetzungen, unzulässig. Das Volk z. B. kann die politische Einheit nicht "repräsentieren", wenn es selbst die politische Einheit ist. Ist der Souverän zugleich Repräsentant, so wird er, nach einer Definition, die Schmitt nie revidiert hat16 , automatisch zum souveränen Diktator, dem "Beauftragten" der "politischen Einheit" 77 • Schmitt beanstandet, daß die "liberale Methode" die Frage nach der verfassunggebenden Gewalt und dem entscheidenden Repräsentanten der politischen Einheit umgehe und einen "souveränen Dritten" konstruiere, mit dem Ergebnis, daß weder Fürst noch Volk, sondern der "Staat als ein ,Organismus' souverän sei" 78 • Dazu ist nur zu bemerken, daß die Formel: weder das "natürliche" Volk noch irgendein anderes Subjekt, sondern der "Staat als die ,politische Einheit'" souverän sei, dasselbe Problem nicht glücklicher umgeht. Ein Subjekt repräsentieren ist eine Rechtsbeziehung; die "politische Einheit" repräsentieren ist allenfalls eine "regulative Idee". Selbst wenn die beiden gleichermaßen fiktiv sind, besteht ein gewaltiger Unterschied zwischen ihnen: die erste ist eine handlungstheoretische, die zweite eine unbestimmte Fiktion. VL 205. VL 212. 73 VL 262. 74 VL 265. 75 VL 56. 76 D 137ff. 77 Die Generalstände die "Beauftragten" des seine verfassunggebende Gewalt ausübenden Volkes (VL 78). 78 VL 56. 71

72

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Mit dieser Unklarheit hängt eng zusammen, daß die Frage nach dem Status der verfassunggebenden Gewalt: Subjekt oder Kompetenz? schwer zu beantworten ist. Der Unterschied besteht (vielleicht ein wenig vereinfacht) darin, daß ein "Subjekt" im eigenen Namen handelt, die Kompetenz auf einen (wirklichen oder fiktiven) Auftraggeber verweist. Schmitt lehnt zwar die Auffassung, die verfassunggebende Gewalt oder die Souveränität sei eine Kompetenz, ab. (Nicht nur, weil eine Kompetenz inhaltlich begrenzt ist, sondern weil sie eine Ermächtigungsnorm ist und daher auf einen Auftraggeber zurückverweist. Dagegen handelt ein "Subjekt" immer im eigenen Namen und ist Endpunkt der Zurechnung). Andererseits drückt er sich immer wieder auf eine Art und Weise aus, die keine andere Erklärung zuläßt, als daß er stillschweigend doch eine Kompetenz meint. Das Volk und der König sind bald der Souverän selbst, bald nur "Inhaber" oder "Träger" des pouvoir constituant, die sie "ausüben" 79 • Das sind Ausdrücke, die auf die Trennung zwischen Amt (Rolle, Funktion) und Person und auf eine gewisse Verselbständigung des Amtes hinweisen. Allein die Tatsache, daß überhaupt Fragen erörtert werden wie: ist der pouvoir constituant "unveräußerlich" oder nicht, ob der Verzicht "freiwillig" sein könne, ob die verfassunggebende Gewalt erlöschen kann, ob verschiedene Subjekte um seine "Ausübung" konkurrieren können, ob die Kontinuität des Staates bei Änderung des Subjekts der verfassunggebenden Gewalt erhalten bleibe usw. zeigt, daß man die Sphäre des rein "Existenziellen" längst hinter sich gelassen hat 80 • Denn in der Sphäre des Existenziellen ist immer der Handelnde der Endpunkt der Zurechnung. 6-9. Eine unvermeidliche Folge des "negativen" Verfassungsbegriffs ist, daß der "Staat" verdoppelt wird in einen "konstituierenden" bzw. nur "konstituierten" Staat, und der Souverän unversehens aus dem konstituierten Staat, aus der Reihe der konstituierten Instanzen hinausgedrängt wird. Schmitt betrachtet diese Entwicklung als eine Eigentümlichkeit des liberalen Rechtsstaates: es gehöre zur Eigenart der bürgerlichen Verfassung, den Souverän zu ignorieren 81 • Auf die Frage, wer der Souverän ist, kann man im empirischen Sinne nur noch negative Antworten geben oder den Begriff der Souveränität überhaupt für überholt erklären. Die Tatsache, daß der monarchische Souverän im Inneren des Staates immer präsent ist, der demokratische pouvoir constituant dagegen nur beim Akt der Verfassunggebung erscheint, ist ein wesentlicher Unterschied zwischen der Theorie der monarchischen und der Volkssouveränität. Er schließt aus, diese beiden Staatsformen gleichsam als verschiedene Modelle derselben Theorie 82 zu betrachten.

79

80 81 82

VL 139. VL 92ff. VL 244. so aber Schmitt, VL SOff.

6. Das Politische als Konsens: B 1

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Die Verdrängung des Souveräns aus dem "Inneren" des Staates ist tatsächlich einer der wichtigsten Kontrollmechanismen und Freiheitsgarantien des modernen Staates. Schmitts Abneigung gegen Erscheinungsformen und Institutionen der "direkten" Demokratie, das Umschlagen seines "positiven" in einen "negativen" Verfassungsbegrifflassen die Schlußfolgerung zu, daß das Verdrängen des Souveräns eine unvermeidliche Folge auch der VL ist. (Wir werden im nächsten Kapitel weitere Beispiele untersuchen.) Aus der Verdoppelung des Staatsbegriffs ergibt sich die Frage, "welchen" Staat das Rechtsstaatsprinzip hemmt und zurückdrängt: den konstituierten oder den konstituierenden, die jeweilige Exekutive oder aber den pouvoir constituant selbst? Sie legt nahe, daß die "Unantastbarkeit" der Grundrechte mit der These ihrer "Vorstaatlichkeit" nicht erledigt wird. Sind sie vor dem konstituierten oder sogar dem konstituierenden Staat zu orten? Der pouvoir constituant selbst könnte nur durch naturrechtliche Annahmen begrenzt werden - Annahmen, die für das "Existenzielle" unerheblich sind. Daß er durch andere Akteure nicht zurückzudrängen ist, ist eine triviale Folge seiner isolierten Stellung. Einerseits kann er durch den innerpolitischen Kampf nicht begrenzt werden, weil seine einzige Aufgabe die Verfassunggebung ist, andererseits weil die Kontrolle der Staatsgewalt sich "nur innerhalb und im Rahmen der staatlichen Einheit" bewege 83 • Daß Schmitt den konstituierten Staat zurückdrängen wollte, ergibt sich aus seiner Grundrechtstheorie, die heute als überzogen und unzeitgemäß "liberal" gilt. Dadurch jedoch, daß er an den wichtigen Stellen kurz von "Staatsgewalt" spricht, ergibt sich die Möglichkeit der Verwechslung 84 • Hätte er sich die Unterscheidung zwischen konstituierter und konstituierender Gewalt immer vor Augen gehalten, so hätte sich die Spannung zwischen dem politischen (demokratischen) und rechtsstaatliehen Prinzip von selbst erledigt. Damit soll nicht besagt werden, daß die Gegenüberstellung überhaupt falsch ist: wir wollen nur sagen, daß sie gerade in der VL, bei der Unterscheidung zwischen konstituiertem und konstituierendem Staat nicht zwingend ist. Sie entsteht natürlich von Neuem, wenn man die konsensuale Begründung des Staates durch eine konfliktuale ersetzt. Damit würden wir jedoch den anderen Begriff des Politischen vorwegnehmen. Wir haben also drei Tendenzen in der VL feststellen können: die verfassunggebende Gewalt wird i) zunehmend "negativ" bestimmt, ii) aus der Reihe der konstituierten und unmittelbar handlungsfahigen Akteure hinausgedrängt, und iii) sein Wille wird von den letzteren formiert. Sie hängen eng miteinander zusammen. Sie sind unvermeidliche Folgen einer jeden Theorie, die (aus welchen Gründen auch immer) hinter den Objekten der "Erscheinungswelt" weitere VL 51. Nicht nur für Schmitt: eine Stelle, wo er von Staatsgewalt im Sinne von "Regierung" spricht (VL 212), wiedergibt Hofmann 20 in einem Kontext, der eher an die konstituierende Gewalt schließen läßt. 83

84

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Entitäten zu verankern sucht. Dieses dreifache Schicksal des pouvoir constituant entspricht dem, was das Ding an sich bei Kant erfährt, daß er nämlich nur das Jenseitige und das Unbestimmte ist. Er ist das Apriori der Verfassungslehre, der Wille-an-sich, die vermeintliche "Bedingung der Möglichkeit", ein Handlungssystem als eine Einheit zu denken. Von ihm kann nichts weiter gesagt werden, daß er "reell" (Schmitt: existenziell) ist und daß er "will". Mit dieser Feststellung scheine ich mich nun den Meinungen anzuschließen, gemäß denen der positive Verfassungsbegriff "sachleer" ist: in ihm klaffe die "Leere des existierenden Willens, der nur sich selber will", der Akt der Dezision zehre alle normativ bestimmten Inhalte der Entscheidung auf, überwinde "voluntaristisch" rechtliche Sachgehalte usw 85 • (Auf ein anderes Argument, das auf die Inhaltsleere des Verfassungsbegriffs schließt, gehe ich im Zusammenhang mit Schmitts "Feindbegrifr' ein-s. den Abschnitt 7-7.) Solche Feststellungen beruhen jedoch auf einem Irrtum. Sie bringen zwar die "letzten Konsequenzen" der Grundannahme richtig auf den Punkt, sie übersehen jedoch ihre gleich mitgelieferte Korrektur. Denn so zutreffend auch immer ist, daß aus der reinen Bestimmtheit des pouvoir constituant keine Inhalte herzuleiten sind, genauso richtig ist, daß einjeder historisch vollzogener Akt der Verfassunggebung inhaltlich bestimmt ist, wenn die Verfassung einen sachlich definierten Kern besitzt. Daß sie einen besitzt, ist (wie bereits öfters erwähnt) die zentrale These sowohl Schmitts Verfassungstheorie als auch seiner Auslegung der konkreten WRV. Von "Inhaltsleere" kann also nur sprechen, wer grundlegende Aussagen der VL "voluntaristisch" ignoriert.

7. Das Politische als Konflikt: B2 7-1. Manche Abhandlung Schmitts beginnt mit einer besonders einprägsamen Kurzformel, die einen Grundgedanken wie einen Leitsatz an die Spitze der Erörterung setzt. Nicht anders verhält es sich mit dem "Begriff des Politischen", der mit dem Satz beginnt: "Der Begriff des Staates setzt den Begriff des Politischen voraus". Diesem Satz kommt eine Schlüsselbedeutung zu. Schmitt geht aufihn später ausdrücklich ein und stellt fest, daß "die fast esoterisch begriffliche Aussage gerade an dieser Stelle nicht fehl am Ort" seil. Bereits im ersten, kritischen Teil der Schrift distanziert sich Schrnitt von Definitionsversuchen, die statt der asymmetrischen Relation "politisch vor staatlich" die symmetrische Identität ("politisch" in irgendeiner Weise mit "staatlich" gleichgesetzt) oder gar die umgekehrte Ordnung (das Politische "auf den Staat bezogen") postulieren2 • Schmitt zeigt zwar ein gewisses Verständnis 85 so Müller (IV) 149 ff. (stellvertretend für eine Unmenge von Feststellungen desselben Inhalts). 1 BdP (Vorwort 1963) 13.

7. Das Politische als Konflikt: B2

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gegenüber solchem Vorgehen, weil es den Bedürfnissen der Rechtspraxis entgegenkommt- es zielt darauf ab, das Politische als einen subsumtionsfähigen Tatbestand zu definieren. Der begrenzte Charakter der von ihm kritisch beurteilten Ansätze zeigt sich jedoch sowohl an ihrem Ausgangspunkt (sie setzen nicht so sehr "den" Staat, sondern einen besonderen Staat, eine konkrete Rechtsordnung, voraus) als auch an ihrem Ergebnis: sie bringen "keine allgemeine Definition des Politischen überhaupt" hervor 3 • Bevor wir darauf eingehen, welche weiteren Folgerungen Schmitts Ausgangspunkt bzw. Zielsetzung haben, müssen wir seinen ersten Begriff des Politischen, das Konsensschema B1 noch einmal kurz ins Auge fassen, um ihren Unterschied zum Konfliktschema B2 scharf hervorzuheben. Es fällt gleich auf, daß die Verfassungslehre das "Politische" nicht vor dem Staat ortet, sondern es mit ihm gleichsetzt. Typisch für diese Beziehung ist die häufig wiederkehrende Wendung "der Staat, d. h. die politische Einheit des Volkes". Nach dem Leitsatz des BdP wäre das Politische ohne den Staat, nicht aber umgekehrt, vorstellbar. Dagegen heißt es in der VL: "Das Politische kann nicht vom Staat [...] getrennt werden" 4 • (Staat bedeutet hier nicht die konstituierte Staatsgewalt, ihre Behördenorganisation usw., sondern das konstituierende Subjekt.) Man könnte wieder einmal die Beobachtung bestätigt glauben, daß Schmitts Konstruktionen "zwiespältig" und "widersprüchlich" sind, verletzt doch das Grundkonzept der Verfassungslehre flagrant den Leitsatz des Begriff des Politischen. Wir bewerten diese Ungereimtheit als ein Indiz, daß der Begriff des Politischen eine grundsätzlich andere, mit der Verfassungslehre unvereinbare, Definition enthält. Schmitts häufig widersprüchliche Feststellungen sind für uns dadurch zu erklären, daß er den Unterschied der beiden Definitionen nicht in ihrer Schärfe erkannt hat. An dieser Stelle sei vermerkt, daß diese Verfehlung von der ganzen Literatur über Schmitts Begriff des Politischen begangen wird. Es gibt keine einzige Aussage, die den Verdacht äußern würde, es handele sich um verschiedene Entwürfe. Das Politische, wie es in der Verfassungslehre definiert wird, "ist". Der Staat besteht als die "politische" Einheit, er ist politisch - ohne und vor jeglicher Handlung des politischen Subjekts. "Es ist nicht so, daß die politische Einheit erst dadurch besteht, daß eine Verfassung gegeben werde" 5 • Ganz im Gegenteil, die Handlung wird erst dadurch politisch, daß sie einem "politischen" Subjekt zugerechnet wird. Man kann dem Vorwurf, dieser Begriff des Politischen berücksichtige nicht das Werden, die Genese des Staates, vorbehaltlos zustimmen. Um so mehr kann man beanstanden, wenn die Kritik das entgegengesetzte 2 3 4

5

BdP 21. BdP 23 . VL 125. VL 21.

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Anliegen, das im Leitsatz des Begriff des Politischen ausgesprochen wird, gar nicht erst wahrnimmt. Denn das Politische im Konfliktschema ist nicht da, sondern es "wird". Es ist nicht statisch vorgegeben, sondern es kommt dynamisch zustande. Es gibt kein genuin politisches Subjekt, sondern ein jedes Subjekt kann politisch werden, wenn die Intensität seiner Entscheidung einen gewissen Grad erreicht 6 • Es ist also eine Tautologie, daß ein "politisch" existierendes Volk auf die Feindentscheidung nicht verzichten könne, denn es ist gerade durch sie politisch und fallt aus der Sphäre des Politischen heraus, wenn es darauf verzichte 7 • Der zweite Punkt, in dem sich die VL und der BdP voneinander grundlegend unterscheiden, ist- wie schon früher ausgeführt- die notwendige Anzahl der Akteure. Das Subjekt der Verfassunggebung ist ein isoliertes Subjekt, dem kein Gegenspieler entgegentritt. Jeder Konflikt, der "innerhalb" der politischen Einheit (auch hinsichtlich der Verfassunggebung) entsteht, spielt sich höchstens zwischen verschiedenen "Organen", verschiedenen Konkurrenten um die "souveräne Diktatur", ab. Einen ebenbürtigen Konfliktpartner der verfassunggebenden Gewalt gibt es nicht begriffsnotwendig: diese trifft die Formentscheidung "für sich selber", sie gebe die Verfassung "sich selber" 8 . Ob es mehrere Staaten gibt oder nur einen einzigen (den" Weltstaat"), ist für dessen politischen Charakter vollkommen unerheblich. Der zufällige Charakter eines Gegenspielers ergibt sich schon daraus, daß Schmitt die Wendung, die Form der eigenen Existenz "wählen" (statt gegen einen Feind durchsetzen), für eine geeignete Beschreibung des Konstituierungsaktes hält 9 . Man findet zwar Stellen in der VL, wo Schmitt die Formentscheidung des pouvoir constituant in einem Atemzug mit der Feindentscheidung erwähnt, als handelte es sich lediglich um verschiedene Aspekte derselben Sache. In Wirklichkeit kommt die letztere nur äußerlich und heterogen zum ersteren hinzu. Auch von der Verfassungsgeschichte her ist es ein Zufall, ob die Verfassung aus der Entscheidung eines Separationskonflikts (Befreiungskrieg) oder aber ohne jeden Bezug auf einen externen Konfliktpartner hervorgeht. Die Feindentscheidung ist nur akzessorisch, sie kann keine konstituierende Wirkung haben für den politischen Charakter des Subjekts, welche die Formentscheidung triff'tl0 • Es ist bezeichnend, daß die Verbindung der beiden Schemata B1 und B2 erst relativ spät im Text der VL auftaucht. Ihr erstes Vorkommen bezieht sich auf ein Ereignis, das eher einer "Freunderklärung" (oder allenfalls einer gescheiterten Wir werden auf diesen Punkt im Abschnitt 11-4 zurückkommen. BdP 51 f., 54. 8 VL 21; vgl. auch 50. 9 VL 71. 10 Doppelt falsch bei Hofmann (1 28): die Grundentscheidung, welche "den Staat als eine politische Einheit konstruiert", und zugleich "andere Arten politischer Existenz", das "Anderssein politischer Einheiten" negiere. 6

7

7. Das Politische als Konflikt: 82

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Feinderklärung) gleichkommt: "Den Erklärungen der Weimarer Nationalversammlung aber war die Unterzeichnung des Vertrages von Versailles vorausgegangen" 11 • Gänzlich fehlt die Verbindung dagegen, wo sie nicht nur angebracht, sondern dringend notwendig wäre: im ersten, systematisch-theoretischen Teil. Insbesondere fehlt im § 5, in der Übersicht über die möglichen Bedeutungen des Wortes "Grundgesetz", jede Spur, daß eine Verfassung auch eine Entscheidung gegen den Feind sein könnte. Nicht einmal die in der Verfassung Bismarcks enthaltene "politische Entscheidung" wird als eine gegen das französische Volk bewertet 12 • Auch dort, wo die Verfassung aus einem innenpolitischen Konflikt hervorgeht, ringt sich Schmitt lediglich zu einem entgegengesetzten Inhalt, nicht jedoch zu einem Gegenspieler durch 13 • Es scheint mir, Schmitt hätte die unausweichliche Konsequenz, die sich aus der Verbindung von B1 und B2 ergibt, eine Verfassung könnte in ihrem Präambel festhalten, sie wurde "gegen ein anderes Volk" gegeben, als eine Absurdität zurückgewiesen. 7-2. Man hat darauf hingewiesen, daß der Begriff des Politischen nur scheinbar ausschließlich an der Außenpolitik orientiert ist, daß er in Wahrheit einen konkreten innenpolitischen Aspekt habe 14 • Das ist eine sehr wichtige Klarstellung. Sie erwähnt jedoch nicht die dritte Perspektive, die vom ersten Satz der Abhandlung eröffnet wurde. Sie ist das Politische als das "Vorstaatliche", das Ordnungsproblem in seinem ursprünglichen Sinne. Der Konflikt zielt nicht lediglich darauf ab, eine bestehende Ordnung zu verteidigen und zu garantieren. Sondern er ist die Ausgangssituation und das Mittel ihrer Genese. Die Priorität des Politischen gegenüber dem Staat wird einzig und allein aus der dritten Perspektive, in der vorstaatlichen Konfliktsituation, deren Ziel die Hervorbringung des Staates aus dem nichtstaatlichen Zustand ist, erfüllt. Der Konflikt, der dem genuin Politischen zugrundeliegt, ist ein Integrationskonflikt, dessen Lösung oder Entscheidung nicht darin besteht, daß die Autonomie der Subjekte wiederhergestellt oder bestätigt wird, sondern darin, daß Freund und Feind in einer gemeinsamen Institution aufgehen. Die Definition des Staates als einer Ordnung des entschiedenen Integrationskonflikts ist selbst dann zutref11 VL 162. Vgl. auch 214, 234, 247, 279, 365, 389. Ein expliziter Hinweis auf den BdP (VL 89) hebt das Antinonnativistische der politischen "Existenz" hervor und läßt eine Unterscheidung von Entscheidungstypen nicht erkennen. 12 Vgl. VL 25. 13 Die WRV sei (Art. 165) eine Entscheidung gegen den politischen Aufbau des Staates auf einer Wirtschaftsverfassung (Rätesystem)- vgl. Schmitt: Das Problem der innerpolitischen Neutralität des Staates, in: VrA 43. 14 Hofmann 116. Bereits Krupa 5 f. hat zwei Begriffe des Politischen im BdP erkannt: die "subjektlose" bzw. die "staatliche" Entscheidung über Freund und Feind. "Subjektlos" bedeutet bei ihm soviel wie die "Beliebigkeit der politischen Subjekte" (Krupa 14). Im zweiten Begriff gebe zwar Schmitt ein konkretes Subjekt, den Staat an, dieser werde jedoch "unsubstanziell, d . h. nicht als politisches Subjekt gedacht" (?!).

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fend und wichtig, wenn die historische Epoche der Staatenbildung als abgeschlossen gilt und es praktisch keine Gemeinschaften im vorstaatlichen Zustand anzutreffen sind. Aus diesem Grunde spielt das Politische als die vorstaatliche Feindentscheidung keine praktische Rolle, und das Politische wird scheinbar von den beiden anderen Varianten, in denen der existierende Staat vorausgesetzt wird, absorbiert. Man kann vom nichtstaatlichen Zustand allenfalls in einem schwachen, relativierten Sinne sprechen: als von einem Interim, das in Krisensituationen entsteht. Die konfliktuale Konstruktion des Staates würde Schmitts These von der Unentrinnbarkeil des Politischen auf einem unerwarteten Umweg bekräftigen. Das Politische als das Vorstaatliche hängt nicht von der Pluralität der Staatenwelt ab. Wenn der Staat die Friedensordnung von Freund und Feind ist, dann kann diese maßgebende Gruppierung nicht einmal durch die universale Pazifizierung, durch die Existenz des Weltstaates ausgelöscht werden. Auch der Weltstaat beruhte auf dem differenzierten Konsens, und er wäre gegen den Ausnahmezustand, wo die den Staat konstituierende Freund-Feind-Gruppierung plötzlich virulent wird, genauso wenig gefeit wie seine territorial begrenzten Vorgänger. Das geflügelte Wort, Politik komme von polis, nicht von polemos, mag etymologisch zutreffen. Es kranktjedoch gerade an derselben Unzulänglichkeit wie Sclunitts Verfassungslehre. Es setzt die Einheit derpolisgenauso problemlos voraus wie Schmitt die politische Einheit. Schmitt scheint dieses Manko, trotz gegenteiliger Vermutungen, doch gespürt zu haben und er versuchte, die Zurechnung fortzusetzen: wo komme die "polis", d.h. die "politische Einheit", her? Das Politische als das Vorstaatliche wäre die Antwort auf die Frage, wenn die rudimentäre Ausführung sie nicht vollkommen verfehlt hätte. Wer diesen dritten Anspruch der Schrift nicht erkennt, nimmt lediglich die krude Tatsache wahr, daß der Begriff des Politischen widersprüchlich und zirkulär ist: Schmitt kann nicht umhin, trotzdes Leitsatzes, den Staat vorauszusetzen 15 , weil er den privaten Konflikt von dem öffentlichen (d. h. politischen) nicht anders zu unterscheiden weiß. (Im Politischen als dem Vorstaatlichen fehlt der Bezug auf den "Staat" genauso wenig wie in den beiden anderen. Der Unterschied besteht darin, daß der Staat nicht mehr als eine vorausgesetzte, sondern als eine hervorzubringende Größe, nicht als zu erfüllende Bedingung, sondern als das Ziel der politischen Handlung in die Definition eingeht. Man kann an diesem Punkt fragen, ob das Ziel als das wirklich Bewegende nicht im eigentlichen Sinne das Erste sei und damit die Priorität des Staates nicht doch unvermeidlich ist? Solche Einwände wären aus unserer handlungstheoretischen Sicht irrelevant. Denn der hervorgebrachte Staat ist nicht input, sondern output der Handlung, und nur dies entspricht dem Leitsatz: der Staat setze das Politische voraus.) 15

Nachweise bei Hofmann 9.

7. Das Politische als Konflikt: 82

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Da auf diesen Gegenstand noch zurückzukommen ist, beschränke ich mich hier darauf, eine Vermutung auszusprechen, warum Schmitt diese wichtigste, programmatisch angekündigte Perspektive des Politischen verfehlte. Es beruht m. E. paradoxerweise auf der Tatsache, daß Schmitts Politikbegriff (wohlgemerkt: nicht der "Begriff des Politischen") grundsätzlich konsensorientiert ist. Selbst sein Konfliktbegriff ist ohne die Voraussetzung der Homogenität (Grundkonsens), die den Akteur der politischen Handlung konstituiert, gar nicht erst begreiflich; ohne sie ist lediglich der Privatkonflikt denkbar. Selbst die hinzutretende zweite Annahme, die Pluralität und . der eventuelle Dissens zwischen homogenen Einheiten, birgt nur die "Möglichkeit", die "Eventualität", keineswegs jedoch die "Notwendigkeit" des Krieges. Dagegen muß der Grundkonsens innerhalb des jeweiligen kollektiven Subjekts notwendig vorhanden sein, um sie überhaupt als "politisch" qualifizieren zu können. 7-3. Nimmt man Schmitts Absicht, den Staat durch das Politische zu begründen, ernst, dann sollte der allgemeine Begriff des Politischen in einem allgemeinen Begriff des Staates münden. Man sollte diese Schlußfolgerung nicht dadurch als erledigt betrachten, daß Schmitt sie nicht gezogen, ja später ausdrücklich verworfen hat und den Staat als einen konkreten, an eine geschichtliche Epoche gebundenen Begriffverstehen wollte 16 • Die Tatsache, an der der allgemeine Staatsbegriff zerbrechen sollte, ist zunächst der totale Unterschiedzweier Kriegs- und Feind begriffe, die sich nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen. Durch diesen Unterschied werden aber nicht zwei Arten des Staates, sondern lediglich zwei Typen von Völkerrechtsordnungen (Land und Meer) begründet. Wenn man nun die beiden Kriegs- und Feindbegriffe näher betrachtet, so erweist sich, daß es sich um den Unterschied zwischen Verrechtlichung, Hegung und Begrenzung einerseits, Steigerung ins Unbegrenzte andererseits, handelt. Dadurch, daß Schmitt die Aufhebungjeglicher Hegung im "kontinentalen" Partisanenkrieg wiedererkennt bzw. das Ende des jus publicum europaeum feststellt, relativiert er den Wert dieser Unterscheidung. Diese Stelle ist auch aus einem anderen Grund wertvoll. Sie enthält nämlich eine Wendung, die den Zusammenhang zwischen Krieg und Frieden (Ordnung) schlagartig zu Bewußtsein bringt: "Die Verschiedenheit der Kriegsbegriffe gibt auch dem zwischen den Kriegen liegenden Frieden von selbst einen verschiedenen Inhalt" 17 • Konstruktionsprinzipien enthalten drei Strukturelemente: einen Anfangsund einen Endzustand bzw. einen Handlungsakt, der den ersten in den zweiten überführt. Die Situationen, die hier in Betracht kommen, sind Zustände menschlichen Zusammenlebens. Das Element, dessen "politischer" oder "unpolitischer" Charakter ermittelt werden soll, ist der Handlungsakt. Unabhängig davon, wie man diese Dreierkonstellation auffaßt: naiv-historisch oder aber 16 17

VrA 375ff. VrA 383.

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ihrer logischen Funktion nach, ist man sich normalerweise bewußt, daß die beiden Zustände eine exklusive Alternative darstellen und daher die Handlung nicht irgendwelche "Korrektur" der ersteren ist, sondern ihn aus den Angeln hebt. Erst die Entscheidung der Grundalternative (Krieg oder Frieden, rechtsloser- oder Rechtszustand, Monarchie oder Republik usw.) macht weitere Entscheidungen, einen "continuing contract" (Buchanan) möglich. Die Untrennbarkeit der drei Elemente kommt auch sprachlich zum Ausdruck. Die Definition des Endzustandes verweist auf das Wesen der Ausgangspositon zurück, und umgekehrt: die Definition des "Urzustandes" enthält meist einen Hinweis auf den antithetischen, herbeizuführenden Zustand. Es ist willkürlich und tendenziös, hier irgendeinen der Faktoren herauszugreifen und ihm ein "Primat" zuzuschreiben. "Strafe und Strafrecht setzen nicht eine Tat, sondern eine Untat an ihren Anfang. Ist das vielleicht eine ,positive' Auffassung der Untat und ein ,Primat' des Verbrechens"? 18 Man kann die Konstellation kausal betrachten und die notwendige Bedingung der Handlung für primär erklären. Man kann auch die teleologische Perspektive bevorzugen und den Primat des Zieles feststellen. Man könnte jedenfalls nicht für verwerflich halten, wenn Schmitt den "Primat" der Feindentscheidung im ersten, kausalen Sinn verstehen würde. Dann wäre zumindest zu erwarten, daß er sie nicht um ihrer selbstwillenvoraussetzt und die Feindschaft schüren will, sondern sie als zu überwindende Ausgangssituation definiert bzw. die Möglichkeit des Rückfalls bewußt macht. Das ist eine Hypothese, die zumindest aufgestellt und geprüft werden soll, bevor man sie verwirft. Und umgekehrt: wenn man den output des Überführungsaktes als einen Friedensvertrag, den Rechtszustand als eine Friedensordnung definiert, dann sollte man nicht aus den Augen verlieren, daß die dazu gehörige, logisch allein mögliche Ausgangssituation ein Konflikt mit der Intensität von Feindschaft, der Krieg ist. Der Zusammenhang der drei Elemente war nicht nur den Urhebern der klassischen Staatskonstruktion bewußt - es genügen hier einige wenige Hinweise. Hobbes stellt ganz klar die Antithese von Krieg und Frieden in den Vordergrund, und keineswegs als eine zusammenhangslose Alternative. Der Konsens, der Vertrag, die Loyalität gegenüber dem Fürsten gilt nur, solange er imstande ist, die Pazifizierung zu garantieren. Das ist der Sinn des, von Schmitt so oft zustimmend zitierten, Zusammenhangs von Schutz und Gehorsam. Es handelt sich hier nicht um etwas Beliebiges, sondern um den "Angelpunkt der Staatskonstruktion" 19-auch seiner eigenen! Nur flüchtig soll der Zusammenhang, wie Erich Kaufmann ihn sieht, erwähnt werden, weil wir uns mit ihm noch ausführlich beschäftigen müssen: "Der Friede ist kein Begriff mit positivem Inhalt, er ist ein bloßer Korrelatbegriff, der ohne 18 19

BdP 15 (Vorwort). L 113.

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127

sein Gegenstück, den Krieg, keinen Sinn hat" 20 • Er ist ein "rein negativer Begriff', er bezeichnet nur "das Ende des Kampfes um Güter. Er setzt also eine Verteilung der Güter voraus und ist kein Prinzip für eine solche" 21 • Der Auftakt der berühmten Schrift von Jhering: "Das Ziel des Rechts ist der Friede, das Mittel dazu ist der Kampf' 22 , ist nicht weniger provokativ als etwa die Schmittsche Definition der Souveränität. Die weitere Ausführung des Gedankens in den Kategorien "äußerer" und "innerer'.' Feind, Kampf, "in dem er Leib und Leben daranzusetzen hat" 23 usw. verrät nicht nur oberflächliche Ähnlichkeiten mit der "Freund-Feind-Theorie", sondern ist eine weitere Fundstelle gegen die Einmaligkeit des Schmittschen "Sonderwegs". Auch für die Konflikttheorie sind Konflikt und Konsens die "zwei Seiten einer Medaille- wobei sich eine auf die Ursache gesellschaftlicher Dynamik bezieht, die andere auf die Möglichkeiten der politischen Steuerung dieser Entwicklung" 24 • Die "beiden Seiten" klingen nur scheinbar harmloser als Krieg und Frieden. Jherings Formel bringt den Zusammenhang zwischen Kampf (Feindschaft) und Frieden (Ordnung) möglicherweise griffiger und eleganter auf den Punkt als unsere obigen Ausführungen. Sie wirft übrigens auch ein Schlaglicht auf den Sinn und den nur relativen Wert der Diskussion darüber, ob Schmitts Kriterium des Politischen eine Variante der Konflikttheorien oder eher eine Integrationstheorie sei 25 • Daß dieUnterscheidungnur bedingt brauchbar ist, weil sie nur auf den Punkt hiDweist, an dem die Zurechnung (oft willkürlich) abgebrochen wird, ergab sich in unserer Untersuchung schon öfters. Zuletzt im Überblick über die Integrationslehre: auch sie konnte den Konflikt nicht eliminieren, sie hat ihn lediglich umgangen und bagatellisiert. Der Hinweis auf die Komponente von Ordnung und Befriedung, die aus dem Schmittschen Begriff des Politischen nur willkürlich wegzudenken ist, ist willkommen angesichts der Unterstellungen und Fälschungen ungewöhnlichen Ausmaßes, die einen guten Teil der deutschsprachigen Literatur über Carl Schmitt zur Makulatur machen. Doch er kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Konflikt als konstituierende Situation ein grundverschiedener Anfangszustand ist als derjenige der Verfassungslehre, die lediglich eine latente in eine manifeste Ordnung verwandelt. Daß der Krieg "nicht Zweck und Ziel oder gar Inhalt der Politik" ist, daß das "politisch Richtige" gerade in der Vermeidung des Krieges liegen könne 26 , dürfte sich schon aus dem Umstand ergeben, daß dasjus publicum europaeum, 2o

Kaufmann (I) 136.

21

Kaufmann (I) 151.

22

23 24 25 26

Jhering 5. Jhering 28. Widmaier 104. Pasquino 386f. BdP 34.

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Zweiter Teil

mit seinem Ideal von Regung, Begrenzung, Temperierung und Verrechtlichung des Krieges als ein Modell des Begriff des Politischen gilt. Doch der Gedanke, daß die Feindentscheidung auch im Inneren des Staates kein Selbstzweck ist, sondern der Befriedung untergeordnet wird, muß besonders hervorgehoben werden, weil dies der Stoff ist, an dem sich die Phantasie mancher SchmittInterpreten entzündet. Nicht die Absicht, den Bürgerkrieg zu provozieren, sondern "die Notwendigkeit der innerstaatlichen Befriedung" führe in "kritischen Situationen" dazu, den inneren Feind zu bestimmen. Die "Leistung eines normalen Staates" bestehe vor allem darin, innerhalb des Staates eine "vollständige Befriedung herbeizuführen" und dadurch eine "normale Situation zu schaffen", die die Gültigkeit von Rechtsnormen überhaupt erst möglich mache 27 • Der Gedanke der Befriedung kehrt mit steigender Notorietät wieder, und das in dem Maße, in dem Weimars innenpolitische Gegensätze immer bedrohlicher werden. "Die Leistung eines normalen Staates besteht darin, die gegensätzlichen Gruppierungen innerhalb seiner selbst zu relativieren und ihre letzten Konsequenzen, den Krieg zu verhindern. Ist ein Staat dazu nicht imstande, so verlegt sich das Schwergewicht der Politik von außen nach innen. Die innenpolitischen Gegensätze werden dann zu maßgebenden Freund- und Feindgruppierungen, und das bedeutet eben latenten oder akuten Bürgerkrieg" 28 • An anderer Stelle nennt er die politische als die "höchste" Einheit, "nicht weil sie allmächtig diktiert oder alle anderen Einheiten nivelliert, sondern weil sie entscheidet und innerhalb ihrer selbst alle anderen gegensätzlichen Gruppierungen daran hindern kann, sich bis zur extremen Feindschaft (d.h. zum Bürgerkrieg) zu dissoziieren" 29 • Auch an dieser Stelle schließt sich übrigens der Hinweis an den "Normalzustand" an, und damit fügen sich die verstreuten Elemente der Souveränitätsdefinition zusammen (der Perspektivenwechsel von der Ausnahme zur Normalität wäre ohne diesen Zusammenhang unmöglich): Die Ausnahme wird dem herbeizuführenden Normalzustand, die Feinderklärung der innerstaatlichen Befriedung untergeordnet. 7-4. Es ist nicht unser Ziel, Schmitts BdP anband der soziologischen Konfliktforschung zu analysieren - das wäre das Thema einer anderen Untersuchung. Dennoch scheint mir geboten, zumindest auf einige Punkte einzugehen, insoweit sie Auskunft geben über die hierzulande üblichen Kritiken am BdP. Schmitts konfliktorientierte Definition des Politischen erschien knapp zwanzig Jahre nach Simmels bahnbrechenden Aufsätzen über den "Streit" und drei Jahre vor der Feststellung der Amerikanischen Soziologischen Gesellschaft: 27 28 29

BdP 46. HP 26 FN 1. StE 141.

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eine Soziologie des Konflikts müsse erst geschrieben werden 30 • Der Durchbruch der konsensorientierten Systemtheorie begünstigte dieses Forschungsprogramm nicht. Ende der 60er bzw. Anfang der 70er Jahre änderte sich zwar das "theoretische Paradigma" auch in Deutschland, und der Konflikt wurde ein gewissermaßen vorrangigeres Thema als der Konsens. Schmitts BdP war jedoch bereits hoffnungslos verschüttet durch das Geröll der obligaten und unreflektierten Entrüstung und hemmungslosesten Unterstellung. Jedenfalls nimmt weder die Soziologie des Konflikts, noch die utilitaristische Konflikttheorie Notiz von ihm. Schmitts Essay über den Konflikt liefert zwar keine meßbaren Indikatoren oder schnell operationalisierbaren Arbeitshypothesen. Indessen wird das theoretische Niveau der empirischen Konfliktforschung selbst von ihren Anhängern ein wenig pessimistisch beurteilt, und daher scheint es eine Verschwendung geistigen Kapitals zu sein, wenn man Schmitts Essay endgültig abschreiben würde. Ich werde aus der umfangreichen Literatur die Thesen eines einzigen Buches, Cosers "Theorie sozialer Konflikte", berücksichtigen. Es ist insbesondere denjenigen zu empfehlen, die sich durch den häufig ungenießbaren Stil soziologischer Literatur abschrecken lassen. Coser setzt kommentierend an Simmels Untersuchung über den Konflikt an, die zu den wichtigsten Beiträgen der neuzeitlichen Konfliktforschung gezählt werden darf31 . Sie war beim Erscheinen des BdP bereits zwanzig Jahre alt, und jedenfalls analytisch um einiges differenzierter als der Schmittsche Entwurfwas hier kein Werturteil sein soll. Simmels Soziologie scheint, gerade wegen seiner Auffassung über den Konflikt, auf soliderer theoretischer Basis zu stehen als die strukturell-funktionalistische Soziologie. Die letztere war stabilität- und konsensorientiert und vermochte den Konflikt nur als "Anomie", als Krankheit des sozialen Körpers zu bewerten. Simmels Soziologie scheint auch eine größere Erklärungskraft zu besitzen, als die nach dem Scheitern des Funktionalismus aufkommende, psychologisch orientierte Konfliktforschung. Und nun zu den Thesen: 1. Die Behauptung, daß ein Akteur den Konflikt um des Konflikts willen befürwortet, beruht auf einer Zurechnung, die die Motive des Handelnden willkürlich ignoriert. Trotzdem wollen wir das Motiv: Kampf als "Selbstzweck", "Kampf um des Kampfes willen" nicht unbesehen übergehen, selbst wenn es im BdP nicht den geringsten Anhaltspunkt dafür gibt. Die wichtigere Frage wäre, ob eine solche Auffassung, wenn sie tatsächlich vorhanden wäre, sich mit anderen Aussagen des BdP vereinbaren ließe.

30 Es ist unmöglich, die Geschichte der Konfliktforschung hier in ein paar Sätze zu drängen. Der interessierte Leser sei auf Widmaier, insb. Kapitel 2.3 verwiesen. Zum Überblicks. das Kapitel3 (Konflikt- Gewalt- Revolution. Forschungstraditionen und ihre Probleme) in Widmaier 38 ff.; s. auch Weede. 31 Simmel: Der Streit; in: Soziologie, Kapitel IV, S. 247ff.

9 Holczhauser

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Zweiter Teil

Coser unterscheidet zwischen "echten" und "unechten" Konflikten. Im echten Konflikt verfolge man ein wohlbestimmtes Ziel. Die Gewaltanwendung ist das Mittel, welches in der aktuellen Gewinnkalkulation der Beteiligten den maximalen Erfolg verspricht. Im unechtem Konflikt strebt man kein bestimmtes Ergebnis an, sondern reagiert aufgestaute Agression ab 32 . Wer (oder was) Konfliktsobjekt ist, ist zufallig und von zweitrangiger Bedeutung. Es besteht auch keine Wahl hinsichtlich der Mittel: Gewaltanwendung ist die einzige Form seiner Lösung. Dieser Unterschied sollte nicht mit dem zwischen "rationalem" und "irrationalem" Handeln verwechselt werden. Denn der Begriff des echten Konflikts impliziert nicht, daß das angewandte Mittel dem Ziel immer adäquat ist 33 während die Gewaltanwendung dem Ziel des unechten Konflikts fast immer entspricht, also "zweckrational" ist. Wir fassen also den unechten Konflikt ins Auge. Ob er tatsächlich "sein eigener Zweck und Inhalt" 34 bzw. sein eigener Grund ist, wollen wir hier nicht weiter untersuchen. Psychologie und Psychiatrie, Frustrations- und Deprivationstheorien wissen es (zumindest solange es nicht um Carl Schmitt geht), ehrenrettende Gründe für die scheinbar ziel- und wahllose Gewaltanwendung anzugeben, um sie vom Makel des "Selbstzwecks" zu befreien: "strukturelle" Gewalt, anonyme Unterdrückung, autoritäre Umgebung, mangelhafte Sozialisation, um nur einige davon zu nennen. Selbst wenn man nun die Beliebigkeil des Objektes in die "Inhaltslosigkeit" des Feindbegriffs umdeuten würde, kann dieses Muster wenig für Schmitts Konfliktbegriff abgeben. Denn Schmitt spricht nicht vom privaten Konflikt, erst recht nicht von der Zerstörungswut des individuell Frustrierten, sondern vom Krieg, von der "Gemeinschaft kämpfender Menschen". Krieg ist nicht individuelle, sondern kollektive Gewaltanwendung. Ihm liegen nicht private, persönliche, erst recht nicht "krankhafte" Emotionen zugrunde: man brauche den Feind nicht zu hassen (Coser: der echte Konflikt impliziere "nicht notwendig Feindlichkeit und Agressivität" 35 ). Die Kritiker, die in Schmitts Konfliktbegriff individuelle, psychische oder gar psychiatrische Komponenten suchen, begehen einen doppelten Fehler. Der erste ist derjenige, von dem sich die Konflikttheorie inzwischen zu distanzieren beginnt: sie übertragen Erkenntnisse, die auf individuelles Handeln zutreffen, ohne die nötige Transformation aufkollektives Handeln 36 • Der zweite ist, daß sie das Erklärungsmuster, das sie offensichtlich für plausibel und unproblematisch halten, Schmitts zuschreiben, ohne sich um Anhaltspunkte im Text oder die Konsistenz mit anderen Aussagen Schmitts zu kümmern. 32 33 34 35 36

Coser 57 f. Coser 65. Simmel 259. Coser 73. Widmaier 52 ff. u. passim.

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Berücksichtigt man die Erkenntnisse der handlungstheoretisch orientierten Konfliktforschung, so kann man gegen solche Interpretationen einige Argumente entgegensetzen: i) Aggressivität, die Selbstzweck ist, ist äußerst schlecht organisierbar. Sie ist instabil, und sie kann, gerade wegen der Beliebigkeil des Objekts, leicht in andere Kanäle geleitet werden 37 . Sie kann sich insbesondere, bereits in der Organisationsphase, z. T. gegen die künftigen Kampfgenossen, entladen. ii) Die Geschichte der internationalen Politik liefert erstaunlich wenig Beispiele dafür, daß die Motive des unechten Konflikts in der Entscheidung für Kriege eine große Rolle gespielt hätten. Sie scheinen in der Regel nicht die Ursache, sondern das Ergebnis von Kriegen zu sein 38 •

iii) Mit der Vorstellung, daß der Konflikt sein eigener Zweck ist, geht offenbar die Annahme einher, daß er besonders intensiv und unmenschlich ist, weil er keine Relativierung des Ziels und der Mittel kennt. Die Kehrseite dieser Annahme ist der Glaube, daß Konflikte um Werte oder Ideale, wenn nicht schon vermeidlich, so zumindest temperierter seien. Diese Glaube ist empirisch schwer zu belegen, um so mehr das Gegenteil, daß Objektivierung den Konflikt radikalisiere. Das Bewußtsein, nicht für sich, sondern für die "Sache" zu kämpfen, könne dem Kampf "einen Radikalismus und Schonungslosigkeit geben, die ihre Analogie an dem gesamten Verhalten sehr selbstloser, sehr ideal gesonnener Menschen findet"39. 2. Nach These 9. von Coser fördert der externe Konflikt die Solidarisierung, die Kohäsion, die Integration der Gruppe40 • Sie hat drei unmittelbare Implikationen: i) es gebe eine "Wechselwirkung zwischen despotischer Verfassung und kriegerischen Tendenzen einer Gruppe41 "; ii) die Notwendigkeit der inneren Kohäsion führe dazu, den äußeren Feind zu beschwören oder zu erfinden42 ; iii) dessen "Nebenprodukt" sei die Suche nach dem inneren Feind43 • Die These und ihre lmplikationen sind geradezu ein Kristallisationspunkt der Vorwürfe, die gegen Schmitt erhoben werden. Sie lassen das Grundkonzept des BdP als folgerichtig erscheinen, natürlich wenn die immer mitgedachte Annahme zutrifft: für Schmitt sei die Unterscheidung zwischen dem (externen) Freund und Feind 44 das einzige Mittel zur Homogenitätsbildung. Wenn diese These 37

38 39 40 41 42

314).

Coser 59. Coser 62. Simmel 260. Coser 103. Simmel 310. Coser 132; es könne sogar "politische Klugheit sein, für Feinde zu sorgen" (Simmel

Coser 127. T. M. Newcomb hat dafür eine genial verharmlosende Bezeichnung gefunden: "positive" und "negative Bezugsgruppe". 43 44

9*

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ohne Einschränkung gelten soll, dann scheint auch die Wahrscheinlichkeit größer zu sein, daß Schmitts Begriffe des Politischen B1 und B2, entgegen meines obigen Trennungsversuchs45 , miteinander sozusagen kraft der "Natur der Sache" zusammenhängen. Es ist nun kein ehernes Gesetz, daß externer Konflikt die interne Solidarität stärkt. Sondern die Wirkung hängt von der Kosten-Nutzen-Rechnung der maßgebenden internen Konfliktgruppen ab. Nur wenn das Maß des internen Konflikts kleiner ist als das des externen, wenn das Interesse an der Erhaltung der Gruppe größer ist als der Wunsch nach ihrer Auflösung, werden die Mitglieder den Kampf gegen den externen Feind wählen. Soziale Systeme mit geringer Solidarität lösen sich eher auf46 • Damit erweist sich auch die erste Folgethese als korrekturbedürftig. Despotische Regierungsmethoden im Ausnahme- und Kriegszustand (die über die zur Kampfführung unerläßlichen generalstabsmäßigen Zentralisierung hinausgehen) sind keine unbedingte Folge des äußeren Konflikts, sondern sie beugen der wahrscheinlichen Desolidarisierung vor47 • Um die Stichhaltigkeit der zweiten Folgethese zu beurteilen, muß man zwei Faktoren auseinanderhalten: die numerische Größe der Gruppe (ein Unterschied, der wegen der unterschiedlichen Konsenskosten relevant ist) und die Intensität der Partizipation ihrer Mitglieder. Hinzu kommt ein dritter, situationsbedingter Aspekt: ob die Gruppe in der ständigen Erwartung eines intensiven und anhaltenden Konflikts lebt oder nicht48 • Coser präzisiert Simmels Beobachtung dahingehend, daß die Tendenz, die innere Kohäsion durch äußere Feindbilder zu erhöhen, weniger für große Gruppen als vielmehr für kleine Kampfgemeinschaften mit Sektencharakter typisch ist. Diese Tendenz ist nichts Zufälliges und sie hängt mit der dritten Folgethese zusammen: kleine Gruppen, die von ihren Mitgliedern totale Partizipation verlangen, sind von Abweichlern, dem "inneren Feind" in größerem Maße bedroht als große Gruppen. Sie betreiben daher ständig Selbstreinigung, um die Kohärenz der Gruppe zu erhöhen. Damit wird uns ein vierter Faktor bewußt, den Coser nicht explizit erwähnt: es muß die Möglichkeit bestehen, den inneren Feind zum Austritt zu zwingen. Das ist ein entscheidender Unterschied zwischen beliebigen "sozialen" Gruppen Vgl. den Abschnitt 7-1 oben. Coser 113. Aufschlußreich sind die zitierten Beispiele: der Krieg mit Deutschland habe den sozialen Zusammenhalt in England verstärkt, in Frankreich geschwächt; die japanische Propaganda für "Solidarität zwischen der dunklen und der gelben Rasse" hatte in den USA keinen Erfolg, während die Angriffe gegen britische und niederländische Kolonien in Südostasien zur Desintegration der sozialen Struktur führten. Ein ähnliches Ergebnis erbrachte Mertons Studie 1942 über die Familiensolidarität während der Depressionszeit (vgl. Coser 111f.). 47 Coser 108 f. 48 Coser 122 f. 45

46

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und dem Staat. Der Staat ist jedoch die einzige Organisation, die Schmitt (der keine allgemeine Soziologie des Konflikts betreibt) vor Augen hat. Die Annahme, daß Schmitts Staatsauffassung mit diesem Bild der Sekte etwas gemeinsam hat, wäre unseriös, ja absurd. Sie wäre gerade aus der Perspektive, daß der Schmittsche Staatsbegriff einen extremen Zwangscharakter haben soll, widersprüchlich. Denn die Sekte beruht auf der freiwilligen Partizipation seiner Mitglieder, dem gemeinsamen "Werterlebnis" extrem hoher Intensität49 • Erzwungen wird ja nicht die Teilnahme, sondern der Austritt. Zusammenfassend kann man feststellen, daß sich die herrschende SchmittInterpretation bezüglich des zweiten Problemkreises in einer "besseren" theoretischen Lage befindet als hinsichtlich des ersteren. Denn ihr Erklärungsmuster projiziert nicht individuelles Verhalten, sondern immerhin das Verhalten von (extrem kleinen) Gruppen auf den Staat. Damit wird nicht gesagt, daß das Ergebnis weniger verfehlt ist. (Ein scheinbar paradoxaler Zusammenhang zwischen externem Konflikt und Integration besteht darin, daß die Akteure nicht nur an der eigenen, sondern auch an der Einigkeit des Gegners interessiert sein können. Große Interessenorganisationen wie Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände usw. ziehen den konzentrierten Kampfmit einem zentralistisch organisierten Gegner dem Zermürbungskampfmit einer "diffusen Menge von Feinden" vor. Im letzteren kommt man nämlich selten zu entscheidenden Siegen oder zu Dauerregelungen 50 . Coser meint, die Bedingung, unter welcher das Interesse an der Einigkeit des Gegners besteht, ist das "annähernde Gleichgewicht". Diese Begründung scheint mir unplausibel. Denn die Zwiespalt des Gegners senkt die momentanen Entscheidungskosten. Auch bei annäherndem Gleichgewicht kann es zweckmäßig sein, den Gegner zu spalten - einem unterlegenen Konfliktpartner kann es schlicht das Leben retten. Zieht der Akteur eine schnelle Entscheidung der Senkung der Konfliktkosten vor, so rangiert der Konfliktgegenstand nicht an der Spitze seiner Präferenzordnung und auch seine Mittel dürften nicht extrem knapp sein. Der Grund ist also nicht das Gleichgewicht. sondern die Tatsache, daß der Konflikt nicht existenziell ist!) 7-5. Zum Staate als einer politischen Einheit gehöre das jus belli 51 • Mit dieser Wendung biegt Schmitt seine Erörterung des Politischen endgültig ins Völkerrechtliche um. Anfangs bemühte er sich noch, die Qualität der Konfliktpartner offen zu halten, offensichtlich um die explizite Bezugnahme auf den "Staat" zu vermeiden. Er sprach unspezifisch vom "ganzen Volk", von kämpfenden "Gesamtheiten von Menschen" 52 usw. Später erweisen sich diese immer 49 Aus diesem Grund wäre die Assoziation mit Smends Staatsbegriff schon naheliegender, jedoch nicht weniger absurd. 5° Coser 160. 51 BdP 45. 52 BdP 29.

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Zweiter Teil

unverhüllter als "wesentlich politische Einheiten" 53 - ganz im Sinne der Verfassungslehre. Damit wird das Politische als Feindentscheidung weniger ein Verfassungsprinzip als das Erklärungsmuster der internationalen Politik, des Völkerrechts. Es ist für einen Juristen schon recht eigenartig, ein Recht (jus belli) so bedenkenlos dem unspezifischen Oberbegriff "reale Möglichkeit", einer lediglich natur- oder höchstens sozialwissenschaftliehen Kategorie zu unterordnen, wie Schmitt es hier beiläufig tut. Die reale Möglichkeit von Feindentscheidung und (wenn auch noch so begrenzter) Kriegsführung war bereits in der Fehde gegeben- sie war sogar mehr, nämlich ein Rechtsinstitut. Die reale Möglichkeit bestand auch als eine rechtswidrige Feindentscheidung: der Bruch irgendeiner der zahlreichen Partikularfrieden, der als Rechtsbruch und nicht als ein spezifisch politischer Akt angesehen wurde. Genauso wenig war die innerstaatliche, amtlich ergehende Feinderklärung 54 ein politischer Akt, sondern sie war in einem Staat mit schwacher Exekutivgewalt ein Notbehelffür die Vollstreckung von Rechtsurteilen, bzw. man delegierte sie an interessierte Dritte. Die "Möglichkeit" der Feindentscheidung besteht fernerhin auch im Bürgerkrieg, "d.h. der Auflösung des Staates" 55 • Selbst wenn man dem bedrohten Staateinjus belli zuerkennt, wird fraglich, ob dieses im Fall der Auflösung ihm, dem Angreifer oder beiden zustehe. Wenn man also die bloße Möglichkeit der Feindentscheidung als jus, als rechtliches Erlaubtsein, präzisiert, dann muß man a) die positive Quelle nennen, der ein solches Recht entspringt (um das Politische nicht wieder von natur-und vernunftrechtlichen Fiktionen abhängig zu machen) bzw. man muß b) den Unterschied von Rechtsquellen (Rechtsordnungen), die im einen Falllediglich private, im anderen dagegen öffentliche Feindentscheidungen als Rechtsakte begründen, aufzeigen. Diese spezifische Quelle der öffentlichen Feindentscheidung ist offensichtlich das Völkerrecht, und dies verweist uns auf eine Untersuchung, die das gleiche Gebiet nicht als das Modell des Politischen, sondern explizit als eine, von der staatlichen verschiedene, Rechtsordnung aufgefaßt hat. Der Krieg, bei Schmitt lediglich die Möglichkeit und das Risiko des Politischen, erfährt bei Erich Kaufmann eine viel ansehnlichere Bewertung. In ihm offenbare sich der Staat in seinem Wesen, er sei Mittel zur Selbstbehauptung in der Weltgeschichte, der .,siegreiche Krieg" ist das .,soziale Ideal" 56 • Es ist überraschend, wie leichtfertig Schrnitt diese Formel als eine mehr rhetorische Verbindung unvereinbarer Gedanken abtut. Daß das soziale Ideal bei KaufBdP 45. BdP47. Vgl. insb. Otto Brunner: Land und Herrschaft, Wien-Wiesbaden, 1958, 36fT. 55 BdP 47. 56 Kaufmann (I) 145ff. Zur Beurteilung des Gesamtwerks vgl. den Aufsatz von Manfred Friedrich, in: Der Staat, 2 I 1987, S. 231 fT. SJ

54

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mann keine "typisch neukantianisch-liberale" Anleihe ist 57 , hätte ihm schon deshalb einleuchten müssen, weil Kaufmann Stammlers "Ideal" als einen tautologischen, unverwertbaren und "formalistischen Rationalismus" verwirft58. Seine eigene Formulierung ist übrigens irreführend, sie sollte eigentlich heißen: der Krieg als das Ideal des "Sozialrechts", was etwas wesentlich anderes ist. Kaufmanns Unterscheidung zwischen Individual- und Sozialrecht geht auf Gierke 59 zurück. Das Individual- oder Koordinationsrecht ist ein System einander gleich- oder zumindest nebengeordneter Subjekte, die in kein institutionelles Gefüge eingebunden sind. Das Sozialrecht ist dagegen nicht das, was der Name verspricht: ein System katallaktischer, gegenseitiger "Tauschakte" (eben "soziales" Handeln), sondern das Gegenteil: die asymmetrische Ordnung eines hierarchischen Verbandes, Subordinationsrecht. Während für Gierke auch der privatrechtliche Vertrag als ein Modell des Individualrechts galt, erkennt Kaufmann sehr folgerichtig nur die zwischenstaatlichen Beziehungen als echtes Individualrecht an 60 • Das positive Prinzip des Koordinationsrechts ist nach Kaufmann die Formel: "nur der, der kann, darf auch". Das heißt, der Rechtsgrund von Ansprüchen, die die Staaten einander stellen, ist ihre Fähigkeit, sie durchzusetzen-zumal es weder zentrale Entscheidungs- und Vollstreckungsintanzen noch einen positiven Gesichtspunkt gibt, "nach dem die Gerechtigkeit der Ansprüche beurteilt werden kann". Der Krieg ist also "kein Aufhören des Rechtszustandes, sondern der einzige, in einem Koordinationsrecht denkbare letzte Rechtsnachweis", die "Bewährung des Rechtsgedankens", die "letzte Norm", die darüber entscheidet, welcher der Staaten Recht hat. Oder von der "negativen" Seite her gesehen: ein Staat, der nicht imstande ist, seinen Platz in der Weltgeschichte zu behaupten, verwirke "auch die von ihm beanspruchte Stellung" 61 • Das ist ein dem Leser des Begriff des Politischen wohlbekannter Gedanke: "Dadurch, daß ein Volk nicht mehr die Kraft oder den Willen hat, sich in der Sphäre des Politischen zu halten, verschwindet das Politische nicht aus der Welt. Es verschwindet nur ein schwaches Volk" 62 • Daß der Krieg ein "geordnetes Verfahren" des Individualrechts ist, schließt nicht aus, daß er zugleich das Ideal des Sozialrechts ist- sie gehören vielmehr zusammen. Dies bedeutet übrigens genauso wenig wie bei Schmitt, daß der Krieg ein Staatsziel ist. Sondern er ist lediglich "das letzte Mittel zu jenem obersten Ziel", sich in der Weltgeschichte, im Gesamtplan des menschlichen Kulturlebens" zu behaupten. Er mache die absolute Subjektion, die das 57

58 59 60 61 62

BdP 34. Kaufmann (I) 150. Gierke (VI) 26. Kaufmann (I) 171 ff. Kaufmann (I) 153. BdP 54.

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Zweiter Teil

Sozialrecht erfordert, sittlich möglich" 63 , d.h er legitimiere sie mit einer Annahme, die "in der Welt hegelianisch-rankescher Geschichtsphilosophie beheimatet ist" 64 • Die Konstruktion des "sittlichen Machtstaates" soll dem Vorwurf entgegenwirken, daß das Prinzip des Koordinationsrechts letztendlich das Recht des Stärkeren, die Rechtfertigung roher Gewaltanwendung und jeglichen Imperialismus ist. Das Prinzip des Individualrechts läßt nur subjektive Rechte zu. Kaufmanns Anliegen, die clausula rebus sie stantibus als objektives Rechtsinstitut zu konstruieren, erfordert jedoch ein objektives Prinzip, welchestelosund zugleich Grenze des völkerrechtlichen Vertrags (auch des Friedensschlusses) ist. Er findet es im Selbsterhaltungsrecht, einem durch keinen Vertrag veräußerlichen "Grundrecht" der Staaten" 65 , welches Recht vor jedem anderen (auch individualrechtlich gesetzten) Recht stehe. An diesem entscheidenden Punkt muß Kaufmann eine Ausnahme vom Durchsetzungsprinzip machen: das Grundrecht komme jedem Koordinationssubjekt notwendig, also ohne die Bedingung des Nachweises, zu 66 • Insbesondere könne es durch (wirkliche oder fiktive) Dritte (Völkerrechtsgemeinschaft, civitas maxima usw.) weder gewährleistet noch garantiert werden, weil dies das Individualrecht in Sozialrecht verwandeln würde. Er verwirft jedoch auch die mögliche Deutung, es handele sich hier- wie bei jedem Grundrecht- um ein Recht naturrechtliehen Ursprungs, und er hofft, seine Objektivität durch die begeisehe Rechts- und Staatsphilosophie zu garantieren. Wenn man nun den empirischen Staat mit der Idee des "sittlichen Machtstaates", die nachträglich bewiesene Harmonie zwischen Macht und Recht durch eine prästabilisierte67 ersetzt, dann fällt der Nachweis nicht schwer, daß der Staat, kraftseiner "eigentümlichen Natur" einen objektiven Wert in sich trage. Die philosophische Konstruktion erhält in diesem Kontext unausweichlich eine naturrechtliche Funktion 68 , und der Unterschied zum Vorgehen des herkömmlichen Naturrechts besteht lediglich darin, daß das Axiom des "von Natur aus guten" Individuums nunmehr auf das Subjekt des Individualrechts, den Staat angewandt wird. 7-6. Wären die beiden Begriffe des Politischen wirklich von einander untrennbar, so würde Schmitts Abschweifung ins Völkerrechtliche nicht nur die Feindentscheidung betreffen, sondern sie wirkte auch auf das Politische im Sinne von B1 zurück. Die Verfassunggebung wäre dann ein völkerrechtlicher

63 64 65 66 67 68

Kaufmann (I) 145ff. BdP 34. Kaufmann (I) 204. Kaufmann (I) 199. Kaufmann (I) 148, 135; vgl auch 178. im Sinne von Erik Wolf, S. 11 .

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Akt, und völkerrechtliche Akte, die sich gegen den Feind richten, müßten dessen verfassunggebende Gewalt, seine Souveränität berühren. Doch gerade in diesem Bereich, wo die Akte der isolierten verfassunggebenden Gewalt unausweichlich "soziales" Handeln sind, bemüht sich Schmitt, völlig unerwartet, um eine rigorose Abgrenzung zwischen 81 und 82. Dadurch versucht er, eine Schwierigkeit des Schemas B2 zu lösen, die er nicht von Anfang an einkalkuliert und auch nachträglich nicht aufgearbeitet hat. Sie besteht darin, daß der BdP nicht zwischen zwei Stadien der Feindentscheidung: dem vor bzw. nach der Austragung des Konflikts, unterscheidet. Sucht man das Politische in der Situation vor der Entscheidung des Kampfes zu definieren, so sind beide Konfliktpartner "politisch", wenn sie die Entscheidung gegen den Feind und den Kampf nicht gescheut haben. Die Definition des Politischen im Sinne des Konflikts sagt gar nichts über den Ausgang des Kampfes aus. Der auf Schleichwegen eingeführte Zusatz, der eine der kämpfenden Parteien als die "entscheidende" Einheit auszeichnet, macht dagegen den politischen Charakter vom Erfolg der Feindentscheidung abhängig. Es drängt sich unmerklich die Vorstellung auf, daß nur der Sieger, die sich durchsetzende Einheit "politisch" ist. Das ist im innerstaatlichen Bereich folgerichtig 69 • Im außen- oder zwischenstaatlichen Bereich hat es jedoch mindestens zwei ungewollte Wirkungen. Erstens wäre der Verlierer beim Beginn des Konflikts politisch, nach dem Friedensschluß unpolitisch. Andererseits würde sich gerade die schwächere Partei, die die größere Anstrengung macht und daher den Konflikt intensiver erlebt, schließlich als unpolitisch erweisen. Völkerrechtliche Verträge beweisen am besten, daß der Bezug einer verfassunggebenden Gewalt auf eine andere ruinös sein kann. Daher kann ein völkerrechtlicher Vertrag "niemals eine Verfassung im positivem Sinne", kein "Teil der Verfassung eines selbständigen Staates" sein 70 • Eine völkerrechtliche Abmachung ist kein Akt der verfassunggebenden Gewalt, weil ein solcher Akt immer ein Befehl, ein "acte imperatif' (Boutmy) ist 71 und er würde die Souveränität des unterlegenen Partners beeinträchtigen 72 • Wenn völkerrechtliche Verträge trotzdem in die Verfassungsgesetze eines Landes aufgenommen werden, so sind dies nur technische Schutzmaßnahmen gegen den einfachen Gesetzgeber. Die rigorose Trennung zwischen Form- und Feindentscheidung hat für Schrnitt, im Hinblick auf die außenpolitische Lage der Weimarer Republik, eine praktisch-politische und verfassungsrechtliche Bedeutung. Als Verlierer war Deutschland keineswegs eine maßgebende, entscheidende Einheit. Ihm wurden 69 70

71 72

BdP 39. VL 71. VL 76. VL 74.

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Zweiter Teil

Bedingungen aufgezwungen, die die Substanz der demokratischen Verfassung aushöhlen (z. B. der Verbot der allgemeinen Wehrpflicht). Trotzdem ist Schmitt der Meinung, die Versailler Verträge berührten weder den demokratischen und souveränen Charakter der Weimarer Republik, noch hoben sie ihre politische Existenz auf13 . Dies wäre unvorstellbar, wenn die (gescheiterte) Feindentscheidung mit der Substanz der Verfassung verbunden wäre. Der Bündnisvertrag ist ein völkerrechtlicher Akt vom Konsenstypus - eine Freundentscheidung. Er ist der Ausdruck des Willens aller Beteiligten. Man könnte ihn also ohne weiteres als einen Akt der verfassunggebenden Gewalt auffassen. Die Abgrenzung ist trotzdem unumgänglich, weil die verpflichtende Feindentscheidung u. U. vom Bündnispartner getroffen wird. Das käme einem Verzicht auf das jus belli gleich und wäre für das "politische" Subjekt verhängnisvoll. Deshalb muß Schrnitt auch hier die außenpolitische, auf den Anderen gerichtete Handlung von den Akten der verfassunggebenden Gewalt trennen: Bündnisverträge berühren nicht den politischen Status eines Staates 74 • Derjenige, der durch Vertrag gebunden ist, verzichte nicht auf die Entscheidung über Freund und Feind, sondern nur die Ausübung des jus belli werde vertraglich festgelegt. Noch größere Schwierigkeiten treten im "echten" Bund auf, wo die dauerhafte Befriedung mit der politischen Substanz der Mitglieder kollidiert- Schmitt spricht von einer Antinomie. Der Bund bezwecke einerseits die "Erhaltung der politischen Selbständigkeit" seiner Mitglieder, andererseits verlange er einen dauerhaften Verzicht auf das jus belli" 75 • Das ändert ihren politischen Status und daher ist der Bundesvertrag Verfassungsänderung, ein Akt der verfassunggebenden Gewalt. Der Widerspruch ist nur durch die "Homogenität" aller Bundesmitglieder lösbar. Das heißt, negativ ausgedrückt, daß zwischen den Mitgliedern der existenzielle Konflikt, "die Möglichkeit der Feindschaft dauernd und endgültig ausgeschlossen ist" 76 • Diese Erklärung ist jedoch nur auf den Konsensfall anwendbar, wo sie ohnehin entbehrlich ist. Für den Konfliktfall übernimmt Schmitt die geläufige Fiktion, daß ein Krieg zwischen den Bundesmitgliedern kein Krieg, sondern nur ein Rechtsakt, eine "Exekution" ist. Ihre Rechtsgrundlage ist der Wille aller, auch des Bezwungenen. Das ist das wohlbekannte Vertragsmodell - auf Völkerrechtssubjekte angewandt. Schmitts anschließende Beispiele zeigen wieder einmal sehr anschaulich, wenn auch ungewollt, was es taugt. Der nordamerikanische Sezessionskrieg wurde nach dem Sieg der Nordstaaten in eine Bundesexekution umgedeutet, und diese Interpretation hätte wohl auch der Krieg 1866 erfahren, wenn nicht Preußen, sondern Österreich gesiegt hätte 77 • 73

74 75 76

VL 74, 254; vgl. auch G&G 203 f. (FN 53). VL 365. VL 377. VL 377.

7. Das Politische als Konflikt: B2

139

Die Frage: "Krieg oder Rechtsakt", ist keiner sachlichen Antwort fähig, die beiden sind "objektiv" ununterscheidbar. Damit erweist sich, daß letztendlich auch die zentrale Frage: "Homogenität oder Heterogenität", von einer Dezision abhängt. 7-7. Am häufigsten wird Schmitt vorgeworfen, der Begriff des Politischen sei materiell unbestimmt, ja radikal gleichgültig gegen jeden Inhalt. Das ist jedoch nur die eine Seite. Denn andererseits soll der Begriff des Politischen sehr wohl einen spezifischen politischen Konfliktstoff enthalten. Damit erweise sich die Definition nicht so sehr als einseitig, sondern vielmehr als inkonsistent ("Entweder ist der Begriff des Politischen materialbestimmt oder er ist es nicht. Beides zugleich kann er nicht sein" 78 ). Nach milderer Beurteilung habe sie nur einander widersprechende Ansprüche bzw. sei nur "zwiespältig" 79 , zwischen den Extremen "substanziell" und "okkasionell" schwankend 80 • Dieser Standpunkt ist differenzierter und damit auch scheinbar richtiger als der erstere. Er verspricht auch zu erklären, warum verschiedene Kritiken des Begriffes des Politischen häufig miteinander unvereinbar sind 81 • In der Argumentation von Mathias Schmitz nimmt die "Widersprüchlichkeit" des Schmittschen Feindbegriffs, aus der scheinbar alle übrigen Unzulänglichkeiten zu erklären sind, eine zentrale Stelle ein. Schmitts Feindbegriff sei "strukturell inkohärent", er enthalte "disparate Elemente", die die "Einheit des Begriffs eigentlich sprengen". Einerseits lasse Schmitt den Konflikt "in der eigenen Existenz" begründet sein und scheine sich damit für "einen materialbestimmten Feindbegriff zu entscheiden". Andererseits nenne er keine Kriterien, an denen sich die Feindentscheidung orientieren könnte, d.h jeder Konfliktstoff könne potentiell politisch werden 82 • Indessen fragt man sich nur, worin eigentlich der Widerspruch bestehen soll? Denn diese Aussagen beschreiben nur verschiedene Perspektiven desselben Tatbestandes, und jeder angebliche Widerspruch verschwindet, wenn man den Standpunkt der Konfliktbeteiligten und den des Beobachters auseinanderhält. Das Subjekt der jeweiligen Feindentscheidung ist natürlich "wesensmäßig" und "existenziell" mit einem inhaltlichen Motiv, das für ihn (zumindest zum Zeitpunkt der Entscheidung) nicht verfügbar ist, verbunden. Davon unabhängig kann (und muß wohl!) der Beobachter der Historie, der nicht nur diesen oder jenen Konflikt im Blickfeld hat, ohne größeren theoretischen Aufwand eine Vielfalt der Konfliktstoffe registrieren. Es wäre geradezu grotesk, wenn man eine Definition mit dem Anspruch aufstellen würde, den wirklich handelnden 77

78 79 80 81

82

VL 370. Schneider 250. Hofmann 114, FN 60. Löwith 109. Hofmann 7 ff. Schmitz 95ff.

140

Zweiter Teil

Subjekten - vom Schreibtisch heraus - genehmigte oder verbindliche Konfliktgegenstände zu präsentieren. Erst recht gilt dies für Konflikte, deren Beteiligte bereits der Geschichte angehören. Wenn Schmitt sagt, daß ein jeder Stoff politisch werden kann, so meint er damit gewiß nicht, daß die Beteiligten eines konkreten Konflikts bereit waren, sind oder sein werden, für beliebige Motive, sozusagen um des Kampfes willen, zu kämpfen. Die Feststellung gibt, wie schon gesagt, nicht den Standpunkt der Akteure, sondern den des Beobachters wieder. Die formale Perspektive des Beobachters negiert keineswegs die materielle Perspektive des Handelnden (was zu einem "Widerspruch" erforderlich wäre), sondern sie transzendiert und relativiert sie. Die erstere verhält sich zum letzteren wie das Allgemeine zum Besonderen. Es wäre müßig, für das Zusammenspiel der beiden Kategorien aufwendige Beispiele aus den verschiedenen Wissenschaften zu zitieren. Es genügt wohl, die analoge Situation des ökonomischen Handlungsmodells zu erwähnen. Die Annahme der subjektivistischen Nationalökonomie, daß das "ökonomische" Subjekt seine Mittel auf die Befriedigung eines beliebigen Bedürfnisses verwenden kann, steht keineswegs in Widerspruch zu der Feststellung, daß das konkrete Subjekt in der konkreten Situation sehr wohl wählen wird und seine Mittel in einer wohlbestimmten Weise verwendet. Man kauft und investiert genauso wenig um des Kaufes und der Investition willen, wie man um des Kampfes willen kämpft. Man sollte insbesondere darauf hinweisen, daß der oben aufgespürte "Zwiespalt" gar nicht erst mit dem Feindbegriff zusammenhängt. Eine freundschart-, harmonie-oder konsensorientierte Definition des Politischen (die man als die überlegenere Alternative hinzustellen pflegt,) kann nach dem obigen Denkmuster nicht weniger als widersprüchlich entlarvt werden. Denn einerseits können sich Menschen, die gewisse Wertvorstellungen nicht aufgeben wollen, auf den Konsens nur unter der Bedingung einlassen, daß er ihren materiellen Wertvorstellungen nicht widerspricht. (Es gibt keinen Konsens um des Konsenses willen.) Andererseits kann der Beobachter auch hier feststellen, daß in verschiedenen konkreten Gemeinschaften zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Konsensmotive wirksam waren. Bedeutet dies, daß der Freundbegriff inhaltsleer ist? Das Politische als Konflikt hat keinen spezifischen Sachbereich, sondernjeder Gegensatz kann die Intensität der Feindschaft erreichen. Das ist nur die symmetrische Konsequenz, die Kehrseite der ebenso zutreffenden Feststellung, daß auch das Politische als Konsens keinen spezifischen Inhalt hat. Die große Vielfalt der Kriterien der Homogenität (Schmitt) oder der Integrationsfaktoren (Smend) offenbart, daß auchjedes Konsensmotiv die Intensität der "existenziellen" Freundschaft oder der Homogenität erreichen kann. Was man als die These von der "radikalen(n) Gleichgültigkeit" Schmitts gegen jeden politischen Inhalt 83 kolportiert, ist in Wirklichkeit nichts anderes,

7. Das Politische als Konflikt: B2

141

als die objektive, hier jedoch ins Subjektive gewendete und Schmitt angelastete Indifferenz des Allgemeinen gegen das Besondere. Und das, was man als Widerspruch hinzustellen versucht, ist eine unentrinnbare Erkenntnisstruktur: die Notwendigkeit, das Besondere durch das Allgemeine zu ergänzen, oder umgekehrt, das Allgemeine durch das Besondere zu konkretisieren. Das Zusammenspiel der beiden ist eine triviale Angelegenheitjeder Wissenschaft, die sich nicht mit einem Besonderen aufhält oder mit ihm identifiziert, sondern in einer Vielfalt von Objekten das Allgemeine sucht. Daß es in grotesker Mißdeutung zum Erklärungsschema des "Mysteriums" Schmittscher Begriffsbildung avancieren konnte, entspringt wohl weniger einer sorgfaltig und gewissenhaft geprüften theoretischen Notwendigkeit, sondern vielmehr dem krampfhaften Willen, für die Ablehnung der konkliktorientierten Definition des Politischen eine scheinbar wissenschaftliche Kulisse aufzurichten. Wenn man nun das Mißverständnis von der angeblichen Widersprüchlichkeit des B2 ausgeräumt hat, so kann man die Frage, ob er nicht doch (einseitig) formal sei, erneut stellen. Sie ist zu bejahen: der Begriff des Politischen intendiert ein formales Kriterium des Politischen. Das bedeutet übrigens nicht, daß er ein unbestimmtes - also letztendlich kein- Kriterium des Politischen vorschlägt. Denn der Konflikt, dessen Intensität zur feindseligen Handlung führt, ist ein hinreichend definiertes Kriterium, um den konfliktorientierten Begriff des Politischen von einer Definition, in deren Zentrum der Konsens steht, scharf zu trennen. Der formale Charakter dieses Begriffs des Politischen hängt damit zusammen, daß er auf einem funktionalistischen Ansatz beruht. Er gibt keinen subsumtionsfähigen Tatbestand an, sondern er stellt es auf die Eigenheiten des Einzelfalles ab. In Ermangelung einer höheren Instanz überläßt er die Entscheidung darüber, ob der aktuelle Konfliktgegenstand einer Steigerung wert ist, den unmittelbar Beteiligten. Ein formal-funktionalistisches Kriterium des Politischen istjedenfalls nicht unbestimmter als etwa der§ 242 BGB. Nicht einmal ein "juristischer" Begriff des Politischen, wie er in der political-question-doctrine des Supreme Court erkennbar ist, braucht einem subsumtiven Ideal zu entsprechen. Ganz im Gegenteil, eine tatbestandsmäßige Festlegung würde ihn weitgehend unbrauchbar machen. Ein funktionalistisches und konkretisierungsbedürftiges Kriterium des Politischen ist um so mehr gerechtfertigt, als Schmitt nicht einmal einen Rechtsbegriff, sondern eine "allgemeine Definition des Politischen überhaupt" 84 intendiert. Der Vorwurf der inhaltlichen Unbestimmtheit entspricht einem theoretischen Standpunkt, der zumindest in der juristischen Methodenlehre längst als überwunden gilt. Er entspringt einem latenten begriffsjuristischen Erwartung, auch wenn die meisten, die ihn erheben, Nichtjuristen sind. 83 84

Löwith 108. BdP 23.

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Zweiter Teil

Der Vorwurf der inhaltlichen Unbestimmtheit nimmt eine bestimmte Form an, je nach dem, welches Element der Konfliktsituation im Vordergrund steht. So kann er lauten: Schmitt nenne keinen bestimmten Konfliktgegenstand. Daß er es nicht tut, ist in mehrerer Hinsicht gerechtfertigt. i) Schmitt intendiert keine Soziologie, sondern allenfalls deren Bedingung: die Abgrenzung des untersuchten Gegenstandes- die begriffliche Bestimmung des Politischen. Davon abgesehen wäre es nicht einmal für eine Soziologie des Konflikts sinnvoll, bestimmte Konfliktsinhalte zum Bestandteil einer Definition zu machen. Denn es besteht keine Garantie, daß die ausgeklammerten Inhalte für immer unumstritten bleiben. Es ist auch keine Prognose möglich, daß für konfliktträchtig erklärte Gegenstände tatsächlich immer einen Konflikt auslösen. Die inhaltliche Unbestimmtheit (man könnte es auch positiv "Offenheit" nennen), ist kein Gebrechen des Schmittschen Begriff des Politischen, sondern sie ist jeder Wissenschaft, die sich mit menschlicher Handlung beschäftigt, eigentümlich 85 • "Über den Inhalt von Interessen und den Grad ihrer Politisierung läßt sich wenig Allgemeines aussagen. Das Ausmaß, mit dem auch partikulare Interessen politisch motiviert werden, ist weniger eine Frage des Inhalts als vielmehr ein Problem der Situation, in der versucht wird, ein solches Interesse zu befriedigen" 86 • Man kann in einer soziologischen Studie eine solche Aussage machen, ohne sich dem Vorwurf auszusetzen, man operiere mit einem inhaltsleeren Konfliktbegriff, oder daß man "Situationssoziologie" betreibe. Denn solche Einwände wären allzu schnell als sachfremd, ja als dilettantenhart erkannt. Hinsichtlich Schmitt kann man sie hemmungslos ausbreiten. Der Versuch, in den Begriff des Politischen inhaltliche Kriterien aufzunehmen, wäre mindestens aus zwei Gründen inkonsistent. Erstens hätte Schmitt dadurch Sachbereiche für das Politische konstruiert, was er offensichtlich vermeiden wollte. Und zweitens würden Subjekte, die vorgegebene Kriterien berücksichtigen, in Wahrheit nur noch Subsumtion betreiben und die Entscheidung über Freund und Feind aus der Hand geben. ii) Schmitt weist wiederholt darauf hin, daß der Krieg nicht "für Ideale oder Rechtsnormen", sondern "gegen einen wirklichen Feind" geführt werde 87 • Das ist natürlich nicht so zu verstehen, daß die Kriegsführenden keinen Anlaß und keine Motive hätten, auch nicht, daß diese keine Rechtsnormen oder Ideale sein könnten. Sondern Schmitt bekräftigt dadurch nur sein grundsätzlich handlungstheoretisches Anliegen: die konfliktuale Handlung ist nicht die bloße Stellungnahme für oder gegen einen Inhalt, sondern die Auseinandersetzung mit seinem Träger. 85 Wahrscheinlich hat Hofmann 114 dies im Auge, wenn er großzügig konzediert, daß die Inhaltsleere des Begriffs des Politischen "kein individuelles Versagen", sondern "kollektives Schicksal" (?!) ist. 86 Widmaier 33. 87 BdP 51.

7. Das Politische als Konflikt: B2

143

iii) Jede inhaltliche Bestimmung kann aus einer Tatsachenfeststellung leicht ins Normative umschlagen. Daß Schmitt keinen spezifischen Konfliktgegenstand nennt, kann also dem Bemühen, sich nicht als autoritäre Instanz zu gebärden, entspringen. Der Vorwurf: "inhaltlich unbestimmter Politikbegriff' beinhaltet dann lediglich die Kritik einer neutralistisch-relativistischen Haltung. Er ist der Ausdruck der Vermutung, daß Schmitt, angesichts der möglichen Konflikte zwischen historischen und aktuellen politischen Subjekten, nicht Stellung bezieht. Aus diesem Blick ist die Zurückhaltung Schmitts alles andere als verwerflich. Denn man könnte kaum einen Katalog von wünschenswerten oder zulässigen Konfliktgegenständen entwerfen, ohne ideologischen Ausklammerungen, prophetischem Wahn oder naturrechtliehen Anmaßungen zu verfallen. Ein Begriff des Politischen hat andere Aufgaben, als unter dem Mantel sachlicher Theoriebildung politische Programme zu entwerfen, sie mit der Würde der unpolitischen Wissenschaft zu versehen und den Bonus der Objektivität zur Denunzierung konkurrierender Theorien zu mißbrauchen. iv) Die Vorgabe von Inhalten wäre schließlich auch aus "politischer" Hinsicht unerwünscht. Zumindest aus der Sicht der bundesrepublikanischen Pluralismustheorie ist jeder Versuch, inhaltliche Kriterien für "Gemeinwohl", "Legitimität" usw. zu nennen, ein Ansatz totalitärer Freiheitsberaubung. "Neutralität" und "Offenheit" gegenüber inhaltlichen Festlegungen ist das zentrale Anliegen dieser Theorie, die sich - genauso wie Schmitts Politikbegriff - als "ein formales Strukturprinzip" begreift und meint, zu Unrecht dem Vorwurf der Relativität und Wertneutralität ausgesetzt zu sein 88 • Dieses Pathos des Neutralen, des inhaltlich Offenen usw. durchzieht auch die Untersuchung von Gusy über die "Legitimität im demokratischen Pluralismus". Im demokratischen Verfassungsstaat könne es "keine inhaltlich vermittelte Legitimität geben; Legitimitätsquelle sei "nicht inhaltliche veritas, sondern demokratische auctoritas" 89 - eine bewußte Anspielung auf die "berüchtigte" Hobbessche Formel. Die andere Komponente der Theorie, die den Vorwurf der "Inhaltsleere" viel häufiger auslöst, ist der Feindbegriff. Die Kritik spitzt sich in der nicht besonders geschmacksvollen Anleihe zu, Schmitts Feindbegriff sei "occasionell" 90 , daß er nicht "über die Konkretisierung durch das Negierte" 91 hinausgehe. Das ist wieder ein Umstand, der Schmitt eher entlastet als belastet. Denn die Okkasionalität des Feindes besteht gerade darin, daß er nur wegen des feindlichen Aktes, der existenzvernichtenden Bedrohung als Feind eingestuft wird. Eine nicht-occasionelle Feindentscheidung beruhte auf dem ideologi88 89 90 91

Oberreuter 17 ff. Gusy 90. Löwith 104. Hofmann 114.

144

Zweiter Teil

sierten Begriff des Erzfeindes, der bekämpft und möglicherweise ausgerottet gilt -unabhängig der occasion, der konkreten Situation, also selbst wenn er keine feindlichen Absichten mehr hat und zu einem Angriff nicht einmal fähig wäre. Der Vorwurf der Okkasionalität offenbart geradezu, daß die Feindqualität für Schmitt nicht einer geschichtsphilosophischen (wie im marxschen Begriff des Klassenfeindes) oder rassischen (wie der "Jude" für den Nationalsozialismus) Notwendigkeit entspringt, sondern situationsgebunden ist und die Möglichkeit des Friedens oder zumindest der Neutralität nicht ausschließt92 • Es trifft zu, daß sich das "romantische" Subjekt zu den Objekten seiner Beschäftigung inhaltlich neutralistisch verhält. Das ist zweifelsohne eine Gemeinsamkeit mit jedem empirisch-soziologischen Vorgehen. Doch darüber hinaus besteht zwischen ihnen ein gewaltiger Unterschied: das romantische Subjekt gebraucht den Gegenstand instrumental, zur Herausstellung und Überhebung der eigenen Persönlichkeit. Der Endpunkt der Zurechnung ist immer das eigene Ich. Die Neutralität des empirischen Beobachters wird demgegenüber dadurch gekennzeichnet, daß er die eigene Person, seine sonstigen Ziele der Möglichkeit nach bewußt zurückstellt, um das Objekt für sich gelten zu lassen. Nimmt man also das Wort "occasionell" in seiner scharfen Bedeutung, wie Schmitt es in der "Politischen Romantik" einführt, dann stellt sich heraus, daß ihre Anwendung auf Schmitts Politikbegriff vollkommen willkürlich ist. Sie entfernt eine wesentliche Komponente des Begriffs, dafür behält sie nur eine moralisierende Suggestion.

8. Die Rechtsformen der Einheitsbildung 8-l. Gibt es zwei Prinzipien politischen Handelns, einerseits die einsame Entscheidung des pouvoir constituant, andererseits die Entscheidung gegen den Feind, so stellt sich das Problem, ihr Verhältnis zueinander zu bestimmen- ein Problem, das sich nur in der Bezeichnung unterscheidet vom allgemeinen Problem der demokratischen Verfassungslehre, "das staatliche Prinzip der Einheit mit dem gesellschaftlichen Prinzip der Vielfalt zu versöhnen" 1 •

Die Verbindung der innerstaatlichen Einheit (B1) mit der zwischenstaatlichen Pluralität (B2) umgeht das Problem. Bezüglich der konstituierenden Situation hält sie Schmitt für unvereinbar. Innerhalb des bereits konstituierten Staates trittdie Pluralität nicht als gleichwertiges Prinzip neben die Einheit. Wir werden im Kapitel 11 untersuchen, wie Schmitt ihren Zusammenhang in Schriften zur konkreten politischen Lage Weimars nachzeichnet. Hier soll zunächst eine andere Frage gestellt werden: i) können die beiden Begriffe des Politischen B1 und B2 als Handlungsprinzipien vom gleichen Status miteinander vereinbart 92

1

Ausdrücklich in BdP 35. Vgl. das Fischer-Lexikon Staat und Politik, 1957, Stichwort "Pluralismus".

8. Die Rechtsformen der Einheitsbildung

145

werden, und ii) ob die für Schmitt zugängliche Literatur Rechtsinstitute bereitstellte, die gerade diese Synthese versuchten? B1 und B2 schließen sich, als verfassunggebende Situationen, einander aus. Werde der Staat nicht als eine in sich geschlossene Einheit aufgefaßt, so beruhe er dualistisch oder gar pluralistisch auf dem Vertrag und Komprorniß mehrerer Parteien2 • Aus diesem Grunde lassen sich allenfalls die Verfassungen konstitutioneller Monarchien, noch mehr diejenigen des Ständestaates, als Verträge und Geflechte von Verträgen auffassen. Die Konstruktion versagt jedoch für eine Verfassung, die in ihrem Präambel festhält, sie sei eine Entscheidung des "Ganzen". Schmitt zieht keineswegs in Zweifel, daß der Grundentscheidung der verfassunggebenden Gewalt (gemäß B1) "in der Wirklichkeit unseres heutigen Verfassungszustandes noch ein anderes, mit dem vertragsmäßigen verwandtes oder doch zu ihm hinführendes, nämlich ein pluralistisches Element" hinzutrete. Dieser Umstand würde in der Literatur mit großer Unbekümmertheit dahin interpretiert, daß der Vertrags- und Komprornißcharakter überwiege und die Verfassung als Ganzes ein "Klassen-" oder "Religionsfrieden" oder vielleicht nur ein bloßer "Waffenstillstand" seP. Vereinzelte Hinweise erwecken jedoch den Eindruck, daß Schmitt die konstituierende Situation als einen Grundkonflikt für denkbar hielt. So heißt es in seinem Kommentar zum Grundrechtsteil der WRV: "Soweit im zweiten Hauptteil eine polemische Richtung und damit ein Feind zu erkennen ist, den die Verfassung im Auge hat, wendet sie sich gegen den bolschewistischen Sozialismus" 4 • Die konkrete historische Lage, in der die Weimarer Verfassung entstanden ist, läßt keinen Zweifel aufkommen, daß sehr wohl der innenpolitische Feind gemeint wird und die "Polemik" die Möglichkeit des Bürgerkrieges, nicht bloß sekundäre Meinungsverschiedenheiten bedeutet. Schmitt geht sogar weiter: er charakterisiert nicht einmal den eigentlichen verfassunggebenden Kern durch einen Grundkonsens, sondern er hält die Verfassung als den Ausdruck vom "Klassenfrieden" zwischen Bürgertum und dem nicht-bolschewistischen Teil der Arbeiterschaft für denkbar 5 • Schmitt weigert sich dennoch, die Verfassung als einen Friedensvertrag auszulegen, weil sie dadurch immer "einen Bezug auf die, wenn auch vielleicht entfernte Möglichkeit des Krieges" enthalten würde und in ihrem Hintergrund eine "Ethik des Bürgerkrieges" 6 stünde. Eine solche Art Verfassung würde nur ein Bündnis konstituieren, das der Diskretion der Vertragsschließenden unterliege, es wäre labil und kündbar 7 • HdV 62. HdV 63. 4 G&G 198. 5 HP 18f. 6 StE 145;, vgl. auch Müller (IV) 172: Recht und Verfassung als "Waffenstillstandslinie im latenten Bürgerkrieg". 7 HdV 64, 141. 2

3

10 Holczhauser

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Zweiter Teil

Die Ansicht, die Verfassungsethik des pacta sunt servanda könne nicht die nötige Stabilität bzw. Unantastbarkeit einer Verfassung garantieren, scheint eher auf Weimarer Erfahrungen als auf einem theoretisch durchdachten Argument zu beruhen. Unberechtigt ist vor allem die Selbstverständlichkeit, mit der Schmitt die Stabilität des Gegenkonzepts voraussetzt. Es versteht sich nämlich nicht von selbst, daß die Grundentscheidung gemäß B1 vor dem Zugriff der Konstituante besser geschützt wird als ein Vertrag 8 • Zumindest zu ihren Anfangen hatte die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt von der automatischen Bindung des Souveräns an seine Entscheidung nichts wissen wollen. In den Jahren bis zur Etablierung der Jakobinischen Diktatur kursierten unterschiedliche Vorstellungen darüber, wie oft die Revision der Grundentscheidung nicht nur erlaubt, sondern geradezu geboten wird. Condorcets "Generationslehre", die eine Periode von zwanzig Jahren vorgesehen hatte, ging in seine Verfassungsentwürfe ein. Die extreme Auffassung, daß die Verfassung auf einem "freiwilligen, jederzeit widerruflichen Akt der Nation beruht", wurde in den girondistischen Entwurf aufgenommen und in der Konstitution vom 24. Juni 1793 sogar positiviert9 • Im Vergleich zu dieser Auffassung, die den "Willen" des Verfassunggebers in seine "Laune" umdeutet, bietet der faktische Widerstand des real vorhandenen Konfliktpartners eine viel verläßlichere Garantie. Schmitt sieht nur die Gefahren seiner expliziten Aufnahme in die Konstruktion. Die Konfliktparteien wären_..,... anders als die verfassunggebende Gewalt- immer anwesend im Staat, sie wären sowohl konstituierend als auch konstituiert. Daher besteht jederzeit die Gefahr, daß sie "rechtmäßig" aktiv werden. Diese Schlußfolgerung, daß die Verfassung zu einem jederzeit kündbaren Vertrag wird, wenn man die konstituierende Situation nicht monistisch gestaltet, ist aus zwei Gründen nicht zwingend. Erstens, weil sie durchaus als "Statusvertrag" (im Gegenteil zum freien Vertrag des Privatrechts) aufgefaßt werden könnte. Statusverträge begründen "ein dauerndes, die Person in ihrer Existenz erfassendes Lebensverhältnis und eine Gesamtordnung, die nicht durch freie Kündigung oder Widerruf beseitigt werden kann" 10 • Insbesondere ist der Bund ein "den Status jedes Mitgliedsstaates erfassender Gesamtstatus". Und zweitens ist Scbm.itts Schlußfolgerung nicht zwingend, weil sie die Kosten der Vertragsverletzung einfach außer Acht läßt. Darin liegt die entscheidende Schwäche seiner Argumentation, im Vergleich etwa zum natural distribution Buchanans. Die Vorstellung, daß der Vertrag frei kündbar oder zumiadest abänderbar ist, ist die Kehrseite des Glaubens, daß er frei abgeschlossen wird-des Glaubens, daß Tausch und Zwang unter allen Umständen unterscheidbar sind. 8 Die Stabilität koordinationsrechtlicher Verträge braucht nicht geringer zu sein als die Satzungen eines isolierten Verfassunggebers-Kaufmann (li) 190. 9 Zweig 327, 344; vgl. auch D 140f. 10 VL 68.

8. Die Rechtsfonnen der Einheitsbildung

147

Der vorvertragliche Zustand ist jedoch nicht strukturlos und die Teilnehmer können nicht beliebig handeln, weil die faktischen Kräfteverhältnisse zu einer "natürlichen Verteilung" führen. Ein Ruhezustand kommt auch zwischen zwei ungleichen Gegnern zustande, wenn der Grenznutzen der erreichbaren Güter geringer ist als die Aufwendungen des Angriffs. Man kann diesen Zustand auch Gleichgewicht nennen, wenn das Mißverständnis einer Gleichverteilung nicht auflcommt. Die natürliche Verteilung ist keine Rechtsordnung, "obwohl durchaus bestimmte Schranken für individuelles Verhalten wechselseitige Anerkennung finden mögen" 11 • Wird der Zustand durch eine "Verfassung" zusätzlich festgeschrieben, so ist die natürliche Verteilung seine zureichende Garantie solange das Kräfteverhältnis der Partner im wesentlichen unverändert bleibt. Und wenn es sich verschiebt, so daß die eine Partei den Vertragsbruch tragen und ein neues, günstigeres Abkommen erzwingen kann, so wird keine verfassungstheoretische Fiktion sie davon abhalten. Trotz dieser Einwände hat jedoch Schmitt Recht, wenn er das Vertragskonzept als das Rechtsinstitut der Einheitsbildung verwirft. Denn dem bloßen Vertrag liegt nicht notwendig ein Integrationsinteresse zugrunde, und nach seiner Erfüllung gehen die Partner auseinander. Der sog. "Friedensvertrag" ist, in reiner Form, die Durchsetzung eines Trennungs-, nicht eines Integrationsinteresses. Ich will trotzdem auf die Vertragsstruktur eingehen, nicht zuletzt auch deshalb, weil ihr die am Marktmodell orientierte Neue Politische Ökonomie eine zentrale Bedeutung beimißt. 8-2. Der echte Tauschvertrag erfordert mindestens zwei Subjekte x und y, die jeweils die (verschiedenen) Leistungen A und B anbieten. Der Vertrag kann zustandekommen, wenn i) die Zwecke und Mittel der Handlungen aufeinander bezogen sind (x will B, y will A erhalten), und ii) die äußeren Bedingungen der Handlung (etwa die Eigentumsverhältnisse) nur den Tausch der Leistungen zulassen. Die privatrechtliche Auffassung sieht hier eine Willenseinigung bzw. verlangt, daß sich die gegenseitigen Willenserklärungen "vollständig decken" 12 • Das bedeutet, daß die beiden Subjekte darin "einig" sind, daß A in das Eigentum von y, B in das Eigentum von x übergeht. Verknüpft man diese beiden Übertragungswillen zu einer Konjunktion, so entsteht ein Willensinhalt, der den beiden Subjekten "gemeinsam" sein soll. Gegen diese Auffassung wurde relativ früh eingewendet, daß der Vertrag nicht übereinstimmende, sondern "dauernd entgegengesetzte, aber korrespondierende Interessen" 13 erfülle. Daraus hat man gefolgert, daß der Vertrag kein geeignetes Rechtsinstitut ist, aus individuellen eine kollektive Präferenzordnung herzustellen. Man könne nicht einmal den Willen zur gegenseitigen Anerken11 12 13

10*

Buchanan 34. Vgl. etwa Creifelds Rechtswörterbuch, München 1973, Stichwort "Vertrag". Triepel (I) 45.

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Zweiter Teil

nung der Person oder aber den Willen zur Vertragstreue als den gemeinsamen Willen hinstellen. Denn dieser Konsens müßte i) vor dem Vertragsschluß vorliegen und nicht erst durch den Vertrag herbeigeführt werden, und ii) keiner der Vertragspartner könnte die Garantie der Vertragstreue im Falle ihrer Verletzung wahrnehmen, ohne sich dem Vorwurf der Gegenseite auszusetzen, er sichere nicht die gemeinsamen, sondern die eigenen Interessen, er sei Richter in eigener Sache. Will man also ein Rechtsinstitut konstruieren, das einen Gemeinwillen hervorzubringen geeignet ist, so müsse man sich zunächst vom Vertragsbegriff distanzieren. Als hierzu geeignetes Rechtsinstitut wurde die Vereinbarung vorgeschlagen 14 • Ein wesentliches Merkmal der Vereinbarung ist, daß ein identischer Erfolgswille vorhanden ist 15 , oder wie man sagt, die Beteiligten ein "gemeinsames" Ziel verfolgen. Das ist ein entscheidender Unterschied zum Vertrag, wo das Ziel des einen Partners nur ein Mittel für den anderen ist. Das gemeinsame Ziel bedeutet nicht, daß die einzelnen Willenserklärungen gleichen Inhalts sind, daß sich die Beteiligten zur gleichen Leistung verpflichten. Bei einem Gemeinschaftsvorhaben können (wenn auch nicht müssen) die einzelnen Beiträge sowohl qualitativ als auch quantitativ unterschiedlich sein. Gemeinschaftshandlung kommt also nicht schon dadurch zustande, daß x und y gleichartige Arbeit "gemeinsam" verrichten. Denn x kann die Handlung für sich selbst, y das gleiche für x, aufgrundeines Vertrags, ausführen. Was für x Zweck ist, ist für y lediglich Mittel, um seinen Lohn zu erhalten. Oder x kann die Arbeit für einen Dritten (z) leisten und dabei y als Erfüllungsgehilfen beschäftigen. Dann ist zwar die Leistung für beide nur Mittel, aber zu verschiedenen Zwecken. Und schließlich können beide etwa als Angestellte bei z Gleiches leisten - hier handelt es sich dann auch nur um das gemeinsame Mittel zu unterschiedlichen Zielen, nämlich zu ihren individuellen Gehältern. Das Merkmal des Gemeinwillens kann besser von der objektiven Seite her erfaßt werden, und es kommt darin zum Ausdruck, daß die gemeinschaftliche Handlung keine privaten, d. h. exklusiv verbrauchten Güter, sondern ein öffentliches (kollektives) Gut (eine Einrichtung, ein gemeinsames Recht 16 usw.) hervorbringt. Der Nutzen des Produkts kommt allen Teilnehmern in derselben Weise (wenn auch nicht unbedingt im gleichen Anteil) zugute. Er kommt in die Machtsphäre des Einzelnen nicht durch Eigentumsübergang, und dem Nutzen aes 'einen steht kein entsprechender Verlust des anderen gegenüber. Die Beteiligten der Vereinbarung verfügen nicht lediglich über das gemeinsame Produkt, sondern sie haben ein Mitspracherecht hinsichtlich der Verwendung ihrer eigenen Leistung. Sie sind zur Geschäftsführung berechtigt, ggf. auch 14 15 16

Triepel (I) 53; vgl. auch Binding 69. "Vereinbarung als Verschmelzung verschiedener, inhaltlich gleicher Willen" (VL 44). Triepel (I) 53 tT., mit weiteren Beispielen.

8. Die Rechtsformen der Einheitsbildung

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verpflichtet. Das ist ebenfalls ein entscheidender Unterschied zum Tauschvertrag, wo es die Privatautonomie der Vertragspartner verletzen würde, wenn x mit entscheiden dürfte, wie y die von ihm (x) erbrachte Leistung verwendet. Im Allgemeinen ist jede Beschlußfassung einer kollegial organisierten Mehrheit eine Vereinbarung, kein Vertrag. Insbesondere kommen Gesetze, wo die gesetzgebende Gewalt mehreren Subjekten zur gemeinsamen Ausübung anvertraut wurde, durch Vereinbarung zustande 17 • 8-3. Kann man diese Erkenntnis nicht auf das "pluralistische" Zustandekommen eines Staates oder seiner Verfassung anwenden? Diese Lösung, scheinbar besser als der Vertrag, ist immer noch nicht befriedigend. Der Haupteinwand gegen sie ist (von allen anderen Bedenken zunächst einmal abgesehen), daß die Vereinbarung höchstens ein Gesamthänderverhältnis oder aber eine Gesellschaft ohne Rechtspersönlichkeit hervorzubringen vermag 18 • Das Institut, das nicht lediglich aus individuellen Willen einen "Gemeinwillen", aus individuellen Handlungen einen "Gesamtakt", sondern aus Handlungssubjekten eine von ihnen unterscheidbare "Person" hervorgehen läßt, nenne ich mit Gierke "Konstitution". Damit wollen wir nicht so sehr das fertige Produkt, sondern (in Analogie zur Vereinbarung) eher den Vorgang bezeichnen. Die Behauptung, daß die Konstitution ein von der Vereinbarung verschiedenes Institut ist, versteht sich nicht von selbst. Triepel war offensichtlich der Meinung, daß die von Gierke beschriebene Errichtung einer Körperschaft, genauer: eines rechtsfähigen Vereins, ein Spezialfall der Vereinbarung ist 19 • Dem ist jedoch nicht so. Die Person als output gemeinschaftlicher Handlung ist nicht lediglich ein Spezialfall anderer Produkte. Ich will hier nur auf zwei entscheidende Punkte, die auf die Natur der Institute selbst auswirken, hinweisen. i) Der Vereinbarung ist wesentlich, daß die Teilnehmer ihre eigene Rechtspersönlichkeit nicht aufgeben, auch wenn ihre Privatautonomie durch das Mitspracherecht aller erheblich beschränkt wird. (Dieses Moment war gerade für Triepel von besonderer Bedeutung: die völkerrechtliche Vereinbarung würde sonst das Völkerrecht in Landesrecht überführen.) Aus diesem Grunde ist das Produkt der Vereinbarung prinzipiell (wenn auch unter festgesetzten Bedingungen) auflösbar. Erich Kaufmanns Erörterungen über die clausula20 sind auf die Vereinbarung sinngemäß übertragbar. ii) Der Bestand der konstituierten Person ist von der Fluktuation der Konstituierenden unabhängig, während die Gesellschaft das Ausscheiden eines Gesellschafters rechtlich nicht überlebt. 17

18 19 20

Triepel (I) 57. Triepel (I) 54. Triepel (I) 56 (FN 1), 59. Vgl. den Abschnitt 7-5 oben.

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Zweiter Teil

8-4. Gierke betrachtet den Prozeß, der einen Gemeinwillen, genauer: eine neue Person hervorbringt, als ein "Werden", das den latenten Konsens in einen manifesten verwandelt. Diese Verdoppelung in zwei Konsensarten wird bei ihm deswegen zu keinem besonderen Problem, weil er zu glauben scheint, daß die beiden inhaltlich identisch sind und sich voneinander nur als subjektiv vorausgesetzter bzw. objektiv verwirklichter Zweck unterscheiden. Aus diesem Grunde bekommt bei ihm der Vermittlungsprozeß einen eher konsensualen (deklaratorischen) Charakter. Die Handlungen, die den Gesamtakt herbeiführen, sind lediglich seine "Bestandteile", keine Verträge (nicht einmal "Vorverträge") also keine Tauschakte, die im vorstaatlichen Raum die Ununterscheidbarkeit von Tausch und Zwang wieder aktuell werden lassen. Die Gesamtperson existiert irgendwie bereits im Augenblick, in dem Konsens darüber herrscht, daß sie hervorgebracht werden sollte. Die Paciscenten handeln als ihre Organe, obwohl sie objektiv noch gar nicht vorhanden ist. Bezeichnend für den konsensualen Charakter der Vermittlung ist einerseits, daß Gierke die Metapher des organischen Wachstums als eine treffende Umschreibung des Sachverhalts empfindet, und andererseits, wie heftig er gegen den "soziologischen" (sprich: konfliktorientierten) Staatsbegriff (Gumplowitz) polemisiert 21 • Wir werden hier an der von Gierke vollzogenen Verdoppelung des Konsenses festhalten, nicht jedoch an der Auffassung, daß die beiden Konsensarten materiell identisch sind. Es sei A ein Inhalt, den die Beteiligten als einen objektiven Erfolgswillen setzen wollen. Plant man eine gemeinsame Willenserklärung mit dem Inhalt A, so ist dies ein anderer Konsens als derjenige, in dem die tatsächlich abgegebene Willenserklärung ausgedrückt wird. Es sind, genau genommen, zwei verschiedene Willen zu berücksichtigen: der "Einigungswille (hinsichtlich des Erfolgs) A" und der "Erfolgswille A". Dementsprechend können wir die beiden Willenserklärungen als Einigungskonsens und Erfolgskonsens bezeichnen. Für ihren Unterschied spricht, daß zum Übergang vom ersteren zum letzteren ein Vermittlungsprozeß, der u. U. scheitern kann, nötig ist. Werden die Hindernisse aus dem Wege geräumt, so kommt auch der Erfolgskonsens, der Gesamtakt, zustande: er ist die Erfüllung des Einigungskonsenses. Man kann diese Unterscheidung durchaus mit den bekannten Phasen des Vertragsschließens in Beziehung setzen. Auch bei den Partnern in contrahendo ist zunächst nicht mehr als der Wille zur eigentlichen Willenserklärung vorhanden. Man kann den Kreis der Beteiligten im Einigungskonsens als eine "Vorgemeinschaft", den Vorgang, der zum Einigungskonsens führt, eine "Vorvereinbarung", nennen. (Eine weitere, mechanische Vervielfaltigung der Willens- bzw. Konsensarten ist genauso wenig wie beim Vertrag nötig.) Betrachtet man die Unterschiedlichkeil menschlicher Präferenzen, so kann man die "soziologisch" typische Situation so beschreiben, daß weder der 21

Gierke (IV) 33.

8. Die Rechtsformen der Einheitsbildung

151

Einigungs- noch der Erfolgskonsens undifferenziert 22 ist, sondern beide mit Kosten verbunden sind. Dies weist darauf hin, daß das Vertragselement (der Tausch) aus der Vereinbarung doch nicht vollständig auszuklammern ist. Damit stellt sich auch die Frage, wie er mit dem "Gesamtakt" konsistent bestehen kann. Wir berücksichtigen zwei Spieler x und y, zwischen denen ein differenzierter Einigungskonsens herrscht. Dies bedeutet erstens, daß in ihren Präferenzordnungen der Erfolgswille an verschiedenen Stellen vorkommt (z. B. bei x an der ersten, bei y an einer niedrigeren Stelle), und zweitens, daß y bereit ist, den Erfolgswillen A an die erste Stelle seiner aktuellen Präferenzordnung zu rücken, wenn x seinerseits bereit ist, dafür eine Leistung B zu erbringen. Kommt der Tausch zustande, so erklärt y tatsächlich seinen Willen zur Herbeiführung des Erfolges A. Daß auch y ein Mitspracherecht hinsichtlich A hat (wie dies bei der Vereinbarung, im Gegensatz zum Vertrag, der Fall ist), widerlegt keineswegs die Tatsache, daß es sich um einen Vertrag handelt. Denn die Vertragsleistung von y ist nicht, daß er A tut oder zu seiner Verwirklichung vereinbarungsgemäß beiträgt, sondern daß er sich dazu überhaupt bereiterklärt hat. Solange er die Leistung B von x erhält, kann er seine Willenserklärung nicht beliebig widerrufen. Er verfügt zwar über das öffentliche Gut A mit, nicht jedoch über das private Gut, das er mit x gegen B getauscht hat: "den Erfolgswillen A zu erklären". Die Leistung B, die y zugute kommt, kann sehr wohl auch in Sonderrechten, in der ungleichen Verteilung von Verfügungsrechten und Pflichten hinsichtlich des Gutes A bestehen. Dann ist sie zwar formal ein Bestandteil der Vereinbarung oder aber der Konstitution. Gleichwohl ist sie der Reflex des Tauschaktes. Denn diese Verteilung steht nicht zur Disposition von x, wenn er die Mitarbeit und die Loyalität von y auf die Dauer garantieren will. Genauso ist die Gegenleistung von y seiner eigenen Verfügungsgewalt entzogen: er kann die Unterstützung von x nicht beliebig kündigen, solange er B erhält. Es handelt sich also um einen echten Vertrag, der wie das Mittel zum Zweck, den Gemeinwillen (den Erfolgswillen) hervorbringt 23 • Es ist vielleicht nicht überflüssig darauf hinzuweisen, daß wir hier nicht nur "materielle" Güter meinen. Die Leistungen können von materiellen Anreizen, von Prestige usw. bis zu den verschiedenen Freiheiten und Ansprüchen innerhalb der gegründeten Institution reichen 24 • Es gehört hierzu auch Schrnitts Vgl. den Abschnitt 4-1 oben. Die Verdoppelung vom Willen, vom Konsens und der Leistungsarten entspricht im wesentlichen der Verdoppelung der Güter, die durch eine Organisation angestrebt werden, in Kollektivgüter und selektive Anreize. Unsere Ausführungen sind also nichts weiter als ein Versuch, Olsons Hauptthese über die "Logik kollektiven Handelns" in der traditionellen juristischen Begriffsbildung aufzuspüren bzw. nachzuvollziehen. 24 Vgl. die von James Q. Wilson untersuchten Anreizsysteme in: Political Organisation, New York 1973. 22 23

Zweiter Teil

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oft wiederholte Wendung über den "Zusammenhang" (richtig: Tausch) von Schutz und Gehorsam. Der Hinweis, der Einzelne wisse, wem er Gehorsam schulde, wenn der Staat seine Schutzfunktion nicht mehr zu leisten willens oder fähig ist 25 , weist viel stärker in die Richtung der Kündbarkeit dieses Vertrags, als Schmitt in der Regel zuzugeben bereit ist. Die Differenzierung der Motive, die hinter dem nach außen hin gleichen Erfolgswillen stehen, bringt die Notwendigkeit mit sich, auch den Kreis der Beteiligten entsprechend in Zentrum und Peripherie aufzuteilen. Es ist weniger von Bedeutung, ob dies erklärterweise oder aber der Sache nach geschieht. Die Ausführungen Bindings über die Initiative, die Rolle und das Gewicht Preußens bei der Schaffung des Norddeutschen Bundes, die Tatsache, daß allein Preußen ein faktisches Veto ausüben konnte 26 , weisen diesem stillschweigend die Stellung eines Zentrums zu. Gierke wirft die Vorstellung des Zentrums explizit in den Diskurs, auch wenn dessen Korrelat, die Peripherie, bei ihm nicht auftaucht. Dafür erscheint das Zentrum gleich in drei Formen: i) ideal oder aber als etwas Vorweggenommenes (in diesem Sinne ist die hervorzubringende juristische Person "beherrschendes Centrum der entsprechenden rechtlichen Vorgänge und Beziehungen"); ii) organisatorisch: die künftigen Mitglieder stünden einem, die einzelnen Willenserklärungen sammelnden, "Gründungsunternehmer oder Gründungskonsortium gegenüber", und iii) absorptiv: die Einzelhandlungen sind "unselbständige Momente in der von einem Centrum bewegten und auf Ein Ziel gerichteten Gesamthandlung" 27 • Im letzteren Fall tritt ein, auf den ersten Blick vielleicht nicht bemerkbarer, Unterschied auf: das Zentrum ist nicht mehr Gegenspieler der Peripherie, sondern es schlüpft unmerklich in die Rolle des "Ganzen" hinein. Diese stille Umdeutung beschreibt nicht so sehr die konstituierende Situation, sondern allenfalls den Zustand nach dem Abschluß der Konstitution. Sie wird uns im Kapitel 14 näher beschäftigen. Hält man nun die obigen Erörterungen über die Differenzierung des Konsenses für stichhaltig, so drängt sich einem die Frage auf: Wie war es möglich, die Vereinbarung und die Konstitution, insbesondere den Übergang vom Einigungs- zum Erfolgskonsens als einen Nicht-Vertrag, ja einen Gegensatz zum Vertrag zu konstruieren? Genauer: Wie konnte man die, dem Vertrag zukommende, wenn auch nur instrumentale Rolle innerhalb der beiden erwähnten Institute, weginterpretieren? Ich glaube, dadurch, daß man den Erfolgskonsens als einen undifferenzierten Konsens fingierte. Dann ist es nicht mehr von Bedeutung, wie man den Einigungskonsens auffaßt. Man kann ihn als undifferenzierten Konsens betrachten, ihn als 25

26 27

BdP 53. Binding 10f.; s. auch 18. Gierke (IV) 121 bis 135.

8. Die Rechtsformen der Einheitsbildung

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Tatsache hinnehmen und die Kosten seiner Herstellung außer Acht lassen. Man kann ihn auch als differenzierten Konsens auffassen und voraussetzen, daß alle wesentlichen Bedingungen, die zur Erklärung des Erfolgswillens unerläßlich sind, erfüllt wurden, daß die Gesamtkosten der Konsenstindung einseitig aufihn verwendet wurden. In diesem Fall werden die Tauschakte zwar berücksichtigt, gleichzeitig jedoch ins "Außerjuristische", ins "Soziologische" hinausgedrängt. Dadurch wird der Vorgang zwischen den beiden Konsensarten lediglich ein deklaratorischer Prozeß: eine Klärung und Präzisierung des vorhandenen Willens. Die Beseitigung von Vertrags- und Tauschelementen enthebt einen auch der Notwendigkeit, das im Vertrag schlummernde Zwangsmoment zu berücksichtigen. So wird die Fiktion des undifferenzierten Konsenses in das Ideal von "Gemeinschaft" oder "Genossenschaft" verwandelt. Beide sind nur institutionelle Ausprägungen des undifferenzierten Konsenses. 8-5. Es soll nur noch die Frage geklärt werden, wie sich die politische Entscheidung der verfassunggebenden Gewalt zu den soeben besprochenen Rechtsinstituten der Einheitsbildung verhält. Die grundlegende Voraussetzung von Schmitt ist, daß die politische Einheit, der Staat eine Gesamtperson ist. Ihre Konstituierung ist nicht Gegenstand der Verfassunggebung. (Es sei ein Irrtum, eine Verfassung müsse immer einen neuen Staat begründen- ein Irrtum, "der aus der Verwechselung eines (die politische Einheit begründenden) ,Sozialvertrages' mit der Verfassung" erklärt werden könne 28 .) Diese Voraussetzung ist, wie schon erwähnt, nur auf einem bestimmten Stand der politischen Geschichte, nach dem Entstehen und der Festigung unitarischer Territorialstaaten, deren Bestand nicht einmal in Revolutionszeiten in Frage gestellt wird, zutreffend. Dann liegt der Verfassunggebung kein Integrationskonflikt zugrunde. Er ist höchstens ein Ringen um den Inhalt oder aber (was das Gleiche ist) die Form der politischen Einheit. Man kann diesen Vorgang sehr wohl als eine Vereinbarung im obigen Sinn deuten. Wir haben gesehen, daß jede Beschlußfassung kollegial organisierter Versammlungen eine Vereinbarung ist (Triepel), wobei der Gesamtakt einer von den Mitgliedern verschiedenen Person zugerechnet wird. Daß die verfassunggebende Versammlung ein einmaliges, "außerordentliches Organ eines pouvoir constituant" ist, erkennt Sehnlitt ausdrücklich an 29 • Es kommt also nur noch darauf an, wie man die Vereinbarung auffaßt: konsensual oder konfliktual. Bevorzugt man die letztere Deutung, so ist der Gesamtakt nicht die bloße Summierung inhaltlich gleicher Interessen und Willen, auch nicht die bloße Reinigung, Klärung und die Beseitigung von Mißverständnissen hinsichtlich eines von vornherein feststehenden Willens. Sondern es soll ein Gemeinwille, der möglicherweise mit keinem der ursprüngli28 29

VL 22. D 147f.

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Zweiter Teil

chen konstituierenden Willen restlos übereinstimmt, hervorgebracht werden. Die Vereinbarung ist dann konstitutiv, nicht lediglich deklaratorisch. Es verdient Aufmerksamkeit, daß Schmitts erster Entwurfüber die Rechtsbeziehung zwischen pouvoir constituant und verfassunggebender Versammlung dieser Auffassung näher steht als das spätere Konzept der Verfassungslehre. In der "Diktatur" rezipiert er die Ansichten von Sieyes mit weitgehender Zustimmung: der Wille des Volkes sei "inhaltlich gar nicht vorhanden" oder aber er sei unklar, inhaltlich nicht präzise- er müsse sogar unbestimmt sein, wenn der pouvoir constituant wirklich unkonstituierbar ist 30 • Auch für Schmitts eigene Konstruktion, den Begriff der "souveränen Diktatur", ist von entscheidender Bedeutung, ob der Inhalt des Auftrags inhaltlich bestimmt ist oder nicht. Die im Namen des pouvoir constituant handelnden Repräsentanten sind zwar "formal unbedingt abhängige" Kommissare, "deren Auftrag aber inhaltlich nicht zu begrenzen ist": ihr Auftrag ist aus dem "formlosen pouvoir constituant abgeleitet" . Der "eigentliche Inhalt" des Auftrags ist die Kompetenzerteilung auf die "grundlegende Formierung des konstituierenden Willens", also das Entwerfen einer Verfassung 31 . Es folge aus der Natur der Sache, daß jede materielle Begrenzung des Auftrags die souveräne Diktatur in eine kommissarische verwandeln würde. (Nicht nur bei der Verfassunggebung, sondern auch bei eigentlichen Verwaltungsmaßnahmen soll gelten, daß "der an sich problematische Inhalt" des konstituierenden Willens "der eigenen Voraussetzung nach aktuell nicht vorhanden" ist 32 • Schmitts Beispiele - Revolution, Bürgerkrieg usw. - offenbaren, daß der Inhalt gerade wegen der Konfliktsituation umstritten ist.) Diese Auffassung hat Schmitt in der Verfassungslehre fallen lassen. Dadurch, daß die Grundentscheidung der verfassunggebenden Gewalt, der Gesamtakt schon vor dem Zusammentreten der Nationalversammlung vorliegt, ändert sich der Charakter des Auftrags. Der Konstituante kommt lediglich eine beratende, klärende - eher redaktionelle - Aufgabe zu. Ihr Beschluß ist eher konsensual denn konfliktual, vielmehr eine declaratio als eine constitutio. Ihr Status wäre dann nicht der eines "souveränen Diktators", wie Schmitt nicht müde wird zu behaupten, sondern allenfalls der eines prominenten Erfüllungsgehilfen. Das Rechtsinstitut "konfliktuale Vereinbarung" (genauer: Konstitution) einer Verfassung wäre auch der soziologischen Wirklichkeit des Vorgangs besser gerecht als Schmitts spätere konsensuale Theorie der Verfassunggebung. Sitzen doch in einer Nationalversammlung gerade die mächtigsten politischen und gesellschaftlichen Organisationen oder anders legitimierte Autoritäten, die "Vordenker", die Meinungsmacher, kurz: die Elite der politischen Macht. Durch sie konzentrieren sich in der Verfassunggebenden Versammlung diejeni30 31 32

Vgl. D 143ff.; vgl. auch den Abschnitt 6-9 oben. D 144. D 146.

9. Das Politische als der "Dritte". Die Neutralität

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gen "Kräfte", aus deren Gesamtakt die Verfassung hervorgeht. Ihr Auftrag erlischt durch Erfüllung, d. h. nach dem Zustandekommen der Verfassung. Die Mitglieder treten hinter der Verbandsperson, dem Staat zurück. Damit entfallt einer der wichtigsten Gründe, die Schmitt daran gehindert haben dürften, eine pluralistische - also konfliktuale - konstituierende Situation anzunehmen. Denn die Konstituierenden sind nach dem Vollzug des Konstitutionsaktes nicht mehr als "Parteien", als jederzeit handlungsfähige Rechtssubjekte anwesend. Sie werden durch die Konstitution genauso aus dem Bereich innerstaatlicher Subjekte hinausgedrängt wie Schmitts einsamer pouvoir constituant. Alle Bedenken, die man gegen das faktische Aktivwerden der Paciscenten erheben kann, gelten nicht weniger gegen die einsame verfassunggebende Gewalt selbst.

9. Das Politische als der "Dritte". Die Neutralität 9-1. Wir versuchen noch einmal, den Gegensatz und die Unzulänglichkeit der beiden Begriffe des Politischen, B1 und B2, auf eine kurze Formel bringen: Das Politische als Konsens bezieht sich zunächst auf die Handlung eines isolierten Subjekts. Das Konfliktmoment hat eine untergeordnete, sekundäre Bedeutung, es kommt nur als der Konflikt innerstaatlicher, konstituierter Organe in Betracht. Dieses Moment bekommt im Laufe der Ausführung, wo das abstrakte Schema an die Wirklichkeit des Staatslebens angepaßt werden muß, eine immer größere Bedeutung. Die Korrekturen führen jedoch zu ungelösten Spannungen und (so will ich behaupten) sprengen die eigentliche konsenstheoretische Begründung des Staates. Dagegen ist die Konfliktformel B2 aus der Bestrebung hervorgegangen, das in B1 nur schwer einzufügende Konfliktmoment herauszuarbeiten und als ein alternatives Modell der Staatskonstruktion zu bieten. Diese Absicht bleibt jedoch im Ansatz stecken und das Modell wird schnell ins Völkerrechtliche umgebogen, wo die Begründung keine Rolle spielt, wird doch der (durch das Konsensschema B1 begründete) Staat als gegeben vorausgesetzt. Beide Begriffe des Politischen setzen die Vielfalt wirklicher Akteure voraus, die in einem Spannungsfeld, in möglichem Konflikt miteinander, stehen. Der Normsetzungsakt, der aus dem normlosen in den normierten Zustand überführt, ist in der Regel die Entscheidung einer exklusiven Alternative (z. B.: Monarchie oder Republik), die keine "Zwischenlösungen" zuläßt. Den Unterschied der beiden Erklärungsmuster können wir letztendlich darauf zurückführen, wem der N ormsetzungsakt zugerechnet wird: einem fiktiven Gesamtsubjekt (B1: Volk, verfassunggebende Gewalt, Staat als die politische Einheit usw.) oder aber dem siegenden Konfliktpartner (B2). Gibt es nun ein drittes Schema des Politischen, das die Unzulänglichkeiten der ersten beiden aufhebt? Mir scheint, dies könnte von einem Drei-Personen-Spiel, in dem der Staat ein "ausgezeichneter" Akteur ist, erwartet werden. Ein solches

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Zweiter Teil

Konfliktschema ist jedoch nicht unproblematisch. Widmaier z. B. lehnt es ab, dem Konfliktpartner Staat eine Sonderstellung einzuräumen, denn diese Situation nur für wenige Staaten des industrialisierten Westens typisch ist, nicht für die unstabilen Gemeinwesen der dritten und vierten Welt 1 • Diese Begründung offenbart andererseits, daß auch das einfache Konfliktschema (B2) keinen Anspruch auf Universalität erheben kann. Es scheint mir berechtigt, ja erforderlich, Konfliktsituationen weiter zu differenzieren, je nach dem, ob ein ausgezeichneter, dem aktuellen Konflikt entzogener Dritter da ist oder nicht. Denn die Aussagen, die in der einen Situation zutreffen, können in der anderen völlig falsch sein. Während die Entscheidungstypen B1 und B2 keine Differrenzierung zulassen, fällt das Spieldreier Akteure in eine Fülle von Varianten auseinander, so daß B3 kein Spiel im echten Sinne des Wortes, sondern ein Sammelbegriff ist. Erst hier wird auch die Fragestellung sinnvoll, welche Spiele politisch, welche unpolitisch sind. Es ist sogar eine weitere Differenzierung möglich, indem man selbst dem Ausdruck "politisch" verschiedene Bedeutungen zuordnen kann. Wir versuchen im Folgenden (hauptsächtlich anhand verschiedener Stellen aus Schmitts Schriften) einige Varianten von B3 systematisch zu erfassen. 9-2. Das Drei-Personen-Spiel, in dem Schrnitt verschiedene Typen der Konfliktentscheidung durch einen Dritten2 ermittelt, sind die Arbeitsstreitigkeiten. Der größere Kontext und die Möglichkeit, die Fälle von den konkreten Akteuren losgelöst zu betrachten (einige von ihnen entsprechen analogen Situationen im Völkerrecht) legen nahe, daß das Ergebnis auch die Frage beantworten soll, durch welche Qualitäten eine Instanz befähigt wird, Verfassungsstreitigkeiten zu entscheiden. Schmitt sucht allgemeingültige Typen der Entscheidung nach dem Schema B3, in denen die Entscheidungsinstanz "neutral" ist. Er untersucht vier Situationen, deren eine ausscheiden muß, weil sie nicht zu einer echten Entscheidung, sondern allenfalls zu einem Konsens führt 3 . Der Dritte ist hier lediglich ein Vermittler, der Hindernisse und Mißverständnisse aus dem Wege räumt. Die verbleibenden drei Fälle stimmen darin überein, daß zwei, in gewisser Hinsicht "gleiche" Partner in eine Pattsituation geraten, sich gegenseitig neutralisieren und "paralysieren" und von sich aus keine Einigung erzielen können. Ein Dritter tritt von außen her hinzu und gibt den Ausschlag. Wir wollen diese Situationen, un,abhängig vom Anlaß, nach dem folgenden Kriterium systematisieren: über wieviel Macht verfügt der Dritte? Dabei kommt Widmaier 45. z In bezug auf den "Dritten" sind bereits Richtungen der Konfliktforschung entstanden: die eine interessiert sich eher dafür, wie die erwartete Feindentscheidung des Dritten den Konflikt mäßigen kann, die andere spezialisiert sich auf Koalitionsspiele und die daraus entstandenen Zweierkonflikte. 3 HdV 144. 1

9. Das Politische als der "Dritte". Die Neutralität

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es natürlich nicht auf seine Macht im absoluten Sinne, sondern im Vergleich zu den beiden Konfliktpartnern4 • 1. Der Dritte hat weder eigene noch geliehene Macht (potestas), sondern lediglich auctoritas, und damit ist er genau das Gegenteil einer "autoritären" Instanz. Daß sein Urteil angenommen und befolgt wird, hängt nur von der Übereinkunft der Parteien ab, die im Falle einer ungünstigen Entscheidung aufgekündigt werden kann.

Es wird in der Regel unterstellt, daß der Dritte am Streitgegenstand nicht interessiert, d. h. ein pouvoir neutre (Ausdruck von Benjamin Constant) ist, der sich bemüht, das "relativ Richtige und Gerechte" zu wählen, dem Geist der Objektivität und der Weitsicht, "der Vernunft" überhaupt zum Siege zu verhelfen 5 • Wir nennen diesen Typus den "autoritativen" Dritten (A3). Er hat drei Hauptvarianten, die der (zunehmenden) institutionellen Bindung der drei Akteure entsprechen: i) Der Auftrag des Dritten gilt nur für den vorliegenden Streitfall, er selbst hat am Konfliktgegenstand kein persönliches Interesse (Schiedsrichter); ii) Der Dritte steht in einem System von "Doppelrepräsentation", d. h. er vertritt die Parteien einander gegenüber, in der Regel ist er beiden verpflichtet 6 • Das Musterbeispiel dieser Variante ist der Abgeordnete, der die Partei mit der Wählerschaft vermittelt\ die eine vor der anderen repräsentiert. Ich nenne ihn den "repräsentativen" Dritten (R3). Seine eigene Teilnahme wird oft mit den Formeln: "innerer", "Rollen-" oder "Gewissenskonflikt" charakterisiert8 • Diese unglücklichen Ausdrücke wollen besagen, daß der Dritte mit dem einen Konfliktpartner unausweichlich in Konflikt gerät, wenn er zugunsten des anderen entscheidet. Er hat sozusagen nur die Wahl zwischen zwei künftigen Konflikten. iii) Alle drei Akteure stehen miteinander innerhalb einer Institution, wie etwa der Vorstand eines Verbandes zwischen zwei extremen Flügeln. Die institutionelle Festigung kann dem Dritten in der Regel eine beträchtliche Macht verschaffen. Er kann die beiden Konfliktpartner gegeneinander ausspielen, sie gegenseitig in Schach halten und dabei eigene Vorhaben durchsetzen. Seine Stellung und Macht hängt jedoch letztendlich von der Zustimmung der beiden ab 9 . Auf dieses Thema wollen wir im Abschnitt 13-9 etwas näher eingehen. HdV 142. 6 Simmel 79 f. 7 Vgl. meinen Artikel "Konflikt und Repräsentation", in: Der Staat 31 1988, S. 351 ff. 8 Dahrendorf 16 f. 9 Typisch für diese Variante ist Bismarcks Doppelspiel zwischen Fürstenbund und Nation, Kaiser und Reichstag, Preußen und Bund (Schmitt: Staatsstreichpläne Bismarcks und Verfassungslehre, in: VrA 30ff.). 4

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2. Das Spiel zwischen drei Akteuren wird zu einem Koalitionsspiel (K3), wenn der Dritte über eigene Macht (nicht nur über Autorität) verfügt, u.z. so, daß keiner der drei Spieler stärker ist als die Koalition der beiden anderen. Worauf ihre Macht beruht, kann nicht im Voraus angegeben werden - sie kann militärische Rüstung, die Stärke einer Fraktion, wirtschaftliche Produktivität usw. sein. Mit anderen Worten: die eigene Macht des Dritten muß so groß sein, daß er beiden der Parteien zur Überlegenheit (Mehrheit) verhelfen kann. Je mehr sich die Macht des Dritten an dieses Mindestmaß nähert, um so mehr ist er gezwungen, die aktive Koalition mit der einen oder anderen Partei zu suchen ("Zünglein an der Waage"). Das ist übrigens das erste Dreierspiel, in dem der Dritte tatsächlich "zwischen" Freund und Feind entscheiden kann. Ob dabei dauerhafte Koalitionen, gelegentliche Bündnisse oder lediglich faktische Zusammenwirkung (etwa ein "Regieren mit wechselnden Mehrheiten") zustandekommt, hängt von den konkreten Bedingu~gen, dem Stoff, dem institutionellen Rahmen usw. ab. Der Dritte handelt in diesen Fällen im Sinne eines "pluralistisch gedachten Systems": er trete "zu den bestehenden sozialen Machtkomplexen als ein weiterer Machtkomplex hinzu" und wirke im wahren Sinne des Wortes "mehrheitsbildend", indem er sich (mit Rücksicht auf die eigenen Interessen) der einen oder anderen Seite anschließt 10 • In einer Frühschrift von Schmitt finden wir ein Dreierspiel, das scheinbar aus dem Rahmen der Definition des Politischen fällt, weil das zentrale Subjekt nicht zwischen Freund und Feind, sondern zwischen zwei Feinden zu wählen hat. Schmitt zitiert F. J. Stahl über die Widersprüche des konstitutionellen Liberalismus: der Haß gegen das Königtum treibe ihn nach links, die Angst vor der radikalen Demokratie und dem Sozialismus treibe ihn nach rechts. So schwanke die Bourgeoisie "zwischen seinen beiden Feinden und möchte beide betrügen" 11 • Es wäre eine interessante Frage, ob diese Konstellation die eigentliche Schwierigkeit des Politischen nicht frappanter auf den Punkt bringt als alle Überlegungen Schmitts im BdP. Eine Lage, in der man wirklich zwischen dem erkennbaren Freund und Feind wählen könnte, wäre beinahe idyllisch und das Risiko des Politischen nicht allzu groß. Gefährlich wird das Politische mitunter, weil man den falschen Freund wählen kann, und noch mehr darin, daß man mit dem weniger gefährlicheren Feind als Freund begnügen muß. 9-3. Besitzt der Dritte so viel eigene Macht, daß er nicht auf Koalitionen angewiesen ist, um seine Position zu halten, so liegt ein drittes Dreierspiel vor:

3. der "höhere Dritte" (H3). Im praktischen Fall braucht der Dritte nicht unbedingt der theoretisch aufaddierten Macht der Gegenspieler überlegen zu sein. Ist er mächtiger als jeder der beiden anderen Spieler, so wird er in der Regel 10

11

HdV 147.

PT 77f.

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versuchen, eine Koalition zwischen ihnen (welcher er unterlegen wäre) zu verhindern, ja ihren Konflikt zu schüren. Das ist die Strategie des tertium gaudens und divide et impera 12 • Aus der Sicht der juristischen Dogmatik ist es keineswegs gleichgültig, ob ein handelndes Subjekt, z. B. eine Entscheidungsins tanz, als H3 oder K3 aufgefaßt wird. Der höhere Dritte kann eine offene, von den Standpunkten der Konfliktpartner abweichende Lösungsformel vorschlagen. Auch der Inhalt und die Verbindlichkeit der Entscheidung wird ausschließlich ihm zugerechnet, selbst wenn das Urteil mit der Meinung der einen Partei faktisch übereinstimmt und daher der Schein der bloßen "Mehrheitsbeschaffung" entstehen kann 13 • Schmitt beruft sich hier auf die Auffassung des Reichsarbeitsgerichts, das "grundsätzlich an dem Gedanken der staatlichen Hoheit" (H3) festhalte und die Meinung, der Vorsitzende der Schlichtungskammer müsse sich entweder der Arbeitgeberoder aber der Arbeitnehmerbeisitzer anschließen (K3), ablehnt 14 . 4. Greift der höhere Dritte in einen Konflikt seiner Mitspieler ein, so kann der Akzent darauf liegen, daß er ein neutrales, am Konfliktgegenstand nicht interessiertes Subjekt ist. Dann ist er ein "neutraler" Dritter (N3). Ein institutionalisierter Fall ist z. B die Erbmonarchie. Bei Lorenz von Stein ist der Monarchjeder gesellschaftlichen Einordnung, der Festlegung in Interessenkonflikten "entrückt". Nach einer prägnanteren Formel ist er der "politischen Konkurrenz entzogen" 15 • Der Zusammenhang von überlegener Macht bzw. Neutralität leuchtet am ehesten im Völkerrecht ein: "praktisch gesehen (sind] wirkliche und starke Neutrale die besten Garanten des Völkerrechts" 16 • Es ist eine schwierige Aufgabe, die Neutralität in einem Umfeld zu definieren, in welchemjeder Spieler potentieller Konfliktpartner ist. Insbesondere kann sie nicht als Interesselosigkeit in einem absoluten Sinne verstanden werden. Angesichts der theoretischen Möglichkeit, die teleologische Zurechnung ins Unendliche fortzusetzen, kann man immer Interessen des Dritten entdecken, die in seiner Entscheidung mitgewirkt haben dürften. Neutralität kann also nicht als eine naturwissenschaftliche oder soziologische Kategorie definiert werden. Jede Definition wird daher dem Vorwurf, sie sei lediglich eine (manipulierbare) Fiktion, ausgesetzt. Auch Schmitts These, das Politische habe kein eigenes Sachgebiet, sollte zur Konsequenz führen, daß angeblich unpolitische oder neutrale Gebiete (z. B. die Justiz) in letzter Konsequenz doch politisch sind. Talleyrands Bonmot, Nichtintervention (Neutralität) sei ungefahr das Gleiche wie Intervention, trifft auch 12 13 14 15 16

Simmel 82f., 89ff. HdV 148. HdV 145f. Weber 649, vgl. Schmitt VL 286. N&N 284f.

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auf das Problem der Verfassungsgerichtsbarkeit zu. Versuche, sie von der Politik zu trennen, gelten als realitätsfern. Auch Schmitts Überlegungen zum Problem zeigen in diese Richtung: die Unterlassung der Entscheidung, die der passiven Neutralität innewohnt, sei entweder eine Entscheidung zugunsten des status quo oder des stärkeren Konfliktpartners. Diese Einwände scheinen mir unbegründet. Denn der Grund, der die Neutralität als eine Fiktion erscheinen läßt, ist selber eine Fiktion. Die Nichtentscheidung kann nur dann als Entscheidung fingiert werden, wenn man dem Handelnden eine Eingriffspflicht zugunsten des Schwächeren oder gegen den status quo unterschiebt. Man kann zwar beides aus Prinzipien des Naturrechts oder aus vermeintlichen Gerechtigkeitsprinzipien herleiten. Doch das kann über ihren fiktiven Charakter nicht hinwegtäuschen. Die Begriffe des Strafrechts sind in dieser Hinsicht weit präziser als diejenigen des öffentlichen Rechts oder der Politikwissenschaft: Nichtstun könne nur dann als Unterlassung qualifiziert werden, wenn die Rechtsordnung vom Handelnden aktives Tun fordert 17 • Wir wollen hier, im Hinblick auf Schmittsche Texte, zwischen zwei Arten der Neutralität unterscheiden. Die "unpolitische" Neutralität ist passiv: das Subjekt unterschiedet nicht zwischen Freund und Feind, entweder weil es gar nicht entscheidet, oder weil die Handlung nicht ihm zugerechnet wird. Die "politische" Neutralität ist dagegen aktiv: sie ist nicht Unterlassung, sondern Handeln. Für die Staatskonstruktion kommt die aktive Neutralität in Frage. Ihre wichtigsten Merkmale wollen wir nur kurz ansprechen. Da wir die Neutralität im vorstaatlichen Raum definieren wollen, können wir nicht auf den Pflichtbegriff zurückgreifen. Wir begründen die Neutralität in den reinen Kräfteverhältnissen der Spieler und führen sie indirekt auf den Freiheitsbegriff zurück. Neutral ist der Dritte, wenn er in einem fremden Konflikt eine beliebige Freund-Feind-Entscheidung treffen kann, ohne die eigene Position aufs Spiel zu setzen. Er ist neutral, wenn er sich leisten kann, den Schwächeren zu unterstützen, ihn vor dem Stärkeren zu schützen. Die aktuelle Entscheidung des Dritten ist dann frei. Man kann (und wird sicherlich) seine angebliche Selbstlosigkeit und Gerechtigkeit in Abrede stellen und hinter seiner Entscheidung seine Unfreiheit entdecken: "langfristige" Machtinteressen, Zwänge der Machterhaltung. Das mag zutreffen. Dennoch kommt es darauf nicht an. Denn ein schwacher Dritter, der auf Koalitionen angewiesen ist, hätte sich dem Stärkeren anschließen müssen. Seine aktuelle Entscheidung wäre daher nicht frei. Die Gewaltenteilung führt zur Ausbildung eines Typus vom Dritten, der als N3, nicht aber zugleich als H3 aufgefaßt werden könne. Der Richter entscheidet 17

Dreher /Tröndle: Strafgesetzbuch (Beck'sche Kurzkommentare), S. 7.

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zwischen den Parteien, ohne (zumindest im privatrechtliehen Prozeß) zugleich zwischen Freund und Feind unterscheiden zu müssen. Daß er in den anderen Typen des Dreierspiels nicht hineinpaßt, ist von vornherein klar. Er hat zwar Autorität ohne eigene Macht, er ist dennoch kein A3. Denn es wird nicht den Streitparteien überlassen, ob sie den Urteilsspruch hinnehmen oder aber ihn mißachten. Andererseits braucht er nicht mit dem Sieger eine Koalition einzugehen, um das Urteil zu vollstrecken. Er ist also auch dem Typus K3 nicht zuzuordnen - eine Tatsache, die keineswegs selbstverständlich und erst das Ergebnis der jüngeren Staats- und Rechtsentwicklung ist. Dadurch, daß sich der Richter an eine justiziable Norm hält, wird er dem Konflikt in größerem Maße entzogen als der Gesetzgeber. (Die Delegation der Entscheidung durch unbestimmte Normen und die Verfassungsgerichtsbarkeit komplizieren zwar die Situation, doch dies soll hier unberücksichtigt bleiben.) Analog sollte man diejenigen staatlichen Instanzen einordnen, die eine allgemeine, verbindliche Vorentscheidung von Konfliktstypen lediglich auf den Einzelfall anwenden. Schmitt verdeutlicht diesen Sachverhalt gerade im Zusammenhang mit dem Begriff des Politischen. Im Kriege sei die politische Frage, wer der Feind sei, bereits entscheiden. Der kämpfende Soldat habe lediglich unter seine Merkmale zu subsumieren 18 • 9-4. Es gehört mit zu den Legenden der Literatur, daß Carl Schmitt "einer der schärfsten Gegner der Verfassungsgerichtsbarkeit" war 19 • Wir können hier leider auf Schmitts Stellung zum richterlichen Prüfungsrecht nicht ausführlich eingehen, noch weniger auf die spätere Diskussion über die "Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit". Wir versuchen lediglich zu skizzieren, in welchem Sinne, d. h. nach welchem Schema, ein Verfassungsgerichtshof "politisch" werden kann. Schmitt hat einen Verfassungsgerichtshof als eine Instanz für Verfassungsbeschwerden oder die Kontrolle aller Staatstätigkeit nicht abgelehnt. Er bemängelt sogar, daß die Weimarer Regelung in zwei wesentlichen Punkten nicht weit genug ging. Schmitt wollte das richterliche Prüfungsrecht um zwei Kompetenzen erweitern: auf die Prüfung "apokrypher Souveränitätsakte" bzw. die Prüfung von Anordnungen und Einzelmaßnahmen, die mißbräuchlich in Gesetzesform ergehen und unbefugte Eingriffe in die richterliche Unabhängigkeit darstellen können 20 • Beide Forderungen fügen sich nahtlos in Schmitts Verfassungssystematik ein: unantastbarer Kern der Verfassung (politische Komponente) bzw. Unterscheidung zwischen genereller Norm und Maßnahme (rechtsstaatliche Komponente). BdP 34. Für Heinz Laufer (Verfassungsgerichtsbarkeit und politischer Prozeß, Tübingen 1968) ist Schmitt geistiger Ahnherr aller Gegner der Verfassungsgerichtsbarkeit (S. 14). Dagegen siehe z. B. Do1zer (I) 42. 2o RG 98, HdV 16f. 18 19

11 Holczhauser

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Zweiter Teil

Allerdings hat er sich dagegen verwahrt, daß man hier gleich vom Hüter der Verfassung spricht. Eine "Hüterstellung" sah Schmitt erst im Monopol, die Reichsverfassung auszulegen, welches eine allgemeine Kompetenz zur Verwerfung von Reichsgesetzen begründen könne. Doch auch hier gilt es zu differenzieren. Solange damit nur die Kompetenz gemeint wird, im Falle einer Kollision zwischen dem einfachen Gesetz und einem rechtssatzähnlich gefaßten, die tatbestandsmäßige Subsumtion ermöglichenden Verfassungsgesetz zu entscheiden, hält auch Schmitt für "notwendig, die Verfassung zu schützen und gegenüber dem Mißbrauch der Gesetzesform die Grenzen der Gesetzgebungsbefugnis zu wahren" 21 . Er sieht die Gefahr weniger im richterlichen Prüfungsrecht selbst als "in der unzulässigen Ausweitung einzelner tatbestandsmäßiger Begriffe", die der Subsumtion den Boden entziehen22 und zur "Auflösung des Verfassungsgesetzes" (Forsthoff) führen. Seine Feststellung, es sei unzulässig, den Prüfungsmaßstab auf allgemeine Verfassungsprinzipien ("Geist der Verfassung"), auf allgemeine Rechtsprinzipien oder Generalklauseln ("Treu und Glauben", "richtiges Recht", "gute Sitten", "Vernünftigkeit" usw.), aufrechtsstaatliche Prinzipien wie "Grundrechte" oder "Gewaltenunterscheidung" auszudehnen23, ist keine nur rechtspolitische Privatmeinung. Sondern Schmitt interpretiert lediglich die Rechtssprechung des Staatsgerichtshofs 24 • Gleichzeitig lobt er das Gericht wegen seiner Zurückhaltung im Vergleich zum amerikanischen Supreme Court. Bedenken hat Schmitt indessen vor allem dagegen, wie das Reichsgericht aus einer Lücke, aus dem Schweigen der Verfassung eine Kompetenz hervorzauberte - ein eklatantes Beispiel von Scheinsubsumtion unter eine inexistente Kompetenznorm. "Daraus allein, daß die Reichsverfassung dem Richter die Prüfung nicht ausdrücklich entzieht, folgt keineswegs, daß sie ihm zusteht" 25 . Das ist nun eine nicht unerhebliche Zustimmung dazu, was der Sache nach "Verfassungsgerichtsbarkeit" ist. Es ist wahr: die von ihm akzeptierten Kompetenzen bleiben hinter den Befugnissen des BVerfG zurück. Das reicht jedoch keineswegs aus, um Schrnitt als einen erbitterten Gegner der Institution zu denunzieren. Denn es gibt demokratische Rechtsstaaten, die die extensiven Kompetenzen des BVerfG nicht bejahen. Darüber hinaus blieben Schrnitts Argumente im Rahmen der legitimen Diskussion über die "Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit", die unter dem GG wiederaufgenommen wurde 26 . 9-5. Es ist nicht leicht, die heftigen Reaktionen zu begreifen, die Schmitts Warnung vor der "Politisierung" der Justiz begleiten. Denn die naheliegende 21 22 23 24

25 26

RG 99f., VL 196. RG 96. Schmitt hat insbesondere den Enteignungsbegriff vor Augen. RG 90ff. Urteil des 5. Zivilsenats vom 4. November 1925, s. RG. 111, 320. RG 85. S. Häberle (III).

9. Das Politische als der "Dritte". Die Neutralität

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Prognose, die hemmungslose Expansion der Justiz würde die Gerichte in politische Instanzen verwandeln, müßte genau diejenigen aufrütteln, die die Notwendigkeit der Verfassungsgerichtsbarkeit aus dem Mißtrauen gegen die und aus dem "Versagen" der Politik, mit Parolen wie "Politik durch das Recht begrenzen" usw. begründeten. Wenn das Politische durch ein Gericht nicht vermieden werden kann, dann stellt sich das Problem der Legitimität und der demokratischen Kontrolle auch für dieses. Gewiß hatte die Verfassungsrichterin Rupp von Brünneck recht, als sie die Scheidung von Recht und Politik als den Ausdruck einer "manchmal liebenswerten, meist jedoch ärgerlichen Weltfremdheit" bezeichnete. Dieses nüchterne Urteil erscheintjedoch unwillkürlich zynischangesichtsdes Pathos, mit dem der Parlamentarische Rat das Recht von der Politik nicht nur zu trennen, sondern es gegen sie auszuspielen und sie ihm unterzuordnen gedachte 27 • Bevor wir darauf eingehen, aufwelche Art ein Verfassungsgericht "politisch" werden könne, muß kurz geklärt werden, mit welcher Absicht Schmitt dieser Entwicklung entgegentreten wollte. Dabei muß berücksichtigt werden, daß er die "Entpolitisierung" keineswegs kategorisch fordert. Er hält es eher für "eine praktisch-politische Frage, wie weit man die echte Justiz einer politischen Belastung aussetzen wil1" 28 • Auch hielt er für "unwahrscheinlich, daß das Reichsgericht im Ernstfall als politischer Konkurrent dem Reichstage seine Gesetzgebungsbefugnis aus der Hand nimmt" 29 • Ich vermag hierin lediglich die Sorge zu erkennen, daß die zu politischen Entscheidungen gezwungene Justiz einem Verschleiß und Autoritätsverlust ausgesetzt wird 30 • Dann bezweckt die Frage nach den Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit nicht die Schwächung und Zurückdrängung, sondern den Schutz einer rechtsstaatliehen Institution. Daran, daß die Entscheidungen des Gerichts "in normalen Zeiten" befolgt würden, hat er nicht gezweifelt. Seine Bedenken betrafen den Ausnahmefall, die Frage, ob ein Gericht "in kritischen und bewegten Zeiten" soziale und politische Konflikte entscheiden könnte 31 • Es ist nicht einfach, Schmitts Forderung nach Entpolitisierung der Justiz in unseren oben entwickelten Rahmen einzuordnen. Wir finden keinen direkten Bezug auf das Politische im Sinne von B2 und B3. In bezug auf das richterliche Prüfungsrecht identifiziert er den Unterschied zwischen "politisch" und "nichtpolitisch" mit dem zwischen formal und materiell oder genauer: zwischen Dezision und Subsumtion 32 . Diese undezisionistische, ja beinahe begriffsjuristi27 Vgl. die Ausführungen des Abgeordneten Süsterhehn in der Sitzung vom 8. September 1948. 28 RG 79. 29 RG 95. 30 HdV 22, 128. 31 RG 89. 32 RG 79. Dieses Schema wurde von Leibholz (ohne Berufung aufSchmitt) übernommen.

ll*

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Zweiter Teil

sehe Abgrenzung hängt nicht explizit mit einem Koalitionsspiel zusammen. Schmitt geht das Problem indirekt, von der Neutralität des Richters an. Im bürgerlichen Rechtsstaat habe der Richter eine Sonderstellung: Er sei unabhängig von dienstlichen Befehlen und Anweisungen und (was in diesem Zusammenhang entscheidend ist:) er stehe "über den Parteien" 33 . Das bedeutet, ähnlich wie im Falle des kämpfenden Soldaten, daß er nicht zwischen "Freund und Feind" unterscheidet, daß die Entscheidung nicht ihm zugerechnet wird 34 . Die Feststellung, das Gericht könne sich "Feinde machen" 35 , ist nur metaphorisch, nicht im Sinne des existenziellen Konflikts zu verstehen. Die Entpolitisierung der Justiz wird nicht durch die Abnahme der "Intensität" irgendwelchen Konflikts definiert, sondern sie ist eine rechtspolitische Entscheidung, die die Zurechnung kappt. Entpolitisierung ist eine Fiktion und insofern an eine "normale Situation" 36 , an die Existenz genereller, subsumtionsfähiger Normen gebunden37. Die üblichen Argumente gegen die politisch aktive Justiz, den judicial activism pflegen die Vorstellung des Richters, der einer entscheidungsbewußten Exekutive in die Arme fällt oder als faktischer, außerparlamentarischer Koalitionspartner der Opposition zu einer demokratisch unerreichbaren "Mehrheit" verhilft. Der Normalfall des demokratischen Staates ist jedoch eine andere: die Konkurrenz um die politische Macht hat eine gewisse Entscheidungsscheu ausgelöst. Die Verfassungsgerichtsbarkeit erlaubt dem Gesetzgeber, die Entscheidung, die er "auf dem politischen Gebiet hätte treffen müssen, auf das Gericht" abzuwälzen 38 . Die bisherige Geschichte der Institution hat die Prognose von Hugo Preuß, es gebe eine "beachtliche Tendenz" der Parteien, nach einer parlamentarischer Auseinandersetzung ein verfassungsgerichtliches Verfahren einzuleiten 39 , nicht widerlegt. 9-6. Die spezifische Frage hinsichtlich der Verfassungsgerichtsbarkeit ist nicht nur, 1) wer der "Hüter der Verfassung" ist, sondern auch: 2) wer, 3) vor wem geschützt werden soll. Das verfassungsgerichtliche Verfahren ist ein Spiel mit drei Akteuren.

Die Brauchbarkeit des Schmittschen Begriff des Politischen, insbesondere des Dreierschemas, erhellt am besten, wenn man es mit der Politikdefinition des amerikanischen Rechtssoziologen Giendon Schubert vergleicht40 • Diese ist RG 77f. Die dabei entstandene faktische Schutzwirkung "ist nur ein Akzessorium" (RG 87). 35 Dolzer (I) 84. 36 Vgl. das Kapitel 14 unten. 37 Die Unabhängigkeit des Richters als das Korrelat seiner Bindung an eine generelle Norm ist ein immer wiederkehrendes Leitmotiv in Schmitts Schriften. 38 Felix Ermacora: Der Verfassungsgerichtshof, 1956, S. 238. 39 Vgl. Dolzer: Verfassungskonkretisierung durch das Bundesverfassungsgericht und durch politische Verfassungsorgane, Heidelberg 1982, S. 14. 33

34

9. Das Politische als der "Dritte". Die Neutralität

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m. E. allen übrigen Definitionen des Politischen, die etwa in der deutschen Diskussion über die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit entstanden sind, darin überlegen, daß sie das Politische nicht nur indirekt, sondern explizit und prinzipiell mit einer Konfliktsituation verbindet. Schubert nennt eine Handlung "statisch", wenn sie auf die Bewahrung der staatlichen Ordnung abzielt. "Dynamisch" ist sie dahingegen, wenn sie die Ordnung ändern will. Schubert verwendet diese Bezeichnungen im technischen Sinne, ohne weitere Bewertung, und er setzt das Politische keineswegs nur mit dem einen der beiden Tendenzen gleich. Hierin verfährt er grundsätzlich anders als etwa Leibholz, der dieselbe Unterscheidung mit dem Gegensatzpaar rational-irrational verbindet und dadurch emotional färbt und wertet41 . Politisch ist die Handlung nicht schon dadurch, daß sie irgendetwas bewirken will, sondern erst dadurch, daß der Handelnde mit einem anderen Subjekt in Konflikt gerät. Schubertfaßt die möglichen Fälle, die sich aus den unterschiedlichen Absichten der Spieler ergeben können, in einer zwei-mal-zwei Matrix zusammen: Erster Spieler statisch dynamisch Zweiter Spieler

statisch dynamisch

1

3

2 4

In den Fällen 1 und 4 besteht kein Konflikt zwischen den Akteuren. Für den Fall 4 trifft diese Feststellung nur bedingt zu, denn die Dynamik der beiden Akteure kann sich durchaus in unterschiedlichen Richtungen bewegen, was wiederum zum Konflikt führt. Schubert schlägt diese Situationen den Fällen 2 und 3 zu und erzwingt dadurch auch unter 4 nur konfliktfreie Entscheidungen. Erst in den Fällen 2 und 3 kann man das Verhalten des Gerichts (Zweiter Spieler) unter die Kategorie "judicial activism" einordnen. Dabei spielt es keine Rolle, ob das Gericht bewahren (Fall 2) oder reformieren (Fall 3) will. Entscheidend ist allein die Konfliktsituation. Schubert definiert damit das Politische nach dem Schema B2, in welchem nur zwei Akteure vorhanden sind und sich der eine gegen den anderen durchsetzt. Darin liegt ein entscheidender Mangel seiner Konstruktion. Denn weder kann das Gericht aus eigener Initiative, nach dem Offizialprinzip, aktiv werden, noch können seine Entscheidungen angefochten werden. Das Gericht ist also nie der "Zweite" im Prozeß, so daß sein einziger "Gegenspieler" die Exekutive wäre. Die Entscheidungssituation der Verfassungsstreitigkeit hat notwendigerweise drei, nicht zwei Teilnehmer.

40

41

Giendon Schubert: Judicial Policy-Making, Glenview 1965. Leibholz (III) 227.

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Zweiter Teil

Wenn das Gericht die Entscheidung nicht verweigert ("political question"), dann entscheidet es zugunsten der einen (P 1) und gegen die andere (P 2) Prozeßpartei. Diese Situation wird, aus der Sicht des Gerichts, nicht durch eine, sondern durch zwei Matrizen beschrieben, wobei sein Gegenspieler jeweils P1 und P2 ist. Nach der einen Matrix wäre nun seine Entscheidung unpolitisch, nach der anderen politisch, je nach dem, ob er seinem jeweiligen Gegenspieler Recht gibt oder aber gegen ihn entscheidet. Man nennt eine Entscheidung kaum "politisch", wenn sie ein Gesetz oder eine Verwaltungsmaßnahme bestätigt, obwohl dies aus der Sicht der unterlegenen Partei nicht selbstverständlich ist. Diese Zweideutigkeit kann nur dadurch gelöst werden, daß man den einen Gegner auszeichnet. In der Regel sprich man dann von einer "politischen" Entscheidung, wenn das Urteil gegen den "Staat" fällt. Es ist daher kein Zufall, daß Schubert nur die Exekutive als den relevanten Gegenspieler berücksichtigt. Er kann das Spiel mit drei Akteuren nur dadurch ohne größeren Schaden auf das Schema B2 reduzieren, daß er den Staat als Gegenspieler auszeichnet und die andere, irrelevante Partei (den Antragssteller) unterschlägt. Schon aus dieser stillschweigenden - und wie man vermuten kann, selbstverständlichen Konvention ergibt sich, daß das Gericht keine "Koalitionsfreiheit" zwischen den Prozeßparteien genießt und seine Übereinstimmung mit dem "Staat" als der unpolitische Normalfall gilt.

Dritter Teil 10. Die drei Stadien. Der "totale" Staat 10-1. Schmitt unterscheidet drei Stadien in der neuzeitlichen Entwicklung des Staates: den i) absoluten Staat des 17. und 18. Jahrhunderts, den ii) neutralen Staat des 19. Jahrhunderts und den iii) "totalen" Staatdes 20. Jahrhunderts 1 . Er strebt nicht so sehr nach soziologisch-historischer Genauigkeit in der zeitlichen und räumlichen Lokalisierung, sondern er versucht eine idealtypische Beschreibung verschiedener Organisationsformen. Diese konkurriert mit einer viel bekannteren Typisierung von Schmitt, die auf dem Schema der Gewaltenteilung beruht und die Staatsformen nach der relativen Stärke einer Gewalt zur anderen charakterisiert: Regierungs- (Verwaltungs-), Gesetzgebungs- und Jurisdiktionsstaat2. Unabhängig davon, ob in der Aufeinanderfolge der drei Stadien wirklich eine "dialektische" Entwicklung erkennbar ist, wollen wir die einzelnen Strukturtypen statisch untersuchen. Denn sie scheinen einen direkteren Bezug auf die bisher herauskristallisierten Begriffe des Politischen zu haben, als dies auf den ersten Blick wahrnehmbar ist. Schmitt hat diese Typen nie systematisch-theoretisch dargestellt, sondern in seinen politischen Aufsätzen ad hoc skizziert. Wir wollen nichtalldie Stellen, wo sie vorkommen, erschöpfend aufarbeiten. Wir versuchen, im Hinblick aufunser Ziel, die Begriffe des Politischen in diesen Typen aufzuspüren, nur eine beschränkte Anzahl von Merkmalen herauszuarbeiten. 10-2. Wir ändern die Reihenfolge ab und setzen beim neutralen Staat des liberalen 19. Jahrhunderts an.

Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, eine "brauchbare Grundformel" zur Beschreibung der Verfassungslage des 19. Jhs, beruhte hauptsächlich auf der Stärke dieses Staates. Die Gesellschaft war polemisch gemeint und beinhaltete alles, was nicht Staat war. Die Fähigkeit des Staates, sich gegen die gesellschaftlichen Kräfte selbst dann zu behaupten, wenn die Gegensätze zwischen ihnen "relativiert wurden und die Zusammenfassung zur ,Gesellschaft' nicht hinderten", besagt, daß der Staat stärker war als jede (latente oder manifeste) Koalition gegen ihn. Er war jedoch "nicht so stark, daß er alles Nichtstaatliche bedeutungslos gemacht hätte", und auf diese Weise war ein "Gleichgewicht und ein Dualismus" möglich 3 • Der Konflikt zwischen den I

2

BdP 24, HdV 79, WtSt 152. L&L 263fT.

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Dritter Teil

beiden wurde allerdings entschieden, und der Staat stand als "stabile und unterscheidbare Macht über der ,Gesellschaft"'\ dem befriedeten Raum der Privatautonomie. Oder wie Schmitt es ausdrückt: der Staat hatte das Monopol des Politischen 5 • Die liberale Ideologie sah meist einen schwachen Staat- einen "Nachtwächter-" oder einen "Minimalstaat" - vor, der nur im äußersten Fall eingreifen sollte: wenn die Bedingungen der freien Konkurrenz durch einseitigen Machtzuwachs irgendeines Mitglieds gestört wurden oder ganz beseitigt zu werden drohten 6 . Doch gerade um diese Aufgabe zu erfüllen, mußte er ein starker Staat sein, um sich auch gegen den stärksten Störfaktor durchsetzen zu können. (Diese Inkonsequenz der liberalen Theorie scheint Schmitts Kritik des Liberalismus mitbestimmt zu haben.) Die Forderung nach Ausgrenzung des Staates war indessen der Ausdruck des Selbstvertrauens einer aufsteigenden Klasse, die keinen "fremden" Schutz brauchte. Die Weiterentwicklung des Liberalismus zum Pluralismus 7 zeigt, daß selbst das "Minimum" am Staat nur widerwillig akzeptiert wurde, nur weil seine vollständige Beseitigung nicht möglich war. Die uns interessierende Frage ist: in welchem Sinne war dieser Staat "politisch"? Das Konfliktschema B2 scheidet aus, weil der Staat, trotz des dualistischen Bildes und der ausdrücklichen Anerkennung eines "Gegenspielers", nicht als ein Vertrag zwischen Gesellschaft und der monarchischen Exekutive aufgefaßt wurde. Der Schutz der Gesellschaft war verfassungsmäßig verbürgt, er konnte als Vollzug des Gemeinwillens oder aber des Willens des (monarchischen) Verfassunggebers ausgelegt werden. Eine Kraftprobe mit einer der gesellschaftlichen Kräfte mußte nicht als ein Kampf im Sinne von B2 interpretiert werden. Die ausgezeichnete Stellung und die Überlegenheit des Staates machte es nicht nötig, Koalitionen mit Gegenmächten zu schließen. So konnte man fingieren, daß der Staat einerseits neutral im Sinne eines höheren Dritten (H3), andererseits aber politisch im Sinne von B1 war. Für das Politische als Konflikt kam nur noch der gehegte Raum, die Gesellschaft in Frage - der Bereich, in dem der Kampf nur Konkurrenz ist und die Intensität des "Existenziellen" nicht erreichen kann- eben weil der Staat das Monopol des Politischen hatte. Auch der Repräsentant der Gesellschaft, das Parlament, war nur "parteipolitisch" aktiv, während der "staatspolitisch" aktive Staat "parteipolitisch" neutral bleiben sollte.

to-3..Der absolute Staat besaß das Monopol des Politischen8 , ohne jedoch einen Gegenspieler anzuerkennen. Man soll dieses Wort genau ins Auge fassen: 3 4 5

6 7

8

WtSt 146. BdP 24, HP 13. BdP 23. WtSt 151 . Schmitt: Übergang des Dualismus in Pluralismus (vgl. VrA. 30ff.). BdP 23.

10. Die drei Stadien. Der "totale" Staat

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nicht anerkennen heißt, etwas faktisch Existentes im juristischen Sinne für inexistent zu erklären. Der Souverän setzte an einem Zustand an, in dem Schmitt den Vorgänger des "Parteienstaates" entdeckt: der (kirchliche oder weltliche) Lehnstaat war "total" aus Schwäche. Der Souverän hatte sich im Kampf gegen das "pluralistische Chaos der Kirche und der Stände" behauptet und daher war der absolute Staat "im gewissen Sinn in sich selbst pluralistisch". Schmitt hebt den pluralistischen Charakter des absoluten Staates (der nie stark genug war, um die Komplexität der überlieferten Institutionen zu beseitigen9 und einen "überspannten Monismus" zu verwirklichen) hervor, um ihn gegen polemische Simplifikationen der Pluralismustheorie zu verteidigen 10 • Die Lehre von der Souveränität hat den Sieger im Konflikt (B2), den Fürsten, im Vergleich zu den unterlegenen Akteuren, so überhöht, daß seine Macht inkommensurabel wurde und neben ihm nur noch zu vernachlässigende Größen übrig blieben. Diese Überhöhung mag wegen ihrer Maßlosigkeit als eine "barocke" Formel anmuten 11 . Die Wendungen von seiner Allmacht seien nur "oberflächliche Säkularisierungen der theologischen Formeln von der Omnipotenz Gottes" 12 • Sie istjedoch vollkommen zweckrational und der einzige Weg, den Sieger (Schmitt spricht explizit von der "den Konfliktfall entscheidenden" Souveränität 13) zum alleinigen Entscheidungsträger (B1) umzudeuten. Diese interpretative "Verfälschung" der konstituierenden Situation entscheidet auch, welchem Institutionstypus der absolute Staat angehört. Er wird zu einer zentralisierten und "durchrationalisierten" Einheit 14, d. h. er bekommt die hierarchische Struktur eines Betriebs, wo die Spitze der Staatsgewalt "unmittelbar, immediate in die Ämter und Zuständigkeiten eingreift", und das weitgehende Autonomien gewährende Lehnsverhältnis weicht dem Beamtenverhältnis 15 • Der absolute Staat kennt keine Sphäre der Privatautonomie, der theoretisch überall anwesende Souverän entscheidet über alles. Der befriedete Raum fällt mit dem Gesamtumfang des Staates zusammen, doch die autonome Entscheidung von Konflikten wird nicht den Beteiligten überlassen. Diese Fiktion eliminiert das "sekundär" Politische und damit auch seine Wirkungssphäre, die "Gesellschaft". Es ist das auffälligste Merkmal der absolutistischen Staatstheorie, daß sie die faktisch vorhandene Gesellschaft juristisch nicht sanktioniert. Wenn man nun den "politischen" Charakter des Souveräns bestimmen will, so kommt offensichtlich nur B1 in Frage, weil nur ein einziges Subjekt vorhanden ist. Der Souverän kann sich in keinen existenziellen Konflikt D 99fT. StE 139. vgl. auch das Kapitel 11 unten. 11 StE 139. 12 BdP 42f. 13 StkB 377. 14 StkB 378f. 15 D 43 f., vgl. auch VL 284.

9

10

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Dritter Teil

verwickeln und kann keine Koalitionen schließen. Aus demselben Grunde kann er auch nicht neutral sein (H3). 10-4. Man kann die erste Phase der "dialektischen" Entwicklung der Staatstypen, die vom absoluten zum neutralen Staat führt, so beschreiben, daß der unterlegene Konfliktpartner, die Gesellschaft nicht mehr hinter dem Souverän verschwindet, sondern ihre Existenz und ihre Interessen in die Verfassung eingehen. Damit entfällt zwar nicht die Fiktion eines alleinentscheidenden Verfassunggebers, seine Souveränität wird jedoch nicht mehr in einer gegnerlosen Situation behauptet. Andererseits ist der Gegner noch nicht so stark, um als Mitbeteiligter in der Entscheidung anerkannt zu werden und die Verfassung wird "oktroyiert". Die Unentschiedenheit des Dualismus manifestiert sich nicht nur darin, daß die Frage: Volks- oder Fürstensouveränität? nicht entschieden 16 , sondern auch darin, daß keines der Schemata B1 und B2 konsequent durchgeführt wurde.

Der pluralistische Staat entsteht durch die lineare Verlängerung dieses Trends: der Staat wird immer schwächer, die Gesellschaft immer mächtiger, bis ihre Macht die des Staates übersteigt. Dann wird der Staat zu einem unter den vielen, ihm "wesensgleichen" Verbänden. Dementsprechend gibt es auch keinen Verfassunggeber, keine verfassunggebende Gewalt, womöglich auch keine Verfassung, sondern ein fortwährend erneuter Kampf mit wechselndem Glück um die Durchsetzung der jeweiligen, augenblicklich stärkeren Interessen. Wegen seiner parteipolitischen Besetzung könne der Staat nicht mehr konsistent als der Repräsentant der "Einheit" auftreten, und seine Berufung auf das "Ganze" ist eine verschleiernde Fiktion. Man kann nun den vom absoluten zum neutralen Staat führenden Trend nicht problemlos bis zum "quantitativ" totalen Staat verlängern. Denn die ersten beiden sind durch ein gemeinsames Merkmal verbunden, das im pluralistischen Staat entfällt: das (rechtliche) Monopol auf die Besetzung staatlicher Ämter. Auch die Exekutive der konstitutionellen Monarchie war nicht die Hausmacht oder die private Gefolgschaft des Monarchen, sondern ein durchrationalisierter und formalisierter Betrieb. Der Staat wurde jedoch nicht funktionalisiert und instrumentalisiert, wie dies mit der Konkurrenz um die Machtpositionen eintritt. Diese Entwicklung brachte eine viel größere Zäsur, als daß man eine ungebrochene Entwicklungslinie ziehen könnte. Entfällt die eindeutige, für das frühere Staatsverständnis unauflösbare Zuordnug zwischen Subjekt und Amt, so scheint der Staat keine eindeutig bestimmte Größe zu sein. Gerade diese Zäsur liegt Schmitts BdP, der Forderung zugrunde, den Staat aus dem Politischen, nicht umgekehrt, zu begründen. Sobald der feste Kern des Staates (nicht nur seiner Verfassung) zu entfallen schien, war nicht mehr zulässig, das machtausübende Zentrum mit dem "Ganzen" oder mit der "Einheit" zu identifizieren. 16

VL 53 ff.

10. Die drei Stadien. Der "totale" Staat

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Handelt der pluralistische Staat politisch, so kann dies nicht im Sinne von B1 gemeint sein. Bleibt er neutral, so kann dies nicht im Sinne von H3 verstanden werden. Politisch handeln kann er nur i) im Sinne von B2, wenn er sich gegen einen Konfliktpartner durchsetzt, ii) als "koalierender" Dritte (K3), wenn er als interessierter Konfliktspartner zwischen Freund und Feind unterscheiden muß, oder iii) höchstens als machtlose Autorität, wenn er zwischen mächtigeren Konfliktpartnern vermittelt (A3). Die Gesellschaft ist kein gehegter Raum mehr. Daß der Konflikt nicht in offene Feindschaft ausartet, kann nicht mehr garantiert werden, sondern es besteht allenfalls die Hoffnung, daß die Einsicht, die Kompromißbereitschaft, die Vernunft sowie die annähernd gleiche Macht der Parteien nicht den Bürgerkrieg begünstigt, sondern in zerbrechlichem Gleichgewicht bleibt. Das ist, in groben Zügen, der Begriff des pluralistischen Staates bei Schmitt. Genau genommen ist er keine neue Art des Staates 17 , sondern das Symptom des Zerfalls, der Zersetzung des Staates in herkömmlichem Sinne 18 • Die Bezeichnung "totaler" Staat (aus Schwäche) ist für dieses Gebilde nicht ganz folgerichtig. Denn wie wird aus der eminent "staatsfreien" Sphäre, die an Stärke nicht verliert, sondern im Gegenteil, gewinnt, plötzlich "Staat"? Die grenzenlose Ausdehnung der Gesellschaft und die ständige Schwächung des Staates würde eher die Ansicht rechtfertigen, der Staat verschwinde tendenziell - wie dies in der pluralistischen Lehre von Laski, der an diesem Punkt Marx folgte, intendiert war. Dann wäre die Bezeichnung "totale Gesellschaft" folgerichtiger für das letzte Glied der "Staatsentwicklung". Auch die Wendung von der "Identität" von Staat und Gesellschaft ist sinnwidrig, verhalten sich doch die beiden eher komplementär zueinander. Der totalen Gesellschaft korrespondiert vielmehr ein Null-Staat, wie dem absoluten Staat totaler Ausdehnung eine Null-Gesellschaft entsprach. In Wirklichkeit droht hier nicht der Staat (als die maßgebliche Einheit), sondern das Politische im Sinne des nicht gehegten Konflikts, "total" zu werden. Ein ohnmächtiger, zur Befriedung nicht fähiger Verband (nur noch aus Pietät "Staat" genannt) könne nicht verhindern, daß soziale, wirtschaftliche usw. Probleme unmittelbar "staatliche" Probleme werden 19 • Damit will Schmitt nicht sagen, daß sie die staatliche Einheit fördern, sondern genau das Gegenteil. Das Feld werde den gesellschaftlich organisierten Mächten, die aus eigener Macht entscheiden, überlassen, und es kommt allenfalls eine Art natural distribution zustande. Wenn Schrnitt sagt, daß in jeder Handlungsdimension ein "Staat" (Wirtschafts-, Kultur-, Fürsorge-, Reparations-, Wohlfahrtsstaat usw.) entstehe, so unterliegt diesem Staatsbegriff das Konfliktschema B2, nicht aber 17 Ernst Rudolf Huber glaubte, im Gegensatz zu Schmitt, in dieser Vorstellung des "totalen Staates" weniger die staatsauflösende Konsequenz als eine "positive Wendung zu einerneuen Art und Form der politischen Einheit" (Huber 31) entdecken zu können. 18 WtSt 162f. 19 WtSt 151.

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Dritter Teil

die Vorstellung mehrerer, in sich homogener "Wirtschafts-", "kultur-", "fürsorge-" usw. verfassunggebenden Gewalten. Um diese Inkonsequenz etwas näher zu beleuchten, müssen wir eine Doppeldeutigkeit, die die beiden Begriffe "Staat" und "Gesellschaft" belastet, in die Erinnerung rufen. Die Gesellschaft kann sowohl intern als der pazifizierte Raum innerstaatlicher Konfliktsentscheidung als auch extern als ein "staatloser" oder "vorstaatlicher" Raum menschlicher Interaktion betrachtet werden. Die externe Betrachtung ist eine bequeme Auffassung, von der hauptsächlich die "positiven" Wissenschaften, Geschichte, Anthropologie usw. Gebrauch machen. Sie ist ein "soziologischer" Begriff, sie umfaßt alle Institutionen menschlichen Kulturlebens- auch den Staat. Ihre Form kann als ethnisch, kulturell oder religiös usw. "geschlossene Gruppe", als die gedachte, "formale Einheit aller Gruppenbildungen" und schließlich als der alles umfassende "Begriff' menschlichen Zusammenlebens 20 , verstanden werden. Die interne Betrachtungsweise ist dagegen juristisch. Die interne Gesellschaft ist der rechtlich normierte Raum der Privatautonomie, deren Staatsfreiheit nicht außerhalb oder vor dem Staat, sondern innerhalb des Staates realisiert wird. Der Verdoppelung der Gesellschafft entspricht eine analoge, wenn auch nicht vollkommen gleichbedeutende, Verdoppelung des Staatsbegriffs, diesmal jedoch nicht in eine soziologische und eine juristische Variante 21 , sondern beide sind Rechtsbegriffe. Extern ist der Staat einerseits als außenpolitische Aktionseinheit, andererseits als die konstituierende Gewalt, die außerhalb der innerstaatlichen, konstituierten Organe steht. Die Grundbedeutungen, in denen der "Staat" als souverän vorkommt, sind also extern. Der interne Staat ist dagegen eine konstituierte Gewalt, ein Organ oder eine Gesamtheit von Organen, ein Verband, ein Rechtssubjekt neben anderen Subjekten. Er agiert innerhalb eines Rahmens, der im bezug auf den externen Staat gesellschaftsähnlich ist. Er kann auch unterschieden werden von der Gesellschaft im engeren Sinne, die sein Gegenspieler (wenn auch kein Rechtssubjekt) ist und in den Staat "hineinintegriert" wird 22 • Das wesentliche Merkmal des neutralen Staates ist, daß in ihm der externe und der interne Staat strikt auseinanderfallen. Die inneren, konstituierten Gewalten sind allenfalls Staatsorgane, der Souverän ist innerhalb des Staates nicht präsent 23 • Der absolute Staat zeichnet sich dagegen gerade dadurch aus, daß der externe und der interne Staat identisch sind, weil der Souverän jederzeit, nach außen wie 20 Staatslexikon. Recht, Wirtschaft, Gesellschaft, Freiburg 1959, Bd. 3, S. 818fT., insb. 838f. Vgl. auch Staat und Politik, Fischer Verlag, Stichwort "Gesellschaft und Gesellschaftslehre". 21 Vgl. Kelsen: Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, 2 1928. 22 BdP 26. 23 Vgl. den Abschnitt 6-9 oben.

10. Die drei Stadien. Der "totale" Staat

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nach innen, anwesend ist. Wird der Souverän als kollektives Subjekt verstanden, so kann man folgerichtig nur die direkte Demokratie als absoluten Staat bezeichnen, denn jede Repräsentation drängt den Souverän in eine externe Position. Versucht man die Unterscheidung auch im pluralistischen Staat durchzuführen, so ergeben sich Schwierigkeiten. Wenn der Souverän nicht nur aus dem inneren des Staates hinausgedrängt wird, sondern überhaupt verschwindet, so ist der externe Rahmen der Handlung kein Staat mehr, sondern eine (externe) Gesellschaft. Der interne Staat bleibt allenfalls als ein Geflecht von Verwaltungsbehörden bestehen und ist allen anderen Verbänden "wesensgleich" (Laski). Das kann eine doppelte Bedeutung haben: kein Verband ist souveränoder aber alle sind es 24 • Wenn der Staat das kämpfende und als Sieger hervorgehende Subjekt ist, dann gilt auch die Umkehrung: jedes Subjekt, das in irgendeinem Kampf siegt, wird zum "Staat". In jeder Dimension des Handeins entsteht ein "Staat", die in ihrem eigenen Monopolgebiet "maßgebende Einheit". Der pluralistische Staat, oder nunmehr richtig: die totale Gesellschaft ist ein Konglomerat externer "Staaten", deren Beziehungen zueinander nur als koordinationsrechtliche denkbar sind. 10-5. Erst wenn man sich vergegenwärtigt, daß der Begriff "totaler Staat" bei Schmitt zwei Spielarten hat, wird allmählich klar, warum wir den liberalen Staat des 19. Jahrhunderts in den Mittelpunkt der Überlegung über die "drei Stadien" gestellt haben: beide Denkoperationen, die von ihm wegführen, drohen in irgendeiner Variante des totalen Staates zu münden.

Was bedeutet aber der Ausdruck: Denkoperation, die vom liberalen Rechtsstaat "wegführt"? Die entscheidenden und miteinander zusammenhängenden Merkmale des liberalen Rechtsstaates waren für Schmitt, daß i) die qualitative Verschiedenheit, die "Trennung" von Staat und Gesellschaft25 juristisch sanktioniert und ii) der Staat selbst parteipolitisch neutral (H3) war. Die Negation, die von diesem Staatstypus wegführt, bedeutet dann erstens, daß die Trennung von Staat und Gesellschaft aufgehoben wird. Schmitt umschreibt den totalen Staat tatsächlich mit der Formel: die "potentiell jedes Gebiet ergreifende[...] Identität von Staat und Gesellschaft". Zweitens bedeutet die Negation des liberalen Staates, daß er seine parteipolitische Neutralität aufgibt. Da wir ihn mit H3 identifizierten, kann die Negation zweierlei bedeuten: die Rückkehr entweder zu B2 oder aber zu Bl -also in beiden Fällen zu einem reduzierten Modell des Staates. Die Trennung von Staat und Gesellschaft ist, aus verschiedenen Gründen, für beide Arten des totalen Staates unannehmbar. Sie ist einerseits die Grundlage der (als vorstaatlich gedachten) Freiheitsrechte, der Ausgrenzung des Staates, 24 25

Vgl. den Abschnitt 11-4 unten. BdP 24f.

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Dritter Teil

der Forderung nach einer politikfreien Sphäre. Totalitarismen des "Homogenitätstypus" verwerfen sie als "liberale" Forderungen überhaupt 26 • Es ist andererseits auch klar, daß der "pluralistische", aus "Schwäche" totale Staat untrennbar verbunden ist mit sozialstaatliehen Theorielementen, und dies nötigt auch ihn, die Trennung von Staat und Gesellschaft als eine unhaltbare Fiktion abzulehnen 27 • Für einen Augenblick wollen wir die Hypothese akzeptieren, daß Schmitts politische Philosophie "notwendig" in der Theorie des totalen Staates aus "Stärke", der Apologie des Nationalsozialismus münden sollte 28 • Das wirft die Frage auf: Aus welchem Begriff des Politischen ergibt sich diese Notwendigkeit? Die Frage ist zwar für diejenigen, die B1 und B2 nicht voneinander unterscheiden, sinnlos. Für andere mündet alles, was Schmitt gedacht hat, in den totalen Staat. Wir haben jedoch die Unterscheidung gemacht und müssen sie auch in diesem Punkt nachprüfen. Wir haben soeben gezeigt, wie Schinitts totaler Staat "aus Schwäche" mit dem Konfliktmodell B2, dem "Begriff des Politischen" zusammenhängt 29 • Es wäre eine einfache und transparente Konstruktion, wenn man seine angebliche Option 30 für den "totalen Staat aus Stärke" auf die VL zurückführen könnte. Das scheint plausibel, stehen doch ihre Grundbegriffe: Souveränität und Homogenität, für einen Teil der Politikwissenschaft gewöhnlich unter Totalitarismusverdacht Diese Konstruktion stößt jedoch auf Schwierigkeiten. Denn es ist durchaus üblich, auch den totalen Staat aus "Stärke" mit dem Konfliktschema in Beziehung zu setzen. Wer die pluralistischen Konsequenzen des BdP und die anarchistischen Tendenzen der Pluralismustheorie unterschlägt, wer den Hinweis auf die Gefahr und das Risiko des Politischen mit deren Beschwörung 26 Die NS-Ideologie postulierte stattdessen einen "nationalsozialistischen Freiheitsbegriff": die Freiheit des in die Gemeinschaft eingegliederten Menschen (vgl. Böckenförde (IV) 115 f.). Analog verfahren auch kommunistische Ideologien. 27 Vgl. dazu das Kapitel13 unten. 28 Diese glatte Gleichsetzung ist natürlich eine begriffsgeschichtlich wertlose, weil nachträgliche Projektion. "Schmitt prägt das Wort vom Totalen Staat für den BrüningPapen-Schleicher-Staat in ,Hüter der Verfassung' (t 931) erstmalig. Und der gleiche Begriff soll nun den nationalsozialistischen Staat kennzeichnen! Die Formel vom totalen Staat ist römisch-katholischer Herkunft, der Begriff des totalen Staates ist eine neue Rezeption des römischen Rechts .. " - so das durch seinen anti-römischen Affekt bekannte "Amt Rosenberg" am 7.1.1937 (in: Zweite Etappe, Oktober 1988, S. 96ff., 110. Veröffentlicht und kommentiert von Günter Maschke). 29 Vgl. den Abschnitt 10-4 oben. 30 Einige aus den unzähligen Hinweisen: Als Ausweg aus dem (pluralistischen) Chaos erscheine Schmitt "die Wendung zum totalen Staat unerläßlich und unentrinnbar notwendig zu sein" (Fraenkel 172); In der Konsequenz der Kritik Schmitts an der Pluralismustheorie "lag die Propagierung des ,totalen Staates aus Stärke'" (Sontheimer, im Fischer-Lexikon Staat und Politik, S. 255); Hofmann 121 f.; unrichtig auch bei Schwab 146.

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verwechselt, der kann die konfliktuale Definition des Politischen als eine totalitarismusverdächtige Ideologie hinstellen. Stereotypen wie der "Mythos vom Rassenfeind", eine "terroristische Philosophie der Macht, die das Wesen des Politischen im gnadenlosen Kampf, in der Gewalt, im Recht des Stärkeren erblickte" usw. belegen den Zusammenhang zwischen der NS-Ideologie und dem BdP nicht nur für den Laien, sondern auch für den Historiker 31 • Auch für Zeitzeugen gilt als erwiesen, daß sich das "kämpferische Ethos" des Nationalsozialismus in Schmitts Begriff des Politischen wiedergefunden habe 32 • Diese Verbindung ist, selbst wenn sie systematisch zutreffend wäre, historisch unhaltbar. Die Feindentscheidung als Grundlage einer nationalsozialistischen Verfassung war undenkbar, weil das Staatsverständnis des Dritten Reiches auf einer Ideologie von Konsens und Harmonie beruhte. Konflikt, Uneinigkeit, Zwietracht, Interessenkampf usw. waren mit dem bürgerlichen, liberalen und pluralistischen System verbunden und diskreditiert. Das war nicht zufallig. Revolutionäre Bewegungen betonen die konfliktuale Komponente ihrer Ideologie in der Regel nur bis zur Machtübernahme, und sie übergehen nachher schnell zu Konsens-, Gemeinschafts-, Harmonie- und Einheitsmotiven. Der "legale" Charakter der nationalsozialistischen Revolution, die Notwendigkeit, die Machtübernahme durch die Gleichschaltung der Institutionen mühsam fortzusetzen, die unauffallige oder "gesetzesförmige" Ausschaltung der innerstaatlichen Opposition usw. haben die Phraseologie des entscheidenden Kampfes äußerster Intensität entweder nicht gerechtfertigt oder sie ließen sie nicht als zweckmäßig erscheinen. Der Nationalsozialismus propagierte, im Kontrast zum "rivalisierenden Gegeneinander" von Liberalismus und Pluralismus, die Idee einer harmonischen Gesellschaft, eines "nationalsozialistischen Universalismus" 33 • Man kann natürlich diesen Anspruch der nationalsozialistischen Weltanschauung durchaus an ihrer Wirklichkeit messen und Diskrepanzen feststellen. Das ist hier vollkommen irrelevant. Denn von einem Apologeten erwartet man nicht Enthüllung, sondern Bestätigung. Schmitts Freund-Feind-Theorie mochte im Rückblick, als die Beschreibung der Weimarer Wirklichkeit zutreffen. Im Dritten Reich, nach dem vollzogenen "Feindentscheidung" war sie nicht gefragt, ja sie galt als potentiell verdächtig. Die "Freund-Feind-Formel" galt, in seltsamer Übereinstimmung mit der demokratischen Kritik, als abstrakt, formal und inhaltsleer. Wir vermuten also, daß Autoren, die Schmitts "Totalitarismus" aus der VL herleiten, das Thema weniger grobschlächtig verfehlen als diejenigen, die den BdP zum Ausgangspunkt nehmen. Bracher, im Fischer-Lexikon Staat und Politik, S. 204. Litt (IV) 49. 33 Vgl. die Nachweise bei Manfred Dahlheimer: Ständische Ordnung statt pluralistischer Gesellschaft, in Böckenförde (IV), 124, 128ff. 31

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Dritter Teil

10-6. Schmitt deutet auch die Möglichkeit an, daß der totale Charakter des Staates nicht mit der Pluralität, sondern mit der Homogenität zusammenhängt: die Entwicklung zur "demokratischen" Identität von Staat und Gesellschaft34 • Er scheint hier einen Vorbehalt gegen den konsensualen Begriff des Politischen anzumelden, den die Pluralismustheorie üblicherweise als die Konsequenz seiner Verfassungslehre ansieht. Die Begründung, die Schmitt angibt, ist indessen ungenau- nicht weil aus dem Demokratiebegriff keine totalitären Konsequenzen herleitbar wären, sondern weil Staat und Gesellschaft sich zueinander komplementär verhalten. Die Bewegung zur Totalität besteht nicht einfach darin, daß die Trennung von Staat und Gesellschaft negiert wird, sondern darin, daß eine der beiden Komponenten tendenziell gegen Null geht.

Schmitts Feststellung, es gebe keinen totalen Staat, sondern nur totalitäre Parteien, hört sich zunächst wie eine bloße Korrektion der Definition des totalen Staates aus Schwäche an. In Wirklichkeit ist sie der Ansatz zu einer Definition des "qualitativ" totalen Staates "aus Stärke". Das Kennzeichen der totalitären Partei ist für Schmitt nicht lediglich die Tatsache, daß alle Lebensbereiche zum Schauplatz der Machtgewinnung gemacht, also politisiert werden: sie wolle das "ganze Leben" des Menschen erfassen, ihn "von der Wiege bis zur Bahre" begleiten, ihm die richtige Weltanschauung, die richtige Staatsform usw. mitgeben 35 • Denn dies allein würde über den quantitativ totalen Staat noch nicht hinausgehen, sondern würde nur dessen Hauptmerkmal aus der Perspektive der einzelnen Machtgruppe wiedergeben. Totalitär ist eine Partei, die, einmal in den Besitz staatlicher Positionen gelangt, ihren Konkurrenten die gleiche Chance der Machtgewinnung vorenthalten würde. Die chronologisch erste theoretische Schrift Carl Schmitts, die ohne die üblichen Fälschungen als seine "Option" für den totalen Staat aus Stärke gedeutet werden könnte, ist der "Staat, Bewegung, Volk. Die Dreigliederung der politischen Einheit". Sie ist 1933, nach der "Machtergreifung" erschienen. Sie setzt an der positiven Verfassungslage an und konstatiert die revolutionäre Beseitigung der Weimarer und die Etablierung einer neuen Verfassung. Sie beschäftigt sich mit einem eminent verfassungstheoretischen oder -rechtlichen Problem. Ihr kommt also eine analoge Stellung zu wie der VL, die eine Option für die demokratische WRV war. Auch der Untertitel verweist auf die VL, nicht auf den Begriff des Politischen. Wer also eine systematische Kontinuität zwischen Schmitts Weimarer und NS-Periode nachweisen (oder widerlegen) will, kann die Auseinandersetzung mit ihr nicht umgehen. "Die Weimarer Verfassung gilt nicht mehr" 36 - so die lapidare Umschreibung der Verfassungslage. Das sogenannte Ermächtigungsgesetz (die" vorläufiBdP 25. WEStD 362 - eine Beschreibung, die sich nicht gerade nach Billigung anhört. 36 Die Feststellung war aus der Sicht der herrschenden Auslegung der WRV falsch, aus der Sicht der VL richtig. Ob sie taktisch-politisch opportun war, ist eine Frage, die in der Kürze nicht beantwortet werden kann. 34

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ge Verfassung" des neuen Deutschland 37 ) und noch mehr das Gesetz über die Volksabstimmung haben ihren Kern beseitigt, sie "sprengen den Rahmenjeder nach der Weimarer Verfassung denkbaren Regelung" 38 • Der Untertitel: Dreigliederung der "politischen Einheit" enthält den Grundbegriff der VL. Die "politische Einheit" ist, genauso wie in der VL, der "konstituierende" Staat, der Staat "im weiteren Sinne" als das "Ganze der politischen Einheit eines Volkes". Aber die Reihe von Identitäten: Volk = Staat = politische Einheit ist problematisch geworden. Denn nicht nur der Begriff "Staat" wird verdoppelt (wie in der VL), sondern auch "Volk" bedeutet zweierlei: einerseits das "Ganze", andererseits die unpolitische Komponente. Der Staat als Element der Dreigliederung ist die "Befehls-, Verwaltungs- und Justizorganisation". Die "Bewegung", die "Staat- und Volktragende Partei" ist die NSDAP. Das "Volk" bezeichnet die "der Selbstverwaltung überlassene Sphäre des Volkes", die berufsständische Wirtschafts- und Sozialordnung, die kommunale Selbstverwaltung - eine im Rahmen der politischen Führung mögliche "Autonomie, Genossenschaftlichkeit oder auch bündische Zusammenschlüsse" 39 • Alle drei Begriffe: Staat, Bewegung und Volk können "für das Ganze der politischen Einheit" gebraucht werden40 , sie bezeichnen verschiedene Seiten oder Aspekte, ein spezifisches Element des Ganzen. Die Bewegung ist das politisch-dynamische Element, sie durchdringt und führt die beiden anderen. Das Volk ist der unpolitische Teil, der sich unter dem Schutz und im Schatten politischer Dezisionen verwirkliche. Der Staat im engeren Sinne ist der "politisch statische Teil", die politischen Entscheidungen werden nicht von ihm getroffen. Es lohnt sich nicht, auf die theoretischen Verstrickungen der Konstruktion einzugehen. Ihre Schwierigkeiten möchte ich an einem einzigen Beispiel 37 SBV 7. Hätte die Endgültigkeit durch ihre detaillierte Herausarbeitung erfolgen sollen? Hat Schmitt gehofft, der endgültigen Verfassung rechtsstaatliche Elemente unterschieben zu können? Das Ermächtigungsgesetz galt befristet bis zum 31 .3.1937, was einerseits seine Vorläufigkeit bestätigte, andererseits den Schein erweckte: die WRV sei weiter in Kraft. Hitler, der zumindest am Anfang, zwischen Revolution und Legalität lavieren mußte, dürfte an diesem Schwebezustand (und sonst an gar keiner Verfassung) interessiert gewesen sein. 38 SBV 6. Das "Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich" vom 24. März 1933 gab das Gesetzgebungsbefugnis der Exekutive zurück und hob damit die Trennung von Legislative und Exekutive auf. Alle Gesetzesinitiative sei grundsätzlich Sache der Regierung geworden (SBV 10). Mit Hilfe des Gesetzes über die Volksabstimmung vom 14. Juli 1933 konnten Gesetze zustande kommen, die selbst über die Vorbehalte des Ermächtigungsgesetzes hinausgingen. 39 SBV 13 (Schlüsselwörter im Text gesperrt). Das Konzept der "ständischen Ordnung" stieß von Anfang an an Hitlers Mißtrauen und wurde nie verwirklicht (vgl. Dahlheimer in Böckenförde (IV) 122ff., insb. 138ff.). 40 Die politische Einheit werde durch drei Ordnungsreihen dargestellt = repräsentiert (SBV 12).

12 Holczhauser

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andeuten 41 . Die Charakterisierung der Bewegung: "sowohl Staat wie Volk", deutet eine Synthese an. Wie kann aber aus zwei statischen, zum Teil unpolitischer Prinzipien das Dynamisch-Politische hervorgehen? Wie verhält sich die Synthese zu ihren Komponenten? Geht sie aus ihnen hervor, so ist sie das unselbständige Produkt. Oder aber ist die Synthese das Selbständige und Bestimmende, und ihre vermeintlichen Komponenten sind lediglich idealtypische Abstraktionen, die nur auf dem Wege der Begriffsanalyse entstehen usw.Ich will mir eine tiefgehende Beschäftigung mit dieser Improvisation und ihrer Allerwelts-Dialektik, die mit Schmitts systematischem Werk, außer terminologischen Überschneidungen, wenig zu tun haben, ersparen. Wenn man sich jedoch über die gedanklich-stilistischen Mängel der Schrift und ihre Phraseologie hinwegsetzt, dann stellt sich die Frage, welche mögliche politische Intention (außer der vordergründigen Apologetik) wahrnehmbar ist? Ich möchte das Ergebnis meiner Lesung in einigen Punkten zusammenfassen. 1. Die Forderung nach Entpolitiserung des "Volkes", d. h. der verschiedenen Arten und Gebieten der Selbstverwaltung, nach ihrer Autonomie ergibt sich unmittelbar aus der Definition des Volkes. Zur Verstärkung und Absicherung beruft sich Schmitt auf den unverdächtigen "stato corporativo" Mussolinis. Das ist der nähere, staatsrechtlich faßbare Sinn der Charakterisierung des "Volkes" als des "unpolitischen" Gliedes 42 • 2. Schmitt versucht die Entpolitisierung auch auf den "Staat" auszudehnen. Er hat zwar den Staat als "politisch" qualifiziert. Wegen seines "statischen" Charakters gilt er jedoch plötzlich als ein "relativ entpolitisierte[r) Organismus des Beamten- und Behördentums" 43 • 3. Insbesondere soll die Entpolitiserung auf die Justiz erstreckt werden. "Trotzdem müssen und wollen wir sowohl an der rechtlich gesicherten Stellung des deutschen Beamten, wie insbesondere an der Unabhängigkeit der Richter festhalten" 44 • Die "saubere Abgrenzung der verschiedenen Sphären" solle nicht nur die "Objektivität" des Beamtentums, sondern insbesondere die Unabhängigkeit der Gerichte garantieren45 • 4. Der konkrete Weg der Entpolitisierung, das weiß Schmitt wohl, ist die Trennung von Staat und Bewegung (Partei). Natürlich kann er sich gerade auf diesem gefährlichen Terrain: dem Kern moderner Diktaturen, nur mit äußerster 41 Zum Denkstil: "Die politische Einheit des deutschen Volkes" beruhe auf der "in sich geschlossenen Einheit des Deutschen Volkes" und der Bewegung (SBV 19). - Eine so grobe Tautologie wäre Schmitt in einem Aufsatz, in den er intellektuelle Energie investieren wollte, nie unterlaufen können. 42 SBV 13, 17. Die "funktionale" (nicht-territoriale) Repräsentation erschien seinerzeit auchfür manche Pluralisten als die wahre Form der Interessenvertretung (vgl. Olson

111 f.). 43 44

45

SBV 17. SBV 45f. SBV 21.

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Vorsicht bewegen. So kommt die scheinbar unentschiedene Formel zustande, daß Staat und Volk "unterschieden, aber nicht getrennt, verbunden, aber nicht verschmolzen sind" 46 • Ihr gehen jedoch (aus nationalsozialistischer Sicht) sehr subversive47 Feststellungen voraus: i) Die Partei sei eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, die ii) unter Staatsaufsicht steht und iii) erhöhte Pflichten hat. Sie sei iv) kein unmittelbares Staatsorgan. Ihre Beziehungen zum Staat versteht Schrnitt v) überhaupt als "rechtliche", die tendenziell in der Richtung vi) "Trennung" zeigen, denn die Verbindungen und Überschneidungen zwischen staatlichen Positionen und Parteifunktionen bestehen nur faktisch, nicht aber rechtlich und sie beruhen hauptsächlich auf Personal-Unionen - Schrnitt deutet sogar die Möglichkeit von vii) Inkompatibilitäten an48 • 5. Die Grundlage des nationalsozialistischen Rechts seien die Begriffe "Führertum" und "Artgleichheit". Die Notwendigkeit des Führerturns ergebe sich daraus, daß ein "starker Staat das Ganze der politischen Einheit über alle Vielgestaltigkeiten hinaushebt und sichert". Der starke Staat ist nicht Selbstzweck, sondern "die Voraussetzung eines starken Eigenlebens seiner verschiedenartigen Glieder". Mit der Bemerkung: es gebe aus dieser Sicht "keinen normalen Staat, der nicht total wäre", relativiert und entstellt Schrnitt den Begriff des "totalen Staates" bis zur U nkenntlichkeit49 • Wenn hier eine Beziehung zu Schrnitts früherem Denken besteht, so nur darin, daß er das Führerprinzip auf die Befriedungs- und Schutzfunktion des Staates zu reduzieren versucht. Was Schrnitt von ihm positiv aussagt, ist recht mager: er setzt den Begriff in Gegensatz zum liberaldemokratischen Ideal der Führungslosigkeit, grenzt ihn von politischen und Rechtsbegriffen 50 , von Bildern und Vergleichen 51 ab. So kann er gleichzeitig vermeiden, das Amt oder die Person des Führers zu überhöhen 52 • Der andere Schlüsselbegriff ist die "Artgleichheit" - nicht nur für das nationalsozialistische Recht 53 , sondern auch für Schrnitts Absicht: dem sich im SBV 21. Zu den Angriffen nationalsozialistischer Juristen an den SBV vgl. Bendersky 221 ff. 48 SBV 20f. Das "pluralistische" Deutschland sei ein " Reich der grenzenlosen Kompatibilitäten" gewesen (SBV 27). 49 SBV 33. 5° Führung ist keine Reichsaufsicht, sie "ist nicht Kommandieren, Diktieren, zentralistisch-bürokratisches regieren oder irgendeine beliebige Art des Herrschens", keine völkerrechtlichen (kolonialen) Abhängigkeitsverhältnisse (SBV 36fT.; der ganze Text gesperrt). Insbesondere ist sie nicht Diktatur (SBV 41), Tyrannei und Willkür (SBV 42). 51 Schmitt führt das biblische Bild vom Hirten und Herde, Platons "Steuermann", Roß und Reiter usw. an. Sein Fazit: "Unser Begriff ist eines vermittelnden Bildes oder eines repräsentierenden Vergleichs weder bedürftig nochfähig". 52 Der Ton ist, im Vergleich zu der üblichen Bekenntnisliteratur auffallend verhalten, unpersönlich und nüchtern. Offensichtlich steigt Schmitts "Engagement" für das Regime in dem Maß, in dem er direkt und persönlich gefährdet wird (vgl. Bendersky 228). 46 47

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Gange befindlichen und von ihm nie geforderten Arisierungsprozeß 54 etwas Rechtsstaatliches abzugewinnen. Schmitt tut so, als wäre das Prinzip der Unabhängigkeit des Richters nur solange ein "Risiko", das Einfallstor der Rechtsunsicherheit gewesen, bis die Auslegung von Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen "Artfremden" gestattet wurde. Er tut so, als wäre das einzige Ziel der Arisierung, einen "Normalzustand": die Voraussetzung der Unabhängigkeit der Verwaltung, Rechtspflege und Rechtslehre wiederherzustellen. Das suggeriert auch der letzte und doch zentrale Satz der Schrift 55 : "Auch hier, angesichtsdes untrennbaren Zusammenhangs von Gesetzesbindung, Beamtenturn und richterlicher Unabhängigkeit, münden alle Fragen und Antworten in dem Erfordernis einer Artgleichheit, ohne die ein totaler Führerstaat nicht einen Tag bestehen kann". 6. Schmitt begründet die Forderung nach Unabhängigkeit von Verwaltung und Justiz mit einer historisch-soziologischen Skizze, die den übernommenen Staatsapparat und die Reichswehr vom "Versagen" Weimars entlasten soll. Das deutsche Heer und Beamtenturn hättenjahrhundertelang dieselbe staatstragende Funktion ausgeübt wie heute die Bewegung. Das deutsche Beamtenturn ist "niemals bloßer bürokratischer ,Apparat' im Sinne westlicher Liberal-Demokratien gewesen" 56 • Es war zuletzt nicht mehr in der Lage, "beide Funktionen, nämlich die eines objektiven und neutralen staatlichen Behördenapparates und die einer politisch führenden, staatstragenden Schicht, zu erfüllen" 57 • Doch seine Verstrickung in das pluralistische System habe seine "große Tradition" nicht zerstört. Daran will Schmitt anknüpfen: "Das deutsche Beamtenturn ist aus einer unklar und unhaltbar gewordenen Zwitterstellung befreit und vor der Gefahr gerettet worden, nach liberal-demokratischer Art in die Rolle eines blinden Werkzeugs nichtstaatlich-gesellschaftlicher, unsichtbarer Mächte herabgedrückt zu werden". Die Beschreibung der "Dreigliederung" läuft also auf die Forderung möglichst weitgehender Entpolitiserung, die Schaffung von entpolitisierten Sphären der Selbstverwaltung, der Justiz und der staatlichen Verwaltung hinaus 58 • Diese Sie ist die unumgängliche Voraussetzung der politischen Führung - SBV 42. Schmitt hält sich peinlich an die Verlautbarungen "zuverlässiger" NS-Juristen- vgl. SBV 42f. "But although he mentioned such terms as race and blood, he never succumbed to a belief in the biological racism of National Socialist ldeology. He bad always consi~ered such ideas absurd" (Bendersky 208). 55 Es ist äußerst schwierig, solche Suggestionen ohne persönliche Erfahrungen mit der Sprachregelung totalitärer Regime zu deuten. Joachim Lege (in Böckenförde (IV) 23 ff.) hält es immerhin für "bemerkenswert", wie Schmitt aus dem Vordringen von Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen "Folgerungenfür die Bindung des Richters an Recht und Gesetz ableitet". Er verwechselt jedoch den Grund mit dem Begründeten undfügt (abschwächend und relativierend) hinzu: damit meine Schmitt eine " Bindung", "die völkisch-rassische Artgleichheit der Juristen" (S. 36). 56 SBV 29. 57 SBV 30. 53

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sollen an "allen Vorteilen und Sicherheiten des Unpolitischen" teilhaben 59 • Schmitt versucht, die mit großem Getöse verworfenen Prinzipien des Rechtsstaates: die Trennung von Staat und Gesellschaft, dieUnabhängigkeitder Justiz, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Gewaltenteilung- in abgewandelter, abgeschwächter Form- durch die Hintertür einzuführen. Schmitt war kein "Theoretiker" des totalen Staates aus Stärke, jedenfalls nicht in dem Sinne des Wortes, den man als Anklage versteht. Er war kein Vordenker der nationalsozialistischen Revolution wie Lenin, Trotzky oder Lukäcs der kommunistischen waren. Sein Geist und seine Sprache scheinen gerade dort auszutrocknen, wo ihn eigentlich die Euphorie der Erflillung überwältigen sollte: ein Symptom, daß er nicht Prophet, sondern Diagnostiker war. Seine Konstruktion knüpft an vollendete Tatsachen an, sie nimmt die Entwicklung nicht vorweg. Sie hinkt den Ereignissen hinterher - und nicht einmal das mit besonderem Eifer oder (aus nationalsozialistischer Sicht) Geschick. Seine Abrechnung mit dem "liberalen Rechtsstaat" ist vordergründig, hinter der Kulisse versucht er, dem Nationalsozialismus rechtss.taatliche Inhalte unterzuschieben - in der Hoffnung, die Betroffenen würden sie nicht als solche erkennen. Das war nun ein halb illusorisches, halb tollkühnes Unterfangen 60, dessen Ausgang bekannt ist. Wäre ihm Erfolg beschieden gewesen, so würde man wohl heute (um eine Analogie zu verwenden) von seiner Bemühung um einen "Nationalsozialismus mit menschlichem Antlitz" sprechen müssen.

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11-1. Wir haben gesehen, daß die Tendenz, den Souverän aus dem Staat hinauszudrängen, auch in der VL unvermeidbar ist 1 . Ebenso unabwendbar ist jedoch das Bedürfnis, die staatliche Einheit nicht nur in extremen Situationen, durch unmittelbares Handeln des Souveräns zu bewirken, sondern den Ausbruch des offenen Konflikts bereits im Normalzustand zu verhindern. In dieser Situation tritt der Staat als einer der Konfliktparteien aufund damit wurde der Gegensatz der beiden Begriffe des Politischen ins Innere des Staates hineingetragen. Daraus entsteht ein theoretisches Dilemma: Der Staat erhebt den Anspruch, eine qualitativ höhere Legitimität zu besitzen als der Gegner, obwohl im Sinne des Konfliktschemas beide gleichermaßen "politisch" sein müßten. Schmitt findet den Ausweg in der Verdoppelung der Repräsentation - er 58 Hofmann läßt sich dagegen zur Behauptung hinreißen, Schmitt wolle "alle neutralisierten Lebensbereiche wiederum politisieren, d . h. auf eine neue, totale FreundFeind-Unterscheidung ausrichten" (Hofmann 121). 59 SBV 17, 21 , 45f. 60 Maschke 13. 1 Vgl. oben Abschnitt 6-9.

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unterscheidet faktisch zwei Repräsentationssysteme oder -züge innerhalb des Staates. So entsteht einerseits eine scharfe und im Detail zutreffende Beschreibung der politischen Wirklichkeit Weimars, die andererseits weder ins theoretische Gerüst der VL noch in das des BdP problemlos hineinpaßt. Man kann in diesen Schriften zur Verfassungslage auch einen Versuch entdecken, den Zusammenhang der beiden Begriffe des Politischen herauszuarbeiten, der jedoch - so können wir vorwegnehmen - zu Konfusionen führt. Man könnte die Struktur komplexer Organisationen sehr übersichtlich darstellen, wenn das institutionelle Gefüge die getreue Abbildung der maßgeblichen, jedoch nicht unmittelbar handlungsfähigen Akteure wäre. In einem Ständestaat, im Staatenbund oder in einem pluralistischen Gemeinwesen, dessen Organisationen disjunkte Kreise bilden, gelingt es immer, die Verhältnisse "im großen" auf kleinerem Maßstab (paritätisch in einem Ausschuß, im Parlament usw.) darzustellen. Wie sehr diese Darstellung der ständischen Staatsauffassung nahe lag, zeigt eine "berühmte Äußerung" von Mirabeau, die Stände seien für die Nation eine Art geographische Karte: ein Bild, das die nämlichen Verhältnisse zeige wie das OriginaJZ. Auf das gleiche hinaus läuft auch Schmitts (kritische) Bemerkung über den Reichstag, der "ein Spiegelbild der Pluralität organisierter sozialer Machtkomplexe" geworden seP. Die Beziehungen der Repräsentanten stehen dann in direktem Verhältnis mit den Kräften, die im Hintergrund wirken, und die Entscheidungen der Repräsentanten sind ohne Schwierigkeit mit denen der Repräsentierten gleichzusetzen4 . Eine extensionalistisch orientierte Theorie der Repräsentation (wie die oben beschriebene) bietet scheinbar zwei Möglichkeiten, den Auftraggeber und den Adressaten der Repräsentation zu konstruieren. Die demokratische Theorie identifiziert den Auftraggeber mit dem "Ganzen". Wenn man fordert, daß die Repräsentation im eigentlichen Sinne eine Beziehung zwischen drei Akteuren ist 5 , dann liegt hier überhaupt keine Repräsentation vor, weil Repräsentant und Adressat in der leeren Menge zusammenfallen. Nach der pluralistischen Theorie wird nicht das Ganze, sondern es werden die Teile gegenübereinander repräsentiert6, und nur hier gibt es ein nicht-triviales Verhältnis zwischen Repräsentiertem (Auftraggeber), Adressat und Repräsentant. Schmitts Versuch, die unterschiedliche Legitimitätzweier Verfassungsinstitute, des Reichstages und des Reichsspräsidenten auf zwei Arten der Repräsentation und indirekt auf zwei Begriffe des Politischen zurückzuführen, entspringt dem praktischen Bedürfnis, eine Instanz höherer Legitimität zu konstruieren und damit neutrale, rechtliche Entscheidungen zu ermöglichen. Theoretisch VL 266. HdV 141. 4 Leibholz (I) 29. 5 RK 45, GgLP 44 FN 3; anders Leibholz (I) 41. 6 Fraenkel21 spricht von der "Doppelrolle einer Repräsentanten der Nation und eines Vertreters von Partikularinteressen". 2

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beruht er jedoch auf einer heterogenen Gegenüberstellung, die mit den Elementen verschiedener Repräsentationsmodelle operiert. Ich will im folgenden zeigen, daß es Schmitt nicht gelungen ist, dieses ursprüngliche Manko der Grundlegung durch spätere, noch so zutreffende, Beobachtungen zu korrigieren. 11-2. Der erste Repräsentationszug ist der parteipolitisch "neutrale Staat", der Inbegriff der Kräfte, Instanzen, Institute und Verfahren, die ihre Legitimität über möglichst geringe Vermittlung auf die verfassunggebende Gewalt, die "Einheit und Ganzheit" des Volkes zurückführen. Sie bilden das statische, der funktionellen Integration entzogene Element?, die Permanenz oder das Zentrum im weitesten Sinne.

In der Mitte des neutralen Staates stehe, wegen seiner unmittelbaren plebiszitären Legitimität, der Reichspräsident 8 • Er ist direkt verbunden mit der "Einheit", die "unmittelbar, nicht erst durch soziale Handlungsorganisationen vermittelt[...] handlungsfahig ist" 9 . Der unmittelbare Kontakt zum Wähler gibt ihm eine Legitimität, die höher ist als die der Exekutive, weil diese das Vertrauen des Volkes durch das Medium eines (zerrissenen) Parlaments "vermittelt" bekomme 10 • Zum neutralen Staat zähle auch das Berufsbeamtentum, obwohl es keinen repräsentativen Charakter habe und allenfalls "Diener der Gesamtheit" sei 11 • Schmitt sieht in gewissen organisatorischen Bestimmungen der WRV die Garantien seiner Unabhängigkeit, genauer: seine "Herausnahme" aus der Parteipolitik 12 • Die weiteren Elemente des neutralen Zentrums (Richter, Sachverständige) faßt Schmitt unter dem Stichwort "Expertenstaat" zusammen 13 • Sie bekommen die Grundlage ihrer Legitimität, den Bezug auf die "Einheit" durch den Reichspräsidenten vermittelt. Diese Art Repräsentation steht in engem Zusammenhang mit dem demokratischen Prinzip. Ihr einfacher Grundgedanke ist, daß der Repräsentant des "Ganzen" eine höhere Legitimität besitzt als der Repräsentant des "Teiles". Daher ist der erstere eine dem letzteren übergeordnete Entscheidungsinstanz. Es wäre zu billig, solche Konstruktionen zu belächeln oder sie wegen ihres "plebiszitären" Charakters 14 in Verrufzu bringen. Dennjede Organisation, die in ihrer Struktur das demokratische Prinzip mit einer hierarchischen Organisation vereinbaren muß, greift explizit oder implizit auf sie zurück (vgl. "innerparteiliche Demokratie"). HdV 154. HdV 158. 9 HdV 159. 10 VL 350f. Eine analoge Anwendung bei Forsthoff (I) 101. 11 VL 213. 12 HdV 149f. 13 HdV 104. 14 Hofmann 124. 7

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Solche Repräsentationszüge lassen sich auch außerhalb der Institutionen fingieren, wie die von Schmitt erwähnte "weit verbreitete Vorstellung", die staatliche Organisation als ein "Ausschußsystem" von drei Stufen: Volk, Volksvertretung, Regierung 15 , beweist. Auch die ständische Opposition hatte versucht, die Stellung des absoluten Monarchen durch verschiedene Repräsentationszüge zu schwächen. Sie griff eine Konstruktion der Spätscholastik, welche die überlegene Macht des Papstes (gegenüber dem König) auf den direkten Auftrag Gottes, die den Königs auf eine nur "mittelbare" Sanktion zurückgeführt hatte auf. Nach dieser Interpretation wurde der König nicht vom Gott selbst, sondern lediglich nach einem göttlichen Auftrag eingesetzt. Unmittelbarer Auftraggeber war das "Volk" (d. h. die ständische Repräsentation), der Übertragungsakt das pactum subjektionis 16 • In solchen Stufenbauten nimmt, von "unten" nach "oben", die Legitimität (das Vertrauen) ab und die Entscheidungsmacht zu. Daraus ergibt sich folgerichtig, daß die beauftragte Instanz der sie bestellenden Stufe verantwortlich ist, oder aber daß die letztere die erstere kontrolliert. Die Anzahl der "Zwischenrepräsentanten" oder der Vermittlungsakte zwischen dem Subjekt höchster Legitimität und dem jeweiligen "Endrepräsentanten" ist das Maß der zunehmenden Entscheidungsmacht und des abnehmenden Vertrauens. Legitimität und Macht kompensieren sich gleichsam, so daß ihre Summe (bei unterschiedlicher Verteilung) die gleiche bleibt. So läßt sich eine Grundvorstellung der Demokratie, die "Identität" (d. h. genauer: die Äquivalenz) von Regierten und Regierenden 17 unter einem neuen Aspekt fingieren . Schmitts zweiter Repräsentationszug entspricht im wesentlichen dem System der organisierten Interessenvertretung, dessen sichtbare Spitze das Parlament ist. Da der ursprüngliche Dualismus zwischen Legislative und (königlicher) Exekutive entfallen sei, habe diese Institution ihren direkten Kontakt zur verfassunggebenden Gewalt verloren 18 . Die Fiktion, daß der Abgeordnete der Repräsentant des Ganzen ist, widerspreche (nicht nur in Weimar) eklatant der Wirklichkeit 19 • Im Parlament komme keine dauerhafte Einheit, sondern es kommen nur Teileinheiten der Willensbildung zustande. Schmitt erhebt wiederholt den Vorwurf, die meisten Weimarer Parteien hätten wenig Interesse an der Einheit, sie wollten durch vorübergehende Koalitionen lediglich "das taktische Interesse des Augenblicks" 20 durchsetzen. Ihre Beteiligung am Staat und an der Staatspolitik sei der Interessenpolitik untergeordnet. Aus dieser Kritik spart er VL 266. Vgl. Kondylis 132fT. 11 VL 214, GgLP 20. 18 Das durch Parteien strukturierte Parlament sei kein Repräsentant des Ganzen. Da nur das Ganze repräsentiert werden könne, komme der pluralistische Parlamentarismus der unmittelbaren Demokratie nahe (VL 219). 19 VL 206, HdV 146. 20 HdV 147. 15 16

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nicht einmal diejenigen Kräfte aus, die zwar ein Interesse an der Einheit hätten, sich zu ihrer tatsächlichen Herstellung jedoch nicht durchringen konnten, sich nicht zu einer Koalition zusammenfanden und ein "gelegentliches Bündnis" zwischen ihnen schon ein Gewinn wäre 21 • Da wir auf Schmitts Pluralismuskritik gleich ausführlicher eingehen, wollen wir diese Bestandsaufnahme nur kurz bewerten. Es mochte für viele Interessenorganisationen, Parteien usw. in der Weimarer Republik zutreffen, daß sie nur irgendwelche Partikularinteressen gegen andere Interessengruppen verfolgt hätten, daß ihr politischer Charakter nur polemisch, nicht auf die Einheit gerichtet war. Vollkommen anders verhält es sich jedoch mit den beiden gefahrliebsten Herausforderern der Republik. Es wäre eine historisch falsche Behauptung, daß sich die Obstruktionspolitik von Kommunisten und Nationalsozialisten gegen die staatliche Einheit schlechthin richtete - sie wollten nur eine andere Einheit. Schmitts Kritik an der Zerrissenheit des Parlaments war ein zentraler Topos auch der nationalsozialistischen Propaganda22 • Er hätte in der NS-Bewegung nicht einmal vorübergehend eine einheitsstiftende Kraft entdecken können, hätte diese nur partikulare Interessen, nicht die .,Einheit" erstrebt. Andererseits offenbaren gerade Schmitts persönliche politische Erfahrungen in den letzten Monaten der Republik, wie wenig staatliches Handeln als neutrale Einheits- (Staats-) Politik galt. Papens und später Schleichers Notstandspläne, die den Totalitarismus von links und rechts aufhalten sollten, scheiterten an der schmerzlichen Wirklichkeit, daß der Staat nicht überlegener Souverän, sondern der unterlegene Konfliktspartner war 23 • Diese Bemühungen als reaktionäre Parteipolitik zu bezeichnen lag nicht nur für die Zeitgenossen auf der Hand, sondern wirkt in einer Vielzahl von Darstellungen nach. 11-3. Hinter dem Unterschied, ja Gegensatz der zwei Typen der Repräsentation verbergen sich zwei Begriffe des Politischen. Wer einen Einheitsbezug hat, wer das "Ganze" repräsentiert, betreibe eine "neutrale" oder Staats-Politik24 • Die Vertreter von Partikularinteressen bleiben im "interessierten" oder ParteiPolitik stecken. Die beiden Begriffe des Politischen, Konsens und Konflikt, stoßen unmittelbar aufeinander und stehen selbst in einem Konflikt miteinander. Schmitt bezeichnet ihr Verhältnis als "Gegenwirkung", "Gegengewicht", "Gegensatz" 25 . Man könnte einwenden, daß das Parteipolitische im wesentlichen als das Politische in "sekundärem" Sinne gemeint ist, es liegt also kein Gegensatz der HdV 101, 108. Nachweise bei Dah1heimer in: Böckenförde (IV) 123f. 23 Vgl. E. R. Huber: Carl Schmitt in der Reichskrise der Weimarer Endzeit, in: Quaritsch (II) 33 ff. 24 HdV 103. 25 HdV tOOf., 158. 21

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primären Politikbegriffe B1 und B2 vor. Dieses Argument würde jedoch zu kurz greifen. Denn dadurch, daß Staats- und Parteipolitik (bzw. ihre Träger) unmittelbare Konfliktbeteiligte sind, so daß über sie kein "höherer" Dritter steht, erfüllt die Konstellation das wichtigste Kriterium des Politischen im Sinne von B2. Das weist Schmitt Punkt für Punkt nach. Das Berufsbeamtenturn werde immer mehr "Beute- und Kompromißobjekt" der Parteien, seine Widerstandskraft dagegen sei gering 26 . Die Schwierigkeit, neutrales und nicht-neutrales Expertenturn voneinander abzugrenzen werde im allgemeinen dadurch enthüllt, daß man nicht umhin kann, zwischen Interessen-Sachverständigen und nicht interessierten Sachverständigen zu unterscheiden 27 • Damit gehe der "staatspolitische", d. h. das parteipolitisch neutrale Charakter des Beamtenstaates verloren und daher sind Justiz und Verwaltung nicht geeignet, die Rolle des "Hüters der Verfassung" auszuüben. Die Parteipolitik erfaßt schließlich auch den Reichspräsidenten. Denn auch das direkte Wahlverfahren werde durch die parteipolitische Willensbildung überlagert, und in "normalen Zeiten" bleibe nicht einmal der Staatspräsident neutral, sondern werde sehr bald "parteipolitisch festgelegt". Diese Erkenntnis, früher sehr deutlich ausgesprochen 28 , tritt wegen der politischen Absicht des "Hüters der Verfassung" in den Hintergrund. Auf der Suche nach neutralen, stabilisierenden Elementen macht Schmitt die überraschendsten Entdeckungen und verwirft sie wieder. Zum Teil mit dem Staat verbunden, zum Teil von ihm unabhängig, taucht die "Intelligenz" auf als die "eigentliche und ideale pouvoir neutre: das gebildete und moralisch integre Staatsbeamtenturn in Preußen", oder allgemeiner die "von den organisierten Parteien unabhängige politische Intelligenz" in Deutschland 29 • Ihren unpolitischen Charakter abzustreiten beruhe auf Mißverständnissen und Denunziation. In einem späteren Aufsatz ist es Schmitt, der sie diesbezüglich denunziert 30 . Damit stellt er, ungewollt, unter Beweis, wie zweischneidig die Feststellung ist, alle politischen Begriffe, insbesondere die "Neutralität", seien polemische und manipulierbare Begriffe. Dieser Wechsel des Standpunktes unterscheidet sich kaum vom Verhalten der Koalitionsspieler, die den Staat als eine neutrale Autorität proklamieren, wenn er ihre Parteiinteressen begünstigt, ihn jedoch als einen Konkurrenten und einen Eindringling nennen, wenn er ihnen im Wege stehe31 • Dieses Hin und Her offenbart endgültig, daß Neutralität nicht durch die Vereinnahmung der "Einheit" konstruiert werden kann. Denn dasselbe tun alle Konkurrenten, und damit wird nur der weitere Kampf um die Repräsentation entfacht, die bekanntlieb immer ein "Kampf um die politische Macht" ist 32 • 26 27 28 29 30 31

HdV 101 f. HdV 106. VL 352. HP 23f. N&N 272. HdV 147.

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Wir haben bisher die These vertreten, daß Schmitt in verschiedenen Arbeiten mit verschiedenen Begriffen des Politischen arbeitet, und daß der "Begriff des "Politischen" mindestens zwei Definitionen enthält. Jetzt müssen wir diese These dahingehend ergänzen, daß auch die konsensorientierte Definition des Politischen (Verfassungslehre) zweigleisig ist. Die theoretische Grundlegung ist zweifelsohne eine konsensuale, der (existenzielle) Konflikt findet außerhalb der politischen Einheit statt. Schmitts "angewandte" Verfassungslehre, seine Analyse der Weimarer Verfassungswirklichkeit bzw. die Suche nach Lösungen aus der Krise, wird dagegen vom Konfliktprinzip, das unverkennbar "pluralistische" Züge hat, dominiert 33 • Um dieser Konsequenz zumindest oberflächlich zu entgehen, schwächt Schmitt den Konflikt wirklicher Kräfte zu einer Spannung zweier "Prinzipien" ab, die sich gegenseitig ausbalancieren (Einheit und Pluralität), und ersetzt den wirklichen Sieg der einen Partei durch die "Höherrangigkeit" des entsprechenden Prinzips. 11-4. Die Kernthese der Laskischen Pluralismustheorie wurde formuliert, bevor Laski die neue Lehre auf den Begriff des "Pluralismus" gebracht hat 34 . Cole hat sie als eine Kollisionsregel für Loyalitätskonflikte ausgesprochen: Der einzelne solle sich an der "Gesamtheit der sozialen Werte" (the sum total of social values) orientieren. Diese "anthropologisch wie sozialphilosophisch naive Empfehlung" 35 klingt für antietatistische Gemüter zunächst entwaffnend individualistisch. Schmitts Hinweis, daß die Entscheidung letztendlich doch nicht dem Individuum, sondern nur einem anderen Verband zugespielt werde, enthüllt den politischen, d. h. polemischen Kern der Pluralismustheorie 36 • Die für Schmitts besonders provozierende Gestalt der Grundthese: die "Wesensgleichheit" aller Verbände, ist jedoch zweifelsohne Laski zuzuschreiben. Damit hat er den modernenjuristischen Staatsbegriff(den er offensichtlich nicht verstanden hat), in Frage gestellt37 • Was "Wesen" in diesem Zusammenhang bedeuten soll, ist relativ schwer zu ermitteln, wie immer, wenn die politische Wissenschaft bei der Philosophie Anleihen macht. Wesensgleichheit kann die Gleichartigkeit des Konstituierungsvorgangs, die Gleichberechtigung oder die gleiche Stärke aller Konfliktbeteiligten, die gleiche Legitimität aller Interessenten, die gleiche Chance zur VL 212. Der Konflikt ist die zentrale Kategorie der Pluralismustheorie (Massing 117). 34 Zum Verhältnis Schmitts zur Pluralismustheorie s.auch die Abschnitte 6-6, 8 -1 und 10-4 oben. 35 Quaritsch (I) 36. 36 "Sozialer Pluralismus im Gegensatz zu staatlicher Einheit bedeutet weiter nichts, als daß der Konflikt der sozialen Pflichten der Entscheidung der einzelnen Gruppe überlassen bleibt. Das bedeutet dann Souveränität der sozialen Gruppen, nicht aber Freiheit und Autonomie des einzelnen Individuums" (StE 138). 37 Zur Entwicklung und zum theoretischen Gehalt der Pluralismustheorie vgl. Quaritsch (1). 32 33

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Durchsetzung usw. bedeuten- je nach dem, welches Merkmal für "wesentlich" erklärt wird. Gierke hat, aufgrund des erstgenannten Kriteriums, die Wesensgleichheit aller Verbände behauptet. Laski schloß von dieser These auf die gleiche Souveränität aller Verbände, oder aber (was dasselbe ist) leugnete die Souveränität (die Existenz eines höchsten Elementes einer Wohlordnungsrelation) überhaupt. Das war eine voreilige Schlußfolgerung, wenn man bedenkt, daß Gierke an der Souveränität trotz der Wesensgleichheit festhielt 38 • Auch der deutsche Nachkriegspluralismus kann die Souveränität mit der Wesensgleichheil sehr wohl vereinbaren. Nicht einmal der rein quantitative Unterschied, nicht einmal die rein "soziologische" Betrachtung würden es rechtfertigen, den "Wesensunterschied" zwischen verschiedenen Verbänden als bloße Ideologie abzutun. Olson bewertet die Annahme der traditionellen Gruppentheorie, "daß sich kleine und große Gruppen nur dem Grade, aber nicht dem Wesen nach unterscheiden", als einen großen Fehler. Für ihn selbst begründet die Tatsache, daß kleine und große Gruppen i) auf verschiedene Art Mitglieder gewinnen und ii) in der Erfüllung ihrer Funktion ungleich erfolgreich sind, sehr wohl einen Wesensunterschied 39 • Auch unsere These von der Ununterscheidbarkeit könnte einen Wesensunterschied begründen. Denn der staatliche Verband wird (im Gegensatz zu Verbänden, die un,ter geltendem Recht gegründet werden) durch einen Akt hervorgebracht, von dem im objektiven Sinne nicht entschieden werden kann, ob er ein Zwangs- oder ein Tauschakt ist40 • Es ist interessant, daß die fragwürdige Implikation (von der Wesensgleichheit auf die Leugnung der Souveränität) auch für Schmitt die Kraft der Evidenz hat, nur kam er zu einer anderen Schlußfolgerung als Laski: weil der Staat souverän ist, könne er den anderen Verbänden nicht wesensgleich sein. Seine scharfe Polemik gegen Laski hätte sich erübrigt, wenn ihm Souveränität und Wesensgleichheit als vereinbar erschienen wären. Indessen enthält der BdP eine Reihe von Aussagen, die de facto der These von der Wesensgleichheit gleichkommen, ohne die Souveränität in Frage zu stellen. Die Kriterien, an denen Schmitt die höhere Wesenheit des Staates gemessen haben mag, lassen sich unter zwei Typen einordnen. Das eine wäre das formale Kriterium: die bloße Macht, die Dezision. Das ist das Motiv, das man ihm in Regel mit dem Automatismus eines unbedingten Reflexes ohnehin zuschreiben ·würde. Das Überraschende ist nur, wie wenig es geeignet ist, die Souveränität mit erhöhtem Wesen zu verbinden. Das trifft insbesondere dann zu, wenn man das offene Schema der Souveränität41 nicht als das Konsensschema, sondern als Ja Gierke (I) 832f. Olson 19. 40 Vgl. den Abschnitt 3-1 oben. 41 Vgl. den Abschnitt 5-3 oben. 39

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eine Konfliktsituation, eine bevorstehende, evtl. wiederkehrende Entscheidung konkretisiert. Sie verbindet den Souverän weder ideal mit einer Substanz oder einem Wert, die er exklusiv trägt oder repräsentiert, noch weniger empirisch mit einer ethnischen Gruppe, einer sozialen Klasse, einem Stand, einer Dynastie usw., sondern er zeichnet lediglich den jeweiligen Sieger des Konfliktes aus. In der Beschreibung des Konfliktschemas kehren häufig Feststellungen wieder, die das Politische zu einem offenen Konkurrenzbegriff werden lassen. Der Staat sei keine unerschütterliche, feste Größe. Sind seine Gegner so stark, daß sie die Entscheidung im Ernstfall von sich aus bestimmen, "so sind sie eben die neue Substanz der politischen Einheit geworden" 42 • Hat eine politische Macht nicht den Mut zur Entscheidung, "so wird sich eine andere Macht oder Organisation finden, und das ist dann eben wieder die politische Macht, d. h. der Staat" 43 • Bemächtige sich innerhalb eines Staates das Proletariat der politischen Macht, "so ist eben ein proletarischer Staat entstanden, der nicht weniger ein politisches Gebilde ist wie ein Nationalstaat, ein Priester-, Händler- oder Soldatenstaat, ein Beamtenstaat oder irgendeine andere Kategorie politischer Einheit" 44 • Kann die Souveränität (und damit auch die staatliche Qualität) erworben bzw. verloren werden, so wird eine Minimalbedingungjeglicher Wesensvorstellung verletzt. Die faktisch gleiche Chance verschiedener sozialen Verbände, die Souveränität zu erlangen, vermag eher eine Wesensgleichheit als einen Wesensunterschied zu begründen - unbeschadet der Tatsache, daß der aktuelle Souverän eine ausgezeichnete Stellung innehat. Aber auch kein Kriterium materiellen Typs kann, in Verbindung mit dem Konfliktschema, das höhere Wesen des Staates begründen. Die politische Einheit sei "ihrem Wesen nach" die maßgebliche Einheit, "gleichgültig, aus welchen Kräften sie ihre letzten psychischen Motive zieht" 45 • Das vom psychischen Motiv untrennbare materielle Element kommt in der These, daß das Politische kein genuines Sachgebiet besitze, noch deutlicher zum Tragen. Daß "das Politische keine eigene Substanz hat" 46 , ist eine abgewandelte Wesensgleichheit-Behauptung. Sie impliziert, daß jede Gruppe politisch werden kann. Sie speise dann "mit ihren Sachgehalten und Werten die politische Einheit, die von den verschiedenen Gebieten menschlichen Lebens und Denkens lebt und aus Wissenschaft, Kultur, Religion, Recht und Sprache ihre Energien zieht" 47 . Wenn die herrschenden Sachgehalte und Werte mit dem Konkurrenzbegriff des Politischen selbst relativiert werden, dann entfallt auch die Möglichkeit, den 42 43 44

45 46 47

BdP 39. WsStD 360. BdP 38. BdP 43. BdP 39. StE 141.

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"Wert des Staates" im Vergleich zu den Interessen anderer Gruppen und Verbände zu erhöhen. An dieser Stelle zeichnet sich bereits eine zögerliche Wende ab: von der früheren axiologischen Überhöhung des Staates zur subjektivistischen Wertauffassung hin, die ihren Höhepunkt in der "Tyrannei der Werte" erreichen wird48 • 11-5. Schmitt betont mit Nachdruck, daß "die politische Einheit niemals so absolut monistisch und alle anderen sozialen Gruppen vernichtend aufgefaßt werden kann und aufgefaßt worden ist", wie die Pluralisten dies aus polemischen Gründen hinstellen, oder wie es sich dem juristischen Sprachgebrauch entnehmen lasse. Auch der absolute Fürst des 16. bis 18. Jahrhunderts war gezwungen, "Kirche und Familie zu respektieren und die mannigfachsten Rücksichten auf überlieferte Einrichtungen und wohlerworbene Rechte zu nehmen. Die Einheit des Staates ist stets eine Einheit aus sozialen Vielheiten gewesen,[...] in gewissem Sinne in sich selbst pluralistisch. Mit dem Hinweis auf diese selbstverständliche Komplexität ist vielleicht ein überspannter Monismus widerlegt, nicht aber das Problem der politischen Einheit gelöst" 49 • Hier zeichnet sich allmählich ab, was es mit den Vorwürfen auf sich hat, Schmitts Begriff der Einheit vernichte die Heterogenität. Berücksichtigt man auch seine Theorie der Freiheitsrechte (die man aus der Sicht einer sozialen Grundrechtstheorie als überzogen "liberal" zu denunzieren pflegt 50), dann ergibt sich, daß Schmitt die innerstaatliche Pluralität nicht lediglich als ein unabänderliches Faktum widerwillig hinnimmt, sondern er erkennt sie auch als politisches Ideal an. Es stellt sich also die Frage, ob ein "korrigierter" Pluralisrnusbegriff, der die These von Laski verwirft, von der Schmittschen Position wirklich so weit entfernt liegt. Oder andersrurn: ob die Pluralismustheorie, sobald sie die Kernthese preisgibt, nicht gerade das Spezifische verliert. Ihr Pathos, mit der sie die Verwirklichung individueller Freiheiten fordert, ist aus der Erfahrung mit dem Nationalsozialismus oder mit kommunistischen Diktaturen nur zu begreiflich. Ihr spezifischer theoretischer Gehalt ist jedoch, im Vergleich zur herkömmlichen liberalen Staatstheorie, die sowohl die individuellen Freiheitsrechte als auch die "demokratisch-politischen" Grundrechte51 anerkennt, gleich Null. Wenn es in der Schmitt-Literatur "gesicherte Ergebnisse" geben soll, so scheint Schrnitts antipluralistische Haltung dazu zu gehören. Das Problern ist indessen etwas komplizierter, allein schon deswegen, weil es "den" Pluralismus rifcht ·gibt. Die von Scnmitt verworfene Theorie von der Pluralität der Souveränen (Laski) war zweifellos eine "extreme Pluralisrnuskonzeption 52 ". Vgl. den Abschnitt 14-6 unten. StE 139. Vgl. auch BdP 39. 50 Peter Häberle: Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19. Abs. 2 Grundgesetz, Heidetberg 1983 (3. Auflage), S. 47, 92fT., 216, 251 und passim. 51 Vgl. G&G, VL 164. 4S

49

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Diese Wendung offenbart, daß es eine Pluralität der Pluralismustheorien gibt. Laskis Hauptthese ist äquivalent mit der Leugnung der Souveränität, und weniger extreme Pluralismustheorien, insbesondere der sog. "Neopluralismus" lehnen sie mit denselben Argumenten ab, die Schmitt bereits in den zwanziger Jahren formulierte: sie führe "in letzter Konsequenz zur Aufhebung des Staates und zum Bürgerkrieg" 53 • • Das ist zunächst eine Gemeinsamkeit mit Schmitt, und daher soll die pauschale These von Schmitts Pluralismusfeindschaft verfeinert werden. Es heißt also, Schmitt identifiziere den (unrichtigen) Pluralismus von Laski mit dem Pluralismus schlechthin, um ihn "als solchen zu diskreditieren" 54 • Die Möglichkeit wird nicht erwogen, daß Schmitt einer "revidierten" Pluralismustheorie (die Laskis Kernthese fallen läßt) hätte zustimmen können. Schmitts unerbittlicher und undifferenzierter Antipluralismus scheint mir ein weiterer Mythos der Schmitt-Literatur zu sein. Man kann die Sache jedenfalls auch so sehen: Sclunitts Kritik an Laski wird mit der Kritik am Pluralismus schlechthin identifiziert, um Schmitt zu diskreditieren. U ovareingenommene Rezensenten des BdP haben längst darauf hingewiesen, daß Schrnitt nicht nur die externe (zwischenstaatliche), sondern auch die innerstaatliche Pluralität als ein uraltes Phänomen, das nicht einmal durch die absolute Monarchie beseitigt werden konnte, anerkenne. Die Politik lasse sich zwar nicht pluralisieren- so Julien Freund zustimmend-, dies bedeute jedoch nicht, daß sie die innerstaatliche Pluralität unterdrücke. Im Gegenteil: die Rolle des Staates bestehe gerade darin, diese Pluralität zu schützen, solange der Konflikt die Intensität des Politischen nicht erreiche und den Staat selbst nicht in Frage stelle 55 • Helmut Quaritsch hat die einschlägigen Belege aus Schmitts verschiedenen Aufsätzen zusammengetragen, um nachzuweisen, daß Schmitt die Korrekturen eines "monistisch überspannten" Souveränitätsbegriffs bzw. die unumgängliche innerstaatliche Pluralität akzeptiert hat 56 • Wenn man aus dem Pluralismusbegriff gerade das zentrale Merkmal (die ihn zu einer wirklich selbständigen Theorieansatz macht), die Leugnung der Souveränität, wegläßt, dann sollte man rekonstruieren, wie sich Schmitt zu diesem korrigierten Pluralismus verhalten hat oder verhalten hätte. Denn sonst beruht die pauschale These über seinen Antipluralismus auf einem simplen quaternio terminorum. 11-6. Was aus der Pluralismustheorie übrig bleibt, wenn man die These von der Pluralität der Souveräne fallen läßt, ist aufgrund der Literatur nicht schwer zu ermitteln. Läßt man den populären Gemeinplatz, daß Pluralismus der Gegen52 53 54

55 56

Steffani 44. Steffani 44. Fraenkel 173. Freund (I) 210 ff. Quaritsch (I) 46 ff.

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satz zum Totalitarismus ist, beiseite, so bleibt entweder Konfusion oder ein Sammelsurium von Merkmalen übrig, die über die klassischen Themen von Demokratie und Parlamentarismus nicht hinausgehen 57 • Es genügt, einige Umschreibungen zu zitieren, um sich hiervon zu überzeugen. "Pluralismus" im spezifischen Sinne meine eine "Vielheit", deren Elemente zueinander nicht in der Beziehung der "Subordination", sondern im "Verhältnis des Wettbewerbs und des Konflikts" stünden 58 • Das paßt auf das herkömmliche liberale Marktmodell, auf das Koordinationsrecht von Gierke und Kaufmann, sogar auf Laskis Pluralität der Souveräne. Eine weitere Formel sucht das entscheidende Merkmal darin, daß die Interessen aller Bürger "in verfassungsrechtlich ermöglichten bzw. garantierten Formen frei artikulieren und organisieren können" 59 • Dies umschreibt lediglich die Meinungs- und Vereinsfreiheit, beide sind klassisch-liberale Freiheitsrechte. Sie sind keine Errungenschaften des 20. Jahrhunderts oder Produkte des Sieges über den Nationalsozialismus. Sie wurden von Schmitt vorbehaltlos bejaht. Auch das Nachschieben demokratischer und parlamentarischer "Grundsätze" (Parteienkonkurrenz, demokratische Kontrollmechanismen, innerverbandliehe Demokratie usw.) kann nicht hinwegtäuschen über das Defizit eines Konzepts, das über bekannte Topoi des Staatsrechts hinaus überhaupt nichts zu bieten hat. Am ehrlichsten ist noch das Eingeständnis Fraenkels selbst, der nicht zu verdunkeln versucht, daß "pluralistisch organisierte Demokratie" und "sozialer Rechtsstaat" zusammenfallen60 • Pluralismus kann dann allenfalls ein Schlagwort sein, das die Umdeutung der Freiheitsrechte in Leistungsansprüche theoretisch verbrämt. Der handlungstheoretische Gehalt der Pluralismustheorie ist, daß sie das dem Markt zugrundeliegende Modell einer spontanen Ordnung auf das politische System überträgt. Sie operiert mit vier Annahmen: i) es gebe eine (legitime) Interessenvielfalt (input), die ii) mit Hilfe der Konkurrenz (action) als Methode der Interessenaggregation iii) in das Gemeinwohl (output) überfUhrt werden kann; iv) der Erfolg dieser Transformation ist von der Annahme eines "Minimalkonsensenses" abhängig 61 • Diese Aussagen beziehen sich auf die vorgegebene Struktur, die Dynamik und den Ertrag des sog. "kontroversen Sektors". Punkt ii) besagt, daß die Konkurrenz und gewisse Kampfformen zur Durchsetzung von Interessen erlaubt, weil erforderlich sind, also rechtlich nicht als Zwang gelten. Andererseits sind sie (nach iii) ein geeignetes Mittel, die optimale Verteilung herbeizuführen, was aus der Erforderlichkeit noch keineswegs folgt. Zugleich präzisiert diese Annahme, daß das "Gemeinwohl" nicht im voraus zu bestimmen sei, daß es 57

58 59 60 61

Symptomatisch ist Steffani 46. Steffani 33. Steffani 49 (Hervorheb. v. mir). Fraenkel (zitiert von Steffani 54). Lehner (II) 95 ff.

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nicht der input-, sondern der output-Seite angehört. Punkt iv) nennt eine notwendige Bedingung, die die selbstregulierende Interessenaggregation ermöglicht und zugleich ein zweites, vom kontroversen Sektor scheinbar unabhängiges Gebiet, den sog. nichtkontroversen Sektor begründet. Wir können auf diese Postulate nur kurz eingehen. Der Minimalkonsens muß erstens Verfahrensregeln enthalten. Denn der Hinweis, daß die "Konkurrenz" ein anerkanntes Mittel zur Austragung von Interessenkonflikten ist, erlaubt historisch unterschiedliche Vorstellungen darüber, was im konkreten Fall als erlaubtes Mittel gilt. Zweitens müssen auch materielle Kriterien vorhanden sein, um das Ergebnis der pluralistischen Konkurrenz einhellig als Gemeinwohl bewerten zu können. Beide Komponenten müssen bereits in der Ausgangssituation des pluralistischen Prozesses vorhanden sein. Es ist unmöglich, den Minimalkonsens in einem pluralistischen Prozeß a posteriori entstehen zu lassen. Denn wie begegnet man dem Einwand, der Minimalkonsens wurde nicht "freiwillig" eingegangen, sondern der Schwächere beugte sich nur dem Druck, das Gemeinwohl sei das Wohl des Stärkeren? Der Versuch einer Antwort führt notwendig zum Zirkel oder zum unendlichen Regreß. Der Minimalkonsens muß vorausgesetzt werden, er muß vor jeglicher Handlung als input vorhanden sein, er ist die "Bedingung der Möglichkeit", unter welcher das pluralistische Axiomensystem entscheidbar ist62 • Die Pluralismustheorie hält den Kritikern, die ihr einen inhaltslosen Wertrelativismus vorwerfen, entgegen: zu ihren Voraussetzungen gehöre die Anerkennung eines allgemeinen Wertkodexes. Er sei notwendig, weil das Gemeinwohl nicht im freien Spiel der Kräfte, etwa als die Resultante des Kräfteparalellogramms, spontan zustandekomme, sondern der Staat regulierend eingreifen müsse 63 • Eine empirische Untersuchung des obigen Modells, seine Konfrontierung mit empirisch gestützten Argumenten wurde in der deutschen Pluralismusforschung nicht unternommen. Es würden weiterhin die Grundannahmen in unterschiedlicher Abwandlung immer wieder beschwörtM. Die empirische Politikforschung in Amerika hat dagegen Erkentnisse zutage gefördert, die die hochtrabenden Hoffnungen in das Modell dämpfen: es führe zu Ungleichgewicht und Teilmonopolen, es privilegiere kleine, durchsetzungsfähige Gruppen, es bewirke fiskalische Ineffizienz und inkonsistentes staatliches Handeln, es führe zur Aufblähung der Bürokratie usw. Das Verbandssystem hochindustrieller Gesellschaften ist "stark pluralistisch, aber nur schwach kompetitiv" 65 • 62 Lehner (II) 99 kommt, mit empirischen Argumenten, zum Ergebnis, daß die pluralistische Interessenvermittlung keineswegs automatisch zu einem Minimalkonsens führe. Das ist richtig, geht jedoch am hier skizzierten Problem der theoretischen Grundlegung vorbei. 63 Fraenkel: Reformismus und Pluralismus (zitiert nach Steffani 54). 64 Lehner (li) 97. 65 Lehner (III) 114. Es ist unmöglich, im gegebenen Rahmen auf die Literatur einzugehen. Zur Orientierung s. Lehner (I) bis (III).

13 Holczhauser

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Diese Ergebnisse hätten der Diskussion über Schmitts "Antipluralismus" eigentlich eine neue Wendung geben müssen. Denn erstens belegen sie nachträglich, daß Schmitts Überlegungen keineswegs eine gezielte Destruktion durch falsche Argumente waren, sondern im Gegenteil, das Ergebnis präziser theoretischer Arbeit, die viele dieser Thesen vorweggenommen hat. Und zweitens stammt die Bestätigung nicht aus Kreisen, denen man leicht den Verdacht anhängen könnte, sie seien selber "Antipluralisten". Denn es handelt sich um Autoren, deren demokratische, liberale und freiheitliche Gesinnung über jeden Zweifel erhaben ist. 11-7. In den Folgenden versuche ich zu zeigen, daß Schmitts BdP einen Pluralismusbegriff beinhaltet, der theoretisch konsequenter ist, als die Spaltung des innerstaatlichen Handlungsfeldes in einen kontroversen und nicht-kontroversen Sektor. Schmitt nimmt im Zusammenhang mit B2 die Definition der Souveränität wieder auf, hebt jedoch diesmal nicht die juristische Fiktion, sondern die soziologische Wirklichkeit, hervor. Die "Einheit" besage dann keineswegs, daß "ein zentralistisches System jede andere Organisation oder Korporation vernichten sollte", sondern es komme nur auf den Konfliktfall an 66 • Aus dem Kontext ergibt sich, daß Schrnitt den Grundkonflikt meint, der die staatliche Integrität (oder Identität) in Frage stellt. Er verwendet in diesem Zusammenhang eine Formel, die sich scheinbar gegen die innerstaatliche Pluralität richtet. In Wirklichkeit tut er nichts anderes, als das Konfliktschema auf den angeblich homogenen Bereich des "Minimalkonsenses" zu erstrecken. Aus dem Begriff des Politischen ergäben sich pluralistische Konsequenzen, allerdings "nicht in dem Sinne, daß innerhalb ein und derselben politischen Einheit an die Stelle der maßgebenden Freund- und Feindgruppierung ein Pluralismus treten könnte" 67 • Hier tritt der Konflikt ausdrücklich nicht zwischen verschiedenen politischen Einheiten, sondern innerhalb der Einheit auf. Die innerstaatliche Freund-FeindGruppierung ist etwas qualitativ anderes, als die homogene verfassunggebende Gewalt: sie läßt keine monistische, sondern nur eine pluralistische verfassunggebende Situation zu. Das bedeutet natürlich nicht, daß der Grundkonflikt offen, die einmal gefallene Entscheidung zugunsten des status quo von verfassungs wegen immer wieder anfechtbar bleibt. Das will natürlich auch der Neopluralismus nicht: die "Grundwerte", die Institutionen des Rechtsstaates usw. sind dem Interessenkampf entzogen. Gerade dort, wo der Pluralismus sein genuine Konstruktionsprinzip, den Konflikt aufgibt, hebt Schmitt ins Bewußtsein, daß die Elemente des nichtkontroversen Sektors kraft einer Dezision unanfechtbar sind und versucht nicht, die konfliktuale Ausgangssituation in eine Universalharmonie zu verwandeln. Der Minimalkonsens ist allenfalls ein differenzierter Konsens, dessen "Feind" weder physisch noch interpretativ "vernichtet" wird, 66 67

BdP 39. BdP 45.

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sondern er bleibt, im Sinne einer Interessengliederung, nach seiner Niederlage, wenn auch nicht als vertragschließendes Subjekt, so doch als soziale und politische Wirklichkeit, vorhanden. Schmitt verwirft die pluralistische Konstruktion des Staates nicht von vornherein (das haben wir bereits in einigen Kapiteln der Verfassungslehre erfahren können), sondern er knüpft sie lediglich an gewisse Bedingungen: aus der Pluralität muß eine Einheit hervorgehen. "Eine pluralistische Theorie ist entweder die Staatstheorie eines durch einen Föderalismus sozialer Verbände zur Einheit gelangeneo Staates, oder aber nur eine Theorie der Auflösung oder Widerlegung des Staates". Es ist eine Schwäche der pluralistischen Theorien, daß sie bei der geflissentlichen Betonung der Offenheit des Kampfes usw., seltener darauf eingehen, daß der Kampf gelegentlich entschieden wird und der unterlegene Konfliktpartner sich an die Bedingungen halten muß. Die konfliktuale Einheit ist genau dann vorhanden, wenn diese Tatsache, die "maßgebliche Freund-Feind-Gruppierung" 68 nicht verschwiegen oder verschleiert wird. 11-8. Die Wandlungen der Pluralismustheorie sind Stationen der Konkurrenz zwischen zwei Begriffen, die gleichermaßen als Hauptmerkmale des Demokratiebegriffs gelten wollen. Es handelt sich um das Begriffspaar Repräsentation und Partizipation- diese letztere ist prägnanter als Schmitts "Identität" . Die klassische Variante der Pluralismustheorie richtete sich gewissermaßen gegen das Prinzip der Repräsentation. Sie wollte das empirisch unhaltbare Postulat, es würde das Ganze repräsentiert, korrigieren, d. h. durch die Partizipation nicht (oder nur unzulänglich) repräsentierter Gruppen ergänzen. Es entstand der Anschein, der Pluralismus erzwinge - wenn auch keine homogene Partizipation des ganzen Volkes, so doch- eine Selbstausübung der Herrschaft durch viele Gruppen. Partizipation galt als die bessere Demokratie, im Vergleich zur Repräsentation, die leicht als "elitär" denunziert werden kann. Repräsentationsfeindlich war der Pluralismus auch in dem Sinne, daß er die Struktur von Interessenorganisationen nicht untersuchte, sondern sie als kompakt-homogene Einheiten betrachtete. Diese ursprüngliche Auffassung wurde durch die Entwicklung des empirisch nachweisbaren Pluralismus in zwei Punkten widerlegt. Erstens ist der Staat, trotzdes für den modernen Wohlfahrtsstaat charakteristischen Defizits an politischer Steuerung und Koordination 69 , nicht zu einem beliebigen Konkurrenten der übrigen sozialen Mächte herabgesunken. Der Pluralismus führt nicht zu einem kaleidoskopartigen Regieren mit wechselnden Mehrheiten und punktueller Integration, zu einer identitätslosen Führung, die lediglich "Augenblicks- und Sonderinteressen" 70 wahrzunehmen vermag. Der 68 69 70

13*

BdP 45f. Lehner (I) 73. HdV 88.

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Dritter Teil

Staat hat weiterhin ein Zentrum, und das unbestimmte Ringen der sozialen Mächte hat sich doch als die Konkurrenz um die staatlichen Machtpositionen stabilisiert. Ein Zentrum bleibt der Staat auch in dem Sinne, daß sich die pluralistische Interessenvermittlung in den meisten Fällen nicht direkt zwischen den gesellschaftlichen Konfliktpartnern abspielt, sondern sich einseitig gegen den Staat richtet 71 • Zweitens hat die Entwicklung des Pluralismus die Repräsentation nicht durch identitäre Partizipation ergänzt oder ersetzt, sondern sie nur parzelliert. Die Interessenorganisationen, zumindest diejenigen, die die Entwicklungsphase der primären Gruppe hinter sich haben, sind keine strukturlosen, homogenen Einheiten. Sondern sie haben Kern und Peripherie, zwischen denen Spannung herrscht, wenn sie auch kleiner ist als die zu fremden Gruppen - auch der Gruppenkonsens ist ein differenzierter Konsens. Mit einem Wort: sie sind Repräsentationssystemen im Kleinen. Die Interessenorganisationen repräsentieren nicht die ganze Anhängerschaft, sondern nur Teile, deren Interessen nicht vollkommen identisch sind. Oder aus einer anderen Perspektive: sie repräsentieren die verschiedenen Teile in unterschiedlichem Maße. Das "Ganze" wird also nicht einmal indirekt, durch die Summierung der partikularen Vertretungen repräsentiert. Daraus folgt, daß der Vorwurf gegen die Repräsentation, sie sei "elitär", auch gegen den Pluralismus erhoben werden kann. Man spricht mittlerweile von einem "Diskriminierungseffekt". Die Entwicklung des Pluralismus hat lediglich die einst angeblich homogene durch eine fragmentierte Elite ersetzt, und die sog. revidierte Pluralismustheorie der "konkurrierenden Eliten" scheint ihre einzige, empirisch haltbare Variante zu sein 73 •

12. Der Rechtsstaat 12-1. Will man die verschiedenen Ausprägungen des Rechtsstaatsbegriffs systematisieren, so bieten sich formal zwei Vorgehensweisen an: entweder den Begriff des Rechts oder aber den des Staates zugrunde zu legen. Wir haben schon versucht, den letzteren auf die quantitativ bestimmten Grundsituationen des Handeins zurückzuführen 1 • Hier wollen wir diesen Versuch weiterführen und auch die verschiedenen Rechtsstaatsbegriffe mit den drei Schemata in Einklang bringen. Dieses Vorgehen impliziert, daß die Begriffe des Rechtsstaates stillschweigend mit den Begriffen des Politischen identifiziert werden. Das ist nur dann überraschend oder unannehmbar, wenn man übersieht, daß der Begriff des Rechtsstaates auch eine polemische Funktion erfüllt 2 • Es war die Lehner (II) 96. Zu diesem Begriff vgl. meinen Artikel "Konflikt und Repräsentation" (Der Staat 3/1988 insb. die Abschnitte V und VII). 73 Scharpf 42f. Vgl. auch Lehrer (I) 93. 1 Vgl. das Kapitel 10 oben. 2 Vgl. etwa VL 130. 71

72

12. Der Rechtsstaat

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Strategie des Bürgertums, mittels des Grundsatzes von der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung die Exekutive zu beherrschen3 . Aus der polemischen Funktion des Rechtsstaatsbegriffs ergibt sich eine Gemeinsamkeit einiger seiner Varianten: die Begrenzung des Staates zugunsten des Individuums. Dies lenkt unsere Aufmerksamkeit auf das Konfliktschema als Ausgangspunkt. Es ist klar, daß wir dabei nicht stehen bleiben können, weil wir ermitteln wollen, wie einige Varianten des Rechtsstaatsbegriffs versuchen, den Konfliktbegriff umzugehen, bzw. durch welche theoretische Fiktion sie die Begrenzung des Staates erzwingen wollen. Das erste Rechtsstaatsmodell, das dem "vom Vernunftsrecht geprägten Staatsdenken des deutschen Frühliberalismus" entstammt\ veranschaulicht, wie das Vernunftsrecht den Konflikt hinter scheinbar universalen Forderungen verschwinden läßt und nur einen konsensorientierten Begriff des Rechtsstaates begründen kann. Diese Variante des Rechtsstaates ist das polemische Gegenstück des nach Schema B1 konstruierten souveränen Machtsstaates. Es geht natürlich nicht darum, daß die "Vernunft" als Subjekt selbst handelt. Sie soll zwar die Staatsgewalt in ihre Schranken weisen, sie wird jedoch nicht zu einen wirklichen Gegenspieler des Staates verdichtet. Dieser Begriff des Rechtsstaates teilt den, dem Naturrechtsdenken eigentümlichen, Glauben, daß das Besondere aus dem Allgemeinen herleitbar ist, daß die (praktische) Vernunft eindeutige Leitsätze oder direkt anwendbare Normen für die Handlung bereitstelle. Die Berufung auf die Vernunft verschleiert tendenziell die Tatsache, daß konkrete Inhalte nur durch das Unterschieben von Zusatzannahmen partikularen Inhaltes, d. h. von politischen Forderungen, herleitbar sind. Die historisch wandelnde Auslegung der "Menschenwürde" ist besonders geeignet, die materielle Unbestimmtheit der "Vernunft" zu demonstrieren. Der Frühliberalismus folgerte aus ihr die Freiheit: das Gebot, das eigene Glück selbständig zu suchen. Die Sozialpolitik des absoluten Staates war damit unvereinbar und menschenunwürdig. Die sozialstaatliche Auslegung folgert aus ihr das Gegenteil: eine "angemessene" Versorgung. Versucht man, aus der Menschenwürde beide Komponenten herauszulesen, so stellt sich das Problem ihres Verhältnisses, denn aus der Vernunft folgen keine Verteilungsprinzipien. Die Auslegung der Grundrechte als "vorstaatliche" Rechte, als Abwehrrechte gegen den Staat, ist ohne die Zusatzannahme, der Staat verkörpere nicht die Vernunft, sondern die Willkür, nicht sinnvoll. Solche Annahmen sind natürlich zulässig. Doch man muß sich ihres Transformationscharakters 5 bewußt bleiben: sie verschieben den innerstaatlichen Konflikt auf eine andere Ebene und ersetzen die wirklichen Konfliktparteien durch den Gegensatz von Inhalten und den konkreten Gegensatz durch die abstrakte Spannung zwischen verum und falsum. Krüger 779. Böckenförde (I) 54. s Vgl. das Kapitel 14 unten.

3

4

198

Dritter Teil

Durch diese Verschiebung des Konflikts läßt sich erklären, warum der vernunftrechtlich begründete Rechtsstaat der verfahrensmäßigen Absicherung der Grundrechte wenig Aufmerksamkeit schenkt. Dieses Versäumnis birgt die Gefahr in sich, daß der Staat, nachdem er den Gegensatz zwischen Vernunft und Willkür überwunden hat und zum Vernunftsrechtsstaat wurde, als einziger Interpret, Garant und Sachwalter der Grundrechte erscheinen muß (auch oder gerade dem "unvernünftigen" oder uneinsichtigen Individuum gegenüber), nicht jedoch als die Instanz, vor dem das Individuum geschützt werden soll.

12-2. Die zweite Variante, der "formale" Rechtsstaatsbegriff (Lorenz von Stein) gipfelt in der Forderung nach Verwaltungsgerichtsbarkeit - offensichtlich galt sie als die damalige "Krönung" des Rechtsstaates. Darin steckt mehr als ein bloßer Appell an die Vernunft. Sie beinhaltet eine, über die politische hinausgehende, rechtsförmige Kontrolle der Exekutive. Erst die Möglichkeit, das vernunftgemäß zustehende Recht auch zu erzwingen, holt den Rechtsstaatsbegriff aus dem Bereich des bloß Konsensualen heraus. Der formale Rechtsstaatsbegriff ist an das Konfliktschema B2 gebunden. Eine der wichtigsten Voraussetzungen, unter denen er konsistent entwickelt werden kann, ist die grundsätzliche Trennung von Staat und Gesellschaft. (Der Begriff des Vernunftrechtsstaates kam ohne sie aus.) Ihr Dualismus gilt als die unverrückbare Basis aller Gesellschaftsordnungen, die die Sicherung individueller Freiheit anstreben 6 . Die Trennung von Staat und Gesellschaft ist Bedingung, Merkmal oder aber Ausdruck des formalen Rechtsstaatsbegriffs schlechthin, weil sie die Subjekte von Rechten und Pflichten voneinander abgrenzt und Rechtsverhältnisse zwischen ihnen erst ermöglicht. Wird die Trennung aufgehoben, so bleiben als mögliche Beteiligte des Grundrechtsverhältnisses höchstens der "Teil" und das "Ganze" und ähnliche Abstraktionen übrig, die gerade im Konfliktfall versagen 7 • Andererseits entfällt das Interesse und der Grund, ja es erscheint als geradezu absurd, ihre Beziehung mißtrauisch zu verrechtlichen. Denn die liberale Gesellschaft ( = Staat) würde nur sich selbst ausgrenzen, der soziale Staat ( = Gesellschaft) würde nur sich selbst versorgen. Wie die Formel der Pluralismustheorie, der Staat sei nur die Selbstorganisation der Gesellschaft, von der Herrschaft ablenkt, so würde die Identifizierung von Staat und Gesellschaft einerseits eine übergreifende, undifferenzierte Homogenität, eine unproblematische Konsensmöglichkeit und -bereitschaft vortäuschen, andererseits die Begriffe Grundrechtsträger und -adressat verwischen. Die gegen die Trennung von Staat und Gesellschaft vorgetragenen Argumente beruhen auf der Behauptung, daß sie historisch an die politische Realität des Absolutismus und der konstitutionellen Monarchie geknüpft, und mit deren Ablösung überwunden, ist 8 . Dieses Argument, das übrigens auch die GewaltenForsthoff (II) 215 ff. Henke 249. Vgl. auch das Kapitel 7 oben. s Vgl. Grabitz 187f.

6

7

12. Der Rechtsstaat

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teilung zu einem Relikt des Konstitutionalismus erklären müßte, beruht auf einem Mißverständnis9 • Denn die Trennung der beiden bedeutet genauso wenig ihre Isolierung, wie die entgegengesetzte Vorstellung nicht ihre Identifizierung oder Konfundierung behauptet. Die funktionale oder rechtliche Gleichsetzung von Staat und Gesellschaft ebnet der Auffassung den Weg, daß die Grundrechte auf zweierlei Weise, als (subjektive) Rechte des Individuums bzw. als die Pflichten des Staates (Staatszielbestimmungen, öffentliche Aufgaben, Verfassungsauftrag usw.) verankert werden können 10 • Die angebliche Äquivalenz der beiden Auffassungen kann Hemmungen abbauen, die Grundrechte immer mehr im letzteren Sinne auszulegen. Gegen diese Äquivalenz spricht u. a., daß totalitäre Sozialstaaten, die die subjektiven Rechte des Individuums gegenüber dem Staat ablehnen, Teilhabeansprüche in der Form von Staatspflichten sehr wohl akzeptieren können 11 • Die Gefahr, daß dadurch ihre Qualität als subjektives Recht zurücktreten, das Gewicht von ihrer Erzwingbarkeit höchstens auf die Überwachung staatlicher Pflichterfüllung verlagert werden kann, und daß die letztere (wegen der Gleichsetzung von Staat und Gesellschaft) zu einer "Selbstkontrolle" verblaßt, wird meist heruntergespielt. Es ist eine bemerkenswerte, ja sensationelle Wendung in der jüngsten Entwicklung der sowjetischen Konfliktforschung, daß sie nicht die Trennung, sondern ganz im Gegenteil, die Aufhebung der Trennung von Staat und Gesellschaft für eine Fiktion erklärt! Sie betrachtet die sozialen Gegensätze auch im Sozialismus für systembedingt und verweist auf die Zerbrechlichkeit der "gemeinsamen Grundinteressen". Ihr höchstes Verdienst ist, daß sie die sozialen Kontrahenten: den Staat und die Gesellschaft in ihrer scharfen Trennung illusionslos festmacht 12 • Im formalen Rechtsstaat stoßen, dem Konfliktschema entsprechend, zwei Gegner aufeinander: der in einer juristischen Person gipfelnde staatliche Verband und die höchstens "gesamthänderisch" auftretende Gesellschaft. Der Konflikt erscheint deshalb nicht primär als ein Gegensatz zwischen diesen beiden Akteuren, sondern er geht in die typisch liberale Gegenüberstellung von Staat und Individuum über. Die echten Grundrechte, die Abwehrrechte, die durch die (nicht rechtsfähige) Gesellschaft erzwungen werden, kommen nicht ihr, sondern ihren Mitgliedern, die Rechtssubjekte sind, zu. Der formale Rechtsstaatsbegriff schaltet den eigentlichen Konfliktpartner aus und verdeckt, daß er auf dem koordinativen Rechtsbegriff oder aber auf dem einfachen Konfliktschema B2 beruht. Über Staat und Gesellschaft gibt es kein Drittes, und die Staatsgewalt wird nicht durch die Vernunft, sondern durch die Gesellschaft begrenzt. 9

Böckenförde (III) 407.

° Krüger 814.

1

11 12

Vgl. Abiberg 241. Abiberg 250ff.

200

Dritter Teil

Diesen Rechtsstaatsbegriffformal zu nennen ist auch insofern folgerichtig, als das Schema B2 keine inhaltlichen Angaben über das Rechte und Gerechte, kein materielles Verteilungsprinzip bieten kann. Es gibt kein objektives Maß dessen, was angemessene Versorgung, ausreichend begrenzte Verwaltung usw. ist, weil es kein objektives Maß von "Willkür" gibt (Forsthoff). Der formale Rechtsstaatsbegriff steht unter dem Prinzip des Koordinationsrechts, nach dem rechtens ist, was der Stärkere (der Staat oder eben die Gesellschaft) durchsetzen kann. Die Teilung der Gewalten, die Bindung der Exekutive an einen unverbrüchlichen und unmittelbar vollziehbaren Rechtsatz, die Begrenzung der Vollzugsgewalt durch berechenbare Normen, das Vorhandensein geordneter Verfahren des Verfassungsvollzugs gehört auch nach Schmitt zu den Grundsätzen, zum Wesen des Rechtsstaates 13 • Dies allein wäre noch keine Abweichung von seiner früheren, in der VL dargestellten Auffassung über dem Verhältnis vom "demokratischen" und "rechtsstaatlichen" Bestandteil bürgerlicher Verfassungen. Um so mehr muß die grundlegende Wandlung, die in der späteren Schrift eintritt, auffallen. Die Komponente der Rechtsstaatlichkeit ist nicht mehr nur eine Hemmung, eine Zurückdrängung der demokratischen Komponente, d. h. der politischen Grundentscheidung. Sondern sie ist wesentlicher Inhalt und Bestandteil des verfassunggebenden Willens, "keine äußerliche Zutat, die auch wegbleiben könnte, sondern Kern und Sinn des Rechts- und Verfassungsstaates selbst" 14 . Diese Wendung darf man nicht so interpretieren, daß Schmitt die Spannung der beiden Begriffe nunmehr zu einer idyllischen Harmonie, zu einem nichtssagenden Sowohl-als-auch verwässert. Sondern er stellt die Aufgabe, viel prägnanter als in der VL, das der Verfassung zugrundeliegende Konfliktmoment oder Interessengliederung adäquat zu erfassen. Rechtsstaatliches und demokratisches Prinzip können sehr wohl als einander begrenzende Prinzipien der Verfassung aufgefaßt werden 15 • Dann wird offensichtlich, daß die hemmende rechtsstaatliche Komponente nicht weniger "politisch" ist als der zu begrenzende Staat. Man muß sie also explizit als die gegenüberstehenden Momente des Konfliktschemas herausstellen. Diese Konstruktion schließt weder die Annahme eines Konsenses noch die einer übergreifenden Einheit aus. Sie schließt nur den undifferenzierten Konsens, die Annahme einer homogenen pouvoir constituant aus. 12~3~ Wir behaupteten, daß der formale Rechtsstaatsbegriff auf der Trennung von Staat und Gesellschaft beruht. Um ihn vollständig zu charakterisieren, müssen wir darauf hinweisen, daß er weitere Trennungen ausschließt.

13 14

15

RStVfV 460. RStVfV 456. z. B. Dolzer 77.

12. Der Rechtsstaat

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Smends Vortrag aus dem Jahre 1933, "Bürger und Bourgeois im deutschen Staatsrecht" weist über den formalen Rechtsstaat hinaus und bedient sich dabei bezeichnenderweise einer weiteren Differenzierung. Grundrechte könnten dem "Bürger" genau so gut zugute kommen wie dem "Bourgeois", dem klugen und eigennützigen Individualisten 16 • Uns interessiert hier weniger die politische Absicht dieser Unterscheidung im damaligen historischen Kontext, den Grundrechten ihr individualistisches "odium" zu nehmen, sondern ihre Beurteilung aus der Sicht des liberalen Rechtsstaates. Zur rechtsstaatliehen Freiheit des Staatsbürgers gehöre, "sich eine Kategorisierung als Bürger oder Bourgeois verbitten zu dürfen" 17 • Im formalen Rechtsstaatsbegriff wird also die undifferenzierte Einheit des Vernunftrechtsstaates durch einen Konflikt abgelöst, der Staat hat einen Gegenspieler. Nun ist diese Konstruktion nicht imstande, den undifferenzierten Konsens endgültig zu überwinden, sie schützt die "Gesellschaft" vor der weiteren Differenzierung, der Gegenspieler des Staates muß homogen bleiben. Ohne die Annahme, daß die Gesellschaft undifferenziert ist, wäre die Auslegung der liberalen Grundrechte als Abwehr und Ausgrenzung des Staates sehr problematisch. Würde man zulassen, daß die Zurückhaltung des Staates einige Akteure begünstigen, andere dagegen benachteiligen kann, so würde sich die Ausgrenzung zu einer positiven Leistung zugunsten der ersteren und zu Lasten der letzteren verwandeln. Sie würde ihren neutralen Charakter einbüßen, sie würde aus der Sicht des Benachteiligten zu einem Eingriff durch "Unterlassung", zum Schutz wohlerworbener Rechte und der Verewigung des status quo, der Staat zum Herrschaftsinstrument. Auch der "formale" Charakter des liberalen Rechtsstaates hängt mit der strikt ausgrenzenden Natur der Grundrechte zusammen. Es ist bezeichnend, daß der Rechtsstaat in seinen Anfängen durchaus auch in materiellem Sinne gemeint wurde. Der Staat sollte diejenige Sicherheit, diejenigen Marktgarantien leisten, die die Bürger sich zu verschaffen nicht imstande waren. Auch der "Störer" des Marktes steht innerhalb der Gesellschaft und der Staat soll ihn in seine Schranken weisen. Erst nach einer langen Periode der Konsolidierung kam der Spätliberalismus zur Auffassung, die Sicherheit sei ohne den Staat zu leisten, ja der Staat sei der eigentliche Feind des "Bürgers", d. h. der homogenen Gesellschaft. Von da an werden die Grundrechte leicht in einseitige Ausgrenzungsforderungen umgedeutet 18 • Den oben beschriebenen Rechtsstaatstypus nenne ich den "liberalen" Rechtsstaat. Seine charakteristischen Merkmale sind, zusammenfassend, i) die Trennung von Staat und Gesellschaft, ii) das Verbot einer weiteren Spaltung der homogenen Gesellschaft und iii) das liberale Menschenbild des handlungsfähi16 17

18

Smend (I) 312 f. ForstholT (II) 217. Krüger 779.

Dritter Teil

202

gen, souveränen Individuums- ein Vehikel nicht explizit gemachter materieller Voraussetzungen. Wirklich "formal" ist nicht der liberale, sondern der Rechtsstaat im "strengen technischen Sinne" 19 • Er enthält im großen und ganzen diejenigen Strukturelemente und Institute, die Schmitt zum Wesen des Rechtsstaates zählte 20 und läuft im wesentlichen auf das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung hinaus. Eine Verfassung, die nur Elemente des Rechtsstaates im technischen Sinne enthalten würde, wäre der Ergänzung durch materielle Gehalte bedürftig 21 . Im Vergleich zum technischen Kern wären weder die liberalen noch die sozialen Grundrechte leerlaufend (deklaratorisch), sondern konstitutiv, ein materieller Zusatz. Der Rechtsstaat liberalen Typs, in der Regel mit dem Rechtsstaat schlechthin identifiziert, entsteht aus dem Rechtsstaat im technischen Sinne, indem man diesen durch die Freiheits- oder Abwehrrechte ergänzt. Werden sie als "vorstaatlich" aufgefaßt, so ist dies ein weiterer Überrest der, für das Naturrecht eigenen, undifferenzierten Konsensvorstellung und er hängt mit dem homogenen Menschenbild eng zusammen. 12-4. Soll nun ein dritter, vom liberalen Rechtsstaat verschiedener Typus, eine wirkliche Weiterentwicklung des Rechtsstaatsbegriffs möglich sein, so muß man die Vorstellung von der homogenen Gesellschaft und das damit verbundene einheitliche Menschenbild aufgeben. Eine prinzipielle Differenzierung der Gesellschaft in zwei Akteurtypen, bei gleichzeitiger Beibehaltung der Trennung von Staat und Gesellschaft läuft darauf hinaus, daß dieser Rechtsstaatstypus nicht durch das einfache Konfliktschema B2, sondern nur durch irgendeine Variante des Schemas B3 zu rekonstruieren ist.

Die beiden typischen Akteure mit gegensätzlichen Interessen nenne ich, in Anlehnung an Schelsky, den "selbständigen" und den "betreuten" Menschen 22 • Die Grundrechte, die sie fordern, können nicht mehr einseitig und einheitlich unter dem Gesichtspunkt "Abwehr" oder "Teilhabe" betrachtet werden. Sondern die Selbständigen drängen eher auf die Verankerung und Verwirklichung der ersteren, die Betreuten auf die letzteren - bleiben wir vorläufig bei dieser schematischen Rollenverteilung. Abwehr und Teilhabe sind gegensätzliche Interessen, ihre Spannung ist höchstens in leistungsfähigen Gemeinwesen "fruchtbar" 23 • Eine Verfassung, die beiden gerecht zu werden versuchte, wäre nicht lediglich ein "sozialer", sondern entweder ein "sozial-liberaler" oder aber ein "liberal-sozialer" Rechtsstaat - je nach dem, welchem Grundrechtstypus sie den Vorrang einräumt.

19 20 21 22 23

Forsthoff (Ill) 36. RStVfV 453. Forsthoff (III) 51. Schelsky (1). Forsthoff (HI) 38, 54.

12. Der Rechtsstaat

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Ein schwerwiegender Einwand gegen diese Konstruktion geht auf Forsthoff zurück. Teilhaberechte ließen sich nicht auf der Verfassungsebene in einer vollzugsreifen, abstrakten Norm fassen. Sie hätten keinen vorab normierbaren, konstanten Umfang, sie seien nur im Rahmen des im Einzelfall Angemessenen, Notwendigen und Möglichen sinnvoll. "Die Bestimmung dieses Maßes muß der Gesetzgebung und der gesetzesvollziehenden Verwaltung überlassen bleiben" 24 • Schmitt hält dagegen die Verbindung von (liberalem) Rechtsstaat und Sozialisierung auf der Verfassungsebene durchaus für möglich. Nur erfordere sie die Zwischenschaltung des Gesetzesvorbehaltes, von Institutionen und rechtlich geregelten Verfahren 25 . In Wirklichkeit trifft Forsthoffs Einwand nicht überhaupt die Verankerung sozialer Grundrechte in der Verfassung, sondern den unmittelbaren Verfassungsvollzug. Die Ausschaltung des Gesetzgebers verwandelt den Gesetzesstaat tendenziell in einen Verwaltungsstaat. Diese Verwandlung wird jedoch nicht schon dadurch bewirkt, daß in der Verfassung Blankettnormen verankert werden. Sondern vielmehr dadurch, daß sie als "unmittelbar geltendes Recht" (Art. 1 Abs. 3 GG) die Staatsorgane, insbesondere die Verwaltung, nicht nur binden, sondern sie zur unmittelbaren Anwendung ermächtigen. Diese Bestimmung korrumpiert nicht nur die "sozialen", sondern auch die "liberalen" Grundrechte, wie z. B. ForstbotTs öfters wiederkehrende Bemerkung über die "Verbotsautomatik" des Art. 9 Abs. 2 GG zeigt. "Unmittelbar anwendbar" werden selbst die Ausgrenzungsrechte erst dadurch, daß i) präzisiert wird, aus welcher Handlungsdimension (Meinungsäußerung, Vereinsbildung, Versammlung, Berufswahl usw.) der Staat ausgegrenzt wird, daß ii) sie sich auf bestehende, rechtlich sanktionierte Institutionen und Verfahren beziehen und iii) unter dem Vorbehalt des Gesetzes stehen. Ohne diese Faktoren wäre die Anpassung der liberalen Grundrechte an unterschiedliche soziale Wirklichkeiten genau so wenig garantiert wie die der Teilhaberechte. Ohne sie wäre der liberale Rechtsstaat nicht einmal dann verwirklicht, wenn die Grundrechte im Verfassungstext explizit verankert wären. Verfassungen kommunistischer Staaten können ohne Risiko Freiheitsrechte aufnehmen, "weil sie die Formen und Verfahren eines rechtsstaatliehen Verfassungsvollzugs" ablehnen26. Ohne die Miteinbeziehung der Gesetzgebungs- und der Verwaltungsebene bleiben sie bloße verbale Bekenntnisse, Normprogramme ohne Normbereich. Wird die Gesellschaft in die beiden Akteurtypen differenziert, so stehen nicht mehr (oder nicht primär) Individuum und Staat im Konflikt, sondern es sind vielmehr die beiden Typen, die durch die Vermittlung des Staates aufeinander stoßen. Oder mit einem anderen Akzent: der Anspruch gegenüber dem innerstaatlichen Konfliktpartner kann als ein Anspruch unmittelbar an den 24

2s 26

ForstholT (III) 39f. RStVtV 472, 478 f. ForstholT (III) 50.

204

Dritter Teil

Staat erscheinen. Die Grundrechte können nicht mehr als unangefochtene, durch einen Universalkonsens angenommene Werte, als vorstaatliche Rechte usw. erscheinen, sondern sie sind partikulare Interessen. Die Struktur des liberal-sozialen oder sozial-liberalen Rechtsstaates bildet die Struktur des pluralistischen Staates nach. Der Vorbehalt des Gesetzes ist dann nicht mehr ein beliebiger Eingriff des Staates in den einen oder den anderen Grundrechtstypus, sondern er ist Vehikel und Mittel zur Geltendmachung des Grundrechts entgegengesetzten Typus 27 • Es erscheint jedenfalls hinsichtlich des GG als berechtigt, die Eingriffe in Freiheit und Eigentum als "soziale" Vorbehalte zu kennzeichnen 28 • Der Eingriff in die Freizügigkeit enthält sogar explizit den Hinweis auf das Fehlen einer ausreichenden Lebensgrundlage bzw. die durch unbeschränkte Freizügigkeit verursachten Leistungsansprüche und die daraus entstehenden besonderen Kosten für die "Allgemeinheit" 29 . Der Zusammenhang zwischen Eingriff und Teilhabe ist schwieriger nachzuweisen, wenn die Kosten des Nicht-Eingriffs nicht unmittelbar finanzieller Natur sind. Der gegenseitige Bezug der beiden Akteurtypen aufeinander läßt nicht mehr zu, wie im Falle der homogenen Gesellschaft, die staatliche Nichthandlung als "Ausgrenzung" oder "Nichtleistung" zu fingieren. Die Nichtintervention ist Intervention zugunsten des überlegeneren und rücksichtslosestereo Konfliktpartners30. Sie ist schon insofern eine Leistung als sie mit Kosten verbunden ist, die entweder vom Staat selbst, häufiger jedoch vom entgegengesetzten Akteurtypus getragen werden. Dem entspricht, daß Freiheitsrechte eher in "Notsituationen", wo die Leistungsfahigkeit des Staates geringer ist, eingeschränkt werden. Eingriffe in Freiheit und Eigentum sind kostensparend, sie verringern die Externalitäten des Eingreifenden. Werden sie dagegen durch geringere Vorbehalte eingeschränkt, so zeigt dies, daß der Staat die Kosten tragen kann. Wie weit er auf den Eingriffverzichten kann, ist ein Maß des (nicht nur materiell verstandenen) Wohlstandes einer Nation. Der verdeckte Leistungscharakter der Ausgrenzung und die damit verbundenen Kosten offenbaren auch, daß das typische Verteilungsprinzip des bürgerlichen Rechtsstaates, unbegrenzte Freiheit des Einzelnen- begrenzte Machtbefugnisse des Staates31 , prinzipiell verbunden ist mit der Fiktion der homogenen Gesellschaft und mit der Preisgabe jener Voraussetzung unhaltbar wird.

27 Wemer Weber: Die verfassungsrechtlichen Grenzen sozialstaatlicher Forderungen. In: Der Staat, 4 I 1964, S. 409 ff. Gesetzesvorbehalte allgemeinen Charakters seien eine "sozialstaatliche Öffnung" (410). 28 Forsthoff (III) 53. 29 Art. 11 Abs. 2 GG. 30 WtSt 154. 31 Vgl. z. B. VL 126.

12. Der Rechtsstaat

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Das gleiche gilt nun, in symmetrischer Weise, für die Teilhaberechte. Das Recht auf Arbeitsplatz, Wohnung, angemessene Versorgung usw.lassen sich auf der Verfassungsebene verankern, wenn der (evtl. planwirtschaftlich normierte) Typus des Arbeitsplatzes, der Wohnung, der Presseorgane, die maßgebliche Auslegung von "angemessen" usw. die Leistungsnormen meßbar machen, und wenn die Verwaltung ein geregeltes Verteilungsverfahren bereitstellt. Der "soziale" oder der "sozialistische" Rechtsstaat kann die Teilhaberechte unter "individualistische" oder "liberale" Vorbehalte stellen und zwangsweise eine Freiheitssphäre des Einzelnen schaffen, wo dieser sich selbst versorgen muß. Der betreute Mensch empfindet diesen Eingriff als ungerecht, hält ihn für einen Verstoß gegen die Rechtsstaatlichkeit, genau so wie der Selbständige den Eingriff in die Abwehrrechte. Die "Privatisierung" kann als ein geregeltes Verfahren, ein die Teilhaberechte beschränkendes Institut, in der Verfassung eines sozialen Rechtsstaates verankert werden. Sie hat eine analoge Funktion wie das Institut "Enteignung" im liberalen Rechtsstaat. 12-5. Die oben skizzierte Symmetrie liberaler und sozialer Grundrechte mag aus soziologischer Betrachtung plausibel erscheinen. Man kann sie jedenfalls unschwer unter die, das öffentliche Recht kennzeichnende "Polarität" und "Komplementarität" einordnen 32 • Sie vermag trotzdem das Verhältnis der beiden Grundrechtstypen zueinander nur oberflächlich zu widergeben. Insbesondere wäre die Vorstellung, daß die verschiedenen Typen von Grundrechtsträgern verschiedene Grundrechtstypen anstreben, vollkommen verfehlt. Der betreute Mensch hat zwar vorrangig Leistungsansprüche. Nach erfolgter Gewährung solljedoch der Staat ausgegrenzt werden, denn man käme nie oder nur schlecht in den Genuß von Leistungen, wenn der Staat in sie wieder eingreifen könnte. Die Unverletzlichkeit soll auch einer Sozialwohnung, die Freiheit von Kunst und Wissenschaft auch den staatlich geförderten Institutionen zukommen. Andererseits gilt auch, daß der selbständige Mensch die staatlichen Leistungen, z. B die Subventionen nicht als menschenunwürdig empfindet.

Die sozialen Grundrechte treten den Freiheitsrechten nicht als Alternative gegenüber, sondern als ihre Ergänzung oder Erweiterung33 • Daß schließt nicht aus, daß sie miteinander in Spannung stehen können. Ihr Konflikt folgt allerdings einem etwas komplizierteren Muster. Die herkömmlichen liberalen Grundrechte enthalten ein Gleichsetzungsinteresse. Sie verbieten die Differenzierung ihres Trägerbereiches, weil sie das Vehikel staatlichen Eingriffs oder von Freiheitsbeschränkung ist. Dies traf auch für die geschichtliche Situation ihrer Entstehung zu: es sollte der paternalistischfürsorgende Staat ausgegrenzt werden. Das Verbot der Differenzierung intendierte, wie schon gesagt, daß die Freiheitsrechte der undifferenzierten Gesell32 33

Müller (III) 203. Bleckmann 68.

206

Dritter Teil

schaft zukommen. Selbst dann, wenn sie nicht als allgemeine Menschenrechte aufgefaßt werden, kommen sie zumindest allen Bürgern zugute. Klassische Abwehrrechte haben einen undifferenzierten und undifferenzierbaren Trägerbereich- das ist m. E. ihr wichtigstes Merkmal, nicht ob sie eine bestimmte Ausgrenzung oder Leistung zum Inhalt haben. Der Anspruch auf den gesetzlichen Richter ist eine klassische rechtsstaatliche Forderung, nicht weil er den Staat ausgrenzt (im Gegenteil: er ist ein Teilhaberecht), sondern weil sein Trägerbereich undifferenzierbar ist. Der allgemeine Charakter oder die Undifferenziertheit des Trägerbereichs hängt eng mit der Tatsache zusammen, daß die Abwehrrechte die Wahlfreiheit, d. h. die Freiheit zum Handeln und zum Unterlassen, verwirklichen. Würde nur die eine Komponente dieser Alternative geschützt (etwa nur das "die Gemeinschaft fördernde Verhalten"), so würde die tatbestandsmäßige Differenzierung des Grundrechtsinhalts eine Differenzierung der Grundrechtsträger zur Folge haben. "Soziale" Grundrechte verlangen dagegen notwendig eine Differenzierung der Gesellschaft in Selbständige und Bedürftige. Eine Homogenisierung der Gesellschaft, diesmal unter dem Aspekt der Bedürftigkeit, würde jeden Leistungsanspruch gegenstandslos machen, denn eine Gesellschaft von Bedürftigen könnte dem Staat, zwecks Umverteilung, keine Mittel zur Verfügung stellen. Andererseits würden die Teilhabeansprüche trivial entfallen, wenn der Kreis der Bedürftigen auf Null schrumpfen würde. Soziale Grundrechte müssen tatbestandsmäßig so eingeschränkt werden, daß sie gerade nicht allen Bürgern, sondern nur dem bedürftigen Typus zugute kommen. Dieser Umfang muß, wie Forsthoff gezeigt hat, auf der Unterverfassungsebene festgelegt werden. Die Verankerung einer "Sozialstaatsklausel" kann den Anteil zwischen den beiden Typen von Grundrechtsträgern weder allgemein noch hinsichtlich einzelner Teilbereiche festlegen. Sie kann aber die Differenzierung als Institut garantieren, sie kann z. B. verbieten, daß die Exekutive oder der Gesetzgeber die Differenzierung unterlassen und den Umfang des bedürftigen Typus auf Null herabsetzen 34 • 12-6. Schmitts These: die Weimarer Verfassung zerfalle in zwei Verfassungen 35 , differenziert die Grundrechte faktisch nach ihrem Trägerbereich. Denn die Trennungslinie zwischen den beiden Verfassungsteilen liege nicht zwischen dem organisatorischen und dem Grundrechtsteil, sondern sie verläufe inmitten des zweiten Teiles, zwischen den klassischen Grundrechten und der Menge materiell-rechtlicher Festlegungen, Sicherungen und Verankerungen. Diese beiden Grundrechtstypen konstituierten sogar zwei "Staaten mit zwei verschiedenen, einander prinzipiell, konstruktiv und organisatorisch sogar widersprechenden 34 35

Vgl. Leibholz (IV) 131. Vgl. den Abschnitt 13-2 unten.

12. Der Rechtsstaat

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Verfassungen oder Verfassungsstücken" 36 • Wenn die Art eines Staatswesens "durch die Art seiner Grund- und Fundamentalrechte bestimmt wird", dann entsprechen die beiden "funktionalen" Staatsarten den beiden Typen, dem "liberalen" bzw. dem "sozialen" Rechtsstaat. Das verborgene Kriterium, aufgrund dessen Schmitt die beiden Grundrechtsund Staatstypen voneinander trennt, ist nicht, wie man erwarten würde, ihr Abwehr- oder Leistungscharakter, sondern die Differenzierung nach ihrem Trägerbereich. Das Kriterium verbirgt sich übrigens hinter der mehr oberflächlichenUnterscheidungzwischen dem Prinzip der einfachen bzw. der qualifizierten Mehrheit. Der demokratische Grundsatz der einfachen Mehrheit beruhe auf der Voraussetzung der Homogenität. Daß die einfache Mehrheit den Ausschlag gibt, sei lediglich eine Methode der Willensfeststellung und verletze die Homogenität nicht. Auch Abweichungen von diesem Grundsatz, d. h. die Forderung nach qualifizierter Mehrheit verstoßen gegen dieses Prinzip nicht, solange sie Verfahrensfragen betreffen. Anders ist es jedoch, wenn sie sich auf Sätze des materiellen Rechts beziehen. "Das Erfordernis eines zur einfachen Mehrheit hinzukommenden Stimmenquantums kann [...] nicht mit demokratischen Grundsätzen und noch weniger mit der Logik von Gerechtigkeit, Menschlichkeit und Vernunft, sondern nur mit praktisch-technischen Erwägungen" begründet werden 37 • Der qualifizierten Mehrheit liege ein "undemokratisches, sogar antidemokratisches Mißtrauen" zugrunde und sie zielt darauf ab, Objekte, Personen oder Personengruppen "aus der Demokratie" herauszunehmen. Mit der qualifizierten Mehrheit werde die durchgängige Homogenität preisgegeben und anerkannt, daß die Masse der Staatsbürger "pluralistisch in eine Mehrzahl heterogener organisierter Machtkomplexe aufgeteilt wird" 38 • Man kann natürlich leicht Einwände gegen diese Konstruktion erheben. Denn es trifft sicherlich zu, daß materiell-rechtliche Forderungen auch über (mit qualifizierter Mehrheit geschützten) Verfahrensregeln gesichert werden können (z. B. Proporz bei der Besetzung von Ämtern). Man kann auch entgegnen, daß die erschwerte Abänderbarkeit nicht so sehr die Demokratie, sondern vielmehr den Grundsatz des pluralistischen Interessenkampfes korrumpiert, weil sie gewisse Interessen dem politischen Prozeß entzieht und "Sondergemeinschaften privilegiert". Es kommt jedoch hier nicht auf derartige Korrekturen an, sondern auf die Tatsache, daß Schmitt die, der homogenen Gesellschaft zukommenden, Freiheitsrechte bzw. die erschwert veränderbaren, partikularen Interessengruppen zukommenden Gewährungen als Grundrechte verschiedenen Typs auffaßt.

36 37

38

L&L 310. L&L 295. L&L 297.

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Dritter Teil

12-7. Den Unterschied der beiden Grundrechtstypen kann man, im Gegensatz zu unserem formalen Vorgehen, auch auf den Unterschiedzweier Freiheitsbegriffe zurückführen. Diese Auffassung wurde inderneueren Literatur insbesondere von Grabitz vertreten und systematisch durchgeführt. Sie beruht auf der Annahme, daß das GG ein (offenes) Verfassungsprinzip "Freiheit" enthalte, die mindestens auf zweierlei Art konkretisiert werden könne 39 • Die eine ist die klassische, liberale Freiheit als "Ausgrenzung" (des Staates) oder aber die Wahlfreiheit des Individuums. Sie steckt einen Handlungsraum ab, innerhalb dessen Tausch und Zwang unterscheidbar sind und die Ausübung des letzteren nicht einmal dem Staat erlaubt wird. Innerhalb dieses Raumes kann man sowohl eine Handlung als auch ihre Unterlassung wählen, die Ausgrenzung des Staates gewährleistet auch "negative" Grundrechte40 • Wenn das liberale Bürgertum sein Ausgrenzungsinteresse einseitig überbetont hatte, so nur deswegen, weil die andere Komponente seiner Freiheit gegeben und daher die Approximation Freiheit = Ausgrenzung historisch zutreffend war. Die zweite Variante ist die Freiheit als "Ausstattung" (des Individuums) mit Mitteln, die zur Wahrnehmung der Wahlfreiheit erforderlich sind. Während die Freiheit als Ausgrenzung dem Staat eine Unterlassungspflicht auferlegt, entspricht der Freiheit als Ausstattung eine positive Handlungs- oder Leistungspflicht des Staates, ein "Verfassungsauftrag zur Sozialgestaltung". Der Gedanke, daß die Ausgrenzung nur die eine Komponente der Freiheit ist, erscheint auch in der Gegenüberstellung, "Die ausgrenzende rechtliche Freiheitsgewährung erweist sich als nicht hinreichend, die grundrechtliche Freiheit auch als eine reale zu sichern". Er liegt auch der Wendung: "Auseinanderfall von rechtlicher und realer grundrechtlicher Freiheit" zugrunde. - Offensichtlich bezeichnet hier die "rechtliche" Freiheit die Ausgrenzung, die "reale" Freiheit die Ausstattung41 • Handeln kann man nur, wenn beide vorhanden sind, und es ist leicht einzusehen, daß das Individuum ein Interesse an beiden hat. Es wäre jedoch unzulässig, aus dieser Tatsache darauf zu schließen, daß Ausgrenzung und Ausstattung auf der Verfassungsebene in einer konfliktfreien, harmonischen Beziehung miteinander stehen 42 • Denn die Ausgrenzung entspringt dem Interesse, "nicht geben (verzichten) müssen". Die Ausstattung zielt dagegen darauf ab, "etwas zu erhalten". Die Identität von Staat und Gesellschaft (eine These, die Gtabitz vorbehaltlos bejaht), sowie der pluralistische (differenzierte) Charakter dertetzteren (den Grabitz minutiös gegen die Homogenitätsvorstellung belegt), schließen die Möglichkeit aus, daß jemand etwas bekommt, was nicht von einem anderen genommen wurde. 39 40

41 42

Grabitz 235fT. Bleckmann 243. Böckenförde NJW, Jg. 1974, S. 1535. So aber Grabitz 252.

12. Der Rechtsstaat

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Grabitz versucht, die "einseitige" Auslegung der liberalen Grundrechte auf zwei Wegen zu erschüttern. Erstens argumentiert er aus der "Wirklichkeit" heraus: die soziale und theoretische Vorbedingung der liberalen Auslegung, das homogene Gesellschaftsbild, ist- an der sozialen und politischen Wirklichkeit der modernen Industriegesellschaft gemessen- eine Fiktion. Wenn die Freiheit nicht durch den Staat, sondern auch durch innergesellschaftliche Mächte gefährdet sein könne, dann verlange die Freiheitssicherung nicht nur die Ausgrenzung des Staates, sondern auch positive Leistungen. Zweitens unterstützt er seine These durch eine gängige, wenn auch nicht unangefochtene Auslegung des Art. 1 Abs.l GG: aus dem Gebot, die Menschenwürde zu achten und zu "schützen", konstruiert er eine Leistungspflicht des Staates. Dagegen wäre nun, insbesondere aufgrund meiner obigen Ausführungen, scheinbar nichts einzuwenden. Der Punkt ist nur, daß aus den beiden, von Grabitz vorgeführten Prämissen, materiell keine andere Leistungsart herleitbar ist, als eben der Schutz, die Befriedungsleistung eines "normalen Staates" (Schrnitt), eine Drittwirkung der Ausgrenzung. Um weitere Leistungspflichten herzuleiten, muß Grabitz traditionsgemäß auf die "Sozialstaatsklausel" (Art. 20, 28 GG) zurückgreifen. So kann man eine Verpflichtung des Staates zur Sozialgestaltung, die über die allgemeine Befriedungsleistung hinausgeht, begründen. Die Schwierigkeit ist nur, daß nicht einmal dies zum gewünschten Ergebnis führt, denn die beiden Freiheitsbegriffe könnten auf der Verfassungsebene sehr wohl nebeneinander bestehen, ohne sich zu berühren. Dies wäre insbesondere dann eine plausible Schlußfolgerung, wenn man zugibt, daß es sich um zwei verfassungsrechtliche Grundentscheidungen handele43 • Dies spräche gerade für ihre Unabhängigkeit, ihre gegenseitige Unableitbarkeit. Der Kunstgriff, von dem Grabitz die gegenseitige Durchdringung der beiden Freiheitstypen erhofft, ist das "verfassungssystematische Argument", daß die beiden Spielarten der Freiheit nur die Konkretisierung des im GG enthaltenen "allgemeinen Freiheitsbegriffs", eines "Verfassungsprinzips" sind. Diese Denkfigur kann jedoch nicht zum gewünschten Ergebnis führen, selbst wenn man sämtliche Bedenken wegen der mangelden Positivität eines solchen Verfassungsprinzips außer Acht läßt. Begreift man es als "offen", so ist nicht viel gewonnen, weil es von der Auslegung der vorrangigen, speziellen Freiheitsbegriffe abhängt, was die Iex generalis beinhalten kann. Daher müßte man das Verfassungsprinzip Freiheit nicht als ein abstraktes Prinzip, sondern eher als eine "Wertfülle" voraussetzen, so daß die Konkretisierung mit einer Beschränkung und Inhaltsreduktion einhergeht (etwa nach dem Prinzip omnis deterrninatio est negatio). Erst dann kann man die speziellen Freiheitsbegriffe nach der (nicht besonders präzisen) Vorstellung auslegen, daß sie u. U. von beiden idealtypischen Komponenten etwas beinhalten, weil die Konkretisierung die jeweils andere Komponente nicht restlos zu beseitigen vermag. 43

Grabitz 206.

14 Holczhauser

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Dritter Teil

Ob selbst diese Spekulation die gewünschten Ergebnisse begründen könnte, soll dahingestellt bleiben. Denn erstens würde man dadurch nicht nur einen Rest von Leistungspflichten in die klassischen Abwehrrechte hineintragen, sondern auch die Ausstattungspflichten des Staates mit der Ausgrenzungskomponente infizieren. Das Ergebnis wäre: je mehr man die klassischen Abwehrrechte in Leistungspflichten umzudeuten versuchte, um so mehr müßte man auf der anderen Seite zulassen, daß die Leistungspflichten des Staates durch das in ihrem verbleibenden Abwehrinteresse relativiert und in ihrem Umfang beschränkt werden. Noch plausibler wäre jedoch die Auffassung, daß wegen der hier angenommenen Tendenz der Konkretisierung (Ausschließung der entgegengesetzten Komponente) die Vermutung dafür sprechen würde, daß der Überrest der ausgegrenzten Komponente nicht ausgedehnt, sondern möglichst gering gehalten werden sollte. 12-8. Der Sozialstaat muß, wenn er ein Rechtsstaat bleiben will, den Unterschied der beiden Grundrechtstypen aufrechterhalten. Das gilt auch für ihre Voraussetzung, die Trennung von Staat und Gesellschaft. Denn die sozialen Härten des nur ausgrenzenden Staates rührten nicht daher, daß die beiden getrennt wurden, sondern gerade daher, daß die weitere Differenzierung verboten wurde. Hebt man ihre Trennung auf, so wird nicht so sehr der Sozialstaat vervollkomnet, noch weniger eine neue, zeitgemäße Variante des Rechtsstaates hervorgebracht, sondern die Rückkehr hinter den liberalen Rechtsstaat betrieben und die Eingriffe in die Freiheitsrechte mit der Ideologie des verwirklichten Vernunftrechtsstaates legitimiert. Der dritte Typus des Rechtsstaates kann nur im Rahmen eines dreigliedrigen Staatskonstruktion begründet werden. Er beruht auf der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, und weiterhin auf der Differenzierung der letzteren. Zum Schluß dieses Kapitels möchte ich einige Thesen nennen, die mit der Differenzierung von Grundrechtstypen vereinbar sind oder mit ihr zusammenhängen. i) Die Typisierung der Grundrechte nach dem Umfang ihres Trägerbereich ist tiefgreifender als diejenige nach dem Kriterium Abwehr-Teilhabe. Der liberale Rechtsstaatsbegriff enthält Forderungen, die zum Teil Ausgrenzungen (Eigentum), zum Teil Leistungsansprüche (gesetztlicher Richter, rechtliches Gehör) sind. Das Merkmal, kraft dessen beide dem liberalen Typus angehören, ist ihr undifferenzierter (und undüierenzierbarer) Trägerbereich. Die Auslegungsfigur "Menschenbild des Grundgesetzes" ist mit der Differenzierung von Grundrechtstypen unvereinbar. Der Grundrechtstypus bestimmt, welchem Menschenbild er entspricht. Der umgekehrte Weg, die einzelnen Typen aufgrunddes einheitlichen Menschenbildes auszulegen, ist unzulässig. Ein- und derselbe Grundrechtsträger kann hinsichtlich eines Leistungsanspruchs unter den versorgten, hinsichtlich eines Abwehrechts unter den selbständigen Typus subsumiert werden.

12. Der Rechtsstaat

211

ii) Allgemeinphilosophische Erörterungen über den komplementären Charakter von Abwehr- und Teilhaberechten reichen nicht aus, um vom einen auf das andere zu schließen. Da das Besondere aus dem Allgemeinen nicht durch Herleitung, sondern durch Dezision entsteht, können aus dem allgemeinen (abstrakten) Begriff der Freiheit keine partikularen Freiheitsbegriffe durch bloße Deduktion hervorgezaubert werden. Genau so wenig ist ein Schluß von Ausgrenzungen auf Teilhaberechten (und umgekehrt) möglich. Wenn sie überhaupt aus dem allgemeinen Freiheitsbegriff entstehen, so entstehen sie durch voneinander unabhängige Dezisionen, indem verschiedene Trägerbereiche festgelegt werden. Sie schließen sich gegenseitig aus, weil der eine Typus die Differenzierung verbietet, der andere sie verlangt. Tatsache ist, daß das GG überwiegend Ausgrenzungen enthält. Es habe sich, "nach seinem Wortlaut und seinem Geist positiv für die liberale Theorie entschieden" 44 • Im GG sind nur Grundrechte mit undifferenziertem Trägerbereich positiviert. Man kann die Sozialstaatsklausel (Art. 20 Abs. 1 und Art. 28 Abs. 1 GG) als eine Iex generalis, die etwa der "allgemeinen Handlungsfreiheit" (Art. 2 Abs. 1 GG) korrespondiert45 , auffassen. Sie wurde jedoch nicht entsprechend durch einzelne Teilhaberechte konkretisiert, usprüngliche Vorschläge des Parlamentarischen Rates wurden fallengelassen. Man kann zwar den vielen Aufgaben, die den Verfassungsorganen unterschoben werden, auch ein Gebot auf Konkretisierung der Sozialstaatsklausel hinzufügen. Es ist jedoch fraglich, ob diese dem BVerfG zustehen soll, handelt es sich doch um eine Kompetenz des Gesetzgebers%. Selbst wenn man auf der Verfassungsebene positive Leistungsansprüche verankert hätte, stünde es dem Gesetzgeber zu, ihr Maß mit Rücksicht auf die jeweilige Leistungsfähigkeit des Staates festzusetzen. iii) Die Spannung zwischen den beiden Grundrechtstypen schlägt sich bei den beiden Grundrechstypen auf verschiedene Art nieder. Der These, daß der Eingriff in die Abwehrrechte das Vehikel und die "Einbruchsstelle" von Leistungsansprüchen ist, können wir weiterhin zustimmen, mit der Präzisierung, daß der Eingriff in Abwehrrechte, die Begrenzung aus sozialstaatliehen Motiven einen Ausnahmecharakter haben muß47 • Ausnahmecharakter haben nur die Eingriffe in die klassischen, für "alle" gewährten Grundrechte. Die Beschränkung der Freizügigkeit mit Hinblick auf die daraus entstehenden sozialen Härten (Eingriff in Art. 11 GG), das nachträgliche Anerkennen der Friedensgerichtsbarkeit (Eingriff in Art. 101 Abs. 1) bleiben Ausnahmen, weil diese Grundrechte allen Staatsbürgern zukommen, unabhängig davon, ob es sich um Abwehr oder Leistung des Staates handelt.

44

45 46 47

14*

Bleckmann 252, Müller (IV) 156. s. bei Bleckmann 246. Bleckmann 182. VL 175.

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Dritter Teil

Anders steht es mit den Teilhaberechten. Die tatbestandsmäßige Differenzierung ist notwendig, ohne sie ist der Leistungsanspruch begriffiich nicht denkbar. Die Festregung des Trägerkreises ist daher kein ausnahmsweiser Eingriff, sondern die Normalität. Hier muß eine echte Interessengliederung durch den Gesetzgeber stattfinden. Es gilt jedoch prinzipiell, daß sich die Erftillung des Tatbestandes, der zu einem Leistungsanspruch berechtigt bzw. ihre Nichterfüllung zueinander nicht wie Ausnahme und Normalität verhalten. Man kann die tatbestandsmäßige Bestimmung von Teilhaberechten als die Aufrichtung von "inneren Schranken" bezeichnen, man kann sogar das Schranken- und Eingriffsdenken für überholt erklären48 • Man kann jedoch diese Auffassung auf die Abwehrrechte, deren Trägerbereich unbeschränkt und undifferenziert ist, nicht übertragen und damit den Unterscheid zwischen Eingriff und Gestaltung verwischen. iv) Erst die Verankerung zweier Typen von Grundrechten macht eine zweifache Auslegung des Gleichheitssatzes notwendig. Ihre ursprüngliche Fassung, die rigorose Gleichheit ist nur in bezug auf Grundrechte mit undifferenziertem Trägerbereich konsistent. Die Umdeutung des Gleichheitssatzes in ein allgemeines Willkürverbot, das Prinzip: Gleiches gleich, Ungleiches ungleich behandeln, setzt differenzierte Trägerbereiche voraus.

13. Einheit und Vielheit. Der Doppelkonflikt 13-l. Die Grundfrage des Ordnungsproblems lautete: Wie wird die Vielheit, die Pluralität der Akteure in eine Einheit überführt? Sie bezieht sich auf den input und den Vorgang der Integration. Um das Ordnungsproblem vollständig zu erfassen, muß eine weitere Frage beantwortet werden: Was geschieht mit der Pluralität, nachdem die Einheit herbeigeführt wurde? Wird sie vernichtet, oder aber kann sie (wenn auch in einer abgewandelten Gestalt) mit der Einheit zusammen bestehen? Die Integration durch Konsens soll - anders als die Integration durch Zwang -die ursprüngliche Pluralität nicht unterdrücken. Die konsensuale Konstruktion des Staates soll eine Einheit hervorbringen, die die Pluralität nicht zerstört. Die Pluralismustheorien betrachten das gleiche Problem aus einer anderen Perspektive heraus. Sie sind konfliktorientiert und hegen ein tiefes Mißtrauen 48 Das zentrale Thema von Häberle (IV). Die These wurde bereits 1933 in der Debatte über die neue Grundlage des Polizeirechts ausgesprochen. Freiheit habe nur als "Moment in der Volksgemeinschaft" Bestand. Wenn sie "Dienstleistungen" fordere, so gehören diese zur Substanz der Freiheit. Nach Reinhard Höhn stellte polizeiliches Einschreiten keinen Eingriff des Staates in die Freiheit der Persönlichkeit dar (Böckenförde (IV) 170 f.). - Die neuerliche Offensive gegen das Schrankendenken mündet in der Formel des patemalistischen Absolutismus: "Die ,Eingriffe' in die indivuelle Freiheit verlieren rechtlich und sittlich ihre Schärfe", wenn man berücksichtige, sie "erfolgen im wohlverstandenen sachlichen Interesse des Grundrechtsberechtigten selbst" (a. a. 0 . 233).

13. Einheit und Vielheit. Der Doppelkonflikt

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gegenüber Einheits- und Homogenitätsvorstellungen. Andererseits können sie nicht darüber hinwegsehen, daß ein gewisses Maß an Konsens (Minimalkonsens, Gemeinüberzeugungen, nicht-diskutierte Werte usw.), eine wie auch immer definierte "funktionale Homogenität" erforderlich ist, wenn die Konfliktlösung nicht Zwang, die Überwältigung des Besiegten sein soll. Die Frage ist also, wie bzw. wie weit man die Pluralität fördern kann, ohne die Einheit zu zerstören. Faßt man die beiden Perspektiven zusammen, so ergibt sich die Grundfrage des Ordnungsproblems in einer synthetischen Gestalt: Wie lassen sich die beiden Prinzipien, Einheit und Vielheit bzw. ihre unterschiedlichen Abwandlungen, in denen sie in der politischen Theorie erscheinen (Homogenität und Heterogenität, Konsens und Konflikt usw.) miteinander vereinbaren? Die demokratische Verfassungslehre steht im Allgemeinen vor der "Schwierigkeit, das staatliche Prinzip der Einheit mit dem gesellschaftlichen Prinzip der Vielfalt zu versöhnen" 1 . Es ist zu erwarten, daß jeder Theorietypus das eine Element mehr betont und dem anderen eine untergeordnete Bedeutung zuschreibt. Pluralisten, die vorwiegend den offenen, auszutragenden Konflikt im Blickfeld haben, kommen auf die Einheit und die Homogenität etwas widerwillig zu sprechen, meistens dann, wenn es gilt, Vorwürfen entgegenzutreten, der Pluralismus münde in rücksichtslose Konkurrenz, ins Recht des Stärkeren. Man hat den Eindruck, daß es zwei Homogenitätsbegriffe gibt: einen "richtigen", nur einheitsstiftenden, und einen bösartigen, die Vielfalt vernichtenden. Bei Theoretikern, die die Einheit als unproblematisch ansehen, zerfällt dagegen der Pluralismusbegriff in zwei Spielarten. So gibt es für Schrnitt die einheitszerstörende, staatsauflösende Pluralität der organisierten Sonderinteressen einerseits, und die zu bejahende Pluralität der konkreten Ordnungen, das Ergebnis des Grundrechts auf Vereinsfreiheit. Es wäre ein interessantes, wenn auch uferloses Unternehmen, den unterschiedlichen Spielarten des Versuchs: Vielheit und Einheit miteinander zu verknüpfen, in der Geschichte der politischen oder juristischen Theorien nachzugehen. Wir müssen uns hier auf die wenigen Beispiele, die wir im Vorangehenden bereits berührt haben, beschränken. Bei Gierke erscheinen die beiden zu verknüpfenden Termini als "Genossenschaft" und "Herrschaft": die erste entspricht der konsensualen, die zweite der durch Zwang konstituierten Einheit. Ihre Beziehung wird nicht näher präzisiert, Gierke begnügt sich mit einem "Sowohl-als-auch". Der Staat sei seinem Wesen 1 Sontheimer: Stichwort " Pluralismus" im Fischer-Lexikon Staat und Politik, 1957, S. 256 f. Die Schwierigkeit des Problems, aber auch das Problembewußtsein des Verfassers wird aus der nachgeschobenen Warnung ersichtlich: die staatspolitische Entscheidung" sei weder die "bloße Resultante" des Machtkampfes noch beruhe sie auf der "prinzipiell höheren Autorität" des (später beiläufig doch als "souverän" bezeichneten) Staates.

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Dritter Teil

nach beides, Herrschaft und Genossenschaft 2 • Um so höher bewertet er die Tatsache ihres gemeinsamen Bestehens: eine Manifestation der "Rechtsidee". Erich Kaufmann gibt diese Formel in einer Diktion wieder, die auf etwas "Dialektisches" schließen läßt: "Im Staate liege notwendig eine unlösliche gegenseitige Durchdringung von ,Herrschaft' und ,Genossenschaft', ein sich gegenseitiges Stützen, ein Tragen und Getragenwerden, ein Leiten und Geleitetwerden, wobei nicht immer deutlich ist, wer aktiv und wer passiv ist" 3 • Die Grundbegriffe, in denen er selbst das Problem stellt, sind zwar von Gierke beeinflußt, lassen allerdings keinen Überschwang zu: sie schließen sich gegenseitig aus, jedes Recht sei "entweder Subordinationsrecht oder Koordinationsrecht". Eine mehr äußerliche Kombination der beiden ergibt sich allenfalls in der Konstruktion des Bundesstaates, wo die beiden in voneinander getrennten Sphären herrschen4 • Bei Smend gewinnt die Integration, das tägliche Plebiszit, das die Einheit aus der Vielfalt hervorbringt, Ausmaße, hinter denen die Tatsache, daß er auch einen Bestand "nicht-diskutierter Werte", ein Residuum des entgegengesetzten Homogenitätsprinzips, voraussetzt, beinahe verschwindet. In Schmitts Verfassungslehre überwiegt dagegen die Homogenität der verfassunggebenden Gewalt, und das entgegengesetzte Prinzip tritt nur als ein heterogener, die Einheit nur begrenzender, hemmender und zurückdrängender Zusatz auf. Und schließlich führt die Notwendigkeit, die Vielheit mit der Einheit zu vereinbaren, im Neopluralismus zum Postulat eines "nicht-kontroversen" Sektors, der den "kontroversen" Sektor ergänzt und abschließt. Ihre Beziehung zueinander scheint keine besonderen theoretischen Probleme aufzuwerfen, auch wenn Fraenkel seinen ersten Entwurf als eine Theorie der "dialektischen" Demokratie bezeichnete 5 . In Wirklichkeit stehen der konsensuale und der konfliktuale Sektor gleichgültig und ganz undialektisch nebeneinander. Ein theoretisches Problem entsteht erst im Falle des "Grenzkonflikts" 6 , d. h. wenn gerade um den Minimalkonsens gestritten wird. Fraenkels Feststellung, daß die totale Infragestellung des Kernssubstrats "Existenzkrisen" des pluralistischen Systems anzeige, betrifft dieselbe Problematik, die Schmitt unter dem Begriff "Ausnahmezustand" abgehandelt hat. 13-2. Wir sind bisher einigen vereinzelten Bemerkungen Schmitts begegnet, die das Verhältnis der innerstaatlichen Einheit (Homogenität) und Vielheit (Pluralität) präzisieren sollen. Es verbirgt sich z. B. hinter der Gegenüberstellung von demokratischem und rechtsstaatlichem Prinzip (Verfassungslehre). Hier kommt Gierke (IV) 34. Kaufmann (I) 140. Ähnlich die "Studien zum monarchischen Prinzip" in Kaufmann (III) 33. 4 Kaufmann (I) 128. 5 zitiert von Steffani 48. 6 Steffani 50. 2

3

13. Einheit und Vielheit. Der Doppelkonflikt

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auch am prägnantesten zum Ausdruck, daß sich die beiden gegenseitig begrenzen, daß das eine Prinzip das andere zurückdrängt und schwächt. In der "Verfassungslehre des Bundes" stellt er Pluralität und Einheit explizit nebeneinander, ihre Beziehung (ein "Schwebezustand") zähle zu den "Antinomien des Bundes" 7 , und ihre Spannung löse sich nur in der Tendenz, daß der Bund in einen Einheitsstaat übergehe. Von der Weimarer Verfassungswirklichkeit ausgehend entwirft Schmitt eine verfassungstheoretische Skizze, die die VL in wesentlichen Punkten ergänzt. Er verallgemeinert seine These, daß die WRV in zwei Hauptteile zerfällt, dahingehend, daß gewisse Verfassungstypen in zwei Verfassungsstücke, ja in zwei Staatstypen, zerfallen. Die beiden Prinzipien, auf die die Unterscheidung zurückgeht, sind die von Homogenität und Pluralität. Sie treten hier, im Gegensatz zur VL, innerhalb einer politischen Einheit auf und stehen in einer problematischen Beziehung zueinander 8 • Schmitt ordnet den beiden statischen Prinzipien zwei Verfahrensregeln als ihr dynamisches Gegenstück zu. Der Homogenität entspreche das Entscheidungsverfahren mit einfacher, der Pluralität das mit qualifizierter Mehrheit. Die Mehrheitsentscheidung ist dann- und nur dann- ein technischer "Modus, die Einstimmigkeit festzustellen", wenn die Homogenität vorausgesetzt werden kann. Entnillt die Homogenität, so ist sie eine "majorisierende, vergewaltigende Überstimmung" 9 . Diese Erkenntnis ist nicht neu 10 und sie wurde jüngst wieder zu Bewußtsein gebracht li . Schmitt gehört der Verdienst, die Problemstellung differenziert zu haben. Solange die Homogenität der Entscheidungsträger vorausgesetzt werden kann, gibt es keinen prinzipiellen Unterschied zwischen einfacher und qualifizierter Mehrheit. Bezieht sich dagegen der erhöhte Schutz auf materielle Regelungen, so signalisiert die Abweichung vom Prinzip der einfachen Mehrheit, daß das "Ganze" nicht mehr homogen ist. Das hat weitreichende Konsequenzen: die qualifizierte Mehrheit trage ein "undemokratisches, ja antidemokratisches Mißtrauen" 12 gegen den einfachen Gesetzgeber, sie desavouire und zerstöre das demokratische Prinzip der Homogenität. Oder wie man jüngst festgestellt hat: schrumpfe die Homogenität, so verdrängen Proporzre7 8

9

VL 373. L&L 293-312. Vgl. auch den Abschnitt 12-6 oben. L&L 294.

Simmel186-197. Vgl. die Sammlung Guggenberger / Offe, in dessen theoretischen Teil Schmitts Untersuchung nicht einmal erwähnt wird, obwohl die Auffassung der Herausgeber mit seinen Thesen über weiten Strecken übereinstimt Dafür werden Schmitts "sonstige" Ansichten über das Politische gestreift, in einer Darstellung, die das offene Konfliktschema (PT) mit seinen beiden Konkretisierungen Bl und B2 ohne jedes Problembewußtsein durcheinanderwirft (insb. S. 17). 12 L&L 296. 10 11

Dritter Teil

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geln und Vereinbarungsmuster anderer Art die Mehrheitsentscheidung, und es zeige sich, daß Demokratie und Mehrheitsentscheidung "keine deckungsgleichen Begriffe" sind. Die erste Behauptung Schmitts, daß Homogenität und einfache Mehrheit sich ergänzen, daß die letztere die Homogenität nicht sprenge, versteht sich nicht von selbst. Die Situation, in der nicht Einstimmigkeit herrscht, sondern eine Dezision zwischen Mehrheit und Minderheit notwendig wird, ist (ganz naiv und unvoreingenommen gesehen), eine "pluralistische". Die Entscheidung mit einfacher Mehrheit ist dann weniger eine Operationalisierung oder Dynamisierung des statischen Homogenitätsprinzips, sondern die Einbruchstelle des Konfliktprinzips in die Homogenität: sie verbindet vielmehr Konsens und Konflikt, B1 und B2. Solange man nur die aktuell zur Entscheidung stehenden Güter berücksichtigt, kommt man nicht um die Tatsache herum, daß die Abstimmung eine Überstimmung und Überwältigung der Minderheit ist, daß die Stimmenverhältnisse nur die Kräfteverhältnisse sichtbar machen 13 • "In existenziellen Fragen läßt man sich nicht überstimmen" 14 - eine zutreffende Bemerkung, auch wenn den Autoren die Nähe zur "berüchtigten" existenziellen Freund-Feind-Entscheidung nicht gegenwärtig zu sein scheint. Und umgekehrt: wenn Schmitt die Homogenität mit der einfachen Mehrheit verbindet, so könnte man darin zweierlei erkennen. Einerseits, daß Schmitt ein Prinzip sucht, das der Konfliktsentscheidung die Schärfe und die Intensität des "Existenziellen" nimmt, andererseits die Absurdität der Behauptungen, daß Schmitts Begriff der Homogenität die Forderung nach Gleichschaltung, Nivellierung, Überwältigung usw. beinhaltet. 13-3. Die meisten Theorien in der Politikwissenschaft verstricken sich in das folgende Dilemma. Sie wollen einerseits "rein" bleiben, weil sie sich von konkurrierenden Theorien unterscheiden oder aber den "Methodensynkretismus" vermeiden wollen. Andererseits sind sie, gerade wegen ihres Reinheitsideals, dem Vorwurf ausgesetzt, sie seien einseitig und könnten das aufgegebene Problem, die Einheit mit der Pluralität zu verbinden, nicht lösen. Dieser Vorwurf trifft nicht ganz zu. Es gibt unterschiedliche Strategien, die entgegengesetzten Prinzipien miteinander zu vereinbaren. 1. Es besteht die Möglichkeit, das jeweils ausgeklammerte Prinzip als eine "Voraussetzung", das "Vorverständnis" der Theorie usw. stillschweigend mitzudenken. Man kann faktisch eine Synthese der entgegengesetzten Prinzipien vollziehen, ohne sie explizit zum Gegenstand der Theorie zu machen. Klassisches Beispiel hierfür ist der Rechtspositivismus, in dessen Vorfeld all die Topoi "vorausgesetzt" wurden, die die Kritiker bei ihm vermißten. Auch die 13 14

Simmel186-197. Guggen berger I Offe 17.

13. Einheit und Vielheit. Der Doppelkonflikt

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Reinheit der Reinen Rechtslehre führt nur deswegen nicht zu den ihr häufig unterstellten Absurditäten, weil sie die ursprüngliche politische Dezision im Keller hat. Pluralisten können den jeweiligen Ausgang des Interessenkampfes als "gerecht" bewerten, weil sie voraussetzen, daß diese Ansicht von den Beteiligten selbst vertreten wird, also eine Homogenität vorhanden ist. Das Gleiche bestätigt auch Laskis spätere Wende, in der die Bedingung des "wahren Pluralismus" die klassenlose (homogene) Gesellschaft ist. Umgekehrt ist für Theorien des Homogenitäts-Typus eine mehr oder weniger selbstverständliche Annahme, daß die Homogenität geradeangesichtsder Vorausgesetzen Pluralität sinnvoll und notwendig ist. 2. Eine andere Möglichkeit ist, beide Prinzipien in die Theorie aufzunehmen und ihnen verschiedenen theoretischen Rang zuzubilligen. Die Kriterien der Abstufung können sehr vielfältig sein. Ein bekanntes Beispiel ist die, auch von der Rechtssprechung des BVerfG rezipierte, Theorie des "Stufenbaus" der Rechtsordnung. In Schmitts VL oder in der HdV beruht die "Höherwertigkeit" des Einheitsprinzips auf seiner (extensionalen) Allgemeinheit, gegenüber dem Prinzip der Pluralität, das nur Partikulares repräsentiert. Man kann die Beziehung teleologisch gestalten und ein höheres Prinzip, eine "Idee" suchen, das eine Einheit der Zwecke ermöglicht, ohne selbst ein Zweck zu sein 15 • Man kann das Kräftespiel der Interessen durch das höhere Interesse des Gesetzgebers (Heck), die subjektiven Wertsetzungen (Interessen) durch objektive Werte, durch Wertgesetzlichkeiten des Geistes (Smend) usw. abschließen. Die idealtypisch reinen Modelle von Homogenität und Pluralismus wollen wir hier nicht ausarbeiten. Sie sind wahrscheinlich diejenigen Konzepte, die die Kritiker als die "letzten Konsequenzen" der angegriffenen Position betrachten, ihre Verfechter dagegen für eine Karikatur halten. Idealtypisch rein ist, aus der Sicht der Pluralismustheorie, die Homogenität als Verbot der pluralistischdezentralisierten Konfliktaustragung, Unterdrückung der Vielfalt, Diktatur. Der idealtypisch reine Pluralismusbegriff ist dagegen das Chaos, der Naturzustand, die Freiheit und das Recht des Stärkeren. Die pluralistische Auflösung des Staates ist ein möglicher und nicht wegzudenkender Extremfall der Konflikttheorie, genauso wie die jede Pluralität vernichtende "Diktatur" ein Extremfall der Theorie vom pouvoir constituant ist. Diese Extremfälle besagen also nicht viel über die Brauchbarkeit der jeweiligen Theorie, sie können jedoch in der aktuellen politischen Lage die politische Option des Handelnden oder des Theoretikers beeinflussen. Es ist nicht der Sinn unserer Arbeit, die Spekulationen über Schmitts Arbeitshypothesen und ihre psychologischen Hintergründe zu vermehren. Viele Stellen des Hüters der Verfassung belegen, daß Schmitt das Schema B1 gerade im Hinblick 15

Vgl. z. B. Larenz: Rechts- und Staatsphilosophie der Gegenwart, 1931 , S. 87ff.

Dritter Teil

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auf die aktuelle politische Lage dem konfliktualen (pluralistischen) Konstruktion des BdP vorzieht, obwohl seine Vorbehalte gegen die Theorie des pouvoir constituant in seinem früheren Werk, Die Diktatur, deutlich genug sind 16 . Das pluralistische Modell ist auf die Annahme der Homogenität dringender angewiesen als die Demokratie, gerade weil es auf dem Prinzip des Interessenkampfes beruht. Das gilt insbesondere dann, wenn der Staat nach der Analogie des Marktes konstruiert werden soll. (Die Homogenität ist die Voraussetzung dafür, daß der potentiell konfliktuale und von außen nicht gesteuerte Selbstregulierungsprozeß nicht versagt 17 .) In diesem Sinne ist die Homogenität nicht nur die Grundlage der Zusammenzählung der Stimmen, also der Mehrheitsbildung, sondern die Bedingung des Tausches. Homogenität bedeutet natürlich nicht, daß die Vertragspartner das gleiche Gut anbieten (das würde den Tausch eher sinnlos machen), sondern sie macht die Tauschgüter kommensurabel. Die Homogenität hinter der Vielfalt von Angebot und Nachfrage besteht darin, daß die Güter der idealen Präferenzordnung aller Spieler angehören, d. h.: sie sind wählbar, sie werden als ein Gut angesehen. Oder anders gesagt: Homogenität ist vorhanden, wenn der Tauschakt von beiden Spielern als Tausch, nicht Zwang, angesehen wird. Andererseits ist die Homogenität ein problematisches Grenzgebiet der Pluralismustheorie. Selbst wenn sie unter ablenkenden Bezeichnungen wie "Minimalkonsens", unstreitiger Sektor usw. in die Theorie aufgenommen wird, wird ihm doch ein anderer Status zugestanden als dem Konfliktprinzip. Während der Konflikt allgegenwärtig ist und von Fall zu Fall dynamisch beigelegt werden muß, ist der Minimalkonsens eine statische "Voraussetzung". Die extreme Formel für diese Tendenz ist, daß man das Politische mit dem Konfliktprinzip identifiziert und die Homogenität ins "Vorpolitische" hinausdrängt18. Der Sonderstatus soll von der kritischen Frage, ob der Minimalkonsens selbst ein Produkt von Handlung, von Konfliktlösung ist, ob er das Ergebnis von Tausch oder aber Zwang sei, ablenken. Aus dieser Sicht ist es nur zu folgerichtig, daß die Gefahrdung des Minimalkonsenses bzw. die Maßnahmen zu seiner Wiederherstellung nicht als Politik, sondern als das Ende aller Politik erscheinen. Diese Auffassung mündet bezeichnenderweise in der Forderung, die Definition des Staates so eng zu ziehen, daß nur der demokratische Staat darunter fallt 19 . Was für das Recht noch eine vertretbare Auffassung war und Anschütz zur berühmten Behauptung veranlassen konnte, das Staatsrecht höre hier (wo die Politik anfängt) auf, wird in dieser introvertierten Betrachtung von Politik und Staat (Forsthoff) auf ein Gebiet übertragen, wo sie nur noch eine Unterscheidung zwischen Politik und Nichtpolitik zuläßt. 16 17 18 19

D 140ff. ähnlich Grabitz 186f. Guggenberger/Offe 11, 15. Grabitz 199.

13. Einheit und Vielheit. Der Doppelkonflikt

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Die durch das Konsensprinzip ergänzte Pluralismustheorie hat einen heteronomen Abschluß, sie flüchtet am entscheidenden Punkt in den nur vorausgesetzten, undifferenzierten Konsens. Dem entspricht auch die Zuordnung von Akteuren und Konfliktgegenständen. Einerseits verbindet der Pluralismus die vielfältigen Interessen mit einer Pluralität von Akteuren, andererseits muß er in Schwebe halten, ob dem Gemeininteresse, dem Minimalkonsens ein Subjekt entspricht oder nicht. Denn das "Ganze" ist kein Subjekt, und ein partikulares Subjekt gerät (selbst wenn seine Souveränität nicht angefochten wird) leicht in den Verdacht, partikulare Interessen für den Inhalt des Minimalkonsenses auszugeben. (Genau dies nützt die sog. "linke" Pluralismuskritik aus.) Damit wird die institutionelle Entsprechung des unstreitigen Sektors, das Zentrum, aus dem Bewußtsein gedrängt, die Herrschaftsrelation verblaßt zu einer logischen oder normativen "Bedingung" und die Begriffsanalyse ersetzt die Handlungstheorie. 13-4. Die beiden typischen Versuche, das Konsens- mit dem Konfliktprinzip zu verbinden, sind unzulänglich: sie nehmen die Homogenität aus der Handlungstheorie heraus. Theorien des "Homogenitäts"-Typus verwandeln die sekundären Konfliktlösungen tendenziell in lediglich deklaratorische Entscheidungen. Theorien des "Pluralismus"-Typus machen aus dem Setzungsakt, der dem Naturzustand und der Ununterscheidbarkeit von Tausch und Zwang ein Ende setzt, eine bloße Voraussetzung. Wie verhält sich Schmitts VL zu diesen Theorietypen? Scheinbar hat er einen Schritt über sie hinaus getan, ist doch bei ihm das Einheitsmoment explizit in einer Entscheidung begründet und er macht damit den Versuch, die gesamte staatliche Wirklichkeit handlungstheoretisch, als output von Handlung und Entscheidung zu rekonstruieren. In Wirklichkeit ist auch seine Lösung verfehlt. Die Entscheidung, die der Verfassung zugrunde liegt, ist keine echte Dezision, weil ihr Träger, das "Ganze" ein isoliertes Subjekt ist, es kann kein soziales Handeln vollziehen. Und die Homogenität bleibt, genauso wie bei anderen Theorietypen, eine bloße Voraussetzung. Der Begriff des Politischen, d. h. das Konfliktschema B2, scheint in die richtige Richtung zu führen: die Verfassung wird nicht vom Ganzen, "für sich" gegeben, sondern in einem innerstaatlichen Konflikt erzwungen. Die politische Einheit ist nicht mehr das Ganze, sondern das "entscheidende" oder "maßgebliche" Subjekt. Das sekundär Politische, die innerstaatlichen Konflikte spielen sich nicht auf dem Hintergrund eines nur "angenommenen" Minimalkonsenses, sondern im Rahmen des entschiedenen Grund- oder Integrationskonflikts ab. Schmitt hat diesen Ansatz aufgegeben, aus Gründen, die bereits angedeutet wurden: die konfliktuale Konstruktion des Staates ist pluralistisch und sie führt (zumindest nach Schmitts Überzeugung) zur Staatsethik des Bürgerkriegs, sie verankere eine innerstaatliche clausula rebus sie stantibus. Er teilt zwar die introvertiert-rechtsstaatliche Sicht, daß der Konflikt um den angeblich nichtkontroversen Sektor das Ende der Politik ist, nicht. Er bezieht auch den

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Bürgerkrieg in den Bereich des Politischen. Daraus zieht er jedoch keine weiteren Schlußfolgerungen für die Verfassungstheorie, sondern er weicht ins Außenpolitische aus. Die politische Einheit ist plötzlich wieder homogen und der Konflikt wird mit anderen Einheiten ausgefochten. Die Unzulänglichkeit beider Versuche legt die Vermutung nahe, daß das Problem der Grundlegung des Staates gar nicht darin besteht, die beiden Prinzipien Einheit und Vielheit miteinander zu vereinbaren. Sondern das eigentliche Problem ist, zwei Arten des Konflikts miteinander zu verbinden. Wird der Staat als der höhere Dritte bezeichnet, so stellt sich die Frage: Wie lautet die richtige Auflösung des Schemas H3? Die bisherigen Versuche habende facto für H3 = Bl + B2 optiert. Nach unserem Vorschlag lautet die Auflösung: H3 = B2 + B2. Nach dieser etwas kuriosen "Arithmetik" ist der Staat nicht die Verbindung von Einheit und Vielheit. Nicht Pluralität und Homogenität, streitiger und unstreitiger Sektor (oder wie auch immer man sie nennen will) begrenzen sich einander und verhindern die extreme, staats- bzw. gesellschaftszerstörende Ausdehnung des einen oder anderen. Sondern: Der Staat ist ein Doppe/konflikt.

Der Staat zerfällt (analytisch) nicht in einen konsensualen und einen konfliktualen Bereich, sondern in zwei Konfliktbereiche. Der eine ist der von verfassungs wegen offen gelassene Konflikt, der von Fall zu Fall durch die Beteiligten entschieden wird und dessen Entscheidung wiederum anfechtbar ist. Der andere Bereich ist der entschiedene Grundkonflikt, der die Mittel für die sekundäre Konfliktaustragung festsetzt und dem weiteren Kampf nicht mehr offen steht. Seine Entscheidung gilt (solange sie überhaupt gilt) als die Verfassung des Gemeinwesens. Sie ist der Abschluß des konfliktualen Bereiches, d. h. des offen gelassenen Konflikts. In einer Auseinandersetzung mit dem Pluralismus kommt Schmitt dem Prinzip des Doppelkonflikts erstaunlich nahe - und verwirft es gleich. Er befürchtet, daß B2 als Verfassungsprinzip die staatsauflösende Tendenz der pluralistischen Theorie bestätigen würde. Wenn man den Staat zum ohnehin schon bestehenden pluralistischen System von außen her hinzuaddiert, so wird dieser unvermeidlich in das fließende Spiel von fortwährenden Koalitionen mit einbezogen. Die Folge wäre ein "doppelt fundierter Pluralismus" 20 • Es bleibt also bei der "einfachen" innerstaatlichen Pluralität, die er mit dem entgegengesetzten Konsensprinzip abschließt und verfährt damit strukturell identisch wie die "korrigierte" Pluralismustheorie. 13-5. Die Aufgabestellung dieses Kapitels war, das Verhältnis von Einheit und Pluralität zu bestimmen. Wir fassen es, wie zu erwarten ist, nicht als eine "Symmetrie", eine gegenseitige Begrenzung und Ergänzung der Einheit durch 20

HdV 110.

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die Pluralität auf. Wir ordnen den beiden Prinzipien nicht den gleichen theoretischen Status zu, betrachten sie nicht als gleichrangige Axiome, die man nach Belieben "voraussetzen" kann. Vielmehr gehen wir vom Faktum der Pluralität aus. Diese Option wollen wir mit den utilitaristischen Axiomen der Handlung und der Kostenfrage begründen. Nach dem Grundprinzip der subjektiven Werttheorie, der "Mannigfaltigkeit der Welt" (der Mittel und der menschlichen Präferenzen) bzw. wegen der Knappheit der meisten angestrebten Güter ist der Dissens wahrscheinlicher und ursprünglicher als der Konsens. Die Einheit ist ein Produkt, das mit Kosten und Opfern verbunden ist. Kostenlos ist nicht die Einheit, sondern die Vielheit. Das Verhältnis zum Kostenproblem ist ein Indiz für die Brauchbarkeit handlungstheoretischer Konstruktionen. Auch in dieser Hinsicht erweisen sich die "reinen" Modelle (Homogenität wie Pluralismus) als unzulänglich. Gemäß dem demokratischen Prinzip ist die Entscheidung nur eine deklaratorische Ermittlung des Willens des Ganzen. Daher entstehen gar keine Kosten, weder im Allgemeinen noch im Besonderen. Die Pluralismustheorie berücksichtigt die Kosten vom Konsens, der aus dem Interessenkampf hervorgeht. Für sie ist lediglich der Minimalkonsens kostenlos. Andererseits geht die pluralistische These von der Optimierbarkeit der Interessenaggregation darauf hinaus, daß keine externen Verluste entstehen. Hier stehen also eine statische und eine dynamische Kostenlosigkeit nebeneinander. Ein mögliches Argument gegen unsere Auffassung wäre, daß die Pluralität gerade nur leistungsfähige Gesellschaften kennzeichnet. Die Pluralität ist scheinbar kostenintensiver als die Einheit, denn die letztere wird in der Welt fast überall geleistet, während sich den Pluralismus nur einige wenige Wohlstandsgesellschaften leisten können. Das wäre ein Fehlschluß. Denn freiheitliche Systeme investieren nicht in die Herstellung von Pluralität. Sondern sie können sich die Pluralität leisten, weil und solange sie die erhöhten Kosten der Einheitsbildung tragen können. "Unregierbarkeit", finanzielle Ineffizienz der westlichen Demokratien sind Symptome der Tatsache, daß die Konsenskosten zuweilen schwierig aufzubringen sind, nicht aber daß diese Systeme weniger leistungsfähig sind als Diktaturen. Die hier der Einheit zugewiesene "sekundäre" Stellung stimmt teilweise mit der, aufSmend zurückgehenden, Auffassung überein, daß die Einheit nicht vor-, sondern aufgegeben ist. Hinzu treten jedoch zwei entscheidende Korrekturen. Erstens betrachten wir den Prozeß der "Integration" ausdrücklich als Konfliktentscheidung. Zweitens spalten wir den Prozeß in zwei Bereiche auf: in die Entscheidung des Grund- oder Integrationskonflikts einerseits, in die Lösung der perennierend immer wieder auftretenden Masse von "Sekundärkonflikten" andererseits. Die Grenze der innerstaatlichen Pluralität ist dann weder die (kostenlose) Wertegemeinschaft oder die Erlebniseinheit des "Ganzen", noch die Entscheidung eines allumfassenden und daher isolierten Kollektivsubjekts, sondern eine Entscheidung, wenn man so will, gegen den Feind. Daher

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Dritter Teil

entspricht dieses Modell weder der pluralistischen Integrationslehre Smends noch der demokratischen Verfassungslehre Schmitts, trotz ihrer teilweise Überlappung im Bereich des sekundär Politischen oder im "kontroversen" Sektor. 13-6. Wir wollen die Einheit im Sinne des entschiedenen Grundkonflikts nicht als eine authentischere Auslegung der zweifelhaften Figur "Einheit der Verfassung" empfehlen 21 • Es ist zwar richtig, daß sie in ihren Hauptanwendungen mit Konfliktentscheidung zu tun hat, und die einfallsreichen wie ehrwürdigen Ablenkungsformeln (Harmonisierung, Optimierung, Konkordanz} usw. dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich um Konfliktlösung handele 22 • Die Formel, nunmehr auf den Grundkonflikt angewandt, besagt nur, daß er entschieden, nicht aber, wie er entschieden wurde. Die Einheit kann die Funktion eines Prinzips oder überpositiven Rechtsgedankens genauso wenig übernehmen wie etwa das entgegengesetzte "Prinzip" Pluralität dazu imstande wäre. Friedrich Müller sieht ein Argument gegen den Topos "Einheit der Verfassung" u. a. darin, daß die Notstandsartikel eine Teilmenge mit Sonderstellung bilden, die im Hinblick auf das GG als "Normalverfassung" nur instrumental sind und deren Interpretation und Dogmatik nicht beeinflussen. Ihr Verhältnis zueinander dürfe durch das Postulat der Einheit nicht verfälscht werden. Wie er dieses Verhältnis näher auffaßt, bleibt etwas unklar: die Verfassung zerfalle nicht in zwei Teilverfassungen, Normalverfassung und Notstandsnormen stünden nicht beziehungslos neben- oder übereinander, ihre Beziehung ist "nicht wechselseitig, sondern einseitig" 23 • Auf das Verhältnis von Ausnahme und Normalität werden wir noch eingehen24 • Hier äußere ich nur die Vermutung, daß die strenge Unterscheidung der beiden weder unter B1 noch unter B2 möglich ist. Erst H3 vermag, und zwar im oben vorgeschlagenen Sinne des Doppelkonflikts, sie miteinander zu verbinden. Sie sind Teile der Verfassung, die den beiden Konfliktarten entsprechen. Müller zählt auch Schmitt zu denjenigen, die es versuchten, der "Einheit" den Status eines judiziablen dogmatischen Arguments zu verleihen. Das ist m. E. grundsätzlich verfehlt. Denn die "Einheit", wie Schmitt sie versteht, ist eine "politische", keine den einzelnen Verfassungsgesetzen "überlegene Obernorm" 25 . Auch wenn sie nicht "sachleer" ist, sondern den Kern einer konkreten Verfassung umfaßt, betrachtet sie Schmitt nicht als judiziabel. Ganz im Gegenteil: seine ganze Polemik gegen die Verfassungsgerichtsbarkeit nährt

21 22 23

24 25

Vgl. die Kritik in Müller (IV). Müller (IV) 196. Müller (IV) 178 f. Vgl. Kap 14 unten. Müller (IV) 159.

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sich aus der Nichtjudiziabilität politischer Fragen26 . Schrnitts Kritik verwirft die Verfassungsgerichtsbarkeit weder pauschal noch überhaupt 27 , sondern sie entspringt demselben rechtsstaatliehen Anliegen wie Müllers Einwände. Wer (wie Schmitt) fordert, die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit möglichst streng zu ziehen und die die Einheit betreffenden Fragen hiervon auszunehmen, wenn dem Richter kein Urteil über political questionszugemutet werden sollte, der will (und kann) die Einheit dogmatisch nicht in Anspruch nehmen. Es trifft übrigens nicht zu, daß die Verfassungsgerichtsbarkeit den Topos "Einheit" (im Sinne der "Grundentscheidung") ganz entbehren kann. Es ist ein starkes Argument und eine unverhoffte Bestätigung für den Schmittschen "positiven" Verfassungsbegriff, daß diese Erkenntnis gerade in der Praxis des Österreichischen Verfassungsgerichtshofs zutage getreten ist 28 • "Einer Volksabstimmung sind Bundesverfassungsgesetze dann zuzuleiten, wenn sie eine Gesamtänderung der Bundesverfassung bewirken würden". Dieser Satz kann nicht den relativen Verfassungsbegriff, d. h. die Gesamtheit aller Verfassungsgesetze meinen. Denn ein einziges Gesetz, das eine politische Ordnung beseitigt, braucht nicht sämtliche Verfassungsnormen zu ändern 29 • Das Gericht müsse also "die grundlegenden politischen Entscheidungen des Bundesverfassunggesetzgebers untersuchen", den "Inhalt der ,Verfassung im absoluten Sinne', im Sinne C. Schrnitts" ergründen 30 • Grundlage des Urteils ist natürlich nicht die unbestimmte Variable "Einheit", sondern die konkrete politische Entscheidung. Gerade hier zeigt sich der Sinn der Forderung Schrnitts, eine Verfassung müsse Entscheidungen, nicht dilatorische Formelkompromisse enthalten. Denn sonst wird das Gericht nicht so sehr die Verfassungsmäßigkeit, sondern vielmehr die politische Zweckmäßigkeit oder gar die Naturrechtsmäßigkeit von Gesetzen feststellen 31 • 13-7. Will man den Staat als "Doppelkonflikt" konstruieren, so stellt sich die Frage, ob der Konflikt überhaupt geeignet ist, Integration herbeizuführen. In der Konfliktforschung mangelt es nicht an Ansätzen, die dem Konflikt Funktionalität zuschreiben. Uns interessiert, unserer Problemstellung entsprechend, nicht die Funktionalität des externen, sondern die des internen Konflikts. Cosers bereits zitierte Arbeit ist auch diesbezüglich von großem Nutzen 32 •

Und unbestimmter Rechtsbegriffe - aber das ist hier nicht das Thema. vgl. die Abschnitte 9-4 und 9-5 oben. 28 Kelsen, der maßgebliche "Vater" der Österreichischen Verfassung lehnte Schmitts Begriff der Verfassung als einer Grundentscheidung ab. 29 "Klassisches" Beispiel ist das sog. Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933. 3° Felix Ermacora: Der Verfassungsgerichtshof, Graz 1956, S.242f. Richtig würde es heißen: Verfassung im "positiven" Sinne (vgl. VL 20ff.). 31 Ermacora 239. 32 s. den Abschnitt 7-4 oben. 26 27

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Dritter Teil

Die Aussagen über die integrierende Funktion des Konflikts 33 kristallisieren sich in der These: Konflikt schaffe Gleichgewicht der Macht34 , heraus. Zu ihrer Präzisierung: man sollte lieber von "Stabilität" oder "Ruhezustand" sprechen. Wer die Stabilität als die Korrespondenz zwischen Macht- und Güterverteilung definieren wilP 5 , stößt auf eine zentrale Frage: Wie wird das Machtverhältnis der Akteure ermittelt? Simmels Antwort: "nur durch das tatsächliche Austragen des Konflikts" 36 , ist einer der wichtigsten Sätze der Handlungstheorie. Sie macht bewußt, daß die Meßbarkeit für die Handlungstheorie nicht weniger zentral und problematisch ist als etwa lür die Elementarphysik. Sie besagt, daß die Messung kein idealer, objektiver oder externer Vergleichsakt ist, sondern ein physikalischer Prozeß. Er ist nur in der und durch die Interaktion vollziehbar. Wenn der Konflikt nicht immer ausgetragen wird, so deshalb, weil die Risiken der genauen Ermittlung ihren erwarteten Nutzen übersteigen können 37 • Die Ökonomie unterscheide sich darin von anderen Systemen des Gütertausches, daß sie ein Meßinstrument: das Geld bereitstelle38 • Das Geld ist nicht lediglich ein "allgemeines" Wertmaß, sondern es ermöglicht ein handlungsunabhängiges und daher konfliktloses Messen:. Es kann diese Funktion nur ausüben, weil und wenn der Maßstab von den beiden Kontrahenten anerkannt bzw. von einem Dritten garantiert wird. Gütermengen sind vergleichbar, ohne tatsächlich ausgetauscht zu werden, und das erlaubt verläßliche Prognosen. Ganz andere Probleme wirft die Meßbarkeit auf, wenn kein ähnlicher Maßstab vorhanden ist. Die relativ große Unvorhersehbarkeit von Tauschereignissen erschwert das abstrakte Rechnen. Wertangaben über Güter können nur nach dem Abschluß eines Tauschaktes gemacht werden. Im unmittelbaren Tausch sind Güter gleichwertig, wenn sie tatsächlich getauscht wurden. Es scheint also: die Unsicherheit und das Risiko machen das Ökonomische zu Krisenzeiten dem "Politischen" immer ähnlicher. Und umgekehrt: die Anwesenheit eines ordnungsstiftenden Dritten, die Temperierung und die Hegung der Politik machen das "Rechnen" mit Machtverhältnissen ziemlich verläßlich, gleichen die Politik dem Ökonomischen an, weil sie ihr die Unsicherheit des "Existenziellen" nehmen. Entfällt der Dritte oder wird seine Garantiefunktion beeinträchtigt, so nehmen die früher als "ökonomisch" eingestufte Tauschakte immer mehr den Charakter des "Politischen" an. 33 Eine der integrierenden Funktionen des Konflikts &ei, daß er gemeinsame Werte "ins Bewußtsein" bringe (Coser 152). 34 Coser 160. 35 Vgl. den Abschnitt 13-8 unten. 36 Zitiert von Coser 160. 37 Aus dieser Eigenschaft der Messung ergibt sich auch die Gefährlichkeit der sog. .,Beschwichtigungspolitik". Sie kann dazu führen, daß einer der Akteure seine Macht überschätzt und in einen Konflikt mit verheerenden Wirkungen hineingezogen wird. 38 Coser 162.

13. Einheit und Vielheit. Der Doppelkonflikt

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Damit haben wir jedoch wieder ein Problem berührt, das das Konstruktionskriterium des BdP problematisch macht. Schmitt grenzt das Ökonomische vom Politischen nach dem (oberflächlichen) Kriterium, daß das erstere auf der "Unterscheidung" zwischen "Nützlichem" und "Nutzlosem" beruhe, ab. Die Ökonomie betrachtet jedoch den Nutzen nicht im Sinne rein technischer oder sachbezogener Zweckmäßigkeit, sondern den Nutzen, der in der Konkurrenz mit anderen Subjekten um knappe Güter erwirtschaftet wird. Sie bezieht sich also auf Konfliktsituationen. Gerade darauf beruht die Möglichkeit, daß das Ökonomische ins Politische übergeht (und umgekehrt). Daß das Politische keinen eigenen Sachbereich hat, stiftet eine gewisse Kontinuität der beiden Bereiche. Nur aus diesem Grunde konnte die "ökonomische" Analyse auf politisches Handeln erfolgreich angewandt werden. Die Ähnlichkeit zwischen ökonomischem und politischem Handeln betrifft natürlich nur einen einzigen Aspekt des Vergleichs. Denn wir wollen nicht behaupten, daß der unmittelbare Tausch beliebiger Güter ein "politischer" Akt ist. Das spezifische Gut, das im politischen Handeln "getauscht" (d. h. zumindest vom einen Akteur eingesetzt) wird, ist der Zwang. Das ist unsere erste Einschränkung: sie spezifiziert die Tauschmittel der politischen Handlung. Gewaltanwendung kann insofern als Tausch aufgefaßt werden, als ihre Ausübung auf beiden Seiten "Opfer" oder "Arbeit" im weitesten Sinne ist und zu einem Verschleiß oder Abnutzung der (knappen) Mittel führt, aber auch in dem Sinne, daß die Akteure auf die angedrohte Gewaltanwendung unter gewissen Bedingungen verzichten 39 . Die zweite Einschränkung betrifft den outputder politischen Handlung. Die Ausübung oder Androhung von Gewalt führen nicht zu einer punktuellen Einigung, die durch ihre Erfüllung gegenstandslos wird. Sondern sie bringen ein allgemeines, über die aktuelle einzelne Handlung hinausgehendes und eine Klasse von Handlungen regulierendes Ordnungsverhältnis hervor. Die politische Handlung ist kein Rechtsgeschäft, sondern sie begründet ein Rechtsverhältnis. Die dritte Einschränkung ist erforderlich, um das Politische nicht nur vom "Ökonomischen", sondern auch vom "Sozialen" im weitesten Sinne zu unterschieden. Es ist ein Schwachpunkt sowohl des konsensorientierten Funktionalismus, als auch der Konfliktssoziologie, daß sie sich ziemlich unbekümmert der Wendungen "sozial" bzw. "politisch" bedienen, um Konflikte, "Segmente", "Subsysteme" usw. der einen oder anderen Art voneinander zu unterscheiden. Die Ausdrücke erwecken manchmal den Eindruck, es würden getrennte "Sachbereiche" genannt. Ein klares Kriterium, außer dem vagen Bezug auf den "Staat" und die (rechtlich geregelte) Konkurrenz um die Entscheidungsstellen (bereits von Schmitt als unbefriedigend empfunden), ist indessen nicht erkennbar. 39

Vgl. Kap. 3 oben.

15 Holczhauser

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Ich will vom Politischen reden, nicht wenn allgemein eine soziale Beziehung hervorgebracht wird, sondern erst bei Handlungen, die eine Situation schaffen, in denen gewisse Formen von Tausch und Zwang unterscheidbar werden. Sie selbst sind Handlungen, deren zwangsfreier Charakter aus keiner anderen Norm, Vereinbarung, Handlungsakt usw., sondern nur aus sich selbst herleitbar ist. Politisch ist nach diesem Kriterium lediglich die "Verfassunggebung". Hier sind keine Abstufungen und Relativierungen möglich. Das "sekundär" Politische ist dagegen dann vorhanden, wenn dieses entscheidende Merkmal nicht erfüllt wird. Z. B. wenn der Konflikt nicht die "Rechtsmäßigkeit" des Maßstabs betrifft, sondern darum geht, ob die aktuell vorgeschlagene Verteilung eine Konkretisierung des (in abstracto anerkannten) Maßstabs ist oder ihm widerspricht. Erst hier ist es berechtigt, von fließenden Übergängen ins "Soziale", ins "Ökonomische" usw. zu reden. 13-8. Die Variablen, von denen die Wahrscheinlichkeit des Konflikts abhängt, haben auch einen anderen Zusammenhang: sie ermöglichen, die Bedingungen der Stabilität zu ermitteln. Damit stellt sich das Ordnungsproblem unter dem Aspekt "Konflikt als System".

Wir haben unsere Drei-Personen-Spiele (s. die Abschnitte 9-2 und 9-3 oben) nach einem quantitativen Kriterium klassifiziert, ohne es näher zu präzisieren. Die Vermutung, daß es sich um die "Machtdifferenz" handelt, liegt nahe, ist jedoch unpräzise. Das Modell von Walter Korpi versucht, die Wahrscheinlichkeit von Konflikt (zumindest qualitativ) mit der unabhängigen Variable "Machtdifferenz" zu verbinden40 • Das ist verfehlt: Die reine Machtdifferenz vermag über die Wahrscheinlichkeit des Konflikts gar nichts zu besagen. Sie ist z. B. bei den Kräfteverteilungen von 10 gegen 100 bzw. 100.000 gegen 100.090 identisch. Im ersten Fall ist sie jedoch eine erdrückende Übermacht, im zweiten ist sie kaum beachtlich41 • Wir wollen daher nicht von Machtdifferenz, sondern allenfalls von Machtverteilung oder Machtverhältnis sprechen. Damit haben wir zwar einen, aber eben nur einen Faktor, der die Wahrscheinlichkeit von Konflikten beeinflußt, gefunden. Auch der zweite, für den Konflikt mitverantwortliche Faktor ist hinlänglich bekannt: die Güterverteilung. Es ist merkwürdig: Korpi weist einerseits ausdrücklich darauf hin, daß die zentralen Konflikte mit der Güterverteilung zusammenhängen42 , andererseits berücksichtigt er sie nicht als ll_Q.aphängige Variable. In Wirklichkeit wird keiner der Akteure seine Mittel auf einen Konflikt verschwenden, wenn er die Güterverteilung für angemessen hält, 40 Korpi beschränkt übrigens seine Untersuchung auf den Konflikt mit zwei Teilnehmern, d. h. auf B2, weil die Berücksichtigung des Dritten die Vorhersage erschwert. 41 Nicht nur Korpi selbst, sondern auch die Rezensenten (Weede 421; Widmaier 191 , 193) wiederholen hartnäckig den Ausdruck "Machtdifferenz". Widmaier berücksichtigt allenfalls das Verhältnis endlicher Machtänderungen. 42 Korpi 1570.

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zumindest im Sinne, daß die Kosten des Konflikts seinen erwarteten Nutzenzuwachs übersteigen würden. Wir können postulieren, ohne ein kardinales Nutzenmaß zu wagen, daß die Parteien keinen Grund für den Konflikt und Gewaltanwendung sehen, wenn die Güterverteilung ihrer Meinung nach den Machtverhältnissen entspricht. Ein soziales Verhältnis ist um so stabiler, je mehr die Güterverteilung den Machtverhältnissen entspricht, und es verliert seine Stabilität im Maße der Diskrepanz zwischen den beiden. Spannungen und offene Konflikte entstehen in der Regel aus der Vermutung, daß die Güterverteilung der Machtverteilung nicht (oder nicht mehr) entspricht. Um diesen immer noch unpräzisen Rahmen weiter zu konkretisieren, versuchen wir, die Konfliktssituation mit dem Begriff der Oligopolischen Konkurrenz zu erfassen43 • (Die Erweiterung der duopoliseben Konkurrenz zu einer oligopolischen, d. h. "pluralistischen" Konfliktsituation, bereitet mathematisch keine prinzipiellen Schwierigkeiten). Was alles als Macht- oder Angriffsmittel gelten kann (von der reinen Informationsbeschaffung, der Organisation von Interessen bis zur direkten militärischen Rüstung), soll nicht präzisiert werden. Wir werden sie hier lediglich unter dem Aspekt betrachten, daß ihre Produktion mit Kosten verbunden ist. Wir identifizieren also "Macht" mit einer Produktionsfunktion. Diese Betrachtungsweise ist aus ökonomischer Sicht berechtigt. Der Ausstoß und die Produktivität eines Unternehmens sind erstrangige Machtfaktoren, und die Preis- oder Mengen-entscheidungen des Konkurrenten gelten in der Regel als "Angrifr'. Der Ausdruck "oligopolistic war" ist zutreffend, obwohl der Wirtschaftskrieg nur die wirtschaftliche "Existenz", d. h. die Zugehörigkeit zu einer Einkommensklasse, vernichten kann. Die Cournotsehe Analyse der Oligopolischen Konkurrenz gibt im Prinzip Anhaltspunkte auch zu einem Wahrscheinlichkeitsmaß. Das Gleichgewicht entsteht jedenfalls im Idealfall, in dem beide Unternehmer (Konfliktpartner) optimal produzieren und ihren Gewinn maximieren. Dies ist wiederum genau dann der Fall, wenn die Grenzkosten der Produktion (des Konflikts) dem Grenzerlös gleich sind, also keiner der Spieler an der Erhöhung seiner Ausbringung interessiert ist. Wohl wichtiger ist der allgemeine Fall, in dem die zu verteilende Gütermenge (Marktanteil) zu klein ist, um für beide Spieler das Optimum zu garantieren. Da ein Spieler auf Abweichungen zwischen dem tatsächlichen und erwarteten Verhalten des Gegners sehr unterschiedlich reagieren kann, ist der Ausgang des Konflikts in größerem Maße unbestimmt und instabil als bei vollständiger Konkurrenz44 • Man braucht Zusatzannahmen, Vgl. etwa Henderson(Quandt: Mikroökonomische Theorie, 1958. Diese Unsicherheit ist als das sog. Stackelbergsche Ungleichgewicht der Oligopolischen Konkurrenz bekannt- ein Sachverhalt, der in den Sozialwissenschaften unter der volkstümlichen Bezeichnung "Gefangenendilemma" abgehandelt wird. 43

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15*

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Dritter Teil

die das Gleichgewicht wahrscheinlich machen. Sie reichen von mikroökonomischen Postulaten bis zu sozialen Utopien und allgemeinen Theorien der Gerechtigkeit. Im "politischen" Bereich sind weit mehr Angriffsmittel zulässig als im "ökonomischen". Das erschwert die quantitative Aussage über die Wahrscheinlichkeit des Konflikts (und des Friedens) im Vergleich zur Konkurrenz um Marktanteile. Schmitt nimmt an, daß Konflikte im ungehegten Raum (B2) häufiger auftreten und intensiver sind als in der Anwesenheit eines Dritten, des Garanten der Ordnung (H3). Diese Unterscheidung muß aufweiteren Faktoren der Konfliktwahrscheinlichkeit hinweisen. Im gehegten Raum hängt die Wahrscheinlichkeit von Konflikt (unter einer Bedingung, auf die ich gleich eingehe) nicht von den Machtverhältnissen, d. h. vom Verhältnis der aktuellen Produktionskosten, sondern vom Verhältnis der Grenzproduktivitäten ab. Eine kleine Firma kann einen größeren Marktanteil erobern, als derjenige, der sich aus dem aktuellen Kostenverhältnis ergibt. Denn der Gegenangriff ist für das größere Unternehmen relativ kostspieliger als die Verteidigung ftir das kleinere. Die Bedingung, von dem ich gesprochen habe, ist, daß Angriff und Gegenangriff nicht punktuelle, einmalige Akte bleiben, sondern der Konflikt zum System wird. Das bedeutet, daß nach dem ersten Schlagabtausch keiner der Partner zusammenbricht. Dann tritt der Konflikt, nach dem erstmaligen Verbrauch der Angriffsmitteln, in die zweite Phase, in der die Machtmittel (in der Regel in größeren Mengen als vorher) reproduziert werden. Der Überraschungsangriff wird zu einem Abnutzungskrieg, einem "Produktionssystem", das den Konfliktpartner mit der größeren Grenzproduktivität begünstigt45 • Anders verhält es sich im existenziellen Konflikt. Sind gewaltsame Mittel der Konfliktlösung erlaubt, besser gesagt: gibt es keine Macht, keinen Dritten, die ihre Anwendung verbieten können, so hängt die Wahrscheinlichkeit von Konflikt nicht von den Grenzkosten der Produktion, sondern vom aktuellen Machtverhältnis der Spieler ab. Denn einem "Unternehmer", dessen Büros und Fertigungshallen besetzt, seine Mitarbeiter gefangenommen oder deportiert werden, nützt es nichts, daß er langfristig größere Erfolgschancen haben würde. Der Konflikt im nicht gehegten Raum hängt in erster Linie vom aktuellen Machtverhältnis ab. Qamit soll nicht gesagt werden, daß im ungehegten Raum keine Aussichten auf Stabilität bestehen. Je größer die Chance, daß der "existenzielle" (nicht gehegte) Konflikt in ein (Produktions-) System im obigen Sinn übergeht, um so mehr wird die Konfliktwahrscheinlichkeit vom Verhältnis der Grenzkosten der Produktion abhängen. Dies erklärt auch den scheinbar paradoxen Befund, daß annähernd gleiche Macht keine Vorhersage über die Konfliktwahrscheinlichkeit 45 Vgl. die "Hilfshypothese" von Widmaier 36, nach dem "gewaltsame Konflikte ab einer gewissen Größenordnung zu den bedeutendsten politischen Systemen gehören".

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zuläßt46 • Denn in diesem Fall kommt (ähnlich wie beim gehegten Konflikt) den Grenzkosten der Machtmittel eine entscheidende Bedeutung zu47 • 13-9. Die konkfliktuale Konstitution ist ein MarktmodelL Sie ist, ihrer Struktur nach, mit der oligopolischen Konkurrenz isomorph. Sie unterscheidet sich von der konsensualen (vertragstheoretischen) Konstruktionen genau so, wie die oligopolische von der vollständigen Konkurrenz. Allein diese Isomorphie genügt, das grundlegende Defizit der Vertragstheorien offenzulegen: sie lassen den Staat in derjenigen Situation entstehen, in der seine Entstehung am wenigsten wahrscheinlich, weil mit horrenden Kosten verbunden, ist. Die übliche Voraussetzung, daß im Naturzustand Gleichheit herrscht, simuliert die Bedingung der vollständigen Konkurrenz oder aber der sehr großen Gruppe, die dem individuellen Handeln verschwindend kleine Chancen gibt, den Markt zu beeinflussen, dafür aber einen um so größeren Anreiz zum TrittbrettfahrerVerhalten bietet. Es ist nicht von ungefahr, daß Vertragstheorien die wenig plausible Zusatzannahme einführen müssen, daß die Entscheidung von allen Beteiligten gleichzeitig getroffen wird.

Die Logik des kollektiven Handeins kennt zwei Erklärungsmodelle für die Beschaffung eines kollektiven Gutes. Dieses wird i)in kleinen Gruppen ii) bei unausgeglichenen Kräfteverhältnissen der Akteure am wahrscheinlichsten bereitgestellt. Die Kosten der Ordnung können bezahlt werden, wenn irgendeiner Akteur imstande ist, die Gesamtkosten des Kollektivgutes zu tragen. Im duopoliseben Fall geht dies auf das Gleiche hinaus wie unsere Unterscheidung zwischen Zentrum und Peripherie (vgl. Kap. 4 oben). Dieses Modell der "Alleinfinanzierung" kommt jedoch für uns nicht in Frage - nicht weil die Auffassung: der Staat als "kleine Gruppe" grundsätzlich verfehlt wäre. Er ist zwar ein Verband, der eine große latente Gruppe mobilisieren will. Andererseits ist die Anzahl der Organisationen, die eine nennenswerte Erfolgschance dazu besitzen, in der Regel nicht allzu groß. Nicht nach der Anzahl der "unorganisierten" Akteure, sondern wegen seiner Vorstruktur, ist der Staat eine "kleine" Gruppe. Wenn wir das Modell der konfliktualen Konstitution mit der oligopolischen Konkurrenz gleichsetzen, so wollen wir damit (auch in Abweichung von der utilitaristischen Theorie der Politik) zweierlei hervorheben. 1) Der Staat entsteht und erhält sich aufrecht in einer Situation, die weniger dem perfekten Markt, sondern vielmehr der oligopolischen Konkurrenz einiger Machtzentren, nahesteht. 2) Die oligopolischen Konkurrenten investieren in spezifische Güter, die die liberale Theorie des Marktes nicht als solche handhaben oder anerkennen würde. Die Integrationsleistung gelingt nur Organisationen, die i) die Macht 46 Es ist bezeichnend, daß die Wahrscheinlichkeitsfunktion von Korpi gerade in diesem Bereich problematisch ist. 47 Ein klassisches Beispiel hierfür ist der amerikanische Bürgerkrieg des 19. Jahrhunderts.

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Dritter Teil

und die Fähigkeit haben, Zwang auszuüben oder ii) ihren Mitgliedern "selektive Anreize" bieten können 48 • Das kollektive Gut entsteht als das "Nebenprodukt" der Organisation - nicht im Sinne, daß seine Beschaffung nur "zweitrangig" wäre, sondern im Sinne, daß es nur über einen "Umweg" beschafft werden kann. 13-10. "Systematik und Logik der rechtsstaatliehen Verfassung finden sich in Carl Schmitts Verfassungslehre klassisch und unüberholbar dargestellt" 49 • Wir haben keinen Grund, das Urteil eines hervorragenden Kenners des bürgerlichrechtsstaatliehen Verfassungstypus und von Carl Schmitt anzuzweifeln. Insbesondere schließen wir uns der mitgedachten Feststellung an: Schmitts Denken ist nicht occasionalistisch, expressionistisch, aphoristisch oder aufwelche Art auch immer unsystematisch, schillernd und zwiespältig usw. Auch unsere Bemühungen galten dem doppelten Ziel: i) die Grundelemente dieses Systems zu identifizieren und ii) die Bedingungen zu finden, unter denen die scheinbar disparaten Elemente sich zusammenfügen. Wir müssen trotzdem die Frage stellen, ob manche, scheinbar "undemokratische" These in Schmitts politischem Denken nicht gerade daher rührt, daß er den konsensualen Ansatz der Verfassungslehre konsequenter als andere durchdachte und an ihm (trotz Ungereimtheiten) festhielt. Ich bin der Meinung, daß die konfliktuale Konstitution nicht nur den Axiomen der utilitaristischen Handlungstheorie und dem tatsächlichen politischen Prozeß, sondern auch den Erfordernissen der juristischen Verfassungslehre besser entspricht. Das scheint nun eine gewagte Aussage zu sein. Denn die Aufgabe scheint theoretisch unlösbar: die konfliktuale, daher unvermeidlich "pluralistische" Konstitution in eine Verfassungstheorie zu konvertieren, ohne die drei Eckpfeiler des Systems Schmitts: i) die Souveränität, ii) den parteipolitisch neutralen Staat bzw. iii) die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, preiszugeben. Meine Vermutung ist, daß diese Forderungen nicht von B1, sondern nur von einem Oreierspiel, genauer: vom Doppelkonflikt erfüllt werden. Dem hier entwickelten Begriff "konfliktuale Konstitution" liegt Carl Schmitts "Der Begriff des Politischen" zugrunde. Ihrer Intention nach ist sie deckungsgleich mit der These: der Schlüssel zu Schrnitts Staatslehre sei der Begriff des Politischen 5°. Damit hört jedoch jede weitere Gemeinsamkeit auf. Denn die Aussage, die Böckenförde aus dem "Begriff des Politischen" herauspräpariert: der Staat sei die "politische Einheit" des Volkes, ist Schmitts konsensorientierter Begriff des Politischen. Daß ihre Übernahme in den BdP sehr problematisch ist, daß Schmitt die beiden Prinzipien nur äußerlich Olson 131. Forsthoff, in: Epirrhosis. Festgabe für Carl Schmitt, l. Teilband, S. 185. 50 Ernst-Wolfgang Böckenförde: Der Begriff des Politischen als Schlüssel zum staatsrechtlichen Werk Carl Schmitts, in: Quaritsch (II) 283 ff. 48

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nebeneinander gestellt hat, ohne ihren Unterschied wahrzunehmen bzw. ihren Zusammenhang herauszuarbeiten, war das Thema unserer bisheriger Bemühungen. Einige Beispiele aus Böckenfördes Aufsatz überzeugen, daß sein Rückgriff auf den BdP nur vordergründig ist, weil er gerade das Konflikprinzip ausspart. 1. Der Begriff der Souveränität sei unabdingbar für das Staatsrecht. Dem kann man vorbehaltlos zustimmen. Doch die Verfassung als die Formentscheidung des "Ganzen" ist nur in der Verfassungslehre konsistent. Nach dem BdP ist die politische Einheit der "maßgebliche" Konfliktpartner, also gerade nicht das Ganze, und die Verfassung eine Entscheidung gegen den Feind. 2. Der Staat ( = das Politische) liege der Verfassung voraus. Das ist die spezifische Aussage der VL, nicht des BdP, der in einem einmaligen Entwurf eine andere Ordnungsrelation, das Politische vor dem Staatlichen, aufstellt. 3. Die Notwendigkeit eines "pouvoir neutre" innerhalb der staatlichen Organisation. Daß die Neutralität erst in einem Drei-Personen-Spiel fingiert werden kann, scheint den Hinweis auf den BdP schon eher rechtfertigen. Aber die Schwierigkeiten der Fiktion werden von Böckenförde nicht einmal angedeutet, geschweige denn gelöst, und die Neutralität der Bürgerkriegspartei "Staat" ergibt sich bei ihm offensichtlich aus dem Anspruch, die "politische Einheit" zu repräsentieren. Auch hier wurde der Rahmen der VL nicht gesprengt.

14. Die Approximation: Ausnahme und Normalität 14-1. Juristische Fiktionen erfüllen eine analoge Aufgabe wie die Approximationen in den Naturwissenschaften. Größen, die in einem unendlichen Rechenprozeß ermittelt werden müßten, ersetzt man durch einen Näherungswert. Der Jurist ersetzt die unendliche Fülle, das Kontinuum des Sachverhaltes, den "oft rational nicht ausschöpfbaren Gehalt der Rechtsverhältnisse" oder das "nicht immer erfaßbare Wesen der Rechtsinstitutionen" 1 durch eine kleinere Anzahl von Merkmalen. Der Tatbestand oder die Typen approxirnieren die "Wirklichkeit" wie der rationale Näherungswert die reelle Zahl.

Die Fiktion ist, nicht nur für die Naturwissenschaften, sondern auch für die Jurisprudenz, das Mittel zur "Verendlichung" der Welt. Wer diese Notwendigkeit nicht erkennt oder anerkennt, wird Setzungen und Kodifizierungen gerade deshalb ablehnen, weil sie den Reichtum der "konkreten" Institution, den "Volksgeist" (Savigny) nur unvollständig approximieren. Die Börse und die Mikroelektronik erfordern sehr unterschiedliche Approximationsgrade, beide approximieren jedoch quantitativ. Die juristischen Fiktionen sind Approximationen der Qualität. (Bleiben wir zunächst bei dieser etwas groben Gegenüberstellung.) Die Rechtswissenschaft verwendet Begriffe oder 1

D ahm 66.

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Dritter Teil

einzelne Merkmale, deren technische Bedeutung je nach dem Sachgebiet mehr oder weniger abweichend festgelegt wird. Der Begriff "Fluß" z. B. kann "im Sinne" eines Umweltgesetzes andere Akzente haben als "im Sinne" der Schiffahrtregelung oder anderer Verwaltungsgesetze 2 • Das bedeutet nicht, daß die Rechtswissenschaft die "Wirklichkeit" nach unterschiedlichen Maßstäben beurteilt oder daß sie nicht fähig ist, sich zu einer einheitlichen Betrachtungsweise durchzudringen, sondern nur, daß für verschiedene Zwecke verschiedene Approximationen erforderlich bzw. ausreichend sind. Qualitative Approximationen sind tiefgreifendere Fiktionen als die der Naturwissenschaft, weil sie u. V . zweifelsohne vorhandene und empirisch feststellbare Merkmale der Umwelt mit anderen Merkmalen ersetzen und sie gewissermaßen verfälschen. (Aus diesem Grunde werde ich alternativ auch den Ausdruck "Transformation" verwenden, weil er beide Termini: das Substituierte und den Ersatz, gleichermaßen betont.) Die Notwendigkeit der "Fälschung" besteht für den Naturwissenschaftler, der nur das Seiende approximiert, nicht. Eine Länge bleibt eine Länge, unabhängig davon, mit welcher Genauigkeit ihr Maß erfaßt wird. Theorien des Handelns, insbesondere normative Theorien, approximieren jedoch nicht das Seiende, sondern das Seinssollende. Solange sie durch unvermittelte Dezision verkünden, was als Norm zu gelten hat, sind sie auf Fiktionen nicht angewiesen. Erst wenn sie die gewünschte Rechtsfolge aus einem Tatbestand herleiten wollen, benötigen sie Approximationen. Auch Schmitts historische Übersicht über die "Entstehung der Verfassung" (VL § 6) läßt keinen Zweifel daran, daß er die demokratische Theorie der verfassunggebenden Gewalt für eine transformative Fiktion hält, um innenpolitische, staatsrechtliche usw. Folgen zu erzwingen. Dies gilt entsprechend auch für andere Verfassungstypen, die andere Zwecke mit anderen Fiktionen anstrebten (z. B. die Verfassungstheorie der Restauration, die sich mittelalterlicher Vorstellungen des Ständestaates bediente, "um den demokratischen Konsequenzen der nationalen Einheit zu entgehen" 3 ) . Wenn die Fiktionen nicht deskriptiven, sondern normativen Charakters sind, dann ist die vorrangige theoretische Aufgabe weniger, sie durch wirklichkeitsgetreue Beobachtungen zu widerlegen, sondern vielmehr ihre Konsistenz mit anderen Fiktionen bzw. der gewünschten Rechtsfolge zu prüfen. Es scheint mir, daß Wirklichkeitstreue Grundannahmen nicht nur in der Rechtswissenschaft, sondern auch in den Sozialwissenschaften unerwünschte Nebeneffekte haben können, die durch weitere Annahmen neutmlisiert werden müssen. Ein klassisches Beispiel hierfür sind m. E. die Verwicklungen der Pluralismustheorie. Ihre Abneigung gegen jegliche "Homogenität" beruht auf der nüchternen und zutreffenden Feststellung, daß in der politischen Wirklichkeit, weder im Normal- noch im Ausnahmezustand, kein homogenes Gesamtsubjekt wie "die" 2 3

Larenz 216 (mit anderen Beispielen). VL 51.

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verfassunggebende Gewalt zu beobachten sei. Doch die scheinbare Überlegenheit des realistischen Standpunktes verflüchtigt, sobald man über den unmittelbaren Ausgangspunkt hinausgeht. Denn unter der Annahme der (und nur der) Pluralität ist es unmöglich, die Konfliktentscheidung, den Friedensvertrag usw. als den Willen beider Subjekte (nicht als Überstimmung und Überwältigung der Minderheit) zu fingieren. Im Extremfall ist auch die Verfassung, die staatliche Souveränität usw. nichts als eine erfolgreiche Entscheidung gegen den Feind. Sämtliche Zusatzannahmen (Minimalkonsens, Übereinkunft über Verfahrensregeln usw.) holen in abgewandelter Form und auf unkontrollierbaren Umwegen nur das nach, was man zu Beginn abgelehnt hat: eine empirisch nicht nachweisbare, aus normativen Gründen jedoch unvermeidliche "funktionale" Homogenität explizit vorauszusetzen. -Analog verhält es sich mit der ebenso heftig infragestellten liberalen Fiktion der "Trennung von Staat und Gesellschaft". Eine unabdingbare Bedingung, die Approximationen erfüllen müssen, ist, daß man die Grenzen, innerhalb deren sie sinnvolle Ergebnisse liefern und außerhalb deren sie versagen, im voraus bestimmt4 • Es hängt von den Besonderheiten des Anwendungsgebietes ab, welche (quantitative oder qualitative) Genauigkeit erforderlich ist. Die Grenzen werden in den Naturwissenschaften scheinbar nach sachlicheren Kriterien bestimmt als in der Jurisprudenz, wo sie in der Regel von einer Dezision abhängen. Denn qualitative Fiktionen sind zweckrationale Postulate, die einen gewissen Erfolg erzielen und gewisse Folgen ausschließen sollen. Doch gerade die instrumentale Bestimmung des Rechts erlaubt nicht, daß man die Approximationen gänzlich willkürlich gestaltet, wenn sie einen bestimmten Erfolg erzielen sollen. Die Naturwissenschaften und auch viele andere Disziplinen, die die menschliche Handlung zum Gegenstand haben, können die Erfahrungswelt in disjunkte Bereiche einteilen. Befindet sich der Gegenstand, der "Fall" usw. innerhalb des Sachgebietes, so ist die Approximation zulässig, andernfalls ist sie nicht anwendbar. Der Nationalökonom braucht nicht zu befürchten, daß ihn unvorhersehbare ökonomische Phänomene zwingen würden, sich in den mikroskopischen Bereich zu begeben, und der Atomphysiker darf nicht hoffen, daß er zuweilen mit dem Instrumentarium auch nur des Apothekers zurechtkommt. Sie können die Welt mit der einfachen Logik des Ja und Nein aufteilen, weil sie mit keinen Überschneidungen zu rechnen brauchen. Es scheint, daß durch diese Absteckung für den Naturwissenschaftler genau das vorgegeben wird, was für den Juristen der " Normalfall" ist. Wenn gewisse 4 Die Methode der Soziologie, nicht direkt wahrnehmbare Variablen mit Hilfe von Indikatoren zu operationalisieren, ist par excellence eine Approximation. Indikatoren machen unmeßbare Variablen (Deprivation, Intensität des Konflikts) usw. erst meßbar. Die Konfliktforschung liefert instruktive Beispiele dafür, wie unzureichend die Indikatoren approximieren, wenn ihr ,.normaler" Anwendungsbereich nicht erkannt oder mißachtet wird (s. Weede).

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Dritter Teil

Bedingungen der Situation erfüllt sind, dann - und nur dann - darf die komplexe Wirklichkeit durch ein einfacheres Schema ersetzt werden. In diesem Sinne stellt Schmitt fest, daß das Gesetz auf eine bestimmte normale Situation zugeschnitten sein muß, wenn sie nicht unwirksam bleiben oder ungewollte Wirkungen hervorrufen soll. Das besagt im wesentlichen nichts anderes als Erich Kaufmanns Feststellung: "Alle Verfassungen[...] sind zugeschnitten auf das normale Funktionieren aller Organe" 5 • Nach Forsthoff reduziert sich in der Normallage "die aktuelle Rechtsgeltung der Verfassung auf das Verfassungsgesetz" 6 -ein typischer Approximationsgedanke. (Sie rechtfertigt gewissermaßen die Kritik an Schmitts Unterscheidung, jedoch nur insofern als sie "im Normalfall" äquivalent sind). Nach Heck stimmt im Normalfall das Ergebnis der Subsumtion, der logischen Auslegung des Gesetzes mit der Interessenwertung überein-oder umgekehrt: der Normalfallliegt vor, wenn die beiden übereinstimmen 7 • Mit anderen Worten: im Normalfall approximiert die Subsumtion die (Wert)Entscheidung. Die typischen Gleichsetzungen, mit denen der Rechtspositivismus operiert hatte (Recht = Gesetz 8 , Legitimität = Legalität usw.), waren ebenfalls Approximationen, die außerhalb der Normalität des liberalen Gesetzgebungsstates ihre Gültigkeit verlieren. (Dem GG liegt offensichtlich eine andere Normalität zugrunde, denn sie unterscheidet zwischen Gesetz und Recht). Die genauere Bestimmung dessen, was als Normalität gilt oder zu gelten hat, wird oft in das Vorfeld, in das "Vorverständnis" der entsprechenden Disziplin hinausgedrängt und es besteht die Gefahr, daß das Bewußtsein der nur bedingten Gleichsetzbarkeil verlorengeht. Viele Argumente im sog. Methodenstreit wären wahrscheinlich entfallen, wenn Positivisten wie ihre Kritiker auf die Randbedingungen dieser Gleichsetzungen genauer geachtet hätten. Die Normallage, die die Kelsensche Approximation: "Staat = Recht" nicht nur sinnvoll, sondern geradezu unwiderlegbar und jedes Gegenargument gegenstandslos macht, ist, daß sich einer der konkurrierenden Rechtssetzer durchgesetzt hatte. Es ist grotesk, daß sich die meisten Kritiker der Reinen Rechtslehre auf die Folge, nicht auf die Bedingung konzentrieren. Entfällt diese Normallage, dann bleibt die Approximation nur noch im uneigentlichen Sinne erhalten, daß man die freie Wahl hat, die in den Lücken der Rechtsordnung agierenden Organisationen als "Staat im Staate" oder aber "Rechtsordnung in der Rechtsordnung" zu bezeichnen. Das sind einige Beispiele, die verdeutlichen, daß die Zulässigkeil von Fiktionen von der Bestimmung eines normalen Anwendungbereiches abhängt. Es wäre jedoch voreilig zu glauben, daß für den Juristen die Normalität lediglich Die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Häberle (Ill) 157. Forsthoff(II) 213. 7 Heck (I) 108. 8 Über die sozialpolitischen Bedingungen dieser Gleichsetzung vgl. Ernst Forsthoff: Der moderne Staat und die Tugend, in: Forsthoff (II) 18 f. 5

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eine Art Grenzziehung ist. Der Jurist kann seinen Gegenstand, die Menge der "Fälle", nicht sauber in Sachbereiche (Straf-, Privat-, Steuerrecht usw.) einteilen. Die Überschneidungen zwingen ihn, die Begriffe, die Merkmale und die Typen nicht nur "im Sinne des Gesetzes", das seinen Sachbereich betrifft, anzuwenden. Es genügt in der Regel nicht, daß er auf fremde Gebiete ausweicht und denselben Fall im Sinne verschiedener Gesetze betrachtet. Sondern er muß die verschiedenen Aspekte unterschiedlich gewichten, er muß insbesondere eine vorrangige Unterscheidung treffen zwischen dem, was im Fall als "normal" bzw. als "Ausnahme" erscheint. Vielleicht kann man die allgemeinere Aussage riskieren, daß alle Disziplinen, die ihr Objekt nicht nur quantitativ, sondern qualitativ approximieren, mit der bloßen Absteckung eines Bereiches nicht auskommen, sondern sie müssen eine feinere Unterscheidung treffen. Die Ausnahme ist für sie nicht das Andere und das Fremde, das außerhalb der Grenzen des eigenen Bereiches verwiesen werden kann, sondern sie drängt in das eigene Gebiet hinein und man muß mit ihm dort fertig werden. Die "introvertierte" Auffassung vom Rechtsstaat verkennt diese Eigenart der Handlungstheorie und hält es für "wissenschaftlich wenig fruchtbar, von einem Staatsbegriff auszugehen, die auf so hoher Abstraktionsebene liegt, daß unter ihn der totalitäre Staat ebenso wie der demokratische Verfassungsstaat fällt" 9 • Sie möchte auch die Wirklichkeit des Handeins nach der mechanischen Dichotomie der Naturwissenschaften darstellen: Ein Handlungssystem ist entweder ein Verfassungsstaat oder aber gar kein Staat. Aber auch dieser reduzierte Normativismus verfolgt mit seiner Fiktion ein praktisches Ziel: die Beschränkung des Staates ausschließlich aus der in seiner Verfassung festgelegten Kompetenzordnung herzuleiten und die theoretisch wie "moralisch" unbequeme Perspektive, die ihr unterliegende ursprüngliche Dezision nicht wahrnehmen zu müssen. Man kann dazu nur anmerken, daß es für die Biologie oder die Medizin nicht nur wenig fruchtbar, sondern geradezu katastrophal wäre, wenn sie den Begriff des Organismus und des Lebens so eng fassen würden, daß der möglicherweise kranke Organismus nicht darunter fällt. 14-2. Die bekannteste und am häufigsten in Frage gestellte Fiktion ist im Art. 38 GG enthalten: Der Abgeordnete sei Repräsentant des "ganzen Volkes". Die Formel ist für die Rechtssprechung bindend, die weitere politische Öffentlichkeit ist geteilter Meinung über ihren Wahrheitsgehalt. Selbst wenn sie in der parlamentarischen Rhetorik immer wieder auftaucht, ist sie, im Hinblick auf die Wirklichkeit des Parteiwesens, unhaltbar. Sie wird trotzdem hingenommen, weil sie eine präzise umschriebene Rechtsfolge (die im selben Satz ausgesprochen wird) erzwingen soll: der Abgeordnete ist nicht an Weisungen oder Aufträge gebunden, er wird dem Zugriff der wirklichen Repräsentierten, der Partei und des Wahlkreises, entzogen. Die faktische Einflußnahme kann zwar nicht verhindert werden, andererseits kann sie jedoch nicht verrechtlicht 9

Grabitz 199. Vgl. auch den Abschnitt 13-3 oben.

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Dritter Teil

werden, der Repräsentierte hat keine rechtsförmig durchsetzbare Ansprüche gegen den Abgeordneten. Die Fiktion: das Ganze zu vertreten, ersetzt die wirkliche mit einer gedachten Situation, in der die gewünschte Rechtsfolge "folgerichtig" eintreten müßte. Insofern ist sie eine Approximation (Transformation) in unserem Sinne. Es ist zugleich zu präzisieren, in welcher "Normallage" sie funktioniert. Sie beruht auf einigen stillschweigenden Annahmen: daß die Partei i) eine innere demokratische Struktur besitzt, und ii) ein übermächtiger Konfliktpartner ist, dem gegenüber der Abgeordnete (nicht umgekehrt) geschützt werden soll. Entfallt diese Situation, weil etwa die Partei eine straff organisierte, auf dem "demokratischen Zentralismus" oder dem Führerprinzip beruhende Kaderpartei ist, und der "Abgeordnete" möglicherweise der Exekutive angehört, so würde die Regelung, ihrem ursprünglichen Zweck widersprechend, den stärkeren Konfliktpartner gegen den schwächeren in Schutz nehmen und die faktisch mäßigende Wirkung der Machtbasis außer Kraft setzen. Die Schutzfunktion des Art. 38 GG unterstützt auch die Vermutung, daß zwischen diesem Artikel und dem Art. 21 GG eine ,,Spannung" herrscht. Denn der letztere instituiert eine konkurrierende Instanz, die den Willen des "Ganzen" nicht nur "auslegt", sondern ihn zugleich "bildet". Es wird damit kein "normativer" Widerspruch auf der Verfassungsebene verankert 10 , sondern nur eine mögliche Interessenkollision zwischen zwei Verfassungsorganen anerkannt und berechenbar gemacht. Diese Spannungssituation kann (und braucht) nicht mit der Formel verharmlost (zu) werden, daß die beiden Artikel sich gegenseitig begrenzen und ergänzen. Eine solche Spannungslage kann nur für die Idealvorstellung ungetrübter Harmonie als legitimitätsmindernd wirken. Andererseits ist die Fiktion des Abgeordneten, der das "Ganze" repräsentieren soll, keine glänzende Lösung eines rechtlichen Problems, weil sie unbeabsichtigte Nebenwirkungen begründen kann. Sie verankert nämlich einen "Einheitsbegriff': wenn auch nicht unmittelbar die "Einheit der Verfassung", so doch den Begriff des "Ganzen" 11 . Das "ganze Volk" ist ein, den tatsächlichen partikularen Repräsentierten substituierter Auftraggeber, der keinen Gegenspieler hat. Ob diese Nebenwirkungen tatsächlich eintreten oder nicht, hängt von der Entscheidung der Frage ab: Warum wurde die Formel "Repräsentant des Ganzen" in den Verfassungstext aufgenommen? Denn begriffsnotwendig ist sie nicht. Würde man sie streichen, so bliebe die intendierte Rechtsfolge ungesobmälert erhalten. Zwar hätte der Art. 38 einen deutlicheren dezisionistischen Charakter, weil die "Begründung" entfällt. Andererseits ist sie keine wirkliche Begründung, denn das, was sie begründen soll, ergibt sich erst aus dem Begründeten. richtig: Müller (IV). Vgl. die in vieler Hinsicht begründete Kritik an dieser Argumenta tionsfigur des BVerfG: Müller (IV); vgl. auch den Abschnitt 13-6 oben. 10 11

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Würde also die herrschende Meinung die Auffassung vertreten, daß der Zusatz "Vertreter des ganzes Volkes" wegen einer gewissen Trägheit des Denkens, eines Lapsus des Verfassunggebers in das Grundgesetz einer pluralistisch-parteienstaatlichen Demokratie eingeschlichen sei, so wäre die Berufung auf das "Ganze" eine altmodische Stilblüte des Konstitutionalismus, die ihre ursprüngliche Funktion verloren hat 12 • Sie wäre eine überflüssige aber harmlose Redeweise: ihre Rechtswirkung ginge nicht über diesen Schutz hinaus, sie begründete keine höhere Entität, insbesondere keinen überpositiven Rechtsgedanken. Wird dagegen die Auffassung vertreten, daß der Zusatz keine tautologische Ergänzung ist, dann erlangt er die Würde eines Rechtsgedanken, das im Verbot des imperativen Mandats nur teilweise positiviert, nicht jedoch erschöpft und daher durch Analogie auf ähnlich gelagerte Spannungsfälle anwendbar, ist. Damit würde zwar der fragwürdige Topos "Einheit der Verfassung" nicht unmittelbar verankert, man würde ihr jedoch, auf dem Umwege eines ganzheitlichen Subjekts ein Stück näher kommen. Und auch das Begründungsschema der Konfliktentscheidung im Art. 38, nämlich daß der Repräsentant des "Ganzen" schutzwürdiger ist als der des Teiles, scheint mit der "orakelhaften" Interpretationsformel "Wertordnung des Grundgesetzes" konsistenter zusammenzuhängen als mit der Gleichrangigkeil aller Verfassungsnormen. Es ist nicht der Zweck dieser Arbeit, in dogmatischen Fragen der Verfassungsauslegung mitzureden. Wir sind auf das Problem nur deshalb detaillierter eingegangen, weil es einen typischen Fall darstellt, in dem die Fiktion dem "Normbereich" kaum, dem "Normprogramm" um so mehr, entspricht. Wir hätten auch andere Beispiele zitieren können, in denen die wirklichkeitsnahe Betrachtung zu katastrophalen Ergebnissen führen würde: wenn man etwa die Achtung der Menschenwürde von empirisch nachweisbaren Bedingungen abhängig machen würde. Wenn hier die Bedenken gegen die Diskrepanz zwischen Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit restlos entfallen können, so ist nicht einzusehen, warum sie z. B. bezüglich der "Trennung von Staat und Gesellschaft" usw. nicht zulässig sein sollte und warum Juristen mit Soziologen und Politologen wetteifern, um sie zu denunzieren? 14-3. Wir erinnern an unsere zwei "Akteure", Kern (K) und Peripherie (P). Wir haben angenommen, daß K seine ideale Präferenzordnung gegen P durchsetzt und P seine ideale Präferenzordnung zugunsten seiner aktuellen, in der konkreten Lage durchsetzbaren Präferenzordnung aufgibt 13 • Zumal eine "Einigung" der beiden vorliegt, kann man von den Umständen, die von P als "Zwang" gedeutet werden könnten, sowie von der unterschiedlichen Qualität der Präferenzordnungen abstrahieren. Der Wille des Siegers kann in einen 12 Sie hatte den Schutz des Abgeordneten gegen den Adressaten der Repräsentation (die monarchische Exekutive), nicht gegen den Repräsentierten selbst, begründet. 13 Vgl. das Kapitel 4 oben.

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Dritter Teil

Willen des Ganzen, der Sieger selbst in einen "Repräsentanten" des Gesamtwillens, umgedeutet werden. Zwangstheorie und Konsenstheorie sind verschiedene Perspektiven desselben Vorgangs: die Rechtsordnung kommt in einer Konfliktssituation zustande als ein Friedensvertrag, dem auch der Besiegte zustimmt. Die wirkliche Situation wird durch B2 beschrieben, insofern besitzt das Konfliktschema eine zentrale Bedeutung in jeder Konstruktion. Es sind also zwei Transformationen möglich: von B2 auf B1 bzw. von B2 auf B3. Hinter jedem von beiden steht ein legitimatorisches Interesse. Der moderne Staat leistet mit der innerstaatlichen Befriedung zweierlei: er eliminiert den inneren Feind und erkennt nur noch einen einzigen, alleinentscheidenden Souverän an. Dadurch schafft er eine Situation, in der zwischen Tausch und Zwang, zwischen Recht und Unrecht usw. unterschieden werden kann. Beide Leistungen bereiten das Terrain für zwei Arten von Fiktionen vor. Durch den Übergang von B2 auf B1 wird überhaupt erst möglich, von "objektivem" Recht zu sprechen 14 • Der Übergang von B2 auf ein Dreierschema (H3) ermöglicht auch, Neutralität zu fingieren. Durch die beiden Bewegungen wird das primär "Politische", der existenzielle Konflikt, auf entgegengesetzten Wegen aus dem Staat gedrängt. Die erste Fiktion besteht darin, daß man die reelle Situation B2 durch das Konsensschema B1 ersetzt. Es gibt zwei Hauptvarianten, in denen die Transformation nach "unten" vollzogen werden kann: a) Quantitativ: Der Gegner konvergiert gegen Null bzw. verschwindet gänzlich, bis nur noch ein einziges Subjekt übrig bleibt: der Souverän, der pouvoir constituant. Die Verfassung ist kein Friedensvertrag, sondern die Entscheidung des isolierten Subjekts. Wenn das Ziel der Fiktion ist, die Einsetzung eines Souveräns, gewisse Verteilungskriterien usw. zu rechtfertigen, dann wird der ursprüngliche Konflikt und der differenzierte Konsens durch den Vertrag aller mit allen, mit der Fiktion der vollständigen Konkurrenz verdeckt. Betrachtet man die Grenzen der beiden kollektiven Subjekte als variabel, so läßt sich feststellen, daß die Entscheidung gegen einen Inhalt der Grenzfall der Entscheidung gegen einen Feind, den Träger des Inhalts, ist. B2 konvergiert gegen B1, wenn der eine (der unterlegene) Akteur gegen "Null" geht. Das ändert auch die Qualität der Verfassung. Eine Formentscheidung, die sich nicht gegen einen Gegner richtet, ist eine declaratio, keine constitutio. Die Vorstellung von vorstliatlichen, d. h. selbst dem Zugriff des pouvoir constituant entzogenen Grundrechte hat zur Konsequenz, daß die unantastbaren Grundrechte lediglich deklaratorisch sind und andere Grundrechte bekommen in dem Maße einen Entscheidungscharakter, in dem der Gesetzgeber zu Eingriffen befugt ist. 14 B2 ermöglicht lediglich subjektive Rechte auf Abwehr oder auf die Geltendmachung eigener Ansprüche - eben auf Angriff.

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b) Qualitativ: Der Gegner wird nicht quantitativ weginterpretiert, weil die Fortsetzung des Kampfes legitimatorisch wichtig ist. Es wird ihm daher nur die Person-Qualität aberkannt. Damit ändert sich die Qualität des Kampfes: er wird aus sozialem zu technischem Handeln - Handeln gegen eine "schädliche" Natur. Insofern birgt sie den Keim der Steigerung der Feindschaft- outrance, leitet "Ia regression du combat aIa Iutte" ein 15 . - Mir scheint, daß dieser Aspekt der Transformation, die interpretative Verwandlung des "sozialen" in bloß "technisches" Handeln, dem Tatbestand der "Steigerung" besser entspricht, als die widersprüchliche Vorstellung einer Intensitätsskala 16 • Die Transformation B2/B1 muß also unter zwei Gesichtspunkten betrachtet werden. Sie ermöglicht einerseits, die subjektiven Urteile der Konfliktpartner in "objektives" Recht zu verwandeln. Andererseits trägt sie den Keim einer qualitativen Beseitigung des Konfliktspartners, der Steigerung der Feindschaft. Es ist fraglich, ob diesem Dilemma überhaupt zu entrinnen ist. Die Transformation B2 j B1 erscheint bei Marx auf geschichtsphilosophischem Maßstab. Es ist angebracht, auf diesen Punkt kurz einzugehen, weil es versucht wurde, Schmitts Konkfliktsschema mit der Theorie des Klassenkampfes in Verbindung zu setzen 17 • Der Begriff des Politischen hat, insbesondere wenn man ihn als ein Prinzip der Staatskonstruktion versteht, Ähnlichkeiten mit der Theorie des Staates als Instrument der Klassenherrschaft. Beim näheren Hinsehen gibt es jedoch drei Merkmale, die die Verwandtschaft ausschließen. Erstens gibt es bei Marx ein festgeschriebenes Drehbuch, das die Rollen "Freund" und "Feind" endgültig verteilt, den Konfliktsgegenstand und den Ausgang des Kampfes endgültig festlegt. Der BdP lockert dagegen dieses starre Schema auf, nicht weil er keinen Inhalt annimmt, sondern im Gegenteil, weil er jeden Inhalt zuläßt. Zweitens ist bei Marx die Entscheidung gegen den Feind das Mittel einer traditionellen, also "falschen" Politik. Im Endzustand der Weltgeschichte, in der klassenlosen Gesellschaft verschwinden Freund und Feind, Staat und Politik. Dagegen ist für Schmitt der Konflikt kein transitorisches, sondern ein perennierendes Prinzip und die Marxsche Vision ein erschreckender Friedhofsfrieden. Drittens wird die Marxsche Geschichtsphilosophie nicht als eine legitimatorische Fiktion für den bestehenden Staat, sondern ein realer Prozeß, die "Vorgeschichte" der Menschheit, verstanden. Er ist nicht im aufklärerischen Manier gedacht, als eine Konvergenz von Konfliktszuständen gegen einen Ruhe- oder Sattelpunkt, sondern ein Prozeß, in dem Konflikte immer globaler und intensiver werden, bis sie durch einen wundersamen Sprung ins andere Extrem, in den totalen Frieden umschlagen.

Freund (II) 77 f. BdP 30. Schmitt ortet das "Politische" als einen Extrempunkt dieser Skala, später spricht er jedoch davon, daß eine weitere Steigerung ins "Moralische" möglich ist. 17 Hofmann 118. Vgl. auch 5-4 oben. 15

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Dritter Teil

14-4. Die Unterscheidung zwischen Ausnahme und Normalität ist mittlerweile Gemeingut der juristischen Methodologie. Insbesondere ist sie ein Instrument der Konkretisierung, oder umgekehrt: die Konkretisierung kann gerade die Randbedingungen ermitteln, deren Nichterfüllung die Norm unanwendbar machen, obwohl sie nach Wortlaut anzuwenden wären. Schrnitt hat sie auf verfassungsrechtliche Detailprobleme angewandt, u. a. auf die Auslegung von Art. 54 Satz 2 WRV.

Das Institut des Mißtrauensvotums ist eine typische "Approximation durch Verfahrensregeln". Das (nicht-konstruktive) Mißtrauensvotum nach WRV war das Instrument, das das Vertrauen in die Regierung approxirnierte. Scheiterte es, so galt das Vertrauen als vorhanden. In Wirklichkeit war das eine schlechte Approximation. Denn die Regierung genoß oft kein Vertrauen, sondern wurde gerade nur toleriert, um ein größeres Übel abzuwenden. Und umgekehrt: ein gelungenes Votum bedeutete nicht, daß ein anderes Kabinett größeres Vertrauen genossen hätte, sondern es war in Wirklichkeit keine Alternative vorhanden, und oft wurde, nach einer Übergangszeit, die neue Regierung annähernd in der alten Zusammensetzung ernannt. Das konstruktive Mißtrauensvotum verfährt symmetrisch dazu und approximiert das Mißtrauen gegen eine Regierung mit dem gelungenen Vertrauensvotum zugunsten einer anderen. Gegen Art. 67 GG wurde (der Sache nach) eingewendet, daß er das Mißtrauen genau so fehlerhaft approxirniert wie die WRV das Vertrauen: trotzgescheiterter Kanzlerwahl brauche kein wirkliches Vertrauen in den amtierenden Regierungschef vorhanden zu sein 18 • Das ist zweifellos richtig. Trotzdem entspricht die Regelung nach GG dem unterstellten "Wesenszweck" (Kaufmann) der Institution Parlament, eine regierungsfähige Exekutive zu stellen, besser. Sie verhindert, daß der parlamentarische "Ausnahmezustand": geschäftsführende, Notstands- und Übergangsregierungen zur Normalität werden. Die WRV und das GG verteilen eben Ausnahme und Normalität auf entgegengesetzte Art und Weise 19 • Schrnitt hat das Begriffspaar, das er mitgeprägt hat, auch an die Spitze der Staatskonstruktion, der Rechtsordnung erstreckt. Dieser Schritt ist methodologisch nicht nur zulässig, sondern geradezu unerläßlich. Wenn Laien ihm nach sachfremden Kriterien mißtrauisch begegnen, so ist das zwar nicht erfreulich, aber zumindest verständlich. Die Widerstände rühren zum Teil, wie schon erwähnt, vom mechanisch-begriffsjuristischen Ideal her, jede Frage mit Ja oder Nein zu beantworten. Andererseits drücken sie die Befürchtung aus, daß die methodologische Berücksichtigung der "Ausnahme" dazu führt, den "Ausnah18 Vgl. die Argumente in: Brandt, Die Bedeutung parlamentarischer Vertrauensregelungen, Berlin 1981, die den Bezug von Art. 54 WRV auf Ausnahme und Normalität verfehlen. 19 Das konstruktive Mißtrauensvotum war mit dem Wortlaut des WRV nicht vereinbar. Schmitt forderte daher lediglich eine "Konkretisierung": die Regierung brauche nicht zurückzutreten, wenn "offensichtlich" Obstruktion vorliegt (VL 345).

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mezustand" zum politischen Zweck zu erheben. Das ist der Hintergrund der immer wieder ertönenden Warnungen, die Ausnahme nicht zum Normalfall werden zu lassen. In welchem Maße diese Gefahr Schmitt bewußt war und daher wie verspätet und abgeschmackt die Warnung ist, zeigt Schmitts frühe Polemik gegen die ältere Interessenjurisprudenz (Jhering) 20 : sie führe letztendlich dazu, daß der Krieg gegen den äußeren Feind und die Unterdrückung eines inneren Aufruhrs nicht Ausnahmezustände bleiben, sondern "der ideale Normalfall" werden. Wenn jedoch Juristen gegen die Unterscheidung eintreten und sich trotz besseren Wissens in das Gerede vom "Situationsrecht" einschalten (um im Handumdrehen die Unumgänglichkeit der Unterscheidung zu beweisen), so ist dies nur ein bedauerlicher Tribut an die herrschende Meinung21 • Schmitts Vorwurf gegen Jhering bestand in der Feststellung, daß die Bereitschaft, im Kern allen Rechts einen Zweck zu sehen, den Ausnahmezustand perpetuiere. Aus dem Kontext geht jedoch hervor, daß es nicht so sehr das Denken in den Kategorien des Zweckes ist, was diese Gefahr heraufbeschwört, sondern die Annahme, es gebe eine unabänderliche, objektive Rangordnung der Zwecke. In Wirklichkeit kann die Präferenz: "Selbsterhaltung des Staates" vor der "Rücksicht auf den einzelnen" nicht minder zerstörefisch wirken als die umgekehrte Rangordnung, deren blinde Durchsetzung zurück zum Naturzustand führen könnte. Die Unterscheidung zwischen Ausnahme und Normalität ermöglicht, zwischen dem freiheitszerstörenden Fatalismus einer objektiven Rangordnung einerseits, und der totalen Unberechenbarkeit der extremen Situation andererseits, einen Mittelweg zu suchen. Die Ausnahme versucht den Fall zu normieren, in dem eine andere Rangordnung der Zwecke zweckmäßig ist als im NormalfalL Sie bricht zwar in die Normalität mit elementarer Kraft ein, sie tut es jedoch nicht als Natur, sondern als anders geartetes Recht. Sie ist nicht der Einbruch des Irrationalen in die Ordnung, sondern im Gegenteil, die Regelung, die Begrenzung des immer wieder drohenden Unregelmäßigen. Die Entscheidung gegen den (inneren) Feind, die im Ausnahmezustand stattfindet, ist nicht nur eine diktatorische Maßnahme. Sondern sie erkennt die Existenz dessen an, was nicht weginterpretiert werden kann und nach der rigorosen Logik des Ja und Nein als ausgerottet gelten müßte. Die Anerkennung der Ausnahme als eines Rechtsinstituts ist das Mittel, die Feindschaft zu begrenzen. 14-5. Der Vorwurf, den Schmitt Jhering machte, war indessen nicht nur unpräzise formuliert, sondern auch ungerecht. Denn Schrnitt war beinahe lebenslang Gefangener eines analog gelagerten Mißverständnisses. Es ist eigentlich erstaunlich, angesichts der unaufhörlichen Warnungen vor Schmitts "wertindifferenten", "wertentleerten" usw. Dezisionismus, wie zäh sein Denken 20

21

D XVII. Vgl. Henkel 13 f.

16 Holczhauser

242

Dritter Teil

um den Gedanken des (objektiven) Wertes kreiste. Anstelle einen Haufen Zitate anzuführen, erinnere ich nur an seine Dissertation, deren Thema der "Wert" des Staates war, und an seine Definition der Repräsentation, die nur als die Repräsentation eines "Wertes" vorstellbar ist. Die Besprechung der Schrift, in der sich Schmitt vom Wertdenken distanziert, soll zugleich hervorheben, inwiefern die Annahme einer objektiven Wertordnung Transformationscharakter hat. Die Verwandlung von Gütern, Zielen, Idealen und Interessen habe im ökonomischen Bereich den guten Sinn, das "Inkommensurable kommensurabel", d.h. vergleichbar und kompromißfahig zu machen 22 • Schmitt hebt die Subjektivität jedes Wertungsaktes sehr eindringlich hervor: es sei unmöglich, den Wert von seinem menschlichen Träger zu trennen. Der Wertbegriff, in diesem Sinne gebraucht, bedeutet nicht mehr (aber auch nicht weniger) als "Interesse". "Wertfrei" besagt dann soviel wie "nicht interessiert", die Kollision von Werten ist Interessenkollision 23 , und der "Kampf der Werte" nur "lnteressenkampr•. Die ganze Wertlehre tue ja nichts anderes, als den alten Kampf der "Überzeugungen und Interessen" zu schüren und zu steigern 24 • Mit der Feststellung: der Wert sei "immer nur für etwas oder für jemanden" 25 , präzisiert Schmitt einerseits etwas sehr Wichtiges, auch wenn er damit nichts Originelles behauptet, sondern sich nur der subjektiven Wertlehre anschließt. Insbesondere geht er damit nicht über Max Weber oder die subjektivistische Nationalökonomie hinaus 26 • Andererseits legt er damit einen anderen Aspekt seiner alten, dezisionistischen Position offen 27 • Wer sagt, daß Werte gelten, ohne daß ein Mensch (d. h. seine Entscheidung) "sie geltend macht", der will betrügen 28 • Das ist die Abwandlung eines, früher gegen den Normativismus gerichteten, Vorwurfs: "Kompetenzfragen damit zu beantworten, daß man auf das Materielle hinweist, heißt, einen zum Narren halten" 29 . Die Entscheidung für einen Wert erfolgt aus dem (axiologischen) Nichts, wie jede andere Entscheidung 30 • Auch die Unterscheidung zwischen ideeller und aktueller TW 39. Bleckmann 221. 24 TW 60. 25 TW 55 (Hervorhebung von mir). 26 Es ist unmöglich, hier auf die Wendung der Nationalökonomie von der objektiven zur subjektiven Werttheorie hin einzugehen. Wir können nur darauf hinweisen, daß ein großer Teil der Geisteswissenschaften immer noch an der alten Lehre festhält, oder die Problemstellung der subjektiven Werttheorie gar nicht erst erkennt. Man entwirft unermüdlich objektive Bedürfnis, Güter- und Wertordnungen. Die Verfasser (in der Regel Kantianer) lassen sich weder von ihrer offensichtlichen Unvereinbarkeit (instruktive Beispiele bei Massing 231 f.), noch vom zentralen Ergebnis der Vernunftkritik, daß die Empirie nur subjektive Erkenntnisse liefert, beirren. 27 Vgl. den Abschnitt 2-7 oben. 2 8 TW 55. 29 PT 44, 42f. Aus dem Kontext geht hervor, daß Schmitt die "Kompetenz" einer letzten Instanz, d. h. die Entscheidung des Normsetzers, nicht des Anwenders, meint. 22

23

14. Die Approximation. Ausnahme und Normalität

Präferenzordnungen ändert daran nichts subjektives Ideal.

243

auch die erstere ist nur ein

Mir scheint andererseits, daß Schmitt diesen Zusammenhang nicht ganz klar erkennt. Nur so kann ich erklären, daß er schließlich sowohl das subjektive als auch das objektive Wertdenken verwirft und die Ursache für ihre potentielle Agressivität31 in Faktoren sucht, die dafür nicht verantwortlich gemacht werden können. Denn die Erklärung liegt nicht schon darin (wie Schmitt glaubt), daß die Wertung auf andere als ökonomische Güter erstreckt wird. Sie besteht auch nicht darin, daß der Wert "materiell" verstanden wird. Denn auch die sog. "formalen" Werte sind materiell, wenn sie von anderen formalen Werten überhaupt unterscheidbar sind. Damit erledigt sich auch die Vermutung, daß es die Beziehung des Wertes zu seiner Negation ist, was die Steigerung der Feindschaft ins Unermeßliche fördere 32 • Weil er letztendlich das subjektive und das objektive Werten gleichsetzt, erwartet Schrnitt die Mäßigung der Feindschaft vom Verzicht auf jede Wertung. "Früher, als die Würde noch kein Wert, sondern etwas wesentlich anderes war", war noch nicht legitim, die Mittel durch den Zweck zu heiligen und Unwerte im Namen des Wertes zu vernichten 33 • Die Frage ist nur, was die durchgesetzten Inhalte waren, als man sie noch nicht als Werte bezeichnete? Schmitt gibt keine Antwort, und das ist vielleicht besser als eine falsche. Denn es wäre trügerisch, auf die scheinbar neutrale "Norm" zu verweisen. Die von seinem Setzer losgelöste, ins Natur- und Vernunftrechtliche gewendete Norm kann, genauso gut wie jeder "universalmonistische Begrifl'', wie jede "regulative Idee" (Gott, Welt, Menschheit) ein furchtbares Instrument menschlicher Herrschsucht werden 34 , und das Schlagwort "wertzerstörende Wertverwirklichung" 35 hätte seine berechtigte Parallele in der Wendung: "normzerstörende Normverwirklichung". Schmitts woanders entwickelte These, das Entfallen rechtsstaatlich hemmender, geordneter Verfahren, der unmittelbare Verfassungsvollzug würde 30 Wertungen seien "im gesellschaftlichen Zusammenleben diskutier- und begtündbar" (Podlech, Wertungen und Wert im Recht, in: AöR 1970, S. 185 ff.). Diese Meinung weicht nur scheinbar von der unsrigen ab. Denn sie kann nach Podlech nur bedeuten, daß die Wertung von einem Wertungsbereich in einen anderen "verlagert" werde (Reduktion). Jede andere Art Begründung würde mit seiner "Unableitbarkeitsthese" kollidieren (S. 197). Die Reduktion ersetzt die individuelle durch die kollektive Wertung, d. h. sie approximiert das "Objektive" mit einem willkürlich gewählten, durch eine andere Wertung bestimmten, Konsensumfang. 31 TW 46. Schmitt scheint sich nicht entscheiden zu können, welches von den beiden das größere Übel ist. Einerseits führe die "rein subjektive Freiheit der Wertsetzung" zu einem "ewigen Kampf der Werte und der Weltanschauungen" und daher gelte das Gebot, die subjektive Wertlehre zu überwinden. Die objektive Wertlehre ist jedoch dazu nicht imstande, sondern "nur schürt und steigert" den Kampf (TW 56fT.). 32 TW 47. 33 TW 61. 34 StE 143. 35 TW 57.

16•

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Dritter Teil

die fundamentalen Sicherungen des Rechtsstaates zerstören 36 , besagt (vielleicht in einer nicht unmittelbar einleuchtenden Abwandlung) das Gleiche. Man kann Schmitt entgegenhalten, daß die Tyrannei der Werte nicht schon dadurch entsteht, daß man überhaupt wertet, sondern dadurch, daß der subjektive Wert in einen objektiven transformiert wird. Anders als in der subjektiven (ökonomischen) Wertlehre kann die objektiv verstandene Wertung das Kommensurable inkommensurabel machen. Sie löst das Interesse von seinem endlichen, in einem Konfliktfeld stehenden Träger und verwandelt es zum Inhalt eines wünschenswerten Konsenses, zum Integrationsfaktor eines legitimierten Akteurenkreises. Oder aber der Inhalt wird von jedem Träger überhaupt gelöst und als die notwendige Konkretisierung von etwas Universalem (z. B der "Vernunft") hingestellt und absolut gesetzt. Man transformiert das Interesse in einen Wert, um es an die Spitze sozialer Präferenzordnungen zu hieven. Es soll dadurch aus dem pluralistischen Interessenkampf, wo seine Stelle (zumindest im Prinzip) nach der Stärke der mobilisierbaren sozialen Gruppe bestimmt wird, eximiert werden. Andererseits wird das entgegenstehende Interesse in einen Unwert verwandelt, sein Träger (tendenziell oder tatsächlich) disqualifiziert und seine Zulassung zum System des legitimen Interessenkampfes verweigert 37 • Die objektive Wertung schafft Qualitätsunterschiede nicht nur zwischen Inhalten, sondern auch zwischen ihren Trägern. Dadurch steigert sie den Konflikt ins Unermeßliche, setzt geregelte Verfahren außer Kraft, läßt die Kategorien des klassischen Kriegsrechts fallen und legitimiert den um die Vernichtung des Unwertes geführten "gerechten Krieg" 38 • Diese Wendung zerstreut nun die Ietzen Zweifel, hier handele es sich um einen anderen Gegenstand als den "Begriff des Politischen" selbst. Das Merkwürdige ist nur, daß sich Schmitts Abrechnung mit dem Wertdenken stellenweise so anhört, als wäre sie die Widerlegung des dort entwickelten Standpunktes. Man meint, es liege eine der flagranten "Zwiespältigkeiten" Schmitts - der imstande ist, einen Gedanken mit unwiderstehlicher Suggestion darzustellen und ihn in einem anderen Zusammenhang ebenso brilliant zu widerlegen- vor. Ich will zeigen, daß Schmitts späte Abrechnung mit dem Wertdenken die Grundidee des BdP auf den Punkt bringt, ohne ihr eine neue Wendung zu geben. Daß die "allgemeine Verwertung" nirgends halt mache, daß sie auch die Grundlagen der "theologischen, philosophischen Existenz" in Werte verwandele39, bietet den Anknüpfungspunkt an das "Politische". Der existenziellen 36 RStVtv insb. 460f. Daß die Logik des Wertes gerade im Lichte des "rechtsstaatlichen Verfassungsvollzugs" am deutlichsten erkennbar ist (TW 51), rechtfertigt diesen Hinweis. 37 TW 46. In einer sozial und weltanschaulich nicht mehr homogenen Gesellschaft verlange man durch die Berufung auf "absolute Werte" ein Privileg für Gruppenziele Böckenförde (I) 65 f. 38 TW 61.

14. Die Approximation. Ausnahme und Normalität

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Feindschaft, der seinsmäßigen Negierung des fremden Seins korrespondiert die wertmäßige Negierung des fremden Wertes, seine Erklärung zum Unwert. Das ist die eine Richtung der Übersetzung. Die Feststellung: "Immer sind es die Werte, die den Kampf schüren und die Feindschaft wachhalten" 40, ist die Übersetzung in die andere Richtung. Wer die Aussage als übertrieben empfindet, kann sie dahingehend relativieren, daß auch der axiologische Gegensatz, auch der Konflikt mit dem Träger fremder Werte die Intensität der Feindschaft erreichen kann. In dieser Form wird sie restlos gedeckt von der These, daß das Politische keinen eigenen Sachbereich hat, seinen Inhalt jedoch aus jedem Bereich menschlicher Tätigkeit schöpfen kann. Die Thematik des BdP wurde damit in die der "Tyrannei" (und umgekehrt) übersetzt. Sie sind Modelle voneinander, d. h. sie beschreiben denselben Gegenstand- nennen wir ihn auch weiterhin das "Politische". Die Korrespondenz läßt einen direkten Vergleich der beiden Entwürfe zu und ermöglicht, eventuelle Inkonsequenzen auf der einen oder anderen Seite leichter aufzudecken. Ich werde mich hier auf zwei Punkte beschränken. Die im BdP aufgestellte These, daß das Politische nicht aus der Welt zu schaffen, eine vollkommene Entpolitisierung nicht möglich, ist, heißt in der Sprache der "Tyrannei" übersetzt: der handelnde, entscheidende Mensch kann die Wertung nicht umgehen. Das führt häufiger zum Konflikt als zum Konsens. Der Wert "lauert auf Vollzug und Vollstreckung" 41 -das kann sich zu einem Kampf in "seinsmäßiger Ursprünglichkeit" 42 steigern. Die "Logik" des Wertes ist das Gleiche, was im BdP als die Gefahr und das Risiko des Politischen genannt wurde. Und ein (wert)neutralisierter Erdball wäre nichts anderes als der "idyllische Endzustand" der restlosen und endgültigen Entpolitisierung. Wenn das Politische nicht bereits dadurch aus der Welt geschaffen wird, daß man nicht von ihm redet, so stellt sich, hinsichtlich des Wertdenkens die doppelte Frage: was führt zur Tyrannei des Wertes und wie kann man sie mildern? Wir haben die Transformation des subjektiven Wertes in objektive (absolute) Werte genannt und als Antwort auf die zweite Frage unterstellt, daß die Einsicht in die Subjektivität der Wertung den Konflikt begrenzen kann. Sie zwingt uns keineswegs die Vorstellung oder das Gebot einer durchgehenden Harmonie aufund will den Konflikt, ja die Feindschaft, nicht weginterpretieren. Sie erlaubt jedoch nicht mehr die (der objektiven Wertlehre eigene) extreme Verteilung, daß die eine Seite nur Werte, die andere nur Unwerte, vertritt. Ihre zwingende Konsequenz ist, daß die Akteure, das Ich und der Feind, trotz der möglichen Unvereinbarkeit ihrer Ziele, Interessen und Ideale nicht andersartig, sondern gleichartig sind. 39 40

41 42

TW 43. TW 54. TW 52. BdP 33.

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Dritter Teil

Man kann in diesem Punkt eine heillose Verwirrung konstatieren, wenn man die Tyrannei mit dem BdP vergleicht. Es ist einerseits verständlich, daß Schmitt die objektive Wertlehre verwirft, denn er fordert J"'a die Hegung und die Begrenzung der Feindschaft. Angesichts der Unvermeidlichkeil des Wertens müßte er sich also explizit der subjektiven Wertlehre anschließen. Dies würde jedoch andererseits, ins "Politische" übersetzt, mit der seinsmäßigen Andersartigkeit der Konfliktpartner (BdP) kollidieren. Aus dieser Unstimmigkeit kann der Interpret, je nach dem, was er als Schmitts "wahre" oder "eigentliche" Absicht unterstellt, zweierlei folgern. Hält er Schmitts Hegungsgebot für authentisch, dann ist die Forderung der wesensmäßigen Andersartigkeit (als Merkmal des Politischen) unhaltbar. Wer dagegen die landläufige Meinung vertritt: Schmitt war am Schüren der Feindschaft und der Vernichtung des Andersartigen interessiert, dem ist die Tatsache, daß Schmitt mit der subjektiven Wertung auch die Gleichartigkeit der Konfliktpartner verwerfen muß, eine willkommene Bestätigung. Der letztere Gedankengang stünde jedoch auf recht schwachen Füßen. Erstens, weil Schmitt nicht nur das subjektive, sondern auch das objektive Wertdenken verwirft, und zweitens weil er die berüchtigte und von Vermutungen und Unterstellungen umrankte These von der "seinsmäßigen Andersartigkeit" des Feindes explizit zurücknimmt. Es sei falsch, ein politisches Problem mit Antithesen von Mechanisch Organisch, Tod und Leben usw. zu lösen. Daß eine Gruppierung auf der "eigenen Seite nur Geist und Leben, auf der anderen nur Tod und Mechanik sieht, bedeutet nichts als einen Verzicht auf den Kampfund hat den Wert einer romantischen Klage" 43 . Das ist die eine Seite: die Resignation. Die andere ist die Steigerung der Feindschaft gegen den völlig Andersartigen. Das ist nicht das Politische, wie Schmitt es meint. Sondern er rückt, völlig unerwartet, die Gleichartigkeit der Konfliktpartner in den Vordergrund. "Denn das Leben kämpft nicht mit dem Tod und der Geist nicht mit der Geistlosigkeit. Geist kämpft gegen Geist, Leben gegen Leben" 44 • Und noch prägnanter in der früheren Schrift: "Feind ist nicht etwas, was aus irgendeinem Grund beseitigt und wegen seines Unwertes vernichtet werden muß. Der Feind steht aufmeiner Ebene. Aus diesem Grunde muß ich mich mit ihm auseinandersetzen, um das eigene Maß, die eigene Grenze, die eigene Gestalt zu gewinnen" 45 • Die Bestimmung des Politischen als eines Konflikts äußerster Intensität zwischen seinsmäßig Fremden einerseits, ihre Zurücknahme im Hegungsgebot N&EP 95. TdP 87f. 45 N&EP 95. Abgedruckt im Bändchen "Der Begriff des Politischen", was den engen Zusammenhang zum Hauptthema über jeden Zweifel erhebt. Schmitt hat den Aufsatz auch in den Sammelband "Positionen und Begriffe" (120 ff.) aufgenommen. Im Jahre 1940 zählte die These von der Gleichartigkeit von Freund und Feind nicht mehr zu den Gedanken, die das NS-Regime hätte gutheißen können. 43

44

14. Die Approximation. Ausnahme und Normalität

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und im Bild des Feindes, der nur die eigene Gestalt, das eigene Maß zu gewinnen hilft andererseits, enthält viel Undurchdachtes und Unausgereiftes. Das Urteil, daß der Begriff des Politischen Schmitts "sachlich-fachlich unzulänglichste" Leistung ist, ist aus rein technischem Gesichtspunkt gewiß nicht verfehlt4ö. Doch die Verwirrung ist kein literarisches Belieben, keine billige Dialektik. Sondern sie ist der Ausdruck der relativierenden und mäßigenden Absicht, die jede Form sprengende Intensität des Konflikts in den Rahmen sozialen Handeins oder des Koordinationsrechts zu zwingen, ohne dabei wiederum bei einem "undifferenzierten Friedensgedanken" zu landen. 14-6. Schmitts vielzitierte Definition hebt besonders prägnant hervor, daß die Souveränität mit Ausnahme, Normalität und ihrem Verhältnis zusammenhängt47. Wir müssen diese Definition genauer ins Auge fassen, weil die konfliktuale Konstitution, schon wegen ihrer dualistischen Struktur, mit der Souveränität scheinbar unverträglich ist.

Die eigentliche Schwierigkeit mit dem Begriff ist nicht, die "Machtvollkommenheit" des Souveräns, sein unbegrenztes, ungebundenes und unkontrolliertes Befugnis zur Gesetzgebung und -änderung zu erklären. Denn die Annahme einer höchsten Instanz (größtes Element einer Ordnungsrelation) ist an sich nichts U ngewöhnliches 48 • Sie wäre konsistent, selbst wenn ihr in der politischen Wirklichkeit kein Modell entsprechen würde oder die Existenz eines Modells gar nicht wünschenswert wäre. Das zentrale Problem ist, die Machtvollkommenheit und Ungebundenheit mit faktischen oder rechtlichen Beschränkungen in Einklang zu bringen49 • Daß der Souverän einerseits legibus solutus, andererseits Bindungen unterworfen ist - nach gesundem Menschenverstand ein Widerspruch -, rief ein lange währendes Unverständnis angelsächsischer Autoren gegenüber Bodin hervor 50 . Diejenigen, die die Notwendigkeit bzw. die geschichtliche Bedeutung des Souveränitätsbegriffs anerkennen, rechtfertigen ihn mit pragmatisch-politischen Argumenten 51 • Das wäre zwar ein Beitrag zu seiner Legitimierung, nicht jedoch die Lösung des Paradoxons. Hofmann 102. Vgl. den Abschnitt 5-3 oben. 48 Seit der Mitte des 13. Jh. machte man einen geradezu inflationären Gebrauch von der so verstandenen Souveränität - vgl. Quaritsch (111) 32 f. 49 Bodins Souverän unterliegt mannigfachen Bindungen: dem göttlichen, natürlichem und Völkerrecht, er ist an Verträge mit fremden Fürsten oder seinen Untertanen gebunden, er darfkeine Steuer erheben ohne Zustimmung seiner Untertanen. Vgl. Ralph E. Giesey: Medieval Jurisprudence in Bodin's Concepts of Sovereignty, in: Denzer 167ff., insb. S. 170. 50 Sie sahen einen Widerspruch zwischen der Forderung nach Allmacht einerseits und ihrer Begrenzung andererseits. Vgl. R. W. K. Hinton: Bodin and the Retreat into Legalism, in: Denzer 303. 51 Bodin "konnte sein Konzept weder philosophisch zu Ende denken noch ein rechtstheoretisch widerspruchsfreies Verhältnis von Recht und Staat entwickeln wollen", 46 47

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Dritter Teil

Mir scheint, daß die wirkliche Innovation Bodins doch nicht auf dem politischen, sondern dem juristischen Gebiet liegt. Sein Souveränitätsbegriff ist ein Verteilungsprinzip: eine extreme Verteilung konfligierender Rechte. Bodins Vorläufer erklärten die Beschränkung der Souveränität nicht juristisch, sondern politisch: aus der Gegenmacht der "Gesellschaft", der öffentlichen Meinung (public Opinion backed by force) 52 -aus einer konfliktualen Situation, in der er faktisch nachgeben mußte. Die entsprechende juristische Konstruktion war, daß dem Souverän nur einzelne, wohldefinierte, erschöpfend aufgezählte Herrschaftsrechte zustehen. Der Kern Bodins Definition ist dagegen die allgemeine Vermutung 53 , daß der Souverän alle Kompetenzen und Rechte hat- ausgenommen diese und jene 54. Als "Normalität" gilt die allgemeine Vermutung zugunsten des Souveräns, und der Eingriff in seine Freiheit ( = das Recht seines Gegenspielers) bleibt eine Ausnahme 55 . Dieses Verhältnis von Normalität (allgemeines Prinzip) und (punktuelle) Ausnahme löst das scheinbar unentrinnbare Paradox einwandfrei56. Bodins Konstruktion ist also konsistent, aber sie trägt eine begriffsjuristische57 Note. Die Strukturanalogie zum "allgemeinen negativen Grundsatz" Zitelmanns ist unverkennbar 58 . Sie ist nicht deswegen begriffsjuristisch, weil ihr Herzstück, die allgemeine Vermutung überhaupt eine "Annahme" ist, sondern weil sie die Verteilung vom Normalfall, der sie möglich und sinnvoll macht, loslöst. Die Korrektur, die ihr das "Odium" des Begriffsjuristischen nehmen kann, besteht m. E. in der doppelten Unterscheidung zwischen Ausnahme und Normalität 59 • sondern "das bestmögliche Mittel zur Wahrung des inneren und äußeren Friedens" zur Verfügung stellen - Quaritsch (III) 52f. 52 Hinton 305, in: Denzer. 53 Allgemeine Handlungsvollmacht, die nicht mehr an konkrete Sachbereiche gebunden ist- Quaritsch (III) 47. 54 "Medieval definitions of sovereignty proceeded by specific allocations of power to the ruler; he was given certain powers and no more. Bodin, contrariwise, granted the sovereignpower allpower except such and such"- Giesey 182, in: Denzer. 55 Zum Beispiel: Daß der Souverän ohne die Zustimmung der Stände keine Steuern erheben darf (Bodinsches Steuerparadoxon)- eine "Durchbrechung" der Einseitigkeilsvermutung - beruhte auf der Überzeugung, daß "die Erhebung von Steuern nicht zu den normalen Staatsaufgaben zählte" - Quaritsch (III) 60 f. 56 Vgl. den Abschnitt 14-1 oben. Für eine präzisere Analogie möchte ich (ohne sie zu vertiefen) auf die mathematische Maßtheorie verweisen: es ist möglich, aus dem Kontinuum Punktmengen (sog. "Nullmengen") herauszunehmen, ohne daß sein Maß verändert würde. 57 Quaritsch (III) 56 nennt die allgemeine Vermutung zugunsten des Souveräns einen "typisch begriffsjuristischen" Berechtigungsschein. 58 Vgl. den Abschnitt 1-8 oben.

14. Die Approximation. Ausnahme und Normalität

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Die eine Unterscheidung haben wir soeben beschrieben: Sie ist eine extreme Verteilung konfligierender Interessen oder Rechtsgüter. Sie bezieht sich auf "Rechtsfolgen", denn sie ist, wie jede Verteilung, an gewisse Bedingungen, an einen "Normalzustand" geknüpft. Innerhalb dessen ist sie sinnvoll, außerhalb dessen kann sie unhaltbar werden. Damit haben wir bereits die zweite Unterscheidung ausgesprochen. Sie bezieht sich auf Tatbestände. Sie ist diejenige Unterscheidung zwischen Ausnahme und Normalität, auf die Schmitt, mit verschiedenen Akzentsetzungen 60 , wiederholt hingewiesen hat. Bodins Extremverteilung ist also konsistent, man darf sie nur von jener Normalität, in der der Souverän seinen Gegnern deutlich überlegen ist, nicht loslösen. Die Frage ist, ob die Extremverteilung auch im Ausnahmezustand: wenn seine Stellung ernsthaft gefährdet wird, aufrechterhalten werden kann? Ob die These, die Grenze der Souveränität sei nur eine "Ausnahme" (Rechtsfolge), auch im "Ausnahmezustand" (Tatbestand) fingiert werden kann? Wie kann man nun die Verfassung als das Produkt der Feindentscheidung auffassen, ohne den "Feind" als normales Rechtssubjekt, die Feindschaft als normales Rechtsverhältnis auf der Verfassungsebene zu verankern? Der Schlüssel dazu ist m. E. gerade die doppelte Unterscheidung zwischen Ausnahme und Normalität. Wir wollen sie auf die konstituierende Konfliktssituation 61 anwenden, um ihre Entscheidung in einen differenzierten Konsens zu transformieren. Die Transformation soll scheinbar Unmögliches leisten: einen Gemeinwillen fingieren, ohne den entschiedenen Konflikt verschwinden zu lassen. Oder aus der entgegengesetzten Perspektive: den Konflikt beibehalten, ohne das zentrale Ereignis, daß er entschieden wurde, preiszugeben. Die rechtliche Vermutung, daß die Verfassung der Wille des "Ganzen" ist, gilt mit dem Vorbehalt, daß sie interne Feinde hat. Die Feindschaft ist jedoch kein normales Rechtsverhältnis, sondern gilt - mit allen dogmatischen und rechtsstatlichen Konsequenzen dieser Figur - als Ausnahme. Diese Verteilung entspricht dem juristischen "Normalzustand". Er ist vorhanden, solange der faktische Normalzustand, eine Situation mit geringer Konfliktwahrscheinlichkeit, besteht. Die Situation mit erhöhter Konfliktwahrscheinlichkeit gilt, solange die Rechtsordnung überhaupt noch besteht, juristisch als das Rechtsinstitut "Ausnahmezustand". Seine Rechtsfolge ist eine anders geartete Verteilung zwischen den konfligierenden R"chten. Diese verhalten sich zueinander nicht 59 Schmitt hat "Ausnahme" in doppeltem Sinne verwendet: Begriff der "allgemeinen Staatslehre" bzw. als Rechtsinstitut (Notstand). Analog kann man auch die "Normalität" verdoppeln. Diese Verdoppelung meinen wir nicht, obwohl sie nicht ausgeklammert werden kann, will man die Tatbestände nicht von ihren faktischen Bedingungen lösen. 60 Vgl. den Unterschied in PT bzw. in dArD. 61 Vgl. den Abschnitt 4-5 und die Kapiteln 8 und 13 oben.

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Dritter Teil

mehr als allgemeine Vermutung und Ausnahme. Im Ausnahmezustand wird die Feindschaft gewissermaßen zur Normalität. Das bedeutet weder i) daß sie rechtlich nicht geregelt, d. h. unbegrenzt wird noch ii) daß der Angriff auf die Verfassung als ein legitimes Interesse anerkannt wird. Sondern es weitet nur den Umfang der zulässigen Abwehrmittel aus. Schmitts Annahme von der Homogenität ist in einem anderen Sinne "begriffsjuristisch" als Bodins Konstruktion. Schmitt kann man natürlich nicht vorwerfen, er ignoriere den Unterschied zwischen dem normalen und dem Ausnahmezustand. Auch seine Analyse der Grundrechte beruht auf der sorgfaltigen Unterscheidung zwischen verschiedenen Typen der Verteilung zwischen Handlungsfreiheit und Eingriff62 • In bezug auf die konstituierende Situation berücksichtigt er jedoch nur die starre Alternative: Entweder ist die Verfassung ein Akt des Ganzen, der (homogenen) verfassunggebenden Gewalt oder aber Vertragswerk 63 - vorbehaltlich des pacta sunt servanda. Das feinere Instrument, die Extremverteilung Normalität-Ausnahme, gebunden an das Rechtsinstitut Normalzustand, erwägt er nicht. 14-7. Die positivierte Norm, an die wir unsere Deutung der Verfassung als die Entscheidung eines Grundkonflikts knüpfen wollen, ist der unantastbare Kern der Verfassung. Unantastbare, unabänderliche Regelungen sind untrennbar von der konfliktualen Konstitution. Sie beruhen auf der Vermutung (selbst wenn sie nicht explizit ausgesprochen wird), daß ein Gegenwille vorhanden ist, der dem Staate nicht extern ist. Ihre logische Konsequenz ist, daß die Feindschaft innerhalb des Staates auftritt und mit der Verfassunggebung systematisch verbunden ist 64 •

Wie läßt sich diese Behauptung begründen? Wir erinnern ein letztesmal daran, daß Schmitt zwischen Abstimmung mit einfacher und qualifizierter Mehrheit streng unterscheidet 65 • Er verbindet die erste mit der Homogenität, die zweite mit dem "pluralistischen" Zerfall. Alle Kautelen, Sicherungen und Garantien seien Kampfmittel gegen den innenpolitischen Gegner. Je größer die Zerrissenheit, um so höher werden die Hindernisse einer Änderung des status quo gesetzt - und umgekehrt: je größer die erforderliche qualiftzierte Mehrheit, um so größer scheint die Inhomogenität. Die extreme (unhaltbare) Konsequenz dieser Auslegung wäre, daß die Forderung nach Einstimmigkeit das Symptom einer totalen Zerissenheit, des Vgl. VL 163ff. Der Vertrag ist par excellence die Verteilung, in dem sich die konfligierenden Interessen als zwei Arten von Normalität, nicht als Normalität und Ausnahme zueinander verhalten. 64 Lameyer (Streitbare Demokratiecontra Terrorismus? Zeitschrift für Rechtspolitik, 3 j 1978, S. 50) spricht von der "Feinddefinition des Parlamentarischen Rates und des Herrenchiemseekonvents". 65 L&L 293 ff. Vgl. auch den Abschnitt 13-2 oben. 62

63

14. Die Approximation. Ausnahme und Normalität

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Zerfalls des Gemeinwesens ist. Sie deutet darauf hin, daß Schmitts Analyse verfehlt ist. Zwei Gründe sind m. E. dafür verantwortlich: i) Schmit schaltet der Konfliktssituation einen Grundkonsens vor und ii) er betrachtet die Regelung einseitig aus der Perspektive des siegenden Konfliktpartners, des Hüters des status quo. Aus der Sicht des Konfliktpartners, der an der Änderung des status quo interessiert ist, sieht es nämlich anders aus. Für ihn approximiert die qualifizierte Mehrheit die Homogenität besser als die einfache66 • Denn je größer die zur Änderung erforderliche Mehrheit, als um so homogener gilt das Gemeinwesen, in dem sie wirklich zustandekommt. Für den Gegner des status quo ist die Forderung nach qualifizierter Mehrheit nicht so sehr der Ausdruck der Spaltung, sondern vielmehr des Mißtrauens. Man würde glauben, daß bereits die Forderung nach Einstimmigkeit ein nicht steigerungsfähiges Mißtrauen in den Gegner beinhaltet. Sie gibt ihm eine Chance, sich durchzusetzen, allenfalls nach dem Hinscheiden des letzten Urhebers, Garanten oder Anhängers des status quo. Sie instituiert ein Vetorecht, das von einem einzigen Spieler geltend gemacht werden kann. - Diese Konsequenz umgeht die konsensuale Konstitution nur dadurch, daß sie den Feind weginterpretiert. In Wirklichkeit gehen unantastbare Regelungen (Verfassungskern, Wesensgehalt der Grundrechte usw.) einen Schritt weiter. Da sie nicht einmal einstimmig, durch den homogenen Beschluß des "Ganzen" geändert werden dürfen, kodifizieren sie ein absolutes Mißtrauen. Ihr Schöpfer oder Verteidiger will seinem Gegner den status quo auch post mortem aufzwingen, er verlangt eine "Ewigkeitsgarantie" 67 • Das ist der konfliktuale Kern auch der scheinbar harmlosen naturrechtliehen Wendung, daß gewisse Inhalte (z. B. die Grundrechte) selbst dem Zugriff des pouvoir constitutant entzogen, daß sie vorstaatlich usw. sind. Ihre Grundlage ist nicht die Homogenität (weder als Faktum noch als regulative Idee), sondern das ins Metaphysische gesteigerte Mißtrauen in den potentiellen innenpolitischen Feind. Die WRV hat die Tatbestände "unabänderlicher Kern" 68 , "verfassungsfeindliche" Ziele und Parteien 69 usw. nicht gekannt7°. Schmitt war sich bewußt, daß 66 Sie gilt als "relative" Einstimmigkeit vgl. Knut Wicksell: Finanztheoretische Untersuchungen, Jena 1896, S. 119ff. 67 Hier interessiert nicht, ob eine solche Bestimmung sinnvoll oder berechtigt ist, sondern allein ihr systematischer Zusammenhang mit der Feindschaft. 68 Schmidt 21 begründet die Wehrhaftigkeit des GG nicht positiv mit seinem unabänderlichen Kern, sondern betrachtet diesen als "überpositiv legitimiert". 69 Eine Verfassung ohne unabänderlichen Kern kennt zwar den Tatbestand illegale Mittel, nicht aber verfassungsfeindliche Ziele. Der "formale" Republikschutz in Weimar "verbot verfassungswidrige Methoden, aber keine republikfeindlichen Ziele" (Schmidt

45).

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Dritter Teil

sie miteinander zusammenhängen, daß erst der unantastbare Kern die Bedenklichkeit der "Verfassungswidrigerklärung" einer Partei mildern könne 71 • Er hat jedoch nur den ersten explizit in die Verfassungslehre aufgenommen, den zweiten forderte er nur in der Analyse zur Verfassungslage. Zur letzten Konsequenz, den Akt der Verfassunggebung auf das Konfliktschema, den Begriff des Politischen zurückzuführen, hat er sich nicht durchringen können. 14-8. Es ist nur zu folgerichtig, wenn Schmitt 1. die Homogenität des Verfassunggebers fordert, wenn er 2. die Homogenität nicht als die Bedingung eines Änderungsverfahrens und 3. die Verfassung nicht aus der Sicht des abgelösten, sondern des aktuellen Verfassunggebers betrachtet. Die konsensuale Konstitution (B1) setzt eine rechtliche Zäsur zwischen zwei, aufeinander folgenden Verfassungen. Damit erweist sie sich wieder als eine echte Transformation (B2/B1).

Ihre intendierte Rechtsfolge ist, daß sie die Verfassunggebung vom "fließendem" Prozeß der bald expliziten, bald unter der Hand erzwungenen Verfassungsänderung deutlich unterscheidet. Ihr Nebeneffekt ist jedoch, daß sie die Feindschaft zwischen den Urhebern (oder Anhängern) der beiden Verfassungen restlos kappt, den unterlegenen Konfliktpartner spurlos verschwinden läßt und die Konfliktentscheidung in eine bloße Formgebung transformiert. Der "Feind" einer konsensual begründeten Verfassung gehört entweder der Vergangenheit an oder er kann höchstens auf der Unterverfassungsebene identifiziert werden. Die "Verfassungsfeindlichkeit" als aktuelles juristisches Problem wäre lediglich ein Gegenstand der Strafoder aber der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Ihre Einordnung in die Zuständigkeiten des BVerfG schließt das verfassungsfeindliche Subjekt aus dem im Präambel des GG genannten Gesamtsubjekt aus, ohne diesen Schritt dogmatisch zu erklären oder die Schwierigkeit auch nur anzudeuten. Ein Beispiel zu diesen Schwierigkeiten. "Der recht verstandene Sinn des Art. 21 GG führt notwendig zu dem Schluß, daß die Mandate der Abgeordneten einer verfassungswidrigen Partei mit der Verkündung des Urteils erlöschen (BVerfGE 2, 37 f; 5, 392)" 72 • In Wirklichkeit ist die "Notwendigkeit" dieser Schlußfolgerung schwer nachvollziehbar. Denn die im Art. 38 GG verankerte 70 Das amerikanische AntisubversionsTecht hat einen höchst interessanten Umweg gefunden, die Konzeption der wehrhaften Demokratie ohne direkten Bezug auf einen Verfassungskern zu begründen. Das geschützte Rechtsgut des Smith Act ist keine materiell bestimmte Staatsform, sondern (wie in Weimar), allein die Methode des politischen Kampfes. Die Interna! Security Act (1950) und die Communist Control Act (1954) leiten die Staatsfeindlichkeit nicht aus der inneren, sondern aus der externen Feindschaft ab: subversive Aktivitäten werden einer "fremden" Macht, der "kommunistischen" Weltbewegung zugerechnet (vgl. Steinherger 457fT. und 594f.). 71 Schmitts Kommentar zu L&L (VrA 345). 72 Schmidt-Bleibtreu/Klein: Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland., 6 1983, S. 449.

14. Die Approximation. Ausnahme und Normalität

253

Fiktion, daß der Abgeordnete nicht die Partei, sondern das "ganze Volk" repräsentiert 73 , sollte (auf dem Hintergrund der konsensualen Konstitution) eher dazu führen, daß der Abgeordnete von der verfassungsfeindlichen Partei auch in diesem Punkt abgekoppelt wird. Gerechtfertigt wäre dagegen das Urteil durch die konfliktuale Konstitution: in "normalen" (Rechts-) Verhältnissen mag der Abgeordnete als Repräsentant des "Ganzen" gelten, nicht jedoch in einem "Ausnahmeverhältnis", in dem gerade der Grundkonflikt aktuell wird. Die konfliktuale Konstitution ist die einzig konsistente Grundlage für das in der Rechtssprechung des BVerfG und der Literatur verbreitete Argument "streitbare Demokratie" und dessen Varianten 74 . In der Rechtssprechung des BVerfG und in der Literatur ist dagegen gerade die Bemühung sichtbar, über den Zusammenhang von unantastbarem Kern und konfliktualer Konstitution hinwegzutäuschen. In einer Palette von z. T. gesellschafts- oder handlungstheoretisch orientierten Vorschlägen kann man nicht die Spur der konfliktualen Begründung entdecken. Vereinzelte Seitenhiebe an Schmitts "Freund-FeindTheorie"75 beweisen, daß sie nicht einmal als ein ernsthaft zu widerlegender Vorschlag in Frage kommt. Die Alternativen sind indessen alles andere als überzeugend. Lameyer biegt das Prinzip Streitbarkeit in Partizipation, in demokratische Streitbarkeit von "unten" um, er überantwortet es dem Bürger, der seine Demokratie "trägt und verteidigt". Mit diesem Austausch des Subjekts verwandelt er die Streitbarkeit, das Recht des Staates zur Selbstverteidigung, tendenziell in Widerstandsrecht, also in ein Recht gegen den Staat76 . Steinherger knüpft an die erkenntnistheoretischen Grundlagen der klassischen Metaphysik, von Plato über Augustinus und Descartes bis Leibniz an und begründet die Wehrhaftigkeit nicht im positivierten Verfassungskern, sondern in der "Werthaftigkeit" 77 des GG. Eine These, die aus der Sicht der "analytischen Wissenschaftstheorie" kaum haltbar78, aus der Sicht der "Tyrannei der Werte" höchst bedenklich 79 ist. Andere suchen "argumentationstheoretische Positionen", "die Bedingungen der Möglichkeit eines rationalen Konsenses in praktischen Fragen", ein "verfassungsrechtlich gesichertes Optimum an herrschaftsfreier Diskussion" usw. Diese Fluchtversuche umschreiben die prinzipielle, von Schmitt als einen Abgrund s. den Abschnitt 14-2 oben. "Wehrhafte", "abwehrbereite", "wachsame", "militante" usw. Demokratie- vgl. Schmidt 213f. "Was darunter im einzelnen verstanden wird, bleibt meist unausgesprochen" (Schmidt 213). Die Formel sei in ihrer "verfassungsdogmatischen Reichweite bis heute ungeklärt" (Dreier 94). 75 Ein "schlechter Slogan", der an "Freund-Feind-Theorien" erinnere (Dürig in MDH Art. 18 Rdn. 6); vgl. auch Steinherger 209. 76 Soll dadurch der Schaden wiedergutgemacht werden, der daraus entsteht, daß anderweitig das Widerstandsrecht dem Staate zugestanden wird? (vgl. Krenzier 23). 77 Steinherger 180fT. Vgl. auch BVerfGE 5, 85 (133ff.). 78 Dreier 99. 79 Vgl. den Abschnitt 14-5 oben. 73

74

254

Dritter Teil

erkannte Schwierigkeit des Politischen mit der harmlosen Formel, daß in ihnen ein ",irrationaler Rest' faktisch unaufbebbar ist" und daß die genannten Positionen allenfalls "approximativ" einlösbar sind 80 • Die normauflösenden Tendenzen der" verselbständigten" Argumente können nicht allein daraus erklärt werden, daß ihr Schutzgut ein schwammiges, beliebig dehnbares Gebilde, eine "Leerformel" geworden ist81 , sondern auch aus der Bemühung, um den Grundkonflikt herumzureden 82 . Man glaubt offensichtlich, der Paradigmawechsel vom Grundkonsens zum Grundkonflikt würde mit der Schürung, der Steigerung der Feindschaft, einer zwangsweise extensiven Interpretation der Schranken der in Art. 21 oder Art. 33 GG gewährleisteten Rechte usw. einhergehen. Nach rechtsstaatliehen Erfahrungen und Maßstäben ist diese Schlußfolgerung nicht zwingend: man kanngenauso gut das Gegenteil erwarten 83 • Jedenfalls führt die unpräzise Hermeneutik, die "Umbildung des Verfassungsgesetzes" (Forsthoff) nicht weniger zu Gefahren (auch im Sinne des Rufes nach mehr Staat84) als die Verankerung des Konstitutionskonflikts auf der Verfassungsebene. Die innerstaatliche Feindschaft läßt sich juristisch hegen, wenn ihre Wahrscheinlichkeit gering ist. Eine solche Situation ist die "Normalität", an der die juristische Fiktion eines diffenzierten Konsenses anknüpfen kann. Diese Formel entspricht der verfassungsrechtlich möglichen äußersten Schwächung und Begrenzung der konstituierenden Feindentscheidung. Sie "verankert" zwar die Feindschaft auf der Verfassungsebene-jedoch nur als Ausnalune, und macht sie dadurch meßbar, berechenbar und begrenzbar. - Terroristen streben ja den Status eines "politischen" Häftlings, eines "Kombattanten" an- nicht weil sie den Konflikt äußerster Intensität heraufbeschwören, im erbarmungslosen Kampf getötet werden wollen. Sie streben den Status des "Feindes", den man beschwichtigen, mit ihm einen Waffenstillstand aushandeln oder gar Frieden schließen soll, an - einen Status, von dem sie nicht höhere Risiken, sondern Privilegien erwarten 85 • 80 Dreier 99. Eine konsensfcihige Staats- und Verfassungstheorie sei nicht in Sicht (Dreier 105). 81 Dreier 96. 81 Das fängt bereits im Verfassungstext, mit der unpraZisen Wendung von der "Verfassungswidrigkeit" von Parteien (Art. 21 Abs. 2 GG) an. (Nicht weniger grotesk wäre, analog von der "Verfassungsdfeindlichkeit" von Rechtsakten zu sprechen.) Selbst wenn damit die Verfassungswidrigkeit ihres P~ogramms gemeint wird, so handelt es sich dödi~üm mehr als eine gewöhnliche Normkollision zwischen Verfassung und sonstigen Rechtsgütern, die im Normenkontrollverfahren ex tune für nichtig erklärt werden können. 83 Vorsichtiger ausgedrückt: Sachverhalte, die rechtlich nicht anerkannt werden, entziehen sich der Kontrolle. So erging es mit der politischen Polizei in Weimar. Sie wurde, mit der Demokratie "unvereinbar", zunächst abgeschafft, später aber in Berlin als geheimes Anhängsel der Abteilung I wieder errichtet (vgl. Bernhard Weiss: Polizei und Politik, 1928 S. 52, zitiert in Böckenförde (IV) 178). 84 Lameyer 206.

14. Die Approximation. Ausnahme und Normalität

255

Das Besinnen auf den Grundkonflikt wäre nicht nur "soziologisch" zutreffender, sondern auch dogmatisch zweckmäßiger als Vorstellungen der undifferenzierten Einheit und Homogenität; es könnte auch die Verfassungsjudikatur zu etwas mehr Zurückhaltung veranlassen 86 und den inflationären Gebrauch überpositiver Verfassungsprinzipien hemmen. Sie müßten, wenn sie schon unverzichtbar wären, einige ihrer mythischen Eigenschaften (z. B. die Quelle von ungeschriebenen Verfassungssätzen, allgemeinen Vorbehalten zur Grundrechtsausübung und "Widerstandspflicht", immanente Schranke aller Grundrechte usw. zu sein) einbüßen. Ich halte es zumindest denkbar, daß die konstitutive Freund-Feind-Unterscheidung nicht so selbstvergessen zum "überpositiven Verfassungsprinzip" oder zur "allgemeinen Grundrechtsschranke" aufgebaut würde wie ihr konsensuales Gegenstück. 14-9. Das Streitbarkeitsprinzip ist die Reaktion auf Ereignisse des 20. Jahrhunderts, die die bürgerlichen Demokratien während der ersten Hälfte dieses Jahhunderts erschüttert haben und die nicht einfach wegdiskutiert werden können. Die Suche nach theoretischen Lösungen bzw. ihre Bewertung verweisen "in die Dimensionen der Gesellschafts-, Wissenschafts- und Erkenntnistheorien"87. Wenn die Empfehlung, die Verfassungsinterpretation habe sich, mangels einer konsensfähigen Theorie, auf die "Situation des Theorienpluralismus" einzustellen 88 , ernst gemeint wird, so nehme ich diese Gelegenheit wahr.

Hiermit schlage ich Carl Schmitts "Begriff des Politischen" als ein hermeneutisches Begründungsparadigma des demokratischen Rechtsstaates bzw. seiner wehrhaften Verfassung, vor. Unsere Analyse läßt erhoffen, daß er eine tragfähigere Grundlage ist als der (Minimal-) Konsens, die Integrationstheorie oder selbst Schmitts konsensuale Theorie des pouvoir constituant. Dieses Forschungsprogramm auszuführen kann natürlich nicht die Aufgabe dieser Arbeit sein. Hier sollen nur noch- zum Abschluß der Untersuchungeinige Aspekte des Problems skizziert werden. Zu präzisieren bleibt vor allem, welches Konfliktschema zu dieser Begründung geeignet ist. Der Staat als die Entscheidung "gegen den Feind" (B2), der den entschiedenen Grundkonflikt aufVerfassungsrang hebt, wäre zweifelsohne eine Friedensordnung- aber nicht notwendig mehr als eine Friedensordnung. Ein solcher Staat ist potentiell immer Konfliktpartner, er kann begrifflich nie neutraler Dritter sein. Der Rechtsstaatsbegriff hat dagegen eine neutrale Komponente. Neutralität kann erst in einem Spiel mit drei Akteuren fingiert werden 89 • Wollen wir den Vgl. den Diskussionsbeitrag von Josef lsensee in Quaritsch (II) 302. Nach Dreier 95 (FN 40) handhabt das BVerfG das Streitberkeitsprinzip extensiv. 87 Lameyer 203 f. 88 Dreier 105. Fraglich ist nur, ob der Vorbehalt "theoretisch legitime Konkretisierungsmöglichkeiten" oder"verfassungshermeneutisch legitime Positionen" (Dreier 106) nicht bereits neue Sperrwirkungen begründet. 85

86

256

Dritter Teil

Staat nicht als eine bloße Friedensordnung, sondern auch als einen Rechtsstaat rekonstruieren, so müssen wir eine Handlungssituation mit drei Akteuren zugrundelegen, in der der Dritte "zwischen Freund und Feind" unterscheiden oder aber die Unterscheidung unterlassen kann. Die Übersetzbarkeit des Dreierspiels in das Marktmodell der oligopolischen Konkurrenz ermöglicht es, den von vielen geforderten "gesellschaftstheoretischen" Aspekt in der Gestalt der "Logik des kollektiven Handelns" (Olson) in die verfassungstheoretische Analyse einzubeziehen. (Sie in Verfassungsrecht zurückzutransformieren bleibt selbstverständlich der schwierigste Schritt im ganzen Programm.) Nach der Logik des kollektiven Handeins ist der Staat, trotz seiner "Wesensgleichheit" mit anderen menschlichen Verbänden doch ein besonderer Verband, ein Grenzfall der Gruppentheorie, dessen Eigentümlichkeiten sorgfaltig geprüft werden müssen. i) Der Staat setzt unterschiedliche Organisationsmittel, nicht nur selektive Anreize, sondern auch Zwang, ein90 • Darin liegt auch seine Chance, zwischen "Freund" und "Feind" zu unterscheiden. Der Staat mobilisiert den (mit dem "Kern" nicht identischen) "Freund" durch selektive Anreize und bindet den (inneren) "Feind" durch Zwang. Der innerpolitische Aspekt der Freund-Feind-Unterscheidung besteht also darin, die Verteilung von selektiven Anreizen und Zwang zu bestimmen. ii) Der Staat ist keine Lobby, keine Interessenvertretung im herkömmlichen Sinne- nicht weil er etwa Werte, nicht Interessen verfolgen würde. Sondern aus einem anderen Grund: er konkurriert nicht mit anderen Verbänden derselben Rechtsordnung. Der Staat organisiert die ganze "latente Gruppe".

Dadurch werden die Trägerbereiche aller relevanten Güter "relativ kleiner". Es gibt einerseits keine Akteure, die die Kollektivgüter genießen, ohne Mitglieder zu sein. Andererseits stehen die selektiven Anreize nicht allen Gruppenmitgliedern, sondern nur einem Teil zu. Aus dieser Verschiebung ergibt sich auch die unterschiedliche Ausprägung der "Demokratie" im Staat einerseits bzw. im innerstaatlichen Verband andererseits. Ein Gut, das allen Mitgliedern des nichtstaatlichen Verbandes gleichermaßen zusteht, kann nach außen hin ein Privileg sein. ilillnnerhalb des Verbandes und in Bereichen, die vom Grundkonflikt abgekoppelt werden, wird der konfliktual konstituierte Staat, teils aus legitimatorischen, teils aus Effizienzgründen Konsens- oder Homogenitätsbereiche Vgl. den Abschnitt 9-3 oben. Auch Gewerkschaften, Organisationen von Freiberuflichen, Berufskammer usw. können Zwang (z. B. Zwangsmitgliedschaft) ausüben. Das ist rechtlich sanktionierter Zwang (Olson 134f.). Der staatliche Zwang fällt zum Teil unter die These der U nunterscheidbarkeit. 89

90

14. Die Approximation. Ausnahme und Normalität

257

fingieren, in denen der Grundkonflikt restlos verschwindet. Der Staat ist neutral -dort, wo und insofern er Homogenitätsbereiche schafft, wo die Feindschaft nicht einmal als Ausnahme zugelassen wird, wo der Konflikt in einen undifferenzierten Konsens konvertiert werden kann. Nach Schmitt ist die (politische) Homogenität die "Grundlage" der verschiedenen demokratischen Gleichheiten. Nach unserem Sprachgebrauch: die Gleichheit ist ein juristisches Modell der Homogenität. Ihr korrespondieren im ökonomischen Bereich der homogene Markt oder aber Bereiche der vollständigen Konkurrenz. Können diese, aus juristischer Sicht etwas vagen Begriffe in die Verfassungstheorie übersetzt werden? Ist die verbreitete Gewohnheit, Rechte als "Güter" zu betrachten, mehr als eine saloppe Redeweise? Oder aber beinhaltet sie einen Verweis auf einen außerjuristischen Bereich, der präzise dogmatische Unterscheidungen begründen kann? Was sind die kollektiven Güter, was sind selektive Anreize? In welchen Bereichen und wie manifestiert sich die Feindschaft, in welchen Bereichen muß sie rigoros ausgklammert werden? Wir werden mit Hilfe des utilitaristischen Modells einige Antworten vorschlagen. Welche weiteren Konsequenzen sich daraus für einzelne Probleme der Verfassungsauslegung ergeben, soll hier nicht erörtert werden. Güter, deren Beschaffung und Pflege den Staat legitimiert, werden in die Rechtsgüter "Freiheiten", genauer: in Grundrechte mit undifferenziertem Trägerbereich91 konvertiert. Freiheitsrechte sind somit "Nebenprodukte" der Staatstätigkeit Sie sind insbesondere keine selektiven Anreize, sondern Kollektivgüter. Wenn ihnen andererseits Schranken gesetzt, d. h. Ausnahmen statuiert werden, so entspringen diese nicht der konstituierenden Freund-Feind-Beziehung. Die Versuchung, Grundrechte mit differenziertem Trägerbereich als "selektive" Anreize zu deuten, ist relativ groß. Einerseits kommen sie nur einem Teil der Akteure zu, andererseits wird ihre Produktion sichtbarer und in viel größerem Maße mit Kosten verbunden als die der Freiheiten. Die direkte Analogie schlägt jedoch fehl. Denn die sog. Leistungsansprüche werden dem innenpolitischen "Feind" nicht aberkannt, falls er den Tatbestand ihrer Gewährung erfüllt. Dieser Bereich kann auch unter dem Gesichtspunkt der Konkurrenz, der Interessenkonflikte betrachtet werden. Hier werden Gegensätze ausgetragen, die im Normalzustand vom Grundkonflikt abgekoppelt werden müssen. Die für den Grundkonflikt typische Verteilung ist für sie nicht anwendbar, das siegende Interesse ist nicht Normalität, das unterlegene nicht die Ausnahme davon. Auch die Grundrechte mit differenziertem Trägerbereich werden durch den Grundkonflikt nicht berührt. 91

s. den Abschnitt 12-5 oben.

17 Holczhauser

258

Dritter Teil

Anders verhält es sich mit Gütern wie dem sog. Parteienprivileg oder dem Beamtenstatus92 . Privilegien sind keine Kollektivgüter, sondern selektive Anreize. Die den Grundrechten typische Verteilung: allgemeine Gewährung ausnahmsweiser Eingriff gilt zwar auch für sie. Das folgt jedoch nicht aus ihrem Grundrechtscharakter, sondern aus der Regung der Feindschaft, der Begrenzung des Grundkonflikts. Es wäre jedenfalls unzulässig, von der gleichen Rechtsfolge auf die Gleichheit der Tatbestände zu schließen. Zu guter Ietzt müssen wir die Frage stellen: Wie verträgt sich Schmitts teils politische, teils juristische Staatsauffassung, insbesondere seine Grundrechtstheorie mit diesem utilitaristischen Ansatz? Gegen ihn spricht Schmitts allgemeiner Vorbehalt gegen das "Ökonornische"93. Gegen ihn spricht auch, daß Schmitt sich ausdrücklich weigert, die Freiheitsrechte als "Güter" zu betrachten- anscheinend, weil er die Extremverteilung Freiheit - Ausnahme in bezug auf Rechtsgüter nicht für anwendbar hält94 • Andererseits gibt es gewichtige Anknüpfungspunkte. i) Die von Schmitt ständig hervorgehobene "Dialektik" von Schutz und Gehorsam weist explizit auf eine staatliche "Leistung" hin 95 • (Der Schutz ist übrigens für viele eher ein Kollektivgut 96 denn ein selektiver Anreiz. Diese Auslegung trifft natürlich nur im externen Konflikt zu!) ii) Der rechtsstaatliche Gesetzesbegriff, der bei Schmitt eine zentrale Bedeutung hat 97 , erhält von der Logik des kollektiven Handeins her eine besondere Konsistenz und Rechtfertigung. Ein Großteil der öffentlichen Güter ist nicht von "Natur" aus ein Kollektivgut Sondern erst die ursprüngliche Dezision (im Rechtsraum: die Gesetzgebung) unterbindet, daß die für private Güter typische Ausschließung 98 auf sie zutrifft. Die meisten Kollektivgüter würden in selektive Anreize verwandelt, wenn sie nur Verbandsmitgliedern zukommen würden. Ein Gesetz, das einschränkende Merkmale enthält, kann trotzdem als "allgemeine" Norm gelten, weil und wenn der Tatbestand, der die Rechtsfolge auslöst, auf die ganze latente Gruppe zugeschnitten wird, d. h. nicht nur den organisierten Verband privilegiert. 92 Art. 21 Abs. 1 GG. Vgl. Schmidt 85. Unser Schema kollidiert mit der Auffassung, daß das Schutzgut von Art 33 GG ein Grundrecht sei oder zumindest "grundrechtsgleichen Rang" habe (vgl. Dreier 88). 93 Diesen Vorbehalt können wir insofern außer Acht lassen, als das utilitaristische Modell das Tauschgut "Zwang" zuläßt (vgl. den Abschnitt 13-9 oben). 94 VL 163. 95 Die Formel enthält übrigens auch die Möglichkeit, daß der Gehorsamsanspruch des Staates nicht unbedingt ist und entfällt, wenn er den Schutz seiner Angehörigen nicht leisten kann oder will. Damit bringt Schmitt den "Leviathan" auf dieselbe Art und Weise zur Strecke wie Hobbes, der dem Einzelnen ein privates Gewissen zugestanden hatte. 96 Recht und Ordnung sind öffentliche Güter (Olson 12f.). 97 Vgl. VL 138fT. 98 Analog, wie sie natürliche Kollektivgüter in private Güter, in Eigentumstitel verwandelt.

Anhang 15. Zu den Methodenfragen der Schmitt-Literatur 15-1. Die Schmitt-Literatur ist ein interessantes Experimentierfeld für methodologische Fragen. Sie ist der (vermutlich) einzige Forschungsbereich, in dem das Prinzip anything goes beinahe uneingeschränkt gilL

In ihr herrschen Denkfiguren und Auslegungsformeln, die in anderen Wissenschaften undenkbar wären. Sie würden als Zeichen von Prinzipien- oder Kritiklosigkeit, als unsachliche Polemik, ja als Dilettantismus gelten. Gesicherte Ergebnisse gibt es kaum. Die Widersprüche in der Literatur 1 werden durch die Salvatorische Klausel, daß sie die Symptome der contradictio in objecto sind, beruhigend erklärt. Dagegen gibt es Unterstellungen, Vermutungen, nicht nachprüfbare Zurechnungen aller Art in erstaunlicher Fülle. Verantwortlich für diesen Zustand ist m. E. ein wissenschaftssoziologischer Grund: es mangelt praktisch an einer kritischen wissenschaftlichen Öffentlichkeit. In Sachen Carl Schmitt kann man kaum Irrtümer begehen, die einen professionell disqualifizieren würden - solange man nur demaskiert, verurteilt, warnt. Alle Vorsichten, privaten oder institutionalisierten Kontrollmechanismen, die sonst leidlich funktionieren, werden im Falle Carl Schmitts außer Kraft gesetzt. Das gilt natürlich für das breitere kulturelle Milieu, für die FeuilletonSeiten der kulturellen Wochenzeitungen in größerem Maße als für die Wissenschaft. In einer führenden Zeitschrift der deutschen Kulturlandschaft ließen alle Verantwortlichen die eigenwillige, der Forschung neue Perspektiven eröffnende Bildunterschrift passieren: "Als ,Kronjurist des Dritten Reiches' rechtfertigte Carl Schmitt 1934 den Röhm-Putsch (sie!) in einem berühmt-berüchtigten Artikel "Der Führer schützt das Recht"' 2 • Röhm, Hitler, Nationalsozialismus - das hängt schon irgendwie zusammen. Schmitts Name und die mit ihm verbundenen Stereotypen gehören, wie im Falle Machiavellis, zu denevergreensakademischer Halbbildung. Formeln und Wendungen, die Carl Schmitt einen Seitenhieb versetzen, werden dankbar aufgenommen und geflissentlich kolportiert. Wer sich die Füße an Carl Schmitt abstreift, stellt gute Gesinnung unter Beweis. Auf die sachliche Genauigkeit kommt es weniger an, handelt es sich doch um ein politisch-moralisches IntegrationsrituaL Nicht der Irrtum, sondern der Versuch zur Objektivität hat seine sozialen Kosten. 1 2

17*

Vgl. eine Zusammenstellung in Hofmann 7ff. Die Zeit 19.04.1985.

260

Anhang

Schmitts Aussagen und die Motive seines Handeins im Dritten Reich werden nach Maßstäben beurteilt, die nur in einer freiheitlichen Demokratie, im Rechtsstaat gelten. Eine in Freiheit herangewachsene und von der Freiheit verwöhnte Generation unterscheidet nicht mehr zwischen der Hermeneutik des Normal- und des Ausnahmezustandes, der Diktatur3 • Besser gesagt: man kennt sie, man wendet sie jedoch verkehrt an. Eine nicht nur plakative Aufarbeitung der Schriften Carl Schmitts aus dem Dritten Reich ist vielleicht nur noch von Autoren zu erwarten, die die Hermeneutik der Diktatur aus eigener Erfahrung kennen. Es wäre nicht überraschend, wenn Schmitt, im Zuge der Entdeckung des kulturellen Erbes, in der DDR bald neuinterpretiert würde. Schmitts Schriften aus der Periode zwischen 1933 und 1945 werden vorzugsweise von seinen Kritikern zitiert, sonst möglichst verschwiegen. Selbst seine Anhänger haben meist nur das verlegene, defensive Argument parat, man dürfe ihn nicht ausschließlich nach diesen Schriften beurteilen4 • Offensichtlich ist die Hermeneutik der Diktatur nicht einmal ihnen mehr gegenwärtig. Es wäre die Aufarbeitung gerade dieser Schriften dringend notwendig. Denn selbst bei oberflächlichem Lesen kann man Aussagen und Forderungen entdecken, die aus nationalsozialistischer Sicht als ideologische Wühlarbeit gelten durften 5 • Wenn Schmitt z. B. verlangt, daß die Generalklauseln im nationalsozialistischen Sinne ausgelegt werden 6 , so sieht man darin eine unzulässige Politisierung des Rechts. Man sollte jedoch nicht übersehen, daß diese Forderung bereits eine Beschränkung und Festlegung bedeutete. Jedenfalls hielten viele für unrichtig, die Generalklauseln "lediglich nationalsozialistisch auszulegen" 7 , weil sie darin die Gefahr liberalen "Schrankendenkens" sahen. Maßgebend seien vielmehr das "intuitive[...] Erfassen der Person und Tat des Führers". Wenn Schmitt z. B. den BNSDJ als den "mit dem deutschen Recht befaßte[n] Teil der Nationalsozialistischen Bewegung" 8 bezeichnet, so kann man das natürlich als eine Unterwerfungserklärung deuten. Wer zwischen den Zeilen zu lesen gewohnt ist, kann einen Mitbestimmungsanspruch erkennen: gleichberechtigter Partner, nicht Weisungsempf:inger. Es ist bemerkenswert, wie er die laufende Arisierung (die er nie gefordert, herbeigeführt oder betrieben hat) umzubiegen versucht: bisher war die Forde3 Maschke 73f., der auf diesen Unterschied aufmerksam macht, gelingt eine beispielhafte Interpretation der berüchtigten Schrift "Der Führer schützt das Recht". Zu demselben Thema vgl. Hans-Dietrich Sander, Hiiter der Freiheit, in: Deutschland-Archiv

1 (196&) 8,

s. 824ff.

Vgl. Helmut Rumpf: Carl Schmitt und der Faschismus. In: Der Staat. 1978, S. 242f. 5 Schmitt habe einige Züge des "modernen Leviathan mit einer Genauigkeit beschrieben, die diesem eigentlich ein Ärgernis sein mußte" so Hili 267. 6 dArD 58 f. Darin war Schmitt kein Vorreiter, sondern folgte der hersehenden Lehre: das preußische Oberverwaltungsgericht erkannte diese Auffassung bereits im November 1933 an, vgl. Böckenförde (IV) 174. 7 So Reinhard Höhn (zitiert in Böckenförde (IV) 172). 8 dArD65. 4

15. Zu den Methodenfragen der Schmitt-Literatur

261

rung nach Unabhängigkeit des Richters eine liberale Diversion, jetzt ist sie eine ernstzunehmende Forderung - die auch die Unabhängigkeit gegenüber NSDAP-Einflüssen bedeuten würde. Seine Rede auf der Tagung der Reichsgruppe Hochschullehrer des NSRB am 3. und 4. Oktober 19369 gilt als eines der schändlichsten Dokumente der antisemitischen Literatur. In Wirklichkeit war sie ein wortgewaltiger, aber erfolgloser Verbalangriff, die Flucht nach vom, um einerseits von seiner Untätigkeit abzulenken, andererseits den Angriffen des Schwarzen Korps, die ihm gerade sein Paktieren mit "artfremden Elementen" vorwarfen, entgegenzutreten. Aber selbst hier versucht er, zu retten was zu retten ist, und schlägt z. B. die Maßnahme vor, die "jüdisch" beeinflußte Literatur in den Bibliotheken in gesonderten Regalen aufzustellen. Man setzt hier den Akzent, gemäß der Hermeneutik des Normalzustandes, automatisch auf "gesondert", und liest die Aussage als eine Diskriminierung. Die Lesegewohnheiten des Ausnahmezustandes erlauben zumindest die Überlegung, daß das Wort "aufstellen" betont werden soll. Diese Forderung würde zwar das Gleichheitsgebot, möglicherweise auch das Grundrecht auf Freiheit der Wissenschaft und Forschung beschränken. Sie würde jedoch eine Praxis begründen, die meilenweit entfernt liegt von der des Proletkults, der "unrichtiges" Kulturgut über Jahrzehnte hinweg aus den Bibliotheken spurlos verschwinden ließ. Derjenige Teil der Schmitt-Forschung, für den das Ergebnis von vornherein feststeht, muß ein eigentümliches Anfangshindernis meistern. Einerseits könne man in Schmitts Schriften aus der Weimarer Zeit "keine eindeutig pronazistische Äußerung finden" 10 , während eindeutig antinazistische Äußerungen durchaus vorhanden sind. Daher sucht man die verborgene Absicht n, den tieferen Sinn, das Verklausulierte, das den Wortlaut Lügen straft, oder die Zeichen der Sehnsucht nach Diktatur - selbst in Schriften, die eine klare Bekenntnis zur Republik und ihrer Verfassung enthalten 12 oder aus der Sorge um sie entstanden sind. Dabei legt man eine Hellhörigkeit an den Tag, die an Halluzination grenzt. Wo die Logik die Herleitung nicht mehr unterstützt, weicht man in Psychologie und Charakterologie aus. Wozu wäre jedoch das Versteckspiel, die Verheimlichung "wahrer" Absichten nötig gewesen? Weimar war eine Demokratie, in gewisser Hinsicht toleranter als die Bundesrepublik, der Tatbestand "verfassungsfeindlicher Ziele" unbekannt. 9 Die deutsche Rechtswissenschaft im Kampf gegen den jüdischen Geist, DJZ 41 (1936), 1193/99. Schmitt hat diese Rede in die Sammlung "Positionen und Begriffe" nicht aufgenommen. 10 Schmitz 64, FN 88. 11 Treffend Hill190: Es walte ein "großes Maß an Anstrengung" in diesen Interpretationen, die das Komplizierte dem Einfachen gewaltsam vorzögen. 12 Schmitt hielt die Verfassunggebende Nationalversammlung für die historisch authentische Form, in der die verfassunggebende Gewalt aufgetreten ist. Wäre es, wenn die Verdächtigungen zutreffen sollen, nicht konsequenter gewesen, der Münchener Räterepublik oder aber dem Marsch auf die Feldherrenhalle diese Rolle zuzuschreiben?

Anhang

262

Das offene Bekenntnis, das Werben für totalitäre Bewegungen war weder gesetzlich verboten noch intellektuell anrüchig oder persönlich gefährlich. "Wegbereiter" brauchten keine Wühlarbeit zu leisten: die NSDAP wurde mit offener Werbung stärkste Fraktion im Reichstag. Sympathien für Hitler oder die NS-Bewegung hätte Schmitt nicht hinter Anspielungen und kryptischen Formeln, die auf die Enträtselungsfantasie kommender Generationen warten, verbergen müssen. Andererseits, und im Kontrast dazu, nimmt man jede seiner Äußerungen nach 1933 mit einer erstaunlichen Bereitwilligkeit für bare Münze. Seine Schriften werden fortan nur noch in ihrem unmittelbaren Wortlaut zur Kenntnis genommen- als wäre es eine Selbstverständlichkeit, daß zwischen Gedanken und Wort gerade in der Diktatur eine nahtlose Übereinstimmung besteht. Diese verkehrte Anwendung der Methoden mündet in eine eigenartige Dialektik. Wo der Versuch, in Schmitts Weimarer Schriften nazifreundliche oder zumindest republikfeindliche Inhalte hineinzuinterpretieren, scheitert oder höchstens zu Mehrdeutigkeiten führt, dort gibt seine Haltung nach 1933 den Ausschlag. Andererseits werden Zweifel an seine Loyalität gegenüber dem NSRegime durch die angeblich bereits vor 1933 vorhandene Nazi-Orientierung, beseitigt. Die krude Tatsache seines Mitläuferturns bricht jede weitere Zurechnung ab: die Erklärung und das zu Erklärende unterstützen sich in dialektischer Gegenseitigkeit - die jüngste Leistung des "hermeneutischen Zirkels". Dieser Zirkel bestimmt insbesondere die Beurteilung des Schmittschen Dezisionismus. Die Erkenntnisse, daß das System des Rechts nicht vollständig ("lückenlos") und daher ein letzter Rest der Dezision aus keinem Urteil auszumerzen ist, gehört im 20. Jahrhundert mit zu den wichtigsten Ergebnissen der juristischen Methodenlehre. Für die Beurteilung des Schmittschen Dezisionismus gelten andere Maßstäbe. Für die einen ist Schmitts politische "Option" für das Hitler-Regime in "letzter Konsequenz" folgerichtig - weil in der Grundstruktur seines Denkens, im Dezisionismus angelegt. Von diesem Ausgangspunkt her beurteilt man auch das übrige Werk. Für andere ist der Dezisionismus "an sich" nicht zu beanstanden, ja er kann als zutiefst demokratisch gelten (Kriele, Gusy). Bei Schmitt ist er jedoch verwerflich, wegen seiner politischen Option. Methodische und politische Haltung bekräftigen sich also "gegenseitig" und die Denunzierung des Dezisionismus Schmittscher Observanz ist der kleinste gemeinsame Nenner vieler seiner Kritiker. Die Wendung: "in letzter Konsequenz" ist die beliebteste Auslegungsfigur bei denjenigen Autoren, die eine "strenge Folgerichtigkeit" 13 konstruieren wollen. (Die Annahme, daß seine Schriften aus der NS-Zeit vielmehr eine "Zäsur" darstellen, ist extrem selten.) Sie extrapoliert linear eine (meist nur vermutete) "Gedankenrichtung". Sie gibt vor, nichts anderes zu tun, als Schmitts Prämissen zu Ende zu denken 14 • Sie verdeckt, daß die Schlußfolgerungen in der Regel nicht 13

So Hili 269.

15. Zu den Methodenfragen der Schmitt-Literatur

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diejenigen Schmitts, sondern die des Interpreten sind, daß die Lücke zwischen Schmitts Prämissen und den vermeintlichen Konklusionen durch Vermutungen des Auslegers ausgefüllt wird. Es handelt sich also um kein "logisches" oder deduktives Verfahren, sondern um Zurechnung. Ihre Berechtigung könnte mit einem gewissen Vorbehalt noch anerkannt werden, solange zumindest die "Richtung" stimmt. Es istjedoch mehr als bedenklich, wenn man Formeln, die Schmitt vor 1933 nicht, ihr Gegenteil dafür um so deutlicher, vertreten hat, zur Konstruktion einer "Entwicklungslinie" heranzieht. Die (liberale) Formel der Trennung von Staat und Gesellschaft gehört zu den Thesen, die Schmitt sowohl vor 1933 als auch nach 1945 konsequenter vertreten hat als jede andere. Während des Dritten Reichs hat er allerdings das Gegenteil "vertreten". Jedenfalls hat er die AuseinanderreiBung von Staat und Gesellschaft mit zu den Gründen gezählt, die zum Zusammenbruch der Republik geführt haben. Damit hat er sich zumindest oberflächlich zu einer zentralen These des Nazionalsozialismus bekannt. Das genügt für Hofmann, Schmitt in die Tradition Hegels einzuordnen 15 • Die (zumindest ebenso plausible) Vermutung, daß Schmitt nur von seiner früheren und (zumindest in dieser Frage) extrem liberalen Auffassung ablenken wollte, wird nicht einmal erwogen. Ähnliches läßt sich sagen auch über die Konstruktion, die die (angeblich) inhaltsleere "Homogenität" zuerst im Gedanken der "rassischen Artgleichheit" konkretisiert sieht, die Schmitts Denken ganze drei, vier Jahre "beherrscht", um dann wieder keine Rolle mehr zu spielen 16 • 15-2. Ich möchte diese etwas allgemein gehaltenen Anmerkungen über die spezielle "Methodik" der Schmitt-Forschung an einigen typischen Beispielen konkretisieren 17 • Zunächst zwei Bewertungsmuster des BdP.

Theodor Litt bediente sich der "subjektivistischen" Variante. Er ging in der illusionslosen Offenlegung des Politischen so weit, daß es ihm nicht mehr möglich war, naiv in das Chor der Entrüsteten einzustimmen 18 • Er konnte sich von Schmitt nicht mehr von der inhaltlichen Erklärung des Phänomens "Politik", sondern nur noch von der "Intention" her distanzieren. Während jedoch der Jurist in der Regel weiß, daß die Zurechnung eine sehr delikate Angelegenheit ist, steht diese Erkenntnis für die Geisteswissenschaften etwas im Hintergrund. So wird die "Wesensschau" zu Motivforschung operationali14 Die Wendung kommt überraschend oft gerade in einem Buch (Hofmann) vor, dessen differenzierte Betrachtungsweise selbst von Schmitt-Anhängern (Rumpf, Böckenförde) anerkannt wird. 15 Hofmann 123. 16 Hofmann 204f. 17 Nach der vorzüglichen Sammlung von Maschke erübrigt sich wohl die nähere Beschäftigung mit Einzelheiten. 1s Vgl. das Kapitel 6 oben.

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siert, und die "Sinndeutung" - ihrem Kern nach Setzungsakt, also Entscheidung- verkommt zu Unterstellung. Mathias Schmitz bevorzugt dagegen die "objektivistische" Deutung und schreibt Schmitt keine subjektiv bösen Absichten zu. Schmitt komme "sicherlich keinem Bürgerkriegswillen zur Hilfe", er habe die NS-Diktatur nicht bewußt, noch weniger beabsichtigt "vorbereitet". Sondern nur sein Verständnis der Bürgerkriegssituation lasse ihn "in den Dienst totalitärer Herrschaft treten". Er ortet dementsprechend Schmitts Denken im Strom "unheilvollen" deutschen Denkens (eine Interpretationsfigur, die auch bei ihm auf das primitive Schlagwort: "von Hegel zu Hitler" hinausgeht) und hofft dessen Gefährlichkeit durch "konsequentes Zuendedenken" nachweisen zu können 19 • Das formalistische, selbstzerstörende Toleranzdenken fand seinen Niederschlag in der WRV - so Helmut Steinberger20 • Der Wertrelativismus der Verfassung ermöglichte Hitler, seine Absicht zum legalen Umsturz ohne Nachteile darzulegen- vor keiner geringeren Instanz als dem Reichsgericht. Steinherger zitiert aus Hitlers Rede die Stelle: "den Staat in die Form gießen, die wir als die richtige ansehen". Und dann weist er, völlig unerwartet, aufCarl Schmitt hin- ein Hinweis, der verdient, in extenso zitiert zu werden: "Wie der neue, ,totale' Staat dann mit politisch Andersdenkenden verfahren würde, hat Carl Schmitt 1933 kundgetan: ,Ein solcher Staat läßt in seinem Inneren keinerlei staatsfeindliche, staatshemmende oder staatszerspaltende Kräfte aufkommen. Er denkt nicht daran, die neuen Machtmittel seinen eigenen Feinden und Zerstörern zu überlassen und seine Macht unter irgendwelchen Stichworten, Liberalismus, Rechtsstaat oder wie man es nennen will, untergraben zu lassen. Ein solcher Staat kann Freund und Feind unterscheiden', vgl. Weiterentwicklung des totalen Staats in Deutschland, Europäische Revue 9. Jg (1933), S. 65ff., 67. - Wie man sieht, eignet sich St. Justals Schutzheiliger für viele Religionen." Dieser Text ist symptomatisch: er enthält alle wichtigen Elemente der "Schmitt-Forschung". i) Beiläufigkeit. Der Ort der Darstellung ist der "wissenschaftliche Apparat": eine Fußnote. Sie schließt sich einem banalen, möglicherweise überflüssigen Literaturhinweis an. Sie wird weder durch die Literaturangabe noch durch den . Text gerechtfertigt. (Der sachliche Zusammenhang würde eher einen anderen Hinweis nahelegen, nämlich daß Steinhergers Urteil über das formalistische Toleranzdenken mit dem Carl Schmitts übereinstimmt.) Sie ist einzig und allein dazu bestimmt, den Bogen: Adolf Hitler - Carl Schmitt aufzuspannen. Die Beiläufigkeit und der Ort erwecken den Eindruck, es handele sich von einem wissenschaftlichen Gemeinplatz. 19 20

Schmitz 103ff. s. 208f.

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ii) Suggestion. Der Auftakt des Satzes nimmt ein "Ergebnis" vorweg, das ohne diese Suggestion unmöglich nachzuvollziehen wäre: Wie der totale Staat mit Andersdenkenden verfahren würde usw.- Nun, wie würde er eigentlich verfahren? Der zitierte Text sagt darüber gar nichts aus! Er enthält keine konkreten Vorschläge oder Anweisungen, sondern nur die konkretisierungsbedürftigen Feststellungen: staatsfeindliche Kräfte nicht aufkommen Jassen bzw. positiv: zwischen Freund und Feind der WRVunterscheiden. Die "Religion", zu deren "Schutzheiligen" Carl Schmitt aufgebaut wird, ist identisch mit Steinbergers so eindrucksvoll verteidigtem Prinzip der "streitbaren" Demokratie. iii) Sanfte Quellenmanipulation. Steinherger zitiert das Jahr der Ersterscheinung: 1933 - das Jahr der "Machtergreifung", die übrigens mit Hitlers Ernennung zum Kanzler noch keineswegs vollendete Tatsache war. Daß ein ganzer Monat dieses Jahres als "Weimarer Republik" gilt, daß Schmitts Aufsatz Anfang Februar erschien, wird diskret verschwiegen. (Erwägenswert wäre auch, in einem Grenzfall dieser Art die Zeitspanne zwischen Redaktionsschluß und Erscheinung zu berücksichtigen.) Ebenso verschwiegen wird die Tatsache, daß im Monat Januar 1933 Schrnitt an einem letzten und intensivsten Versuch, Hitlers Machtergreifung entgegenzuwirken 21 , beteiligt war. iv) Unvollständigkeit. Steinherger erwähnt nicht, daß Schmitt denselben Aufsatz in den Sammelband "Verfassungsrechtliche Aufsätze" (erschienen 1958) aufgenommen hatte. Dieser Umstand müßte Schmitt als einen notorischen Nazi entlarven. Denn während seine, durch ihre Kollaboration nicht minder belasteten, Fach- und Zeitgenossen Reue zeigen oder die · Spuren verwischen, erinnert Schmitt die Öffentlichkeit erneut an seine "Option" für Hitler und den totalen Staat - eine ungeheuerliche Provokation! Wenn Steinhergers Auslegung stimmt, so würde jeder vernünftige Grund dafür sprechen, auch diese zweite Quelle zu nennen. Und wenn sie nicht stimmt, so würde jeder vernünftige Grund dafür sprechen, sie zu verschweigen. Unser letztes Fallbeispiel beruht nicht so sehr auf einem vertrackten und komplizierten Irrtum, sondern einer simplen, bedauerlichen, um nicht zu sagen: peinlichen Unkenntnis. In seiner Schrift über die geistesgeschichtliche Lage des Parlamentarismus hält Schmitt einer ehemaligen Kampfideologie ihre Inkonsequenzen vor und ruft ihre uneingelösten Versprechen, die Diskrepanz zwischen Ideologie und Wirklichkeit in Erinnerung. Die Öffentlichkeit reagierte nicht minder vehement, um nicht zu sagen: irrational, wie Monarchisten auf den Tatbestand der "Majestätsbeleidigung". (Es gibt offensichtlich auch einen demokratischen Obrigkeitskult). Wo sind aber die Grenzen zwischen legitimer Fragestellung und 21 Bendersky 184ff. Zu Schmitts politischer Tätigkeit in den letzten Monaten der Republik, insb. seiner Mitwirkung in Schleichers "Querfront-Plan", im "Januar-Notstandsplan" s. E. R. Huber: Carl Schmitt in der Reichskrise der Weimarer Zeit, in: Quaritsch (II) 33ff., insb. 47ff.

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Diffamierung? Und wer ist befugt, sie zu ziehen? Man witterte einen Frontalangriff auf Demokratie und Parlamentarismus, die "in ihrem Kern" getroffen werden sollten. Der semantische Unterschied zwischen "ins Herz" und "im Kern" treffen, bleibt unberücksichtigt. Daß Schmitts Interesse dabei ein "wissenschaftliches" war, wird von kaum jemand ernst genommen. Schmitts Erwartung: in der Erörterung der Grundlagen des Parlamentarismus liege ein "hoffnungsvoller Anlauf', zu geistigen Prinzipien zu gelangen 22 , wird gar nicht erst wahrgenommen. Das zentrale Schlagwort, mit dem die Ideologie des Parlamentarismus gegen die monarchische Exekutive mobilisierte, lautete: Diskussion statt Dezision. Was Schmitt in der parlamentarischen Wirklichkeit feststellt, ist: "Eine Diskussion findet nicht mehr statt; ja, mein bloßer Hinweis auf dieses ideelle Prinzip des Parlamentarismus hat R. Thoma veranlaßt, von einer ,gänzlich verschimmelten' Grundlage zu sprechen" 23 • Thoma bediente sich des scheinbar neutralen Arguments, daß die Wandlung einer Institution deren Legitimität nicht in Frage stelle, sondern ihr möglicherweise eine andere Legitimitätsbasis verschaffe. Ein zweischneidiges Argument. Wie würde die Öffentlichkeit reagieren, wenn eine Regierung, an ihre Wahlkampfreden erinnert, auf die "gewandelte" Lage verweisen und die Argumente der Opposition als verschimmelte Begriffe abtun würde? Die Diskrepanz zwischen Ideologie und Wirklichkeit ist ein heimtückisches Leck, die Stelle, wo Legitimität versickern kann. (Kommunistische Staaten spüren schmerzhaft dieses Gesetz: ihr Reformwille wird dadurch gelähmt, daß sie den Ballast ihres "verschimmelten" Instrumentariums nicht ohne weiteres über Bord werfen können, insbesondere dann nicht, wenn sie im Namen dieser Ideen Verbrechen begangen haben.) Schmitts Instinkt für Legitimität hat die Gefärlichkeit dieser Diskrepanz mit erstaunlichen Präzision erkannt. Wie (wenn auch sicher ungewollt) zynisch Thomas Antwort war, läßt sich an der Empörung messen, die sie auslöst, sobald man ihn Carl Schmitt zuschreiben zu dürfen glaubt. Ernst Fraenkel kennt das Umfeld der ParlamentarismusSchrift offensichtlich nur aus Hörensagen, die Verteilung der Rollen überhaupt nicht. Die Prinzipien der Diskussion und der Öffentlichkeit seien keineswegs so verschimmelt, "wie dies Carl Schmitt bei der Abfassung der Vorbemerkung über ,Die Geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus' glaubte annehmen zu können" 24 • ,~Fraeiikels Autorität garantiert dafür, daß.die Entgleisung zu "gesichertem" Ergebnis, der Stolperstein zu einem der Meilensteine wird, die Schmitts Weg in die NSDAP säumen.

22 23

24

GgLP 30. WtSt 155. Vgl. auch GgLP 6 (Vorwort). Fraenkel 136.

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15-3. Nicht nur die Kritiken, sondern auch die Kritiker lassen sich in mehrere Gruppen einteilen 25 . i) Als die erste Generation wären Schmitts Berufskollegen aus der Weimarer Zeit, also vor dem nationalsozialistischen Abenteuer, zu erwähnen. Viele von ihnen haben seinen methodologischen oder dogmatischen Erörterungen offen zugestimmt. Einige haben mit ihm polemisiert, die Kritik blieb jedoch, selbst bei politischen Gegnern, im großen und ganzen, innerhalb des Sachlichen. Das "Gefährliche" und das "Ruchlose" seiner Gedanken haben die meisten unelegant genug - erst im nachhinein entdeckt. Dadurch, daß sie sich von Schmitt distanzieren, wollen sie sich vor Verdächtigungen schützen, denen sie selbst (oft ungerecht) ausgesetzt waren. ii) In die andere Kategorie kann man Zeitgenossen, die während des Nationalsozialismus aktiv waren, einordnen. Für sie gilt die "Abrechnung" mit Carl Schrnitt als Zeichen der Reue, sie gehört zur individuellen Vergangenheitsbewältigung. Das führt manchmal zu grotesken Konstellationen. Es waren gesinnungstreue Nazis, die Ende 1936 die Kampagne gegen Carl Schmitt betrieben, ihn wegen seiner früheren bürgerlich-kosmopolitischen,judenfreundlichen Gesinnung überführten und das Ende seiner NS-Karriere erzwangen. Sie waren zweifelsohne "Gegner" des prominenten Nazi Schmitt, und wenn man die Motive nicht so genau unter die Lupe nimmt, können sich ehemalige Denunzianten als "relative Antifaschisten" verkaufen. Von den beiden ersten Gruppen, von seinen Fach- und Zeitgenossen ist nach 1945 "niemand in eine kritisch-wissenschaftliche Auseinandersetzung mit seinen Lehren eingetreten" 26 • iii) Zur dritten Gruppe zähle ich Juristen der jüngeren Generation. Die Voraussetzung, Schmitts Gesamtwerkaufgrund fachlicher Kriterien zu beurteilen, ist bei ihnen zweifelsohne vorhanden. Sie können sichjedoch einerseits von den Vorurteilen nicht lösen, sie wiederholen die Thesen, die im "Vorverständnis" der Carl-Schmitt-Auslegung gegeben sind und konstruieren nicht einmal phantasievolle "Beweise" dazu. Andererseits fehlt ihnen die unmittelbare, persönliche Erfahrung mit dem Alltag der Diktatur, um deren "Hermeneutik" verstehen zu können. Sie gebärden sich moralisch um so unerbittlicher, je weniger sie (aus objektiven Gründen) den Beweis erbringen können, gegen totalitäres Gedankengut - in welchem Gewande es auch immer erscheint immun zu sein. iv) In die vierte Gruppe gehören in erster Linie fachfremde Laien, die zugleich seine strengsten Richter sind: Journalisten, Politikwissenschaftler, Soziologen27 25 Die Anmerkung, daß Vollständigkeit nicht intendiert wird, versteht sich wohl von selbst. Nicht berücksichtigt wurden in dieser (zugegeben einseitigen) Typologie insbesondere diejenigen, die ihre Auseinandersetzung mit Carl Schmitt nicht von Imperativen einer vordergründigen Bewältigungsroutine haben leiten lassen. 26 E-W. Böckenförde, Die öffentliche Verwaltung, 1967, Heft 19, S. 688.

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usw. Die Urteile eines großen Teiles von ihnen folgen dem Mechanismus des Pavlovschen Reflexes. Man stellt eine erstaunliche Inkonsequenz der Argumente fest: z. B. den Vorwurf "antiliberal" erheben auch Autoren, für welche "liberal" sonst nur der Gegenpol zum "sozial" ist und abwertend gebraucht wird. Viele kennen Schmittsche Gedanken nur vom Hörensagen oder aufgrund punktueller und oberflächlicher Lesung einzelner Werke und interpretieren sie (wenn Gedankenarbeit überhaupt erkennbar ist) nach den oben skizzierten "Auslegungsregeln". Der Hintergrund und das Rückgrat der juristischen Konstruktion, die Verfassungslehre wird ignoriert, der Exorzismus ersetzt die Analyse. Die sonst manichäisch geforderte kritische Auseinandersetzung weicht einem spießerhaften Wohlverhalten und Anpassertum. In dieser Gruppe zeigt sich am prägnantesten, wie sehr der Anschluß an eine "herrschende Lehre" den Charakter geistigen Mitläuferturns annehmen kann. 15-4. Die Vermutung, daß Schmitts "Anfalligkeit" gegenüber der NS-Ideologie aus seiner Indifferenz gegenüber "Werten" entspringe, ist so verbreitet, daß es überflüssig ist, hier auch nur einen einzigen Beleg anzugeben. Argumente wie: "blind gegenüber Werten", an das "empirische Sein gebunden", mangelhafter "Glaube" an die metaphysische Wirklichkeit der Vernunft usw. waren zentrale Vorwürfe im Methodenstreit der zwanziger Jahre. (Ihr Adressat war übrigens der "Positivist".) Hermann Heller hat die weiterführende These aufgestellt: Gleichgültigkeit oder Unwissenheit gegenüber Werten mache einen für beliebige Inhalte offen 28 , gegenüber allen Heilslehren besonders anfällig 29 • Wenn die "Inhaltsleere" und Indifferenz gegenüber "Werten" im Schmitts Denken nachweisbar ist, dann ergibt der Syllogismus eine weitere Gesetzmäßigkeit, die ihn zum Nationalsozialismus führen mußte.

Die Verbindung ist indessen in mehrfacher Hinsicht falsch. Es war ein von Anfang an tendenziöses und mit Sorgfalt gepflegtes Mißverständnis, daß der Positivismus von Werten oder von Materien der Begriffsbildung nichts wisse. Ich habe über dieses Thema bereits früher gesprochen 30 , ich will hier nur das Fazit wiederholen. Der Vorwurfberuht auf der (falschen) Suggestion, Wertneutralität sei eine Art Nihilismus und Gleichgültigkeit, nichtjedoch ein spezifisches Ethos. Tatsache ist dagegen, daß sich gerade führende Positivisten (Anschütz, Kelsen) für das nationalsozialistische Regime nicht engagiert haben, und umgekehrt, die NS-Juristen waren in soziologisch signifikantem Maße nicht Positivisten, sondern Anhänger irgendeiner Spielart des Wertdenkens. so Helmut Rumpf (Leserbrief an die FAZ vom 1.7.1985). Wider die Behauptung: der Rechtspositivismus bekenne sich zur Beliebigkeit des Gesetzesinhaltes vgl. Forsthoff (Il) 18 f. 29 Bemerkungen zur Staats- und rechtstheoretischen Problematik der Gegenwart, in: AöR NF 16 (1929), S. 340. Ein besonders beliebter Topos der Schmitt-Kritik. Sein wissenschaftlicher Wert ist vergleichbar mit dem der These: Abstinente seien gegen Rauschgift anfalliger als etwa Alkoholiker. 30 Vgl. den abschnitt 2-4. 27

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Wie dem auch immer sein mag, der Zusammenhang zwischen Wertindifferenz und Schmitts Nazi-Karriere läßt sich schon deswegen nicht aufrechterhalten, weil ihre Prämisse unzutreffend ist. Der aufmerksame Leser muß geradezu mit Staunen feststellen, wie langsam sich Schmitt vom Wertdenken löst. Im Zentrum seiner Dissertation stand der "Wert des Staates", sein Begriff der Repräsentation steht und fällt mit dem Glauben an Werte31 . Zwischen dem ersteren und der "Tyrannei der Werte" liegt ein halbes Jahrhundert. 15-5. Schmitts Dezisionismus entsprang einer pessimistischen Geschichtsauffassung, die die Entwicklung der Massendemokratie, ihre Verwandlung in Totalitarismus als eine unabwendbare historische Notwendigkeit erscheinen ließ. Seine Schriften über Donoso Cortes geben ein klares Zeugnis davon. Die erste Hälfte dieses Jahrhunderts war nicht gerade dazu geeignet, dieses Geschichtsbild zu widerlegen. Die Prognose Toquevilles bezüglich Rußland war erfüllt, Italien folgte bald und Deutschland war soeben der Diktatur erlegen. Frankreich war keineswegs immun, und auch Spanien wurde bald Schauplatz eines Bürgerkrieges zwischen den nächsten Kandidaten. Was hätte die Emigration32 mehr als eine Atempause beschert?

Man hält Mitläufern, die in der ersten Phase der nationalsozialistischen Revolution nicht mit Grausamkeiten, sondern mit Hitlers taktisch bedingter Mäßigung und Besonnenheit konfrontiert wurden, vor: sie hätten antizipieren müssen - obwohl noch keine historische Erfahrung hinsichtlich des real existierenden Nationalsozialismus bestand. Die Kurzlebigkeit des HitlerRegimes, sein katastrophaler Ausgang und das Ausmaß des Verbrechens waren, falls die These von seiner Einmaligkeit und Einzigartigkeit zutreffen soll, objektiv nicht vorhersehbar gewesen. Man verlangt dagegen weit geringeres Antizipationsvermögen von denjenigen Intellektuellen, die nach 1945 für den Kommunismus optiert haben, obwohl Stalins Verbrechen bereits historische Tatsache waren. Wenn Schmitt mit seiner Kollaboration wirklich die politisch unreife Sammelbewegung beeinflussen, in rechtsstaatliche Bahnen lenken wollte, so war das der fatale Fehler eines Unerfahrenen, um nicht zu sagen: eines Dilettanten in Sachen praktischer Politik 33 . Die "Dialektik" von Kollaboration und Widerstand ist, nüchtern gesehen, ein "Tauschgeschäft", wobei es auf die Ausgangsposition des Kritikers ankommt. Totalitäre Bewegungen tolerieren keine externe, sondern, wenn überhaupt, nur interne Kritik. Wenn sie eine Opposition überhaupt zulassen, so muß sie aus den eigenen Reihen stammen. Es gibt kein besseres Beispiel für diese These, daß in den osteuropäischen Kommunismen Nur ein Wert könne repräsentiert werden (RK 29, VL 210). Vgl. Bendersky 203, 240f. 33 "Carl Schmitt verstand von der Praxis der Politik weniger, als seine Bücher vermuten lassen" - so Rüdiger Altmann, Analytiker des Interims. Wer war C. S., was ist von ihm geblieben?; in: K. Hansen/H. Lietzmann (Hrsg): CarlSchmitt und die Liberalismuskritik, Opladen 1988, S. 27 ff. 31

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beinahe ausschließlich nur eine "linke" Opposition, die keine anderen Ziele, sondern nur andere Methoden befürwortet, nur die Abweichung von der ursprünglichen reinen Lehre anprangert, eine Chance zum Überleben hat. Viele prominente Regimekritiker sind ehemalige treue Anhänger des Regimes, ja Stalinisten, oder (die jüngere Generation) Abkömmlinge mit "historischem" Namen. Wäre es in der Anfangsphase zum Sturz des Regimes gekommen, so stünden jetzt einige von ihnen nicht als die Träger der Hoffnung auf einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz da, sondern als banale Kollaborateure oder überzeugte Aktivisten eines verbrecherischen Regimes 34 • Die Stärke und Autorität des Regimekritikers ergibt sich aus seiner sonstigen Loyalität. Schmitt hat dieses einfache Merkmal des Politischen in autoritären Diktaturen übersehen. Er befand sich von Anfang an in einer Position der Schwäche, in der Defensive, er stand unter Beweiszwang. Er mußte nicht nur Verdienste aufzeigen wie ein jeder Mitläufer, sondern er mußte erhebliche Zweifel an seiner Loyalität entkräften, er mußte "Versäumtes" nachholen 35 . Es lag an der Hand, an Anhaltspunkten anzuknüpfen, die zu einer nur halbwegs plausiblen Urninterpretierung geeignet schienen. Es lag an der Hand, offene Begriffe im Sinne des Nationalsozialismus mit Inhalt zu füllen. So wurde aus der Homogenität "Artgleichheit", aus dem Feind, der auch der "Fremde" ist, der Artfremde, der "völkische Feind". So "feierte" er ("freilich" erst im Juli 1933!) auch den "Preußenschlag" als den ersten großen Sieg des Nationalsozialismus36. Indessen rechtfertigte weder dasUrteil einen Siegestaumel, noch waren Schmitts Argumente und persönliche Motive (wie aus dem HdV erkennbar) dazu geeignet, hieraus einen Verdienst um die nationalsozialistische Idee zu konstruieren. Vielleicht war den Nationalsozialisten diese Geschichtsklitterung aus propagandistischen Gründen willkommen. Sie waren jedoch, zumindest was die Rolle Schmitts im Prozeß Preußen contra Reich betrifft, weniger blauäugig als manch später Schmitt-Interpret. Diese Art Umdeutung ist, historisch gesehen, keineswegs originell, sie ist aus der Praxis "bürgerlicher" Intellektuellen unter kommunistischer Herrschaft bis zum Überdruß bekannt. Die jeweiligen Machthaber wissen es, sie nach ihrem wahren Wert zu würdigen: nämlich als nachträglich geschaffenes Alibi. Es ist hauptsächlich aus diesem Grunde, daß ich viele Schriften Schmitts aus der NSPeriode nicht berücksichtigt habe: Es fehlt ihnen allzu offensichtlich an Glaubwürdigkeit. 34 Vgl. nur den Werdegang des ehemaligen ungarischen Ministerpräsidenten Andras Hegedüs. 35 Schmitts Versuche, von seiner Vergangenheit abzulenken, waren nie mit der Denunzierung anderer Verbunden. Selbst seine antisemitischen Ausfälle trafen niemanden persönlich, sie richteten sich nur gegen verstorbene (Stahl, Hugo Preuß). - Ganz anders (in vergleichbarer Lage) z. B. Reinhard Höhn. 36 Hofmann 89.

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Die zweite Regel dieser Politik besteht darin, daß es einfacher ist, sich nicht zu engagieren, als später den Rückzug anzutreten. Wer einmal anfängt, den Machthabern nach dem Munde zu reden, kann nicht mehr selbst bestimmen, wie weit er gehen will und die Dosierung von "Zustimmung" und "Lenkung" gerät bald außer Kontrolle. "Nein" sagen ist gefährlicher als sich gar nicht geäußert haben, insbesondere in der sich schnell ändernden Anfangsperiode, in der die Machtpositionen noch nicht eindeutig ausgebaut wurden. Schrnitts "einflußreiche" Protektoren sind bald ins Bedrängnis geraten oder wurden gar ermordet, andere haben ihn kurzerhand fallen lassen. Und schließlich hat Schrnitt den "menschlichen" Faktor falsch eingeschätzt. Seine schnelle "Karriere" löste bei alten Kämpfern, den Gesinnungstreuen Neid, Eifersucht und Haß aus. Mit seiner Anpassung gewann er weder an Einfluß noch an Popularität, dafür aber schaffte er sich Feinde37 • 15-6. Die Feststellung, daß Carl Schrnitt von der Ideologie des Nationalsozialismus nie berührt war 38 , macht das Problem seiner Kollaboration nicht weniger, sondern in noch größerem Maße, moralisch wie intellektuell, erschütternd. Der öffentliche Widerstand gegen die Feinanalyse seiner NS-Schriften ist unverständlich, will man doch Schrnitt nicht "als" Nazi rehabilitieren oder seine Aussagen während des Dritten Reichs inhaltlich rechtfertigen. Wenn sich die Ansicht durchsetzen könnte, daß Schrnitt die rechtstaatliche Verfassung nicht bekämpft sondern verteidigt 39 , daß er um den Nationalsozialismus nicht geworben, sondern vor ihm gewarnt, ihn nach der Machtergreifung zu mäßigen versucht hat, so wäre dies sicherlich kein Gewinn für totalitäres Gedankengut.

Gleichwohl würde die Frage in eine andere Dimension gehoben, wo sie ihre beruhigende Einfachheit verlieren würde. Sie lautete: wie stößt ein Anhänger des demokratischen Verfassungsstaates, dem übertrieben und unzeitgemäß liberale Vorstellungen angekreidet werden 40 , zu den Mitläufern eines totalitären Regimes? Man will keine differenzierte Antwort, weil sie den aufklärerischen Optimismus, den Glauben an den linearen Zusammenhang zwischen "richtigem" Wissen und Handeln nur stört. Schrnitts persönliches und politisches Schicksal würde vielleicht noch einmal beweisen, wie hilflos der einzelne vor der extremen Situation steht, daß scharfer Intellekt und Verantwortungsgefühl vor absurden, ja tragischen Abenteuern nicht gefeit machen. Es würde auch nahelegen, daß man sich einer Diktatur nicht immer aus niedrigen Motiven anschließt, wie ihre Gegner auch nicht immer aus edlen Motiven heraus handeln. Darin, daß man bleibt und versucht entgegenzuwirken, könnte man auch eine "anspruchsvolle moralische Entscheidung" im Sinne der Verantwortungsethik erblicken können. 37 38 39 40

Bendersky 220 ff. z. B. Schmitz 67. Hofmann 123. Häberle: Wesensgehaltsgarantie 47 (FN 269).

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Vom Internationalen Gerichtshof wurde Schrnitt im Vorverfahren entlastet. Für das "Gewissen" der Öffentlichkeit war damit die moralische Schuld nicht erledigt, und es wurde ein "Verfahren" eingeleitet, das nach den Methoden der Beweisaufnahme durchaus als Indizienprozeß bezeichnet werden kann. Dies führt zu einem unbequemen Dilemma: entweder urteilte das Gericht nicht nach rechtsstaatliehen Maßstäben, oder aber gibt es für die Öffentlichkeit etwas "Höheres" als den Rechtsstaat. Ich will hier die bekannten Implikationen dieser Alternative nicht weiter verfolgen. Man hat seinen "Opportunismus" mit der Formel umschrieben, ihm sei nichts wichtiger gewesen, als immer "auf der Höhe der Zeit zu sein" 41 • Seine erste Reaktion auf die Regierungsübernahme Hitlers zeigt ein anderes Bild42 • Und offensichtlich gab es für ihn nach 1945 wichtigeres als sich wieder auf die Höhe der Zeit emporzuarbeiten. Vielleicht hätte es gereicht, im geeigneten Augenblick, wie viele andere, mit geeigneter Geste und eindrucksvollem Pathos "Reue" zu zeigen. Vielleicht hat gerade seine Weigerung, öffentlich Buße zu tun, seine erneute Karriere verhindert und ihn zum intellektuellen Aussätzigen des zivilisierten 20. Jahrhunderts gemacht. Carl Schrnitt ist ein Integrationsfaktor für die intellektuelle Nachkriegsgeneration. Er wurde zum Symbol, Instrument und Alibi der "moralischen" Reinigung und Vergangenheitsbewältigung. Die "demokratische Gelehrtenrepublik" hat ihm die Staatsbürgerschaft entzogen. Wie dies geschah, gehört mit zu den abstoßendsten Ritualmorden der Kulturgeschichte.

Hofmann 89. Vgl. Helmut Quaritsch: Positionen und Begriffe Carl Schmitts, Berlin 1989. Dieses vorzügliche Schmitt-Porträt konnte ich leider nicht mehr berücksichtigen. 41

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Literaturhinweise Werke von Carl Schmitt BdP D dArD DCgi GgLP G&G G&U HP HdV L lWR LeRW L&L MPSt N&EP N&N PT P&B RG RK RstVfV SBV stBN StE StkB TdP TW VL VrA WEStD WtSt ZMh 18 Holczhauser

Der Begriff des Politischen (Text von 1932), Berlin 1932 (1987) Die Diktatur, Berlin 1921 (5 1989) Über die drei Arten rechtswissenschaftliehen Denkens, Harnburg 1934 Donoso Cortes in gesamteuropäischer Interpretation, Köln 1950 Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, Berlin 2 1926 ( 6 1985) Grundrechte und Grundpflichten, 1932 (in: VrA 181 ff.) Gesetz und Urteil, Berlin 2 1968 Hugo Preuß. Sein Staatsbegriff und seine Stellung in der deutschen Staatslehre, Tübingen 1930 Der Hüter der Verfassung, Berlin 2 1969 (31985) Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes, Köln 2 1982 Die legale Weltrevolution: Politischer Mehrwert als Prämie auf juristische Legalität und Superlegalität (in: Der Staat 3 I 1978, S. 321 ff.) Die Lage der europäischen Rechtswissenschaft, 1943/44 (in:VrA 386fT.) Legalität und Legitimität, 1932 (in: VrA 263ff.) Machtpositionen des modernen Staates, 1933 (in: VrA 367fT.) Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen, 1929 (in: BdP 79fT.) Neutralität und Neutralisierungen, 1939 (in: P&B 271 ff.) Politische Theologie, Berlin 2 1934 (5 1990) Positionen und Begriffe im Kampfmit Weimar-Genf-Versailles, Harnburg 1940 (Berlin 2 1988) Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung, 1929 (in: VrA 63fT.) Römischer Katholizismus und politische Form, München 2 1925 Rechtsstaatlicher Verfassungsvollzug, 1952 (in: VrA 452fT.) Staat, Bewegung, Volk, Harnburg 1933 Die staatsrechtliche Bedeutung der Notverordnung, 1931 (in: VrA 235fT.) Staatsethik und pluralistischer Staat, 1930 (in: P&B 133fT.) Staat als ein konkreter, an eine geschichtliche Epoche gebundener Begriff, 1941 (in: VrA 375 ff.) Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen, Berlin 1963 (2197 5) Tyrannei der Werte (in: Säkularisation und Utopie. Festschrift für Ernst Forsthoff, Stuttgart 1967, S. 37ff.) Verfassungslehre, Berlin 5 1970 ('1989) Verfassungsrechtliche Aufsätze, Berlin 2 1973 (31985) Weiterentwicklung des totalen Staats in Deutschland, 1933 (in: VrA 359 ff.) Die Wendung zum totalen Staat, 1931 (in: P&B 146ff.) Der Zugang zum Machthaber, ein zentrales verfassungsrechtliches Problem, 1947 (in: VrA 430ff.)

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