Konnte Jesus irren ?: Unter dem geschichtlichen, dogmatischen und psychologischen Gesichtspunkte [Reprint 2019 ed.] 9783111554013, 9783111184395


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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Part 1
Einleitung: Bedeutung und nähere Bestimmung der Aufgabe
I. Die Thatsache der Irrtümer Jesu
II. Die Unwesentlichkeit der Irrtümer Jesu finden christlichen Glauben
III. Die Notwendigkeit der Irrtümer Jesu als Menschen
Part 2
Inhalt
Vorwort
1. Einleitung: Die Notwendigkeit der Frage: „Konnte Jesus irren?"
2. Jesu Gottmenschheit in ihrem Verhältnis zu seiner Irrtumsfähigkeit
3. Zöcklers Definition des Irrens
4. Was sind schwere und leichte Irrtümer Jesu?
5. Der Begriff des Irrens an sich
6. Die Notwendigkeit des Irrens Jesu in gewissen (heilsunwesentlichen) Dingen
7. Exegetischer Nachweis von Irrtümern Jesu auf grund der Bibel
8. Die Bedeutung des Wiederkunftsirrtums für die Person des Heilands, und die seelischen Bedingungen seiner Entstehung
9. Darf man an Jesu Wiederkunftsweissagung den Massstab prophetischer Psychologie legen?
10. Auf welche Weise ist die Unfehlbarkeit des Gehalts von Jesu Offenbarung verbürgt?
11. Schlusswort
12. Sach-, Namen- und Stellenregister zu den vier Bänden der Gottesolfenbarung in Jesu Christo und zu dieser Schrift
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Konnte Jesus irren ?: Unter dem geschichtlichen, dogmatischen und psychologischen Gesichtspunkte [Reprint 2019 ed.]
 9783111554013, 9783111184395

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Konnte Jesus irren?

Konnte Jesus irren? Unter dem geschichtlichen, dogmatischen und psychologischen Gesichtspunkte principiell

beantwortet

von

Prof. Dr.

Paul Schwartzkopff.

Glessen J. R i c k e r ' s c h e

Buchhandlung

1896.

Alle Rechte vorbehalten.

Vorwort. Diese in allem Wesentlichen seit Jahren fertig gestellte Schrift bildete von Hause aus die Einführung zu einem grösseren Werke „Die Gottesoffenbarung in Jesu Christo nach Inhalt, Umfang und Grenzen", dessen letzter Teil im Oktober des vergangenen Jahres unter dem Titel „Die Weissagungen Jesu Christi von seinem Tode, seiner Auferstehung und Wiederkunft" (bei Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen) erschienen ist.

Ich habe,

hauptsächlich aus äusseren Gründen, davon Abstand genommen, jenes als Ganzes herauszugeben.

Da nun das Thema der gegen-

wärtigen Schrift, welches direkt in die derzeitigen Interessen der Theologie einschlägt, sich auch selbständig behandeln lässt, so übergebe ich diesen Versuch einer p r i n z i p i e l l e n Lösung der dringenden Frage nach der Irrtumsfähigkeit Jesu hiermit als eine gesonderte Broschüre der Öffentlichkeit.

Es ist Zeit, nicht

mehr bloss zu behaupten oder zu leugnen, dass Jesus in gewissen Dingen geirrt habe, sondern den Streit durch eine in die letzten Gründe eindringende Untersuchung g r u n d s ä t z l i c h zum Austrag zu bringen.

Dass das echte Christentum auch hier durch die

Wahrheit nur gewinnen kann, ist ja selbstverständlich.

Dazu

möchte dies Schriftchen an seinem Teile beitragen. W e r n i g e r o d e , im Januar 1896.

Der Verfasser.

Inhalt. Seite

Einleitung: Bedeutung und nähere Bestimmung der Aufgabe . . • I. D i e T h a t s a c h e d e r I r r t ü m e r J e s u 1. Die Verfluchung des Feigenbaumes 2. Das Jonazeichen 3. Jesu Frage nach der Davidssohnschaft des Messias . . a) Echtheit der Frage Jesu b) Sinn der Frage c) Der Irrtum Jesu in betreff des 110. Psalmes . . II. D i e U n w e s e n t l i c h k e i t d e r I r r t ü m e r J e s u f ü r d e n christlichen Glauben 1. Der christologische Einwand gegen das Irren Jesu . . a) Die Zweinaturenlehre b) Die Kenosis und Dorners Stellung zu ihr . . . 2. Der soteriologische Einwand gegen das Irren Jesu . . a) Die Anselmsche und altkirchliche Genugtthuungslehre b) Die Sühne im israelitischen Kultus, in Propheten und Psalmen c) Jesu Auffassung von Gottes Vergebung . . . . d) Die Lehre der Babbinen von der stellvertretenden Genugthuung e) Die Anschauung des Paulus von der Stellvertretung Christi f) Die Mängel der altkirchlichen Genugthuungslehre an sich g) Die Genügsamkeit der r e l i g i ö s e n Heilsmittlerschaft Jesu HI. D i e N o t w e n d i g k e i t d e r I r r t ü m e r J e s u a l s M e n s c h e n 1. Die allgemeine Ableitung derselben aus den Schranken der Menschheit 2. Begriffsbestimmung, besondere Gründe und Anlässe und Umfang des Irrens

1 6 6 8 14 15 16 21 37 42 44 50 53 53 57 67 70 71 74 76 79 79 85

Einleitung: Bedeutung und nähere Bestimmung der Aufgabe. Der kürzlich verstorbene Geheimerat Y. Frank fragt, wo ein Anhalten möglich sei, wenn man „erst einmal", wie er selbst es tliut (S. 200, 206), „irgend welchen Irrtum in der heiligen Geschichte" zugestehe, und nennt diese Frage eine „brennende".*) „Wenn aber die gläubige Theologie unserer Tage ihr aus dem Wege" gehe, „statt sie anzufassen und nach Kräften zu lösen", so werde sie „dem Andrang der schlechten, geschichtswidrigen Kritik zu widerstehen nicht vermögen." (S. 200.) Wenn v. Frank dies mit vollem Rechte in bezug auf die Irrtumsfiihigkeit der heiligen Schrift geltend macht, wieviel mehr ist es „eine brennende Frage", ob Jesus selber, und worin er geirrt hat und irren konnte. Sie ist freilich überhaupt k e i n e Frage für diejenigen, welche Jesum Christum als einen b l o s s e n Menschen ansehen. Für diese versteht es sich von vornherein von selbst, dass er irren konnte und in mannigfacher Hinsicht m u s s t e . Die Schwierigkeit entsteht erst für die p o s i t i v e n Theologen; welchen die volle Göttlichkeit der Sendung des Herrn feststeht. Diese sehen sich durch den jetzigen Stand der Forschung zu der F r a g e nach der Möglichkeit und Thatsache gewisser Irrtümer des Herrn gezwungen. Ob dieselbe schliesslich, wenigstens in hinsieht auf die gesamte Heilsoffenbarung, mit Nein zu beantworten ist, hat die nähere Untersuchung festzustellen; darüber ist nicht von vornherein nach dieser oder jener Seite hin abzusprechen. G e s t e l l t werden muss *) Neue kirchliche Ztschr. Y, 3, 1894. S. 183—207. S c h w a r t z k o p f f , Konnte Jesua inen?

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sie aber auf jeden Fall. Dies fordert sowohl die heutige exaktere Bibelkenntnis, als die konsequente Fassung der von der Kirche anerkannten wahren Menschheit Jesu. Kann sich doch kein vorurteilsloser und aufrichtiger Bibelforscher mehr dem Eindruck entziehen, dass die gesamte Urchristenheit, einschliesslich der Apostel, ohne Ausnahme das Kommen ihres verklärten Herrn zur Aufrichtung des Vollendungsreiches zu ihren Lebzeiten erwartet hat. Daraus folgt freilich noch nicht unbedingt, dass der Herr ganz ebenso gedacht und geweissagt haben muss. Wenn er es aber nicht gethan haben sollte, so ist dieser Widerspruch immerhin im höchsten Grade auffallend und heischt gebieterisch eine Erklärung. Und diese kann niemand geben, der nicht eben die F r a g e nach dem Irren Jesu in diesem Punkte wirklich aufwirft. Dasselbe ergiebt sich, wenn man mit Jesu w a h r e r M e n s c h h e i t Ernst zu machen sucht. Es milsste wiederum in hohem Grade auffallen, wenn er, obwohl wahrer Mensch, der ausnahmslosen Verhaftung der Menschheit an das Irren sollte völlig entnommen gewesen sein. Vielleicht weist sich dies dennoch so aus. Jedenfalls kann es aber nur aus einer genauen psychologischen Untersuchung des Seelenlebens Jesu hervorgehen. Denn nur diese vermag festzustellen, ob die Göttlichkeit Jesu, als solche, das Irren in jeder Beziehung hindern konnte, bezw. wie weit sie dies vermochte. Die Untersuchung unserer Frage ist aber um so wichtiger, als von vornherein klar ist, dass ihre Lösung von durchgreifender Bedeutung für die Gesamtauffassung des Christentums sein muss. Fürchten doch einige, wenn sich Irrtümer Jesu, zumal in wichtigeren Punkten, sollten nachweisen lassen, sogar an dem Herrn irre werden zu müssen,*) und selbst ein Theologe wie Weififenbach ist höchst peinlich berührt, wenn Jesus sich etwa hinsichtlich des Termins seiner Wiederkunft, damit also „bezüglich des Endabschlusses des Reiches Gottes" geirrt haben sollte.**) Und *) Vergl. z. B. Hengstenberg in seinem Kommentar über die Psalmen Bd. IV, 2. Aufl. Berlin 1852, S. 241. **) Weiffenbach, Der Wiederkunftsgedanke Jesu. Leipzig 1873. Vorwort, S. 4 ff.



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in der That: lässt sich ein einziger Irrtum Jesu, zumal in bezug auf seine Heilsoffenbarung:, wenn auch nur in ihrer Form, nachweisen, so entstehen damit nun erst die eingreifendsten Fragen: Wieweit bleibt er trotz der Irrtumsfahigkeit unfehlbar? Wie verhält sieh Jesu Irrtumsfahigkeit zu seiner Sündlosigkeit? Kann auch dem irrenden Jesus diejenige Göttlichkeit zukommen, die ihn befähigt, unser Heiland zu sein? Man sieht, hier gilt es ein centrales Interesse des Christentums. So hält die Sorge, es möchte durch die Annahme gewisser Irrtümer des Herrn sein Heilandsberuf geschädigt oder gar aufgelöst werden, manche von der blossen Berührung eines so bedenklichen Punktes zurück. Da bedarf es aber doch gerade der Prüfung, ob wirklich dergleichen zerstörende Konsequenzen unausweichlich sind. Ich meinerseits bin allerdings durch eine mehrjährige Untersuchung zu der festen Uberzeugung geführt, dass Jesus selbst in Punkten, die mit seiner Heilsoffenbarung zusammenhängen, hier und da geirrt hat. Wenn aber die Wahrheitsliebe von dem sachkundigen und einsichtigen Christen dies unumwundene Zugeständnis verlangt, so sehe ich doch als meine wichtigste Aufgabe den positiven Nachweis an, d a s s j e n e I r r tümer den b e s e l i g e n d e n H e i l s g e h a l t von J e s u g ö t t l i c h e r S e n d u n g k e i n e s w e g s s c h ä d i g e n . Wir brauchen und wollen uns unser Heil in Christo nicht rauben lassen. Aber nur durch unbedingte Wahrhaftigkeit können wir Jesu Sache dienen. Der Feind kann nicht dadurch überwunden werden, dass man ihn nicht sieht, sondern nur dadurch, dass man ehrlich mit ihm rechnet. So erwächst uns demnach hier die dreifache Aufgabe, einmal die T h a t s a c h e d e s I r r e n s Jesu überhaupt auf grund des N. Testamentes zu prüfen, bezw. festzustellen, sodann die M ö g l i c h k e i t r e s p . N o t w e n d i g k e i t d e s s e l b e n im S e e l e n l e b e n Jesu psychologisch zu begründen und endlich die B e d e u t u n g des Ergebnisses f ü r den H e i l s g l a u b e n zu bestimmen. Was den ersten Punkt, nämlich den Nachweis betrifft, dass Jesus wirklich hier und da geirrt hat, so habe ich in meinem jüngst herausgekommenen Buche „Die Weissagungen Jesu Christi von seinem Tode, seiner Auferstehung und Wiederkunft" (Vandenhoeck und Ruprecht 1895) einen Irrtum Jesu in bezug auf den Termin der letzteren bereits aufgezeigt. Doch sehe ich hier 1*



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davon ausdrücklich ab. Denn ich mochte nicht nur diejenigen überzeugen, die mir vielleicht in der Losung jener Frage zustimmen werden, sondern W e s e n und B e d e u t u n g d e r a r t i g e r I r r t ü m e r überhaupt k l a r z u s t e l l e n suchen. Dazu eignen sich aber vorläufig besser weniger schwierige und umstrittene Punkte. Ich werde daher, nach kurzer Berührung einiger mehr äusserlicher Beispiele, Jesu Auffassung des 110. Psalms eingehender erörtern, um daran zu zeigen, dass Jesus selbst an solchen Punkten, die in naher Beziehung zu der Form seiner Gottesoffenbarung stehen, vom Irren nicht durchaus frei gewesen ist. Nachdem so festgestellt ist, dass Jesus wirklich (hier und da) geirrt hat, wird wegen der Wichtigkeit der Folgerungen, welche sich daraus für die Auffassung von Christi Person und Werk ergeben, zunächst sogleich das Verhältnis dieser Irrtumsfähigkeit zu unserem Heilsglauben einer gesonderten Untersuchung zu unterziehen sein. Mit dem Nachweise thatsächlicher Irrtümer Jesu aber ergiebt sich sodann die B e r e c h t i g u n g und Nötigung, nach den Gründen dieser Thatsache im Seelenleben Jesu zu forschen. Man wird also psychologisch die Bedingungen und Anlässe zu prüfen haben, unter und aus denen für Jesuin als Menschen Irrtümer eintreten konnten und mussten. Ferner ist der Sinn festzustellen, in welchem dies gilt. Manche halten es für selbstverständlich, dass sich Jesus zuweilen geirrt habe, da ja die Menschheit Jesu feststehe. Damit stützt man sich aber nicht auf einen unumstösslichen Grund, sondern auf eine V o r a u s s e t z u n g , deren Richtigkeit von dem eben fraglichen Verhältnis der Gottheit Christi zu seiner Menschheit abhängt. Und im besten Falle kommt man bis zur M ö g l i c h k e i t des Irrens Jesu als Menschen. Damit bleibt man aber noch den Nachweis schuldig, dass diese sich angesichts der Göttlichkeit Jesu dennoch an bestimmten Punkten in seinem Leben auch verwirklicht hat. Jene Meinung muss also so lange als ein V o r u r t e i l gelten, als nicht auf geschichtlichem Wege die Thatsache und auf psychologischem die Notwendigkeit des Irrens Jesu im allgemeinen und besonderen erwiesen ist. Es ist somit ein unsicherer Weg, aus der Voraussetzung der vollen Menschheit Jesu ohne weiteres auf sein Irren zu schliessen.



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Unanfechtbar sicher ist allein das entgegengesetzte Verfahren. Man muss zunächst die T h a t s a c h e der Irrtümer Jesu aufzeigen. Aus dieser folgt dann unweigerlich seine volle Menschheit. Denn Irren ist nicht göttlich, sondern menschlich. Ich werde daher diesen Beweis sogleich auf grund der Bibel versuchen. Nur bemerke ich, dass es für meinen Zweck zunächst nicht auf ein Zusammentragen aller im neuen Testamente nachweisbaren Irrtümer Jesu ankommt. Reicht doch der Nachweis eines einzigen charakteristischen Irrtums, der im Zusammenhange mit seiner Heilsoffenbarung steht, dazu hin, seine Irrtumsfähigkeit selbst in s o l c h e n Dingen unanfechtbar zu machen. Ist eine Thatsache einmal dargethan, so kann die Vollzähligkeit gleichartiger Fakta wohl zur Abrundung des Ganzen beitragen, aber ihre Thatsächlichkeit nicht verstärken.*) Ich denke nun diese Thatsächlichkeit von Jesu Irrtümern so zu erhärten, dass ich, nach vorläufiger Berührung der Verfluchung des Feigenbaumes und der Jonas-Weissagung, sogleich den erwähnten, zunächst kritisch gesicherten, Irrtum Jesu eingehend davthue, um hieraus die Folgerungen zu ziehen. *) Sämtliche Irrtümer von Belang werden erst da ihre Berücksichtigung finden müssen, wo sie als Schranken der gesamten konkreten Gottesoffenbarung in Christo ihre richtige Beleuchtung empfangen können. Dies muss ich mir jedoch für eine andere Stelle vorbehalten.

I. Die Thatsache der Irrtümer Jesu. 1. D i e Verfluchung des Feigenbaumes. Kein Unbefangener kann in Abrede stellen, dass sich Jesus geirrt bat, falls man die Geschiebte von der Verfluchung des Feigenbaumes, wie sie von Markus und Matthäus erzählt wird, als echt anerkennt (Mr. 11, 12—14, Mt. 21, 18—22).*) Denn für beide Synoptiker ist der Hunger der Grund, welcher Jesum treibt, an den Feigenbaum heranzugehen, um an ihm nach Früchten zu suchen, die er aber nicht findet (Mr. 11, 12. Mt. 21, 18). Markus giebt als den Anlass der irrigen Erwartung Jesu ausdrücklich die Belaubtheit des Feigenbaumes an, da dieser seine Früchte v o r dem Laube zu entwickeln pflegt (V. 13). Der Einwand, Jesus habe Früchte an ihm nicht e r w a r t e t , sondern nur f ü r m ö g l i c h g e h a l t e n , sich also auch nicht g e irrt, ist nicht stichhaltig. Denn Jesus konnte den Feigenbaum nicht mit Verfluchung bestrafen, wenn er nicht seine E r w a r t u n g g e t ä u s c h t hatte. Diese Enttäuschung Jesu ist doch augenscheinlich der Grund seiner, und zwar offenbar im Zorn vollzogenen, Verwünschung (V. 14). Wenn Markus Jesu Irrtum dadurch erklärlich zu machen sucht, dass er ihn den Feigenbaum zunächst nur von weitem sehen lässt, und wenn er sein Nichtfinden ausdrücklich damit begründet, dass damals nicht Feigenzeit gewesen sei (V. 13), so bestätigt beides nur diese T h a t s a c h e des Irrtums. Wie man ihn näher auffasst, das verschlägt dafür nichts. Mag man ihn mit Holtzmann daraus erklären, dass Jesus seine Erfahrungen aus Galiläa, wo nach J o s e p h u s (Bell. jud. III, 10, 8) *) So schon Beyschlag Leben Jesu I, 294.



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die Feigenzeit zehn Monate währte, in das „keineswegs gleich paradiesische J u d ä a " übertrug (Handkommentar zu den Synoptikern 232), oder mag man Franz Delitzsch glauben, dass Jesus „um die Zeit des Osterfestes dennoch an einem schon belaubten Baume auch vor der Reifezeit der Frtihfeigen Winterfeigen zu finden erwarten durfte, da die Blätter eben die wiedererwachte Triebkraft des Baumes zu bezeugen schienen." (Eiehms Handwörterbuch I, 427 unter „Feigenbaum".) Es bleibt eben ein Irrtum. Manche sehen nun die Verfluchung zwar als einen wirklichen, jedoch nur s y m b o l i s c h e n Akt an. Diesen vollziehe Jesus einzig im Hinblick auf Israel, indem er diesem in der Form einer Gleichnis-Handlung die Strafe für die Enttäuschung seiner oder Gottes Erwartung prophezeie. Auch wer dies annimmt, setzt aber notwendig eine E n t t ä u s c h u n g von Jesu Hoffnung nicht nur in liezu^- auf Israel, sondern zunächst in Beziehung auf den wirklichen Feigenbaum voraus. Sonst würde j a der Vergleichungspunkt unzureichend sein. Noch lehrreicher indes als Jesu Irrtum selbst ist, dass die E v a n g e l i s t e n hier, wie wir sahen, stillschweigend seine Irrtumsfähigkeit voraussetzen. Sie sind also weit davon entfernt, eine unbedingte Irrtumslosigkeit desselben anzunehmen. Und hierin niuss doch zugleich in der Hauptsache die Anschauung des urchristlichen Leserkreises zum Ausdruck kommen. Denn zu deren Erbauung schrieben sie, und ihnen gegenüber nehmen sie j a sogar eine führende Stellung ein. So ist es klar, dass die ersten Christen Jesu ganz harmlos eine gewisse Irrtumsfähigkeit zugeschrieben haben. "Wie kommen nun wir dazu, Irrtümer Jesu unbedingt abzuweisen? Standen sie doch seinem Leben näher als wir, und ruht doch zugleich hierauf ein Teil ihres Ansehens als Berichterstatter dieses Lebens. Wie fern müsste es ihnen liegen, Jesu menschliche Schwächen anzudichten, die ihn nicht berührten! Freilich ist dieser Irrtum Jesu, trotz der deutlichen Meinung der Evangelisten, nur für diejenigen zwingend erwiesen, die die Verfluchung des Feigenbaumes als ein geschichtliches Ereignis ansehen. Nicht für mich. Denn mir erregt die Verfluchung und strafende Vernichtung eines Vernunft- und schuldlosen Baumes, selbst wenn sie nur den Sinn eines symbolischen Anschauungsunterrichts haben sollte, und nicht, wie es doch deutlich der Fall



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ist, zugleich im Zorne geschähe, sittliches Bedenken. Dies verbietet mir, dem sittlich unantastbaren Jesus eine derartige Handlung zuzutrauen, somit hier eine wirkliche Geschichte anzuerkennen. Ich halte es vielmehr mit Keim (Leben Jesu III, 126), Holtzmann (a. a. 0. 233), Wendt (Lehre Jesu I, 42 f.) und anderen für mehr als wahrscheinlich, dass hier eine „durch die mündliche Uberlieferung vollzogene Umsetzung gleichuismässiger Worte Jesu in eine gleiclmismässige That' stattgefunden hat (Wendt, a. a. 0 . S. 42). Ein ähnliches Gefühl der Ungeschichtlichkeit dieses Strafwunders dürfte übrigens schon Lukas gehabt haben, als er mit deutlicher Absicht die ihm im Markus vorliegende Geschichte ausliess, um sie durch sein „aus anderer Überlieferung" geschöpftes Gleichnis vom unfruchtbaren Feigenbaume (Lk. 13, 6—9) zu ersetzen. Feine nennt freilich „dies Urteil des Lukas, dass das hier erzählte Gleichnis Ersatz ist für die Erzählung der beiden Synoptiker von der Verfluchung des Feigenbaumes . . . nur sein subjektives."*) Aber immerhin dürfte das Urteil eines Evangelisten mit in die Wagschale fallen. Lukas hat offenbar clcn Inhalt des Gleichnisses und der Geschichte noch als d e n s e l b e n empfunden. Mein Interesse ist hier nur dies, den sittlichen Anstoss zu beseitigen, den die Form der G e s c h i c h t e notwendig enthält. Wer diese festhält, mag zusehen, ob er sich mit dem s i t t l i c h Bedenklichen leichter abfinden kann, als mit der Annahme eines kleinen Missverständnisses der Uberlieferung. Den Irrtum Jesu aber wird er dann stehen lassen müssen. Das Ergebnis unserer Untersuchung ist also dieses. V i e l l e i c h t haben wir hier einen Irrtum Jesu vor uns. J e d e n f a l l s , wenn wir der Annahme zweier Evangelisten, des Markus und Matthäus, zustimmen, welche beide ihrerseits diesen Irrtum Jesu unbefangen voraussetzen.

2. Das Jonazeiclien. Eine irrige Auffassung scheint Jesus mit seinen Zeitgenossen in betreff des Propheten Jona zu teilen. Ich meine seinen Ausspruch vom Zeichen des (Propheten) Jona, welches dem zeiclien*) Feine, eine vorkanonische Überlieferung des Lukas. 1891. S.93—96.



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fordernden bösen Geschlechte v o n Jesu einzig noch g e g e b e n werden soll (Lk. 11, 2 9 — 3 2 , Mt. 12, 3 8 — 4 2 ) . N a c h Lukas wird, „wie Jona den Niniviten zum Zeichen ward, der Menschensohn (selber) diesem Geschlechte (zum Zeichen) sein" (Luk. 11, 30 f.). D e m Matthäus d a g e g e n besteht das angekündigte Jonazeichen darin, dass, „wie Jona in dem Inneren des Meerungeheuers drei T a g e und drei Nächte war", „so der Menschensohn in dem Inneren der Erde drei T a g e und drei Nächte sein" soll (12, 4 0 ff.).*) W e r auch von beiden Evangelisten hier die richtige Erklärung des Jonazeichens bringen möge**), für uns handelt es sich zunächst beiderseits darum, ob Jesu offenkundige Voraussetzung richtig ist, dass die Erzählung des Jonabuches von dem gleichnamigen Propheten dem geschichtlichen Thatbestande entspricht.***) *) Vergl. besonders Fr. Zimmer: „Der Spruch vom Jona-Zeichen" 1881, und die Rekonstruktion der Logia bei "Wendt, „Lehre Jesu" I, § 12d, S. 103 f. **) B. Weiss scheint mir ohne zureichenden Grund in die Lukasfassung, die auch er geneigt ist für die ursprüngliche zu halten, den Sinn der Matthäusfassung hineinzudeuten. Kommentar von Meyer-Weiss zum Lukas, 8. Aufl. 1890, S. 239. ***) Ich persönlich muss der in vorstehender Anmerkung angeführten sorgfältigen Untersuchung Fr. Zimmers darin beistimmen, dass Matthäus wahrscheinlich den Lukastext durch seine Änderungen hat „erklären wollen". „Denn nicht nur die scheinbare Schwierigkeit, dass einmal statt eines Zeichens des Jona Jona selbst ein Zeichen heisst, und dass andrerseits der Menschensohn, der ja schon da ist, mit dem Futurum lcrai als ein erst zukünftiges Zeichen hingestellt wird . . . . vermeidet er mit seinem Texte, sondern er macht die dunkle Stelle durch seine Erklärung, so scheint es, überhaupt erst verständlich" (a. a. O. S. 17). Dass er aber bei der Deutung zu dem auffallenden Wunder griff, ist f ü r die judenchristliche Anschauung des Evangelisten nicht nur an sich verständlich; dasselbe wird sich vielmehr seinem Suchen nach Wort- und Thatweissagungen auf Jesu Auferstehung willig dargeboten haben. So findet dies auch Zimmer durchaus mit der bekannten Darstellungsart des ersten Evangelisten zusammenstimmend (ebendort). Natürlich hat er bei diesem Auslegungsversuche nur den w i r k l i c h e n G e h a l t der Weissagung Jesu in den Mund zu legen geglaubt. Dem gegenüber lässt sich für eine „Änderung des ursprünglichen Textes durch Lukas kein auch nur irgendwie scheinbarer Grund vorbringen" (Zimmer a. a. 0 . S. 16). Wenn andrerseits nach Matthäus das dem bösen Geschlechte in Aussicht gestellte Jonazeichen in Jesu Auferstehung bestehen soll, so ist der gemeinte Vergleichungspunkt, auf den



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Nach Lukas spielt Jesus mindestens auf die Gerichtspredigt des Jona und die darauf erfolgende vorbildliche Bekehrung der es ankommt, nämlich die Bettung des Jona und Christi aus Todesnot, eigentlich nur vorausgesetzt, jedenfalls sehr mangelhaft zum Ausdruck gekommen; wie man dies dem Evangelisten weit eher als Christo zutrauen darf. Vor allem aber weiss das Jonabuch, worauf schon mehrfach hingewiesen worden ist, überhaupt nichts davon, dass die Rettung des Jona aus dem Walfischbauch f ü r d i e N i n e v i t e n e i n Z e i c h e n w a r . Jesus konnte es daher auch schwerlich darin finden. Ganz abgesehen von dem wenig Wahrscheinlichen, dass eine Stadt wie Babylon auf einen derartigen Wunderbericht eines jüdischen Fremdlings viel gegeben hätte. Wiederum konnte ebensowenig, als das Walfischwunder für die Nineviten, Jesu Auferstehung für das ungläubige Geschlecht zu einem Zeichen werden und ist es thatsächlich nicht geworden. Man darf j a hier nicht an diejenigen denken, welche den Aposteln die Auferstehung Jesu g e g l a u b t haben. Jesus redet vielmehr von solchen, die, weil sie n i c h t glaubten, im jüngsten Gcricht von den bekehrten Nineviten verdammt werden (Lk. 11, 30.32. Mt. 12, 39.41. Yergl. auch Bleek, synoptische Erklärung der drei ersten Evangelien. 1862. I. S. 500 f. Wendt, Lehre Jesu I, 103. II, 485. Joh. Weiss, Lukaskommentar, 8. Aufl. 1892. S. 474). Für diese war die Auferstehung Jesu überhaupt nicht da, konnte daher f ü r sie weder objektiv, noch subjektiv ein Zeichen sein. Wenn sie jedoch verurteilt werden, weil sie auf die Predigt eines, der weit grösser ist, als Jona, nicht Busse gethan haben, so weist dies vielmehr deutlich auf die Beziehung zurück, in welcher Jona ein Zeichen für die Nineviten war und Jesus eins für das böse Geschlecht, wenn auch nur in objektivem Sinne, werden sollte. Wie Jona durch sein überzeugungsvolles Auftreten als Gerichtsprediger (Buch Jona 3, 4) den Nineviten zum drohenden "Vorzeichen wurde, dass Gottes Gericht ihnen bevorstehe, so wird Jesus in seiner gesamten Erscheinung dem bösen Geschlechte zum drohenden Vorzeichen des die Unbussfertigen sicher treffenden Gerichtes. Es tritt in ihm seinen ungläubigen Zeitgenossen, wenn auch nicht erkannt oder nicht gewürdigt, die prophetische Vergewisserung des Gottesgerichtes entgegen, das um so unausweichlicher ist, als sich im Menschensohne ein viel gewaltigeres Zeichen als im Jona darstellt. Dass jenes Gericht f ü r die Nineviten wegen ihrer Bekehrung nicht eintraf, verschlägt nichts f ü r die ernst gemeinte Gerichtsdrohung beider, welche den Vergleichungspunkt bildet. Genauer ist die Bedeutung des angekündigten Jonazeichens nach dem Zusammenhang folgende. Nachdem das verstockte Geschlecht das Himmelszeichen der Dämonenaustreibung durch den Geist Gottes (Lk. 11, 20. Mt. 12, 28) als Höllenzeichen gedeutet (Mt. 12, 24. Lk. 11, 15), wird ihm, da es nicht sehen will, daher auch nicht sehen kann (Lk. 11, 34 f.)>



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Niniviten als auf eine geschichtliche Thatsache an (Lk. 11,30.32); nach Matthäus aber auf die Rettung des Jona aus dem Bauche des Walfisches, in welchem er drei Tage weilte (Mt. 12, 40). Nun mögen dem Buche Jona sagenhaft ausgeschmückte Züge aus dem Leben des Propheten dieses Namens zu gründe liegen, welcher die Wiederherstellung der Grenzen Israels weissagte, eine Weissagung, die unter Jerobeam II. in Erfüllung ging (2. Kön. 14, 25—27). Doch wird die Erzählung in der Form, wie sie hier vorliegt, heutzutage fast allgemein als Lehrdichtung anerkannt (vgl. Cornill, Einleitung ins alte Testament. Freiburg 1891. S. 178 ff.). Selbst Hengstenberg gesteht zu, dass die Geschichte „dem Verfasser nur Darstellungsmittel für einen Gedanken" gewesen sei, da sich „nicht ein einziges Beispiel von einem Propheten'1 finde, der „im eigenen Interesse der Heidenwelt unter sie ausging." Er betont mit Recht, dass „die Bekehrung der Heiden nicht Werk der Gegenwart", sondern erst der messianischen Zeit sei, und schliesst drastisch: „Wenn es auf etwas anderes abgesehen wäre, als Zukünftiges abzubilden, so wäre der Prophet besser zu Hause geblieben" (Christologie I, 451 f.). überhaupt keine Machtthat Jesu mehr zu einem Zeichen (Mk. 8, 12), geschweige denn zu einem Himmelszeichen werden können, sondern der Menschensohn selbst wird ihm für die Zukunft („eotat" Lk. 11, 30) nur ein Gerichtszeichen sein. (Auch hier hat also „Menschensohn" die spezifisch eschatologische Bedeutung.) War auch die Busspredigt nicht etwas dem Jona Eigentümliches, so konnte sich dennoch der Menschensohn als der Bringer unentrinnbarer göttlicher Gerichtsentscheidung treffend mit dem vergleichen, welcher ebenfalls einst ein gottfeindliches Geschlecht mit dem unentrinnbaren Gottesgerichte bedroht hatte. Und wenn selbst die Pharisäer „ein spezifisches Beglaubigungszeichen seiner Messianität" von Jesu gefordert haben sollten, was mir zweifelhaft ist, folgt daraus nicht notwendig, dass Jesus mit dem Zeichen des Jona unmittelbar ein solches meinen müsse. Gerade das Jonazeichen, das die Nineviten erhielten, dessen Gegenbild hier dem bösen Geschlechte in Aussicht gestellt wird, war wohl ein G o t t e s z e i c h e n , aber jedenfalls kein m e s s i a n i s c h e s . (Gegen Meyer-Weiss im Kommentar zum Matthäus S. 238 f. Übrigens verstehe ich auch nicht, wie Fr. Zimmer das Jonazeichen als die zukünftige Verwerfung Israels u n d A n n a h m e der H e i d e n deuten kann (a. a. 0. S. 22, vergl. 31), da Jona den Heiden vielmehr durch seine G e r i c h t s d r o h u n g zum Gotteszeichen wurde.)



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Nur fasst man den dieser Lehrdichtung zu Grunde liegenden Gedanken verschieden auf. Ewald (Die Propheten des alten Bundes, Göttingen 1868. S. 235) meint, der Verf. wolle darstellen, „dass nur die wahre Furcht und Reue Heil von Jehova bringe." Diese gar zu abstrakte Idee scheint dem Gehalt der Erzählung nicht hinreichend gerecht zu werden. Dagegen stellt schon Knobel (Der Prophetismus der Hebräer, II, 1837. S. 371—377) die ansprechende Vermutung auf, der Dichter züchtige den „auf theokratischem Stolze ruhenden Nationalhass der Hebräer gegen das Ausland" und habe vielleicht Gottes Verfahren rechtfertigen wollen, wenn die Weissagungen der exilischen Propheten, „Babylon werde durch die Meder und Perser zerstört werden" (S. 375) nicht eintrafen; wodurch die Propheten vor dem Volke „biossgestellt waren" (376). „Ninive führte er an, und Babel meinte er" (377). Kornill, der sich dieser Anschauung im wesentlichen anschliesst, macht u. a. auf die sprachlichen Gründe aufmerksam, welche, im Verein mit den zeitgeschichtlichen, die Parabel, frühestens an das Ende der Perserzeit, vielleicht erst in die griechische Zeit verweisen (Einleitung in das alte Testament Freiburg 1891. S. 178—180). Ich darf hier im übrigen auf Knobels Zusammenstellung der sachlichen Unmöglichkeiten und geschichtlichen Unwahrscheinlichkeiten verweisen, welche verbieten, die Jona-Erzählung für geschichtlich zuverlässig zu halten, und hebe nur noch das Wichtigste daraus hervor. „Ein hebräischer Prophet soll sich in da3 weit entfernte und zu seiner Zeit den Hebräern noch ziemlich unbekannte Ninive, die Besidenz übermütiger und tyrannischer Könige, den Wohnsitz eines leichtsinnigen und üppigen Volkes, bei welchem sich irgend eine Empfänglichkeit für die Weissagung eines unbekannten hebräischen Propheten nicht voraussetzen liess, begeben haben, um dem Orte den Untergang anzukündigen, obendrein mit der Besorgnis, seine Drohung möchte sich nicht erfüllen (4, 2). Das ist höchst unwahrscheinlich und in der Geschichte des Prophetismus ohne alle Analogie. Die Niniviten nebst ihrem Könige sollen ferner sämtlich der prophetischen Ankündigung auf der Stelle geglaubt und eifrig Busse gethan haben, ja darin so weit gegangen sein, dass sie selbst ihr Vieh fasten Hessen (3, 5—8). Solcher Erfolg einer Weissagung ist in



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derThat unerhört und völlig unglaublich; er würde auch, hätte er stattgefunden, in den hebräischen Geschichtsbüchern, wo von Jona die Rede ist, nicht mit Stillschweigen übergangen worden sein" (367 f.). So unwahrscheinlich hiernach jene Busspredigt und ihr beispielloser Erfolg ist, wird dennoch beides, wie wir sahen, von Jesu als geschichtlich vorausgesetzt. So wird jeder Unbefangene wenigstens h i e r i n einen Irrtum Jesu als so gut wie sichcr anerkennen, wenn selbst der Ausspruch, welcher sich auf das Walfischwunder bezieht, nicht von ihm herrühren sollte. Ist aber die Auffassung als echt anzusehen, welche Matthäus vom Jonazeichen hat, dann hat Jesus es sogar als eiue wirkliche Geschichte angesehen, dass Jona drei Tage im Leibe des grossen Fisches zugebracht hat, um alsdann von diesem lebendig und wohlbehalten ans Land ausgespieen zu werden. Sonst würde auch der Sinu des Vergleichs seine Schneide und Kraft verlieren, indem der Herr mit seinem eigenen dreitägigen Verweilen im Erdinnern doch ebenfalls ein w i r k l i c h e s Ereignis voraussagen will. Man muss demnach entweder hier einen Irrtum des Herrn anerkennen oder sich cntschliessen, das Walfisch wunder zu glauben. Man darf aber dann auch nichts davon abhandeln. Wenn Jona drei Tage in dieser eigentümlichen Behausung, ohne Schaden zu nehmen, zubringen konnte, so konnte er eben darin auch seinen Psalm singen, welcher uns im Buche Jona, Kap. 2, 3—10 überliefert wird. Es ist eine Halbheit, diesen dann für ein späteres Einschiebsel zu halten. Denn das eine steht so gut in der Bibel, wie das andere. Und es ist doch zuletzt der Glaube an die wörtliche Eingebung der heiligen Schrift nach altem Stil, welcher alles, was darin steht, unbesehen als unanfechtbare Wahrheit und Wirklichkeit anzunehmen nötigt und gestattet. Wer dagegen die Berechtigung und Notwendigkeit der Kritik solcher Geschichten, wie wir völlig gleichartige auch in den heidnischen Sagenkreisen finden, anerkennt (vgl. für die Jonasage schon Knobels Heranziehung auffallend verwandter heidnischer Sagen in seinem Prophetismus der Hebräer II, Breslau 1837), dem wird die geringe Wahrscheinlichkeit eines Bolchen Wunders von vornherein einleuchten. Jedoch ist hier nicht der Ort, eine Theorie des Wunders zu geben. Wenn man nun aber auch Jesu Annahme der Geschichtlichkeit des Jonawunders für



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einen Irrtum erkennt, so blieb die Heilswahrheit, auf deren Verkündigung auch hier Jesu "Worte abzielten, und welche in seiner Auferstehung nach kurzer Grabesruhe bestand, eben so wahr, als wenn das Verglichene eine wirkliche Geschichte gewesen wäre.*)

3. Jesu Frage nach der Davidssolinscliaft des Messias. Doch wollen wir uns nun nicht weiter mit Irrtümern Jesu in mehr oder weniger äusserlichen Dingen aufhalten, sondern an die wichtigere Frage herangehen, ob man wenigstens von seiner sittlich-religiösen Vorstellungswelt den Irrtum fern halten kann. Ich hoffe dies in der That später von ihrem gesamten wesentlichen Offenbarungsgehalte zu erweisen. Anders stellt es jedoch mit der F o r m jener Vorstellungen. Hierfür ist Jesu Auffassung des 110. Psalms charakteristisch. Gelingt es, hier einen thatsiichlichen Irrtum Jesu nachzuweisen, so ist damit wenigstens grundsätzlich zugleich das Vorurteil beseitigt, als wären derartige Irrtümer von vornherein unmöglich. Treten wir somit an die Stelle heran, an der sich Jesu irrige Auffassung zeigt. Jesu Streit mit den Pharisäern und Sadducäern hatte damals, bei seinem letzten Aufenthalt in Jerusalem, seinen Höhepunkt erreicht. Nach mehreren Versuchungsfragen seiner Feinde richtete er schliesslich an diese, und zwar im besonderen an die pharisäischen Schriftgelehrten, mittelbar oder unmittelbar seine berühmte Gegenfrage nach der Davidssohnschaft des Messias. (Mr. 12, 35. Lk. 20, 41. Mt. 22, 41 ff.). Markus berichtet sie folgendermassen: „Und bei seinem Lehren im Tempel hob Jesus an und sprach: Wie sagen die Schriftgelehrten, dass der Christus Davids Sohn ist? David selbst sprach im heiligen Geiste: es sprach der Herr zu meinem Herrn: setze dich zu meiner Beeilten, bis ich deine Feinde unter deine Füsse lege. David selbst nennt ihn Herr, und woher ist er sein Sohn?" (Mr. 12, 35—37). D a die Darstellung dieser Geschichte nach Lukas und Matthäus im wesentlichen Inhalt der Frage Jesu dem anscheinend ursprünglicheren Berichte des Markus völlig *) Die Begründung der näheren Stellung Jesu zur Inspirations- und Wunderanschauung seiner Zeit muss ich einer anderen Stelle vorbehalten.



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gleichartig ist, so können wir hier von kleinen Unterschieden der Form absehen. Wichtiger ist es, festzustellen, ob dieser eristischc Angriff" Jesu auf jene Lehre der Schriftgelehrten authentisch ist. a) E c h t h e i t d e r F r a g e J e s u . Ausserlich ist ja nun die Echtheit der Frage Jesu schon dadurch verhältnismässig sichergestellt, dass gar kein Anlass vorliegt, die Geschichtlichkeit solcher Herrensprüche auch in der Markusquelle, welcher wir diesen Bericht verdanken, ohne weiteres anzufechten. Um so weniger, als nicht nur Matthäus, sondern auch der kritischere Lukas ihn unbeanstandet in sein Evangelium herübernimmt, also ebenfalls als echt voraussetzt. Aber es fehlt auch nicht an i n n e r e r Bewährung dieser Echtheit. Denn die Frage ist für das Verhältnis Jesu zu den Pharisäern, wie wir es auch sonst kennen, so charakteristisch, dass sie schon dadurch den Stempel innerer Wahrheit trägt. Ihre Geschichtlichkeit ist jedoch zugleich durch ihre paradoxe Ursprünglichkeit gesichert. Paradoxe Aussprüche, wie sie Jesus öfter tliat, haften durch ihre schärfer ausgeprägte Eigenart notwendig desto besser im Gedächtnis. So ist ihr Gepräge weniger der Entstellung ausgesetzt. Und gerade das besonders Anstössige dieser Paradoxie ist ein Beweis für die Sachlichkeit unserer Uberlieferung. Denn sie scheint die bis dahin unangefochtene Annahme erschüttern zu wollen, dass der Messias Davids Nachkomme sei. Besonders bei Markus drängt sich diese Auffassung fast auf. Ernst genommen musste aber diese Bestreitung nicht nur den Pharisäern, sondern auch den Jüngern und späteren Christen ein bedenkliches Ärgernis geben. Dies würde also ein geradezu dringender Grund für den Lukas gewesen sein, die Stelle auszumerzen, wenn er nicht geglaubt hätte, sie als sicher überliefert anerkennen zu müssen.*) *) In betreff der Tilgung vieler Stellen früherer Synoptiker durch Lukas, besonders, sofern jene bei seinen Heidenchristen Anstoss erregen konnten, vergleiche Mt. 10, 5. 6 mit Lk. 9, 1—5 und 10, 3. 11; über die absichtlichen Auslassungen durch ebendenselben: Mt. 10, 23. 25. 36. 5, 10.



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Noch weniger konnte natürlich ein derartiger Angriff auf die Davidssohnschaft des Messias, und nun gar ein Angriff Jesu auf dieselbe, von der christlichen Überlieferung e r f u n d e n oder erdichtet werden. Die Geschichtlichkeit dieser Frage Jesu ist mithin mehrseitig so gesichert, dass nur bare Willkür sie in Zweifel ziehen könnte. Vielleicht wird man nun überhaupt die Bemühung, ihre Echtheit sicherzustellen, überflüssig finden; da noch kein Verständiger sie angefochten habe. Dennoch ist diese Darlegung nötig. Denn falls es gelingen sollte, hierin einen Irrtum Jesu unumstösslich darzuthun, so könnte man sich des letzten Versuchs der Unechterklärung bedienen wollen, um den Nachweis anzufechten. Freilich w«rde die blosse unbegründete Leugnung der Echtheit schwerlich einen Besonnenen überzeugen. Und vor allem würde ein solches Verfahren den Zweck, die Stellung Jesu zu befestigen, völlig verfehlen. Denn mit demselben Kechte könnte man viele andere, weit schwächer begründete Berichte vom Leben Jesu in Zweifel ziehen. Auch Holtzmann findet diese Perikope „über jede Möglichkeit einer Anzweiflung des geschichtlichen Charakters ihres Gehaltes erhaben." (Synoptiker 2, 50.) b) S i n n d e r F r a g e . Falls wir demnach die wesentliche Echtheit der F r a g e anerkennen, so handelt es sich um ihren Sinn in Jesu Munde. Strauss, Holtzmann und andere deuten die Stelle als einen ernst gemeinten Angriff auf die Davidsabstammung des Messias. Dagegen sprechen aber wichtige Gründe. Unmöglich konnte Jesus hoffen, diese davidische Herkunft mit Erfolg zu bestreiten. Denn für seine Zeitgenossen war diese etwas Selbstverständliches. Man war früher vielfach der Ansicht, erst Jesus habe den eingeschlummerten Messiasglauben des Volkes wieder erweckt. Dieser sei nach der Rückkehr aus dem Exil bis zur Makkabäerzeit fast erstorben gewesen und habe auch bald darauf, bis an Jesu Zeit heran, wieder, wenigstens im Volke selbst, so gut wie geschlum1 7 - 2 0 . 6, 1—6. 16-18. 7, 6—15. 23, 15. 16 ff. 20, 1 - 1 6 . (20, 20-28.) 16, 18 f. 17, 24—27. Diese Stellen sind meist der Schrift von Ed. Simons entnommen: „Hat der dritte Evangelist den kanonischen Matthäus benutzt?" Bonn 1880. S. 9 f. 38. 39. 53 f. 57 f. 72. 75 f. 85.



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mert. Jedoch hat Schürer in seiner Geschichte des jüdischen Volkes zur Zeit Jesu Christi (II, 4 2 5 — 4 3 5 ) das Fortbestehen dieses Glaubens durch die nachexilische Zeit verfolgt. Und neuerdings hat Stade durch eine Erörterung des Psalters unter dem Gesichtspunkte der messianisehen Hoffnung dargethan, dass diese in dem Zeitalter zwischen der Restauration und der Apokalyptik nicht nur kräftig weitergelebt hat, sondern sogar „der beherrschende Mittelpunkt des Gemeindeglaubens gewesen ist" (Stade, die messianische Hoffnung im Psalter, in Gottschicks Zeitschrift für Theologie und Kirche, Jahrgang II. 1892. Heft 5. S. 410). Diese Hoffnung ist dann nicht etwa bis zum Auftreten Jesu gänzlich oder fast erloschen. Die zur Zeit des Pompejus entstandenen „salomonischen" Psalmen beweisen das Gegenteil. Sie harren mit glühender Sehnsuoht auf die Herbeiführung des Vollendungsreiches durch einen Davididen.*) Und doch haben diese umsomehr Gewicht für die Volksanschauung, als sie im liturgischen Gebrauch der Synagoge waren. So hat Wellhausen schon in seinen „Pharisäern und Sadducäern" vor allem auf grund jener salomonischen Psalmen nachgewiesen, dass die Zeitgenossen Jesu in ihren religiösen Anschauungen durchaus vom messiasgläubigen Pharisäismus beherrscht wurden. Und der ging in diesem Punkte auf die alttestamentlichen Propheten zurück. Diese aber nahmen fast durchgängig in den eigentlich messianisehen Weissagungen auf die davidische Abstammung des Messias unmittelbar oder mittelbar bezug oder setzten sie voraus. Dasselbe ergeben auch die haggadischen Schriften, deren Quellen teilweise in Jesu Zeit zurückreichen. Aus ihnen ist zugleich ersichtlich, dass die pharisäisch geprägte Sohriftgelehrsamkeit den Messiasglauben, wie auch die Synoptiker zeigen (Mt. 2, 4 ff.), in ein förmliches System gebracht hatten, in welchem jeder einzelne Punkt desselben, wenn auch nicht durchweg übereinstimmend, festgestellt wurde.**) *) Vergleiche besonders die Psalmen 17 und 18 in Fritzsches pseudepigraphi selecti. 1871. **) Vergl. Webers „Lehre des Talmud", besonders Kap. 22 und Schiirers Geschichte des jüdischen Volkes, II. 1886. S. 443. 444; wo auch aus der sonstigen zeitgenössischen Litteratur Jesu die Beweisstellen dafür erbracht werden, dass die Davidssohnschaft des Messias allgemein anerkannt war. S c h w a r t z k o p f f , Konnte Jesus inen?

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Also auch für J e s u Zeitgenossen bedeutete „der messianische Gedanke einen Glauben und eine Hoffnung, die . . . der gesamten Frömmigkeit

ihr

charakteristisches

Gepräge

aufdrückt"

(Stade

a. a. 0 . , S. 3 7 2 ) . B. Weiss sagt daher, im ganzen neuen Testament sei „ein nicht-davidischer Messias eine contradictio in adjeeto" (Meyer-Weiss, Kommentar zum Matthäus, 8. Aufl., 1 8 9 0 , S. 378). W e r mithin die Davidssohnschaft des Messias bestritt, griff in den Augen

des Volkes

das Heiligtum

des

Messiasglaubens

Jesus kann demnach schwerlich die allgemein aner-

selbst an.

kannte Davidssohnschaft des Messias in Zweifel gezogen haben. Umsoweniger, als er sie auch von s e i n e m b e s o n d e r e n S t a n d p u n k t e a u s nicht im Ernste anfechten konnte.

Wusste er sich

doch gekommen, die Propheten zu erfüllen (Mt. 5, 17).

Und so

hat er sich wiederholt nach nicht anzuzweifelnden Berichten, am feierlichsten

unmittelbar vor

dieser F r a g e ,

bei seinem

letzten

Königseinzuge in Jerusalem persönlich den Titel „Sohn Davids" und

dessen Prädikate

(Mr. 10, 4 7 . Vor

allem

Bestreitung.

im messianischen Sinne gefallen

lassen

11, 9. 1 0 ) . * ) aber hatte Jesus gar keinen Anlass zu solcher

Diesen hätte er nur gehabt,

wenn er etwa

nicht

davidischer Herkunft gewesen wäre und dennoch auf Messianität Anspruch gemacht hätte. anfechtbar.

Diese seine Abstammung ist aber un-

Sie findet sich nirgends bestritten, vielmehr allgemein

als anerkannt vorausgesetzt. seinen

eigenen

Stammbaum

Auch für Paulus, welcher doch auch kennt,

ist

sie

selbstverständlich

(Phil. 3, 5. Rom. 1, 3 ) . * * ) D a Jesus

sich also zugleich mit seiner Messianität seiner

Zugehörigkeit zu Davids Geschlechte

bewusst war,

so wäre es

*) Durchaus unmöglich wäre die Anerkennung des messianischen Anspruchs, auch ohne Davidssohnschaft, dennoch, trotz der allgemein überlieferten Anschauung, nicht gerade gewesen; vorausgesetzt, dass die innere Vortrefflichkeit des Prätendenten jenem Mangel die Wage hielt. Denn in gewissen Kreisen scheint in der That eine grössere Gleichgültigkeit gegen diesen Titel geherrscht zu haben. (Schnedermann, Das Judentum und die christliche "Verkündigung in den Evangelien. 1884. S. 38 f. 111). Dennoch hätte man dann wohl darüber hinweggesehen, schwerlich aber eine ausdrückliche Bestreitung der Davidssohnschaft des Messias ertragen können. **) Vergl. Keim, Leben Jesu III, 155 ff., und Wendt, Lehre Jesu II, 438.



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sinnlos gewesen, wenn er hätte die Überlieferung bekämpfen wollen, dass der Messias von David abstamme. Seine Polemik kann vielmehr nur dahin zielen, den eingebildeten Schriftgelehrten die Seichtigkeit ihrer Auffassung vom Messias zu Gemtite zu führen und auf die den Davidssohn weit überragende Gottesherrlichkeit des Messias hinzudeuten. Aber selbst wenn Jesus die davidische Abkunft des Messias bekämpfte, bliebe seine Auffassung bestehen, dass David der Verfasser des 110. Psalms sei und den Messias Herr nenne. Und darauf kommt es hier an. Die rationalistische Auskunft, Jesus passe sich hier, trotz besseren Wissens, der gäng und gäben Auffassung an, bedarf heutzutage nicht mehr der Widerlegung, zumal sie Jesu ein nicht ganz lauteres Verfahren zumutet. Woher soll er es übrigens besser wissen?*) Vielmehr nimmt Jesus hier offenbar eine Vorstellung seiner Zeitgenossen unbefangen als sachgemäss hin, mochte das Gewicht, das er ihr zuschrieb, gross oder gering sein. Und eben diese denke ich als irrig darzuthun. Zwar will ich nicht mit Weiss (Meyer-Weiss, Kommentar zum Matthäus, S. 378) die W o r t e Jesu, dass David „im G e i s t e " den Messias Herr nenne, sehr betonen. Allerdings hat sie nicht nur Matthäus (22, 43), sondern schon Markus (12, 36). Lukas indessen bietet sie nicht (20, 42). Man könnte vielleicht einwenden, auf die wörtliche Überlieferung solcher einzelnen Wendungen sei kein unbedingter Verlass. Aber die Sache spricht flir sich selbst. Denn auf alle Fälle musste es eine h e i l i g e B e g e i s t e r u n g sein, in welcher David den zukünftigen Messias seinen Herrn nennt. Diese Anschauung m u s s J e s u s g e t e i l t h a b e n , selbst wenn er ihr nicht ausdrücklich Worte lieh. So wird jedenfalls der Eindruck heiligen Ernstes, den wir von Jesu Spruch empfangen, welcher ihm überhaupt eigen war, der Wahrheit gemäss überliefert sein. Er kann also hier, wo eine wichtige Eingebung durch den heiligen Geist in frage kommt, sich am allerwenigsten den Schein geben, er glaube daran, wenn er weiss, dass David keine Ahnung von solchem König des Vollendungsreiches gehabt hat, der sein eigener Herr sein würde. *) Vergl. auch Weiss a. a. 0. S. 378. 2*



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Irrte sich Jesus nun darin, dass er David für den Verfasser des Psalmes hielt, so ist dieser Irrtum noch ein verhältnismässig äusserlicher. Irrte er aber auch darin, dass David seinen erst nach tausend Jahren auftretenden Nachkommen als seinen Herrn vorausschauen soll, dem Gott die Herrschaft übergiebt, dann trifft der Irrtum zugleich die geschichtliche F o r m der m e s s i a n i s c h e n A n s c h a u u n g Jesu. Hengstenberg geht daher so weit, dass er sagt: „Man milsste an dem Herrn irre werden, wenn er mit solcher Entschiedenheit und Zuversicht einen Psalm ganz gewöhnlichen Inhalts, auf den Messias, auf sich (vergl. noch Mt. 26, 64) bezogen und aus ihm eine wichtige dogmatische Folgerung entnommen hätte". Unter einem Psalm „ganz gewöhnlichen Inhalts" versteht er aber hier, wie aus dem Zusammenhange hervorgeht, einen solchen, der nicht in seinem Sinne messianisch ist, wonach David Christum selbst prophetisch schaut und darstellt. Er fährt fort: „Ebenso mtisste man die Apostel und die Verfasser des neuen Testaments bedauern und an der Verheissung des Herrn und dem göttlichen Charakter der heiligen Schrift irre werden, wenn der Psalm, auf den sie so viel bauen, auf den sie die ganze Lehre von dem Sitzen Christi zur Rechten Gottes gründen (vgl. Acta 2, 34. 7, 55. 56. 1. Petri 3, 22. Rom. 8, 34. 1. Kor. 15, 24 ff. Ephes. 1, 20—22. Phil. 2, 9—11. Hebr. 1, 3. 13. 8, 1. 10, 12. 13) sich als gänzlich zu solchem Fundamente untauglich erwiese" (Kommentar über die Psalmen, Berlin 1852, Bd. 4, S. 241 f.). So sehr Hengstenberg mit einer derartigen Folgerung im Unrecht ist, leuchtet doch auch hieraus die Bedeutung der nun zu führenden Untersuchung ein, ob Jesus wirklich geirrt hat, wenn er den David hier den Messias vorausschauen lässt. Sollten wir diese Frage bejahen müssen, so würde es daher weiterer Beweise für die Thatsache der Irrtümer Jesu nicht bedürfen. Bevor ich an die Darlegung dieses Irrtums herantrete, sei mir nur noch eine kurze Vorbemerkung gestattet. Ich bin mir bewusst, mit der Anschauung, dass David nicht der Verfasser des 110. Psalmes sei, und dass Jesus ihn dennoch mit seinen Zeitgenossen dafür genommen habe, keine neue Ansicht aufzubringen, empfinde vielmehr die lebhafte Befriedigung, hierin nicht allein zu stehen. So sagt B. Weiss (Meyer-Weiss, Mt. 378) über



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diesen Punkt folgendes: „Indem Jesus zum Beweise dafür, dass David den Messias KVQIOS nennt, auf Psalm 110, 1 verweist, . . . geht er von dem damaligen allgemeinen Zugeständnisse aus, dass David Verfasser des Psalmes und dass derselbe direkt messianisch, nicht bloss typisch-messianiscli sei",... und fügt in der Anmerkung hinzu: „dass Jesus diese Voraussetzung geteilt und die Richtigkeit der Überschrift des Psalmes nicht bezweifelt hat, ist . . . (nicht) in Abrede zu stellen, da eine historisch-kritische Frage der Art nur in die Sphäre seiner volkstümlichen menschlichen Entwickelung gehörte, welche im allgemeinen das Gepräge seiner Zeit tragen musste". Diese hier entwickelte Anschauung ist ganz die meinige. Nur bedarf sie, um wissenschaftliche Sicherheit zu gewinnen, des eindringenden Beweises, welcher an dem angezogenen Orte der Aufgabe des berühmten Exegeten ferne lag.*) Wir treten, nachdem wir die Wichtigkeit des Punktes dargethan haben, an den Nachweis desselben heran. c) D e r Irrtum J e s u i n b e t r e f f d e s 110. P s a l m e s . Vom kritischen Standpunkte aus ist freilich die Frage, ob David Verfasser dieses Psalmes sei, überhaupt kaum mehr aufzuwerfen. Jene unter Jesu Zeitgenossen gäng und gäbe Annahme ist nämlich durch seine Überschrift „von David ein Gesang" entstanden. Diese Überschriften können aber keineswegs eine massgebliche Geltung beanspruchen. Schon deswegen nicht, weil sie nicht einmal text-kritisch durchweg feststehen (Cornill, Einleitung 207 f.). Ferner sind die 13 historischen Psalmüberschriften durch eine, und zwar „nicht immer richtige und vorsichtige Kombination des Inhalts der Lieder mit den Erzählungen in Samuelis . . . in seiner uns jetzt noch vorliegenden Gestalt erschlossen", und gilt Ähnliches auch von den andern Überschriften (a. a. 0 . 212). Da nun die abschliessende Gestaltung der Bücher Samuelis im vierten Jahrhundert stattfand (118. 313), so können die Überschriften nicht vor diesem Zeitpunkte verfasst sein, also mindestens ein halbes Jahrtausend nach David. So lässt sich denn von keinem *) Ob Weiss trotz dieses Zugeständnisses ein Recht hat, dennoch den Irrtum von Jesu fernzuhalten, kann nur die näherö Begriffsbestimmung desselben ergeben, welche der letzte Abschnitt dieser Abhandlung bringen wird.



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einzigen Psalm die davidische Herkunft auch nur mit einiger Sicherheit behaupten. Ja, das „einzige uns überlieferte authentische Lied Davids, 2. Sam. 1, 19—27", das Bogenlied, lässt sogar das religiöse Moment „in geradezu auffallender Weise vermissen", sodass nicht einmal der spezifisch r e l i g i ö s e Charakter seiner Dichtungen hinreichenden Halt hat (a. a. 0. 213). Dadurch würde also die Annahme einer davidischen Verfasserschaft des 110. Psalmes als eine in keiner Weise zu begründende und rein in der Luft schwebende von selbst wegfallen. Da jedoch bisher diese Ergebnisse der Kritik durchaus nicht von jedermann anerkannt werden, auch hier nicht der Ort ist, auf ihre Berechtigung im einzelnen einzugehen, so werde ich davon absehen und die Frage als eine wohl aufzuwerfende behandeln, ob David den 110. Psalm verfasst habe. Ich glaube auch so mindestens die höchste Unwahrscheinlichkeit dieser Verfasserschaft nachweisen zu können. Treten wir somit an unseren Psalm heran und versuchen, ob sich nicht durch Erwägung seines Inhalts etwas für die Richtigkeit oder Unrichtigkeit seiner Überschrift ergiebt. Ich setze zunächst seinen Wortlant in der Übersetzung hierher: „Von David ein Gesang. Spruch Jahves zu meinem Herrn: Sitze zu meiner Rechten, bis ich deine Feinde zum Schemel für deine Füsse mache. Den Stab deiner Macht wird Jahve von Zion ausstrecken; herrsche inmitten deiner Feinde; dein Volk ist lauter Opferfreudigkeit am Tage deines Kriegszugs, in heiligen Prachtgewändem. ( W i e ) aus dem Schosse der Morgenröte (fällt) der Tau deiner jungen Mannschaft. Jahve hat geschworen und wird es nicht bereuen: Du bist Priester in Ewigkeit nach der Weise Melchisedeks. Der Herr ist zu deiner Rechten, er zerschmettert am Tage seines Zornes Könige; er wird Gericht üben an den Völkern, mit Leichen erfüllend; er zerschmettert Kriegshaufen auf weitem Land; aus dem Bache wird er trinken auf dem Zuge, deshalb wird er das Haupt erheben." Uber den Verfasser selbst erfahren wir nur etwas im Eingang unseres Liedes, nämlich, dass der in ihm besungene König sein Herr ist. Prüfen wir, ob wir nicht aus der Beschaffenheit dieses Herrn etwa Rückschlüsse auf den Sänger, oder wenigstens auf die Anschauung machen können, die dieser von seinem Herrn



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hat. Vielleicht könnte uns dies der Beantwortung unserer Frage näher bringen. Wir haben es hier offenbar mit dem Urbilde eines theokratischen Königs zu thun, welcher, als echter Statthalter in der Regierung des Gottesvolkes, zu Gottes Rechten sitzt, (Vgl. Hengstenbergs Commentar zu den Psalmen IV, S. 249—251, 258) zugleich als Priester in Ewigkeit nach der Weise Melchisedeks, freiesten Zutritt zu Gott hat, und, umringt von willig herbeiströmenden geheiligten Kriegern (Vgl. Riehm's Handwörterbuch unter „Krieg", I, 862, Smend, Alttestamtliche Religionsgeschichte 132) unter Jahves Beistand die Feinde des Gottesvolkes besiegt. Im übrigen werden für das Verständnis des wesentlichsten Inhalts folgende Bemerkungen gentigen. „Priester in Ewigkeit" wird der König natürlich als Vertreter des davidischen Geschlechts genannt, welchem ein Fortbestehen in unabsehbare Zeit verheissen war (2. Sam. 7, 13. 16. und sonst.). Das Priesterkönigtum des Melchisedek wird als das eines Gottesmannes der nationalen Urgeschichte angezogen, welches für ein zu erneuerndes Priesterkönigtum vorbildlich erscheinen musste.*) (Vgl. Smend, a. a. 0.139.) Dies Priestertum nun hätte der Sänger niemals einem Könige als etwas B e s o n d e r e s zusprechen können, bei dem es sich, wie bei den alten Königen,**) darunter auch David, von selber verstand, dass sie auch priesterliche Funktionen verrichten konnten. Erst als das Amt den Königen entfremdet war, konnte man seiner ursprünglichen und idealen Zusammengehörigkeit mit dem Königtum in solcher Weise gedenken, wie dies hier geschieht. Ferner musste jedenfalls ein besonderer geschichtlicher Anlass für eine solche Anrede als Priesterkönig vorliegen. Ein solches Ansinnen ist aber erst gegenüber dem nachexilischen Könige Serubabel nachweisbar. Jener zuerst soll nach Sacharja (6, 12. 13.) Königtum und Priestertum, und zwar als „Spross", das heisst Messias (Vgl. Jerem. 23, 5. 33, 15.) in sich „vereinigen". *) Ganz anders freilich ist die Auffassung des Hebräerbriefes (6, 20. 7, 1—10). Wenn es indessen noch nötig wäre, dessen rabbinische Auslegung von 1. Mos. 14, 18 ff. zu widerlegen, so würde dies doch hier jedenfalls zu weit führen. **) Vergl. Stade, Geschichte des Volkes Israel. Bd. I. Berlin 1887. S. 412 f. Benzinger, Hebräische Archäologie. 1894. S. 306 f., welcher sich hier in der Hauptsache an Stade anschliesst.



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Ob jedoch dieser oder ein anderer, etwa ein Hasmonäer (Smend 385) hier besungen wird, berührt uns nicht weiter. Indes lässt die Feierlichkeit, mit welcher dies ewige Priestertum dem Könige zugesprochen wird, sowie seine glänzende Besiegung der Feinde und vor allem seine innige Beziehung zu Gott vermuten, dass dem Sänger der Beherrscher des Vollendungsreiches vor Augen steht. Dieser mag schon als geschichtliche Persönlichkeit vorhanden sein, aber sein Auftreten als Messias scheint erst in nächster Zukunft erwartet zu werden. (Vgl. Stade, die messianische Hoffnung im Psalter, in Gottschicks Zeitschrift, Jahrgang II, 1892 Heft 5, S. 405. f.) Wenn demnach David, wie Jesus mit seinen Zeitgenossen annahm, Verfasser des Psalmes war, so müsste er hier einen Nachkommen vor Augen haben, welchen Gott zum siegreichen hohepriesterlichen Herrscher des Vollendungsreiches an seiner Statt einsetzt, und welchen David selbst als seinen Herrn anerkennt und benennt. Die Folgerung, dass nach diesem Psalm David im Geiste seinen Sohn seinen Herrn nennt, zieht ja Jesus auch ausdrücklich. Die Untersuchung des Prophetentums ergiebt nun, dass David a l s P r o p h e t diese Gründung des Vollendungsreiches auf den Trümmern der feindlichen Reiche durch seinen messianischen „Sohn" nicht in weiter Zeitenferne, sondern in verhältnismässiger Nähe erschaut haben müsste. Denn die Propheten erwarten, abgesehen von ganz vereinzelten Ausnahmen, die durch die besonderen Umstände gerechtfertigt sind, den Anbruch des messianischen Reiches durchweg nahe, j a fast stets in unmittelbarer Zukunft. Wenigstens doch so, dass dieses Reich noch am Horizont ihrer eigenen Gegenwart und ihres eigenen Geschlechts anbricht. Selbst Jesus macht hierin*) keine Ausnahme.**) Aller Wahrscheinlichkeit nach müsste dann also S a l o m o für David jener gewaltige Zukunftsherrscher sein, den er als seinen Herrn über sich selbst stellt. Diese Vorstellung Davids würde aber der Geschichte durchaus nicht entsprechen. Denn wenn wir Salomo auch als grössten König Israels nach David anerkennen wollten (Vgl. *) Zum Belege vergL meine „Weissagungen Jesu" (Vandenhoeck 1895). **) Die nähere Begründung dieser Anschauung vom Prophetentum muss ich auf einen anderen Ort versparen.



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Mt. 12, 42,*) so ist dieser doch vom theokratischen Gesichtspunkte aus unzweifelhaft grösser. Auch hat Salomo das Vollendungsreich keineswegs gebracht. Davids Vorausschauen würde dann also nicht auf Geisteseingebung (Mr. 12, 36), sondern auf einen Irrtum zurückzuführen sein. Übrigens finden sich auch nicht die geringsten Spuren, welche andeuteten, dass David den Salomo als diesen messianischen Nachkommen und als seinen Herrn angesehen hätte. Doch wollen wir jetzt von dieser Folgerung absehen. Nehmen wir es einmal als denkbar an, dass David überhaupt hätte einen messianischen Nachkommen prophetisch voraussehen können, welchen er, das Königsideal der Blütezeit Israels, als seinen Herrn anerkennt. David selbst war sich bewusst, an Jahves Statt die Herrschaft über das auserwählte Volk auszuüben und in diesem Sinne der höchste König der Erde zu sein. Einen König von bloss irdischem Ansehen könnte er daher nicht seinen Herrn nennen, sondern nur einen solchen von gottähnlicher Erhabenheit. So folgert auch Jesus hier stillschweigend. Und diese zwischen den Zeilen zu lesende Folgerung ist durchaus sachgemäss. (Mr. 12, 37.) Nun ist es aber überhaupt ganz unerhört, dass ein theokratischer Herrscher einen Nachkommen von sich sollte als seinen Herrn betrachtet haben. Jesus selber sieht ja hierin eine Paradoxie, die er den Sehriftgelehrten entgegensehleudert: wie ein Nachkomme Davids dessen Herr sein könne. Wirklich ist in der ganzen israelitischen Geschichte kein König zu finden, welcher sich von Rechtswegen als Knecht irgend eines Herrschers, ausser Gottes, angesehen hätte. Ebensowenig ist es nachzuweisen, dass sich irgend einmal auch nur ein einziger israelitischer König sonst als Knecht w e n i g s t e n s des Messias bezeichnet hätte. Sodann aber würde die Annahme, dass David eine so vollkommene Anschauimg vom Messias gehabt haben könnte, dem Gesetze der geschichtlichen Entwicklung prophetischer Ideen durchaus widersprechen. Wir hätten einen alles Mass übersteigenden Anachronismus vor uns. Es würde sich hier, schon *) Von den neueren Untersuchungen, die teilweise zu abweichenden Ergebnissen führen, darf ich absehen; vergl. Stade, Geschichte des Volkes Israel I, 199—211.

vor dem Anfang der eigentlichen Proplietie, vor Elias und Elisa, das Bild eines zukünftigen Messias von solcher göttlichen Grösse zeigen, wie es sich nicht einmal auf dem Höhepunkt der messianischen Weissagung bei Jesaia, Jeremia und Hesekiel findet. Erreicht doch die messianische Anschauung diesen ihren Gipfel erst im Laufe mehrerer Jahrhunderte nach David. Und dabei können wir im ganzen eine stetige Entwicklung ihrer Züge und ein allmähliches Wachstum der Erhabenheit der letzteren gewahren. (Vgl. Riehm, Die messianische Weissagung, 2. Aufl. 1885.) Zu dieser Entwicklung liefert unser Psalm selbst einen Beitrag, indem er erkennt, dass zum Begriff des vollkommenen Gottkönigtums das Priestertum gehört. Selbst Jesaia bringt es nur zu einem Gotthelden, auf wclchem der Geist des Herrn ruht, und der sein Volk mit Weisheit, Gerechtigkeit und Gottesfurcht beherrscht, und zwar in Ewigkeit, das heisst, bis in eine unbegrenzte Zukunft. (Jes. 9, 5. 6. 11, 1—5.) David dagegen ist nicht einmal ein Prophet im eigentlichen Sinne. Und dennoch müsste er, um diesen Zukunftskönig als seinen Herrn ansehen zu können, ein weit erhabeneres Bild, als die grössten Propheten der Blütezeit, vor dem geistigen Auge gehabt haben. Auch dehnen jene nirgends die messianische Herrschaft über die vergangenen Geschlechter als solche und nun gar über David selbst aus. Vielmehr gewinnt dieser gerade in charakteristischen Weissagungen wiederholt die Stellung als Vorbild, Urbild, selbst Musterbild des Messias. Ja dieser wird gelegentlich geradezu mit Davids Namen bezeichnet. So an der Stelle des Hesekiel, wo Gott der zerstreuten Heerde seines Volkes verheisst: „Ich will einen einzigen Hirten über sie setzen, der sie weiden soll, meinen Knecht David". (34, 23. Vgl. Jes. 55, 3.) Schon hierdurch wird es mehr als unwahrscheinlich, dass schon David eine so erhabene Vorstellung vom Messias haben konnte. Wenn wir aber dennoch einmal die allgemeine Möglichkeit zugeben wollten, so müssten sich wenigstens Bedingungen nachweisen lassen, unter denen David zu solch einem überirdischen Messiasbilde hätte kommen können. Selbst Hengstenberg giebt zu, dass wir müssen „eine Offenbarungsthatsache angeben können, wodurch der Sänger die Anregung zu der subjektiven Darstellung



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ihres Inhalts erhielt" (Kommentar zu den Psalmen I, 49). Der Versuch dieses Nachweises ist ihm aber missglückt. Er findet jene Anregung nämlich in der von uns noch zu besprechenden „in Gottes Auftrage ihm erteilten Verheissung eines ewigen Königtums in seiner Familie, 2. Sam. 7" usw., „welche bei tieferem Nachdenken notwendig als sich ihrem höchsten Sinne nach auf Christum beziehend erkannt werden musste" (a. a. 0. S. 50). Wie soll aber hier dies tiefere Nachdenken zur Anschauung des übermenschlichen Zukunftsmessias führen können?! Hengstenberg giebt selbst zu: „Von der Person des Messias ist nicht ausdrücklich die Rede" (Christologie I, 165). Trotzdem deutet er den vermissten Weg an, wenn er zu verstehen giebt, dass für Davids Anschauung sein Stamm wegen seiner absoluten Ewigkeit „notwendig" zuletzt in einer übermenschlichen Persönlichkeit gipfele (Christologie I, 165). Vor allem aber sucht er wahrscheinlich zu machen, dass David „die Combination der ihm gewordenen Verheissung mit Genesis 49, 10 vorgenommen habe" (ebendort). Auf diese Weise gewinnt er die Überleitung zu der Annahme, dass er selbst schon das Bild von einer so hohen messianischen Persönlichkeit der Zukunft besass. Diese beiden Stützen für den beabsichtigten Beweis sind aber gebrechlich. Denn die Kombination mit Genesis 49, 10 ist schon an sich unmöglich, da jene Weissagung erst nach Davids Zeit entstanden ist. Denn „die Sprüche über Juda . . . und Joseph setzen deutlich das getrennte Reich voraus" und gerade der bedeutsame Vers 10 ist „offenbar späterer Einschub" (Cornill, Einleitung in das alte Testament. 1891. S. 68). Ferner braucht wohl heutzutage nicht mehr bewiesen zu werden, dass die Ewigkeit der davidischen Herrschaft nicht einen absoluten Sinn, sondern die Bedeutung langer Dauer hat. Damit fällt zugleich der schon an sich der inneren Vermittlung entbehrende Schluss von der übermenschlichen Persönlichkeit hin. Aber die ganze Auffassung des Prophetismus, wonach ein Prophet eine bestimmte, nach tausend Jahren auftretende Persönlichkeit vor seinem geistigen Auge haben kann, schliesst eine psychologische Unmöglichkeit ein. Ich kann dies hier nicht näher begründen, werde darauf jedoch an einem anderen Orte zurückkommen. Doch ist es im wesentlichen auch schon von Knobel, Riehm, Schultz, Smend und



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anderen anerkannt. David hat jedoch, soweit wir sehen können, eine V o r s t e l l u n g v o m M e s s i a s überhaupt nicht g e h a b t . Dies wird durch die genauere Prüfung der drei Stellen bestätigt, auf die man eich flir jene Anschauung zu berufen pflegt, nämlich durch die schon berührte Yerheissung des Propheten Nathan, Davids sich daran schliessendes Dankgebet und seine sogenannten „letzten Worte", auf die wir nun unter diesem Gesichtspunkte noch einen kurzen Blick werfen wollen. Und zwar stelle ich mich dabei wiederum absichtlich nicht auf den Standpunkt der neueren Kritik, für die sich das von selbst versteht, was ich nachzuweisen suche. Diese weist 2. Sam. 7 dem 7. Jahrhundert zu (Cornill, Einleitung S. 115) und erkennt in den „letzten Worten" „ein ganz junges, künstlich archaisierendes" Erzeugnis, welches dem Samuelisbuche zuletzt noch angehängt wurde (Einleitung 119. 117). Dabei nimmt sie freilich diesen Abschnitt zugleich als „Ausdruck des messianischen Gedankens', (119), und zwar als „Nachtrieb" der „messianischen Prophetie". Will man nun die Verheissung der dauernden Thronfolge des davidischen Geschlechts schon darunter rechnen, so ist die Messianität im allgemeinsten Sinne allerdings selbst für 2. Sam. 7 zuzugeben. Keinesfalls aber kann hier von einer einzelnen Messiaspersönlichkeit die Rede sein. Und was die „letzten Worte" betrifft, 60 mag ein späterer Nachbildner mit dem volltönenden Ausdruck „ein Herrscher über die Menschen", welchen er so poetisch als Quelle des Heils schildert, den persönlichen Messias gemeint haben. Indessen erscheint, wie sich zeigen wird, unter unserer Voraussetzung, dass David den Psalm verfasst hat, diese Auffassung dennoch auch hier so gut wie ausgeschlossen. Es unterliegt keinem Zweifel, dass in jener Verheissung 2. Sam. 7, 12—16 bis zum 15. Verse nur von Salomo als einzelnem unmittelbaren Thronfolger Davids die Eede ist. Denn der Same, den Gott zum König erheben will, kommt aus Davids Lenden (12). Das kann in diesem Zusammenhange schwerlich von einem anderen, als von dem wirklichen Sohne gesagt sein. Es wäre doch sehr künstlich, diesen Ausdruck von dem ganzen zukünftigen Geschlechte Davids zu verstehen. Entscheidend ist aber, dass „selbiger" Same Gottes Namen ein Haus bauen soll (13). Dies passt thatsächlich nur auf Davids Sohn Salomo.



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Dazu kommt, dass 1. Chron. 22, 9 ff. von David selbst diese Verkündigung zunächst auf Salomo bezogen wird, und dass Salomo sie auf sich bezieht (1. Kön. 5, 19 ff. 2. Chron. 6, 7 ff. Hengstenberg, Christologie des Alten Testaments I, 165). Und ebenso versteht Salomo, 1. Kön. 8, 18—20, wo er auf unsere Verse 12. 13 anspielt, sich selbst unter dem verheissenen Samen (vergl. 1. Kön. 5, 19). Von diesem Samen, der ihm sein Haus bauen soll, will Gott seine Gnade nicht weichen lassen, wie er sie abzog von Saul (2. Sam. 7, 14. 15). Eben dessen Königtum endlich will Gott bestätigen und befestigen (12. 13). Erst der letzte Vers von Nathans Ausspruch, welcher besagt, dass Davids Königtum in Ewigkeit bestehen soll (16), geht ausdrücklich nicht auf die einzelne Person des unmittelbaren Thronfolgers, sondern auf die ewige Herrschaft des davidischen Geschlechts, welche eben durch Salomo zu begründen ist. Dieses Geschlecht wird hier aber nicht als „Same", sondern im Gegensatz dazu als „Haus" bezeichnet; g a n z e b e n s o w i e in d e m D a n k g e b e t D a v i d s , welches sich unmittelbar an diese Verheissung schliesst, das Geschlecht niemals „Same", sondern stets „Haus" heisst (2. Sam. 7, 18 f., 25 ff. 29). Daher kann man nicht ohne Willkür unter „Same" bald die einzelne [Person, bald die Gesamtheit des Geschlechts verstehen wollen. Dies G e b e t entspricht überhaupt durchaus dem Inhalt jener Verheissung (2. Sam. 7, 18—29). Mit dem Dank dafür, dass Jahve ihn und sein Haus bis auf den Thron gebracht, verbindet David den filr die Zukunftsverheissung und bittet im folgenden wiederholt, diese zu erfüllen (25—29). Dass David bei den Worten „all dies Grosse" vor allem an die ewige Dauer und Herrschaft seines Geschlechts denkt, ergiebt der Zusammenhang (vgl. besonders V. 21 mit 26—29). Nach allem zeigt sich weder in Nathans Weissagung, noch in Davids Gebet die Voraussicht einer bestimmten Königspersönlichkeit später Zukunft aus Davids Geschlecht, geschweige denn die geringste Ahnung von einem himmlisch erhabenen Zukunftsmessias. Nur eine willkürliche Auslegung kann dergleichen hier finden. In dem Gebete ist die Einzelpersönlichkeit eines Nachkommen Davids nicht einmal berührt, sondern nur von dem „Hause" Davids ganz im allgemeinen die Rede. Dies wird sieben



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Mal genannt, wie schon Hengstenberg (Christologie 1,158) gefunden hat. Nathans Verheissung aber hatte, wie wir sahen, als Herrscherpersönlichkeit fiir die Zukunft nur den Salomo selbst im Auge. Von einem Könige des zukünftigen Vollendungsreiches ist David aber offenbar auch sonst keine Ahnung gekommen. Auch angenommen, dass der Psalter echt davidische Psalmen enthalte, so bekundet doch kein einziger eine messianische Anschauung, wie sie David haben mtisste, wenn er der Verfasser des 110. Psalmes wäre. Ja nicht einmal in den erwähnten „letzten Worten Davids" finden wir eine Spur ähnlichen Voraussehens des Zukunftsmessias. Und doch sollte man dies hier, wenn irgendwo, erwarten.*) Denn David preist Gott für die ihm durch das ganze Leben erwiesenen Wohlthaten. Und unter diesen war eine messianische Zukunftsverheissung sicherlich nicht die kleinste. Da man vielfach gerade dies Lied als ein Zeugnis dafür ansieht, dass David von einer erhabenen Messiaspersönlichkeit der Zukunft etwas wisse, so müssen wir noch die Berechtigung dieser Ansicht auf grund der hergehörigen Worte des Psalms prüfen. Sie lauten: „Der Geist Jahves redet durch mich, und sein Wort ist auf meiner Zunge. Es sprach der Gott Israels, zu mir redete der Fels Israels: ein Herrscher über die Menschen, gerecht, herrschend in Gottesfurcht: wie Morgenlicht; es geht die Sonne auf; ein wolkenloser Morgen; vom Lichtglanz, vom Regen (kommt) junges Grün aus der Erde. Ist nicht also mein Haus mit Gott (unter Gottes Beistand)? Denn „eine ewig giltige Zusage" (Kautzsch) hat er mir gegeben, in allem „festgestellt und gesichert" (derselbe). Ja all mein Heil und all (mein) Wohlgefallen, wird er es nicht spriessen lassen? Aber die Nichtswürdigen sind wie weggeworfene Dornen alle zusammen; nicht mit der Hand fasst man sie an. Wenn jemand sie anrührt, waffnet er sich mit Eisen und spitzem Holz, und mit Feuer verbrennt man sie auf der Stelle" (2. Sam. 23, 2—7).**) weist

Der Satz: „Ist nicht also mein Haus unter Gottes Beistand?" auf die vorhergehenden unmittelbaren Gottesworte hin

*) Ich setze hier absichtlich seine Abfassung durch David voraus. S. o. **) In Bezug „auf das Spriessenlassen des Heils" vergl. Jes. 45, 8. 61,11.



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(V. 3 u. 4). Nehmen wir beides zusammen, so vergleicht David also den blühenden Zustand seines Hauses mit einem Felde, das im Glänze der Morgensonne lacht und unter dem Einfluss von Sonnenlicht und Regen zu üppiger Fruchtbarkeit erblüht (4). Dieser Segen wird auf die Gottesfurcht des gerechten Herrschers zurückgeführt (3). (Vgl. auch das „mit Gott" V. 5.) Denn der Segen, der von einem solchen ausgeht, wird dem Unheil der Nichtswürdigen entgegengesetzt, welchen man nicht nahen darf, und denen der Feuertod gedroht wird (6. 7). Der fromme König wirft also am Ende seines Lebens einen dankbaren Blick auf das Heil seines Hauses und seiner Herrschaft, das ihm auch für die Zukunft durch Gottes Yerheissung verbürgt ist (V. 5). Dabei denkt er offenbar an die soeben besprochene göttliche Zusage (2. Sam. 7). Wenn er demnach sagt: „Ist nicht also mein Haus vor Gott", so stellt er sich das Heil seines Hauses in erster Linie deutlich als ein gegenwärtiges vor. Nur die letzten Worte: „ J a all mein Heil und all mein Wohlgefallen, wird er es nicht spriessen lassen?" gründen auf den jetzigen Zustand und'auf die bisher bewährte göttliche Zusage die Hoffnung auch für die Zukunft. Danach erscheint die Erklärung, welche das Ganze auf ferne Zukunft beziehen will, die sich David prophetisch vergegenwärtigte, als durchaus künstlich. Auch könnte das Lied dann nur der Ausdruck einer völlig unvermittelten Verzückung sein, die den Sänger selbst der schuldigen Dankbarkeit gegen Gott vergessen liesse. Und was hat die allein auf die Zukunft bezügliche, ganz allgemein gehaltene Wendung von „allem Heil und Wohlgefallen" mit prophetischer Vergegenwärtigung zu thun? Bewegt sich aber der ganze Gedankengang des Stückes, ausser den Schlussworten, in der Gegenwart, so kann David auch mit dem gottesfürchtigen „Herrscher Uber die Menschen" nicht einen König ferner Zukunft meinen, sondern nach dem Zusammenhang nur auf sich selbst anspielen. Dies ist nichts Anstössiges. Heben doch die Frommen des alten Bundes oft genug ihre eigene Gerechtigkeit und Frömmigkeit Gott gegenüber hervor. So beruft sich z. B. Hiskia in seinem Gebete um Heilung auf seinen gottesfürchtigen Wandel (2. Kön. 2 0 , 3). Andrerseits begründet David hier mit seiner Gottesfurcht nur



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den S e g e n G o t t e s über sein Haus, der ihm eben wegen derselben zugesprochen ist. Bemerkenswert bleibt aber, dass auch auf diese Gottesverheissung, soweit sie auf die Zukunft geht, hier nur ganz im allgemeinen angespielt wird (V. 5). Nicht einmal von Davids unmittelbarem Nachfolger Salomo findet sich eine Andeutung, wie dies doch 2. Sam. 7 der Fall ist. Es ist daher unbegründet, wenn Hengstenberg erklärt, dass „der Herrscher hier zunächst eine ideale Person" sei und wenn er fortfährt, dass diesem idealen Samen Davids „so Herrliches hier" „nur" „in Rücksicht auf die erhabene Persönlichkeit beigelegt" werde, „in der er am Ende der Tage gipfeln soll". Das „so Herrliche" besteht doch in nichts anderem, als dass von einem gerechten und gottesflirchtigen Herrscher grosses Heil ausgeht (2. Sam. 23, 3. 4 f.). Dieser Grundsatz göttlicher Regierung ist aber, zumal bei jedem echt theokratischen Herrscher, selbstverständlich. So wird dem Salomo, als er durch sein Gebet um ein weises Herz seine Gottesfurcht und Rechtschaffenheit bekundet, verheissen, dass, wenn er in Davids Wegen wandle, seinesgleichen nicht sein solle unter den Königen der Erde (1. Kön. 3, 10—14). J a , Salomo selbst führt die grosse Huld, die Gott seinem Vater für Gegenwart und Zukunft geschenkt, ausdrücklich auf Davids gottesfürchtigen und gerechten Wandel zurück (1. Kön. 3, 6). Es ist daher nicht nur überflüssig, sondern rein willkürlich, eine erhabene Messiaspersönlichkeit der Zukunft zu suchen, auf die das dem David thatsächlich auch sonst zugesprochene „so Herrliche" allein passen soll. Etwas billig ist hier auch Hengstenbergs Begründung für • seine Umwandlung des davidischen Geschlechtes in die ideale Messiaspersönlichkeit. Danach kannte David „menschliche Natur und Wesen zu gut, als dass er von dem Kollektivum als solchem solches („Herrliche") hätte erwarten sollen" (Christologie I, 173). Auffallender Weise nimmt auch Gess an, dass David mit jenem Herrscher in Gottesfurcht den in ferner Zukunft zu erwartenden Messias meine als ein „Individuum" „von übermenschlicher Weisheit", einen mit allen Gaben göttlichen Geistes gesalbten Mann. (Gottes Volk ein Königreich von Priestern. Ein Vortrag. Basel 1872. S. 1 1 u. 13.) Diese Annahme wider-



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spricht, wie wir sahen, durchaus der sachlichen Auffassung des Psalmes, selbst wenn man ein solches Voraussehen Davids für psychologisch möglich halten wollte. Auch begründet Gess seine Ansicht nicht weiter. Wohl konnte David, wenn er sich das Bild eines solchen „Individuums" vorgestellt hätte, durch Gottes Geist überzeugt werden, dass „eben dieser König der Zukunft der rechte Priester sein werde", als „ein Mann unablässiger Fürbitte für sein Volk" (S. 14). Und damit würde dann die Zurückführung des 110. Psalmes auf David möglich. Aber nicht die geringste Spur lässt sich nachweisen, dass er überhaupt eine bestimmte Messiaspersönlichkeit, und nun gar eine solche ferner Zukunft und von göttlicher Erhabenheit prophetisch geahnt hätte.*) Das Ergebnis unseres Nachweises ist also dies. Die Verfasserschaft des 110. Psalms durch David, übrigens eine unmassgebliche Hypothese der jüdischen Schriftgelehrten, wäre schon psychologisch und zeitgeschichtlich völlig unbegreiflich. Denn David müsste dann eine so erhabene Vorstellung vom Messias gehabt haben, wie sie in beiden Beziehungen als unmöglich erscheint. Aber es lässt sich auch geschichtlich nicht einmal die Annahme begründen, dass er überhaupt irgend eine Ahnung von einer Messiaspersönlichkeit, geschweige denn von einer solchen gehabt habe, die er als seinen eignen Herrn anerkennen könnte; denn selbst da, wo man es am ersten erwarten sollte, findet sich keine Spur einer derartigen Anschauung Davids. Nach allen diesen geschichtlichen und psychologischen Anzeichen kann also der 110. Psalm nicht von David sein. Ist aber David nicht sein Verfasser, dann geht die logische Spitze *) Es ist danach durchaus kein Grund vorhanden, in V. 5 die "Worte: nicht also mein Haus unter Gottes Beistand? — die Copula fehlt im Hebräischen — von vornherein auf die Zukunft zu deuten und damit die gesamte Beschreibung des Heils in diese zu verlegen. Die Dankbarkeit für den empfangenen Segen lässt die Richtung von Davids Blick auf die Vergangenheit allein als einfache und natürliche Auslegung erscheinen. Dazu kommt der doch auch durch die Erfahrung der Verg a n g e n h e i t bewährte Gegensatz des durch die Gottlosen verbreiteten Unheils und ihres endlichen Verderbens. S c h w a r t z k o p f f , Konnte Jesus irren?

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der Frage Jesu, welche gegen die Pharisäer gerichtet ist, verloren: „Wenn nun David ihn (den Messias) im Geiste einen Herrn nennt, wie ist er dann sein Sohn?" Denn diese Pointe ruht auf der Voraussetzung, dass schon David den in ferner Zukunft seinem Geschlechte entstammenden Messias als seinen Herrn erkennt und damit zugleich als eine ihn selbst weit überragende Persönlichkeit göttlicher Art. In diesen beiden Punkten also irrte Jesus. Und zwar laufen sie objektiv auf einen einzigen hinaus, nämlich auf die Verfasserschaft Davids. Denn daraus ergiebt sich, wie wir sehen, der zweite Irrtum, welcher die Weite seines prophetischen Blickes betrifft, von selbst, falls kein entgegenstehender Gedanke das Ziehen dieser Folgerung in Jesu Seele hinderte. Er folgt hier also thatsächlich der Überlieferung der Schriftgelehrten, welche die Überschriften mit zum Texte der heiligen Schrift rechneten (vgl. Pesachim 114). So setzte man naturgemäss auch die Überschrift des 110. Psalmes, welche den David als Verfasser nannte, als unanfechtbar voraus. Jesus aber war nicht in der Lage, die Vorstellungen der Schriftgelehrten über die Verfasserschaft von Psalmen oder sonstigen rein geschichtlichen Dingen ohne weiteres zu berichtigen. Die tieferen Gründe hierfür werden wir später zu erbringen haben. Die Thatsache selbst, dass er es nicht vermocht hat, liegt hier vor. Dann konnte eine solche Berichtigung auch gar nicht in seiner Absicht liegen. Aber auch nicht in seiner Aufgabe. Diese war nicht die Mitteilung von Auffassungen früherer Gottesmänner, wie etwa Davids, über die Herbeiführung des Gottesreiches durch den zukünftigen, sondern die Herbeiführung selbst durch ihn als gegenwärtigen Messias. Das war der Inhalt des göttlichen Heilsrates über Jesum. Diesen zu offenbaren und zu vollziehen, war der Zweck seiner Sendung. So ist auch hier das Ziel seiner Anziehung des 110. Psalmes kein anderes, als dies, den Pharisäern die göttliche Erhabenheit des Messias und seines Reiches über dessen Vorfahren David, gegenüber ihren irdisch-sinnlichen Messiashoffnungen, eindrücklich zu machen. Eine Erhabenheit, von welcher mehr als einer der am tiefsten blickenden Gottesmänner des alten Bundes leuchtende Züge ahnend vorausgeschaut (Jes. Kap. 9 u. 11), in deren Zahl



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man hier allgemein auch David einrechnete. Jene Einsicht sollte die Pharisäer dann darauf aufmerksam machen, dass dieser Messias, den sie in seinem eigensten Wesen völlig verkannten, und der gerade darin seinen unbestrittenen Vorfahren David überragte, als wahrhafter Priesterkönig und Bringer des Gottesreiches nicht irdischer, sondern himmlischer Art*) eben jetzt vor ihnen stehe. Damit aber war der tiefste typische Hinweis des 110. Psalmes auf den, der zum unbedingt siegreichen Priesterkönig des gottgeheiligten Volkes bestimmt war, vor ihren Augen erfüllt. Ja, wenn sich Jesus doch als König des Himmelreiohes seinem grossen Vorfahren David herrschergleich überlegen wusste, so erweist sich eben damit sogar die Anschauung vom Messias als „Davids Herrn" als der Wahrheit entsprechend. So stellt Jesus selbst an der eigenen irrigen Auffassung die ihm aufgegangene Wahrheit heraus, welche ihren religiösen Kern bildet, und von welcher auch die erleuchtetsten Propheten nur eine schwache Ahnung gehabt hatten. Und doch lag das Schlagende des den Pharisäern nahe gebrachten Beweises für die Erfüllung jenes 110. Psalmes, welche ihrer sinnlichen Auffassung Trotz bot, nicht vorwiegend in Jesu Worten. Es lag noch mehr in dem Eindruck, den ihnen seine göttliche P e r s ö n l i c h k e i t aufzwang. Dieser Thatsachenbeweis vor allem bedrängte ihr Gewissen. Wir sehen also, dass die sittlich-religiöse Wahrheit, die den ganzen Zweck der Worte Jesu ausmacht, nämlich dass er der wahre/dem David überlegene priesterliche Messias ist, von jenem Irrtum nicht berührt wird. Er betrifft vielmehr nur die für diesen Offenbarungsgehalt gleichgültige zeitgenössische Auffassungsform. Hengstenberg ist mithin im Irrtum, wenn er behauptet: „Wenn... Psalm 110 nicht direkt messianisch gedeutet wird, so erscheint die ganze Beweisführung des Herrn in Matthäus 22 als eine unbegründete" (Christologie des alten Testaments, III, 124; vergl. Kommentar zu den Psalmen IV, S. 240—242). Und was wäre demnach durch eine richtige geschichtliche Auffassung des 110. Psalmes gewonnen worden? Nichts für diesen Kern der Heilsthatsache, sondern nur einiges für historische *) Yergl. meine „Weissagungen Jesu" S. 107—132. 3*



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Richtigkeit. Und unter welcher Voraussetzung wäre diese religiös entbehrliche Kenntnis für Jesum allein möglich gewesen? Nach menschlichem Massstabe nur, wenn er im Besitz völlig zutreffender Grundsätze der Auslegungskunst und zu diesem Behuf einer modern philologischen Bildung gewesen wäre. Diese war aber Jesu Zeitgenossen unzugänglich und blieb, nach Gottes Leitung der Weltgeschichte, einer fast zwei Jahrtausende späteren Zeit vorbehalten. Daher konnte denn Jesus dergleichen Kenntnisse auch nicht seiner Zeit entnehmen. Er hätte sie nur auf magische Weise erlangen können, nämlich mittelst Durchbrechung der zeitgeschichtlichen Bedingtheit menschlichen Seelenlebens und der Stetigkeit geschichtlicher Entwickelung. Eine solche Aufhebung der Gesetze des Seelenlebens würde aber Jesu wahre Menschheit vernichten. Die unumgängliche Notwendigkeit dieser Schranken wird sich später im einzelnen ausweisen. Überdies aber wäre ein derartiges Wunder vom sittlichen Gesichtspunkte aus zwecklos, daher Gottes unwürdig. Wir haben, nachdem wir auf mehrere andere weniger wesentliche Irrtümer Jesu aufmerksam gemacht, nun auch einen Irrtum desselben nachgewiesen, der mit seinen religiösen Vorstellungen im Zusammenhange steht. Damit ist die Thatsache seines Irrens*) überhaupt hinreichend dargethan. Im übrigen gehören die Irrtümer Jesu, die ich zur Besprechung ausgewählt, zu den bedeutendsten, welche überhaupt im neuen Testamente vorkommen. Nur etwa Jesu Vorstellung von dem Keiche der Dämonen und von seiner Wiederkunft dürfte sie an Wichtigkeit noch überbieten.**) Wir versparen nun aber die Berührung aller sonst in betracht kommenden Irrtümer Jesu auf eine spätere umfassendere Untersuchung seiner Bedingtheit durch die zeitgenössischen Anschauungen. Zunächst handelte es sich vor allem nur darum, durch den Nachweis der Thatsache des Irrens Jesu unsere Berechtigung und unseren Anlass zu der Frage nach seiner Möglichkeit und Notwendigkeit zu erbringen. *) d. h. dass er hier und da geirrt hat. **) Über die letztere habe ich in meinen „Weissagungen Jesu usw." (Vandenhoeck 1895) gehandelt; Jesu Teufels- und Dämonenglauben gedenke ich ebenfalls demnächst gesondert zu besprechen.



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II. Die Unwesentlichkeit der Irrtümer Jesu finden christlichen Glanben. Ehe wir jedoch die Notwendigkeit des Irrens Jesu in gewissen einzelnen Beziehungen auf dem bezeichneten Wege darzulegen versuchen, liegt uns daran, seine Bedeutung für das Christentum, insbesondere für die christliche Glaubenslehre klar zu stellen. Nichts hält nämlich stärker von der Anerkennung gewisser Irrtümer Jesu zurück, als dass man vielfach fürchtet, damit werde notwendig seine Heilandsstellung verkürzt oder gar aufgehoben. Hier setzt man mit Recht voraus, dass derartige Irrtümer, welche diese in frage stellten, eine Schädigung des Christentums nach sich ziehen müssten. Danach können aber doch nur solche Irrtümer Jesu als h e i l s w e s e n t l i c h erkannt werden, welche sich auf den r e l i g i ö s e n I n h a l t seiner Offenbarung beziehen. Denn durch diesen allein, d. h. durch den Ausdruck alles dessen, was sich unmittelbar auf die Gemeinschaft Gottes mit ihm selbst und auf die Gemeinschaft Gottes mit den Menschen bezieht, die zu vermitteln er sich gekommen weiss, ist thatsächlich das Heil der Welt von ihm geschaffen, ist es demnach auch einzig w e s e n t l i c h bedingt. Auch Frank schliesst in seiner Abhandlung über „eine brennende Frage" zwar derartige Irrtümer aus der Schrift aus, welche „zum Wesen der Heilsoffenbarung gehören" (a. a. 0 . S. 206), zählt auch gelegentlich bestimmte Thatsachen auf, die er zu den für die Heilsoffenbarung wesentlichen rechnet, unterlässt es aber, den Massstab anzugeben, wonach etwas in dieser Hinsicht Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden ist. Und doch ist ohne eine solche Norm weder Unsicherheit noch Willkür auszuschliessen. Die Stelle desselben muss ihm daher die kirchliche Tradition vertreten, ein an sich nicht evangelischer Massstab des Glaubens („Alles dieses, was doch dem christlichen Glauben so lange er in der Kirche existiert, wesentlich ist." S. 193).*) *) Auch für Baldensperger ist, wie für mich, die Vollkommenheit Jesu nur in sittlich-religiöser Hinsicht wesentlich. Wenn er andrerseits



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Über jeaea Massstab für die Unterscheidung des Wesentlichen und Unwesentlichea aa der Gottesoffenbarung, d. h. für ihren eigentlichen, wahren religiösen Gehalt, ist man nun vielfach noch im uaklarea. Der eine betrachtet dies, der andere jeaes als aa Jesu Offenbarung w e s e n t l i c h . Zur Klärung des streitigea Puaktes muss hier folgeades geatigen. Was nicht gut ist, ist auch nicht göttlich. Was im spezifischen Sinne göttlich und religiös wertvoll sein soll, muss einen unbedingten s i t t l i c h e n Wert haben. Was diesen nicht hat, gehört sicherlich nicht zur w e s e n t l i c h e n Heilsoffenbarung Jesu, mag es nun als Voraussetzung oder Folgerung von Heilswahrlieiten im übrigen in näherer oder eatferaterer Beziehuag zu ihr stehea. Es ist durchaus aicht meine Meinung, dass das Sittliche mit dem Religiösen zusammenfalle oder dies in sich aufhebe. Aber das Göttliche kann sich dem Menschen als Göttliches nur an seiner sittlichen Kraft bewähren und nur an ihr als im besonderen Sinne göttlich erkannt werden. Ein angebliches Gottesgebot, das gegen Menschenliebe und Gerechtigkeit verstiesse, wäre eben damit als ungöttlich entlarvt.*) Was ist aber wiederum sittlich-gut? Darauf vermag nur das sittliche Gefühl die Antwort zu geben, im höchsten Sinne: das unverfälschte, an Christi Person entwickelte oder doch geläuterte in den formalen Irrtümern Jesu den Beweis findet, dass religiöse Vollkommenheit keine Allwissenheit einschliesst, so finde auch ich diesen seelischen Thatbestand in Jesu bewährt. Aber hier wird dringend die Begründung vermisst, die diese Thatsache begreiflich macht. Denn wie können sittlich-religiöse Vollkommenheit und Irrtumsfähigkeit in Jesu nebeneinander bestehen? Dies muss so lange ein Rätsel bleiben, bis die Möglichkeit und Notwendigkeit dieses Verhältnisses in Jesu Seelenleben selbst nachgewiesen ist. Der Nachweis ist ganz unentbehrlich, wenn wir eine wirkliche genetische Erkenntnis des Thatbestandes gewinnen wollen. Diese Begründung ist ein Hauptziel meines Buches. In dieser Hinsicht suche ich eine Lücke auszufüllen, die von der wertvollen Baldenspergerschen Untersuchung gelassen worden ist (Baldensperger, Das Selbstb e w u s s t s e i n Jesu. 1. Aufl., S. 148. 2. Aufl., S. 205). *) So auch Anselm. Cur deus homo? recogn. Laemmer 1857. I, 12, 17. — Übrigens handelt es sich hier selbstverständlich nicht um die geschichtliche Entstehung der Religion und des religiösen Gefühls, sondern darum, dass das in Wahrheit Göttliche als solches nur an seiner sittlichen Vollkommenheit erkennbar ist.



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und von Christi Geist erleuchtete Gewissen (Eph. 1,17.18. 1. Kor. 2, 10. 14—16.). So weist Gess im Vorwort zu seinem letzten Werke über die Inspiration mit Recht darauf hin, dass Geistliches nur geistlich gerichtet werden könne.*) Ich aber lege hier den Nachdruck darauf, dass das Geistliche von dem in Christi Geiste Richtenden nur an seiner vollkommenen sittlichen Gtite als solches zu erkennen ist. Damit haben wir den einzigen Massstab gefunden, der für Menschen überhaupt möglich ist. Er besitzt gerade soviel Sicherheit, als das von Gottes Geist erleuchtete Gewissen. ' Wohl bildet Gottes Wort die untrügliche Norm für die religiöse Wahrheit. Aber nur indirekt und objektiv, nicht direkt und subjektiv. An sich kann Gottes Wort diesen Massstab nicht bilden. Denn eben was Gottes Wort, was göttlich ist und was nicht, kann nur das sitt= liehe Gefühl ermessen und werten.**) Freilich gibt es irrende Gewissen. So haben offenkundig die frömmsten Leute selbst in Sachen des Heils in manchen Punkten geirrt. Sie haben geirrt, obwohl sie doch an Gottes Wort den objektiven Massstab besassen; ja selbst trotz ihres subjektiven Massstabs als erleuchtete Gottesmänner. Man denke an Augustin, Huss, Luther und andere. Wenn aber dieser Mangel der Gotteserkenntnis selbst der besten Christen zur Demut mahnt, so lehrt dennooh die Erfahrung ihre Übereinstimmung in allen Hauptpunkten der Heilsoffenbarung, in welchen ihr höchster sittlich-religiöser Wert berührt wird. Nur sofern sie diesem unmittelbaren Massstabe ihres sittlichen Gefühls nicht gefolgt sind, gerieten sie auch über die göttliohe Offenbarung in Irrtümer (vgl. auch Köstlin a. a. 0., bes. S. 228). Auf diesem Wege gewissenhafter Beurteilung ist es also möglich, das religiös Bedeutsame im Evangelium Christi von dem in dieser Hinsicht nicht Bedeutsamen zu scheiden und damit seinen w e s e n t l i c h e n Heilsgehalt festzustellen. Alle die Irrt ü m e r J e s u s i n d w e s e n t l i c h u n d n u r diese, die den s i t t *) Die Inspiration der Helden der Bibel Bibel. Basel 1892. Vorwort. S. 5. **) Die "Wahrheit des Gotteswortes kann solche nur durch das religiöse Gefühl „innerlich Wesen des Glaubens und die Bedeutung des Jahrb. für d. Th. Bd. IV Heft 1, 1859, S. 228.)

und der Schriften der auch nach Köstlin als bezeugt" werden. („Das Gefühls für denselben.



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lieh w e r t v o l l e n Bestand der H e i l s o f f e n b a r u n g kürzen oder schädigen. Nur von diesem Standpunkt aus lässt sich also eine Entscheidung z. B. über die Frage gewinnen, ob jener Irrtum Jesu in bezug auf die Verfasserschaft des 110. Psalms, oder ob eine irrige Vorstellung desselben von der Nähe seiner Wiederkunft den Kern der Heilsoffenbarung berührt oder nicht. Das wesentliche religiöse Interesse wird nur geschädigt durch Verletzung dieses sittlichen Kernes. Vermochte Jesus demnach auf grund der Offenbarung des ihm innewohnenden Gotteslebens dieses der Welt einzuzeugen, dann mochte sein Wissen, soweit es nicht diesen untrüglichen Quell eigenster Gottesoffenbarung betraf, den Schranken der Menschheit unterworfen sein. Blieb nur der Kern ungeschädigt, den keine Weisheit der Welt ersetzen konnte, dann verschlug es nichts, ob er in vergänglicher Schale überliefert wurde. So sahen wir ja, dass Jesus gerade auf Anlass des Irrtums in betreff des 110. Psalms, welcher die überlieferte Form der prophetischmessianischen Auffassung angeht, die Wahrheit des Offenbarungskernes um so tiefer ergriff und enthüllte. Damit entsteht aber die Frage, ob denn wirklich alle Irrtümer Jesu derart sind, dass sie nur die religiös gleichgültige Auffassungsform, aber nicht die Gottesoffenbarung selbst beeinträchtigen. Dies wird im einzelnen bei jedem konkreten Irrtum Jesu für sich festgestellt werden müssen. Doch folgt die Unfehlbarkeit Jesu für den gesamten religiösen Bestand seiner Offenbarung notwendig aus seiner Sündlosigkeit.*) Denn wenn er sittlich makellos war, so musste seine Erkenntnis und Offenbarung in allen jenen Punkten unfehlbar sein, in denen seine innere Erfahrung des Guten und Göttlichen zu unmittelbarem Ausdruck kam. Dagegen war in allen andern Beziehungen die Möglichkeit des Irrtums für Jesum als Menschen nicht ausgeschlossen. Welches aber im einzelnen diese Punkte sind, in denen Jesus als Mensch irren konnte oder irren musste, und welches jene andern, in denen er als Sündloser vor dem Irrtum geschützt *) Vergl. meinen Beweis derselben inZöcklers „Beweis des Glaubens", Dez. 1895.



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w a r , das lässt sich nur durch eine genauere Untersuchung des Seelenlehens Jesu feststellen. Hier lag es mir zunächst nur daran, darzuthun, dass von derartigen Irrtümern Jesu, welche den tiefsten, religiösen Gehalt seiner Heilsoffenbarung nicht antasten, keine Gefahr für das Christentum droht. Dennoch treten gerade hier, wo Irrtümer Jesu selbst in Dingen, die mit seinen religiösen Vorstellungen zusammenhängen, als t h a t s ä c h l i c h nachgewiesen sind, deren Folgen nachdrücklicher in den Vordergrund, als so lange es sich nur um ihre M ö g l i c h k e i t handelte. Freilich wird durch derartige formelle Irrtümer seine einzigartige Stellung zu Gott nicht erschüttert. Dementsprechend bleibt auch die notwendige Voraussetzung dieser Thatsaclie bestehen, ein einzigartiger Zusammenhang seines Wesens mit Gott, j a die wesentliche Göttlichkeit seiner Person, vermöge deren er der eingeborene Sohn Gottes auch nach der m e t a p h y s i s c h e n Seite ist. Aber es tritt hier zweifellos ein Widerstreit mit der altkirchlichcn Auffassung der Gottheit Christi ein. Nämlich Jesu Göttlichkeit kann dann nicht mehr als eine s u b s t a n z i e l l e Wesensglcichheit mit Gott gefasst werden. Denn, wenn irgend etwas, so ist doch wohl d e r i r r e n d e G o t t ein Widerspruch in sich.*) Hieraus leuchtet andrerseits ein, wie ungemein wichtig der Nachweis des Irrens Jesu ist. In jeder andern Hinsicht mag man es allenfalls denkbar machen, dass die wahre Menschheit des geschichtlichen Jesus seine gleichzeitige v o l l g e f a s s t e Gottheit**) nicht aufhebe. Sobald aber der Nachweis erbracht und begründet ist, dass Jesus auch in hinsieht auf das I r r e n der Menschheit seinen Tribut gezollt habe, ist die Annahme einer solchen v ö l l i g e n W e s e n s g l e i c h h e i t mit Gott fernerhin nicht möglich. Sollte mir daher die Lösung meiner Aufgabe auch nur unvollkommen gelingen, so muss doch schon die bestimmte Feststellung dieser Thatsache in hohem Grade zur Klärung der Frage beitragen. *) Ist in Christo das I c h Gottes in seinem A n s i c h , dann kann es nicht in derselben Hinsicht zugleich irrtumsfrei bleiben, in welcher es, nach Christi menschlicher Natur, i r r t . **) im substanziellen Sinne.



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Diese schwerwiegenden Folgen kommen nun manchem mehr oder weniger zum Bewusstsein. Gerade sie erregen hei denen, die d i e s e volle Gottheit Jesu im altkirchlichen Sinne für unser Heil unentbehrlich meinen, Misstrauen gegen die Beweise für Jesu Irrtumsfähigkeit. Daraus entspringen dann Versuche, die Gefährlichkeit unserer Annahme für das Christentum nachzuweisen. Freilich können dergleichen Einwürfe den Thatbestand des Irrens, sofern er erwiesen ist, weder ändern noch erschüttern. Da sie aber mit weitvollen Glaubensüberzeugungen zusammenhängen, die durch den Nachweis, dass Jesus hier und da geirrt habe, bedroht scheinen, so verliert dieser das Vertrauen, so lange der Schein nicht als solcher aufgezeigt ist. Und das mit Recht. Denn d i e Wahrheit, welche der Weltanschauung die höchsten sittlich religiösen Werte raubt, kann nur eine scheinbare, aber keine echte Wahrheit sein. Liesse sich auch logisch nichts gegen dieselbe einwenden, so wäre doch das Herz nicht befriedigt. Und die Befriedigung des Herzens ist mehr wert und bedeutsamer als die Befriedigung des Kopfes. Zuletzt hat das Herz dem Kopfe gegenüber allemal recht. Man erklärt also das Irren Jesu für unmöglich, weil die Konsequenz dieser Annahme die wichtigsten Glaubensinteressen schädige, indem sie Jesu Gottheit und Heilandsstellung (im altkirchlichen Sinne) unmöglich mache. Bevor wir daher auf die Frage eingehen, wie das als Thatsache erwiesene Irren Jesu psychologisch möglich oder notwendig sei, müssen wir, wenn auch in aller Kürze, die Stichhaltigkeit jener Einwürfe prüfen.

1. Der christologische Einwand gegen das Irren Jesu.*) Ein wichtiger Einwand, den man gegen die Möglichkeit des Irrens Jesu zu erheben pflegt, lautet, wenn wir ihm eine knappe Form geben wollen, etwa folgendermassen: „Der geschichtliche Jesus kann nicht irren; sonst wäre er nicht der wahrhaftige Gott". *) Vergl. zu diesem Abschnitt auch die geistvolle Widerlegung der Zweinaturenlehre von Beyschlag in seinem „Leben Jesu" I, 2. Aufl. Halle 1887, dessen Standpunkt hierin ich in allem "Wesentlichen teile.



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Wir können diesen Einwand als den christologischen bezeichnen, da er es unmittelbar mit dem Verhältnis Christi zur Gottheit zu thun hat. Er folgert also aus dem Irren die Aufhebung der vollen Gottheit Jesu. Wir gaben diese Folgerung soeben in dem angeführten Sinne selbst zu und schlössen daraus, dass die Gottheit Jesu, auf Grund des Nachweises seiner Irrtümer, anders verstanden werden müsse, als die frühere Formulierung besagt.*) Wer aber jene unentbehrlich meint für das Christentum, macht natürlich den umgekehrten Schluss: dass Irrtümer Jesu nicht anzuerkennen seien. Beide Parteien sind also darin einig, dass diese mit seiner Gottheit in der alten Fassung unmöglich vereinbar sind. Es ist anzuerkennen, dass diejenigen, welche die Irrtums fähigkeit Jesu bestreiten, hier den Begriff der Gottheit im strengsten Sinne nehmen.**) Nur muss man dann folgerichtig mit diesem Begriffe bei Jesu auch in jeder andern Beziehung genau verfahren. Wie Gott nicht irren kann, so kann er auch nicht müde werden, nicht leiden, nicht sterben. Denn er ist nicht nur allwissend, sondern auch allmächtig, ewig, unvergänglich, für den Tod unangreifbar u. s. w. So pflegten denn auch die alten Lutheraner des 16. und 17. Jahrhunderts anzunehmen, dass Jesus schon während seines Erdenlebens die Allmacht so gut wie die Allwissenheit wirklich besessen und auch gelegentlich gebraucht, aber teilweise verhüllt habe. Da haben wir dann aber folgerichtig den verkleideten Gott, und dessen Gottheit verschlingt notwendig seine Menschheit. Die wird zum blossen Schein. So entsteht der Doketismus und Monophysitismus. Denn die uneingeschränkte Vollkommenheit, Allmacht, Allwissenheit Gottes, seine Unantastbarkeit für Leiden und Tod *) nämlich, so, dass sich die Irrtumsfähigkeit damit vereinigen lässt. **) Es ist einerlei, ob ich von der Bestreitung der Irrtumsfähigkeit Jesu oder des Irrens Jesu rede. Denn es wird kaum einen geben, der zwar die Irrtumsfähigkeit Jesu in abstracto zugiebt, aber nicht anerkennt, dass diese Möglichkeit, wenn sie vorhanden war, auch wirklich werden musste. Sollte dennoch jemand auf diesem unklaren Standpunkte stehen, so wird die Unhaltbarkeit desselben im nächsten Abschnitte nachgewiesen werden, welcher die N o t w e n d i g k e i t des Irrens Jesu aus seelischen Gründen aufzeigt.



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können in Jesu die Unvollkommenheit, Umschränktheit, Irrtumsfahigkeit, die Fähigkeit zu leiden und zu sterben, Eigenschaften, die doch für die irdische Menschheit wesentlich sind, gleicherweise nicht neben sich ertragen. Dies sind ja sich aufhebende Gegensätze, welchc nicht in derselben Person neben einander bestehen können. Wenigstens nicht, ohne diese in zwei Teile auseinander zu scheiden, die nichts mit einander zu thun haben, deren Band daher ein rein äusserliches, für ein einheitliches Personleben unmögliches ist. Dennoch hat die Kirche schon in frühester Zeit solche ketzerischen Richtungen, wie die angeführten, und auch diese häretische Folgerung der Nestorianer, dass Gottheit und Menschheit in Jesu nur äusserlich verknüpft seien, mit löblichem Taktgefühl abgewehrt. Sie hat sich vor allem durch ihr religiöses Bedürfnis treiben lassen, neben der Gottheit Jesu auch seine wahre Menschheit zu betonen. Auch hat sie mit grossem Scharfsinn Jesu Gottheit und Menschheit so zu bestimmen versucht, dass weder die eine noch die andere verloren gehe. a) D i e Z w e i n a t u r e n l e h r e . Wäre der erwähnte Versuch gelungen, so besässen wir in der Z w e i n a t u r e n l e h r e ein Mittel, die grössten Gegensätze und Widersprüche zwischen göttlicher und menschlicher Art in Jesu zu vereinigen. Jesus konnte z u g l e i c h als Mensch hungern und dürsten und als Gott in derselben Hinsicht volles Genüge haben; als Mensch ermüdet und erschöpft zusammenbrechen, als Gott zugleich von dem allen unangefochten bleiben; nach seiner menschlichen Natur sterben, nach seiner göttlichen zugleich nicht sterben; als Gott allmächtig, als Mensch ohnmächtig sein; als Gott Allwissenheit und Unfehlbarkeit besitzen und zugleich in d e r s e l b e n B e z i e h u n g als Mensch irren. Danach würde sich also, äusserlich betrachtet, auch die I r r t u m s f ä h i g k e i t Jesu mit der Zweinaturenlehre sehr wohl vertragen, wenn dies auch den Vertretern jener Ansicht nicht immer zum Bewusstsein kommt. Jesus würde sich dann z. B. als Mensch dasselbe Wissen vom Zeitpunkte seiner Wiederkunft absprechen, welches er als Gott besässe. Ja er wüsste als Gott mit zweifei-



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loser Gewissheit, dass der Zeitpunkt seiner Wiederkunft noch n i c h t zu Lebzeiten seiner Zeitgenossen eintreten konnte, als Mensch aber hätte er gerade diese irrige Meinung. Die Hülle solcher Widersprüche ist j a freilich durchsichtig. Zwar bliebe der Schein ihrer Vereinbarkeit in Jesu durch die Annahme der göttlichen und menschlichen Natur derselben Person gewahrt; aber weiter nichts. Denn auch die Kirche nimmt trotz der zwei Naturen ein Ich in Jesu an. Daher müsste auch bei dieser Lehre d a s s e l b e eine Ich in derselben Beziehung z u g l e i c h i r r e n und nicht irren. So erkennt selbst Thomasius „die Schwierigkeit, die aus Mr. 13, 32 erwächst", Jesu „Nichtwissen eines historischen Faktums", als unüberwindlich an.*) „Denn ein Wissen besitzen und zugleich nicht besitzen ist ebenso undenkbar als unmöglich" (Christi Person und Werk, II, 156, 157). Von derselben Seite aus greift der Generalsuperintendeiit Gess die kirchliche Naturcnlehre an. Er macht folgendes gegen dieselbe geltend: „Wenn . . . unser Selbstbewusstscin hervorspringt aus unserer Seele N a t u r , ist es glaublich, dass aus Jesu Seele nicht ein Selbstbewusstsein hervorsprang und ersetzt werden konnte durch das der göttlichen Natur?" (Christi Person und Werk, 3. Abt., 1887, S. 331 f.) Ferner: „Wenn durch die Natur die Art des Bewusstseins bedingt ist und umgekehrt . . . wie kann dann das ewige Ich das Centrum der menschlichen Natur sein oder ein menschliches Ich das der göttlichen Natur?" (335) „Das Ich des sich selbst gleichen, ewig sich selbst wissenden, heiligen, seligen Logos kann nicht zugleich das des lernenden, sich unter Kämpfen entschliessenden, durch den Wechsel von Freude und Leid gehenden Jesus sein; der Gottmensch wird uns zu zwei Persönlichkeiten" (337). Doch es thut hier gar. nicht not, auf die Widersprüche der Zweinaturenlehre im einzelnen einzugehen. Denn es lässt sich beweisen, dass jene Anschauung schon in ihrer begrifflichen Grundlage einen unlösbaren Widerspruch gegen ihre e i g e n e Voraussetzung enthält. Dieser liegt in der Fassung des Begriffs „Natur" selbst. Ebensowenig nämlich, als sieb das Tiersein, die tierische N a t u r , vom Tier ablösen lässt, als wenn sie ausserhalb *) Nämlich von dem angeführten Standpunkte aus.



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des Tieres Wirklichkeit besitzen könnte, lässt sich das Menschsein vom menschlichen Subjekt, das Gottsein vom göttlichen Subjekt lostrennen. Die tierische Natur*) existiert eben nur am tierischen Selbst, als das abstrakt gefasste allgemeine Wesen dieses Selbstes. So hat auch die göttliche Natur nur am göttlichen Selbst ihren möglichen Existenzort. Denn es kann keine Natur ohne ihren T r ä g e r , keine Daseinsform ohne ein Daseiendes blind herumlaufen. Sie gehört mit ihm vielmehr denknotwendig zusammen. Man hat sie in Wirklichkeit überhaupt nicht g e d a c h t , wenn man sie nicht an ihrem Träger gedacht hat. Denken wir also Jesu volle Menschheit, so denken wir notwendig ein menschliches Selbst. Denken wir seine volle Gottheit, so denken wir damit unumgänglich das göttliche Selbst. Soll Gott mithin nach kirchlicher Lehre die Menschheit annehmen, so kann dies nicht anders geschehen als so, dass das göttliche Ich, zugleich mit der menschlichen Natur, das gar nicht von ihr abzulösende menschliche S e l b s t , dessen Natur es ist, annimmt Dies ist aber ein Selbst nur durch sein und in s e i n e m F ü r s i e h s e i n , muss sich daher als ein menschliches Selbst notwendig zum menschlichen I c h entwickeln. Es ist j a nichts anderes als das unentwickelte Ich. So haben wir in Jesu neben dem göttlichen Ich, wenn es menschliche Natur annehmen soll, notwendig ein zweites menschliches Ich. Und dieses ist vom göttlichen Ich nicht nur, sofern es menschlicher Natur ist, sondern gerade als ein I c h verschieden. Denn jedes Ich ist, was es ist, eben nur als ein besonderes f ü r sich Seiendes, das als solches von jedem andern Seienden und für sich Seienden u n t e r s c h i e d e n ist. W a r also der geschichtliche Jesus Gott und Mensch zugleich, in dem Sinne, dass das göttliche Ich menschliche Natur annahm, so hatte er notwendig zwei Iche, ein.göttliches und ein menschliches. Und damit war er eine Doppelpersönlichkeit. Diese Erkenntnis besass im wesentlichen schon Severus; denn „niemals wirkt eine Natur, die nicht in sich subsistiert; Zweiheit der Naturen wird Zweiheit der Hypostasen" (W. Möller in HerzogPlitt, Realencyklopädie 1882. Bd. X , 246, unter „Monophysiten"). Der Folgerung, dass Jesus, wenn in ihm das göttliohe Ich *) In dem gemeinten Sinne.



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menschliche Natur annahm, zwei Iche haben müsse, sucht man sich nun vielleicht durch eine recht scheinbar klingende Wendung z u entziehen. Man wirft nämlich ein, dass die logischen Gesetze nicht auf göttliche Beziehungen passen. Die Widersprüche, die durch Anwendung derselben auf Göttliches entständen, brauchten daher nur S c h e i n Widersprüche zu sein, ohne notwendig etwas in der Wirklichkeit Unmögliches auszudrücken. Dieser Einwurf enthält jedoch eine Verwechslung der Begriffe. Denn es handelt sich gar nicht um die Behauptung oder Bezweiflung dessen, was in W i r k l i c h k e i t existieren könne oder nicht. Es handelt sich hier nur darum, dass, w e n n man etwas als wirklich annimmt oder d e n k t , man es nicht zugleich und in derselben Hinsioht als nicht Avirklich annehmen oder d e n k e n könne. Unsere Folgerung behauptet j a nicht, dass Jesus nicht zugleich eine göttliche und menschliche Natur haben könne. Sie sucht vielmehr nur zu entwickeln, was der Begriff der göttlichen und menschlichen Natur, wenn man ihn ü b e r h a u p t d e n k t , eben in sich enthält, und zeigt, dass man in diesem Begriffe zugleich zwei Iche denkt. Kann man beweisen, dass der Gedanke einer menschlichen oder göttlichen Natur ohne Subjekt oder Träger derselben einen Sinn hat, dann ist unsere Entwicklung dieses Begriffs falsch. Ist die Entwickelung aber richtig, so handelt es sich einfach um die Geltung des Gesetzes der Identität und des Widerspruchs nicht etwa in bezug auf etwas Wirkliches, sondern flir ein G e d a c h t e s als solches. Man k a n n vernünftigerweise die Anwendbarkeit dieses Gesetzes auf den von beiden Seiten vorausgesetzten B e g r i f f der menschlichen und göttlichen Natur gar nicht bestreiten. Das hiesse j a nichts anderes, als wenn man dasselbe zugleich und in d e r s e l b e n B e z i e h u n g wahr und nicht wahr, also weiss schwarz nennen, zu derselben Sache zugleich j a und nein sagen wollte. Denn das Gesetz fordert nichts, als dass man diesen Begriff der zwei Naturen, wenn man ihn denkt, eben auch d e n k e , und nicht zugleich n i c h t denken wolle. Man soll nur jeden Begriff mit dem Inhalt d e n k e n , den er thatsächlich hat. Das Gesetz behauptet nichts, als dass, wenn man vorgiebt oder sich einbildet, diesen Begriff zu denken, denkt ihn aber nicht mit seinem Inhalt, man ihn überhaupt nicht denkt. Man mag also immerhin die Zweinaturenlehre anerkennen! Nur



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erkennt man damit dann zugleich zwei Iche in Jesu an. Umgekehrt mag man zwei Iche in Jesu verwerfen! Nur verwirft man dann unumgänglich die Zweinaturenlehre mit. Vor dieser notwendigen Folgerung einer Doppelpersönlichkeit Jesu schreckte freilich die Kirche zurück. Denn der Widerspruch dieses Begriffes in sich selbst sowie mit der kirchlichen Voraussetzung und dem religiösen Interesse lag auf der Hand. Aber mittelbar gestand die Kirche ihn dennoch zu, ohne es indes zu wissen und zu wollen. Denn wenn sie auch nicht zwei Iche in Jesu zugab, so lehrte sie doch zwei Willen in ihm, einen göttlichen und einen menschlichen. Sie verwarf daher den sogenannten Monotheletismus, der nur einen Willen lehrte, und zwar einen gottmenschlichen, als ketzerisch. Sie sah mit Recht, dass dadurch wieder Jesu wahre Menschheit gefährdet, weil durch seine Gottheit verschlungen wurde. Das 6. ökumenische Konzil war der Ansicht: „Wer den menschlichen Willen in Jesu leugne, leugne die menschliche Seele in ihm." Es siegte „um den Preis der unerträglichsten Zuspitzung des in der kirchlichen Zweinaturenlehre liegenden Widerspruchs" (W. Möller, in Herzog-Plitt R. E. unter „Monotheleten", Bd. X, S. 803). Man bedenke: zwei verschiedene Willen an einem und demselben Ich. Und doch ist der Wille nichts anderes, als das Ich nach seiner praktischen Seite. Denn er hat ja an sich gar keine Existenz, sondern kommt nur an einem wollenden Ich vor. Er ist die praktische Bethätigungsform des Ichs, welches als solches, wie wir sahen, eine für sich seiende Einheit darstellt. So gehört der Wille mit seinem Ich, wie die Thätigkeit mit dem Thätigen, zusammen. Zwei wirklich von einander verschiedene Willen sind daher nur an zwei Ichen denkbar. Wohl können in derselben Person mehrere Strebungen neben einander bestehen, aber nicht mehrere Willen. Der Schein, als wenn dies letztere ein möglicher Gedanke wäre, entsteht lediglich, indem man aus verschiedenen Willensbewegungen desselben Willens, welche nach und gelegentlich gegen einander erfolgen, durch Begriffsverwechslung mehrere Willen macht. Wohl darf der D i c h t e r sagen: „Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust; die eine will sich von der andern trennen." Aber



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wir dürfen ihn nicht in dem Sinne beim Worte nehmen, als wenn das, eigentlich genommen, wahr sein könnte. Wohl findet Paulus, welcher sich nach seinem inwendigen Menschen am Guten freut, dass er das Gute, was er will, nicht thut; dass er vielmehr das Böse thut, was er nicht will. Er erkennt auch, dass ihn dazu die in seinem Fleische wohnende Sünde treibt, welche ihn, gegen sein besseres Wollen, ihrem Gesetze unterwirft (Rom. 7, 15—23). Es sind aber, genau genommen, hier nicht zwei Willen, ein besserer und ein böser, nicht zwei Iche, ein sogenanntes besseres und ein böses Ich in dem Menschen thätig. Es ist vielmehr derselbe Wille, welcher das Gute will, aber zu schwach ist, es gegen die gewaltigen Versuchungen und Antriebe, die aus seinem fleischlichen Leben stammen, durchzusetzen; deshalb unterliegt er im Kampfe. Es ist dasselbe Ich, welches sich im Grunde sehnt, das Gute zu tliun, dies auch zuweilen als seine wahre Bestimmung und als den höchsten Quell seiner Befriedigung und Freude erkennt, und welches nachher bereut, und sich selbst, kein anderes, schuldig und unglücklich fühlt, dass es im Kampfe unterlegen ist. Das sind Thatsachen des Bewusstseins. Die Sinnlosigkeit der Annahme eines doppelten Willens des einheitlichen Ichs in Jesu wird an einem Beispiel noch deutlicher. Wenn Jesus in Gethsemane sagt: „Nicht, wie ich will, sondern wie du willst", so ist dies leicht zu verstehen, wenn er hier seinen menschlichen Willen dem Willen seines himmlischen Vaters unterwirft. Hat aber Jesus neben seinem menschlichen noch einen göttlichen Willen im eigentlichen Sinne in seinem Ich, so findet hier ein wirklicher Kampf zwischen zwei verschiedenen Willen in derselben Person statt. Dies hat jedoch wiederum keinen Sinn, wenn man nicht zwei Iche als Träger dieser Willen hinzudenken dtrf. Und wenn man dies thut, so ist die Doppelpersönlichkeit da. Oder vielmehr, wir haben dann genau genommen zwei Personen in einer Person, zwei Iche in einem Ich. So lange man dergleichen Widersprüche in der Wirklichkeit niiht für möglich hält, muss also die Zweinaturenlehre als ein keineswegs völlig gelungener Versuch angesehen werden, das Göttliche und Menschliche in Jesu, w a s wir g l e i c h der K i r c h e b e kennen, zusammen zu denken. Denn wir können unmöglich ein doppeltes Ich in Jesu anerkennen, wozu diese Lehre notwendig führt. S c h w a r t z k o p f f , Konnte Jesus irren?

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Hatte er aber kein doppeltes Ich, dann ist ein Irren Jesu nach seiner menschlichen Natur mit seinem Nichtirren nach der göttlichen in d e m s e l b e n P u n k t e nicht zu vereinigen. So bleibt die Folgerung bestehen, dass ein Irren Jesu den Gedanken seiner vollen Gottheit im a l t k i r c h l i c h e n Sinne ausschliesst. Wiederum lässt auch die Annahme einer doppelten Natur in ihm die Thats a c h e seiner Irrtümer ungelöst. b) D i e K e n o s i s und D o r n e r s S t e l l u n g zu ihr. Wir wollen nur noch eine Anschauuug unter unserm Gesichtspunkte einer Prüfung unterziehen, welche heutzutage bei den neueren „positiven" Theologen beliebt, im gründe aber unkirchlich ist. Diese oben schon gestreifte „kenotische" Richtung hat eine weiter reichende Bedeutung; denn sie ist ein letzter Versuch, die auch von ihr anerkannten Fehler der Zweinaturenlehre zu verbessern. Dabei ist anzuerkennen, dass sie dies in einer Weise zu thun sucht, welche die wahre Menschheit Jesu zur Geltung bringen soll, die bei jener früheren Fassung verloren ging. Daneben strebt sie jedoch zugleich, seine „wahre Gottheit" im alten Sinne festzuhalten. Und eben dadurch wird ihr der Schein der Rechtgläubigkeit gewahrt. Neben ihr und im Gegensatz zu ihr bleibt dann noch die Dornersche Auffassung zu berücksichtigen. Untersuchen wir zunächst, wie weit die Fortbildung der Lehre von der Selbstentäusserung des Logos ihr Ziel erreicht, und wie sie sich folgerichtig zu der Thatsache des Irrens Jesu stellen muss. Wenn auch der vorgeschichtliche, als ein göttliches Ich existierende Logos nach dieser Lehre mit der vollen Gottheit die Allwissenheit und alle göttlichen Eigenschaften ungeschmälert besitzt, so giebt er dieselben doch mit seiner Menschwerdung in grösserem oder geringerem Masse daran. Nach Thomasius entäussert er sich nicht des „absoluten Lebens", „welches das Wesen der Gottheit ist" (Christi Person und Werk, 2. Aufl. 1857. II, S. 201), sondern nur „der göttlichen Seinsweise" und „Herrlichkeitsgestalt" und nimmt „menschlich beschränkte und bedingte Lebensgestalt" mit einer „zeiträumlich beschränkten Daseinsform" an (a. a. 0. 151. 146. 143.).



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Nach Gess dagegen, der folgerichtiger verfährt, behält die entäusserte Logosnatur, welche die Seele, das Ich des geschichtlichen Jesus bildet (Christi Person und Werk, IH. 364. 368), nicht einmal das göttliche Selbstbewusstsein mehr (367), sondern nur noch den unbewussten gottheitlichen Naturgrund. Dieser Standpunkt seheint sich, so weit er der vollen Menschheit des geschichtlichen Jesus gerecht wird, mit seiner Irrtumsfähigkeit zu vertragen. Dennoch wird immerhin der tiefste Naturgrund Jesu auch von Gess als nicht nur voll und ganz göttlich, sondern gottheitlich angesehen. Der Logos bildet j a das wenn auch seiner zunächst nicht selbstbewusste Ich (genauer: „Selbst") Jesu. Demnach ist doch ein wirkliches Irren auch für diese Logosnatur unwürdig und unmöglich. Und doch lässt sich andrerseits ein unbewusster Zustand nicht mit der vollen Gottheit vereinigen. Nehmen wir aber einmal dies als möglich an, dann soll doch die Logosnatur die menschliche Seele ersetzen. Und eben damit geht diese in Wahrheit verloren (vgl. auch Dorners Glaubenslehre 1,2,368—372.). So ist die wahre Menschheit aufgegeben, wie vorher die wahre Gottheit, und die gegenseitige Vereinigung beider wird unmöglich. Auch Thomasius erkennt in dieser „ U m s e t z u n g des Logos in eine menschliche Seele" ein Aufgeben des absoluten „göttlichen Wesens oder Lebens". Er verwahrt sich gegen eine solche „Missbildung" als gegen einen „schriftwidrigen, grundstürzenden Irrtum" (II, 198. 199). Dorner seinerseits gräbt der kenotischen Auffassung überhaupt die Wurzeln ab. E r erkennt in ihr den „neueren Theopaschitismus" (Entwicklungsgeschichte der Lehre von der Person Christi, 1853. II, 1267—1273). Die kenotische Selbstentäusserung des Logos bedeutet für ihn eine „Selbstdepotenzierung" (a. a. 0 . H, 1260. 1262), durch die er überhaupt aufhört, Gott zu sein (1266.). Jene Auffassung ist ihm eine mythologisierende, den Gottesbegriff verunreinigende, „die Trinität suspendierende Theorie". Sie führt entweder zur apollinaristischen „Vereinerleiung des Göttlichen mit dem Menschlichen", wobei keine wahre Menschheit herauskomme, oder aber zur nestorianißchen toten Stellung beider zu einander, wobei man zwei Iche erhalte (Entwicklungsgeschichte II, 1271. Glaubenslehre I, 2, 368 f. 372). Wenn Gess den Logos im Gegensatz zu Apollinaris „selber wandelbar sein lasse, so 4*



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werde das nur einen Unterschied zu Gunsten des Apollinaris ausmachen" (372). Wie steht es nun aber demgegenüber mit Dorners eigenem Versuch, die altkirchliche Naturenlehre so zu gestalten, dass sie wieder in sich selbst haltbar werde? Um die Vereinigung der göttlichen und menschlichen Natur in der einheitlichen Person Jesu zu ermöglichen, fasst er „die Einheit nicht als bloss seiende und fertige, sondern als eine auf Grund des Seins fort und fort werdende und sich reproduzierende, j a so lange der Gottmensch nicht vollendet ist, als eine wachsende" auf (Entwicklungsgeschichte II, 1273). Statt der kenotischen „Verringerung des Logos" finde vielmehr eine „anfängliche Beschränkung der Selbstmitteilung an die Menschheit" statt (1263). Da die göttliche und menschlichc Natur „schon an sich auf einander bezogen" seien, so würden sie auch als sich wissend und wollend in eine Einheit zusammengehen. (Entwicklungsgeschichte II, 1260.) Hier liegt nun aber der Grundfehler seiner Anschauung. Er erkennt nämlich selbst an, dass „wir weder Christi Menschheit nooh seine Gottheit unpersönlich denken dürfen" (1260). Und ohne das könnte j a auch kein wissendes und wollendes „Zusammengehen" in eine Einheit statthaben. Wenn nun das Logos-Ich mit der Menschenseele sich verbindet, wie sollen da diese zwei Iche in eins „zusammengehen" können? Gehört doch einheitliche Geschlossenheit in sich selbst zum Wesen jedes Ich. So trifft ihn selbst der Vorwurf, welchen er dem Kenotismus macht, dass er statt der angestrebten Einheit der gottmenschlichen Person vielmehr zwei Iche, also eine Doppelpersönlichkeit in Jesu erhält. Auch Thomasius erkennt diesen Fehler Dorners (a. a. 0 . II, 193 f.) und wirft seiner Lehre ausserdem vor, dass sie unkirchlich sei und den „genuinen Begriff der Menschwerdung Gottes" darangebe (195). Gess fügt hinzu, dass Dorners Entwicklungsgeschichte schliesslich Jesu Ich im Logos-Ich verschwinden lasse, dass dagegen seine „Glaubenslehre" nur einen ,,heiligen Menschen" gewinne, wobei sich zugleich eine seltsame Gestaltung der Trinität" ergebe. (Gess a. a. 0 . III, S. 337—343.). So steht es also mit den geistvollsten Versuchen neuerer Zeit, welche die volle Gottheit Christi im altkirchlichen Sinne



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festhalten und daher sicherer unterbauen möchten, als die alte Orthodoxie vermocht hat. Sie enthalten notwendig Widersprüche gegen ihre eigene Voraussetzung und führen folgerichtig zur Leugnung entweder der wahren Menschheit oder der wahren Gottheit, oder aber zur unorganischen und unvernünftigen Annahme einer Doppelpersönlichkeit des geschichtlichen Jesus. Diese Folgerung ziehen nicht wir, sondern die Vertreter der altkirchlichen Lehre gegen einander. Und wir können uns nicht verhehlen, dass in diesem Falle beide sich bekämpfende Parteien recht haben, indem jeder dem andern die Fehler seiner Auffassungsweise nachweist. Wenn wir noch eines Beweises bedürften, dass die alte Naturenlehre sich in keiner Weise mehr halten lässt, so ist es dieser, dass ihre scharfsinnigsten Vertreter sich gegenseitig die Haltlosigkeit und Unkirehlichkeit ihrer besten Versuche, sie zu stützen, darthun. Auf jeden Fall aber müssen derartige Anschauungen die nachgewiesene Thatsache des Irrens Jesu (in gewissen Beziehungen) als unlösbares Bätsei bestehen lassen.

2. Der soteriologische Einwand gegen das Irren Jesu. a) Die Anselmsche und a l t k i r c h l i c h e Genugthuungslehre. Das Gewicht des Bedenkens gegen das Irren Jesu ruht aber zuletzt weniger auf dem Werte, welchen man seiner vollen Gottheit an sich zuschriebe, als darin, dass man fürchtet, es werde damit zugleich seine Fähigkeit dahinfallen, unser Heiland zu sein. Das ist der Grund, weshalb man um jeden Preis an jener alten Fassung seiner Gottheit festhält. Der christologische Einwand zieht also seine eigentliche Kraft aus dieser soteriologischen Voraussetzung. Dadurch erst erhält jene Anschauung vom Verhältnis Jesu zu Gott scheinbar eine unmittelbare Bedeutung für unser Heil. Man folgert etwa so: Nur Gott kann den Menschen erlösen also muss Christus Gott (im vollen Sinne) sein, um unser Erlöser sein zu können. Diese Folgerung wäre richtig, wenn Christus Urheber der Erlösung sein müsste. Dies ist aber anerkanntermassen nach biblischer Lehre Gott der Vater. Christus dagegen



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ist vielmehr der M i t t l e r der Erlösung (1. Tim. 2, 5 ; 1. Kor. 8, 6. 11, 3 ; Eph. 4, 5 f ; Col. 1, 1 3 ; 1. Tim. 1, 1 ; Tit. 3, 4). Gott erlöst die Menschen d u r c h ihn (2. Kor. 5, 18—20). Wenn es nun aber Gott selbst ist, welcher die Menschen durch Christum als sein Werkzeug erlöst, so ist nicht einzusehen, warum Christus selbst im vollen Sinne Gott sein muss, damit Gott der Vater uns durch ihn erlösen könne. Warum soll Gott an sich dazu nicht ausreichen? Da zieht man sich nun auf die vermeintliche Notwendigkeit eines stellvertretenden Genugthuungsleidens zurück. Man steht hier noch wesentlich auf Anselms Buche: Cur deus homo? (Warum ist Gott Mensch geworden?*) Nach Anselm besteht die Sünde des Menschen darin, daBs er den Gotte geschuldeten Gehorsam nicht leistet. Durch diese Gehorsamsentziehung raubt er Gotte zwar nicht an sich, aber in hinsieht auf die göttliche Weltordnung, seine Ehre, welche eben im unbedingten Geschehen seines guten Willens liegt. Die Gerechtigkeit Gottes fordert nun die Wiederherstellung dieser beeinträchtigten Ehre (Lib. I, Kap. 11, Kap. 15, § 4). Erst wenn sie wiederhergestellt ist, kann er seine Barmherzigkeit walten lassen; es wäre Gottes unwUrdig und ein Makel der sittlichen Weltordnung, wenn er die Sünde ohne völlige Genugthuung vergeben wollte (I, 12). Diese kann nur darin bestehen, dass Gotte etwas zum Ersatz gegeben wird, was höheren Wert hat, als alles ausser Gott, als das Weltall selbst. Denn der Untergang der Welt wäre nicht so schlimm, als die kleinste Sünde ist (I, 21). Wird Gotte eine derartige Genugthuung nicht geleistet, dann muss die richterliche Bestrafung eintreten (I, 11, 7. 8 ; 13, 7; 15, 10. 11). Jene aber kann nur den Verlust der Seligkeit für die Menschen zur Folge haben (I, 24). Diese können nun, weil sie alle Sünder Bind, irgendwelche Genugthuung, geschweige denn die erforderliche, unendliche nicht vollziehen (I, 20, 25, 12. Kap. 21. II, 4, 3). Sie sind j a nicht einmal im stände, eine einzige Sünde wieder gut zu machen, da sie Gotte, auch wenn sie nicht gesündigt hätten, alles schuldig wären, was sie sind und haben (I, 20). Eine unendliche Genugthuung kann nur der unendlich Vollkommene, also Gott selber, leisten. Der Mensch allein aber ist *) Ich benutzte die Ausgabe von Hugo Laemmer. Berlin 1857.



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schuldig, sie zu geben. So ist es notwendig, dass Gott als Mensch sie darbriDge (II, 6. 4. 5). E r setzt dies aus freier Gnade ins Werk, weil sonst sein Zweck, zu welchem er die Menschen geschaffen, nicht erreicht werden würde. Dieser Zweck ist, den Ausfall der Zahl der abgefallenen Engel zu decken, da eine bestimmte Anzahl vernunftbegabter Wesen für die Seligkeit vorgesehen war (I, 1 6 , 1 7 u. 18; 23, 7. 25, 9. II, 4, 4. Kap. 5). Daher wird Gott in Jesu Mensch, oder genauer: „das Wort", die zweite Person der Dreieinigkeit, wird Fleisch, indem es durch Geburt von der Jungfrau Maria die menschliche Natur annimmt (II, Kap. 7—9). Das Mittel nun, wodurch Christus als Gottmensch jene Genugthuung an Stelle der Schuldigen leistet, ist das unendlich grosse Opfer seines Gotte nicht geschuldeten Todes. Denn durch diese ausserordentliche Leistung an Gott erwirbt er sich bei ihm das Anrecht auf eine ausserordentliche Belohnung. Diese wendet er, da er ihrer für sich nicht bedarf, aus Liebe den Menschen, seinen Brüdern, zu, indem er von Gott die Vergebung ihrer Sünden erbittet und erhält (II, 18, 5. 6. 10. 20. 19, 4. 9, 12). Diese Sühnetheorie ist noch heute, wenn auch meist in einer feiner ausgebildeten Gestalt, bei vielen Christen in Geltung. Sie ist der tiefste Grund, warum man glaubt, der Annahme der vollen Gottheit Christi, im altkirchlichen Sinne, trotz ihrer auf der Hand liegenden Selbstwidersprüche nicht entraten zu können.*) Man nimmt an, dass Gott nicht nur eine Sühne durch Busse und Umkehr des Menschen zu ihm, sondern a u s s e r d e m noch durch eine objektive richterliche Genugthuung für die Sünde, selbst des Bussfertigen, fordere. Jesus leistet diese an Stelle der Sünder, welche die Schuld nicht zahlen können und daher den Tod verdienen, als Gott und Mensch in einer Person. Er thut es durch sein eigenes Leiden und vor allem durch seinen Opfertod am Kreuze, dessen unendliches Verdienst er den Sündern zuwendet. Diese Anselmische Theorie ist freilich später sogar vergröbert und verschärft worden, indem man das Genug*) Vergl. zu diesem Abschnitt auch Bitschis „Rechtfertigung und Versöhnung", besonders III. 2. Aufl. 1883.



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thuungsleiden Christi in ein eigentliches Strafleiden verwandelte. Danach bietet er seinen Tod nicht nur, wie bei Anselm, Gotte als Genugthuungsmittel dar, sondern er erleidet ihn zugleich als S t r a f e , an Stelle der Sünder. Ja, er schmeckt sogar die Qualen der Hölle an ihrer Stelle. Allerdings finden neuerdings einige sonst zu den Rechtgläubigen gerechnete Theologen ein Strafleiden des Schuldlosen doch zu hart und Gottes Gerechtigkeit widersprechend. Daher streben sie, diesen Gedanken irgendwie zu mildern und suchen die Genugthuung Christi mehr in der Leistung des vollkommenen Gehorsams bis zum Tode an der Sünder Statt. Sie übersehen aber, dass sie damit den Herzpunkt der Anselmischen Lehre ausschneiden. Denn sie geben es auf, den Tod s e l b s t als s a c h l i c h e s Genugthuungsmittel anzusehen. Und diese s a c h l i c h e Wiederherstellung der verletzten göttlichen Ehre mittelst eines durch seinen Wert die Sünde der Welt aufwiegenden Todes war für den r i t t e r l i c h e n Kirchenlehrer überhaupt der Grund, welcher die Stellvertretung durch Gott s e l b s t als Menschen nötig machte. So verbreitet nun jener Gedanke von der Strafstellvertretung und rechtlichen Genugthuung in verschiedenen Abarten noch ist, so ist er doch seinem innersten Wesen nach unbiblisch und unchristlich. Unbiblisch. Denn schon die alttestamentliche Anschauung in betreff der Sühne, wie diese im Kultus ausgeprägt ist, erhebt gegen eine solche Auffassung Einspruch. Und nun lese man gar Propheten und Psalmen! Unchristlich. Denn Jesus selber denkt nachweislich ganz anders über die Vergebung seines Vaters gegenüber den Sündern. Jedoch habe ich nun den Beweis für die Wahrheit dieser Behauptung zu erbringen. Nur betone ich für die folgende Erörterung ausdrücklich, dass ich keineswegs die Notwendigkeit der S t r a f e des verhärteten Sünders anfechte, die, wenn wir ihre letzte Konsequenz gezogen denken, im ewigen Tode gipfeln muss. Es handelt sich vielmehr stets nur um die vermeintliche Notwendigkeit einer r i c h t e r l i c h e n Bestrafung d e s von e c h t e r Busse E r f ü l l t e n .



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b) D i e S ü h n e im i s r a e l i t i s c h e n K u l t u s , i n P r o p h e t e n und Psalmen.*) Man beruft sich immer noch zuweilen darauf, Gott habe schon im alten Testamente dem reuigen Sünder seine Sünde nicht ohne den Hinzutritt einer besonderen Genugthuung vergeben. Das zeige sich im sogenannten Sündopfer. In diesem werde sie dadurch bewirkt, dass an Stelle des dem Tode verfallenen Menschen das Tier diese Strafe erleide. Die Gnade Gottes äussere sich dann eben darin, dass Gott eine solche, an sich unzureichende, Genugthuung annehme. Dies thue er im Hinb ick auf die künftige vollkommene Genugthuung durch Christus. Am grossen Versöhnungstage aber wird nach jener Auffassung in ähnlicher Weise der mit den Sünden des Volkes beladene Bock in die Wüste gejagt, um dem Asasel und damit dem Verderben an Stelle der Sünder übergeben zu werden. Selbstverständlich muss ich nun hier auf eine e i n g e h e n d e r e Widerlegung jener Ansicht verzichten und mich auf eine Andeutung des Wichtigsten beschränken. Die angegebene Erläuterung der Bedeutung des Sündopfers beruht, wie die Sachkundigen heutzutage fast allgemein anerkennen, auf einer weder genauen, noch sachgemässen Deutung der Sühnehandlung.**) Zunächst beim S ü n d o p f e r geht die Verkehrtheit jener Auffassung schon aus Zweck und Bedingungen der Sühneinrichtung selbst hervor. Dies Institut ruht unmittelbar auf dem von Gott mit Israel geschlossenen Bunde, wodurch er dasselbe in seine Gemeinschaft aufgenommen hat, um sein Gott zu sein, und damit es sein Volk sei (2. Mos. 19, 4. 5).***) Ein solcher Verkehr des heiligen Gottes, dessen Herrscherwille allein zu gelten hat, mit dem unheiligen Volk konnte aber weder entstehen noch bestehen, *) Ich ziehe es aus sachlichen Gründen vor, die in gewissem Sinne richtige geschichtliche Reihenfolge: Propheten, Kultus, Psalmen, hier nicht zu befolgen. **) Zu dem Folgenden ist zu vergleichen Fr. Ohler, Theologie des alten Testaments, 2. Aufl. 1882. — Fr. Delitzsch in Riehms Handwörterbuch des bibl. Altertums unter „Opfer", „Sündopfer" usw. — H. Schultz, alttestamentl. Theologie, 4. Aufl. 1889. ***) Es handelt sich natürlich um die Thatsache des Bundes, nicht um den Namen.



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wenn die Vorbedingung dafür die völlige Genugthuung wäre. Die notwendige Voraussetzung für diese Thatsache ist vielmehr die Nachsicht Gottes gegen Israels Schwachheitssünden. Allerdings müsste die Sünde an sich die Wirkung haben, Gottes Bundesgemeinschaft mit dem sündigen Gliede seines Volkes zu stören oder aufzuheben. Denn sie fordert den Zorn d e s Gottes heraus, welcher seinem Wesen nach das Böse hasst und vernichtet. Aber derselbe, welcher die Sünde hasst, liebt die Sünder. So setzt der freie Gnadenwille, der den Bund mit dem sündigen Volke g e s t i f t e t h a t , auch jene ihn störende Wirkung a u s s e r G e l t u n g . Dies tliut er, indem er im Sündopfer ein Gnadenmittel darbietet, wodurch das Bundcsglied mit seiner Sünde gegenüber der drohenden Zornesäusscrung der göttlichen Heiligkeit gedeckt, das heisst: schützend sicher gestellt wird („Kipper". Vergl. Delitzsch unter „Opfer" a. a. 0 . 1117), oder aber, wie Smend will, das Auge des Beleidigten (Gottes) bedeckt wird (a. a. 0 . S. 128, 3 2 2 — 3 2 4 ) . Darin eben besteht nach alttestamentlicher Auffassung- die „Sühne". Nur ist diese und mithin die Vergebung Gottes natürlich durch die bussfertige Umkehr zum Gehorsam gegen seinen Willen bedingt. Indem der Reuige durch das Opfer die Unverletzbarkeit des Bundesverhältnisses durch die That bekennt, stellt er, wenigstens in symbolischer Handlung, soweit er kann, die Verletzung desselben wieder her. Die Voraussetzung dieser wahren Reue ist, dass jene nicht mit „erhobener Hand", das heisst: mit vollbewusster Absicht, sondern ohne dieselbe, aus „Irrtum", Schwäche, Übereilung verübt wurde (3. Mos., Kap. 4 u. 5; 4. Mos. 15, 2 2 — 2 9 . Vergl. Ohler a. a. 0., S. 4 6 5 . Delitzsch a. a. 0 . unter „Sündopfer", S. 1584. H. Schultz a. a. 0 . , S. 354). Denn der f r e c h e Frevler löst sich selbst innerlich aus der Zugehörigkeit zu dem Kreise, über welchem Gottes gnädiger Bundeswille waltet (vergl. H. Schultz a. a. 0., S. 482). So wird er als unwürdig auch äusserlich ausgeschieden, indem er der einzigen eigentlichen Strafe für religiöse Kapitalund Majestätsverbrechen, der „Ausrottung aus dem Bundesvolke", verfällt (4. Mos. 15, 30. 31. Vergl. Riehm in seinem Handwörterbuch unter „Strafrecht", S. 1 5 7 0 f.). Wie demnach das Darbringen des Sttndopfers den bundesgemässen Gesinnungswandel bezeugt, so stellt sich in der Annahme



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desselben von Seiten Gottes die Zusicherung des Fortbestandes seines Gnadenwillens gegenüber dem Opfernden öffentlich dar. Auf der einen Seite also sühnt der G n a d e n w i l l e des B u n d e s g o t t e s mittelst des Sttndopfers die Sünde des Reuigen. Jahve ermöglicht und verwirklicht selbst ihre Vergebung. Und andererseits ist das bussfertige Vertrauen auf seine vergebende Heilsgnade die einzige Bedingung derselben auf seiten des Sünders. Wenn ferner nur diejenigen Sünden vergebbar sind, welche den Gnadenbund nicht grundsätzlich aufheben, so ergiebt sich, dass die göttliche Vergebung nichts ist als die Bethätigung der Bundesgnade für den einzelnen Fall. Diese nimmt von vornherein, indem sie dem reuigen Bundesgliede das Schutzmitttel des Sündopfers darbietet, von seiner Bestrafung Abstand. Eben deshalb giebt es aber auch für die Verachtung derselben keine Sühne und Vergebung. Vielmehr verfallen die nicht v e r g e b b a r e n Sünden unbedingt der Strafe, ohne dass die Sühne jemals s t e l l v e r t r e t e n d für diese eintreten könnte. Schon hieraus wird deutlich, dass die Sühne mit der Strafe und die Strafe mit der Sühne in kultischer Hinsicht überhaupt nichts zu thun hat, sondern dass die eine die andere ausschliesst. Schon der Zweck des Sühneinstituts und der Bereich, innerhalb dessen es seine sühnende Kraft ausübt, zeigt mithin, dass es sich hier nicht um den Vollzug einer S t r a f e , sondern um Darbietung der göttlichen B u n d e s g n a d e handelt. Wo aber keine Strafe ist, da hat die stellvertretende Übernahme derselben keinen Sinn. Schon hierdurch wird also jene Deutung des Sündopfers von vornherein unwahrscheinlich, als wenn das Opfertier stellvertretend die verdiente Todesstrafe des Sünders erlitte, und als wenn die Gnade Gottes in der Annahme dieser Stellvertretung bestände. Dies lässt sich aber aus der Vollziehung des Opfers selbst noch näher nachweisen. Läge die Bedeutung des Stihnopfers in der stellvertretenden Straferleidung des Tieres für den Menschen, so müsste die Tötung des ersteren selbst einen sühnenden Charakter haben. Das ist aber nicht der Fall. Die Schlachtung liegt bekanntlich nicht einmal dem Priester ob, sondern dem Darbringer des Opfers (vgl. Ohler a. a. 0., S. 425) bez. den Leviten mit Laiencharakter. Sie hat



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also überhaupt nicht den Wert einer p r i e s t e r l i c h e n Handlung. Und doch geht, wenn irgend etwas, die Vermittlung der Sllhne das Amt des Priesters an. Aber auch das Gesetz giebt „nirgends . . . eine Andeutung, dass im Opfer, wie im Cherem Strafjustizakte vollzogen werden" (Ohler a. a. 0., S. 431). Läge in dem Sterben des Tieres an Stelle des Opfernden die Vermittlung der Sühne, so wäre ferner das u n b l u t i g e Sündopfer u n m ö g l i c h (3. Mos. 5, 11—13; H. Schultz a. a. 0., S. 357 f.). Die Schlachtung des Opfers hat demnach an sich mit der Sühne gar nichts zu thun. Diese wird vielmehr durch gewisse Akte bewirkt, mittelst deren die Hand des Priesters das aufgefangene Blut in Berührung mit den Stätten der unmittelbaren göttlichen Gegenwart bringt und so Gottc darbietet. Dies geschieht durch Sprengen, Spritzen, Ausgiessen desselben an den Brand- und Räucheraltar, bez. auch an die Bundeslade (3. Mos. 17, 11. 4, 25. 30. 34. 5, 9. 16, 14. 15. 18 f. Hebr. 9, 22). Nur hierin besteht die Sühnehandlung; in nichts anderem liegt insonderheit die sühnende Kraft des Sündopfers (vergl. Ohler a. a. 0., S. 425 f.). Gott behält sich die Aneignung des Blutes, als Gabe für den Altar, vor, weil des Fleisches Seele im Blute wohnt (3. Mos. 17,11).*) Indem also der Priester das Blut vor Gottes Angesicht darstellt, und durch Ausgiessung, Bestreichung, Besprengung demselben zueignet, bietet er ihm sinnbildlich, im Namen des Opfergebers, die kostbarste Gabe, ein Leben, dar. Der Fromme giebt Gott seinem Herrn das Beste, was er hat. Das fromme Glied des Bundesvolkes umsomehr, als sein Gott zugleich der wahre Eigentümer seines Landes und all seines Besitzes, j a sogar seines eigenen Lebens ist. So weiss der Israelit nicht nur seine Habe, sondern sich selbst, seine Person, seinen Willen und Gehorsam, sein Handeln und Wandeln, genug sein *) Abgesehen von der Scheu vor dem Genüsse des Lebens, strebte man zugleich zwischen der Speise Jahves und der Menschen zu unterscheiden. Jedoch meint Smend, es müsse erst ein späterer Gedanke sein, das von der Gottheit stammende Leben ihr wieder zurückzugeben. buch der a. t. Religionsgeschichte, S. 127.)

(Lehr-



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ganzes Sein, Gotte schuldig, verhaftet, von ihm unbedingt abhängig. Dieses Bewusstsein bethätigt er dankend, bittend und gelobend in den verschiedensten Arten der Opfer. Stellt der Opfernde aber schon in den übrigen Opfern, in einer anschaulichen realen Form, dar, dass er, was er ist und hat, Gott schulde, so tritt insonderheit beim Slindopfer das Bewusstsein und Geständnis in den Vordergrund, dass er Leben und Gehorsam, die er dem Bundesgotte und dessen allein geltendem Willen schuldet, diesem, wenn auch unabsichtlich, entzogen habe. E r weiss, dass er dadurch allein, wenn Gott nicht barmherzig wäre, sein Leben verwirkt haben würde. So ist es kaum anders denkbar, als dass dies reuige Bewusstsein auch den Sinn des Sündopfers noch in besonderer Weise mit bestimmt. Indem der zu Entsühnende die Blutvergiessung zu seinen Gunsten an heiliger Stätte vollziehen lässt, bekundet er, wenigstens doch im Sündopfer, wo das Gefühl der Sünde beim Opfernden vorherrscht, seine eigene Todeswürdigkeit. So ist auf Seiten des Menschen „der wesentliche Mittelpunkt der ganzen Opferhandlung . . . . das Bekenntnis der Sünde, mag es durch die That oder noch besonders durch feierliches Wort geleistet werden (3. Mos. 16, 2 1 ; 4. Mos. 5, 7; 2. Sam. 12, 13". Schultz, S. 492); wie es wahrscheinlich schon „mit der Handauflegung . . . . verknüpft war" (Ohler a. a. 0 . S. 475). Von seiten des Bundesgottes aber kommt im Sühneakt die grundsätzliche, bedingungslose Aufhebung der Schuld des Beuigen durch die Annahme des sühnenden Blutes zum Ausdruck. Will man also von Gutmachen des Unrechts und Genugt u u n g dafür reden, so liegt diese Genugthuung in nichts andern, als in dem Sündopfer selbst, als einem Akte bussfertigen Glaubensgehorsams. Nach alle dem haben wir, insonderheit in der dabei zu vollziehenden Blutdarbringung, wohl ein subjektives Bekenntnis der eigenen Todeswürdigkeit durch eine sinnbildliche Handlung, aber nicht einen objektiven Vollzug der Todesstrafe am Tier an Stelle des Menschen. Eine solche wird auch nicht s y m b o l i s c h vollzogen. Der Begriff der S t e l l v e r t r e t u n g ist hier völlig ungehörig. Das ist eine Auffassung, die nicht dem alttestamentlichen Kultus an sich angehört. Sie verdankt vielmehr einer späteren Auslegung der Rabbinen ihre Entstehung (Ohler, S. 425), wie wir sogleich näher darthun werden.



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Ebensowenig aber lässt sich bei der Sühnehandlung des grossen Versöhnungstages eine stellvertretende Straferleidung nachweisen, wie man wohl früher gemeint hat. Die Sündopfer selbst können j a a u c h hier hinsichtlich der Sühne keine andere als die sonstige ihnen wesentliche Bedeutung haben. Nur erscheint die Sühnehandlung durch die Spritzung des Blutes an die Bundeslade in ihrer vollkommensten Gestalt. Dagegen hat die Entlassung des lebenden Bockes, welcher sinnbildlich mit den Sünden des Volkes beladen worden, in die Wüste, an sich überhaupt keine sühnende Bedeutung. Die Sühnung war j a schon durch die besonders feierlichen Sündopfer vollzogen worden (vergl. Franz Delitzsch in Riehms Handwörterbuch unter „ Versöhnungstag a , S. 1713). Das Fortjagen konnte also jene Bedeutung nur verstärken, bezw. anschaulich bethätigen und verbürgen. Die Entlassung des Sündenbocks bezeichnete eben die völlige Fortnahme der gesühnten Sünden (vergl. Ohler a. a. 0. 484—490). Fassen wir das bisherige Ergebnis zusammen. Die Meinung, dass die Sühne im alttestamentlichen Kultus durch ein stellvertretendes Strafleiden vermittelt werde, entbehrt der geschichtlichen Grundlage. Die Sühne besteht überhaupt nicht in einer Leistung des Menschen, oder des Tieres an seiner statt, immerhin im Auftrage Jahves, als wenn dadurch zuvor der Gerechtigkeit des zürnenden Gottes Genugthuung geschähe, um so die Bedingung für das Walten seiner Gnade zu schaffen. Sie stellt vielmehr selber die Art und Weise dar, wie Gott dem reuigen Bundesglied auf dem Wege des Kultus seine Vergebung zusichert und verbürgt. So kommt schon in der öffentlichen Gottesverehrung, in deren festen Satzungen immerhin die Gefahr der Veräusserlichung liegt, dennoch der theokratische Grundsatz zum Ausdruck, dass Gott dem reuig sich zu ihm wendenden Volksgliede aus freier Gnade, ohne weitere Klausel und Strafforderung an den Sünder oder dessen Stellvertreter, die Sünden vergiebt. Wir werden daher zu erwarten haben, dass die Propheten, die ständigen Schöpfer, Herolde und Wächter der wahren Innerlichkeit der israelitischen Religion, das Verhältnis Gottes zum Sünder nur noch reiner und tiefer fassen. Und so ist es. Einige Stellen, in welchen die Propheten die barmherzige Annahme des Sünders von seiten Gottes ausdrücklich nur von dessen



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Bussfertigkeit abhängig machen, müssen hier zum Beweise genügen. Gott erbarmt sich des Frevlers, der sich bekehrt; „denn er vergiebt reichlich" (Jes. 55, 7). Hat er doch nicht Gefallen am Tode des Gottlosen, sondern daran, dass er durch Umkehr von seinem Wandel am Leben bleibe (Hesek. 18, 23. 27. 28). Daraufhin fordert daher der Prophet auch Israel auf, sich zu bekehren (V. 30—32). Sobald das bis dahin abtrünnige wirklich auf Jahves Befehl aufmerken wollte, so würde wie der Strom seine Wohlfahrt werden (Jes. 48, 18). Ja, er wendet sein freies Erbarmen Israel, trotz seiner fortbestehenden Abtrünnigkeit, zu; obwohl es ihn weder angerufen, noch Opfer gebracht, ihm vielmehr durch seine Vergebungen Beschwerde gemacht hat (Jes. 43, 22—24). Denn Ephraim ist ein so teurer Sohn Jahves, dass, so oft er ihn auch hat bedrohen müssen, er immer wieder seiner gedenkt, dass sein Innerstes von tiefstem Mitleid gegen ihn bewegt ist, und er sich seiner erbarmen muss (Jerem. 31, 20). So macht er seine Zornesglut nicht zur That und übergiebt den Uebertreter von Mutterleibe an nicht dem Verderben; denn er ist Gott und nicht ein Mensch. Weil er in ihrer Mitte als der Heilige wohnt, will er nicht im Zorn zu ihnen kommen (Hosea 11, besonders V. 8 u. 9. Jes. 48, 9). Also seine Göttlichkeit und Heiligkeit hält Jahve davon zurück, dass er etwa wie ein Mensch seinem Zorne Raum gebe. Gerade als sein heiliger Bundesgott kann er sich der Liebe gegen sein Volk nicht entschlagen. Darin liegt zugleich der Ausdruck seines Wesens, welches heilige Liebe ist, und seines besonderen Verhältnisses zu Israel. Ist das nicht eine erhabenere Anschauung von Gott, als diejenige, nach welcher er wegen seiner Heiligkeit selbst dem Bussfertigen die Sünde nicht ohne Strafe oder wenigstens nicht ohne Genugthuung durch ein stellvertretendes Strafleiden vergeben soll? Um dieses seines „Namens" willen, mit welchem seine Ehre verknüpft ist, erbarmt er sich stets von neuem des Volkes, das er sich j a gebildet, seinen Lobpreis zu verkündigen (Jes. 43, 21), tilgt um seinet (Jahves) willen seine Uebertretungen und gedenkt seiner Sünden nicht (Jes. 43, 25). Nicht ihretwegen, sondern um seinet-, um seinetwillen schreitet er ein, um seinen Namen vor Entweihung zu schützen und seine Ehre keinem andern abzu-



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treten (Hesek. 36, 22. 32. Jes. 48, 8—11). Er will ihn vor den Augen der Völker heiligen, unter denen sie ihn entweiht haben. E r erweist sich aber dadurch an den Gliedern seines Volkes als den H e i l i g e n (Hes. V. 23 f.), dass er sie, nachdem er sie in ihr Land zurückgeführt und mit dem alten Wohlstande beglückt hat, von allen ihren Unreinigkeiten reinigt, ihnen ein neues fleischernes Herz giebt und seinen Geist in ihr Inneres legt, dass sie nun als sein Volk nach seinem Willen wandeln. Dann werden sie über ihren früheren Wandel erröten und vor sich selbst wegen ihrer Verschuldungen und Greuel Ekel empfinden (Hes. 36, 22—32). In allen derartigen Stellen ist also die Vergebung nicht einmal mehr an die vorgängige Reue gebunden. Sie ist vielmehr nur von der auf sich selbst gestellten freien Gnade des Bundesgottes abhängig. Dieser heiligt sich an seinem Volke durch Erweisung überwältigender Barmherzigkeit, indem er durch seinen Geist das Herz desselben erneuert und so selbst die Unbussfertigen zu Scham, Reue und Busse führt. Hier ist also die reuige Umkehr nicht einmal Bedingung, sondern vielmehr erst Folge seines freien Erbannens. Dies mag zu dem Beweise genügen, dass Gott seine Vergebung aus der eigenen göttlichen Tiefe des einmal geschlossenen Gnadenbundes schöpft. Wenn er sich nicht einmal notwendig an die Bedingung vorgängiger Reue bindet, so ist dabei allerdings nicht zunächst an das Verhältnis Gottes zu dem Einzelnen, sondern zu dem ganzen Volke gedacht. Indessen ist hierin doch auch schon die Liebe Gottes zu dem Einzelnen vorempfunden, welche dem verlorenen Schäflein nachgeht, bis sie es findet und zur Umkehr bringt (Lk. 15, 4. 5). Jedenfalls liegt es am Tage, dass diese Heiligkeit und Gerechtigkeit Gottes weit davon entfernt ist, irgend welche Leistung und Genugthuung der Sünder oder gar von Stellvertretern derselben zu fordern, ehe er Gnade walten lassen kann. Danach erscheint also wiederum als einzige Bedingung der göttlichen Gnade die Reue des Sünders, welche aber selbst schon durch einen Akt dieser Gnade bewirkt wird. Wir deuten schliesslich nur darauf hin, dass diese Maxime der göttlichen Regierung, wonach Gott das abgefallene Volk straft, dem bussfertigen aber „langmütig, barmherzig, geduldig und von grosser Güte" seine Uebertretungen vergiebt (2 Mos. 34, 6.7), den



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leitenden Gesichtspunkt der gesamten prophetischen Geschichtsschreibung bildet. Uber die Art des persönlichen, sühnenden Eintretens des „ Gottesknechtes " für sein Volk muss es hier genügen, folgendes zu bemerken. Jedenfalls kann dasselbe nicht mit dem deutlich erkannten Verhältnis der göttlichen Vergebung zu den Sündern in Widerspruch stehen. Die sühnende Wirkung ist eben nach dem Zusammenhang von Jes. 53 wesentlich durch den bekehrenden Einfluss des Gottesknechtes auf sein Volk bedingt. Diesen kann das Person-gewordene Vorbild unentwegter Gerechtigkeit und unerschütterlichen Gottvertrauens, bis in furchtbarste Leidensund Todesnot hinein, auch auf die Abtrünnigen nicht verfehlen. Dieser Prophet des Wortes und der That mitten unter den abgefallenen Volksgenossen (53, 6) nimmt, selber schuldlos und gerecht, (9. 11) willig (7) Leiden und Tod über sich (3—5. 7—12), was jene verdient haben (4—6. 8. 12). So lässt Gott ihn ihre Sündenstrafe treffen (6. 7. 10. 12), und indem der endliche Erfolg seines Festhaltens an der rechten Gotteserkenntnis und seiner treuen Zeugenschaft (11) ihre Bekehrung ist, bringt jenes Strafe ihnen das Heil (5). Er wird für sie zum Schuldopfer (10) und schafft ihnen dadurch und indem er fürbittend für sie eintritt, Gerechtigkeit (11). So kann sich Gott nun wieder derer erbarmen, die durch das Verdienst des Gottesknechtes zu ihm zurückgeführt sind, und Jahves Vorhaben ihrer Bekehrung und Rettung gelingt durch ihn (10). Er kann im Blick auf das Leiden dieses Märtyrers Israels Sünde als gesühnt betrachten, weil dies sich nachträglich in Anschauung seines Leidens bekehren wird (Smend, Lehrbuch der alttestamentlichen Religionsgeschichte 261). Werfen wir nun noch einen kurzen Blick auf die religiöse Auffassung des frommen Volkes selbst von Gottes Vergebung. Sie spricht sich am tiefsten und innerlichsten in einigen Psalmen aus, die ja im Tempelkultus als eine Art Gesangbuch der frommen Israeliten anzusehen sind. Auch hier weht deutlich der Odem des prophetischen Geistes. Ein Beweis dafür, dass die echt prophetische Gesinnung, welche hier ihren Ausdruck findet, auch zum Erbteil der wahrhaft frommen Glieder des Volkes selbst geworden ist. So klingt es auch hier als heller Grundklang hindurch, dass Gott aus freier Gnade den Reuigen ihre S c h w a r t z k o p f f , Konnte Jesus irren?

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Schuld ohne weiteres vergibt. Wenn er freilich Verschuldungen behalten wollte, dann könnte niemand bestehen (130, 3). Denn vor ihm ist kein Lebendiger gerecht. Aber er geht nicht ins Gericht mit seinem Knechte (143, 2). Er hadert nicht für immer, noch bewahrt er den Zorn ewig (103, 8. 9). Er handelt nicht mit uns nach unsern Sünden und vergilt uns nicht nach unsern Verschuldungen (V. 10). Denn er ist langsam zum Zorn, barmherzig und gnädig und reich an Huld (103, 8. 86, 5). So ist er zur Vergebung geneigt und gewährt Erlösung und Gnade in Fülle allen Gottesftirchtigen, die seiner harren und ihn anrufen (130, 4. 7. 86, 5. 38, 16). Wenn sie ihre Sünden einsehen und sich ihretwegen härmen, sie dem Herrn in ernster Reue bekennen (38, 19. 32, 5. 51, 5. G) und seine Vergebung erflehen (51, 3. 4), dann dürfen sie vertrauen, dass Gott sie trotz ihrer Verschuldungen erhört (106, 43 f. 38, 16), ihre Vergehungen nach seiner grossen Barmherzigkeit ihnen nicht zurechnet (32, 2), vielmehr gänzlich tilgt (32, 2. 51, 3), der Übertretungen ihrer Jugend nicht gedenkt (25, 7) und ihnen selbst grosse Sünden (25, 11), j a Blutschulden vergibt (51, 16). Hier fällt also sogar schon die Schranke der Vergebung für die Todsünden, vorausgesetzt nämlich, dass wahre Reue vorhanden ist, vor der überschwenglichen Barmherzigkeit Gottes dahin. Denn „so hoch der Himmel über der Erde ist, ist seine Gnade mächtig über seinen Verehrern. So fern der Aufgang vom Untergang ist, entfernt er von uns unsere Vergehungen" (103, 11. 12). So erlöst er Israel von allen seinen Verschuldungen (130, 8; vgl. 25, 18), unter der einzigen Bedingung des zerbrochenen und zerschlagenen Herzens (51, 19) und schafft selbst ein reines Herz und einen neuen Geist (12). Dabei leuchtet in den Psalmen, wie an manchen Stellen der Propheten, deutlich die Einsicht auf, dass die äusseren Kultusformen ohne die entsprechende Gesinnung des betenden Herzens keinen Wert haben. Ja, dass diese es ist, welche den Wert der Opfer ausmacht, und auf die es im gründe allein ankommt (51, 18. 19. 50, 8—15; besonders V. 14. 15; 69, 31 f. 141, 2.; vgl. Micha 6, 6—8). W i e sollte nun der Gott, welchem einzig das Opfer eines reumütigen Sinnes gefällt, seine Vergebung von dem vorgängigen



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äusseren Strafleiden eines Tieres oder Mensehen für den Sünder anhängig machen wollen?! Sie wird vielmehr auch hier dem bussfertigen Glauben zu teil. Wie sich sonst vielfach deutliche Zeichen von der persönlichen Herzenserfahrung der Gebetserhörung in den Psalmen finden (22, 21—23. 66, 19 f.; vgl. 116, 4 f. 120, 1. 22, 6. 107, 6. 13. 19. 28), so erlebt der Sänger auch au mehreren Stellen unleugbar die innere Vergewisserung solcher Vergebung (6, 8 zu 9. 51, 16 zu 17. für die gleichartige Anschauung zu Jesu Zeit vgl. Ps. Salom. 9, 9. 10. 15. 10, 1. 4. 15, 15). Und zwar ruht diese auch hier auf dem Gnadenbund mit seinem erwählten Volke, durch welchen er als Vater Israel als seinen Sohn angenommen hat (106, 43 ff., 13, 6). Diese Beziehung vertieft sich aber hier, wie auch teilweise in den Propheten, zu dem Verhältnis v ä t e r l i c h e r Liebesgesinnung Gottes gegenüber den Gottesfürchtigen und schliesst damit die Richterstellung aus (143, 2).

c) Jesu A u f f a s s u n g von G o t t e s V e r g e b u n g . Wenn nun schon die Frommen des alten Bundes die Vergebung Gottes aus seiner freien väterlichen Barmherzigkeit ableiteten, wie anders musste der eingeborne Sohn dies Verhältnis der bedingungslosen Liebe Gottes zu ihm selber erfahren! W i e musste er, in welchem sich die Sünderliebe Gottes völlig offenbarte und darstellte, und der allein den Vater kannte (Mt. 11,27), das Wesen dieser barmherzigen Liebe Gottes kennen! Oder ist Gott zwar seinem einzigen geliebten Sohne gegenüber (Mr. 12,6) Vater, aber für die Sünder, auch wenn sie reuig sind, zunächst nur der Richter? Das werden wir am sichersten aus Jesu eigenem Munde erfahren. Wie denkt und predigt Jesus über die göttliche Vergebung? Er knüpft sie, ganz wie die Propheten und Psalmisten und die wahrhaft Frommen des alten Bundes Uberhaupt, nur an das bussfertige Vertrauen zu Gott und insbesondere natürlich zu ihm selber als seinem Gesandten. Das zeigt der Wandel unsres Erlösers auf Schritt und Tritt. Hatte Gott schon im alten Bunde dem Reuigen ohne weitere Klausel vergeben, so führt Jesus in 5*



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der That nicht eine neue Gerichtsordnung an Stelle der bisherigen Gnadenordnung ein; sondern er klärt, vertieft und vollendet sie. Sollte man das von dem Heiland der Stinder anders erwarten? Warum Jesus an Gottes statt Sünden vergeben konnte (Mr.2,10ff.), bedarf hier nicht der Begründung. Hier handelt es sich um die Thatsache, dass er die Vergebung Gottes dem bussfertigen Gliede ohne jede weitere Bedingung zuspricht. Dies thut er selbst gegenüber den grössten Sündern: Zöllnern, Ehebrechern u. s. w. (Mr. 2, 1—12. Lk. 7, 36—49. vgl. Joh. 8, 1—11. Ferner Lk. 19, 1—10. vgl. 18, 9—14. Mt. 18, 23—35). Wäre die Möglichkeit der göttlichen Vergebung nach Jesu Anschauung ausser von dem Heilsverlangen der Keuigen noch von besonderen, gegenwärtigen oder zukünftigen Bedingungen abhängig, so konnte er sie nicht sofort und bedingungslos erteilen. Dann würde er doch ein einziges Mal die nötigen Vorbehalte gegenüber irgend einem von denen geltend machen, denen er die Sünden vergiebt. Er thut es niemals. Nicht einmal in jenem herrlichen Gleichnis vom verlornen Sohne (Lk. 15,11—32), welches auch Wendt und andere in diesem Sinne geltend machen (Wendt, Lehre Jesu II, 149—151). Und doch hat diese Parabel unleugbar keinen anderen Zweck, als das Verhältnis Gottes gegenüber den reuigen Sündern darzustellen. Nachdem der völlig heruntergekommene Sohn die Verwerflichkeit seiner Sünde vor Gott und Menschen eingesehen und nun, das Schuldbekenntnis auf den Lippen, zum Vater umkehrt (Lk. 15, 17—19), ist es diesem so ganz um nichts weiter als diesen Gesinnungswandel von Seiten des Sohnes zu thun, dass er sein Bekenntnis nicht einmal beachtet (V. 21 zu 22). Die Antwort auf die Reue des Sohnes ist vielmehr die unbedingte und glänzende Wiedereinsetzung in die gesamte Sohnesstellung (22—24). Nichts von pädagogischen Massregeln, sondern die unendliche Freude reiner Vaterliebe über den Bekehrten (vergl. V. 32 u. 7. 10). Damit stellt Jesus also das Verhalten Gottes den Sündern gegenüber als das des Vaters dar, dessen Vergebung eben aus seiner väterlichen Liebe zu ihnen folgt. Wie die erste Hälfte des Gleichnisses vom Schalksknecht (Mt. 18, 23—27) den Sinn hat, dass Gott demjenigen, welcher seine Schuld bekennt und um Er-



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barmen fleht, dieselbe ohne jeden Vorbehalt erlässt, so hebt Jesus hier nichts nachdrücklicher hervor, als dass Gott dem Reuigen ohne jede Einschränkung, Klausel oder Bedingung yergiebt. Und das thut der grosse Sünderfreund offenbar geflissentlich. Denn die Spitze des Gleichnisses ist gegen die Unbarmherzigkeit der werkgerechten und tugendstolzen Pharisäer gerichtet (Mt. 9, 13). Diese, deren Bildnis Jesus vortrefflich im ältesten Sohne zeichnet (Lk. 15, 25—32), sind nicht damit zufrieden, wenn Jesus im Namen seines Vaters die reuigen Sünder annimmt (Mt. 11, 19), ohne dass sie zuvor im geringsten etwas gut gemacht oder irgend welche Genugthuung geleistet haben. Sie meinen vielmehr, dass Gott nicht freie Gnade üben könne, sondern dass man sich sein Wohlgefallen durch äussere Werke, wie sie selbst sie leisten, verdienen müsse (Lk. 15, 1. 2; 7, 39; 18, 11 f.). Hier aber wird nicht einmal ein Sündopfer dargebracht. Ein herrliches Mahl und Reigentanz, der Ausdruck der reinen Freude und Liebe des Vaters, erregen vielmehr die Missgunst des älteren Bruders. Wie willkürlich muss demnach die Annahme erscheinen, dass Jesus hier ausser der reuigen Umkehr noch weitere Bedingungen für die volle Vergebung Gottes stillschweigend voraussetze! Musste nicht jeder von den Zöllnern und Sündern, die dies Gleichnis hörten, unter dieser Voraussetzung in der entscheidendsten Hinsicht den entgegengesetzten, also falschen Eindruck erhalten? Mussten sie nicht gerade in dem, was ihr Herz am tiefsten bewegte und am siegreichsten überwand, nämlich in der rückhaltslosen Vergebung Gottes, getäuscht und, wenn sie erfuhren, dass die Gnade keine unbedingte war, bitter enttäuscht werden? Und wie sollte das mit Jesu gewissenhaftester Wahrhaftigkeit bestehen? Es liegt vielmehr am Tage: Jesus hat wirklich nur e i n e Bedingung auf Seiten des Menschen für die volle Vergebung Gottes gekannt und gelehrt, nämlich die reuige Umkehr. Von der Notwendigkeit einer sonstigen Sühne oder gar von einem stellvertretenden Strafleiden hat auch er nichts gewusst oder vielmehr nichts anerkannt. Dem widerspricht nicht, dass er an einigen, verhältnismässig wenigen, aber bedeutsamen Stellen sein eigenes Leben als Lösegeld zu Gunsten und an Stelle vieler hingeben will (Mr. 10, 45.



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1. Kor. 11, 24. 25. Mr. 14, 23. 24. Par.). Er greift dort auf die Anschauung vom Gottesknecht zurück, auf die wir oben schon hindeuteten. Diese jedoch lässt sich keineswegs, wie wir schon andeuteten, mit einem äusseren Sühnopfer, geschweige denn mit einem stellvertretenden Strafleiden gleichsetzen. Doch können wir hier nicht näher darauf eingehen. Wenn die Frommen des alten Bundes wirklich, falls sie Jahve reumütig nahten, die Vergebung desselben empfangen haben, wie es nach dem Obigen nicht zu bezweifeln ist, so kann Jesu Sühnopfer nicht erst überhaupt die Vergebung Gottes ermöglicht und bewirkt haben. Wohl aber konnte allein die Kraft des Gottesgeistes Christi, welcher sein heiliges Leben aus reiner göttlicher Liebe, zum Heil der Sünder in den Tod gab, das Herz neu s c h a f f e n und so auch die Vergebung innerlich erst wahrhaft lebenskräftig und erfolgreich machen. d) D i e Lehre der Babbinen von der Genugthuung.

stellvertretenden

Die Ansicht von dergleichen Vorbehalten der Gnadenerweisung Gottes ist in der That nicht die Jesu, sondern seiner Gegner, der Pharisäer, welche hier von ihm bekämpft werden. Neben den subjektiven Mitteln der Sühne, nämlich Busse, Bekenntnis und Selbstkasteiung, galten ihnen Straf leiden, göttliche Züchtigung und Tod als objektiv sündentilgend (Weber, Die Lehre des Talmud, 1880, S. 361). D i e pharisäische Schule selbst hat auch die Stellvertretung des Gerechten für den Ungerechten in jenem äusserlichen Sinne erfunden. Damit hat sie in unbiblischer Weise den Begriff der Schuld veräusserlicht und das Wesen Gottes verflacht und vergröbert. Die Veräusserlichung der Schuld hängt zusammen mit dem Auswuchse pharisäischer Selbstgerechtigkeit. Diese traute den Menschen, wenigstens den besonders gerechten unter ihnen, ein Verdienst zu, welches das Mass der göttlichen Forderung übertraf. Und dies konnte nun durch äusserliche Übertragung andern, die ungerecht waren, zur Tilgung ihrer verdienten Strafe gutgeschrieben werden. Wir stehen hier an der ursprünglichen Quelle, aus welcher später die katholische Lehre von den überschüssigen Verdiensten, die dann zur Deckung fremder Schulden dienen, geflossen ist.



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Nach rabbinischer Lehre erstattet die vollkommene Gerechtigkeit, vor allem der Väter und Patriarchen, aber auch noch lebender Heiliger, ergänzend den Mangel anderer (a. a. 0 . S. 2 8 0 f.). „Das Verdienst der Gerechten, sagt Succa 39, kann die ganze Welt vom Gericht befreien" (Weber 286). Wie nun die „eigene Gerechtigkeit durch fremde", so konnte auch die „eigene Stlhne durch fremde" ergänzt werden. Denn Israel ist „ein Organismus, dessen Glieder für einander eintreten." So lässt diese Theologie der „Schriftgelehrten", indem sie Jes. 53 einseitig fortbildet, „jeden grossen Gerechten" nicht nur durch Flirbitte, sondern auch als „Sühnopfer" „für sein Volk eintreten" (Weber 313, 314). Daher nennt Tanchuma Wajjikhal 9. die Gerechten „das Pfand Gottes für ihre Zeitgenossen" (313). „Die Gerechten leiden für ihr Volk". „Gott hat den Ezechiel in seiner Bannherzigkeit für alle gezüchtigt, damit er ihre Sünden büsse. Sanhedrin 3 9 a " (S. 314). Noch wichtiger ist es, dass die Gerechten für ihr Volk das Leben als „Sühnopfer geben" (Moed Katon 2 8 a). Sie können dies, „weil sie es zur Sühnung für die eigenen Sünden nicht oder nicht allein bedürfen" (Weber 314. 315). „Der Grundsatz steht fest: der Tod der Gerechten sühnt." (Tanchuma Mezora 7. Weber 314.) Diese Versöhnung wird als That eines Goel bezeichnet (315). So konnte also nach rabbinischer Lehre der unschuldige Gerechte die von ihm nicht verdiente Strafe erleiden, welche dem Gottlosen zukam. Und wenn er gar den Tod erlitt, so musste dem die grösste schuldtilgende Kraft innewohnen. e) Die A n s c h a u u n g des P a u l u s von der S t e l l v e r t r e t u n g Christi. Vergleichen wir nun mit dieser rabbinischen Anschauung von dem sühnenden Opfertode des Gerechten für den Ungerechten die Lehre des Paulus von Christi Stellvertretung, so finden wir allerdings, dass sich dieselbe in den Formen seiner Schule bewegt. Natürlich können wir hier wieder nur kurze Andeutungen machen. Paulus wendet eben jene Auffassung auf Christi Tod an. Der völlig Gerechte ist durch sein unendliches Verdienst, das er in unverdientem Leiden und Tod erwirbt, fähig, die volle



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stellvertretende Sühne für die sündige Menschheit zu leisten. So wird für diejenigen, welche dieselbe im Glauben, das heisst im Vertrauen auf ihren Goel und die Genügsamkeit seiner Stellvertretung, annehmen, die Strafe gänzlich aufgehoben. Gott stellt Jesum Christum als Sühnmittel in seinem Blute zur Befreiung (arcoXvTQcoais) der Gläubigen hin, um dadurch seine richtende, freilich wohl auch heilschaffende*) Gerechtigkeit zu erzeigen (Rom. 3, 24—26). So kauft uns Christus los (l^riyogaatv) vom Fluche des Gesetzes, indem er für uns zum Fluche wird. Das heisst, er erlöst uns durch seinen Kreuzestod vom (ewigen) Tode (Gal. 3, 13). Gott macht den, welcher Sünde nicht kannte, für uns zur Sünde, damit wir in ihm (durch ihn) Gerechtigkeit vor Gott würden, das heisst: er belegt Christum wie einen völlig Sündigen mit der Sündenstrafe des Todes (Rom. 6, 23), damit er uns so durch Christi Mittlerschaft als gerecht annehmen könnte (2. Kor. 5, 21). So werden wir durch seinen Tod von Gottes Zorn errettet und vor ihm durch den Glauben an unseren Erlöser gerechtfertigt (Rom. 5, 9. 3, 24 f.). Und dennoch hält der grösste Rabbine jener Zeit auch hier nur die rabbinische F o r m fest, erfüllt sie indes mit dem neuen Heilsgehalte. Denn hier ist überall im tiefsten Grunde keine bloss äusserliche Strafstellvertretung im rabbinischen Sinne gemeint, sondern dass die Sünder erst durch Christi zu ihrem Heile erlittenen Tod von der Schuld und Strafe der Sünde befreit werden, welche sie nach dem Massstabe der göttlichen Gerechtigkeit verdient hatten (Rom. 6, 23. 3, 25. 26), und dass so für 6ie die wahrhaftige, das heisst erfolgreiche Vergebung ermöglicht und verbürgt wird. In allen solchen Stellen hat doch der gediegene Heilsinhalt im wesentlichen seine Form durchdrungen: durch Christi Tod wird für die Gläubigen Vergebung und Heil verbürgt, versiegelt und verwirklicht. Wie hierin für uns dieser Wert liegen kann, stellt Paulus noch deutlicher an anderen Orten heraus, an welchen er mehr die sittlich-religiöse Vermittlung unserer Erlösung hervorkehrt. Gott selbst erweist seine unendliche Liebe gegen uns, indem er *) Vergl. Schäder, Die Bedeutung des lebendigen Christus. S. 144 f. und sonst.



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seinen eigenen Sohn zu unserem Heile in den Tod dahin giebt (Rom. 5, 8 ff. 8, 32). Dieser bewährt seinen völligen Gehorsam gegen den göttlichen Liebeswillen bis in den Tod (Phil. 2, 8). Er hat sich aber darum aus Liebe zu uns dahingegeben, damit wir, in der gleichen Gesinnung der Selbstopferung an Gott für unsere Brüder, nicht mehr uns selbst leben, sondern dem, welcher für uns gestorben und auferweckt ist (Phil. 2, 4. 5 ff.; 2. Kor. 5, 15; Köm. 14, 7 f.). Die Gläubigen sind innerlich in seinen Tod hineingetaucht und innigst mit demselben verwachsen, um so, der Sünde abgestorben, mit ihm aufzuerstehen zu einem neuen Leben für Gott in Christo Jesu (Rom. 6, 3 ff. 11). Mit ihm gekreuzigt, leben nicht mehr sie selbst, sondern Christus lebt in ihnen (Gal. 2, 20). Auf grund des Glaubens an ihre Erlösung durch Christi Tod geben sie sich also gänzlich ihrem Erlöser hin und schliessen sich mit ihm in völliger gehorsamer Selbstopferung an Gott zusammen. So treten sie, in dieser innigsten, sittlich religiösen Vereinigung mit Christo, in welchem Gott die Welt mit sich selber versöhnt (2. Kor. 5, 18 f.), mit dem gnädigen Gotte selbst in ungehinderte Gemeinschaft (Rom. 5, 1. 2). Sie werden durch den Glauben an Christum Jesum Gottes Kinder (Gal. 3, 26). Nachdem dieser die durch Christum Losgekauften an Kindesstatt als Jesu Brüder angenommen hat (Gal. 4, 5; Rom. 8, 29), sendet er den Geist seines Sohnes in ihr Herz (Gal. 4, 6). Durch diesen wird die Liebe Gottes in dasselbe ausgegossen (Rom. 5, 5). Von Gottes Geist getrieben, bewähren sie nun ihre Gotteskindschaft in der Heiligung (Gal. 5, 18—25; Rom. 8, 14. 13) und harren der Vollendung dieser Kindschaft, durch völlige Erlösung und das Miterben der göttlichen Herrlichkeit, entgegen (V. 23. 17). So verwandelt das in seinem Tode gipfelnde Liebesopfer Jesu, welches er Gotte, nach dessen Heilswillen, gehorsam, darbringt, die Stellung der Gläubigen zu Gott aus Feindschaft in Frieden und schafft ihnen Rechtfertigung und volle Gottesgemeinschaft, Heiligung und Erlösung (Rom. 5, 10. 1, 16; 1 Kor. 1, 30). Nach alledem haben wir den echten religiösen Kern der Paulinischen Versöhnungslehre darin zu sehen, dass Christus durch die endgültige Bewährung seiner sittlich und religiös vollkommenen Persönlichkeit bis in den Tod des Vaters heiligen Liebesratschluss



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verwirklicht, die Sünder wieder in die vollkommene Gemeinschaft mit Gott zu bringen. Wir sahen indes, wie die römische Kirche von neuem Jesu Mittlerschaft veräusserlicht hat, indem sie sein Verdienst wiederum vorwiegend unter den Gesichtspunkt einer äusseren stellvertretenden Strafleistung stellte, welche durch seinen Tod vollzogen wurde. Und wenn nun Anselm die Anerkennung gebührt, das Sündenbewusstsein vertieft zu haben, so hat er doch andrerseits die vermeintliche unbedingte Notwendigkeit einer äusseren Genugthuung für die Verletzung der Ehre aus dem mittelalterlichen Fehdewesen auf die Gotteslehre übertragen und dadurch die Veräusserlichung der Sühne auf die Dauer befestigt. f) Die Mängel d e r a l t k i r c h l i c h e n an sich.

Genugthuungslehre

Wir haben bereits nachgewiesen, dass diese rabbinische Sühnetheorie, wie sie sich Uber Paulus zur Anselmschen Auffassung entwickelt hat, der Grundanschauung des alttestamentlichen Kultus, des Prophetentums, der Psalmen und Christi widerspricht. Deuten wir nun noch kurz auf die Fehler ihres religiösen Gehalts an sich hin. Offenbar liegt, nach dem obigen, zunächst ein grosser Schaden in der verkehrten Auffassung des göttlichen Wesens, welches, wie Ritsehl gezeigt hat, einseitig unter den juridischen Gesichtspunkt gestellt wird.*) Danach kann Gott, obwohl er die Liebe selber ist, auch denen, welche sich durch reuige Umkehr innerlich von der Sünde lossagen, dennoch, als der heilige Richter, die Schuld nicht erlassen, ohne den Hinzutritt einer objektiven Befriedigung seiner Gerechtigkeit. Eine solche abstrakte Scheidung von Gnade und Gerechtigkeit in Gott zerreisst aber willkürlich das göttliche Wesen in zwei Stücke. Dann muss man nachträglich den Widerspruch zwischen Gottes Eigenschaften auszugleichen suchen, den sie gesetzt hat. Es nähert sich eine derartige Gotteslehre bedenklich der heidnischen *) Yergl. Bitschis Christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, Bd. III; 2. verb. Aufl. 1883, § 18, jenes für diese Seite der Frage grundlegende Werk, auf welches oben schon einmal hingewiesen worden ist.



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Auffassung von der eifersüchtigen Gottheit. Freilich wird man naturgemäss auch auf dem Gebiete der jüdischen Gesohichte, besonders in ihren Anfängen, Belege für dieselbe finden können, d a ja, wie in neuester Zeit besonders Smend wiederum dargethan hat,*) auch die Gottesauffassung der Juden sich erst allmählich von den unreinen Bestandteilen des heidnischen Bodens, aus welchem sie Gottes Vorsehung erwachsen Hess, befreien konnte. Das Schlimmste ist, dass eine solche Anschauung das tiefste "Wesen des Christentums verkennt, wonach sich Gott dem bussf e r t i g e n G l ä u b i g e n in Christo nicht mehr als Richter, sondern als der barmherzige V a t e r offenbart. So wird die Freiheit und Grösse der göttlichen Gnade beeinträchtigt. Ist Gottes Vergebung an die Bedingung einer äusseren Genugthuung geknüpft, dann erreicht sie nicht die Höhe der Gnade des Vaters im Gleichnis Tom verlornen Sohn. Jeder empfindet dort gerade dies als den Stempel wahrhaft göttlicher Grösse, dass der Vater dem Sohne seine Sünde bedingungslos, rückhaltslos und völlig vergiebt. Je grösser die Sünde ist, desto herrlicher wird der Triumph einer solchen Gnade. Eine nur bedingte Vergebung wäre, der Gesinnung und dem Verhalten selbst eines braven menschlichen Vaters gegenüber, wie dieser ist, sittlich minderwertig. Ist aber die gänzlich väterliche Vergebung allein Gottes würdig, dann zeigt sich unmittelbar, dass eine Strafstellvertretung dem Vaterwesen Gottes widerspricht und sinnlos ist. Welcher Vater würde zur Sühne der Sünden des einen Sohnes den Tod des andern fordern?! Aber geben wir für einen Augenblick einmal die Notwendigkeit einer solchen Genugthuung zu. Dennoch entspricht jenes stellvertretende Strafleiden des Gerechten für den Ungerechten weder dem rechtlichen noch dem sittlichen Massstabe. J u r i d i s c h betrachtet, bleibt eine solche äusserliche, mechanische Übertragung willkürlich und ungerecht. Geschieht doch weder dem einen noch dem andern sein Hecht. Kein Kulturstaat würde ein derartiges Rechtsverfahren dulden. Dass aber das Verdienst des Gerechten dem Ungerechten unter dem s i t t l i c h e n Gesichtspunkte notwendig äusserlich bleibt, bedarf nach obigem keines Beweises. *) In seinem S. 66 angezogenen gründlichen Werke.



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So ist diese Genugthuungslehre weder biblisch zu rechtfertigen, noch vom juridischen, noch sittlichen, noch religiösen, geschweige denn vom christlichen Standpunkte aus stichhaltig. Und doch ist sie der einzige Grund, den man mit einigem Schein für die Notwendigkeit der vollen metaphysischen Wesensidentität Jesu mit dem einigen Gott erbringen könnte. g) D i e

G e n ü g s a m k e i t der religiösen s c h a f t Jesu.

Heilsmittler-

Wir wollen daher nur noch mit einigen positiven Strichen andeuten, dass, wenn in Jesu die Fülle der wahrhaftigen Gottheit in sittlich religiöser Hinsicht offenbar wird (vergl. Kol. 1, 19. 20. 2, 9), diese Göttlichkeit für seine Heilsmittlerschaft genügt, nein, sie einzig ermöglicht. Stellen wir einmal alle nachgewiesenen Widersprüche jener anderen Auffassung zurück und betonen nur den gemeinsamen Ausgangspunkt: Gott versöhnt in Christo die Welt mit sich selber (2. Kor. 5, 19). Was soll nun die Identität der göttlichen Natur Jesu mit Gott für seine Heilsmittlerschaft helfen? Diese besteht doch in der Vermittlung der Gottesgemeinschaft für die Menschen. Und die wird eben durch die vollkommene Offenbarung der Liebe Gottes, das lieisst, des tiefsten göttlichen Wesens (1. Joh. 4, 8. 16.) in Jesu Christo, in Lehre, Leben und Sterben vollzogen. Gott umfasst die Menschen in Christo mit seiner vollkommenen Liebe, und Jesus weiss deren theoretische und praktische Darstellung als den Zweck seiner Sendung. Kann das Menschenherz jemals von etwas anderem v ö l l i g ü b e r w u n d e n werden, als von der vollkommenen Liebe? Etwa von der Furcht vor der Strafe? Selbst die Angst vor der Hölle kann niemanden in Gottes Gemeinschaft bringen. Denn das Gesetz richtet nur Zorn an (Rom. 4, 15). Allein der in Christo Fleisch gewordene Gottesgeist der selbstlosen Liebe, welche für die Sünder in den Tod geht, vermag in unserem tiefsten Herzen die wahre dankbare Gegenliebe zu Gott und so auch zu den Menschen zu entzünden (1. Joh. 4, 19.) und damit diejenigen Beweggründe zu erwecken, die kräftig genug sind, um uns zur energischen Grundrichtung auf jenes Ziel gottebenbildlicher Tugend zu veranlassen. Allein so kann das Herz umgewandelt



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(Röm. 5, 5. 8.) und zur göttlichen Gesinnung bekehrt werden. Dies ist der Weg, auf welchem Jesus erfahrungsmässig die Menschen in die vollkommene Gottesgemeinschaft aufnimmt, in welcher er selber im ausgezeichneten Sinne steht. Dass wir so durch Christum gerechtfertigt und geheiligt werden, dafür bedarf es also von Christi Seite keiner andern Bedingung, als dass die vollkommene Offenbarung des göttlichen Wesenskernes in ihm vorhanden ist. Die vertrauensvolle, dankbare Annahme dieser in Christo dargebotenen Gottesliebe, das heisst der Glaube, empfängt das Heil. Ist aber die soeben angedeutete Anschauung, wie wir sahen, die Anschauung Jesu selbst; wird die göttliche Vergebung und der erneuernde Geist der Gotteskindschaft dem bussfertigen Gläubigen, ohne weitere Bedingung, durch den Träger des Geistes, das durch Christum offenbarte und in ihm fleischgewordene Wort Gottes vermittelt: dann ist Christus unser Heiland eben als die vollkommene Offenbarung der Gottcsliebe. AVenn dies nun der Zweck und die Kraft seiner einzigartigen Sendung ist, so fällt demnach zugleich der Einwurf dahin, als widerspreche die I r r t u m s f ä h i g k e i t Jesu in Dingen, die für diesen Zweck unwesentlich sind, seinem Heilandsberuf. Dies würde nur dann geschehen, wenn jene Irrtümer den Kern der Gottesofl'enbarung schädigten. Dass aber ihr wesentlicher, das heisst: ihr sittlich-religiöser Gehalt völlig gesichert bleibt, folgt, wie ich schon hervorhob, aus seiner Sündlosigkeit und lässt sich bei jedem Irrtum im einzelnen nachweisen. Nachdem wir nun diese Angriffe gegen die Irrtumsfähigkeit Jesu, die von christologischer und soteriologischer Seite erhoben werden könnten, zurückgewiesen haben, bleibt noch der am schwersten wiegende Einwurf übrig, den man den „ponerol o g i s c h e n " nennen könnte. Nämlich der, dass selbst eine nur beziehungsweise Irrtumsfähigkeit gerade jene S t l n d l o s i g k e i t antaste. Eine gewisse Umschränktheit und Unvollkommenheit des Wissens möge sich mit ihr vertragen; aber wirkliche Irrtümer könnten nicht daneben bestehen. Sei Jesus sündlos, dann könne er nicht irren; irre er, da könne er nicht sündlos sein. Stände die Sache wirklich so, wie auch manche unter den Theologen annehmen, dann würde also der Beweis thatsächlicher Irrtümer Jesu zugleich die Anerkennung fordern, dass er nicht völlig sünd-



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los gewesen sei. Und in diesem Falle würde er allerdings nioht der vollkommene Offenbarer der Gottheit, daher auch nicht in e i n z i g a r t i g e m Sinne unser Heiland sein können. Jener Schluss von Jesu Irrtumsfähigkeit auf seine Sündigkeit setzt nun voraus, dass alle wirklichen Irrtümer in ursächlichem Zusammenhang nioht etwa nur mit dem menschlichen Wesen als solchem, sondern mit seiner Sünde stehen. Er wäre mithin in dem Augenblicke auf ein Vorurteil zurückgeführt, in welchem gezeigt würde, dass schon aus der Eigenart des menschlichen Vorstellens und Denkens als solchen, ganz abgesehen von der Sünde, gewisse Irrtümer notwendig folgen. In diesem Falle hätte das Irren des Menschen nicht nur sittliche, sondern schon rein s e e l i s c h e Ursachen. Ist dem so, dann ist also die Irrtumsfähigkeit kein hinreichender Beweis für die Sündigkeit. Denn auch die Sündlosigkeit kann ja nicht die völlige Irrtumslosigkeit hervorbringen. Doch ist schon hier deutlich, dass sich die Widerlegung jenes weitverbreiteten Vorurteils auf eine genaue psychologische Untersuchung stützen muss. Aus der Erkenntnis des menschlichen Seelenlebens wird sich, wenn überhaupt, endgültig ergeben, ob Jesus als Mensch irren musste oder nicht. Erst mit den Ursachen dieser Notwendigkeit seines Irrens in gewissen Punkten kann sich zugleich herausstellen, weshalb sich dasselbe sehr wohl mit seiner Sündlosigkeit vereinigen lässt. Dann wird diese also, f a l l s sie e r w i e s e n ist,*) nicht mehr der Anerkennung einer gewissen Irrtumsfähigkeit Jesu im Wege sein. Und damit fällt der letzte Grund fort, die dargelegte Thatsache der Irrtümer Jesu nicht zuzugestehen. Wir werden daher gut thun, diese Notwendigkeit seines Irrens nun zu untersuchen. Da sich Jesu Seelenleben bis auf den Punkt der Irrtumsfähigkeit als ein m e n s c h l i c h e s erwiesen hat, so werden die Ursachen seiner Irrtümer in den Gesetzen und der Eigenart seines Seelenlebens als eines wahrhaft menschlichen zu suchen sein. Selbst die Gegner der Irrtumsfähigkeit Jesu geben doch seine wahrhafte Menschheit zu, damit also auch die echte Menschlich*) Vergl. meine „Sündlosigkeit Jesu Christi" im Glaubens". Dezemberlieft 1895.

„Beweis des



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keit seiner Seele. Auch sie werden daher ihre Ansicht, falls sie mehr als eine willkürliche Behauptung sein soll, nur an einer genaueren Untersuchung seines Seelenlebens erproben können.

III. Die Notwendigkeit der Irrtümer Jesu als Menschen. 1. Die allgemeine Ableitung derselben aus den Schranken der Menschheit. Treten wir demnach an den psychologischen Beweis der Notwendigkeit der Irrtümer Jesu als eines wahren Menschen heran. Hatte der geschichtliche Jesus eine menschliche Seele, so folgt daraus zunächst, dass diese nicht absolut gewesen sein kann. Denn abgesehen von dem Widerspruch mehrerer Absoluten, lässt sich eine gewisse Relativität überhaupt nicht von dem Begriff des menschlichen Wesens trennen, ohne es zu vernichten. Was sein Leben nicht aus sich selber hat, nicht durch sich selbst verursacht ist, ist eben damit von seiner Ursache oder seinem Urheber abhängig. Es ist daher schon wegen dieser Verursachung nicht unbedingt. Die menschliche Seele aber ist nicht nur ihrem Wesen und ihrer Entstehung nach, sondern auch in ihrem Verhältnisse zu der neben ihr bestehenden Welt eine endliche Grösse neben andern endlichen Grössen. Sie ist nach Sein und Wirken in räumlich-zeitliche Grenzen gebannt. So ist sie durch anderes Endliche bedingt, welches mit ihr in räumlich-zeitlichem Zusammenhange steht. Durch die Beschränktheit des menschlichen Wesens an sich wird Allmacht und Allwissenheit ausgeschlossen; seine Schranken in Baum und Zeit schliessen räumlich-zeitliche Unendlichkeit, Allgegenwart und z e i t l o s e Ewigkeit aus. Schon von hier aus liegt die Vermutung nahe, dass aus der Beschränktheit des Wissens gewisse Irrtümer notwendig folgen werden, dass also auch der geschichtliche Jesus, falls er nicht



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allwissend war, nicht unbedingt vor Irrtümern geschützt sein konnte. Er will aber keineswegs allwissend sein. Denn er spricht sich nach Mr. 13, 32 (vgl. Acta 1, 7) die genauere Kenntnis des Zeitpunktes seiner Wiederkunft ab und nur dem Yater zu. Wie weittragend die Folgen dieser Tliatsache sind, darauf weist schon Thomasius hin, wenn er fragt, ob dies nicht anzudeuten scheine, „dass der Menschgewordene Uberhaupt die Momente, welche die Geschichte seines Reiches bis zum Ende durchlaufen wird, nicht in ihrer zeitlichen Distinktion von einander kennt." (Christi Person und Werk II, S. 157.) So wird auch dieser im übrigen als „positiv" geltende Theologe von dem scheinbar vereinzelten Nichtwissen Jesu auf eine grundsätzliche, weil in der Beschaffenheit seines Seelenlebens überhaupt begründete Schranke des Wissens geführt. Von dieser notwendigen Beschränktheit des Umfangs und der Objekte des Wissens scheint der Weg zur Einsicht in die Notwendigkeit gewisser Irrtümer Jesu nicht weit. Sollte man doch von vornherein meinen, dass ebensowenig, wie der Allwissende irren kann, der Nichtallwissende durchaus nicht irren könne. Doch wird erst die eingehendere Untersuchung diese Vermutung als richtig zu bewähren vermögen. Hier muss es vorläufig genügen, dass die biblische Anschauung, nach welcher Jesus gewisse Dinge nicht wusste, mit dem von uns geführten Nachweise der T h a t s a c h e seiner Irrtümer vortrefflich zusammenstimmt. Ihre N o t w e n d i g k e i t nachzuweisen, ist eben die Aufgabe, deren Lösung wir jetzt vorzubereiten haben. Jedenfalls steht fest, dass Jesu Sein, Können und Wissen, sofern er doch wahrer Mensch war, die Grenzen der Menschheit nicht überschreiten konnte. Sowohl seine körperliche, als seine geistige Art und Kraft muss als eine wahrhaft menschliche ihre bestimmten Schranken gehabt haben. Ja, die Schranken, die ihm als M e n s c h e n ü b e r h a u p t zukamen, können nicht die einzigen gewesen sein. Auch als Einzelner war er von vornherein in seiner Naturanlage nach gewissen Richtungen hin notwendig beschränkt. Zunächst zeigt die Wirklichkeit nirgends die Existenz eines Menschen ohne eine in besonderer Weise bestimmte und beschränkte Eigenart. Kein Einzelner vereinigt in sich alle menschlichen Anlagen in unbeschränkter Weise. Auch von den Genies



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ist keins für alles gleichmässig und gleich kräftig angelegt. So kann auch Jesus nicht alle überhaupt möglichen menschlichen Vorzüge körperlicher und geistige^ theoretischer und praktischer Art in sich vereinigt haben. Oder meint man, er müsse notwendig zugleich den schönsten und kräftigsten Körperbau besessen haben, und, wenigstens seiner Anlage nach, der grösste Mathematiker, Techniker, Feldherr, Philosoph, Dichter, Künstler gewesen sein? Nichts berechtigt uns zu der Annahme, dass Jesus in allen diesen Beziehungen gleich vortrefflich begabt gewesen sei. Und dieser Thatbestand lässt sich als notwendig erweisen. Jeder wirkliche Mensch kann dies nur als Individuum sein. Der Begriff des Menschseins steht und fällt mit dem der menschlichen Individualität. Sie ist die bestimmte Gestaltung des Menschentums in dem Einzelnen. Die individuelle Verschiedenheit der Menschen ruht aber auf der Vereinigung endlicher und beschränkter Kräfte und Bestandteile. Schon die letzten materiellen Teilehen, welche den Körper zusammensetzen, sind nur mit endlichen und beschränkten Kräften ausgestattet. So kann ihre Zusammenstellung auch nur ein leibliches Leben von einer bestimmten und beschränkten Eigenart begründen. Das leibliche steht wiederum mit dem seelischen und geistigen Leben in innigster Beziehung und Wechselwirkung. Es herrscht Meiern weitreichender Parallelismus. Keine seelische oder geistige Bethätigung geht vor sich ohne die Unterlage eines leiblichen Organs. Auch die seelischen Anlagen und Fähigkeiten können dementsprechend nur eine bestimmte und beschränkte Eigenart besitzen. Beschränkte Bestandteile, Faktoren und Unterlagen bedingen und beschränken aber notwendig auch das Gebilde, das sie zusammen ausmachen, das Facit, das sie hervorbringen, die Gesamtkraft, für deren Bethätigung sie die Unterlage bilden, nach Art und Grad. Ja derlei zu einer organischen Einheit zusammengefasste Bestandteile beschränken sieh auf körperlichem und seelischem Gebiete auch gegenseitig unter einander. So schliessen sich z. B. gewisse entgegengesetzte Vorzüge geradezu aus. Der Stärkste ist nicht zugleich der Gewandteste, der grösste Denker nicht der grösste Mann der (äusseren) That. Auch Jesus muss daher als Mensch eine bestimmte, in beS c h w a r t z k o p f f , Konnte Jesus irren?

6



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sonderer Weise beschränkte Eigenart besessen haben. Wer ihn zum individualitätslosen Universalmenschen, zur Person gewordenen Gattung machen will, hebt also seine wirkliche Menschheit auf. Auch in individueller Hinsicht war er nicht absolut.*) Von hier aus lässt sich wiederum im voraus vermuten, dass Jesus in allen jenen Gebieten, in welchen er es nicht zu einer tieferen Erkenntnis bringen konnte, sondern hinter manchen der Mitlebenden zurückstand, in Naturwissenschaft, Philosophie und dergleichen, auch dem Irrtum nicht entgangen sein wird. Gewiss wird er ihm mehr ausgesetzt gewesen sein, als die Virtuosen der betreffenden Gebiete. Dieser notwendigen Beschränktheit der Anlagen des Individuums widerspricht es jedoch nicht, wenn sich Jesus als absoluten religiösen Genius erweisen sollte, das heisst, wenn er eine vollkommene, ungeschwächte religiöse Anlage besass. Diese ist die einzige, deren unbedingte Vollkommenheit nicht gegen die Individualität streitet. Denn sie allein wird durch das u n m i t t e l b a r e Verhältnis zum Absoluten bestimmt. Und die völlige Gottesgemeinschaft, die Jesus in schöpferischer UrsprUnglichkeit besass, ist in abgeleiteter Weise, durch ihn selbst vermittelt, zuletzt die Bestimmung jedes Individuums.**) Letzteres ist aber nicht nur den festen Grundlagen seiner Natur nach beschränkt, sondern auch in seinem Werden und Wirken. Jede seiner Bethätigungen wird mit einer nur endlichen, nach Mass und Grad erschöpfbaren Kraft ausgeführt. So linden wir auch bei Jesu seine verfügbare körperliche und geistige Kraft in gewissen Zeitpunkten und auf bestimmte Veranlassungen erschöpft. Er sitzt, vom Reisen und Predigen ermüdet, hungernd und dürstend am Jakobsbrunnen, vermag auf dem W e g e nach Golgatha, offenbar wegen körperlicher Ermattung, sein Kreuz nicht zu tragen, und atmet endlich an demselben sein Leben aus (Joh. 4, 6—8. 31. 33; Mr. 15, 21. 37). Schon hieraus ist ersichtlich, dass seine Lebenskraft nicht nur im einzelnen sich abbraucht und aufreibt, sondern auch im ganzen nur eine bestimmte *) Ganz in diesem Sinne urteilt über die Notwendigkeit der Individualität Jesu auch Beyschlag in seinem „Leben Jesu" I, S. 48 f. auch II, S. 174 f.) **) So im wesentlichen auch Beyschlag (a. a. 0. I, S. 49).

(Vergl.



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endliche Grösse hat; auch sie muss zuletzt einlüden und sich erschöpfen. Jenes Gesetz des Werdens, der Ausdruck der Endlichkeit des menschlichen Wesens, umfasst das gesamte Leben des Menschen. Alles, was er seinem Wesen, seiner Idee, seiner Anlage nach ist, kann er doch in Wirklichkeit nicht mit einem Augenblick und nicht auf einmal zugleich sein. Er kann dies vielmehr erst im Verlaufe der ihm zugemessenen Zeit auf grund einer Entwicklung völlig werden. Alles Endliche aber, was wächst und sich entwickelt, dessen Entwicklung folgt notwendig auch im einzelnen einem ganz bestimmten Gange. Denn sie hat einen ununterbrochenen, zusammenhängenden Verlauf. Mit dessen Ende kann sich daher auch erst die innere Wesensentfaltung vollenden. Der Mensch wächst erst aus dem unbewussten Kinde zur vollen Menschlichkeit des fertigen Menschen heran. Und zwar ist dieser zusammenhängende Werdegang, eben weil er einer endlichen Kraft angehört, zugleich ein nur schrittweise vorrückender und notwendig auch in bezug auf seinen Umfang beschränkt und mit einer gewissen Einseitigkeit behaftet. Denn er kann gleichzeitig nur eine begrenzte Zahl von Punkten, Seiten und Zielen umfassen. Eine solche Entwicklung muss nach Leib und Seele auch von Jesu als vollem Menschen gelten. Dies wird durch seine Lebensgeschichte bestätigt. Schon auf materiellem Gebiete ist die Stetigkeit seines körperlichen Wachstums nachweisbar. Die Schrift bezeugt uns dasselbe ausdrücklich (Lk. 2, 40). So nahm auch der Stoffwechsel, welcher die körperliche Entwicklung vermittelt, bis zuletzt seinen Fortgang. Das wird durch die Thatsache bewiesen, dass er noch unmittelbar vor seinem Tode gedürstet hat (Mr. 15, 36; Joh. 19, 28—30). Ebenso bestätigt die Bibel den wachstümlichen Fortschritt seines s e e l i s c h e n Lebens. Sie erzählt von dem Zwölfjährigen, dass er im Tempel zu Jerusalem von den Schriftgelehrten gelernt und sie gefragt habe, und dass er zugenommen habe an Alter und Weisheit (Lk. 2, 46. 52. 40). Sein Seelenleben wuchs, blühte und reifte also Schritt für Schritt zu der Vollkommenheit heran, für die Jesu Individualität veranlagt war. Selbst in sittlicher Hinsicht hatte Jesus nicht von Anfang an ein unanfechtbares Sein. Wir hören, dass er versucht sei allent6*



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halben, gleichwie wir (Hebr. 4, 15; Mr. 1, 13; Lk. 4, 13: vCC'/QI y.aiQov"; Mt. 16, 22. 23).

Erst auf grund seines Leidens hat er

den vollkommenen Gehorsam erlernen müssen, obwohl er Gottes Sohn war (Hebr. 5, 8. 9). Noch als gereifter Mann lehnte er daher den Titel des vollendet Guten ab; denn niemand sei gut, als der einige Gott (Mr. 10, 18). Er war sich also bewusst, damals auch in sittlicher Hinsicht noch nicht am Ziele seiner Entwicklung zu sein. Musste er doch selbst noch in Gethsemane und am Kreuze die furchtbarsten inneren Anfechtungen erleiden (Mr. 14, 33 ff. Auch er konnte den vollen Sieg, wenn auch niemals

15, 34).

besiegt, nur in heissem Kampfe erringen.

Erst mit seinem Tode

erscheint seine Charakterbildung als vollendet (Hebr. 5, 9. 12, 2). Aus dieser

Menschheitsschranke

eiuer

zeitlichen folgt nun

notwendig für Jesum zugleich die Schranke einer z e i t g e s c h i c h t lichen

Entwicklung.

Denn wenn

leiblich

und

in

seelisch

sein Dasein

zeitlicher

schon

Umgrenzung

musste, so vollzog es sich näher in b e s t i m m t e n

an sich verlaufen

räumlich-zeit-

lichen Schranken, als ein Glied der gesamten Menschheitsentwicklung.

Gehört doch nicht nur die Abhängigkeit von Zeitlichkcit

und Räumlichkeit Uberhaupt, sondern die Bedingtheit durch eine bestimmte Zeitlichkeit und Räumlichkeit zum wahren Menschen. So tritt Jesus an einem einzelnen Punkte der Menschheitsentwicklung, der von vornherein von festen Grenzen umschlossen ist, in diese ein, ist also in bestimmter Weise geschichtlich bedingt; er ist notwendig der Genosse einer bestimmten Zeit. Und zwar

erfolgt

einem bestimmten

sein Eintritt

eigenartig

in die Zeitgeschichte von

beschränkten Teilstandpunkte aus.

Auch sein Welthorizont, das heisst: sein weit- und zeitgeschichtlicher Gesichtskreis ist notwendig beschränkt. Er wird, w i e jeder Erdenbürger, auf einem einzelnen Punkte der Erde, unter einem bestimmten Himmelsstriche von einer bestimmten Mutter als Glied einer bestimmten Familie,

eines bestimmten Stammes, eines be-

stimmten Volkes geboren, steht somit von Anfang an unter bestimmten geographischen, klimatischen, nationalen Bedingungen usw.*)

*) Mit Recht nennt Beyschlag Jesum daher

„eben in jener aus-

schliesslich religiösen Bestimmtheit seines Wesens" geradezu den „idealen Israeliten",

welcher

die religiöse Entwicklung

Israels,

des „Religions-



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Eben damit gewinnt die Thatsache, die von manchem noch heute teilweise übersehen wird, dass auch Jesus ein Kind seiner Zeit ist, erst ihren vollen Sinn und ihren konkreten Gehalt und Grund. Denn so musste auch seine Entwicklung unter ganz bestimmten eigenartigen Umständen stattfinden. Da sie nun nach dem soeben Erörterten nicht aus reiner Originalität verlaufen konnte, sondern auf allen Altersstufen mannigfacher Anregung von aussen bedurfte, so ergiebt sich schon hier im allgemeinen, dass Jesus als wahrer Mensch auch in dem Bestände seiner seelischen Ausbildung von dem seiner sachlichen und persönlichen Umgebung vielseitig bedingt sein musste. Dies wird sich näher herausstellen, wenn wir nun insbesondere die Bedingtheit des Erkenntnisvorganges durch die Aussenwelt näher ins Auge fassen. Dabei werden sich dann zugleich das Wesen und die besonderen Gründe und Anlässe der Irrtümer ergeben.

2. Begriffsbestimmung, besondere Gründe und Anlässe und Umfang des Irrens. Nicht nur die Bildung der seelischen Kräfte überhaupt bedarf beständig erneuerter Reize, um zur Bethätigung veranlasst zu werden, sondern auch der gesamte elementare Stoff des objektiven seelischen Lebens wird nur durch äussere Erfahrung geliefert. Von den Bestandteilen der subjektiven inneren Erfahrung, den Gefühlen und Strebungen können wir hier insoweit absehen, als sie für die Entstehung von Irrtümern unmittelbar nicht in betracht kommen. Wohl folgen viele Irrtümer aus Denkwillkür, aus einem unberechtigten Sichgehenlassen, aus Unachtsamkeit, Nachlässigkeit, Gleichgültigkeit, Schlaffheit beim Vorstellen und Unterscheiden selbst; aus verkehrten persönlichen Neigungen, die sich einmischen; aus unlauteren Gefühlen und Begehrungen, und was damit zusammenhängt. Dies interessiert uns aber hier umso weniger, als derartige Gründe zu Irrtümern für den völlig herzensreinen Jesus wegfallen. Uns liegt vielmehr volkes der alten "Welt" mit Vollendung zu krönen hat. S. 175, 176.)

(Leben Jesu I,



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daran, nachzuweisen, dass, auch abgesehen von der Sünde, das menschliche Vorstellungsleben an sich, also auch Jesu Seelenleben, Bedingungen enthält, die selbst für den Sündloscn gewisse Irrtümer unvermeidlich machen. Wir richten daher unser Augenmerk vor allem auf die o b j e k t i v e Scelenthätigkeit, deren Elemente: Empfindungen, Wahrnehmungen, Anschauungen, Vorstellung enund Begriffe sind. Um deren V e r b i n d u n g handelt es sich. Denn der Irrtum als solcher bewegt sich im Gebiete der Verknüpfung von Vorstellungen, Anschauungen und Begriffen. Er besteht in der nicht sachentsprechenden Auffassung einer Vorstellung (im allgemeineren Sinne) durch die andere. Genauer ausgedrückt, irrt man sich, wenn man fälschlich annimmt, dass ein Gedanke richtig sei, dass einer Vorstellung die Wirklichkeit, einer Idee die Wahrheit zukomme. Manche meinen, der Irrtum liege in der B e h a u p t u n g , dass eine verkehrte, aber vermeintlich richtige Auffassung richtig sei. Man kann sich jedoch irren, ohne diesen Irrtum überhaupt für sich oder andere auszusprechen. Freilich wird der Gewissenhafte, zumal in öffentlichen Behauptungen, vorsichtig sein. Er wird sie überall da zurückhalten, wo er seine eigene Unsicherheit weiss oder fühlt. Das hat aber nichts mit dem Wesen des Irrtums zu thun, sondern nur mit der sittlichen Verantwortlichkeit des Redenden. Andere sind der Ansicht, eine zwar nicht sachentsprechende, aber nur als vorläufige gemeinte Annahme oder unbefangene Voraussetzung, zu deren Prüfung weder Anlass noch Gelegenheit vorliegt, sei kein Irrtum zu nennen. Man könne daher nicht sagen, dass Jesus irre, wenn er ohne weiteres aus der zeitgenössischen Anschauung die Vorstellung übernehme, dass sich die Sonne um die Erde drehe. Jener Name sei vielmehr nur einer durch Nachdenken und Prüfung gewonnenen Auffassung beizulegen, von welcher man die Objektivität ihres Inhalts glaube mit Sicherheit verbürgen zu können, und die sich dennoch als verkehrt herausstelle. Nun besteht j a zweifellos ein grosser Unterschied zwischen einer anspruchslosen Meinung und einem solchen Urteil, bei dem es sich ausdrücklich darum handelt, die Gewissheit seines Inhalts festzustellen. Der Unterschied liegt aber wiederum nicht im Wesen desjenigen Vorgangs, welchen die



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Sprache durch das Wort „Irrtum" kennzeichnen will. Hier liegt vielmehr ein Gradunterschied vor. Ist die objektive Grösse des Irrtums durch das Mass bedingt, in welchem die Vorstellung von dem Sachverhalt abweicht, so wächst die subjektive S t ä r k e derselben mit der vermeintlichen S i c h e r h e i t des Irrenden. Beruht dabei die Handlung des Urteilens auf einer u n b e r e c h t i g t e n Selbstgewissheit, so ist sie zugleich sittlich verkehrt. Dabei bleibt aber doch der Irrtum a l s s o l c h e r derselbe. Die Meinung, als wenn nur besonders starke Unrichtigkeiten der Auffassung, flir deren Verkehrtheit man dann zugleich sittliche Verantwortlichkeit vorauszusetzen pflegt, Irrtümer wären, ist besonders mit schuld daran, dass man vielfach wähnt, ein Irren Jesu schliesse notwendig seine Slindlosigkeit aus. Und deswegen sträubt man sich so sehr gegen die Anerkennung von Irrtümern bei ihm. Oder aber man legt in dem angeführten Falle den Nachdruck auf die Art der E n t s t e h u n g der unrichtigen Auffassung und spricht derselben den Namen nur dann zu, wenn sie das Ergebnis e i g n e r a b s i c h t l i c h e r Denkarbeit ist, durch welche der Mensch gleichsam ein Stück seines Selbst mit hineingelegt hat, so dass sie ihm nun auch im vollen Sinne eignet. Ist jedoch die Auffassung zwar ebenfalls, objektiv angesehen, nicht richtig, aber harmlos, ohne Anlass zur Kritik derselben, ohne weiteres eigenes Zuthun, Wollen und Nachdenken entstanden, also etwa von aussen übernommen, dann soll dies kein Irrtum sein. Und doch liegt auch hier der Unterschied wiederum nicht in der Sache an sich, sondern in ihrer verschiedenen Beziehung zur Persönlichkeit und deren innerer Beteiligung an der Entstehung der Auffassung. Diese bleibt aber, trotz ihrer verschiedenartigen Entstehung, an sich dieselbe. Es giebt eben nicht nur irrige Ergebnisse des wissenschaftlichen Denkens, nicht nur irrige Überzeugungen und Behauptungen, sondern auch irrige Annahmen, Voraussetzungen u. dergl. Man darf dagegen nicht einwenden, das sei eine bloss formelle Anschauung vom Irrtum. Eben weil sie bloss formell ist, ist sie richtig. Denn das Irren bezeichnet eine gewisse, oben angegebene Beziehung zwischen Vorstellungen, ist also als Beziehungsbegriff rein formell.



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Endlich nehmen gewisse Kreise, z. B. manche Theologen, im Hinblick auf Christum an, dass die Unrichtigkeit der Auffassung nur dann ein Irrtum sei, wenn mit ihrem Inhalt ein wirklicher W e r t , für den Heiland also in s i t t l i c h - r e l i g i ö s e r Hinsicht, verknüpft sei. Das sei jedoch bei den unrichtigen Auffassungen Jesu nicht der Fall. Man dürfe ihm daher auch keinen Irrtum zuschreiben. Hätte man nun wirklich nur in einem, wohl gar groben, Verstoss gegen den Kern der sittlich-religiösen Wahrheit bei Christo einen Irrtum zu erkennen, dann hat er, nach meiner innersten Uberzeugung, niemals g e i r r t . Dies zu beweisen ist sogar ein Hauptinteresse meiner Forschung. Auch ist man aus pädagogischer Rücksicht, besonders um Missverständnissen vorzubeugen, unter Umständen berechtigt und verpflichtet, den Namen nur für diese schlimmere Art von Irrtümern zu verwenden, wo ein hoher Grad derselben vorliegt, oder ein besonderer Wert in frage kommt, oder wo die Persönlichkeit mit eigener sittlicher Erkenntnis- und Willensarbeit an der Entstehung der Auffassung beteiligt ist. Ist es doch nicht zu leugnen, dass der Sprachgebrauch, nach Lage der Dinge, für diese Art der Verwendung des Wortes, zumal wenn er dasselbe in n a c h d r ü c k l i c h e m Sinne bezielt, eine Vorliebe zeigt. Besonders mag dies auch von der zuletzt bezeichneten Gattung gelten. Indes scheint mir eine solche Rücksicht keineswegs berechtigt zu sein, wo es sich um eine streng wissenschaftliche, logische Bestimmung dieses Begriffs handelt. Denn weder Entstehung, noch Beziehung auf die Persönlichkeit, noch Wert, noch Grad hat mit dem Irrtum an s i c h etwas zu thun. Dieser ist vielmehr eine r e i n p s y c h o l o g i s c h e Erscheinung. Und gerade die Vermischung des logischen und ethischen Gesichtspunktes und Ahnliches hat schon oft die fortschreitende Klarheit und Lauterkeit der theologischen und mittelbar dann auch der christlichen Erkenntnis gehindert. Für Jesum folgt aus seiner Gewissenhaftigkeit, dass er sich vor falscher Sicherheit in seinem Wissen und vor unüberlegten Behauptungen gehütet haben wird; aus seiner Sündlosigkeit, dass er sich in Dingen, die das Wesen seiner Heilsverkündigung betrafen, nicht irren konnte; aus seiner Menschheit aber, dass er sich übrigens in manchen sittlich-religiös gleichgültigen Dingen,



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wo ihn auch die Gewissenhaftigkeit seines Vorstellens nicht schützen konnte, sehr wohl irren mochte oder musste. Dies aus dem Verlauf des Erkennens selbst zu erweisen, ist jetzt unsere Aufgabe. Der Irrtum wäre allerdings gänzlich zu vermeiden, wenn dem Menschen in jedem Augenblicke ein völlig gesichertes Wissen von der gesamten Welt des Seins und Denkens oder doch von demjenigen Gebiete zur Verfügung stände, in welchem sich gerade sein Denken bewegt. Nun schreitet aber das Leben der Seele überhaupt in einer Entwicklung fort, die in ununterbrochener Geschlossenheit am Leitfaden der Erfahrung verläuft. Und dabei kann dieser Fortschritt, da er, wie wir sahen, der Bethätigung einer endlichen Kraft angehört, nur Punkt für Punkt in einer Richtung oder doch nur in wenigen stattfinden. Er ist also notwendig mit einer gewissen Einseitigkeit behaftet. Ich machtc oben die Allmählichkeit und einseitige Stetigkeit für die gesamte menschlichc Entwicklung geltend und wies sie insbesondere für Jesum nach. Dies trifft eben auch für die Gedankenbewegung im einzelnen zu, die einen Teil jener Gesamtentwicklung darstellt. Da ferner die endliche Kraft, selbst in ihrer Art, nicht unbedingt vollkommen ist, so kann sie sogar noch durch gewisse Umstände aus der rechten Richtung abgelenkt werden. Aus diesen objektiven und subjektiven Gründen bleibt also die Kenntnis des einzelnen Menschen von der Welt einerseits überhaupt notwendig unvollkommen und wird andrerseits nur nach und nach angeeignet. Und dabei kann die r i c h t i g e Aneignung nicht durchaus verbürgt sein. Denn während der Irrtum eine v e r k e h r t e A u f f a s s u n g ist, kann die Aussenwelt allein das Material für richt i g e A u f f a s s u n g e n liefern und das Richtmass für die Richtigkeit jedes Urteils schaffen. Dies geschieht aber nach und nach, in relativ einseitigem Fortschritt. Und doch wird die Erkenntnis überhaupt nur so weiter gebildet, dass eine Vorstellung von der andern a u f g e f a s s t wird. Es gäbe also nur dann eine Bürgschaft für ein völlig irrtumsfreies Erkennen, wenn stets schon sachentsprechende Vorstellungen für die richtige Auffassung der neu auftretenden vorhanden wären. Aber gerade das ist bei der Allmählichkeit des Welterkennens nicht möglich. Es folgt somit schon aus der d i s k u r s i v e n Art des Denkens vielfach die nicht



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sachentsprechende Auffassung: der Irrtum. Allerdings nur, wo eben eine wirkliche A u f f a s s u n g stattfindet, das heisst, wo die Voraussetzung, die Annahme, das Urteil nicht z u r ü c k g e h a l t e n wird. Es wird sich aber sogleich zeigen, dass oft kein Anlass vorliegt, dasselbe zurückzuhalten. Jesus hätte also die Irrtümer nur dann vielleicht ganz vermeiden können, wenn sein Denken nicht erst in allmählichem, einseitigem Fortschritte hätte neue Erkenntnisse gewinnen müssen. Dagegen lässt sich von dieser d i s k u r s i v e n Art, wie sie ausschliesslich oder mindestens der Regel nach das menschliche Denken charakterisiert, die Möglichkeit des Irrens nicht trennen. Freilich selbst das sog. i n t u i t i v e , wie man es dem Hellseher beizulegen pflegt, lässt sich nicht völlig von Diskursivitlit und schon damit vom Irrtum lösen. Denn es kann, um von anderem hier abzusehen, ein einzelnes Gesicht immer nur ein Moment des fortschreitenden Erkennens des Hellsehers darstellen, hebt also auch für seine Erkenntnis, selbst in Rücksicht auf die Vermittlung des Gesichtes mit dem früheren Erkenntnisbestande, die einseitige Stetigkeit und Irrtumsfähigkeit nicht auf. Was die A r t und die F o r m e n der Gedankenbewegung b e i J e s u betrifft, so folgen sie zwar als wesentliche Merkmale des menschlichen Seelenlebens von selbst. Aber es lässt sich auch leicht zeigen, dass er wirklich diskursiv gedacht hat. Alle bekannten Formen dieses Denkens sind auch bei Jesu unschwer nachzuweisen. Er merkt auf, beobachtet, urteilt, folgert, schliesst, erwägt, fragt, ist unsicher, wundert sich, entschliesst sich usw. (Mr. 10, 21. 23. 14, 35 f. 6, 4. 6. Mt. 8, 10. 12, 15. 14, 13. Joh. 12, 27. 28. 14, 31. Mr. 1, 41 u. s. w.) Auch bei ihm heisst es: ein Tag lehrt den andern. Nur schrittweise erweitert sich auch seine Gedankenwelt. Jeder Tag bringt Jesu neue Erlebnisse, Wahrnehmungen, Gedanken entgegen, die von dem alten Seeleninhalt aufgenommen werden müssen; mit denen er sich auseinander zu setzen hat. In besonders wichtigen Augenblicken überlegt er in längerem Hin- und Herbewegen der Gedanken, was zu thun sei. Um sich auf die Führung des von ihm ergriffenen Messiasberufes vorzubereiten, bringt er lange Zeit allein mit Gott in der Wüste zu (Mr. 1, 12. 13). Eine ganze Nacht erwägt er im Gebet vor Gott, welche Jünger er zu Aposteln er-



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wählen soll (Lk. 6, 12. 13). Als man ihn zum Könige machen will, kämpft er auf einsamer Bergeshöhe im Gebet die ihn anfechtenden Vorstellungen nieder (Job. 6, 15. Vgl. mit Mr. 6 , 4 5 f ) . Nicht immer gelingt ihm die Bildung von Erkenntnissen, die Gewinnung von Uberzeugungen auf den ersten Griff. Er schwankt sogar in den Gefühlsstimmungen, unter deren Einfluss für eine Zeit lang die Welt seines Denkens und Strebens steht (Joh. 12, 27). Ja, in besonders schwierigen Fällen kommt er nur langsam oder mit Zagen zu einem bestimmten Entschluss. Unter Umständen scheint ihm sogar, erst wenn er die Stimme seines Vaters gehört hat, auf die er geharrt, die bessere Erkenntnis aufzugehen, infolge deren er dann seinen Entschluss ändert. So damals, als er anfangs nicht auf das Fest gehen will und zuletzt dennoch hingeht (Joh. 7, G—10). Auch bei Erkenntnissen und Entscheidungen s i t t l i c h e r oder r e l i g i ö s e r Art geht es nicht immer ohne Anfechtung ab. Die furchtbare Last seiner Heilandsaufgabe giebt ihm manches Rätsel auf, dessen Lösung ihm nicht leicht wird. Das Hin und Her der Seelenbewegungen, sowie der völlige Sieg der religiösen Beweggründe spiegelt sich vortrefflich in der Versuchungsgeschichte wieder (Mt. 4. Lk. 4). In einem Gebetskampf, der von Zweifeln nicht unberührt ist, bereitet er sich auf seinen letzten schweren Gang vor (Mr. 14, 32—42). Und als er ruft: ,Mein Gott, warum hast du mich verlassen?" (Mr. 15, 34), bezeugt dieses „Warum", wie schwer es ihm wird, Gottes Weg mit ihm völlg zu verstehen und dies Verständnis durch die entsetzlichsten Qualen hindurch zu retten. In jenem Augenblicke hängt ein dunkler Schleier über dem Gefühl seiner Gottesnähe, vielleicht sogar Uber seiner Siegesgewissheit, bis er triumphierend rufen darf: „Es ist vollbracht!" (Joh. 19, 30.) Überall handelt es sich also hier um Verknüpfung von Vorstellungen, um die Auffassung einer durch die andere, um die Bildung zum teil schwieriger Apperceptionen theoretischer oder praktischer Art. Schlagende Belege für die völlig der unsrigen gleiche diskursive Art seines Denkens. Schon hieraus folgt für Jesum, wie für jeden Menschen, die Notwendigkeit gelegentlicher Irrtümer. Noch klarer wird sich dies ergeben, wenn wir die U n w i l l k ü r l i c h k e i t des natürlichen Vorstellungsverlaufes berücksichtigen.



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Jede Auffassung, also jedes Urteil, jede Folgerung, jeder Schluss u. s. w. kommt nämlich so zu stände, dass der Vorstellungsverlauf v o n s e l b s t die auffassende Vorstellung liefert. Selbst die Richtung, die der Denker oder Dichter w i l l k ü r l i c h seiner Aufmerksamkeit giebt, beinflusst nur die Form der geistigen Thätigkeit. Der gesamte ihr entsprechende Vorstellungsstoff und mit ihm die auffassende Vorstellung tritt unmittelbar völlig unwillkürlich vor die Seele. Die Aufmerksamkeit, auch die willkürliche, verknüpft ein Interesse, einen besonderen Gefühlswert, mit gewissen vorhandenen oder erwarteten Gedanken einer bestimmten Art. Dieser Gefühlswert erregt, belebt, steigert die Erzeugung, Erinnerung, Verknüpfung der Gedanken in einer bestimmten Richtung. Aber auch so tauchen die auffassenden Vorstellungen zunächst unwillkürlich aus dem Reiche des Unbewussten auf. Hat sich also die willkürliche Aufmerksamkeit auf eine bestimmte neue Vorstellung gerichtet, so stellt sich nach dem Gesetze der unwillkürlichen Vorstellungsverkntipfung eine alte Vorstellung ein, die der neuen irgendwie ähnlich ist oder in einer gewissen Hinsicht zu ihr gehört, die wir hier nicht weiter zu bestimmen brauchen. Ob sie aber eine s a c h g e m ä s s e Auffassung der neuen Vorstellung ermöglicht oder nicht, das ist für sie an sich zufällig. Denn sie wird als blosse Vorstellung nicht von den logischen, sondern von den p s y c h o l o g i s c h e n Gesetzen beherrscht. Selbst wenn schon sachentsprechende Vorstellungen in der Seele vorhanden sind, ist daher keine unbedingte Gewähr dafür, dass sie sich für die Auffassung des betreffenden Gegenstandes einfinde, oder sogleich einfinde. Erst die prüfende und unterscheidende Erwägung kann die Auffassungen, die sich spontan einstellen, im günstigen Falle bewähren oder berichtigen. Fassen wir diesen Vorgang der Auffassung noch konkreter ins Auge, um daraus zu ersehen, wie verwandt der Irrtum der natürlichen Vorstellungsverknüpfung überhaupt ist. Jedes Kind, das zum erstenmale mit Bewusstsein den Vollmond sieht, wird ihn für irgend etwas Ahnliches nehmen, was es schon gesehen hat; also etwa für eine Lampe, ein blankes Gefäss, ein Gesicht oder dergleichen. Der Irrtum entsteht hier notwendig auf folgende Weise. Bei der Aufnahme von etwas Neuem gerät die Seele, zumal des für neue Eindrücke noch frischen Kindes, zunächst in den Zustand einer



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gewissen Starrheit. Es „starrt" den neuen Gegenstand an. Wir bezeichnen dies als das Erstaunen. Es besteht negativ in einem Stillstehen des reflektierenden Denkens. Die positive Ursache dieses Stillstandes liegt aber darin, dass das Interesse für den Augenblick ganz von dem Neuen in Anspruch genommen und ausgefüllt wird. Dieser Zustand erhält seine S p a n n u n g durch die Überraschung der natürlichen Wissbegierde. Der Mensch weiss sich einen Augenblick nicht zu finden. Die Spannung wird dann durch ein eifriges Suchen gelöst. Dieses macht sich, falls das Kind schon sprechen kann, in der Frage Luft: Was ist das? Darin zeigt sich also das Bedürfnis der nun freigewordenen Wissbegierde, die richtige Auffassung des neuen Gegenstandes zu erwerben. Setzen wir nun den Fall, dass das Kind auf seine eigene Antwort angewiesen sei, dann kann die Auffassung, die sich unwillkürlich dem Erkenntnistriebe darbietet, nicht unbedingt das Richtige treffen. Sie kann sich ihm vielmehr nur so weit nähern, als entsprechende Vorstellungen in der Seele des Kindes vorhanden sind und zu geböte stehen, in die der Gegenstand eingeordnet, denen er untergeordnet, oder unter die er befasst werden kann. So stellt sich etwa die Vorstellung der Lampe, des blanken Tellers oder eines hellen Gesichts ein, womit es nun den Mond als gleich oder ähnlich nimmt. Wir sehen also, dass der Anlass zu den Irrtümern auf dieser Seite in den Gesetzen und Bedingungen der unwillkürlichen Gedankenverknüpfung liegt. Sofern dem unwillkürlichen Denken die Leitung und Regelung durch das klare Bewusstsein fehlt, sind die Irrtümer subjektiv naheliegend. Sofern das Wissen diese Klärung in einem bestimmten Falle, selbst bei ausdrücklicher Uberlegung, nicht schaffen kann, sind sie objektiv notwendig. Immer vorausgesetzt, dass kein Anlass vorliegt, die Vollziehung der Auffassung zurückzuhalten. Gerade für den Irrtum hat übrigens die Unwillkürlichkeit des natürlichen Gedankenlaufes eine besondere Bedeutung. Denn der I r r t u m a l s s o l c h e r ist a l l e m a l u n b e w u s s t , u n w i l l k ü r l i c h , unabsichtlich; er kann mitten in einer sonst durch und durch überlegten wissenschaftlichen Gedankenbewegung vorkommen. Aber ein Punkt ist übersehen, eine Beziehung ver-



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nachlässigt, ein hergehöriger Gedanke nicht beachtet. Eine Ungenauigkeit, Unrichtigkeit, Undeutlichkeit der Sache oder des Verfahrens ist mit untergelaufen. Das ist trotz des absichtlichen Aufgebots aller Aufmerksamkeit geschehen. So schleicht sich unvermerkt und unwillkürlich ein Fehler in das Denken ein. Es kann dies, wie wir sahen, entweder stattfinden, weil die betreffende Kenntnis überhaupt fehlt, oder weil sie augenblicklich nicht gegenwärtig ist. In diesem Falle kann aber auch die volle Sammlung und Beherrschung des Denkens, samt dem besten Willen der Wahrheit, nicht unbedingt vor Irrtümern schützen. Allerdings kann man auch durch verkehrte Willensbewegungen mittelbar Irrtümer veranlassen, ja mit Absicht einen Zustand hervorbringen, in welchem man irren muss. Das Irren an sich ist dann aber dennoch unabsichtlich. Eine absichtlich verkehrte Auffassung einer Sache giebt es genau genommen nicht. Wohl kann man sich vorreden, etwas sei so und so, wenngleich man im gründe weiss, dass es nicht so ist. Dies ist gerade so weit kein Irrtum, als man die Sache, wenn auch mit Widerwillen, doch von Hause aus richtig auffasst. Das ist vielmehr ein Versuch, sich selbst zu täuschen. Wohl kann man auch etwas Unrichtiges, Unwirkliches, Unwahres andern als richtig, wirklich wahr darstellen, um sie zu täuschen. Da haben wir aber wiederum nicht einen Irrtum, sondern dies ist, genau so weit, als das Beginnen bewusst ist, eine Lüge. Auch Selbsttäuschung und Lüge sprechen daher nicht gegen die Thatsache, dass der Irrtum als solcher eine u n w i l l k ü r l i c h e mangelhafte Auffassung ist. Die nachgewiesene Notwendigkeit des Irrens hängt also wesentlich im allgemeinen von der einseitigen Stetigkeit der Gedankenentwicklung, in Verbindung mit der Unwillkürlichkeit der sich darbietenden Auffassung ab. Aus ersterer folgt die Unvollständigkeit und Ungenauigkeit der jedesmal vorhandenen Vorstellungen, die in einem bestimmten Augenblicke eine neue Erkenntnis zu vermitteln haben. Letztere bietet den unmittelbaren Anlass für die Vollziehung des Irrtums. Je unvollständiger und lückenhafter der Vorstellungskreis eines Menschen ist, desto öfter fehlen natürlich die nötigen Vorkenntnisse, um etwas ganz oder teilweise Neues sachgemäss aufzufassen. Desto häufiger wird ihm daher auch der unwillkürliche Gedankenlauf Vorstellungen für



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die Auffassung liefern, welche dennoch nicht dafür geeignet sind. So wird er sich in solchen Fällen vergreifen müssen, falls er nicht mit seinem Urteil wartet, sondern es mit dem Vorstellungsmaterial vollzieht, das sich ihm unwillkürlich darbietet. Je unerfahrener aber der Mensch ist, desto weniger wird er sich zu solcher Selbstbescheidung veranlasst finden; desto unbefangener wird er die sich von selbst einfindende Auffassung hinnehmen, ohne zuvor genügend abzuwägen, ob sie auch der Sache entspricht. Daher wird sich das Kind bei jeder wirklich neuen Anschauung, die ihm entgegentritt, fast notwendig vergreifen und beständig Verwechslungen machen. Die mehr oder weniger verkehrte Auffassung wird demnach in solchen Fällen nicht die Ausnahme, sondern die Regel sein. Erst durch stetiges Anpassen der Vorstellungen aneinander und durch wiederholte Berichtigungen treten sie in das sachentsprechende Verhältnis. Die Sicherheit der Erkenntnis ist auf gar keinem andern Wege zu erzielen, als durch stetige Verbesserungen und zunehmende Klärung mehr oder weniger sachwidriger Auffassungen. Auf diesem Bilden neuer Vorstellungen und Berichtigen alter beruht die geistige Entwickelung. So arbeitet sich der Mensch langsam aus einem Meere von wahnartigen, märchenhaften, irrigen Vorstellungen heraus. Auf der Altersstufe, welche die Didaktiker die Märchenstufe nennen, bilden Märchen deshalb die passendste geistige Nahrung, weil das Seelenleben des Kindes selbst noch märchenhaft ist. Nur Schritt für Schritt geht aus Dämmerung Licht, aus Phantasie und Irrtum Wahrheit hervor. Erst nach und nach erweitert sich der Gesichtskreis, und der Bereich der sicheren Erkenntnisse gewinnt an Inhalt, Umfang und Klarheit. So zeigt sich, dass der Irrtum ein notwendiges Entwicklungsmoment in der Fortbildung des geistigen Lebens überhaupt darstellt. Nahm auch das Jesuskind als echtes Menschenkind an Alter und Weisheit zu, so muss es auch bei der Ausbildung s e i n e r Vorstellungswelt, nach den Gesetzen der Ideeenverbindung, nicht e i n m a l , sondern oft geirrt haben. Erst durch mannigfache Berichtigung kann auch der heranwachsende Jesus zunehmend Sicherheit, zumal in schwierigeren Gegenständen der Erkenntnis, erworben haben. Jeder Sachkundige weiss, dass ein



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guter Lehrer die Bildung mancher falschen Auffassung durch vichtige Gedankenleitung zu hindern vermag. Aber auch bei dem begabtesten Schüler kann er die Entstehung von Irrtümern nicht völlig abstellen. Wer im stände ist sich über die Verknüpfung seiner Gedanken und die Ausbildung seines geistigen Lebens Rechenschaft zu geben, wird sich erinnern, durch wie ungezählte Irrtümer er hindurch gemusst hat, ehe er eine leidlich richtige Auffassung der äusseren und inneren Welt gewann. Viele von diesen Irrtümern waren die Folge verkehrter Strebungen, viele aber ergaben sich einfach aus der bezeichneten Art, wie neue Erkenntnisse nur entstehen können. Jedoch sind wir mit dem Irrtum so vertraut, dass wir ihn gerade deswegen häufig übersehen. Sollte aber ein Mensch aus einer irrtumsreichen Kindheit in eine Jugend ohne jeden Irrtum, oder doch in ein völlig irrtumsfreies reifes Alter übergehen können? Das wird der nicht behaupten können, welcher die Gründe für die Notwendigkeit des Irrens, welche wir oben anführten, beherzigt. Selbst der Erwachsene, dem z. B. eine beziehungsweise neue Anschauung entgegentritt, gerät gelegentlich in Irrtümer, j a kann sie gar nicht durchweg meiden. So erwartete Jesus von jenem Feigenbaum, an dem er Blätter bemerkte, auch Früchte. Die Anschauung des b e l a u b t e n Feigenbaumes rief, behufs ihrer Auffassung, unwillkürlich die entsprechende früher gewonnene Vorstellung in die Erinnerung zurück, mit welcher das „ F r ü c h t e t r a g e n " verbunden zu sein pflegte. So wurde dies Merkmal unwillkürlich mit verknüpft, da sich kein Anstoss bot, welcher diese Verbindung in dem besonderen Falle hinderte. Infolgedessen wurde die neue Anschauung des belaubten, von der alten Vorstellung des belaubten, aber zugleich Früchte tragenden Feigenbaumes aufgefasst. Somit wurde der erblickte Feigenbaum unter die Teilvorstellung des Früchtetragens befasst. Auf Grund dieses rein spontanen seelischen Vorganges vermutete Jesus, dass die häufige Erfahrung des Früchtetragens belaubter Feigenbäume Bich auch in diesem Falle bewähren werde. Und doch entsprang dieses Urteil einem unwillkürlichen Trugschluss. Die eindruckliche Häufigkeit der Erfahrung, dass



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mit Blättern versehene Feigenbäume Früchte zu haben pflegen, hatte ihn die doch auch vorkommende Möglichkeit des Gegenteils übersehen lassen. Infolgedessen erwartete er etwas Verkehrtes und wurde dann in seiner Erwartung getäuscht. Mag man die Thatsächlichkeit dieses Erlebnisses Jesu anzweifeln, so haben es ihm immerhin die Evangelisten selbst zugemutet. Wie sollten wir also dazu kommen dergleichen nicht für möglich zu halten! So ist wenigstens die W a h r h e i t derartiger Vorkommnisse auch für Jesum nicht zu bestreiten. Hier liegt aber mehr an dem Nachweis der N o t w e n d i g k e i t im allgemeinen, als der T h a t s a c h e im einzelnen. Daher sind auch auf jedem andern Gebiete unter gleichartigen Umständen Irrtümer Jesu nicht völlig auszuschliessen. Denn es war nicht immer sogleich möglich, die Unvollständigkeit der eignen lückenhaften Erkenntnis zu gewahren. In solchen Fällen drängte dann der unwillkürliche Vorstellungsverlauf gelegentlich Annahmen, Vermutungen und Schlüsse auf, die für wahrheitsentsprechend genommen wurden, obwohl sie es nicht waren. So mussten auf Anlass der alltäglichsten Erlebnisse mannigfache Irrtümer eintreten, als notwendige Ergebnisse der Gedankenassociation. Sie sind eben allemal dann nicht zu vermeiden, wenn die Zusammengehörigkeit der thatsächlich naheliegenden und sich daher verknüpfenden Vorstellungen nur eine scheinbare ist, ohne dass doch e i n A n l a s s zur K r i t i k v o r l ä g e . So wurde der seltnere Fall des nicht früchtetragenden durch den häufigeren des früchtetragendcn belaubten Feigenbaumes aufgefasst. Hier entstand der Irrtum entweder aus unzureichender Kenntnis, nämlich der Vegetationsverhältnisse Judas, oder aber aus der derzeitigen Begrenztheit der Wahrnehmungsfähigkeit Jesu. Er konnte dann aus der Ferne nicht feststellen, ob die an sich mögliche, oder doch auf grund seiner galiläischen Erfahrungen möglich erscheinende Annahme hier zutraf. Falls die richtige Erkenntnis an sich vorläufig durch die besonderen Verhältnisse der Irrtum leicht zu berichtigen, sobald günstig gestalten. Sind aber die nötigen haupt noch nicht da, so wird erst durch S o h w a r t z k o p f f , Konnte Jesus irren?

möglich ist und nur verhindert wird, ist die Umstände sich Vorkenntnisse überihre Erwerbung eine 7



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richtige Auffassung oder die Berichtigung der bisherigen falschen ermöglicht. Der in der Unvollkommenheit des Wissens begründete und häufig schon durch die Unwillkürlichkeit des Vorstellens veranlasste Irrtum wird also unter der Bedingung des Mangels an Kritik n o t w e n d i g . Von diesem Mangel aber kann niemand ganz unberührt bleiben. Denn es giebt, wie wir sahen, Umstände, die zum Bestände des Lebens selbst gehören, daher für jeden notwendig häufig wiederkehren, welche die Kritik überhaupt oder zeitweilig unmöglich machen oder doch keinen Anlass für sie bieten. Wenden wir nun das Gewonnene auf die G e d a n k e n w e l t d e s M e n s c h e n in ihrer G e s a m t h e i t an. Da gemäss der diskursiven Art des Denkens die Entwicklung des Gedankenkreises nur schrittweise und stückweise, ohne jeden Sprung, fortschreitet, daher die Erfahrung und das Wissen des Menschen in jedem Augenblicke in bestimmten Beziehungen unvollständig und lückenhaft sind, so sind sie sehr leicht bei Gelegenheit ihrer Weiterbildung Irrtümern ausgesetzt. Noch grösser, als bei der Erwerbung neuer Anschauungen, ist die Gefahr des Irrens auf dem Gebiete des eigentlichen D e n k e n s , und zwar um so mehr, je abstrakter dieses ist, und je weniger es mit der unmittelbaren Erfahrung in Zusammenhang steht. Der Grund liegt einmal in der gesteigerten Schwierigkeit desselben, und sodann darin, dass die konkrete Wirklichkeit der Massstab seiner Richtigkeit ist. Je mehr dieser fehlt, desto schwerer sind die Irrtümer daher auch zu erkennen und zu verbessern. Dies gilt vor allem von den höheren Begriffen und Ideeen, am meisten aber von dem Ganzen der Weltanschauung. Da gelangt man, wenn überhaupt, nur durch viele Vorurteile zu (relativ) richtigen Urteilen. Wie nun der Umfang und Inhalt der Erkenntnis nur allmählich wächst und daraus notwendig gewisse Irrtümer gelegentlich entstehen müssen, so kann auch die K l a r h e i t und D e u t l i c h k e i t der E r k e n n t n i s nur allmählich zunehmen. Und auch dies muss Irrtümer zur Folge haben. Denn sowohl die K l a r h e i t im eigentlichen Sinne, das heisst die genaue Kenntnis des Umfanges einer Vorstellung oder eines Gedankens und ihres Ortes in ihrem Gedankenganzen, als die D e u t l i o h k e i t der Erkenntnis, die das genaue Wissen von dem Verhältnis der Vorstellung oder



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des Gedankens zu ihren Teilen oder Bestandteilen und dieser unter einander bedeutet, kann nur das Ergebnis der Unterscheidung und Vergleicbung aller hergehörigen Gedankenpunkte in ihrer wechselseitigen Beziehung sein. Diese Unterscheidung, welche auf der vorhergehenden unwillkürlichen Auffassung fusst, kann, entsprechend der diskursiven Art des Denkens, ebenfalls nur schrittweise vorrücken. Auch die Beziehungen zwischen dem v o r h a n d e n e n Seeleninhalt können also erst allmählich nach allen Seiten so vollständig abgegrenzt und sicher bestimmt werden, dass die Irrtümer ausgeschlossen sind. Die Kenntnis aller Seiten der Sache, sowie die Übersicht über das Ganze und seine Teile kann nur nach und nach erworben werden. Um nun die Beziehung eines Kreises zum anderen, eines Teiles zu seinem Ganzen, einer Art zur Gattung richtig bestimmen zu können, muss mindestens die Richtung deutlich sein, in der die Fäden von den einzelnen Vorstellungsgeweben aus weiter verlaufen. Der genaue Ort eines Gedankens ist demnach nur im System zu finden. Daher kann auch seine volle Klarheit erst von dem vollendeten Uberblick Uber das Ganze aus gewonnen werden, von welchem er ein Teil ist. Im höchsten Sinne de3 lückenlos vollendeten Systems kann also nur der Allwissende die volle Klarheit aus der Erkenntnis des Ganzen besitzen. Auch in Jesu Gedankenwelt musste es somit mancherlei nur angeknüpfte Fäden, lückenhafte Vorstellungen, nicht durchgehend vollzogene Urteile und Schlüsse geben. Selbst solche Gedanken, die noch innerhalb seines Gesichtskreises lagen, konnten nicht von jeder Unsicherheit, von jedem Zweifel, jedem Irrtum frei sein. In Kreisen nun gar, die seiner Erfahrung fremd waren, konnten die Gedankenfäden nur sehr unvollkommen angesponnen sein. So war hier die Gefahr von Unklarheiten und Irrtümern auch bei Jesu am grössten. Denn je mehr man sich den Grenzen seines derzeitigen Wissensbestandes nähert, desto unvollständiger und lückenhafter müssen jene mehr peripherischen Kenntnisse sein. Über dasjenige aber, was ausserhalb des Gesichtskreises liegt, sind nur Vermutungen möglich. Das auf sie gegründete Urteil ist daher im wesentlichen ein Vorurteil. Es muss in höherem Masse an Unsicherheit leiden und dem Irrtum ausgesetzt sein. 7*



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Es giebt allerdings Vorurteile, welche im wesentlichen richtig sind.

Diese sind dem Instinkt oder Zufall zu danken.

Aber ob

richtig oder falsch, sind dennoch, genau genommen, alle diejenigen Urteile

Vorurteile,

welche

nicht auf

Sachkenntnis

beruhen

sondern ihr voraufgehen. Nur die letztere kann, wenn überhaupt, das richtige Urteil verbürgen und den Irrtum fern halten.

Völlige

Klarheit und Irrtumslosigkeit, selbst nur im relativen Sinne, kann daher auch bei Jesu allein in jenen Gedankenkreisen herrschen, bei welchen sich die Gelegenheit geboten hatte, alle hergehörigen Momente hinreichend zu unterscheiden, um so die allseitige Beziehung der wesentlichen Vorstellungen

und Begriffe und ihrer

benachbarten Gedankenkreise

zu führen.

zu Ende

Schon von

hier aus ist mithin zu mutmassen, dass eine derartige Irrtumslosigkeit bei dem Herrn, wenn überhaupt, nur für die spezifisch sittlich-religiösen steht.

schichtliche (religiös wird

Vorstellungen

seiner Offenbarung zu erwarten

Nicht aber für naturwissenschaftliche, metaphysische, geu.

drgl. Beziehungen;

gleichgültige)

Form

er mithin genötigt

mögen

jener

gewesen

auch

die

Offenbarung angehen.

So

sein,

dieselben

z. B. manche

falsche

Meinung und Anschauung seiner Zeit, w i e die von Davids Abfassung des 110. Psalms, aus Litteratur und Umgang zu übernehmen.

Doch

ist

Punktes abzusehen. barkeit,

als

die

Zeit und Vorzeit

hier

von

der

weiteren

Ausführung

dieses

Denn sowohl die Originalität und Unfehl-

relative Abhängigkeit können nur unter

seiner Offenbarung von

dem

prophetischen

Ge-

sichtspunkte sachgemäss erörtert werden. Fassen wir zusammen. Verein

mit

wicklung

der

D i e Beschränktheit des Wissens im

einseitigen

und Unterscheidung

diskursiven A r t ,

Stetigkeit der

der Verknüpfung, Ent-

Gedanken,

d. h. mit

ihrer

und mit der Unwillkürlichkeit der Auffassung,

giebt notwendig mannigfachen Anlass zu Irrtümern. Diese werden überall da eintreten, wo dem Erkennenden in bestimmter Hinsicht die Grenzen des eigenen Wissens entweder überhaupt nicht bekannt oder augenblicklich nicht gegenwärtig sind, wo mithin keine Veranlassung zur Kritik und zur Zurückhaltung des Urteils vorliegt.

Auch wird man die irrige Auffassung so lange festhalten,

bis sich jene Gelegenheit zu kritischer Berichtigung bietet. treten unter den

So

angegebenen bestimmten Bedingungen, welche



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im menschlichen Leben thatsächlich und notwendig 'wiederkehren, oft unvermeidlich Irrtümer ein. Aus den angeführten Gründen musste also auch Jesu Denken nicht nur ein an Umfang und Inhalt beschränktes, nach manchen Richtungen hin mangelhaftes, ungenaues, unklares, undeutliches, sondern auch ein teilweise u n r i c h t i g e s , irriges sein. Und zwar irrig, wie wir sahen, rein nach den Gesetzen des menschlichen Vorstellens an sich, ohne dass sich im geringsten die Denkwillkür aus sittlichen Gründen hätte einzumischen brauchen. Dergleichen Irrtümer können völlig unverschuldet sein, und sind vielfach, wie wir sahen, durch Gewissenhaftigkeit und Vorsicht im Denken keineswegs zu vermeiden. Es muss daher die Vorstellung, so verbreitet sie noch ist, als falsch anerkannt werden, als wäre mit s i t t l i c h e r Unfehlbarkeit notwendig in jeder Beziehung i n t e l l e k t u e l l e Unfehlbarkeit, das heisst Irrtumslosigkeit, verbunden, und als bewiese andererseits Jesu Irrtumsfähigkeit notwendig seine Sündigkeit. Dieses Vorurteil zu widerlegen, war eine Hauptabsicht unserer psychologischen Untersuchung. Denn in jenem, oben als „ponerologisch" bezeichneten Einwurf liegt der Hauptgrund, weshalb manche um keinen Preis die Irrtumsfälligkeit Jesu zugeben wollen. Darum galt es zunächst, die Thatsache der Irrtümer selbst aufzuzeigen und sodann ihre Notwendigkeit darzuthun. Das letztere ist nach dem ersteren nicht überflüssig. Denn darin liegt zugleich ein selbständiger Beweis, aus welchem wiederum die Thatsächlichkeit derselben auch für diejenigen abfolgt, welche der direkte Beweis nicht oder nicht ganz überzeugt haben sollte. Daher waren wir genötigt, uns in das Getriebe des Seelenlebens so weit zu vertiefen, dass die Gründe jener Notwendigkeit einleuchtend gemacht werden konnten, indem wir zugleich zeigten, dass Jesu Seele thatsächlich die spezifisch menschliche Eigenart besitzt. Erkennt man im Ernste die wahre Menschlichkeit der Form dieser Gedankenwelt, also die Stetigkeit ihrer Ausbildung, die Diskursivität ihrer Gedankenverknüpfung und die Unwillkürlichkeit der Auffassung an — Thatsachen, die im neuen Testamente klar zu Tage liegen —, dann wird man sich der Folgerung nicht entziehen können, dass aus diesen Eigenschaften des Denkens Jesu, unter den ange-



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gebenen bestimmten Bedingungen, notwendig gewisse Irrtümer folgen mussten. Andrerseits ist aber der psychologische Nachweis der Notwendigkeit der Irrtümer Jesu auch für diejenigen nicht überflüssig, welche sich von ihrer Thatsächlichkeit überzeugt haben. Wenigstens fordert ein wissenschaftliches Verfahren diesen Nachweis. Denn man kann eine Sache, auch eine Thatsache, wissenschaftlich nur aus ihren Gründen vollkommen begreifen. Daher wird eine solche Begründung in unserm Falle für die Wissenschaft der Theologie um so unentbehrlicher sein, je häufiger das Irren Jesu noch von den einen ohne hinreichende Gründe bestritten, von den anderen dagegen ebenso willkürlich als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Wer sich aber einmal von jener Notwendigkeit überzeugt hat, der wird kein Interesse mehr daran haben, Irrtümern Jesu, welche uns im neuen Testament als thatsächlich oder doch als höchst wahrscheinlich entgegentreten, aus dem Vorurteil, als könne Jesus in Wirklichkeit nicht irren, die erforderliche Anerkennung zu versagen. Fast noch wichtiger, als der Nachweis der Thatsache und Notwendigkeit des Irrens Jesu, ist aber die Darlegung ihrer Unwesentlichkeit für den richtig verstandenen christlichen Glauben. Daher habe ich auf diese, soweit es der Raum der Arbeit gestattete, besonderen Nachdruck gelegt. Bilden doch die Irrtümer Jesu zwar den nächsten Anlass, aber nicht den Zweck meiner Erwägungen. Dieser ist vielmehr sachgemäss ein rein positiver. Denn er besteht in der Untersuchung des W e s e n s und I n h a l t s der O f f e n b a r u n g G o t t e s in Christo und durch Christum. Aber freilich ist beides nicht klar und wahrheitsgemäss zu erkennen, wenn nicht zugleich ihr Umfang bestimmt abgesteckt und ihre Grenzen nachgewiesen werden. Dazu habe ich hier die rein a n t h r o p o l o g i s c h e Grundlage zu legen versucht.

V e r l a g der J. Ricker'schen B u c h h a n d l u n g in G i e s s e n .

Vorträge der

theologischen Konferenz zu Giessen. I. Folge. Dlegel (Direktor zu Friedberg):

Theologische Wissenschaft and pfarramtliche Praxis. Baudissln (Professor in Marburg):

Der heutige Stand der alttestamentiichen Wissenschaft. Giessen, 12. Juni 1884. M. 1.—. II. Folge. Seil (Oberconsistorialrath in Darmstadt):

Die geschichtliche Entwickelnng der Kirche im 19. Jahrhundert und die ihr dadurch gestellte Aufgabe. HeinriCl (Professor in Marburg):

Die Forschungen über die paulinischen Briefe. Giessen, 24. Juni 1886. M. 1.60. i n . Folge. Herrmann (Professor in Marburg):

Der Begriff der Offenbarung. Müller (Professor in Giessen):

Bericht über den gegenwärtigen Stand der Forschung auf dem Gebiet der Yorreformatorischen Zeit. Giessen, 9. Juni 1887. M. 1.—. IV. Folge. Sachsse (Direktor in Herborn):

Deber die Möglichkeit, Gott zu erkennen. Giessen, 31. Mai 1888. M. 1 —

Verlag der J. Ricker'schen Buchhandlung in Giessen.

Y. Folge. Eibach (Pfarrer in Nenderoth):

Ueber die wissenschaftliche Behandlung und praktische Benutzung der heiligen Schrift. Schürer (Professor in Giessen):

Ueber den gegenwärtigen Stand der johanneischen Frage. Giessen, 20. Juni 1889. M. 1.-.

VI. Folge. Ehlers (Consistorialrath in Frankfurt a. M.):

Das neue Testament und die Taufe. Giessen, 5. Juni 1890. M. 1 . - .

V I I . Folge. Katteilbusch (Professor in Giessen):

Von' Schleiermacher zu Ritschi.

Zur Orientierung über den gegenwärtigen Stand der Dogmatik. Giessen, 28. Mai 1891. 2. Aufl. 1893. M. 1.20.

V n i . Folge. Reischle (Professor in Giessen):

Sohms Kirchenrecht und der Streit über das Verhältnis von Recht und Kirche. Giessen, 13. Juni 1895. M. 1 . - .

I X . Folge. Flöring (Professor in Friedberg):

Das Älte Testament im eïangelischen Religionsunterricht. Giessen, 13. Juni 1895. M. 1.—.

Druck TOD C. O . R ö d e r in L e i p z i g .

Die Irrtimslosigkeit Jesu Christi und der christliche Glaube von

Dr. Paul Scliwartzkopff Professor in Wernigerode.

— # Ein Nachwort zu der Schrift: „ K o n n t e Jesus i r r e n ? " zum Zweck der Verteidigung und Abwehr.

Mit einem Sach-, Namen- und Stellenregister zu den vier Bänden der

„ G r o t t e s o f f e n b a r u n g - in J e s u C h r i s t o " u n d zu d i e s e r

Schrift.



GIESSEN J. K i c k e r ' s c h e

Buchhandlung

1897.

Alle Rechte

vorbehalten.

Herrn Dr. Emil Friedrichs

in D a n k b a r k e i t u n d F r e u n d s c h a f t zugeeignet.

Motto: Einen anderen Grand kann niemand legen ausser dem, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus. 1. Kor. 3, 11. Wir haben aber nicht einen Hohenpriester, der nicht könnte Mitleid haben mit unserer Schwachheit, sondern der versucht ist allenthalben, gleich wie wir, doch ohne Sünde. Hebr. 4, 15. Errare non modo affirmando et negando, sed etiam sentiendo et in tacita hominum cogitatione contingit Hobbes, computatio sive lógica.

Inhalt. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

8. 9. 10. 11. 12.

Vorwort Einleitung: Die Notwendigkeit der Frage: „Konnte Jesus irren?" Jesu Gottmenschheit in ihrem Verhältnis zu seiner Irrtumsfähigkeit Zöcklers Definition des Irrens Was sind schwere und leichte Irrtümer Jesu? Der Begriff des Irrens an sich Die Notwendigkeit des Irrens Jesu in gewissen (heilsunwesentlichen) Dingen Exegetischer Nachweis von Irrtümern Jesu auf grund der Bibel: a) Die Verfluchung des Feigenbaums b) Jesu Auffassung der Geschichte Jona's c) Seine Anziehung des 110. Psalms d) Der Termin seiner "Wiederkunft Die Bedeutung des Wiederkunftsirrtums für die Person des Heilands, und die seelischen Bedingungen seiner Entstehung Darf man an Jesu Wiederkunftsweissagung den Massstab prophetischer Psychologie legen? Auf welche Weise ist die Unfehlbarkeit des Gehalts von Jesu Offenbarung verbürgt? Schlusswort Sach-, Namen- und Stellenregister zu den vier Bänden der Gottesolfenbarung in Jesu Christo und zu dieser Schrift

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Vorwort. Dass der sündlose Heiland dennoch als Mensch in gewissen Dingen irre, und dass andrerseits der in gewissem Masse irrtumsfähige Jesus dennoch Gottes Sohn und unser Erlöser sein könne, ist wohl hier und da ausgesprochen, aber meines Wissens niemals zureichend erwiesen worden.

Neuerdings haben Beyschlag,

Titius, Meinhold, Kaehler und Zöckler diese Anschauung von der Irrtumsfähigkeit Jesu vertreten.

Indessen gicbt selbst Meinhold

in seiner Schrift „Jesus und das Alte Testament" keine Begründung dafür, welche tiefer in die Gesetze des Seelenlebens des Gottmenschen einzudringen und den Einfluss der Sündlosigkeit auf sein Vorstellungsleben nach Inhalt und Umfang nachzuweisen versuchte.

Schon bevor jenes Buch erschien, hatte ich in meiner

Schrift „Die Weissagungen Jesu" vor allem den Irrtum des Herrn hinsichtlich seiner Wiederkunft eingehend exegetisch dargethan und suchte alsdann in der Ende Januar 1896 herausgegebenen Broschüre „Konnte Jesus irren?" die psychologische Begründung für seine Irrtumsfähigkeit überhaupt zu geben.

Die vielerlei

Missverständnisse und Angriffe, welchen diese Broschüre ausgesetzt gewesen ist, sowie insbesondere die Rezension derselben durch Herrn Professor D. Zöckler in der evangelischen Kirchenzeitung 1896 No. 24 auf S. 362—364 und dessen Aufsatz „Zur Frage wegen des Irrenkönnens Jesu" in demselben Blatte 1896 S. 448—452 und 470—473 haben mir bewiesen, dass eine eingehendere Aussprache über diesen Punkt unumgänglich ist. Denn l

wenn ich von jemandem, der zugegebenermassen g l e i c h

mir

die Möglichkeit und Notwendigkeit gewisser Irrtümer Jesu aus dessen wahrer Menschheit

folgert und g l e i c h mir in seiner

Sllndlosigkeit die Bürgschaft dafür erkennt, dass der Herr in heilswesentlichen Dingen nicht irren konnte, so scharf bekämpft werde, so wird der Grund nicht nur in einigen grundsätzlichen Unterschieden der dogmatischen Stellung, sondern gewiss auch in sachlichen Missverständnissen liegen, die ich auf diesem Wege nach Möglichkeit beseitigen möchte. Auch hoffe ich, dass ein rein sachlicher Streit mit einem Theologen von der Bedeutung Zöcklers, vor dessen Verdiensten ich die grösste Hochachtung hege, wenn nicht zur Verständigung in allen einzelnen Punkten, so doch sicherlich zur Klärung

der Frage

beitragen wird.

Natürlich

werde ich nicht verfehlen, auch die Einwürfe anderer, welche auf die in meiner Broschüre behandelte Frage eingegangen sind, an ihrer Stelle zu berücksichtigen.

Da Zöckler jedoch der Ein-

zige ist, der in einem besonderen Aufsatz (s. o.) zu dem Gegenstande Stellung genommen hat, so werde ich mich hauptsächlich mit ihm auseinanderzusetzen haben, da ich die Anschauungen einer so bedeutenden theologischen Autorität unmöglich umgehen kann. 1 ) Es liegt mir bei meiner Verteidigung selbstverständlich jedes persönliche Motiv fern.

Ich würde auf die Angriffe meines ver-

ehrten Gegners überhaupt schweigen, wenn es sich hier nur um meine P e r s o n handelte.

Aber der Gegenstand selbst ist für die

Christologie von zu grosser Wichtigkeit, als dass ich dazu die innere Erlaubnis hätte.

Vor allem das Verhältnis der Irrtums-

*) Herr Pastor Ed. Ruprecht aus Sausenhofen nennt mich in seiner Schrift „Des Rätsels Lösung" (2. Abt. 1. Hälfte 1896, Vorwort IX—XI Anm.) „einen groben Irrlehrer und Lästerer des eingeborenen Sohnes Gottes", bezeichnet meine Untersuchung als „Sumpfwasser", droht mit dem Kommen eines Gerichts und empfiehlt mich der Seelsorge meiner Kollegen!



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fähigkeit Jesu Christi zu unserem Glauben ist von zu grosser Bedeutung, als dass man darüber nicht zu möglichster Klarheit zu kommen streben müsste. Dieser Punkt ist es daher auch vor allem, welcher jetzt das Interesse filr die Frage nach der Irrtumsfähigkeit Jesu in weiteren Kreisen erweckt hat.

So hat sie einen Hauptgegenstand

der

Erwägungen auf der letzten „Gnadauer Herbstkonferenz" gebildet und ist von der „Evangelischen Kirchenzeitung" durch verschiedene Nummern hindurch verhandelt worden.

Auf alle Fälle bleibt die

Theologie berufen, zur Weiterentwicklung christlicher Erkenntnis auf biblischem Grunde, im Dienste der wahren Kirche, auch in diesem

Punkte

nach Kräften

beizutragen.

Halbwahrheit dauernden Bestand haben. Wahrheit.

Kann doch keine

Denn Christus ist die

Aber nicht als unfehlbarer Lehrer

geschichtlicher,

naturwissenschaftlicher und metaphysischer W a h r h e i t e n , sondern weil

er zugleich W e g und Leben ist.

Oder: weil in ihm die

W a h r h e i t , welche den W e g des L e b e n s darstellt, Fleisch geworden. So ist dadurch auch nicht ein Irren dieser person-gewordenen Wahrheit in heilsunwesentlichen Dingen ausgeschlossen.1)

Und

dies eben ist die Frage, um die es sich fllr uns handelt, nämlich das

Verhältnis

Heilandsstellung.

der —

Irrtumsfähigkeit So

ist

es vielleicht

Jesu

zu

seiner

solchen Christen,

welchen an der wissenschaftlichen Sicherung ihres Glaubens in diesem Punkte gelegen ist, nicht unerwünscht, wenn ich, der ich hierüber jahrelang ausdrücklich nachgedacht habe, noch einmal das Wort hierzu ergreife. Einige haben meine Broschüre „Konnte Jesus irren?" als ein völlig für sich bestehendes Ganzes genommen, statt als einen, wenn auch relativ selbständigen, Teil eines Ganzen, wofür ich *) Gegen Jul. Döderleins Aufsatz: „Kann die Wahrheit irren?" in der evang. Kirchenzeitung, S. 397 f. 1*



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sie im Vorwort erklärt hatte. So ist für sie der Sehein entstanden, als wäre der Zweck meiner Forschung überhaupt, dem Herrn Irrtümer nachzuweisen.

Und doch hat für mich der Nachweis

der Irrtumsfähigkeit Jesu nur einen m i t t e l b a r e n W e r t .

Ohne

diese Erkenntnis muss nämlich die Forderung, den unfehlbaren s i t t l i c h - r e l i g i ö s e n Gehalt der Offenbarung in Christo gegen seine nicht unbedingt irrtumsfreie Form abzugrenzen, als unb e g r ü n d e t erscheinen. Dann bleibt aber auch die völlige wissenschaftliche Sicherstellung jenes Gehalts undurchführbar. Erst nach Erledigung

d i e s e r Vorfrage beginnt demnach

für mich die eigentliche Aufgabe, die in nichts anderem besteht, als Wesen und Entstehung, Inhalt und Umfang der Gottesoffenbarung in Jesu Christo selbst zu untersuchen. Dies ist mithin das Ziel der vier Teile meines Gesamtwerkes, deren systematische Folge sein würde: „Konnte Jesus irren?" (II), „Die prophetische Offenbarung" (III), „Die Gottesoffenbarung in Jesu Christo" (IV), „Die Weissagungen Jesu" (I).

Ich hätte ge-

wünscht, diese vier Schriften auch als eine äussere Einheit herausgeben zu können.

Da mir dies (aus pekuniären Gründen)

nicht möglich war, so ist, um ihren Zusammenhang und Inhalt leichter übersehen zu können, am Ende dieses Büchleins ein Sach-, Namen- und Stellenregister hinzugefügt worden.

Doch

habe ich bei der Nummerierung die Reihenfolge ihrer Herausgabe, wie oben, befolgen zu sollen geglaubt. W e r n i g e r o d e , 17. Nov. 1896. Der Verfasser.

I. Einleitung.

Die Notwendigkeit der Frage: „Konnte Jesus irren?"1) •)

Es ist eine schwierige Aufgabe der Theologie unserer Tage, das Verhältnis der Irrtumsfahigkeit Jesu zu seiner Heilsoffenbarung zu bestimmen. Um so schwieriger, als sie von vielen noch nicht einmal in ihrer N o t w e n d i g k e i t begriffen, vielmehr selbst in ihrer B e r e c h t i g u n g bestritten wird. So hat man teilweise schon aus dem Titel meiner Broschüre „Konnte Jesus irren?", obwohl derselbe von Hause aus nur die Uberschrift eines T e i l s des Gesamtwerkes bildet, eine auflösende Tendenz meiner Untersuchung erschlossen. Und doch werfen jene Worte die Frage in einfachster und so o b j e k t i v e r W e i s e auf, dass ein Unbefangener daraus weder die Antwort „ja" noch „nein" vorwegnehmen kann. Die Schrift selbst aber zeigt, dass i c h sie in der Hauptsache mit „nein" beantworte und nur solche Gegenstände, von denen ich n a c h w e i s e , dass sie mit dem Gehalt der Heilsoffenbarung nichts zu thun haben, dem Irren nicht gänzlich unzugänglich weiss. Jene blosse F r a g e an s i c h kann nur demjenigen Anstoss erregen, welcher sich über die Konsequenzen der wahren Menschheit des Gottessohnes nicht klar ist. Wer dagegen, wie Ivaehler, Titius, Zöckler und andere, eine Irrtumsfahigkeit Jesu in gewissem Masse einräumt, wird nicht umhin können, die Berechtigung und Notwendigkeit einer möglichst genauen Untersuchung des Gegenstandes anzuerkennen. Die Absicht dieses „Nachwortes" zu meiner Broschüre geht nun vor allem darauf, derartige prinzipielle Anstösse für denkende ') Ich bemerke ausdrücklich, dass ich genötigt sein werde, wiederholt auf den "Wortlaut meiner eigenen Schriften zu verweisen, um meine Verteidigung gegen Angriffe wörtlich begründen zu können. 2 ) Ich benutze zur Bezeichnung der Teile meines Gesamtwerkes die im Vorwort angegebenen römischen Ziffern.



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Christen nach Möglichkeit zu beseitigen. Will ich doch wahrlich nicht den Heilsglauben erschüttern. Ich suche ihn im Gegenteil, durch bestimmtere Absteckung der Grenzen seines religiösen Gehaltes, noch mehr zu sichern. Wenn sich die Gläubigen dem notwendigen Erfordernis einer positiven Kritik nicht unterziehen wollen, so werden die Ungläubigen dieselbe nach wie vor auf Kosten des Glaubens geltend machen. Deshalb soll eine wahrhaft positive Theologie nicht mit schlechtem Gewissen an peinlichen Punkten vorbeischleichen, sondern sie herzhaft angreifen, um die Schwierigkeiten mit der Hülfe dessen zu überwinden, der die Wahrheit ist, und der es ehrlichem Forschen zuletzt gelingen lässt. Der Gedanke, dass Jesus vielleicht hier und da geirrt habe, ist zweifellos ein peinlicher Punkt. Ich selbst, aus dem rechtgläubigen Lager hervorgegangen, hätte ihn nicht angefasst, wenn nicht mein eingehenderes Bibelstudium, erwachsen aus reinem Heilsverlangen und dem Bedürfnis, meinen Glauben wissenschaftlich zu sichern, gerade die S i c h e r h e i t meines Glaubens bedroht hätte. So habe ich die Schmerzen mancher Gläubigen in dieser Hinsicht an mir selber durchgemacht. Nachdem ich aber eben durch diese Führung veranlasst worden bin, die Heilung des Schadens aus innerem Zwange für mich selber zu suchen, musste ich mich getrieben fühlen, was ich gefunden, auch andern darzubieten. Denn wie viele müssen heutzutage auf dieselben Schwierigkeiten stossen, auf die ich gestossen bin. Und sie verschwinden nicht dadurch, dass man, wie der Vogel Strauss, den Kopf in den Sand steckt. Auch ich glaubte noch vor wenigen Jahren, die u n b e d i n g t e Irrtumslosigkeit Jesu annehmen zu dürfen. Doch erregte mir bald eine Thatsache, welche sich aus dem Neuen Testament nicht herausdekretieren lässt, ein ernstes Bedenken. Gerade beim eifrigen Suchen in der einzigen Quelle evangelischen Glaubens konnte es mir nämlich nicht verborgen bleiben, wie vieles darauf hinweist, dass J e s u s s e i n e W i e d e r k u n f t noch z u r Z e i t s e i n e s G e s c h l e c h t s e r w a r t e t habe.



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2. Jesu Gottmenschheit in ihrem Verhältnis zu seiner Irrtumsfähigkeit. Jener Anschein zwang mich, tiefer nachzudenken, ob denn wirklich ein Irren des Herrn in derartigen Dingen seinen Heilandsberuf aufheben und somit meinen Heilsglauben vernichten müsse, an dem ich mit allen Fasern meiner Seele hing. Als den einzig sichern Weg, hierüber Klarheit zu erlangen, erkannte ich die psychologische Untersuchung des Seelenlebens Jesu an der Hand kritisch nicht anzuzweifelnder Bibelstellen. Man mag mir die Ergebnisse, zu denen ich auf diesem Wege gelangt bin, nur teilweise oder gar nicht zugeben. Meinen W e g aber wird man dennoch gehen müssen; selbst um mich zu widerlegen. Er ist leider noch zu wenig betreten. Daraus allein erklärt es sich, wenn selbst so gelehrte Theologen, wie Zöckler, die mit mir in betreff der Frage von der Irrtumsfähigkeit Jesu sachlich auf demselben Boden stehen, dennoch das Wesen und die Bedeutung derselben in mehreren Punkten verkennen. Manche glauben die Frage, ob der Heiland irren könne, einfach mit der Folgerung abthun zu können: wenn Jesus auch nur im geringfügigsten Punkte irre, dann sei er ein b l o s s e r M e n s c h , und ein blosser Mensch könne nicht unser Heiland sein. Dass ein blosser Mensch nicht unser Heiland sein kann, steht auch mir fest. Wenn daher der e r s t e Schluss richtig wäre, dass jegliches Irren Jesum als b l o s s e n Menschen bezeuge, so würde auch ich ein Irren desselben nicht für möglich halten. Dies ist aber ein handgreiflicher Fehlschluss. N o t w e n d i g folgt nur, dass, wenn Jesus in irgend welchem Punkte geirrt hat, er ein w a h r e r Mensch gewesen ist. War er das denn n i c h t ? Die Kirche hat Jesu wahre Menschheit zu allen Zeiten bekannt. Wer nun leugnet, dass aus Jesu wahrer Menschheit die Irrtumsfahigkeit folge, muss meinen Beweis widerlegen, dass das I r r e n zwar nicht ein k o n s t i t u t i v e s 1 ) , aber doch ein k o n s e k u t i v e s Merkmal des menschlichen Vorstellens ausmacht. Ich habe ihn in dem Abschnitte meiner Broschüre: „Die Notwendigkeit der Irrtümer Jesu als Menschen" geführt, werde auf ihn an seinem Orte kurz zurttck*) Gegen P. Magnus: „Zu der Frage der Irrtumslosigkeit Jesu", in der evang. Kirchenzeitung 1896, No. 28.



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kommen und ziehe hier vorläufig nur die Konsequenzen. Zöckler selber sagt, dass er „an der These eines menschlichen Irrenkönnens des Herrn . . . . festhalte, weil wir den Glauben an seine wahre Menschheit festhalten. Der Gedanke an eine absolute Irrtumsunfähigkeit ist uns unvereinbar mit dem Bekenntnis zu dem, der Knechtsgestalt angenommen hat und gleich wie ein anderer Mensch geworden ist"1). Damit erkennt er also an, dass die Irrtumsfahigkeit ein Merkmal wahrer (irdischer) Menschheit ist, und, wer diese dem Herrn abspricht, folgerichtig auch J e s u w a h r e M e n s c h h e i t l e u g n e n müsse. Jeglicher Geist aber, wclcher nicht zugesteht, dass Jesus der im F l e i s c h e g e k o m m e n e Messias ist, ist nach 1. Joh. 4, 2 f. n i c h t von Gott. D e n n w e n n der g e s c h i c h t l i c h e Gottessohn nicht w a h r e r Mensch g e w e s e n ist, dann k o n n t e er n i c h t unser H e i l a n d sein. Dies wolle man doch ja nicht aus der Acht lassen! Man bedenke wohl, dass man den Heiland ebenso verliert, wenn man seine wahre Menschheit, als wenn man seine Gottheit leugnet. Gott sei Dank, dass es nun für unser Heil und für das Christentum nicht auf unser Denken, sondern auf Gottes Thun ankommt. Falls eine r i c h t i g e S p e k u l a t i o n über das Verhältnis der Gottheit Christi zu seiner Menschheit die notwendige Bedingung unserer Seligkeit darstellte: wer könnte dann selig werden?! Wenn vielmehr Melanchthon die Erörterung der Drcieinigkeits-und Zweinaturenlehre aus der ersten Auflage seiner „loci communes", des Grundbuches evangelischer Dogmatik, ausschloss, weil er ein Grübeln über derlei Dinge für unfruchtbar erklärte, so liegt in diesem Verfahren immerhin eine, wenn auch einzuschränkende, Wahrheit. Nicht auf das D e n k e n über den Glauben kommt es für unser Heil an, sondern auf den Glauben selbst, mithin darauf, dass wir Gott in dem geschichtlichen Christus und Christum als unsern einigen Heiland erkennen, und auf Gottes Gnade in ihm unser volles Vertrauen setzen. Dennoch bleibt für die T h e o l o g i e als Christentumswissenschaft das Problem bestehen, das Verhältnis der göttlichen und menschlichen Seite der Christuspersönlichkeit auch denkend nach menschlichen Kräften zu begreifen, wenn dies auch ') „Zur Frage wegen des Irrenkönnens" a. a. O.



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hier auf Erden immer nur annähernd wird geschehen können. Ich habe nun in meiner Broschüre mit einigen Andeutungen Christi Stellung als Gottessohn und Erlöser so zu bestimmen gesucht, dass sie sich mit der Irrtumsfahigkeit vertrüge, und dabei einseitige Fassungen der Christus- und Versöhnungslehre, Erzeugnisse vergangener Jahrhunderte, abgewehrt.1) Es ist selbstverständlich, dass die altkirchlichen Fassungen, zumal des 4. und 5. Jahrhunderts, nicht auf J e s u i r r t u m s f ä h i g k e i t Rücksicht genommen haben, weil sie dieselbe Uberhaupt weder unter biblischem noch dogmatischem Gesichtspunkte hinreichend erkannt hatten. Seit sich diese Erkenntnis aber gebieterisch aufdrängt, ist eine Stellungnahme der Theologie zu derselben gar nicht zu v e r m e i d e n . Dieser Aufgabe entzieht sich daher Herr Professor Zöckler ebensowenig, wie ich. Zu meinem Bedauern urteilt er jedoch in seiner Rezension, dass mein „Christus- und Erlösungsbegriff d i e G o t t h e i t Christi f a k t i s c h beseitige 1 -' 2 ) (a. a. 0. S. 3G3). Diese Verkennung meiner Anschauung mag zum Teil dadurch veranlasst sein, dass ich dieselbe an jener Stelle vorwiegend kritisch zu begrenzen, aber ihren vollen religiösen Gehalt nicht zu entwickeln hatte; dass ich sie ferner nur isoliert und mit einigen skizzierenden Strichen darlegen konnte. Doch hatte ich gehofft, er würde sich aus meinem Aufsatz „Die Sündlosigkeit Jesu Christi", wclcher in seiner Zeitschrift „Beweis des Glaubens" Dezember 1895 erschienen war, ein richtigeres Urteil über meine Richtung haben bilden können. Wie dem auch sei, so werde ich, um jedem Missverständnisse vorzubeugen, nicht verfehlen, hier sogleich mit einigen Hauptztigen meinen Standpunkt in christologischer und soteriologischer Hinsicht darzustellen. Dazu dürfte uns die Prüfung der Anschauung Zöcklers selbst über Jesu Gottmenschheit in ihrem Verhältnis zu seiner Irrtumsfähigkeit den besten Weg bahnen. Nach D. Zöckler „involvierte Jesu absolute treue Zeugenschaft . . . als des Messias und neutestamentlichen Bundesmittlers" keine „bis auf die geringfügigsten Dinge sich erstreckende Irrtumslosigkeit." „Unserem Bekenntnis zu dem, der wahrer Gott und auch wahrer Mensch war, *) Vergl. den 2. Abschnitt der Broschüre „Die Unwesentlichkeit der Irrtümer Jesu für den christlichen Glauben". 2 ) Von mir unterstrichen.



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würden wir bei solcher Annahme nicht gerecht. Ein nie nnd nirgends, auch nicht im Kleinsten sich irrendes Verhalten des Menschen Jesus w ü r d e g l e i c h b e d e u t e n d s e i n mit unbes c h r ä n k t e r A l l w i s s e n h e i t , also mit einer (gleich Allmacht und Allgegenwart) zu den absoluten Wesensbestimmtheiten Gottes gehörigen Eigenschaft, wie sie der Gottmensch während der Tage seines Fleisches . . . nicht bethätigt hat." *) Mit diesen Ausführungen Zöcklers bin ich sonst einverstanden. Nur durfte er, von seinem Standpunkt aus, nicht schliessen „nicht bethätigt hat", sondern musste schliessen „nicht b e s e s s e n hat". Denn wenn ein „auch nicht im Kleinsten sich irrendes Verhalten des MenschenJesus",. gleichbedeutend" „sein würde" „mit unbeschränkter Allwissenheit" und die „Annahme" einer solchen „absoluten Wesensbestimmtheit Gottes" ihm, sofern er „wahrer Mensch war", nicht „gerecht" wird, so kann er die Allwissenheit nicht nur nicht b e t h ä t i g t , sondern muss sie danach nicht b e s e s s e n haben. Dennoch fährt Zöckler leider, in direktem Widerspruch mit diesem zwingenden Ergebnis seiner eigenen Folgerung, u n m i t t e l b a r mit folgenden Worten fort: „Im B e s i t z einer a l l e s w i s s e n d e n und alles könnenden göttlichen H o h e i t mag der für die Dauer seines Erdenlebens freiwillig erniedrigte und um unseretwillen „arm gewordene" ewige Gottessohn immerhin v e r b l i e b e n sein";2) nur ihres G e b r a u c h s habe er sich während dem jedenfalls enthalten. Zöckler selbst zitiert sogleich nach den angeführten Worten die Stelle Mr. 13, 32, wo Jesus sagt, dass auch der Sohn von Tag oder Stunde seiner Wiederkunft n i c h t w i s s e . Dies ist ihm also nur ein Beleg dafür, dass Jesus sich des Gebrauchs seiner Allwissenheit enthalten habe. Sehen wir davon ab, dass Jesus sich selber nach der Schrift einfach für nicht-allwissend erklärt — was soll man sich bei solchem Sich-enthalten des allwissenden Jesus vom Gebrauch dieser seiner Allwissenheit denken? Was soll man sich in concreto dabei vorstellen, dass er als Allwissender z. B. den Termin seiner Wiederkunft wusste, sich aber in bezug auf diesen selben Termin des Geb r a u c h s seines Wissens enthielt? Es ist psychologisch denkbar, ') EvangeJ. Kirchenztg. No. 30. ) Die Unterstreichung unter den Worten „einer alles wissenden . . . Hoheit" und „verblieben" rührt von mir her. s



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dass jemand sich einer ihm thatsächlich innewohnenden A l l m a c h t in seinen H a n d l u n g e n nicht bedient; aber dass er einer ihm thatsächlich innewohnenden A l l w i s s e n h e i t in seinen V o r s t e l l u n g e n sich nicht bediente, hat keinen vernünftigen Sinn. Denn der Begriff einer u n b e w u s s t e n A l l w i s s e n h e i t hebt sieh selbst auf. Und Jesus kann sich doch nicht etwa, t r o t z b e s s e r e n W i s s e n s , den anderen als einen I r r e n d e n gezeigt haben? Auch passen alle späteren eigenen Belege Zöcklers nur darauf, dass Jesus, eben als wahrer Mensch, w i r k l i c h ein Lernender und Suchender war, und daher in kleinen Dingen w i r k l i c h irrtumsfähig gewesen ist; wie ja andrerseits Zöckler selbst ausdrücklich zugiebt. Aber keineswegs stimmt dazu seine a n d r e Behauptung, dass Jesus „immerhin die Allwissenheit b e s e s s e n " , sich aber ihres G e b r a u c h s „während der Tage seines Fleisches" e n t h a l t e n habe. .,Mit dem echt menschlichen Leben und Verhalten des Gottes- und Mariensohnes, wie es unsere Evangelien schildern, verträgt sich einzig und allein" nicht ein „wirkliches Siche n t h a l t e n des G e b r a u c h s jener göttlichen Attribute" (Allmacht, Allwissenheit u. s-w) 1 ), sondern das wirkliche F e h l e n derselben. Fragen wir uns nun, woher diese Unsicherheit. Zöcklers in Bezug auf Jesu Verhältnis zur Allwissenheit stamme, so dürfte uns dies zu der Einsicht führen, dass sich, angesichts der Irrtumsfähigkeit Jesu, weder die Anselm'sche Christologie, noch seine Soteriologie mehr in a l t e r F o r m halten lässt, dass wir vielmehr zum Geist des biblischen und evangelischen Christentums mit vollem Bewusstsein zurückkehren müssen. Wer den geschichtlichen Christus völlig mit Gott gleichsetzt, für den ist es, wenn er folgerichtig denkt, einfach n o t w e n d i g , ihm auch den B e s i t z der A l l w i s s e n h e i t zuzuschreiben. Denn Gott im absoluten Sinne, in welchem er von nichts ausser sich selbst, alles andre ausser ihm aber von ihm abhängt, ist ohne Allwissenheit überhaupt nicht denkbar; geschweige dass er irren könnte. Wer Christo also die Allwissenheit nicht zuschreibt, der spricht ihm damit in d i e s e m (eminenten) Sinne auch die volle Gottgleichheit ab. Es ist daher wohl zu verstehen, wie Herr Pastor Hoffmann-Rathmannsdorff auf der Gnadauer Konferenz Christo ') Die Unterstreichung von „Sich-enthalten" stammt von mir.



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wenigstens von der Taufe an die Allwissenheit vorbehalten wollte. Indessen machte man ihn darauf aufmerksam, dem widerstreite „Jesu eigne Erklärung bezüglich seines Nichtwissens des Gerichts".1) Beständen wir aber andrerseits auf J e s u A l l w i s s e n h e i t während der Tage seines Fleischcs, dann würden wir in der Konsequenz nicht nur eine blosse Scheinmenschheit, einen verkleideten Gott, ein Gottes unwürdiges Schauspiel erhalten, sondern mit Jesu wahrer Menschheit zugleich seine H e i l a n d s s t e l l u n g a u f h e b e n , also gerade das verlieren, was wir festzuhalten begehren. Aus diesem Grunde also müssen wir, wenn wir Jesu Erl ö s e r a m t nicht darangeben wollen, mit seiner wahren Menschheit Ernst machen. Denn bei aller Achtung, die man den Gedankenbildeu menschlicher Frömmigkeit und Theologie früherer Jahrhunderte zu zollen hat, würde es einen Abfall von dem formalen Prinzip der Reformation bedeuten, wenn man damit glaubte, solche T h a t s a c h e n vernichten zu können, welche sich auf dem Grunde der einzigen Quelle und Norm des Christentums für das Wesen Christi ergeben. Stellt sich vielmehr für die gläubige Bibelforschnng heraus, dass Jesus in manchen heilsunwesentlichen Dingen geirrt hat, so muss man die Gedankenformen für seine G o t t h e i t so fassen, dass sie mit dieser Thatsache nicht in direkten Widerspruch treten. Es hilft uns Evangelischen nichts: wir müssen zur B i b e l zurück, die weder von einem allwissenden geschichtlichen Jesus, noch von der Zweinaturenlehre in kirchlicher Fassung etwas weiss. „Das ist aber das ewige Leben," so spricht Christus selbst in dem herrlichen hohenpriesterlichen Gebete zu seinem Vater, „dass sie dich als den alleinigen wahren Gott, und den du gesandt hast, Jesum als den Christus, erkennen" (Joh. 17, 3). Wer mag nun Christo selber widersprechen, der seinen Vater ausdrücklich als den „alleinigen wahren Gott" bezeichnet und sich selbst als den von ihm gesandten Christus! Und Paulus sagt von dem Auferstandenen: „Wenn ihm aber (Christo) alles unterworfen sein wird, dann wird sich auch der Sohn demjenigen unterwerfen, welcher ihm alles unterworfen hat, damit *) 1. Beilage zu No. 491 der neuen preussischen Kreuzztg. 18. Okt. 1896.

Berlin,



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„der" Gott (6 fteds) alles in allem sei" (1 Cor. 15, 28). Dies ist jene Stelle, auf grund deren es heutzutage jedem unbefangenen Evangelischen schwer, j a unmöglich wird, die Unterordnung (Subordination) des Sohnes unter den Vater als echt biblisch und paulinisch zu verkennen. Im ersten Briefe an den Timotheus aber heisst es wörtlich: „Denn ein einziger (eti, subj.) ist Gott und ein einziger auch M i t t l e r zwischen Gott und den Menschen, nämlich der Mensch Christus Jesus" (1 Tim. 2, 5). Diese Beweisstellen mögen hier genügen. So lehrt uns das neue Testament mit lauter Stimme, aus Jesu eignem Munde, dass Gott der Vater als der alleinige wahre Gott im v o l l s t e n S i n n e , der Urheber auch des Heils, ist. Zu ihm b e t e t daher auch der Sohn, wahrlich nicht zum Schein, sondern in Wahrheit (Mr. 14,36, vgl. Joh. Kap. 17), und noch der Auferstandene bezeichnet ihn als Diese Thatsachen lassen sich „ s e i n e n G o t t " (Joh. 2 0 , 17). nicht aus der Bibel schaffen, und nicht die Bibel hat sich nach der Zweinaturenlehre der Kirche, sondern die Kirchenlehre nach der Bibel zu richten. Wenn übrigens auch schliesslich die Athanasianische Formel der „Wesensgleichheit" Jesu Christi mit Gott für „kirchlich" erklärt worden ist, so hat die Kirche doch andrerseits die G l e i c h s e t z u n g von Vater und Sohn im Streite gegen den Theopaschitismus und Patripassianismus für k e t z e r i s c h erklärt. Dass die B i b e l jene volle Gleichsetzung Christi mit Gott n i c h t lehre, ersahen wir soeben zur Genüge. Ist doch auch die volle „Gleichheit", wenn man es genau nimmt, nur als „ I d e n t i t ä t " denkbar. Darauf kommt denn auch die Zweinaturenlehre, wenn man ihre Konsequenz nach der einen Seite zieht, hinaus. Wie sollen sich aber zwei P e r s o n e n völlig g l e i c h sein, von denen die eine die U r s a c h e , bez. der U r h e b e r der andern ist. Die Ursache ist a l s solche notwendig dem Verursachten übergeordnet. Und doch macht das Verursachtsein den spezifischen Unterschied des Sohnes vom Vater aus. Eben dies schliesst also ein B e d i n g t sein durch die a b s o l u t e Persönlichkeit ein, somit die absolute Unbedingtheit des Sohnes aus. Und wiederum: wenn man alle Unterschiede aufhebt, so fallen Vater und Sohn zur I d e n t i t ä t zusammen. Wie soll nun aber der V a t e r mit dem Sohne identisch sein!



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Neben Gott, als dem alleinigen U r h e b e r des Heils, ist aber Jesus Christus

der

den Menschen.

alleinige

Mittler

zwischen

Dies gerade bestimmt

Gott

und

seine Heilandsstellung

und ist selbst der Ausdruck seiner r i c h t i g verstandenen G o t t heit.

Ich habe in meiner Broschüre,

gegenüber der Folgerung,

dass Christus in vollem Sinne d e r W e s e n s i d e n t i t ä t G o t t sein müsse,

um unser Erlöser sein zu können,

gehoben,

dass diese nur richtig wäre,

der Erlösung sein müsste;

ausdrücklich hervor-

wenn Christus U r h e b e r

dies sei aber nach biblischer Lehre

anerkanntermassen Gott der V a t e r .

„Christus dagegen ist viel-

mehr der M i t t l e r der Erlösung (1 Tim. 2, 5 ; 1 Cor. 8, 6. 11, 3. Ephes. 4, 5 f.

Col. 1, 1 3 ; 1 Tim. 1, 1.

die

durch

Menschen

Tit. 3, 4).

ihn (2 Cor. 5, 1 8 — 2 0 ) "

(II).

Gott erlöst Ich

kann

dalier hier nur wiederholen, dass diese Mittlerschaft Christi, vor allem unter dem Namen des Messias und Gottessohnes, die durchgehende Anschauung des neuen Testaments darstellt, und betone zugleich,

dass sie keineswegs durch die ebenfalls aus der Bibel

nachzuweisende Thatsache der Irrtumsfähigkeit 1 ) angetastet wird; wie dies bei der Zweinaturenlehre und einer einseitigen, nach

der Bibel,

sondern

nicht

nach Anselm gebildeten Versöhnungs-

lehre allerdings der Fall ist. Ich füge hier nun noch mit einigen Worten hinzu, in welchem Sinne die „Gottheit" Christi nicht nur festzuhalten, sondern als die n o t w e n d i g e V o r b e d i n g u n g seiner richtig aufgefassten Mittlerschaft, somit auch der Erlösung durch ihn, a n z u e r k e n n e n ist. Die Bibel nennt Christum zwar nirgends „der Gott" (& Oso;, subj.), wie den Vater;

wohl aber

(Prädikatsbegriff).

Ist die Vor-

stellung nicht biblisch, dass Christus i d e n t i s c h mit Gott sei, so ist er d o c h G o t t v o n A r t , S t e l l u n g , W ü r d e .

Als dem a l l e i -

n i g e n Mittler zwischen Gott und den Menschen kommt ihm die v o l l k o m m e n e Stellvertretung Gottes zu. Christus ist somit G o t t , Gottes Statt dasteht.

insofern

und weil er v ö l l i g

an

E r wirkt als Gottes Gesandter (Joh. 17, 3),

in Gottes Auftrag, Vollmacht und Macht das Heil der Menschen. Wenn aber sonst der Sendende und der Gesandte, genau genommen, an Funktion und W ü r d e auseinander fällt, so ist das ') Zum Beweise vergi. § 7 d i e s e r Schrift.



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bei Christo nicht der Fall. Denn Gott selbst w a r in Christo und Christus in ihm. Und dieses Mit- und Ineinander ist ein so völliges, wie es dem blossen Menschen auf ewig unzugänglich ist und menschliches Fassungsvermögen übersteigt. Ein entsprechender Name für diese Wesens-, Willens- und Wirkensgemeinschaft ist höchstens in der Gottessohnschaft zu finden, wenngleich ihre Innigkeit selbst diese Benennung weit überragt. So versöhnte der Vater in dem Sohne und durch den Sohn die Welt mit sich selber (2. Cor. 5, 19). Jene Einheit Christi mit Gott bethätigt sich zunächst als eine sittlich-religiöse. Denn wir haben hier j a ein Verhältnis von P e r s o n zu P e r s o n im höchsten Sinne. Als die sittlich-religiös vollkommene Gemeinschaft Jesu mit Gott schliesst sie natürlich die Sündl o s i g k e i t ein. Eben als solche setzt sie a b e r n o t w e n d i g a u c h eine i n n i g s t e m e t a p h y s i s c h e W e s e n s g e m e i n s c h a f t v o r a u s , wclche allein diese vollkommene Beziehung und damit die Heilandsstcllung Jesu Christi ermöglicht. Die Siindlosigkcit, die von der Kirche durch die Lehre von der „ j u n g f r ä u l i c h e n G e b u r t " sichergestellt ist, fordert ihrerseits Jesu E m p f ä n g n i s vom h. Geiste, d. h. die vollkommene Erfüllung auch seines (metaphysischen) W e s e n s g r u n d e s mit dem Gottesgeiste von den ersten Anfängen seines menschlichen Werdens an. Jesus Christus ist Gott als Gottes Sohn, auch in dem Sinne, dass er aus Gott stammt. Diese göttliche Artung ist, wie gesagt, die Möglichkeitsbedingung seiner Erlöserstellung. Denn wahrlich kein blosser Mensch kann den andern erlösen! Welche ungeheure Anmassung würde darin liegen, wenn du oder ich heute auftreten wollte mit dem Anspruch, Heilsmittler der Welt zu sein. Wir würden einen solchen Menschen unweigerlich für wahnbefangen halten. Dieses Erlöserbewusstsein hat der Herr aber unfraglich besessen, diesen Anspruch hat er zweifellos gemacht. So müssen wir denn in ihm den G o t t m e n s c h e n vom Himmel erkennen, welcher der gesamten Menschheit gegenübersteht als der aus des ewigen Vaters Schosse, aus seinem g ö t t l i c h e n W e s e n s g r u n d e h e r v o r g e g a n g e n e Gottessohn. Wenn auch geschichtlich in den Zusammenhang des Menschengeschlechts eingetreten und ein Glied desselben geworden, steht er doch zugleich in göttlicher Erhabenheit über demselben. Dem



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Leben der Menschheit immanent, ist seine Person zugleich über ihr t r a n s z e n d e n t , eben durch seinen Ursprung aus dem Gottesgeist, welcher, in seiner Fülle ohne Mass, ihre Tiefen durchdringt und durchwaltet (Joh. 3, 34). Dieser allein vermöchte ihn aus der Kontinuität der Menschheitssünde herauszuheben und von Anfang an seine menschliche Natur, wenn sie auch der Entwicklung bedürftig war, von allen bösen Neigungen rein darzustellen. So macht denn Christum auch nicht seine Sündlosigkeit an 6ich, sondern die sie erzeugende G ö t t l i c h k e i t s e i n e r P e r s o n zum v o l l k o m m e n e n H e i l s m i t t l e r . "Wir alle hoffen j a dereinst mittelst der Verklärung sündlos zu werden. Würde uns das aber an sich schon befähigen, die Heilandsstellung einzunehmen? Dies könnte wiederum nur der Grössenwahn behaupten. So bedeutet uns diese u r a n f ä n g l i c h e H e i l i g k e i t des Lebens Christi: Wirkung und Kennzeichnen der w e s e n t l i c h e n G ö t t l i c h k e i t unsres im höchsten Sinne aus Gott gezeugten Heilands. In diesem wunderbaren Gottmenschen, durch welchen Gott die Menschen erlöst hat, besitzt er demnach überhaupt das e i n z i g e und v o l l k o m m e n e O r g a n seiner a d ä q u a t e n E r s c h e i n u n g und O f f e n b a r u n g an die Menschen. In ihm ist die Ahnung des Maleachi von dem Engel des Bundes über menschliches Verstehen erfüllt (Matth. 11, 10). 1 ) Denn Gott wohnt in ihm in einem weit höheren Sinne als in dem „Engel Gottes" (Maleach Jahve) des alten Bundes, obwohl selbst dieser schon ununterschiedlich mit dem N a m e n G o t t e s genannt wird. Weil sich nun allein in Christo der persönliche lebendige und ewige G o t t s e l b e r in M e n s c h e n g e s t a l t d a r s t e l l t , beten wir in d e m e i n g e b o r e n e n S o h n , als in dem Abglanze seiner Herrlichkeit und dem Abdrucke seines Wesens (Hebr. 1, 3. vgl. I, S. 89), in alle Ewigkeit G o t t d e n V a t e r s e l b e r an. W o Jesus Christus ist, ist Gott, und wer ihn sieht, der sieht den Vater. Und wer den Sohn nicht kennt, der kennt auch den Vater nicht. In diesem b i b l i s c h e n Sinne bekennen auch wir mit der Gesamtkirche d i e w a h r e G o t t h e i t unsres Herrn und Heilandes Jesu Christi. Nirgends ausser in ihm ist die Fülle der Gottheit leibhaftig. In ihm allein ergreifen wir ohne ihn verlorenen Sünder unsern Herrn und ') Vergl. IV, 149 f.



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unsern Gott. — Unsre Formel für die

Gottheit

Christi ist aber

nioht C h r i s t u s = G o t t , sondern Gott in Christo (im eminenten Sinn. 2 . Cor. 5, 19, Joh. 10, 38 u. sonst); nicht volle W e s e n s i d e n t i t ä t , aber v o l l e

Wesensgemeinschaft.

Jesus Christus b e t h ä t i g t diese seine Gottheit demnach dadurch, dass er an Gottes Statt und als Gottes völliger Vertreter unser Heil schafft, durchführt und erhält; indem er nicht nur in seinem Worte, sondern in seinem L e b e n das tiefste W e s e n und den vollkommenen

Heilswillen

den Menschen insonderheit vollen Zugang zum Vater

Gottes

offenbart;

indem

er

durch sein Leiden und seinen T o d und die Vergebung ihrer Sünden er-

wirkt, und indem er, auf grund seiner sühnenden Selbstopferung und seiner Ausreifung zum vollendeten Gottessohne 1 ) und ewigen Heilsmittler, Gottes Geist, als s e i n e n e i g e n e n Geist (2. Cor. 3 , 1 7 ) , in die Herzen herniedersendet und durch ihn die Gemeinde seiner Gläubigen Christus

regiert.

So hat

die Versöhnung

Gott

in dem

vollbracht,

geschichtlichen

Jesus

und der an die Seite der

göttlichen Allmacht erhobene hochgelobte

übergeschichtliche

Heiland, in welchem allein Gott uns in alle Ewigkeit erscheint, schafft vom Himmel her seines Reiches Vollendung. Damit ist schon der Zusammenhang der Christologie mit der Soteriologie angegeben.

Selbstverständlich fällt es mir nicht ein,

den ewig wertvollen Heilsgehalt der V e r s ö h n u n g s l e h r e preiszugeben.

Auch

ich weiss mich mit Gott versöhnt allein durch

den für unsre Sünden gestorbenen und um unserer Gerechtigkeit willen auferstandenen Heiland.

Ich

nehme

eine Stellvertretung

Christi nicht bloss im Sinne des „für uns" (u-ep), sondern auch des „an unserer Statt" (dvti) an.

Wenn man demnach unter dem

Ausdruck der sühnenden „ S t e l l v e r t r e t u n g " versteht, dass Gott seinen eingeborenen Sohn nach und Tod

dahingegeben

dessen eigenem Willen in L e i d

(Joh. 3, 16. 1 0 , 1 8 ) ,

um uns von dem

ewigen Tode zu befreien, so ist dies auch m e i n e Anschauung. Und wenn man mit Christi „ S t r a f l e i d e n " sagen will: Gott hat durch diese Hingahe des sündlosen Gottessohnes in Leiden und Tod für uns die Strafe, uns als Sündern zukommt,

welche aus unsrer Sünde abfolgt und objektiv

und abschliesslich von uns

') Von Anfang an Gottes Sohn, war er doch nicht von Anfang an a u s g e r e i f t e r Gottessohn.

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abgewendet (Gal. 3, 13; 2. Cor. 5, 21; Rom. 3, 25), so erkenne auch ich in d i e s e m Sinne eine Strafstellvertretung als biblisch fundamentiert an. Was aber für uns S t r a f e sein mttsste, war es für Christus o b j e k t i v nicht. Wohl hat er in voller Liebeshingabe an unsrer Sünde w i e an e i g e n e r gelitten, sie sich in diesem Sinne selbst innerlich zugeeignet und sie fürbittend und sühneschaffend aus dem Mittel gethan. Aber nichtsdestoweniger f e h l t e ihm thatsächlich die e i g n e p e r s ö n l i c h e S ü n d e und S c h u l d . Schon aus diesem Grunde geht es nicht an, dass unsre Sünde und Schuld ä u s s e r l i c h j u r i d i s c h auf Christum ü b e r t r a g e n worden wäre, und dass Gott a u f g r u n d d i e s e r äusseren Ü b e r t r a g u n g , den Menschen ihre Sünden vergäbe. Uberhaupt hat es keinen zu rechtfertigenden Sinn: s i t t l i c h e Beziehungen rein ä u s s e r l i c h zu ü b e r t r a g e n , und ist jedenfalls weder im Geiste Christi noch der Apostel noch auch des Paulus, sondern der R a b b i n e n . Auch steht es mit dem „Vaterwesen" Gottes und der Sittlichkeit in Widerspruch (vgl. II, 75). Dieselbe, von manchen in befremdlicher Weise missverstandene Auffassung hatte ich bereits in II angedeutet. Ich sagte dort in bezug auf den Kern der sühnenden Stellvertretung: „Der grösste Rabbine seiner Zeit 1 ) „halte nur die rabbinische F o r m fest", erfülle sie indess mit dem „ n e u e n H e i l s g e h a l t e . Denn hier ist überall im tiefsten Grunde keine b l o s s ä u s s e r l i c h e Strafstellvertretung im rabbinischen Sinne gemeint, sondern dass die Sünder erst durch Christi zu ihrem Heile erlittenen Tod von der Schuld und Strafe der Sünde befreit werden, welche sie nach dem Massstabe der göttlichen Gerechtigkeit verdient hatten (Rom. 6, 23; 3, 25. 26), und dass so für sie die wahrhaftige, d h. erfolgreiche Vergebung ermöglicht und verbürgt wird. In allen solchen Stellen hat doch der g e d i e g e n e H e i l s i n h a l t im w e s e n t l i c h e n s e i n e Form d u r c h d r u n g e n : durch Christi Tod wird für die Gläubigen Vergebung und Heil verbürgt, versiegelt und v e r w i r k l i c h t " (S. 72) 2 ). ') Dass ich Paulus nicht nur als den grössten Rabbinen, sondern als den g e i s t - e r l e u c h t e t e n Apostel Jesu Christi anerkenne, sollte ich kaum besonders zu bemerken brauchen. Vergl. aber Luthardt, Theol. Litt.-Bl. 1896, Sp. 257 f. -) Die Unterstreichungen jetzt hinzugefügt.



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So viel ist wohl, wie ich hoffe, aus diesen kurzen Andeutungen ersichtlich, wie wenig Zöcklers Vorwurf begründet ist, dass mein Christus- und Erlösungsbegriff faktisch die Gottheit Christi beseitige. Während die a b s t r a k t e I d e n t i f i z i e r u n g Christi mit Gott, unbiblisch wie sie ist, Gott dem Vater die Urheberschaft des Heils raubt, Jesu wahre Menschheit verschlingt und seine Heilandsstellung vernichtet, wahrt die biblisch begründete Anerkennung Jesu als des göttlichen Heilsmittlers zugleich die w a h r e Menschh e i t Christi. Daher lässt sie sich auch sehr wohl mit einer Irrtumsfähigkeit Jesu in heilsunwesentlichen Dingen vereinigen. Aber sie ficht auch den biblischen religiösen Kern des Glaubens an die Gottheit Christi, wie sie allein seine Heilandsstellung ermöglicht, nicht an. Wer jedoch an jener, ihren eignen Zweck verfehlenden Identifizierung festhält, wird der Bibel selbst widersprechen müssen. Denn er wird es folgerichtig nicht zugeben dürfen, dass Jesus wirklich irrtumsfähig war, — j a nicht einmal, dass er die eigenen Schranken seines Wissens bekannte. Doch verzichte ich hier darauf, noch näher auf die Bestimmung des göttlichen Wesens Christi einzugehen. Jedenfalls verschlägt es wenig flir unser Heil, ob wir in betreff der w e i t e r e n A u s f ü h r u n g des Heilsgehaltes unvollkommenere oder vollkommene Vorstellungen haben. Bei jedem Unternehmen, das Verhältnis Gottes zu Christo, zumal absehend von seiner geschichtlichen Erscheinung, genauer auszudenken, müssen wir uns bewusst bleiben, dass wir gar nicht imstande sind, mit unserem menschlichen Denken das Überweltliche vollkommen zu erreichen oder mit unserer Sprache zu beschreiben. Dennoch ehren wir pietätvoll die Versuche der Väter, das Verhältnis des Göttlichen zum Menschlichen in dem Erlöser in den Formen der Z w e i n a t u r e n l e h r e zu erfassen. Denn wir erkennen darin zustimmend das r e l i g i ö s e Motiv an, Jesum aus der blossen Menschheit an Gottes Seite und Gottes Statt emporgehoben zu sehen, und das Bemühen, die Bedingungen vorstellig zu machen, unter denen allein Gott in Christo sich offenbaren und die Welt retten konnte. 1 ) *) So darf ich die Beschuldigung des Rezensenten S. B. = E. im theologischen Litteraturbericht 1896, S. 294 f., mit Gelassenheit zurückweisen, als verwendete ich „das Mangelhafte, welches jeder Dogmen-

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Da wir indessen heutzutage noch klarer als zur Zeit der ökumenischen Konzilien die Unzulänglichkeit unsres Denkens und unsrer Sprache für ewige Dinge einsehen, so werden wir schwerlich die genauere Ausführung eines derartigen transzendenten Gedankenganzen in gleicher Weise als unentbehrlich für unsern Glauben ansehen, wie frühere Geschlechter. Haben wir doch durch die Reformation wieder gelernt, den Glauben nicht mehr unlöslich mit einem Fürwahrhalten von Gedanken zu verknüpfen, welche nicht das Heil selbst, sondern die üb er geschichtlichen Bedingungen seiner g e s c h i c h t l i c h e n Verwirklichung betreffen. Denn der christliche Glaube bedeutet ein u n m i t t e l b a r e s Verhältnis zum persönlichen Gott in der Person unsres Heilandes. Wenn nun aber unsere Gedankenformen niemals das Ewige völlig decken können, sollten wir dann nicht eben jene ehrwürdigen Versuche einfach hinnehmen mit dein Bewusstsein, dass sie den wahren Gehalt mit den Mitteln ihrer Zeit, wenn nicht fehllos bestimmt, so doch ausreichend umschrieben haben? Gewiss! Wir mögen sie beibehalten! Nur mit einer Einschränkung: so weit sie nämlich nicht direkte W i d e r s p r ü c h e enthalten. Wenn diese den früheren Zeiten weniger zum Bewusstsein kamen, so sagten ihnen eben deshalb jene Formen mehr zu, als dies für denkende Christen unserer Tage möglich ist. Ich will hier von der Versöhnungslehre absehen. Vielleicht bietet sich eine andre Gelegenheit zu ihrer eingehenderen Erörterung. In der Naturenlehre aber liegen dergleichen Widersprüche auch für den weniger Scharfsichtigen offen genug zu Tage. Gerade ihre Ausdrücke für diejenigen Begriffe, um welche sich alles dreht, nämlich: „Natur, Hypostase" u.s.w., bekanntlich von Hause aus Schöpfungen h e i d n i s c h e r Philosophie, sind schon bildung anhaftet, zu einem grundstürzenden Widerspruch gegen den ewigen und göttlichen Wahrheitsgehalt." Um zu beweisen, dass der vorurteilslose Leser meiner Broschüre sehr wohl die durchaus positive Grundrichtung meiner Anschauung über das Verhältnis der Gottheit und Menschheit in Christo zu erkennen vermag, setze ich als Gegenstück .eine Stelle einer amerikanischen Beurteilung derselben Schrift wörtlich hierher: "That Jesus could err, does not disprove that he was at the same time God and the son of God. Thus the errors of Jesus are unessential in Christian belief". K. (The Monist, Vol. 6 No. 3, April 1896, S. 465.)



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wegen ihres in den verschiedensten Bedeutungen schillernden Sinnes keineswegs zur d a u e r n d e n Festlegung geeignet. Da dies jedoch jedem, der es wissen will, bekannt sein dürfte, unterlasse ich es, hier näher darauf einzugehen. Nur das Wesentlichste hierüber will ich aus meiner Broschüre kurz wiederholen. Jene Formel, von welcher in solcher Gestalt kein Wort in der Bibel steht, dass nämlich in Christo eine göttliche „Natur"1) mit einer menschlichen „Natur" sich vereinigt habe, enthält, wie gesagt, einen unleugbaren S e b s t w i d e r s p r u c h . Was für Wirklichkeiten in einer jenseitigen Welt möglich sind, davon wissen wir zwar nichts, können daher Aussagen über dergleichen nicht o h n e w e i t e r e s bestreiten. Dass aber vier nicht fünf ist und ein hölzernes Eisen einen Widerspruch in sich selbst einschliesst, das dürfen wir trotzdem kühnlich behaupten. Auch ich glaube an eine wunderbare Vereinigung Gottes mit dem Menschen Christus, deren Geheimniss unser Begreifen übersteigt; wodurch er eben zum G o t t m e n s c h e n wird. Nur das eine ist zu fordern: Dass, wenn man dieses Geheimnis durch die Vereinigung einer göttlichen und menschlichen „ N a t u r " in Christo denkend zu erfassen und darzustellen versucht, man mit dem Begriff „Natur" kein Spiel treibe, sondern ihn auch in seinem wirklichen Sinne nehme, ohne welchen er nicht ist, was er ist. Nun giebt es keine Natur, die nicht die Natur j e m a n d e s oder eines Dinges wäre. Wenn niemand wagen wird, das Gegenteil zu behaupten, so nehme man auch den zwingenden Schluss in den Kauf. Dann ist eine göttliche N a t u r nicht ohne die göttliche P e r s ö n l i c h k e i t denkbar, an w e l c h e r s i e h a f t e t , und die m e n s c h l i c h e N a t u r hatohneeine entsprechende menschlichePersönlichkeitals ihren Träger überhaupt k e i n e M ö g l i c h k e i t d e s D a s e i n s . Denn zur menschlichen „Natur" gehört nicht etwa bloss menschliches F l e i s c h , sondern vor allen Dingen die menschliche, d. h. z u r P e r s ö n l i c h k e i t a n g e l e g t e S e e l e . So ergiebt die Vereinigung einer göttlichen mit einer menschlichen Natur unwidersprechlich z w e i I c h e in demselben Christus, d. h. eine Doppelpersönlichkeit. Es

ist

dies

nichts

weiter

als

die

Anwendung

einer

') Man müsste eigentlich genauer sagen „eine gottheitliche"; doch will ich den üblichen Ausdruck beibehalten.



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logischen Erkenntnis, welche keiner so klar als Lotze ausgesprochen hat, und womit scholastischen und mythologischen Erschleichungen und Hypostasierungen auf den verschiedensten Gebieten ein jähes Ende bereitet wird. Hat man sich einmal klar gemacht, dass es keine Eigenschaft giebt ohne einen Träger derselben, keine Vorstellung ohne jemanden, der sie hat, keinen Schmerz ohne einen, der ihn flihlt, keine Bewegung ohne etwas, das bewegt wird, dann sieht man auch ein, dass eine göttliche Natur, als ablösbar von Gott gedacht, überhaupt sinnlos ist. Hier ist der Punkt, auf den es ankommt. Wenn die Verteidiger der Zweinaturenlehre diesen Satz nicht widerlegen können, so werden sie ihren Standpunkt aufgeben müssen. Ich bin weit davon entfernt zu verkennen, dass gerade in dem zentralen Gotteswunder der Vereinigung des Göttlichen und Menschlichen in Christo die Begründung unsres Heiles ruht. Auch ist a n sich gegen den Versuch nichts einzuwenden, diese Verbindung sich durch den Begriff von zwei „Naturen" vorstellig zu machen. Nur finde ich bei schärferem Uberlegen, dass, wenn man eine göttliche und menschliche Natur in Christo zusammendenken soll, man dies nur so kann, dass mau in ihm ein göttliches und menschliches Ich vereinigt denkt; oder man denkt eben gar nichts. Denn es liegt in dem G e d a n k e n einer göttlichen und menschlichen Natur, dass darin das Personwesen beiderseits mitgedacht werde. Will man also zwei Iche in Christo nicht anerkennen, und das kann man doch nicht, sonst verliert man die einheitliche Person in ihm überhaupt, dann muss man einsehen, dass die Zweinaturenlehre eben deshalb einer klaren Auffassung des göttlichen Wesens Christi nicht mehr genügt. Mögen naiv Denkende sich trotzdem noch eine Zeit lang ihren lebendigen Glauben in dieser Formel zurechtlegen; ist der Widerspruch einmal erkannt, so wird sie dennoch in kürzerer oder längerer Zeit wegen dieses inneren Gebrechens aufgegeben werden. Hier wirft man nun immer wieder ein, die ewigen göttlichen Dinge seien über die Logik erhaben und überragten unser Denken. Die Sache selbst ist völlig richtig. Der Rationalismus hat sie verkannt; ich meinerseits leugne sie keineswegs. Deshalb erkenne ich voll Dank und Anbetung das Wunder der Person Jesu Christi selbst an, in welchem Gott das menschliche Wesen



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völlig und zentral durchdringt, obwohl ich dasselbe so wenig als ein anderer b e g r e i f e n kann. Wenn man dies aber gegen den nachgewiesenen Selbstwiderspruch der Zweinaturenlehre geltend machen will, so ist das nur eine Begriffsverwechslung. Das G ö t t l i c h e ist wohl über die Logik erhaben. Aber das m e n s c h l i c h e D e n k e n ü b e r d a s G ö t t l i c h e ist nicht über die Logik erhaben. Sofern man also Göttliches überhaupt d e n k t , kann man dies D e n k e n nur gemäss l o g i s c h e n G e s e t z e n bewirken. Oder man muss eben nicht denken, sondern schweigen. Und nun gar S e l b s t w i d e r s p r ü c h e sind nicht nur in Bezug auf weltliche, sondern auch in bezug auf überweltliche Wirklichkeiten u n m ö g l i c h . Sie bedeuten nicht nur für das Denken, sondern für j e g l i c h e s Sein überhaupt einen Fehler. Denn dies ist kein Sein, wenn es nicht ein so und so b e s t i m m t e s Sein ist. Auch drüben kann schwarz nicht weiss sein. Denn es ist nur i n s o f e r n schwarz, als es n i c h t weiss ist. Göttliche Natur ist nur d a d u r c h göttliche Natur, dass es die s p e z i f i s c h e n Merkmale derselben hat. Gäbe es Selbstwidersprüche in bezug auf ewige Dinge, dann könnte auch Gott zugleich n i c h t Gott sein, Ewigkeit zugleich n i c h t Ewigkeit, Gottes Sohn zugleich n i c h t Gottes Sohn: und nicht nur das Denken, sondern auch das Glauben wäre eitel und sinnlos (vgl. II, 45). Folgerichtiges wissenschaftliches Denken über den Glauben, d.h. Theologie, kann demnach nicht umhin, sich an die logischen Grundsätze der Identität und des Widerspruchs zu kehren. Findet sich folglich eine Heilsthatsache oder Heilsbeziehung so ausgedrückt, dass deren Fassung gegen jene Gesetze verstösst, dann muss sie die Unrichtigkeit derselben anerkennen und eine neue entsprechendere Bestimmung versuchen. So lange nun die Theologie besteht, wird sie sich dieses Denken über den Glauben nicht nehmen lassen. Oder hat nicht j e d e Zeit, eben so gut wie das 4. und 5. Jahrhundert, das Recht und die Pflicht, mit den gottgebenen Mitteln i h r e r Wissenschaft den ewig gleichen G e h a l t des Heilsglaubens, die wunderbare Thatsache der Rettung der Welt durch Christus, denkend aufzufassen und darzulegen? Soll allein die Theologie u n s r e s Jahrhunderts das von Gott in ihre Zeit gelegte Pfund vergraben?



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Womit anders als mit u n s e r n Denkformen können wir unserem Geschlechte das Evangelium wahrhaft nahe bringen und verständlich machen? Glauben wir Evangelischen an eine derartige Unfehlbarkeit von Konzilien und Symbolen, dass wir diese nicht immer wieder, nach dem lutherischen Massstabe, an Gründen der Schrift und der Vernunft zu prüfen hätten? Auch die Theologie unserer Tage soll vielmehr die göttliche Offenbarung immer klarer, reiner und tiefer zu erkennen streben. Je mehr die Wissenschaft des christlichen Glaubens indessen einsieht, dass sich die Offenbarung Gottes in Christo gerade in ihren tiefsten Beziehungen duroh reines Denken nur unvollkommen und annähernd erfassen lässt, desto mehr wird sie einerseits bemüht sein, ihren Gehalt im G l a u b e n ergreifen zu lehren, und wird sich andrerseits, vor allem im Hinblick auf ihren praktischen Dienst an der Gemeinde, möglichst an die Heilsgedanken und Ausdrücke der h. Schrift, zumal des neuen Testaments, halten, um auf grund dieser eben so einfältigen und keuschen, als höchsten und tiefsten heiligen Formen den Heilsgehalt zu einem einheitlichen Ganzen gläubigen Denkens zu verarbeiten. Auf keinen Fall jedoch darf sie, einem eignen oder überlieferten Schema zu Liebe, das theologische Denken einseitig und lückenhaft und in sich widersprechend machen oder belassen, — w e i l d a d u r c h der b i b l i s c h e G e h a l t sebst n o t w e n d i g verk ü r z t wird. 3. Zöcklers Definition des Irrens. Hätte ich in meiner Broschüre Anlass gehabt, die positive Richtung meines dogmatischen Standpunktes auch nur so ausdrücklich, wie ich es soeben gethan habe, hervorzuheben, so hätte vielleicht auch Herr Professor Zöckler, wie ich hoffe, der Christlichkeit desselben mehr Gerechtigkeit widerfahren lassen. Indessen liegt ein weitrer Grund seines Missverstehens meiner der seinigen gleichartigen Stellung auch in der Verschiedenheit unsrer A u f f a s s u n g des I r r e n s an sich. Ich werde daher nunmehr zunächst auf Zöcklers Definition des Irrens eingehen, welche er seinem Aufsatze „Zur Frage wegen des Irrenkönnens Jesu Christi" (a. a. 0.) voranschickt. Ich meinerseits habe die Begriffserklärung nicht an die Spitze



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meiner Broschüre gestellt. Einfach deswegen, weil es zu Anfang nur eine Nominaldefinition sein kann, welche die Sache bloss b e z e i c h n e t , aber nicht eigentlich b e g r ü n d e t . Denn eine R e a l definition, die allein ihren Begriff h i n r e i c h e n d festzustellen und seine Richtigkeit zu bewähren vermag, kann erst aus der gründlich durchgeführten Untersuchung s e l b s t erwachsen. Nun ersieht jeder Denkende schon aus meinem T i t e l unmissverständlich, um was es sieh handelt. Denn in der Frage: „Konnte Jesus irren?" kann das Irren, so ohne weiteren Zusatz, offenbar nur t h e o r e t i s c h , d. h. als ein unrichtiges D e n k e n verstanden werden. So war eine vorgängige N o m i n a l d e f i n i t i o n ü b e r f l ü s s i g . Eine gründliche Realdefinition von Dingen, welche das Ergebnis eines bestimmten Werdeganges sind, wird aber eine g e n e t i s c h e sein müssen. Sofern sich daher das Wesen des Irrtums am deutlichsten aus seiner seelischen Entstehung ergiebt, schloss sich eine solche Realdefinition desselben passend an denjenigen Punkt an, wo ich seinen E n t s t e h u n g s g r u n d im Seelenleben aufgezeigt hatte, um auf diesem Wege zugleich erkennen zu lassen, dass der theoretische Irrtum keineswegs n o t w e n d i g in p r a k t i s c h e n Irrungen, sondern vielfach rein im Wesen der menschlichen Seele und des menschlichen D e n k e n s a l s s o l c h e n seine Ursachen habe. Dagegen zog ich es bei dieser Sachlage vor, für den Beginn der Abhandlung sogleich die T h a t s a c h e der Irrtümer Jesu an einigen, ebenfalls unmissverständlich rein t h e o r e t i s c h e n , Beispielen in concreto nachzuweisen. Zöckler seinerseits schickt seine Definition, wie gesagt, voran. Und dies scheint der Präzision der Begriffserklärung leider nicht zum Vorteil gereicht zu haben. Er sagt hier wörtlich, wie folgt: „Unsre Sprache gebraucht das Wort „irren" bald in dem stärkeren Sinn des „Abgeirrtseins vom rechten Wege" oder „in der Irre Gehens", bald in dem leichteren des „irre Werdens", des Bedrohtseins von der Gefahr des Abirrens, des Straucheins in der richtigen Erkenntnis. Es verhält sich damit ganz wie mit der doppelten Bedeutung des sprachverwandten lateinischen errare, dem auch bald der Sinn des „Umherschweifens in der Irre" (vagari = vehementer errare, tota via errare), bald der des ersten Abkommens vom rechten Wege (labi, offendere) eignet. Jener stärkere oder gröbere Begriff des Irrens setzt, wo er mit Recht



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zur Anwendung gelangt, ein schon länger währendes Zerfallensein mit dem, was wahr und richtig, voraus; in der leichteren Bedeutung des Wortes liegt der Hinweis auf die naheliegende Möglichkeit einer Hebung oder Beseitigung des Irrtums. Dort handelt es sich um einen error difficulter sanabilis, einen Fall von ignorantia prope invincibilis; hier steht ein error levi cura sanabilis in Rede, der zu Grunde liegende Erkenntnismangel ist ignorantia vincibilis". Ich sehe von Kleinigkeiten ab, wie von der Ungenauigkeit, dass „ein B e d r o h t s e i n von der Gefahr des Abirrens" dem l e i c h t e r e n Irren gleichgesetzt wird, während es doch zunächst die Frage ist, ob sich jene Gefahr v e r w i r k l i c h t . Nur auf den Zug der Definition im G a n z e n wollen wir unsre Aufmerksamkeit richten. Zöckler unterscheidet eigentlich nur zwischen „stärkerem" und „leichterem" Irren; aber nicht hinreichend zwischen seiner e i g e n t l i c h e n und ü b e r t r a g e n e n Bedeutung; ferner zwischen seiner Verwendung im p r a k t i s c h - e t h i s c h e n gegenüber der im t h e o r e t i s c h e n Sinne. Dabei hat er sich, wie es scheint, durch die Herbeiziehung von vagari und labi zu gewissen untriftigen Analogieen bestimmen lassen. Bildet er doch den den Unterschied zwischen dem t h e o r e t i s c h e n „stärkeren" und „leichteren" „Irren" analog dem Bedeutungsunterschied jener dabei herangezogenen lateinischen Worte in ihrer e i g e n t l i c h e n Bedeutung, nämlich im Sinne eines länger währenden „in der Irregehens" (vagari) im Gegensatz zu einem augenblicklichen „Straucheln" oder „erstem Abkommen vom rechten Wege" (labi, offendere). Daher stellt sich ihm das leichtere in seinem Verhältnis zum schwereren Irren, s e i n e m W e s e n nach, als das B e t r e t e n eines Irrweges gegenüber seiner w e i t e r e n Verf o l g u n g dar. Infolgedessen nimmt er Merkmale, denen ihre Abstammung aus der e i g e n t l i c h e n Sphäre anzusehen ist, ohne s i e näher zu b e s t i m m e n , in die ü b e r t r a g e n e Bedeutung hinüber. So lässt er den gröberen theoretischen Irrtum u n e i n g e s c h r ä n k t „ein l ä n g e r w ä h r e n d e s Z e r f a l l e n s e i n mit dem, was wahr und richtig ist", „voraussetzen". Denn der in der Irre gehende (im eigentlichen Sinne) Wanderer muss ja freilich schon l ä n g e r e Z e i t vom rechten Wege a b g e i r r t sein. So fallt von vornherein auch auf jeden „gröberen" theoretischen Irrtum



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der Schein, als müsste derselbe n o t w e n d i g und in j e d e m F a l l e das E r g e b n i s e i n e s längeren intellektuellen, wohl gar sittlichen in der Irre G e h e n s sein. Und doch muss dies bis auf weitere Prüfung zunächst mindestens f r a g l i c h bleiben. Und zugleich wird für Zöckler auf diese Weise das Merkmal z e i t l i c h e r L ä n g e , weit über seine Berechtigung hinaus, zum Kennzeichen und Massstab für die s c h w e r e gegenüber der l e i c h t e n Beschaffenheit des t h e o r e t i s c h e n Irrens. Und doch trifft das rorgängige länger währende Zerfallensein mit der Wahrheit keineswegs auf jeden Irrtum zu, welchen Zöckler s e l b e r als s o h w e r e n auffasst. So erscheint ihm ein Irrtum Jesu, welchen ich in betreff derVerfasserschaft des 110. Psalms feststelle, als so ,.bedenklich", dass es „kaum gelingen" könne, „seinen irrelevanten, seiner Gottessohnschaft keinen Eintrag thuendenCharakter darzuthuu" (Evang.Kirchen-Ztg. a. a. 0 . No. 24, S.363). Und doch, wenn wir einmal annehmen wollen, dass Jesus hier geirrt hätte, so wäre dabei offensichtlich ein längeres Irregehen des Herrn auf einem falschen Wege nicht einmal in rein intellektueller Hinsicht die notwendige Voraussetzung dieses „groben Irrtums". Er lag vielmehr einfach in der Luft, weil das Volk, das Christum umgab, überhaupt nicht anders dachte, als dass David jenen Psalm gedichtet habe. So wurde jener Irrtum vom Herrn schon beim e r s t m a l i g e n ( y e r s t ä n d i g e n ) Hören ohne weiteres aufgenommen, ohne jede tiefer greifende Voraussetzung oder Konsequenz fllr sein geistiges, geschweige denn sittliches Leben. Und doch ist dieser Punkt von grösster Wichtigkeit. Denn wenn jeder „gröbere Irrtum" (in Zöcklers Sinne) ohne weiteres ein „länger währendes Zerfallensein" mit der W a h r h e i t voraussetzte, dann Hesse sich daraus ohne w e i t e r e s Kapital dafür schlagen, dass Jesus niemals einen solchen „groben Irrtum" hätte hegen können. Denn wer möchte ihm einen derartigen „Zerfall mit der Wahrheit" zuschreiben! Hieraus ergiebt sich demnach vielmehr, dass auch „gröbere Irrtümer" (fllr Zöcklers Standpunkt) t h e o r e t i s c h e r Art einem e r s t m a l i g e n „Straucheln" (labi) entsprechen können, weil es auf dem Boden jeder Zeit schwierige Stellen giebt, an welchen alle Welt aus rein intellektuellen Gründen ausgleitet. Der untriftigen Anschauung Zöcklers, dass der „grobe Irr-



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tum", wie er ihn versteht, schon an sich, und darum n o t w e n d i g ein vorgängiges längeres „in der Irre Gehen" voraussetze, entspricht auf der Gegenseite die Unzulänglichkeit eines a n d e r n M a s s s t a b e s , welchen er für die relative „Schwere" des Irrtums geltend macht. Es soll nämlich in der „leichteren Bedeutung des Wortes" „der Hinweis auf die naheliegende Möglichkeit einer Hebung oder Beseitigung" des Irrtums liegen. Allerdings hat es j a der Wanderer, der den Irrweg (im eigentlichen Sinne) soeben erst betritt und noch nicht darauf weitergegangen ist, verhältnismässig leicht, auf den richtigen Pfad zurückzugelangen. Während es sich daher bei dem schweren Irrtum „um einen error difficulter sanabilis, einen Fall von ignorantia prope invincibilis" handeln soll, steht hier vielmehr, nach Zöcklers Meinung, „ein error levi cura sanabilis" in Rede, der zu Grunde liegende „Erkenntnismangel" sei „ignorantia vincibilis". Aber auch dieser Massstab scheint nur aus der Analogie des „labi" aufgegriffen zu sein, ist daher keineswegs zuverlässig, wenn man ihn auf das uneigentliche Gebiet des t h e o r e t i s c h e n Irrens überträgt. So giebt es z. B. nicht nur grobe, sondern auch leichtere Irrtümer, welche g a n z e n Z e i t a l t e r n g e m e i n s a m sind. Und diese sind, unter der Macht der Uberlieferung und Gewohnheit oder gewisser Zeitumstände, oft s e h r s c h w e r heilbar, ja in einem einzelnen Zeitabschnitt zuweilen überhaupt nicht. Dass der Hase ein Wiederkäuer sei, mag für den Standpunkt der heutigen Naturwissenschaft als schwerer Irrtum gelten. Für die frühere Zeit aber; zumal für den Laien, ist er wohl nur als ein leichterer anzusehen. Und doch: wie hätte für jene Zeiten die l e i c h t e H e i l u n g eines solchen leichten Irrtums v e r b ü r g t sein sollen? Es können j a ebenso gut zur Aufklärung der „leichten" als der groben Irrtümer (in Zöcklers Sinne) die Voraussetzungen fehlen. Denn diese brauchen nicht notwendig im W e s e n d e r S a c h e , sondern können auch in äussern, z. B. zeitgeschichtlichen Bedingungen liegen, welche gegen jenes unter Umständen gleichgültig sind. Wie es demnach leichte Irrtümer giebt, die unheilbar sind, so kann es wiederum „schwere" geben (immer in Zöcklers Sinne), welche relativ leichter heilbar sind als jene „leichten". Diese



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leichtere Heilung schwererer Irrtümer wird dann eintreten, wenn sie, trotz Zöckler, nicht einer ignorantia prope invicibilis entstammen. Aber selbst wenn die zu Grunde liegende Unwissenheit ziemlich schwer ist, lässt sich, bei leidlichem Verstände und gutem Willen, auch wohl ein schwererer Irrtum, unter Umständen, nicht allzuschwer beseitigen, oder doch, im Gegensatz zu jenen unheilbaren leichteren Irrtümern, zuweilen heilen. Das hat schon mancher Lehrer an seinen Schülern erfahren. Zöckler unterscheidet ferner, wie angedeutet, den theoretischen „Irrtum" nicht grundsätzlich von der praktischen „Irrung". Dies ergiebt sich schon daraus, dass er die Namen „Irrtum" und „Irrung" ununterschiedlich gebraucht; was der Klarheit der Sache schaden muss. So spielt ihm auch in seine Definition des rein theoretischen Irrens überhaupt leise die Vorstellung der ethischen Verirrung hinein. Das bezeugte schon die Wendung von dem „Zerfallensein" „mit dem, was wahr ist". Auch den Irrtum des Herrn hinsichtlich des Termins seiner Wiederkunft rechnet er offenbar vor allem in d i e s e m Sinne unter die „schweren, auf langwieriger und tiefgreifender Täuschung" fussenden Irrtümer. Nun ist es gewiss richtig, dass die allerschwersten Irrtümer solche zu sein pflegen, welche, durch Eingehen der vielseitigsten Verbindungen, ihren Einfluss in den verschiedensten Richtungen des Gedankenlebens geltend machen, wohl gar in den Mittelpunkt der Weltanschauung treten und von hier aus dann allem Denken und Dichten eine verkehrte Richtung geben können. Und solche für das ganze geistige Leben eines Menschen bedeutsamen Irrtümer kommen sicherlich oft von sittlichen Verirrungen her oder hängen doch mit ihnen zusammen. Auch wird der in schwere sittliche Verirrungen Geratene, dem physischen Wanderer entsprechend, normaler Weise öfter l ä n g e r e Zeit den rechten Weg (im sittlichen Sinne) verlassen haben. Jedoch kann der weitere Umfang des Einflusses von Irrtümern auf das Gedankenleben doch auch aus andern Ursachen herrühren, z. B. aus der abstrakt folgerichtigeren oder einseitigeren Denkart. Jedenfalls aber stellt das Herstammen aus sittlichen Verirrungen keineswegs ein unabtrennbares Merkmal jedes groben Irrtums als solchen dar. Wenn z. B. in der



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Vorzeit viele Jahrhunderte glaubten, dasa die Sonne sich um die Erde drehe, so mag dies in gewisser, nämlich naturwissenschaftlicher, Hinsicht als ein „schwerer" Irrtum anzusehen sein; aber er entspringt doch wahrlich nicht aus s i t t l i c h e n Mängeln, einem lange währenden „Zerfall mit der Wahrheit", ja nicht einmal notwendig aus rein intellektuellen langwierigen und tief greifenden Täuschungen der E i n z e l n e n . 1 ) Aus dieser nicht genügenden Unterscheidung der Begriffe der ethischen Verirrung von dem theoretischen Irrtum mag es wohl auch herkommen, wenn Zöckler mir vorwirft, dass ich Irrtümer des Herrn in seinem „Reden und T h u n " 2 ) nachzuweisen suche, während ich doch eben so wenig wie er daran denke, Jesum sittlicher Verirrungen für fällig zu halten. 4. W a s sind schwere und leichte Irrtümer Jesu? Überhaupt lässt, wie wir schon bemerken konnten, Zöcklers Unterscheidung der leichten und schweren Qualität des Irrtums jede Sicherheit des Massstabes vermissen. Und das ist um so bedauerlicher, als dies die e i n z i g e N o r m ist, welche er in seiner Beurteilung verwendet, und worauf er sogar das entscheidende Gewicht für Jesu Stellung zur Irrtumsfähigkeit überhaupt legt. Denn der Herr ist nach ihm wohl l e i c h t e r e n ^ aber nicht s c h w e r e r e n Irrtümern zugänglich. Mit den Ausdrücken: „grobe und feine" oder „schwere und leichte" Irrtümer ist aber weder an sich, noch im Hinblick auf unser Problem irgend etwas Greifbares gesagt. Denn ganz derselbe Irrtum kann von einem gewissen Standpunkt aus als schwer, von einem andern aus als leicht erscheinen. Manches, was dem Fachmannn von grossem Gewichte ist, hat dies nicht für den Menschen, geschweige für die Menschheit überhaupt. Ja verschiedenen Zeiten wird derselbe Irrtum unter demselben Gesichtspunkte, je nach dem allgemeinen Stande ihres Wissens, Interesses u. s. w., als „leicht" oder als „schwer" gelten. Warum sollte denn nun Jesus nicht auch Irrtümer mit der Mehrzahl der Mitlebenden teilen, die der Fach*) Auf diese E i n z e l n e n kommt es selbstverständlich hier an, wo es sich um einen eventuellen Zusammenhang des Irrtums mit s i t t l i c h e r Schuld und dergl. handelt. a ) Von mir unterstrichen.



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mann vielleicht schon zu seiner oder wenigstens in unserer Zeit als „schwer" ansehen mtisste? Sind sie es aber schon darum auch für Jesum als M e n s c h e n oder gar als H e i l a n d ? Die Annahme, dass die Überschriften der Psalmen für deren Verfasserschaft einfach massgeblich seien, mag für einen Theologen unserer Zeit als „schwerer" Irrtum anzusehen 6ein. Ist er es aber, wie Zöckler dies beurteilt, auch für Jesum und seine Zeitgenossen? Wohlan, will man hier über schwer oder leicht streiten, so stellt sich nur von neuem heraus, dass man weder das eine, noch das andere behaupten kann, wenn man nicht die W a g e zu nennen weiss, auf der das Schwere und Leichte in unserem Falle zu wägen ist. So lange dies nicht feststeht, hängt es lediglich von der W i l l k ü r ab, ob jemand einen Irrtum leicht oder schwer nennen will. Wenn Zöckler also einen Irrtum Jesu hinsichtlich der Verfasserschaft des 110. Psalms für einen schweren hält, so müssen wir fragen: warum und nach welchem Massstab ist er so anzusehen? Warum ist dies gerade für J e s u m ein schwerer Irrtum? So schwer, dass der Herr ihn unmöglich begehen konnte? Von diesem „warum?" schweigt Zöckler leider. J a er stellt auch seine Messungen mehrfach in einem dem allein richtigen Massstabe nicht entsprechenden Sinne an. Ich bin daher genötigt, diese Norm, obwohl sie heutzutage jeder Christ mit mehr oder weniger Klarheit fühlt, ausdrücklich anzugeben. Wer meine Broschüre oder auch meine vorhergehende Schrift (I) mit einiger Aufmerksamkeit liest, wird meinen Massstab leicht herausfinden, da er für mein Gesamtwerk überhaupt den leitenden Faden bildet. 1 ) Wie muss ein Irrtum des H e i l a n d e s beschaffen sein, den wir würden als einen s c h w e r e n zu bezeichnen haben? Der unbestreitbar einzig zutreffende Massstab dafür ist eben dieser sein Heilandsberuf. Der würde geschädigt werden durch jeden Irrtum, welcher seine „ W o r t e e w i g e n L e b e n s " betrifft, d. h. seine Offenbarung, insofern und insoweit diese unmittelbar von Gott stammt und dem Urquell des Gottesherzens Jesu selbst entquillt. Denn was in Christi Offenbarung in unmittelbarer und einzigartiger Ursprünglichkeit von G o t t s e l b e r k o m m t , das ist, als g e n u i n e s G o t t e s w o r t , im vollen Sinne ein V e h i k e l ') Vergl. vor allem II, 3 7 - 4 0 ; IV, 4 f.



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d e r W e l t e r l ö s u n g durch Christum. Dies ist aber der göttliche Offenbarungsgehalt. Und u n m i t t e l b a r einzig d i e s e r . Er drückt ja nichts anderes aus, als die einzigartige Heilsmittlerschaft Jesu Christi, oder die That Gottes selbst, durch welche er in Christo die Welt rettet. Darin ist also eingeschlossen Gottes Stellung zu seinem Sohne (als Heiland) einerseits, und zu den sündigen Menschen andrerseits, ujd Jesu daraus entspringende Aufgabe, die Menschen von Sünde und Schuld, Tod und Verderben zu erlösen und zu Gotteskindern zu machen, welche in der göttlichen Gesinnung der Liebe unter einander und in der Förderung des Gottesreiches ihre Gotteskindschaft bethätigen. *) Ein Irrtum Jesu, der diesen w e s e n t l i c h e n O f f e n b a r u n g s g e h a l t schädigte, würde w e s e n t l i c h , d. h. heilswesentlich sein. Er müsste ja die That Gottes selber, mittelst welcher er uns durch Christum erlöst, sowie die rechte Stellung der Mensehen zu ihr hindern oder unmöglich machen. Dies gilt indessen nicht o h n e w e i t e r e s von Irrtümern, welche etwa die A u s g e s t a l t u n g dieser Offenbarung in Anschauungen und Denkformen beträfen, falls diese, wie gesagt, nur den O f f e n b a r u n g s g e h a l t selbst unangetastet Hessen. 2 ) Denn dergleichen Formen hat Jesus thatsächlich, wie eigentlich selbstverständlich ist, sämtlich aus den religiösen Anschauungen oder Uberlieferungen seiner Zeitgenossen übernommen und nicht unmittelbar, als eigentliche ursprüngliche Offenbarung, v o n Gott empfangen. 3 ) — Hierbei wird nicht geleugnet, sondern v o r a u s g e s e t z t , dass die Geschichte Israels auf Jesum hin und zu Jesu Zeit in besonderem Sinne von Gott geleitet wurde. Dennoch aber steht auch fest, dass das religiöse Leben, da es aus G o t t stammt, in seiner unbedingten V o l l k o m m e n h e i t a l l e i n in dem Heilsmittler J e s u C h r i s t o selbst zu suchen ist, und dass die Offenbarung auch des Gottesvolkes v o r Christo und a u s s e r Christo nicht u n b e d i n g t massgeblich sein kann. *) Betreffs der weiteren Ausführung dieser Gedanken muss ich verweisen auf I, 6—7, II, 37, sowie auf den Abschnitt der vorliegenden Schrift (2.), wo ich den Kern der Gottesoffenbarung in Christo in ihrem Gehalte und nächsten Konsequenzen kurz skizziert habe. 2 ) Vergl. II, 77. ») Vergl. IV, Abschn. IV.



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Selbst die alttestamentliclien Anschauungen der P r o p h e t e n konnten nur als a n n ä h e r n d e Ausdrucksmittel von dem vollkommenen Propheten für die Darstellung seiner ewigen Wahrheiten benutzt werden, weil die Offenbarung der Propheten nur eine a n n ä h e r n d vollkommene ist. Wenn daher Christus auch mit vollem Rechte in sich den von den Propheten geweissagten M e s s i a s sah, so ging doch die Gemeinschaft mit Gott, die er in sich selber erlebte, weit über diese Anschauungsform hinaus. Dies veranlasste ihn ja gerade, bei seiner Anziehung des 110. Psalms, jenem noch allzusinnlichen Messiasbilde gegenüber sein Königtum als des Gottessohnes demjenigen des Davidssohnes entgegenzusetzen. Wenn er andrerseits auch in dem mit des Himmels Wolken kommenden Menschensohne ein besonders treffendes prophetisches Vorbild für sein himmelentstammtes Wesen fand, so ist immerhin auch dies nur eiu schwaches Abbild der in ihm erschienenen i n n e r e n Gottesherrlichkeit. Und der Ausdruck der „Gottessohnschaft" selbst, wie viel fehlt ihm in a l t t e s t a m e n t l i c h e r Fassung, um der in Christi Person fleischgewordenen Liebes-, Glaubens- und Wesensgemeinschaft mit Gott völlig gerecht zu werden! Alle dergleichen von Jesu aus zeitgenössischen Anschauungen, ja selbst aus heiligen Uberlieferungen entlehnte Ausdrucksformen für seinen e i g e n e n O f f e n b a r u n g s g e h a l t können diesen mithin nicht g ä n z l i c h decken. Daher darf auf sie nicht ohne w e i t e r e s dasselbe Gewicht gelegt werden, als auf ihn selbst. Sie erlangen auf alle Fälle ihren eigentlichen Offenbarungs- und Heilswert erst sekundär als mehr oder weniger entsprechender Ausdruck jenes Gehalts. Sollten sich also in diesen Anschauungsformen, welche Jesus aus der Überlieferung beibehalten hat, insoweit dieselben nicht mit dem Gehalte selbst zusammenfallen, gewisse i r r i g e Bestandteile finden, so würden diese nicht als heilswesentliche, also s c h w e r e Irrtümer anzusehen sein, f a l l s sie den eigentlichen Christuskern derselben u n g e s c h ä d i g t Hessen.1) ') Eine a n d r e Frage ist es, ob derartigen Formen, welche sich Jesu zur Benutzung für den Ausdruck seiner Offenbarung darboten, durch diese Benutzung selbst die unbedingte Irrtumslosigkeit gewährleistet sein konnte. Vrgl. dazu den Abschnitt 11. 3



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Wie viel mehr muss dies von andern zeitgeschichtlichen nicht nur Ausdrucks-, sondern auch Vorstellungsweisen gelten, welche mit Jesu Heilsoffenbarung ü b e r h a u p t nichts zu thun haben! Ich meineVorstellungen n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e r , g e o g r a p h i s c h er, g e s c h i c h t l i c h e r , m e t a p h y s i s c h e r , p s y c h o l o g i s c h e r Art u.dgl.! Greifen wir auf die Beispiele meiner Broschüre zurück. Was geht es z. B. Jesu Heilandsberuf an, wenn er die Meinung seiner Zeit teilte, dass die Uberschriften der Psalmen authentisch seien (vgl. Pcsachim 114); wenn er infolgedessen den 110. Psalm von David ableitete und auch die Konsequenz daraus fiir die Stellung seines Vorfahren zum Messias zog? Was schadete eine unrichtige Anschauung selbst von Davids Persönlichkeit Jesu Heilsverkündigung, da sich unser Heil nicht auf David, sondern auf Christus gründet? Zumal der Herr in dem, was seine Heranziehung des 110. Psalms b e z w e c k t e , keinesw e g s irrte. Und das war seine e i g n e Offenbarung von sich selbst als dem Gottessohnc. Diese Wahrheit, welcher der Psalm nur als Vehikel dient, habe ich, was auch Zöckler schwerlich entgangen sein kann, nachdrücklich mit folgenden Worten hervorgehoben: „So ist auch hier das Ziel seiner Anziehung des 110. Psalms kein andres, als dies, den Pharisäern die göttliche Erhabenheit des Messias und seines Reiches über dessen Vorfahren David, gegenüber ihren irdisch-sinnlichen Messiashoffnungen, eindrücklich zu machen . . . jene Einsicht sollte die Pharisäer dann darauf aufmerksam machen, dass dieser Messias, den sie in seinem eigensten Wesen völlig verkannten, und der gerade darin seinen unbestrittenen Vorfahren David überragte, . . . eben jetzt vor ihnen stehe. Damit war aber der tiefste typische Hinweis 1 ) des 110. Psalms auf den, der zum unbedingt siegreichen Priesterkönig des gottgeheiligten Volkes bestimmt war, vor ihren Augen erfüllt. J a wenn sich Jesus doch als König des Himmelreichs seinem grossen Vorfahren David herrschergleich überlegen wusste, so erweist sich eben damit sogar die Anschauung vom Messias als „ Davidsherrnu als der Wahrheit entsprechend. So

') T h a t s ä c h l i c h „typisch", sofern der von Gott in dem Psalm angeredete König n i c h t der Messias selbst ist, sondern nur vorbildlich auf Christum hinweist; daher n i c h t typisch für J e s u Standpunkt.



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stellte Jesus selbst an der eignen irrigen Auffassung die ihm aufgegangene Wahrheit heraus, welche ihren religiösen Kern bildet... W i r sehen also, dass die s i t t l i c h - r e l i g i ö s e W a h r h e i t , d i e den g a n z e n Z w e c k d e r W o r t e J e s u a u s m a c h t , n ä m l i c h , d a s s e r d e r w a h r e , dem D a v i d ü b e r l e g e n e p r i e s t e r l i c h e M e s s i a s i s t , von j e n e m I r r t u m nicht b e r ü h r t wird. E r b e t r i f f t v i e l m e h r nur die für diesen Offenbarungsgehalt gleiohgültigezeitgenössische Auffassungsf o r m " (II, 34 f). 1 ) Wie kann man nun einen derartigen Irrtum, welcher sich nicht auf diesen Offenbarungsgehalt, sondern auf die geschichtliche Darstcllungsform desselben bezieht, wie Zöckler es thut, zu den „schweren" rechnen! 2 ) Was ficht es ferner unser Heil an, wenn Jesus j e n e Erlebnisse des J o n a für rein geschichtlich gehalten h a t 3 ) , wie seine mitlebenden Volksgenossen? Trafen auch j e n e Voraussetzungen ganz oder teilweise nicht zu, so kam es ihm doch andrerseits überhaupt nicht darauf an, hier etwas von J o n a zu b e h a u p t e n , sondern wiederum darauf, eine neue Seite seiner e i g n e n O f f e n b a r u n g zu enthüllen. Wenn wir den M e n s c h e n s o h n s e l b s t , mit Lukas, als das Jonazeichen fassen, welches allein dem ungläubigen Geschlechte noch gegeben werden soll, so bleibt die volle Wahrheit des religiösen Gehaltes bestehen; ob das Auftreten des Jona in Nineve als Gerichtsprediger geschichtlich war oder nicht. Denn was Jesus hier aus seinem Eignen offenbarte, ist, dass in ihm, gleich dem J o n a der Geschichte oder Lehrdichtung, „seinen ungläubigen Zeitgenossen, wenn auch nicht erkannt oder nicht gewürdigt, die p r o p h e t i s c h e V e r g e w i s s e r u n g d e s G o t t e s g e r i c h t s entgegentritt, das um so unausweichlicher ist, als sich im Menschensohn ein viel gewaltigeres Zeichen als in Jona darstellt" (II, 10). Wenn der Herr aber bei jenem Zeichen an das d r e i t ä g i g e V e r w e i l e n d e s P r o p h e t e n im M a g e n d e s F i s c h e s gedacht hat, so blieb wiederum „die Heilswahrheit, auf deren Verkündigung auch hier J e s u Worte abzielten, und welche in seiner ') Die Unterstreichung habe ich jetzt hinzugefügt. ) Ob Jesus hierin irrte, dafür vergleiche den Abschnitt 7. ') Ob sie dies sind, geht erst Abschnitt 7 an.

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Auferstehung nach kurzer Grabesruhe bestand, ebenso wahr, als w e n n das Verglichene eine wirkliche Geschichte g e w e s e n wäre"