Komplexe Substanzen 9783110916973, 9783110188530

One building block is placed on top of another one, an atom of sodium combines with an atom of chlorine. Do new things r

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German Pages 398 [400] Year 2007

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Komplexe Substanzen
 9783110916973, 9783110188530

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Johannes Hübner Komplexe Substanzen



Ideen & Argumente Herausgegeben von Wilfried Hinsch und Lutz Wingert

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Johannes Hübner

Komplexe Substanzen

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT.

앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 978-3-11-018853-0 ISSN 1862-1147 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2007 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Umschlaggestaltung: ⫹malsy, kommunikation und gestaltung, Bremen

Vorwort Dieses Buch ist aus der gleichnamigen Habilitationsschrift hervorgegangen, die im Sommer 2004 an der Fakultät für Philosophie, Wissenschaftstheorie und Religionswissenschaft der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität angenommen wurde. Den Gutachtern Thomas Buchheim, Karl-Georg Niebergall und Wilhelm Vossenkuhl danke ich für hilfreiche Kritik und pünktliche Gutachten, dem erstgenannten darüber hinaus für mannigfaltige Unterstützung. Unter den Personen, die meine Arbeit durch Diskussion, Kritik und Ermutigung befördert haben, möchte ich Beate Meierfrankenfeld hervorheben. Ihr gilt mein tiefer Dank. Außerdem danke ich der VG Wort für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses, Sabine Vogt für den Anstoß, bei Walter de Gruyter vorstellig zu werden, und den Herausgebern für die Aufnahme in die Reihe Ideen und Argumente. Die zugrunde liegende Habilitationsschrift wurde 2005 von der Münchner Universitätsgesellschaft mit einem Förderpreis ausgezeichnet.

Inhaltsverzeichnis Einleitung ................................................................................................ 1 I Die Frage nach der Zusammensetzung ........................................... 4 § 1 Zwei Einwände ......................................................................... 5 1.1 Die „schwankende Auffassung“ ..................................... 5 1.2 Die sortale Relativität der Zusammensetzung ............ 12 § 2 Plural-Bezugnahme ................................................................ 19 2.1 Zum Vokabular einer Plural-Sprache........................... 19 2.2 Strategien zur Interpretation von Plural-Sätzen ......... 23 § 3 Mereologische Definitionen und Axiome .......................... 29 § 4 Sortale Relativierung der Frage............................................. 34 4.1 Sortale und essentielle Sortale ....................................... 34 4.2 Reformulierung der Frage.............................................. 40 4.3 Zur Methode .................................................................... 44 II Arten und Arten der Zusammensetzung ..................................... 49 § 1 Massen...................................................................................... 49 1.1 Massen und Massenterme .............................................. 49 1.2 Zur Existenz von Massen .............................................. 63 § 2 Körper ...................................................................................... 66 2.1 Zusammensetzung von Körpern.................................. 66 2.2 Fortdauer von Körpern.................................................. 78 § 3 Artefakte................................................................................... 82 3.1 Zusammensetzung von Artefakten .............................. 82 3.2 Zur Fortdauer von Artefakten ...................................... 91 § 4 Organismen ............................................................................. 95 4.1 Zusammensetzung von Organismen ........................... 95 4.2 Fortdauer von Organismen ......................................... 106 4.3 Zusammensetzung und Emergenz ............................. 111

VIII

Inhaltsverzeichnis

III Der Vierdimensionalismus ......................................................... 132 § 1 Der terminologische Dschungel......................................... 133 1.1 Präsentismus und Äternalismus .................................. 134 1.2 Vierdimensionalismus und Dreidimensionalismus .. 136 1.3 Endurantismus, Perdurantismus, Exdurantismus.... 147 § 2 Gegen den Vierdimensionalismus ..................................... 153 2.1 Das Vorurteil zugunsten des Gewöhnlichen ............ 154 2.2 Mangelnde Verständlichkeit ........................................ 157 2.3 Genuine Veränderung .................................................. 159 2.4 Das modale Argument.................................................. 162 § 3 Das Problem der Veränderung........................................... 169 3.1 Das Problem und einige Lösungsvorschläge ............ 170 3.2 Ein alternativer Lösungsvorschlag.............................. 174 3.3 Die Natur von Zuständen............................................ 178 3.4 Vergleich mit verwandten Lösungen.......................... 182 IV Probleme der Koinzidenz........................................................... 188 § 1 Koinzidenz und Konstitution............................................. 188 § 2 Organismen und Koinzidenz.............................................. 197 2.1 Der Baum und das Holz .............................................. 197 2.2 Tibbles und Tib ............................................................. 204 2.3 Wilsons Paradoxe der biologischen Individualität ... 216 § 3 Körper und Koinzidenz ...................................................... 224 § 4 Artefakte und Koinzidenz................................................... 224 4.1 Die Statue und der Ton................................................ 224 4.2 Theseus’ Schiff............................................................... 230 4.3 Artefakte als konventionelle Objekte......................... 244 V Uneingeschränkte Summenbildung ............................................ 252 § 1 Ontologische Unschuld der Mereologie? ......................... 253 1.1 Die ontologische Bürde der Mereologie.................... 255 1.2 Zusammensetzung analog zur Identität..................... 258 1.3 Zusammensetzung als Identität .................................. 261 1.4 Argumente gegen die starke These............................. 266 § 2 Für uneingeschränkte Summenbildung............................. 272 2.1 Eine Quinesche Theorie physikalischer Objekte ..... 272 2.2 Das Argument aus der Vermeidung von Willkür..... 275

Inhaltsverzecihnis

IX

2.3 Das Argument aus der artbildenden Struktur........... 279 2.4 Lewis’ Argument aus der Vagheit............................... 285 2.5 Siders Argument aus der Vagheit................................ 293 § 3 Gegen uneingeschränkte Summenbildung ....................... 297 3.1 Zu viele Summen........................................................... 297 3.2 Van Inwagen gegen den Universalismus ................... 308 VI Vagheit ........................................................................................... 316 § 1 Der Sorites und „gewöhnliche Objekte“ .......................... 316 1.1 Der Sorites...................................................................... 316 1.2 Unger gegen „gewöhnliche Objekte“......................... 320 § 2 Theorien der Vagheit ........................................................... 328 2.1 Die metaphysische Theorie.......................................... 330 2.2 Die semantische Theorie.............................................. 341 2.3 Die epistemische Theorie............................................. 349 § 3 Das Problem der Vielen ...................................................... 362 Literaturverzeichnis ........................................................................... 370 Personenregister ................................................................................. 383 Sachregister ......................................................................................... 385

Einleitung Man betrachte die folgenden Szenarien: Ein Straßenfeger kehrt Zigarettenstummel, Sand, Papierschnitzel und Blätter zu einem Haufen zusammen. Ein Kind drückt einen Legostein auf einen anderen. Ein Schweißer schweißt Rohre zu einem Fahrradrahmen zusammen. Der Zellkerns eines Spermas vereinigt sich mit dem einer Eizelle. Liegt in jeder dieser Situationen die Bildung eines Ganzen durch verschiedene Dinge vor? Oder in einigen? Oder in keiner? Wenn in keiner, gibt es dann überhaupt irgendeine Situation, in der verschiedene Dinge ein Ganzes bilden? Bewirken Veränderungen allenfalls, daß schon vorhandene Dinge anders arrangiert werden, ohne die Entstehung neuer Dinge zu verursachen? Wer - wie ich geneigt ist zu antworten, daß in manchen, aber nicht in allen geschilderten Fällen ein Ganzes gebildet wird, sieht sich mit der Frage konfrontiert, was jeweils den Unterschied ausmacht: Unter welchen Bedingungen bilden verschiedene Dinge ein Ganzes? Mit Bezug auf die Genese komplexer Objekt gefragt: Wann entsteht ein Objekt aus vielen Objekten? Nochmals anders formuliert: In welcher Relation oder in welchen Relationen stehen Dinge zueinander, die ein Ganzes bilden? Die vorliegende Arbeit geht der Frage nach, allerdings mit der Einschränkung auf komplexe materielle Dinge und ihre materiellen Teile. Manche Philosophen nehmen an, daß materielle Dinge aus Entitäten bestehen, die nicht materiell sind, z.B. aus Tropen oder Universalien. Derartige Annahmen werden hier nicht diskutiert. Was ein materielles Ding, oder, wie ich kurz sagen werde, eine Substanz ist, läßt sich schwer präzise fassen. Intuitiv würde

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Einleitung

man sagen, daß materielle Objekte Raum einnehmen, in der Zeit beharren, Veränderungen erfahren können und eine Masse besitzen. Diese Beschreibung trifft jedoch nicht auf alle Objekte zu, die ich zu den Substanzen zählen möchte, z.B. nicht auf einige Elementarteilchen, die keine Masse haben und äußerst kurzlebig sind. Daher gehe ich von der Bedingung aus, daß etwas eine Substanz ist, wenn es ein Elementarteilchen ist oder aus Elementarteilchen besteht. Die Leitfrage ist also: Unter welchen Bedingungen bilden verschiedene Substanzen eine komplexe Substanz?1 Die Frage, die Frage nach der Zusammensetzung heißen möge, ist nicht neu. Der erste Philosoph, bei dem sie eine prominente Rolle spielt, ist Aristoteles.2 In der zeitgenössischen Metaphysik ist sie vor allem durch das 1990 erschienene Buch Material Beings von Peter van Inwagen zu einem zentralen Thema in der metaphysischen Debatte über materielle Dinge avanciert.3 Ich werde die folgenden drei Antworten in Betracht ziehen: Atomismus: Beliebige Substanzen setzen unter keinen Umständen eine komplexe Substanz zusammen. Prinzip der uneingeschränkten Summenbildung: Beliebige Substanzen setzen unter beliebigen Umständen eine komplexe Substanz zusammen. Gewöhnliches Verständnis: Manche Substanzen setzen eine komplexe Substanz zusammen und manche nicht, und die Bedingungen der Zusammensetzung lassen eine informative Analyse zu. ____________ 1

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Zur Terminologie: Die Ausdrücke ‘Ding’, ‘Objekt’, ‘Entität’ werden äquivalent gebraucht; ebenso ‘bilden’ und ‘zusammensetzen’. Ferner soll gelten: Ein Objekt ist komplex oder zusammengesetzt, wenn es wenigstens einen echten Teil hat; dagegen ist ein Objekt bereits dann ein Ganzes, wenn es einen Teil hat. Demnach ist jedes Objekt ein Ganzes, da jedes Objekt wenigstens einen Teil hat, sich selbst; aber nicht jedes Objekt ist zusammengesetzt oder komplex. Außerdem soll gelten, daß ein komplexes Ding aus den Dingen besteht, die es bilden oder zusammensetzen. Alles, was materiell ist, ist auch konkret, aber nicht umgekehrt. Z.B. sind Ereignisse konkret, aber nicht materiell. Konkret ist genau das, was raumzeitlich lokalisiert ist, abstrakt ist, was nicht konkret ist. Vgl. Aristoteles, Met. VII 17, 1041b 10-33; VIII 3, 1044a3-9. Van Inwagen bezeichnet die zentrale Frage seines Buchs als „Special Composition Question“. Die Frage nach der Zusammensetzung unterscheidet sich davon in einigen Hinsichten, die vorläufig ignoriert werden können.

Einleitung

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Die erste Antwort, der Atomismus, ist vermutlich am weitesten vom gewöhnlichen Verständnis entfernt: Natürlich, so wird man sagen, gibt es komplexe materielle Dinge, denn wir selbst zählen dazu und sind von ihnen umgeben. Auch die zweite Antwort, das Prinzip der uneingeschränkten Summenbildung, entspricht nicht dem Alltagsverständnis, denn sie nötigt zu der Annahme, daß so wenig vertraute Dinge existieren wie z.B. das Objekt, das aus meinem linken Fuß und dem Münchner Olympiaturm besteht. Unter Philosophen, die sich mit dem Thema befassen, ist die zweite Antwort dagegen wohl die gängigste. Die dritte Antwort kommt der gewöhnlichen Weise zu denken am nächsten, auch wenn wir uns normalerweise nicht festlegen würden, ob man in informativer Weise angeben kann, wann Zusammensetzung stattfindet. Unter der dritten Antwort finden sich diverse Positionen, die sich danach unterscheiden, welchen Bedingungen Zusammensetzung unterworfen wird. Eine dieser Positionen soll im folgenden verteidigt werden. Der Aufbau des Buchs ist folgender: Kapitel I verteidigt die Frage nach der Zusammensetzung gegen zwei Einwände und gibt ihr eine angemessene Formulierung. Durch eine sortale Relativierung wird die Frage gesondert für verschiedene Arten von Substanzen gestellt. Die Kapitel II und IV tragen die Hauptlast des positiven Teils der Antwort, indem sie, soweit möglich, Analysen der Zusammensetzung und Fortdauer für Massen, Körper, Artefakte und Lebewesen angeben und anhand klassischer Rätselfälle wie z.B. Theseus’ Schiff testen. Kapitel III diskutiert den Vierdimensionalismus (das ist in etwa die These, daß alle konkreten Dinge zeitliche Teile haben) und schafft damit eine Grundlage sowohl für die Debatte der Rätsel als auch für die Argumentation gegen das Prinzip der uneingeschränkten Summenbildung. Dessen Diskussion und Zurückweisung sowie die des Atomismus machen den negativen Teil der Antwort aus. Unter der Voraussetzung, daß der Vierdimensionalismus falsch ist, wendet sich Kapitel V gegen die These, die Bildung komplexer Substanzen sei unter beliebigen Umständen gegeben. Weil atomistische Positionen mit Hilfe von Sorites-Paradoxen begründet werden, kritisiert Kapitel VI den Atomismus (oder einen „Beinahe“-Atomismus) im Rahmen einer Diskussion über Vagheit.

I Die Frage nach der Zusammensetzung Die Frage, unter welchen Bedingungen verschiedene materielle Dinge ein Ganzes zusammensetzen, hat einige wenn nicht logische, so doch konversationale Implikationen, von denen wohl jede einzelne von irgendeinem Philosophen in Zweifel gezogen worden ist. Unter anderem wird vorausgesetzt, daß es materielle Dinge gibt und daß metaphysische Aussagen über materielle Gegenstände einen Wahrheitswert haben.1 Wenn diese sehr allgemeinen Annahmen falsch sind, erreicht mein Projekt nicht sein Ziel. Allerdings liegt eine Verteidigung der beiden Annahmen außerhalb des Vorhabens. Hier möchte ich lediglich zwei weniger allgemeine, spezifisch die Frage nach der Zusammensetzung betreffende Implikationen diskutieren, indem ich zwei Einwänden nachgehe. Beide laufen darauf hinaus, daß man die Frage vernünftigerweise gar nicht stellen solle, weil sie auf zwei falschen Voraussetzungen beruhe. Die Aufgabe des ersten Paragraphen ist es, die Frage nach der Zusammensetzung gegen die beiden Einwände zu verteidigen. Die weiteren Paragraphen dienen ihrer Präzisierung. Zunächst werden klassische mereologische Definitionen und Prinzipien eingeführt (§ 2). Im Interesse einer möglichst voraussetzungslosen Formulierung der Frage werden dann Terme eingeführt, mit denen man im Plural Bezug nimmt, wie z.B. ‘die Müllers’ und ‘die Anhänger von Bush’; solche Ausdrücke sind Pluralterme. Außerdem wird diskutiert, wie Pluralterme zu interpretieren sind (§ 3). Schließlich wird mit Hilfe des eingeführten Vokabulars der Frage nach der Zusammensetzung eine präzise Formulierung gegeben (§ 4).

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Die erste Annahme wird z.B. von O’Leary-Hawthorne & Cortens (1995) bestritten, die zweite von Sidelle (2002).

§ 1 Zwei Einwände

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§ 1 Zwei Einwände 1.1 Die „schwankende Auffassung“ Nun also zum ersten Einwand; er lautet folgendermaßen: Die Frage, unter welchen Bedingungen verschiedene Dinge ein materielles Ganzes zusammensetzen, beruht auf der Voraussetzung, es sei keine Ansichtssache, was ein Ganzes bilde und was nicht. Das ist aber nicht der Fall. Vielmehr ist die Wendung ‘...bilden ein Ganzes’ gar kein vollständiger Prädikatsausdruck und sollte durch ‘...bilden für einen Beobachter ein Ganzes’ ersetzt werden. Die Frage nach der Zusammensetzung zu stellen ist ähnlich unbedacht wie zu fragen, ob der Münchner Olympiaturm rechts oder links vom Mittleren Ring sei. Wer so fragt, provoziert die Gegenfrage, von wo aus die Verhältnisse betrachtet werden sollen: Für den Betrachter, der westlich vom Olympiaturm steht, ist dieser rechts, für den, der östlich steht, ist er links. Der Vergleich ist allerdings unvollkommen. Denn wenn ein Betrachter westlich steht, ist der Olympiaturm von ihm ausgesehen rechts vom Mittleren Ring, ganz egal, wie er die räumlichen Verhältnisse auffaßt, also auch dann, wenn er der festen Überzeugung ist, daß der Olympiaturm links steht. Die Bildung von materiellen Objekten ist dagegen, so der Einwand, nicht nur relativ auf einen Betrachter, sondern außerdem abhängig von dessen subjektiver Einschätzung. Wenn ein Betrachter der Überzeugung ist, daß drei gegebene Dinge kein Ganzes bilden, dann bilden sie für ihn kein Ganzes, und zu fragen, ob die drei Dinge unabhängig von seiner Auffassung und von der irgendeines anderen ein Ganzes bilden, ähnelt der Frage, ob das und das unabhängig von der Einschätzung irgendeines Betrachters interessant sei. Solange nicht gesagt oder aus dem Kontext klar wird, um wessen subjektive Auffassung es geht, läßt sich die Frage nach der Zusammensetzung in keinem Fall beantworten, ebensowenig wie die Frage, unter welchen Bedingungen etwas interessant sei. Wenn aber die Voraussetzung, daß es keine Ansichtssache ist, unter welchen Bedingungen verschiedene Dinge ein materielles Ganzes bilden, erst einmal als Irrtum erkannt worden ist, wird

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I Die Frage nach der Zusammensetzung

klar, daß die Frage nach der Zusammensetzung keinerlei Beachtung in der Metaphysik verdient. Soweit der Einwand. Die These, daß ein Ganzes zu bilden immer heißt, nach der subjektiven Einschätzung von jemand ein Ganzes zu bilden, möge in Anlehnung an Frege die ‘schwankende Auffassung’ heißen. Frege wendet sich in den Grundlagen der Arithmetik gegen die Behauptung, daß der Unterschied zwischen dem, was eines und dem, was vieles sei, von der Betrachtung abhänge (§ 30), und spricht in diesem Zusammenhang von der „schwankenden“ oder der „willkürlichen Auffassung“ (§§ 33, 34). Er weist die Ansicht in bezug auf das Zahlwort ‘eins’ scharf zurück, indem er die rhetorische Frage stellt: „Wie kann auf einem so verschwommenen Begriffe eine Wissenschaft beruhen, die gerade in der grössten Bestimmtheit und Genauigkeit ihren Ruhm sucht?“ (§ 30) Damit gibt Frege zu verstehen, daß er die Ansicht für absurd hält. Freges Haltung scheint mir nicht nur in bezug auf das Zahlwort ‘eins’, sondern hinsichtlich der schwankenden Auffassung über die Bildung komplexer Objekte richtig zu sein: Die schwankende Auffassung ist absurd. Dazu ein Beispiel: Wenn der Schreiner Franz sich bei der Arbeit versehentlich einen Finger abschneidet, wird der Meister ihn kaum durch die Aufforderung trösten können, er möge sich und den abgeschnittenen Finger doch so betrachten, daß sie einen ganzen Menschen bildeten.2 Es ist eine Tatsache, daß der unglückliche Franz und sein abgetrennter Finger keinen Menschen bilden, gleichgültig, mit welchen Augen er die Lage betrachtet. Sofern Franz nebenbei ein wenig Philosophie studiert und die Nerven hat, auf den Ratschlag des Meisters etwas zu erwidern, könnte er mit Frege antworten: „Und wird denn dadurch etwas gewonnen, dass man sich die Sachen anders denkt, als sie sind? Im Gegentheil! aus einer falschen Annahme können falsche Folgerungen fliessen.“ (§ 33) Und, so kann man hinzufügen, eine falsche Folgerung kann unglückliche praktische Konsequenzen haben; denn ein probater, schon von Platon benutzter Test dafür, welche Annahmen richtig und welche ____________ 2

Ich würde hinzufügen: Ebensowenig bilden sie irgendein andersartiges komplexes Objekt; aber das ist ein Vorgriff.

§ 1 Zwei Einwände

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falsch sind besteht darin, sich ihre praktischen Konsequenzen vor Augen zu führen.3 Nehmen wir an, Franz sei der falschen Annahme, die Zusammensetzung von komplexen Dingen sei Ansichtssache, und zöge daraus die falsche Folgerung, er müsse sich lediglich einreden, daß der abgetrennte Finger und er einen Menschen bildeten, um eben dies sicherzustellen. Die unglückliche praktische Konsequenz wäre, daß Franz nicht das Krankenhaus aufsuchen und fortan mit einem Finger weniger leben würde. Das Beispiel läßt sich umkehren: Franz, diesmal unversehrt, versucht seinem Meister klarzumachen, daß er arbeitsunfähig sei, weil ihm ein Finger abgehe. Er, Franz, sähe es nämlich so, daß sein linker Daumen kein Teil mehr von ihm sei. Wenn Franz mit der Masche Erfolg hat, hat er dem Meister etwas weisgemacht, und was er ihm weisgemacht hat, ist nicht der Fall. Allgemein: Ob verschiedene Dinge ein Ganzes bilden oder nicht, ist etwas anderes als die Frage, ob verschiedene Dinge als ein Ganzes betrachtet werden oder nicht. Aussagen wie ‘diese Dinge bilden ein Ganzes’ oder ‘es gibt nichts, was aus diesen Dingen besteht’ müssen nicht durch Wendungen wie ‘für einen Beobachter’ ergänzt werden, um wahr oder falsch zu sein. Es wäre wünschenswert, wenn diese Bemerkungen offene Türen einrennen würden. Allerdings neigen verschiedene Philosophen der schwankenden Auffassung wenigstens zu. Nicht untypisch ist die folgende Formulierung: “I’ll be talking about ‘wholes’, by which I will mean any object which can be taken to have parts. [...] a proper subset of the parts of a whole, taken together, again make up a part of the original whole.“4 Das Zitat provoziert eine Nachfrage: Ist es nicht möglich, daß jemand irrtümlich etwas, das keine (echten) Teile hat, „als etwas nimmt“, das (echte) Teile hat? Um des Argumentes willen sei angenommen, daß Elektronen keine (echten) Teile haben; wenn jemand irrtümlich annimmt, daß Elektronen aus Protonen und Neutronen bestehen, sind Elektronen dann komplex? Ferner, bildet eine echte Teilmenge der Teile ____________ 3 4

Vgl. Platon, Theaitetos 170ab. Vgl. Teller (1992, 139). Vgl. Armstrong (1997, 12): „[...] mereological wholes are identical with all their parts taken together“; Baxter (1988, 578): „[....] the whole is the many parts counted as one thing.“ (Alle Hervorhebungen J.H.)

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I Die Frage nach der Zusammensetzung

eines Ganzen nur dann einen Teil des Ganzen, wenn die Elemente dieser Teile „zusammen genommen“ werden? Angesichts der Sympathien, welche die schwankende Auffassung genießt, sind einige klärende Bemerkungen in bezug auf das angebracht, was die Leugnung der schwankenden Auffassung nicht impliziert. (i) Die schwankende Auffassung sollte nicht mit der These verwechselt werden, daß verschiedene Dinge unter beliebigen Umständen ein Ganzes bilden. Diese These ist das in der Einleitung erwähnte Prinzip der uneingeschränkten Summenbildung und besagt nicht, daß die Frage nach der Zusammensetzung auf einer falschen Voraussetzung beruht, sondern gibt eine Antwort: Immer. Es wird also nicht vorausgesetzt, daß diese Antwort falsch ist, wenn die Falschheit der schwankenden Auffassung angenommen wird. (ii) Die schwankende Auffassung impliziert auch nicht die These, daß verschiedene Dinge unter keinen Umständen ein Ganzes bilden. Diese These besagt nicht, daß die Frage nach der Zusammensetzung auf einer falschen Voraussetzung beruht, sondern gibt eine Antwort: Nie. Das ist die Position des ebenfalls schon erwähnten Atomismus. Mit der Falschheit der schwankenden Auffassung wird nicht die Falschheit des Atomismus unterstellt. (iii) Die schwankende Auffassung zu leugnen impliziert nicht die Behauptung, daß es keine Artefakte gibt. Man könnte folgendermaßen für die Implikation argumentieren: Die Existenz mancher Dinge ist abhängig von den Auffassungen und Absichten von Beobachtern. Dazu zählen institutionelle oder konventionelle Objekte wie Staaten, Geld und Parteien und insbesondere Artefakte. Weil von den genannten Objekten am ehesten Artefakte komplexe materielle Objekte sind, kann sich das Argument auf sie beschränken. Vermutlich ist dafür, ob etwas ein Artefakt ist, unter anderem seine Genese ausschlaggebend.5 Ein Gegenstand, der nicht das Resultat eines von bestimmten Absichten gelenkten Herstellungsprozesses ist, ist kein Artefakt, gleichgültig, wie ähnlich er einem anderen Gegenstand sein mag, der ein Artefakt ist. Wenn nun die Bildung komplexer Gegenstände generell nicht beobachterrelativ ist, dann bilden z.B. die Dinge, die man übli____________ 5

Vgl. Rosenberg (1993, 707). Mehr zu Artefakten in II § 3.

§ 1 Zwei Einwände

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cherweise als Bestandteile eines Brieföffners ansehen würde, keinen Brieföffner. Allgemein, wenn die schwankende Auffassung falsch ist, dann gibt es keine Artefakte. Darauf ist zweierlei zu erwidern. Erstens ist die schwankende Auffassung als die These eingeführt worden, daß ein Ganzes zu bilden immer heißt, nach der subjektiven Einschätzung von jemand ein Ganzes zu bilden. Die These für falsch zu erklären ist also verträglich mit dem Zugeständnis, daß es manchmal von der subjektiven Einschätzung von jemand abhängt, ob verschiedene Dinge ein Ganzes bilden. Anders gesagt: Die Negation der schwankenden Auffassung besagt nicht, daß die Bildung komplexer Gegenstände generell nicht von der subjektiven Einschätzung von jemand abhängt, sondern daß sie nicht generell so abhängt. Es kann also auch dann Artefakte geben, wenn die schwankende Auffassung falsch ist. Die zweite Erwiderung greift auf einige Unterscheidungen zurück, die John Searle eingeführt hat.6 Searle unterscheidet einen epistemischen und einen ontologischen Sinn der Opposition von subjektiv und objektiv. Im epistemischen Sinn sind Urteile subjektiv oder objektiv, die einen betreffen Geschmacksfragen (‘Barolo ist der beste Rotwein’), die anderen Tatsachenfragen (‘Barolo wird im Piemont hergestellt’). Im ontologischen Sinn subjektiv oder objektiv sind Gegenstände. Subjektive Gegenstände, z.B. Schmerzen, gibt es im Unterschied zu objektiven Gegenständen, z.B. Hamstern, nur deshalb, weil es intentionale Wesen gibt, die ihre Träger sind. Außerdem unterscheidet Searle immanente und beobachterrelative Eigenschaften. Immanent sind Eigenschaften, die entweder nicht von der Intentionalität von Beobachtern abhängen oder die selbst intentionale Eigenschaften sind (wie z.B. Schmerzen zu haben), beobachterrelativ sind Eigenschaften, deren Existenz von der Intentionalität von Beobachtern abhängt und die keine intentionalen Eigenschaften sind. Auf die obige Behauptung, die Negation der schwankenden Auffassung impliziere, daß es keine Artefakte gibt, kann mit Hilfe dieser Differenzierungen nun so geantwortet werden: Der Besitz einer beobachterrelativen Eigenschaft kann epistemisch durchaus ____________ 6

Vgl. zum folgenden Searle (1995, 17-23).

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I Die Frage nach der Zusammensetzung

objektiv sein. Wenn z.B. Franz einen Brieföffner aus Aluminium in der Hand hält, dann haben die Aluminiumatome in seiner Hand die Eigenschaft, einen Brieföffner zu bilden. Das ist im epistemischen Sinn objektiv, selbst wenn die Eigenschaft, einen Brieföffner zu bilden, beobachterrelativ ist. Die besagte Behauptung beruht auf einer Gleichsetzung der Bedeutungen von ‘epistemisch subjektiv’ und ‘beobachterrelativ’. Die schwankende Auffassung ist die These, die Bildung eines materiellen Ganzen durch verschiedene Dinge sei epistemisch subjektiv, und das kann man leugnen, ohne abstreiten zu müssen, daß die Bildung mancher Dinge, nämlich die von Artefakten, beobachterrelativ ist. Die zweite Antwort zeigt also abermals, daß man die schwankende Auffassung ablehnen kann, ohne behaupten zu müssen, es gebe keine Artefakte.7 Außerdem macht sie klar, daß die erste Antwort unnötig defensiv war: Die Bildung komplexer Gegenstände ist generell nicht epistemisch subjektiv, aber möglicherweise manchmal beobachterrelativ. (iv) Betrachten wir einen letzten Versuch zu zeigen, daß es einen wahren Kern gibt, den preisgeben muß, wer die schwankende Auffassung leugnet. Der Ausdruck ‘Ganzes’ verhält sich analog dem Ausdruck ‘Eines’, insofern er für sich genommen nicht sinnvoll als Prädikat gebraucht werden kann. Um ein Beispiel von Frege zu geben: Der Satz ‘Solon war Einer’ kann zwar im Sinn von ‘Solon war ein Weiser’ gebraucht werden, aber der Ausdruck ‘Einer’ ist in diesem Fall nur deshalb verständlich, weil aus dem Kontext zu ‘Einer’ ein Zählwort ergänzt werden kann, nämlich ‘Weiser’.8 Analog, so könnte man argumentieren, ist der Gebrauch von ‘ein Ganzes’ als Prädikat ohne implizite oder explizite Ergänzung durch ein Zählwort nicht verständlich. Wenn z.B. jemand auf ein hölzernes Tischbein zeigt und fragt, ob es ein Ganzes sei, dann kann man seine Frage nur durch die Nachfrage verständlich machen, ob er ein ganzes Tischbein oder einen ganzen Tisch meine. In der gleichen Weise ist die Frage ergänzungsbedürftig, ob die Moleküle, die mit dem Tischbein koinzidieren (kurz: die Moleküle), ein Ganzes bilden: Wenn gemeint ist, ob die Moleküle ein ____________ 7 8

Ebensowenig ist impliziert, daß es Artefakte gibt. Vgl. Frege (1884, § 29).

§ 1 Zwei Einwände

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ganzes Tischbein bilden, wäre man geneigt, mit ‘ja’ zu antworten, wenn es dagegen darum geht, ob sie einen ganzen Tisch bilden, ist ‘nein’ die richtige Antwort. Diese Beobachtung legt zwei Folgerungen nahe: (A) Die Frage, unter welchen Bedingungen verschiedene Dinge ein Ganzes bilden, ist grundsätzlich nur dann verständlich, wenn klar ist, um welche Art von Ganzen es geht. Das muß jeweils durch ein Zählwort wie ‘Tischbein’ oder ‘Tisch’ deutlich gemacht werden. (B) Deshalb hängt die Bildung eines Ganzen von der durch ein Zählwort anzugebenden Betrachtungsweise ab, und das, so schließt das Plädoyer für den wahren Kern der schwankenden Auffassung, wird negiert, wenn die schwankende Auffassung abgelehnt wird. Prüfen wir zunächst das Verhältnis der beiden Folgerungen zur schwankenden Auffassung. Trotz des teilweise ähnlichen Wortlauts handelt es sich um neue Behauptungen, die nicht die schwankende Auffassung implizieren. Denn wenn z.B., um der Folgerung (A) zu entsprechen, bei der Betrachtung der Moleküle erst einmal deutlich gemacht ist, daß es um ganze Tischbeine geht, steht es nach Folgerung (B) fest, ob die Moleküle ein Ganzes bilden; oder jedenfalls schließt Folgerung (B) nicht aus, daß es feststeht, während es durch die schwankende Auffassung ausgeschlossen wird. Anders als es die schwankende Auffassung will, ist die subjektive Einschätzung eines Beobachters dann irrelevant dafür, ob die Moleküle etwas zusammensetzen. Also kann man die schwankende Auffassung leugnen, ohne die beiden Folgerungen leugnen zu müssen. Wie steht es um die Wahrheit der Folgerungen? Zweierlei soll an dieser Stelle nicht in Frage gestellt werden: Wenn verschiedene Dinge ein Ganzes zusammensetzen, dann gibt es eine Art von Objekt, der das zusammengesetzte Ganze angehört und die durch ein Zählwort angegeben werden kann. Ferner mag es die sprachliche Verständigung erleichtern, Fragen wie ‘bilden die Moleküle ein ganzes Tischbein?’ statt ‘bilden die Moleküle ein Ganzes?’ zu stellen. Die beiden Folgerungen scheinen mir jedoch falsch zu sein. Folgerung (A) betrifft die sprachliche Ebene; was diese angeht, so ist die Frage, ob die Moleküle ein Ganzes bilden, auch ohne Ergänzung durch ein Zählwort wie ‘Tischbein’ durchaus sinnvoll; die Frage läuft darauf hinaus, ob es irgend etwas gibt, das die Molekü-

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I Die Frage nach der Zusammensetzung

le bilden - was und von welcher Art auch immer es sei. Um diese Frage sinnvoll zu stellen, muß man nicht im voraus angeben, welche Art von Objekt die Moleküle denn möglicherweise bilden. Folgerung (B) bezieht sich auf die ontologische Ebene; in dieser Hinsicht gilt, daß die Moleküle, sofern sie ein Ganzes bilden, ein Ganzes unabhängig davon bilden, ob irgend jemand seine Fragen in bezug auf sie mehr oder weniger leicht verständlich stellt. Die Existenz eines Objekts, das durch die Moleküle zusammengesetzt wird, hängt nicht von der Angabe eines Zählworts in einer Frage ab. Die Behauptung ist falsch, auch wenn sie nicht die schwankende Auffassung impliziert. Gemäß der gerade abgelehnten Folgerung (A) kann die Frage nach der Zusammensetzung nur dann sinnvoll gestellt werden, wenn sie relativiert wird, indem man fragt, unter welchen Bedingungen verschiedene Dinge ein ganzes F bilden, wobei für ‘F’ ein Zählwort einzusetzen ist. Zwar scheint mir die Frage nach der Zusammensetzung auch ohne eine solche Relativierung sinnvoll gestellt werden zu können, aber gleichwohl könnte es hilfreich sein, eine Relativierung vorzunehmen. Daß dies tatsächlich der Fall ist, wird das Ergebnis unserer Diskussion des zweiten Einwands sein. 1.2 Die sortale Relativität der Zusammensetzung Der zweite Einwand nimmt eine weitere angeblich falsche Voraussetzung der Frage nach der Zusammensetzung aufs Korn. Er läßt sich so formulieren: Zugestanden, daß in manchen Situationen verschiedene Objekte ein materielles Ganzes bilden, weil sie in einer bestimmten Relation zu einander stehen. Dann gibt es für jede Situation, in der die Zusammensetzung gegeben ist, eine Relation, der sich die Bildung verdankt. Aber daraus folgt nicht, daß es ein und dieselbe Relation ist, der sich in jedem Fall die Zusammensetzung verdankt. Es ist ganz im Gegenteil anzunehmen, daß je nach Art der komplexen Objekte verschiedene Arten von Relationen für die Zusammensetzung verantwortlich sind. Atome bilden Moleküle, Zellen Lebewesen und Himmelskörper Sonnensysteme. Es wäre überraschend, wenn die Bildungsrelation in allen

§ 1 Zwei Einwände

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Fällen dieselbe wäre. Die Frage nach der Zusammensetzung ist aber so allgemein, daß dann, wenn sie gestellt wird, die Erwartung impliziert ist, überall sei, wenn irgendeine, dann dieselbe Relation der Bildung am Werk. Die Frage nach der Zusammensetzung ist irreführend, weil sie Gemeinsamkeit voraussetzt, wo Unterschiedenheit herrscht. Dem Einwand ist meiner Ansicht nach insofern völlig Recht zu geben, als nicht vorausgesetzt werden darf, daß die Frage nach der Zusammensetzung, wenn sie überhaupt eine wahre Antwort hat, eine Antwort hat, die erstens wahr ist und zweitens für alle Typen von komplexen Objekten eine einzige Relation der Bildung anführt; eine Antwort, welche die zweite Bedingung erfüllt, möge ‘allgemeine Antwort’ heißen. Aber nicht berechtigt ist der Vorwurf, daß man eine allgemeine Antwort voraussetzt, wenn man die Frage nach der Zusammensetzung stellt. Es besteht allenfalls die konversationale Implikation, daß es wünschenswert wäre, wenn sich eine wahre allgemeine Antwort geben ließe. Den genannten Einwand haben verschiedene Kritiker gegen van Inwagen erhoben.9 Der Vorwurf ist prima facie nicht berechtigt, denn van Inwagen berücksichtigt ausdrücklich die Möglichkeit, daß die richtige Antwort auf die Frage nach der Zusammensetzung die Form einer komplexen Disjunktion annimmt, wobei jedes Disjunkt für einen Typ von Teilen eine andere Relation der Zusammensetzung nennt.10 Möglicherweise, so van Inwagen, ist die richtige Antwort so komplex, daß nur Gott sie erfassen könnte.11 Ob die Frage nach der Zusammensetzung eine wahre allgemeine Antwort hat, muß nach van Inwagen die Analyse zeigen. Mit dieser Verteidigung ist der zweite Einwand jedoch noch nicht entschärft. Das Problem liegt tiefer. Wenn nämlich nicht unterstellt wird, daß die korrekte Antwort auf die Frage nach der Zusammensetzung eindeutig ist, dann ist unklar, was überhaupt ____________ 9 10 11

Vgl. Eklund (2002, 247), Persson (1993, 512f.), Rosenberg (1993, 704f.), Runggaldier (1998, 368), Sanford (1993, 223f.). Van Inwagen bezeichnet eine solche Antwort als „Series-style answer“. Vgl. van Inwagen (1990a, Sec. 7). Vgl. van Inwagen (1990a, 68), (1993, 710).

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I Die Frage nach der Zusammensetzung

das Interesse an der Frage ist.12 Der Philosoph, der die Frage nach der Zusammensetzung stellt, wird deshalb auf eine allgemeine Antwort hinarbeiten. Wenn der Philosoph zu dem Ergebnis kommt, daß die Relation R für einen bestimmten Typ komplexer Objekte die Relation der Zusammensetzung ist, dann drängt die Absicht, eine allgemeine Antwort zu geben, zu der Folgerung, daß Dinge, die nicht in der bevorzugten Relation R zueinander stehen, auch nichts bilden. Die Allgemeinheit der Frage nach der Zusammensetzung fördert eine Tendenz zur Elimination: Wenn die Zusammensetzung eines Typs komplexer Objekte nicht auf der bevorzugten Relation R beruht, dann wird gefolgert, daß es gar keine komplexen Objekte dieses Typs gibt. Die Folgerung könnte falsch sein. Ein Dilemma droht: Eine Antwort auf die Frage nach der Zusammensetzung ist entweder uninteressant, weil nicht allgemein, oder falsch, weil eliminativ. Die geschilderte Tendenz zur Elimination läßt sich bei van Inwagen unschwer nachweisen, und zwar sowohl in seinen methodischen Überlegungen als auch in seinen Ergebnissen. In einer methodischen Reflexion beschreibt und bewertet van Inwagen die Strategie desjenigen, der die Frage nach der Zusammensetzung zwar beantworten möchte, aber davon ausgeht, daß sie keine korrekte allgemeine Antwort hat, folgendermaßen: We must first decide what objects we think there are and then try to devise an answer that will generate them. Our answer will therefore be somewhat ad hoc. It would be nice if we had an answer that had something to tell us about what objects there were.13

Der ausschlaggebende Unterschied zwischen dem Verfahren, das van Inwagen ablehnt, gegenüber dem von ihm favorisierten liegt in der Reihenfolge: Nach der gegnerischen Strategie befindet man zuerst darüber, was es gibt, und richtet danach die Antwort auf die Frage nach der Zusammensetzung aus, während van Inwagen dafür plädiert, zuerst eine Antwort auf die Frage nach der Zusammensetzung zu geben und mit deren Hilfe zu entscheiden, was es gibt. Wenn die bevorzugte Antwort auf die Frage nach der ____________ 12 13

Eklund (2002, 247f.) stellt die Bedeutung der Special Composition Question von van Inwagen in ähnlicher Weise in Frage. Vgl. van Inwagen (1990a, 66).

§ 1 Zwei Einwände

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Zusammensetzung impliziert, daß es gewisse Objekte nicht gibt, deren Existenz man andernfalls nicht bezweifeln würde, gibt es prima facie zwei Optionen: Man folgert entweder, daß es die fraglichen Objekte nicht gibt, oder daß die bevorzugte Antwort nicht allgemeingültig ist. Van Inwagen spricht sich dafür aus, jeweils die erste Folgerung zu ziehen, und leistet damit der Elimination Vorschub. Die Methode entspricht seinen Ergebnissen, denn die wichtigste These seines Buchs hat tatsächlich unmittelbare Konsequenzen hinsichtlich der Nichtexistenz zahlreicher, üblicherweise ontologisch unverdächtiger Arten von Dingen. Die Hauptthese besagt, daß verschiedene Dinge genau dann eine komplexe Substanz bilden, wenn ihre Aktivität ein Leben konstituiert.14 Daraus folgt, daß die einzigen komplexen Substanzen, die es gibt, lebendige Organismen sind, während Tische und Stühle, Steine und Berge, Planeten und Sterne nicht existieren. Das von van Inwagen favorisierte Verfahren scheint mir aufgrund seiner Tendenz zur Elimination problematisch zu sein. Man kann seinen Ansatz auf wenigstens zwei Weisen modifizieren. Die erste Möglichkeit ist, das Problem der Zusammensetzung abzuschwächen und lediglich nach hinreichenden Bedingungen statt nach hinreichenden und notwendigen Bedingungen zu fragen. Das würde es erlauben, für verschiedene Arten von Objekten verschiedene einheitbildende Relationen anzunehmen, z.B. atomare und chemische Bindungen. Damit würde die eliminative Tendenz in van Inwagens Ansatz vermieden; der Umstand, daß verschiedene Dinge nicht in einer bevorzugten Relation der Zusammensetzung stehen, zwänge dann nicht zu der Annahme, diese Dinge setzten nichts zusammen. Die andere Möglichkeit ist, von vornherein die Frage nach der Zusammensetzung auf Arten von Objekten zu relativieren. Diese Strategie unterbindet wie die erste die Tendenz zur Elimination und wird im folgenden eingeschlagen. Sie entspricht dem Vorgehen, das van Inwagen in dem obigen Zitat zurückweist, und setzt eine Orientierung über die Arten von komplexen Substanzen voraus, nach deren Zusammensetzung gefragt werden soll. Eine sol____________ 14

Vgl. van Inwagen (1990a, 82).

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I Die Frage nach der Zusammensetzung

che Orientierung wird in Kapitel II gegeben. Sofern sich die Frage, unter welchen Bedingungen verschiedene Dinge eine komplexe Substanz der Art F bilden, nicht befriedigend beantworten läßt, muß man gegebenenfalls die Annahme fallen lassen, daß es F’s gibt. In dieser Weise werden die Frage nach der Ontologie und die Frage nach der Zusammensetzung in Wechselwirkung zueinander gebracht. Gegen das anvisierte Vorgehen läßt sich einwenden, daß zwar das eine Horn des obigen Dilemmas, die Tendenz zur Elimination, vermieden wird, aber dafür das zweite in Kauf genommen wird, indem von der Unterstellung abgesehen wird, daß die Frage nach der Zusammensetzung eine allgemeine Antwort hat. Dann nämlich, so der Vorwurf, verliert die Frage ihr Interesse. Dieser Vorwurf läßt sich jedoch entkräften. Auch dann, wenn die Frage nach der Zusammensetzung keine korrekte allgemeine Antwort hat und auch nicht mit dieser Voraussetzung in Angriff genommen wird, kann ihre Untersuchung zu wichtigen Ergebnissen führen. Aristoteles, der als erster die Frage nach der Zusammensetzung stellte, hat ihr den Charakter einer methodischen Maxime gegeben, vergleichbar dem Quineschen Postulat „No Entity Without Identity“: Ein Philosoph, der komplexe Objekte einer beliebigen Art annimmt, muß für diese Art angeben, „was das ist, das eines aus vielen macht“, gleichgültig, ob es sich bei den komplexen Dingen um materielle Objekte, Zahlen oder Ideen handelt.15 Die Forderung möge Aristotelische Maxime heißen. Es ist wenig überraschend, daß Aristoteles meinte, Platon, der erste Adressat der Maxime, sei ihr nicht gerecht geworden und habe daher verschiedene Arten von Objekten zu Unrecht angenommen. Das Beispiel zeigt, daß die Frage nach der Zusammensetzung ontologischen Biß behält, auch wenn keine allgemeine Antwort korrekt ist: Auf die Annahme einer Art von Objekten muß verzichtet werden, sofern es nicht gelingt, für sie eine überzeugende Analyse der Zusammensetzung anzugeben und es Gründe gibt anzunehmen, eine solche Analyse könne nicht angegeben werden. ____________ 15

Vgl. Aristoteles, Met. VIII 3, 1044a5.

§ 1 Zwei Einwände

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Außerdem kann sich herausstellen, daß manche allgemeinen Antworten falsch sind. Wenn z.B. gezeigt wird, daß zwar manche, aber nicht beliebige Dinge eine komplexe Substanz bilden, dann sind der Atomismus und das Prinzip der uneingeschränkten Summenbildung falsch. Das ist für sich genommen von beträchtlichem Interesse. Denn wenn erstens der Atomismus falsch ist, dann gilt nicht, daß alles, was es gibt, Elementarteilchen wie Quarks und Elektronen sind (angenommen, Quarks und Elektronen sind mereologische Atome). Wenn aber alles, was es gibt, Quarks und Elektronen sind, dann gibt es mich nicht, denn was immer ich bin, ich bin eine komplexe Substanz. Wenn es zweitens falsch ist, daß beliebige Dinge ein komplexes Objekt bilden, dann ist ein Konzept von der Wirklichkeit falsch, das Michael Dummett als das Bild von der Realität als „amorpher Klumpen“ („amorphous lump“) bezeichnet hat (kurz: die Klumpenthese).16 Die Klumpenthese besagt folgendes: Alles, was es gibt, ist Stoff mit Eigenschaften, und in allen wahren, die Wirklichkeit beschreibenden Aussagen, schreibt man Stoff und nicht zählbaren Objekten eine Eigenschaft zu. Ein wahrer Satz über die Wirklichkeit hat daher die Form von ‘hier ist es F’, wobei ‘F’ nicht für ein Sortale unter Einschluß von Massentermini steht. Also nicht ‘hier ist ein Mensch’ und ‘hier ist Wasser’, sondern eher ‘hier ist es menschenartig’ und ‘hier ist es wäßrig’ eignen sich zur korrekten Beschreibung der Wirklichkeit. Platon hat an zwei gerne zitierten Stellen das kunstgerechte Tranchieren eines Opfertiers als Vorbild für die begriffliche Zerlegung der Realität „an ihren natürlichen Gliedern“ genannt.17 Nach der Klumpenthese gibt es keine solche natürliche Gliederung. Die Wirklichkeit ist, wie Dummett es ausdrückt, „nicht in diskrete Objekte artikuliert“, nicht einmal in diskrete Stoffe wie Wasser, Gold und Luft. Die Gliederung in diskrete Objekte ist Men____________ 16

17

Vgl. Dummett (1981, 577). Ich ignoriere die exegetische Frage, inwieweit Dummett die Klumpenthese vertritt. Die Frage ist schwierig, weil Dummett die Klumpenthese, die eine metaphysische Behauptung ist, mit einer These über die Bedeutung und Anwendbarkeit genereller Terme verbindet. Vgl. Platon, Phaidros 265e, Politikos 287c. Lowe (1989a, 3) und Swinburne (1997, 79) sympathisieren mit der Idee des Zerlegens der Realität an ihren Gliedern, Heller (1990, 49f.) und Hacking (1991, 111) lehnen sie ab.

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I Die Frage nach der Zusammensetzung

schenwerk. In diesem Sinn schreibt Michael Jubien, ein erklärter Anhänger der Klumpenthese: [...] the world does not come naturally divided into a definite array of discrete things. Instead, it consists of ‘stuff’ spread more or less unevenly and more or less densely around space-time. [...] But carving the world into things our way [...] is not compelled by features intrinsic to the distribution of stuff that confronts us.18

Die Klumpenthese ist falsch, wenn mancher Stoff, aber nicht jeder Stoff einen Komplex bildet. Denn in diesem Fall gibt es eine Zerlegung von Stoff in Portionen und wenigstens eine Relation der Zusammensetzung R, die zwischen manchen, aber nicht alle Portionen von Stoff besteht. Dann sind komplexe Stoffportionen voneinander und von dem Stoff unterschieden, der keine komplexen Portionen bildet. Ich kann zwar keinen allgemeinen Maßstab dafür angeben, welche metaphysische Fragen interessant sind, aber mir scheint, daß ein Maßstab verfehlt ist, nach dem eine Frage, die zu Ergebnissen wie den genannten führt, nicht interessant ist. Um zusammenzufassen: Der erste Einwand gegen den Sinn der Frage nach der Zusammensetzung weist zu Recht auf die Voraussetzung hin, es sei keine Ansichtssache, unter welchen Bedingungen verschiedene Dinge etwas zusammensetzen. Der Einwand scheitert freilich, weil er diese völlig korrekte Voraussetzung zu Unrecht ablehnt. Der zweite Einwand diagnostiziert zu Recht eine eliminative Tendenz: Wer die Frage nach der Zusammensetzung allgemein und nicht gesondert für verschiedene Arten von Objekten stellt, neigt dazu, nach einer einzigen Relation der Zusammensetzung Ausschau zu halten und sämtliche Typen von komplexen Substanzen für nicht existent zu erklären, deren Zusammensetzung nicht auf der einen Relation beruht. Diesen Einwand nehme ich sehr ernst. Um der eliminativen Tendenz vorzubeugen, werde ich am Ende des Kapitels die Frage nach der Zusammensetzung sortal relativieren und in dieser Form im weiteren Verlaufs zu beantworten versuchen (§ 4). Bevor die Frage nach der Zusammensetzung angemessen formuliert werden kann, sind jedoch noch einige Vorbereitungen nötig. Zum einen ist ein Mittel erforderlich, das es erlaubt, über ____________ 18

Jubien (1993, 1).

§ 2 Plural-Bezugnahme

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verschiedene Dinge zu sprechen, ohne sich die Voraussetzung einzuhandeln, daß die Dinge, über die man spricht, ein Ganzes zusammensetzen. Andernfalls hätte man die Frage ‘wann bilden verschiedene Dinge ein Ganzes?’ schon mit ‘immer’ beantwortet, sowie man sie gestellt hat. Zu diesem Zweck werden Pluralterme eingeführt und Überlegungen zu ihrer Interpretation angestellt (§ 2). Zum anderen müssen einige mereologische Ausdrücke und Axiome eingeführt werden, um Ausdrücke wie ‘zusammensetzen’ definieren zu können (§ 3).

§ 2 Plural-Bezugnahme 2.1 Zum Vokabular einer Plural-Sprache Das Hauptmotiv, Plural-Bezugnahme zu diskutieren, ist die Ermöglichung einer neutralen Formulierung der Frage nach der Zusammensetzung. Darüber hinaus gibt die Interpretation von Pluraltermen ein Modell für die Deutung von Massentermen ab, die uns im zweiten Kapitel wieder begegnen werden. Eine natürliche Sprache wie das Deutsche enthält neben singulären auch Pluralterme wie ‘die Müllers’ oder ‘die Mitglieder des Wiener Kreises’. Außerdem stehen Plural-Prädikate wie ‘umringen’ zur Verfügung, deren Verknüpfung mit Pluraltermen Sätze ergibt wie z.B. ‘die Müllers umringen die Meiers’. Im Unterschied zum Deutschen kennt die übliche Prädikatenlogik erster Stufe jedoch ausschließlich singuläre Terme und singuläre Prädikate. Insbesondere dann, wenn diese Logik ausreichen soll, die logisch relevanten Züge einer natürlichen Sprache zu repräsentieren, stellt sich die Frage, in welcher Weise Plural-Ausdrücke zu behandeln sind. Sind die natürlich-sprachlichen Plural-Ausdrücke nur eine Laune der Grammatik, die ähnlich wie das grammatikalische Genus von der Logik ignoriert werden kann? Offensichtlich nicht, denn sie sind wesentlich an gültigen Ableitungen beteiligt. Wenn z.B. Franz, Fritz und Friederike die Müllers sind, und wenn die Müllers rothaarig sind, dann läßt sich ableiten, daß Franz, Fritz und Friederike rothaarig sind. Eine andere systematische Strategie als Ignorieren ist erforderlich, um Plural-Ausdrücke zu berücksichtigen: Man erweitere

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I Die Frage nach der Zusammensetzung

die Syntax der üblichen Logik durch Plural-Ausdrücke zu einer formalen Plural-Sprache und gebe ihre Logik und Semantik an. Diese Aufgabe kann hier nicht geleistet werden; lediglich einige Schritte in die genannte Richtung werden unternommen. Im folgenden gehe ich so vor, daß ich jeweils zuerst Plural-Ausdrücke der natürlichen Sprache nenne und, soweit nötig, dann ihre symbolischen Gegenstücke in einer formalen Plural-Sprache. Neben den Plural-Ausdrücken enthält eine Plural-Sprache das Vokabular der üblichen Prädikatenlogik erster Stufe. (i) Pluralterme: Zu den Pluraltermen zählen Eigennamen (‘die Müllers’), Kennzeichnungen (‘die Nachbarn von Franz’) und Pronomen (‘sie’, ‘diese’). Pronomen werden durch Plural-Variable (‘xe’, ‘ys’, zs’) symbolisiert.19 Mit Hilfe des Operators ‘und’ können aus einfachen (singulären oder Plural-) Termen komplexe Pluralterme gebildet werden, wobei die Kombination beliebiger Typen von Termen möglich ist (‘Fritz und Franz’, ‘Fritz und die Müllers’, ‘er und seine Freunde’, etc.). Der Operator ‘und’ ist offensichtlich nicht identisch mit dem aussagenlogischen Junktor ‘und’. Man könnte ‘&’ als Symbol für den ersten reservieren, aber die Gefahr einer Verwechslung ist so gering, daß dies überflüssig ist. Wie genau lassen sich Pluralterme von singulären Termen in der natürlichen Sprache unterscheiden? Der grammatikalische Singular und Plural von Ausdrücken der natürlichen Sprache sind keine sicheren Hinweise auf die Einzahl und Mehrzahl der Bezugsobjekte. Ausdrücke wie ‘Vielheit’, ‘Gruppe’ oder ‘Sammlung’ sind syntaktisch singuläre oder möglicherweise auch neutrale Terme, werden aber gerne benutzt, um sich auf verschiedene Objekte zu beziehen.20 Daher möchte ich ein semantisches Kriterium vorschlagen: Ein Ausdruck, der sich auf mehr als ein Objekt bezieht, ist auf keinen Fall ein singulärer, sondern ein Pluralterm. Der Bezug auf mehrere Objekte ist also ein hinreichendes semantisches Kriterium für Pluralterme.21 Soll es auch als notwendig gelten? ____________ 19 20 21

Sätze mit Kennzeichnungen können im Geist von Russell gemäß dem folgenden Beispiel behandelt werden: ‘Die Nachbarn von Franz sind nett’ wird analysiert durch ‘xey ((y ist eines der xe l y ist Nachbar von Franz) š die xe sind nett)’. Vgl. Simons (1987, 145), Hossack (2000, 416f.). Vgl. die Unterscheidung von semantisch singulären und semantisch pluralischen Ausdrücken bei Simons (1987, 143).

§ 2 Plural-Bezugnahme

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Selbst wenn man fiktive Plural-Namen außer Acht läßt (‘die Parzen’, ‘die Dioskuren’), scheint das aus folgendem Grund nicht angemessen zu sein: Üblicherweise werden singuläre Kennzeichnungen zu den singulären Termen gerechnet, und entsprechend sollten Plural-Kennzeichnungen zu den Pluraltermen zählen. Plural-Kennzeichnungen müssen sich aber nicht auf mehrere Objekte beziehen, sondern können sinnvoll gebraucht werden, auch wenn sie nur auf ein einziges oder auf gar kein Objekt zutreffen. Z.B. kann der Satz ‘die Freunde von Franz sind nicht zahlreich’ wahr und damit sinnvoll sein, wenn Franz nur einen oder gar keinen Freund hat. Manche Plural-Kennzeichnungen wie ‘die Primzahlen zwischen 47 und 59’ haben sogar notwendig nur ein Bezugsobjekt. Deshalb ist es nicht angemessen, den Bezug auf mehrere Objekte zur notwendigen Bedingung für Pluralterme zu erklären. (ii) Plural-Quantoren: Manchmal möchte man über viele Objekte zugleich in allgemeiner oder unbestimmter Weise sprechen, ohne über die Möglichkeit zu verfügen, die betreffenden Objekte zu benennen, eindeutig zu beschreiben oder auf sie hinzuweisen, z.B. in ‘manche Kritiker bewundern nur einander’ oder in ‘wann immer sich rothaarige Männer prügeln, ist Franz einer von ihnen’. Dabei werden Plural-Quantoren und Plural-Pronomen bzw. Variable verwendet. Die Plural-Quantoren werden durch ‘xe’ und ‘xe’ symbolisiert und können gelesen werden als ‘für manche Objekte gilt, daß’ und ‘für beliebige Objekte gilt, daß’. (iii) Kollektive Prädikate: Man vergleiche ‘Franz und Fritz sind rothaarig’ mit ‘Franz, Fritz und Friederike umringen Fido’. Während der erste Satz äquivalent ist mit ‘Franz ist rothaarig und Fritz ist rothaarig’, ist der zweite nicht äquivalent mit ‘Franz umringt Fido und Fritz umringt Fido und Friederike umringt Fido’. Deshalb ist ‘rothaarig’ distributiv, ‘umringen’ dagegen kollektiv. Allgemein: Sei ‘p’ ein beliebiger Pluralterm; dann ist ein Prädikat ‘F’ distributiv, wenn ‘F(p)’ äquivalent ist mit ‘jedes der p’s ist F’, und andernfalls kollektiv.22 Kollektive Prädikate, z.B. ‘zahlreich sein’ und ‘um die Wette laufen’, treffen dann, wenn sie zutreffen, typi____________ 22

Die Definition folgt Oliver & Smiley (2001, 289). Die Definition von ‘distributiv’ bei Hossack (2000, 415) gilt für Eigenschaften, ist aber sonst analog. Dagegen bezieht Cameron (1999, 128f.) die Unterscheidung distributiv vs. kollektiv nicht primär auf Prädikate, sondern auf die Weise der Bezugnahme von Termen.

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I Die Frage nach der Zusammensetzung

scherweise auf mehrere Objekte zu. Manche kollektive Prädikate drücken kollektive Aktivitäten aus, z.B. ‘im Duett singen’ und ‘einen Reigen tanzen’. Eine kollektive Aktivität ist eine Aktivität, die nicht von einem einzigen Objekt vollzogen werden kann. (iv) Das Prädikat ‘ist eines von’: Schließlich verwendet man in der natürlichen Sprache das Prädikat ‘ist eines von’ (mit den syntaktischen Varianten ‘ist einer von’, ‘ist eine von’). Auf die Einführung eines eigenen Symbols in der Plural-Sprache kann verzichtet werden. Das Prädikat entspricht der Elementschaft der Mengentheorie. Während die erste Argumentstelle durch einen singulären Term besetzt wird, kann die zweite durch einen Pluralterm besetzt werden, wie z.B. in ‘Franz ist einer der Müllers’. Üblicherweise wird die zweite Stelle in der natürlichen Sprache auch ausschließlich durch Pluralterme gefüllt; Sätze wie ‘Franz ist einer von Franz’ sind unüblich. Für das ‘ist eines von’ der Plural-Sprache soll allerdings nicht gefordert werden, daß die zweite Argumentstelle nur durch einen Pluralterm gefüllt werden kann. Sätze wie ‘a ist eines von a’ sind demnach syntaktisch in Ordnung.23 Die Bedeutung des Prädikates ist klar. Jeder kompetente Sprecher des Deutschen ist in der Lage, einfache Folgerungen zu ziehen, die durch das Prädikat unterstützt werden. Wenn z.B. die Müllers rothaarig sind und Franz einer der Müllers ist, dann ist Franz rothaarig. Mit Hilfe von ‘ist eines von’ läßt sich das Prädikat ‘sind unter’ definieren, dessen beide Argumentstellen Pluralterme oder Variable zulassen. Das Prädikat ist also sozusagen die Plural-Form von ‘ist eines von’:24 (DSU) die xe sind unter den ys =df z (z ist eines der xe o z ist eines der ys). ‘Ist eines von’ und ‘sind unter’ drücken sogenannte vielgradige Relationen (multigrade relation) aus.25 Das sind Relationen, deren Stellenzahl variiert. Van Inwagen spricht von „variabel vielstelligen Prädikaten“.26 Z.B. drückt ‘einander treffen’ eine vielgradige Rela____________ 23 24 25 26

Das Prädikat ‘ist eines von’ wird verwendet wie das ‘H’ in Lesniewskis Ontologie; vgl. Simons (1987, 21). Vgl. van Inwagen (1990a, 27). Der Ausdruck stammt von Leonard & Goodman (1940, 50). Vgl. van Inwagen (1990a, 28).

§ 2 Plural-Bezugnahme

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tion aus, weil es als Prädikat mit zwei, drei oder mehr Stellen verwendet werden kann. Vielgradige Relationen sind für uns deshalb interessant, weil die Zusammensetzung zu ihnen zählt.

2.2 Strategien zur Interpretation von Plural-Sätzen Der Gebrauch von Plural-Vokabular ist für unsere Zwecke nur dann hilfreich, wenn seine Interpretation in einer bestimmten Hinsicht neutral ist. Das läßt sich am besten durch ein Beispiel illustrieren. Angenommen, Franz wollte seiner Ablehnung des Prinzips der uneingeschränkten Summenbildung Ausdruck verleihen und erklärte, daß jedenfalls er, Franz, und die Isar kein komplexes Objekt bildeten. Unter einer gängigen Interpretation von Pluraltermen könnte die Behauptung von Franz schon aus semantischen Gründen nicht wahr sein. Wenn nämlich der Pluralterm ‘Franz und die Isar’ auf die Summe von Franz und der Isar bezogen wird, dann wäre die Behauptung von Franz nur dann sinnvoll, wenn er und die Isar ein komplexes Objekt zusammensetzten, nämlich ihre Summe. Der Sinn von Franzens Behauptung würde unter der fraglichen Interpretation also ihre Falschheit voraussetzen, und deshalb ist diese Interpretation in der relevanten Hinsicht nicht neutral. Ähnlich steht es um die Interpretation von Sätzen mit Plural-Quantifikation. Das führt uns zu der Frage, wie Sätze, die Plural-Vokabular enthalten (kurz: Plural-Sätze) zu interpretieren sind; dabei konzentriere ich mich der Einfachheit halber auf atomare Sätze. Eine grundsätzliche Wegscheide bei der Interpretation von Plural-Sätzen ist die Frage, ob man das Plural-Vokabular für verständlich oder für erklärungsbedürftig hält. Wer davon ausgeht, daß wir das Plural-Vokabular der natürlichen Sprache ohne Probleme beherrschen, fühlt sich berechtigt, bei der Interpretation von Plural-Sätzen in der Metasprache auf Plural-Vokabular zurückzugreifen. Wer das Plural-Vokabular dagegen als undurchsichtig ansieht, wird genau das vermeiden wollen und für die Interpretation von Plural-Sätzen Vokabular verwenden, das seiner Ansicht nach besser verstanden ist, nämlich mereologisches oder mengen-

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I Die Frage nach der Zusammensetzung

theoretisches.27 Die Rede im Plural über verschiedene Dinge wird dann als Rede über komplexe Objekte verstanden. Die erste Position möge ‘neuer Ansatz’ heißen, die zweite ‘konservativer Ansatz’. Es gibt zwei Spielarten des konservativen Ansatzes: Die eine setzt die komplexen Objekte, über die man mit dem Gebrauch von Plural-Vokabular spricht, mit Summen gleich, die andere identifiziert sie mit Mengen. Betrachten wir zur Veranschaulichung folgenden Satz: (1) Die Müllers gehen zusammen spazieren. Ein Anhänger des neuen Ansatzes wird für (1) folgende Wahrheitsbedingung angeben: (1’) xe (‘die Müllers’ bezieht sich auf die xe und die xe erfüllen ‘gehen zusammen spazieren’). Während sich ein singulärer Term auf ein einzelnes Objekt bezieht, beziehen sich Pluralterme nach dem neuen Ansatz auf verschiedene einzelne Objekte. Das wird durch den Gebrauch der Plural-Quantifikation in der Angabe der Wahrheitsbedingung deutlich gemacht. Dieser Gebrauch wiederum ist für den neuen Ansatz völlig legitim. Im Gegensatz dazu wird ein Verfechter des konservativen Ansatz die Wahrheitsbedingung für (1) so angeben: (1’’) x (‘die Müllers’ bezieht sich auf x und x erfüllt ‘gehen zusammen spazieren’). Hier wird singuläre Quantifikation gebraucht, wobei die Variablen je nach Version des konservativen Ansatzes entweder über Summen oder über Mengen laufen. Der Bezug von ‘die Müllers’ ist entweder die Summe, deren Teile die Müllers sind, oder die Menge, deren Elemente die Müllers sind. Der für den Kontrast zum neuen Ansatz systematisch wichtige Punkt ist, daß Summen und Mengen komplexe einzelne Objekte sind. Der konservative Ansatz assimiliert also die Interpretation von Pluraltermen an die Interpretation von singulären Termen. Für die Beurteilung der beiden Versionen ist eine Bemerkung über wesentliche Unterschiede zwischen Mengen und Summen sinnvoll: Verschiedene Mengen können dieselbe Summe haben, ____________ 27

Damit ist nicht gesagt, daß der Gebrauch von mengentheoretischem Vokabular für die erste Position verzichtbar ist.

§ 2 Plural-Bezugnahme

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z.B. die Menge der Zellen, die Teil von Franz sind, und die Menge der Atome, die Teil von Franz sind, sind verschiedene Mengen, und kein Element der einen ist Element der anderen. Aber die Summe der einen Menge ist identisch mit der Summe der anderen, und beide sind identisch mit Franz. Verschiedene Mengen mit derselben Summe schreiben verschiedene Zerlegungen für diese Summe vor.28 Eine Summe läßt also verschiedene Zerlegungen in Teile zu, während eine Menge eine einzige Gliederung in ihre Elemente hat. Außerdem ist die Teil-Beziehung transitiv, die Beziehung der Elementschaft dagegen nicht. Zunächst zur ersten Lesart von (1’’). Pluralterme wie ‘die Brüder Grimm’ bezeichnen, wenn sie etwas bezeichnen, konkrete Objekte. Da Summen von konkreten Objekten ihrerseits konkret sind, hat die erste Version den Vorteil, den Bezug des ersetzenden Terms nicht als abstrakt auffassen zu müssen. Der entscheidende Nachteil von Summen ist, daß sie in vielen Weisen in Teile zerlegt werden können.29 Die Terme ‘die Gebrüder Grimm’ und ‘die Moleküle der Gebrüder Grimm’ bezeichnen nach der ersten Version dasselbe, nämlich dieselbe Summe. Die Terme können aber nicht dasselbe bezeichnen, weil die Gebrüder Grimm Gelehrte sind, ihre Moleküle aber nicht. Ferner, die Gebrüder Grimm sind zwei an der Zahl, während die Summe der Gebrüder Grimm ein Objekt ist, ebenso wie die Summe der Moleküle der Gebrüder Grimm. Wenig hilfreich wäre der Vorschlag, ‘die Gebrüder Grimm sind zwei an der Zahl’ zu lesen als ‘die Summe der Gebrüder Grimm ist derart, daß sie zwei Teile hat’, denn die Summe der Gebrüder Grimm hat sehr viel mehr als nur zwei Teile. Schließlich hat die erste Version aus der Perspektive der gegenwärtigen Untersuchung den Nachteil, sich nicht für die Formulierung von Fragen nach der Zusammensetzung von Objekten zu eignen. Eine Frage wie ‘In welcher Relation müssen diese Steine zueinander stehen, wenn sie ein Ganzes bilden sollen?’ ist nur dann interessant, wenn ihre Formulierung nicht schon voraussetzt, daß ‘diese Steine’ ein Ganzes bezeichnet. Genau diese Vorausset____________ 28 29

Vgl. Leonard & Goodman (1940, 49). Vgl. Hossack (2000, 412); Oliver & Smiley (2001, 293).

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I Die Frage nach der Zusammensetzung

zung würde die Frage jedoch mit sich bringen, wenn jeder Pluralterm eine Summe, also ein Ganzes bezeichnet. Nun zur zweiten Version, die Mengen als Bezugsobjekte für Pluralterme annimmt. Vermutlich genießt sie die weiteste Verbreitung unter allen Interpretationen für Pluralterme. David Lewis bezeichnet die Unterstellung, Pluralterme seien das Mittel der gewöhnlichen Sprache, über Mengen zu reden, sogar als ein „Dogma“.30 Vor- und Nachteile sind im Vergleich zur ersten Version umgekehrt verteilt. Ein offensichtliches, aber nicht unüberwindliches Problem beruht auf der Abstraktheit von Mengen: Wenn Franz die Plätzchen auf dem Teller ißt, dann verzehrt er nicht die Menge der Plätzchen auf dem Teller, weil Mengen abstrakt sind und daher nicht gegessen werden können.31 Dieses Problem läßt sich jedoch durch die Formulierung vermeiden, daß Franz jedes Mitglied der Menge der Plätzchen auf dem Teller verzehrt. Der Vorzug von Mengen ist, daß sie sich in einer einzigen Weise in ihre Mitglieder teilen. Weil die Menge {Jacob Grimm, Wilhelm Grimm} nicht identisch mit der Menge der Moleküle von Jacob und Wilhelm Grimm ist, sieht sich die zweite Version nicht auf die unerfreuliche Konsequenz festgelegt, daß die Terme ‘die Gebrüder Grimm’ und ‘die Moleküle der Gebrüder Grimm’ dasselbe bezeichnen. Auch mit Zahlaussagen kommt die zweite Version prima facie besser zurecht. Zwar ist die Menge {Jacob Grimm, Wilhelm Grimm} ein Objekt, aber man könnte ‘die Gebrüder Grimm sind zwei an der Zahl’ im Sinn der zweiten Lesart so paraphrasieren: ‘Es gibt zwei Objekte, von denen jedes ein Mitglied von {Jacob Grimm, Wilhelm Grimm} ist’. Aber auch die zweite Lesart hat ihre Probleme, wie man an Sätzen mit PluralEigennamen sehen kann, z.B. ‘die Müllers sind drei an der Zahl’.32 Die Paraphrase ‘Es gibt drei Objekte, von denen jedes ein Mitglied von {die Müllers} ist’ läßt den Plural-Namen ‘die Müllers’ stehen. Damit würde gegen die Absicht des konservativen Ansatzes verstoßen, Plural-Vokabular nicht mit Hilfe von Plural-Vokabular zu ____________ 30 31 32

Vgl. Lewis (1991, 65). Vgl. Boolos (1984, 448). Vgl. Oliver & Smiley (2001, 297).

§ 2 Plural-Bezugnahme

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interpretieren. Ich komme zu dem Ergebnis, daß es gute Gründe gibt, die beiden konservativen Antworten abzulehnen.33 Auch wenn sie nach wie vor nicht dominieren, haben sich vermehrt Stimmen gegen die konservativen Antworten und zugunsten der neuen Lösung erhoben. Bereits Lesniewski hat eine Logik des Plurals entwickelt, die von Peter Simons rekonstruiert worden ist.34 Ein Wegbereiter der neuen Antwort in der aktuellen Debatte ist ein Aufsatz von George Boolos.35 Boolos geht davon aus, daß wir die natürlich-sprachlichen Plural-Konstruktionen bestens verstehen, und schlägt vor, diese Kompetenz bei der Interpretation der Quantifikation zweiter Stufe heranzuziehen. Den Satz ‘X (Xa)’, dessen übliche Lesart in etwa lautet ‘manche Begriffe X sind derart, daß a unter X fällt’, hat man nach Boolos etwa so wiederzugeben: ‘manche Dinge X sind derart, daß a eines von ihnen ist’. Der zweitstufigen Variable X wird damit als Wert nicht ein Begriff oder sonst ein einzelnes Objekt zugeordnet, sondern eine Anzahl von Objekten. Boolos macht unter anderem folgendes geltend: Wenn man gewisse wahre Sätze als Quantifikationen über Mengen versteht, ____________ 33

34 35

Nach Rouilhan (2002) bezieht sich ein Pluralterm auf eine Vielheit („multiplicity“, 194), aber was eine Vielheit ist, wird nicht recht deutlich. Eine Vielheit ist jedenfalls keine Menge (197) und sie existiert in einem anderen Sinn von ‘existieren’ als Einheiten, nämlich im Sinn des zweitstufigen Existenzquantors (197f.). Andere konservative Strategien zielen darauf, Pluralterme weg zu paraphrasieren, in ähnlicher Weise wie die oben erwähnte „Analyse per Elimination“; vgl. Oliver & Smiley (2001, 291). Eine weitere konservative Strategie wird von Schein (1993) verfolgt. Oliver & Smiley (2001, 298-300) skizzieren die Leitidee: Die zu Ereignissen bestehende Relation ‘spielt eine Rolle in’ wird eingeführt, und alle Prädikate werden so konstruiert, daß sie Ereignisstellen haben. Sätze der Form ‘F(p)’ werden dann so paraphrasiert: ‘Es gibt ein Ereignis des F-ens derart, daß darin alle und nur die Mitglieder der Menge von p eine Rolle spielen’. Oliver & Smiley zeigen aber, daß diese Analyse einem Paradox ausgesetzt ist, das wie Russells Paradox gebaut ist. Das Paradox ergibt sich folgendermaßen: Manche, aber nicht alle Ereignisse spielen eine Rolle in sich selbst. Nun betrachte man die Ereignisse, die keine Rolle in sich selbst spielen, und treffe eine wahre Aussage, etwa, daß sie viele sind. Die Analyse macht aus dieser Aussage die paradoxe Aussage: ‘Es gibt ein Ereignis des Viele-Seins derart, daß darin alle und nur die Mitglieder der Menge von Ereignissen eine Rolle spielen, die keine Rolle in sich selbst spielen’. Ein solches Ereignis des Viele-Seins kann es nicht geben, weil es genau dann eine Rolle in sich selbst spielt, wenn es das nicht tut. Vgl. Simons (1987, 60-70). Vgl. Boolos (1984).

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I Die Frage nach der Zusammensetzung

sieht man sich zur Annahme von Mengen genötigt, die es nicht geben kann. Gibt man die Sätze dagegen mit Hilfe von PluralVokabular wieder, erhält man Sätze, die unproblematische Wahrheiten ausdrücken.36 Außerdem kann Boolos sich auf das Gebot der ontologischen Sparsamkeit berufen. Wenn es nicht zwingend erforderlich ist, den Gebrauch von Plural-Vokabular so zu deuten, daß er die Verpflichtung auf Mengen mit sich bringt, dann sollte man das auch nicht tun, sondern eine neutrale Interpretation wählen. In einer schönen Passage schreibt Boolos: [...] neither the use of plurals nor the employment of second-order logic commits us to the existence of extra items beyond those to which we are already committed. [...] Ontological commitment is carried by our first-order quantifiers; a second-order quantifier needn’t be taken to be a kind of first-order quantifier in disguise, having items of a special kind, collections, in its range. It is not as though there were two sorts of things in the world, individuals and collections of them, which our firstand second order variables, respectively, range over and which our singular and plural forms, respectively, denote. There are, rather, two (at least) different ways of referring to the same things [...].37

Das ist ganz im Geiste Ockhams: Nicht jeder Bezeichnungsweise entspricht eine besondere Kategorie von Objekten. ‘Semantische Vielfalt ohne ontologische Vielfalt’ lautet die Devise. Es gibt zwar die besondere semantische Kategorie der Pluralterme, aber nicht die besondere ontologische Kategorie der Plural-Objekte. Auf die Angabe von Logik und Semantik einer Plural-Sprache möchte ich verzichten und statt dessen auf Vorschläge von Boolos und Hossack verweisen, wobei letzterer insofern radikaler ist, als er darauf verzichtet, in der Metasprache mengentheoretisches Vokabular zu verwenden.38 Lediglich eine Festlegung soll getrof____________ 36

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Boolos (1984, 442). Boolos geht im Vergleich zur zweiten konservativen Antwort genau umgekehrt vor: Statt Pluraltermen eine Interpretation zu geben, die auf die Annahme von Mengen festlegt, interpretiert Boolos mit Hilfe der (bereits verstandenen) Pluralterme die Rede über Mengen. Boolos (1984, 449); zustimmend zitiert von Laycock (2006, 87). Das Motiv der ontologischen Sparsamkeit ist in gewisser Weise für Hossack (2000) leitend: Hossack interpretiert Pluralterme so, daß die Annahme komplexer Objekte (Mengen, Massen und zusammengesetzte Individuen) vermieden wird. Dabei nimmt er allerdings eine Ontologie von Sachverhalten und Universalien in Kauf. Vgl. Boolos (1985) und Hossack (2000, 416-422). Für Kritik an Boolos vgl. Resnik (1988).

§ 3 Mereologische Definitionen und Axiome

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fen werden: Eine existentielle Plural-Quantifikation muß nicht durch wenigstens zwei Objekte wahr gemacht werden. Ein Satz der Form ‘xe (Fxe)’ soll vielmehr schon dann als wahr gelten, wenn wenigstens ein Objekt aus dem Wertebereich ‘F’ erfüllt. Für meine Zwecke reicht es dargelegt zu haben, daß es gute Gründe gibt, den Gebrauch von Pluraltermen nicht mit Bezug auf Summen und Mengen, sondern neutral zu interpretieren. Die Frage, ob Franz und die Isar ein komplexes Objekt bilden, muß also nicht schon aus semantischen Gründen bejaht werden. Außerdem wird sich die Strategie von Boolos im zweiten Kapitel als hilfreiches Vorbild erweisen, wenn es um die Interpretation von Massentermen geht. Hier kann man ganz ähnlich geltend machen, daß der semantischen Kategorie der Massenterme keine ontologische Kategorie von Massen entspricht.

§ 3 Mereologische Definitionen und Axiome In diesem Paragraphen führe ich mereologische Ausdrücke und Axiome ein, wobei ich mich an der Klassischen Mereologie orientiere. Damit ist gemeint, was Peter Simons als ‘classical extensional mereology’ bezeichnet.39 Standardvertreter sind Lesniewski, Tarski sowie Leonard und Goodman. Zweck der Übung ist insbesondere, ‘zusammensetzen’ zu definieren und das Prinzip der uneingeschränkten Summenbildung einzuführen. Bei der Definition der mereologischen Ausdrücke besteht Wahlfreiheit, welchen Ausdruck man als Grundbegriff voraussetzt. Ich beginne mit ‘Teil’.40 Es möge gelten: x ist genau dann Teil von y, wenn x Teil von y im üblichen Sinn des deutschen Worts ‘Teil’ ist, oder wenn x identisch mit y ist. (Der ‘oder’-Satz ist überflüssig, sofern ‘Teil’ im üblichen Sinn des deutschen Worts ‘Teil’ damit verträglich ist, daß etwas von sich selbst Teil ist.) Für ‘x ist Teil von y’ wird geschrieben ‘x < y’. Dann kann definiert werden: ____________ 39 40

Vgl. Simons (1987, 1). Leonard und Goodman (1940, 46) beginnen mit ‘diskret’.

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I Die Frage nach der Zusammensetzung

(DET) x ist ein echter Teil von y =df x ist Teil von y, aber x ist nicht identisch mit y. x